Die Psychologie der Zukunft - Erfahrungen der modernen Bewusstseinsforschung [Deutsche Erstausgabe ed.] 3907029763

In diesem Buch fasst der Psychiater und Bewusstseinsforscher Stanislav Grof seine bahnbrechenden Erkenntnisse erstmals z

101 24

German Pages 368 Year 2002

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD PDF FILE

Recommend Papers

Die Psychologie der Zukunft - Erfahrungen der modernen Bewusstseinsforschung [Deutsche Erstausgabe ed.]
 3907029763

  • 0 0 0
  • Like this paper and download? You can publish your own PDF file online for free in a few minutes! Sign Up
File loading please wait...
Citation preview

Stanislav Grof Die Psychologie der Zukunft

Stanislav Grof

Die Psychologie der Zukunft Erfahrungen der modernen Bewusstseinsforschung

Edition Astroterra

Titel der amerikanischen Originalausgabe: Psychology of the Future Copyright© 2000 by State University of New York, Albany, NY, USA

Übersetzung aus dem Amerikanischen von Carmen Maria Scheifele, Urs Thoenen und Livia Nigg (Der Appendix dieses Buches über holotrope Bewusstseinszustände und TransitAstrologie, «Psyche und Kosmos», wurde vom Autor speziell für die deutsche Ausgabe verfasst; im amerikanischen Original ist dieser Teil nicht enthalten.)

Copyright© 2002 Edition Astrodata, CH-8907 Wettswil Alle Rechtc Vorbehalten Deutsche Erstausgabe Korrektorat: Ursula Klauser, Urs Thoenen Druck: fgb-freiburger graphische betriebe — www.fgb.de Titelbild: «Cosmic mind», M. Kulyk/Keystone ISBN 3-907029-76-3 Scan & OCR von Shiva2012

Für Christina In grösser Liebe und mit tiefer Wertschätzung für die vielen wertvollen Beiträge zu den Ideen, die in diesem Buch zum Ausdruck kommen.

Inhalt

Vorwort ...................................................................................................................................................................... 11

Kapitel 1 Die heilenden und heuristischen -Potenziale aussergewöhnlicher Bewusstseinszustände.................................................................................18 Holotrope Bewusstseinszustände ................................................................................................................... 19 Holotrope Bewusstseinszustände und die menschliche Geschichte ............................................. ... 20 Holotrope Bewusstseinszustände in der Geschichte der Psychiatrie ................................................ 29 Fehlerhafte Konzepte der westlichen Psychiatrie: Warum ein Umdenken so dringend notwendig ist ...................................................................................................... ... 32 Oie moderne Bewusstseinsforschung und ihre Auswirkungen auf die Psychiatric .................................................................................................................................................. 33 Die Natur der menschlichen Psyche und die Dimensionen des Bewusstseins______________________________________________________ _34 Wesen und Architektur emotionaler und psychosomatischer Störungen ................................ 34 Wirkungsvolle therapeutische Techniken .............................................................................................. 34 Die Strategien in Psychotherapie und in Selbsterfahrungstherapien ......................................... 35 Die Rolle der Spiritualität im menschlichen Leben ............................................................................. 35 Die Natur der Realität: Psyche, Kosmos und Bewusstsein ................................................................ 35

Kapitel 2 Biografische, perinatale und transpersonale Bereiche: Eine Kartografie der menschlichen Psyche.................................................................................. 36 Oie postnatale Biografie und das individuelle Unbewusste .............................................................. ...36 Systeme verdichteter Erfahrungen (COEX-Systeme) ............................................................................ ...38 Oer «innere Radar» des holotropen Bewusstseinszustands .................................................................. 44 Die perinatale Ebene des Unbewussten .......................................................................................................44 Die erste perinatale Grundmatrix - BPM 1 (Urverbindung mit der Mutter) ...................................................................-..................................... 52 Die zweite perinatale Matrix: BPM II (Kosmisches Verschlungenwerden und Ausweglosigkeit - die Hölle)................................ 56 Die dritte perinatale Matrix: BPM III (Der Kampf um Tod und Wiedergeburt) ........................................................................................ 60 Die vierte perinatale Matrix: BPM IV (Die Erfahrung von Tod und Wiedergeburt) ................................................................................ 67 Die transpersonale Dimension der Psyche ............................................................................................... ... 71

7

Kapitel 3 Die Architektur emotionaler und psychosomatischer Störungen ............................................................................................................................. 86 Angstzustände und Phobien ................................................................................................................................................ 92 Konversionshysterie ................................................................................................................................................................ 107 Zwangsneurosen ...................................................................................................................................................................... 111 Depression, Manie und Selbstmordtendenzen ............................................................................................................ 112 Alkoholismus und Drogenabhängigkeit .......................................................................................................................... 123 Sexuelle Störungen und Abweichungen ......................................................................................................................... 125 Psychosomatische Manifestationen emotionaler Störungen ................................................................................. 137 Autistische und symbiotische infantile Psychosen, narzisstische Persönlichkeiten und Borderline-Zustände .................................................................................................................... 142 Die Psychodynamik psychotischer Stadien bei Erwachsenen ................................................................................. 143

Kapitel 4 Spirituelle Krisen: Transformative Notfälle erkennen und behandeln ..............................................................................................................................................148 Faktoren, die spirituelle Krisen auslösen können ......................................................................................................... ..150 Erkennen von spirituellen Krisen ........................................................................................................................................ ..151 Verschiedene Formen spiritueller Krisen ......................................................................................................................... ..154 1. Die schamanische Krise ................................................................................................................ ........................ ..155 2. Das Erwachen der Kundalini .................................... ..............................................................................................159 3. Erfahrungen von Einheitsbewusstsein («Gipfelerfahrungen») ..................................................................161 4. Seelische Erneuerung durch Hinwendung zur Mitte ....................................................................................163 5. Aussersinnliche Wahrnehmung ............................................................................................................................166 6. Erinnerungen an frühere Leben ............................................................................................................................167 7. Kommunikation mit geistigen Führern und «Channeling» ...................................................................... ..173 8. Nahtoderfahrungen (Near-Death Experiences - NDEs) ................................................................................174 9. Begegnungen mit UFOs und Entführungen durch Ausscrirdische ....................................................... ..175 10. Zustände von Besessenheit ....................................................................................................................................177 11. Alkoholismus und Drogensucht als spirituelle Krisen ................................................................................ ..179 Die Behandlung spiritueller Krisen........................................................................................................................................181

Kapitel 5 Neue Perspektiven in der Psychotherapie und der Selbsterforschung......................................................................................................................................... 187 Theorie und Praxis der holotropen Atemarbeit ............................................................................................................ 192 Die Heilkraft des Atems........................................................................................................................................................... 192 Das Heilpotenzial der Musik ................................................................................................................................................. 194 Körperarbeit....................................... ......................................................................................................................................... 197 Unterstützender Körperkontakt .......................................................................................................................................... 202 Der Ablauf holotroper Sitzungen ....................................................................................................................................... 204 Mandalazeichnen und Gruppen-Sharing ........................................................................................................................ 206

8

Das therapeutische Potenzial der holotropen Atemarbeit........................................................................................ 208 Am holotropen Atmen beteiligte physiologische Mechanismen .......................................................................... 210 Holotrope Therapie und andere Behandlungsformen................................................................................................ 211

Kapitel 6 Spiritualität und Religion ........................................................................................................................................... 213

Kapitel 7 Erfahrungen von Tod und Sterben: Psychologische, philosophische und spirituelle Perspektiven ............................................................................................. 226 Erfahrungen und Beobachtungen, die das traditionelle Verständnis von Realität und deren Beziehung zur Materie in Frage stellen.............................................................................. 236 Überlebt das Bewusstsein den Tod? Erfahrungen und Beobachtungen aus der Bewusstseinsforschung.......................................................................................................... 238 Phänomene an der Schwelle des Todes .................................................................................................................... 238 Erinnerungen an vergangene Inkarnationen .......................................................................................................... 240 Erscheinungen von Toten und die K o m m u n i k a t i o n m i t i h n e n ............................................ 248 Psychedelische Therapien bei unheilbar Kranken ....................................................................................................... 253 Individuelle und soziale Folgen, die sich aus Tod- und Stcrbeforschung ergeben ...................................................................................................................................................... 271

Kapitel 8 Oas kosmische Spiel: Forschungen an den Grenzen des menschlichen Bewusstseins ............................................................................................................................ 274 Die beseelte Natur und die archetypischen Bereiche.................................................................................................. 275 Erfahrungen des höchsten kosmischen Prinzips........................................................................................................... 278 Das innere Jenseits................................................................................................................................................................... 279 Worte für das Unbeschreibbare........................................................................................................................................... 280 Der Schöpfungsprozess .......................................................................................................................................................... 281 Wege zur Wiedervereinigung .............................................................................................................................................. 284 Das Tabu «zu wissen, wer wir sind».................................................................................................................................... 286 Das Problem von Gut und Böse .......................................................................................................................................... 289 Das kosmische Spiel ................................................................................................................................................................. 291

Kapitel 9 Bewusstseinsevolution und das Überleben des Menschen: Eine transpersonale Perspektive der globalen Krise............................................................. 296 Gewalt und Gier in der Menschheitsgeschichte ........................................................................................................... ..296 Endzeitszenarien zur Bedrohung des Lebens auf unserem Planeten ....

297

Seelisch-geistige Wurzeln der globalen Krise ................................................................................................................ ..299 Die drei Gifte des tibetischen Buddhismus .................................................................................................................... ..300 Praktisches Wissen und transzendentale Weisheit ........................................................................................................301 Die Anatomie menschlicher Zerstörungskraft .................................................................................................................303

9

Biografische Quellen der Aggression................................................................................................................................. 303 Perinatale Wurzeln der Gewalt ............................................................................................................................................ 304 Transpersonale Wurzeln der Gewalt .................................................................................................................................. 315 Biografische Determinanten der unersättlichen Gier.................................................................................................. 316 Perinatale Quellen unersättlicher Gier.............................................................................................................................. 316 Transpersonale Ursachen der unersättlichen Gier........................................................................................................ 318 Die Technologien des Sakralen und das Überleben des Menschen....................................................................... 319 Lehren aus holotropen Zuständen für die Psychologie des Überlebens........................................................................................................................................................................... 320

Appendix Psyche und Kosmos Holotrope Bewusstseinszustände, archetypische Psychologie und Transit-Astrologie..................................... ....................................................................................................................... 323 Flora .............................................................................................................................................................................................. 340 Karen .............................................................................................................................................................................................. 347 Referenzen / Bibliografie......................................................................................................................................................... 356 Per Autor ...................................................................................................................................................................................... 364 Bücher von Stanislav Grof............................................. ......................................................................................................... 365 Kontaktadresse........................................................................................................................................................................... 365

10

Vorwort

V

vor über vierzig Jahren hatte ich ein nur wenige Stunden dauerndes, intensives Erlebnis, das sowohl mein persönliches wie auch mein berufliches Leben von Grund auf veränderte. Nur wenige Monate nachdem ich mein Psychiatriestudium abgeschlossen hatte, meldete ich mich als Testperson für ein Experiment an: Es handelte sich um eine Sitzung mit LSD, einer Substanz mit bemerkenswerten psy­ choaktiven Eigenschaften, welche der Schweizer Chemiker Albert Hofmann in den pharmazeutischen Laboratorien von Sandoz in Basel kurz zuvor entdeckt hatte. Als die Sitzung ihren Kulminationspunkt erreichte, hatte ich eine überwälti­ gende und unbeschreibliche Erfahrung, in welcher ich mit dem Kosmischen Be­ wusstsein eins wurde - dieses eindrückliche Erlebnis sollte mein ganzes zukünfti­ ges Leben prägen und mein lebenslanges Interesse für aussergewöhnliche Be­ wusstseinszustände wecken. Von da an konzentrierten sich meine klinische Arbeit und meine Forschungstätigkeit hauptsächlich auf die systematische Untersuchung des therapeutischen, transformativen und evolutionären Potenzials dieser Be­ wusstseinszustände. Die vier Jahrzehnte, in denen ich mich der Bewusstseinsfor­ schung widmete, waren für mich in jeder Hinsicht ein ausserordentliches Aben­ teuer voller Entdeckungen und Selbstentdeckungen. Etwa die Hälfte dieser Zeit verbrachte ich mit der Leitung und Durchführung von Therapien, in denen psychedelische Substanzen eingesetzt wurden, zuerst in der Tschechoslowakei am Psychiatrischen Forschungsinstitut von Prag, dann in den Vereinigten Staaten am Maryland Psychiatric Research Center von Balti­ more, wo ich am letzten Forschungsprogramm mit Psychedelika teilnahm. Abl975 arbeitete ich dann vorwiegend mit der holotropen Atemarbeit, einer hochwirksamen Form von Selbsterfahrungstherapie, die ich zusammen mit meiner Frau Christina entwickelte. In all den Jahren stand ich ausserdem vielen Personen bei, die sich in einer spirituellen Krise - oder «spiritual emergency», wie Christina und ich es nennen - befanden. Gemeinsames Element dieser drei Bereiche ist der Umstand, dass sie alle mit aussergewöhnlichen Bewusstseinszuständen zu tun haben. Genauer gesagt handelt es sich bei diesen Zuständen um eine klar definierbare Untergruppe, die ich «holotrop» nenne. In der psychedelischen Therapie werden diese mit Hilfe bewusst­ seinsverändernder Substanzen wie LSD, Ibogain oder Tryptamin- und Ampheta­ min-Derivaten induziert. In der holotropen Atemarbeit wenden wir zu diesem

11

Zweck eine Kombination von beschleunigter Atmung, evokativer Musik und ziel­ gerichteter, Energie freisetzender Körperarbeit an. Die spirituellen Krisen treten zumeist spontan und unangekündigt mitten im gewöhnlichen Alltag auf, und nor­ malerweise lässt sich für ihr Auftauchen keine kausale Ursache finden. Ich möchte ausserdem noch auf einige andere Gebiete - mit mehr oder weni­ ger direktem Bezug zu veränderten Bewusstseinszuständen - eingehen, die aller­ dings eher an der Peripherie meiner Forschungstätigkeit liegen. Ich hatte das Glück, an vielen sakralen Zeremonien von Stammeskulturen aus den verschie­ densten Weltteilen teilnehmen zu dürfen. Ich kam in engeren Kontakt mit nord­ amerikanischen, mexikanischen und südamerikanischen Schamanen und hatte re­ gen Informationsaustausch mit vielen Anthropologen. Ebenso hatte ich intensiven Kontakt mit Repräsentanten diverser spiritueller Disziplinen wie zum Beispiel Vipassana, Zen, Vajrayana-Buddhismus, Siddha-Yoga, Tantra oder Christentum (Benediktiner). Die Thanatologie, eine noch junge Disziplin, welche Nahtoderfahrungen und die psychologischen sowie spirituellen Aspekte von Tod und Sterben erforscht, war ebenfalls ein wesentlicher Bestandteil meiner Studien. In den späten Sechzi­ ger- und frühen Siebzigerjahren beteiligte ich mich an einem gross angelegten For­ schungsprojekt: Untersucht wurden die Wirkungen und Potenziale der psychede­ lischen Therapie, wenn sie bei Krebskranken im Endstadium angewendet wird. Wertvolle Einsichten vermittelten mir ausserdem verschiedene herausragende Persönlichkeiten, hochbegabte Medien, renommierte Parapsychologen, Pioniere im Bereich der labororientierten Bewusstseinsforschung und Therapeuten, die verschiedene hochwirksame und bewusstseinsverändernde Methoden im Bereich der Selbsterforschungstherapien entwickelten und praktizierten. Meine eigene erste Erfahrung eines aussergewöhnlichen Bewusstseinszu­ stands war schwierig und stellte sowohl intellektuell wie auch emotional eine enor­ me Herausforderung für mich dar. Schon zu Beginn meiner Forschungstätigkeit mit Psychedelika wurde ich tagtäglich mit Erfahrungen und Beobachtungen bom­ bardiert, für die mich meine Studien in Medizin und Psychiatrie in keinster Weise vorbereitet hatten. Ganz im Gegenteil sah und erfuhr ich Sachen, die von meinem vertrauten Weltbild, der materialistischen Wissenschaft, aus gesehen eigentlich «nicht möglich» waren und gar nicht geschehen durften. Und trotzdem ereigneten sie sich Tag für Tag. Nachdem ich über den ersten Schock und die situationsbedingten Zweifel be­ züglich meiner eigenen geistigen Gesundheit hinweggekommen war, begann ich zu realisieren, dass das Problem nicht in einer Unfähigkeit meinerseits lag, aus den vielen Daten und Beobachtungen die korrekten theoretischen Rückschlüsse zu ziehen, sondern vielmehr mit dem zu eng gefassten Weltbild der gängigen psycho­ logischen und psychiatrischen Theorien und des monistisch-materialistischen Pa­ radigmas der westlichen Wissenschaft zu tun hatte. Der Weg zu dieser Erkenntnis war kein einfacher, hatte ich doch mit dem Respekt und der Ehrfurcht zu kämpfen, die jeder frischgebackene Psychiater dem akademischen Establishment, den wis­

12

senschaftlichen Autoritäten und ihren beeindruckenden Leistungsausweisen ent­ gegenbringt. Meine anfänglichen Zweifel, was die Unzulänglichkeit der akademischen Theorien in Bezug auf das Bewusstsein und die menschliche Psyche anging, ver­ dichteten sich im Laufe der vielen Jahre zur Gewissheit - bestätigt von Tausenden von Beispielen aus der klinischen Arbeit, aber ebenso von meinen persönlichen Erfahrungen. Zum heutigen Zeitpunkt steht für mich ausser Frage, dass all die Da­ ten, die in diesen Forschungszweigen gesammelt wurden, für das herrschende wis­ senschaftliche Paradigma eine ernsthafte Herausforderung darstellen. Dieses Buch soll auf systematische, verständliche Weise darlegen, welche Be­ reiche einer radikalen Revision bedürfen, und möchte Wege und Möglichkeiten aufzeigen, wie dies erreicht werden kann. Die Herausforderungen an das wissen­ schaftliche Weltbild, die sich durch die Bewusstseinsforschung ergeben, sind fun­ damentalster Natur - halbherzige Änderungen im Sinne von Patchwork-Korrek­ turen oder einigen Ad-hoc-Hypothesen sind hier wenig sinnvoll. Meiner Meinung nach ist das Ausmass des Dilemmas, in dem Psychologie und Psychiatrie heute stecken, in etwa demjenigen vergleichbar, das sich zu Beginn des zwanzigsten Jahr­ hunderts für die Physik ergab, als das Michelson-Morley-Experiment bekannt wurde. Im ersten Kapitel dieses Buches möchte ich auf die verschiedenen aussergewöhnlichen Bewusstseinszustände eingehen und die Bedeutung aufzeigen, welche diese für das gesamte rituelle, spirituelle und kulturelle Leben der Menschheit hat­ ten. Ich möchte darlegen, inwiefern die neue Bewusstseinsforschung für das mo­ nistisch-materialistische Weltbild eine Herausforderung darstellt und welche Be­ reiche besonders davon betroffen sind. Das Kapitel endet mit einer skizzenhaften Auflistung von möglichen alternativen Lösungsansätzen, die dann an späterer Stelle eingehender diskutiert werden. Das zweite Kapitel befasst sich mit dem ersten dieser Bereiche: der Beschaf­ fenheit und dem Ursprung von Bewusstsein und den Dimensionen der menschli­ chen Psyche. Die Beobachtungen aus der Bewusstseinsforschung widersprechen dem von der materialistischen Wissenschaft verbreiteten Mythos, Bewusstsein sei eine Begleiterscheinung der Materie und somit ein Produkt neurophysiologischer, vom Hirn aus gesteuerter Prozesse. Sie zeigen, dass Bewusstsein ein primäres At­ tribut von Existenz ist und manches leisten kann, wozu das Hirn gar nie fähig wä­ re. Nach neusten Erkenntnissen ist das menschliche Bewusstsein Teil eines weiten, universellen Feldes kosmischen Bewusstseins, welches die gesamte Existenz durchdringt. Ebenso arbeiten die traditionelle akademische Psychiatrie und Psychologie mit einem Modell der Psyche, das sich auf die Biologie, die postnatale Biografie und das freudsche individuelle Unbewusste beschränkt. Um all den Phänomenen, die in holotropen Bewusstseinszuständen auftauchen, gerecht zu werden, muss un­ ser Verständnis der Psyche jedoch enorm erweitert werden. Die neue Kartografie der Psyche, die in diesem Buch vorgestellt wird, enthält darum zwei zusätzliche

13

Ebenen, die perinatale (die sich auf das Geburtstrauma bezieht) und die transper­ sonale (hierzu gehören Ahnenerfahrungen, rassische, kollektive und phylogeneti­ sche Erinnerungen, karmische Erlebnisse und solche archetypischer Natur). Im weiteren Verlauf dieses Buches wird das erweiterte Modell der Psyche in Bezug gesetzt zu verschiedenen emotionalen und psychosomatischen Störungen, die keine organischen Ursachen aufweisen («psychogene Psychopathologie»), Um eine Erklärung für deren Vorhandensein zu liefern, greift die traditionell orien­ tierte Fachwelt auf ein Modell zurück, das sich auf postnatale biografische Trau­ mata beschränkt; die Störungen entstammen demgemäss der Säuglingszeit, der Kindheit oder dem späteren Leben. Die neuen Erkenntnisse legen jedoch nahe, dass die Wurzeln solcher Störungen viel tiefer reichen und wesentlich mit den pe­ rinatalen und den transpersonalen Ebenen der Psyche zu tun haben. Eine der wichtigsten Folgerungen, die sich aus dem neuen Verständnis der Psyche ergeben haben, ist die Erkenntnis, dass viele Geisteszustände, welche die heutige Psychiatrie als pathologisch einstuft und die sie mit Symptom unterdrü­ ckenden Medikamenten behandelt, in Wirklichkeit «spirituelle Krisen» sind, die bei richtiger Behandlung ein grosses heilendes und transformatives Potenzial auf­ weisen. Diesem Thema ist ein eigenes Kapitel gewidmet, wo die typischen Eigen­ schaften solcher Krisen, die auslösenden Faktoren und die neuen therapeutischen Strategien diskutiert werden. Das darauf folgende Kapitel beschäftigt sich mit den Implikationen, die sich für eine Psychotherapie ergeben, die holotrope Bewusstseinszustände mit einbe­ zieht. Ich bespreche hier unter anderem verschiedene Heilmechanismen, die dann verfügbar werden, wenn der Prozess die perinatalen und transpersonalen Bereiche erreicht. In diesem Kapitel stelle ich auch die holotrope Atemarbeit in Theorie und Praxis vor und zeige auf, wie sich dort das neue Modell manifestiert und wie es praktisch zur Anwendung gelangt. Die Forschung mit holotropen Zuständen untergräbt auf fundamentale Weise das Lehrgebäude des wissenschaftlich-materialistischen Denkens, welches das Pri­ mat der Materie postuliert und das Vorhandensein einer spirituellen Dimension negiert. Die während unzähliger Jahre experimentell gewonnenen Daten zeigen unmissverständlich auf, dass die spirituelle Dimension ein entscheidender Be­ standteil der menschlichen Psyche und der universellen Ordnung ist. Diesem so wichtigen Thema wird in diesem Buch spezielle Aufmerksamkeit gewidmet, wobei es mir vor allem darum geht, aufzuzeigen, dass zwischen Spiritualität und Wissen­ schaft, wenn richtig verstanden, gar kein Konflikt bestehen kann, sondern dass sie zwei einander ergänzende Betrachtungsweisen darstellen. Ein weiteres Kapitel in diesem Buch ist den psychologischen, philosophischen und spirituellen Aspekten von Tod und Sterben gewidmet. Es geht dabei um The­ men wie: Der Tod und seine Bedeutung in der Psychologie; Nahtoderfahrungen; die Möglichkeit, dass Bewusstsein den Tod überlebt; Karma und Reinkarnation; die alten Totenbücher; die bewusste Vorbereitung auf den Tod. Das Material, auf das sich dieses Kapitel stützt, stammt unter anderem aus einer intensiven Lang-

14

Zeitstudie mit Krebspatienten im Endstadium, welche einer psychedelischen The­ rapie zugestimmt hatten. Auf diese Studie wird in diesem Kapitel ebenfalls näher eingegangen. Die tief greifendsten Erkenntnisse metaphysischer Natur sind im Kapitel «Das kosmische Spiel» zusammengefasst. Hier geht es um die Natur der Realität, um das kosmische kreative Prinzip und unsere Beziehung zu diesem, um das dynami­ sche Kräftespiel im Schöpfungsprozess, um das Tabu, «zu wissen, wer wir wirklich sind», und um das diffizile Thema von Gut und Böse. Es ist faszinierend zu sehen, dass die Antworten auf die für unsere menschliche Existenz fundamentalen Fra­ gen sich in holotropen Zuständen spontan ergeben und zudem nicht nur eine ver­ blüffende Ähnlichkeit mit Huxleys «ewiger Philosophie» haben, sondern auch mit den revolutionären Entdeckungen von Wissenschaftlern, die das neue Paradigma vertreten, in Einklang stehen. Das letzte Kapitel beschäftigt sich mit der aktuellen globalen Krise und wie sich diese im Lichte der neuen Erkenntnisse verstehen lässt. Hier werden vor allem die psychospirituellen Wurzeln der bösartigen Aggression und der unersättlichen Gier beleuchtet, zwei Kräfte, die die Geschichte der Menschheit seit jeher domi­ niert haben und die heute, bedingt durch den enormen technologischen Fort­ schritt, zu einer ernsthaften Bedrohung für das ganze Leben auf unserem Planeten geworden sind. Die Arbeit mit holotropen Zuständen verschafft uns nicht nur ein neues Verständnis dieser gefährlichen Elemente, sondern zeigt uns auch effiziente Wege auf, wie wir diese konfrontieren und transformieren können. Vierzig Jahre intensiver Bewusstseinsforschung haben mich zum Schluss kom­ men lassen, dass eine radikale innere Transformation und das Erreichen einer höheren Bewusstseinsebene wohl die einzige Hoffnung für unsere Zukunft sind. Ich versuche daran zu glauben, dass all jene, die sich auf die innere Reise begeben wollen oder die sich schon auf ihr befinden, zu diesem Buch und den darin enthal­ tenen Informationen finden und dass es ihnen als wertvoller Begleiter in diesem herausfordernden Abenteuer dienen kann. Ich bin Jane Bunker, der Herausgeberin der State University of New York Press, zu tiefstem Dank verpflichtet. Ohne sie wäre dieses Buch nie geschrieben worden. Sie gelangte mit dem Gedanken an mich, dass wohl viele meiner Leser es schätzen würden, wenn die wichtigsten Erkenntnisse aus meiner Arbeit mit aussergewöhnlichen Bewusstseinszuständen in einem einzigen Buch vereint wären. Ihren Ratschlägen folgend verfasste ich dieses Buch so, dass über all die verschie­ denen Bereiche, in denen ich forschte, so umfassend wie möglich informiert wird. Dieses Buch stellt eine Gesamtübersicht meiner Arbeit dar, kann aber auch als Einführung in meine anderen Werke dienen, bei denen die einzelnen Gebiete je­ weils gründlicher behandelt werden. Aus der nachfolgenden Zusammenstellung wird ersichtlich, in welchem meiner anderen Werke die jeweiligen Themen der einzelnen Kapitel dieses Buches eingehender behandelt werden, was besonders für jene Leser, die sich von einem speziellen Thema angesprochen fühlen, interes­ sant sein dürfte.

15

Kapitel 1: Detailliertere Informationen zum heuristischen und therapeutischen Potenzial von Psychedelika findet sich in meinem Buch LSD-Psychotherapie, ei­ nem umfassenden Handbuch, das speziell diesem Thema gewidmet ist, und im An­ hang von D as A benteuer der S elbstentdeckung , der sich hauptsächlich mit dem rituellen und therapeutischen Gebrauch psychedelischer Substanzen beschäf­ tigt. Die Bedeutung, welche die aussergewöhnlichen Bewusstseinszustände für den Schamanismus, die Übergangsriten, die antiken Tod-und Wiedergeburts-Mys­ terien und die grossen spirituellen Traditionen haben, wird in D ie stürmische S u ­ che nach dem S elbst , mitverfasst von meiner Frau Christina, erörtert. Kapitel 2: Die neue Kartografie der menschlichen Psyche wird in Topographie des Unbewussten und in Das Abenteuer der Selbstentdeckung detailliert dargestellt. Diese Bücher handeln von der Dynamik der COEX-Systeme, den pe­ rinatalen Matrizen und verschiedenen Formen transpersonaler Erfahrungen und enthalten eine Vielzahl illustrativer Beispiele. Die Welt der Psyche, mitverfasst von Hai Zina Bennett, ist als gut verständliche Einführung in die erweiterte Kar­ tografie der Psyche gedacht und richtet sich vor allem an Neulinge im transperso­ nalen Gebiet. Kapitel 3: Was für Folgen sich durch meine Forschungen für die Diagnosestellung und die Behandlung emotionaler und psychosomatischer Störungen, aber auch für die Psychiatrie und die Psychologie ganz allgemein ergeben, wird in G eburt , T od und T ranszendenz erörtert. Dieses Buch beschäftigt sich auch mit einigen revo­ lutionären Entdeckungen der modernen Wissenschaft, die sich mit meinen For­ schungsresultaten decken. Obwohl dieses Buch auch für interessierte Laien ver­ ständlich ist, ist es doch primär an Fachleute gerichtet. Kapitel 4: Wer sich speziell für spirituelle Krisen und die Implikationen interes­ siert, die sich aus der Bewusstseinsforschung für das Verständnis und die Thera­ pierung von Psychosen ergeben, findet mehr Informationen in D ie stürmische S uche nach dem S elbst und in S pirituelle K risen , zwei Büchern, die ich zu­ sammen mit meiner Frau Christina verfasst habe. Das erste Buch enthält unsere eigene, detaillierte Diskussion alternativer Behandlungsmöglichkeiten bei Psycho­ sen, das zweite ist ein Kompendium von Artikeln, in denen verschiedene andere Autoren über dieses Thema schreiben. Kapitel 5: Das therapeutische Potenzial aussergewöhnlicher Bewusstseinszustän­ de kommt in den meisten meiner Bücher zur Sprache. Vielleicht ist die zweite Hälfte von Das Abenteuer der Selbstentdeckung speziell informativ; hier werden die Praxis der holotropen Atemarbeit und die therapeutischen Mechanis­ men, welche in den aussergewöhnlichen Bewusstseinszuständen zur Anwendung kommen, eingehend behandelt. In Geburt, Tod und Transzendenz finden sich längere Passagen, welche die Pros und Kontras der verschiedenen Psychothera­ pieschulen und ihre jeweiligen Methoden miteinander vergleichen. In LSD-Psy­ chotherapie geht es vor allem um die Anwendung psychedelischer Substanzen

16

im therapeutischen Rahmen, und D ie stürmische S uche nach dem S elbst zeigt verschiedene alternative Strategien zur Heilung psychotischer Zustände auf. Kapitel 6: Religion und Spiritualität und ihr Verhältnis zueinander werden umfas­ send und auf gut verständliche Weise in D as kosmische S piel behandelt. Näheres zu diesem Thema findet sich auch in D ie stürmische S uche nach dem S elbst . Kapitel 7: Die psychologischen, philosophischen und spirituellen Aspekte zum Thema Tod und Sterben kommen am ausführlichsten in Die Begegnung mit dem Tod zur Sprache, einem Buch, das ich zusammen mit Joan Halifax geschrieben ha­ be. Anlässlich eines Forschungsprojekts, das wir am Maryland Psychiatric Re­ search Center in Baltimore leiteten, wendeten wir die psychedelische Therapie bei über zweihundert Krebspatienten an. Ebenso habe ich, zusammen mit Christina, zwei reich illustrierte Paperbacks, die sich den kulturellen Aspekten dieses The­ mas widmen, veröffentlicht: B ooks of the D ead und J enseits des T odes . An den Toren des Bewusstseins. Kapitel 8: Die philosophischen, metaphysischen und spirituellen Aspekte meiner Forschungsarbeit sind in einem eigenen Band mit dem Titel D as kosmische S piel zusammengefasst. Dieses Buch setzt sich mit der Natur des Menschen und der Na­ tur der Realität auseinander, unter Berücksichtigung der Beobachtungen und Er­ kenntnisse der holotropen Bewusstseinsforschung. Die verblüffenden Ähnlichkei­ ten mit Aldous Huxleys «ewiger Philosophie» und mit den revolutionären Errun­ genschaften der modernen Wissenschaft - bekannt als das aufkommende oder neue Paradigma - werden hier ebenfalls eingehender diskutiert. Kapitel 9: Zusätzliche Informationen zu den weit reichenden Implikationen globa­ ler Art, die sich aus der Arbeit mit holotropen Zuständen ergeben, finden sich im Schlusswort zu G eburt , T od und T ranszendenz und im Kosmischen Spiel. Ich habe ausserdem ein Buch herausgegeben, das verschiedene Artikel von promi­ nenten Autoren enthält, die sich zu diesem so wichtigen Thema äussern: A lte W eisheit und modernes D enken . S pirituelle T raditionen in O st und W est im D ialog mit der neuen W issenschaft . Alle oben angeführten Bücher enthalten zudem ausführliche Bibliografien, die den interessierten Leser auf weiterführende Literatur des entsprechenden Be­ reichs aufmerksam machen.

17

Kapitel 1 Die heilenden und heuristischen Potenziale aussergewöhnlicher Bewusstseinszustände

ieses Buch ist als Zusammenfassung gedacht, welches die Erfahrungen und Beobachtungen, die ich in über vierzig Jahren Forschung auf dem Gebiet der aussergewöhnlichen Bewusstseinszustände gesammelt habe, resümieren möchte. Mein primäres Interesse gilt den heuristischen Aspekten dieser Bewusstseinszu­ stände, also inwiefern diese zu unserem Verständnis des Bewusstseins und der menschlichen Psyche beitragen können. Da meine ursprüngliche Ausbildung die eines klinischen Psychiaters ist, werde ich dem heilenden, dem transformativen und dem evolutionären Potenzial dieser Erfahrungen ein besonderes Augenmerk schenken. Für diesen Zweck ist der Begriff aussergewöhnliche Bewusstseinszustän­ de allerdings zu weit und zu allgemein gefasst. Er umfasst ein sehr breites Spekt­ rum von Zuständen, die aus heuristischer oder therapeutischer Perspektive nur von geringem Interesse sind. Unser Bewusstsein kann einerseits durch eine Vielzahl pathologischer Prozes­ se tief greifend verändert werden - durch Hirntraumata, Vergiftungen mit toxi­ schen Chemikalien, durch Infektionen oder degenerative und kreislaufbedingte Störungen im Hirn. Vorfälle solcher und ähnlicher Art können ganz klar zu pro­ funden Veränderungen des Geistes führen, die man der Kategorie aussergewöhn­ liche Bewusstseinszustände zurechnen könnte. Solcherart Störungen oder Beein­ trächtigungen können «triviale Deliria» oder «organische Psychosen» hervorrufen, die vom klinischen Standpunkt her gesehen sicher ihre Wichtigkeit haben. Doch sind sie im gewählten Kontext irrelevant. Menschen, die unter den eben erwähn­ ten Symptomen leiden, sind in der Regel desorientiert; sie wissen nicht mehr, wer sie sind, nicht, wo und wann sie leben. Ausserdem sind ihre Verstandesfunktionen auf signifikante Art reduziert, an ihre Erlebnisse können sie sich meist nicht mehr erinnern. In diesem Buch möchte ich auf eine wichtige Untergruppe aussergewöhnlicher Bewusstseinszustände eingehen, die sich von den übrigen signifikant unterschei­ den und eine unschätzbare Quelle darstellen, was neue Erkenntnisse über die menschliche Psyche, deren Gesundheit oder Erkrankungen betrifft. Erfahrungen, die dieser Gruppe angehören, verfügen über ein bemerkenswertes therapeutisches und transformierendes Potenzial: Die Beobachtungen, die ich über all diese Jahre tagtäglich gemacht habe, haben mich hinsichtlich ihrer so ungewöhnlichen und weit reichenden Implikationen in Bezug auf die psychiatrische Theorie und Praxis vollständig überzeugt. Dass die heutige Psychiatrie den so charakteristischen Ei-

D

18

genschaften dieser Zustände so wenig Bedeutung beimisst und auch keinen spezi­ ellen Begriff dafür geschaffen hat, ist für mich unverständlich. Weil ich der festen Überzeugung bin, dass diese Gruppe von den anderen klar unterschieden werden muss und eine eigene Bezeichnung verdient, habe ich dafür den Begriff holotrop eingeführt (Grof 1992). Diese Wortkombination bedeutet in etwa «aufs Ganze ausgerichtet sein» oder «sich aufs Ganze zu bewegen» (Grie­ chisch holos = ganz; trepein = sich auf etwas zu bewegen). Die tiefere Bedeutung dieses Begriffs, und warum ich ihn geeignet finde, wird im Verlauf dieses Buches klarer werden. Kurz gesagt soll er aber darauf anspielen, dass unser gewöhnliches Alltagsbewusstsein sich nur mit einem Bruchteil unseres wahren Selbst identifi­ ziert, während wir in holotropen Zuständen die engen Grenzen unseres KörperIch transzendieren und zu unserer wahren Identität finden können.

Holotrope Bewusstseinszustände Holotrope Bewusstseinszustände zeichnen sich durch eine Veränderung der Wahr­ nehmung aus, die sich von der uns gewohnten fundamental unterscheidet. Man kann jedoch nicht wirklich von einer gravierenden Beeinträchtigung der Bewusst­ seinsfunktionen sprechen. Im Unterschied zu den organisch bedingten Störungen bleibt die Orientierungsfähigkeit in Zeit und Raum erhalten, ebenso der Bezug zur Alltagswirklichkeit. Unsere Wahrnehmung wird jedoch von Bildern und Sequen­ zen aus anderen Seinsdimensionen überflutet, die oftmals von überwältigender In­ tensität sind. Wir erfahren also gleichzeitig zwei gänzlich unterschiedliche Realitä­ ten, stehen gleichsam «mit einem jeden Fuss in einer anderen Welt». Charakteristisch für holotrope Zustände sind dramatische Veränderungen in allen Bereichen der sensorischen Wahrnehmung. Halten wir die Augen im Prozess geschlossen, so kann unser visuelles Feld von einem wahren Strom an Bildern überschwemmt werden - von Szenen, die unserem persönlichen Leben, dem indi­ viduellen oder dem kollektiven Unbewussten entstammen. Wir können Visionen und authentische Erlebnisse aus der Tier- und Pflanzenwelt haben oder von der Natur und dem Kosmos in ihrer Gesamtheit. Andere Erfahrungen führen uns in die Welten der archetypischen Entitäten und in mythologische Bereiche. - Wenn wir die Augen offen halten, kann die gewohnte Umgebung plötzlich ganz anders wirken, und lebhafte Sinnestäuschungen führen zu Projektionen, die mit dem akti­ vierten unbewussten Material zu tun haben. Das kann mit den verschiedensten Sinneseindrücken einhergehen; mit fremdartig wirkenden Klängen und Geräu­ schen, eigenartigen körperlichen Empfindungen, verändertem Geruchs- und Ge­ schmackssinn. Die in holotropen Bewusstseinszuständen auftauchenden Emotionen decken ebenfalls ein breites Spektrum ab. Sowohl was ihre Beschaffenheit wie auch was ihre Intensität angeht, sprengen sie unsere gewohnten Grenzen und gehen weit über unsere alltäglichen Erfahrungen hinaus. Sie reichen von ekstatischer Ver­ zückung über himmlische Glückseligkeit und einem «Frieden jenseits allen Ver­ stehens» bis zu abgrundtiefem Horror, mörderischer Wut, tiefster Verzweiflung,

19

verzehrenden Schuldgefühlen und anderen Formen unvorstellbaren Leidens. Die­ se Extreme entsprechen den Visionen von paradiesischen und himmlischen Rei­ chen einerseits und von den höllischen Sphären andererseits, so wie wir sie in den grossen Weltreligionen beschrieben finden. Ein besonders interessanter Aspekt der holotropen Zustände ist deren Aus­ wirkung auf unser Denken. Die Verstandesfunktionen an sich sind nämlich nicht wirklich beeinträchtigt, sondern arbeiten auf eine Weise, die sich erheblich von der gewohnten unterscheidet. Das klare Einschätzen der üblichen Alltagsangelegen­ heiten und das Erledigen von praktischen Dingen mögen zwar schwer fallen. Doch die Zugriffsmöglichkeit auf Unmengen von Informationen aus verschiedensten anderen Dimensionen macht dies zumindest wett - und deren oftmals erstaunli­ cher Wahrheitsgehalt spricht für sich. Wir können tiefe Einsichten psychologischer Natur haben, die Bezug nehmen auf unsere persönliche Geschichte, auf unbewuss­ te dynamische Prozesse, auf emotionale oder zwischenmenschliche Probleme. Ebenso können wir aussergewöhnliche Erkenntnisse gewinnen zu Natur und Kos­ mos, die bei weitem unsere Bildung und unseren intellektuellen Background über­ treffen und transzendieren. Die interessantesten Einsichten sind allerdings dieje­ nigen philosophischer, metaphysischer und spiritueller Natur. Wir können auf seelisch-geistiger Ebene den Tod-und-Wiedergeburts-Prozess erleben, und wir haben Zugang zu einem breiten Spektrum transpersonaler Phä­ nomene wie dem Gefühl der Einswerdung mit anderen Personen, mit der Natur, dem Universum, mit Gott. Wir mögen Szenen erleben, die Erinnerungen aus ver­ gangenen Inkarnationen zu sein scheinen; auf mächtige archetypische Figuren treffen, mit körperlosen Wesen kommunizieren oder unzählige mythologische Landschaften aufsuchen. Holotrope Erfahrungen dieser Art sind die Hauptquelle für die Kosmologien, Mythologien, Philosophien und religiösen Systeme, welche die spirituelle Natur des Kosmos und der Existenz als solcher zum Inhalt haben. Sie sind der Schlüssel zum Verständnis der Rituale und der spirituellen Lebens­ weise der Menschheit, angefangen beim Schamanismus und den sakralen Zeremo­ nien der Stammeskulturen bis hin zu den grossen Weltreligionen.

Holotrope Bewusstseinszustände und die menschliche Geschichte Betrachtet man die Rolle, welche holotrope Bewusstseinszustände in der Mensch­ heitsgeschichte gespielt haben, so überrascht am meisten der signifikante Unter­ schied beim Vergleich der westlichen Industriegesellschaft mit den alten, vorin­ dustriellen Kulturen. Im Gegensatz zu uns empfanden die alten indigenen Kultu­ ren den holotropen Zuständen gegenüber grösste Hochachtung, und sie investier­ ten viel Zeit und Mühe, um sichere und wirksame Wege zu ihrer Induktion zu entwickeln. Sie nutzten diese als primäres Vehikel für ihr rituelles und spirituelles Leben und andere, wichtige Angelegenheiten. Die aussergewöhnlichen Bewusstseinszustände, die während der heiligen Ze­ remonien erreicht wurden, ermöglichten ihnen eine direkte Erfahrung der ar­

20

chetypischen Realitätsdimensionen - so kamen sie in Kontakt mit Gottheiten, my­ thologischen Sphären und numinosen Naturkräften. Die so induzierten Bewusst­ seinszustände spielten auch in einem anderen Bereich eine entscheidende Rolle: Sie halfen ihnen bei der Diagnose und beim Heilen von Krankheiten. Obwohl die nativen Kulturen häufig auch über ein beeindruckendes Wissen, was die natürli­ chen Heilmittel betrifft, verfügten, stand an erster Stelle doch die metaphysische Heilkunst. Die Heilungen geschahen meist im holotropen Bewusstseinszustand: Entweder befand sich der Heiler in diesem, oder er induzierte ihn beim Patienten - oder es befanden sich beide gleichzeitig darin. Nicht selten ging eine ganze Grup­ pe von Personen oder gar der ganze Stamm in Heil-Trance, wie es heutzutage bei den !Kung Buschmännern der afrikanischen Kalahari-Wüste noch immer der Fall ist. Holotrope Trance-Zustände dienten auch der Kultivierung von Intuition und aussersinnlicher Wahrnehmung (ASW). Dies kam ihnen unter anderem auch bei einer Vielzahl praktischer Dinge zustatten: Sie setzten diese ein, um verloren ge­ gangene Personen oder Objekte wieder zu finden, um Informationen über Leute zu erhalten, die sich andernorts aufhielten, und um den Ablauf des «Spiels» zu ver­ folgen. Sie dienten ihnen ausserdem als Quelle künstlerischer Inspiration, um Ideen für Rituale, Bilder, Skulpturen und Gesang zu erhalten. Ihre Bedeutung für das kulturelle Leben der vorindustriellen Gesellschaften und für die Menschheits­ geschichte im Allgemeinen ist nicht abzuschätzen. Wie wichtig holotrope Zustände für die alten Kulturen waren, wird ersichtlich, wenn man den Zeit- und Energieaufwand betrachtet, der für die Entwicklung die­ ser «Technologien des Sakralen» investiert wurde - der verschiedenen bewusst­ seinsverändernden Prozeduren für Rituale spiritueller Natur. Diese Methoden kombinierten auf mannigfaltige Weise Perkussion, Musik, Singen, rhythmisches Tanzen, Ändern des Atemrhythmus und die Entwicklung spezieller Methoden zur Veränderung des Wahrnehmungsspektrums. Gesellschaftliche Isolation und das Minimieren von Sinnesreizen spielten ebenfalls eine wichtige Rolle: Die Betref­ fenden verbrachten längere Zeit in Höhlen, in der Wüste, im arktischen Eis oder hoch in den Bergen. Andere Eingriffe physiologischer Art beinhalten Fasten, Schlaf- oder Wasserentzug und in extremeren Fällen gar massiven Aderlass, den Einsatz starker Laxative oder das Zufügen heftiger Schmerzen. Zu den speziell wirkungsvollen Methoden gehört der rituelle Gebrauch psy­ chedelischer Pflanzen oder Substanzen. Der legendäre göttliche Zaubertrank, im altpersischen Zendawesta Haoma und in Indien Soma genannt, wurde von den in­ doarischen Stammeskulturen vor einigen tausend Jahren bei sakralen Zeremonien eingenommen; die Entstehung der vedischen Religion und Philosophie beruht wohl fast ausschliesslich auf Erkenntnissen, die beim Genuss dieses Tranks ge­ wonnen wurden. Hanf, auf verschiedenste Arten zubereitel, wurde im Orient, in Afrika und in der Karibik geraucht oder eingenommen (und wurden je nach Re­ gion und Art der Verarbeitung Haschisch, Charas, Bhang, Ganja, Kif, Marihuana genannt). Man nutzte Hanf zur körperlichen und psychischen Erholung, zum

21

Beeinflussung des Atemrhythmus, direkt oder indirekt: Pranayama, Yoga-Bastrika, bud­ dhistischer «Feueratem», Sufi-Atmung, balinesischer Ketjak, Kehlen-Musik der Inuit Klangtechnologien: Trommeln, Rasseln, Gebrauch von Stecken, Glocken und Gongs, Musik, Chanting, Mantras, Didjeridoo, Bull-roarer Tanz und andere Bewegungsformen: Drehtanz der Derwische, die Lama-Tänze, der Kalahari-Bushmen-Trance-Tanz, Hatha-Yoga, Tai Chi, Chi Gong usw. Soziale Isolation und Sinnesreizentzug: Rückzug in die Wüste, in eine Höhle, in Berg­ höhen, Schneefelder; Visionssuche usw. Reizüberflutung: Kombinationen aus akustischen, visuellen und propriozeptiven Stimuli während Stammesritualen, extremer Schmerz usw. Die Physe als Vehikel: Fasten, Schlafentzug, Purgative, Laxative, Blutlassen (Maya), schmerzhafte körperliche Prozeduren (der Lakota-Sioux-Sonnentanz, Subinzision, Fei­ len der Zähne Meditation, Gebet und andere spirituelle Praktiken: die verschiedenen Arten von Yoga, Tantra, Soto und Rinzai Zen, das tibetische Dzogchen, der christliche Hesychasmus (Jesus-Gebet), die Exerzitien des Ignatius von Loyola usw. Psychedelische Substanzen aus Tieren und Pflanzen: Haschisch, Peyote, Teonanacatl, Ololiuqui, Ayahuasca, Eboga, die hawaiische Holzrose, die syrische Raute, das Hautsekret der Bufo-alvarius-Kröte, der Pazifik-Fisch Kyphosus fuscus usw. Tabelle I . I Techniken, die von alten Kulturen und vorindustriellen Stammesgesellschaften zur Induktion holotroper Zustände eingesetzt wurden genüsslichen Vergnügen oder aber während religiöser Zeremonien. So unter­ schiedlichen Gruppen wie den Brahmanen, gewissen Sufi-Orden, den alten Skythiern und den jamaikanischen Rastafaris war diese Pflanze heilig. Der zeremonielle Gebrauch verschiedener psychedelischer Substanzen hat auch in Zentralamerika seine lange Geschichte. Hochwirksame bewusstseinsver­ ändernde Pflanzen waren manchen prähispanischen indianischen Kulturen bes­ tens bekannt - so den Azteken, den Mayas oder den Tolteken. Zu den bekanntes­ ten Pflanzen gehören der mexikanische Kaktus Peyote (Lophophora williamsii), der heilige Pilz Teonanacatl (Psilocybe mexicana) und Ololiuqui, die Samen be­ stimmter Windenarten (Ipomoea violacea und Turbina corymbosa). Noch heute werden diese Substanzen von den Huichol, den Mazateken, den Chichimeca, den Cora, von weiteren indianischen Stämmen Mexikos, aber auch von der Native American Church als Sakramente eingesetzt. Das bekannte, aus Südamerika stammende Yaj6 oder Ayahuasca ist ein Ab­ sud aus der Dschungelliane Banisteriopsis caapi, dem andere pflanzliche Zusätze beigegeben werden müssen. Das Amazonas-Becken und die karibischen Inseln sind auch bekannt für eine ganze Reihe psychedelischer «Snuffs» (Engl.: snuff schnupfen, durch die Nase einziehen). - Stammeskulturen in Afrika schlucken oder inhalieren ein Präparat, das aus der Rinde der Eboga-Staude (Tabernanthe

22

iboga) gewonnen wird. Die Einnahme kleinerer Dosen dient als Stimulans, in ho­ her Dosierung werden sie bei Initiationsriten von Frauen und Männern eingesetzt. Psychedelische Wirkstoffe lassen sich auch in der Tierwelt gewinnen: Gewisse Kröten (Bufo alvarius) zum Beispiel sondern über die Haut ein wirksames Sekret ab, und der Genuss des Fleisches eines im Pazifik beheimateten Fisches, des Kyphosus fuscus, ist ebenso psychoaktiv. In Tabelle 1.1 (siehe gegenüber) ist nur ein kleiner Teil all der psychedelischen Substanzen aufgeführt, die während vieler Jahrhunderte in allen Kontinenten für spirituelle und rituelle Zwecke genutzt wurden. Techniken zur Induktion holotroper Zustände finden sich schon in der Urzeit der Menschheitsgeschichte: Die Rede ist vom Schamanismus, sowohl als spirituel­ les System wie auch als Heilkunst das älteste System der Menschheit. Die Beru­ fung zum Schamanen begann und beginnt oft mit einer spontan auftretenden psy­ chospirituellen Krise (der so genannten schamanischen Krankheit). Der werdende Schamane hat dabei intensive Visionen, die ihn durch die Unterwelt und das Reich der Toten führen. Er oder sie wird von bösartigen Wesenheiten attackiert, muss peinvolle Prüfungen durchstehen und erlebt schliesslich seinen eigenen Tod und die Zerstückelung seines Körpers. Darauf folgen Szenen von Tod und Wiederge­ burt und dem Aufstieg in himmlische Sphären. Schamanismus hat mit den holotropen Bewusstseinszuständen noch anderes gemeinsam: Ein erfahrener Schamane kann sich willentlich und kontrolliert in Trance versetzen und nutzt diese Fähigkeit zur Diagnose von Krankheiten, zur aussersinnlichen Wahrnehmung, zur Erforschung anderer Seinsdimensionen und Ähnlichem. Oftmals induziert der Eingeweihte den Trancezustand auch bei seinen Stammesmitgliedern und übernimmt dabei die Rolle des Psychopompos - er un­ terstützt und führt sie bei ihrer Reise durch die vielgestaltigen Bereiche des Jen­ seits. Den Schamanismus gibt es schon seit dreissig- bis vierzigtausend Jahren - sei­ ne Wurzeln lassen sich bis in die paläolithische Ära zurückverfolgen. Die berühm­ ten Höhlen in Südfrankreich und Nordspanien - Lascaux, Font de Gaume, Les Trois Freres, Altamira, um nur einige zu nennen - sind voll von wunderschönen Malereien, die zumeist Bisons, wilde Pferde, Hirsche, Steinböcke, Mammuts, Wöl­ fe, Nashörner oder Rentiere zum Motiv haben - eben jene Tiere, die damals die Natur durchstreiften. Bei anderen Darstellungen wie der des «tiergestalten Zau­ berers» handelt es sich aber zweifelsohne um mythische Kreaturen von magisch-ritueller Bedeutung. So finden sich in manchen Höhlen Malereien und Schnitze­ reien mit fremdartigen Figuren, die sowohl menschliche wie auch tierische Züge haben und die alten Schamanen auf ihrer Reise abbilden sollen. Am berühmtesten ist wohl der rätselhafte «Zauberer von Les Trois Frères». Dargestellt ist ein Mischwesen, das mit mehreren männlichen Symbolen versehen ist - dem Geweih eines Hirsches, den Augen einer Eule, dem Schwanz eines Wild­ pferds oder eines Wolfes, einem Männerbart und den Pranken eines Löwen. Der «Herr der Tiere», der sich im selben Höhlenkomplex befindet, stellt ebenfalls ei-

23

Diese Zeichnung entstand nach einer Sitzung mit holotropem Atmen. Dargestellt ist die Transformation eines Schamanen in einen Berglöwen. (Tai Ingrid Hazard)

nen Schamanen dar. Als Herrscher über «die Ewigen Jagdgründe» thront er Uber einer Landschaft, die von vielen prächtig-kraftvollen Tieren bevölkert ist. Glei­ chermassen Aufsehen erregte eine Ritzzeichnung im Lascaux-Höhlenkomplex. Die Jagdszene zeigt einen verwundeten Bison, neben ihm liegt ein Schamane mit erigiertem Penis. - Und in der Grotte La Cabillou fand man eine kunstvolle Ritz­ zeichnung, die «der Tänzer» genannt wird. Die Archäologen kamen auf diesen Na­ men, weil die Darstellung ungewöhnlich bewegt und dynamisch ist. Im lehmigen Boden der Tuc-d’Audoubert-Höhle fand man kreisförmig ange­ ordnete Fussabdrücke; in der Mitte sind zwei Bisons dargestellt. Die Höhlenbe­ wohner nutzten den Tanz ganz offensichtlich als Trance-induzierendes Mittel, so wie wir es auch heute noch bei vielen Stammeskulturen vorfinden. Die Ursprünge

24

Zeichnung aus einer holotropen Atemsitzung. Die Künstlerin wurde zu einer jungen Frau, die als Angehörige eines südamerikanischen Stammes an einem Pubertäts-Ritus teilnahm. Ein wichtiger Teil dieses Rituals bestand in der Aufgabe, mit einem Jaguar eins zu werden. (Kathleen Silver)

des Schamanismus liegen aber noch weiter zurück: Die Neandertaler beispielswei­ se hatten ihren «Kult des Höhlen-Bären». Zeugnisse davon findet man in der Schweiz und im Süden Deutschlands - diese geweihten Stätten sind eindeutig der interglazialen Periode zuzurechnen. Der Schamanismus ist nicht nur uralt, er ist auch weltweit verbreitet. Die Tat­ sache, dass er in so unterschiedlichen Regionen wie Nord- und Südamerika, Euro­ pa, Afrika, Asien, Australien, Mikronesien und Polynesien von Bedeutung war, legt den Schluss nahe, dass bei seiner Anwendung Inhalte aus der tiefsten urzeitlichen Psyche des Menschen zugänglich werden. Was die Anthropologen den Urverstand (primal mind) nennen, ermöglicht das Transzendieren von Rasse, Ge­ schlecht, Kultur und verschiedenen historischen Zeitperioden. ln Kulturen, die

25

Diese Zeichnung, die nach einer holotropen Atemsitzung entstand, stellt die Identifikation mit einer Jungfrau dar, die im mexikanischen Yucatan während einer rituellen Feier zu Ehren der Mais-Göttin als Opfer dargebracht wurde. Das Gefühl zu ersticken, auflodemde Panik und sexuelle Erregung wichen beim Erscheinen des Regenbogens, der Licht und ein tiefes Gefühl von Frieden brachte. (Kathleen Silver)

vom wenig förderlichen Einfluss der westlichen industriellen Zivilisation bis anhin verschont wurden, hat die schamanische Tradition bis zum heutigen Tag überlebt. Die so genannten Übergangsriten sind ebenfalls ein global vorzufindendes Phänomen. Auch hier werden holotrope Zustände zu Hilfe genommen, um eine seelisch-geistige Transformation zu erreichen. Den Begriff prägte ein holländi­ scher Anthropologe namens Arnold Van Gennep, der als Erster eine wissen­ schaftliche Arbeit zu diesem Thema verfasste (Van Gennep, 1960). Diese Zere­ monien wurden in fast allen alten Kulturen zelebriert, und in vorindustriellen Volksgemeinschaften unserer Zeit findet sich auch dieser Brauch noch heute. Ihr

26

Sinn und Zweck gilt der Transformation und Einweihung von Individuen, von Gruppen oder gar einer gesamten Kultur. Übergangsriten werden jeweils zu einer Zeit durchgeführt, die im Leben eines Einzelnen oder aber einer Gemeinschaft einen kritischen Übergang oder einen markanten Wendepunkt darstellt, als zum Beispiel die Geburt, die Beschneidung, Pubertät, Heirat, die Menopause oder der Sterbeprozess. Ähnliche Rituale finden sich bei der Initiation vom Jüngling zum Krieger, bei der Aufnahme des Adepten in eine geheime Gesellschaft, bei kalendarischen Erneuerungsfesten, bei Hei­ lungszeremonien oder wenn eine Gruppe von Menschen sich von ihrer alten Hei­ mat verabschiedet und auswandert. Die hochwirksamen Prozeduren der Übergangsriten bewirken gemeinhin eine momentane Auflösung der Bewusstseinsstruktur, um eine Steigerung der Integra­ tionsfähigkeit zu erreichen. Das seelische Erlebnis von Tod und Wiedergeburt soll das Sterben des Alten und die Geburt des Neuen symbolisieren. Bei den Puber­ tätsriten beispielsweise beginnen die Initianden das Ritual als Knaben und Mädchen - und gehen als Erwachsene daraus hervor, mit all den Rechten und Pflichten, die dieser neue Status mit sich bringt. In all diesen Situationen lässt das Individuum oder die Gruppe eine alte Seinsweise hinter sich und wendet sich völ­ lig neuen Lebensumständen zu. Die Person, die von der Zeremonie zurückkommt, ist nicht mehr dieselbe wie vorher. Durch die tiefe seelisch-geistige Wandlung hat sie eine persönliche Ver­ bindung zu den numinosen Seinsdimensionen geschaffen, die Weltanschauung ist umfassender und das Wertesystem ein neues. Ausserdem ist das Selbstbild we­ sentlich verbessert. Dies alles ist das Resultat einer bewusst induzierten Krise, die den innersten Wesenskern des Initianden berührt und zuweilen erschreckend, cha­ otisch und verwirrend ist. Die Übergangsriten dokumentieren ebenfalls, wie eine kurzweilige Desintegration verbunden mit aufwühlenden Erlebnissen zu besserer geistiger Gesundheit und Wohlbehagen führt. Die zwei Beispiele, die ich hier erwähnt habe - die schamanische Krise und die Übergangsriten haben vieles miteinander gemein, dennoch unterscheiden sie sich in einigen wichtigen Punkten: Die schamanische Krise erfolgt plötzlich und völlig unerwartet; sie geschieht spontan und ist autonomer Natur. Im Gegensatz dazu sind die Übergangsriten ein Produkt der kulturellen Entwicklung; Zeitpunkt und Dauer des Rituals sind festgelegt, und es folgt einem bestimmten Muster. Die provozierten Erlebnisse der Initianden ergeben sich hier aus tradierten «Techno­ logien des Sakralen», die über viele Generationen hinweg perfektioniert wurden. Stammeskulturen, die den Schamanismus hoch achten und Übergangsriten praktizieren, erachten eine Initiation, die durch eine schamanische Krise hervor­ gerufen wird, als ungemein wertvoller, als wenn diese durch einen Übergangsritus erlangt wird. Ihrer Einschätzung nach beruht Erstere auf direkter Intervention ei­ ner höheren Macht und weist auf eine göttliche Berufung hin. Die Übergangsriten andererseits sind Zeichen ihrer Wertschätzung dieser Zu­ stände, und sie lassen erkennen, dass sie Wege herausgefunden haben, wie diese

27

der Allgemeinheit zugute kommen können. Diese Riten sind fester Bestandteil ih­ res rituellen und spirituellen Lebens. Holotrope Bewusstseinszustände spielten auch bei den Mysterien von Tod und Wiedergeburt eine bedeutende Rolle, sakralen und geheim gehaltenen Zere­ monien, die in der antiken Welt weit verbreitet waren. Diese Mysterien basierten auf mythologischen Geschichten von Gottheiten, die Tod und Transfiguration symbolisierten. Im alten Sumer waren dies Inanna und Tammuz, in Ägypten Isis und Osiris, und in Griechenland die Gottheiten Attis, Adonis, Dionysos und Per­ sephone. Ihre mittelamerikanischcn Gegenstücke sind der aztekische Quetzalcoatl oder die Gefiederte Schlange und die heroischen Zwillinge, bekannt aus dem Popol Vuh der Maya-Kultur. Diese Mysterien erfreuten sich aber vor allem im medi­ terranen Gebiet und im Nahen Osten grösster Beliebtheit, wie dies die vielfältigen Beispiele zeigen: die sumerischen oder ägyptischen Tempelinitiationen, die mythraischen Mysterien, die griechischen korybantischen Riten, die Bacchanalien oder die Eleusinischen Mysterien. Ein beeindruckendes Beispiel für deren weit reichende Bedeutung sind die Mysterienkulte, die im Eleusinischen Heiligtum in der Nähe von Athen abgehal­ ten wurden. Diese fanden regelmässig und ohne Unterbruch alle fünf Jahre statt, und dies während einer Zeitspanne von fast über zweitausend Jahren. Und auch dann fanden diese nicht aufgrund mangelnden Interesses ein Ende. Die Durch­ führung der zeremoniellen Aktivitäten in Eleusis wurde durch äussere Einwirkung auf gewaltsame Weise unterbrochen, als der christliche Kaiser Theodosius jegliche Teilnahme an den Mysterien und anderen heidnischen Kulten aufs strikteste un­ tersagte. Kurze Zeit später, im Jahr 395 v. Chr., zerstörten die einfallenden Gothen das Sanktuarium. Im Telestrion, der gigantischen Initiationshalle von Eleusis, trafen sich jeweils an die dreitausend Neophyten, die zusammen tief greifende Prozesse im Sinne ei­ ner seelisch-geistigen Transformation erlebten. Das kulturelle Potenzial dieser Ze­ remonien für die Antike und deren bis anhin so wenig beachtete und doch so wich­ tige Rolle in Bezug auf die europäische Zivilisationsgeschichte wird dann offen­ sichtlich, wenn wir uns die Liste all der berühmten Persönlichkeiten aus eben jener Zeit anschauen, die ebenfalls an diesen Zeremonien teilhatten: Unter den Neo­ phyten finden sich die Philosophen Platon, Aristoteles und Epiktet, der Heerfüh­ rer Alkibiades, die Schauspieldichter Euripides und Sophokles und der Dichter Pindaros. Ein weiterer berühmter Initiierter, Marcus Aurelius, war fasziniert von den eschatologischen Möglichkeiten, die diese Riten in Aussicht stellten. Der rö­ mische Politiker und Philosoph Marcus Tullius Cicero nahm an diesen Zeremo­ nien teil und schrieb einen begeisterten Bericht über deren Bedeutung und Aus­ wirkungen auf die antike Zivilisation (Cicero, 1977). Ein weiteres Beispiel für den weit reichenden Einfluss der alten Mysterien­ religionen in der antiken Welt ist der Mithraismus. Dieser begann sich im ersten Jahrhundert nach Christus im römischen Imperium zu verbreiten, erreichte seinen Höhepunkt im dritten und unterlag dann Ende des vierten Jahrhunderts dem

28

Christentum. Zur Kulminationszeit hatten sich die unterirdisch angelegten heili­ gen Stätten dieses Kultes (mithraea) von den Küsten des Schwarzen Meeres bis zu den schottischen Bergen und den Grenzgebieten der Sahara ausgebreitet. Der mithraische Mysterienkult war eine Schwesterreligion des Christentums und des­ sen bedeutendste Konkurrenz (Ulansey, 1989). Die spezifischen Eigenheiten, was die bewusstseinsverändernden Prozeduren dieser geheim gehaltenen Riten angeht, sind zu einem grossen Teil unbekannt. Es wird jedoch angenommen, dass der heilige Kykeon-Trank, der in Eleusis eine wichtige Rolle spielte, LSD-ähnliche Mutterkorn-Alkaloide enthielt. Mil grösster Wahrscheinlichkeit kamen auch bei den Bacchanalien und anderen Riten Psyche­ delika zur Anwendung. Den alten Griechen war die Destillation von Alkohol noch nicht bekannt; jedoch musste der «Wein», der bei den dionysischen Ritualen ge­ trunken wurde, den überlieferten Schriften zufolge im Verhältnis drei zu zwanzig verdünnt werden. Und blosse drei Gläser davon brachten einige Teilnehmer «an den Rand des Wahnsinns» (Wasson, Hofmann und Ruck, 1978). Nicht nur in den eben erwähnten alten und Stammes-Kulturen, auch in vielen Religionen wurden ausgeklügelte Verfahren zur Induktion holotroper Erlebnisse entwickelt. Erwähnt seien hier beispielsweise die verschiedenen Yoga-Techniken oder die Meditationen, wie sie im Vipassana, im Zen und dem tibetischen Bud­ dhismus gelehrt werden, die spirituellen Übungen aus der taoistischen Tradition oder auch die komplexen tantrischen Rituale. Die Sufis, die die mystische Seite des Islams leben, setzen während ihrer Zeremonien, genannt Ziker, Techniken wie in­ tensives Atmen, devotionalen Gesang und den Trance-fördernden Whirling-Tanz ein. Entsprechend haben wir in der jüdisch-christlichen Tradition die Essener, die ebenfalls spezielle Atemtechniken entwickelten. Bei einer Taufe wurde die jewei­ lige Person lange Zeit unter Wasser gehalten, um ein Nahtoderlebnis herbeizu­ führen. Erwähnt seien auch das christliche Jesus-Gebet der Hesychasten, die Exer­ zitien eines Ignatius von Loyola oder verschiedene kabbalistische oder chassidische Zeremonien. Das Vorhandensein von Techniken, die eine direkte Erfahrung der spirituellen Natur der Existenz ermöglichen, ist ein typisches Merkmal der mystischen Zweige der Religionen und ihrer monastischen Orden.

Holotrope Bewusstseinszustände in der Geschichte der Psychiatrie So wenig sich bezweifeln lässt, dass holotrope Zustände bei den vorindustriellen Kulturen höchste Wertschätzung genossen, so wenig kann man übersehen, wie kompliziert und verwirrend diesbezüglich die Einstellung unserer heutigen indust­ rialisierten Zivilisation ist. In den Anfangsstadien der Tiefenpsychologie spielten holotrope Zustände noch eine wesentliche Rolle, wobei ihre Ursprünge nach gän­ giger Lehrmeinung in den hypnotischen Sitzungen des Jean Martin Charcot, die dieser in der Pariser Chalpetrière mit hysterischen Patienten durchführte, und in den Forschungsarbeiten über Hypnose von Hippolyte Bernheim und Ambroise

29

Liébault (Nancy) zu sehen sind. Während seiner Studienreise nach Frankreich be­ suchte Sigmund Freud beide Städte, um die Techniken der Hypnose-Induktion zu erlernen. Zu Beginn seiner Forschungstätigkeit schien ihm dies das ideale Mittel zu sein, um den Zugang zum Unbewussten seiner Patienten zu erleichtern. Später änderte er seine Strategie radikal und stellte um auf die Methode der freien Asso­ ziation. Freuds frühe Ideen wurden ausserdem geprägt durch seine Arbeit mit einer Patientin, die er zusammen mit seinem Freund Joseph Breuer behandelte. Die jun­ ge Frau, die Freud in seinen Schriften Fräulein Anna O. nannte, litt an schweren hysterischen Symptomen. Während der therapeutischen Sitzungen stellten sich spontan Zustände holotroper Natur ein. Sie regredierte dabei in ihre Kindheit und erlebte verschiedenste traumatische Erlebnisse wieder, die verantwortlich für ihre neurotischen Störungen waren. Diese Erfahrungen empfand sie als äusserst hilf­ reich und verglich sie mit einer «Kaminreinigung». In «Studien zur Hysterie» emp­ fahlen die beiden Therapeuten hypnotische Regression und emotionales Abrea­ gieren von Traumata als die ideale Behandlungsform bei seelischen Neurosen (Freud und Breuer 1936). In seiner späteren Arbeit wandte sich Freud aber von der direkten emotiona­ len (also holotropen) Erfahrung ab und ersetzte sie durch die freie Assoziation, die im gewöhnlichen Alltagsbewusstsein durchgeführt wird. Lag der Schwerpunkt al­ so anfänglich beim bewussten (Wieder-)Erleben unbewussten Materials mit nach­ folgendem emotionalem Ausagieren, so verlagerte sich dieser nun in Richtung der so genannten Übertragungsanalyse - vom tatsächlichen Trauma zu den ödipalen Fantasien. Rückblickend scheint dies eine ungünstige Kursänderung gewesen zu sein, welche die Psychotherapie für die folgenden fünfzig Jahre in eine falsche Richtung wies (Ross 1989). Zwar kann die verbale Therapie bei Problemen zwischenmenschlicher Art von grossem Nutzen sein (in der Partner- oder Fami­ lientherapie), sie taugt jedoch wenig bei emotionalen und bioenergetischen Blo­ ckaden oder bei Makrotraumata, welche die Ursache so vieler emotionaler und psychosomatischer Störungen sind. Das Resultat seiner Gesinnungsänderung war, dass die akademischen Kreise in der ersten Jahrhunderthälfte Psychotherapie mit verbalem Austausch gleich­ setzten - man führte Gespräche von Angesicht zu Angesicht, wandte freies Asso­ ziieren auf der Couch oder behavioristische Dekonditionierung an. Dies hatte auch zur Folge, dass die holotropen Bewusstseinszustände, vormals als so heilsam eingeschätzt, immer mehr pathologisiert wurden. Diese Situation begann sich erst Anfang der Fünfzigerjahre zu ändern, mit den radikalen Innovationen der psychedelischen Therapie und anverwandter Konzep­ te. Eine von Abraham Maslow angeführte Gruppe amerikanischer Psychologen, mit dem Behaviorismus und der freudschen Psychoanalyse zutiefst unzufrieden, begründete eine neue, revolutionäre Bewegung, die Humanistische Psychologie. Diese wurde innert kürzester Zeit sehr populär und sollte die Basis bilden für ein weites Spektrum von Therapieformen, die gänzlich neue Prinzipien vertreten.

30

Während die traditionelle Psychotherapie hauptsächlich auf die verbale Kom­ munikation und die intellektuelle Analyse abstützte, setzten die neu aufkommen­ den, so genannten experimentellen Therapieformen auf direktes emotionales und physisches Erleben. Körperarbeit wurde als therapeutisches Schlüsselelement ver­ standen. Die bekannteste unter ihnen ist vielleicht die von Fritz Perls entwickelte Gestalt-Therapie (Perls 1976). Doch obwohl dem emotionalen Erleben nun mehr Bedeutung beigemessen wurde - die verbale Kommunikation spielte noch immer die wesentliche Rolle, sodass der Patient während der Behandlung nach wie vor im gewöhnlichen Alltagsbewusstsein verblieb. Die radikalsten Innovationen, was die Herbeiführung profunder Bewusst­ seinsveränderungen betrifft, kamen aus dem Gebiet der psychedelischen Thera­ pie, aber auch die verschiedenen Zweige neo-reichianischer Ausrichtung, die Primär-Therapie, Rebirthing und noch einige andere Therapieformen waren hier federführend. Zusammen mit meiner Frau Christina entwickelte ich die holotrope Atemarbeit, eine Methode, die mit wenig spektakulären Mitteln zu tiefen holotro­ pen Zuständen führt: Es handelt sich hierbei um eine Kombination aus bewusst in­ tensiviertem Atmen, evokativer Musik und gezielt eingesetzter Körperarbeit (Grof 1988). Auf Theorie und Praxis dieser therapeutisch wertvollen Selbsterforschungsmethode werde ich zu einem späteren Zeitpunkt noch zu sprechen kom­ men. Auch die moderne psychopharmakologische Forschung trug wesentlich dazu bei, die Methoden zur Induktion holotroper Zustände zu optimieren, indem sie psychedelische Substanzen in eine reine chemische Form brachte. Sie wurden ent­ weder aus Pflanzen isoliert oder aber im Laboratorium synthetisch hergestellt. Er­ wähnt seien hier beispielsweise die Tetrahydrocannabinole (THC), die aktiven Komponenten in Haschisch und Marihuana; das Meskalin, das aus Peyote gewon­ nen wird; die aus den mexikanischen Zauberpilzen extrahierten Substanzen Psilocybin und Psilocin oder auch verschiedene Tryptamin-Derivate der psychedeIi­ schen Snuffs, wie man sie in der Karibik und in Südamerika kennt. LSD, oder Ly­ sergsäurediäthylamid, ist eine halbsynthetische Substanz: Die Lysergsäure ist ein natürliches Produkt aus dem Mutterkorn, die Diäthylamid-Gruppe wird anschlies­ send im Labor chemisch angehängt. Die bekanntesten synthetischen Psychedelika sind wohl die Amphetamin-Derivate MDA, MDMA (auch Adam oder Ecstasy ge­ nannt), STP und 2-CB. Andere, ebenfalls sehr effektive bewusstseinsverändernde Techniken kom­ men im Labor selbst zur Anwendung. Bei der sensorischen Isolation beispielsweise werden die Sinnesreize auf ein Minimum reduziert (Lilly 1977) - in der extremsten Variante begibt sich das Individuum in einen dunklen und schalldichten Tank, der mit körperwarmem Wasser gefüllt ist. Eine weitere bekannte Labor-Methode ist das Bio-Feedback. Hier wird das Individuum mittels elektronischer Feedback-Signale in einen holotropen Zustand versetzt. Diese Signale sind charakterisiert durch ein Übermass an ganz bestimmten Hirnwellenfrequenzen (Green und Green 1978). Erwähnenswert in diesem Kontext sind auch die Techniken, die sich mit

31

Schlaf- und Traumentzug befassen, und die Forschungen im Bereich der Luziden Träume (La Berge 1985). Holotrope Zustände unterschiedlicher Dauer können aber auch spontan auftreten. Es lässt sich keine spezifische Ursache identifizieren, und der Prozess er­ folgt zumeist gegen den bewussten Willen der involvierten Person. Da die moder­ ne Psychiatrie zwischen mystischen Zuständen und Erkrankungen des Geistes kei­ nen Unterschied macht, werden Personen mit intensiven spirituellen Erlebnissen oftmals als psychotisch eingestuft. Sie werden hospitalisiert und der gängigen Be­ handlung mit symptomunterdrückender Medikation unterzogen. Meine Frau Christina und ich verwenden dafür die Begriffe psychospirituelle Notfälle oder spi­ rituelle Krisen (spiritual emergencies). Wir sind der Überzeugung, dass diese Pro­ zesse, wenn richtig unterstützt und behandelt, zu emotionaler und psychosomati­ scher Heilung, zu positiver persönlicher Transformation und Bewusstseinsentfaltung führen (Grof und Grof 1989,1990). Ich werde später genauer auf dieses wich­ tige Thema eingehen. Obwohl mich all die oben erwähnten Kategorien zutiefst interessieren, kon­ zentrierte sich meine Arbeit doch hauptsächlich auf die psychedelische Therapie, die holotrope Atemarbeit und die spirituellen Krisen. Dieses Buch basiert also hauptsächlich auf meinen persönlichen Beobachtungen aus diesen drei Bereichen und den dabei gewonnenen Einsichten. Die daraus gezogenen Schlussfolgerungen sind, was die verschiedenen Formen holotroper Zustände angeht, jedoch übergrei­ fender Natur und allgemein anwendbar.

Fehlerhafte Konzepte der westlichen Psychiatrie: Warum ein Umdenken so dringend notwendig ist Das Aufkommen der psychedelischen Therapie und der anderen hochwirksamen experimentellen Techniken machte die moderne Psychiatrie zwar wieder auf die holotrope Dimension aufmerksam. Doch der Grossteil der akademischen Zunft lehnte diese Bewegung von Anbeginn ab: Sie akzeptierten weder das therapeuti­ sche Potenzial, das diese Therapieformen bergen, noch zeigten sie Interesse an den Fragen, die sich bei deren Anwendung ergaben und welche für die bestehenden Konzepte eine reelle Herausforderung darstellten. Mochten die vielen Artikel in Fachzeitschriften und Fachbüchern noch so überzeugendes Material liefern: Die der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhun­ derts entstammenden, tief verwurzelten Vorurteile holotropen Zuständen gegen­ über Hessen sich dadurch nicht auflösen. Die Probleme, die sich während der Sech­ zigerjahre durch die unkontrollierten Selbsterforschungsexperimente der jungen Generation ergeben hatten, Hand in Hand mit den von Journalisten verbreiteten aufgebauschten Sensationsmeldungen und fehlerhaften Informationen, ergaben ein dermassen verzerrtes Bild, dass eine realistische Einschätzung des Potenzials der Psychedelika, aber auch der damit verbundenen Risiken, unmöglich wurde. Trotz der überwältigenden Fülle an Beweismaterial und erzielten Resultaten sieht die traditionelle Psychiatric holotrope Bewusstseinstände noch immer als pa­

32

thologisch an. Da zwischen mystischen Zuständen und Psychosen nach wie vor nicht unterschieden wird, wenden sie symptomunterdrückende Medikamente auch in all denjenigen Fällen an, wo eine Bewusstseinsveränderung spontan auftritt und vorübergehender Natur ist. Zumindest erstaunt ist, wer sieht, wie die Hauptströmung der Wissenschaft all die gewonnenen Einsichten bezüglich der ho­ lotropen Zustände ignorierte, verdrehte und fehlinterpretierte, handle es sich da­ bei nun um Erkenntnisse aus historischen Studien, um Erkenntnisse der verglei­ chenden Religionswissenschaften, der Anthropologie oder Zweigen der moder­ nen Bewusstseinsforschung wie Parapsychologie, psychedelische oder experimen­ telle Psychotherapie, Thanatologie oder Laborarbeit mit bewusstseinsverändern­ den Techniken. Eine solche Rigidität würde man allenfalls aus der Ecke religiöser Fundamen­ talisten erwarten, mit der Uridee des wissenschaftlichen Forschungsgeistes hat sie jedoch wenig mehr zu tun. Über vier Jahrzehnte Forschungsarbeit auf diesem Ge­ biet haben mich davon überzeugt, dass ein seriöses Studium dieses Themas nicht nur für die Psychiatrie weit reichende Konsequenzen zur Folge hätte, sondern auch für das westliche wissenschaftliche Weltbild im Allgemeinen. Die moderne Wissenschaft kann ihre monistische materialistische Philosophie nur dann auf­ rechterhalten, wenn sie weiterhin alle Daten betreffend holotroper Zustände sys­ tematisch und kategorisch ausschliesst. Wie wir gesehen haben, ist die Erkenntnis (und Anwendung) des heilenden Potenzials holotroper Zustände die jüngste Errungenschaft der westlichen Psy­ chotherapie, von der kurzen Zeitperiode um die Jahrhundertwende einmal abge­ sehen. In einem breiteren, historischen Kontext gesehen ist diese Form des Heilens paradoxerweise gleichzeitig die älteste, sie reicht zurück bis in die Uranfänge der Menschheit. Bei diesen Therapieformen handelt es sich also eigentlich um ei­ ne Wiederentdeckung und eine moderne Neuinterpretation derjenigen Themen, die von so manchem Anthropologen, der das spirituelle Heilen im Altertum oder aber in nativen Kulturen studierte, bereits dokumentiert wurde.

Die moderne Bewusstseinsforschung und ihre Auswirkungen auf die Psychiatrie Wie bereits erwähnt, billigt die westliche Psychiatrie und Psychologie den holotro­ pen Zuständen (mit Ausnahme von sich nicht wiederholenden und angstfreien Träumen) weder ein therapeutisches noch ein heuristisches Potenzial zu, sondern sicht sie grosso modo als pathologisches Phänomen an. Michael Harner, ein ange­ sehener Anthropologe, der während seiner Feldarbeit im Amazonasgebiet die schamanische Einweihung erhielt und selbst praktizierender Schamane ist, meinte, die westliche Psychiatrie sei zumindest in zweierlei Hinsicht mit schwer wiegenden Vorurteilen behaftet: Sie sei ethnozentrisch, indem sie ihr Verständnis der mensch­ lichen Psyche, und selbst der Realität, als die allein gültige - und darum allen an­ deren Konzepten überlegene - Wahrheit ansieht. Sie sei zudem kognizentrisch (akkurater wäre pragmazentrisch), indem sie bloss diejenigen Erfahrungen und

33

Beobachtungen berücksichtigt, die dem gewöhnlichen Alltagsbewusstsein ent­ stammen (Harner 1980). Das Desinteresse und die Geringschätzung holotroper Zustände führte in kul­ tureller Hinsicht zu immer weniger Sensibilität und zur Tendenz, all jene Bereiche zu pathologisieren, die im engen konzeptuellen Rahmen des monistischen mate­ rialistischen Paradigmas keinen Platz finden. Diese Haltung hatte gleichzeitig zur Folge, dass die klare Notwendigkeit eines kritischen Hinterfragens von Seiten der Psychiatrie getrübt und die notwendige Herausforderung, was deren theoretischen Konzepte und die praktische Anwendung betrifft, nicht angenommen wurde. Ein systematisches Studium dieser Bereiche zeigt unmissverständlich auf, dass eine radikale Revision unseres Grundverständnisses der menschlichen Psyche nicht mehr zu umgehen ist und neue Modelle für Psychiatrie, Psychologie und Psy­ chotherapie geschaffen werden müssen. Die erforderlichen Änderungen, was un­ sere Denkweise betrifft, lassen sich in folgende Kategorien aufteilen.

Die Natur der menschlichen Psyche und die Dimensionen des Bewusstseins Die traditionelle akademische Psychiatrie und die Psychologie verwenden ein Mo­ dell, das sich auf die Biologie, die postnatale Biografie und das freudsche indivi­ duelle Unbewusste beschränkt. Würde man all den Phänomenen, die während Er­ lebnissen holotroper Natur auftreten, jedoch gebührend Rechnung tragen wollen, so würde dies ein drastisches Umdenken im Bereich Bewusstseinsdimensionen be­ dingen. Nebst der postnatalen biografischen Ebene führt die neue, erweiterte Kar­ tografie deshalb zwei zusätzliche Bereiche auf: den perinatalen (der sich auf das Geburtstrauma bezieht) und den transpersonalen (Ahnen-bezogene, rassische, kollektive und phylogenetische Erinnerungen, karmische Sequenzen und archety­ pische Erfahrungen).

Wesen und Architektur emotionaler und psychosomatischer Störungen Um die verschiedenen psychischen Störungen nicht organischen Ursprungs («psy­ chogene Psychopathologie») zu erklären, nimmt die traditionelle Psychiatrie Mo­ delle zu Hilfe, welche nur postnatale biografische Traumata aus der früheren oder späteren Kindheit oder solche aus dem späteren Leben einbeziehen. Demge­ genüber vertritt die neue Denkweise die Ansicht, dass die Wurzeln solcher Störun­ gen viel tiefer reichen und sowohl vom perinatalen (Geburtstrauma) wie auch vom transpersonalen Bereich (siehe oben) stark beeinflusst werden.

Wirkungsvolle therapeutische Techniken Die traditionelle Psychotherapie kennt ausschliesslich Techniken, die auf der bio­ grafischen Ebene operieren. Unter anderem wird die Wiedererinnerung vergesse­ ner Begebenheiten gefördert oder das Freisetzen von unterdrücktem emotiona­ lem Material. Es geht um die Rekonstruktion der Vergangenheit anhand von

34

Träumen oder neurotischen Symptomen, um das Wiedererleben traumatischer Prägungen oder eine Analyse anhand der Übertragung. Forschungsergebnisse, die auch die Bereiche holotroper Natur mit einbeziehen, eröffnen gänzlich neue Per­ spektiven für die Heilung und Transformation der Persönlichkeit. Dieses Poten­ zial wird zugänglich, sobald das Bewusstsein die perinatalen und transpersonalen Bereiche erreicht.

Die Strategien in Psychotherapie und in Selbsterfahrungstherapien Die traditionelle Psychotherapie zielt im Wesentlichen darauf ab, auf intellektuel­ lem Niveau zu einem Verständnis der Psyche und ihrer Arbeitsweise zu kommen. Warum entwickeln wir welche Symptome, und was bedeuten sie? Ausgehend von den dabei gewonnenen Erkenntnissen werden die Techniken entwickelt, die der Therapeut dann bei seiner praktischen Arbeit anwendet. Dass diese Vorgehens­ weise zumindest unzulänglich ist, zeigt sich im Umstand, dass die Psychiater und Psychologen selbst sich in den fundamentalsten theoretischen Sichtweisen nicht ei­ nig werden können. Eine verblüffend hohe Anzahl rivalisierender PsychotherapieSchulen ist das Resultat. Die Arbeit mit holotropen Zuständen macht uns auf eine überraschende, radikal verschiedene Alternative aufmerksam - beim Patienten wird die wesenseigene innere Intelligenz mobilisiert. Einmal geweckt, übernimmt diese selbst die Führung und bestimmt den Verlauf des Heilprozesses.

Die Rolle der Spiritualität im menschlichen Leben Die westliche, materialistisch orientierte Wissenschaft lässt der Spiritualität kei­ nen Raum, ja sie erachtet diese als nicht kompatibel mit der wissenschaftlichen Weitsicht. Die neuen Forschungen ergeben aber, dass Spiritualität eine natürliche Dimension der menschlichen Psyche ist und der universellen Ordnung zugrunde liegt. Wenn in diesem Kontext von Spiritualität die Rede ist, so ist diese im ur­ sprünglichen, unverfälschten Sinne zu verstehen. Wir sprechen hier also nicht etwa von den Ideologien institutionalisierter Religionen.

Die Natur der Realität: Psyche, Kosmos und Bewusstsein Die bisher erwähnten notwendigen Änderungsvorschläge nahmen allesamt Bezug auf Theorie und Praxis der konventionellen Psychiatrie, Psychologie und Psycho­ therapie. Die Herausforderungen, die sich aus der Arbeit mit holotropen Zustän­ den stellen, sind allerdings viel fundamentalerer Natur. Viele Erlebnisse und Be­ obachtungen sind von so ausserordentlicher Natur, dass sie aus der Perspektive der monistisch-materialistischen Sichtweise nicht verstanden werden können. Ihr erkenntnistheoretischer Gehalt ist von einer so reichen Fülle und Überzeugungs­ kraft, dass die meisten Grundannahmen der westlichen Wissenschaft, vor allem aber diejenigen, die das Wesen des Bewusstseins und dessen Verhältnis zur Mate­ rie betreffen, durch sie ernsthaft unterminiert werden.

35

Kapitel 2 Biografische, perinatale und transpersonale Bereiche: Eine Kartografie der menschlichen Psyche

ie Forschungen auf dem Gebiet holotroper Bewusstseinszustände machen auf unmissverständliche Weise klar, dass der konzeptuelle Rahmen der Schulpsychiatrie, der sich auf die postnatale Biografie und das freudsche Unbe­ wusste beschränkt, viel zu eng gefasst ist. Wollen wir der Phänomenologie dieser Zustände gerecht werden, müssen wir ein erweitertes und umfassenderes Modell der menschlichen Psyche und ein neues Verständnis des Bewusstseins an sich in Betracht ziehen. Dieses kann sich vom bisherigen nur radikal unterscheiden. Um in diesem Sinne einen Beitrag zu leisten, entwarf ich schon während meiner ersten Forschungsjahre mit Psychedelika eine Kartografie der Psyche, welche die neuen Erkenntnisse mit einbezog. Wie bereits erwähnt, enthält diese nebst der üblichen biografischen Ebene noch zwei weitere, transbiografische Bereiche: den perinatalen, der sich mit dem Trauma der biologischen Geburt beschäftigt, und den transpersonalen, der auf Er­ lebnisse der Identifikation mit anderen Personen, Tieren, Pflanzen oder anderen Aspekten der Natur Bezug nimmt. Im Letzteren finden sich auch Erfahrungen, die mit dem Leben der biologischen Ahnen oder der rassischen Herkunft zu tun ha­ ben, ausserdem phylogenetische oder karmische Erinnerungen und Visionen von archetypischen Wesenheiten oder mythologischen Regionen. Die extremsten Er­ fahrungen aus dieser Kategorie sind die Identifikation mit dem Universellen Geist oder das Erlebnis der metakosmischen Leere. Beschreibungen perinataler und transpersonaler Phänomene finden sich durch alle Zeitalter hindurch in vielen re­ ligiösen, mystischen und okkulten Schriften.

D

Die postnatale Biografie und das individuelle Unbewusste Die biografische Ebene der Psyche enthält unsere Erinnerungen aus dem Säug­ lingsalter, der Kindheit und dem späteren Leben. Dieser Bereich der Psyche wird hier nicht eingehender behandelt, da die traditionelle Psychiatrie, Psychologie und Psychotherapie sich ausschliesslich mit diesem und dem Konzept des individuellen Unbewussten beschäftigt und diese dadurch bestens bekannt sind. Das Unbe­ wusste, wie Freud es beschrieb, ist mit dem Biografischen und dem Postnatalen so­ wieso eng verbunden: Zur Hauptsache besteht es aus diesen beiden Komponen­ ten, und wichtige Bestandteile derselben wurden entweder vergessen oder aber aber aktiv verdrängt. Die biografische Ebene der neuen Kartografie ist mit der tra-

36

ditionellen Definition allerdings nicht ganz identisch. Die Arbeit mit holotropen Zuständen hat etliche neue Aspekte, was die Dynamik des biografischen Materials betrifft, zutage gefördert. Wird ausschliesslich eine verbale Psychotherapie ange­ wendet, bleiben diese im Verborgenen. Die verbale Therapie zielt beispielsweise darauf ab, emotional signifikante Themen indirekt durch Träume, Versprecher oder Störungen anhand der Transferenz zu rekonstruieren. In holotropen Zuständen hingegen werden die ursprüngli­ chen Gefühle, körperlichen Empfindungen und zugehörigen Sinneswahrnehmun­ gen im voll regredierten Zustand bewusst wiedererlebt. Taucht ein Trauma aus der Säuglingszeit oder der späteren Kindheit auf, so verändern sich Körperstellung, Empfindungen und Emotionen entsprechend dem damaligen Alter, die generelle Wahrnehmung der Welt ist wieder eine naive. Wie authentisch diese Regression ist, sieht man schon daran, dass Gesichtsfalten vorübergehend verschwinden, Ge­ sichtsausdruck und auch Bewegungen, Gestik und Benehmen wirken ausseror­ dentlich kindlich. Das holotrope Modell unterscheidet sich, was die biografische Ebene betrifft, noch in einem weiteren wichtigen Punkt von der traditionellen Methode: Es wird nicht nur auf die psychischen Traumata eingegangen, sondern auch auf solche, die primär physischer Natur sind. Viele Personen, die sich einer psychedelischen oder ähnlichen Behandlung unterzogen haben, erlebten Szenen wieder, die mit Opera­ tionen, Beinahe-Ertrinken, mit Unfällen oder schweren Kinderkrankheiten zu tun hatten. Besonders traumatisch scheinen all die Ereignisse zu sein, die mit Er­ stickungsängsten, wie sie beispielsweise bei Diphtherie, Keuchhusten oder Er­ würgtwerden Vorkommen, zu tun haben. Diese Inhalte tauchen in der Regel spontan und unvorhergesehen auf. Wie stark sich physische Traumata auf unsere Psyche auswirken und wie mächtig ihr Einfluss auf unsere emotionalen und psychosomatischen Probleme ist, wird erst bei ihrer Bewusstwerdung ersichtlich. Personen, die an Asthma, Migräne, psycho­ somatischen Schmerzen, Phobien oder Depressionen leiden, sadomasochistisch veranlagt oder suizidgefährdet sind, weisen in ihrer persönlichen Geschichte fast immer Traumatisierungen physischer Art auf. Dass die etablierte Psychiatrie und Psychologie diesen Umständen keinerlei Bedeutung beimisst, steht in scharfem Kontrast zu den weit reichenden Konsequenzen und therapeutischen Erfolgen, die bei einer erfolgreichen Integration erreicht werden können. Meine Forschungen im biografischen/rekollektiven Bereich der Psyche erga­ ben auch folgende neue Erkenntnis: Emotional relevante Erinnerungen sind im Unbewussten nicht mosaikartig als einzelne, isolierte Prägungen gespeichert, son­ dern in Form von komplexen, dynamischen Konstellationen. Für diese Erinne­ rungs-Komplexe habe ich den Namen COEX-Systeme gewählt, eine Kurzform für «systems of Condensed experience» (Systeme verdichteter Erfahrungen). Weil die­ ses Modell sowohl in theoretischer Hinsicht wie auch in der praktischen Anwen­ dung von Wichtigkeit ist, verdient es eine eingehendere Betrachtung.

37

Systeme verdichteter Erfahrungen (COEX-Systeme) In einem COEX-System sind emotional stark befrachtete Erinnerungen aus ver­ schiedenen Lebensabschnitten vereint, die gefühls- oder empfindungsmässig eine ähnliche Qualität aufweisen. Dieses Grundthema durchzieht die verschiedenen, davon betroffenen psychischen Ebenen und offenbart sich im Verlauf des Lebens in zahlreichen Varianten. Das Unbewusste des Einzelnen kann mehrere COEXKonstellationen beherbergen, ihre Anzahl und die zentralen Themen variieren da­ bei von Person zu Person beträchtlich. In einem COEX können beispielsweise all jene Erfahrungen verdichtet sein, die mit demütigenden, entwürdigenden und beschämenden Erlebnissen zu tun ha­ ben, welche unserer Selbstachtung Schaden zugefügt haben. In einem anderen COEX-System mag Furcht der gemeinsame Nenner sein, die uns in schockieren­ den, Angst einflössenden oder klaustrophobischen Situationen, im Zusammen­ hang mit Erstickungsgefühlen oder durch erdrückende, beengende Umstände überwältigte. Ein weiteres, häufig vorzufindendes Motiv ist die Erfahrung von Zurückweisung oder seelischer Entbehrung - unsere Fähigkeit, Männern, Frauen oder den Menschen insgesamt zu vertrauen, wird dabei empfindlich gestört. Er­ lebnisse, die tiefe Schuldgefühle weckten oder bei welchen der Betreffende schei­ terte, sexuelle Erfahrungen, die entweder gefährlich waren oder als abstossend empfunden wurden, und Ereignisse, die mit blindwütiger Aggression und Gewalt­ tätigkeit zu tun hatten, bilden ebenfalls solche Konstellationen. Von spezieller Be­ deutung sind diejenigen COEX-Systeme, die den Einzelnen mit lebensbedrohli­ chen Situationen konfrontieren, bei denen Gesundheit und körperliche Unver­ sehrtheit ernsthaft gefährdet sind. Die obigen Ausführungen könnten den Eindruck erwecken, dass COEX-Sys­ teme ausnahmslos schmerzliche und traumatische Erinnerungen enthalten. Tatsa­ che ist, dass die Intensität und emotionale Relevanz der Erfahrung den Ausschlag gibt, ob eine Erfahrung in ein COEX integriert wird, und nicht deren unangeneh­ me Qualität. Zusätzlich zu den negativen Konstellationen bestehen auch solche, die von ungemein erfreulicher, ja ekstatischer Natur sein können. Dieses Konzept entstand aus der psychotherapeutischen Behandlung von Kli­ enten, die an verschiedenen schweren Symptomen psychopathologischer Natur lit­ ten. Weil der Hauptfokus hier auf der Arbeit mit traumatischen Erfahrungen liegt, sind die negativen COEX-Konstellationcn auch ungleich besser beleuchtet wor­ den. Das negativ belastete Spektrum ist auch um vieles variantenreicher als das po­ sitive. Es scheint, als ob die Misere in unserem Leben die unterschiedlichsten For­ men annehmen kann, derweil es zum Glücklichsein nur die Erfüllung einiger we­ niger Grundvoraussetzungen braucht. Wie auch immer, wollen wir vom Thema COEX ein allgemein gültiges Bild erhalten, so dürfen wir nicht vergessen, dass die­ se keinesfalls auf negative Besetzungen limitiert sind. In meinen ersten Forschungsjahren, als ich die COEX-Systeme eben erst ent­ deckt hatte, beschrieb ich sie als Prinzipien, welche die dynamischen Kräfte auf der biografischen Ebene des Unbewussten beherrschen. Zu jener Zeit basierte mein

38

psychologisches Verständnis noch auf einem engen biografischen Modell der Psy­ che, das mir meine Lehrer, vor allem aber mein freudscher Analyst vermittelt hat­ ten. Ausserdem wurde in den ersten psychedelischen Sitzungen einer therapeuti­ schen Serie, vor allem wenn kleinere Dosen zum Einsatz kamen, das Bild meist vom biografischen Material dominiert. Im Laufe der Zeit wurde dann allerdings klar, dass die Wurzeln der COEX-Systeme viel, viel tiefer reichen. Nach meinem heutigen Verständnis verhält es sich so, dass eine jede COEXKonstellation einen bestimmten Aspekt des Geburtstraumas zu überlagern scheint und gleichzeitig in diesem verankert ist. Das Erlebnis der biologischen Ge­ burt ist dermassen komplex und reich an Emotionen und körperlichen Empfin­ dungen, dass es in prototypischer Form alle noch so unterschiedlichen Themen zu enthalten scheint. Ein typisches COEX-System reicht aber noch weiter, die tiefs­ ten Wurzeln bestehen aus unterschiedlichen Formen transpersonaler Phänomene: Hier finden wir Erfahrungen aus vergangenen Leben, die jungschen Archetypen, bewusste Identifikation mit verschiedenen Tieren und Ähnliches. Heute sehe ich die COEX-Systeme als übergeordnete organisierende Prinzi­ pien der menschlichen Psyche. Bis zu einem gewissen Grad ähnelt dieses Konzept den jungschen Ideen der «psychologischen Komplexe» (Jung 1960b) und Hanskarl Leuners «transphänomenalen dynamischen Systemen» (tdysts; Leuner 1962), aber in vielen wesentlichen Merkmalen unterscheidet es sich von diesen. COEX-Syste­ me spielen in unserem psychologischen Leben eine wesentliche Rolle. Sie können die Art und Weise, wie wir uns selbst, unsere Mitmenschen oder die Well als sol­ che wahrnehmen, beeinflussen; sie wirken auf unsere Gefühlswelt und unser allge­ meines Verhalten. Sie sind die dynamischen Kräfte hinter unseren emotionalen und psychosomatischen Symptomen, unseren Beziehungsproblemen und irratio­ nalen Verhaltensmustern. Zwischen den COEX-Systemen und der Aussenwelt besteht ein dynamisches Wechselspiel. Bestimmte Ereignisse in unserem Leben können entsprechende COEX-Systeme aktivieren, und umgekehrt können aktive COEX-Systeme unsere Wahrnehmung und unser Verhalten so beeinflussen, dass wir deren Kernthema im gegenwärtigen Leben wieder hervorrufen. Dieser Mechanismus kann in der prak­ tischen Arbeit in aller Klarheit nachvollzogen werden. Im holotropen Bewusst­ seinszustand bestimmt das die Sitzung dominierende COEX den thematischen In­ halt, die Wahrnehmung der Umgebung und die Verhaltensweise des Klienten ge­ nerell; im Spezifischen sichtbar wird die Dynamik der bestimmten Schicht dieses Systems, welche sich jetzt gerade Bahn bricht und ins Bewusstsein gelangt. Die diversen Charakteristiken von COEX-Systemen lassen sich am besten an­ hand eines praktischen Beispiels veranschaulichen. Ich habe mich zu diesem Zweck für Peter entschieden, einen Klienten aus meiner Prager Zeit. Peter war von Beruf Lehrer und damals siebenunddreissig Jahre alt. Er musste periodisch hospitalisiert werden und wurde unserer Abteilung zugeteilt. Alle Behandlungen, die der psychedelischen Therapie vorausgingen, erwiesen sich jedoch als unfrucht­ bar.

39

Zu Beginn unserer experimentellen Sitzungen war Peter kaum noch dazu im Stand, das gewöhnliche Alltagsleben zu bewältigen. Er stand fast unaufhörlich unter dem Zwang, einen Mann von bestimmtem Aussehen, wenn möglich schwarz gekleidet, zu finden. Mit diesem wollte er sich anfreunden und ihm von seinem drängenden Verlangen erzählen, in einen dunklen Keller einge­ sperrt und verschiedensten diabolischen physischen und mentalen Torturen ausgesetzt zu werden. Unfähig, an etwas anderes zu denken, wanderte er ziel­ los durch die Strassen, suchte öffentliche Parkanlagen, Toiletten, Bars und Bahnhofbuffets auf, immer auf der Suche nach dem «richtigen Mann». Mehrfach gelang es ihm, verschiedene Männer, die seinen Kriterien ent­ sprachen, zu überreden oder durch Geld dazu zu bewegen, das von ihm Ver­ langte zu tun. Da er ein spezielles Talent hatte, Personen mit sadistischen Zü­ gen zu finden, wurde er zweimal fast umgebracht, mehrere Male ernstlich ver­ letzt und einmal ausgeraubt. Wenn es ihm jeweils gelang, das sehnlichst Er­ wünschte tatsächlich zu erleben, so empfand er dabei grösste Angst und verabscheute die Folterungen. Abgesehen von diesem Hauptproblem litt Pe­ ter auch an Depressionen mit Suizidtendenz, an Impotenz und selten auftre­ tenden epilepsieartigen Anfällen. Bei der Rekonstruktion seiner persönlichen Geschichte wurde mir klar, dass die schwer wiegenden Probleme ihren Anfang nahmen, als er während des Zweiten Weltkriegs gegen seinen Willen in Deutschland eine Stelle an­ nehmen musste. Die Nazis rekrutierten Leute aus den besetzten Gebieten und Hessen sie an Orten arbeiten, an denen Luftangriffe zu erwarten waren, so zum Beispiel Giessereien und Munitionsfabriken. Diese Form von Sklavenarbeit nannte man Totaleinsetzung. Zu dieser Zeit zwangen ihn zwei SS-Offiziere mit vorgehaltener Pistole wiederholte Male, bei ihren homosexuellen Betätigun­ gen mitzumachen. Als der Krieg vorbei war, realisierte Peter, dass diese Er­ lebnisse in ihm eine ausgeprägte Neigung für den homosexuellen Geschlechts­ verkehr, erlebt in der passiven Rolle, hinterlassen hatten. In den folgenden Jahren entwickelte sich daraus ein Fetischismus für schwarze Männerkleidung, was schliesslich zum oben geschilderten komplexen obsessiv-kompulsiven, masochistischen Verhalten führte. Fünfzehn aufeinander folgende psychedelische Sitzungen brachten ein äusserst interessantes und bedeutsames COEX-System zum Vorschein, das seinen Problemen zugrunde lag. Die oberflächlichsten Schichten bildeten Pe­ ters traumatische Erfahrungen mit seinen sadistischen Partnern. Einige Male kam es tatsächlich so weit, dass die von ihm rekrutierten Komplizen ihn fessel­ ten, ohne Wasser und Brot in einen dunklen Keller schlossen und ihn, seinem Wunsch gemäss, mit Peitschenhieben und Würgen folterten. Einer dieser Männer schlug ihn heftig auf den Kopf, fesselte ihn mit einer Schnur und liess ihn, nachdem er ihm sein Geld abgenommen hatte, im Wald Hegen. In Peters dramatischstem Abenteuer erzählte ihm ein Mann, er hätte eine Hütte im Wald mit einem Keller, der genau so aussehe, wie Peter ihn sich wün­ sche. Er versprach ihm, ihn dahin mitzunehmen. Als sie im Zug zum Wochen­ endhaus des Mannes fuhren, bekam Peter ein ungutes Gefühl, als er den volu­ minösen, eigenartig aussehenden Rucksack seines Begleiters bemerkte. Als

40

dieser das Abteil kurz verliess, um auf die Toilette zu gehen, stieg Peter auf den Sitz, um das verdächtige Gepäck zu inspizieren. Er entdeckte eine kom­ plette Garnitur von Mordwaffen, inklusive einer Pistole, eines grossen Metz­ germessers, eines frisch geschliffenen Beils und einer chirurgischen Säge, wie man sie für Amputationen braucht. In panischer Angst sprang er aus dem fah­ renden Zug, wobei er schwere Verletzungen davontrug. - Die in den obigen Episoden vorkommenden Elemente entstammen den an der Oberfläche lie­ genden Schichten von Peters wichtigstem COEX. Eine tiefer liegende Schicht enthielt Peters Erinnerungen an das Dritte Reich. In den Sitzungen, welche diesen Teil des COEX zum Inhalt hatten, er­ lebte er in detaillierter Form seine Erlebnisse mit den homosexuellen SS-Offizieren wieder, mit all den damit verbundenen komplizierten Gefühlen. Er er­ lebte auch anderes traumatisches Material aus dem Zweiten Weltkrieg wieder und nahm die gesamte, bedrückende Atmosphäre dieser Zeit wahr. Er hatte Visionen von pompös inszenierten Nazi-Militärparaden und -Zusammenkünf­ ten, von Bannern mit Swastikas, von ominösen gigantischen Adleremblemen, sah Szenen aus Konzentrationslagern und manches andere. Dann folgten diejenigen Schichten, welche mit Peters Kindheit zu tun hat­ ten; die meisten davon hatten mit der körperlichen Züchtigung durch seine El­ tern zu tun. Sein Vater war Alkoholiker und wurde im angetrunkenen Zustand oft gewalttätig. Er schlug ihn auf sadistische Weise, wobei er einen grossen Le­ derriemen zu Hilfe nahm. Die bevorzugte Bestrafungsmethode seiner Mutter war, Peter für lange Zeit ohne Trinken und Essen in einen dunklen Keller zu schliessen. Peter erinnerte sich daran, dass sie während seiner ganzen Kindheit ausnahmslos schwarze Kleider trug; er konnte sich nicht erinnern, sie jemals in etwas anderem gesehen zu haben. An diesem Punkt realisierte er, dass eine Wurzel seiner Obsessionen ein heftiges Verlangen nach qualvoller Pein war, welche diejenigen Elemente kombinierte, die seine Eltern im Sinne der Züch­ tigung bei ihm anzuwenden pflegten. Aber dies war nicht die ganze Geschichte. Als wir mit den Sitzungen fort­ fuhren, begann sich der Prozess zu vertiefen, und Peter wurde mit dem Trau­ ma der Geburt in seiner ganzen biologischen Brutalität konfrontiert. In dieser Erfahrung fand er all diejenigen Elemente wieder, nach denen ihn so sehr ver­ langte und die er durch eine sadistische Behandlung zu erreichen hoffte: dunk­ ler, eingeschlossener Raum, Enge und eingeschränkte Bewegungsmöglichkeiten. Und vor allem fand er sich hier auch extremsten körperlichen und emo­ tionalen Torturen ausgesetzt. Das Wiedererleben des Geburtstraumas löste schliesslich seine schwierigen Symptome bis zu dem Grad, dass er im Alltag wieder normal funktionieren konnte. Wenn während eines holotropen Zustandes ein COEX-System ins Bewusstsein auftaucht, nimmt es eine dominante Stellung ein und bestimmt Art und Verlauf der Erfahrung. Die Wahrnehmung von uns selbst, vom menschlichen Umfeld und der Umgebung wird entstellt oder verzerrt und in unserer Illusion dergestalt ver­ ändert, dass sie mit dem Grundmotiv des auftauchenden COEX und dessen spezi­ fischen Ebenen korrespondieren. Dieser Mechanismus lässt sich am besten an­

41

hand der im Folgenden beschriebenen Dynamiken in Peters holotropen! Prozess veranschaulichen. Als Peter mit den oberflächlicheren Ebenen des beschriebenen COEX in Berührung kam, begann er in mir seine damaligen sadistischen Partner zu se­ hen, dann identifizierte er mich mit anderen Figuren, die ebenfalls Gewalt symbolisierten: mit einem Metzgermeister, einem Mörder, einem mittelalterli­ chen Todesurteilsvollstrecker, einem Inquisitor oder einem Lasso-bewehrten Cowboy: Meinen Füllhalter hielt er für einen orientalischen Dolch und erwar­ tete, damit attackiert zu werden. Und als er auf dem Pull ein Messer entdeck­ te, dessen Griff aus Hirschgeweih gearbeitet war - eigentlich ein Brieföffner sah er mich plötzlich als gefährlichen, gewalttätigen Förster. In anderen Mo­ menten bat er mich wiederholt, ich möge ihn doch foltern, und er wolle «für den Doktor» leiden, indem er sich das Urinieren verkneife. Zu diesem Zeit­ punkt der Sitzung wurden der Behandlungsraum und auch die Aussicht aus dem Fenster in seiner Vorstellung zu denjenigen Orten, an welchen Peters Er­ lebnisse mit seinen sadistischen Partnern stattgefunden hatten. Als die Erfahrung sich auf eine, zeitlich gesehen, weiter zurückliegende Ebene zu konzentrieren begann, sah mich Peter als Hitler und dann als ande­ re führende Figuren des Nazi-Reichs, ich wurde zum Befehlshaber eines Kon­ zentrationslagers, dann SS-Mitglied und Gestapo-Beamter. Die Geräusche, die von aussen her in den Behandlungsraum drangen, interpretierte er unter anderem als bedrohliches Stiefelknallen paradierender Soldaten, oder er hör­ te in ihnen die Musik, die bei faschistischen Paraden am Brandenburger Tor gespielt wurde, und die Nationalhymnen Nazi-Deutschlands. Im Verlauf der Sitzung nahm der Behandlungsraum die verschiedensten Formen an: Er wur­ de zum Reichstagssaal mit seinen Adler-Emblemen und Swastikas; wurde zur Baracke in einem Konzentrationslager; dann wieder zu einem Gefängnis mit schwer vergitterten Fenstern und schliesslich zu einer Zelle in einem Todes­ trakt. Als im weiteren Verlauf der Sitzungen die Kernerfahrungen aus der Kind­ heit aufzutauchen begannen, nahm mich Peter als die ihn bestrafenden Eltern wahr. Er tendierte dann dazu, mir gegenüber verschiedene anachronistische Verhaltensmuster an den Tag zu legen, die charakteristisch waren für die Art Beziehung, die er mit seinen Eltern gehabt hatte. Der Behandlungsraum ver­ wandelte sich jetzt in verschiedene Räume seines Elternhauses, vor allem aber in den dunklen Keller, in welchen seine Mutter ihn wiederholte Male einge­ sperrt hatte. Der oben beschriebene Mechanismus hat auch seinen dynamischen Gegenspieler: Sinnesreize, die durch die Aussenwelt vermittelt werden und ganz bestimmte Qua­ litäten aufweisen, tendieren dazu, in einer Person die entsprechenden COEX-Sys­ teme zu aktivieren. Auslösendes Moment kann ein auf eine bestimmte Art und Weise ausstaffiertes Behandlungszimmer sein oder die einen gerade umgebende Landschaft. Auch das menschliche Umfeld oder die therapeutische Situation zum

42

Zeitpunkt der Sitzung können den ursprünglichen traumatischen Szenen gleichen oder auch nur einige bestimmte ähnliche Komponenten aufweisen und somit ei­ nen Prozess aktivieren. Dies scheint der Schlüssel zu sein, der uns die enorme Be­ deutung von Set und Selling erkennen lässt. Wie ein COEX-System versehentlich durch bestimmte äussere Stimuli aktiviert werden kann, lässt sich anhand einer Se­ quenz aus einer von Peters LSD-Sitzungen illustrieren. Zu den prägendsten Erlebnissen, die im Verlauf von Peters LSD-Therapie auftauchten, gehörten die Szenen, in welchen ihn seine Mutter in einen dunk­ len Keller einschloss und ihm jegliche Nahrung vorenthielt, während der Rest der Familie sich gemütlich der Mahlzeit hingab. Das Wiedererleben dieser Er­ innerung wurde völlig unerwartet durch das wütende Bellen eines Hundes aus­ gelöst, der in eben diesem Moment am Fenster des Behandlungszimmers vor­ beirannte. Die anschliessende Analyse dieser Situation offenbarte eine inter­ essante Beziehung zwischen bestimmten äusseren Stimuli und den Erinnerun­ gen, die diese aktivieren. Peter konnte sich daran erinnern, dass der Keller, in welchen ihn seine Mutter jeweils verbannte, ein kleines Fensterchen mit Blick auf den Garten des Nachbarn hatte. Der Nachbar hatte einen Schäferhund, der meist angekettet vor seiner Hundehütte lag. Jedes Mal wenn Peter zur Strafe wieder in den Keller geschickt wurde, begann dieser wie verrückt und fast ohne Unterlass zu bellen. Personen, die sich im holotropen Zustand befinden, scheinen auf gewisse Stimuli der Aussenwelt oft völlig unangemessen und übertrieben zu reagieren. Solche Überreaktionen sind meist sehr spezifischer und selektiver Natur und lassen sich mit den zu diesem Zeitpunkt dynamisch wirkenden COEX-Systemen erklären. So können Patienten extrem empfindlich reagieren auf eine Behandlung, die sie als wenig engagiert, kalt und «professionell» empfinden, weil sie sich unter dem Ein­ fluss einer Erinnerungskonstellation befinden, die von emotionaler Entbehrung, Zurückweisung oder Geringachtung von Seiten der Eltern oder einer anderen wichtigen Figur aus der Kindheit geprägt ist. Wenn bei einem Patienten aber die alten, schmerzhaften Rivalitäten und Kämpfe mit seinen Geschwistern ans Bewusstsein drängen, so wird er versuchen, den Therapeuten zu monopolisieren, und wenn er schon nicht der «einzige Pati­ ent» sein kann, so doch der Favorit. Personen in dieser Situation fällt es äusserst schwer zu akzeptieren, dass der Therapeut noch andere Klienten hat, und sie kön­ nen extrem irritiert sein, wenn jemand anderem nur das geringste Interesse entgegengebracht wird. Eine Person, die zuvor nie etwas einzuwenden hatte, wenn sie allein gelassen wurde, oder die sich dies sogar wünschte, kann es plötzlich nicht mehr ertragen, wenn der Therapeut den Raum kurz verlässt, weil sie mit tief sit­ zenden Kindheitserinnerungen, die mit Verlassenwerden und Einsamkeit zu tun haben, in Berührung gekommen ist. - Dies sind nur einige wenige Beispiele zu Si­ tuationen, in welchen überempfindliche Reaktionen auf äussere Umstände auf­ tauchende COEX-Systeme reflektieren.

43

Der «innere Radar» des holotropen Bewusstseinszustands Bevor wir uns wieder der erweiterten Kartografie der Psyche zuwenden, scheint es angebracht, einen sehr wichtigen und aussergewöhnlichen Aspekt holotroper Zu­ stände zu erwähnen. Dieser spielte eine bedeutende Rolle bei der Erstellung der experimentellen «Landkarten des Innenraums». Derselbe Aspekt erwies sich auch als von unschätzbarer Hilfe für den psychotherapeutischen Prozess. Holotrope Zustände tendieren dazu, eine Art «inneren Radar» in Funktion treten zu lassen, der automatisch diejenigen unbewussten Inhalte ans Licht bringt, welche im Mo­ ment die stärkste emotionale Ladung haben, psychodynamisch am relevantesten sind und für eine bewusste Bearbeitung am einfachsten zugänglich sind. Das ist ganz klar ein enormer Vorteil, wenn wir dies mit der Situation in der verbalen Psychotherapie vergleichen, wo der Klient eine stattliche Anzahl ver­ schiedenster Informationen vorbringt, aus welchen der Therapeut dann die wichti­ gen von den unwichtigen zu unterscheiden hat und zudem erkennen soll, wo der Patient jetzt gerade blockiert, und so weiter. Es bestehen Unmengen von psycho­ therapeutischen Schulen, deren Meinungen bezüglich der in der Psyche wirkenden Grundmechanismen und bezüglich Ursache und Bedeutung von Symptomen weit auseinender gehen, hinzu kommen all die Meinungsverschiedenheiten, was die praktischen therapeutischen Mechanismen angeht. Da kein einheitlicher Konsens, nur schon was die fundamentalsten theoretischen Probleme anbelangt, auszumachen ist, scheinen viele der bei Verbaltherapien geäusserten Interpretationen doch eher willkürlich und fragwürdig zu sein. Diese werden immer den Stempel der Vorlieben, aber auch der Voreingenommenheiten des betreffenden Therapeuten tragen und von der jeweiligen Schule beeinflusst sein. Die Arbeit mit holotropen Zuständen erspart dem Therapeuten solch proble­ matische Entscheidungsfindungen und eliminiert einen Grossteil der Subjektivität und der professionell erworbenen Abneigungen oder Vorlieben. Sobald der Klient in den holotropen Zustand eintritt, wird das zu bearbeitende Material automatisch angewählt. Solange die Person in diese Erfahrung verlieft ist, ist das Beste, was wir Therapeuten tun können, diesen Prozess zu akzeptieren und zu unterstützen, egal ob dies nun mit unseren theoretischen Konzepten und Erwartungen in Einklang steht oder nicht. Es war diese «innere Radarfunktion», die uns darauf aufmerksam machte, wie stark physische Traumata sowohl in emotionaler wie auch in physisch­ energetischer Hinsicht geladen sind und wie viel sie zur Entstehung emotionaler und psychosomatischer Störungen beitragen. Diese automatische Selektion von emotional relevantem Material führte den Prozess auch auf spontane Weise zu den perinatalen und transpersonalen Ebenen der Psyche - Iransbiografische Domä­ nen, die von der akademischen Psychiatrie und Psychologie weder erkannt noch anerkannt werden.

Die perinatale Ebene des Unbewussten Wenn der tiefe Prozess experimenteller Selbsterforschung über die Ebene der Kindheits- und Jugenderinnerungen hinausgeht und zum Geburtsprozess gelangt.

44

beginnen wir mit Emotionen und körperlichen Empfindungen von einer solchen Intensität in Kontakt zu kommen, die oftmals alles übertreffen, was wir zuvor für menschenmöglich gehalten hatten. Die einzelnen Erlebnisse vermischen sich hier und ergeben eine seltsame Mixtur aus Elementen und Themen von Geburt und Tod. Dies beinhaltet die Empfindung eines äusserst unangenehmen, lebensbe­ drohlichen Eingeengtwerdens, zusammen mit einem verzweifelten, entschlosse­ nen Kampfwillen, um uns aus dieser Situation zu befreien und zu überleben. Weil dieser Bereich des Unbewussten so eng mit der biologischen Geburt ver­ bunden ist, habe ich dafür den Namen perinatal gewählt. Es ist eine griechisch-la­ teinische Wortkombination, wobei peri «in der Nähe von» oder «um etwas herum» bedeutet und die Wortwurzel natalis «die Geburt betreffend» meint. Dieser Be­ griff wird in der Medizin gemeinhin benutzt, um verschiedene biologische Prozes­ se zu beschreiben, die kurz vor, während oder kurz nach der Geburt stattfinden. Die Geburtshelfer zum Beispiel reden von einer perinatalen Hemorrhage oder Entzündung, oder von einer perinatalen Schädigung des Hirns. Wie auch immer aber indem die traditionelle Medizin nach wie vor abstreitet, dass das Kind die Ge­ burt bewusst erleben kann, und weil sie des Weiteren behauptet, dieses Ereignis könne nicht im Gedächtnis aufgezeichnet werden, findet man nirgends etwas über perinatale Erlebnisse. Der Gebrauch des Begriffs perinatal im Zusammenhang mit Bewusstsein widerspiegelt meine eigenen Entdeckungen und ist in diesem Sinne absolut neu (Grof 1975). Die starke Präsenz von Geburt und Tod in unserem Unbewussten und die starken Verbindungen zwischen diesen mögen viele Mainstream-Psychologen und -Psychiater zumindest in Staunen versetzen, indem dies ihre tief sitzenden Glau­ bensvorstellungen herausfordert. Gemäss traditionellem medizinischem Ver­ ständnis kann nur eine Geburt, die so schwierig war, dass dadurch die Hirnzellen irreversibel geschädigt wurden, psychopathologische Konsequenzen haben. Und selbst dann sind diese vorwiegend neurologischer Natur: wenn eine Person bei­ spielsweise mental retardiert bleibt oder aber hyperaktiv wird. Die akademische Psychiatrie verneint aber generell die Möglichkeit, dass die Geburt, egal ob eine Schädigung der Hirnzellen nun vorliegt oder nicht, auch starke psychotraumatische Folgen für das Kind haben kann. Die Hirnrinde eines Neugeborenen ist noch nicht voll myelinisiert, das heisst, die Neuronen sind noch nicht vollständig von den schützenden Schichten einer fettigen Substanz - dem Myelin - umhüllt. Dieser Tatbestand wird üblicherweise als Argument angeführt, um die These, die biologi­ sche Geburt sei für das weitere Leben von nur geringer Bedeutung, weil sie im Ge­ dächtnis gar nicht aufgezeichnet werden könne, zu «beweisen». Die Annahme traditioneller Psychiater, dass das Kind während dieser extrem schmerzhaften und aufreibenden Prozedur nicht bewusst ist und der Geburtspro­ zess in seinem Verstand keinerlei Aufzeichnungen hinterlassen soll, widerspricht zutiefst nicht nur den klinischen Beobachtungen, sondern auch dem gesunden Menschenverstand und der elementarsten Logik. Es lässt sich ausserdem nur schwer mit dem Umstand in Einklang bringen, dass die allgemein anerkannten

45

Identifikation mit einem Fötus, in Vorausahnung eines gewaltigen explosiven Ereignisses. Diese Erwartungshaltung bezieht sich nicht nur auf die bevor­ stehende Geburt, sondern auch auf das Freiwerden von kreativer Kraft und Wachstumspotenzial.

46

psychologischen und physiologischen Theorien der frühen Mutter-Kind-Beziehung, inklusive Bonding und Stillen, handkehrum die grösste Bedeutung beimes­ sen. Die Vorstellung von einem Neugeborenen als einem unbewussten, unemp­ fänglichen Organismus steht ebenfalls in scharfem Kontrast zur stetig wachsenden Zahl an Fachartikeln und Büchern, welche die bemerkenswerte Sensitivität des Fötus während der pränatalen Periode zum Thema haben (Verny und Kelly 1981, Tomatis 1991, Whitwell 1999). Wird die Möglichkeit einer Erinnerung an die Geburt aufgrund der Tatsache, dass die Hirnrinde eines Neugeborenen nicht voll myelinisiert sind, abgelehnt, so scheint dies noch absurder, wenn man sich vergegenwärtigt, dass viele tiefe Le­ bensformen, die gar keine Hirnrinde haben, durchaus über ein Erinnerungsver­ mögen verfügen. Es ist zudem bestens bekannt, dass selbst in einzelligen Organis­ men eine primitive Form protoplasmatischer Erinnerung existiert. Wenn ein so of­ fensichtlicher logischer Widerspruch im Kontext mit rigoros wissenschaftlichem Denken auftaucht, ist dies zumindest erstaunlich und hat mit grösser Wahrschein­ lichkeit mit einer tief gehenden emotionalen Repression zu tun, unter welcher wohl die Erinnerungen an die eigene Geburt liegen. Die Intensität der emotionalen und körperlichen Spannungen während des Geburtsprozesses übersteigt bei weitem diejenige von postnatalen Traumata aus der Kindheit, wie sie in der psychodynamischen Literatur diskutiert wird, mit Aus­ nahme vielleicht von extremen Formen von körperlichem Missbrauch. Die ver­ schiedenen experimentellen Psychotherapien haben haufenweise Beweismaterial zusammengetragen, welches belegt, dass die biologische Geburt das profundeste Trauma unseres Lebens und ein Ereignis von grösster psychospiritueller Bedeu­ tung darstellt. In unserem Gedächtnis ist jedes kleinste Detail bis in die zelluläre Ebene hinein gespeichert; die Auswirkungen davon für unsere seelische Entwick­ lung sind kaum zu überschätzen. Das Wiedererleben von einzelnen Aspekten der biologischen Geburt kann völlig authentisch und überzeugend wirken und gibt den Prozess oftmals in fast fotografisch genauen Details wieder. Solches kann auch bei Leuten Vorkommen, die von ihrem Geburtsverlauf und den anwesenden Geburtshelfern keine Ahnung haben. All diese Details lassen sich aber bestätigen, wenn sich genaue Geburtsrap­ porte oder zuverlässige Zeugen auffinden lassen. Durch unsere eigene direkte Er­ fahrung können wir beispielsweise herausfinden, dass wir eine Steissgeburt waren, dass bei der Entbindung Geburtszangen zum Einsatz kamen oder dass die Nabel­ schnur um unseren Hals gewunden war. Wir können die panische Angst, die bio­ logische Wut, die Schmerzen und Erstickungsängste, die wir während unserer Ge­ burt erlebten, wiederempfinden und sogar die Art der angewandten Anästhesie genau bestimmen. Das Wiedererleben der Geburt wird oft begleitet von charakteristischen Kör­ perstellungen und Bewegungen des Körpers, der Arme und Beine, auch von Ro­ tationen oder bestimmten Stossbewegungen des Kopfes, die genau die mechani­ schen Bewegungen eines speziellen Entbindungsstadiums wiedergeben. Blaue

47

Flecken, Schwellungen und andere Gefässveränderungen können plötzlich an den Stellen auftreten, wo die Zangen angesetzt worden waren oder wo die Nabel­ schnur die Kehle zudrückte. Diese Beobachtungen sind ein klares Indiz dafür, dass die Aufzeichnung des Geburtstraumas bis in die zelluläre Ebene hinunterreicht. Dass unser Unbewusstes Geburt und Tod so eng miteinander verbindet, macht absolut Sinn. Es widerspiegelt die Tatsache, dass der Geburtsprozess potenziell oder tatsächlich eine lebensbedrohliche Angelegenheit ist. Die Entbindung been­ det auf gewaltsame Art die intrauterine Existenz des Fötus. Sie oder er «stirbt» als aquatischer Organismus und wird als Luft-atmendes, im physiologischen wie auch im anatomischen Sinn neue Lebensform geboren. Und schon der Kampf durch den Geburtskanal an sich ist eine äusserst schwierige, lebensgefährliche Unter­ nehmung. Komplikationen, die bei der Geburt auftreten - wie zum Beispiel bei einer im Vergleich zum Baby zu schmalen Beckenöffnung, wenn das Baby sich in Querlage befindet, eine Steissgeburt ist oder eine Plazenta praevia (vorzeitige Ablösung der Plazenta) vorliegt -, können die emotionale und physische Notlage noch weiter verschlimmern. Sowohl Kind wie Mutter können das Leben dabei verlieren; oder das Neugeborene kommt halb erstickt und mit blauer Hautfarbe zur Welt. Manch­ mal wird es tot geboren und muss wiederbelebt werden. Das bewusste Wiedcrerleben und die Integration des Geburtstraumas gehört zu den primären Zielsetzungen der experimentellen Psycho- und Selbsterfahrungstherapien. Erfahrungen, die dem perinatalen Bereich entstammen, lassen sich in vier verschiedene Grundmuster oder Konstellationen einteilen. Jede ist durch ganz spezifische Emotionen, physische Empfindungen und eine eigene sym­ bolische Bildwelt charakterisiert. Diese Grundmuster oder Matrizen hängen eng mit den Erfahrungen zusammen, welche der Fötus kurz vor dem Einsetzen der Wehen oder aber während der drei aufeinander folgenden klinischen Stadien des Geburtsvorgangs hatte. Die diesen Stadien zugehörigen spezifischen Emotionen und Körperempfindungen hinterlassen in der unbewussten Psyche tiefe Prägun­ gen, die das spätere Leben des Individuums nachhaltig beeinflussen. Diese vier dy­ namischen Konstellationen des tiefen Unbewussten nenne ich perinatale Grund­ matrizen (Basic Perinatal Matrices) oder kurz BPM. Das Spektrum der perinatalen Matrizen ist nicht auf diejenigen Elemente, die direkt den biologischen und psychologischen Prozessen während des Geburtspro­ zesses zugerechnet werden können, beschränkt. Sondern der perinatale Bereich der Psyche ist zugleich eine wichtige Pforte, die zum (jungschen) kollektiven Un­ bewussten führt. Findet eine Identifikation mit dem Kind statt, welches die Tortur des Kampfes durch den Geburtskanal durchlebt, so scheint diese Erfahrung uns verschiedenste andere Bereiche zugänglich zu machen: Wir treffen auf Personen aus anderen Zeiten und Kulturen, auf verschiedene Tiere oder gar mythologische Figuren. Die Identifikation mit dem Fötus in seinem Überlebenskampf schafft of­ fenbar einen Zugang und oft eine fast mystische Beziehung zu anderen Wesen, die sich in einer ähnlich schwierigen Zwangslage befinden.

48

Die Art und Weise, wie die einzelnen Geburtsstadien jeweils mit den entspre­ chenden symbolischen Bildern verkettet sind, ist sehr spezifisch und konstant. Der Grund, warum sie meist zusammen erscheinen, lässt sich anhand der konventio­ nellen Logik wohl nicht erklären, was aber nicht heisst, dass diese Assoziationen deswegen willkürlich oder beliebig sind. Sie folgen einem System mit eigenen Ord­ nungsprinzipien, das auf einer praktischen, lebensnahen Logik beruht. Das ver­ bindende Element basiert nicht auf einer äusseren Ähnlichkeit, sondern auf den gleichgearteten Emotionen und körperlichen Empfindungen. Perinatale Matrizen sind äusserst vielfältig und komplex gestaltet und haben sehr unterschiedliche biologische und physiologische, archetypische und spirituel­ le Dimensionen. Wer eine persönliche Erfahrung von Geburt und Tod hatte, scheint sich dem Spirituellen und den mystischen Dimensionen der Psyche und der Existenz automatisch zu öffnen. Es scheint von geringer Bedeutung zu sein, ob die­ ses Erlebnis symbolischer Art ist, wie wir dies in psychedelischen oder holotropen Sitzungen oder bei spontan auftretenden spirituellen Krisen vorfinden, oder ob dies im «wirklichen Leben» geschieht, also bei einer Entbindung beispielsweise oder im Zusammenhang mit Nahtoderlebnissen (Ring 1982). Die spezifische Sym­ bolik dieser Erfahrungen kommt aus dem kollektiven Unbewussten - und nicht aus dem individuellen Gedächtnisspeicher. Deshalb können diese Erlebnisse in al­ len möglichen historischen Perioden, geographischen Gegenden oder spirituellen Traditionen der Welt stattfinden, ungeachtet des kulturellen oder religiösen Hin­ tergrunds der involvierten Person. Die individuellen Matrizen sind fest an bestimmte Kategorien postnataler Er­ lebnisse gekoppelt, welche in den COEX-Systemen verdichtet sind. Wir finden Verbindungen zu Archetypen wie die schreckliche oder die grosse Muttergöttin, die Hölle, der Himmel; zu rassischen, kollektiven und karmischen Erinnerungen oder zu phylogenetischen Erfahrungen. Ich möchte ausserdem auf einige in theo­ retischer wie praktischer Hinsicht wichtige Knüpfstellen zwischen den BPM und gewissen physiologischen Aktivitäten in den freudschen erogenen Zonen und ge­ wissen Kategorien emotionaler und psychosomatischer Störungen aufmerksam machen. Diese Wechselwirkungen sind im synoptischen Paradigma in Tabelle 2.1 dargestellt (siehe nachfolgende S. 50/51). Perinatale Matrizen, die durch emotional wichtige Erlebnisse aus der Säug­ lingszeit, der Kindheit und dem späteren Leben aktiviert und zu einem COEXSystem verdichtet wurden, können die Art und Weise, wie wir die Welt wahrneh­ men, unser allgemeines Verhalten und die Entstehung von verschiedenen psycho­ somatischen Störungen stark beeinflussen. Auf der kollektiven Ebene finden wir den Widerhall der perinatalen Matrizen in Religion. Kunst, Mythologie, Philoso­ phie und in den verschiedenen Formen sozialer Psychologie und Psychopathologie ausgedrückt. Bevor wir uns den weit reichenden Implikationen, die sich aus den perinatalen Matrizen ergeben, zuwenden, möchte ich auf die Phänomenologie der einzelnen BPM genauer eingehen.

49

50

Situationen aus dem späteren Leben, in denen wichtige Bedürfnisse befrie­ digt wurden, etwa glückliche Augen­ blicke aus dem Säuglings- und Kin­ desalter (liebevolle Zuwendung von der Mutter, Spiel mit anderen Kin­ dern, harmonisches Familienleben usw.) erfüllende Liebe; Romanzen; Ausflüge oder Urlaubsreisen in eine schöne Umgebung: Genuss von

Libidinöse Befriedigung in allen ero­ genen Zonen; libidinöse Gefühle beim Wiegen und Baden; teilweise Annäherung an diesen Zustand nach oraler, analer, urethraler oder genita­ ler Befriedigung oder einer Entbin­ dung

Schizophrene Psychosen (paranoide Symptomatik. Gefühle der mysti­ schen Vereinigung. Begegnungen mit metaphysischen Kräften des Bösen); Hypochondrie (fremdartige und bizarre Körperempfindungen); hyste­ rische Halluzinose und Verwechs- . lung von Tagträumen mit der Wirk­ lichkeit

BPM I BPM III Schizophrene Psychosen (sadomaso­ chistische und skatologische Elemen­ te. Selbstverstümmelung, abnormes Sexualverhalten); agitierte Depressi­ on; sexuelle Perversionen (Sadoma­ sochismus, männliche Homosexua­ lität, Trinken von Urin und Kotes­ sen); Zwangsneurose; psychogenes Asthma, Ticks und Stottern, Konversions- und Angsthysterie; Frigidität und Impotenz; Neurasthenie; trau­ matische Neurosen; Organneurosen; Migränekopfschmerzen; Enuresis und Enkompresis; Schuppenflechte; Magengeschwüre

Kauen und Verschlucken von Essen; orale Aggressionen gegen einen Ge­ genstand; Defäkieren und Urinieren; anale und urethrale Aggressionen; sexueller Orgasmus; phallische Ag­ gressionen; Entbindung eines Kin­ des; statoakustische Erotik (Iactatio. Turnen, intensive Hobbys, Fall­ schirmspringen)

Situationen, die mit Gefahr für Leib und Leben verbunden waren (Kriegserlebnisse, Unfälle, Verlet­ zungen, Operationen, schmerzhafte Krankheiten, Situationen, in denen man dem Ertrinken oder Ersticken nahe war, Gefängnisaufenthalte, Ge­ hirnwäsche und illegale Verhöre, körperliche Misshandlungen usw.); schwere psychische Traumen (emo-

Kämpfe. Auseinandersetzungen und Abenteuer (aktive Angriffe in Schlachten und Revolutionen. Erleb­ nisse aus der Wehrdienstzeit, unruhi­ ge Flugreisen, Fahrten auf stürmi­ schem Meer, gefährliche Autofahr­ ten, Boxkämpfe); sinnesberauschen­ de Erlebnisse (Karneval, Jahrmärkte und Nightclubs, wilde Partys, sexuel­ le Orgien usw.) Situationen, in denen

Zugehörige Erinnerungen aus dem Leben nach der Geburt

Orale Frustrationen (Durst, Hunger, Schmerzempfindungen); Kotund/oder Urinverhaltung; sexuelle Frustration; Kälte-, Schmerz- oder andere unangenehme Empfindungen

Zugehörige Aktivitäten in den freudschen erogenen Zonen

Schizophrene Psychosen (Empfin­ dungen von Höllentorturen, Wahr­ nehmung der Welt als etwas Sinnlo­ ses und «Gemachtes»); schwere ge­ hemmte «endogene» Depressionen; irrationale Minderwertigkeits- und Schuldgefühle; Hypochondrie (schmerzhafte Körperempfindun­ gen); Alkohol- und Drogensucht

Zugehörige psychopathologische Syndrome

BPM II

T a b e l l e 2 . 1 : Perinatale Grundmatrizen (BPM)

Zufälliges Entkommen aus gefährli­ chen Situationen (Ende von Kriegen oder Revolutionen, Überleben eines Unfalls oder einer schweren Operati­ on); Überwinden schwieriger Hin­ dernisse durch eigenes Bemühen; Strapazen und heftige Anstrengun­ gen., die von Erfolg gekrönt wurden; Naturszenen (Frühlingsbeginn, Ende eines Sturms auf dem Meer, Sonnen-

Sättigung von Durst und Hunger; Genuss beim Saugen: libidinöse Ge­ fühle nach dem Defäkieren. dem Urinieren, dem sexuellen Orgasmus oder einer Entbindung

Schizophrene Psychosen (Tod- und Wiedergeburterlebnisse, wahnhaftes Sendungsbewusstsein, Erlebnisse des Weltuntergangs und der Neuerste­ hung der Welt, der Rettung und Er­ lösung sowie der Identifikation mit Jesus Christus); manische Sympto­ matik: weibliche Homosexualität; Exhibitionismus

BPM IV

51

Ungestörtes intrauterines Leben: Po­ sitive Erinnerungen an das Leben im Mutterleib; «ozeanische» Ekstase; Erlebnisse der Einheit mit dem Kos­ mos; Archetypus von Mutter Natur: Visionen vom Himmel und vom Pa­ radies. Störungen des intrauterinen Lebens: Negative Erinnerungen an das Leben im Mutterleib (fötale Kri­ sen, Krankheiten und Aufregungen der Mutter. Zwillingssituation, Ab­ treibungsversuche); kosmisches «Verschlungenwerden» paranoides Denken; unangenehme Körperemp­ findungen («Kater», Kältegefühle und feine Spasmen, unangenehme Geschmäcker. Ekel, das Gefühl, ver­ giftet zu werden); Visionen von Dä­ monen verschiedener Kulturen der Welt. Begegnungen mit bösartigen metaphysischen Kräften

schem Wert; Schwimmen im Meer und in klaren Seen usw. von Erwachsenen beobachtete; Si­ tuationen, in denen man Opfer von Verführung oder Vergewaltigung war; bei Frauen: Entbindung ihrer Kinder

Intensivierung des Leidens bis zu kosmischen Dimensionen; gleichzei­ tiges Empfinden von Lust und Schmerz; «vulkanische» Ekstase; leuchtende Farben; Explosionen und Feuerwerk; sadomasochistische Orgi­ en; Mord und Blutopfer; aktive Teil­ nahme an blutigen Schlachten: wilde Abenteuer und Erkundung gefahr­ vollen Terrains; orgiastische sexuelle Gefühle; Harems- und Karnevalsszenen; Tod- und Wiedergeburterlebnis­ se; religiöse Blutopfermotive (Blut­ opfer bei den Azteken, Christi Lei­ den und Tod auf dem Kreuz, Diony­ sos usw.); intensive Körperreaktio­ nen (Druckschmerzen, drohendes Ersticken, Muskelspannungen, die sich tremor- und zuckungsartig ent­ laden, Übelkeit und Erbrechen, hef­ tige Hitze- und Kälteempfindungen. Schwitzen, Herzbeschwerden, man­ gelnde Schliessmuskelkontrolle)

Zugehörige Entbindungsstadien

Verschlingender Malstrom, gefährli­ che Mutterspinnen, w'ürgende Schlangen und Kraken; heftiges kör­ perliches und psychisches Leiden; Empfindung einer unerträglichen und ausweglosen Situation, die nie enden wird; verschiedene Visionen von der Hölle: das Gefühl, in einer Falle oder einem Käfig (ohne Aus­ weg) gefangen zu sein; quälende Schuld- und Minderwertigkeitsgefüh­ le; apokalyptische Visionen von der Welt (Schrecken von Kriegen und Konzentrationslagern, Terror der In­ quisition; gefährliche Seuchen; Krankheiten; Gebrechlichkeit und Tod usw.); Gefühle der Sinnlosigkeit und Absurdität der menschlichen Existenz; Erleben der Welt als etwas «Gemachtes» und maschinell Künst­ liches; unheilvolle dunkle Farben und unangenehme körperliche Er­ scheinungen (Druckgefühle, Herz­ klopfen, Hitze- und Kälteempfindun­ gen. Schwitzen, Atemnot)

Zugehörige Phänomene in LSD-Sitzungen

drohliche Situationen, erdrückende Familienatmosphäre, Verspottung und Demütigung usw.)

Plötzliches Nachlassen eines starken Drucks; Erweiterung des Raums; Vi­ sionen von gigantischen Hallen; strahlendes Licht und wunderschöne Farben (Himmelblau, Golden, Re­ genbogen, Pfauenfedern); «epiphanische» oder «erleuchtende» Ekstase; Gefühle der Wiedergeburt und Erlö­ sung; Wunsch nach einem einfachen Leben; Intensivierung der Sinnesein­ drücke; Gefühle der Brüderlichkeit; humanitäre und karitative Neigun­ gen; gelegentlich manische Aktivität und Grössenwahnvorstellungen; Übergang zu Elementen der ersten perinatalen Grundmatrix; angeneh­ me Gefühle können durch eine Krise bei der Nabelschnurdurchtrennung unterbrochen werden: stechende Schmerzen am Nabel, Aussetzen der Atmung, Todes- und Kastrations­ ängste. Veränderungen der Körper­ lage, aber kein Druck von aussen

Die erste perinatale Grundmatrix - BPM I ( Urverbind un g mit der Mutter) Diese Matrix bezieht sich auf die intrauterine Existenz, wobei der Geburtsprozess noch nicht eingesetzt hat. Die Welt, die wir hier erleben, kann als «amniotisches Universum» bezeichnet werden. Der Fötus hat noch kein Bewusstsein von Gren­ zen, Hindernisse existieren nicht, und zwischen «innen» und «aussen» gibt es kei­ nen Unterschied. Dies spiegelt sich auch in den Erlebnissen wider, welche prä­ natale Erinnerungen zum Inhalt haben. Werden Episoden ungestörter embryona­ ler Existenz wiedererlebt, sehen wir oft riesige, grenzenlose Landschaften und Räume. Wir werden zu Galaxien, zum interstellaren Raum oder zum gesamten Kosmos. Wer sich in dieser Matrix befindet, sieht sich vielleicht frei im Meer dahintrei­ ben oder beginnt, sich mit verschiedenen, im Wasser beheimateten Lebensformen zu identifizieren: Man wird zum Fisch, zur Qualle, zu einem Delfin oder Wal oder wird gar zum ganzen Ozean. Dies mag die Tatsache widerspiegeln, dass der Fötus ganz im Grunde genommen ein Wesen des Wassers ist. Positive intrauterine Er­ lebnisse können auch zu archetypischen Visionen von Mutter Natur führen. Wir fühlen uns unendlich sicher und geborgen, werden uns ihrer unglaublichen Schön­ heit bewusst und sind uns gewiss, dass sie bedingungslos gibt und ernährt - wie der ideale Mutterschoss eben. Wir haben Visionen von blühenden Obstgärten, Vollrei­ fen Kornfeldern oder von bepflanzten, fruchtbaren Terrassen, wie wir es von den Anden her kennen, oder von unberührten Inseln wie die in Polynesien. Dem kol­ lektiven Unbewussten entstammende mythologische Erfahrungen führen uns hier in himmlische und paradiesische Sphären, wie wir sie von den Mythologien der verschiedenen Kulturen her kennen. Wenn wir aber Episoden eines gestörten intrauterinen Lebens erleben - der «schlechte Mutterschoss» -, so haben wir ein undefinierbares Gefühl, wir würden von einer dunklen, lauernden, ominösen Gefahr bedroht. Oftmals sind wir der fi­ xen Überzeugung, wir würden vergiftet. In den sich entfaltenden Landschaften sind die Gewässer verdorben und die Schutthalden voll toxischer Stoffe. Solche Szenen reflektieren den Umstand, dass während der Schwangerschaft toxische Stoffe frei werden, die für viele pränatale Störungen verantwortlich sind. In diesen Situationen können sich archetypische Visionen von Furcht einflössenden dämo­ nischen Wesenheiten einstellen, oder man fühlt sich von einem alles durchdrin­ genden, heimtückischen Bösen umgeben. Wer im pränatalen Stadium noch massi­ veren Störungen oder Eingriffen ausgesetzt war, einer drohenden Fehlgeburt etwa oder einem Abtreibungsversuch, tendiert zu verschiedenen Visionen, die alle eine universelle Bedrohung oder blutige, apokalyptische Visionen vom Ende der Welt zum Thema haben. Auch hier sehen wir eine enge Beziehung zwischen den Ereig­ nissen in unserer biologischen Geschichte und den jungschen Archetypen. Der folgende Bericht stammt aus einer hoch dosierten LSD-Sitzung und ist ty­ pisch für eine BPM-I-Erfahrung. Zuweilen geht die Erfahrung in transpersonale Bereiche über.

52

Alles was ich empfand, war ein starkes Unbehagen und Unwohlsein, ähnlich dem Befinden während einer Grippe. Ich konnte nicht verstehen, dass diese hohe Dosis von LSD, die in den vorherigen Sitzungen so dramatische psycho­ logische Veränderungen bewirkte, nun eine so minime Reaktion ergab. Ich be­ schloss, die Augen zu schliessen und das, was vor sich ging, sorgfältig zu beob­ achten. Von diesem Moment an schien die Erfahrung an Tiefe zu gewinnen, und ich begann zu realisieren, dass das, was ich mit geöffneten Augen noch als Virusinfektion angesehen hatte, sich nun plötzlich in eine realistische Situati­ on zu verwandeln begann, in welcher ein Fötus durch das Eindringen fremdar­ tiger toxischer Elemente in seiner intrauterinen Existenz massiv gestört wurde. Ich empfand mich als viel kleiner als üblich, und mein Kopf schien we­ sentlich grösser als der Rest meines Körpers und die Gliedmassen zu sein. Ich schwamm in einer flüssigen Umgebung, und schädliche chemische Substanzen schienen über die Nabelgegend in meinen Körper zu gelangen. - Ich verfügte über mir unbekannte Rezeptoren, mit denen ich feststellen konnte, dass (in diesem Fall) die Einwirkungen feindlicher Art und für meinen Organismus un­ gesund waren. Während ich dies wahrnahm, wurde mir bewusst, dass diese to­ xischen «Attacken» etwas mit dem Zustand und der Aktivität des mütterli­ chen Organismus zu tun hatten. Ab und zu konnte ich Einwirkungen ausma­ chen, die mit der Einnahme von Alkohol zusammenzuhängen schienen, oder mit ungeeignetem Essen und Rauchen. Eine andere Art von Unbehagen schi­ en von chemischen Veränderungen verursacht zu werden, welche mit den Emotionen meiner Mutter einhergingen - Angst, Nervosität, Wut oder ge­ mischte Gefühle in Bezug auf die Schwangerschaft. Nach und nach liess das Unbehagen nach, und ich begann, ein stetig zu­ nehmendes Gefühl von Ekstase zu empfinden, die von einer Erhellung meines visuellen Feldes begleitet war. Es war, als ob dicke, dunkle Spinnweben auf magische Art und Weise entfernt oder aufgelöst worden oder als ob eine Ki­ noprojektion oder eine Fernsehübertragung von einem unsichtbaren kosmi­ schen Techniker adjustiert worden wären. Die Szenerie erweiterte sich, und ei­ ne unglaubliche Menge an Licht und Energie umgab und umhüllte mich und strömte in feinen Vibrationen durch mein ganzes Wesen. Auf der einen Ebene war ich noch immer ein Fötus, welcher die absolute Glückseligkeit, die in einem perfekten Mutterschoss erfahren werden kann, genoss; oder ein Neugeborenes, das mit der nährenden, lebensspendenden Mutierbrust verschmilzt. Auf einer anderen Ebene wurde ich zum ganzen Uni­ versum. Ich wurde Zeuge des ganzen Spektakels makrokosmischcr Vorgänge, mit dessen unzähligen pulsierenden und vibrierenden Galaxien, und war diese zugleich. Diese strahlenden und atemberaubenden kosmischen Szenen waren verflochten in Erlebnissen des gleichermassen faszinierenden Mikrokosmos vom Tanz der Atome und Moleküle bis zu den Ursprüngen des Lebens und der biochemischen Welt der einzelnen Zellen. Zum ersten Mal erlebte ich das Universum als das, was es wirklich ist - ein unbegreifliches, unermessliches Mysterium, das göttliche Spiel eines Absoluten Bewusstseins. Eine Zeitlang oszillierte ich zwischen dem Zustand eines notleidenden, Übelkeit empfindenden Fötus und einer glückseligen, intrauterinen Existenz.

53

Bild aus einer LSD-Sitzung, eine Erfahrung des «schlechten Mutterschosses» darstellend. Der toxische Mutterschoss wird als eine qualvolle und Schrecken erregende Feuerprobe in einem diabolischen Laboratorium, voll von heimtückischen Dämonen, erfahren. (Robin Maynard-Dobbs)

Die schädlichen Einflüsse nahmen manchmal die Gestalt heimtückischer Dä­ monen oder übel gesinnter Kreaturen an, wie wir sie von den spirituellen Schriften oder der Märchenwelt her kennen. Während der ungestörten Episo­ den der fötalen Existenz hatte ich die Empfindung eines grundlegenden Eins­ seins mit der Einheit des Universums; es war das Tao, «das Jenseitige, welches das Innere ist», das Tat twam asi (Das bist Du) der Upanischaden. Ich verlor meinen Sinn für Individualität; mein Ich löste sich auf, und ich wurde zur ganzen Existenz.

54

Erfahrung des «schlechten Mutterschosses» während einer psychedelischen Sitzung. Das Feindliche des Mutterschosses wird durch die Attacken bösartiger Tiere verkörpert. (Robin Maynard-Dobbs)

55

Manchmal war die Erfahrung ohne konkrete, «greifbare» Inhalte, andere Male war sie von zahlreichen Visionen voller Schönheit begleitet - archetypi­ sche Bilder des Paradieses, das ultimative Füllhorn, das goldene Zeitalter oder die jungfräuliche Natur. Ich wurde zu einem Delfin, der im Wasser spielte, zu einem Fisch, der in kristallklarem Wasser schwamm, zu einem Schmetterling, der über Bergwiesen flog, und zu einer Seemöwe, die über dem Meer segelt. Ich wurde zum Meer, zu Tieren, zu Pflanzen, zu Wolken - manchmal zu allen gleichzeitig. Am späteren Nachmittag und am Abend passierte nichts Bestimmtes mehr. Die meiste Zeit verbrachte ich damit, mich eins mit der Natur und dem Universum zu fühlen, ich badete in goldenem Licht, das in seiner Intensität ganz allmählich abnahm.

Die zweite perinatale Matrix: BPM II (Kosmisches Verschlungenwerden und Ausweglosigkeit - die Hölle) Während des ersten Stadiums der klinischen Geburt haben wir oft das Gefühl, wir würden in einen gigantischen Whirlpool hineingezogen oder von einem mythi­ schen Biest verschlungen. Oder wir sehen, wie die gesamte Welt oder der Kosmos verschlungen wird. Symbolische Begleitmotive dazu sind archetypische Monster wie Leviathane, Drachen, Wale, Riesenschlangen, Taranteln oder Kraken. Das Gefühl einer überwältigenden vitalen Bedrohung kann extreme Angstgefühle aufkommen lassen und ein allumfassendes Misstrauen, das an Paranoia grenzen kann. Andere für die zweite Matrix charakteristische Themen sind der Abstieg in die Tiefen der Unterwelt, das Reich der Toten oder die Hölle. Wie es Joseph Camp­ bell in seinen Werken so eloquent beschrieb, finden wir hier das universelle my­ thologische Motiv der Heldenreise (Campbell 1968). Wenn sich dieses Stadium der biologischen Geburt voll entfaltet, wird der Fö­ tus in periodischen Abständen durch Gebärmutterspasmen zusammengepresst, wobei der Muttermund noch nicht erweitert ist. Bei jeder Kontraktion werden die uterinen Arterien zusammengedrückt, und der Fötus wird durch den Mangel an Sauerstoffzufuhr in seiner Existenz massiv gestört. Das Wiedererleben dieses Ge­ burtsstadiums ist eine der schlimmsten Erfahrungen, die wir im Zusammenhang mit der Selbsterforschung in holotropen Zuständen haben können. Wir fühlen uns in einem monströsen klaustrophobischen Alptraum gefangen, qualvollen emotio­ nalen und körperlichen Torturen hilflos ausgeliefert, und haben ein alles einneh­ mendes Gefühl absoluter Hoffnungslosigkeit. Gefühle von Einsamkeit, Schuld, von der Absurdität des Lebens und von exis­ tenzieller Verzweiflung nehmen metaphysische Proportionen an. Eine Person, die sich in dieser Zwangslage befindet, ist oftmals der Überzeugung, dass diese Situa­ tion niemals enden wird und dass es absolut keinen Ausweg gibt. Charakteristisch für dieses Stadium ist diese Triade von Erfahrungen: die Empfindung ... zu ster­ ben, wahnsinnig zu werden und nie mehr wieder zurückkommen zu können. Charakteristisch für dieses Stadium sind Sequenzen mit Personen, Tieren und sogar mythologischen Wesen, die in einer ähnlich verzweifelten und hoffnungslo­

56

sen Zwangslage sind wie der Fötus, der sich in der Umklammerung des Geburtskanals befindet. Wir können uns mit Gefangenen in Kerkern identifizieren, mit Opfern der Inquisition, mit Personen in Konzentrationslagern oder Insassen einer Irrenanstalt. Unser Leiden kann die Form von Tieren annehmen, die in Fallen ge­ fangen sind, oder es kann gar archetypische Ausmasse annehmen. Zu dieser Matrix gehören auch die unerträglichen Folterungen von Sündern in der Hölle, die Agonie von Jesus Christus am Kreuz oder die zermürbenden Qua­ len eines Sisyphus, als er im tiefsten Hades wieder und wieder den Stein den Berg hinaufrollen musste. Andere Bilder, die in diesem Zusammenhang auftauchen, sind die der griechischen archetypischen Symbolfiguren für endloses Leiden, Tantalos und Prometheus, oder andere Gestalten, die für eine ewige Verdammnis ste­ hen, wie der wandernde Jude Ahasver oder der Fliegende Holländer. Die Person, die sich unter dem Einfluss dieser Matrix befindet, ist blind für al­ les Positive in der Welt oder in ihrem Leben. Die Verbindung zur göttlichen Di­ mension scheint unwiederbringlich verloren zu sein. Durch das Prisma dieser Ma­ trix gesehen erscheint das Leben als ein sinnloses Theater des Absurden, als eine Farce mit lauter künstlichen Schiessbudenfiguren und geistlosen Robotern oder als eine grausame Zirkusveranstaltung. In diesem Geisteszustand scheint die existenzialistische Philosophie die einzig adäquate und relevante Beschreibung der Existenz zu sein. Es ist in diesem Zusammenhang interessant zu wissen, dass Jean Paul Sartres Werk stark von einer schlecht durchgeführten und unverarbeiteten Meskalinsitzung, die von der zweiten Matrix dominiert war, beeinflusst wurde (Riedlinger 1982). Samuel Becketts Beschäftigung mit dem Tod und seine Suche nach der (Ur-)Mutter weisen ebenfalls auf starke perinatale Einflüsse hin. Es ist nur verständlich, dass jemand, der diesen Aspekt der Psyche erlebt, mit grösstem Widerwillen reagiert, wenn er diesen konfrontieren soll. Sich noch weiter auf diese Erfahrung einzulassen kommt einer Begegnung mit der ewigen Ver­ dammnis gleich. Und trotzdem ist der schnellste Weg zur Beendigung dieses uner­ träglichen Zustandes die vollständige Hingabe an diesen. Diese überwältigende, vernichtende Erfahrung von finsterster, abgrundtiefer Verzweiflung ist aus der spirituellen Literatur als «die dunkle Nacht der Seele» bekannt. Es ist ein wichti­ ges Stadium im spirituellen Prozess, welcher einen stark reinigenden und befreien­ den Effekt haben kann. Die typischsten Merkmale von BPM II lassen sich anhand des folgenden Bei­ spiels veranschaulichen. Die Atmosphäre wurde zunehmend unheimlich und schien von einer unsicht­ baren Gefahr durchdrungen zu sein. Der ganze Raum begann sich um eine Achse zu drehen, und ich wurde ins Zentrum eines gigantischen Whirlpools gesogen. Ich musste an Edgar Alan Poes Furcht erregende Beschreibung einer ähnlichen Situation in «Der Mahlstrom» denken. Als die Gegenstände im Raum in einer rotierenden Bewegung um mich her zu fliegen schienen, kam mir ein anderes Bild aus der Literatur in den Sinn - der Zyklon, welcher in Frank Baums «Der Zauberer von Oz» Dorothee aus ihrem monotonen Leben

57

Zeichnung aus einer holotropen Atemsitzung, bei der die Künstlerin Mitgefühl für das Leiden der ganzen Menschheit und sie selbst empfand. Dargestellt wird der Tod, welcher eine menschliche Gestalt in Armen hält. Im Begleittext heisst es: «Das Auflösen der Grenzen von Körper und Verstand befreit den Geist und erlaubt ihm, wieder in den Glanz des göttlichen Lichts zurückzukehren.» (Kathleen Silver)

in Kansas reisst und sie auf eine seltsame, abenteuerliche Reise schickt. Meine Reise hatte auch mit dem Kaninchenloch in «Alice im Wunderland» zu tun, und ich wartete voller angstvoller Ungeduld darauf, was ich wohl auf der an­ deren Seite des Spiegels vorfinden würde. Das mich umgebende Universum wurde enger und immer enger, und ich konnte nichts unternehmen, was mich vor diesem apokalyptischen Verschlungenwerden hätte beschützen können. Während ich tiefer und tiefer in das Labyrinth meines Unbewussten ver­ sank, überkam mich plötzlich grosse Angst, die in eine unkontrollierbare Pa­ nik umschlug. Alles wurde finster, bedrückend und Schrecken erregend. Es

58

Zeichnung aus einer holotropen Atemsitzung, in welcher die Künstlerin die frühen unbefriedigten Bedürfnisse, den Mangel an Liebe und Zuneigung wiedereriebte. Damit verknüpft waren auch andere Elemente aus BPM II: Im Bild sehen wir, wie sie erdrückt wird vom nährenden weiblichen Prinzip, dargestellt in seiner Quintessenz, der «Erde». Diese Erfahrung weckte in ihr ein profundes Mitgefühl und Verständnis für sich selbst wie auch für die anderen, für Opfer gleich wie für Täter. Der Dattelpflaumenbaum links im Bild symbolisiert neues Leben, Liebe und Hoffnung. (Kathleen Silver)

war, als ob sich die gesamte Welt mit ihrem ganzen Gewicht auf mich wälzte. Der unglaubliche hydraulische Druck, den ich dabei empfand, drohte meinen Kopf zu zersprengen und meinen Körper zu einer winzigen, kompakten Kugel zu komprimieren. In rascher Abfolge schossen mir Szenen aus meinem gehab­ ten Leben durch den Kopf, die mir alle die Vergeblichkeit und Sinnlosigkeit meines eigenen Lebens und der Existenz im Allgemeinen zeigten. Nackt kom­ men wir auf die Welt, angsterfüllt und unter grossen Schmerzen, und auf die

59

gleiche Weise werden wir sie wieder verlassen. Die Existenzialisten hatten al­ so doch Recht! Alles ist unbeständig und vergänglich, und das Leben nichts an­ deres als ein «Warten auf Godot»! Eine Absurdität unter lauter Absurditäten, alles war absurd! Das Unbehagen, das ich empfand, wurde zur Qual und die Qual zur Ago­ nie. Diese Tortur nahm solche Dimensionen an, bis jede Zelle in meinem Kör­ per sich so anfühlte, als wäre sie mit einem diabolischen Zahnarztbohrer auf­ gerissen worden. Visionen von infernalisch anmutenden Landschaften und von Teufeln, die ihre Opfer folterten, liessen mich endlich erkennen, dass ich mich in der Hölle befand. Ich musste an Dantes «Göttliche Komödie» denken: «Lasst, die ihr eingeht, alle Hoffnung fahren!» Es schien keinen Weg zu geben, der aus dieser diabolischen Situation hinausführte, ich war auf immer und ewig verdammt, ohne die geringste Aussicht auf Erlösung.

Die dritte perinatale Matrix: BPM III (Der Kampf um Tod und Wiedergeburt) Viele Aspekte dieser komplexen und mannigfaltigen Matrix werden verständlich, wenn wir sie vor dem Hintergrund des damit verbundenen zweiten klinischen Ge­ burtsstadiums betrachten: Der Muttermund hat sich geöffnet, und das Baby be­ wegt sich durch den Geburtskanal. Die Gebärmutterkontraktionen bewirken ei­ nen starken mechanischen Druck, grosse Schmerzen und oftmals einen gefährli­ chen Sauerstoffmangel oder gar drohendes Ersticken. Diese in höchstem Grade unangenehme, lebensbedrohliche Situation ist von überwältigenden, unkontrol­ lierbaren Angstgefühlen begleitet. Die Blutzufuhr kann einerseits durch die Gebärmutterkontraktionen unter­ brochen werden, welche die uterinen Arterien zusammendrücken, oder aber durch verschiedene andere Komplikationen. Die Nabelschnur kann zwischen Kopf und Beckenöffnung eingequetscht oder um den Hals geschlungen sein. Die Plazenta kann sich während der Entbindung vorzeitig lösen oder den Weg nach aussen buchstäblich verschliessen (Plazenta praevia). In einigen Fällen schluckt der Fötus verschiedene biologische Substanzen, was die Erstickungsängste noch extremer werden lässt. Situationen in diesem Stadium können so problematisch werden, dass sich eine Intervention nicht vermeiden lässt; es werden Geburtszan­ gen eingesetzt oder im schlimmsten Fall ein Kaiserschnitt durchgeführt. Vom Erfahrungsspektrum her ist die dritte Matrix äusserst vielfältig und kom­ plex. Neben dem realistischen Wiedererleben verschiedener Aspekte des Kampfes durch den Geburtskanal finden wir eine grosse Vielfalt an Bildern und Szenen aus der Geschichte, der Natur und den archetypischen Dimensionen. Am charakte­ ristischsten sind Szenen von titanischen Kämpfen, Bilderfolgen voller Aggression, sadomasochistische Szenen und solche, die abnorme sexuelle Betätigungen zum Inhalt haben, Episoden mit dämonischen oder auch mit skatologischen Elemen­ ten; Begegnungen mit dem Feuer. Die meisten dieser Aspekte ergeben Sinn, wenn wir sie in Bezug setzen zu bestimmten anatomischen, physiologischen und bioche­ mischen Eigenschaften, die für dieses Entbindungsstadium typisch sind.

60

Der titanische Aspekt von BPM III wird verständlich, wenn wir die enormen Kräfte in Betracht ziehen, welche im letzten Stadium des Geburtsvorgangs am Werk sind. Wenn wir diese Facette der dritten Matrix erleben, können wir mächti­ ge Energieströme verspüren, die durch unseren Körper rasen, sich aufstauen und schliesslich in einer Explosion entladen. In solchen Momenten können wir uns mit entfesselten Naturgewalten identifizieren, so zum Beispiel mit Vulkanen, elektri­ schen Stürmen, Erdbeben, Springfluten oder Tornados. Die Erfahrung kann auch die Welt der Technologie und die von ihr genutzten enormen Energien zum Inhalt haben - denken wir nur an Panzer, Raketen, Raum­ schiffe, Laser, Elektrizitätswerke oder gar an Atomkraftwerke oder Atombom­ ben. Das titanische Element von BPM III kann archetypische Dimensionen an­ nehmen; entsprechende Erfahrungsmuster sind hier Kämpfe kosmischen Ausmasses, wie etwa zwischen den Mächten des Lichts und den Mächten der Finsternis, zwischen Engeln und Teufeln oder zwischen den Göttern und den Titanen. Die aggressiven und sadomasochistischen Aspekte reflektieren die biologische Wut des Organismus, dessen Überleben vom Erstickungstod und den introjizierten destruktiven Kräften des Geburtskanals bedroht ist. Begegnen wir diesem Aspekt von BPM III, so mögen wir Grausamkeiten von erstaunlichen Proportio­ nen erleben, die sich in Szenen von gewalttätigen Morden und Selbsttötungen, Verstümmelungen und Selbstverstümmelungen, in Szenen von Massakern unter­ schiedlichster Art oder in Bildern von blutigen Kriegen und Revolutionen mani­ festieren. Sie zeigen sich oft in Form von Folterungen, Exekutionen, rituellen Op­ ferungen und Selbstopferungen, in Form von blutigen Zweikämpfen von Mann zu Mann oder aber als sadomasochistische Praktiken. Eine logisch nachvollziehbare Beziehung zwischen sexuellen Aspekten und dritter Matrix (Tod und Wiedergeburt) herstellen zu wollen, scheint zunächst nicht eine eben nahe liegende Idee zu sein. Es scheint jedoch, dass der menschliche Or­ ganismus über einen eingebauten physiologischen Mechanismus verfügt, der un­ menschliches Leiden, und hier vor allem drohendes Ersticken, in eine eigenartige Art sexueller Erregung und schliesslich in eine ekstatische Verzückung umwan­ delt. Dies lässt sich anhand der niedergeschriebenen Erlebnisse von Märtyrern und Flagellanten illustrieren. Andere Beispiele dafür finden wir in den schriftli­ chen Berichten von KZ-Häftlingen, in den Aussagen Kriegsgefangener und in den Akten von Amnesty International. Es ist auch bestens bekannt, dass Männer, die am Galgen ersticken, normalerweise eine Erektion bekommen und zuweilen einen Orgasmus haben. Sexuelle Erlebnisse, die im Zusammenhang mit BPM III auftauchen, sind durch eine enorme Intensität des sexuellen Drives charakterisiert, weiter durch dessen mechanische und unwählerische Qualität und dessen ausbeutende, porno­ grafische und pervertierte Natur. Es entfalten sich Szenen aus dem Rotlichtmilieu und dem Underground-Sexleben, wo extravagante erotische Praktiken und sado­ masochistische Rituale durchgeführt werden. Ebenso häufig sind Episoden, in de­ nen Inzest, sexueller Missbrauch oder Vergewaltigung vorkommt. In seltenen Fäl­

61

len kann die Bilderwelt von BPM III auch die blutigen und abstossenden Extreme der kriminellen Sexualität zeigen - erotisch/scxucll motivierte Morde, Zerstücke­ lung, Kannibalismus und Nekrophilie. Die Tatsache, dass die sexuelle Erregung auf dieser psychischen Ebene un­ trennbar mit hochproblematischen Elementen verbunden ist - der Gefährdung des Lebens, höchster Gefahr, Panik, Aggression, selbstzerstörerischen Impulsen, physischer Pein und dem Kontakt mit verschiedenen biologischen Materialien formt eine natürliche Basis, auf der die wichtigsten Typen sexueller Dysfunktionen und Variationen, abartiger Praktiken und Perversionen gedeihen können. Dies hat wichtige theoretische und praktische Implikationen, die später in diesem Buch zur Sprache kommen werden. Der dämonische Aspekt von BPM III kann sowohl den Erfahrenden wie auch die Therapeuten und Facilitators vor bestimmte Probleme stellen. Die unheimli­ che und Furcht erregende Natur der damit einhergehenden Manifestationen führt oft zu einer widerstrebenden, ablehnenden Haltung dem Prozess gegenüber, wenn dieser wirklich konfrontiert werden soll. Zu den am häufigsten vorkommenden Themen gehören Szenen des Hexensabbats (Walpurgisnacht), satanische Orgien, Rituale schwarzer Messen und Versuchungen durch böse Mächte. Der gemeinsa­ me Nenner, der dieses Stadium der Geburt mit Themen wie Sabbat oder schwarze Messen verbindet, ist ein eigenartiges Amalgam aus Tod, abweichender Sexua­ lität, Schmerz, Furcht, Aggression, skatologischen Elementen und verzerrten, ent­ stellten spirituellen Impulsen. Diese Beobachtung scheint für die in letzter Zeit fast epidemieartig ansteigenden Erfahrungen des Missbrauchs durch satanische Kulte, wie dies von Klienten in den verschiedensten Regressionstherapien berich­ tet wird, von grösser Bedeutung zu sein. Der skatologische Aspekt des Tod-und-Wiedergeburts-Prozesses hat seine na­ türlich-biologische Ursache im Umstand, dass der Fötus während des letzten Sta­ diums der Entbindung mit verschiedenen biologischen Materialien - Blut, vagina­ len Sekreten, Urin oder gar Exkrementen - in Berührung kommt. Indes übertref­ fen Intensität und Inhalt der hier auftauchenden Szenen bei weitem das, was ein Neugeborenes bei der Geburt tatsächlich erlebt. Zu diesem Aspekt der dritten Matrix gehören Szenen, in denen man durch Abfallhalden oder Kanalisationen watet oder schwimmt. Man wälzt sich in Haufen von Exkrementen, trinkt Blut und Urin oder wird Zeuge von Ekel erregenden Verwesungs- und Zersetzungsprozes­ sen. Es ist eine intime und niederschmetternde Begegnung mit den schlimmsten Aspekten der biologischen Existenz. Wenn sich eine Erfahrung der dritten Matrix ihrer Auflösung nähert, lassen Gewalt und Aufruhr langsam nach. Die vorherrschende Atmosphäre ist jetzt von einer extremen Leidenschaft und Inbrunst geprägt, und wir verspüren eine vehe­ ment vorwärts treibende Energie von fast berauschender Intensität. Die bewegte Bilderwelt entfaltet sich zu aufregenden Eroberungszügen in unbekannte Territo­ rien, es finden Jagden nach wilden Tieren statt, man treibt herausfordernde Sport­ arten oder erlebt abenteuerliche Fahrten in Vergnügungsparks. All diese Akti­

62

vitäten haben ganz klar einen Adrenalinstoss zur Folge - wie auch Autorennen, Bungeejumping, gefährliche Zirkusvorstellungen oder akrobatisches Tauchen. ln diesem Zusammenhang können wir auch archetypischen Figuren von Gott­ heiten, Flalbgöttern oder legendären Helden, die Tod und Wiedergeburt reprä­ sentieren, begegnen. Wir haben Visionen von Jesus, seinen Qualen und seiner Demütigung, dem Kreuzweg und seiner Kreuzigung - wir können gar eine völlige Identifikation mit seinem Leiden erfahren. Ob wir die entsprechenden Mythen nun kennen oder nicht, wir bekommen Zugang zu mythologischen Themen wie die Auferstehung des ägyptischen Gottes Osiris, oder den Tod und die Wiedergeburt der griechischen Götter Dionysos, Attis und Adonis. Wir erleben, wie Persephone von Pluto in die Unterwelt entführt wird; wie die sumerische Göttin Inanna in die Unterwelt hinabsteigt, oder die schweren Prüfungen der heroischen Zwillinge aus der Maya-Kultur. In den letzten Momenten, die der spirituellen Wiedergeburt vorausgehen, se­ hen wir uns meist mit dem Element Feuer konfrontiert. Das Feuer kann entweder in der uns gewohnten, elementaren Form oder aber in seiner archetypischen Form als Fegefeuer (Pyrokatharsis) erscheinen. Man bekommt das Gefühl, der Körper stehe in Flammen, oder hat lebhafte Visionen von brennenden Städten und Wäl­ dern. Manche identifizieren sich mit Personen, die im Feuer einen Opfertod star­ ben. Erlebt man die archetypische Version, so scheinen die Flammen alles, was in uns unehrlich und verdorben ist, restlos zu vernichten und uns damit auf die spiri­ tuelle Wiedergeburt vorzubereiten. Ein klassisches Symbol für den Übergang von BPM III zu BPM IV ist der legendäre Vogel Phönix, der im Feuer stirbt und ver­ jüngt wieder aus der Asche emporsteigt. Das pyrokathartische Element scheint ein etwas rätselhafter Aspekt der drit­ ten Matrix zu sein, da in diesem Fall kein direkter, offensichtlicher Zusammen­ hang mit der biologischen Geburt zu bestehen scheint. Das biologische Gegen­ stück von dieser Erfahrung mag die explosionsartige Freisetzung von zuvor blockierten Energien sein oder eine Überstimulicrung des Organismus des Fötus, der von peripheren Neuronen wahllos «bombardiert» wird. Interessanterweise ha­ ben die Feuers/.enen, welche der Fötus erlebt, eine Parallele in der Erfahrung der gebärenden Mutter, welche in diesem Entbindungsstadium oft das Gefühl hat, ih­ re Vagina stehe in Flammen. Mehrere wichtige Charakteristiken der dritten Matrix unterscheiden sie von der zuvor beschriebenen No-Exit-Konstellation. Die Situation hier ist zwar schwierig und herausfordernd, doch scheint sie nun keineswegs mehr hoffnungs­ los, und wir empfinden uns nicht mehr als hilflos. Wir sind aktiv ins Geschehen in­ volviert, und der heftige, wilde Kampf und das Leiden führen jetzt in eine be­ stimmte Richtung, haben ein Ziel und erscheinen sinnvoll. Religiös gesehen ent­ spricht dieser Zustand eher dem Fegefeuer statt der Hölle. Ausserdem befinden wir uns hier nicht mehr ausschliesslich in der Rolle des hilflosen Opfers. Wir können dieses Stadium auf drei verschiedene Arten erleben. Abgesehen von unserer Rolle als Beobachtende können wir uns sowohl mit dem

63

Die Zeichnung, die nach einer holotropen Atemsitzung entstand, stellt die Erfahrung einer spirituellen Wiedergeburt dar. Die Person, die aus dem Feuer im Zentrum der Erde geboren wurde, bricht sich durch den Vulkan den Weg ins Freie. (Tai Ingrid Hazard)

Aggressor wie auch mit dem Opfer identifizieren. Wegen der Intensität und Über­ zeugungskraft der Erlebnisse kann es einem schwer fallen, die einzelnen Rollen voneinander zu unterscheiden. Während die No-Exit-Situation unermessliches Leid bedeutet, spielt sich der Kampf im Tod-und-Wiedergeburts-Prozess an der Grenze zwischen Agonie und Ekstase ab oder in einer Mischung von beiden. Die­ se Art Erfahrung lässt sich als dionysische oder vulkanische Ekstase bezeichnen im Gegensatz zur apollonischen oder ozeanischen Ekstase des kosmischen Ver­ bundenseins, die mit der ersten Matrix assoziiert ist. Der folgende Bericht aus einer hoch dosierten LSD-Sitzung enthält viele der oben angeführten, für BPM III typischen Themen.

64

Obwohl ich den Geburtskanal eigentlich nie richtig «sah», fühlte ich dessen zermalmenden Druck auf meinem Kopf und am ganzen Leib, und ich wusste mit jeder Zelle meines Körpers, dass ich mich mitten im Geburtsprozess be­ fand. Der Druck und die Spannung erreichten Dimensionen, die ich für men­ schenunmöglich gehalten hatte. Ich fühlte einen unerbittlichen, nicht nachlas­ senden Druck auf meiner Stirn, den Schläfen und dem Hinterkopf, als wäre ich zwischen den Spannbacken eines Schraubstocks eingeklemmt. Die Spannun­ gen in meinem Körper waren von einer brutal mechanischen Qualität. Mir war, als ob ich durch einen monströsen Fleischwolf oder durch eine gigantische Presse voller Zahnräder und Zylinder gelassen würde. Das Bild von Charlie Chaplin als Opfer einer technologisierten Welt in «Modern Times» kam mir kurz in den Sinn. Unglaubliche Mengen an Energie strömten durch meinen ganzen Körper, komprimierten sich und entluden sich in gewaltigen Explosionen. Ich wurde von einer unglaublichen Mixtur an Gefühlen und Empfindungen überwältigt: Ich dachte, ich würde ersticken, war von abgrundtiefer Angst erfüllt und fühl­ te mich absolut hilflos. Gleichzeitig war ich furchtbar wütend und sexuell er­ regt. Ein anderer wichtiger Aspekt dieser Erfahrung war ein Gefühl äusserster Verwirrung. Während ich mich einerseits als Kleinkind empfand, welches in einen fürchterlichen Kampf ums nackte Überleben verwickelt war, und mir dabei voll bewusst war, dass ich drauf und dran war, geboren zu werden, er­ lebte ich mich zugleich auch als meine mich gebärende Mutter. Intellektuell war mir bewusst, dass ich als Mann nie würde gebären können, doch hatte ich das Gefühl, ich hätte diese Schranke soeben überschritten und das Unmögli­ che sei Realität geworden. Es stand ausser Frage, dass ich mit etwas Urtümlichem in Kontakt gekom­ men war; mit einem alten weiblichen Archetyp, dem der gebärenden Mutter. Ich nahm meinen Körper mit grossem, schwangerem Bauch wahr, ich hatte weibliche Genitalien und empfand sie mit all ihren biologischen Nuancen. Ich war frustriert, weil ich nicht fähig schien, mich diesem elementaren Prozess zu gebären und geboren zu werden, loszulassen und das Baby hinauszulassen - voll und ganz hinzugeben. Ein enormes Reservoir an mörderischer Aggressi­ on brach aus den Unterwelten meiner Psyche hervor. Mir war, als hätte ein kosmischer Chirurg einen «Abszess des Bösen» aufgestochen. Ein Werwolf, oder ein Berserker, nahm mich in seine Gewalt; Dr. Jeckyll wurde zu Mr. Hyde. Ich sah viele Bilder und Szenen, in welchen der Mörder und das Opfer ein und dieselbe Person waren. Ich konnte sie genauso wenig voneinander unter­ scheiden wie zuvor das Kind von der gebärenden Mutter. Ich wurde zum gnadenlosen Tyrannen, zum Diktator, der seine Unterge­ benen unvorstellbaren Grausamkeiten aussetzt, und zu einem Revolutionär, der den wütenden Mob anführt, um den Tyrannen zu stürzen. Ich wurde zum Pöbel, der mittels Lynchjustiz kaltblütig mordet, und zu Polizisten, die im Na­ men des Gesetzes Kriminelle töten. Ich sah Schreckensszenarien aus den Kon­ zentrationslagern der Nazis, und als ich die Augen öffnete, sah ich mich selbst als SS-Offizier. Ich war zutiefst überzeugt, dass «er», der Nazi, und «ich», der Jude, ein und dieselbe Person sind. Ich konnte den Hitler und den Stalin in mir

65

spüren und fühlte mich für die Gräueltaten in unserer menschlichen Historie voll verantwortlich. Ich erkannte ganz klar, dass das Problem der Menschheit nicht auf die Existenz von üblen Diktatoren abgewälzt werden konnte, son­ dern das eigentliche Problem ist der Verborgene Killer, den wir alle in unserer Psyche tragen - und kennen lernen, wenn wir nur tief genug in unsere Psyche schauen. Die Bilder begannen sich zu verändern und nahmen mythologische Pro­ portionen an. Ich nahm jetzt eine Atmosphäre wahr, die mit Hexerei und dä­ monischen Elementen zu tun hatte. Meine Zähne wurden zu langen Fangzäh­ nen, die mit einem mysteriösen Gift gefüllt waren, und ich flog nun, auf gros­ sen Fledermausschwingen, durch die Nacht wie ein ominöser Vampir. Nur we­ nig später änderte sich die Szenerie, ich halte nun eine wilde, berauschende und betörende Vision von einem Hexensabbat. Bei diesem merkwürdigen, sinnlichen Ritual schienen all die üblicherweise verbotenen und unterdrückten Impulse ans Tageslicht geholt, erlebt und ausagiert zu werden. Ich wurde mir bewusst, dass ich an einer mysteriösen Opferzeremonie, bei welcher dem Dunklen Gott gehuldigt wurde, teilnahm. Als die dämonische Qualität allmählich abnahm, war ich noch immer vol­ ler erotischer Gefühle und fand mich in endlosen Sequenzen fantastischster Orgien und anderer sexuellen Vorstellungen involviert, in welchen ich ab­ wechselnd alle Rollen einnahm. Während all dieser Erlebnisse war ich gleich­ zeitig noch immer das Kind, das sich durch den Geburtskanal kämpfte, und die Mutter, die es zur Welt brachte. Mir wurde klar, dass Sexualität und Geburt aufs Engste miteinander verbunden waren und dass satanische Kräfte und der Prozess des Vorwärtsdrängens im Geburtskanal einiges miteinander zu tun hatten. Ich kämpfte und schlug mich in den verschiedensten Rollen, gegen un­ zählige Gegner aller Couleur. Manchmal fragte ich mich, ob meine missliche Situation je ein Ende nehmen würde. Dann gesellte sich ein neues Element zu meiner abenteuerlichen Erfah­ rung. Mein ganzer Körper war bedeckt von einer biologischen, dreckigen Sub­ stanz, die sich schleimig und glitschig anfühlte. Ich hätte nicht sagen können, ob es sich dabei um die Flüssigkeit der Embryonalhülle, um Urin, Schleim, Blut oder vaginale Sekrete handelte. Dieselbe Substanz schien sich auch in meinem Mund und selbst in meinen Lungen zu befinden. Ich begann zu wür­ gen, da ich fast daran erstickte, machte Grimassen und begann zu spucken, um es aus meinem System und von meiner Haut wegzukriegen. Zum selben Zeit­ punkt vernahm ich eine Botschaft, die mir bedeutete, ich müsse nicht kämp­ fen. Der Prozess habe seinen eigenen Rhythmus, und alles, was ich tun müsse, sei, mich diesem voll und ganz hinzugeben. Mir kamen viele Situationen aus meinem Leben in den Sinn, bei welchen ich meinte kämpfen zu müssen, was zurückblickenderweise aber unnötig gewesen wäre. Ich hatte den Eindruck, als ob ich durch meine Geburt auf eine gewisse Art und Weise programmiert wurde, die mich das Leben als viel komplizierter und gefährlicher ansehen liess, als was es tatsächlich ist. Mir schien, dass diese Erfahrung mir diesbezüg­ lich die Augen öffnen könnte und mein Leben dadurch viel einfacher und spie­ lerischer würde.

66

Die vierte perinatale Matrix: BPM IV (Die Erfahrung von Tod und Wiedergeburt) Diese Matrix hängt mit der dritten klinischen Phase des Geburtsvorgangs, dem ei­ gentlichen Austritt aus dem Geburtskanal, und dem Durchtrennen der Nabel­ schnur zusammen. Mit dem Erlebnis dieser Matrix wird der schwierige Geburts­ prozess vollendet. Nach dem langwierigen und mühseligen Kampf durch den Ge­ burtskanal erreichen wir plötzliche Befreiung und gelangen ans Licht. Diese Er­ fahrung wird oft von konkreten, realistischen Erinnerungen an die einzelnen Aspekte dieses Geburtsstadiums begleitet; mit genauen Details zu Anästhesie, Geburtszangen und verschiedenen obstetrischen, auch nachgeburtlichen Eingrif­ fen und Hilfeleistungen. Das Wiedererleben der biologischen Geburt wird nicht einfach als eine me­ chanische Wiederholung des ursprünglichen biologischen Ereignisses empfunden, sondern auch in einem spirituellen Sinne als das Erlebnis von Tod und Wiederge­ burt erfahren. Diese Aussage macht nur dann Sinn, wenn wir uns der Bedeutung einiger wichtiger Aspekte, die in diesem Prozess am Wirken sind, bewusst werden. - Da der Fötus während des Geburtsvorgangs komplett eingezwängt wird und ... keine Möglichkeit hat, seine extremen Emotionen auszudrücken und auf die in­ tensiven physischen Empfindungen zu reagieren, bleibt die Erinnerung an dieses Ereignis psychologisch unverdaut und kann nicht assimiliert werden. Unser Selbstwert und unsere allgemeine Einstellung der Welt gegenüber wer­ den von der konstanten, unterschwellig wirkenden Erinnerung an die Verletzlich­ keit, die Unzulänglichkeit und die Schwäche, die wir bei der Geburt erlebten, stark beeinflusst, ln gewissem Sinne sind wir also zwar anatomisch geboren worden, emotional aber sind wir noch nicht so weit. Das «Sterben» und die Agonie bis zur Wiedergeburt spiegeln den tatsächlich erlebten Schmerz und die vitale Bedrohung des eigentlichen Geburtsvorgangs wider. Beim Ich-Tod, der der Wiedergeburt vorausgeht, stirbt unsere alte Auffassung vom Ich und von der Welt, die aus der traumatisierenden Prägung der Geburt resultierte und durch die im Unbewussten wach gebliebene Erinnerung am Leben erhalten blieb. Wenn wir diese alten Programmierungen auflösen, indem wir sie ins Bewusst­ sein holen, verlieren sie ihre emotionale Ladung und sterben gleichsam ab. Weil wir uns aber derart mit ihnen identifiziert haben, scheint der nahende Moment des Ich-Tods das Ende unserer ganzen Existenz oder gar das Ende der Welt zu sein. Wie sehr dieser Vorgang uns auch ängstigen mag, in Tat und Wahrheit ist er von grösser Heilkraft und birgt ein enormes Transformationspotenzial. Paradoxerwei­ se jedoch erfüllt uns in dem Moment, da uns nur noch ein kleiner Schritt vom Er­ lebnis der radikalen Befreiung trennt, panische Angst und das Gefühl, dass wir auf eine fürchterliche Katastrophe zusteuern. Was in diesem Prozess nun wirklich stirbt, ist das falsche Ego, das wir bis zu diesem Zeitpunkt als unser wahres Selbst angesehen haben. Wenn wir all unserer bekannten Bezugspunkte verlustig gehen, können wir uns kein Bild mehr von dem machen, was «auf der anderen Seile» ist, falls sich da überhaupt etwas befinden

67

In einer Ayahuasca-Sitzung wird die Transzendierung des Todes erfahren. Vision eines Totenkopfes und eines Rippengerüsts, die in das Licht des Geistes explodieren und die Vorherrschaft des Verstandes und der menschlichen Form brechen. Die Erfahrung hatte ein Gefühl grösser Freiheit und Freude, zur Folge (Kathleen Silver)

sollte. Diese Furcht erzeugt in uns einen enormen Widerstand, der uns daran hin­ dert weiterzumachen und die Erfahrung zu beenden. Das Resultat davon ist - falls sich keine erfahrenen Betreuer finden lassen -, dass viele Menschen in diesem problematischen Gebiet stecken bleiben. Sobald wir die metaphysische Angst, der wir in diesem so wesentlichen Au­ genblick ausgeliefert sind, überwinden und uns entscheiden, die Dinge geschehen zu lassen, erleben wir eine totale Vernichtung auf allen nur vorstellbaren Ebenen - von physischer Zerstörung, emotionaler Auflösung, intellektueller und philoso­ phischer Niederlage, tiefster moralischer Verirrung und absoluter, spiritueller Verdammnis. Während dieses Erlebnisses scheinen alle unsere Bezugspunkte und

68

alles, was in unserem Leben wichtig und bedeutungsvoll ist - erbarmungslos zer­ stört zu werden. Unmittelbar auf die Erfahrung der totalen Auslöschung - dem Er­ reichen des «kosmischen Tiefpunkts» - folgen überwältigende Visionen blendend weissen oder goldenen Lichts, das von übernatürlicher Strahlkraft und Schönheit ist und uns numinos und göttlich vorkommt. Haben wir die Erfahrung der totalen Vernichtung und des apokalyptischen Endes von allem überstanden, werden wir von fantastischen Visionen herrlicher Regenbogenstrahlen, Pfauenfedernmustern, himmlischer Szenen und Erscheinun­ gen von archetypischen, von göttlichem Licht umgebenen Wesen nur so überflu­ tet. Oft begegnen wir hier der archetypischen Grossen Muttergöttin, entweder in ihrer universalen Form oder in einer ihrer kulturspezifischen Formen. Nach dieser Erfahrung von Tod und Wiedergeburt befinden wir uns in einem Zustand der Gnade oder Erlösung und der ekstatischen Verzückung und haben das Gefühl, un­ sere göttliche Natur und unseren kosmischen Status wieder erlangt zu haben. Wir werden überwältigt von einer Welle positiver Emotionen uns selbst und den ande­ ren, der Natur und der Existenz gegenüber. Es muss hierbei betont werden, dass dieses Erlebnis oft nur dann als heilend und lebensverändernd erfahren wird, wenn die Geburt nicht allzu Kräfte raubend war und nicht allzu viel Anästhesie im Spiel war. Andernfalls stellt sich das Gefühl eines triumphalen Durchbruchs zum Licht und der Erlösung nur selten ein. Dafür wird die folgende nachgeburtliche Periode so erfahren, als würden wir uns allmäh­ lich von einer Krankheit oder einem schweren Kater erholen. Wie wir später noch sehen werden, kann die Geburtsanästhesie schwer wiegende psychologische Aus­ wirkungen auch für das spätere Leben haben. Die folgende Schilderung eines Tod-und-Wiedergeburts-Erlebnisses stammt aus einer hoch dosierten Sitzung. Sie weist viele der für BPM IV typischen Cha­ rakteristiken auf. Doch das Schlimmste sollte erst noch kommen. Plötzlich schien ich jede Ver­ bindung mit der Realität zu verlieren, als würde ein imaginärer Teppich unter meinen Füssen weggezogen. Alles brach in sich zusammen, und ich sah, wie meine gesamte Welt in Stücke zerbrach. Mir war, als ob eine monströse meta­ physische Blase, meine Existenz, angestochen würde; die gigantische Blase meiner lächerlichen Selbsttäuschung zerplatzte und entblösste die grosse Lüge meines Lebens. Alles, woran ich je geglaubt hatte, alles, was ich getan oder je­ mals erstrebt hatte, was meinem Leben Sinn gegeben hatte, schien plötzlich durch und durch falsch zu sein. All das waren nur erbärmliche Krücken ohne jeden wahren Wert gewesen, mit deren Hilfe ich versucht hatte, der ansonsten unerträglichen Realität einen Sinn zu geben. Nun wurden sie weggeblasen wie die Samen eines Löwenzahns, hilflos war ich dem Schrecken der letzten Wahr­ heit ausgesetzt, dem sinnlosen Chaos der existenziellen Leere. Von unbeschreiblichem Horror erfüllt, erblickte ich die gigantische Ge­ stalt einer Gottheit, die sich bedrohlich über mir auftürmte. Instinktiv erkann­ te ich in ihr den Hindugott Shiva in seinem zerstörerischen Aspekt. Ich spürte

69

Dieses Bild entstand nach einer holotropen Atemsitzung und stellt die kombinierte Erfahrung von Gebären und Geborenwerden dar. Solche Erlebnisse können zutiefst heilend sein und bergen ein grosses transformatives Potenzial. Meist haben die Personen das Gefühl, ein neues Selbst geboren zu haben. (Jean Perkins: «Auftauchen aus der Dunkelheit», 135x 185 cm, I 999)

die donnernde Wucht seines riesigen Fusses, der mich in kleinste Stücke zer­ trat und mich wie ein lästiges Stück Hundescheisse auf dem Boden, dem Grund des Kosmos, verschmierte. Im nächsten Moment erhob sich vor mir die Schrecken erregende Riesengestalt einer dunklen Gottheit, in der ich die indi­ sche Göttin Kali erkannte. Mein Gesicht wurde durch eine unwiderstehliche Kraft in ihre klaffende Vagina gedrückt, die voll von Menstrualblut und abstossender Nachgeburt war. Nun wusste ich, dass man von mir die absolute Unterwerfung unter die Mächte der Existenz und unter das von der Göttin verkörperte weibliche Prin­ zip verlangte. Ich hatte keine andere Wahl, als in äusserster Demut und Erge­ benheit ihre Vulva zu lecken und zu küssen. In diesem Augenblick - der das letzte und unwiderrufliche Ende jeglicher männlichen Überlegenheit, die ich jemals in mir verspürt haben mochte, bedeutete - wurde die Erinnerung an den Augenblick meiner biologischen Geburt wach. Mein Kopf tauchte aus dem Geburtskanal hervor, mein Mund kam in Kontakt mit der blutenden müt­ terlichen Vagina.

70

Ich wurde nun überflutet von übernatürlich strahlendem Licht von un­ beschreiblicher Schönheit; goldene Strahlen explodierten in Tausende von er­ lesenen Pfauenfedernmustern. Aus diesem glänzenden Licht tauchte die Ge­ stalt der Grossen Muttergöttin auf, in der sich die Liebe und der Schutz aller Zeitalter zu verkörpern schien. Sie breitete ihre Arme nach mir aus und um­ hüllte mich mit ihrem Wesen. Als ich mich mit diesem unglaublichen Energie­ feld verband, fühlte ich mich geläutert, geheilt und versorgt. Etwas, das wie göttlicher Nektar und Ambrosia aussah, eine archetypische Mischung aus Milch und Honig, strömte in einem nicht enden wollenden Strom in meinen Körper. Nach und nach verschwand die Gestalt der Göttin in einem noch strahlen­ deren Licht. Dieses Licht war abstrakt, trug aber persönliche Züge und strahl­ te unendliche Intelligenz aus. Mir wurde klar, dass ich jetzt die Vereinigung oder Verschmelzung mit dem Universalen Selbst, oder Brahman, erlebte, über das ich schon in Büchern über indische Philosophie gelesen hatte. Das Ge­ schehnis dauerte objektiv gesehen etwa zehn Minuten, doch erfuhr ich sie als ewig und ausserhalb von allen Zeitvorstellungen seiend. Der Strom heilender und Kraft spendender Energie, die Visionen goldenen Lichts und das herrliche Spiel strahlender Pfauenfedermuster hielten die ganze Nacht über an. Das Wohlgefühl blieb für viele Tage erhalten. Die Erinnerung an dieses Erlebnis blieb über Jahre hinaus lebendig und veränderte meine gesamte Lebensphilo­ sophie von Grund auf.

Die transpersonale Dimension der Psyche Das zweite Hauptgebiet, das der traditionellen Kartografie der menschlichen Psy­ che - wollen wir den Erkenntnissen aus holotropen Bewusstseinszuständen ge­ recht werden - beigefügt werden muss, ist heute unter dem Namen transpersonal bekannt. Dieser Ausdruck bedeutet wörtlich so viel wie «über das Persönliche hi­ naus reichend» oder «das Persönliche transzendierend». Dazu gehört das Trans­ zendieren unserer gewohnten Grenzen (unseres Körpers und unseres Egos) und der Beschränkungen des dreidimensionalen Raumes und der linearen Zeit, die un­ sere Wahrnehmung der Welt einschränken. Das Wesen transpersonaler Erfahrun­ gen kann man am besten verstehen, wenn wir sie in Bezug setzen zu unserem all­ täglichen Wahrnehmungsfeld, der Art, wie wir uns selbst und die Welt wahrneh­ men, oder - genauer gesagt - zur Art und Weise, wie wir uns und unsere Umge­ bung wahrzunehmen haben, wenn wir den Standards unserer Kultur entsprechen und bei der heutigen Psychiatrie als «normal» durchgehen wollen. Im gewohnten oder normalen Bewusstseinszustand erleben wir uns selbst gleichsam als newtonsche Objekte, die innerhalb der von unserer Haut gesetzten Grenzen existieren. Der amerikanische Autor und Philosoph Alan Watts setzte diese Art von Selbstwahrnehmung der Identifikation mit dem «hautumhüllten Ich» gleich. Die Wahrnehmung der Umwelt wird von der Beschaffenheit unserer Sinnesorgane und den physiologischen Gegebenheiten des uns Umgebenden de­ terminiert. So können wir weder Objekte, von denen uns eine solide Wand trennt,

71

Erweiterung des Wahrnehmungsspektrums innerhalb der Raum-Zeit und der «objektiven» (Konsens-)Realität Überschreiten der räumlichen Grenzen Erfahrungen der Zweieinigkeit Identifikation mit anderen Personen Gruppenidentifikation und Gruppenbewusstsein Identifikation mit Tieren Identifikation mit Pflanzen und botanischen Prozessen Einheit mit der Gesamtheit des Lebens und der Schöpfung Identifikation mit anorganischer Materie und ebensolchen Prozessen Planetares Bewusstsein Erfahrungen mit Wesenheiten und Welten ausserirdischen Ursprungs Identifikation mit dem gesamten physischen Universum Übersinnliche Phänomene mit Transzendenz des Raums Überschreiten der Grenzen der linearen Zeit Embryonale und fötale Erfahrungen Ahnen-Erfahrungen Rassische und kollektive Erfahrungen Erinnerungen an frühere Inkarnationen Phylogenetische Erfahrungen Erfahrungen, die sich auf die planetare Evolution beziehen Kosmogenetische Erfahrungen Übersinnliche Phänomene mit Transzendenz der Zeit Erlebnisse im Mikrokosmos Organ-, Gewebe- und Zellbewusstsein Erfahrungen der DNS Erfahrungen der Welt der Atome und subatomaren Teilchen Erweiterung des Erfahrungsspektrums über die Grenzen der Raum-Zeit und der Konsens-Realität hinaus Spiritistische und mediumistische Erfahrungen Energetische Phänomene des feinstofflichen Körpers Begegnungen mit Tiergeistern (Krafttiere) Begegnungen mit Geistführern und übermenschlichen Wesen Besuche in Paralleluniversen und Begegnungen mit ihren Bewohnern Sequenzen aus der Mythen- und Märchenwelt Erfahrungen von seligen und zornigen Gottheiten Erfahrungen universaler Archetypen Intuitives Verstehen universaler Symbole Kreative Inspiration und prometheischer Impuls

72

Begegnungen mit dem Weltenschöpfer und Einblicke in die Erschaffung des Kosmos Die Erfahrung kosmischen Bewusstseins Die supra- und metakosmische Leere Transpersonale Erfahrungen psychoider Natur Synchronizitäten (Wechselwirkungen zwischen innerpsychischen Vorgängen und objektiver Realität) Spontane psychoide Ereignisse Übernatürliche körperliche Leistungen Spiritistische Phänomene und physischer Mediumismus Wiederkehrende spontane Psychokinese (Poltergeist) Erfahrungen von UFOs und von Entführungen durch Ausserirdische Intentionale Psychokinese Zeremonielle Magie Heilen und Hexerei Yogische Siddhi Psychokinese im Labor Tabelle 2.2: Transpersonale Erfahrungen noch Schiffe jenseits des Horizonts, noch die uns abgewandte Seite des Mondes se­ hen. Halten wir uns in Prag auf, können wir die Gespräche unserer Freunde in San Francisco nicht hören. Wie flauschig weich sich ein Lammfell anfühlt, können wir nur erspüren, wenn es die Oberfläche unseres Körpers direkt berührt. Ausserdem können wir nur diejenigen Geschehnisse, die sich im gegenwärti­ gen Moment ereignen, lebendig erfahren. Zwar können wir die Vergangenheit wieder ins Gedächtnis rufen, zukünftige Ereignisse vorausahnen oder solche imaginieren; dies unterscheidet sich jedoch beträchtlich vom direkten Erlebnis im Hier und Jetzt. In transpersonalen Bewusstseinszuständen sind all diese Beschrän­ kungen nicht absolut; jede von ihnen kann transzendiert werden. Es gibt keine Grenzen, was die Reichweite unserer Sinnesorgane betrifft: Die einzelnen Sinne sind voll aktiv, wenn wir vergangene Ereignisse erleben oder zuweilen auch solche, die sich erst in der Zukunft abspielen werden. Das Spektrum transpersonaler Erfahrungen ist extrem weit und varianten­ reich und umfasst Phänomene aus den verschiedensten Bewusstseinsebenen. Ta­ belle 2.2 (siehe gegenüber und oben) stellt einen Versuch dar, verschiedene Erfah­ rungstypen dieser Kategorie aufzulisten und zu gruppieren. Ich habe, während meiner eigenen psychedelischen und holotropen Sitzungen, die meisten der in die­ ser synoptischen Tabelle aufgelisteten Phänomene selbst erlebt. Ich konnte sie zu­ dem, im Verlauf meiner langjährigen Arbeit mit anderen, immer wieder beobach­

73

ten. Im Rahmen dieses Buches ist es mir nicht möglich, all die einzelnen Erfah­ rungstypen genau zu definieren und zu beschreiben und sie mit klinischen Beispie­ len belegen zu können. Die interessierten Leser möchte ich aber auf frühere Pu­ blikationen verweisen, die sich diesem Thema in ausführlicherer Form widmen (Grof 1975,1985,1988). Wie die Tabelle zeigt, können die transpersonalen Erfahrungen grob in drei grosse Kategorien eingeteilt werden. Die erste handelt vorwiegend von der Trans­ zendierung unserer gewohnten räumlichen und zeitlichen Schranken. Dehnt sich unser Wahrnehmungsfeld über die räumlichen Begrenzungen unseres «hautum­ hüllten Ichs» hinaus, so können wir mit anderen Personen verschmelzen und einen Zustand der «dualen Einheit» oder «Zweieinigkeit» erreichen; wir können die Identität einer anderen Person annehmen oder uns mit einer Menschengruppe als Ganzes identifizieren - zum Beispiel mit allen Müttern der Welt, der gesamten Be­ völkerung Indiens oder den Insassen der Konzentrationslager. Unser Bewusstsein kann sich selbst bis zu dem Grad ausdehnen, dass es die gesamte Menschheit zu umfassen scheint. Schilderungen dieses Typs von Erfahrung finden sich in der spi­ rituellen Literatur der ganzen Welt. Ähnlich können auch die Grenzen unserer spezifisch menschlichen Wahrneh­ mungsweise transzendiert werden; wir verschmelzen mit dem Bewusstsein von Tieren oder Pflanzen oder gewinnen eine Art von Bewusstsein, die wir mit demje­ nigen von anorganischer Materie oder anorganischen Prozessen identifizieren. Zu­ weilen können wir so auch das Bewusstsein der Biosphäre, des gesamten Planeten oder des ganzen materiellen Universums einnehmen. Mag es einem dem monistischen Materialismus verschriebenen westlichen Menschen noch so unglaubwürdig und absurd Vorkommen, diese Erfahrungen weisen darauf hin, dass alles, was wir im alltäglichen Bewusstseinszustand als Ob­ jekt wahrnehmen können, im holotropen Zustand auch eine subjektive Entspre­ chung hat. Es scheint, dass alles in unserem Universum sowohl einen objektiven als auch einen subjektiven Aspekt aufweist - wie wir es in so vielen schriftlichen Darstellungen der grossen spirituellen Philosophien des Ostens erwähnt finden. Die Hindus beispielsweise sehen alles Existierende als eine Manifestation Brah­ mas an, und die Taoisten sehen das Universum als immerwährende Wandlungen des Tao. Andere transpersonale Erfahrungen, die sich ebenfalls dieser ersten Kategorie zurechnen lassen, zeichnen sich vor allem durch das Überwinden der zeitlichen und weniger der räumlichen - Grenzen aus, also durch die Transzendenz der li­ nearen Zeit. Wie ich schon erwähnt habe, ist ein volles Wiedererleben der bedeu­ tenden Prägungen aus der Zeit der Kindheit und des Geburtstraumas durchaus möglich. Diese Regression kann aber in der Zeit noch weiter zurückgehen und auch authentische fötale und embryonale Erinnerungen aufschliessen. Es ist nicht einmal ungewöhnlich, dass es auf einer zellulären Bewusstscinsebene zu einer vol­ len Identifikation mit Spermatozoon und Ovum zur Zeit der Zeugung kommt.

74

Aber die Erfahrung des Rückwärtsgehens in der Zeit und im Schöpfungspro­ zess macht hier nicht Halt. In holotropen Zuständen können wir Episoden aus den Leben unserer menschlichen oder tierischen Vorfahren erleben, und selbst solche, die aus dem tiefen rassischen und kollektiven Unbewussten, wie C. G. Jung es be­ schrieb, stammen. Oft gehen Erfahrungen, die in anderen Kulturen und geschicht­ lichen Epochen stattzufinden scheinen, mit einem Gefühl des persönlichen Sicherinnerns einher und mit der festen Überzeugung, es handle sich dabei um ein Déjà-vu oder ein Déjà-vécu. Die Betreffenden reden dann von einem Wiedererle­ ben von Erlebnissen aus vergangenen Leben, früheren Inkarnationen. In holotropen Zuständen können wir auch in Mikrowelten gelangen, zu Struk­ turen und Vorgängen werden, die unseren Sinnen sonst direkt nicht zugänglich sind. Erfahrungen dieser Art haben grosse Ähnlichkeit mit verschiedenen Szenen aus dem Film «The Fantastic Voyage» (Die fantastische Reise) von Isaac Asimov. Wir erblicken die Welt unserer inneren Organe, Gewebe und Zellen oder errei­ chen gar die volle Identifikation mit ihnen. Von besonderer Faszination sind hier Erfahrungen der DNS, die Einsicht gewähren in die letzten Mysterien des Lebens, der Fortpflanzung und der Vererbung. Manchmal können uns solche Erfahrungen auch in die anorganische Welt der Moleküle, Atome und Atomteilchen führen. Die bisher beschriebenen transpersonalen Erfahrungen sind allesamt Phäno­ mene, die in diesem Raum-Zeit-Kontinuum existieren. Die einzelnen Elemente kennen wir von unserer Alltagsrealität her - Menschen, Tiere, Pflanzen, Materia­ lien oder Ereignisse aus früheren Zeilen. Was diese Phänomene an sich angeht, gibt es nichts, das uns eigenartig Vorkommen würde. Sie gehören zu der Realität, die wir kennen, und ihr Vorhandensein ist für uns selbstverständlich. Dass sie uns, in Bezug auf die oben beschriebenen beiden Kategorien transpersonaler Erfah­ rungen, trotzdem überraschen, hat nicht mit ihrem Inhalt oder ihrer Beschaffen­ heit zu tun, sondern mit der Tatsache, dass wir etwas, das unseren Sinnen norma­ lerweise nicht zugänglich ist, beobachten und uns voll damit identifizieren können. Wir wissen zwar, dass in den Ozeanen schwangere Wale schwimmen, doch sind wir nicht in der Lage, zu einem solchen zu werden. Dass es einmal eine Fran­ zösische Revolution gab, akzeptieren wir als eine uns wohl bekannte Tatsache, doch können wir nicht selbst erfahren, wie es sich wirklich anfühlte, dort und da­ mals dabei gewesen zu sein und vielleicht verwundet auf den Pariser Barrikaden zu liegen. Wir wissen, dass auf dieser Welt vieles an vielen Orlen geschieht, aber normalerweise sehen wir es als unmöglich an, dass wir etwas miterleben können, das sich an fernen Orten abspielt (und nicht durch Fernseher und Satellit vermittelt wird). Die meisten von uns reagieren wohl überrascht, wenn sie vernehmen, dass auch niedere Tiere, Pflanzen und die anorganische Natur ein Bewusstsein hat. Die zweite Kategorie Iranspersonaler Phänomene ist noch seltsamer: In holo­ tropen Zuständen kann sich unser Bewusstsein in Bereiche und Dimensionen hi­ nein ausdehnen, die man in der westlichen industrialisierten Kultur als nicht «real» ansieht. Dazu gehören die unzähligen Visionen von oder die Identifikation mit archetypischen Wesen, Gottheiten und Dämonen aller Kulturen, aber auch Besu-

75

76

«Im Innern I» (links) und «Im Innern II» (rechts), zwei Zeichnungen aus einer psychedelischen Sitzung, in der das Körperinnere «erfahren» wurde. Der Umstand, dass im holotropen Zustand das eigene Skelett und die inneren Organe erfahren werden können, wirft ein interessantes Licht auf die «Röntgenkunst», die von sibirischen und von Inuit-Schamanen wie auch von den australischen Aborigines beherrscht wird. (Robin Maynard-Dobbs)

77

che fantastischer mythologischer Landschaften. In diesem Zusammenhang kön­ nen wir zu einem intuitiven Verstehen von universellen Symbolen wie dem Kreuz, dem Nilkreuz oder Ankh, der Swastika, dem Pentagramm, dem Sechseckstern oder dem Yin-und-Yang-Zeichen usw. gelangen. Wir können zudem auch entkörperten oder übermenschlichen Wesenheiten, Geistführern, ausserirdischen Wesen oder Bewohnern von Parallel-Universen begegnen und mit ihnen Kontakt aufneh­ men. In seiner weitesten Ausdehnung kann unser Bewusstsein alle Grenzen trans­ zendieren und sich mit dem kosmischen Bewusstsein oder dem universalen Geist identifizieren, bekannt unter vielen verschiedenen Namen wie Brahman, Buddha, der Kosmische Christus, Kether, Allah, das Tao, der Grosse Geist und vielen an­ deren. Die Erfahrung aller Erfahrungen scheint die Identifikation mit der supraund metakosmischen Leere zu sein, der mysteriösen, uranfänglichen Leere, dem Nichts, das seiner selbst bewusst ist und die Wiege alles Seienden ist. In der Leere gibt es nichts Konkretes, doch enthält sie alles in potenzieller Form. Zur dritten Kategorie transpersonaler Erfahrungen gehören Phänomene, die ich psychoid nenne, ein Begriff, der von Hans Driesch, dem Begründer des Vita­ lismus, geprägt wurde und von C. G. Jung adoptiert wurde. In diese Gruppe gehören Situationen, in welchen innerpsychische Erfahrungen mit entsprechenden Ereignissen in der Aussenwelt (oder besser, in der bewussten Realität) korrelie­ ren, das heisst in einer sinnhaften Beziehung zu ihnen stehen. Psychoide Erfah­ rungen decken ein breites Spektrum ab, von Synchronizitäten über Geistheilen und zeremonielle Magie bis zu Psychokinese und anderen «der Geist dominiert die Materie»-Phänomenen, die im Yoga als Siddhis bekannt sind (Grof 1988). Transpersonale Erfahrungen weisen manch befremdliche Charakteristik auf, die auch die grundlegendsten metaphysischen Hypothesen der materialistischen Weitsicht und des newton-kartesianischen Paradigmas zunichte machen. Forscher, die diese faszinierenden Phänomene studiert und/oder selbst erlebt haben, emp­ finden die Bemühungen der orthodoxen Wissenschaft, diese als irrelevante Spiele der menschlichen Fantasie oder als launische Halluzinationen eines kranken Hirns abzutun, als naiv und inadäquat. Jede vorurteilslose Studie des transpersonalen Bereichs der Psyche muss zum Schluss kommen, dass die hier Vorgefundenen Phä­ nomene nicht nur für Psychiatrie und Psychologie, sondern auch für die gesamte Philosophie der westlichen Wissenschaft eine entscheidende Herausforderung darstellen. Obwohl transpersonale Erfahrungen im Zusammenhang mit einer tief gehen­ den individuellen Selbsterforschung auftreten, lassen sie sich nicht einfach als in­ nerpsychische Phänomene im konventionellen Sinne interpretieren. Einerseits er­ scheinen sie im selben Erfahrungskontinuum wie die biografischen und perinata­ len Erfahrungen und kommen deshalb aus dem Inneren der individuellen Psyche. Andererseits scheinen dabei auf direktem Wege, also ohne Vermittlung der Sin­ nesorgane, Informationsquellen angezapft zu werden, die eindeutig weit jenseits der gewohnten Reichweiten des Individuums liegen.

78

Irgendwo auf der perinatalen Ebene der Psyche scheint ein merkwürdiger Er­ fahrungstausch aufzutreten: Was bis zu diesem Zeitpunkt ein tiefes Erforschen der inneren Psyche war, wird zu einer aussersinnlichen Wahrnehmung von verschie­ denen Aspekten des Universums als Ganzem. Einige Personen, die diesen seltsa­ men Übergang vom Inneren zum Äusseren erlebt haben, verglichen dies mit der grafischen Kunst des holländischen Malers Maurits Escher. andere mit einer «er­ fahrbaren multidimensionalen Möbiusschlaufe». Diese Beobachtungen stützen die Grundsätze einiger esoterischer Systeme wie Tantra, Kabbala oder die herme­ tische Tradition, gemäss denen ein jeder von uns ein Mikrokosmos ist, der auf ei­ ne mysteriöse Art und Weise das gesamte Universum enthält. In den mystischen Texten wurde finden wir dies in Sätzen wie «wie oben, so unten» oder «wie innen, so aussen» ausgedrückt. Aus diesen Beobachtungen lässt sich folgern, dass wir Informationen über un­ ser Universum auf zwei komplett voneinander verschiedenen Wegen erhalten können. Unsere übliche Art zu lernen basiert auf der Wahrnehmung unserer Sin­ ne und der verstandesmässigen Analyse und Synthese der erhaltenen Daten. Die radikale Alternative, die in holotropen Zuständen zugänglich ist, ist das Lernen via direkte Identifikation mit den verschiedenen Phänomenen. Dem alten Paradigma zufolge schienen die Aussagen der alten esoterischen Systeme, die Mikrowelt wi­ derspiegle die Makrowelt und ein Teil enthalte das Ganze, schlichtweg absurd, da sie mit dem gesunden Menschenverstand und den elementaren Prinzipien der aris­ totelischen Logik nicht vereinbar schienen. Nach der Entdeckung des Lasers und der optischen Holografie, welche neue Einsichten bezüglich der Beziehung zwi­ schen Teil und Ganzem erbrachten, hat sich diese Anschauungsweise radikal geän­ dert. Das holografische oder holonome Denken hat zum ersten Mal einen konzep­ tionellen Rahmen für eine wissenschaftliche Betrachtung dieses aussergewöhnli­ chen Mechanismus geliefert (Bohm 1980, Pribram 1981, Laszlo 1993). In den Schilderungen von Menschen, die Episoden embryonaler Existenz, den Augenblick der Zeugung und Formen des Zell-, Gewebe- und Organbewusstseins erfahren haben, finden sich Unmengen an medizinisch akkuraten Einsichten in die anatomischen, physiologischen und biochemischen Aspekte der betreffenden Pro­ zesse. Ähnlich werden bei Ahnen-, rassischen und kollektiven Erinnerungen aus früheren Inkarnationen oft sehr spezifische Details zu Architektur, Kleidung, Waffen, Kunststilen, sozialen Strukturen und religiösen und rituellen Praktiken der einzelnen Kulturen, Geschichtsperioden oder konkreten historischen Ereig­ nissen erwähnt. Menschen, die zu phylogenetischen Erfahrungen oder Identifikationen mit existierenden Lebensformen kamen, empfanden diese nicht nur als ausserordent­ lich authentisch und überzeugend, sondern sie gewannen auch oft aussergewöhnliche Einsichten in die Tierpsychologie, die Ethologie, spezielle Gewohnheiten oder ungewöhnliche Fortpflanzungszyklen. In einigen Fällen waren diese Erfahrungen von urtümlichen, für Menschen atypischen muskulären Innervationen begleitet

79

oder gar von so komplexen Verhaltensmustern wie den Balztänzen verschiedener spezifischen Spezies. Die mit den eben beschriebenen Beobachtungen verbundene philosophische Herausforderung wird, so folgenreich sie an und für sich schon ist, noch durch die Tatsache verstärkt, dass transpersonale Erfahrungen, die unsere materielle Welt der Raum-Zeit auf korrekte Weise widerspiegeln, oft gleichzeitig mit anderen Er­ fahrungen auftreten (und teilweise eng mit diesen verknüpft sind), die Elemente enthalten, welche für die westliche, industrialisierte Welt nicht real sind. Dazu gehören Erfahrungen mit Gottheiten und Dämonen aus verschiedenen Kulturen, mythologischen Reichen wie dem Himmel und dem Paradies, und Sequenzen aus Legenden und Märchen. Wir können etwa Szenerien wie Shivas Himmel sehen, das Paradies des aztekischen Regengottes Tlaloc, die sumerische Unterwelt oder eine der buddhisti­ schen heissen Höllen. Wir können mit Jesus kommunizieren, eine erschütternde Begegnung mit der Hindugöttin Kali haben oder uns mit dem tanzenden Shiva identifizieren. Selbst während solcher Episoden können wir präzise Informationen zu religiösem Symbolismus und mythischen Motiven, von denen wir zuvor keine Ahnung hatten, erhalten. Solche Beobachtungen stützen die Idee C. G. Jungs, dass wir, abgesehen vom freudschen individuellen Unbewussten, auch Zugang zum kol­ lektiven Unbewussten haben können, welches das kulturelle Erbe der gesamten Menschheit enthält (Jung 1959). Meine Klassifizierung der transpersonalen Erfahrungen ist strikt phänomeno­ logischer und nicht hierarchischer Art; sie spezifiziert also nicht die Bewusstseins­ ebenen, auf denen sie geschehen. Es ist deshalb interessant, dieses Schema mit Ken Wilbers Ebenen der spirituellen Evolution zu vergleichen, welche laut ihm der erfolgreichen Integration von Körper und Geist folgen (in seiner Terminologie die Evolution postzentaurischer Bewusstseinsebenen) (Wilber 1980). Die Paralle­ len zwischen seinem Entwicklungsschema und meiner Kartografie transpersonaler Erfahrungen lassen sich unschwer erkennen. Zur Konstruktion seiner Karte psychospiritueller Entwicklung benutzte Wil­ ber vorwiegend Material aus der alten spirituellen Literatur, besonders aus dem Vedanta-Hinduismus und dem Theravada-Buddhismus. Meine eigenen Daten be­ ruhen auf den klinischen Beobachtungen, die ich in verschiedenen Ländern Euro­ pas, Nord- und Südamerikas und Australiens und, in beschränktem Masse, auch mit japanischen und ostindischen Gruppen gesammelt habe. Meine Arbeit er­ bringt dadurch die empirischen Beweise für die Existenz der meisten in seinem Schema enthaltenen Erfahrungen. Sie zeigt ausserdem, dass die Schilderungen, die wir in den alten spirituellen Quellen finden, auch für die Menschheit von heute noch von grösser Relevanz sind. Wie wir noch sehen werden, sind die beiden Sys­ teme jedoch nicht voll identisch, und die Eingliederung meines Materials würde bestimmte Ergänzungen, Modifikationen und Richtigstellungen erfordern. Wilbers Schema der postzentaurischen spirituellen Domäne umfasst die nie­ deren und die höheren feinstofflichen Ebenen, die niederen und die höheren kau­

80

salen Ebenen sowie das Absolute. Laut Wilber lässt sich die niedere feinstoffliche oder astral-psychische Bewusstseinsebene abgrenzen, wenn man den Grad an Dif­ ferenzierung zwischen Bewusstsein und Geist/Körper beachtet. Die Unterschei­ dung ist weit subtiler als auf der Ebene des Zentauren. Bewusstsein ist demgemäss im Stande, die normalen Fähigkeiten von Körper und Geist zu transzendieren und auf Weisen zu funktionieren, die unserem gewöhnlichen Verstand unmöglich und fantastisch Vorkommen. Gemäss Wilber sind der astralen Ebene ausserkörperliche Erfahrungen, ok­ kulte Kenntnisse, Auras, echte Magie, «Astralreisen» usw. zugehörig. Die psychi­ sche Ebene Wilbers umfasst verschiedene «Psi»-Phänomene wie aussersinnliche Wahrnehmung, Präkognition, Hellsehen, Psychokinese und anderes. In diesem Zusammenhang verweist er auch auf die Patanjali-Yoga-Sutras, die der psychi­ schen Ebene alle paranormalen Kräfte, Geist-über-Körper-Phänomene oder Siddhis zurechnen. Im höheren subtilen (feinstofflichen) Bereich unterscheidet sich das Bewusst­ sein vollständig vom gewöhnlichen Geist und wird zu dem, was man «Überselbst» oder «Übergeist» nennen kann. Zu diesem Bereich gehören nach Wilber die höhe­ re religiöse Intuition und Inspiration, Visionen göttlichen Lichts, das «hörbare Licht» und höhere Wesenheiten - Geistführer, Engelwesen, Ishladevas, Dhyanibuddhas und die Archetypen Gottes, die er als hohe archetypische Formen unse­ rer selbst ansieht. Wie die feinstoffliche lässt sich auch die kausale Ebene in eine niedere und ei­ ne höhere unterteilen. Wilber schreibt, dass der niedere kausale Bereich sich in ei­ nem Bewusstseinszustand manifestiert, der als Savikalpa Samadhi bekannt ist Erfahrungen des Ur-Gottes; der Grund, die Essenz und der Ursprung aller ar­ chetypischen und «weniger göttlichen» Manifestationen, die wir in den feinstoffli­ chen Ebenen vorfinden. Im höheren kausalen Bereich finden wir die «totale und vollständige Transzendenz und Befreiung ins Formlose Bewusstsein, ins Grenzen­ lose Strahlen» vor. Wilber bringt dies in Zusammenhang mit dem Nirvikalpa Sa­ madhi des Hinduismus, dem Nirodh des Hinayana-Buddhismus und dem achten der zehn Ochsenbilder des Zen-Buddhismus. Auf der letzten und höchsten Ebene schliesslich, dem Bereich des Absoluten, erwacht das Bewusstsein zu seinem ursprünglichen Wesen und So-Sein (Tathagata), welches alles zur gleichen Zeit ist: grobstofflich, feinstofflich und kausal. Es gibt keinen Unterschied mehr zwischen Beobachtendem und Beobachtetem, der ganze Weltprozess entfaltet sich, von Augenblick zu Augenblick, im ewigen Jetzt, als wir selbst. Es gibt nichts, das ausserhalb davon, und nichts, das davor existierte. Wie ich zuvor schon erwähnte, stützen meine eigenen Erfahrungen und Beob­ achtungen das ontologische und kosmologische Schema Wilbers. Während meiner jahrzehntelangen therapeutischen Arbeit konnte ich verfolgen, wie die meisten der in diesem Schema aufgeführten Phänomene von vielen Personen direkt erlebt wurden. Und meine eigenen Sitzungen bilden da keine Ausnahme; die meisten dieser Erfahrungen habe ich persönlich erlebt und sie in meinen Büchern geschil­

81

dert. Ich erachte diese Konvergenz als sehr wichtig, da mein Material sich auf di­ rekten Beobachtungen und Berichten von heutigen Personen stützt. Würde die hierarchische Klassifizierung auf meinen eigenen Daten basieren, so würde ich auf der niederen feinstofflichen oder astral-psychischen Ebene zusätz­ lich Erfahrungen mit einbeziehen, die zwar Elemente der materiellen Welt bein­ halten, die Informationen dazu aber auf eine Weise gewonnen werden, die sich von unserem gewöhnlichen Wahrnehmungsmodus radikal unterscheidet. Dazu gehören vor allem Phänomene, die traditionell von Parapsychologen (und einige davon auch von Thanatologen) erforscht werden, wie ausserkörperliche Erfahrun­ gen, Astralreisen, aussersinnliche Wahrnehmung, Präkognition und Hellsehen. Ich würde dieser Liste ausserdem Phänomene beifügen, die eng mit der mate­ riellen Welt verknüpft sind, aber Aspekte und Dimensionen der Realität auf­ decken, die dem gewöhnlichen Bewusstsein nicht zugänglich sind, also beispiels­ weise das unmittelbare Wahrnehmen des feinstofflichen Energiekörpers, seiner Nadis oder Meridiane und seiner Aura. Die tantrischen Kreuzpunkte, welche die Brücken zwischen der sichtbaren und der unsichtbaren Realität schlagen, scheinen in diesem Zusammenhang von besonderer Bedeutung zu sein (Mookerjee und Khanna 1977). Ebenso würde ich auf der niederen feinstofflichen Ebene gewisse transperso­ nale Erfahrungen anfügen, die in meiner Kartografie Erwähnung finden, von Wil­ ber aber nicht berücksichtigt wurden. Hierzu gehört die erfahrungsmässige Identi­ fikation mit verschiedenen Aspekten innerhalb der Raum-Zeit-die Identifikation mit anderen Menschen, Tieren, Pflanzen, organischen Materialien und Prozessen und auch Erfahrungen mit Ahnen sowie Themen rassischer, kollektiver, phyloge­ netischer oder karmischer Natur. Diese Erfahrungen werden erstaunlicherweise in Wilbers Schriften so gut wie gar nicht erwähnt. In meinen früheren Publikationen habe ich dargelegt, dass all diese Erfahrun­ gen uns Zugang zu präzisen, neuen Informationen in Bezug auf diese Phänomene gewähren können; vermittelt werden sie über aussersinnliche Kanäle, die im Pro­ zess der spirituellen Öffnung eine wichtige Rolle spielen (Grof 1975, 1980, 1985, 1988, 1998). Im Sinne Patanjalis würde ich hier auch die Yoga-Siddhis, die auch in meiner Klassifikation figurieren, mit einbeziehen. Die gesamte Gruppe der Phä­ nomene, die ich «psychoid» nenne, würde ich ebenso hier ansiedeln. Zu den transpersonalen Erfahrungen (in meiner Kartografie), die Wilbers höheren feinstofflichen Ebene entspricht, gehören die Visionen göttlichen Lichts, Begegnungen mit verschiedenen glückseligen oder zornigen archetypischen We­ senheiten, das Kommunizieren mit Geistführern oder übermenschlichen Wesen, Begegnungen mit schamanischen Krafttieren, das unmittelbare Begreifen von uni­ versalen Symbolen und Episoden der religiösen und kreativen Inspiration («prometheische Offenbarung»), Visionen von archetypischcn Gestalten oder die Iden­ tifikation mit ihnen können auf ihrer universalen Form basieren (die grosse Mut­ iergöttin) oder in Form einer kulturspezifischen erscheinen (als Muttergottes, Isis, Cybele, Parvati usw.).

82

In den vielen Jahren, da ich das Privileg hatte, Personen während ihrer psy­ chedelischen oder holotropen Sitzungen zu begleiten, wurde ich Zeuge von vielen Erlebnissen, die Wilber den niederen oder höheren kausalen Bereichen zuordnet, und zuweilen auch von solchen, die er mit dem Absoluten in Verbindung bringt. Ich hatte zudem selbst einige Erfahrungen, die, wie ich glaube, in diese Kategorie gehören. In meiner Klassifizierung figurieren sie unter «Begegnungen mit dem Demiurgen», «kosmisches oder absolutes Bewusstsein» oder «die supra- und me­ takosmische Leere». Im Lichte der oben erwähnten Beobachtungen besteht für mich kein Zweifel mehr, dass die Phänomene, die Wilber in seinem holoarchischen Schema auflistet, nicht nur in einem erfahrungsmässigen, sondern auch im ontologischen Sinne real sind und keineswegs Produkte metaphysischer Spekulationen oder pathologischer Hirnprozesse darstellen. Ich bin mir aber auch bewusst, dass Erfahrungen dieser Ebenen nicht automatisch mit einem permanenten Aufstieg in immer höhere Ebe­ nen der Bewusstseinsevolution einhergehen. Das Eruieren der kritischen Fakto­ ren, die bestimmen, wann die kurzweiligen Erfahrungen höherer Bewusstseinszu­ stände zu einer dauernden Veränderung in den evolutionären Bewusstseinsstruk­ turen führen, ist ein wichtiges und heikles Thema. Ken und ich sind während unse­ rer früheren Diskussionen darauf zu sprechen gekommen, und ich hoffe, dass wir dies an einem anderen Ort, zu einer anderen Zeit weiterverfolgen können. Das allgemeine Konzept der Grossen Kette des Seins, gemäss welchem die Wirklichkeit eine ganze Hierarchie (oder Holoarchie) von Dimensionen aufweist, die unserer Wahrnehmung gewöhnlich verborgen sind, ist sehr wichtig und gut fundiert. Es wäre ein grösser Irrtum, diese Auffassung von Existenz als primitiven Aberglauben oder psychotischen Wahn abzutun, wie dies so oft schon geschehen ist. Jeder, der einen ernst zu nehmenden Versuch in diese Richtung unternimmt, muss schon auf plausible Weise erklären können, wieso in der Vergangenheit Er­ fahrungen, die diese wohl durchdachte und umfassende Vision der Wirklichkeit stützen, immer wieder bei Menschen verschiedener Rassen und Kulturen und in differenten geschichtlichen Perioden vorkamen. Wie ich in einem anderen Kontext zu zeigen versuchte, müsste ausserdem ein jeder, der hier die monistisch-materialistische Position der westlichen Wissen­ schaft verteidigen möchte, auch die Tatsache erklären, warum solche Erfahrungen immer wieder bei hochintelligenten, kultivierten und geistig gesunden Menschen unserer Zeit auftreten (Grof 1998). Diese ereignen sich nicht nur unter dem Ein­ fluss von psychedelischen Substanzen, sondern auch unter so verschiedenen Um­ ständen wie bei Sitzungen in erfahrungsorientierter Psychotherapie, bei regelmäs­ siger Meditation und anderen systematischen spirituellen Praktiken, im Zusam­ menhang mit Nahtoderlebnissen oder spirituellen Krisen. Es ist kein Leichtes, in einer kurz gefassten Erklärung all die Folgerungen zu­ sammenzufassen, zu denen ich im Verlaufe von vierzig Jahren Forschungsarbeit kam - und die in all diesen Jahren Tag für Tag gewonnenen Erfahrungen und Er­ kenntnisse zwar knapp, doch überzeugend weiterzuvermitteln. Obwohl ich selbst

83

viele persönliche Erfahrungen gemacht habe und die Gelegenheit hatte, viele Menschen in diesen Zuständen aus der Nähe beobachten und ihre Schilderungen anhören zu können, brauchte ich doch Jahre, um die volle Bedeutung des Er­ kenntnisschocks voll und ganz aufzunehmen. Aus Platzgründen konnte ich die vie­ len Fälle nicht so detailliert wie gewünscht präsentieren - was hilfreich gewesen wäre, um die Charakteristiken transpersonaler Erfahrungen genauer zu illustrie­ ren und die Folgerungen daraus verständlich zu machen. Allerdings zweifle ich daran, dass dies gereicht hätte, um die tief verwurzelten Programmierungen, die die westliche Wissenschaft unserer Kultur eingeprägt hat, aufzulösen. Die betref­ fenden konzeptionellen Herausforderungen sind derart gewaltig, dass nur eine selbsterlebte, tiefe Erfahrung eine solchc Umstellung bewirken könnte. Das Vorhandensein und die Natur transpersonaler Erfahrungen bringt mehre­ re der grundlegendsten Annahmen der mechanistisch orientierten Wissenschaft zu Fall. Sie implizieren so absurd scheinende Ideen wie die Relativität oder zufällige Natur aller physischen Begrenzungen, ortsungebundene Verbindungsstränge im Universum, Kommunikation via unbekannte Mittel und Kanäle, Gedächtnis ohne ein materielles Substrat, die Nichtlinearität der Zeit oder ein mit allen Organismen und selbst mit anorganischer Materie assoziiertes Bewusstsein. Viele transperso­ nale Erlebnisse beinhalten Erfahrungen im Mikro- oder Makrokosmos, Berei­ chen, die unseren Sinnen ohne Hilfsmittel normalerweise nicht zugänglich sind; oder Geschehnisse aus historischen Zeiten, die noch weiter zurückliegen als der Ursprung unseres Sonnensystems, die Entstehung des Planeten Erde, das Auftau­ chen von lebendigen Organismen, die Entwicklung des Nervensystems und das Er­ scheinen des Homo sapiens. Die Erforschung holotroper Zustände offenbart ein bemerkenswertes Parado­ xon. was die Natur des Menschen betrifft. Sie führt zur Erkenntnis, dass - auf eine mysteriöse und noch ungeklärte Art und Weise - ein jeder und eine jede von uns die Informationen zum gesamten Universum und zur ganzen Existenz in sich trägt, potenziell Zugang zu allen Teilen hat und in einem gewissen Sinne auch selbst das ganze kosmische Netzwerk ist, im selben Ausmass, wie er oder sie nur ein unend­ lich kleiner Teil davon ist, eine losgelöste und unbedeutende biologische Einheit. In der neuen Kartografie wird die individuelle menschliche Seele darum in einem essenziellen Sinne als dem gesamten Kosmos und der Totalität der Existenz ver­ gleichbar vorgestellt. So absurd und unwahrscheinlich diese Idee einem traditio­ nell geschulten Wissenschaftler oder unserem Vernunftdenken auch Vorkommen mag, sie lässt sich doch relativ mühelos mit den neuen revolutionären Entwicklun­ gen in diversen wissenschaftlichen Disziplinen, welche üblicherweise als das neue oder aufkommende Paradigma bezeichnet werden, in Einklang bringen. Ich bin der festen Überzeugung, dass die oben beschriebene erweiterte Karto­ grafie von entscheidender Bedeutung ist, wollen wir uns ernsthaft mit Phänome­ nen wie Schamanismus, Übergangsriten, Mystizismus, Religion, Mythologie, Pa­ rapsychologie, Nahtoderfahrungen und psychedelischen Zuständen auseinander setzen. Dieses neue Modell der Psyche sollte nicht nur für Akademiker von lnter-

84

esse sein. Wie ich in den folgenden Kapiteln dieses Buches darlegen werde, hat es auch bedeutsame, revolutionäre Implikationen für das Verständnis emotionaler und psychosomatischer Leiden, inklusive der vielen Bewusstseinszustände, die heutzutage als psychotisch diagnostiziert werden, und eröffnet neue revolutionäre therapeutische Möglichkeiten.

85

Kapitel 3 Die Architektur emotionaler und psychosomatischer Störungen

evor wir uns eingehender mit den weit reichenden Konsequenzen befassen, die sich durch das Studium holotroper Zustände für das Verständnis emotio­ naler und psychosomatischer Störungen ergeben haben, wollen wir einen kurzen Blick auf die traditionellen psychiatrischen Denkmodelle werfen, welche in den heutigen akademischen Kreisen allgemein akzeptiert sind. Die Modelle zur Er­ klärung emotionaler und psychosomatischer Störungen fallen in zwei grosse Kate­ gorien. Laut der einen sind die Störungen biologischen, laut der anderen psycho­ logischen Ursprungs. Freilich wählen die Therapeuten in der alltäglichen Praxis oft einen eklektischen Zugang; den Elementen beider Kategorien werden verschiede­ ne Grade an Bedeutung zugemessen, und je nach Fall wird dann mehr dem einen oder dem anderen Modell zugesprochen. Psychiater, die das organische Modell vertreten, gehen davon aus, dass das Be­ wusstsein ein Produkt materieller Gehirnprozesse ist. Sie sind deshalb der Mei­ nung, dass die letzten Fragen der Psychiatrie dereinst von wissenschaftlichen Dis­ ziplinen wie Neurophysiologie, Biochemie, Genetik oder Molekularbiologie be­ antwortet werden können. Eine solche Anschauung geht meist Hand in Hand mit einer rigiden Zugehörigkeit dem medizinischen Modell gegenüber sowie der Überzeugung, dass alle emotionalen Störungen diagnostisch erfasst und klassifi­ ziert werden können, selbst solche, die keine organischen Ursachen aufweisen. Das psychologische Modell hingegen betont die seelischen Komponenten und führt die Störungen auf traumatische Erlebnisse zurück, die dem Säuglingsalter, der Kindheit oder dem späteren Leben entstammen, oder auf das pathogene Po­ tenzial von schweren Konfliktsituationen im familiären, zwischenmenschlichen oder sozialen Umfeld. Unglücklicherweise wird diese Theorie zum Teil auch dann angewendet, wenn diese Störungen nicht rein neurotischer oder psychosomati­ scher Art sind, sondern auch bei psychotischen Zuständen, die sich biologisch nicht erklären lassen. Bei einer solchen Anschauungsweise stellt sich logischerweise die Frage, ob bei nichtorganischen Störungen die Anwendung des medizinischen Modells mit seinen starren Diagnosen wohl das Richtige sei. Aus einer psychologischen Per­ spektive betrachtet reflektieren psychogene Störungen die Komplexität all jener Faktoren, denen ein Mensch im Laufe seines Lebens ausgesetzt ist (die transper­ sonale Psychologie bezieht gar die gesamte psychospirituelle Geschichte mit ein). Da diese Faktoren von Individuum zu Individuum stark variieren, scheinen Be-

B

86

Strebungen, welche die resultierenden Störungen in die Zwangsjacke des medizi­ nischen Diagnosemodells stecken wollen, nur wenig Sinn zu machen. Obwohl viele Fachleute einen eklektischen Umgang pflegen und ein differen­ ziertes Abwechseln zwischen Bestehendem und Möglichem, zwischen Biologie und Psychologie befürworten, dominiert in den akademischen Zirkeln der biolo­ gisch orientierte Zugang sowohl den theoretischen wie auch den praktischen Be­ reich. Als Resultat einer komplexen historischen Entwicklung wurde die Psy­ chiatric im Laufe der Zeit immer mehr der Medizin untergeordnet, weshalb eine starke Betonung des Biologischen vorliegt. Die dominierenden psychiatrischcn Konzepte, die Behandlungsformen bei emotionalen Problemen und bei Verhal­ tensstörungen, Forschungsstrategien, die Grundausbildung in Theorie und Praxis, die Gerichtsmedizin - sie alle sind vom medizinischen Modell dominiert. Diese Situation ist die Konsequenz von zweierlei Umständen: Zum einen war die Medizin erfolgreich, was Ätiologie und Therapie bei einer ganz spezifischen, relativ kleinen Gruppe von mentalen Abnormitäten organischen Ursprungs an­ geht. Zum anderen konnte sie mittels Symptombekämpfung viele Störungen, de­ ren ätiologische Ursachen nicht erklärt werden konnten, unter Kontrolle bringen. Auch wenn diese ersten Erfolge, welche die Medizin mit der Entdeckung von bio­ logischen Ursachen bei gewissen mentalen Störungen verbuchen konnte, beacht­ lich sind, lassen sie sich doch nur bei einem Bruchteil all der Probleme, mit wel­ chen die Psychiatrie zu kämpfen hat, anwenden. Bei allen anderen, die den Gross­ teil der psychischen Erkrankungen ausmachen (Psychoneurosen, psychosomati­ sche Störungen, manisch-depressive Zustände, funktionelle Psychosen), konnte die Medizin bis dato aber keine organischen Ursachen ausfindig machen. Die psychologische Orientierung in der Psychiatrie lässt sich auf Sigmund Freud und seine Nachfolger zurückführen. Einige unter ihnen, etwa Carl Gustav Jung, Otto Rank, Wilhelm Reich und Alfred Adler, kehrten der psychoanalyti­ schen Gesellschaft den Rücken oder wurden ausgeschlossen und gründeten ihre eigenen Schulen. Andere wieder blieben zwar in der Organisation, doch ent­ wickelten sie eigene Zweige psychoanalytischer Theorien und Techniken. Diese kollektiven Bemühungen führten im Verlauf des zwanzigsten Jahrhunderts zu vie­ len «tiefenpsychologischen» Schulen, die sich in ihren Auffassungen bezüglich Psyche, der Natur emotionaler Störungen und therapeutischer Techniken markant voneinander unterscheiden. Die meisten der genannten Persönlichkeiten hatten geringen bis gar keinen Einfluss auf die Denkweise der klassischen Psychiatrie. Angaben zu ihren Werken finden sich in akademischen Büchern höchstens als historische Anmerkungen oder als Fussnoten. Nur Freuds frühe Werke, die Arbeiten einiger weniger Nachfolger und die modernen Erkenntnisse der Psychoanalyse, der so genannten Ich-Psychologie, übten einen bedeutsamen Einfluss auf die Psychiatrie aus. Freud und seine Kollegen formulierten ein dynamisches Klassifikationsmodell von emotionalen und psychosomatischen Störungen. Es lieferte Erklärungen für diese Zustände und ordnete sie bezüglich ihrer Zugehörigkeit zu den einzelnen

87

Entwicklungsstadien der Libido und des Ich ein. Einer der wichtigsten Beiträge Freuds war die Entdeckung, dass sich das libidinöse Interesse des Kindes von der oralen (Phase des Stillens) zur analen und urethralen (Phase der Sauberkeitserzie­ hung) und schliesslich zur phallischen Zone (Penis und Klitoris; Phase des Ödipus­ oder Elektrakomplexes) verschiebt. Traumatisierung oder Überbetonung einer dieser kritischen Phasen kann zu Fixierungen führen, und sobald im späteren Le­ ben des Individuums ernstliche Schwierigkeiten auftreten, wird es psychisch auf die betreffende Ebene regredieren. Die auf Freuds Libido-Theorie gründende Psychopathologie wurde vom deut­ schen Psychoanalytiker Karl Abraham (1927) zusammengefasst. In seinem be­ rühmten Schema definiert Abraham die wichtigsten psychopathologischen For­ men der frühkindlichen Fixierung auf die Libido. So schreibt er, dass oral passive Fixierungen (vor der Zahnung) zur Schizophrenie und oral sadistische oder kanni­ balische Fixierungen (nach der Zahnung) zu manisch-depressiven Zuständen oder Selbstmordtendenzen führen können. Auch spielen Fixierungen auf die orale Pha­ se eine Rolle im Zusammenhang mit Alkohol- und Drogenabhängigkeiten. Fixierungen auf die anale Phase können Zwangsneurosen und zwanghafte Persönlichkeitsstrukturen hervorrufen. Die anale Fixierung spielt auch eine wich­ tige Rolle bei der Entstehung so genannter prägenitaler Neurosen, wie Stottern, psychogene Ticks oder Asthma. Urethrale Fixierungen werden gleichgesetzt mit Schamgefühl, einer übermässigen Angst vor Fehlern und der Tendenz, diese durch exzessiven Ehrgeiz und Perfeklionismus zu kompensieren. Angsthysterien (ver­ schiedene Phobien) und Konversionshysterien (Lähmung, Unempfindlichkeit ge­ genüber Aussenreizen, Blindheit, Stimmverlust und hysterische Anfälle) entste­ hen aus Fixierungen auf die phallische Phase. Karl Abrahams Schema behandelt nicht nur Fixierungen auf die Stadien der Libido, sondern auch die Entwicklungsstufen des Ich, von der Autoerotik über den frühen Narzissmus bis hin zur Objektliebe. Dieser Aspekt der Psychopathologie wurde im Zuge der Weiterentwicklung der Psychoanalyse sehr detailliert ausgear­ beitet. Die moderne Psychologie des Ich, angeregt von den bahnbrechenden Ar­ beiten Anna Freuds und Heinz Hartmanns, revidierte und verfeinerte die klassi­ schen psychoanalytischen Konzepte und fügte neue und wichtige Dimensionen hinzu (Blanck und Blanck 1974,1979). René Spitz und Margaret Mahler ergänzten ihre profunden Kenntnisse der Psychoanalyse mit direkten Beobachtungen an Säuglingen und Kleinkindern und legten so den Grundstein für ein tiefes Verständnis der Ich-Entwicklung und der Entstehung der persönlichen Identität. Ihre Arbeit machte auf die Wichtigkeit der Objektliebe und die damit verbundenen Schwierigkeiten aufmerksam. Die Be­ schreibung und Definition dreier Phasen der Ich-Entwicklung - die autistische, die symbiotische und die trennende Individuationsphase - beeinflusste in hohem Gra­ de die Psychopathologie in Theorie und Praxis. Margaret Mahler, Otto Kernberg, Heinz Kohut und andere erweiterten Karl Abrahams Schema und fügten einige Störungen hinzu, die in frühkindlichen Er­

88

schütterungen der Objektliebe wurzeln: autistische und symbiotische infantile Psy­ chosen sowie narzisstische und Borderline-Persönlichkeitsstörungen. Ein neuer Zugang zur Dynamik der Ich-Entwicklung und deren Wandlungen ermöglichte nun die Ausarbeitung psychotherapeutischer Techniken, die jenen Patienten zu­ gute kamen, die auf die Methoden der klassischen Psychoanalyse nicht ansprachen. Zweifellos haben Ich-Psychologen das psychoanalytischc Verständnis der Psy­ chopathologie verbessert, verfeinert und erweitert. Ihre engen Ansichten teilen sie jedoch weiterhin mit den klassischen Psychoanalytikern, welche die Psyche auf postnatale Erfahrungen und auf das individuelle Unterbewusstsein reduzieren. Beobachtungen aus Studien holotroper Bewusstseinszustände zeigen aber, dass emotionale, psychosomatische und psychotische Störungen nicht vollständig er­ fasst werden können, wenn nur die Probleme in der postnatalen Entwicklung des Menschen in Betracht gezogen werden, etwa in der Entwicklung der Libido oder der Objektliebe. Gemäss diesen neuen Einsichten besitzen emotionale und psychosomatische Störungen vielschichtige Strukturen, deren Wurzeln bis in perinatale und transpersonale Ebenen reichen. Indem diesen zusätzlichen Elementen ebenfalls Beach­ tung geschenkt wird, kann ein üppigeres, radikal neuartiges und ganzheitliches Bild der Psychopathologie entstehen, welches dann auch in der Therapie interes­ sante Möglichkeiten bietet. Perinatale und transpersonale Wurzeln zu anerkennen heisst aber nicht, die Bedeutung der von Psychoanalytikern definierten biologi­ schen Faktoren zu mindern oder in Abrede zu stellen. Immer noch spielen die im Säuglingsalter und der frühen Kindheit gemachten Erfahrungen eine wichtige Rol­ le im Gesamtbild emotionaler Störungen. Postnatale traumatische Erlebnisse sind aber nicht die primären Ursachen von Störungen, sondern ermöglichen es lediglich, dass Elemente aus lieferen psychi­ schen Schichten emporsteigen können. Es sind die komplexen COEX-Konstellationen, die nichl auf die biografische Ebene beschränkt sind, sondern perinatale und transpersonale Wurzeln haben, welche die neurotischen, psychosomatischen und psychotischen Symptome speisen und dynamisieren und die deren Grundthe­ ma bergen. Die von Psychoanalytikern definierten pathogenen Einflüsse modifi­ zieren den Inhalt dieser aus tiefen Ebenen emporsteigenden Themen, machen die emotionale Bürde noch schwerer und vermitteln deren Bewusstwerdung. Die Beziehung zwischen Symptomen und den vielschichtigen, aus biografi­ schen, perinatalen und transpersonalen Elementen zusammengesetzten COEXSystemen wollen wir am Beispiel von Norbert illustrieren. Der Psychologe und Pfarrer war einundfünfzig Jahre alt, als er an einem unserer fünftägigen Work­ shops am Esalen-Institut teilnahm. Bei der Vorstellungsrunde vor der ersten Atemsitzung erwähnte Norbert star­ ke chronische Schmerzen in einer Schulter und den Brustmuskeln, die ihm grosse Pein verursachten und sein Leben unerträglich machten. Weder wie­ derholte ärztliche Untersuchungen noch die unzähligen Röntgenbilder hatten

89

die organischen Ursachen seines Leidens zutage gefördert, und alle therapeu­ tischen Ansätze waren erfolglos geblieben. Regelmässige Injektionen mit Pro­ kain hatten die Schmerzen zwar lindern können, doch nur solange das Medi­ kament wirkte. Kurz nach Beginn der ersten Sitzung wollte Norbert, einem intensiven Im­ puls folgend, den Raum verlassen, da er die Musik nicht ertrug, die ihn «um­ bringen» würde, wie er sagte. Es kostete uns einige Anstrengung, ihn zu über­ reden, den Prozess nicht abzubrechen und den Ursachen seines Unwohlseins auf den Grund zu gehen. Schliesslich willigte er ein. In den drei folgenden Stunden litt er unsägliche Schmerzen in Brust und Schulter, die immer stärker und schliesslich unerträglich wurden. Norbert kämpfte und rang dabei, als stünde sein Leben auf dem Spiel, keuchte, würgte, hustete und schrie. Nach dieser stürmischen Phase beruhigte und entspannte er sich und empfand einen grossen inneren Frieden. Mit Erstaunen stellte er fest, dass aufgrund dieses Er­ lebnisses die Spannungen in Schulter und Brust nachgelassen hatten und er nun frei von Schmerzen war. Später erzählte Norbert, dass sein Erlebnis auf drei verschiedenen Ebenen stattfand, die alle mit seinem Schmerz in der Schulter und dem Gefühl des Er­ stickens in Verbindung standen. Die erste Ebene hatte mit einem beängstigen­ den Erlebnis aus seiner Kindheit zu tun, das ihn damals fast das Leben gekos­ tet hatte. Mit etwa sieben Jahren war er mit seinen Freunden an einem Strand am Meer, wo sie im Sand einen unterirdischen Gang buddelten. Als der Tun­ nel fertig war, kroch Norbert hinein, um ihn zu erkunden. Als die anderen Kin­ der draussen herumhüpften, fiel der Tunnel in sich zusammen, und Norbert wurde unter den Sandmassen begraben. Er erstickte fast daran, wurde aber rechtzeitig gerettet. Als der Prozess tiefer wurde, tauchte eine Episode aus seiner biologischen Geburt auf. Diese war sehr schwierig gewesen, da seine Schulter lange Zeit beim Schambein seiner Mutter stecken geblieben war. Erstickungsängste und starke Schmerzen in der Schulter begleiteten auch dieses Erlebnis. Im letzten Teil der Sitzung veränderte sich Norberts Zustand dramatisch. Er begann, Militäruniformen und Pferde zu sehen. Ihm wurde klar, dass er sich auf einem Schlachtfeld befand, und konnte Ort und Szene auch identifizieren: Er befand sich in einer Schlacht, die zu Cromwells Zeiten in England stattge­ funden hatte. Auf einmal fühlte er einen stechenden Schmerz, eine Lanze hat­ te seine Schulter durchbohrt. Er fiel vom Pferd und fühlte, wie er von galop­ pierenden Pferden niedergetrampelt und sein Brustkorb zerdrückt wurde. Dann trennte sich Norberts Geist vom sterbenden Körper, stieg weit über das Schlachtfeld hinauf und beobachtete das Geschehen aus dieser erhöhten Warte. Als der Soldat, in dem er eine frühere Inkarnation seiner selbst er­ kannte, starb, kehrte Norberts Bewusstsein in die Gegenwart und in seinen Körper zurück. Er stellte fest, dass er nun vollständig schmerzfrei war. Die Be­ freiung seiner jahrelangen Pein entpuppte sich als dauerhaft. Seit dieser Sit­ zung sind mehr als zwanzig Jahre vergangen, und die Symptome sind nie mehr zurückgekehrt.

90

Wie es scheint, enthalten alle psychogenen Symptome in ihrem Kern traumatische, geburtsbezogene Erlebnisse. Das im Unbewussten gespeicherte Erlebnis der bio­ logischen Geburt bildet einen riesigen Pool mit schwierigen emotionalen und kör­ perlichen Empfindungen und ist eine potenzielle Quelle psychopathologischer Störungen. Ob und in welcher Form sich emotionale und psychosomatische Prob­ leme entwickeln, hängt schliesslich davon ab, ob sie durch postnatale traumatische Erlebnisse verstärkt oder aber von günstigen biografischen Faktoren gemildert werden. Wie wir in Norberts Fall gesehen haben, wurzeln aktuelle Probleme nicht nur in perinatalen Schichten, sondern dringen tief in transpersonale Ebenen ein. Die­ se kommen in Gestalt von Erlebnissen aus früheren Leben oder von archetypi­ schen Figuren und Motiven. Die Symptome können auch aus tiefen Schichten stammen, die mit Erlebnissen aus dem Tier- oder Pflanzenreich zu tun haben. Emotionale und psychosomatische Störungen sind so gesehen das Ergebnis eines komplizierten Wechselspiels zwischen biografischen, perinatalen und transperso­ nalen Faktoren. Es ist interessant, darüber zu spekulieren, welche Faktoren für eine Entste­ hung von COEX-Konstellationen und die Beziehungen zwischen biografischen Elementen, perinatalen Matrizen und transpersonalen Komponenten verantwort­ lich sind. Die Ähnlichkeiten, die wir unter den einzelnen postnatalen traumati­ schen Erlebnissen ausmachen können, und die Parallelen zwischen diesen und der perinatalen Dynamik könnten als Zufall angesehen werden. Ein Mensch könnte rein zufällig zu verschiedenen Zeiten in peinvolle Situationen, die BPM II ent­ sprechen, hinein geraten, oder immer wieder traumatische Erlebnisse, die mit Se­ xualität und Gewalt (BPM III) zu tun haben, erleiden. Es kann jemand immer wie­ der denjenigen Schmerzen, heftiger Atemnot und Ängsten, welche typisch für die perinatale Stresssituation sind, ausgeliefert sein. Tatsache ist, dass einmal in Gang gekommene COEX-Systeme sich selbst reproduzieren. Dies kann ein Individuum dazu veranlassen, unbewusst wiederholt in ähnliche Situationen zu geraten und den bestehenden Erfahrungen neue hinzuzufügen, wie wir es zuvor im Fall von Pe­ ter gesehen haben. Viele Menschen, die sich auf der Entdeckungsreise zu sich selbst befinden, be­ richten von interessanten Einsichten, was die Beziehung zwischen Erlebnissen aus früheren Leben und den traumatischen Geburtserlebnissen angeht. Die Erfahrung der eigenen Geburt entspricht demzufolge karmischen Episoden, denen die glei­ chen emotionalen und körperlichen Empfindungen zugrunde lagen. Dieser Zu­ sammenhang könnte darauf hinweisen, dass die Art und Weise, wie wir unsere Ge­ burt erleben, von unserem Karma abhängt. Dies betrifft nicht nur die Geburt als Ganzes, sondern auch die einzelnen Details. Wurde jemand in einem früheren Leben erhängt oder erdrosselt, so kann es sein, dass er während des Geburtsprozesses fast erstickt, weil die Nabelschnur um seinen Hals gewickelt ist. Karmische Dramen, in welchen mit scharfen Gegenstän­ den Schmerzen zugefügt wurden, können in extrem heftigen Schmerzen resultie­

91

ren, wie sie bei den Gebärmutterkontraktionen und dem Vorgang des Pressens er­ lebt werden. In mittelalterlichen Verliesen, Folterkammern der Inquisition oder in Konzentrationslagern erlittene Torturen münden in die ausweglose Situation von BPM II. Karmische Muster können auch den postnatalen traumatischen Erlebnis­ sen zugrunde liegen und diese formen. Nach dieser allgemein gehaltenen Einführung möchte ich zeigen, wie anders unser psychologisches Verständnis der wichtigsten psychopathologischen Formen wäre, würden wir sie im Lichte der Forschung mit holotropen Bewusstseinszustän­ den betrachten. Die folgenden Ausführungen beziehen sich ausschliesslich auf die Rolle der psychologischen Faktoren bei der Bildung von Symptomen und nicht auf Störungen organischen Ursprungs, die ein Bereich der Medizin sind.

Angstzustände und Phobien Die meisten Psychiater sind sich darin einig, dass Angst - egal, ob sie unbestimm­ ter Art ist oder eine spezifische Form von Phobie, welche mit bestimmten Perso­ nen, Tieren oder Situationen zu tun hat; oder ein Faktor ist, der verschiedenen an­ deren Symptomen zugrunde liegt - eines der verbreitetsten und grundlegendsten psychiatrischen Probleme ist. Da Angst in der Naturwelt eine Reaktion auf die Ge­ fährdung des Lebens oder der körperlichen Unversehrtheit ist, macht es Sinn an­ zunehmen, dass eine der tiefst liegenden Quellen der klinischen Angst das Trauma der Geburt ist, denn diese ist im reellen und im potenziellen Sinne eine lebensge­ fährliche Situation. Freud selbst war der Auffassung, dass das Erlebnis der Geburt der Prototyp für alle zukünftigen Ängste darstellt. Dennoch verfolgte er diesen Gedanken nicht weiter, und als sein Kollege und Jünger Otto Rank später das Buch «Das Trauma der Geburt» (1929) veröffentlichte, in welchem er die Geburt ins Zentrum einer neuen Psychologie rückte, wurde der Autor aus der psychoanalytischen Bewegung ausgeschlossen. Die Arbeit mit holotropen Bewusstseinszuständen zeigt, dass die perinatale Ebene des Unbewussten eine kritische Rolle bei der Entstehung von Phobien spielt. Die Verbindung zum Geburtstrauma zeigt sich deutlich in der Klaustropho­ bie, der Angst vor geschlossenen und engen Räumen. Sie manifestiert sich in be­ engenden Situationen wie zum Beispiel in einem Aufzug, in einer Untergrundbahn oder in kleinen, fensterlosen Räumen. Individuen, die unter Klaustrophobie lei­ den, stehen unter dem Einfluss eines COEX-Systems, das in Verbindung mit der beginnenden BPM II steht, wenn der Fötus von den einsetzenden Gebärmutter­ kontraktionen zusammengepresst wird. Biografische Faktoren, welche zu diesen Störungen zusätzlich beitragen, ha­ ben ähnlich mit Erfahrungen erdrückender und einengender Art zu tun. Auf der transpersonalen Ebene finden wir Szenen des Eingekerkertwerdens oder der Ge­ fangenschaft, oder Situationen, die mit drohendem oder tatsächlichem Ersticken zu tun haben. Während klaustrophobische Patienten im Allgemeinen dazu neigen, alle Situationen zu vermeiden, die ihre Symptome aktivieren könnten, muss in der

92

Therapie das volle Erleben derjenigen Emotionen angestrebt werden, die in den entsprechenden traumatischen Erlebnissen gebunden sind. Die Agoraphobie, die Angst vor offenen Plätzen oder vor dem Hinaustreten aus einem geschlossenen in einen weiten, offenen Raum, scheint auf den ersten Blick das Gegenteil von Klaustrophobie zu sein. In Wirklichkeit aber sind agora­ phobische Patienten auch klaustrophobisch, aber der Übergang von einem ge­ schlossenen Platz in eine offene Weite macht ihnen noch mehr zu schaffen als der Verbleib im geschlossenen Raum selbst. Auf der perinatalen Ebene wird die Ago­ raphobie mit dem letzten Stadium von BPM III assoziiert, also dem plötzlichen Austreten nach den vielen Stunden extremsten Eingeengtseins. Dieses wird von der Angst begleitet, alle Grenzen zu verlieren, in die Luft zu fliegen oder auf­ zuhören zu existieren. Die Erfahrung von Ich-Tod und spiritueller Geburt kann diesen Patienten nennenswerte Erleichterung verschaffen. Patienten, die an Thanatophobie, einer pathologischen Angst vor dem Tod, leiden, erleben vitale Angstzustände, die sie als einen beginnenden, lebensgefähr­ lichen Herzinfarkt, als Hirnschlag oder drohendes Ersticken deuten. Diese Phobie hat ihre tiefsten Wurzeln in einem starken körperlichen Unbehagen und dem Ge­ fühl einer bevorstehenden Katastrophe, das mit dem Geburtsprozess zu tun hat. Entsprechende COEX-Systeme sind lebensbedrohliche Situationen wie Operatio­ nen, schwere Krankheiten und schlimme Verletzungen, insbesondere solche, die mit der Atmung zu tun haben. Das Überwinden der Thanatophobie erfordert ein bewusstes Wiedererleben der einzelnen Schichten des zugehörigen COEX-Systems und die Konfrontation mit dem Tod. Die Nosophobie, eine pathologische Angst vor dem Kranksein oder dem Krankwerden, ist eng verwandt mit der Thanatophobie und der Hypochondrie, bei der man der irrigen Überzeugung ist, dass man an einer schweren Krankheit leidet. An Nosophobie leidende Patienten haben eigenartige Körperempfindungen, die sie sich nicht erklären können und die sie darum als tatsächliche Krankheit inter­ pretieren. Symptome sind beispielsweise heftige Schmerzen, Druckgefühle oder Krämpfe in verschiedenen Körperteilen, Übelkeit, starke Energieströme, Parästhesie und andere. In verschiedenen Organen können Anzeichen von Dysfunktion auftreten wie Atemnot, Dyspepsie, Übelkeit, Erbrechen, Verstopfung, Durchfall, Muskelzuckungen, generelles Unwohlsein, Schwäche und Müdigkeit. Selbst wiederholte medizinische Untersuchungen lassen in der Regel keine or­ ganischen Störungen erkennen, welche die subjektiv empfundenen Beschwerden des Patienten erklären könnten. Der Grund dafür ist, dass die unangenehmen Empfindungen und Gefühle nichts mit physiologischen Prozessen zu tun haben, sondern mit Erinnerungen an traumatische Ereignisse. Solche Patienten verlangen nicht selten unzählige klinische Tests und Laboruntersuchungen und können für Arztpraxen und Spitäler zu echten Nervensägen werden. Viele von ihnen landen schliesslich bei Psychiatern, die ihnen die verdiente, mitfühlende Akzeptanz nicht geben können.

93

Physische Beschwerden, die von konkreten Laborresultaten nicht bestätigt werden können, werden oft als imaginäre Gedanken des Patienten abgetan. Doch nichts könnte von der Wahrheit weiter entfernt sein. Denn obwohl die Medizin nichts findet, sind die Leiden des Patienten real. Was aber nicht heisst, dass sie ein medizinisches Problem sind - die Ursache sind vielmehr ins Bewusstsein auftau­ chende Erinnerungen an vergangene schwere Körperleiden, an Krankheiten, Operationen, Verletzungen und - vor allem - an das Trauma der Geburt. Drei Formen der Nosophobie verdienen in diesem Zusammenhang spezielle Aufmerksamkeit: die Cancerophobie, eine krankhafte Angst vor Krebs, die Bacillophobie, die Angst vor Mikroorganismen und Infektionen, und die Mysophobie, Angst vor Schmutz und Ansteckung. Sie alle haben tief liegende perinatale Wur­ zeln, doch werden ihre spezifischen Formen auch vom Biografischen mit beein­ flusst. Erwähnenswert bei der Cancerophobie ist die Ähnlichkeit zwischen Krebs und Schwangerschaft. Aus der psychoanalytischen Literatur ist bekannt, dass das Wachstum bösartiger Geschwülste unbewusst mit der embryonalen Entwicklung gleichgesetzt wird. Diese Ähnlichkeit geht über die offensichtlichste Gemeinsam­ keit, dass ein schnell wachsender fremder Körper im eigenen heranwächst, hinaus. Anatomische, physiologische und biochemische Untersuchungen haben auch er­ geben, dass Krebszellen in mancherlei Hinsicht den undifferenzierten Zellen ähneln, wie wir sie im frühen embryonalen Stadium vorfinden. Bacillophobische und mysophobische Personen fürchten sich vor biologischen Materialien, Körpergerüchen und Unreinem. Auf der biografischen Ebene korre­ liert dies mit Prägungen aus der Zeit der Sauberkeitserziehung, doch reichen die Wurzeln tiefer und betreffen die skatologischen Aspekte des perinatalen Prozes­ ses. Der Schlüssel zum Verständnis scheint hier in der Verbindung zwischen BPM III und Tod, Aggression, sexueller Erregung und verschiedenem biologi­ schem Material zu liegen. Patienten, die an solchen Störungen leiden, befürchten nicht nur, dass sie selbst kontaminiert werden, sondern auch, dass sie die anderen anstecken. Angst und Ekel vor biologischem Material lassen sich darum mit einer nach innen oder nach aussen gerichteten Aggression in Verbindung bringen, was der letzten Phase des Geburtsvorgangs entsprechen würde. Auf einer oberflächlicheren Ebene lässt sich die unbewusste Angst vor An­ steckung und Bakterien auch mit Sperma und Zeugung in Beziehung setzen, und insofern auch wieder mit Schwangerschaft und Geburt. Die wichtigsten COEXSysteme der obengenannten Phobien hängen mit der anal-sadistischen Phase der Libido-Entwicklung und der Zeit der Sauberkeitserziehung zusammen. Zusätzli­ ches biografisches Material liefern Erlebnisse, in denen Sexualität und Schwanger­ schaft als etwas Schmutziges und Gefährliches erfahren wurden. Wie bei allen an­ deren emotionalen Störungen finden sich auch bei diesen Phobien oft transperso­ nale Komponenten. Eine übermässige Beschäftigung mit Krankheitserregern kann ebenfalls ei­ nem geringen Selbstwertgefühl entspringen, das mit selbsterniedrigendem Verhal­

94

ten und Ekel vor sich selbst einher geht. Die Betreffenden sind oft intensiv mit der Perfektionierung ihrer äusseren Umgebung beschäftigt, was diese Art von Störun­ gen in die Nähe von Zwangsneurosen rückt. Dazu gehören Rituale, die, auf einer tieferen Ebene, eigentlich dazu dienen, eine biologische Ansteckung zu verhin­ dern oder zu neutralisieren. Ein solches Ritual ist zum Beispiel das zwanghafte Waschen der Hände und von anderen Körperteilen, zuweilen so exzessiv betrie­ ben, dass es zu Hautverletzungen oder Blutungen führt. Wenn sich bei weiblichen Personen die perinatalen Erinnerungskonstellatio­ nen nahe der Oberfläche bewegen, kann dies zu einer Schwangerschafts- oder Ent­ bindungsphobie führen. Da sie in Kontakt mit den Todesängsten der eigenen Ge­ burt stehen, kann es ihnen Mühe bereiten, ihre Weiblichkeit und ihre Rolle im Fortpflanzungsprozess zu akzeptieren, da Mutterschaft für sie Leid und Schmerz bedeutet. Allein der Gedanke, schwanger zu werden und gebären zu müssen, kann zu paralysierenden Angstzuständen führen. Die Mutterschaftsphobie, ein qualvoller Gemütszustand, der nur kurz nach der Geburt des Kindes einsetzt, ist keine reine Phobie, sondern sie enthält auch obses­ siv-kompulsive Elemente. Es handelt sich dabei um eine Mischung zwischen ge­ walttätigen Impulsen dem Kind gegenüber und einer panischen Angst davor, es tatsächlich zu verletzen. Meist steht dies im Zusammenhang mit einem überfür­ sorglichen Verhalten und unbegründeten Ängsten, dass dem Baby etwas zustossen könnte. Wie immer der biografische Hintergrund auch aussehen mag, bei einer Analyse können die Wurzeln bis zur Entbindung des Kindes zurück verfolgt wer­ den. Das spiegelt die Tatsache wider, dass im Unbewussten passive und aktive Ge­ burtsaspekte eng miteinander verbunden sind. Zustände biologisch-symbiotischen Einsseins von Mutter und Kind repräsen­ tieren Erfahrungen der Einheit. Frauen, die ihre eigene Geburt wiedererleben, er­ leben sich gleichzeitig oder kurz danach auch als Gebärende. Analog dazu wird die Erinnerung, ein Fötus zu sein, assoziiert mit der Erfahrung, schwanger zu sein, und das Gcstilltwerdcn mit dem Stillen. Die tiefen Wurzeln der Mutterschaftsphobie liegen im ersten klinischen Stadium der Entbindung (BPM II), wenn sich Mutter und Kind in einem Zustand des biologischen Antagonismus befinden, einander Schmerz zufügen und riesige Mengen zerstörerischer Energie austauschen. Das Erleben des Geburtsvorgangs aktiviert die Erinnerung der Mutter an ihre eigene Geburt, setzt das damit assoziierte Aggressionspotenzial frei und richtet es gegen das Kind. Die Tatsache, dass die Entbindung eines Kindes den Zugang zur perinatalen Dynamik öffnet, bietet wichtige therapeutische Möglichkeiten. Für Frauen, die soeben geboren haben, ist es ein guter Zeitpunkt, psychologische Ar­ beit von ungewöhnlicher Tiefe zu leisten. Andererseits kann die Aktivierung des perinatalen Unbewussten bei der Mut­ ter zu Wochenbettdepressionen, Neurosen und Psychosen fuhren. Die Psychopa­ thologie des Wochenbetts wird normalerweise mit vagen Anspielungen auf hor­ monelle Wechsel erklärt. Dies macht aber keinen Sinn in Anbetracht der Tatsa­ che, dass die Reaktionen der Frauen auf die Entbindung die ganze Palette zwi-

95

sehen Ekstase und Psychose abdecken, während hormonelle Wechsel immer ei­ nem bestimmten Muster folgen. Aus Erfahrung weiss ich, dass perinatale Erinne­ rungen eine zentrale Rolle bei Schwangerschafts- und Mutterschaftsphobien sowie in der Psychopathologie des Wochenbetts spielen. Die in Eisen- und U-Bahnen ausbrechende Reisephobie basiert unter anderem auf einer gewissen Ähnlichkeit zwischen dem Geburtserlebnis und dem Reisen in diesen Transportmitteln. Die wichtigsten Gemeinsamkeiten dieser Situationen sind das Gefühl des Eingeschlossenseins und das Empfinden von enormen Bewe­ gungskräften und Energien, über die wir keine Kontrolle haben. Weitere ähnliche Elemente sind die Tunnels und Unterführungen und auch die Dunkelheit. Als noch Dampflokomotiven unterwegs waren, waren das Kohlenfeuer, der Druck des Dampfes und die schrillen Pfiffe der Lokomotive weitere Faktoren, die dem Ganzen den Anstrich von Gefahr verliehen. Damit solche Brücken schlagende Si­ tuationen eine Phobie auslösen können, müssen sich perinatale Erinnerungen schon nahe an der Oberfläche befinden und entsprechende COEX-Systeme be­ reits vorhanden sein. Mit den obigen Phobien eng verwandt ist noch eine andere Art von Phobie, die Angst vor dem Fliegen. Gemeinsame Merkmale sind grosses Unbehagen in Situa­ tionen des Eingeschlossenseins, Angst vor starken Energien und davor, dass man keine Kontrolle über den Lauf der Dinge hat. Vor allem die aufsteigende Panik bei Kontrollverlust scheint für Phobien, die mit Bewegung zu tun haben, typisch zu sein. Zur Veranschaulichung können wir die Phobie des Autofahrens heranziehen: Sitzen wir in einem Auto, um von A nach B zu gelangen, so sind wir entweder der Passagier oder der Fahrer. Die Phobie manifestiert sich jedoch nur dann, wenn wir uns in der passiven Rolle befinden und gefahren werden, aber nicht, wenn wir selbst am Steuer sitzen und darüber befinden können, in welche Richtung wir fah­ ren und wann wir anhalten. Auch die Seekrankheit und die Luftkrankheit stehen zumeist in Verbindung mit der perinatalen Dynamik und verschwinden, sobald das Individuum den Pro­ zess von Tod und Wiedergeburt durchlaufen hat. Dies erfordert die Bereitschaft, die Kontrolle aufzugeben, und die Fähigkeit, sich dem Lauf der Dinge hinzugeben, was immer auch geschehen mag. Schwierigkeiten treten dann auf, wenn das Indi­ viduum diejenigen Prozesse kontrollieren möchte, die ihre eigene Dynamik haben. Das starke Bedürfnis nach Kontrolle ist charakteristisch für Personen, die unter dem Einfluss von BPM III und den entsprechenden COEX-Systemen stehen, während die Fähigkeit, sich gehen zu lassen, mit den positiven Aspekten von BPM I und BPM IV in Verbindung steht. Die Akrophobie oder Höhenangst ist keine reine Phobie. Sie wird mit dem Zwang assoziiert, sich aus der Höhe - von einem Turm, aus einem Fenster, von ei­ ner Klippe oder einer Brücke - in die Tiefe stürzen zu müssen. Die Empfindung zu fallen, zusammen mit der Angst, vernichtet zu werden, ist eine typische Manifesta­ tion des letzten Stadiums der dritten Matrix. Was der genaue Grund für diese Ver­ bindung ist, ist noch nicht ganz klar, es könnten aber phylogenetische Komponen-

96

Auf dieser und den folgenden Seiten sind fünf Bilder einer Serie abgebildet, die aus dem holotropen Atmen von Jarina Moss, einer jungen Frau, die unter Höhenangst litt, entstanden ist. Die Bilder illustrieren die psychodynamische Verbindung zwi­ schen diesem Typ von Phobie und dem Endstadium der Geburt: Oben: Bild einer von BPM II beherrschten Sitzung, welches Jarina als hilfloses Opfer der verschlingenden Mutter in Gestalt einer gigantischen Tarantel zeigt. S. 98: Dieses Bild zeigt Jarina in einem späteren Stadium ihres Prozesses, in welchem sie sich aus der zuvor hoffnungslos wirkenden Lage befreit. Sie nähert sich hier dem göttlichen Licht (BPM III bis BPM IV), doch das Licht befindet sich tief unter ihr in einem Abgrund. Um es zu erreichen, muss sie sich fallen lassen. S. 99: Hier erinnert sich Jarina an ein traumatisches Erlebnis aus ihrer Kindheit. Sie wurde während des Zweiten Weltkriegs in Prag (in der damaligen Tschechoslowakei) geboren. Prag wurde dann von der Roten Armee befreit. Nach Kriegsende wohnten die sowjetischen Soldaten für kurze Zeit in vielen privaten Häusern, so auch im Haus von Jarinas Familie. Dieses Bild zeigt Soldaten, die auf wenig feinfühlige Art mit Jarina spielen, indem sie sie hoch in die Luft werfen. Wie sich herausstellte, ist dieses Erlebnis Teil eines COEX-Sytems, das Jarinas Höhenangst zugrunde liegt. S. 100: Der Engel symbolisiert die versprochene Transzendenz. Dieser Zustand kann aber nur durch ein vollständiges Loslassen und den Ich-Tod erreicht werden. Dies ist mit grossen Ängsten verbunden; Jarina hält sich weiterhin fest. S. 101: Im letzten Bild sehen wir, was passierte, als Jarina endlich losliess. Die alte Persönlichkeitsstruktur zerbricht und fällt auseinander. Daraus tritt ein neues Selbst (das höhere Selbst) hervor. Der Titel, den Jarina für dieses Bild wählte, lautet: BEFREIUNG.

97

98

99

100

101

ten im Spiel sein: Manche Tiere gebären ihre Jungen im Stehen, und die Frauen mancher Eingeborenenstämme hängen sich an Äste oder gehen bei der Nieder­ kunft in die Hocke oder auf allen Vieren. Möglich ist auch, dass die erste Erfah­ rung des Phänomens Schwerkraft, das die Möglichkeit des Fallengelassenwerdens in sich birgt (oder die Erinnerung an einen tatsächlichen Vorfall dieser Art), zu den Ursachen zählt. Wie auch immer. Menschen, die unter dem Einfluss dieser Matrix stehen, erle­ ben in holotropen Zuständen oft Episoden, die mit Fallen, akrobatischem Tau­ chen oder Fallschirmspringen zu tun haben. Ein kompulsives Interesse an Sportar­ ten und anderen Aktivitäten, bei denen man fällt (Fallschirmspringen, BungeeJumping, Filmstunts, Flugakrobatik), scheint das vcräusserlichte Bedürfnis zu reflektieren, den innerlich empfundenen Ängsten vor einer anstehenden Kata­ strophe auf eine Weise zu begegnen, wo eine gewisse Kontrolle möglich ist (das Bungee- oder das Fallschirm-Seil) oder andere Sicherheiten vorhanden sind (das Fallen endet im Wasser). Bei COEX-Systemen, die mit diesem speziellen Aspekt des Geburtstraumas zu tun haben, finden sich oft auch Szenen aus der Kindheit, wo man von Erwachsenen spasseshalber in die Luft geworfen wurde, oder ent­ sprechende Unfallsituationen. Weil das Herstellen einer Verbindung zwischen Höhenphobie, dem Erlebnis des Fallens und den letzten Stadien der Geburt etwas rätselhaft anmutet, möchte ich hier eine Ausnahme machen und diese Phobie anhand eines Beispiels illustrie­ ren. Vor vielen Jahren kam Ralph, ein nach Kanada ausgewanderter Deutscher, zu einem unserer Workshops nach British Columbia. (Weitere Fallbeispiele zum Thema Phobien können in meinen anderen Publikationen nachgelesen werden.) In seiner Atemsitzung kam Ralph mit einem kraftvollen COEX-System in Kontakt, das für ihn die Ursache für seine schwere Höhenphobie bildete. Die oberflächlichste Ebene des COEX enthielt ein Erlebnis, das in Deutschland zur Zeit vor dem Krieg stattfand. Zu dieser Zeit wurde in Deutschland fieberhaft aufgerüstet, und ebenso fieberhaft wurden die notwendigen Vorbereitungen für die Olympischen Spie­ le in Berlin getroffen. Hitler wollte diese zum Anlass nehmen, um die Überle­ genheit der nordischen Rasse zu demonstrieren. Da für Hitler der Sieg an den Olympischen Spielen eine Angelegenheit von höchster politischer Bedeutung war, wurden viele talentierte Athleten zwecks intensiven Trainings in spezielle Lager geschickt. Dies stellte eine der wenigen Alternativen zum Dienst in der Wehrmacht dar, der berühmt-berüchtigten Armee des Dritten Reichs. Ralph, ein Pazifist, der die Armee hasste, wurde einem dieser Lager zugeteilt, für ihn eine willkommene Gelegenheit, dem Militärdienst zu entgehen. Trainiert wurde in vielen Disziplinen, die Stimmung war von Konkurrenz­ denken geprägt. Alle Leistungen wurden bewertet; wer zu tief punktete, wur­ de umgehend in die Armee geschickt. Ralph, der in Rückstand geraten war, er­ hielt nun eine letzte Chance. Das Ziel war für ihn von grösster Bedeutung, sei­ ne Motivation hoch. Doch die an ihn gestellte Herausforderung war unge-

102

heuerlich. Was er vollführen sollte - etwas, das er noch nie in seinem Leben ge­ tan hatte -, war ein Kopfsprung von einem 20-Meter-Turm in ein Schwimm­ becken. Auf der biografischen Ebene seines COEX-Systcms erlebte er die extre­ me innere Zerrissenheit des Sich-nicht-entschliessen-Könnens wieder und die Angst beim Springen, Fallen und Eintauchen. Auf einer tieferen Ebene, die gleich darauf folgte, erlebte Ralph den Kampf des letzten Geburtsstadiums wieder, mit all den dazugehörigen Emotionen und körperlichen Empfindun­ gen. Als der Prozess fortschritt, erlebte Ralph eine Sequenz, die er als eine Er­ innerung aus einem früheren Leben deutete. Er wurde zu einem Jüngling, der in einem Eingeborenenstamm lebte und mit einer Gruppe Gleichaltriger im Begriff war, einen gefährlichen Ritus zu zelebrieren. Die Jungen kletterten einer nach dem anderen auf einen Turm, der aus dicken, von Ranken zusammengehaltenen Ästen konstruiert war. Wer oben ankam, band sich das eine Ende einer langen Liane um die Schenkel und befestigte das andere Ende an einer Ecke der Turmplattform. Die längste Lia­ ne zu haben und trotzdem nicht zu sterben, war für die Jungen eine Sache des Stolzes und ein Statussymbol. Als Ralph die Emotionen, die er bei diesem Übergangsritus durchlebte, mit denen verglich, die er während seines Kopfsprungs im Olympischen Lager und während der Endphase der Geburt empfand, realisierte er, wie sehr sie einander ähnlich waren. Die drei Situationen waren ganz klar bedeutende Be­ standteile von ein und demselben COEX. Die Zoophobie, die Angst vor Tieren, kann von unterschiedlichen Lebewesen aus­ gelöst werden - von grossen und gefährlichen Bestien, aber auch von kleinen und harmlosen Kreaturen. Dabei steht die Angst vor dem Tier in keinem Verhältnis zur realen Gefahr, die von diesem ausgeht. Die klassische Analyse interpretiert das Tier, vor dem man sich fürchtet, als Symbol für den kastrierenden Vater oder die böse Mutter und weist ihm sexuelle Komponenten zu. Die Arbeit mit holotro­ pen Zuständen indes zeigt, dass eine rein biografisch orientierte Auslegung der Zoophobie nicht genügt und diese Störungen bedeutende perinatale und transpersonale Wurzeln haben. Wenn es sich um ein grosses Tier handelt, das die Phobie auslöst, scheinen die wichtigsten Themen entweder das Verschlungen- oder Einverleibtwerden (Wolf) oder die Schwangerschaft und das Stillen (Kuh) zu sein. Wie ich bereits erwähnt habe, hat der archctypische Symbolismus der beginnenden zweiten Matrix mit Er­ lebnissen des Verschlungenwerdens zu tun. Diese perinatale Angst wird auf gros­ se Tiere, insbesondere aber auf Raubtiere projiziert. Ausserdem haben gewisse Tiere ihre speziellen symbolischen Bedeutungen im Geburtsvorgang. Bilder von gigantischen Taranteln treten oft in der ersten Phase von BPM II auf und symbolisieren eine verzehrende Weiblichkeit. Dies wird durch den Umstand reflektiert, dass Spinnen fliegende Insekten in ihre Netze locken, sie umgarnen, bewegungsunfähig machen und dann töten. Es lassen sich unschwer Parallelen zwischen diesem Vorgang und dem Erleben des Kindes

103

Die Annahme Freuds, dass Bilder von Schlangen immer den Penis symbolisieren, war eine grobe Simplifizierung. Schlangen weisen auch eine tiefe Verbindung zum perinatalen Prozess auf, wie diese zwei Bilder aus therapeutischen LSD-Sitzungen zeigen. Links: Gebärmutterkontraktionen werden als Attacke einer Boa-constrictor-ähnlichen Schlange erlebt. Python-Schlangen verschlucken ihre Beute, ohne sie

104

vorher zu auseinander zu nehmen, was sie aussehen lässt, als wären sie trächtig. Sie umschlingen ihr Opfer und zerdrücken es. Diese beiden Eigenschaften lassen sie zu idealen perinatalen Symbolen werden. Rechts: Das Innere der Gebärmutter als ge­ fährliche Schlangengrube. Vipern symbolisieren den bevorstehenden Tod und — wegen des Häutungsprozesses — auch die Wiedergeburt.

105

während seiner Geburt erkennen. Diese sind massgeblich an der Entstehung einer Arachnophobie beteiligt. Eine andere Art von Zoophobie mit wichtigen perinatalen Komponenten ist die Ophiophohie oder Serpentophobie, die Angst vor Schlangen. Schlangen, die auf einer oberflächlicheren Ebene als phallische Symbole gelten, treten anderseits immer wieder im Zusammenhang mit der Agonie des Geburtsprozesses auf und repräsentieren eine zerstörerische, verschlingende Weiblichkeit. Giftige Vipern symbolisieren den bevorstehenden Tod, während die Boa constrictor für die Angst vor dem Erdrückt- und Stranguliert werden steht. Der Umstand, dass Boas ihre Beute verschlucken und danach aussehen, als wären sie trächtig, verstärkt ihre pe­ rinatale Bedeutung noch zusätzlich. Die Schlangensymbolik erstreckt sich bis tief in den transpersonalen Bereich, wo sie sich in kulturspezifischer Vielfalt offenbart (die Schlange im Garten Eden, Kundalini, die Schlange Muchalinda, die den Buddha beschützt, Vishnus Ananta, die Gefiederte Schlange Quetzalcoatl, die Regenbogenschlange der australischen Aborigenes und viele andere). Phobien, die mit kleinen Insekten zu tun haben, lassen sich ebenfalls oft bis zur Dynamik der perinatalen Matrizen zurückverfolgen. Bienen stehen aufgrund ihrer Rolle als Verbreiterinnen von Pollen und Befruchterinnen von Pflanzen sowie auf­ grund ihrer Fähigkeit, Schwellungen zu verursachen, für Fortpflanzung und Schwangerschaft. Fliegen werden, wegen ihrer Affinität zu Exkrementen und ihrer Neigung, Infektionen zu übertragen, oft mit dem skatologischen Aspekt der Ge­ burt assoziiert. Wie ich zuvor ausgeführt habe, bestehen hier Verbindungen zu denjenigen Phobien, die mit Angst vor Schmutz und Mikroorganismen zu tun haben. Die Keraunophobie, die pathologische Angst vor Gewittern, bezieht sich psy­ chodynamisch gesehen auf den Übergang von BPM III zu BPM IV und demzufol­ ge auf den Ich-Tod. Blitze repräsentieren die energetische Verbindung zwischen Himmel und Erde, und Elektrizität ist ein physischer Ausdruck göttlicher Energie. Elektrische Entladungen symbolisieren deshalb den Kontakt mit dem göttlichen Licht am Kulminationspunkt des Tod-und-Wiedergeburts-Prozesses. Während meiner Arbeit in Prag konnte ich einige Male beobachten, wie Patienten während ihren psychedelischen Sitzungen Elektroschocks wiedererlebten, die man ihnen zu einem früheren Zeitpunkt verabreicht hatte. Die Erinnerungen daran tauchten immer dann auf, wenn sich ihr psychospiritueller Transformationsprozess dem Punkt des Ich-Todes näherte. Die wohl berühmteste Person, die an Keraunopho­ bie litt, war Ludwig van Beethoven. Er bannte das Objekt seiner Angst mit Erfolg, als er für seine sechste Symphonie, die «Pastorale», eine grossartige musikalische Umsetzung eines Gewitters komponierte. Die pathologischen Wurzeln der Pyrophobie, der pathologischen Angst vor dem Feuer, gründen ebenfalls im Übergang von BPM III zu BPM IV. Als wir die Phänomenologie der perinatalen Matrizen diskutierten, sahen wir, dass Individu­ en, wenn sie sich dem Ich-Tod nähern, Visionen von Feuer haben. Auch erleben

106

sie oft, dass ihr Körper in Flammen steht oder dass sie durch ein reinigendes Flam­ menmeer gehen. Die Motive Feuer und Fegefeuer sind also für die letzte Phase der psychospirituellen Transformation charakteristisch. Wenn dieser unbewusste Aspekt an die Schwelle des Bewusstseins tritt, kann die Verbindung zwischen Feuererlebnis und bevorstehendem Ich-Tod eine Pyrophobie verursachen. Bei Individuen, die das positive Potenzial dieses Prozesses - die am Ende er­ folgende spirituelle Wiedergeburt - erahnen, kann der Effekt genau das Gegenteil sein. Sie haben das Gefühl, dass etwas Fantastisches mit ihnen geschehen müsse, wenn sie die zerstörerische Kraft des Feuers erleben würden. Diese Erwartung kann so stark werden, dass sie zu einem unwiderstehlichen Drang führt, Feuer zu legen. Die Begeisterung beim Betrachten der entfachten Feuersbrunst währt nur für kurze Zeit und ist letztlich enttäuschend. Dennoch sind manche Menschen so sehr von der befreienden Wirkung des Feuers überzeugt, dass sie immer wieder Feuer legen und so zu Brandstiftern werden. Paradoxerweise haben Pyrophobie und Pyromanie also vieles gemeinsam. Auch die Hydrophobie, die pathologische Angst vor Wasser, weist starke peri­ natale Komponenten auf, spielt Wasser doch eine extrem wichtige Rolle bei der Geburt. Verlaufen Schwangerschaft und Geburt normal, sind die Assoziationen äusserst positiv. Wasser wird in diesem Fall mit der behaglichen amniotischen Exi­ stenz in Verbindung gebracht, oder mit den ersten Erfahrungen des Gebadetwer­ dens, die ein sicheres Zeichen dafür waren, dass die Gefahren und Strapazen der Geburt nun überstanden sind. Indes können verschiedene vorgeburtliche Krisen, das Schlucken von Fruchtwasser während der Geburt oder später erlittene Unfäl­ le beim Baden, unsere Beziehung zum Wasser negativ färben. COEX-Systeme, die der Hydrophobie unterliegen, enthalten zumeist biografische (die traumatischen Erlebnisse im Säuglings- und Kindesalter) sowie transpersonale Elemente (zum Beispiel Schiffbruch, Flut, Ertrinken in einer früheren Inkarnation).

Konversionshysterie Diese Art Psychoneurose kam zu Freuds Zeiten viel häufiger vor als heute und spielte für die Entstehungsgeschichte der Psychoanalyse eine bedeutende Rolle. Einige Patienten Freuds und viele Patienten seiner Nachfolger gehörten dieser diagnostischen Kategorie an. Die Konversionshysterie hat eine reiche, vielgestalti­ ge Symptomatologie und ist, gemäss psychoanalytischem psychogenetischem Schema, eng verwandt mit der Gruppe der Phobien oder hysterischen Angstzu­ stände. Das heisst konkret, dass die Ausschlag gebende Fixierung auch hier zur Zeit der phallischen Phase der Libidoentwicklung stattfand. Das zugrunde liegende psychosexuelle Trauma ereignete sich während derjenigen Lebensphase, in wel­ cher das Kind unter dem dominanten Einfluss des Elektra- oder des Ödipus-Kom­ plexes stand. Von den verschiedenen Abwehrmechanismen, die zur Entstehung ei­ ner Konversionshysterie beitragen, ist die Konversion die typischste, weshalb sie dieser Form von Hysterie auch den Namen gab. Der Begriff Konversion meint in

107

diesem Fall ein symbolisches Transformieren unbewusster Konflikte und instinkti­ ver Impulse in körperliche Symptome. Beispiele, wie diese Hysterie die motorischen Funktionen beeinträchtigen kann, sind Lähmungen in Armen und Beinen, Sprachverlust (Aphonie) und Erbre­ chen. Andere Konversionen, die die Sinnesorgane und Sinnesfunktionen in Mitlei­ denschaft ziehen, sind vorübergehende Blindheit, Taubheit oder psychogene Anästhesien. Die Konversionshysterie kann auch eine Mischung von Symptomen generieren, die auf überzeugende Weise eine Schwangerschaft Vortäuschen. Die so genannte Scheinschwangerschaft oder Pseudokyesis schliesst das Ausbleiben der Regelblutung mit ein, auch eine messbare Ausweitung des Beckenbodens, die, zu­ mindest teilweise, auf das Zurückhalten von Gasen zurückgeführt werden kann. Auch wurden religiöse Stigmata, welche die Wunden Christi simulieren, als hyste­ rische Konversion interpretiert. Freud meinte, dass sich die bei den hysterischen Konversionen unterdrückten sexuellen Gedanken und Impulse in einer Veränderung der physischen Funktio­ nen äussern und die betroffenen Organe «sexualisiert» werden - das heisst, sie werden zu symbolischen Ersatzorganen für die Genitalien. So könnte das Anschwellen verschiedener Organe eine Erektion symbolisieren, und die ungewohn­ ten Empfindungen in diesen Organen wären Entsprechungen für die Empfindun­ gen der Genitalien. Gemäss seiner Theorie können seltsame körperliche Empfin­ dungen auch an die Stelle ganzer traumatischer Situationen treten, in welchen das Individuum ähnliche Empfindungen erlebte. Die komplexesten hysterischen Manifestationen sind die klassischen hysteri­ schen Anfälle psychosomatischen Ursprungs. In diesem Zustand wechseln sich Weinen und Lachen ab, die Gebärden werden theatralisch-erotisch, und der Kör­ per biegt sich auf extreme Weise nach hinten (arc de cércle). Freud hielt hysteri­ sche Anfälle für einen pantomimischen Ausdruck von vergessenen Kindheitserlebnissen und damit verbundenen Fantasiegebilden. Die Anfälle würden sexuelle Themen des Ödipus- oder des Elektra-Komplexes tarnen. Freud war überzeugt, dass das Benehmen während eines hysterischen Anfalls ganz klar seine sexuelle Natur verriet. Er verglich den Bewusstseinsverlust, der auf dem Höhepunkt eines Anfalls eintritt, mit jenem beim sexuellen Orgasmus. Beobachtungen aus holotropen Zuständen haben jedoch gezeigt, dass die Konversionshysterie nicht nur biografische Determinanten, sondern auch perina­ tale und transpersonale Wurzeln hat. Unter der Oberfläche der Konversionshyste­ rien im Allgemeinen und der hysterischen Anfälle im Speziellen finden sich kraft­ volle bioenergetische Blockaden und miteinander in Konflikt stehende Ner­ venanspannungen, die beide mit der Dynamik von BPM III verknüpft sind. Die Art des Verhaltens, die spezielle Kopfstellung und das Rückwärtsbicgcn des Kör­ pers, die für das Endstadium der dritten Matrix typisch sind, charakterisieren auch das Erscheinungsbild von hysterischen Anfällen. Was das biografische Material angeht, das zur Entwicklung von Konversions­ hysterien führt, stimmen die neuen Erkenntnisse grundsätzlich mit den Theorien

108

Freuds überein. Die neuen erfahrungsorientierten Therapien lassen die sexuellen Traumata aus der Kindheit ins Bewusstsein treten, genauer gesagt die Traumata aus der phallisehen Zeitperiode, die unter dem Einfluss des Ödipus- oder Elektrakomplexes steht. Körperbewegungen, die wir bei einem hysterischen Anfall beo­ bachten können, reflektieren die perinatalen Elemente und enthalten zudem sym­ bolische Anspielungen auf die spezifischen Aspekte des jeweiligen zugrunde lie­ genden Traumas. Die sexuellen Inhalte der traumatischen Erlebnisse, die mit der Konversions­ hysterie verknüpft sind, erklären, warum diese Teil eines COEX-Systcms sind. Sind wir mit der Tatsache, dass das Geburtserlebnis auch starke sexuelle Kompo­ nenten hat, jedoch nicht vertraut, kann es schnell passieren, dass wir den perinata­ len Anteil dieser Form von Hysterie übersehen und die Störungen ausschliesslich postnatalen Einflüssen zuschreiben. Interessant ist, dass selbst Freuds Beobach­ tungen ihn zur Einsicht führten, dass die dominanten Ursachen der Hysterie nicht im Bereich der sexuellen Verführung oder des Geschlechtsverkehrs liegen kön­ nen, sondern vielmehr in der Schwangerschaft und im Geburtsprozess gründen. Die Erkenntnis, dass die dritte perinatale Matrix massgeblich bei der Entste­ hung von Konversionshysterien beteiligt ist, hat Licht in viele wichtige Aspekte ge­ bracht, die in der psychoanalytischen Literatur zwar oft erwähnt, aber nie zufrie­ den stellend erklärt werden konnten. So lässt sich bei einer genaueren Analyse nicht nur eine Verbindung zwischen den hysterischen Symptomen einerseits und den libidinösen Impulsen und dem sexuellem Orgasmus andererseits erkennen, verknüpft damit sind auch die «Erektion», die den gesamten Körper erfasst (also der Geburtsorgasmus), und insbesondere der Geburtsprozess und die Schwanger­ schaft. Das Gleiche gilt für die seltsamen Verbindungen zwischen Sexualität, Ag­ gression und Tod. Die Konversionshysterie und die agitierte Depression basieren auf einer ähnli­ chen Psychodynamik. Dies wird spätestens dann klar, wenn wir die Konversions­ hysterie in ihrem vollsten Ausdruck, dem hysterischen Anfall, betrachten. Gene­ rell lässt sich aber sagen, dass die agitierte Depression im Vergleich zur Konversi­ onshysterie die weitaus schwerere Störung ist; Inhalt und Dynamik von BPM III manifestieren sich zudem in einer viel reineren Form. Bei der agitierten Depressi­ on lassen nur schon Gesichtsausdruck und Benehmen darauf schliessen, dass die Ursachen hier zu Besorgnis Anlass geben. Die vielen Selbstmorde und all die Fäl­ le, in denen eine Kombination von Mord und Selbstmord vorliegt, bestätigen die­ sen Eindruck. Oberflächlich betrachtet weisen hysterische Anfälle und agitierte Depression viele Gemeinsamkeiten auf. Dennoch ist das Gesamtbild von hysterischen Anfäl­ len weit weniger ernst und entbehrt der abgrundtiefen Verzweiflung der agitierten Depression. Hysterische Anfälle wirken auf eine gewisse Weise konstruiert und stilisiert, und das theatralische Gehabe hat unmissverständlich sexuelle Untertöne. Im Allgemeinen jedoch weisen hysterische Anfälle viele Charakteristiken von BPM III auf: die exzessive Spannung, psychomotorische Erregung und Umtriebig-

109

keit, eine Mischung von Depression und Aggression, lautes Schreien, Atemnot und dramatische Krümmungen des Körpers. Die Symptome manifestieren sich hier insgesamt aber auf deutlich mildere Weise als bei der agitierten Depression und beruhen zumeist auf Traumata aus der späteren Lebenszeit. Die dynamischen Verknüpfungen, die zwischen Konversionshysterie, agitier­ ter Depression und BPM III bestehen, treten im Verlauf tiefer erfahrungsorien­ tierter Therapien klar in Erscheinung. Holotrope Zustände aktivieren zu Beginn vorwiegend Symptome der hysterischen Art oder verstärken bereits bestehende, und der Patient beginnt in den zutage tretenden psychosexuellen Traumata seiner Kindheit die Quelle seiner Störungen zu erkennen. Mit einer zunehmenden An­ zahl Sitzungen nehmen die Zustände immer mehr die Gestalt der agitierten De­ pression an und lassen ihre Verbindung zur dritten Matrix erkennen. Eine Besse­ rung oder gar vollständige Befreiung der Symptome erfolgt meist erst bei einem Wiedererleben der eigenen Geburt und der damit einher gehenden Aktivierung der vierten Matrix. Konversionshysterien können aber noch tiefer reichen. Wenn sie in der transpersonalen Dimension wurzeln, manifestieren sie sich in Form von karmischen Erinnerungen oder archetypischen Motiven. Starke perinatale Anteile finden wir ebenso bei hysterischen Lähmungen an Händen und Armen, der Unfähigkeit zu stehen (Abasie), bei Sprachverlust (Aphonie) und anderen Konversionssymptomen. Diese Zustände sind nicht etwa auf fehlende motorische Impulse zurückzuführen, sie entstehen aus einem dyna­ mischen Konflikt zwischen einzelnen motorischen Impulsen, welche einander ent­ gegenwirken und sich neutralisieren. Ursächliche Kernerfahrung ist einmal mehr das schmerzhafte und aufreibende Geburtserlebnis; der Organismus des Kindes reagiert auf diese Notsituation, indem es auf exzessive, chaotische Weise neuro­ nale Impulse generiert, die sich aber nicht adäquat entladen können. Eine ähnliche Interpretation der hysterischen Konversion lieferte als Erster Otto Rank, und zwar in seinem wegweisenden Werk Das Trauma der Geburt (1929). Während Freud Konversionen als einen Ausdruck seelischer Konflikte an­ sah, die sich mittels Körpersprache bemerkbar machen, glaubte Rank, dass die Probleme physiologischen Ursprungs sind und die Situation der Geburt widerspie­ geln. Das Problem, das sich Freud stellte, war, wie ein primär psychologischer Sachverhalt sich zum körperlichen Symptom wandeln konnte. Rank andererseits musste beweisen, warum ein in erster Linie somatisches Phänomen fürs Psycholo­ gische so wichtig werden konnte. Einige der an Psychose grenzenden hysterischen Manifestationen wie der psy­ chogene Stupor (seelisch-körperliche Erstarrung), unkontrolliertes Tagträumen und das Verwechseln von Fantasie und Realität (Pseudologia fantastica) scheinen dynamisch mit BPM I verbunden zu sein. Sie reflektieren das tiefe Verlangen, den glückseligen Zustand der ungestörten intrauterinen Existenz und die symbiotische Einheit mit der Mutter wieder herzustellen. Während das Suchen nach emotiona­ ler und körperlicher Befriedigung sich unschwer als Surrogat für den ersehnten «guten Mutterschoss» und die «gute Brust» erkennen lässt, hat der jeweilige Inhalt

110

der Tagträume und Fantasien mit den individuellen Themen aus Kindheit, Jugend und Erwachsenenleben zu tun.

Zwangsneurosen Patienten, die an Zwangsneurosen leiden, sind besessen von irrationalen Gedan­ ken, die sie nicht loswerden können, und stehen unter dem Zwang, völlig absurde, bedeutungslose und repetitive rituelle Handlungen zu vollziehen. Wenn sie versu­ chen, diesen Neigungen nachzugeben, werden sie von unbestimmten Ängsten heimgesucht. In der psychoanalytischen Literatur herrscht Einigkeit darüber, dass Konflikte mit Homosexualität, Aggression und biologischem Material die psycho­ dynamische Basis solcher Störungen bilden, zusammen mit genitalen und auch prägenitalen (namentlich analen) Hemmungen. Diese Aspekte der Zwangsneuro­ se weisen auf eine starke perinatale Komponente hin, insbesondere auf den skatologischen Aspekt von BPM III. Eine weitere Eigenschaft dieser Neurose ist eine ambivalente Haltung zu Re­ ligion und Gott. Viele Zwangsneurotiker leben in einem permanenten Konflikt bezüglich ihrer Einstellung zu Gott und zum religiösen Glauben und hegen rebel­ lische und blasphemische Gedanken, Gefühle und Impulse. So können sie Gott mit Masturbation oder Defäkation verbinden, oder sie empfinden den unwider­ stehlichen Drang, in Kirchen und an Begräbnissen laut aufzulachen und obszöne Bemerkungen von sich zu geben. Diese Zwänge wechseln sich ab mit tiefen Reue­ gefühlen, sie möchten dafür Busse tun und für all diese Übertritte und Sünden be­ straft werden. Wie wir bei der Phänomenologie der perinatalen Matrizen gesehen haben, sind Verknüpfungen zwischen sexuellen und aggressiven Impulsen und numinosen und göttlichen Elementen charakteristisch für den Übergang von BPM III zu BPM IV. Auf ähnliche Weise ist auch der innere Konflikt zwischen einem Revol­ tieren gegen eine überwältigende Macht und dem Wunsch, sich dieser zu ergeben, typisch für die Endstadien des Tod-und-Wiedergeburts-Prozesses. Solch mächtige Kräfte können in holotropen Zuständen archetypische Formen annehmen. Wir können uns dies als eine unbarmherzige, strafende, grausame Gottheit vorstellen, dem alttestamentarischen Jahwe vergleichbar, oder als eine Furcht einflössende präkolumbianische Gottheit, die nach Blutopfern dürstet. Die biologi­ sche Entsprechung dieser strafenden Gottheit ist wiederum in der lebensbedrohlichen, leidvollen Situation des Geburtskanal zu suchen, wo jeglicher Ausdruck der instinktiven, sexuellen und aggressiven Impulse verunmöglicht wird. Die einengende Kraft des Geburtskanals ist die biologische Grundlage für den Teil des Über-Ich, den Freud als wild und primitiv bezeichnete. Dieses barbarische Element der Psyche kann ein Individuum zur Selbstverstümmelung und gar zur blutigen Selbsttötung antreiben. Freud sah diesen Teil des Über-Ich als einen In­ stinkt an, also als ein Derivat des Es. Diese Zwangssituation nimmt im späteren Leben subtilere Formen der Nötigung an: Einschränkungen, Verbote und Befehle kommen nun von Seiten der Eltern, von Gesetzgebern oder religiösen Institutio­

111

nen. Ein weiterer Aspekt des Über-Ich, Freuds «ideales Ich», reflektiert unsere Tendenz, uns mit einer Person, die wir bewundern, zu identifizieren und mit ihr zu verschmelzen. Eine wichtige Quelle der obsessiv-kompulsiven Neurose ist der unangenehme, zuweilen gar lebensbedrohliche Kontakt mit verschiedenen biologischen Materia­ lien während des letzten Stadiums der Entbindung. COEX-Systeme, die mit sol­ chen Störungen psychogenetisch assoziiert sind, sind traumatische Erlebnisse, die mit der analen Zone und mit biologischem Material verknüpft sind, eine gestrenge Sauberkeitserziehung beispielsweise, oder schmerzhafte Einläufe, anale Verge­ waltigungen und Magen-Darm-Krankheiten. Eine weitere wichtige Gruppe be­ zieht sich auf Erinnerungen an Situationen, die als Bedrohung der Genitalfunktio­ nen empfunden wurden. Fast immer spielen auch transpersonale Elemente mit ähnlichen Themen bei der Genese solch problematischer Konstellationen eine be­ deutende Rolle.

Depression, Manie und Selbstmordtendenzen Die Psychoanalyse sieht Depressionen und Manien als Störungen an, die aus einer problematischen aktiv-oralen (sadistischen oder kannibalischen) Phase resultie­ ren, also mit der Erfahrung des Gestilltwerdens, mit emotionaler Ablehnung und Vernachlässigung und generell mit einer schwierigen frühen Mutter-Kind-Beziehung zu tun haben. Selbstmordtendenzen werden in diesem Rahmen als ein Akt der Feindseligkeit gegen das verinnerlichte Objekt, das Bild der «bösen Mutter», und namentlich ihre Brust, interpretiert. Die in holotropen Zuständen gewonne­ nen Einsichten verlangen aber nach einer Revision und Erweiterung dieser Vor­ stellung. In der bestehenden Form ist sie wenig überzeugend, da sie für einige fun­ damental wichtige klinische Beobachtungen bezüglich des Wesens von Depressio­ nen keine Erklärungen bereit hat. So wird zum Beispiel keine Antwort auf die Frage gegeben, warum es zwei grundsätzlich verschiedene Arten von Depression gibt, nämlich die gehemmte und die agitierte. Oder warum Menschen, die an Depressionen leiden, bioenergetisch blockiert sind, wie sich dies an überdurchschnittlich oft vorkommenden Sympto­ men wie Kopfschmerzen, Druckgefühlen im Brustbereich, psychosomatischen Schmerzen oder Wasserretenlion ablesen lässt. Warum sie gehemmt sind und an Appetitmangel, Magen-Darm-Störungen, Verstopfung oder Amenorrhoe leiden. Warum deprimierte Personen, inklusive jenen, die an gehemmten Depressionen leiden, einen hohen Grad an biochemischem Stress aufweisen. Und warum sie kei­ ne Hoffnungen haben und sich fühlen, als kämen sie nicht vom Fleck. Psychotherapeutische Schulen, deren konzeptioneller Rahmen auf die nachgeburtliche Biografie und Freuds individuelles Unbewusstes ausgerichtet sind, kön­ nen diese Fragen nicht beantworten. Noch weniger Erfolg ist denjenigen Theorien beschieden, welche Depressionen einfach als das Resultat von chemisch-organischen Störungen ansehen. Es ist äusserst unwahrscheinlich, dass chemische Verän­ derungen allein für das komplexe klinische Bild von Depressionen, Manien und

112

Selbstmordtendenzen verantwortlich sein sollen. Das Bild wird ein völlig anderes, sobald wir erkennen, dass diese Störungen bedeutende perinatale und transperso­ nale Komponenten aufweisen. Die Probleme rund um die Depression erscheinen uns plötzlich in neuem Licht, und viele der Manifestationen machen auf einmal Sinn. Gehemmte Depressionen haben ihre Wurzeln gewöhnlich in der zweiten peri­ natalen Matrix. Holotrope Sitzungen, die von dieser Matrix dominiert wurden, und Zeitperioden, die unmittelbar auf ein ungenügend verarbeitetes BPM-II-Erlebnis folgen, weisen die Eigenschaften tiefer Depressionen auf. Personen unter dem Einfluss dieser Matrix leiden unter kaum erträglichen mentalen und emotio­ nalen Qualen, voller Hoffnungslosigkeit, Verzweiflung, überwältigenden Schuld­ gefühlen und Gefühlen der Unzulänglichkeit. Dazu gesellen sich unbestimmte Ängste, mangelnde Antriebskraft, ein vollständiges Fehlen von irgendwelchen In­ teressen und die Unfähigkeit, das Leben zu geniessen. In diesem Zustand erscheint das Leben auf grausame Art sinnlos, emotional leer und absurd. Es ist, als würden wir die Welt und unser eigenes Dasein durch eine negati­ ve Linse betrachten. Unsere selektive Wahrnehmung konzentriert sich auf alle schmerzlichen, miesen und tragischen Aspekte, bei gleichzeitiger Blindheit für al­ les Positive. Die Situation scheint unerträglich, es gibt kein Entrinnen und keine Hoffnung. Manchmal kommt dem betroffenen Individuum die Fähigkeit des Farbensehens abhanden, und es erlebt die Welt wie in einem Schwarzweissfilm. Trotz der ganzen Qualen weinen Personen in diesem Zustand nur selten, auch fehlen an­ dere dramatischen Äusserungen. Der gesamte Zustand ist durch eine allgemeine motorische Hemmung charakterisiert. Wie ich zuvor angetönt habe, sind gehemmte Depressionen mit bioenergeti­ schen Stauungen in verschiedenen Körperteilen und mit einer reduzierten Ar­ beitsweise der wichtigsten physiologischen Funktionen assoziiert. Typische kör­ perliche Begleiterscheinungen sind Druckgefühle, Empfindungen des Eingeengt­ seins, Erstickungsängste, starke Spannungen und Schmerzen in verschiedenen Körperteilen sowie heftige Kopfschmerzen. Andere Symptome sind Harnverhal­ tung, Verstopfung, Herzschmerzen, sexuelle Lustlosigkeit, Appetitmangel und ei­ ne Tendenz zur hypochondrischen Interpretation der eigenen physischen Leiden. All diese Symptome passen zur These, dass Depression eine Manifestations­ form von BPM II ist. Menschen, die an gehemmten Depressionen leiden, stehen unter innerem Stress, was der Anteil an Katecholaminen und Steroidhormonen in Blut und Urin anzeigt. Das biochemische Bild passt gut zum Umstand, dass BPM II einerseits zwar hohen inneren Stress bewirkt, andererseits aber keine Möglichkeit bietet, diesen auszuagieren oder nach aussen zu befördern («aussen sitzen wir, innen rennen wir»). Die psychoanalytischen Theorien verbinden Depressionen mit frühen oralen Störungen und emotionalen Entbehrungen. Obwohl dieser Zusammenhang offen­ sichtlich besteht, sind einige wichtige Aspekte der Depression nicht darin vertre­ ten: das Gefühl, nicht vom Fleck zu kommen, die Hoffnungslosigkeit, das Gefühl

113

der Ausweglosigkeit, bioenergetische Blockaden sowie physische und biochemi­ sche Manifestationen. Unser Modell zeigt, dass die freudschen Erklärungen zwar korrekt, aber unvollständig sind. COEX-Systeme mit gehemmten Depressionen schliessen biografische Elemente zwar keineswegs aus. Doch das Einbringen der BPM-II-Dynamik kann zu einem umfassenderen Verständnis dieses Krankheits­ bildes führen. Frühkindliche Entbehrungen und orale Frustrationen haben vieles mit BPM II gemein. Das Einbringen dieser beiden Situationen ins selbe COEX-System wider­ spiegelt eine tiefe experimentelle Logik. In BPM II findet die Unterbrechung der Symbiose von Fötus und Mutter statt, hervorgerufen durch die einsetzenden We­ hen, wobei die Arterien zugepresst werden. Der plötzliche Verlust des biologisch und emotional so wichtigen Kontakts zur Mutter setzt der Versorgung mit Sauer­ stoff, Nahrung und Wärme ein jähes Ende. Eine zusätzliche Auswirkung der ein­ setzenden Wehen sind temporäre Ansammlungen von toxischen Stoffen im Kör­ per des Fötus, der sich nun einer unangenehmen und potenziell gefährlichen Si­ tuation ausgesetzt sieht. Aus diesem Grund macht es durchaus Sinn, dass die typischen Komponenten von COEX-Systemen, die dynamisch mit der gehemmten Depression (und BPM II) verknüpft sind, oft mit einer Trennung von der Mutter oder mit ihrer Ab­ wesenheit im Säuglingsalter und der frühen Kindheit zu tun haben - daher die Ge­ fühle der Einsamkeit, von Kälte, Hunger und Angst. Sie stellen gewissermassen ei­ ne «höhere Oktave» zur noch akuteren, noch verwirrenderen Verlustsituation dar, die durch die einsetzenden Gebärmutterkontraktionen ausgelöst wurde. In den oberflächlicheren Schichten stossen wir auf familiäre Situationen, welche das Kind als bedrückend erfährt, in denen es bestraft wird, sich nicht wehren darf und nicht fliehen kann. Sie enthalten auch Erinnerungen, da man unter Gleichaltrigen wie­ der zum Sündenbock gestempelt wurde, Erinnerungen an ausbeuterische Arbeit­ geber sowie erlittene Szenen der politischen oder sozialen Unterdrückung. Erfah­ rungen von solch ausgangslosen Zwangslagen verstärken und verlängern die Op­ ferrolle des Individuums, wie dies für die zweite Matrix charakteristisch ist. Weitere wichtige COEX-Systeme der gehemmten Depressionen enthalten Er­ innerungen an Situationen, die eine Bedrohung für das Überleben oder die kör­ perliche Integrität eines Individuums darstellten und in welchen dieses die Rolle des hilflosen Opfers einnahm. Beobachtungen der holotropen Forschung liefern hier einen völlig neuartigen Zugang zum Verständnis von Depressionen. Stets be­ tonen Psychoanalytiker und Psychiater die Rolle seelischer Faktoren bei der Ent­ stehung von Depressionen. Nicht in Betracht ziehen sie aber, dass psychische Traumata auch durch körperliche Verletzungen generiert werden können. Die traditionellen Psychiater haben den psychotraumatischen Auswirkungen von schweren Krankheiten, Verletzungen, Operationen oder Situationen des Beinahe-Ertrinkens bis anhin so gut wie gar keine Beachtung geschenkt und unter­ schätzen diese in hohem Grade. Dieser Umstand ist eigentlich erstaunlich, wenn man bedenkt, dass gerade sie es doch sind, die die biologischen Ursachen vorran­

114

gig behandeln. Für Theoretiker und auch Kliniker, die Depressionen als das Re­ sultat von Fixierungen betrachten, die in der oralen Phase der libidinösen Ent­ wicklung entstanden, müsste die Entdeckung, dass körperliche Traumata bei der Entstehung dieser Störungen eine wichtige Rolle spielen, eine ernst zu nehmende Herausforderung darstellen. Im Rahmen des hier vorgestellten Modells erscheint es als vollkommen logisch, auch jenen COEX-Systemen Bedeutung zuzumessen, die traumatische Erlebnisse der emotionalen und der physischen Art in sich ver­ einen. Im Gegensatz zu den gehemmten Depressionen werden agitierte Depressionen mit BPM III assoziiert. Elemente der agitierten Depression können während ho­ lotroper Sitzungen auftreten sowie in der Zeitspanne zwischen den Sitzungen lie­ gen und unter dem Einfluss der dritten Matrix stehen. Die während der Geburt ge­ nerierten Energieladungen sind hier nicht vollständig blockiert, wie dies bei der gehemmten Depression in Verbindung mit BPM II der Fall ist. Die zuvor noch angestaute Energie findet hier einen partiellen Ausgang und entlädt sich in zerstöre­ rischen oder selbstzerstörerischen Tendenzen. Agitierte Depressionen sind ein dy­ namischer Kompromiss von Stauung und Entladung von Energie. Eine vollständi­ ge Entladung würde freilich diesen Zustand beenden und die Heilung einleiten. Eigenschaften der agitierten Depression sind hohe Anspannung, Ängstlich­ keit, psychomotorische Erregung und Ruhelosigkeit. Solche Menschen sind sehr aktiv. Sie wälzen sich am Boden, schlagen um sich und schlagen den Kopf gegen die Wand. Ihr emotionelles Leiden findet Ausdruck in lautem Weinen und Schrei­ en. Sie zerkratzen sich das Gesicht, raufen sich die Haare und zerreissen sich die Kleidung. Physische Symptome der agitierten Depression sind Muskelverspannungen, Zittern, schmerzhafte Krämpfe sowie Gebärmutter- und Darmspasmen. Kopfschmerzen, Übelkeit und Atemnot vervollständigen das klinische Bild. Die COEX-Systeme, die mit dieser Matrix in Verbindung stehen, handeln von Aggression, Gewalt und Grausamkeit, von sexuellem Missbrauch, Angriffen und schmerzhaften medizinischen Eingriffen, vom Gefühl des Erstickens und dem Ringen nach Atem. Individuen unter dem Einfluss von BPM III sind - im Gegen­ satz zu BPM II - keine passiven Opfer, sondern aktiv: Sie schlagen zurück, wehren sich, überwinden Hindernisse oder flüchten. Erinnerungsbilder von Gewaltsitua­ tionen, an denen Eltern oder Geschwister beteiligt waren, an Faustkämpfe unter Gleichaltrigen, sexuellen Missbrauch und Vergewaltigungen oder Episoden aus militärischen Schlachten sind weitere typische Beispiele dieser Art. Die psychoanalytische Interpretation der Manie überzeugt gar noch weniger als die der Depressionen. Darin sind sich selbst viele Analytiker einig (Fenichel 1945). Indes stimmen die meisten Autoren darin überein, dass Manien als Mittel dazu dienen, tiefer liegende Depressionen aus dem Bewusstsein zu bannen. Dazu freilich muss die schmerzliche innere Realität verneint und die Flucht in eine äus­ sere Welt angetreten werden. Es erfolgt ein Sieg des Ego und des Es über das Über-Ich, und wir finden eine drastische Reduktion der Hemmungen vor, ein er­ höhtes Selbstwertgefühl und stark gesteigerte sinnliche und aggressive Impulse.

115

Trotz alledem vermögen manische Phasen nicht den Eindruck zu erwecken, sie brächten dem Individuum echte Freiheit. Psychologische Theorien von manisch-depressiven Störungen betonen die intensive Ambivalenz manischer Patien­ ten und die Tatsache, dass sie Liebe und Hass gleichzeitig empfinden, was sich störend auf ihre Beziehungsfähigkeit auswirkt. Der typisch manische Hunger nach Gegenständen wird für gewöhnlich als eine Manifestation von oralen Fixierungen betrachtet. In der Periodizität von Manie und Depression liegt der Hinweis auf den biologischen Zyklus von Hunger und Sättigung. Viele der sonst rätselhaften Charakteristiken manischer Episoden werden ver­ ständlich, wenn man sie zur perinatalen Dynamik in Beziehung setzt. Psychogenetisch gesehen sind Manien in der Übergangsphase von BPM III zu BPM IV anzu­ siedeln. Das betroffene Individuum ist mit der vierten perinatalen Matrix schon in Berührung gekommen, befindet sich aber trotzdem noch unter dem Einfluss der dritten. Da die manische Person vollends bis zur eigenen Geburt regrediert, sind die oralen Triebe progressiver und nicht regressiver Natur. Sie zielen auf einen Zu­ stand hin, den sich das Individuum sehnlichst wünscht, bewusst aber noch nicht er­ reicht hat. Weniger wahrscheinlich ist, dass es sich hier um eine Regression in die orale Phase handelt. Entspannungszustände und orale Befriedigung sind charakte­ ristisch für die Zeitspanne unmittelbar nach der biologischen Geburt. Friedvolle Gefühle, Schlafen und Essen - die klassische Wunschtriade manischer Patienten sind die natürlichen Ziele eines Organismus, der von den Impulsen, die mit dem Endstadium der Geburt assoziiert werden, überflutet wird. In Selbsterfahrungstherapien können gelegentlich vorübergehende manische Episoden in statu nascendi beobachtet werden. Ein solches Phänomen ist dann In­ diz dafür, dass der Wiedergeburtsprozess noch nicht vollendet ist. Dies kann dann Vorkommen, wenn die im Transformationsprozess befindliche Person mit der letz­ ten Phase im Kampf um Tod und Wiedergeburt in Berührung kommt und einen Vorgeschmack davon kriegt, wie sich die erlösende Befreiung nach der Agonie der Geburt anfühlt. Trotzdem und gleichzeitig ist das Individuum aber weder fähig noch willens, sich mit dem unerledigten verbleibenden Material der dritten Matrix auseinander zu setzen. Als Resultat dieses ängstlichen Festklammerns an diesen noch ungewissen und dünnen Sieg werden die neuen, positiven Gefühle so stark akzentuiert und übersteigert, dass sie zur Karikatur werden. Das Bild des «im Dunkeln pfeifen» gibt diesen Zustand am besten wider. Das Übertriebene und Forcierte, das den Emotionen und dem Benehmen manischer Natur anhaftet, lässt durchblicken, dass es sich dabei nicht um einen Ausdruck reiner Freude und Freiheit handelt, sondern um eine Reaktionsbildung auf noch ungelöste Elemente von BPM III, vor Allem Angst und Aggression. Muss eine LSD-Sitzung trotz noch unvollendetem Geburtsprozess beendet werden, lässt die Person all die typischen Merkmale von Manie erkennen. Sie ist hyperaktiv, geht ständig auf und ab, sucht jedermanns Gesellschaft und verbrüdert sich mit einem jeden, der ihr über den Weg läuft, spricht laut und unaufhörlich von ihren Triumphgefühlen, ihrem körperlichen Wohlbefinden, den herrlichen Ge­

116

fühlen und dem grossartigen Erlebnis, das sie gerade hatte. Diese Menschen prei­ sen die Wunder der LSD-Therapie und schmieden messianische und grandiose Pläne zur Veränderung der Welt, die dann vonstatten geht, wenn einem jeden Menschen die Möglichkeit gegeben wird, solche Erfahrungen selbst zu machen. Das In-die-Brüche-Gehen der zuvor vom Über-Ich bestimmten hemmenden Be­ schränkungen resultiert nun in einem verführerischen Gehabe, in promiskuitiven Tendenzen oder in obszönen Reden. Ein extremes Verlangen nach Stimuli und so­ zialem Kontakt paart sich mit übersteigerter Begeisterung, Selbstliebe, Selbstein­ schätzung und einer nachsichtigen Einstellung in verschiedenen Lebensbereichen. Das Verlangen nach Aufregendem, nach Drama und Action ist charakteris­ tisch für manische Patienten und bezweckt zweierlei: Zum einen können sie so die Impulse und Spannungen entladen, die von der nach wie vor aktivierten BPM III herrühren. Und zum anderen fühlen sie sich von turbulenten Situationen angezo­ gen, da diese die gleiche Intensität und Qualität wie ihr eigener innerer Aufruhr besitzen. So lässt sich jene unerträgliche «emotional-kognitive Dissonanz» redu­ zieren, die für viele manische Patienten bedrohlich wirkt - nämlich jene Grauen erregende Erkenntnis, dass das innere Erleben und die äusseren Umstände nicht miteinander übereinstimmen. Eine schwer wiegende Diskrepanz zwischen innen und aussen führt naturgemäss in den Wahnsinn. Otto Fenichel (1945) wies darauf hin, dass viele manische Aspekte mit der Psy­ chologie des Karnevals zu tun haben - mit all seinen Zügellosigkeiten, die während des Festes sozial sanktioniert, ansonsten aber untersagt sind. Dass dem so ist, be­ stätigt auch die tiefe Verbindung zwischen der Manie und dem dynamischen Über­ gang von BPM III zu BPM IV. Im Endstadium des Tod-und-Wiedergeburts-Prozesses erleben viele Menschen spontan bunte Karnevalszenen. Wie in der Wirk­ lichkeit erscheinen überschwängliche Feste, mit Schädeln, Skeletten und anderen Symbolen und Motiven, die mit dem Tod zu tun haben. In holotropen Zuständen geschieht dies auf dem Höhepunkt von BPM III, wenn wir zu fühlen beginnen, dass wir den Todeskampf doch noch gewinnen und überleben können. Wenn Individuen an diesen Punkt gelangen und überzeugt werden können, dass sie in sich gehen müssen, um den schwierigen, unerledigten Emotionen ins Auge zu sehen, um den Prozess vollenden zu können, verschwindet die manische Qualität aus ihrer Stimmung und ihrem Verhalten. Wird die vierte Matrix in ihrer reinen Form erfahren, so sind wir erfüllt von strahlender Freude und Glückselig­ keit, fühlen uns tief entspannt, ruhig, geläutert und heiter. Wir haben ein Gefühl tiefen inneren Friedens und vollkommenen Glücks. Freude und Euphorie werden aber nicht mehr in einer überzeichneten, grotesken Form empfunden, und das Verhalten dieser Menschen hat die umtriebige und flackernde Qualität manischer Zustände abgestreift. COEX-Systeme, die psychogenetisch mit Manien verknüpft sind, enthalten Erinnerungen an Situationen, in welchen eine Befriedigung der Bedürfnisse unter Umständen erfolgte, die bezüglich der Echtheit und Fortdauer der gewährten Zu­ friedenstellung als unsicher empfunden wurde. Ähnlich können an eine Person ge­

117

stellte Erwartungen oder Ansprüche, sie möge doch - ob angebracht oder nicht eine sichtbar fröhliche Laune zur Schau stellen, ein manisches Muster generieren. Oft findet man in der Lebensgeschichte von manischen Patienten auch gegensätz­ liche Einflussnahmen auf ihr Selbstbewusstsein: Während der eine Elternteil dem Kind gegenüber eine überkritische und unterminierende Haltung einnimmt, neigt der andere zur Überschätzung des Kindes, zu psychischer Inflation und unrealisti­ schen Erwartungen. Bei einigen meiner europäischen Patienten ist mir auch auf­ gefallen, dass ein alternierendes Verhalten zwischen strenger Bevormundung und uneingeschränktem Gewährenlassen, wie dies bei Kleinkindern oft praktiziert wird, psychogenetisch mit Manien verbunden sein kann. Die genannten Beobachtungen legen den Schluss nahe, dass die biologische Geburt, mit ihrem plötzlichen Übergang von Sterbensqualen zur erlösenden Be­ freiung, den natürlichen Boden für das charakteristische Alternieren in manischdepressiven Störungen bildet. Selbstverständlich schliesst dies den Einfluss von biochemischen Faktoren nicht aus. So ist es denkbar, dass positive und negative COEX-Systeme ihre spezifischen biochemischen Entsprechungen haben oder gar von chemischen Reaktionen im Organismus ausgelöst werden. Doch selbst wenn es der Forschung gelingen sollte, zu beweisen, dass Depressionen und Manien tatsächlich ihre biochemischen Entsprechungen haben, so könnten die komplexen Erscheinungsformen dieser emotionellen Störungen doch nicht mit den chemi­ schen Faktoren allein erklärt werden. Es lässt sich schwerlich eine Situation vorstellen, die sich chemisch gesehen klarer definieren Hesse als eine klinische LSD-Sitzung. Und dennoch wäre unsere genaue Kenntnis bezüglich der chemischen Zusammensetzung des Auslösers und der verabreichten Dosis von geringer Hilfe, wollten wir damit den psychologischen Inhalt der Erfahrung erklären wollen. Je nach Umstand kann der Kandidat in ek­ statische Verzückung geraten oder in einen depressiven, manischen oder paranoi­ den Zustand verfallen. Ebenso wenig kann die Komplexität der klinischen Bilder von «natürlichen» Depressionen und Manien mit der blossen chemischen Glei­ chung erklärt werden. Zudem stellt sich auch immer die Frage, ob nun die biologi­ schen Faktoren die Störungen verursachen - oder ob sie nur deren symptomati­ sche Entsprechungen sind. Eine andere Vorstellung wäre, dass die physiologischen und biochemischen Veränderungen, wie sie für manisch-depressive Störungen ty­ pisch sind, ein Replay der Bedingungen sind, denen der kindliche Organismus während der Geburt ausgesetzt war. Das neue Verständnis von Depressionen, das die Dynamik der perinatalen Matrizen mit einbezieht, eröffnet neue, faszinierende Einsichten in die Psycholo­ gie des Suizids, ein Phänomen, das in der Vergangenheit für die psychoanalytische Schule eine ernste theoretische Herausforderung darstellte. Jede Theorie, die das Phänomen Selbstmord erklären will, muss auf zwei entscheidende Fragen Antwort geben können: Die erste ist, wie ein Individuum Selbstmord begehen und sich da­ bei dem strengen Diktat des Selbsterhaltungstriebs entziehen kann, einem der mächtigsten Triebe in der Evolution des Lebens und der Natur. Die zweite Frage

118

betrifft die Wahl der Mittel. Hier scheint es eine enge Verbindung zu geben zwi­ schen dem Bewusstseinszustand der depressiven Person und der Art und Weise, wie der Selbstmord versucht oder ausgeführt wird. Der Trieb zum Selbstmord besteht nicht nur aus dem Impuls, dem eigenen Le­ ben ein Ende zu setzen, sondern auch, es auf eine ganz bestimmte Art zu tun. Es scheint natürlich, dass jemand, der eine Überdosis Schlaftabletten oder Barbitura­ te einnimmt, nicht von einem Felsen oder vor einen Zug springen würde. Umge­ kehrt würde jemand, der seinem Leben ein blutiges Ende setzen will, keine Betäu­ bungsmittel einnehmen, selbst wenn er keine Probleme hätte, sich welche zu be­ sorgen. Ergebnisse aus der psychedelischen Forschung und der holotropen Atem­ arbeit werfen ein Licht auf verborgene Ursachen und auf die Frage nach der Wahl der Methode. Der Hang zum Selbstmord kann gelegentlich in fast allen Stadien der holotro­ pen Atemarbeit beobachtet werden. Besonders häufig und akut tritt er aber in Er­ scheinung, wenn Patienten mit unbewusstem Material aus negativen perinatalen Matrizen konfrontiert werden. Beobachtungen aus psychedelischen und holotro­ pen Sitzungen sowie aus Manifestationen spiritueller Krisen zeigen, dass Selbst­ mordtendenzen in zwei Kategorien eingeteilt werden können, die eng mit den pe­ rinatalen Prozessen in Verbindung stehen. Wir sahen bereits, dass gehemmte De­ pressionen dynamisch auf BPM II und agitierte Depressionen auf BPM III an­ sprechen. Selbstmordfantasien, -tendenzen und -handlungen können als der unbewusste Drang verstanden werden, diesen unerträglichen Zuständen zu ent­ fliehen, und zwar auf eine Art und Weise, die im Zusammenhang zu spezifischen Aspekten der frühen Lebensgeschichte des Individuums stehen. Die Variante Selbstmord I. der gewaltlose Selbstmord, basiert auf der un­ bewussten Erinnerung, dass der ausgangslosen Situation von BPM II die intraute­ rine Existenz vorausging. Eine Person, die an gehemmter Depression leidet, ver­ sucht, dem unerträglichen Zustand der zweiten perinatalen Matrix zu entfliehen, indem sie in den ursprünglichen, undifferenzierten Zustand pränatalen Einsseins (BPM I) regrediert. Diese Ebene des Unbewussten ist im Normalfall nicht direkt zugänglich, es sei denn, die Person erhält die Gelegenheit zu einer tief gehenden Selbsterforschung. Kommt die Person jedoch nicht zu dieser so notwendigen Ein­ sicht, so wird sie im täglichen Leben stets von Situationen und Mitteln angezogen werden, die dem pränatalen Zustand qualitativ ähnlich sind. Unbewusst beabsichtigen Personen mit Selbstmordtendenzen, die Intensität der schmerzhaften Stimuli von BPM II zu mindern oder ganz aus der Welt zu schaffen. Das Ziel ist, jenen undifferenzierten Zustand des «ozeanischen Bewusst­ seins» wieder herzustellen, welcher für die embryonale Existenz typisch ist. Bei milderen Formen von Suizidtendenz möchten die Personen am liebsten aufhören zu existieren, in tiefen Schlaf versinken, alles vergessen und nie wieder aufwachen. Wollen Personen, die dieser Gruppe zuzurechnen sind, sich tatsächlich umbringen, so denken sie an tödliche Dosen von Schlaftabletten oder Beruhigungsmitteln, oder an einen Tod durch Ertrinken oder Einatmen von Kohlenmonoxid oder Gas.

119

Im Winter kann sich der unbewusste Trieb, in den Mutterbauch zurückzukehren, in Form von langen Spaziergängen in der Natur äussern, wir legen uns auf den Boden und lassen uns vom frisch fallenden Schnee zudecken. Die Idee dahinter ist, dass das anfängliche Frieren durch Gefühle von Behaglichkeit und Wärme ersetzt wird, so wie es einst im guten Mutterbauch war. Sich in einer Badewanne mit war­ men Wasser die Pulsadern aufzuschneiden gehört ebenfalls hierhin. Diese Art der Selbsttötung war im alten Rom Mode, berühmte Männer wie Petronius und Seneca setzten ihrem Leben auf diese Weise ein Ende. Auf den ersten Blick scheint die­ se Art von Selbstmord nicht in diese Kategorie zu gehören, da Blut im Spiel ist. Dennoch zielt sie nicht auf die Zerstörung des Körpers hin, sondern strebt die Auf­ lösung von Grenzen und das Sichauflösen in wässriger Umgebung an. Die Variante Selbstmord II. oder der gewalttätige Selbstmord, folgt unbewusst ebenfalls gewissen Mustern der biologischen Geburt. Er wird mit der agitierten Depression assoziiert und ist mit BPM III verbunden. Für eine Person, die unter dem Einfluss dieser Matrix steht, kommt ein Regredieren in den ozeanischen Zu­ stand im Mutterbauch nicht in Frage, denn dies würde ein erneutes Erleben der höllischen No-Exit-Situation von BPM II bedeuten. Die damit assoziierte totale Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit erscheint ihr schlimmer als die von BPM III. Der psychologische Fluchtweg, der sich hier anbietet, hat mit der «Erinne­ rung» an die explosionsartige Erleichterung und Befreiung zu tun, die mit der Be­ endigung der Geburt einhergehen. Um diese Form von Selbstmord zu begreifen, müssen wir uns der Tatsache bewusst sein, dass wir bei unserer Geburt zwar in ei­ nem anatomischen Sinne geboren wurden, dieses Erlebnis emotional und physisch aber nicht integrieren konnten. Einer Person, die zu einem gewalttätigen Selbst­ mord tendiert, dient die Erinnerung an ihre biologische Geburt als Rezept dafür, wie sie mit den Umständen der «zweiten Geburt» umgehen, wie sie die hervorbrechenden, nicht assimilierten Emotionen und physischen Wahrnehmungen bewusst integrieren könnte. Wie es auch beim gewaltfreien Selbstmord der Fall ist, haben diese Personen keinen direkten Zugang zur perinatalen Ebene ihres Unbewussten. Ihnen fehlt deshalb die Einsicht, dass es das Beste wäre, diesen Prozess innerlich zu vollenden: Das Geburtserlebnis müsste bewusst gemacht und mit der postnatalen Situation in Verbindung gebracht werden. Da sie sich dessen aber nicht bewusst sind, wird der Prozess projiziert und in der Aussenwelt eine Situation geschaffen, die ähnliche Erfahrungskomponenten aufweist. Der gewalttätige Selbstmord folgt dem Muster, das wir während der tatsächlichen Entbindung erleben: eine Intensivierung des generellen Spannungszustandes und des emotionalen Leidens bis zum Kulmina­ tionspunkt, gefolgt von einer explosionsartigen Erlösung inmitten von biologi­ schem Material. Bei beiden Ereignissen werden extreme emotionale und physische Spannun­ gen auf jähe Art beendet, es folgt eine plötzliche Entladung von enormen zerstö­ rerischen und selbstzerstörerischen Energien, zum Teil mit Verletzungen, und wir

120

kommen mit organischem Material wie Blut, Fäkalien und Eingeweiden in Kon­ takt. Eine Gegenüberstellung von Bildern, die während einer Geburt aufgenom­ men wurden, und solchen von Selbstmordopfern zeigen die Ähnlichkeiten der bei­ den Situationen: das Unbewusste kann diese beiden leicht miteinander verwech­ seln. Dass zwischen einem bestimmten Geburtstrauma und einer spezifischen Art von Selbstmord eine Verbindung besteht, ist auch von der klinischen Forschung bestätigt worden (Jacobson et al. 1987). Dieser Typ von Suizid hat mit dem Tod unter dem Zug, in Wasserkraftwerks­ turbinen oder provozierten Verkehrsunfällen zu tun. Man schneidet sich die Keh­ le durch, verpasst sich einen Kopfschuss, ersticht sich mit dem Messer oder stürzt sich aus dem Fenster oder von einem hohen Turm hinunter. Der Erhängungstod scheint mit einer früheren Phase von BPM III verknüpft zu sein, da das Ersticken mit sexueller Lust einhergeht. In die Kategorie des gewalttätigen Selbstmordes gehören auch kulturelle Varianten wie Harakiri, Kamikaze und das Amoklaufen. Die drei zuletzt angeführten Varianten wurden früher als exotische Verhal­ tensformen fernöstlichen Kulturdenkens angesehen. In den letzten Jahrzehnten jedoch häufen sich auch in den Vereinigten Staaten und anderen Ländern der westlichen Welt Amok-ähnliche Vorfälle, bei denen wahllos Menschen getötet werden und welche gewöhnlich mit dem Tod des Aggressors enden. Beunruhigend dabei ist, dass bei diesen Vorfällen zunehmend Jugendliche und sogar Kinder in­ volviert sind. Kamikaze-Aktionen und Selbstmordattentate werden in den arabi­ schen Ländern des Nahen Ostens immer wieder zu Sabotage-Zwecken eingesetzt. Die Erforschung holotroper Zustände hat zudem noch andere Einsichten, was die Art des gewählten Suizids betrifft, an den Tag gebracht, die in der Vergangen­ heit nie richtig verstanden wurden. Der gewaltfreie Selbstmord reflektiert die Ten­ denz, die Intensität emotionaler und physischer Schmerzen zu reduzieren. Die spe­ zifische Auswahl der Mittel für diese Art der Selbsttötung wird wahrscheinlich von biografischen und transpersonalen Elementen beeinflusst. Der gewalttätigen Selbsttötung hingegen liegt ein ganz anderer Mechanismus zugrunde. Ich habe oft beobachtet, dass Patienten, die einen bestimmten Typ Selbstmord in Betracht zo­ gen, in ihrem Leben physisch und emotional ähnliche Erfahrungen hatten. Diese Empfindungen und Gefühle wurden im Verlauf der Therapie jeweils intensiviert und verschärft. Personen, deren selbstzerstörerische Fantasien sich um die Eisenbahn oder Wasserkraftwerke drehen, leiden bereits an intensiven Gefühlen des Zerstückelt­ oder Zermalmtwerdens. Menschen, die sich mit dem Messer umbringen wollen, klagen oft über unerträgliche Schmerzen in genau den Körperteilen, die sie zu ver­ letzen beabsichtigen oder die während einer experimentellen Psychotherapie be­ sondere Schmerzen bereiten. Ebenso haben Personen, die zum Tod durch Erhän­ gen neigen, oftmals Erstickungsgefühle oder Atemnot. Beide Symptome lassen sich leicht als Elemente von BPM III erkennen. Geschähe die Intensivierung die­ ser Symptome in einem therapeutischen Rahmen und unter einer kundigen Anlei­

121

tung, könnten die unangenehmen Empfindungen gelöst werden und therapeutisch erfolgreich sein. Die erwähnten selbstzerstörerischen Tendenzen können in die­ sem Sinne als unbewusste, fehlgeleitete Bemühungen zur Selbstheilung verstan­ den werden. Damit die Neigung zum gewalttätigen Selbstmord auch entstehen kann, braucht es eine relativ klare Erinnerung an den plötzlichen Übergang vom Kampf im Geburtskanal zum Geborenwerden und den dabei empfundenen, explosionsar­ tigen Befreiungsgefühlen. Fand dieser Übergang unter dem betäubenden Einfluss von Narkosemitteln statt, wird die Person, gleichsam auf zellulärer Ebene, dahin gehend programmiert, dass sie auch zukünftigen Stresssituationen entflieht, indem sie irgendwelche Drogen oder betäubende Mittel zu sich nimmt. Dieser Umstand kann selbst Personen mit starker BPM-IIl-Prägung für Alkoholismus und Dro­ genmissbrauch anfällig machen, im Extremfall führt dies zu einem Selbstmord un­ ter Drogeneinfluss. Beim Studium individueller Fälle ist ein detailliertes Prüfen der Geburtsumstände unbedingt mit einer Analyse des Lebenslaufs zu ergänzen, denn nachgeburtliche Ereignisse können das Muster entscheidend mitprägen. Wenn Patienten, die zum Selbstmord neigen, sich einer psychedelischen oder holotropen Therapie unterziehen und zu einer Vollendung des Tod-und-Wiedergeburts-Prozesses kommen, sehen sie ihren vormaligen Selbsttötungswunsch als einen tragischen Fehler an, der auf fehlender Selbsterkenntnis basierte. Eine durchschnittliche Person weiss nicht, dass sie, in einem geschützten Rahmen, ihre unerträglichen Spannungen in einem symbolischen Tod-und-Wiedergeburts-Erlebnis oder durch ein Wiedererleben des pränatalen Daseins erlösen kann. Und so kann eine Person, getrieben von ihrem extremen Leiden, in der Aussenwelt ähnli­ che Situationen aufsuchen oder produzieren. Das Resultat kann tragisch und ir­ reversibel sein. Dieses Thema lässt sich nicht abschliessen, ohne die Beziehung zwischen Selbstzerstörung und Transzendenz erwähnt zu haben. Wie wir gesehen haben, re­ präsentieren die Erfahrungen von BPM l und BPM IV nicht nur eine Regression auf den symbiotischen biologischen Zustand, sondern sie weisen ebenso eine spiri­ tuelle Dimension auf. In der ersten Matrix ist dies die Erfahrung der ozeanischen Ekstase und des kosmischen Einsseins, in der vierten die der spirituellen Wieder­ geburt und der Erfahrung des Göttlichen. So gesehen sind suizidale Tendenzen ei­ gentlich eine fehlgeleitete und unerkannte Sehnsucht nach Transzendenz und be­ ruhen auf einem tragischen Verwechseln von Selbstmord und Ich-Tod. Das beste Mittel, um gegen selbstzerstörerische und suizidale Tendenzen anzugehen, ist, den Ich-Tod, die Wiedergeburt und das kosmische Einssein am eigenen Leibe zu er­ fahren. In diesem Prozess erschöpfen sich nicht nur die aggressiven und selbstzerstörerischen Impulse, sondern das Individuum lernt dabei auch die transpersonale Di­ mension kennen, in der Selbstmord keine Lösung mehr darzustellen scheint. Die Einsicht, dass ein Suizid wenig sinnvoll ist, entsteht aus der Erkenntnis, dass die Transformation des Bewusstseins und der Zyklus von Tod und Wiedergeburt auch

122

nach unserem biologischen Ableben weitergehen werden. Vor allem beginnen wir auch zu realisieren, dass es unmöglich ist, den eigenen karmischen Mustern zu ent­ gehen.

Alkoholismus und Drogenabhängigkeit Grundsätzlich stimmen die Beobachtungen aus holotropen Zuständen mit den psychoanalytischen Theorien überein, die Alkoholismus und Drogensucht als eng mit manisch-depressiven Störungen und Selbstmordtendenzen verbunden ansehen. Dennoch unterscheiden sie sich wesentlich in Bezug auf ihre psychologischen Mechanismen und die psychischen Ebenen, in denen sie wirken. Gleich wie suizid­ gefährdete Personen leiden auch Süchtige an stark negativ geladenen Emotionen wie Depression, allgemeine Verspanntheit, Angst- und Schuldgefühle und geringe Selbstachtung, und sie haben das gleiche heftige Verlangen, aus dieser unerträgli­ chen Situation auszubrechen. Wie wir gesehen haben, können Depression und Selbstmord mit dem Argument «orale Fixierung» allein (die Interpretation freud­ scher Psychoanalytiker) nicht zufrieden stellend erklärt werden. Dasselbe gilt auch für Alkoholismus und Drogensucht. Die stärkste Triebfeder, welche Alkohol- und Drogenabhängige in ihre Sucht treibt, ist nicht nur eine regressive Sehnsucht nach der mütterlichen Brust, sondern hat mit dem tief verwurzelten Verlangen zu tun, die glückselige, undifferenzierte Einheit der ungestörten intrauterinen Existenz wiederzuerleben. Wie ich zuvor er­ wähnt habe, beinhalten solche regressiven Erfahrungen symbiotischer Art auch stark numinose Dimensionen. Die eigentliche Kraft hinter Alkoholismus und Dro­ gensucht ist ein nicht erkanntes, fehlgeleitetes Verlangen nach Transzendenz. Wie Selbstmordtendenzen beruhen auch diese Störungen auf einem tragischen Miss­ verständnis, was die eigene unbewusste Dynamik angeht. Alkohol- und Drogensüchtige, die das Glück hatten, in psychedelischen oder holotropen Sitzungen eine positive erste oder vierte Matrix zu erleben, erzählten immer wieder, dass es dieser Bewusstseinszustand war, nach dem sie sich immer gesehnt hatten, und nicht der Alkohol- und Drogenrausch. Vor diesem Erlebnis der prä- oder perinatalen Erfüllung sei ihre Sehnsucht aber unbestimmter Art ge­ wesen, sie hätten nicht gewusst, wonach sie wirklich suchten. Exzessiver Alkohol- und Drogenkonsum scheint eine abgeschwächte Form suizidalen Verhaltens zu sein und wird oft als eine prolongierte Form von Selbst­ mord angesehen. Die grundlegenden Mechanismen sind die gleichen wie die des gewaltfreien Suizids. Sie reflektieren das unbewusste Bedürfnis, den Geburtsvor­ gang rückgängig zu machen, in den Mutterschoss zurückzukehren und den Zu­ stand wiederzuerlangen, der vor dem Einsetzen der Wehen geherrscht hatte. Al­ kohol und Drogen tendieren dazu, das Empfinden schmerzlicher Gefühle abzu­ blocken, das Bewusstsein wird diffus, und wir werden vergangenen und gegen­ wärtigen Problemen gegenüber gleichgültig. Oberflächlich gesehen hat dieser Zustand Ähnlichkeit mit dem fötalen Bewusstsein und der Erfahrung der kosmi­ schen Einheit.

123

Ähnlich ist aber nicht dasselbe wie identisch, und es gibt fundamentale Unter­ schiede zwischen Alkohol- oder Drogenrausch und transzendentalen Bewusst­ seinszuständen. Alkohol und Drogen dämpfen die Sinneswahrnehmungen, bene­ beln das Bewusstsein, interferieren mit den intellektuellen Funktionen und führen zu emotionaler Abstumpfung. Transzendentale Zustände andererseits sind ge­ prägt von einer Schärfung unserer Sinne, von Heiterkeit, Klarheit der Gedanken sowie einem Reichtum an philosophischen und spirituellen Einsichten und einer ungewöhnlichen Vielfalt von Emotionen. Obwohl einige wenige Gemeinsamkei­ ten vorhanden sind - der Alkohol- oder Drogenrausch ist bloss eine klägliche Ka­ rikatur der mystischen Bewusstseinszustände. Und trotzdem reichen diese gerin­ gen Ähnlichkeiten aus, um Süchtige zum selbstzerstörerischcn Missbrauch zu ver­ führen. Die häufigste Ursache von Alkohol- und Drogenmissbrauch scheint die Ten­ denz zu sein, den leidvollen Emotionen, die mit BPM II und damit verknüpften COEX-Systemen Zusammenhängen, zu entfliehen und stattdessen ein friedvolles intrauterines Dasein wiederherzustellen. Allerdings habe ich auch mit Alkoholi­ kern und Drogensüchtigen gearbeitet, deren Symptome eher auf eine dominante dritte Matrix schliessen liessen und die dennoch den pharmakologischen Ausweg gewählt hatten, um ihren Nöten zu entkommen. In diesen Fällen waren offenkun­ dig auch andere Mechanismen am Wirken, die nach einer Erklärung verlangten. Bei einer genaueren Untersuchung ergab sich, dass all diese Personen unter schwerer Narkose geboren wurden, und viele von ihnen hatten unabhängig von­ einander überzeugende Erlebnisse, die diesen Tatbestand mit ihrer Sucht verban­ den. Diese Erklärung macht sicherlich Sinn. Die Geburt ist die erste grosse Her­ ausforderung in unserem Leben - und die erste qualvolle und nervenaufreibende Erfahrung. Schwere Krisen während der embryonalen Existenz bilden die Aus­ nahme zu dieser Regel. Der enorm starke Einfluss, welche frühe Geschehnisse auf das spätere Verhalten haben (so genannte Prägungen), war wiederholt Gegen­ stand von Experimenten, in denen Forscher und Ethnologen die Instinkte von Tie­ ren studierten. (Lorenz 1963, Tinbergen 1965). Die speziellen Umstände während unserer Geburt haben einen mächtigen Einfluss auf das spätere Leben. Wenn die Entbindung von durchschnittlicher Dau­ er und Mühsal ist und wir die Welt nach erfolgreich abgeschlossenem Kampf be­ treten, werden wir den Herausforderungen im künftigen Leben mit Optimismus und Zuversicht begegnen. Ist das Gegenteil der Fall und die Geburt zieht sich ext­ rem in die Länge und schwächt den kindlichen Organismus empfindlich, so hinter­ lässt dies in uns ein Gefühl von Pessimismus und Defätismus. Wir meinen, die «Welt» sei zu schwierig für uns, als dass wir erfolgreich mit ihr umgehen könnten, wir empfinden uns als hilflos und untauglich. Wenn die Qualen des Geburtsprozesses durch Anästhesie erleichtert oder be­ endet wurden, so gelangen wir innerlich zur Überzeugung, dass wir im Leben nur dann mit Schwierigkeiten und Hindernissen fertig werden können, wenn wir uns in

124

einem benebelten Zustand befinden. Es kann kein Zufall sein, dass der sich zurzeit epidemisch verbreitende Drogenmissbrauch diejenige Gruppe von Menschen be­ trifft, die dann zur Welt kamen, als die Ärzte während des Entbindungsprozesses routinemässig Narkosemittel einzusetzen begannen, zum Teil selbst gegen den Willen der Mütter. Mit der Gründung der Association of Pre- and Perinatal Psychology and Health (APPPAH) und dem Bekanntwerden ihrer Erkenntnisse aus experimentellen Therapien und Forschungen im Bereich der fötalen Existenz, die sie für die praktische Geburtshilfe adaptierten, wurden sich viele Ärzte und Ge­ burtshelfer bewusst, dass Gebären mehr als nur ein Ablauf von körperlichen Me­ chanismen bedeutet. Der Geburtsverlauf und die frühe nachgeburtliche Phase wirken sich auf das emotionale und soziale Leben des Einzelnen auf profunde Weise aus und sind in diesem Sinne auch für die Zukunft unserer gesamten Gesellschaft massgebend. Je nach Geburtsumständen tendieren wir zu einer liebevollen und altruistischen Hal­ tung unseren Mitmenschen gegenüber oder zu einer von Misstrauen und Aggres­ sion geprägten Einstellung (Odent 1995). Ob eine Person im Stande ist, den Wech­ selfällen des Lebens auf konstruktive Weise zu begegnen, oder ob sie versuchen wird, auf die Herausforderungen mit Alkohol oder Drogen zu antworten - die Ge­ burtsumstände sind die wesentlichen Faktoren. Die Erkenntnis, dass Alkoholismus und Drogensucht eine fehlgeleitete Suche nach Transzendenz darstellen, kann uns helfen, das heilende und transformative Potenzial von schweren Krisen zu verstehen, bei denen wir den absoluten Tief­ punkt unserer Existenz («hitting bottom») erreichen. Der Zeitpunkt des totalen emotionalen Bankrotts stellt oftmals einen Wendepunkt im Leben des Süchtigen dar. ln unserem Kontext heisst dies, dass der Betreffende den Ich-Tod, den Über­ gang von BPM III zu BPM IV, erfährt, Alkohol oder Drogen können ihn nicht mehr vor dem Ansturm des tief unbewussten Materials schützen. Das Hervorbre­ chen der perinatalen Energien resultiert schliesslich in einer psychosomatischen Tod-und-Wiedergeburts-Erfahrung, die oftmals eine Wende im Leben des Süchti­ gen einleitet. Was für Folgen diese Beobachtungen für die therapeutische Be­ handlung haben, wird an späterer Stelle nochmals diskutiert. Wie alle emotionalen Probleme haben auch Alkoholismus und Drogensucht nicht nur biografische und perinatale, sondern auch transpersonale Wurzeln; die bedeutendsten entstammen dem archetypischen Bereich. Dieser Aspekt der Sucht wurde vor allem von Therapeuten jungscher Orientierung erforscht. Von den Ar­ chetypen, die mit dem Suchtverhalten in engem Zusammenhang stehen, scheint insbesondere der Puer aeternus, mit Beispielen wie Ikarus oder Dionysos, von Be­ deutung zu sein (Lavin 1987). Viele Personen, mit denen ich gearbeitet habe, sa­ hen auch Zusammenhänge zwischen ihrer Sucht und karmischem Material.

Sexuelle Störungen und Abweichungen In der klassischen Psychoanalyse basiert die Interpretation von sexuellen Proble­ men auf einigen grundlegenden Konzepten, die von Freud formuliert wurden. Das

125

erste Konzept handelt von der infantilen Sexualität. Einer der Eckpfeiler der psy­ choanalytischen Theorie ist, dass sich Sexualität nicht erst in der Pubertät, sondern bereits in der frühen Kindheit manifestiert. Während die Libido die einzelnen Entwicklungsstadien durchläuft (oral, anal, urethral und phallisch), können frustrie­ rende Erfahrungen in oder übermässiges Betonen von einem dieser Stadien zu Fixierungen führen. In einer reifen Sexualität gilt das primäre Interesse den Ge­ schlechtsteilen, während die prägenitalen Komponenten eine untergeordnete Rol­ le spielen. Bestimmte Stresssituationen im späteren Leben können eine Regres­ sion auf diejenigen früheren Entwicklungsstufen der Libido hervorrufen, in denen eine Fixierung stattfand. Je nachdem, wie stark die Abwehrmechanismen sind, die diesen Trieben entgegenwirken, können Perversionen oder Psychoneurosen ent­ stehen (Freud 1953). Ein weiteres wichtiges Konzept ist das des Kastrationskomplexes. Freud glaub­ te, dass der Penis für beide Geschlechter von eminenter Bedeutung sei, und mein­ te, dieser Umstand sei für die Psychologie von erstrangiger Bedeutung. Laut Freud sind Knaben in höchster Angst, dass sie ihr so hoch geschätztes Organ verlieren könnten. Mädchen hingegen seien des Glaubens, sie hätten auch einmal einen Pe­ nis besessen, ihn dann aber verloren, weshalb sie anfälliger für Masochismus und Schuldgefühle sind. Kritiker Freuds argumentierten immer wieder, eine solche Sichtweise sei eine völlige Verdrehung einer ernsthaft missverstandenen weibli­ chen Sexualität, da sie die Frauen gleichsam als kastrierte Männer betrachtet. Wollen wir Freuds Verständnis von Sexualität konzeptmässig abrunden, müs­ sen wir noch die berühmte Vagina dentata anführen. Gemäss dieser Theorie sehen Kinder die weiblichen Geschlechtsteile als ein gefährliches, mit Zähnen bewehrtes Organ an, das sowohl tötet wie auch kastriert. Im Verein mit dem Ödipus- oder Elektrakomplex und dem Kastrationskomplex spielt diese Vorstellung der be­ drohlichen weiblichen Geschlechtsteile eine zentrale Rolle in der psychoanalyti­ schen Interpretation sexueller Abnormitäten und Psychoneurosen. Freud führte zwei Gründe an, weshalb weibliche Genitalien in Knaben Ängste wecken sollen. Erstens solle die Entdeckung, dass es menschliche Wesen ohne Pe­ nis gibt, zur Folgerung verleiten, dass es auch ihnen so geschehen könnte, was die Kastrationsängste schürt. Zweitens soll die Wahrnehmung weiblicher Genitalien als beissende Kastrationsinstrumente auf Assoziationen mit alten oralen Ängsten beruhen (Fenichel 1945). Keiner der beiden Gründe scheint in besonderem Masse überzeugend zu sein. Erkenntnisse aus holotropen Zuständen erweitern und vertiefen das freudsche Verständnis von Sexualität radikal, indem sie zum individuellen Unbewussten den perinatalen Bereich hinzufügen. Aus den Beobachtungen lässt sich schliessen, dass erste sexuelle Gefühle nicht an der Brust, sondern bereits im Geburtskanal erlebt werden. Wie ich schon erwähnt habe, münden die Erstickungsgefühle und der Kampf um Tod und Leben (BPM III) in einen extremen sexuellen Erregungszu­ stand. Das bedeutet, dass unsere ersten sexuellen Erfahrungen unter äusserst prekären Umständen stattfinden.

126

Die Geburt ist eine Situation, die potenziell lebensgefährlich ist und uns nahe an den Erstickungstod bringt. Wir sind verschiedenen extremen physischen und emotionalen Qualen ausgesetzt. Wir fügen einem anderen Organismus Schmerzen zu, und ein anderer Organismus fügt uns Schmerzen zu. Hinzu kommt, dass wir mit biologischem Material wie Blut, Vaginalschleim, Fruchtwasser und eventuell auch Fäkalien und Urin in Berührung kommen. Die übliche Reaktion auf diese Zwangslage ist Angst und Wut. Diese problematischen Assoziationen bilden eine natürliche Basis für das Verständnis von sexuellen Dysfunktionen, abartigem Sex und Perversionen. Die Erkenntnis, dass die perinatale Dynamik einen enormen Einfluss auf un­ ser Sexualleben ausübt, klärt auch einige theoretische Problempunkte rund um Freuds Konzept des Kastrationskomplexcs. Wichtige Merkmale des Kastrations­ komplexes ergeben keinen Sinn, solange wir sie mit dem Penis in Verbindung brin­ gen. Freud glaubte, die Angst vor dem Kastriertwerden sei so gross, dass sie der Todesangst gleichkomme. Auch war für ihn die Kastration psychologisch gesehen in gewissem Sinne dasselbe wie der Verlust einer wichtigen Bezugsperson; ein rea­ ler Verlust im späteren Leben wäre somit fähig, diese Angst zu reaktivieren. Bei freien Assoziationen zur Kastration werden meist Erstickungsgefühle und Atem­ not erwähnt. Und wie ich schon angemerkt habe, findet sich der Kastrationskom­ plex ausserdem sowohl bei Männern wie auch bei Frauen. Keines der erwähnten Elemente könnte adäquat erklärt werden, wenn sich der Kastrationskomplex allein um die Angst drehen würde, seines Penis verlustig zu gehen. Beobachtungen aus holotropen Zuständen haben gezeigt, dass die Erfah­ rungen, in denen Freud die Quelle des Kastrationskomplexes sah, nur die ober­ flächlichste Schicht eines COEX-Systems bilden, das traumatische Erinnerungen an das Durchtrennen der Nabelschnur enthält. All die oben erwähnten Unge­ reimtheiten lösen sich auf, wenn wir realisieren, dass sich viele der rätselhaften Ei­ genschaften von Freuds Kastrationskomplex auf die Trennung von der Mutter be­ ziehen - das Durchtrennen der Nabelschnur - und nicht auf den Verlust des Penis. Anders als die scherzhaften Drohungen Erwachsener, spontane Kastrations­ fantasien oder chirurgische Eingriffe wie Beschneiden oder Korrigieren einer ver­ wachsenen Vorhaut bei Knaben (Phimose) ist das Durchtrennen der Nabelschnur eine potenziell lebensgefährliche Situation. Da durch diese Handlung die vitale Verbindung mit dem mütterlichen Organismus aufgehoben wird, ist sie ein Proto­ typ für den Verlust von wichtigen Bezugspersonen. Auch die Verbindung mit Er­ stickungsgefühlen macht Sinn, da die Nabelschnur für den Fötus die Sauerstoff­ quelle darstellt. Und nicht zuletzt handelt es sich beim Durchtrennen der Nabel­ schnur um eine Erfahrung, die von beiden Geschlechtern gemacht wird. In einem neuen Licht erscheint auch das Bild der Vagina dentata, von Freud als primitive kindliche Fantasie abgetan, wenn wir akzeptieren, dass das Neugebo­ rene ein bewusstes Wesen ist, oder zumindest der Tatsache zustimmen, dass das Geburtstrauma im Gedächtnis gespeichert ist. Statt eines absurden Fantasie-Erzeugnisses einer unreifen Psyche ist die Vagina (dentata) tatsächlich ein gefährli-

127

ches Organ in dem Sinne, als dass sie die Gefahren eines bestimmten Moments, der Geburt, verkörpert. Weit davon entfernt eine blosse Fantasie zu sein, die jegli­ cher reellen Grundlage entbehrt, repräsentiert sie vielmehr die Verallgemeine­ rung einer lebensbedrohlichen Situation, die sich auch in anderen Zusammenhän­ gen zu bemerken geben kann Die Verbindung, die zwischen der Sexualität und dem potenziell lebensgefähr­ lichen Geburlstrauma besteht, schafft eine generelle Disposition zu verschiedenen sexuellen Störungen. Bestimmte Störungen beginnen sich dann zu entwickeln, wenn die perinatalen Elemente durch nachgeburtliche traumatische Erlebnisse der Kindheit verstärkt werden. Wie es für emotionale und psychosomatische Störungen allgemein der Fall ist, agieren traumatische Erlebnisse, welche die Psy­ choanalytiker als primäre Ursache der Störung betrachten, eigentlich bloss als Verstärker von gewissen Aspekten des Geburtstraumas und ermöglichen deren Emporsteigen ins Bewusstsein. Und wie andere psychogene Störungen wurzeln auch sexuelle Probleme tief im transpersonalen Bereich, wo sie mit karmischen, archctypischen und phylogenetischen Elementen verknüpft sind. Nach dieser allgemeinen Einführung möchte ich kurz auf die wesentlichen, aus der Arbeit mit holotropen Bewusstseinzuständen gewonnenen Einsichten bezüg­ lich einiger unterschiedlicher Formen von menschlichem Sexualverhalten zu spre­ chen kommen. In der Homosexualität gibt es viele unterschiedliche Typen, und wir finden zweifellos zahlreiche Determinanten: So ist der menschliche Embryo in den frühen Entwicklungsstadien anatomisch und physiologisch gesehen bisexuell. Viele Kna­ ben und Mädchen, auch solche, die im Erwachsenenalter eindeutig heterosexuell veranlagt sind, führen während der Adoleszenz homoerotische Experimente durch. In Situationen, da keine heterosexuelle Beziehungen möglich sind, etwa im Gefängnis, in der Armee oder während eines langen Aufenthalts auf See, kann es Vorkommen, dass heterosexuell veranlagte Menschen homosexuelle Aktivitäten entwickeln. Einige Eingeborenenstämme Amerikas anerkennen und respektieren nicht nur zwei oder vier, sondern gleich sechs verschiedene Geschlechter (Tafoya 1994). Sexuelle Vorlieben und Verhaltensweisen können durch eine genetische Ver­ anlagung beeinflusst werden, oder durch hormonelle oder kulturelle, soziale oder psychologische Faktoren. Die Erforschung holotroper Zustände ermöglicht den Zugang zu einer tiefen unbewussten Dynamik und liefert auch hier interessante psychologische Einsichten, die auf anderem Wege nicht gewonnen werden kön­ nen. Sie zeigt deren perinatale und transpersonale Aspekte auf, die dazu beitra­ gen, das komplexe Mosaik von unserem Verständnis menschlichen Sexualverhaltens zu vervollständigen. Aus dieser Perspektive sollten auch die folgenden Darle­ gungen betrachtet werden. Meine klinische Erfahrung mit Homosexualität ist etwas einseitig, da sie sich auf Patienten beschränkte, die ihre Homosexualität als problematisch empfanden. Ihr innerer Konflikt liess sie an Depressionen, Selbstmordgedanken oder neuroti-

128

sehen und psychosomatischen Manifestationen leiden. Diese speziellen Umstände sind unbedingt zu berücksichtigen, wenn man aus diesen Beobachtungen allge­ meine Schlüsse ziehen möchte. Später hatte ich Gelegenheit, zahlreiche psychedelische und holotrope Sitzun­ gen mit homosexuellen Personen, die an unseren Ausbildungsprogrammen teilnahmen, zu begleiten. Der Grund für ihre Teilnahme war hier also nicht therapeu­ tischer Art, sondern sie wollten sich beruflich weiterbilden und persönlich ent­ wickeln. Für die meisten von ihnen stellte Homosexualität eindeutig eine Präfe­ renz dar, und sie genossen diese Lebensweise. Was sie beschäftigte, war nicht eine seelische Konfliktsituation, sondern der Konflikt mit einer intoleranten Gesell­ schaft. Von meinen männlichen homosexuellen Patienten hatten die meisten zwar gute soziale Beziehungen mit Frauen, doch waren sie unfähig, eine sexuelle Bezie­ hung mit ihnen einzugehen. Ihre Homosexualität ergab sich oft erst nach wieder­ holten frustrierenden Erlebnissen mit Frauen. In der Therapie liess sich dieses Problem bis zum freudschen Kastrationskomplex und zur Vagina dentata zurück­ verfolgen. Wie wir aber bereits gesehen haben, mussten diese Konzepte jedoch von Grund auf überholt werden, unter Berücksichtigung von perinatalen und transpersonalen Faktoren. Einige meiner Patienten führten ihre Veranlagung zur passiven homosexuel­ len Rolle auf eine unbewusste Identifikation mit der gebärenden Mutter zurück. Dies schloss eine spezielle Kombination von Empfindungen mit ein, die für BPM III typisch sind: das Gefühl, ein biologisches Objektes in sich zu tragen, eine Mischung aus Lust und Schmerz und die Verknüpfung von sexueller Erregung mit Stuhldrang. Sie realisierten, dass es diese Erfahrungskombination war, die sie in ihren homosexuellen Erlebnissen suchten. Auch der Umstand, dass analer Ge­ schlechtsverkehr tendenziell eine stark sadomasochistische Komponente aufwei­ sen kann, dient zur Verdeutlichung der Verbindung zwischen dieser Form männli­ cher Homosexualität und der Dynamik von BPM III. Auf einer oberflächlichen Ebene fanden sich bei meinen Patienten oft biogra­ fische Faktoren, die die Wahl ihrer sexuellen Ausrichtung beeinflussten. Sehr häu­ fig war der Vater entweder nicht mehr vorhanden, oft abwesend oder emotional distanziert, was später in einem sehnsüchtigen Verlangen nach männlicher Zunei­ gung resultierte. Im erwachsenen Mann konnte diese Sehnsucht nach einer inti­ men, liebenden und gefühlvollen Beziehung nur in einer homosexuellen Partner­ schaft befriedigt werden. Häufig bestand auch eine starke Fixierung auf die Mut­ ter, was zu Abgrenzungsproblemen führte und an das Inzesttabu rührte. Die schwulen Männer, die an unserem LSD-Ausbildungszyklus oder an unse­ rem Ausbildungsprogramm für holotropes Atmen teilgenommen haben, hatten wie gesagt keine inneren Konflikte bezüglich ihrer sexuellen Orientierung. In ihren Sitzungen konnten sie ihre sexuelle Neigung auf transpersonale Quellen zurückführen. Einige von ihnen sahen sich von einem bestimmten Archetypen, wie einer kulturspezifischen Variante des Puer aeternus, beeinflusst. Andere konn­

129

ten sich an Erlebnisse aus früheren Leben erinnern, in denen sie eine Frau waren oder in Kulturen lebten, in denen Homosexualität allgemein akzeptiert war oder gar gepriesen wurde, wie dies beispielsweise im alten Griechenland der Fall war. Andere verstanden und akzeptierten ihre Orientierung ganz einfach als ein weite­ res Experiment des kosmischen Bewusstseins oder als eine Variation im universel­ len Entwurf, welche die Neugierde des kreativen Prinzips reflektiert. Was meine Kommentare zur lesbischen Orientierung betrifft, so sind sie mit der gleichen Vorsicht zu geniessen wie die zur männlichen Homosexualität, da auch hier meine Erfahrungen limitiert sind. Ein wichtiger Faktor bei meinen lesbi­ schen Patientinnen war sicherlich ein unbefriedigtes Bedürfnis nach intimem Kon­ takt mit dem weiblichen Körper, was auf eine Periode der emotionalen Entbeh­ rung während der Kindheit schliessen lässt. Wurden diese anaklitischen Bedürf­ nisse nicht hinlänglich befriedigt, so besteht die Gefahr, dass sie im ganzen späte­ ren Leben des Individuums weiter bestehen. Wenn wir erwachsen sind, kann diese unerfüllte tiefe Sehnsucht nur im nichtsexuellen Kontext einer Regressionsthera­ pie erlöst werden. Die andere Alternative - dieses Verlangen in unserem Alltags­ leben stillen zu wollen - resultiert natürlicherweise in einer lesbischen Beziehung. Eine weitere wichtige Komponente, die wir bei einer lesbischen Orientierung vorfinden, scheint die Tendenz zu sein, innerlich zum befreienden Moment der Geburt zurückzukehren, die sich ja in engem Kontakt mit den weiblichen Genita­ lien abwickelt. Dies entspricht im Essenziellen der Psychodynamik bei männlichen Heterosexuellen, die eine spezielle Vorliebe für oral-genitale Praktiken haben. Ein weiteres perinatales Element, das mit der Geburt verknüpft ist, ist die Angst, dominiert, überwältigt und vergewaltigt zu werden, was mit grösserer Wahrschein­ lichkeit in einer Beziehung mit einem männlichen Partner passiert. Sehr oft steu­ ern negative Erlebnisse mit einer Vaterfigur der Kindheit zur Entwicklung einer lesbischen Einstellung bei. Im Allgemeinen jedoch scheint die weibliche Homosexualität weniger mit ne­ gativen perinatalen Matrizen verknüpft zu sein als die männliche. Lesbische Nei­ gungen reflektieren eher positive perinatale Komponenten eines Hingezogenseins zum mütterlichen Organismus (BPM I und BPM IV), während die männliche Ho­ mosexualität mit Erinnerungen an die lebensbedrohliche Vagina dentata assozi­ iert sind. Erotische Kontakte zwischen Frauen scheinen auch natürlicher zu sein, weil der intime Kontakt mit dem weiblichcn Körper etwas ist, das beide Ge­ schlechter in ihrer frühen Kindheit erleben. Das mag auch der Grund dafür sein, warum unsere Gesellschaft der weiblichen Homosexualität mehr Toleranz entge­ genbringt als der männlichen. Wie gewisse homosexuelle Männer haben auch manche Lesbierinnen keinerlei inneren Konflikte mit ihrer Disposition. Die deter­ minierenden Faktoren scheinen hier entweder biologischer oder transpersonaler Natur zu sein. Die erektile Dysfunktion (Impotenz), die Unfähigkeit, zu einer Erektion zu kommen oder diese aufrecht zu erhalten, und die orgiastische Inkompetenz (Frigi­ dität), die Unfähigkeit, einen Orgasmus zu bekommen, haben eine ähnliche psy­

130

chodynamische Grundlagen. Das konventionelle Verständnis dieser Probleme sieht Impotenz als Ausdruck einer sexuellen Schwäche an, als einen Mangel an Manneskraft und Potenz. Die weibliche Orgasmusunfähigkeit wird, wie es im alten Begriff «Frigidität» ausgedrückt ist, normalerweise als sexuelle Kälte und eine feh­ lende erotische Empfänglichkeit angesehen. Meinen Erfahrungen zufolge ist aber genau das Gegenteil der Fall: Beiden Störungen liegt eher ein Zuviel an sexueller Energie zugrunde. Individuen, die an solchen Störungen leiden, stehen unter dem Einfluss von BPM III. Dies verunmöglicht das Empfinden von sexueller Lust ohne die gleich­ zeitige Aktivierung aller anderen Elemente dieser Matrix. Die Intensität der Ener­ gie, aggressive Impulse, die vitale Angst und die Furcht vor vollständigem Kon­ trollverlust - alles Elemente, die typisch für die dritte Matrix sind - verunmögli­ chen den Sexualakt. In beiden Fällen sind die sexuellen Störungen mit COEX-Systemen verbunden, die nebst den perinatalen auch biografische und transpersonale Komponenten haben: karmische Erinnerungen, die sexuellen Missbrauch oder Vergewaltigung mit einschliessen, das Verbinden von Sex mit grossen Schmerzen oder mit Gefahr und ähnliche Themen. Dass das Einbeziehen der perinatalen Dynamik in diesem Kontext Sinn macht, wird empirisch von den Beobachtungen der experimentellen Psychothera­ pie gestützt. Kreieren wir eine nicht-sexuelle Situation, in der die Elemente von BPM III ins Bewusstsein gebracht und die Energien freigesetzt werden können, so kann die Impotenz vorübergehend durch einen Satyriasis genannten Zustand ab­ gelöst werden, der mit einem enormen sexuellen Heisshunger einhergeht. Dies ge­ schieht, weil eine energetische Verbindung zwischen Penis und sexuellen Ener­ gien, die vom Geburtstrauma herrühren, zustande kam. In diesem Moment ist nicht unsere gewöhnliche Libido, sondern diese perinatale Energie am Wirken. Die nun im Überfluss vorhandenen Energien der perinatalen Ebenen können in einem unersättlichen Verlangen nach sexueller Betätigung resultieren. Männer, die zuvor unfähig waren, eine Erektion aufrecht zu erhalten, vollziehen den Liebesakt jetzt problemlos mehrere Male in einer Nacht. Die Entladung ist aber ge­ wöhnlich nicht vollumfänglich befriedigend, und sobald sie den Höhepunkt er­ reicht haben und ejakulieren, beginnt sich die sexuelle Energie von Neuem auf­ zubauen. Weitere nonsexuelle Therapiearbeit ist deshalb vonnöten, damit die Energie sich auf einem Niveau einpendeln kann, das für das sexuelle Leben er­ träglich ist. Auch Frauen, die sich zuvor nicht hingeben und zu keinem Orgasmus kommen konnten, werden mit einem Mal orgasmusfähig, wenn sich, im nicht-sexuellen the­ rapeutischen Rahmen, die Energien aus BPM III freie Bahn brechen können. Die ersten Orgasmen sind dann meist überwältigend. Sie sind oft von unwillkürlichen Schreien begleitet, während der Körper einige Minuten lang heftig durchgeschüt­ telt wird und der Partner zu Hieben und Kratzern kommen kann. Es ist nicht un­ gewöhnlich, dass Frauen in dieser Situation gleich zu multiplen Orgasmen kom­ men. In gewissen Fällen führt diese plötzliche Befreiung zu einer solchen Steige-

131

rung des sexuellen Appetits, dass die gewandelte «Frigidität» in eine vorüberge­ hende Nymphomanie mündet. Wie im Falle der transformierten männlichen Im­ potenz ist auch hier zusätzliche innere Arbeit in einem nicht-sexuellen Umfeld notwendig, will man die Energien auf ein in einem sexuellen Sinne angenehmes Niveau bringen. Das Verständnis der perinatalen Dimension der Sexualität wirft auch ein neu­ es Licht auf den Sadomasochismus, ein Thema, das für Freuds theoretische Spe­ kulationen eine grosse Herausforderung darstellte. Er rang damit bis an sein Le­ bensende, fand jedoch nie zu einer zufrieden stellenden Antwort. Dass sadomaso­ chistisch veranlagte Individuen aktiv nach peinigenden Situationen suchten, stand im völligen Widerspruch zu einem der Eckpfeiler seines frühen theoretischen Konzepts, dem so genannten Lustprinzip. Dieses Modell sieht das Anstreben von Lust und das Vermeiden alles Unangenehmen als die stärkste Antriebskraft unse­ rer Psyche an. Freud konnte zudem nicht verstehen, wie diese eigenartige Verbin­ dung zwischen den beiden grundlegenden Instinkten Sexualität und Aggression, das eigentliche Kennzeichen von Sadomasochismus, zustande kam. Der Umstand, dass Sadomasochismus und andere Zustände «jenseits des Lustprinzips» trotzdem existierten, brachte Freud schliesslich dazu, seinen frühen Theorien abzusagen und ein komplett neues psychoanalytisches System zu konzi­ pieren, das den umstrittenen «Thanatos», den Todestrieb, mit einbezog (Freud 1955, 1964). Obwohl Freud Tod und Geburt explizit nie miteinander in Verbin­ dung brachte, reflektieren seine späten Spekulationen doch die intuitive Einsicht, dass Sadomasochismus mit der Problematik von Leben und Tod verknüpft ist, so­ dass eine valable psychologische Theorie die Problematik des Sterbens mit einbe­ ziehen muss. Diesbezüglich war Freud seinen Nachfolgern ganz klar weit voraus. Die Theorien, die einige von ihnen zwecks Erklärung des sadomasochistischen Verhaltens formulierten, erschöpften sich zumeist im Eruieren relativ trivialer bio­ grafischer Erlebnisse. So brachte beispielsweise Kucera (1959) Sadomasochismus mit der Zahnung in Verbindung, wenn das aktive Beissenwollen des Kindes schmerzhaft wird. Erklärungen dieser Art rühren noch nicht einmal ansatzweise an die Tiefen, in denen die sadomasochistischen Impulse entstehen. Die Verbindung von sexueller Erregung, physischer Bedrängnis, Schmerzen und Erstickungsgefühlen, wie sie für BPM III typisch ist, lässt uns sadomasochisti­ sche Praktiken wie Fesseln oder Gefesseltwerden besser verstehen. Sexualität wird hier in ihrer Verbindung mit Aggression und dem Zufügen oder Erleiden von Schmerzen erlebt. Individuen, die Sexualität im Zusammenhang mit physischer Bedrängnis, mit Dominanz und Unterwerfung, mit Beinahe-Erwürgen, -Erdros­ seln oder -Ersticken ausleben müssen, tun dabei nichts anderes, als jene Mischung von Gefühlen zu wiederholen, die sie während ihrer Geburt erlebten. Die domi­ nanten Elemente solcher Praktiken sind perinataler und nicht sexueller Natur. Sa­ domasochistische Praktiken und Visionen kommen deshalb auch oft in Sitzungen vor, die von BPM III beherrscht sind.

132

Das Bedürfnis, sadomasochistische Situationen zu kreieren und die oben be­ schriebenen unbewussten Komplexe zu veräusserlichen, stellt nicht nur ein symp­ tomatisches Verhalten dar, sondern auch einen erfolglosen Versuch der Psyche, sich zu reinigen und die traumatischen Eindrücke zu integrieren. Der Grund, war­ um diese Bemühungen nicht erfolgreich sein können und keine Selbstheilung er­ folgt, liegt im Umstand, dass sie nicht tief genug ins Unbewusste reichen und es an Introspektion, Einsicht und Verständnis bezüglich der Natur der ablaufenden Pro­ zesse fehlt. Der Komplex wird ausagiert, ohne dass dessen unbewusste Quellen er­ kannt oder wahrgenommen werden. Das Gleiche gilt auch für Koprophilie, Koprophagie und Urolagnie, sexuelle Abweichungen, die sich im Bedürfnis äussern, Fäkalien und Urin in den Sexualakt einzubeziehen. Personen mit solchen Störungen wünschen mit biologischem Ma­ terial in Berührung zu kommen, welches gemeinhin als abstossend empfunden wird, sie aber sexuell erregt, und inkorporieren es in ihr Sexualleben. In extremen Fällen kommt es nur dann zu einer sexuellen Befriedigung, wenn der Partner über den Betreffenden uriniert oder defäkiert, wenn die Person sich mit Fäkalien be­ schmiert, die Exkremente isst oder den Urin trinkt. Das kombinierte Auftreten von sexueller Erregung und skatologischen Ele­ menten finden wir typischerweise im Endstadium des Tod-und-WiedergeburtsProzesses vor. Dies scheint den Umstand zu reflektieren, dass bei Geburten, in de­ nen kein Katheter eingesetzt und kein Einlauf vorgenommen wird, das Kind nicht nur mit Blut, Schleim und Fruchtwasser, sondern auch mit Fäkalien und Urin in Kontakt kommt. Die natürliche Grundlage für diese scheinbar extreme und bizar­ re sexuelle Abweichung scheint der orale Kontakt mit Fäkalien und Urin im Mo­ ment der Geburt zu sein; wenn nach vielen Stunden des qualvollen Kampfes der Kopf des Kindes endlich aus dem Klammergriff des Geburtskanals befreit wird. Der intime Kontakt mit diesem Material wird zu einem Symbol der orgasmischen Befreiung - und die notwendige Voraussetzung, um diesen Zustand wieder zu er­ reichen. In der psychoanalytischen Literatur wird behauptet, dass das Kleinkind, seiner essenziell animalischen Natur wegen, sich anfänglich von den verschiedenen bio­ logischen Materialien angezogen fühlt. Eine Abscheu davor entwickle es erst spä­ ter, als Resultat elterlicher und sozialer Massregelungen. Beobachtungen aus der psychedeIischen Forschung zeigen aber, dass dem nicht unbedingt so ist. Die Ein­ stellung biologischem Material gegenüber wird wesentlich von den Geburtsum­ ständen mitbestimmt. Je nach Art des Kontaktes mit diesem Material ist die be­ treffende Person später dazu positiv oder negativ eingestellt. In einigen Fällen empfindet das Kind den Kontakt mit Vaginalschleim, Urin oder Fäkalien schlicht als etwas, das zum psychischen Befreiungsprozess gehört. In anderen Fällen gelangt das Material in die Atemwege, verstopft diese und führt zu Erstickungsängsten. In extremen Fällen kann das Leben des Neugeborenen nur noch durch ein Absaugen und Reinigen von Luftröhre und Bronchien gerettet

133

werden. Dies sind zwei radikal voneinander verschiedene Varianten einer ersten Begegnung mit biologischem Material, die eine positiv, die andere Angst einflössend und traumatisch. Wenn während des Entbindungsprozesses die Atmung vor­ zeitig ausgelöst wird und das inhalierte biologische Material das Leben des Kindes gefährdet, können die dabei empfundenen Panikgefühle die Basis für künftige Zwangsneurosen legen. Eine reiche Quelle von faszinierenden Informationen über sexuelle Abwei­ chungen ist A S exual P rofile of M en in P ower von Janus, Bess und Saltus (1977). Ihre Studie basiert auf über siebenhundert Stunden Interviews mit Edel­ prostituierten der Ostküste der Vereinigten Staaten. Anders als die meisten Auto­ ren waren sie weniger an den Prostituierten interessiert als vielmehr an ihren Kun­ den, namentlich an deren Präferenzen und Gewohnheiten. Zu den Klienten gehör­ ten viele prominente Vertreter aus Politik, Wirtschaft und Justiz. Die Auswertung der Interviews ergab, dass nur die allerwenigsten Kunden einfachen Geschlechtsverkehr wollten. Die meisten von ihnen waren an verschie­ denen ungewöhnlichen bis abartigen erotischen Praktiken interessiert: wie Bondage, Auspeitschen und ähnlichen Torturen. Manch einer war bereit, für psycho­ dramatische Inszenierungen mit komplexen Handlungsabläufen sadomasochisti­ scher Art viel Geld auszugeben. Einer wünschte sich beispielsweise die realistische Inszenierung einer Situation, in welcher er die Rolle eines amerikanischen Piloten während des Zweiten Weltkriegs spielte, der angeschossen und in Nazideutsch­ land gefangen genommen wurde. Die Prostituierten mussten sich als bestialische Gestapofrauen ausgeben, sich so kleiden und hohe Stiefel und Militärhelme tra­ gen. Ihre Aufgabe bestand darin, den Klienten verschiedenen, ausgeklügelten Fol­ termethoden zu unterziehen. Zu den häufig verlangten und hoch bezahlten Praktiken zählten auch die «gol­ dene» und die «braune Dusche» - in einem sexuellen Rahmen wird auf die Kun­ den uriniert oder defäkiert. Wenn, immer gemäss den Schilderungen der Callgirls, das sadomasochistische und/oder skatologische Erlebnis den Kulminationspunkt erreicht hatte und die Klienten zum Orgasmus kamen, regredierten sie gewöhnlich in einen infantilen Zustand. Sie wollten gehalten werden, an den Brüsten saugen und wie kleine Babys behandelt werden. Dieses Verhalten stand in einem scharfen Kontrast zu dem Image, welches diese Männer im Alltag von sich zu statuieren versuchten. Die Autoren interpretierten ihre Entdeckungen in einem strikt biografischen Sinne und entsprechend den freudschen Theorien. Unter anderem führten sie das Verlangen nach Torturen auf elterliche Strafmassnahmen, die goldene und die braune Dusche auf Probleme in der Sauberkeitserziehung und das Verlangen nach der Brust auf frustrierte Bedürfnisse während der Stillzeit oder eine Mutterfixie­ rung zurück. Bei einer näheren Betrachtung wird jedoch ersichtlich, dass diese Klienten die klassischen perinatalen Themen auslebten, und weniger irgendwelche postnatalen Kindheitserinnerungen. Die Kombination von Schmerz, Folter, se­ xueller Erregung, skatologischen Elementen und anschliessendem regressiv-ora­

134

len Verhalten deuten unmissverständlich auf die Aktivierung von BPM III und BPM IV hin. Ich möchte kurz noch ein weiteres Beispiel anführen, das die Verbindung von gewissen sexuellen Praktiken mit dem perinatalen Prozess illustrieren soll. Einer meiner australischen Freunde, der eine Grossstadtprostituierte therapierte und deshalb über die Situation in der sexuellen Unterwelt dieser Stadt bestens Be­ scheid wusste, erzählte mir, welchcs dort die beliebteste und meist verlangte Dienstleistung war: Der Freier konnte sich zusammen mit drei Teenagern in einem speziellen Raum einschliessen, die Mädchen waren alle als Nonnen verkleidet. Während er sie jagte und zu vergewaltigen versuchte, mussten sie so tun, als wür­ den sie in Panik geraten, und sich wehren und zu fliehen versuchen. Dabei ertönte aus mehreren Lautsprechern sakrale Musik, etwa eine Messe von Gounod oder Mozarts «Requiem». Diese Kombination von Sex, Aggression und spirituellen Elementen ist sehr typisch für den Übergang von BPM III zu BPM IV. Die Schlüsse, die Janus, Bess und Saltus aus ihren Aufzeichnungen zogen, be­ dürfen spezieller Erwähnung. Die Autoren appellierten an das amerikanische Volk, sie möchten ihre Politiker und sonstigen Prominenten in sexueller Hinsicht nicht als Vorbilder ansehen. Schaut man sich ihre Erkenntnisse an, scheint diese Befürchtung aber sowieso unbegründet zu sein. Diese lassen nämlich erkennen, dass ein exzessiver Sexualtrieb zusammen mit dem Hang zu abweichendem Sex aufs Engste mit einem extremen Ehrgeiz verknüpft ist, den es in der heutigen Ge­ sellschaft braucht, um eine erfolgreiche öffentliche Person zu werden. Deshalb sollten uns die Skandale in den höchsten sozialen und politischen Kreisen nicht er­ staunen: die Profumo-Affäre, die das britische Parlament erschütterte, die Eska­ paden eines Ted Kennedy, die dessen Chancen als Präsidentschaftskandidat zu­ nichte machten, die kleinen Sünden John F. Kennedys, mit denen dieser die natio­ nale Sicherheit aufs Spiel setzte, oder die sexuellen Extravaganzen von Bill Clin­ ton, welche die amerikanische Politik für viele Monate lahm legten. Wenn wir die Existenz perinataler Wurzeln anerkennen, bietet sich uns auch eine überraschende Lösung bezüglich des alten Zwistes zwischen Sigmund Freud und Alfred Adler, ob nun der Sexualtrieb oder der Wille zur Macht die dominan­ te Kraft in der menschlichcn Psyche sei. Laut Freud ist die stärkste Kraft, die un­ sere Gedanken, Gefühle und Verhaltensweisen antreibt, das Streben nach sexuel­ ler Befriedigung. Und wir wollen Macht, weil diese uns begehrenswerter macht und unsere sexuellen Chancen vergrössert. Für Adler sind die entscheidenden mo­ tivierenden Elemente in der Psyche ein Gefühl der Minderwertigkeit und der ent­ schlossene Wille, diese (über) zu kompensieren - durch ein Streben nach Macht: der «männliche Protest», wie er es nannte. Was wir am meisten begehren, ist Macht, und wir benutzen Sex, um diese zu erlangen und unsere Stellung in der Welt zu verbessern. Nach Janus, Bess und Saltus müssen ein starker Sexualtrieb und extremer Ehr­ geiz sich jedoch nicht widersprechen, sondern sie sind die beiden Seiten ein und derselben Münze. Diese Vorstellung steht in perfektem Einklang mit dem perina­

135

talen Modell, welches die beiden Kräfte aus BPM III als untrennbar miteinander verknüpft ansieht. Wie wir gesehen haben, führen die Erstickungsängste und die schmerzhaften Erfahrungen im Geburtskanal zu extremen sexuellen Empfindun­ gen, die sich entladen möchten. Und die Konfrontation mit den elementaren Kräf­ ten der Gebärmutterkontraktionen zusammen mit den enormen Widerständen im Geburtskanal bewirken, dass sich der Fötus hilflos und unnütz vorkommt. Gleich­ zeitig aber wird durch die akute Bedrohung der Überlebensinstinkt geweckt, in ei­ ner verzweifelten Anstrengung wird versucht, der Lage Herr zu werden. Ereignis­ se im späteren Leben können dann COEX-Systeme generieren, die je nachdem das eine oder andere Element dieser komplementären Dyade verstärken. Auch extreme Formen der kriminellen Sexualpathologie, wie Vergewaltigung, sadistische Tötung oder Nekrophilie, weisen klare perinatale Wurzeln auf. Perso­ nen, die sexuelle Aspekte von BPM III erlebten, sagen oft, dass diese Geburtspha­ se viel mit einer Vergewaltigung gemein hat. Der Vergleich macht Sinn, wenn man sich die wesentlichen Grundzüge der Vergewaltigung vor Augen führt. Für das Opfer beinhaltet die Situation Lebensgefahr, Angst, Schmerz, physische Nötigung, Befreiungskampf, Erstickungsgefühle und eine aufgezwungene sexuelle Erregung. Der Vergewaltiger erlebt das Gegenteil: Er ist selbst die Gefahr, er bedroht, fügt Schmerzen zu, würgt und nötigt zu sexueller Erregung. Aus der Sicht des Opfers hat dieses Erlebnis vieles mit der Erfahrung im Geburtskanal gemein, während der Vergewaltiger die introjizierten Kräfte der Gebärmutterkontraktionen auslebt und gleichzeitig an einem Mutterersatz Rache nimmt. Wenn Erinnerungen aus BPM III an die Bewusstseinsoberfläche gelangen, üben sie einen starken psychischen Druck auf das Individuum aus und veranlassen es, Elemente von BPM III im Alltag auszuleben, sich etwa an gewalttätigem Sex zu beteiligen oder gar unbewusst gefährliche sexuelle Situationen einzuladen. Selbst wenn dieser Mechanismus nicht auf alle Gewaltopfer angewendet werden kann, spielt er doch in vielen Fällen eine wichtige Rolle. Obschon klar selbstzerstöreri­ scher Natur, beinhalten diese Verhaltensweisen doch auch einen unbewussten Heilungsimpuls. Werden ähnliche Erfahrungen im Kontext einer experimentellen Therapie gemacht und dabei Einsichten in die unbewussten Kräfte gewonnen, dann führt dies zur Heilung und zu einer psychospirituellen Transformation. Wegen der Ähnlichkeiten zwischen Vergewaltigung und Geburt leidet ein Vergewaltigungsopfer an einem psychischen Trauma, das nicht nur dem eben er­ fahrenen Schmerz entspringt, sondern vielmehr auch auf das Zusammenbrechen der Schutzmechanismen zurückzuführen ist, welche das Individuum vor der Erin­ nerung an die eigene Geburt schützte. Die häufigsten emotionalen Langzeitschäden nach Vergewaltigungen rühren wahrscheinlich von der Tatsache her, dass pe­ rinatale Emotionen und psychosomatische Manifestationen ins Bewusstsein ge­ langten. Eine Therapie müsste deshalb auch die Verarbeitung des Geburtstraumas zum Ziel haben. Noch offensichtlicher ist der Einfluss der dritten perinatalen Matrix beim sadistischen Mord, der mit der Vergewaltigung eng verwandt ist. Zur Entladung

136

sexueller und aggressiver Impulse gesellen sich hier Elemente von Tod, Zerstümmelung und Zergliederung, skatologische Faktoren, Blut und Gedärme. Diese Kombination weist klar auf ein Wiedererleben der letzten Stadien der Geburt hin. Ebenso ist die Dynamik des sadistischen Mordes eng verwandt mit derjenigen des blutigen Selbstmordes. Der Unterschied besteht darin, dass das Individuum beim Mord nur die Rolle des Aggressors, beim Selbstmord jedoch auch die Rolle des Opfers übernimmt. In letzter Konsequenz sind die beiden Rollen einfach se­ parate Aspekte der gleichen Persönlichkeit: Der Aggressor reflektiert die Introjektion der zerstörerischen Kräfte im Geburtskanal, das Opfer die Erinnerungen des Kindes an die Geburt. Eine ähnliche Kombination von Elementen, aber in etwas anderen Verhältnis­ sen, scheint auch dem klinischen Bild der Nekrophilie zugrunde zu liegen. Nekro­ philie kommt in vielen verschiedenen Formen und Intensitäten vor-von harmlos bis kriminell. Harmlosere Formen sind die sexuelle Erregung bei der Betrachtung von Leichen oder die Anziehung, welche Friedhöfe, Gräber und damit verbunde­ ne Gegenstände auf das Individuum ausüben. Bei ernsthafteren Formen von Nek­ rophilie findet man eine Faszination für Verwesung und Zerfall, es besteht das Verlangen, Leichen zu berühren, zu riechen oder zu schmecken. Die nächste Stu­ fe ist dann die erotisch motivierte Manipulation von Leichen, die im Vollzug des Geschlechtsakts mit toten Körpern in Leichenschauhäusern oder auf Friedhöfen kulminiert. Extremfälle dieser sexuellen Perversion kombinieren das Schänden der Leiche mit Akten des Zerstümmelns und Zergliederns und mit Kannibalismus. Die Ana­ lyse der Nekrophilie offenbart eine Mischung von Sexualität, Tod, Aggression und Skatologie, die der dritten perinatalen Matrix zugeordnet werden können. Die tiefsten Wurzeln dieser Störung führen durch eine phylogenetische Regression ins Reich der Tiere und zur Identifikation mit dem Bewusstsein von Aasfressern.

Psychosomatische Manifestationen emotionaler Störungen Emotionale Störungen wie Psychoneurosen, Depressionen und funktionelle Psy­ chosen manifestieren sich in Form von Kopfschmerzen, Herzflimmern, Schweissausbrüchen, Ticks, Zittern, psychosomatischen Schmerzen und Hautkrankheiten. Ebenso häufig sind Magen-Darm-Störungen wie Übelkeit, Appetitlosigkeit, Ver­ stopfung und Durchfall. Typische Begleiterscheinungen emotionaler Probleme sind sexuelle Dysfunktionen wie das Ausbleiben der Menstruation oder Unregel­ mässigkeiten im Zyklus, Menstruationskrämpfe oder schmerzhafte Vaginal­ krämpfe beim Geschlechtsverkehr. Wie wir bereits gesehen haben, können erekti­ le Dysfunktion und Orgasmusunfähigkeit neurotische Probleme begleiten oder aber auch als selbständige, primäre Symptome auftreten. In einigen Psychoneurosen wie etwa der Konversionshysterie sind die physi­ schen Symptome sehr ausgeprägt und stellen die hauptsächliche Charakteristik der Störung dar. Das gilt auch für eine weitere Kategorie von Störungen, die in der

137

Bild aus einer holotropen Atemsitzung, in der die Künstlerin das Gefühl hatte, in ihrem Magen sei ein kleiner Mann gefangen. Sie spürte, dass diese Gestalt etwas mit der Psychodynamik ihrer Übelkeitsgefühle und der Bulimie, an der sie litt, zu tun hatte. Von besonderer Bedeutung schien ihr die ausgestreckte grüne Zunge des Mannes zu sein. Die Übelkeit und der Ekel, die sie empfand, sind hier äusserst gekonnt dargestellt. (Kathleen Silver)

klassischen Psychoanalyse als prägenitale Neurosen bezeichnet werden, wie Ticks, Stottern oder psychogenes Asthma. Diese Zustände sind eine Mischform aus Zwangsneurose und Konversionshysterie. Die Persönlichkeitsstruktur ist zwang­ hafter Art, aber die Abwehrmechanismen und die Symptombildung basieren auf Konversion wie bei der Hysterie. Des Weiteren existiert eine ganze Reihe von me­ dizinischen Störungen, die so offensichtlich psychologischen Ursprungs sind, dass selbst die traditionelle Medizin sie psychosomatische Krankheiten nennt. In diese Kategorie gehören Kopfweh, Migräne, erhöhter Blutdruck, Koliken, Magengeschwüre, psychogenes Asthma, Psoriasis, verschiedene Ekzeme und in

138

manchen Fällen auch Arthritis. Ärzte und Psychiater akzeptieren zwar die psy­ chogene Natur dieser Störungen, liefern aber keine plausiblen Erklärungen für de­ ren Mechanismen. Ein Grossteil der klinischen Arbeit, theoretischen Spekula­ tionen und Forschungen geht noch heute auf die Ideen des Psychoanalytikers Franz Alexander, den Begründer der psychosomatischen Medizin, zurück. 1935 präsentierte Alexander ein theoretisches Modell zur Erklärung des psychosomati­ schen Mechanismus. Sein wichtigster Beitrag war die Erkenntnis, dass psychoso­ matische Symptome aus physiologischen Begleiterscheinungen psychologischer Konflikte und Traumata resultieren. Laut Alexander wandeln sich starke Emotio­ nen wie Angst, Wut und Besorgnis in physiologische Reaktionen um, die zur Ent­ wicklung psychosomatischer Symptome und Krankheiten führen können (Alexan­ der 1950). Alexander unterschied Konversionsreaktionen und psychosomatische Störun­ gen. Konversionsreaktionen haben eine symbolische Bedeutung und dienen als Abwehr gegen Angst, wie das bei Psychoneurosen der Fall ist. Bei psychosomati­ schen Störungen hingegen können emotionale Zustände zwar auf traumatische Erlebnisse, neurotische Konflikte oder krankhafte zwischenmenschliche Bezie­ hungen zurückgeführt werden, aber die Symptome haben keine Funktion. Sie zei­ gen das Versagen des psychologischen Mechanismus an, der das Individuum vor übermässigen affektiven Reaktionen schützen sollte. Alexander betonte, dass die Somatisierung von Emotionen nur bei Individuen vorkomme, die eine Veranla­ gung dazu hätten, und nicht bei gesunden Menschen. Die Definition der Art dieser Veranlagungen steht aber bis heute noch aus, weder Alexander noch seine Nach­ folger konnten bisher eine vorstellen. Sechs Jahrzehnte später finden wir auf dem Gebiet der psychosomatischen Medizin noch immer eine enttäuschende Situation vor. Es herrscht ein Mangel an Einigkeit in der Frage, was nun der Mechanismus der Psychogenese somatischer Symptome sei. Keines der bisherigen Konzepte ist zufrieden stellend (Kaplan und Kaplan, 1967). Das Fehlen von Antworten ist darauf zurückzuführen, dass viele Autoren von der Idee der Multikausalität angetan sind. Demnach würden nicht nur psychologische Faktoren eine Rolle bei der Entstehung von psychosomati­ schen Störungen spielen, sondern auch Konstitution, Vererbung, Organisches, Ernährung, Umwelt sowie soziale und kulturelle Faktoren. Da diese nicht er­ schöpfend spezifiziert werden können, bleibt die Frage nach der Ätiologie psycho­ somatischer Störungen nach wie vor unbeantwortet. Wie wir bereits gesehen haben, erbrachten psychedelische Therapie und Ho­ lotropes Atmen den Beweis, dass postnatale traumatische Erlebnisse nicht allein für die Entwicklung emotionaler Störungen verantwortlich sein können. Dies gilt umso mehr für psychosomatische Symptome. Konflikte, Abhängigkeiten, der Ver­ lust wichtiger Bezugspersonen, frühkindliche Beobachtungen des elterlichen Ge­ schlechtsaktes und ähnliche, von Psychoanalytikern ins Feld geführte Erlebnisse können keine physiologischen Störungen und psychosomatischen Symptome von solcher Natur und Intensität heraufbeschwören.

139

Im Licht der aus Selbsterforschungstherapien gewonnenen Einsichten erschei­ nen alle psychoanalytischen Theorien, welche psychosomatische Krankheiten ein­ zig auf postnatale traumatische Erlebnisse zurückführen, oberflächlich und nicht sehr überzeugend. Ebenfalls unglaubwürdig ist die Annahme, dass solche Störun­ gen in Gesprächstherapien wirksam geheilt werden können. Die holotrope For­ schung hat Theorie und Therapie psychosomatischer Störungen wesentlich berei­ chert. Die wohl wichtigste Erkenntnis ist, dass hinter jedem psychosomatischen Symptom eine Unmenge blockierter Energie liegt. Dass rein biografische Traumata die Ursache für funktionelle Störungen und Organschäden sein sollen, kann ernsthaft bezweifelt werden. Eine vernünftige Er­ klärung hingegen liegt in den elementaren, zerstörerischen Kräften, die sich in ho­ lotropen Zuständen manifestieren. Wilhelm Reich, der brillante, abtrünnige Pio­ nier der Psychoanalyse, bestätigte diese Ansicht. Eigene therapeutische Beobach­ tungen führten ihn zur Annahme, dass emotionale und psychosomatische Störun­ gen hauptsächlich auf Stauungen und Blockaden riesiger Mengen von Bioenergie in Muskeln und Organen, den so genannten Charakterpanzer, zurückzuführen sind (Reich 1949,1961). Hier aber enden die Parallelen zwischen Reichs Psychologie und der holotro­ pen Atemarbeit. Denn für Reich waren diese angestauten Energien sexueller Na­ tur, während er die Blockaden dem repressiven Einfluss einer im Widerstreit mit der sexuellen Erfüllung liegenden Gesellschaft zuschrieb. So glaubte er, dass sich unverbrauchte sexuelle Energie stetig ansammelt, bis sie ihren Ausdruck in Per­ versionen und neurotischen oder psychosomatischen Symptomen findet. Die Ar­ beit mit holotropen Zuständen liefert aber eine vollkommen andere Erklärung. Sie zeigt, dass die Energien, die sich in unserem Organismus ballen, nicht aus der Libido, sondern aus der in COEX-Systemen gebundenen Anspannung stammen. Teile dieser Energien gehören in die biografischen Ebenen dieser Systeme, welche Erinnerungen psychischer und physischer Traumata aus Säuglingsalter und Kindheit beinhalten. Weitere Teile dieser Energie sind perinatalen Ursprungs und drücken aus, dass Geburtserinnerungen nicht verarbeitet wurden und deshalb die Gestalt emotionaler und physischer Störungen annehmen. Während des Geburts­ vorgangs generiert die Stimulierung der Neuronen geballte Energieladungen, die wegen der Enge des Geburtskanals nicht freigesetzt werden können. Wohl wegen des starken Aufkommens sexueller Lust in BPM III hielt Reich diese Energie für angestaute Libido. In manchen Fällen können auch pränatale traumatische Erlebnisse zur negati­ ven Besetzung von COEX-Systemen und zur Entstehung von psychosomatischen Symptomen führen, namentlich in schwierigen vorgeburtlichen Lebensläufen mit starker emotionaler oder physischer Belastung der Schwangeren, bei einer dro­ henden Fehlgeburt, Abtreibungsversuchen, Schwangerschaftsvergiftungen oder Rhesus-Faktor-Unverträglichkeiten. Noch tiefer liegende Energiequellen, die psy­ chosomatische Störungen auslösen, lassen sich im transpersonalen Bereich ausma­

140

chen, und insbesondere in karmischen und archetypischen Elementen, wie das Beispiel von Norbert (siehe S. 89f.) zeigt. Beobachtungen aus experimentellen Therapien streichen heraus, dass die trei­ benden Kräfte hinter psychosomatischen Manifestationen nicht psychische, son­ dern unassimilierte physische Traumata sind, wie sie durch Kinderkrankheiten, Operationen, Verletzungen oder Situationen des Beinahe-Ertrinkens hervorge­ rufen werden können. Auf tieferen Ebenen stehen die Symptome in Verbindung mit dem Trauma der Geburt und sogar mit früheren Inkarnationen. Psychosoma­ tische Schmerzen können mit vergessenen Erinnerungen an Unfälle, Operationen oder Krankheiten aus Säuglingsalter, Kindheit und dem späteren Leben, aber auch von Geburtsschmerzen oder körperlichen Leiden früherer Inkarnationen zu tun haben. Dies steht in scharfem Kontrast zu den Lehren vieler psychodynamischer Schulen, welche die Entstehung psychosomatischer Symptome psychologischen Konflikten und Traumata zuschreiben. Diese würden sich in der Körpersprache niederschlagen und sich «somatisieren». Emotionale Anziehung oder Abstossung entsprächen demnach Verstopfung oder Durchfall, und Nackenschmerzen könn­ ten bedeuten, dass jemand zuviel Verantwortung «auf seine Schultern geladen hat». Über Magenprobleme klagen Menschen, die etwas nicht «schlucken» oder «verdauen» können. Hysterische Lähmung ist Abwehr gegen die verwerfliche se­ xuelle Aktivität des Kindes. Atemschwierigkeiten werden verursacht von einer «erdrückenden» Mutter, Asthma ist der «Schrei nach der Mutter», Druck auf der Brust «schwere Besorgnis», Stottern sind unterdrückte Aggressionen, und der Zwang, Obszönitäten auszustossen, sowie Hautkrankheiten ein Schutz gegen se­ xuelle Versuchungen. Ein psychologisches System, das die herausragenden Auswirkungen physi­ scher Traumata anerkennt, ist Ron L. Hubbards Scientology (Hubbard 1950). Scientologen erkannten die Bedeutung physischer Verletzungen in ihrem Audi­ ting. Bei dieser Therapieform werden Galvanometer eingesetzt, welche den Wi­ derstand der Haut messen und die emotionale Belastung dessen anzeigen, was in der Sitzung besprochen wird. Dieses Echo wird zum Führungsinstrument des Au­ ditors und gibt diesem die Richtung an, in welcher er seine Befragung fortsetzen soll. Der Galvanometer ist ein Werkzeug von unschätzbarem Wert bei der Ent­ deckung von emotional relevantem Material. In holotropen Zuständen wird diese Funktion automatisch vom «inneren Radar» übernommen. Das theoretische System von Scientology anerkennt nicht nur physische Trau­ mata des nachgeburtlichen Lebens, sondern auch das Trauma der Geburt sowie somatische Traumata aus früheren Inkarnationen. Hubbard nannte die physischen Traumatisierungen Engramme und betrachtete sie als die primären Quellen von emotionalen Problemen. Gewöhnliche psychische Traumata bezeichnete er hinge­ gen als sekundär, denn ihre emotionale Kraft sei lediglich von den Engrammen ausgeliehen. Die bodenständigen Aspekte von Hubbards Konzepten zeigen eine

141

gewisse Ähnlichkeit mit dem Material, das in diesem Buch besprochen wird (Gormsen und Lumbye 1979). Unglücklicherweise brachten aber Machtmiss­ brauch und Geldgier unter den Scientologen sowie Hubbards wilde Spekulationen über ausserirdische Einflüsse seine interessanten theoretischen Beiträge in Verruf. Die Arbeit mit holotropen Zuständen gewährt Einsichten in die Dynamik psy­ chosomatischer Störungen. Es ist deshalb nicht erstaunlich, wenn in psychedeli­ schen oder holotropen Sitzungen vorübergehend Anfälle von Asthma oder Migrä­ ne oder gar Hautausschläge in statu nascendi beobachtet werden können. Auf der anderen Seite schildern viele Therapeuten, welche dank der Anwendung experi­ menteller Techniken dauerhafte Heilerfolge erzielen, dass der wirkungsvollste Mechanismus das Erleben physischer Traumata, des Geburtstraumas sowie trans­ personaler Erfahrungen sind. Aus Platzgründen muss ich an dieser Stelle leider auf die detaillierte Beschrei­ bung diesbezüglicher neuer Erkenntnisse verzichten. Ich möchte hierzu deshalb auf einige meiner früheren Arbeiten verweisen (Grof 1980,1985).

Autistische und symbiotische infantile Psychosen, narzisstische Persönlichkeiten und Borderline-Kustände Pioniere der Ich-Psychologie wie Margaret Mahler, Otto Kernberg, Heinz Kohut und andere fügten der klassischen psychoanalytischen Klassifizierung neue dia­ gnostische Kategorien hinzu, welche gemäss den Autoren auf Störungen der Ob­ jektliebe gründen. Eine gesunde psychische Entwicklung schreitet von der autisti­ schen und symbiotischen Phase des primären Narzissmus durch einen Prozess von Trennung und Individuation und gelangt schliesslich zur konstanten Objektliebe. Erschütterungen dieses Prozesses sowie der Mangel an Befriedigung grundlegen­ der Bedürfnisse in frühen Phasen können Störungen verursachen, die je nach Stär­ ke oder Zeitpunkt der Widrigkeiten zu autistischen und symbiotischen infantilen Psychosen sowie zu narzisstischen oder Borderline-Persönlichkeitsstörungen führen können. Literatur aus der Psychologie liefert eine ungewöhnlich detaillierte und verfei­ nerte Analyse von Störungen der Objektliebe. Und trotzdem anerkennen auch Ich-Psychologen nicht an, dass postnatale biografische Ereignisse in und aus sich selbst nicht für die Symptomatologie emotionaler Störungen verantwortlich sein können. Beobachtungen aus holotropen Zuständen zeigen, dass Traumata aus dem Säuglingsalter zwar ernsthafte Folgen für die Psyche des Individuums haben können, aber nicht nur, weil sie einem unreifen Organismus widerfahren und sei­ ne Grundlagen erschüttern, sondern auch, weil sie einer Erholung vom Geburts­ trauma entgegenwirken und somit den Zugang zu perinatalen Ebenen des Unbewusstseins weit offen lassen. Die Begriffe, welche die Ich-Psychologie zur Beschreibung postnataler Dyna­ mik verwendet, offenbaren zugrunde liegende pränatale und perinatale Dimensio­ nen. Die symbiotische Befriedigung, welcher Ich-Psychologen grosse Bedeutung beimessen, besteht nicht nur in der Qualität des Stillens und der anaklitischen Be­

142

friedigung im Säuglingsalter, sondern auch in der Qualität des vorgeburtlichen Zu­ stands. Dasselbe gilt auch für die negativen Folgen der symbiotischen Entbehrung. Ich möchte hier Margaret Mahler zitieren: «In der symbiotischen Phase lebt und funktioniert der Säugling, als seien er und seine Mutter ein allmächtiges System (eine doppelte Einheit) mit einer einzigen gemeinsamen Grenze - als gäbe es eine symbiotische Membran.» (Mahler 1961). In diesem Sinne signalisiert auch die Re­ gression zu einem Zustand des Autismus und der Objektunbezogenheit klar die psychologische Rückkehr zum Mutterschoss und nicht nur zum frühen postnatalen Zustand. Ein weiterer wichtiger Aspekt gestörter Objektliebe weist klar auf eine peri­ natale Dynamik hin. Die Einteilung der Objektwelt in Gut und Böse, wie dies bei Borderline-Persönlichkeiten der Fall ist, reflektiert nicht nur die Unbeständigkeit der Mutterschaft (die «gute» oder die «schlechte» Mutter) der Ich-Psychologen. Auf einer tieferen Ebene entspringt diese Einteilung der zwiespältigen Rolle, wel­ che die Mutter, selbst unter den besten Voraussetzungen, im Leben ihres Kindes spielt. Während sie prä- und postnatal das Leben spendende und erhaltende Prin­ zip repräsentiert, verwandelt sich die Mutter während der Geburt in ein lebensbe­ drohliches Element. An infantiler symbiotischer Psychose leidende Kinder, die innerlich gefangen sind zwischen der Angst vor Trennung und der Angst vor dem Verschlungenwer­ den, beziehen sich eher auf das Trauma der Geburt als auf den Übergang vom primären Narzissmus zur Objektliebe. Auch der intensive Zorn, der diesen Pati­ enten eigen ist, ist perinatalen Ursprungs.

Die Psychodynamik psychotischer Stadien bei Erwachsenen Trotz enormer Investitionen an Geld, Energie und Zeit in die psychiatrische For­ schung bleibt das Wesen des psychotischen Prozesses nach wie vor ein Mysterium. Systematische Studien haben zwar verschiedene Ursachen zutage gefördert, etwa konstitutionelle, genetische und biologische Faktoren, hormonelle und biochemi­ sche Veränderungen oder psychische, soziale und ökologische Determinanten. Doch keiner dieser Faktoren kann allein eine zufrieden stellende Erklärung der Ätiologie der funktionalen Psychose liefern. Selbst wenn Biologie und Biochemie eines Tages aufzeigen könnten, dass psy­ chotische Zustände mit diesen Wissenschaften in Einklang gebracht werden kön­ nen, würde dies nicht helfen, Natur und Inhalt psychotischer Erfahrungen zu ver­ stehen. Ich habe dieses Problem schon einmal angesprochen, als ich von der La­ borforschung mit psychedelischen Substanzen sprach. Bei diesen Zuständen sind die biochemischen Auslöser und die Dosierung der reinen chemischen psychedeli­ schen Substanzen genau bekannt. Und dennoch können weder Natur und Inhalt dieser Zustände erklärt werden, noch weshalb diese beim Individuum selbst und bei verschiedenen Patienten so unterschiedlich auftreten. Klar ist nur, dass dabei unbewusstes Material ins Bewusstsein gelangt.

143

Die gleiche Dosierung führt bei verschiedenen Personen zu einem breiten Spektrum an Erfahrungen, welche von analytischer Selbsterkenntnis über ma­ nisch-paranoide Zustände bis hin zu tiefen mystischen Offenbarungen reichen. Dies zeigt, dass die Perspektive, einfache biologische Lösungen für das komplexe Bild von Psychose und mystischen Zuständen zu finden, nicht sehr erfolgverspre­ chend ist. In Anbetracht dieser Tatsachen können Spekulationen dieser Art nur schwer als ernsthafte wissenschaftliche Annahmen akzeptieren werden. Das Po­ tenzial, Zustände dieser Art zu kreieren, bleibt einzig der menschlichen Psyche Vorbehalten. Die Phänomenologie der funktionalen Psychosc vereint perinatale, transpersonale und vereinzelt auch postnatale biografische Elemente in sich. In der Symptomatologie psychotischer Zustände treten Erfahrungen im Zu­ sammenhang mit BPM I sowohl in positiver wie auch in negativer Form auf. Viele Patienten erleben Episoden der symbiotischen Einheit mit der Grossen Mutter­ göttin und werden in ihrem Schoss oder an ihrer Brust genährt. Andere erleben die ekstatische Vereinigung mit Mutter Natur, mit dem ganzen Universum oder mit Gott. Wenn solche Erfahrungen integriert werden, können sie ein kraftvolles Kor­ rektiv zur symbiotischen Befriedigung, die der Patient seit seiner frühesten Kind­ heit vermisst, darstellen. Es scheint zudem eine Verbindung zu geben zwischen Störungen des embryo­ nalen Daseins und psychotischcn Zuständen mit paranoiden Verdrehungen der Realität. Da viele pränatale Störungen mit chemischen Veränderungen im Körper der Mutter einhergehen, die durch die Nabelschnur an das Kind weitergeleitet werden, können sich paranoide Episoden in toxischen Faktoren oder anderen un­ sichtbaren schädlichen Einflüsse manifestieren. Viele psychotische Patienten glau­ ben, dass jemand ihre Mahlzeiten vergiftet, giftige Gase in ihr Haus strömen oder teuflische Gegner sie einer gefährlichen Strahlung aussetzen. Die feindseligen Ein­ flüsse fallen meist mit Visionen von Bösewichten und dämonischen archetypischen Wesen zusammen. Eine weitere Quelle für paranoide Zustände finden wir in der beginnenden zweiten Matrix. Dies ist nicht weiter erstaunlich, da das Einsetzen der Geburtswe­ hen ja eine gewichtige und irreversible Störung der pränatalen Existenz bedeutet. Wenn man bedenkt, wie unangenehm und verwirrend diese Situation für den Fö­ tus ist, so kann man verstehen, dass Erinnerungen vom Beginn des Geburtsvor­ gangs und damit verbundenen Störungen heftige Angstgefühle erzeugen können. Die Quelle dieser Gefahren ist aber für den Fötus nicht ersichtlich und bleibt auch später unerkannt. Das Individuum neigt deswegen dazu, seine Ängste auf geheim­ nisvolle, bedrohliche Situationen in der Aussenwelt zu projizieren, etwa auf Untergrundorganisationen, Nazis, Kommunisten, Freimaurer, den Ku-Klux-Clan oder andere potenziell gefährliche menschliche Gruppierungen, und manchmal sogar auf Eindringlinge aus dem Weltall. Der spezifische Inhalt solcher Schreckenserfahrungen kann zuweilen dem Bereich des kollektiven Unbewussten entstam­ men.

144

Eine voll entwickelte BPM II fügt der psychotischen Symptomatologie eine profunde Verzweiflung und Melancholie, ein Gefühl ewiger Verdammnis sowie Motive unmenschlicher Torturen und teuflischer Qualen an. Viele psychotische Patienten erleiden Höllenqualen und werden in ihrer Vorstellung von raffinierten Foltermaschinen gepeinigt. Psychoanalytische Studien zeigen, dass solche Maschi­ nen, die vielen psychotischen Patienten unendliches Leid zufügen, den Körper der «bösen Mutter» symbolisieren. Den Studien geht allerdings die Erkenntnis ab, dass der gefährliche und quälende Körper der gebärenden und nicht der umsor­ genden Mutter gehört (Tausk 1933). Mit ihren mannigfaltigen Erscheinungsformen trägt auch die dritte perinatale Matrix zum klinischen Bild psychotischer Zustände und Erlebnisse bei. Titanische Aspekte manifestieren sich in Form von unerträglichen Spannungen, kraftvollen Energieströmen und Entladungen. In der Vorstellung psychotischer Patienten ent­ wickeln sich blutige Szenen von Kriegen. Revolutionen und Massakern archetypischen Ausmasses, von kosmischen Schlachten zwischen guten und bösen Mächten, von Kämpfen zwischen Engeln und Dämonen, von Titanen, welche die Götter her­ ausfordern, und von Helden, die mythologische Monster bekämpfen. Aggressive und sadomasochistische Elemente von BPM III erzeugen psycho­ tische Visionen von allen erdenklichen Grausamkeiten, von Selbstzerstümmelung, blutigen Morden und Selbsttötungen. Das Beschäftigtsein der Patienten mit abar­ tigen sexuellen Fantasien und Visionen, Szenen sexueller Nötigung oder schmerz­ haften Manipulationen an den Fortpflanzungsorganen sind ebenfalls typisch für die dritte Matrix. Ein reges Interesse für Fäkalien und anderes biologisches Mate­ rial sowie für magische Kräfte, die den Exkrementen zugeordnet werden, offenba­ ren den skatologischen Aspekt von BPM III. Dies gilt auch für Koprophilie und Koprophagie, für Harn- und Stuhlverhaltung oder den Mangel an Kontrolle über die Schliessmuskeln. Satanische Elemente wie Hexensabbat oder schwarze Mes­ sen in Verbindung mit Tod, Sex, Gewalt und Skatologie zeichnen ein klares Bild von BPM III und sind klassische Erfahrungen psychotischer Patienten. Der Übergang von BPM III zu BPM IV wiederum erzeugt psychotische Zu­ stände, die mit dem (seelischen) Tod-und-Wiedergeburtserlebnis, mit apokalypti­ schen Visionen von der Zerstörung und dem Wiederaufbau der Erde oder mit Sze­ nen des Jüngsten Gerichts zu tun haben. Dies kann von der Identifikation mit Christus oder anderen archetypischen Gestalten, die Tod und Auferstehung sym­ bolisieren, begleitet werden, zu einer Aufblähung des Ich führen und messianische Gefühle wecken. Hierher gehört auch die Vorstellung, man zeuge oder gebäre das Göttliche Kind. Das Erscheinen Gottes, Visionen von oder die Identifikation mit der Grossen Muttergöttin, Begegnungen mit engelhaften Wesen und strahlenden Gottheiten sowie Gefühle der Errettung und Erlösung gehören ebenfalls in den Bereich von BPM IV. In der Zeit, als ich anfing, psychotische Symptome auf ihre perinatale Dyna­ mik hin zu untersuchen (Grof 1975), konnte ich keinerlei klinische Studien finden, welche diese Hypothese unterstützt oder auch nur diese Möglichkeit erforscht hät­

145

ten. Ich war erstaunt, wie wenig Aufmerksamkeit die Forschung einer möglichen Verbindung zwischen Psychosen und dem Trauma der Geburt geschenkt hatte. Heute, ein Vierteljahrhundert später, gibt es umfassende klinische Studien, die be­ stätigen, dass dieses Trauma eine wichtige Rolle bei der Entstehung von Psycho­ sen spielt. Virus-Infektionen während der Schwangerschaft und Komplikationen wäh­ rend der Entbindung, einschliesslich lang andauernde Wehen oder Sauerstoffman­ gel, werden zu den häufigsten Risikofaktoren für Schizophrenie gezählt (Wright etal. 1997, Verdoux und Murray 1998, Kane 1999, Dalman etal. 1999, Warner 1999). Wegen des starken Einflusses biologisch fundierter Theorien in der Psy­ chiatrie besteht die Tendenz, diese Daten dahin gehend zu interpretieren, dass die Geburt zu Schäden im Gehirn führte, die mit den verfügbaren Methoden aber nicht lokalisiert werden können. Theoretiker und Praktiker können die dominan­ te psychotraumatische Komponente der Geburt noch immer nicht (an)erkennen. Während die oben beschriebenen perinatalen Erfahrungen oftmals eine Kom­ bination von biologischen Erinnerungen an die Geburt und an damit verknüpfte archetypische Motive sind, kann die Phänomenologie psychotischer Zustände auch transpersonale Elemente in ihrer reinen Form, also ohne biologisch-perinatale Komponenten, manifestieren. Dies können Erinnerungen aus früheren Leben sein, Erfahrungen mit ausserirdischen Intelligenzen oder Begegnungen mit ver­ schiedenen Gottheiten oder Dämonen. Psychotische Individuen können zuweilen auch tiefe spirituelle Erfahrungen machen und mit Gott, dem Absoluten oder der metakosmischen Leere verschmelzen. Viele der oben angeführten Erfahrungen wurden uns zu allen Zeiten von My­ stikern, Heiligen, Propheten und spirituellen Lehrern übermittelt. Es ist absurd, solche Erfahrungen einem unbekannten pathologischen Prozess im Gehirn zuzu­ schreiben, wie es heutzutage die moderne Psychiatrie tut. Hier stellt sich natürlich die Frage nach der Beziehung zwischen Psychose und mystischer Erfahrung. Bis hierher habe ich die Begriffe Psychose und psychotisch so verwendet, wie es in der klassisch-akademischen Psychiatrie üblich ist. Wie wir aber noch sehen werden, le­ gen die aus holotropen Zuständen gewonnenen Erkenntnisse nahe, dass das Kon­ zept von Psychosen radikal neu definiert werden muss. Wenn wir diese Erfahrungen vor dem Hintergrund der erweiterten Kartogra­ fie betrachten, welche nicht auf die postnatale Biografie limitiert ist, sondern auch die perinatalen und transpersonalen Bereiche mit einschliesst, so wird klar, dass der Unterschied zwischen Mystik und mentaler Störung nicht so sehr mit der Na­ tur und dem Inhalt der Erfahrungen zu tun hat, sondern vielmehr mit der Einstel­ lung des Individuums diesen gegenüber - mit der Art und Weise, wie wir die Er­ fahrungen interpretieren und integrieren. Joseph Campbell benutzte in seinen Re­ den oft ein Bild, das diese Beziehung veranschaulicht: «Das psychotische Indivi­ duum ertrinkt im selben Gewässer, in welchem der Mystiker mit Entzücken schwimmt.» Mein einziger Vorbehalt gegenüber diesem ansonsten sehr wahren Ausspruch betrifft den unerwähnt bleibenden Umstand, dass die Erfahrungen des

146

Mystikers oft sehr schwierig und keineswegs immer entzückend sind. Trotzdem ist der Mystiker fähig, die Herausforderung im grösseren Kontext der spirituellen Reise zu sehen, welche einen tieferen Zweck und ein erstrebenswertes Ziel hat. Eine solche Annäherung an die Psychose hat folgenschwere Auswirkungen nicht nur für die Theorie, sondern auch für die Therapie und, noch wichtiger, für den Verlauf und Ausgang solcher Zustände. Beobachtungen aus den experimen­ tellen Therapien bestätigen die revolutionären Ideen von Pionieren im Bereich des alternativen Verständnisses von Psychosen wie C. G. Jung (1960), Roberto As­ sagioli (1977) und Abraham Maslow (1964). Dieses wichtige Thema werden wir im nächsten Kapitel erörtern.

147

Kapitel 4 Spirituelle Krisen; Transformative Notfälle erkennen und behandeln

u den folgenreichsten Erkenntnissen, die sich aus der Erforschung holotroper Zustände ergaben, gehört die Einsicht, dass viele gemeinhin als psychotisch diagnostizierte und medikamentös behandelte «Erkrankungen» eigentlich schwie­ rige Phasen einer radikalen Transformation und spirituellen Öffnung der Persön­ lichkeit sind. Werden sie als solche erkannt, verstanden und richtig behandelt, können diese spirituellen Krisen zu emotionaler und psychosomatischer Heilung, zu positiven seelischen Veränderungen und einem erweiterten Bewusstseinsfeld führen (Grof und Grof 1989,1990). Episoden dieser Art finden sich in den Lebensläufen vieler Schamanen, Yogis, Mystiker und Heiliger. Die mystische Weltliteratur sieht solche Krisen als Meilen­ steine auf dem spirituellen Pfad an und hebt ihr heilendes und transformatives Po­ tenzial hervor. Klassisch orientierte Psychiater hingegen sind nicht willens, zwi­ schen spirituellen Krisen oder gar unkomplizierten mystischen Zuständen und ernsthaften Geisteskrankheiten zu unterscheiden, da ihnen ihr eng gefasster theoretischer Rahmen im Wege steht. Laut der akademischen Psychiatrie ist die Psyche rein von der postnatalen Biografie und von biologischen Faktoren abhän­ gig, was ein tieferes Verständnis psychotischer Zustände natürlich verunmöglicht. Der Begriff spiritual emergency (spirituelle Krise oder spiritueller Notfall), den Christina und ich für Zustände dieser Art geprägt haben, weist auf deren positives Potenzial hin. Im Englischen handelt es sich dabei um eine Art Wortspiel: «emergency» bedeutet einerseits «Notfall», andererseits spielt es auch auf die sich bie­ tende Gelegenheit an, zu einer neuen Ebene von Bewusstheit «aufzusteigen» («to emerge»). In diesem Zusammenhang verweisen wir oft auf das chinesische Schrift­ zeichen für Krise, welches der Grundidee des spirituellen Notfalls entspricht. Die­ ses Ideogramm besteht aus zwei Zeichen, eines davon repräsentiert Gefahr, das andere Gelegenheit oder Chance. Zu den positiven Resultaten, die sich nach spirituelIen Krisen ergeben, welche ihren natürlichen Lauf nehmen können, gehören eine bessere Gesundheit, ein Ge­ winn an Lebenskraft, eine effizientere Lebensgestaltung und eine umfassendere Sicht der Dinge, einschliesslich der spirituellen Dimensionen. Eine erfolgreiche In­ tegration hat eine Verminderung des Aggressionspotenzials, eine wachsende eth­ nische, politische und religiöse Toleranz und ein verstärktes ökologisches Be­ wusstsein zur Folge. Es führt zu einer grundlegenden Neubeurteilung der gewohn­ ten Wertehierarchien und der existenziell wichtigen Prioritäten. Es ist nicht über­

Z

148

trieben, wenn wir sagen, dass der erfolgreiche Abschluss einer spirituellen Krise das Individuum auf ein höheres Bewusstseinsniveau bringt. In den vergangenen Jahrzehnten haben wir eine rapide Zunahme des Interes­ ses für spirituelle Belange beobachten können. Dies führte zu unzähligen Experi­ menten mit alten und modernen «Technologien des Heiligen», also bewusstseinsverändernden Techniken, welche zu einer spirituellen Öffnung führen können. Hierzu gehören die vielen schamanischen Methoden, orientalische Meditations­ praktiken, psychedelische Substanzen, kraftvolle Selbsterfahrungstherapien und Labormethoden, die von experimentell orientierten Psychotherapeuten entwi­ ckelt wurden. Laut Meinungsumfragen hat die Anzahl amerikanischer Staatsbür­ ger, die spirituelle Erfahrungen hatten, im Verlauf der zweiten Hälfte des zwan­ zigsten Jahrhunderts stark zugenommen. Parallel dazu lässt sich auch eine Zunah­ me der spirituellen Krisen erkennen. Immer mehr Menschen scheinen einzusehen, dass eine Spiritualität, welche auf praktischer Selbsterfahrung gründet, eine lebensnotwendige Dimension für unser Lebens darstellt. Angesichts der eskalierenden globalen Krise, ein Resultat der materialistischen Einstellung unserer westlichen technologisierten Zivilisati­ on, wird uns bewusst, welch hohen Preis wir dafür bezahlen, dass wir der Spiritua­ lität abgesagt haben. Wir haben eine Kraft aus unserem Leben vertrieben, welche der menschlichen Existenz Kraft spenden und Sinn geben kann. Der Tribut, den wir dafür auf der individuellen Ebene entrichten müssen, ist ein seelisches Verarmen, ein Gefühl der Entfremdung, ein als sinnlos empfunde­ nes Dasein und eine Zunahme der emotionalen und psychosomatischen Störun­ gen. Auf dem kollektiven Niveau führt das Fehlen spiritueller Werte zur Entste­ hung von «Lebensstrategien», die das Überleben des ganzen Planeten gefährden; zur Plünderung der nicht erneuerbaren Ressourcen; zur Verschmutzung der Um­ welt und einer empfindlichen Störung des ökologischen Gleichgewichts und zur Anwendung von Gewalt als dem hauptsächlichen Konfliktlösungsmittel. Es kann deshalb nur im Interesse von uns allen sein, dass wir nach Mitteln und Wegen suchen, um das Spirituelle wieder zurück in unser individuelles und kollek­ tives Leben zu holen. Dies bedeutet aber nicht nur ein theoretisches Anerkennen von Spiritualität als lebenswichtigem Aspekt der Existenz, sondern ebenso eine gemeinschaftlich sanktionierte Förderung derjenigen Aktivitäten, welche einen experimentellen Zugang zu spirituellen Wirklichkeiten vermitteln können. We­ sentlicher Bestandteil dieser Bemühungen wäre das Errichten eines Systems, wel­ ches Personen, die durch spirituelle Krisen gehen, Unterstützung bieten kann, so­ dass sie das positive Potenzial dieses ausserordentlichen Zustands auch ausschöp­ fen können. 1980 gründete meine Frau Christina das Spiritual Emergency Network (SEN), eine Organisation, welche Personen, die sich in einer spirituellen Krise befinden, mit Fachleuten in Verbindung bringt, die bereit und fähig sind, diese neuen Er­ kenntnisse in ihrer Therapiearbeit anzuwenden. SEN-Filialen gibt es mittlerweile in verschiedenen Ländern.

149

Faktoren, die spirituelle Krisen auslösen können In vielen Fällen ist es möglich, eine bestimmte Situation zu identifizieren, welche die spirituelle Krise ausgelöst hat. Der Auslöser kann primär physischer Natur sein - eine Krankheit, ein Unfall, eine Operation. In anderen Fällen können extreme körperliche Belastungen oder Langzeitschlafmangel zu auslösenden Faktoren werden. Bei Frauen kann es die Geburt eines Kindes, eine Fehlgeburt oder eine Abtreibung sein. Oder der Prozess wird von einer ungewöhnlich kraftvollen sexu­ ellen Erfahrungen initiiert. Manchmal erfolgt eine spirituelle Krise auf ein traumatisches emotionales Er­ lebnis hin. Dies kann der Verlust einer wichtigen Beziehung sein, der Tod eines Kindes oder eines anderen nahe stehenden Menschen, eine Scheidung oder das Ende einer Liebesbeziehung. Auch eine Serie von persönlichen Niederlagen, die Kündigung des Arbeitsplatzes oder der Verlust von Besitztümern können einer spirituellen Krise vorausgehen. Bei entsprechender Veranlagung des Individuums kann es ein Erlebnis mit psychedelischen Substanzen oder eine holotrope Thera­ piesitzung sein, die «das Fass zum Überlaufen bringt». Einer der wichtigsten Katalysatoren spiritueller Krisen scheint ein starkes En­ gagement in meditativen und anderen spirituellen Praktiken zu sein. Dies sollte nicht weiter erstaunen, wurden diese Methoden doch eigens dafür entwickelt, dass sie uns Menschen den Zugang zu solchen Erfahrungen erleichtern. Wir wurden schon viele Male von Personen kontaktiert, die spontan in holotrope Zustände ge­ raten waren, nachdem sie intensiv Zen- oder Vipassana-Meditation, KundaliniYoga, Sufi-Exerzitien, mönchische Kontemplation oder intensives christliches Be­ ten praktiziert hatten. Die Tatsache, dass die auslösenden Faktoren ein so breites Spektrum ab­ decken, legt die Vermutung nahe, dass die Bereitschaft des Individuums zu einer inneren Transformation wichtiger ist als die jeweiligen externen Stimuli. Wenn wir für die oben geschilderten Situationen einen gemeinsamen Nenner finden wollen, so fällt auf, dass in allen Fällen eine radikale Verlagerung des Gleichgewichts zwi­ schen bewussten und unbewussten Prozessen stattfand. Eine Schwächung der psy­ chischen Abwehrfunktion oder eine Zunahme der energetischen Ladung in den unbewussten Dynamiken ermöglicht es dem unbewussten (oder überbewussten) Material, ins Bewusstsein zu dringen. Es ist bekannt, dass biologische Faktoren wie körperliche Traumatisierungen, Erschöpfung, Schlaflosigkeit oder Intoxikation die psychischen Abwehrmechanis­ men schwächen. Psychologische Traumata können das Unterbewusste mobilisie­ ren, vor allem wenn sie Elemente beinhalten, welche an frühere Traumata anklin­ gen, und sie Teil eines bedeutenden COEX-Systems sind. Dass eine Entbindung hinsichtlich des Krisen auslösenden Potenzials ganz vorne liegt, scheint daran zu liegen, dass der Geburtsprozess eben einerseits den Organismus schwächt und an­ dererseits auch ganz spezifisch perinatale Erinnerungsbilder weckt. Misserfolge und Enttäuschungen im beruflichen oder privaten Leben können die nach aussen gerichteten Motivationen und ehrgeizigen Bestrebungen des Indi­

150

viduums unterwandern und vereiteln. Da die Aussenaktivitäten als Fluchtweg zur Vermeidung emotionaler Probleme nun nicht mehr in Frage kommen, beginnt das Individuum sich psychisch zurückzuziehen und richtet seine Aufmerksamkeit auf die innere Welt. Dadurch können die unbewussten Themen ins Bewusstsein ge­ langen, wo sie sich im Alltagsleben des Individuums störend auswirken oder dieses gar komplett überrennen.

Erkennen von spirituellen Krisen Wenn wir hier betonen, wie notwendig es ist, dass spirituelle Krisen als solche rich­ tig erkannt werden, so bedeutet dies keineswegs, dass damit die Theorien der tra­ ditionellen Psychiatrie in Abrede gestellt werden. Nicht alle als psychotisch dia­ gnostizierten Zustände sind Krisen spiritueller Transformation oder bergen ein heilendes Potenzial. Aussergewöhnliche Bewusstseinszustände decken ein breites Spektrum ab, das von rein spirituellen Erfahrungen bis zu psychischen Erkran­ kungen reicht, welche klare biologische Ursachen aufweisen und ärztlicher Be­ handlung bedürfen. Denn gleich wie die klassische Psychiatrie mystische Zustände nicht generell pathologisieren sollte, darf man auch nicht dem Irrtum verfallen, psychotischc Zustände in einem romantischen und glorifizierten Licht sehen zu wollen, oder, noch schlimmer, die ernsthaften medizinischen Probleme gar ganz übersehen. Viele Fachleute, die mit dem Konzept der spirituellen Krisen bekannt werden, erkundigen sich nach den genauen diagnostischen Kriterien, mit denen eine spiri­ tuelle Krise unzweideutig und differenziert von der Psychose unterschieden wer­ den kann. Unglücklicherweise ist es aber prinzipiell unmöglich, mit Hilfe der in der somatischen Medizin gängigen Massstäbe eine solche Unterscheidung zu machen. Im Gegensatz zu denjenigen Krankheiten, welche von der somatischen Medizin behandelt werden, sind psychotische Zustände nicht klar organischen Ursprungs, und «funktionale Psychosen» sind medizinisch nicht definiert. Es ist deshalb frag­ lich, ob man sie überhaupt als Krankheiten bezeichnet soll. Funktionale Psychosen sind sicherlich keine Krankheiten wie Diabetes, Ty­ phus oder Anämie. Labortests und klinische Studien ergeben keine stichhaltigen Argumente, welche die Diagnose, die Ursachen seien biologischer Natur, stützen würden. Die Diagnose dieser Zustände basiert rein auf der Beobachtung der un­ gewöhnlichen Erlebnisse und Verhaltensweisen, für welche die zeitgenössische Psychiatrie allerdings keine adäquate Erklärung bereit hat. Das bedeutungslose Attribut «endogen» zum Beispiel ist ein indirektes Eingeständnis dieser Ratlosig­ keit. Es gibt also keinen Grund, warum man funktionale Psychosen als «Geistes­ krankheit» ansehen sollte, und keinen Grund, der die Annahme rechtfertigen wür­ de, sie seien eben doch Erzeugnisse krankhafter Hirnprozesse, die von der Medi­ zin der Zukunft zwar erst noch erforscht werden müssen. Wenn wir das Ganze genauer überdenken, realisieren wir, wie unwahrschein­ lich die Annahme ist, dass der Verstand ganz von allein und rein aus sich selbst heraus dieses riesige Spektrum an unglaublich reichen Erfahrungen, welche die

151

Psychiatrie seit kurzem als psychotisch einstuft, erschaffen kann. Wie können ab­ normale Hirnprozesse kulturell einheitliche Sequenzen von Tod und Wiederge­ burt generieren? Oder Erlebnisse der Identifikation mit Christus am Kreuz, mit dem tanzenden Shiva; Erinnerungen an einen Tod auf den Barrikaden ... in Paris ... zur Zeit der Französischen Revolution? Oder detaillierte Szenen einer Begegnung mit Ausserirdischen? Selbst wenn solche Erfahrungen sich unter Umständen manifestieren, in wel­ chen die biologischen Veränderungen genau bestimmt sind - etwa nach der Ver­ abreichung von genau dosiertem, chemisch reinem LSD-25 -, so bleiben Natur und Ursprung ihres Wesens oder Inhalts doch ein Mysterium. Die Bandbreite der mög­ lichen Reaktionen ist gewaltig und umfasst Episoden mystischer Verzückung, Ge­ fühle kosmischer Einheit oder der Einswerdung mit Gott, Erinnerungsbilder aus früheren Leben, aber auch paranoide Zustände, manische Momente oder apoka­ lyptische Visionen. Wird dieselbe Dosis verschiedenen Personen verabreicht, oder aber derselben Person zu verschiedenen Zeiten, so hat dies die unterschiedlichsten Erlebnisse zur Folge. Chemische Veränderungen im Organismus dienen als Katalysatoren, sind aber per se nicht fähig, Bilder und reichhaltige philosophische und spirituelle Er­ kenntnisse zu generieren, geschweige denn, Zugang zu neuen Informationen über verschiedene Aspekte des Universums zu schaffen. LSD und ähnliche Substanzen können das Emporsteigen unbewussten Materials zwar erleichtern, Natur und In­ halt der Erfahrungen lassen sich damit aber nicht erklären. Will man die Phäno­ menologie psychedelischer Zustände begreifen lernen, müssen Hintergrund und Art des Zugangs komplex und offen sein - eine simple Etikettierung, dass es sich dabei bloss um abnormale biochemische und biologische Prozesse handelt, führt nirgendwo hin. Dies bedingt natürlich gute Kenntnisse in den Bereichen transper­ sonale Psychologie, Mythologie, Philosophie und vergleichende Religionswissen­ schaften. Die Erlebnisse, die sich in spirituellen Krisen manifestieren, sind keine künst­ lichen Produkte, die sich aus den wirren Prozessen eines geschädigten Hirnorgans ergeben, sondern sind Teil der Psyche. Um es auf diese Weise sehen zu können, muss man die enge, von Psychiatern diktierte Auffassung der Psyche verlassen und ein umfangreicheres Konzept zu Hilfe nehmen. Solche Modelle finden sich zum Beispiel in der Kartografie am Anfang dieses Buches, in Ken Wilbers Spektrums­ psychologie (Wilber 1977), in Roberto Assagiolis Psychosynthese (Assagioli 1976) und in C. G. Jungs Konzept der Psyche als Anima mundi oder Weltseele, welche das historische und archetypische kollektive Unbewusste mit einschliesst (Jung 1958). Eine derart umfassende und einfühlsame Auffassung der Psyche zeichnet auch die grossen philosophischen Strömungen des Ostens und die mystischen Welttraditionen aus. Da funktionale Psychosen nicht medizinisch, sondern psychologisch zu defi­ nieren sind, ist es unmöglich, ein differenziertes Diagnosemodell, das spirituelle Krisen von Psychosen unterscheidet, zu erstellen, so wie es die medizinische Praxis

152

bei Krankheiten wie Hirnhautentzündung, Hirntumoren oder Demenzen tut. Aber ist es denn überhaupt möglich, diagnostische Schlüsse zu ziehen? Wie kön­ nen wir diesem Problem begegnen, und was können wir an Stelle einer eindeutigen und differenzierten Diagnose bieten? Man kann zum Beispiel versuchen zu evaluieren, welche Individuen, die spon­ tan holotrope Bewusstseinszustände erleben, gute Anwärter für Therapien sind, die diesen Prozess unterstützen. Auch können wir erörtern, ob für den Patienten eher ein alternativer Zugang oder eine Behandlung mit schulmedizinischen psy­ chopharmakologischen Mitteln in Frage kommt. Erste Voraussetzung für eine solche Evaluation ist eine ärztliche Untersu­ chung, die alles ausschliesst, was organischer Natur ist und medizinischer Behand­ lung bedarf. Der nächste Schritt beinhaltet die genaue Beschreibung der vom Pa­ tienten erlebten Bewusstseinszustände. Spirituelle Krisen sind eine Mischung aus biografischen, perinatalen und transpersonalen Elementen, ln einer beliebig zu­ sammengesetzten Gruppe «normaler» Menschen können holotrope Zustände nicht nur mit Hilfe von psychedeIischen Substanzen, sondern auch mit einfachen Mitteln wie Meditation, schamanischem Trommeln, schneller Atmung, Musik oder Körperarbeit herbeigeführt werden. Diejenigen unter uns, die mit dem holotropen Atmen arbeiten und Tag für Tag an Seminaren und Workshops mit solchen Erfahrungen konfrontiert werden, ha­ ben dessen Heil- und Transformationspotenzial kennen und schätzen gelernt. Ih­ nen fällt es schwer, diese spontan sich manifestierenden Krisen einer exotischen, noch unbekannten Pathologie zuzuschreiben. Es erscheint jedoch sinnvoll, diese spontanen Erfahrungen gleich anzugehen wie diejenigen holotroper Sitzungen: Die Menschen werden ermutigt, sich dem Prozess zu öffnen, und wir unterstützen und begleiten sie dabei, um den vollen Ausdruck des unbewussten Materials zu er­ möglichen. Ein weiterer wichtiger prognostischer Indikator ist die Einstellung der Person dem Prozess gegenüber. Es ist von enormer Hilfe und ermutigend, wenn Personen erkennen, dass das, was sie gerade erleben, im Wesentlichen ein innerer Prozess ist und sie sich so bewusst für die Arbeit öffnen können. Transpersonale Strategien sind dementsprechend nicht angezeigt bei Menschen, denen diese elementare Ein­ sicht fehlt, die alles projizieren und sich von enttäuschenden Erlebnissen verfolgt wähnen. Ein gutes therapeutisches Arbeits- und Vertrauensverhältnis ist unab­ dingbare Voraussetzung für die psychotherapeutische Arbeit mit Menschen in Krisensituationen. Wichtig ist auch, dass man darauf achtet, wie Menschen von ihren Erfahrun­ gen berichten. Allein die Art des Kommunikationsstils kann uns zeigen, ob die Person mehr oder weniger geeignet ist. Ein guter prognostischer Indikator ist, wie kohärent und artikuliert eine Person ihre Erfahrungen schildert, egal wie aussergewöhnlich und seltsam deren Inhalt auch sein mag. In gewisser Weise gilt dies auch für Personen, die eine psychedelische Sitzung hinter sich haben und die auf

153

intelligente Art das beschreiben, was für Uninformierte zumindest äusserst seltsa­ me und extravagante Erlebnisse sein mögen.

Verschiedene Formen spiritueller Krisen Ähnlich problematisch wie eine klare Grenzziehung beim Diagnostizieren von spi­ rituellen Krisen ist auch deren Klassifizierung. Ist es möglich, spezifische Typen und Kategorien anhand des Diagnostischen und Statistischen Ratgebers für Gei­ steskrankheiten (D iagnostic and S tatistic M anual of M ental D isorders DSM IV) zu unterscheiden und zu definieren? Bevor wir diese Frage beantworten, möchte ich betonen, dass alle Versuche, psychiatrische Störungen zu klassifizieren, bisher erfolglos geblieben sind, mit Ausnahme derjenigen, die klar organischen Ursprungs sind. Unter den einzelnen Psychologen sowie unter den psychiatrischen Gesell­ schaften der verschiedenen Länder herrscht Uneinigkeit, was die diagnostischen Kategorien ganz allgemein angeht. Obwohl das DSM schon verschiedene Male re­ vidiert und aktualisiert wurde, klagen die Kliniker, dass die Symptome ihrer Pati­ enten selten mit den offiziellen diagnostischen Kategorien übereinstimmen. Spiri­ tuelle Krisen bilden da keine Ausnahme. Die dabei auftauchenden Symptome las­ sen sich eher noch schwieriger kategorisieren - aufgrund ihrer äusserst reichhal­ tigen und mannigfaltigen Phänomenologie, die sich zudem noch auf so vielen psychischen Ebenen äussert. Die Symptome spiritueller Krisen sind eine Manifestation der tiefsten, dyna­ mischen Vorgänge in der menschlichen Psyche. Die individuelle Psyche ist vom Wesen her multidimensional und vielschichtig und ohne innere Abgrenzungen. Elemente, die der postnatalen Biografie und dem freudschen Unterbewussten ent­ stammen, bilden mit der Dynamik der perinatalen Ebenen und den transpersona­ len Bereichen eine Einheit. Wir können deshalb nicht erwarten, dass wir exakt de­ finierte und eingegrenzte Typen spiritueller Krisen entdecken können. Und dennoch haben uns unsere eigene Arbeit mit Individuen in spirituellen Krisen und der Austausch mit Kollegen, welche im gleichen Gebiet tätig sind, so­ wie das Studium einschlägiger Literatur davon überzeugt, dass es möglich und nützlich ist, gewisse Hauptformen spiritueller Krisen voneinander zu unterschei­ den. Selbstverständlich gibt es keine klaren Grenzen, und in der Praxis finden wir oft Überschneidungen. In der folgenden Liste sind die wichtigsten Formen spiritu­ eller Krisen dargestellt, die ich im Anschluss daran kurz erörtern möchte. 1. Die schamanische Krise 2. Das Erwachen der Kundalini 3. Erfahrungen von Einheitsbewusstsein («Gipfelerfahrungen») 4. Seelische Erneuerung durch Hinwendung zur Mitte 5. Aussersinnliche Wahrnehmung 6. Erinnerungen an frühere Leben

154

7. Kommunikation mit geistigen Führern und «Channeling» 8. Nahtoderfahrungen (Near-Death Experiences - NDEs) 9. Begegnungen mit UFOs und Entführungen durch Ausserirdische 10. Zustände von Besessenheit 11. Alkoholismus und Drogensucht als spirituelle Krisen 1. Die schamanische Krise Wie wir gesehen haben, beginnt die Laufbahn von Schamanen - Hexen oder Me­ dizinmännern und -frauen - meist mit unwillkürlich auftauchcndcn dramatischen visionären Zuständen, welche die Anthropologen die «schamanische Krankheit» nennen. In der folgenden Zeit zieht sich der künftige Schamane von seiner alltäg­ lichen Umgebung zurück und erlebt ungemein kraftvolle Episoden holotroper Art. Er unternimmt Reisen in die Unterwelt und ins Reich der Toten, wo er von Dämonen angegriffen und den fürchterlichsten Qualen und Torturen ausgesetzt wird. Diese peinvolle Initiation kulminiert in Erfahrungen von Tod und Zerstücke­ lung, gefolgt vom Erlebnis der Wiedergeburt und dem anschliessenden Aufstieg in die himmlischen Regionen. Zu diesem Zweck kann sich der Schamane in einen Vogel, etwa einen Adler, einen Donnervogel oder einen Kondor, verwandeln, und gelangt so ins Reich der kosmischen Sonne. Oder er sieht sich von Vögeln getra­ gen, die ihn zu den solaren Regionen führen. In einigen Kulturen wird das Him­ melreich nicht durch einen magischen Flug erreicht, sondern der Novize klettert an einem Weltenbaum, einem Regenbogen, einem Pfosten mit vielen Kerben oder an einer aus Pfeilen gefertigten Leiter hoch. Im Verlauf der Reise stellt der Neuling einen tiefen Kontakt zu den Kräften der Natur und zum Reich der Tiere her: Er erfährt die Tiere nicht nur in ihrer «natürlichen» Form, sondern auch als Archetyp - als «Tiergeister» oder «Krafttie­ re». Werden diese visionären Reisen erfolgreich abgeschlossen, so können sie zu­ tiefst heilend sein. Im Laufe dieses Prozesses können die Schamanen-Novizen ihre emotionalen, psychosomatischen und selbst ihre körperlichen Krankheiten los­ werden. Aus diesem Grund werden Schamanen auch «verwundete Heiler» ge­ nannt. In vielen Fällen erhalten die solchermassen unfreiwillig Initiierten während ih­ rer Erlebnisse tiefe Erkenntnisse, was die energetischen und transpersonalen Ur­ sachen von Krankheiten angeht, und lernen, wie sie andere und sich selbst heilen können. Wird die Initiationskrise erfolgreich abgeschlossen, so gilt das Individuum fortan als Schamane, und wenn es, voll funktionstüchtig, zu seinem Stamm zurück­ kehrt, wird es in seiner Gemeinschaft hoch geehrt; ist Priester, Seher und Heiler in einem. In unseren Workshops hatten sowohl Amerikaner wie auch Europäer, Aus­ tralier und Asiaten oft holotrope Erlebnisse, die grosse Ähnlichkeit mit schamani­ schen Krisen aufwiesen. Abgesehen von den dafür typischen körperlichen und

155

Auf dieser und den folgenden Seiten sind vier Bilder schamanischer Erlebnisse aus holotropen Atemsitzungen abgebildet (Tai Ingrid Hazard): Oben: «Geburt aus dem Bären auf dem türkisen Mond»; S. 157: Raben geleiten durchs Tor zum «Jenseits von Raum und Zeit»: S. 158: Initiation in den BärenStamm; S. 159: Inuit-Schamane wird zum Seehund und begibt sich auf eine Reise in die Unterwasserwelt.

emotionalen Qualen und den Tod-und-Wiedergeburts-Sequenzen fand auch hier eine tiefe Begegnung mit Tieren, Pflanzen und den elementaren Kräften der Natur statt. Personen, die solche Krisen durchgemacht haben, kreieren nachher oft selbst Rituale, die denen anderer Schamanen ähneln. Und manche Therapeuten haben ihre Erfahrungen in ihre praktische Arbeit einfliessen lassen, indem sie zeitgemässere Versionen schamanischer Rituale schufen. Die Einstellung primitiver Kulturen schamanischen Krisen gegenüber wurde oft damit begründet, dass ihnen die elementarsten psychiatrischen Kenntnisse fehlten, weshalb sie alle Geschehnisse und Erfahrungen, die sie nicht verstanden, übersinnlichen Kräften zuschrieben. Allerdings hat diese Annahme wenig mit der Realität zu tun: Kulturen, welche Schamanen anerkennen und respektieren, sind durchaus in der Lage, diese von Kranken und Verrückten zu unterscheiden.

156

157

158

Um als Schamane anerkannt zu werden, muss ein Individuum seine transfor­ mierende Reise erfolgreich zu Ende führen und all die herausfordernden Erleb­ nisse voll integrieren können. Er oder sie muss mindestens so tüchtig sein wie all die anderen Stammesglieder. Die Art und Weise, wie solche Gesellschaften mit schamanischen Krisen umgehen, sollte uns als wertvolles Beispiel dienen, wie wir uns spirituellen Krisensituationen stellen können. 2. Das Erwachen der Kundalini Die Manifestationen, die wir bei dieser Form der spirituellen Krise vorfinden, ent­ sprechen denjenigen, die mit dem Erwachen der Kundalini oder der Schlangen­ kraft einhergehen. Gemäss den alten indischen Schriften ist Kundalini die schöp­ ferische Energie, von ihrer Natur her weiblich und verantwortlich für die Erschaf­ fung des Kosmos. ln ihrer latenten Form ruht die Kundalini am unteren Ende der Wirbelsäule im feinstofflichen Körper, welcher unseren ganzen physischen Körper

159

Kundalini-Erfahrungen gehören zu den häufigsten Manifestationen holotroper Be­ wusstseinszustände. Oben: Die Zeichnung, welche nach einer holotropen Atem­ sitzung entstand, veranschaulicht ein Erlebnis, in welchem das Chakra-System und andere feinstoffliche Körper bewusst wahrgenommen wurden.

160

durchdringt und umgibt. Diese im latenten Stadium befindliche Energie kann via Meditation, spezielle Übungen, die Intervention eines spirituellen Lehrers (Guru), durch gewisse Faktoren emotionaler oder physischer Art oder aus anderen Grün­ den unbekannter Ursache aktiviert werden. Die aktivierte Kundalini, die so genannte Shakti, steigt durch die Nadis Kanäle oder Leitungen im feinstofflichen Körper - empor. Während sie sich em­ por bewegt, klärt sie alte traumatische Prägungen und öffnet gleichzeitig die Ener­ giezentren. die so genannten Chakren. Obwohl dieser Prozess hohe Wertschät­ zung geniesst und in der Tradition der Yogis als segensreich empfunden wird, ist er nicht ganz ungefährlich, und es bedarf hier der erfahrenen Führung eines Gurus, dessen eigene Kundalini vollständig erwacht und stabilisiert ist. Die dramatischs­ ten Manifestationen des Erwachens der Kundalini sind psychische und physische Manifestationen, die man Kriyas nennt. Kriyas beinhalten unter anderem intensive Empfindungen, man spürt, wie grosse Hitze und Energie die Wirbelsäule empor strömen, und heftige Schüttelbewegungen, Spasmen und Verrenkungen sind die Folgen. Wellen von scheinbar un­ motivierten Gefühlen der Angst, Wut, Traurigkeit, Freude oder ekstatischen Ent­ zückens überfluten die Psyche und können sie vorübergehend vollständig in ihren Besitz nehmen. Es können Visionen strahlenden Lichts damit einher gehen, wir beginnen verschiedene archetypische Wesen zu sehen oder hören die verschieden­ sten Klänge. Viele Menschen, die diesen Prozess durchlaufen, erleben intensive Episoden früherer Leben wieder. Unbeabsichtigte und oft unkontrollierbare Handlungen vervollständigen das Bild: Man «redet in Zungen», singt unbekannte, fremdartige Lieder, rezitiert sakrale Formeln (Mantras), nimmt Yoga-Stellungen (Asanas) ein. macht Gesten (Mudras) oder bewegt sich wie ein gewisses Tier und gibt auch die entsprechenden Laute von sich. Diesen Phänomenen widmeten C. G. Jung und seine Mitarbeiter eine Reihe von Seminaren (Jung 1996). Jungs Ansicht von der Kundalini stellt wahrscheinlich den grössten Irrtum seiner gesamten Karriere dar: Er kam zum Schluss, das Erwa­ chen der Kundalini sei ein exklusiv östliches Phänomen und es würde mindestens an die tausend Jahre dauern, bis diese Energie - mit Hilfe der Tiefenpsychologie auch im Westen in Bewegung käme. In den vergangenen Jahrzehnten fanden sich aber bei Tausenden von Menschen unserer westlichen Welt unmissverständliche Anzeichen dafür, dass ihre Kundalini geweckt wurde. Dass wir auf diesen Um­ stand aufmerksam wurden, ist dem kalifornischen Psychiater und Ophtalmologen Lee Sannella zu verdanken, der Tausende solcher Fälle im Alleingang untersuch­ te und seine Erkenntnisse in T he K undalini E xperience : P sychosis or T rans cendence (Sannella 1987) zusammenfasste.

3. Erfahrungen von Einheitsbewusstsein (« GipfeIerfahrungen ») Der amerikanische Psychologe Abraham Maslow untersuchte viele Hunderte von Fällen, in welchen Personen die mystische Erfahrung des «Einsseins» gemacht hat­

161

ten, und prägte für sie den Begriff «Gipfelerfahrungen» (Maslow 1964). Maslow übte scharfe Kritik an der westlichen Psychiatric und an ihrer Tendenz, solch mys­ tische Zustände mit Geisteskrankheiten zu verwechseln. Er bezeichnete solche Zustände eher als übernormal als abnormal. Werden sie in ihrem natürlichen Ab­ lauf nicht gestört, so haben solche Erfahrungen eine verbesserte Lebenstüchtigkeit zur Folge und das Individuum erreicht einen höheren Grad an «Selbstverwirkli­ chung» - es beginnt, sein kreatives Potenzial voll auszuschöpfen und empfindet sein Leben als zufrieden stellend. Der Psychiater und Bewusstseinsforscher Walter Pahnke erstellte eine Liste mit den für typische Gipfelerfahrungen charakteristischen Eigenschaften, welche auf die Arbeit von Abraham Maslow und W. T. Stace Bezug nimmt. Er benutzte folgende Kriterien, um diesen Bewusstseinszustand zu definieren (Pahnke und Richards 1966): Gefühl des Einsseins (innerlich wie äusserlich) Starke positive Emotion Transzendierung von Zeit und Raum Gefühl von Heiligkeit (das Numinose) Paradoxe Natur Objektivität und Wirklichkeit der Einsichten Unbeschreibbarkeit Positive Nachwirkungen Wie sich aus dieser Liste ersehen lässt, haben wir bei Gipfelerfahrungen das Ge­ fühl, die übliche Trennung von Körper und Geist überwunden und einen Zustand von Einheit und Ganzheit erreicht zu haben. Wir transzendieren gleichzeitig die Unterscheidung von Subjekt und Objekt und erleben uns in einer ekstatischen Vereinigung mit der Menschheit, der Natur, mit denn Kosmos und Gott. Intensive Gefühle der Freude, der Glückseligkeit und von innerem Frieden stellen sich ein. Menschen, die diese Art von mystischem Bewusstsein erfahren, meinen, die ge­ wohnte Realität, in welcher Raum dreidimensional und Zeit linear ist, zu verlassen und in ein zeitloses, mystisches Reich einzutreten, in dem diese Kategorien keine Gültigkeit mehr haben, dafür Unendlichkeit und Ewigkeit erfahrbar werden. Die Empfindung des Numinosen hat nichts mit allfällig bestehenden religiösen Über­ zeugungen zu tun, sondern reflektiert ein direktes Begreifen der göttlichen Natur der Realität. Beschreibungen von Gipfelerfahrungen sind in der Regel voll von Paradoxa. Der Zustand wird als «inhaltslos und dennoch alles enthaltend» beschrieben; es gibt keine spezifischen Inhalte, und doch ist alles in potenzieller Form enthalten. Wir haben das Gefühl, gleichzeitig alles und nichts zu sein. Während unsere per­ sönliche Identität und unser begrenztes Ego sich auflösen, fühlen wir, wie wir uns ausdehnen, uns dermassen ausdehnen, bis wir das ganze Universum umfassen kön­

162

nen. Ebenso können wir alle Formen als leer wahrnehmen oder die Leere als gleichsam «schwanger mit Formen» empfinden. Auch können wir einen Zustand erreichen, in dem wir zur Einsicht gelangen, dass die Welt existiert, aber gleichzei­ tig auch nicht existiert. Gipfelerfahrungen scheinen uns die tiefsten Weisheiten und das höchste Wis­ sen vom Kosmos vermitteln zu können. Die Upanischaden nennen es «dasjenige wissen, dessen Wissen das Wissen von allem gibt.» Was wir während einer Gipfe­ lerfahrung lernen beziehungsweise einsehen, ist unaussprechlich und kann mit Worten nicht beschrieben werden. Unsere Sprache scheint von ihrem Wesen her für solches nicht eben geeignet zu sein. Dennoch übt eine solche Erfahrung einen profunden Einfluss auf unser Wertesystem und unsere allgemeine Lebenseinstel­ lung aus. Weil sie im Moment des Erlebnisses sehr positiv erfahren werden und ein ebensolches Entwicklungspotenzial aufweisen, ist diese Kategorie spiritueller Kri­ sen die am wenigsten problematische: Erfahrungen dieser Art sind per se vorüber­ gehender Natur und auf sich selbst begrenzt. Und dennoch enden nicht wenige Personen, die solche Zustände erleben, aufgrund der Ignoranz unserer Kultur und irriger Annahmen seitens der Psychiatrie, in einem Spital, wo sie mit Medikamen­ ten ruhiggestellt und mit einem pathologischen Label versehen werden. 4. Seelische Erneuerung durch Hinwendung zur Mitte Eine weitere Kategorie transpersonaler Krisen beschrieb der kalifornische Psy­ chiater und jungsche Analytiker John Weir Perry und fasste sie unter dem Begriff «Erneuerungsprozess» zusammen (Perry 1974,1976). Wegen ihres Tiefgangs und ihrer enormen Intensität läuft diese spirituelle Krise am ehesten Gefahr, als schwer wiegende mentale Krankheit abgetan zu werden. Erneuerungsprozesse sind so seltsam, extravagant und weit von der Realität entfernt, dass es den Ein­ druck macht, ein krankhafter Prozess ziehe die Funktionstüchtigkeit des Gehirns in schwere Mitleidenschaft. Individuen, die eine solche Krise gerade erleben, empfinden ihre Psyche als ei­ ne Art kolossales Schlachtfeld, auf welchem die Mächte des Guten und des Bösen, von Licht und Finsternis ihren kosmischen Kampf austragen. Sie sind intensiv mit dem Thema des Todes beschäftigt - mit rituellen Tötungen, Opferungen, mit Mär­ tyrertum und dem Leben nach dem Tod. Das Problem der Gegensätze zieht sie an, insbesondere im Zusammenhang mit dem Unterschied zwischen den beiden Ge­ schlechtern. Sie sehen sich selbst als Mittelpunkt all dieser fantastischen Gescheh­ nisse, welche in ihren Augen von kosmischer Relevanz und bestimmend für die Zukunft der Welt sind. Ihre visionären Zustände führen sie immer weiter durch ih­ re eigene Geschichte und durch die Geschichte der Menschheit zurück, und den ganzen Weg zurück zum ursprünglichen Akt der Schöpfung und dem idealen Ur­ zustand im Paradies. In diesem Prozess scheinen sie nach Vollkommenheit zu stre­ ben und zu versuchen, diejenigen Dinge zu korrigieren, welche in der Vergangen­ heit falsch liefen.

163

Bild aus einer psychedelischen Sitzung, das die Öffnung des Herzchakras darstellt.

164

Nach einer anfänglichen Phase des tiefen Aufruhrs und der Verwirrung wer­ den die Erfahrungen zunehmend angenehmer und beginnen sich auf eine Lösung hinzubewegen. Der Prozess kulminiert oft in einem Erlebnis des Hieros gamos, der «heiligen Hochzeit», während welcher das Individuum in einen ruhmvollen oder gar heiligen Status erhoben wird und sich mit einem ebensolchen Partner verei­ nigt. Dies weist darauf hin, dass die männlichen und die weiblichen Aspekte der Persönlichkeit zu einem neuen Gleichgewicht gefunden haben. Diese geheiligte Verbindung kann entweder mit einer imaginären archetypischen Figur eingegan­ gen werden oder man projiziert sie auf eine idealisierte Person aus dem eigenen Leben, die dann als der karmische Partner oder der Seelengefährte erscheint. In diesem Zusammenhang können wir auch Erlebnisse haben, in denen Sym­ bole auftauchen, welche nach jungscher Psychologie das Selbst repräsentieren oder das transpersonale Zentrum, welches unser tiefstes, reines Wesen reflektiert und das verwandt, aber nicht identisch ist mit dem Hindu-Konzept von AtmanBrahman, dem Gott im Innern. In visionären Zuständen kann sich das in Form ei­ ner Lichtquelle von übernatürlicher Schönheit oder in Form von kostbarsten Edel­ steinen, Perlen, strahlenden Juwelen und ähnlichen Symbolen manifestieren. Bei­ spiele solcher Entwicklungen, die von den peinvollsten, schwierigsten Situationen bis hin zur Entdeckung der eigenen Göttlichkeit führten, können in John Perrys Werk (Perry 1953,1974,1976) oder auch in unserem Buch über spirituelle Krisen, D ie stürmische S uche nach dem S elbst (Grof und Grof 1990), nachgelesen werden. In dieser Phase des Prozesses werden die glorreichen Erfahrungen im Sinne ei­ ner persönlichen Apotheose verstanden, als eine Art ritueller Zelebrierung, wel­ che uns weg von unserem gewohnten Selbstbild hin zu einem Zustand höchster Er­ habenheit oder gar zu einer übermenschlichen Daseinsform führt: Man wird zu ei­ nem grossen Führer, zum Retter der Welt oder gar zum Herrscher über das Uni­ versum. Dies wird oft mit einer tief empfundenen spirituellen Wiedergeburt assoziiert, welche die anfänglich vorhandene Beschäftigung mit dem Tod ablöst. Nähert sich der Prozess seiner Vollendung und wurden die Erfahrungen richtig in­ tegriert, so erfüllen uns Visionen einer idealen Zukunft, einer neuen Welt, wo Lie­ be und Gerechtigkeit herrschen und alles Kranke und Böse überwunden sind. Sobald der Prozess an Intensität verliert, beginnt die Person zu realisieren, dass das ganze Drama ein innerer Transformationsprozess war, der mit der äusse­ ren Realität wenig zu tun hatte. John Perry glaubt, dass der Erneuerungsprozess das Individuum zur (jungschen) «Individuation» führt: Das eigene Potenzial wird voll erkannt und ausge­ drückt. Ein Aspekt aus Perrys Forschungsmaterial bedarf an dieser Stelle beson­ derer Erwähnung, widerlegt er doch auf einleuchtende Weise das simplifizierte, weil rein biologische Erklärungsmodell zu Psychosen: Perry konnte nachweisen, dass die Erlebnisse, welche die Personen während des Erneuerungsprozesses hat­ ten, mit den Hauptthemen der königlichen Dramen, wie sie in vielen alten Kultu­ ren am Neujahrstag aufgeführt wurden, genau übereinstimmen.

165

Die verschiedenen Kulturen feierten diese bestimmten Riten zur Begrüssung des neuen Jahres während einer Zeitepoche, welche Perry die «archaische Ära des inkarnierten Mythos» nennt. Es handelt sich dabei kulturgeschichtlich gesehen um die Ära, während welcher die Herrscher für inkarnierte Gottheiten gehalten wur­ den. Solche Gottkönige waren beispielsweise die ägyptischen Pharaonen, die Re­ genten der peruanischen Inka, die jüdischen und die hethitischen Könige oder die chinesischen und die japanischen Kaiser (Perry 1966). Das heilende Potenzial des Erneuerungsprozesses und seine Verbindung mit dem archetypischen Symbolis­ mus und mit wichtigen Perioden der menschlichen Kulturgeschichte lassen die Theorie, wonach es sich bei derartigen Erfahrungen um chaotische Erzeugnisse or­ ganischer Hirnerkrankungen handelt, ziemlich unwahrscheinlich erscheinen. 5. Aussersinnliche Wahrnehmung Spirituelle Krisen haben fast ausnahmslos eine Verbesserung der intuitiven Fähig­ keiten und ein gehäuftes Auftreten von übersinnlichen und paranormalen Phä­ nomenen zur Folge. Dieser Zufluss von Informationen aus ungewöhnlichen Quel­ len - wie Präkognition, Telepathie oder Hellsehen - kann manchmal aber so über­ wältigend und verwirrend werden, dass er die ganze Erfahrung dominiert und selbst zum Problem wird. Zu den dramatischsten Manifestationen eines Erwa­ chens paranormaler Fähigkeiten gehören die ausserkörperlichen Erfahrungen. Mitten im Alltag und oft ohne erkennbaren Grund kann sich das Bewusstsein des Individuums vom Körper lösen und miterleben, was sich in der näheren Umge­ bung oder an weit entfernten Orten abspielt. Die Informationen, welche dabei via aussersinnliche Wahrnehmung gewonnen wurden, stimmen oft mit der Konsens­ realität überein. Besonders häufig kommen ausserkörperliche Erfahrungen in Nahtod-Situationen vor, wo ihre Authentizität durch eine Vielzahl systematischer Studien belegt worden ist (Ring 1982, Ring und Valarino 1998). Menschen, bei denen die Öffnung der übersinnlichen «Kanäle» auf extreme Art verläuft, können sich zuweilen so stark auf die inneren Prozesse anderer Leu­ te einstimmen, dass sie bemerkenswerte telepathische Fähigkeiten entwickeln. Sie können die Gedanken anderer Menschen lesen und verbalisieren oft allzu tref­ fend, was in den Köpfen der anderen vorgeht und diese lieber unter Verschluss ge­ halten hätten. Diese Fähigkeit kann ihre Mitmenschen dermassen befremden und irritieren, dass sie die Betreffenden unnötigerweise in ein Krankenhaus einliefern. Ebenso können das Voraussehen künftiger Ereignisse und das Hellsehen von Be­ gebenheiten, die sich an weit entfernten Orten zutragen - vor allem, wenn diese mit einer gewissen Regelmässigkeit auftreten - sowohl den Menschen, der sie er­ fährt, wie auch seine Umgebung zutiefst beunruhigen. Der Prozess des Betreffen­ den kann durch dieses Problem empfindlich gestört werden, und seine Mitmen­ schen sind verunsichert, weil ihre gewohnten Vorstellungen von Realität ernsthaft in Frage gestellt werden. Während solcher Erfahrungen, die man «mediumistisch» nennen könnte, hat man das Gefühl, man gehe der eigenen Identität verlustig und nehme statt dessen

166

die anderer Personen an: deren Erscheinung, Körperhaltung, Gestik, Mimik und selbst ihre Empfindungen und Gedankengänge. Erfahrene Schamanen und spiri­ tuelle Heiler können solche Erfahrungen kontrollieren und auf Gewinn bringende Art nutzen. Während einer Heilsitzung nehmen sie bewusst die Identität des an­ deren an und kehren nach erfolgtem Prozess wieder zur eigenen zurück. Tritt die­ ser Identitätsverlust jedoch unerwartet und unkontrollierbar im Zusammenhang mit psychischen Krisen auf, so kann er das Individuum zutiefst verunsichern und verängstigen. Befindet sich jemand in einer spirituellen Notlage, ergeben sich zudem oft ganze Serien von Koinzidenzen, bei welchen die inneren Realitäten - also zum Beispiel Träume oder visionäre Zustände - auf fast unheimliche Art mit äusseren Alltagsgeschehnissen korrelieren. C. G. Jung erkannte dieses Phänomen, für das er den Begriff Synchronizität prägte, als Erster und erörterte es in einem speziellen Essay (Jung 1960a). Das Studium synchronistischer Ereignisse brachte Jung zur Erkenntnis, dass die Archetypen nicht nur in unserer Psyche wirksam sind. Er rea­ lisierte, dass diese Prinzipien eine «psychoide» (auch dies ein von ihm geprägter Begriff) Qualität aufweisen, das heisst, sie dominieren nicht nur die Vorgänge in­ nerhalb der Psyche, sondern auch die Geschehnisse in der Aussenwelt. Mit diesem faszinierenden Thema habe ich mich in diversen anderen Arbeiten ausführlich auseinandergesetzt (Grof 1988, 1992). Bei den jungschen Synchronizitäten handelt es sich um authentische Phä­ nomene, die weder ignoriert noch als Zufälle abgetan werden sollten. Ebenso we­ nig sollten diese pathologischen Wahnvorstellungen - in welchem Falle man über­ all da bedeutungsvolle Übereinstimmungen und Verbindungen sieht, wo gar keine sind - gleichgesetzt werden, leider eine verbreitete Praxis unserer gegenwärtigen Psychiatrie, die jegliche Anspielung auf bedeutsame Koinzidenzen automatisch als eine Form von Beziehungswahn versteht. Handelt es sich um echte Synchronizitä­ ten, so kann jede geistig offene Person, die Einsicht in die jeweiligen speziellen Umstände hat, erkennen, dass Art und Häufigkeit dieser Koinzidenzen jenseits al­ ler statistischen Wahrscheinlichkeit liegen. Aussergewöhnliche Synchronizitäten treten auch bei vielen anderen Formen spiritueller Krisen auf, besonders typisch sind sie aber für Krisen der psychischen Öffnung. 6. Erinnerungen an frühere Leben Zu den schillerndsten und dramatischsten transpersonalen Erlebnissen gehört das Auftauchen von Erinnerungen an frühere Inkarnationen. Diese Sequenzen spie­ len in anderen historischen Zeiten und/oder anderen Ländern und gehen in der Regel mit starken Gefühlen und körperlichen Empfindungen einher. Die herr­ schenden Umstände, der jeweilige historische Rahmen und involvierte Personen werden meist detailliert und präzis wiedergegeben. Der bemerkenswerteste Aspekt dieser Erfahrungen ist das überzeugende Gefühl, dass man sich an etwas erinnert, das man zu einer früheren Zeit schon einmal gesehen (Déjà-vu) oder er­ lebt (Déjà-vécu) hat. Sicher waren es Erfahrungen dieser Art, welche in Indien und

167

S.168-171: Eine kunstvolle Darstellung der vier perinatalen Matrizen, die verdeut­ licht, dass diese Sequenzen Manifestationen eines universellen, archetypischen

168

Musters sind, welches sich nicht nur bei unserer Geburt, sondern auch bei vielen anderen Prozessen offenbart.

169

170

171

in so vielen anderen Ländern den Glauben an die Reinkarnation und das Gesetz des Karma inspirierten. Die vielfältigen und exakten Informationen, die uns durch diese Erinnerungen an vergangene Leben zugänglich wurden und das damit verbundene grosse Heil­ potenzial fordern uns auf, dieses Phänomen ernst zu nehmen. Gelangt der Inhalt eines karmischen Themas voll ins Bewusstsein, so kann er plötzlich eine Erklärung für viele bis anhin unverständliche Aspekte unseres Alltagslebens liefern. Merk­ würdige Schwierigkeiten in Beziehungen mit gewissen Personen, unbegründete Ängste, eigentümliche Charaktereigenschaften oder Vorlieben und unverständli­ che emotionale und psychosomatische Symptome machen plötzlich Sinn, wenn wir sie als karmische Altlasten aus früheren Leben verstehen. Die damit verbundenen Probleme verschwinden gewöhnlich, sobald das komplette karmische Muster be­ wusst wiedererlebt wird. Auf dieses spannende Thema werden wir später in die­ sem Buch noch einmal zurückkommen. Erlebnisse aus früheren Inkarnationen können unser Leben auf verschiedene Arten komplizieren. Bevor ihr Inhalt voll ins Bewusstsein auftaucht und sich ent­ hüllt, können wir im Alltagsleben von fremdartigen Emotionen, Körperempfin­ dungen oder Visionen heimgesucht werden, ohne zu wissen, woher diese kommen oder was sie bedeuten mögen. Ausserhalb ihres Kontextes erscheinen diese Erfah­ rungen natürlich als unverständlich und irrational. Komplikationen unangenehms­ ter Art ergeben sich auch dann, wenn eine besonders kraftvolle karmische Erinne­ rung mitten im Alltag im Bewusstsein auftaucht und unsere normale Funktions­ weise zumindest beeinträchtigt. ln einer solchen Situation könnte die betroffene Person sich veranlasst fühlen, gewisse Elemente des zugrunde liegenden karmischen Themas auszuagieren, be­ vor dieses als Ganzes richtig bewusst wurde und integriert werden konnte. Unter dem Einfluss einer auftauchenden Erinnerung können wir eine gewisse Person aus unserem derzeitigen Leben als unseren karmischen Seelengefährten identifizieren und meinen, wir müssten wieder näheren Kontakt mit ihr aufnehmen. Oder wir haben das Gefühl, wir müssten unseren Gegner aus alten Zeilen nun definitiv zur letzten Gegenüberstellung herausfordern. Aktivitäten solcher Art können natür­ lich die unerfreulichsten Komplikationen nach sich ziehen, da die karmischen Partner in der Regel über keinerlei entsprechende Kenntnisse verfügen, um ein solches Verhalten verstehen zu können. Selbst wenn einer der beiden es schafft, der Gefahr aus dem Weg zu gehen und eine peinliche Situation zu vermeiden, sind die Probleme noch nicht ganz vom Tisch. Wenn eine Erinnerung aus vergangenen Leben vollständig ins Bewusstsein gelangt ist und dem Betroffenen sowohl ihr Inhalt wie auch die Implikationen klar geworden sind, ergibt sich noch eine letzte Herausforderung. Man muss diese Er­ fahrung mit den traditionellen Glaubenssätzen und Werten der westlichen Zivili­ sation in Einklang bringen. Wenn es um die Ablehnung des Reinkarnationsgedankens geht, herrscht zwischen der christlichen Kirche und der materialistischen Wis­ senschaft eine sonst selten anzutreffende Einmütigkeit. Das Akzeptieren und ver-

172

standesmässige Integrieren einer karmischen Erinnerung ist deshalb sowohl für ei­ ne religiöse Person wie auch für einen Atheisten ein schwieriges Unterfangen. Personen, die sich weder dem christlichen noch dem materialistischen Welt­ bild verpflichtet fühlen, fällt das Assimilieren einer solchen Erfahrung relativ leicht. Gewöhnlich sind solche Erlebnisse an und für sich dermassen überzeugend, dass das Individuum die erhaltene Botschaft ganz einfach akzeptiert - oft empfin­ den Personen ihre neue Entdeckung sogar als äusserst aufregend. Fundamentali­ stische Christen und überzeugte Rationalisten allerdings können in eine Periode der Konfusion geraten, wenn sie realisieren, dass sich diese so überzeugend wir­ kenden persönlichen Erfahrungen mit ihrem Glaubenssystem nicht in Einklang bringen lassen. 7. Kommunikation mit geistigen Führern und «ChallneIing» Es kommt vor, dass man im holotropen Zustand einer «Wesenheit» begegnet, die Interesse an einer persönlichen Beziehung zu zeigen scheint, wobei sie die Rolle eines Lehrers, Führers oder Beschützers einnimmt oder einfach als Informations­ quelle zur Verfügung steht. Solche Wesen werden üblicherweise als nicht inkar­ nierte Menschen, übermenschliche Wesenheiten oder Gottheiten wahrgenom­ men, die auf höheren Bcwusstseinsebenen existieren und über aussergewöhnliche Weisheit verfügen. Manchmal nehmen sie menschliche Gestalt an, manchmal er­ scheinen sie als strahlende Lichtquelle oder lassen einen ihre Gegenwart einfach spüren. Ihre Botschaften werden meist durch direkte Gedankenübertragung oder auf andere übersinnliche Art empfangen. Gelegentlich erfolgt die Kommunikation auch auf verbalem Weg. Ein besonders interessantes Phänomen in dieser Kategorie ist das «Channeling», welches in den vergangenen Jahren in der Öffentlichkeit und in den Medien viel Furore gemacht hat. Beim Channeling übermittelt ein Medium Botschaften, die einer Quelle zu entstammen scheinen, welche ausserhalb seines individuellen Bewusstseins liegt. Dies kann durch Sprechen in Trance geschehen, durch auto­ matisches Schreiben oder durch die Aufzeichnung telepathisch empfangener Ge­ danken. Channeling hat in der Geschichte der Menschheit eine bedeutende Rolle gespielt: Zu den auf diesem Wege entstandenen spirituellen Texten gehören viele Schriften von grossem kulturellem Einfluss wie die altindischen Veden, der Koran oder das Buch Mormon. Ein bemerkenswertes modernes Beispiel eines medial empfangenen Textes ist E in K urs in W undern («A Course in Miracles»), das die Psychologin Helen Schucman niederschrieb (Anonymous 1975). Channeling-Erfahrungen können in ernsthafte psychologische und spirituelle Krisen münden. Ein Grund kann sein, dass das involvierte Individuum die Erfah­ rung als Anzeichen einer beginnenden Geisteskrankheit interpretiert. Dies ist vor allem dann der Fall, wenn das Channeling mit dem Hören von Stimmen einher­ geht, einem bekannten Symptom der paranoiden Schizophrenie. Die Qualität des medial empfangenen Materials variiert von trivialem Geschwätz bis zu Informa­ tionen von ausserordentlicher Qualität. Channeling kann gelegentlich gleichblei-

173

bend korrekte Angaben zu Themen liefern, von welchen der Empfänger keinerlei Kenntnisse hat. Dieser Tatbestand scheint der schlagkräftigste Beweis für eine Teilnahme übernatürlicher Wirklichkeiten zu sein; bei einem Atheisten oder ma­ terialistisch orientierten Wissenschaftler kann dies zu einem Zustand ernsthafter philosophischer Verwirrung führen. Geistführer werden gewöhnlich als fortgeschrittene spirituelle Wesen gesehen, die sich auf einer hohen Ebene der Bewusstseinsevolution befinden und sich durch eine überlegene Intelligenz sowie eine ausserordentliche moralische Integrität auszeichnen. Dies kann beim Medium zu einer hoch problematischen Ich-Inflation führen, indem die Person meint, sie sei für eine spezielle Mission ausgewählt worden und dies als Beweis für ihre eigene Überlegenheit wertet. 8. Nahtoderfahrungen (Near-Death Experiences - NDEs) In all unseren Mythologien, in Folklore und spirituellen Schriften finden wir eindrückliche Schilderungen derjenigen Erfahrungen, die mit dem Tod und dem Ster­ ben Zusammenhängen. Spezielle religiöse Texte handeln ausschliesslich von der posthumen Reise der Seele, welche detailliert beschrieben und erörtert wird - die bekanntesten sind das T ibetanische T otenbuch («Bardo Thödol»), das Ä gypti ­ sche T otenbuch («Pert em hru») und ihr europäisches Gegenstück, die A rs mo riendi («Die Kunst des Sterbens») (Grof 1994). Die westliche Wissenschaft hat diese «Begräbnis-Mythologien» in der Vergan­ genheit als Fantasieprodukte und Wunschdenken von primitiven Völkern, die sich mit der Tatsache der Vergänglichkeit und Sterblichkeit nicht abfinden konnten, abgetan. Diese Situation änderte sich schlagartig mit dem Erscheinen von Ray­ mond Moodys internationalem Bestseller D as L eben nach dem L eben . Das Buch lieferte die wissenschaftliche Bestätigung für viele der alten Schilderungen und Beschriebe und zeigte auf, dass die Begegnung mit dem Tod eigentlich ein faszi­ nierend-fantastisches Abenteuer unseres Bewusstseins ist. Moody bezieht sich in diesem Buch auf die Berichte von 150 Menschen, welche entweder dem Tod sehr nahe gestanden hatten oder gar für klinisch tot erklärt worden waren, dann aber wieder zu Bewusstsein kamen und ihre Erlebnisse erzählen konnten (Moody 1975). Moody schreibt, dass die Personen während ihrer Nahtoderfahrung häufig ihr gesamtes Leben in Form einer farbenreichen, unglaublich verdichteten Rückschau abspulen sahen, welche nach unserem Zeitempfinden nur wenige Sekunden dau­ ern würde. Das Bewusstsein kann sich dabei vom Körper lösen und frei über der Szene schweben, die es oft mit Neugier oder gelassener Heiterkeit betrachtet; oder es kann an entfernte Orte reisen. Viele Leute passierten einen langen, dunklen Tunnel, der zu einem göttlichen, gleissenden Licht von übernatürlicher, strahlen­ der Schönheit führte. Dieses Licht war nicht physikalischer Natur, sondern hatte eindeutig persönli­ chen Charakter; eine Art göttliches Lichtwesen, das unendliche, allumfassende Liebe, Vergebung und Akzeptanz ausstrahlt. In einem persönlichen Austausch,

174

der oft als eine Audienz mit Gott erfahren wird, erhalten sie Unterweisungen, die sich auf die Existenz als solche und die universellen Gesetze beziehen, und haben Gelegenheit, ihre Vergangenheit im Lichte dieser neuen Erkenntnisse zu beurtei­ len. Sie beschliessen, zu ihrer gewohnten Realität zurückzukehren, um ihr Leben fortan so zu leben, dass es mit den neu erlernten Prinzipien in Einklang steht. Moodys Untersuchungsergebnisse sind in der Zwischenzeit von vielen anderen For­ schern wiederholt bestätigt worden. Die meisten Personen gehen aus einer solchen Erfahrung völlig verändert her­ vor. Ihre Sicht der Realität ist nun universeller, allumfassender und spiritueller Na­ tur; Wertesystem und allgemeine Lebensstrategie sind radikal anders geworden. Sie empfinden eine tiefe Achtung vor dem Leben und fühlen sich allen Lebewesen verwandt, und sie kümmern sich um die Zukunft der Menschheit und des Plane­ ten. Die Tatsache, dass eine Begegnung mit dem Tod ein grosses positives Poten­ zial in sich birgt, bedeutet nicht, dass der Transformationsprozess deswegen ein einfacher sei. Nahtoderfahrungen führen oft deswegen zu spirituellen Krisen, weil sie die Weltanschauung der betroffenen Personen völlig unerwartet und radikal umkrempeln; ohne Vorwarnung wird die Person in eine total andere, gänzlich unbekannte Realität katapultiert. Ein Autounfall mitten im Feierabendverkehr oder eine Herzattacke beim Joggen kann jemanden innerhalb von wenigen Sekunden in ein fantastisches visionäres Abenteuer schleudern, welches seine gewohnte Realität zu Fetzen zerfallen lässt. Menschen, die eine Nahtoderfahrung gemacht haben, brauchen eine gute Beratung und Unterstützung, damit sie dieses aussergewöhnliche Erlebnis korrekt in ihr Leben integrieren können. 9. Begegnungen mit UFOs und Entführungen durch Ausserirdische Auch Erfahrungen, die von ausserirdischen Raumschiffen oder einer Entführung durch Ausserirdische handeln, können schwere emotionale und intellektuelle Kri­ sen auslösen, die viel mit spirituellen Krisen gemeinsam haben. Hier bedarf es ei­ ner Erklärung, denn die meisten von uns teilen die Phänomene rund um UFOs in vier Kategorien ein: Ausserirdische Raumschiffe besuchen tatsächlich unsere Er­ de; es handelt sich um Schabernack; Naturereignisse oder technologische Vorrich­ tungen terrestrischen Ursprungs werden fehlinterpretiert; es handelt sich um psy­ chotische Halluzinationen. Alvin Lawson unternahm auch den Versuch, Ent­ führungen durch UFOs als fehlinterpretierte Geburtstraumata zu deuten, und griff dabei auf mein klinisches Material zurück (Lawson 1984). In Beschreibungen von UFO-Sichtungen ist fast immer von leicht unheimli­ chen, übernatürlich wirkenden Lichtern die Rede. Sie scheinen den Lichtern zu ähneln, die in visionären Zuständen gesehen werden und von denen viele Berich­ te und Schriften Zeugnis ablegen. C. G. Jung, der den «fliegenden Untertassen» ei­ ne spezielle Studie widmete, meinte, es handle sich bei diesen Phänomenen um ar­ chetypische Visionen, die dem kollektiven Unbewussten entspringen, und weniger

175

um psychotische Halluzinationen oder tatsächliche Besuche von Ausserirdischen aus fernen Zivilisationen (Jung 1964). Er untermauerte diese These mit einer sorg­ fältigen Analyse der vielen Legenden über fliegende Scheiben, welche sich schon zu Beginn unserer Menschheitsgeschichte finden, und mit Berichten von tatsächli­ chen Erscheinungen, die gelegentlich Massenhysterie ausgelöst hatten. Auch die Parallelen, die sich zwischen diesen Erscheinungen und unseren My­ thologien und Weltreligionen - die beide ihre Wurzeln im kollektiven Unbewus­ sten haben - ziehen lassen, sind bereits dokumentiert worden. Die fremden Raum­ schiffe und kosmischen Flüge, wie sie von angeblich entführten oder eingeladenen Individuen beschrieben wurden, haben ebenfalls ihre Entsprechungen in der spiri­ tuellen Literatur; der Flammenwagen des vedischen Gottes Indra etwa, oder, in der biblischen Version, Ezechiels Flammenmaschine. Die wunderbaren Land­ schaften und Städte, die auf diesen Reisen besucht werden, haben Ähnlichkeit mit den Visionen, die wir vom Paradies, von den himmlischen Reichen und den Licht­ städten haben. Personen, die von Ausserirdischen entführt wurden, berichten, wie sie in spe­ zielle Labors gebracht werden, wo man sie wissenschaftlichen Experimenten und schmerzhaften Untersuchungen unterzieht. Mit Hilfe eines exotisch anmutenden Instrumentariums werden die verschiedenen Körperöffnungen examiniert, wobei die Sexualorgane von speziellem Interesse zu sein scheinen. Die getesteten Perso­ nen vermuten dahinter gentechnologische Experimente, die der Erzeugung hybri­ der Nachkommen dienen sollen. Diese Prozeduren bereiten unerträgliche Qualen, wie wir sie auch bei den schamanischen Initiationskrisen und den Übergangsriten der Naturvölker vorfinden. Es gibt noch einen weiteren Grund, weshalb diese Erfahrungen eine spirituel­ le Krise auslösen können, der sich mit dem Problem vergleichen lässt, das wir vor­ hin im Zusammenhang mit Geistführern und Channeling angeführt haben. Die ausserirdischen Zivilisationen werden im Vergleich zur unsrigen meist als fortge­ schrittener wahrgenommen - nicht nur in Bezug auf Wissenschaft und Technolo­ gie, sondern auch in moralischer und spiritueller Hinsicht. Der Kontakt und die Kommunikation mit ihnen weisen üblicherweise stark mystische Eigenschaften auf, die zu Einsichten universeller und kosmischer Natur führen können. Dies kann dazu führen, dass der Empfänger solch besonderer Aufmerksamkeit sich als etwas Ausserordentliches zu sehen beginnt, indem er dies als Bestätigung seiner herausragenden persönlichen Qualitäten versteht. In der jungschen Psychologie wird eine solche Entwicklung, in welcher das Individuum den faszinierenden Glanz der archetypischen Welt auf seine Person zurückführen will, als «Ich-Inflation» bezeichnet. Menschen, welche die seltsame Welt, die mit UFO-Begegnungen und der Ent­ führung durch Ausserirdische zu tun hat, erlebt haben, brauchen professionelle Hilfe von einer Person, die sich in der archetypischen Psychologie auskennt und die über die spezifischen Charakteristiken der UFO-Phänomene Bescheid weiss. Sachkundige Forscher wie der Harvard-Psychiater John Mack beispielsweise ha­

176

ben bewiesen, dass Entführungen durch Ausserirdische für die westliche Psychia­ tric und die materialistische Wissenschaft eine grosse Herausforderung darstellen und dass es naiv und unverantwortbar wäre, diese als Manifestationen von Gei­ steskrankheiten abzutun oder ganz zu ignorieren (Mack 1994,1999). In all den Jahren meiner Arbeit mit Individuen, die bei psychedelischen oder holotropen Atemsitzungen oder während spiritueller Krisen eindringliche Erfah­ rungen der Entführung durch Ausserirdische gemacht hatten, überzeugte mich im­ mer wieder die Intensität und erfahrungsgemässe Authentizität dieser Erlebnisse; gelegentlich wiesen diese auch eindeutig psychoide Züge auf. Ich bin davon über­ zeugt, dass solche Erfahrungen als Phänomene sui generis betrachtet und seriös studiert werden müssen. Die Ansicht der traditionell orientierten Psychiater, wel­ che sie als Produkt unbekannter pathologischer Prozesse im Gehirn ansehen, ist zu simpel und unglaubwürdig. Die Alternative, wonach die Besuche aus dem Weltall eine realistische Tatsa­ che sein sollen, erscheint ebenso unglaubwürdig. Wäre eine ausserirdische Zivili­ sation tatsächlich im Stande, Raumschiffe zu unserem Planeten zu entsenden, so müsste sie über technische Mittel verfügen, die wir uns noch nicht einmal vorstel­ len können. Wir besitzen genug Informationen über die Planeten unseres eigenen Sonnensystems, um zu wissen, dass sie als Herkunftsorte solcher Expeditionen kaum in Frage kommen. Und die Entfernung zu den nächstliegenden Sonnensys­ temen beträgt mehrere Lichtjahre. Um diese Distanzen zu bewältigen, wäre annähernd Lichtgeschwindigkeit erforderlich, oder die Reise müsste im interdi­ mensionalen «Hyperspace» erfolgen. Eine solchermassen hoch entwickelte Zivili­ sation würde sicherlich auch über etliche technologische «Tricks» verfügen, die es uns verunmöglichen würden, zwischen Halluzination und Realität zu unterschei­ den. Solange jedoch nicht mehr verlässliche Informationen verfügbar sind, scheint es ratsam, die UFO-Phänomene weiterhin als Manifestationen archetypischer Ele­ mente, die dem kollektiven Unbewussten entstammen, anzusehen. 10. Zustände von Besessenheit Diese Form von transpersonaler Krise ist durch das unheimliche Gefühl gekenn­ zeichnet, dass eine fremde, bösartige Wesenheit oder Energie mit persönlichen Ei­ genschaften die eigene Psyche in Besitz nimmt und kontrolliert. Sie scheint von ausserhalb zu kommen und wird als nicht zur eigenen Person gehöriger, störender Fremdkörper empfunden. Es kann sich um eine körperlose Wesenheit, eine dä­ monische Erscheinung oder aber um den Einfluss einer bösartigen Person han­ deln, welche das Bewusstsein mittels schwarzer Magie oder Hexenritualen zu er­ obern versucht. Solche Zustände können sich in vielen verschiedenen Formen und in unter­ schiedlicher Intensität äussern; die Ursache der Störung lässt sich zum Teil nicht eruieren. Das Problem manifestiert sich gewöhnlich als schwer wiegende Psycho­ pathologie, wie asoziales oder gar kriminelles Verhalten, suizidale Depression, mörderische Aggression, selbstzerstörerisches Verhalten, promiskuöse und abarti-

177

Darstellung einer dämonischen Figur, die während einer holotropen Sitzung auftauchte. Sie verkörpert den intellektuellen Verstand, der uns von unserer wahren Natur trennt.

ge sexuelle Impulse und ebensolche Aktivitäten, oder auch exzessiver Alkoholund Drogenmissbrauch. Manchmal wird der diesen Problemen zugrunde liegende «Zustand von Besessenheit» erst dann erkannt, wenn sich die betreffende Person in eine Selbsterfahrungstherapie begibt. Mitten in der Sitzung kann sich das Gesicht der besessenen Person plötzlich krampfartig verändern und die Form einer «Teufelsmaske» annehmen. Augen und Gesicht nehmen einen wilden, Furcht erregenden Ausdruck an, Leib und Gliedmassen krümmen sich, und die Stimme wird tief und klingt unirdisch. Falls die Betreuer eine volle Manifestation dieses Zustandes zulassen und unterstützen, so kann das Verhalten des Betroffenen extreme Ausmasse annehmen; solche Sit­

178

zungen ähneln dann den Exorzismen der katholischen Kirche oder entsprechen­ den Ritualen der verschiedenen Eingeborenenkulturen. Die Auflösung erfolgt meist nach dramatischen Episoden von heftigem Würgen, strahlförmigem Erbre­ chen, wilder physischer Aktivität und/oder zeitweiligem totalem Kontroll- und Be­ wusstseinsverlust. Sequenzen dieser Art können dennoch ungewöhnlich heilsam sein, und es kommt oft zu einer profunden spirituellen Erfahrung, welche die je­ weilige Person völlig transformieren kann. Die dramatischste Episode dieser Art, der ich im Verlaufe meiner Karriere beiwohnte, war der Fall Flora, welcher im Ap­ pendix dieses Buches detailliert beschrieben ist. In anderen Fällen ist der oder die «Besessene» sich der Gegenwart einer übel wollenden Wesenheit bewusst und versucht mit allen Mitteln, diese zu bekämpfen und unter Kontrolle zu bringen. Im schlimmsten Fall kann sich die gefährliche En­ ergie völlig unerwartet mitten im Alltagsleben manifestieren und die Führung übernehmen. Die Situation verläuft dann ähnlich wie in den zuvor erwähnten Sit­ zungen, nur fehlt dem Individuum hier die unterstützende und schützende Atmos­ phäre eines therapeutischen Umfelds. Unter solchen Umständen kann er oder sie extreme Angstzustände erleiden und an Gefühlen der Einsamkeit verzweifeln. Verwandte, Freunde und auch Therapeuten neigen dazu, sich vom betreffenden Individuum loszusagen; sie reagieren mit einer seltsamen Mischung aus tiefer me­ taphysischer Furcht und «moralischer» Ablehnung. Sie sehen die Person als bösar­ tig an und weigern sich, den Kontakt mit ihr aufrechtzuerhalten. Obwohl diese Zustände mit negativen Energien und unangenehmsten Verhal­ tensweisen zu tun haben, sind sie eindeutig den spirituellen Krisen zuzuordnen. Der dämonische Archetyp ist an sich transpersonaler Natur, da er das negative Spiegelbild des Göttlichen repräsentiert. Oft scheint er auch als «Pfortenöffner» oder «Hüter der Schwelle» zu fungieren, vergleichbar den Schrecken erregenden Wächtern, welche die Eingangspforten orientalischer Tempel flankieren. Er ver­ birgt den Zugang zu einer profunden spirituellen Erfahrung, welche sich nach ei­ nem erfolgreich abgeschlossenen Zustand der Besessenheit so oft ergibt. Mit der tatkräftigen Unterstützung einer Person, die sich vor den unheimlichen Manifesta­ tionen nicht fürchtet und ein vollständiges Hervortreten der Energie zulässt und fördert, kann die Energie aufgelöst werden, und eine profunde Heilung tritt ein. 11. Alkoholismus und Drogensucht als spirituelle Krisen Es macht durchaus Sinn, Abhängigkeit als eine Form spiritueller Krise zu bezeich­ nen, obwohl deren äussere Erscheinungsformen sich von denen der «typischeren» spirituellen Krisen unterscheidet. In der Sucht wird, gleich wie bei den Zuständen von Besessenheit, die spirituelle Dimension von der zerstörerischen und selbstzer­ störerischen Qualität der Krankheit überschattet. Während das Problem bei den anderen spirituellen Krisen daher rührt, dass die Individuen Schwierigkeiten ha­ ben, mit mystischen Erfahrungen umzugehen, sind die Ursachen in diesem Fall ei­ ne starke spirituelle Sehnsucht und der Umstand, dass der Kontakt mit der mysti­ schen Dimension noch nicht hergestellt wurde.

179

Es ist bewiesen, dass das Verlangen nach Drogen und Alkohol eigentlich die unerkannte Sehnsucht nach Transzendenz und Ganzheit ist. Viele genesende Menschen erzählen von ihrer rastlosen Suche nach irgendeinem unbekannten Ele­ ment oder einer fehlenden Dimension in ihrem Leben und empfinden das frustrie­ rende, zuweilen überwältigende Verlangen nach Drogen, Alkohol, Essen, Sex oder anderen Suchtobjekten als ein fortwährendes, fehlgeleitetes Bemühen, diese unerfüllte Sehnsucht zu stillen (Grof 1993). Wie wir zuvor gesehen haben, gibt es zwischen mystischen Zuständen und dem durch Alkohol oder harte Drogen erzeugten Rauschzustand gewisse Ähnlichkei­ ten. In beiden Zuständen haben wir ein Gefühl der Auflösung der persönlichen Grenzen, störende Emotionen verschwinden, und unsere weltlichen Probleme sind nicht mehr von Belang. Obwohl dem Alkohol- oder Drogenrausch viele der echten mystischen Eigenschaften wie gelassene Heiterkeit, das Gefühl von Numinosität und der Reichtum an philosophischen Einsichten fehlen, ist die Überlap­ pung gross genug, um Alkoholiker und Süchtige zu verführen. William James erkannte diesen engen Zusammenhang und schrieb in Die V ielfalt religiöser E rfahrung («Varieties of Religious Experience»): «Die Macht, die der Alkohol über die Menschen hat, hat zweifelsohne auch damit zu tun, dass er ihre mystische Ader, welche gewöhnlich von den kalten Fakten und trockener Kritisiererei nüchterner Stunden mit Füssen getreten wird, stark stimu­ lieren kann. Nüchternheit reduziert, diskriminiert und sagt Nein; Trunkenheit er­ weitert, verbindet und sagt Ja.» (James 1961). Was dieser Tatbestand konkret für die Therapie bedeutete, drückte er in seiner berühmten Feststellung treffend so aus: «Die beste Kur gegen Dipsomanie (ein veralteter Begriff für Alkoholismus) ist Religiomanie.» C. G. Jung gelangte auf eigenen Wegen zur selben Einsicht; die Schriften, die er zu diesem Thema verfasste, waren wegweisend für die Entwicklung des welt­ weiten Netzwerks, welches das Zwölf-Punkte-Programm propagiert. Dass Jung in der Geschichte der Anonymen Alkoholiker (AA) eine wichtige Rolle spielte, ist allgemein wenig bekannt. In einem Brief, den Bill Wilson, Mitbegründer der AA, 1961 an Jung schrieb, lässt sich Jungs Bedeutung für die Bewegung erkennen (Wil­ son und Jung 1963). Jung hatte einen Patienten, Roland H., der ihn aufsuchte, nachdem er ohne Erfolg alle möglichen Methoden zur Überwindung der Alkoholsucht ausprobiert hatte. Die Behandlung bei Jung hatte eine temporäre Besserung zur Folge, doch nach einem Jahr erfolgte ein Rückfall. Jung eröffnete ihm, sein Fall sei hoffnungs­ los und die einzige Chance, die er noch hätte, sei, sich einer religiösen Gemein­ schaft anzuschliessen und auf eine profunde spirituelle Erfahrung zu hoffen. Ro­ land H. trat der Oxford-Gruppe bei, einer evangelischen Bewegung, die auf Selbst­ prüfung, Beichte und den Dienst an anderen setzt, und hatte dort ein religiöses Bekehrungscrlebnis, das ihn vom Alkoholismus befreite. Er kehrte nach New York zurück, wo er sich aktiv in der dort ansässigen Oxford-Gruppe engagierte. Er

180

konnte so Bill Wilsons Freund, Edwin T., helfen, der dann seinerseits Bill Wilson aus einer tiefen Krise half. Während seines profunden spirituellen Erlebnisses hat­ te Bill Wilson die Vision einer weltumspannenden, netzwerkartigen Freundesge­ meinschaft von einander helfenden Alkoholikern. Jahre später schrieb Wilson den zuvor erwähnten Brief an Jung, um ihm mit­ zuteilen, wie bedeutend seine Rolle für die Geschichte der AA war. In seiner Ant­ wort schrieb Jung, auf seinen ehemaligen Patienten Bezug nehmend: «Das Ver­ langen nach Alkohol ist auf einer niedrigen Ebene das Äquivalent des spirituellen Durstes unseres Wesens nach Ganzheit, oder, in der Sprache des Mittelalters, nach der Vereinigung mit Gott.» Jung machte auch darauf aufmerksam, dass im Latei­ nischen das Wort spiritus zweierlei bedeutet: nämlich Alkohol und Geist. Sein «Spiritus contra spiritum» bringt kurz und bündig seine Überzeugung zum Aus­ druck, dass einzig eine tiefe spirituelle Erfahrung im Stande ist, den Menschen von den Verheerungen des Alkohols zu retten. James’ und Jungs Erkenntnisse sind seither von der klinischen Forschung vielfach bestätigt worden (Grof 1980).

Die Behandlung spiritueller Krisen Die psychotherapeutische Strategie für Individuen in spirituellen Krisen sollte die­ jenigen Prinzipien reflektieren, welche wir früher in diesem Buch diskutiert haben. Sie sollten auf der Erkenntnis gründen, dass es sich hier nicht um Manifestationen von irgendwelchen, bis dato noch unerkannten pathologischen Prozessen handelt, sondern auf eine spontane Regung der Psyche zurückzuführen ist, die ein starkes heilendes und transformatives Potenzial besitzt. Um spirituelle Krisen verstehen und behandeln zu können, müssen wir von einem erweiterten Modell der Psyche, das perinatale und transpersonale Dimensionen mit einschliesst, ausgehen. Welcher Art die therapeutische Begleitung sein soll und bis zu welchem Gra­ de sie nötig ist, hängt von der Intensität des Prozesses ab. Handelt es sich um mil­ dere Formen spiritueller Krisen, so können die Betroffenen mit ihren holotropen Erfahrungen in der Regel selbst umgehen. Sie brauchen einzig eine Gelegenheit, um ihren Prozess mit einem transpersonal orientierten Therapeuten zu bespre­ chen, welcher konstruktives Feedback gibt und dem Patienten hilft, seine Erleb­ nisse ins Alltagsleben zu integrieren. Handelt es sich um einen äusserst aktiven Prozess, so sind regelmässige Sit­ zungen in einer erfahrungsorientierten Therapie vonnöten, welche das Emporstei­ gen unbewussten Materials erleichtert und den vollen Ausdruck der blockierten physischen und emotionalen Energien fördert. Die allgemeine Vorgehensweise ist die gleiche wie beim holotropen Atmen. Sind die Erlebnisse sehr intensiv, so ist al­ les, was wir tun müssen, den Patienten zu ermutigen, sich dem Prozess voll und ganz hinzugeben. Stossen wir auf starken psychischen Widerstand, hilft oft eine Energie freisetzende und entspannende Körperarbeit, so wie sie auch in der Schlussphase von holotropen Atemsitzungen zur Anwendung kommt. Holotropes Atmen als solches ist nur dann zu empfehlen, wenn die natürliche Entfaltung des Prozesses zum Stillstand kommt.

181

Diese sehr intensiven Selbsterfahrungssitzungen können auch durch eine be­ gleitende Gestalt-Therapie, Dora Kalffs Sandspiel oder durch gezielte Körperar­ beit (vorzugsweise mit einem psychologisch erfahrenen Therapeuten) ergänzt und abgerundet werden. Das Führen eines Tagebuchs, Mandalazeichnen, Ausdrucks­ tanz, Joggen, Schwimmen und andere körperliche Aktivitäten helfen ebenfalls bei der Integration. Falls die Person sich genügend konzentrieren kann, so kann das Lesen von transpersonal orientierten Büchern, vor allem natürlich solcher, die von spirituellen Krisen oder von Themen handeln, die er gerade durchlebt, äusserst hilfreich sein. Menschen, deren Erfahrungen so intensiv und dramatisch sind, dass sie nicht ambulant behandelt werden können, werden zu einem sozialen Problem. Es gibt so gut wie keine Einrichtungen, welche eine 24-Stunden-Überwachung ohne An­ wendung der üblichen, symptomunterdrückenden Psychopharmaka anbieten. In Kalifornien gab es einige experimentelle Kliniken dieser Art, etwa John Perrys Zentren Diabasis in San Francisco und Chrysalis in San Diego, oder Barba­ ra Findeisens Pocket Ranch in Geyserville, doch war diesen keine lange Lebens­ zeit beschieden. Die Schaffung solcher alternativer Zentren, in welchen spirituelle Krisen in Zukunft wirksam therapiert werden können, ist unerlässlich. Manchenorts haben Helfer diesen Mangel auszugleichen versucht, indem sie Teams von ausgebildeten Begleitern geschaffen haben, die ihm ihre Unterstützung anbieten und für die Dauer der Krise abwechslungsweise beim Klienten wohnen. Organisation und Behandlung der intensiven, akuten Formen spiritueller Krisen erfordern das Ergreifen aussergewöhnlicher Massnahmen, ob dies nun in einer Klinik oder am Wohnort des Klienten stattfindet. Lang währende Episoden dieser Art können sich über Tage oder Wochen hinziehen und mit viel körperlicher Ak­ tivität, intensivsten Emotionen, mangelndem Appetit und Schlaflosigkeit einher gehen. Diese körperliche Hyperaktivität kann zu einer gefährlichen Dehydrierung des Körpers führen, zu unzureichender Vitamin- und Mineralienzufuhr und zu to­ talen Erschöpfungszuständen. Bei ungenügender Nahrungsaufnahme sinkt der Blutzuckerspiegel stark, was bekanntlich zu einer Schwächung der psychischen Abwehrkräfte führt. Die Folge ist, dass noch mehr unbewusstes Material ins Be­ wusstsein dringt. Dies kann zu einem Teufelskreis führen, welcher die akute Situa­ tion noch mehr in die Länge zieht. Um die im Prozess befindliche Person besser zu erden, eignen sich beispielsweise Tee mit Honig, Bananen und andere zuckerhalti­ ge Speisen. Personen, die intensive psychospirituelle Krisen durchmachen, sind normaler­ weise so sehr in ihren Zustand vertieft, dass sie Essen und Trinken vergessen und auch die elementarste Hygiene auslassen. Es ist darum Aufgabe der Helfer, sich um die Grundbedürfnisse ihrer Klienten zu kümmern. Da die Pflege von in akuten spirituellen Krisen befindlichen Personen äusserst anspruchsvoll ist, sollten die Helfer in Schichten von vernünftiger Dauer arbeiten, sodass ihre eigene geistige und körperliche Gesundheit intakt bleibt. Um unter diesen speziellen Umständen eine umfassende, vollständige Pflege garantieren zu können, ist das Führen eines

182

Logbuchs, in welchem vermerkt wird, wann, was für welche und wie viel Nahrung, Flüssigkeit und Vitamine der Klient zu sich genommen hat, absolut notwendig. Schlafmangel und Fasten schwächen bei den meisten von uns die Abwehrkräfte, wodurch unbewusstes Material ins Bewusstsein dringen kann. Und dies kann wiederum in einen Teufelskreis münden, der unterbrochen werden sollte. Es mag deshalb notwendig sein, dem Klienten von Zeit zu Zeit ein leichtes Beruhigungs­ oder Schlafmittel zu verabreichen, um dessen Schlaf sicherzustellen. Das Einset­ zen von Medikamenten ist hier aber nur im Sinne einer lindernden, kurzfristig be­ ruhigenden Massnahme zu verstehen, wird also nicht als Therapeutikum verwen­ det, wie dies die klassische Psychiatrie lut. Das Verabreichen eines Beruhigungs­ oder Schlafmittels unterbricht den Teufelskreis und gibt dem Klienten die nötige Ruhe und Kraft, damit er am nächsten Tag seinen Prozess weiterführen kann. ln den späteren Stadien spiritueller Krisen, wenn die Intensität des Prozesses nachlässt, braucht die Person keine ständige Begleitung mehr. Nach und nach wen­ det sie sich wieder ihren gewohnten Alltagsbctätigungen zu und sorgt für sich selbst. Wie lange ein Individuum das schützende Umfeld noch braucht, hängt vom Grad der Stabilisierung und der Integration des Prozesses ab. Falls nötig, können wir ein paar Sitzungen in loser Folge in Betracht ziehen und auch auf die zuvor er­ wähnten geeigneten Aktivitäten verweisen. In regelmässigen Abständen geführte Gespräche, welche sich auf die Erfahrungen und Einsichten konzentrieren, die man während der Krisenzeit hatte, helfen ebenfalls bei der Integration des Mate­ rials. Die Behandlung von Alkoholismus und Drogensucht weist ein paar ganz spe­ zifische Probleme auf und wird deshalb separat besprochen. Es sind vor allem der Tatbestand der körperlichen Abhängigkeit sowie die progressive Natur dieser Krankheit, die spezielle Massnahmen notwendig machen. Bevor Klient und The­ rapeut sich den psychologischen Problemen seiner Sucht widmen können, ist es unerlässlich, dass der chemische Zyklus, welcher nach einer Fortsetzung der Ein­ nahme dieser Substanzen verlangt, durchbrochen wird. Das Individuum muss sich als erstes einer Entgiftungs- und Entziehungskur in einer spezialisierten Klinik un­ terziehen. Hat die Person dies hinter sich gebracht, kann man sich den psychospirituellen Problemen zuwenden. Wie wir gesehen haben, haben Alkohol- und Drogenab­ hängigkeil mit einer fehlgeleiteten Suche nach dem Transzendenten zu tun. Soll die Behandlung erfolgreich sein, muss ein ganz wesentlicher Teil des Therapiepro­ gramms auf die spirituelle Dimension dieses Problems cingehcn. Am meisten Er­ folge in der Geschichte der Suchtbekämpfung erzielten bisher zweifelsohne die Anonymen Alkoholiker (AA) und die Anonymen Narkotiker (AN), welche, aus­ gehend von Bill Wilsons Zwölf-Punkte-Philosophie, als weltumspannende kame­ radschaftliche Gemeinde einen menschennahen Kurs vertreten. Während der Alkoholiker oder Drogensüchtige das Programm Punkt für Punkt durchgcht, beginnt er zu erkennen - und zuzugeben -, dass er die Kontrolle über sein Leben verloren hat und keine Kraft mehr hat. Die Betreffenden werden

183

ermutigt, sich voll und ganz zu ergeben und zuzulassen, dass eine höhere Macht die Führung übernimmt (wobei diese «höhere Macht» individuell definiert wird - es kann sich dabei um eine Gemeinschaft Gleichgesinnter handeln, oder um das höhere Selbst, die/eine schöpferische Kraft, das göttliche Prinzip usw.; Anm. d. Ü.) Bei einem schmerzhaften Rückblick auf die persönliche Lebensgeschichte wird ih­ nen die ganze lange Liste ihrer Verfehlungen bewusst, und sie versuchen nun, bei jenen Personen, denen sie zuvor so viel Leid zugefügt haben, Wiedergutmachung zu leisten. Wer im chemischen Sinne Suchtfreiheit erlangt hat und auf dem Weg der Genesung ist, wird dazu angehalten, die Botschaft an andere Süchtige weiter­ zugeben und ihnen bei der Überwindung ihrer Sucht zu helfen. Das Zwölf-Punkte-Programm ist für Alkohol- und Drogenabhängige von un­ schätzbarem Wert, angefangen bei den allerersten Schritten, aber auch in all den folgenden Jahren der Abstinenz und Erholung. Da das Hauptthema dieses Buches das Heilpotenzial holotroper Zustände ist, wollen wir diese nun zur Suchtproble­ matik in Beziehung setzen und schauen, ob und in welcher Form solche Zustände bei deren Behandlung nützlich sein können. Diese Frage ist eng verwandt mit dem elften Grundsatz des Zwölf-Punkte-Programms, der auf die Notwendigkeit hin­ weist, dass wir durch Gebet und Meditation «danach trachten, den bewussten Kon­ takt mit dem Göttlichen, so wie wir es verstehen, zu verbessern». Da holotrope Zu­ stände den Zugang zu mystischen Erfahrungen erleichtern, lassen sie sich ganz klar dieser Kategorie zuweisen. In all diesen Jahren habe ich die holotrope Therapie unzählige Male bei der Behandlung von Alkoholikern und Drogensüchtigen angewendet, und viele Re­ konvaleszente nutzten das Potenzial dieser Zustände, um ihren nüchternen Zu­ stand qualitativ zu verbessern. Ich war Teil von einem Team am Maryland Psy­ chiatric Research Center in Baltimore, das umfangreiche, systematische Studien durchführte, in denen die Anwendung der psychedelischen Therapie bei Alkoho­ likern und Drogensüchtigen getestet wurde (Grof 1980). Auch konnte ich, im Zu­ sammenhang mit unseren Trainings, viele Male beobachten, wie sich das holotro­ pe Atmen, wenn es in regelmässigen Abständen durchgeführt wird, bei Genesen­ den auswirkt. Ich möchte zuerst von meinen eigenen Beobachtungen berichten und dann auf die Probleme eingehen, die sich im weiteren Kontext des ZwölfPunkte-Programms ergeben. Gemäss meinen Erfahrungen kann weder die holotrope Atemarbeit noch die psychedelische Therapie Alkoholikern und Drogenabhängigen helfen, solange diese weiterhin Alkohol oder Drogen zu sich nehmen. Selbst profunde Erfahrun­ gen scheinen nicht die Kraft zu haben, diesen chemischen Zyklus zu durchbrochen. Die therapeutische Arbeit mit holotropen Zuständen sollte erst dann aufgenom­ men werden, wenn die Süchtigen eine Entziehungskur hinter sich gebracht haben, die Entzugserscheinungen überwunden und sie wieder nüchtern sind. Erst dann können die Klienten von den holotropen Erfahrungen profitieren und an den psy­ chologischen Problemen ihrer Sucht arbeiten. An diesem Punkt können die ho­ lotropen Zustände jedoch von grossem Nutzen sein, indem sie dem Individuum

184

helfen, die traumatischen Erinnerungen und schwierigen Emotionen zu konfron­ tieren und zu verarbeiten und wertvolle Einsichten zu den psychologischen Wur­ zeln ihrer Sucht zu gewinnen. Holotrope Erfahrungen können auch zum Erlebnis von Tod und Wiederge­ burt führen; die Personen gelangen an den therapeutisch so bedeutsamen «tiefsten Punkt», der im Leben vieler Alkoholiker und Süchtigen die kritische Wende dar­ stellt. Die Erfahrung des Ich-Todes erfolgt hier in einem geschützten Rahmen, oh­ ne die potenziell gefährlichen physischen, zwischenmenschlichen und sozialen Konsequenzen, die sich zumeist dann ergeben, wenn sich diese Erfahrung spontan und unerwartet im gewohnten Umfeld des Klienten einstellt. Und schliesslich kön­ nen holotrope Zustände dem Süchtigen zu einem profunden spirituellen Erlebnis verhelfen, dem wahren Objekt seines Verlangens und seiner tiefen Sehnsucht. Und damit verringert sich die Wahrscheinlichkeit, dass er weiterhin zu so unglück­ lichen Ersatzmitteln wie Alkohol oder Drogen greift. Die Anwendung der psychedelischen Therapie bei Alkoholikern und Drogen­ abhängigen - im Zusammenhang mit unserem Forschungsprogramm am Mary­ land Psychiatric Research Center - erwies sich als sehr erfolgreich, obwohl sie auf nur drei Sitzungen pro Patient beschränkt war. Sechs Monate später waren über 50 Prozent der chronischcn Alkoholiker und ein Drittel der Drogensüchtigen noch immer abstinent und wurden von einem unabhängigen Team von Begutachtern als «grundsätzlich rehabilitiert» bezeichnet (Pahnke et al. 1970, Savage und McCabe 1971, Grof 1980). Personen, die sich im Genesungsprozess befinden und zu unse­ ren Trainings oder Workshops kommen, finden fast ausnahmslos, dass holotropes Atmen sowohl ihr Befinden wie auch die Qualität ihrer Nüchternheit verbessert und ihr spirituelles Wachstum fördert. Trotz der offensichtlichen positiven Auswirkungen wurde die Anwendung ho­ lotroper Zustände von einigen konservativen Mitgliedern der Zwölf-Punkte-Bewegung aufs heftigste kritisiert. Sie behaupteten, dass ein «Hoch», egal welcher Art es ist, für einen Alkoholiker und Süchtigen immer einen «Rückfall» bedeutet. Damit meinen sie nicht nur holotrope Sitzungen mit psychedelischen Substanzen, sondern auch andere Selbsterfahrungstherapien und selbst die Meditation, ein Weg, der in Punkt elf explizit gutgeheissen wird. Es ist anzunchmen, dass diese extreme Haltung mit der Geschichte des AAMitbegründers Bill Wilson zu tun hat, der nach zwanzig Jahren Abstinenz an ei­ nem psychedelischen Programm teilnahm und einige Sitzungen mit LSD hatte. Da er diese Erlebnisse als äusserst nützlich empfand, versuchte er, psychedelische Sit­ zungen im therapeutischen Rahmen auch bei den Anonymen Alkoholikern einzu­ führen. Dies hatte einen Riesenaufruhr zur Folge und wurde schliesslich abge­ lehnt. Wir sehen uns also mit zwei verschiedenen Perspektiven konfrontiert, wenn wir holotrope Zustände zu Sucht und Abhängigkeit in Beziehung setzen. Die eine von ihnen sieht jegliche Methode, die mit einem Verlassen des gewohnten Be­ wusstseinszustands einhergeht, als inakzeptabel an und wird als ein Rückfalligwer-

185

den der süchtigen Person verstanden. Die andere Sicht basiert auf der Idee, dass das Anstreben eines spirituellen Zustands eine berechtigte, weil natürliche Ten­ denz unserer menschlichen Natur und die Sehnsucht nach dem Transzendenten die stärkste Motivationskraft unserer Psyche ist (Weil 1972). So gesehen ist Sucht nichts anderes als eine fehlgeleitete und verzerrte Form dieses Bemühens, und das wirkungsvollste Mittel dagegen ist ein echtes, direktes Erlebnis des Göttlichen. Die Zukunft wird weisen, welcher der beiden Wege von Fachleuten und Ge­ nesenden eingeschlagen wird. Die meistversprechende Entwicklung in meinen Augen wäre ein Amalgam von Zwölf-Punkte-Programm, der effektivsten Metho­ de bei der Behandlung von Alkoholismus und Drogensucht, und transpersonaler Psychologie, die einen soliden theoretischen Rahmen für spirituell orientierte Therapien bietet. Eine kompetent angewandte Form von holotroper Therapie wä­ re ein logischer Bestandteil einer solchen umfassenden Vorgehensweise. ln den Achtzigerjahren organisierten meine Frau und ich in Eugene, Oregon, und Atlanta, Georgia, zwei Treffen der International Transpersonal Association (ITA), welche die Durchführbarkeit und die Sinnhaftigkeit eines Zusammenge­ hens von Zwölf-Punkte-Programm und transpersonaler Psychologie demonstrier­ ten. Empirische und theoretische Argumente, die für eine solche Verschmelzung sprechen, finden sich in verschiedenen Publikationen (Grof 1987, Grof 1993, Sparks 1993). Das Konzept der «spirituellen Krisen» ist neu und wird in Zukunft sicherlich ver­ feinert und ergänzt werden. Doch haben wir immer wieder gesehen, dass es, selbst in seiner heutigen, von Christina und mir definierten Form, für viele Individuen in Transformationskrisen von grösser Hilfe war. Wir haben festgestellt, dass solche Zustände, wenn sie mit Respekt behandelt und richtig unterstützt werden, auf tie­ fen Ebenen Heilung und positive Transformation bewirken können und zu einer optimierten Funktionsweise in unserer Alltagsrealität führen. Obwohl die gegen­ wärtigen Bedingungen für die Heilung psychospiritueller Krisen alles andere als ideal sind, konnten wir diese positiven Ergebnisse immer wieder beobachten. Dieses viel versprechende Konzept könnte in den nächsten Jahren vielerorts Fuss fassen - falls ausgebildete Helferinnen und Helfer über ein Netzwerk mit 24Stunden-Zentren verfügen könnten, die Personen aufnehmen, deren spirituelle Krise so intensiv ist, dass eine ambulante Behandlung nicht in Frage kommt. Ge­ genwärtig stellen das Fehlen solcher Kliniken und der Mangel an Unterstützung seitens der Krankenkassen, was unkonventionelle Behandlungsmethoden betrifft, für die neuen therapeutischen Strategien die grössten Hindernisse dar.

186

Kapitel 5 Neue Perspektiven in der Psycho­ therapie und der Selbsterforschung

W

ir haben gesehen, wie das Verständnis emotionaler und psychosomatischer Störungen durch die Erforschung holotroper Zustände revolutioniert wur­ de. Und dass psychopathologische Symptome und Syndrome psychogenen Ur­ sprungs durch postnatale Traumata allein nur ungenügend erklärt werden können. Beobachtungen aus den neuen Selbsterfahrungstherapien zeigen ausserdem auf, dass diese Bewusstseinszustände eine vielschichtige dynamische Struktur aufwei­ sen, in der sich bedeutende Elemente aus der perinatalen und der transpersonalen Ebene finden. Diese Entdeckungen zeichnen an und für sich ein pessimistisches Bild der Psy­ chotherapie, wie wir sie üblicherweise verstehen. Sie zeigen, warum die verbalen, rein biografisch ausgerichteten Ansätze bei der Behandlung schwer wiegender geistiger Erkrankungen zumeist enttäuschen. Aufgrund ihrer konzeptionellen und technischen Beschränkungen können die erwähnten Methoden die tieferen Wur­ zeln der zu behandelnden Probleme gar nicht erreichen. Zum Glück zeigt die Ar­ beit mit holotropen Zuständen nicht nur, dass emotionale und psychosomatische Leiden bedeutende perinatale und transpersonale Dimensionen haben. Sie eröff­ net auch neue Perspektiven für wirksamere therapeutische Mechanismen, die auf diesen tiefen Ebenen der Psyche besser greifen. Jede Therapie und jede Selbsterforschungsmethode, die auf den Einsichten aus den Studien holotroper Zustände basieren und deren Heilpotenzial nutzen, kann der holotropen Strategie der Psychotherapie zugerechnet werden. Diese Stra­ tegie stellt eine wichtige Alternative zu den Techniken der verschiedenen anderen Schulen der Tiefenpsychologie dar, welche den verbalen Austausch zwischen The­ rapeut und Klient betonen. Sie unterscheidet sich auch deutlich von den von Hu­ manpsychologen entwickelten Selbsterfahrungstherapien, die zwar zu einem di­ rekten emotionalen Ausagieren anregen und den Körper mit einbeziehen, aber noch immer im normalen Bewusstseinszustand durchgeführt werden. Allen traditionellen Psychotherapieschulen ist gemein, dass sie sich zu verste­ hen bemühen, auf welche Art und Weise die Psyche funktioniert, warum es zur Bildung von Symptomen kommt und was sie bedeuten. Dieses theoretische Wis­ sen gelangt dann zur praktischen Anwendung, indem die entsprechenden Techni­ ken entwickelt und bei der Behandlung eingesetzt werden, um so die bestehenden psychischen Abweichungen zu korrigieren. Obwohl die Mitarbeit des Klienten ein wichtiger Teil des Prozesses ist, wird der Therapeut hier noch immer als die

187

«nährende Quelle des Wissens» angesehen, er ist der aktive Teil, der zur Lösung des Problems führen wird. Und obwohl dieses Vorgehen von Theoretikern und Praktikern nur selten hin­ terfragt wird, haften ihm doch einige wesentliche Probleme an. Die Welt der Psy­ chotherapie besteht aus unzähligen Schulen, die einen bemerkenswerten Mangel an Übereinstimmung, was nur schon die grundlegendsten Fragen theoretischer Natur, aber auch was die jeweiligen therapeutischen Massnahmen betrifft, aufwei­ sen. Dies gilt nicht nur für die so grundverschiedenen, miteinander nicht kompa­ tiblen philosophischen und wissenschaftlichen Grundsätze - wie beispielsweise behavioristische Dekonditionierung versus Psychoanalyse -, sondern auch für die vielen Schulen innerhalb der Tiefenpsychologie, die von Freuds ursprünglicher Arbeit inspiriert sind. Sie sind zum Beispiel verschiedener Meinung, wenn es um die Motivationskräfte in der Psyche geht oder wenn es um die Bestimmung der we­ sentlichen Faktoren geht, welche für die Entwicklung psychopathologischer Symp­ tome verantwortlich sind. Und damit unterscheiden sich natürlich auch ihre An­ sichten bezüglich der therapeutischen Vorgehensweisen. Angesichts dieser Umstände scheinen die Interventionen der jeweiligen The­ rapeuten mehr oder weniger willkürlich zu sein, indem Ausbildung und persönli­ che Philosophie ihre Strategie allzu stark prägen. Die Grundlehre in der holotro­ pen Therapie beruht auf der Annahme, dass die Symptome emotionaler und psy­ chosomatischer Leiden ein Versuch des Organismus sind, sich von alten traumati­ schen Prägungen zu befreien, um sich dadurch selbst zu heilen und die gesamte Funktionsweise zu vereinfachen. Symptome sind deshalb nicht einfach eine müh­ selige Komplikation des Lebens, sondern sie bieten auch grosse Chancen. So gese­ hen sollte eine wirksame Therapie aus einer temporären Aktivierung und Intensi­ vierung der Symptome - und ihrer anschliessenden Auflösung bestehen. Der The­ rapeut sollte diesen Vorgang, der sich meist spontan ergibt, nur noch unterstützen. Dieses Prinzip teilt die holotrope Therapie mit der Homöopathie. Will ein homöopathischer Therapeut das richtige Heilmittel ausfindig machen, so muss er eine Substanz oder eine Mischung finden, welche im gesunden Menschen genau diejenigen Symptome hervorruft, die der Patient selbst manifestiert (Vithoulkas 1980). Der holotrope Bewusstseinszustand scheint wie ein universelles homöopa­ thisches Heilmittel zu fungieren, indem er die vorhandenen Symptome aktiviert und die latenten an die Oberfläche bringt. Ich habe zuvor die «Radar-Funktion» beschrieben, welche im holotropen Zu­ stand aktiv wird und automatisch diejenigen unbewussten Inhalte ans Licht bringt, die eine grosse emotionale Ladung haben und in diesem Moment für eine Verar­ beitung reif sind. Dieser Mechanismus ist äusserst praktisch und nützlich, erspart er dem Therapeuten doch die unmögliche Aufgabe, bestimmen zu müssen, wel­ ches Material nun das wirklich relevante ist und ob der Zeitpunkt dafür auch ein günstiger sei. Hier scheint es angebracht, einige Worte zu der in der klassischen Psychiatrie vorherrschenden Haltung bezüglich Bildung und Intensitätsgrad von Symptomen

188

zu sagen. Unter dem Einfluss des medizinischen Modells, welches das psychiatri­ sche Denken dominiert, tendieren die Psychiater im Allgemeinen dazu, die Stärke eines Symptoms als Indikator für die Schwere der emotionalen oder psychosoma­ tischen Störungen anzusehen. Eine Verstärkung der Symptome wird als «Ver­ schlechterung», ein Nachlassen derselben als «Verbesserung» gewertet. Diese Einstellung wird in der täglichen klinischen Arbeit allgemein vertreten, obwohl sie sich mit den Erfahrungen der dynamischen Psychiatrie nicht in Ein­ klang bringen lässt. In einer systematisch durchgeführten Psychotherapie ist eine Symptomverstärkung meist ein Indiz dafür, dass wichtiges unbewusstes Material ins Bewusstsein dringt, und zeigt einen Fortschritt im Prozess an. Es ist auch be­ kannt, dass akute und dramatische emotionale Zustände mit starker Symptombil­ dung normalerweise eine bessere klinische Prognose haben als die langsam und unterschwellig sich entwickelnden Zustände ohne offensichtliche Symptome. Das Verwechseln der Schwere eines Krankheitszustands mit der Intensität der geäusserten Symptome (zusammen mit einigen anderen Faktoren wie die bei den mei­ sten Psychiatern vorzufindende arbeitsmässige Überbelastung, die ökonomischen Aspekte und die Annehmlichkeiten, die mit einer pharmakologischen Behandlung verbunden sind) ist dafür verantwortlich, dass sich die meisten psychiatrischen Therapien fast ausschliesslich auf die Unterdrückung von Symptomen konzent­ rieren. Obwohl dieses Vorgehen den Einfluss des medizinischen Modells auf die Psy­ chiatric widerspiegelt - selbst die somatische Medizin würde eine so einseitige Ausrichtung, die sich nur auf die Unterdrückung von Symptomen konzentriert, als unzulänglich ansehen. Bei der Behandlung körperlicher Krankheiten wird die symptomatische Therapie nur dann angewandt, wenn zugleich Massnahmen ein­ gesetzt werden, die der Ursache auf den Grund gehen. Einem Patienten mit ho­ hem Fieber einfach Eis aufzulegen und ihm ein Aspirin zu verabreichen, ohne die Ätiologie des Fieberzustandes zu ergründen, wäre offensichtlich kein akzeptables medizinisches Vorgehen. Die einzige Ausnahme zu dieser Regel bilden die unheil­ baren Krankheiten; hier muss man sich auf die Linderung der Symptome be­ schränken, weil für die Ursache selbst eben noch kein Behandlungsmodus exis­ tiert. In einem Vortrag, den Fritjof Capra in den Siebzigerjahren hielt, verwandte er eine interessante Parabel, welche auf die Unsinnigkeit einer Arbeitsweise, die sich auf Symptome statt auf die zugrunde liegenden Probleme konzentriert, hinweisen sollte. Stellen Sie sich vor, Sie fahren im Auto, und plötzlich leuchtet auf dem Ar­ maturenbrett ein rotes Licht auf. Es ist das Lämpchen, das anzeigt, dass der Öl­ stand gefährlich niedrig ist. Sie verstehen zwar nicht, wie ein Auto funktioniert, aber Sie wissen, dass ein rotes Licht am Armaturenbrett Gefahr signalisiert. Sie fahren mit Ihrem Auto zur Garage und erklären dem Mechaniker das Problem. Der Mechaniker sieht sich die Sache an und sagt: «Rotes Licht? Kein Problem!» Er fasst sich einen Draht und zieht ihn heraus. Das rote Licht ist weg, und er schickt Sie wieder auf die Strasse.

189

Wir hätten wohl keine hohe Meinung von einem Mechaniker, der uns eine sol­ che «Lösung» anbietet. Wir erwarten einen Eingriff, der dem Problem Abhilfe schafft, und nicht die Entfernung des Warnsystems. Genauso ist es das Ziel einer wirksamen Therapie, einen symptomfreien, weil gesunden Zustand zu erreichen, und nicht einen solchen, bei dem die Symptome nur deshalb nicht auftreten, weil das signalgebende System ausgeschaltet wurde. Holotrop orientierte Strategien fördern ein vollständiges Hervortreten der Symptome und des darunter liegenden Materials. Der Prozess führt dann automa­ tisch zur Heilung jener Bereiche, auf die der Organismus mit seinen Signalen auf­ merksam machte, also zur Auflösung der traumatischen Muster und zur Befreiung der blockierten emotionalen und körperlichen Energien. Wie wir im Kapitel über spirituelle Krisen gesehen haben, lässt sich diese Vorgehensweise nicht nur bei Neurosen und psychosomatischen Leiden anwenden, sondern auch in verschiede­ nen Krisensituationen, welche klassisch orientierte Psychiater noch immer als Psy­ chosen oder anderer Manifestationen schwer wiegender mentaler Leiden ansehen. Die Unfähigkeit, das Heilpotenzial solcher Extremzustände zu erkennen, spie­ gelt den engen konzeptionellen Rahmen der westlichen Psychiatrie wider, der auf die postnatale Biografie und das individuelle Unterbewusste beschränkt ist. Er­ fahrungen, für welche diese enge Sichtweise keine logischen Erklärungen haben kann, werden einem unbekannten pathologischen Vorgang zugeschrieben. Wen­ den wir die erweiterte Kartografie der Psyche an, welche die perinatalen und trans­ personalen Ebenen mit einschliesst, so lassen sich Intensität und Inhalt dieser Er­ fahrungen auf natürliche Weise erklären. Eine weitere wichtige Grundthese der holotropen Therapie ist, dass die durch­ schnittliche Person unserer Zeit «auf Sparflamme» lebt. Sie funktioniert zwar or­ dentlich, schöpft ihr volles Potenzial und all ihre Talente aber keineswegs aus. Die­ se Verarmung kommt daher, dass wir uns nur mit einem kleinen Teil unseres We­ sens identifizieren - dem physischen Körper und unserem Ego. Diese Fehlannah­ me führt zu einer unechten, ungesunden und unerfüllten Lebensweise und trägt zur Entwicklung von emotionalen und psychosomatischen Beschwerden psycholo­ gischen Ursprungs bei. Treten Depressionen auf, ohne dass eine organische Ursa­ che dafür vorliegt, so kann dies als Anzeichen dafür gewertet werden, dass ein un­ erfülltes Individuum einen Punkt im Leben erreicht hat, an welchem ihm klar wird, dass die alte Lebensweise nicht mehr taugt und unhaltbar geworden ist. Wird dem Individuum bewusst, dass seine auf die Aussenwelt ausgerichtete Orientierung gescheitert ist, beginnt cs, sich in die innere, seelische Welt zurückzuziehen, und emotional stark geladene unbewusste Inhalte beginnen ins Be­ wusstsein dringen. Diese Invasion aufwühlenden Materials hat aber meist zur Fol­ ge, dass sie mit der Fähigkeit des Individuums, den Alltag wie üblich zu bewälti­ gen, interferiert. Die Krise führt meist zu einem Zusammenbruch, der manchmal nur einen bestimmten Lebensbereich tangiert - das Ehe- oder Sexualleben, das be­ rufliche Umfeld oder persönliche Zielsetzungen -, andere Male jedoch alle Aspek­ te zusammen erfasst.

190

Ausmass und Tiefe eines Zusammenbruchs hängen davon ab, zu welchem Zeitpunkt im Säuglings-/Kindesalter die prägenden Traumata erlebt wurden. Die­ se bestimmen, ob der Prozess neurotische oder psychotische Proportionen an­ nimmt. Traumatisierungen, die in der Kindheit stattfanden, haben in der Regel ei­ nen neurotischen Zusammenbruch zur Folge: Dieser tangiert nur einige bestimm­ te Bereiche im zwischenmenschlichen und sozialen Leben. Die psychotischen Zu­ sammenbrüche, die sich auf alle Lebensbereiche gleichzeitig auswirken, lassen sich normalerweise auf schwere Traumatisierungen, die in der Säuglingszeit oder im frühsten Kindesalter geschahen, zurückführen. Diese Erlebnisse können in einer Krise oder einem schweren Notfall resultie­ ren, stellen aber gleichzeitig eine grosse Chance dar. Das Hauptziel der holotropen Therapie ist, die unbewusste Aktivität zu unterstützen oder gar anzutreiben und die Erinnerungen an unterdrückte oder vergessene Traumata voll ins Bewusstsein zu heben. Im Laufe dieses Prozesses werden die Energien, die in den emotionalen und psychosomatischen Symptomen gebunden waren, befreit und entladen, und die Symptome werden in einen Strom von Bildern und Erfahrungen umgewandelt. Diese Erfahrungen können allen psychischen Ebenen entstammen - also der bio­ grafischen, der perinatalen und der transpersonalen. Es ist die Aufgabe des Facilitators (des Betreuers) bzw. des Therapeuten, die­ sen Erfahrungsprozess zu unterstützen, im vollen Vertrauen auf dessen heilendes Potenzial, und ohne diesen lenken oder in irgendeiner Weise verändern zu wollen. Der Prozess soll von der «inneren Intelligenz» des Klienten geleitet werden. Der Ausdruck Therapeut wird hier im Sinne des griechischen therapeutes verstanden, der eine Person bezeichnet, die den Heilungsprozess unterstützt. Es geht hier also nicht um einen aktiv behandelnden Therapeuten, dessen Aufgabe es ist, «den Kli­ enten zu flicken». Es ist wichtig, dass der Therapeut die sich entwickelnde Erfah­ rung nur unterstützt, auch wenn er sie rational nicht versteht. Bedeutende heilende und transformierende Erfahrungen weisen zum Teil kei­ ne spezifischen Inhalte auf, sondern bestehen aus Perioden, in denen Emotionen oder physische Spannungen eine extreme Intensivierung erfahren, die sich plötz­ lich entladen und zu einer tiefen Entspannung führen. Oftmals ergeben die einzel­ nen Erlebnisse erst zu einem späteren Zeitpunkt einen Sinn. Dramatische Heilun­ gen und positive Persönlichkeitsveränderungen von bleibender Wirkung resultie­ ren oft aus solchen Erfahrungen, die sich einem rationalen Verständnis entziehen. Die potenteste Technik zur Herbeiführung holotroper Zustände ist zweifels­ ohne der Einsatz psychedelischer Pflanzen oder Substanzen. Heutzutage gibt es aber nur wenige offizielle Forschungsprojekte, die solche Substanzen anwenden, und die psychedelische Therapie ist nirgends auf der Welt allgemein zugänglich. Deshalb werde ich unsere Diskussion auf die Bereiche beschränken, in denen ho­ lotrope Zustände ohne pharmakologische Mittel herbeigeführt werden und die nichts mit den komplizierten politischen, administrativen und gesetzlichen Proble­ men zu tun haben.

191

Theorie und Praxis der holotropen Atemarbeit In den letzten fünfundzwanzig Jahren haben meine Frau Christina und ich eine Therapie- und Selbsterforschungstechnik entwickelt, die wir «holotrope Atemar­ beit» nennen. Sie ruft durch eine Kombination einfachster Mittel - beschleunigtes Atmen, evokative Musik und gezielte Körperarbeit, welche helfen soll, die ver­ bliebenen energetischen und emotionalen Blockierungen aufzulösen - ausgespro­ chen intensive holotrope Zustände hervor. In Theorie und Praxis vereint und inte­ griert diese Methode verschiedene Elemente aus den Traditionen antiker und na­ tiver Kulturen, aus den östlichen spirituellen Philosophien und der westlichen Tie­ fenpsychologie.

Die Heilkraft des Atems Der Einsatz verschiedener Atemtechniken zu religiösen und heilungsfördernden Zwecken kann bis zu den Uranfängen der Menschheit zurückverfolgt werden. ln den alten, vorindustriellen Kulturen spielte der Atem nicht nur in den Bereichen Kosmologie, Mythologie und Philosophie, sondern auch in der rituellen und der spirituellen Praxis eine wichtige Rolle. Seit Menschengedenken hat praktisch jedes bedeutende spirituelle System, das die Natur des Menschen zu ergründen suchte, den Atem als die entscheidende Verbindung zwischen Körper und Geist angese­ hen. Dies spiegelt sich deutlich in den Begriffen wider, die in vielen Sprachen für «Atem» gebraucht werden. In der alten indischen Literatur bedeutete der Ausdruck prana nicht nur den physischen Atem und die Luft, sondern auch die heilige Essenz des Lebens. In der traditionellen chinesischen Medizin entspricht chi sowohl der kosmischen Essenz und Lebensenergie wie auch der «natürlichen» Luft, die wir einatmen. In Japan ist der entsprechende Ausdruck ki. Ki spielt in den japanischen spirituellen Übungen und Kampfkünsten eine ausgesprochen wichtige Rolle. Und im alten Griechen­ land stand der Begriff pneuma sowohl für Luft oder Atem wie auch für Geist oder Lebensessenz. Sie sahen Atem und Psyche als eng miteinander verwandt an. Der Ausdruck phren bedeutet sowohl Zwerchfell - der grösste Muskel, der mit der At­ mung zu tun hat - als auch Geist (wie im Begriff Schizophrenie = gespaltener Geist). In der alten hebräischen Tradition bezeichnete das Wort ruach sowohl den Atem wie auch den kreativen Geist, die sie als ein und dasselbe ansahen. Und im Lateinischen wurde für Atem und Geist wiederum derselbe Ausdruck - spiritus benutzt. In den slawischen Sprachen schliesslich gehen Geist und Atem ebenfalls auf die gleichen sprachlichen Wurzeln zurück. Seit Jahrhunderten ist bekannt, dass Bewusstsein durch spezielle Atemtechni­ ken beeinflusst werden kann. Die Methoden, die zu diesem Zweck in den ver­ schiedenen alten, nichtwestlichen Kulturen zur Anwendung kamen, decken ein breites Spektrum ab: Wir finden ziemlich drastische Eingriffe wie auch äusserst subtile, ausgefeilte Übungen, welche von verschiedenen geistigen Traditionen ent­ wickelt wurden. Die Urform der Taufe, wie sie beispielsweise die Essener prakti­ zierten, bestand darin, dass der Täufling gewaltsam und für längere Zeit unter

192

Wasser getaucht wurde. Dies führte zu einer machtvollen Erfahrung von Tod und Wiedergeburt. In einigen anderen Gruppen wurden die neu zu Bekehrenden durch Rauch. Strangulation oder Zusammendrücken der Halsschlagadern an den Rand des Erstickens gebracht. Tief greifende Bewusstseinsveränderungen können durch die beiden Extrem­ formen der Atmung - Hyperventilieren oder längeres Anhalten des Atems - her­ vorgerufen werden oder auch, indem zwischen den beiden abgewechselt wird. Hoch entwickelte und fortschrittliche Methoden dieser Art findet man in der alten indischen Atem-Wissenschaft, dem Pranayama. Spezifische Techniken, die inten­ sives Atmen oder Anhalten des Atems einsetzen, finden wir auch in verschiedenen Übungen, die im Kundalini- oder im Siddha-Yoga, im tibetischen Vajrayana, bei den Sufis, in der burmesisch-buddhistischen und der taoistischen Meditation und in vielen anderen Schulen praktiziert werden. Subtilere Techniken, die eher eine Bewusstwerdung des Atems und weniger das Ändern des Atemrhythmus betonen, kommen im Soto-Zen-Buddhismus (shikan taza) und in bestimmten taoistischen und christlichen Übungen zur Anwen­ dung. Der Atemrhythmus kann auch indirekt beeinflusst werden, so zum Beispiel bei der Ausführung bestimmter ritueller, kunstvoller Riten wie dem balinesischen Affengesang oder Ketjak, der Kehlenmusik der Inuit (Eskimos) oder dem Singen von Kirtans, Bhajans oder Sufi-Gebeten. In der materialistischen Wissenschaft hat der Atem seine heilige Bedeutung verloren und wurde seiner Verbindung zu Seele und Geist beraubt. Die westliche Medizin reduzierte ihn zu einer zwar lebenswichtigen, aber rein physiologischen Funktion. Die körperlichen und psychologischen Auswirkungen, welche sich bei verschiedenen Atemübungen ergeben, wurden allesamt pathologisiert. Eine psy­ chosomatische Reaktion, die sich bei intensivierter Atmung einstellen kann, das so genannte Hyperventilationssyndrom, wird als pathologischer Zustand angesehen und nicht als ein prozessbedingtes Phänomen mit grossem Heilpotenzial erkannt. Tritt Hyperventilation spontan auf, so wird sie routinemässig unterbunden; mit Beruhigungsmitteln, intravenös appliziertem Kalzium oder durch eine über den Kopf gestülpte Papiertüte, welche die Konzentration von Kohlendioxyd erhöhen und der Alkalose, die durch das schnellere Atmen ausgelöst wurde, entgegenwir­ ken soll. In den letzten Jahrzehnten haben einige westliche Therapeuten das Heilpo­ tenzial des Atems wiederentdeckt und Techniken entwickelt, die diesen nutzen. Wir selbst haben während unserer vierwöchigen Seminare am Esalen-Institut in Big Sur, Kalifornien, mit verschiedenen Methoden experimentiert. Wir praktizier­ ten die Atemübungen der alten spirituellen Traditionen, unter der Anleitung indi­ scher und tibetischer Lehrer, aber auch Techniken, die von westlichen Therapeu­ ten entwickelt wurden. Eine jede Methode setzt ihre spezifischen Schwerpunkte und nutzt den Atem wieder anders. Auf der Suche nach einer Technik, die das Heilpotenzial des Atems so effektiv wie möglich nutzt, versuchten wir, diesen Pro­ zess so weit wie möglich zu vereinfachen.

193

Wir kamen zum Schluss, dass es genügt, wenn man etwas schneller und tiefer atmet und sich dabei auf den inneren Prozess konzentriert. Statt einer spezifischen Atemtechnik den Vorzug zu geben, folgen wir auch hier der allgemeinen Strategie der holotropen Arbeit, nämlich der dem Körper eigenen Weisheit zu vertrauen und der inneren Führung zu folgen. Zu Beginn einer holotropen Atemsitzung for­ dern wir die Teilnehmer jeweils auf, etwas schneller und etwas tiefer zu atmen und Ein- und Ausatmen in einem kontinuierlichen Kreislauf zu verbinden. Sobald sie sich im Prozess befinden, finden sie zu ihrem eigenen Rhythmus. Wir konnten wiederholt die Beobachtung von Wilhelm Reich bestätigen, dass psychische Widerstände und Abwehrhaltungen mit einer eingeschränkten At­ mung einhergehen (Reich 1961). Atmen ist an und für sich eine autonome Funkti­ on, kann aber auch willentlich beeinflusst werden. Eine Beschleunigung des Atemrhythmus lockert im Allgemeinen die psychologischen Abwehrkräfte und führt zu einer Freisetzung unbewussten (oder überbewussten) Materials. Wenn man diesen Prozess nicht selbst gesehen oder erlebt hat und sich allein auf die theoretischen Ausführungen verlassen muss, so fällt es schwer, an die enorme Wirksamkeit die­ ser Technik zu glauben.

Das Heilpotenzial der Musik In der holotropen Atemarbeit wird die bewusstseinsverändernde Wirkung des Atems mit evokativer Musik kombiniert. Wie das Atmen wurden auch die Musik und andere Formen der Klangtechnik seit Tausenden von Jahren als machtvolle Werkzeuge in Ritualen und spirituellen Übungen eingesetzt. Seit Urzeiten waren monotones Trommeln, Chanten und andere Formen der Klangerzeugung die hauptsächlichen Werkzeuge von Schamanen in den verschiedensten Teilen der Welt. Viele vorindustrielle Kulturen haben unabhängig voneinander bestimmte Trommelrhythmen entwickelt: Bei Laborexperimenten Hessen sich bemerkens­ werte Auswirkungen auf die elektrischen Aktivitäten des Gehirns nachweisen (Jilek 1974; Neher 1961 und 1962). In den Archiven der Kulturanthropologen finden sich unzählige Beispiele von äusserst potenten, Trance-erzeugenden Methoden, in denen Instrumentalmusik, Chanten und Tanzen eingesetzt werden. In vielen Kulturen waren die erwähnten Techniken in komplexe Zeremonien eingebaut, die speziell zu Heilungszwecken entwickelt worden waren. Die Heilri­ tuale der Navajos beispielsweise werden von geübten Sängern durchgeführt, ihre erstaunliche Komplexität wurde mit Partituren von Wagner-Opern verglichen. Der Trancetanz der !Kung-Buschmänner der afrikanischen Kalahariwüste birgt, wie wir es in vielen anthropologischen Studien und Filmen dokumentiert finden, enorme Heilkräfte (Lee und DeVore 1976; Katz 1976). Das Heilpotenzial synkretistischer religiöser Rituale der Karibik und Südamerikas, wie die kubanische Santeria oder die brasilianische Umbanda, wird dort von vielen Fachleuten mit tradi­ tioneller westlicher Ausbildung voll anerkannt. Bemerkenswerte Momente der emotionalen und psychosomatischen Heilung treten auch bei Treffen christlicher Gruppierungen auf, die Musik, Gesang und Tanz einsetzen, so bei den Snake

194

Handlers, den Holy Ghost People, bei der Erweckungsbewegung oder der Pfingstgemeinde. Einige bekannte spirituelle Traditionen haben Klangtechniken entwickelt, die nicht nur einen allgemeinen Trancezustand hervorrufen, sondern das Bewusstsein auf ganz spezifische Weise beeinflussen. Dazu gehören vor allem der tibetische vielstimmige Gesang, die heiligen Gesänge der verschiedenen Sufi-Orden, die hin­ duistischen Bhajans und Kirtans und insbesondere die alte Kunst des Nada-Yoga, des Weges zur Vereinigung durch Klang. Die indischen Lehren postulieren eine bestimmte Verbindung zwischen den einzelnen Tönen mit ihrer spezifischen Fre­ quenz und den einzelnen Chakren. Die systematische Anwendung dieses Wissens ermöglicht es, den Bewusstseinszustand auf eine vorhersagbare und gewünschte Weise zu beeinflussen. - Dies sind nur einige wenige Beispiele aus einem breiten Spektrum, welche die herausragende Bedeutung der Musik für rituelle, heilende und spirituelle Zwecke illustrieren sollen. Im psychedelischen Therapieprogramm am Maryland Psychiatric Research Center in Baltimore haben wir Musik systematisch eingesetzt und viele Einsichten bezüglich ihres aussergewöhnlichen psychotherapeutischen Potenzials gewonnen. Gewisse Musikstücke scheinen in holotropen Bewusstseinszuständen besonders wirksam zu sein. Sie nehmen mehrere wichtige Funktionen ein: Sie mobilisieren Emotionen, die mit unterdrückten Erinnerungen Zusammenhängen, bringen sie an die Oberfläche und erleichtern ihren Ausdruck. Sie helfen, das Tor zum Unbe­ wussten zu öffnen, intensivieren und vertiefen den therapeutischen Prozess und bereiten eine für die Erfahrung geeignete Grundgestimmtheit. Der kontinuierli­ che Fluss der Musik trägt die Person wie eine Welle mit sich fort und hilft ihr da­ bei, schwierige Erfahrungen, Sackgassen und psychische Abwehrmechanismen zu überwinden, sich hinzugeben und loszulassen. Beim holotropen Atmen, das nor­ malerweise in Gruppen durchgeführt wird, hat die Musik noch eine zusätzliche Funktion: Bis zu einem gewissen Grad absorbiert sie die von den Teilnehmern geäusserten Laute und verwebt sie so zu einem ästhetischen Ganzen. Um die Musik als Katalysator für tiefe Selbsterforschung und Erfahrungsar­ beit einsetzen zu können, ist es notwendig, sich auf eine neue Art des Musikhörens einzustellen, die unserer Kultur eher fremd ist: Im Westen benutzen wir Musik oft als akustischen Hintergrund, sie ist darum von eher geringer emotionaler Rele­ vanz. Typische Beispiele sind der Einsatz von Musik an Cocktailparties oder die «Musik» genannte Dauerberieselung am Einkaufs- oder Arbeitsort. Für kultivier­ tere Hörerschaften ist das disziplinierte und intellektualisierte Musikhören in Theatern und Konzerthallen typisch. Einzig der für Rockkonzerte charakteristi­ sche dynamische und elementare Einsatz von Musik lässt sich mit demjenigen der holotropen Therapie vergleichen. Bei solchen Anlässen ist die Aufmerksamkeit der Konzertbesucher jedoch nach aussen gerichtet, dem Erlebnis fehlt ein Ele­ ment, das in der holotropen Therapie von massgebender Bedeutung ist - die be­ wusste Konzentration auf die inneren Seinsdimensionen.

195

In der holotropen Therapie ist es unerlässlich, dass man sich dem Fluss der Musik vollständig hingibt, sie durch den ganzen Körper schwingen lässt und spon­ tan und elementar auf sie reagiert. Es kann dabei auch zu Äusserungen kommen, die in einem Konzertsaal, wo schon Weinen oder Husten als Quelle der Peinlich­ keit angesehen werden, schlicht undenkbar wären. Hier aber sollte dem, was die Musik auslöst, voller Ausdruck gegeben werden, sei dies nun lautes Schreien oder Lachen, Babysprache, Tierlaute, schamanisches Chanten oder «Reden in fremden Zungen». Ebenso wichtig ist es, physische Impulse wie bizarres Grimassenschnei­ den, sinnliche Hüftbewegungen, heftiges Schütteln oder extreme Verrenkungen des Körpers nicht zu unterdrücken. Natürlich gibt es Ausnahmen zu dieser Regel: Destruktive Handlungen beispielsweise, die gegen sich selbst oder andere gerich­ tet sind, sind natürlich tabu. Wir ermuntern die Teilnehmer auch dazu, alle intellektuelle Aktivitäten ein­ zustellen, wie zum Beispiel den Komponisten der Musik ausfindig machen zu wol­ len oder die Kultur, aus welcher diese stammt. Personen, die der emotionalen Wir­ kung der Musik zu entgehen versuchen, tun dies bisweilen unter Zuhilfenahme ih­ res Fachwissens - sie beurteilen dann die Leistung des Orchesters, wollen das eben spielende Instrument oder die technische Qualität der Aufnahme oder der Musik­ anlage kritisieren. Können wir diese Fallen vermeiden, so wird die Musik zu einem ausgesprochen machtvollen Instrument, welches den holotropen Bewusstseinszu­ stand einleitet und aufrechterhält. Zu diesem Zweck muss die Musik aber von höchster technischer Qualität sein und laut genug, um das Erlebnis initiieren zu können. Die Kombination von Musik und beschleunigtem Atmen hat ein bemer­ kenswertes bewusstseinsveränderndes Potenzial. Was die Musikauswahl angeht, werde ich hier nur die Grundprinzipien darle­ gen und einige Anregungen geben, die auf unseren Erfahrungen basieren. Nach ei­ ner gewissen Zeit verfügt jeder Therapeut oder jedes therapeutische Team über ei­ ne Liste der für die bestimmten Stadien bevorzugten Stücke. Die Grundregel lau­ tet, dass man sensibel auf die Phase, die Intensität und den Inhalt der Erfahrung der betreffenden Person eingeht und nicht versucht, diese zu programmieren. Das entspricht der allgemeinen Philosophie der holotropen Therapie, insbesondere was den tiefen Respekt gegenüber der Weisheit des «inneren Heilers», des kol­ lektiven Unbewussten und der Autonomie und Spontaneität des Heilprozesses angeht. Es ist wichtig, dass man Musik verwendet, die kraftvoll und evokativ ist und zu einer positiven Erfahrung führt. Wir versuchen, penetrant wirkende, dissonante und düstere Musik zu vermeiden. Die Musik sollte von hoher künstlerischer Qua­ lität, aber wenig bekannt und ohne konkreten Inhalt sein. Wenig günstig sind Lie­ der und andere Vokalstücke in Sprachen, die den Teilnehmern bekannt sind, de­ ren Text eine ganz bestimmte Botschaft vermittelt oder von einem bestimmten Thema handelt. Gesungene Stücke sollten also in einer uns fremden Sprache sein, damit die menschliche Stimme quasi als ein weiteres Musikinstrument wahrge­ nommen wird. Aus demselben Grund sollte man Musik vermeiden, welche be­

196

stimmte intellektuelle Assoziationen hervorruft und somit den Inhalt der Sitzung programmiert, zum Beispiel die Hochzeitsmärsche von Wagner und Mendelssohn oder die Ouvertüre zu Bizets «Carmen». Die Sitzung beginnt normalerweise mit einer anregenden Musik von dynami­ scher, fliessender, emotional erhebender und gleichzeitig beruhigender Qualität. Im weiteren Verlauf wird diese immer intensiver, die Stücke werden emotional zu­ nehmend kraftvoller und wilder, um das Eintreten in den Trancezustand zu er­ leichtern. Diese Musik stammt vorzugsweise aus den rituellen und spirituellen Tra­ ditionen der verschiedenen nativen Kulturen. Obwohl viele dieser Darbietungen ein ästhetischer Genuss sind, war oder ist der hauptsächliche Zweck dieser Art Musik nicht Unterhaltung, sondern das Auslösen holotroper Erfahrungen. Nach etwa eineinhalb Stunden erreicht die Sitzung ihren Höhepunkt; die hier verwendeten Stücke nennen wir entsprechend Breakthrough-Musik. Besonders geeignet scheint hier jegliche Art von sakraler Musik - Messen, Oratorien, Requi­ ems und andere kraftvolle Orchesterstücke - oder aber dramatische Sequenzen aus dem Filmmusikgenre. In der zweiten Hälfte der Sitzung nimmt die Intensität allmählich ab, es folgen emotional bewegende Stücke («Herzmusik»). Für die Schlussphase eignet sich Musik von fliessender, zeitloser und meditativer Qualität. Die meisten Praktikanten der holotropen Atemarbeit sammeln Musikaufnah­ men und stellen ihre Lieblingssequenzen für die fünf aufeinander folgenden Pha­ sen einer Sitzung zusammen: 1. Eröffnungsmusik 2. Trance-auslösende Musik 3. Breakthrough 4. Herzmusik 5. meditative Musik Einige benutzen zuvor aufgenommene Sets, welche die Musik für die ganze Sit­ zungsdauer enthalten. Dies ermöglicht es dem Facilitator, der Gruppe voll und ganz zur Verfügung zu stehen. Andererseits verhindert es eine flexible Anpassung an die jeweilige Gruppenenergie. In Tabelle 5.1 (siehe S. 198/199) sind Musik­ stücke aufgeführt, die in der holotropen Atemarbeit häufig zum Einsatz kommen und unter den Breathworkers sehr beliebt sind. Die Liste basiert auf einer Umfra­ ge Steve Dinans, eines Psychologen und zertifizierten Facilitators in holotroper Atemarbeit, die er unter anderen Praktizierenden durchgeführt hat.

Körperarbeit Die körperlichen Reaktionen auf die holotrope Atemarbeit variieren von Mensch zu Mensch stark. Das beschleunigte Atmen hat zu Beginn oft mehr oder weniger dramatische psychosomatische Manifestationen zur Folge. In Fachbüchern zur Atemphysiologie wird diese Reaktion «Hyperventilationssyndrom» genannt. Sie beschreiben es als ein stereotypes Muster physiologischer Reaktionen, welche zu

197

Titel

Künstler

Nomad Dorje Ling 1492 Globalarium Passion Dance the Devil Away Feet in the Soil Mission Power of One Last of the Mohicans Egypt Passage in Time Antarctica Deep Forest Jiva Mukti Legends of the Fall Mustt Mustt Planet Drum Shaman’s Breath Themes Trancedance X All One Tribc Baraka Bones Braveheart Direct Dynamic/Kundalini Earth Tribe Rhythms Music to Disappear In Schindler's List Tana Mana Thunderdrums All Hearts Beating Closer to Far Away Dislant Drums Approach Drums of Passion Gula Gula Heaven and Earth Journey of the Drums Kali’s dream

Nomad David Parsons Vangelis (Filmmusik) James Asher Peter Gabriel Outback James Asher Ennio Morricone (Filmmusik) Hans Zimmer (Filmmusik) Trevor Jones (Filmmusik) Mickey Hart Dead Can Dance Vangelis (Filmmusik) Deep Forest Nada Shakti & Bruce Becvar James Homer (Filmmusik) Nusrat Fateh Ali Khan Mickey Hart Professor Trance & the Energizers Vangelis Tulku Klaus Schultze Scott Fitzgerald Michael Stearns (Filmmusik) Gabrielle Roth James Horner (Filmmusik) Vangelis Osho Brent Lewis Raphael John Williams (Filmmusik) Ravi Shankar Scott Fitzgerald Barbara Borden Douglas Spotted Eagle Michael Uyttebroek Babatunde Olatunji Mari Boine Persen Kitaro (Filmmusik) Prem Das, Muruga & Shakti Alex Jones

198

Lama’s Chant Mishima Powaqqatsi Rendezvous Skeleton Woman Songs of Sanctuary Transfer Station Blue Voices Wavcs Anima At the Edge Divine Songs Drummers of Burundi Drums of Passion: The Beat Exotic dance Force Majeure From Spain to Spain Gnawa Music of Marrakesh House of India Little Buddha Mask Meeting Pool Miracle Mile Out of Africa Oxygene Pangea Piano Planets Private Music of ... Rai Rebels Rhythm Hunter Sacred Site Serpent’s Egg Stellamara Tibetan Tantric Choir Tongues Totem Whirling Winds of Warning

Lama Gyurme & Rykiel Philip Glass (Filmmusik) Philip Glass (Filmmusik) Jean-Michel Jarre Flesh & Bone Adiemus Michael Shrieve Vangelis Gabrielle Roth 010 Mickey Hart Alice Coltrane The Drummers of Burundi Babatunde Olatunji Anugamo & Sabastian Tangerine Dream Vox Night Spirit Masters DJ Cheb I Sabbah Ryuichi Sakamoto (Filmmusik) Vangelis Baka Beyond Tangerine Dream Dan Wallin und andere (Filmmusik) Jean-Michel Jarre Dan Lacksman Michael Nyman (Filmmusik) Gustav Holst Tangerine Dream verschiedene Brent Lewis Michael Stearns Dead Can Dance Sonya Drakulieh & Jeff Scott The Gyuto Monks Gabrielle Roth Gabrielle Roth Omar Faruk Tekbilek Adam Plack & Johnny White Ant

Tabelle 5. 1 Bevorzugte Musikstücke für die holotrope Atemarbeit (gemäss einer Umfrage unter HB-Facilitators, durchgeführt von Steve Dinan)

199

Verspannungen oder Krämpfen vorwiegend in Händen und Füssen («karpopedale Spasmen») führen. Allerdings haben wir bis zu diesem Zeitpunkt mit über dreissigtausend Personen Atemsitzungen durchgeführt und dabei feststellen müssen, dass dieses klassische Verständnis der Auswirkungen beschleunigten Atmens so nicht korrekt ist. Bei vielen Personen führt beschleunigtes Atmen selbst über drei, vier Stunden nicht zum klassischen Hyperventilationssyndrom, sondern zu zunehmender Ent­ spannung, intensiven sexuellen Gefühlen oder gar mystischen Erfahrungen. Bei anderen entstehen Spannungen in verschiedenen Körperteilen, ohne dass sich An­ zeichen karpopedaler Spasmen finden. Fortgesetztes intensives Atmen führt zu ei­ ner Steigerung der inneren Spannung, die kulminiert und dann zu tiefer Entspan­ nung führt. Das Muster dieser Sequenz zeigt eine gewisse Ähnlichkeit mit dem se­ xuellen Orgasmus auf. Wird dieser Vorgang durch mehrere aufeinander folgende holotrope Sitzun­ gen intensiviert, so scheint dieser Prozess von Anspannung und Entspannung sich von einem Körperteil zum anderen zu verlagern, wobei die Abfolge von Individu­ um zu Individuum variiert. Muskuläre Verspannungen und intensive emotionale Zustände scheinen mit einer zunehmenden Anzahl Sitzungen abzunehmen. Dabei geschieht Folgendes: Intensives Atmen über längere Zeit hat bestimmte Verände­ rungen in der Körperchemie zur Folge, welche die blockierten physischen und emotionalen Energien, die mit verschiedenen traumatischen Erinnerungen ver­ knüpft sind, aktivieren. Dies führt zu einer peripheren Entladung; die Beschwer­ den verursachenden traumatischen Erfahrungen gelangen nun an die Oberfläche und können bearbeitet und integriert werden. Es handelt sich hier also um einen unterstützens- und förderungswürdigen Heilprozess und keineswegs um einen pa­ thologischen Vorgang, der, wie die klassische Medizin uns so gerne glauben ma­ chen möchte, unterdrückt werden sollte. Die Symptome, die in den verschiedenen Körperpartien auftreten, sind nicht bloss eine physiologische Reaktion auf das Hyperventilieren. Sie weisen eine kom­ plexe psychosomatische Struktur auf und haben für die betreffende Person meist eine ganz spezifische psychologische Bedeutung. Es kann sich dabei um eine ver­ stärkte Version von Verspannungen und Schmerzen handeln, welche die Person vom Alltag her schon kennt. Entweder sind sie ein chronisches Problem, oder sie stellen sich in emotionalen oder physischen Stresssituationen, bei Übermüdung, nach schlaflosen Nächten, im kranken oder geschwächten Zustand oder nach dem Genuss von Alkohol oder Marihuana ein. - In anderen Fällen handelt es sich um reaktivierte alte Symptome, die im Säuglingsalter oder in der Kindheit, in der Pu­ bertät oder im späteren Leben auftraten. Die Spannungen lassen sich auf zwei verschiedene Arten lösen. Bei der ersten handelt es sich um das Ableiten oder Abreagieren der blockierten Energien - sind diese physischer Natur, so entladen sie sich durch Zittern, Zuckungen, heftige Körperbewegungen, Husten, Würgen oder gar Erbrechen. Blockierte Emotionen können durch Weinen, Schreien und Ähnliches gelöst werden. Diese Mechanis­

200

men sind der traditionellen Psychiatrie seit der Zeit, da Sigmund Freud und Joseph Breuer ihre Studien über Hysterie veröffentlichten (Freud und Breuer 1936), bes­ tens bekannt. Verschiedene Techniken des Abreagierens werden in der traditio­ nellen Psychiatrie bei der Behandlung traumatischer emotionaler Neurosen einge­ setzt, und sie sind auch integraler Bestandteil in neuen Selbsterfahrungstherapien wie der Neo-Reichianischen Arbeit, der Gestalt- und der Primärtherapie. Die zweite Methode, die zum angestrebten Loslassen führt, spielt in der ho­ lotropen Atemarbeit, im Rebirthing und in anderen Atem-orientierten Therapie­ formen eine wichtige Rolle. Sie stellt für die Psychiatrie und die Psychotherapie ei­ ne neue Entwicklung dar und scheint in mancherlei Hinsicht die effektivere und interessantere Variante zu sein. Die tief sitzenden Verspannungen tauchen hier in Form von Muskelkontraktionen auf. Wenn wir die betreffenden Muskeln über län­ gere Zeit angespannt halten, «verbraucht» der Organismus die enormen Mengen der zuvor blockierten Energie. Seine Funktionsweise vereinfacht sich, indem er die neu fliessenden Energien jetzt für die eigenen Zwecke einsetzen kann. Von der heilenden Kraft dieser Methode zeugt nur schon der tiefe Entspannungszustand, der sich nach einem solchen Prozess einstellt. Diese beiden Mechanismen haben ihre Parallelen in der Sportphysiologie: Muskeln können auf zwei verschiedene Arten trainiert werden, nämlich mit isoto­ nischen und mit isometrischen Übungen. Wie der Name besagt, bleibt bei den iso­ tonischen Übungen die Muskelspannung konstant, während ihre Länge sich än­ dert. Bei isometrischen Übungen verändert sich die Spannung der Muskeln und die Länge bleibt konstant. Ein gutes Beispiel für eine isotonische Aktivität ist Bo­ xen, während Gewichtheben isometrischer Natur ist. Beide Techniken sind gleichermassen dazu geeignet, Verspannungen der Muskeln zu lösen. Trotz ihrer vor­ dergründigen Unterschiede haben sie vieles gemeinsam und komplementieren sich, wie auch in der holotropen Atemarbeit, auf äusserst effektive Weise. Oft lösen sich schwierige Emotionen und körperliche Manifestationen, die während holotroper Sitzungen aus dem Unbewussten hochkommen, von selbst auf, und man gerät in einen entspannten, meditativen Zustand. In solchen Fällen ist keine Intervention von aussen nötig, die Person verbleibt längere Zeit in diesem Zustand und findet ganz allmählich zum gewohnten Alltagsbewusstsein zurück. Nach einem kurzen verbalen Austausch mit einem Facilitator kann der Erfahrung durch das Zeichnen eines Mandalas (in einem speziell dafür hergerichteten Raum) Ausdruck gegeben werden. Führt das Atmen allein zu keinem befriedigenden Abschluss, so bieten die Facilitators eine bestimmte Form von Körperarbeit an. Der Atmende wird aufgefor­ dert, seine ganze Aufmerksamkeit auf die problematischen Körperzonen zu len­ ken und die vorhandenen physischen Empfindungen zu intensivieren, indem den bestehenden körperlichen Impulsen freier Lauf gegeben wird. Der Facilitator ar­ beitet dann ebenfalls mit diesen Körperzonen, um den Prozess zusätzlich zu unter­ stützen.

201

Während die Aufmerksamkeit des Atmenden auf die energetisch geladene Zone gerichtet ist. wird er dazu ermuntert, spontane Reaktionen, welcher Art auch immer sie sein mögen, zuzulassen. Sie sollten also keinesfalls bewusst gesteu­ ert werden, sondern vollständig von den unbewussten Regungen übernommen werden. Spontane Reaktionen nehmen oft völlig unerwartete, überraschende For­ men an - wie verschiedene Tierlaute, Reden in fremden Zungen oder in unbe­ kannten Sprachen; schamanisches Chanten, Kauderwelsch oder Baby-Gebrabbel. Oft stellen sich auch völlig unerwartete körperliche Reaktionen ein - wie heftiges Schütteln, ruckartige Stossbewegungen, Husten und Erbrechen oder tierähnliche Bewegungen. Es ist wichtig, dass die Facilitators diese Vorgänge nur unterstützen, also keine therapeutischen Techniken bestimmter Schulen anwenden. Die Kör­ perarbeit wird erst dann beendet, wenn sowohl Facilitator wie auch Atmender sich einig sind, dass der Prozess vollendet ist.

Unterstützender Körperkontakt In der holotropen Atemarbeit kommt zusätzlich zur vorher erwähnten noch eine ganz andere Form von Körperkontakt zum Einsatz, welche auf einer tiefen, präverbalen Ebene Unterstützung bieten soll. Dies ergab sich aus der Erkenntnis, dass es zwei voneinander grundsätzlich verschiedene Formen von Traumata gibt, die gleichermassen unterschiedlicher Behandlungsformen bedürfen. Das erste kann man als Trauma durch äussere Einwirkung (trauma by commission) bezeich­ nen. Dem Individuum wurde etwas zugefügt, das sich für seine spätere Entwick­ lung schädlich auswirkte. In diese Kategorie fallen physischer oder sexueller Miss­ brauch, bedrohliche Situationen, destruktive Kritik oder vernichtender Spott. Traumatische Erinnerungen dieser Art stellen in der unbewussten Psyche eine Art «Fremdkörper» dar, sie können ins Bewusstsein gehoben, energetisch entladen und aufgelöst werden. Die konventionelle Psychotherapie macht zwischen den beiden Gruppen zwar keinen Unterschied, und doch ist die zweite Gruppe von der ersten grundsätzlich verschieden: Das Trauma basiert in diesem Fall auf Mangel und Entbehrungen (trauma by omission). Der Mechanismus ist hier also genau umgekehrt - es fehlt an positiven und nährenden Erfahrungen, welcher für eine gesunde emotionale Entwicklung unerlässlich sind. Jedes Kind hat ein starkes, urtümliches Verlangen nach unmittelbarer, «instinktiver» Befriedigung seiner Bedürfnisse und nach Si­ cherheit. Kinderärzte und -psychiater verwenden dafür den Begriff anaklitisch (von griechisch anaklinein, sich anlehnen). Dazu gehört das Bedürfnis, gehalten, liebkost und getröstet zu werden, sie möchten, dass mit ihnen gespielt wird und sie im Zentrum unserer Aufmerksamkeit sind. Wird diesen Bedürfnissen nicht ent­ sprochen, kann dies schwer wiegende Konsequenzen für das Individuum haben. Bei den meisten von uns finden sich Erlebnisse, die mit emotionaler Depriva­ tion zu tun haben, und Situationen der Verlassenheit und Vernachlässigung, die in schwer wiegenden Frustrationen enden. Der einzige Weg, wie diese Art von Trau­ ma geheilt werden kann, scheint eine korrigierende Erfahrung in Form von

202

«nährendem» Körperkontakt - im holotropen Bewusstseinszustand - zu sein. Um dies zu erreichen, muss das Individuum in die Kindheit zurückgeführt werden. Zu einer Heilung kann es nur kommen, wenn diejenige Entwicklungsstufe erreicht wird, in welcher die Traumatisierung stattfand. Je nach den speziellen Umständen und den vor der Sitzung getroffenen Abmachungen kann der Körperkontakt vom einfachen Händehalten oder einem Berühren der Stirn bis zur innigen Umarmung führen. Die Anwendung von Körperkontakt kann für die Heilung früher emotionaler Traumata ein äusserst effektives Instrument sein. Es erfordert jedoch die strikte Beachtung der ethischen Grundregeln. Zu diesem Zweck erklären wir den At­ menden jeweils vor Sitzungsbeginn das Grundprinzip dieser Technik und fragen sie, ob sie ein solches Vorgehen im Bedarfsfall gutheissen würden. Ohne deren ausdrückliches Einverständnis darf diese Methode unter keinen Umständen ange­ wendet werden, und selbstverständlich darf keinerlei Druck ausgeübt werden, um dieses zu bekommen. Für Personen, die sexuell missbraucht wurden, ist jede Art von Körperkontakt meist sehr problematisch - und oft haben diejenigen, die es am meisten brauchen, die grössten Widerstände dagegen. Es kann bei gewissen Per­ sonen extrem lange dauern, bis sie genügend Zutrauen zu den Facilitators und der Gruppe entwickeln, damit sie von den Vorteilen dieser Technik profitieren kön­ nen. Unterstützender Körperkontakt darf natürlich nur so eingesetzt werden, dass er ausschliesslich die Bedürfnisse des Atmenden erfüllt - und nicht diejenigen des Sitters (des Partners in begleitender Funktion) oder der Facilitators. Damit sind nicht nur sexuelle Bedürfnisse oder das Verlangen nach Intimität, die offensicht­ lichsten Problempunkte, gemeint. Ebenso problematisch kann ein starkes Bedürf­ nis, gebraucht, geliebt oder geschätzt zu werden sein, oder unerfüllte mütterliche Bedürfnisse und andere, weniger extreme Formen emotionaler Nöte und Bedürf­ nisse. Ich kann mich an einen Zwischenfall erinnern, der sich an einem unserer Workshops im Esalen-Institut in Big Sur, Kalifornien, ereignete und ein treffendes Beispiel statuiert. Zu Beginn des fünftägigen Seminars teilte eine Teilnehmerin - eine Frau, die eben ihre Menopause hinter sich hatte - der Gruppe mit, wie sehr sie sich immer Kinder gewünscht hatte und wie sehr sie darunter litt, dass es nie dazu gekommen war. Inmitten einer der holotropen Sitzungen, als sie Sitterin für einen jungen Mann war, zog sie plötzlich den Oberkörper ihres Partners auf ihren Schoss und begann, ihn zu wiegen und zu trösten. Das Timing hätte nicht schlechter sein kön­ nen, wie wir beim anschliessenden Sharing (einer Austauschrunde) herausfanden, befand sich ihr Partner zu diesem Zeitpunkt doch mitten in einer Erfahrung aus ei­ nem früheren Leben, wo er sich als mächtigen Wikingerkrieger auf einer Militär­ expedition erlebte. In der Regel kann man leicht erkennen, wenn eine im Prozess befindliche Per­ son in die frühe Kindheit regrediert. Bei einer vollständigen Regression ver­ schwinden die Hautfältchen, die Person nimmt immer mehr das Aussehen eines

203

Säuglings an und benimmt sich auch so. Weitere so typische Merkmale sind ein verstärkter Speichelfluss und Saugreflexe. Körperkontakt ist im regredierten Zu­ stand meist angebracht, insbesondere wenn der Atmende den Geburtsprozess ge­ rade vollbracht hat und verloren und einsam wirkt. Die ungestillten mütterlichen Bedürfnisse der im vorigen Beispiel erwähnten Frau hatten aber derart überhand genommen, dass sie die Situation nicht mehr objektiv beurteilen und angemessen handeln konnte. Bevor wir den Abschnitt über die Körperarbeit abschliessen, möchte ich noch auf eine Frage eingehen, die in diesem Zusammenhang oft gestellt wird: «Da ein Wiedererleben von traumatischen Erinnerungen normalerweise sehr schmerzhaft ist, warum sollte dies von therapeutischem Nutzen sein und nicht etwa eine erneu­ te Traumatisierung zur Folge haben?» - Die beste Antwort findet sich meiner Mei­ nung nach im Artikel «Uncxperienced Experience» (Ungelebte Erlebnisse), den der irische Psychiater Ivor Browne und sein Team (McGee et al. 1984) veröffent­ lichten. Sie argumentieren, dass wir es hier nicht mit einem exakten Replay, also einer genauen Wiederholung der ursächlichen traumatischen Situation zu tun ha­ ben, sondern mit dem erstmaligen vollständigen Erleben der damit verbundenen emotionalen und physischen Reaktionen. Das heisst, dass traumatische Erlebnisse in dem Moment, da sie uns widerfahren, zwar aufgezeichnet, aber nicht bewusst wahrgenommen werden - sie können darum weder verarbeitet noch integriert werden. Die Person, die eine traumatische Erinnerung wiedererlebt, ist zudem nicht mehr das hilflose und hochgradig abhängige Kleinkind von damals, sondern erlebt das Ganze als erwachsener, erfahrener Mensch. Der in tiefen Selbsterfahrungsthe­ rapien eingeleitete holotrope Zustand erlaubt dem Individuum, gleichzeitig auf zwei verschiedenen Raum-Zeit-Ebenen zu existieren und zu agieren. Bei einer vollständigen Regression kann die ursprüngliche traumatische Situation mit all den damit verbundenen Emotionen und physischen Empfindungen aus der Per­ spektive des Kleinkindes erlebt werden, aber gleichzeitig wird in der therapeuti­ schen Situation die Erinnerung aus der Perspektive des reifen Erwachsenen analy­ siert und bewertet.

Der Ablauf holotroper Sitzungen Inhalt und Ablauf holotroper Sitzungen variieren von Person zu Person beträcht­ lich, und beim Einzelnen variieren sie von Sitzung zu Sitzung. Einige Menschen bleiben still und bewegen sich praktisch nicht. Sie können tiefe Erfahrungen ha­ ben, geben aber einem Beobachter den Eindruck, dass nichts geschieht oder dass sie schlafen. Andere sind äusserst unruhig und ziehen alle Register, was die mo­ torischen Impulse und Bewegungen betrifft. Sie erleben massive Schüttel- und Drehbewegungen, rollen und schlagen um sich, nehmen Fötusstellungen ein, kämpfen sich durch den Geburtskanal oder agieren wie Neugeborene und sehen auch so aus. Oft sehen wir auch Kriech-, Schwimm-, Buddel- oder Kletterbewe­ gungen.

204

Manchmal können die Bewegungen und Gesten sehr bestimmt, komplex und differenziert sein. Es können dies fremdartige Tierbewegungen sein, die denen von Schlangen, Vögeln oder Raubkatzen ähneln und von den entsprechenden Lauten begleitet sind. Manchmal nehmen Atmende spontan verschiedene Yoga­ stellungen und Yogagesten (asanas und mudras) ein, von denen sie keine bewusste Kenntnis haben. Ab und zu gleichen die automatischen Bewegungen und/oder Laute denen von Ritualen oder Theaterdarbietungen verschiedener Kulturen schamanische Praktiken, javanische Tänze, der balinesische Affentanz, japani­ sches Kabuki oder das Reden in fremden Zungen, das an die Treffen der Pfingstbewegung erinnert. Die in holotropen Sitzungen auftauchenden Emotionen decken ein breites Spektrum ab. Im einen Extrem finden wir Gefühle extremen Wohlbefindens, tiefs­ ten Friedens, Erfahrungen der Stille, von Abgeklärtheit, Seligkeit, kosmischer Einheit oder ekstatischer Verzückung. Im anderen Episoden unbeschreiblichen Schreckens, verzehrender Schuldgefühle, mörderischer Aggression oder das Ge­ fühl ewigen Verdammtseins. Die Intensität dieser aussergewöhnlichen Emotionen kann alles übersteigen, was man sich im alltäglichen Bewusstseinszustand auch nur vorstellen kann. Die extremen Formen erscheinen ausserdem meist im Zusam­ menhang mit Erlebnissen perinataler oder transpersonaler Natur. Im mittleren Bereich dieses Spektrums finden wir Emotionen von geringerer emotionaler Ladung, die uns aus unserem täglichen Dasein bestens bekannt sind Situationen, die Zorn und Wut in uns hochsteigen lassen, die mit Angst, Trauer, Hoffnungslosigkeit, Gefühlen des Scheiterns, der Minderwertigkeit, mit Scham, Schuld oder Abscheu zu tun haben. Sie sind normalerweise mit biografischen Er­ innerungen verbunden; ihre Quelle sind traumatische Erlebnisse aus der Säug­ lingszeit und der Kindheit sowie aus späteren Lebensperioden. Ihre positiven Ge­ genstücke sind Gefühle des Glücklichseins, von emotionalem Erfülltsein und Freude, von sexuellem Befriedigtsein und die Empfindung einer allgemeinen Stei­ gerung des Wohlbefindens. Wie zuvor erwähnt, führt beschleunigtes Atmen in einigen Fällen nicht zu phy­ sischen Spannungen oder schwierigen Emotionen, sondern direkt zu einem ent­ spannten Zustand, zu einem Gefühl des Sichausdehnens, zu allgemeinem Wohlbe­ finden oder auch zu Visionen von Licht. Der Atmende kann von Gefühlen der Lie­ be und von mystischer Verbundenheit mit anderen Menschen, der Natur, dem ge­ samten Kosmos und zu Gott erfüllt sein. Aber meist erscheinen diese positiven emotionalen Zustände jeweils am Ende einer holotropen Sitzung, nachdem die herausfordernden und turbulenten Teile des Erlebnisses abgeklungen sind. Überraschend ist, wie viele Menschen in unserer Kultur, aufgrund protestanti­ scher ethischer Denkart oder aus anderen Gründen, Schwierigkeiten haben, Er­ fahrungen ekstatischer Natur zu akzeptieren - ausser diese folgen auf Leiden und harte Arbeit, und selbst dann bekunden manche Mühe. Oft antworten sie darauf mit starken Schuldgefühlen oder mit dem Gefühl, dass sie diese nicht verdienen. Gerade unter Leuten, die sich mit den Krankheiten des Geistes beschäftigen, fin­

205

den sich oft Misstrauen und Argwohn, wenn es darum geht, zutiefst positive Er­ fahrungen zu akzeptieren: Laut ihnen kaschieren diese bloss weiteres schmerzhaf­ tes und unangenehmes Material. Unter diesen Umständen ist es wichtig, den At­ menden zu versichern, dass positive Erfahrungen ausserordentlich heilsam sind, und sie zu ermuntern, diese vorbehaltlos als unerwartetes Geschenk zu akzep­ tieren. Das profunde emotionale Loslassen und die völlige physische Entspannung nach einer erfolgreichen und gut integrierten Sitzung sind für viele eine gänzlich neue Erfahrung. Viele Teilnehmer berichten, dass sie sich entspannter fühlen als je zuvor in ihrem Leben. Fortgesetztes beschleunigtes Atmen stellt so eine extrem potente und effektive Methode zur Verminderung von Stress dar, und sie fördert die emotionale und psychosomatische Heilung. Ein weiteres, oft auftretendes Er­ gebnis ist die Erfahrung der numinosen Dimensionen der eigenen Psyche und der Existenz im Allgemeinen. Diese Erkenntnis finden wir auch in der spirituellen Li­ teratur der vielen Kulturen aller Zeitalter bestätigt. Das Heilpotenzial des Atems wird namentlich im Kundalini-Yoga besonders hervorgehoben. Dort kommen während meditativer Übungen (bastrika) Interval­ le mit schnellerem Atmen zum Einsatz, oder aber sie treten spontan als Teil der als kriyas bekannten emotionalen und physischen Manifestationen auf. Dies ent­ spricht meiner eigenen Ansicht, dass ähnliche, bei Psychiatriepatienten spontan auftretende und dort Hyperventilationssyndrom genannte Atemveränderungen ei­ gentlich Bestrebungen der Psyche sind, sich selbst zu heilen. Diese sollten unter­ stützt statt routinemässig unterdrückt werden, wie es in der heutigen Medizin all­ gemein üblich ist. Holotrope Atemsitzungen dauern je nach Individuum unterschiedlich lange, und auch für den Einzelnen variiert die Dauer von Sitzung zu Sitzung. Für eine bestmögliche Integration des Erlebnisses ist es wichtig, dass Facilitators und Sitters so lange beim Atmenden bleiben, wie dieser noch im Prozess ist und ungewöhnli­ che Erlebnisse hat. In den letzten Stadien der Sitzung kann eine effiziente Körper­ arbeit das Lösen von emotionalen und physischen Blockaden enorm erleichtern. Ein bewusstes Erleben der Natur kann ebenfalls eine äusserst beruhigende und er­ dende Wirkung haben und die Integration der Sitzung unterstützen. Besonders zu empfehlen ist Baden (wie etwa in einem Jacuzzi) oder Schwimmen (in einem Pool, im See oder im Meer).

Mandalazeichnen und Gruppen-Sharing Wenn die Sitzung vorüber und der Atmende in den normalen Bewusstseinszu­ stand zurückgekehrt ist, wird er vom Sitter in den Mandalaraum begleitet. Dieser Raum ist mit verschiedenen Malutensilien wie Pastellkreiden, Filzstiften und Was­ serfarben ausgestattet und mit grossen Zeichenblöcken. Auf den einzelnen Blät­ tern wird mit Bleistift jeweils ein Kreis in Speisetellergrösse gezeichnet. Der At­ mende wird dann gebeten, sich zu setzen, über sein Erlebnis zu meditieren und ei­ nen Weg zu finden, dem Erlebnis, auf welche Art auch immer, Ausdruck zu geben.

206

Es gibt also keine spezifischen Anleitungen für das Mandalazeichnen. Einige Leute produzieren einfach Farbkombinationen, andere konstruieren geometrische Mandalas oder gestalten figürliche Zeichnungen oder ganze Gemälde. Letztere können eine Vision darstellen, die während der Sitzung aufkam, oder einen bildlichen Reisebericht mit mehreren deutlich unterscheidbaren Sequenzen. Manchmal entscheidet sich der Atmende, eine einzige Sitzungen durch mehrere Mandalas zu dokumentieren, welche die verschiedenen Aspekte oder Stufen der Sitzung reflektieren. Nur selten haben die Personen überhaupt keine Idee, was sie zeichnen wollen, und produzieren dann eine «automatische Zeichnung». Wir haben auch Fälle gesehen, in denen das Mandala nicht die eben vergangene Sitzung illustrierte, sondern die folgende Sitzung vorwegnahm. Dies stimmt mit der Idee von C. G. Jung überein, dass die Produkte der Psyche nicht vollständig durch die vorangegangenen historischen Ereignisse erklärt werden können. In vielen Fällen haben sie nicht nur einen retrospektiven (zurückblickenden), sondern auch einen prospektiven (voraussehenden) Aspekt. So spiegeln einige Mandalas einen psychischen Moment wider, den Jung Individuationsprozess nannte, und decken dabei die einem bevorstehenden Stufen auf. Eine mögliche Alternative zum Mandalazeichnen ist das Modellieren in Ton. Wir führten diese Methode erstmals ein, als wir in einer unserer Gruppen einen blinden Teilnehmer hatten. Interessanterweise zogen auch einige andere Teilnehmer dieses Medium vor, oder sie entschieden sich für eine Kombination von Mandala und dreidimensionalem Arbeiten. Später bringen die Teilnehmer ihre Mandalas zum Gruppen-Sharing mit, wo sie ihre Erlebnisse mit den anderen teilen. Die Aufgabe der Facilitators, die diese Gruppen leiten, ist es, die Teilnehmer zu grösstmöglicher Offenheit und Ehrlichkeit bei der Mitteilung ihrer Erfahrungen anzuregen. Die Bereitschaft der Einzelnen, den Inhalt ihrer Sitzung mitsamt den verschiedenen intimen Details offen darzulegen, fördert den Zusammenhalt in der jeweiligen Gruppe und das Vertrauen des Einzelnen in diese. Dies vertieft, verstärkt und erleichtert den therapeuti­ schen Prozess enorm. Im Gegensatz zu den Gepflogenheiten in den meisten anderen Therapieschulen vermeiden es die Facilitators, die Erfahrungen der Teilnehmer zu interpretieren. Der Hauptgrund dafür ist die fehlende Einigkeit unter den verschiedenen existierenden Schulen, was die Funktionsweise der Psyche anbetrifft. Wir haben zuvor davon gesprochen, dass unter diesen Umständen jede Interpretation frag­ würdig und willkürlich erscheint. Ein weiterer Grund ist die Tatsache, dass die psychischen Inhalte mit mehreren Ebenen der Psyche verbunden sind. Eine an­ geblich definitive Erklärung oder Interpretation zu geben birgt die Gefahr in sich, den Vorgang einzufrieren, und greift einschränkend in den therapeutischen Pro­ zess ein. Eine ergiebigere Alternative ist es, Fragen zu stellen, die weitere Informatio­ nen ans Licht bringen können. Wichtig ist die Perspektive des Teilnehmers: Es ist seine Erfahrung, und er ist letztendlich sein eigener Experte. Wenn wir Geduld

207

üben und der Versuchung widerstehen, unsere eigenen Eindrücke einzubringen, finden die Teilnehmer meist zu den eigenen Erklärungen, die ihren Erlebnissen auch wirklich Sinn geben. Gelegentlich kann es hilfreich sein, unsere Beobachtun­ gen aus vergangenen, ähnlich gelagerten Situationen mitzuteilen oder auf Verbin­ dungen zu Erlebnissen anderer Gruppenmitglieder hinzuweisen. Wenn die Erleb­ nisse archetypisches Material enthalten, kann Jungs Methode der Amplifikation das Hinweisen auf Parallelen zwischen einer bestimmten Erfahrung und ähnlichen mythologischen Motiven - oder die Empfehlung, in einem Buch über Symbole nachzuschlagen, weiterhelfen. In den auf intensive Sitzungen mit bedeutenden Durchbrüchen folgenden Ta­ gen kann eine Vielzahl von komplementären Ansätzen die Integration erleichtern. Dazu gehören Diskussionen über die Sitzung mit einem erfahrenen Facilitator, das Niederschreiben des Erlebnisses oder das Zeichnen weiterer Mandalas. Professio­ nelle Körperarbeit mit einem Therapeuten, der das Ausdrücken von Emotionen fördert, oder Joggen, Schwimmen und andere körperliche Betätigungen wie zum Beispiel Ausdruckstanz können sehr hilfreich sein, wenn die holotrope Erfahrung einen Überschuss an zuvor aufgestauter physischer Energie befreit hat. Auch die Gestalt-Therapie oder das Sandspiel nach Jung von Dora Kalff bieten Unterstüt­ zung bei der Verfeinerung der Einsichten in die eben gemachte holotrope Erfah­ rung.

Das therapeutische Potenzial der holotropen Atemarbeit Christina und ich haben das holotrope Atmen ausserhalb unseres beruflichen Um­ felds entwickelt und praktiziert - in vierwöchigen Seminaren oder kürzeren Workshops am Esalen-Institut, dann in verschiedenen Atemarbeit-Workshops an vielen anderen Orten auf der Welt, und in unserem Trainingsprogramm für ange­ hende Facilitators. Ich hatte keine Gelegenheit, die therapeutische Wirksamkeit dieser Methode auf die gleiche Art zu testen wie früher die psychedelische Thera­ pie, deren Forschungsprojekt ich (mit)leitete. Die psychedelische Forschung am Maryland Psychiatric Research Center umfasste kontrollierte klinische Studien mit unzähligen psychologischen Tests und eine systematische, professionell durch­ geführte Nachuntersuchung. Die Resultate, die sich aus der holotropen Atemarbeit ergeben, sind jedoch oft ebenso dramatisch und lassen sich sinnvoll mit den spezifischen Erfahrungen der Sitzungen in Verbindung bringen, sodass ich keinen Zweifel daran habe, dass die holotrope Atemarbeit eine entwicklungsfähige Form der Therapie und der Selbst­ erforschung ist. Wir haben über die Jahre unzählige Fälle gesehen, in denen Teilnehmer von Workshops oder Trainings aus jahrelang währenden Depressio­ nen ausbrechen konnten, Phobien überwanden, sich von verzehrenden irrationa­ len Gefühlen befreien und ihr Selbstvertrauen und Selbstwertgefühl radikal ver­ bessern konnten. Extreme psychosomatische Schmerzen, inklusive Migräne, ver­ schwanden, wir haben auch anhaltende Verbesserungen oder gar vollständige Hei­ lungen bei psychogenem Asthma gesehen. Zumeist schätzen Teilnehmer ihre

208

Fortschritte, wenn sie diese mit ihren langjährigen Verhaltherapien vergleichen, nach nur wenigen aufeinander folgenden holotropen Sitzungen als ungleich erfol­ greicher ein. Wenn wir die Wirksamkeit von Selbsterfahrungstherapien wie der psychedeli­ schen Therapie oder der holotropen Atemarbeit auswerten wollen, so ist es wich­ tig, einige fundamentale Unterschiede zwischen diesen und den verbalen Thera­ pieformen zu unterstreichen. Verbale Psychotherapie dauert meist mehrere Jahre, bedeutende, aufregende Durchbrüche sind aber eher die Ausnahme. Treten Sym­ ptomveränderungen auf, so geschehen diese über eine lange Zeit hinweg, und es ist schwierig, einen kausalen Zusammenhang mit der jeweiligen Therapieform oder dem therapeutischen Prozess allgemein zu beweisen. Im Vergleich dazu kön­ nen in einer psychedelischen oder holotropen Sitzung innert weniger Stunden ge­ waltige Veränderungen auftreten, die man überzeugend mit einer spezifischen Er­ fahrung in Verbindung bringen kann. Die in der holotropen Therapie erreichten positiven Veränderungen be­ schränken sich nicht auf emotionale oder psychosomatische Leiden. In vielen Fäl­ len führen holotrope Sitzungen auch zu dramatischen Verbesserungen im körper­ lichen Bereich, in medizinischen Handbüchern organische Krankheiten genannt. Erfolge konnten etwa bei chronischen Infektionen (Sinusitis, Pharyngitis, Bron­ chitis und Zystitis) verbucht werden, nachdem bioenergetische Blockaden an den betroffenen Stellen gelöst wurden und das Blut wieder frei zirkulieren konnte. Die Gesundung der Knochensubstanz einer Frau, die an Osteoporose erkrankt war und an einem unserer Trainings teilnahm, bleibt bis heute unerklärt. Mehrere Male konnte auch eine volle periphere Zirkulation bei Personen, die am Raynaud-Syndrom, einem Leiden, das kalte Hände und Füsse und dystrophe Hautveränderungen mit sich bringt, wiederhergestellt werden. In mehreren Fällen führte das holotrope Atmen auch zu bemerkenswerten Verbesserungen von Ar­ thritis. In all diesen Fällen scheint der entscheidende Faktor, der zur Heilung führ­ te, die Auflösung von bioenergetischen Blockaden in den betroffenen Körper­ teilen, gefolgt von einer Erweiterung der involvierten Gefässe, gewesen zu sein. Die erstaunlichste Begebenheit in dieser Kategorie war eine dramatische Remis­ sion der fortgeschrittenen Symptome in einem Fall von Takayasu-Arteriitis, einer Krankheit unbekannter Ätiologie, die mit einem progressiven Sichverschliessen der Arterien der oberen Körperpartie einhergeht. Dieses Leiden wird normaler­ weise als progressiv, unheilbar und potenziell zum Tod führend angesehen. In einigen Fällen wurde das therapeutische Potenzial des holotropen Atmens in klinischen Studien bestätigt, welche von Therapeuten durchgeführt wurden, die wir ausgebildet hatten und die diese Methode in ihrer Arbeit einsetzten. Wir ha­ ben ausserdem in vielen Fällen von Personen - Jahre nachdem ihre emotionalen, psychosomatischen und physischen Symptome sich nach holotropen Sitzungen in unseren Trainings oder Workshops verbessert hatten - positives Feedback be­ kommen. Dies bestätigt einmal mehr unsere Annahme, dass die in holotropen Sit­ zungen erreichten Verbesserungen oft von langer Dauer sind. Es ist anzunehmen,

209

dass in der Zukunft die Wirksamkeit dieser interessanten Methode durch sorgfäl­ tig durchgeführte klinische Forschungen bestätigt werden wird.

Am holotropen Atmen beteiligte physiologische Mechanismen Angesichts der imponierenden Wirkungen, die sich beim holotropen Atmen für unser Bewusstsein ergeben, lohnt es sich, die physiologischen und biochemischen Mechanismen, die dabei mitspielen, genauer zu betrachten. Viele Menschen glau­ ben, dass intensiveres Atmen dem Körper und speziell dem Gehirn einfach mehr Sauerstoff zuführt. Die Situation ist jedoch weitaus komplexer. Es stimmt, dass durch beschleunigtes Atmen mehr Luft und deshalb mehr Sauerstoff in die Lun­ gen gelangt, gleichzeitig wird aber auch der Gehalt an Kohlensäure (CO 2 ) redu­ ziert, was eine Verengung der Gefässe in bestimmten Körperteilen zur Folge hat. Da Kohlensäure chemisch gesehen sauer ist, erhöht deren Reduktion die Alkalinität (den so genannten pH-Wert) des Blutes, und in einem basischen Umfeld wird jeweils weniger Sauerstoff an das Gewebe abgegeben. Dies löst einen homöostatischen Mechanismus aus, der in die entgegengesetzte Richtung wirkt: Um diesen Umstand zu kompensieren, scheiden die Nieren vermehrt basisch an­ gereicherten Urin aus. Das Hirn ist einer derjenigen Körperteile, die bei beschleu­ nigter Atmung mit Gefässverengung reagieren. Weil der Grad des Austauschs nicht nur von der Atemfrequenz abhängt, sondern auch von dessen Tiefe, wird die Situation noch komplexer. Was die Kombination der einzelnen Sachverhalte für die Gesamtsituation in einem individuellen Fall ergibt, kann ohne eine Menge La­ bortests schwer beurteilt werden. Betrachten wir all die erwähnten physiologischen Auswirkungen zusammen, so lässt sich das holotrope Atmen körperlich gesehen etwa mit einem Aufenthalt im Hochgebirge vergleichen, wo wenig Sauerstoff vorhanden ist und der CO 2 -Wert durch ein kompensierendes beschleunigtes Atmen gesenkt wird. Die Grosshirn­ rinde, aus evolutionärer Sicht jüngster Teil des Gehirns, reagiert im Allgemeinen empfindsamer auf verschiedene Einflüsse (wie etwa Alkohol oder Anoxie) als die älteren Hirnpartien. Diese Situation würde also eine Hemmung der kortikalen Funktionen und eine intensivierte Aktivität in den archaischen Hirnteilen auslösen, wodurch unbewusste Prozesse besser zugänglich werden. Es ist interessant, dass viele Individuen und sogar ganze Kulturen, die in ex­ tremen Höhen leben, für ihre fortschrittliche Spiritualität bekannt sind. Erwähnt seien hier nur die Yogi im Himalaja, die tibetischen Buddhisten und die peruani­ schen Inka. Es wäre verlockend, dies dem Faktum zuzuschreiben, dass sie, weil in einer Atmosphäre von geringem Sauerstoffgehalt lebend, vereinfachten Zugang zu transpersonalen Erfahrungen haben. Ein längerer Aufenthalt in der Höhe führt jedoch zu physiologischen Anpassungen, zum Beispiel zu einer erhöhten Produk­ tion roter Blutkörperchen. Die Situation beim holotropen Atmen lässt sich des­ halb nicht direkt mit einem längeren Aufenthalt in hoch gelegenen Berggegenden gleichsetzen.

210

Auf jeden Fall ist es ein weiter Weg von der Betrachtung der rein physiologi­ schen Veränderungen, die im Gehirn stattfinden, bis zu all den anderen, extrem umfangreichen Phänomenen, die durch das holotrope Atmen ausgelöst werden. Wie erklären wir beispielsweise die als authentisch empfundenen Identifikationen mit Tieren, die archetypischen Visionen oder Erinnerungen an frühere Leben? Von der Situation her haben wir hier das gleiche Problem, wie wir es auch beim LSD mit dessen physiologischen Wirkungen vorfinden. Die Tatsache, dass beide Methoden transpersonale Erfahrungen auslösen, durch welche wir über aussersinnliche Kanäle neue Informationen über das Universum gewinnen können, legt nahe, dass diese Inhalte nicht im Hirn selbst gespeichert sind. Nachdem Aldous Huxley einige psychedelische Erfahrungen hinter sich hatte, kam auch er zum Schluss, dass unser Hirn unmöglich die Quelle dieser Erfah­ rungen sein kann. Er meinte, dieses habe eher die Funktion eines reduzierenden Ventils, das uns vor einer unendlich viel grösseren kosmischen Dateneinspeisung schützt. Bedeutende Werke wie «Gedächtnis ohne materielles Substrat» (von Foerster 1965), «Morphogenetische Felder» (Sheldrake 1981) und «Psi-Feld» (Laszlo 1993) stützen Huxleys Idee und lassen sie immer plausibler erscheinen.

Holotrope Therapie und andere ßehandlungsförmen Nach mehreren Jahrzehnten der Arbeit mit holotropen Zuständen bin ich restlos davon überzeugt, dass diese neuen Einsichten über die Natur des Bewusstseins, die Dimensionen der menschlichen Psyche und die Architektur emotionaler und psy­ chosomatischer Leiden, wie ich sie in den vorangegangenen Kapiteln erläutert ha­ be, von allgemeiner Gültigkeit und bleibendem Wert sind. Meiner Meinung nach sollten diese Erkenntnisse auf jeden Fall in die psychiatrische Theorie eingebaut und von allen Therapeuten in ihren konzeptionellen Rahmen integriert werden, ungeachtet der therapeutischen Technik, die diese praktizieren. Wie Frances Vaughan in ihrer Abhandlung über transpersonale Psychothera­ pie so wortgewandt formulierte, sollte das Thema in einer therapeutischen Arbeit jederzeit von dem bestimmt sein, was der Klient selbst in die Sitzung einbringt. Der Beitrag des Therapeuten besteht eigentlich «nur» darin, einen geeigneten theore­ tischen Rahmen dafür zu schaffen, der so weit ist, dass auf alles, was im Prozess auftaucht, sinnvoll Bezug genommen werden kann. Ein transpersonal orientierter Therapeut kann seinem Klienten so in die verschiedensten psychischen Bereiche folgen, wo immer diese auch hinführen (Vaughan 1979). Wenn das theoretische Weltbild des Therapeuten eng ist, wird er nicht fähig sein, die ausserhalb liegenden Phänomene zu verstehen, und er wird diese so lan­ ge uminterpretieren, bis sie in seiner eigenen engen Weitsicht wieder «Sinn» ma­ chen. Dies führt zu folgenschweren Verzerrungen und beeinträchtigt Qualität und Wirksamkeit des therapeutischen Prozesses ernsthaft, ob dieser nun aus der Ecke der Selbsterfahrungs- oder jener der verbalen Therapien kommt. Da ich diese bei­ den Formen schon einige Male angeführt habe, scheint es zweckmässig, auf ihre Indikationen, ihr Potenzial und ihre Beschränkungen näher einzugehen.

211

Gewisse emotionale und psychosomatische Leiden, besonders die mit blo­ ckierten emotionalen und physischen Energien assoziierten, verlangen eine ganz bestimmte Behandlungsform; Versuche, dieselben anhand von verbalen Therapie­ formen kurieren zu wollen, ist reiner Zeitverlust. Es ist ganz einfach unmöglich, die perinatalen und transpersonalen Wurzeln emotionaler Probleme durch Verbaltherapie allein zu erreichen. Die Gesprächstherapie stellt anderseits sicher eine wichtige Ergänzung zu den tiefen Selbstfahrungssitzungen dar. Sie hilft bei der In­ tegration des Materials, das durch die holotropen Sitzungen aufgetaucht ist, hand­ le es sich dabei nun um biografische Traumata, um perinatale Sequenzen oder um tiefe, spirituelle Erfahrungen. Dasselbe gilt für die meist spontan auftretenden spi­ rituellen Krisen. Die verbale Psychotherapie kann auch hilfreich sein bei der Klärung von Kom­ munikationsproblemen und bei der Sichtbarmachung zwischenmenschlicher Dy­ namismen, sei dies nun in einer Partnerschaft oder in einer ganzen Familie. Wenn sie eins zu eins, also unter Anwesenheit aller Betroffenen, durchgeführt wird, kann sie die vorhandenen Fehleinstellungen korrigieren und dabei helfen, das Vertrau­ en in zwischenmenschliche Beziehungen zu stärken, wenn dieses durch Zurück­ weisungen oder Missbrauch in der frühen Kindheit stark gelitten hat. Diese The­ rapieform kann auch zu «Teufelskreisen» geratene Beziehungsmuster heilen, wel­ che nur noch auf Verallgemeinerungen, Erwartungshaltungen, Enttäuschungen und daraus resultierenden «sich selbst erfüllenden Prophezeiungen» beruhen. Das systematische Arbeiten mit holotropen Zuständen lässt sich mit vielen an­ deren, ähnlich orientierten Therapien kombinieren: Zu diesem breiten Spektrum gehören unter anderem die Gestalt-Therapie, verschiedene Formen von Körper­ arbeit, Ausdrucksmalen und Ausdruckstanz, auch Jacob Morenos Psychodrama, Dora Kalffs Sandspiele oder Francine Shapiros Eye Movement Desensitization and Reprocessing (EMDR). Zusammen mit Körperübungen, Meditation und Be­ wegungsmeditation wie Jogging, Schwimmen, Hatha-Yoga, Vipassana, Tai Chi oder Qi Gong kann dies ein sehr wirksames therapeutisches Paket sein, das mit der Zeit nicht nur emotionale und psychosomatische Heilung, sondern auch bleibende positive Veränderungen der ganzen Persönlichkeit zur Folge hat.

212

Kapitel 6 Spiritualität und Religion

D

ie wahrscheinlich radikalsten neuen Perspektiven konnte die Erforschung holotroper Zustände für den Bereich Spiritualität und Religion eröffnen. Das Verständnis der menschlichen Natur und des Kosmos, das die westliche materia­ listische Wissenschaft entwickelt hat, unterscheidet sich ja massgebend von demje­ nigen der alten Kulturen. Während der letzten Jahrhunderte erforschten die Wis­ senschaftler systematisch die verschiedenen Aspekte der materiellen Welt und sammelten dabei eine eindrückliche Menge an neuen Informationen und Erkennt­ nissen, welche die vorgängigen Konzepte über Natur und Universum korrigierten, ergänzten oder ersetzten. Der wesentliche Unterschied zwischen den beiden Weltanschauungen betrifft jedoch nicht die Quantität oder die Genauigkeit der erworbenen Daten, die infol­ ge eines stetig zunehmenden wissenschaftlichen Fortschritts naturgemäss zu er­ warten sind. Sondern der Hauptunterschied betrifft die Frage, ob unserer Existenz eine heilige, spirituelle Dimension zugrunde liegt oder nicht - zweifellos ein The­ ma von höchster Bedeutung mit entscheidenden Implikationen für unsere ganze menschliche Existenz. Die Antwort auf diese Frage beeinflusst unsere ganze Wertehierarchie, unsere gesamte Seinsweise und unser Verhältnis zu Mensch und Natur. Und sie resultiert in zwei Gesinnungsweisen, die einander diametral entge­ gengesetzt sind. Die Zivilisationen aus vorindustriellen Zeitaltern waren sich darin einig, dass die materielle Welt, wie wir sie tagtäglich erfahren, nicht die einzige ist. Für sie be­ stand parallel dazu noch eine weitere, verborgene Dimension der Wirklichkeit, die von Gottheiten, Dämonen, körperlosen Wesen, Geistern von Vorfahren und Krafttieren beseelt war. Diese Kulturen verfügten über ein reiches rituelles und spirituelles Leben, und sie wussten um die Möglichkeit eines direkten Erlebens dieser sonst unzugänglichen Bereiche. Sie nahmen mit anderen Wesenheiten Kon­ takt auf, um ihre Unterstützung zu erlangen und Informationen übersinnlicher Art zu gewinnen - für sie die wirksamste Methode, um auf den Lauf der Dinge Einfluss zu nehmen. Ihre Alltagsaktivitäten gründeten nicht bloss auf den Informationen, die wir über die fünf Sinne erhalten, sondern waren wesentlich von den unsichtbaren Di­ mensionen mitbestimmt. - Anthropologen, die in verschiedenen nativen Kulturen ihre Forschungen betrieben, berichteten verblüfft von einem Phänomen, welches sie «doppelte Logik» nannten. Einerseits zeigten die Nativen ausgeprägte Fähig­

213

keiten praktischer Natur, verfügten über raffinierte Werkzeuge und andere Gerä­ te, die ihren Lebensumständen und den örtlichen Gegebenheiten aufs Beste ange­ passt waren. Doch kombinierten sie diese so vernünftig erscheinenden, prakti­ schen Aktivitäten wie professionelles Jagen, Fischen oder Ackerbau mit magi­ schen Ritualen, die auf andere Dimensionen Bezug nahmen und die der Anrufung anderer Wesenheiten dienten - für die meisten Anthropologen schlicht Produkte der puren Einbildung und unverständlichen Aberglaubens. Die Anthropologen, die materialistisch orientiert waren und demzufolge auch keine Erfahrungen mit holotropen Bewusstseinszuständen hatten, stuften dieses Verhalten als völlig irrational ein und fanden es absolut unverständlich. Aber an­ ders als die konservativen Kollegen, deren Methoden sich auf ein unbeteiligtes Be­ obachten «von aussen her» beschränkten, erkannten die weltoffeneren und aben­ teuerlustigeren, «visionären» Anthropologen, dass diese Kulturen nur dann wirk­ lich verstanden werden können, wenn auch sie selbst an den verschiedenen Ritua­ len, die zum Teil im holotropen Zustand erfolgten, teilnahmen. Forscher wie Michael Harner, Richard Katz, Barbara Meyerhoff oder Carlos Castaneda hatten keine Probleme, die so genannt doppelte Logik dieser Kulturen zu verstehen. Ihre Erfahrungen zeigten ihnen, dass das Herstellen von Werkzeu­ gen und die anderen praktischen Fertigkeiten, die sie beherrschten, ganz einfach in der materiellen Wirklichkeit, wie wir sie üblicherweise rn, verwurzelt sind, während ihre rituellen Handlungen auf die verborgenen, holotropen Realitä­ ten Bezug nahmen. Die Weltanschauung der akademischen Anthropologie (der «etische Ansatz») beschränkt sich auf eine Beobachtung der materiellen Wirklich­ keit von aussen her, während die Perspektive nativer Kulturen (der «emische An­ satz») die bei direkten Erfahrungen anderer Wirklichkeiten gewonnenen Einsich­ ten mit einschliesst. Diese beiden Perspektiven müssen sich gegenseitig keines­ wegs ausschliessen, sondern komplementieren einander. Die tiefe Würdigung der sakralen und spirituellen Dimensionen, wie wir sie bei diesen Kulturen vorfinden, steht in krassem Gegensatz zu den Konzepten, die in unserer industrialisierten Welt den Ton angeben. Aus der heutigen akademi­ schen Sicht ist einzig die Materie wirklich existent. Die Geschichte des Universums ist die Geschichte der sich entwickelnden Materie: Leben, Bewusstsein und Intel­ ligenz werden als mehr oder weniger zufällige, eher unbedeutende Begleiterschei­ nungen der Evolution verstanden. Im kosmischen Schöpfungsszenario sollen sie erst nach Billionen von Jahren aus der passiven und inerten Materie entstanden sein - gleichsam in einer trivial kleinen Ecke eines immensen Universums. Es ist offensichtlich, dass in einem solchen Universum für Spiritualität kein Platz ist. Die westliche Wissenschaft ist noch immer der Ansicht, dass unser Bewusst­ sein ein Produkt von neurophysiologischen Vorgängen ist, weshalb es dem Mate­ riellen auch untergeordnet werden muss. Die wenigsten Menschen, Wissenschaft­ ler miteingeschlossen, sind sich aber der Tatsache bewusst, dass wir nicht einen einzigen Beweis haben für die These, dass Bewusstsein im Hirn produziert wird; und dass wir des Weiteren keine Ahnung haben, wie ein solcher Prozess denn vor

214

sich gehen sollte. Trotzdem ist diese metaphysische These noch immer einer der führenden Mythen der westlichen Wissenschaft und prägt unser aller Weltan­ schauung in höchstem Masse. Wenn wir aber die Konsequenzen aus dem hier angeführten Material zur Na­ tur holotroper Erfahrungen ziehen, so erweist sich der heutige monistische Ma­ terialismus mit seiner verachtungsvollen Ablehnung, ja Pathologisierung der Spi­ ritualität als in jeder Beziehung unhaltbar. In holotropen Zuständen können die spirituellen Dimensionen der Wirklichkeit direkt erfahren werden, und sie wirken zumindest gleich überzeugend wie die materielle Welt. Die einzelnen Schritte, die zu diesen Erfahrungen führen, wurden detailliert beschrieben, und zuverlässig durchgeführte Forschungen rund um transpersonale Phänomene zeigen, dass die­ se ontologisch real sind und uns über wichtige Aspekte der Existenz informieren können. Generell bestätigt die Untersuchung holotroper Zustände die Erkenntnis von C. G. Jung, dass die aus tieferen psychischen Schichten kommenden Erfahrungen (in meiner Terminologie «perinatale» und «transpersonale» Erfahrungen) eine be­ stimmte Qualität aufweisen, welche Jung (nach Rudolf Otto) numinos nannte. Da dieser Ausdruck ziemlich wertneutral ist, ist er ähnlichen Begriffen wie religiös, mystisch, magisch, heilig oder sakral vorzuziehen. Diese wurden zu oft in proble­ matischen Zusammenhängen gebraucht und können deshalb irreführend sein und Verwirrung stiften. Der Begriff «numinos» steht für ein direktes Begreifen - und Erfasstwerden - von Dimensionen, die einer höheren Realitätsordnung angehören und die sich darum von unserer gewohnten, materiellen radikal unterscheiden. Um Missverständnisse und Konfusionen zu vermeiden, die in der Vergangen­ heit so viele Diskussionen provozierten, ist es unumgänglich, Spiritualität und Re­ ligion klar voneinander zu unterscheiden. Spiritualität basiert auf direkten Erfah­ rungen von gewöhnlich unbekannten Dimensionen der Wirklichkeit. Sie braucht keine besonderen Stätten oder offiziell beauftragte Personen, die den Kontakt zum Göttlichen vermitteln. Mystiker brauchen keine Kirchen oder Tempel. Die «Orte», an denen sie die heiligen Dimensionen der Wirklichkeit erleben, sind in ih­ nen selbst, in ihrem Körper und in der Natur. Anstelle eines Priesters haben sie ih­ re Gesinnungsfreunde und Mitsucher um sich, zuweilen haben sie Lehrer, die auf dem inneren Weg schon weiter vorangeschritten als sie selbst. Direkte spirituelle Erfahrungen treten in zwei verschiedenen Formen auf. Die erste, die Erfahrung des immanenten Göttlichen, hat mit der subtilen, aber tief grei­ fend transformierten Wahrnehmung der täglichen Wirklichkeit zu tun. Eine Per­ son, die eine solche Erfahrung macht, sieht Menschen, Tiere und unbelebte Ob­ jekte in der Umgebung als strahlende Manifestationen eines einzigen vereinten Feldes kosmischer kreativer Energie und realisiert, dass die Grenzen, wie wir sie üblicherweise wahrnehmen, illusorisch und irreal sind. Die Person hat eine direk­ te Erfahrung von der Natur als Gott, dem deus sive natura von Spinoza. Nimmt man zur Veranschaulichung einen Fernsehapparat als Analogie, dann ist dies, als ob ein Schwarzweissfernseher plötzlich farbige Bilder ausstrahlt. Die Bilder an

215

Oben und rechts: Diese Zeichnungen entstanden nach einer Sitzung mit psycho­ genen Pilzen. Die Erfahrung drehte sich um Religion und Spiritualität, enthüllte ihre morbiden, unechten und selbstgerechten Aspekte, die intolerante Einstellung ge­ genüber anderen Glaubenssystemen und ihre körperfeindliche und menschen­ fremde Einstellung. Auf deren Lächerlichmachung folgte eine Vision der universel­ len, allumfassenden und naturorientierten Spiritualität. Die Reinheit, Kraft und Vita­ lität, die mit einer solchen Lebensweise einhergehen, wurden gebührend gefeiert. In den Bildern wird dies vom Löwen, der aus einem Lamm hervortritt, und vom tanzenden Indianer symbolisiert.

sich sind demnach zwar die gleichen, erscheinen aber durch die hinzugefügte neue Dimension in völlig neuem Licht. Bei der zweiten Form spiritueller Erfahrung, der des transzendenten Göttli­ chen, geht es um eine Manifestation archetypischer Wesen und Wirklichkeitsbe­ reiche, die transphänomenaler Natur, also der alltäglichen Wahrnehmung nicht zugänglich sind. Bei dieser Art spiritueller Erfahrung kommen neue Elemente aus anderen Ebenen oder Wirklichkeitsformen hinzu, die «sich entfalten» oder «expli-

216

zieren», um zwei Ausdrücke David Bohms zu benützen. Und um zur Analogie mit dem Fernseher zurückzukehren: Hier wird die Entdeckung gemacht, dass es noch andere Kanäle gibt als den einen, den wir uns zuvor immer angeschaut haben. Für viele erfolgt die erste Begegnung mit numinosen Dimensionen im Zusam­ menhang mit einem Erlebnis von Tod und Wiedergeburt. Werden die verschiede­ nen Stadien der Geburt wiedererlebt, so sind diese oft von Visionen und Szenen, die dem archetypischen Bereich des kollektiven Unbewussten entstammen, be­

217

gleitet. Eine vollständige Verbindung mit dem spirituellen Reich ist jedoch erst vorhanden, wenn der Prozess sich ganz auf die transpersonale Ebene verlagert hat. Die verschiedenen spirituellen Erfahrungen erscheinen dann in ihrer reinen Form, weisen also keine fötalen Elemente mehr auf. Manchmal überspringt der Prozess die biografischen und perinatalen Ebenen, und es kommt von Anfang an zu einem direkten Kontakt mit transpersonalen Bereichen. Spiritualität basiert auf einer «individuellen» Beziehung des Einzelnen zum Kosmos, ist von ihrer Essenz her also eine persönliche, private Sache. Im Gegen­ satz dazu geht es bei den organisierten Religionen um institutionalisierte Aktivitä­ ten, die von einer Vielzahl von Menschen zusammen vollführt werden. Sie finden an bestimmten Orten statt, in Tempeln oder Kirchen, und verfügen über ein Sys­ tem von Ordensträgern. Unter den ernannten Würdenträgern finden sich solche, die Erfahrungen von spirituellen Dimensionen hatten, aber eben auch andere. Wird eine Religion zur Organisation, verliert sie die Verbindung zu ihrer spirituel­ len Quelle meist vollständig und wird zu einer weltlichen Institution, welche die spirituellen Bedürfnisse der Menschen ausnützt, statt sie zu befriedigen. Sie schaffen sich hierarchische Systeme, die auf die Erlangung von Macht, Kontrolle, Politik, Geld, Besitz und andere weltliche Dinge ausgerichtet sind. Aus diesem Grund sprechen diese religiösen Hierarchien ihren Mitgliedern im Allge­ meinen jede Möglichkeit einer direkten spirituellen Erfahrung ab - eine solche würde die individuelle Unabhängigkeit fördern und eine effektive Kontrolle ver­ unmöglichen. Ein authentisches spirituelles Leben findet sich bei diesen Institutio­ nen nur noch in den mystischen Nebenlinien, in einigen wenigen Mönchsorden oder vereinzelten Sekten, welche ekstatische Zustände gutheissen und anstreben. Bruder David Steindl-Rast, ein Benediktinermönch und christlicher Philo­ soph, benutzt zur Illustrierung dieser Situation eine wunderschöne Metapher. Er vergleicht die ursprüngliche mystische Erfahrung mit dem glühenden Magma ei­ nes explodierenden Vulkans; aufregend, dynamisch und belebend - und nach ge­ habtem Erlebnis haben wir das Gefühl, wir müssten einen begrifflichen Rahmen dafür schaffen und eine Doktrin formulieren. Der mystische Zustand stellt eine wertvolle Erinnerung dar, und wir könnten ein Ritual schaffen, das uns an diesen folgenreichen Moment erinnert. - Eine unmittelbar erlebte Erfahrung bewirkt, dass wir uns mit der kosmischen Ordnung verbunden fühlen, und hat direkten Ein­ fluss auf unsere ethische Einstellung - auf unser Wertesystem, unsere Moralstan­ dards und unser alltägliches Verhalten. Aus unterschiedlichen Gründen neigen organisierte Religionen im Verlauf der Zeit dazu, die Verbindung zu ihrer spirituellen Quelle zu verlieren. Sind sie erst einmal von ihrer ursprünglichen Erfahrungsmatrix getrennt, so degenerieren ihre Doktrinen zu Dogmen, die Rituale werden zu Ritualismen und die kosmische Ethik zum Moralismus. Im Gleichnis von Bruder David gleichen die Reste dessen, was einst ein vitales spirituelles System war, schliesslich eher einer verkrusteten Lava und haben wenig mehr mit dem elektrisierenden Magma der originalen mys­ tischen Erfahrung zu tun.

218

Menschen, die Erfahrungen mit dem immanenten oder dem transzendenten Göttlichen hatten, öffnen sich dem Spirituellen, so wie man es in den mystischen Nebenlinien der grossen Weltreligionen oder deren Mönchsorden, nur selten aber in der Mutterorganisation selbst vorfindet. Nimmt eine Erfahrung auf die christli­ che Religion Bezug, so kann sich das Individuum von einer heiligen Teresa von Avila, einem heiligen Johannes vom Kreuz, von Meister Eckhart oder der heiligen Hildegard von Bingen angezogen fühlen. Keine grossen Sympathien hat man für die Hierarchien im Vatikan oder all die päpstlichen Edikte übrig, und genauso we­ nig kann man Verständnis für die Einstellung der katholischen Kirche zur Emp­ fängnisverhütung oder für ihre Weigerung, Frauen in den Klerus aufzunehmen, aufbringen. Eine spirituelle Erfahrung mit islamischem Hintergrund weckt oftmals ein In­ teresse für die Lehren der verschiedenen Sufi-Orden. Sie weckt jedoch keinesfalls Sympathien für die religiös motivierten politischen Manöver einiger muslimischer Gruppierungen und auch keine Passion für den Djihad, den heiligen Krieg gegen die Ungläubigen. Ähnlich verbinden Erfahrungen, die mit der jüdischen Kultur zu tun haben, das Individuum mit den mystischen Zweigen des Judentums, wie der Kabbala oder der chassidischen Bewegung, und nicht mit dem fundamentalisti­ schen Judaismus oder Zionismus. Tiefe mystische Erfahrungen haben die Ten­ denz, die Grenzen zwischen den einzelnen Religionen zu verwischen, während der Dogmatismus der organisierten Religionen die Unterschiede hervorhebt und da­ durch Antagonismus und Feindseligkeit schürt. Echte Spiritualität ist also universell und allumfassend und basiert auf eigenen, persönlichen Erfahrungen statt auf Dogmen und Schriften. Die grossen Religio­ nen vereinen zwar die Menschen, die gleichen Glaubens sind, im grossen Ganzen gesehen wirken sie aber entzweiend, indem sie ihren eigenen Glauben gegen die anderen stellen und versuchen, die Andersgläubigen entweder zu konvertieren oder aber zu eliminieren. Begriffsschöpfungen wie «Heiden», «Goyim» und «Un­ gläubige» sprechen für sich, ebenso die endlosen Konflikte zwischen Christen und Juden, Muslims und Juden, Christen und Muslims, Hindus und Sikhs und so wei­ ter. In unserer heutigen, in so mancher Hinsicht verstörten und gestörten Welt sind die Religionen zu einem grossen Teil für die problematische Situation mitverant­ wortlich, statt dass sie, wie man es erwarten könnte, zu deren Lösung beitragen würden. Ironischerweise sind auch die Unterschiede zwischen den einzelnen Strö­ mungen derselben Religion Ursache genug für ernsthafte Konflikte und Blutvergiessen - die Geschichte der christlichen Kirche erzählt Bände, und als aktuelles Beispiel mag das traurige Kapitel der unaufhörlichen gewalttätigen Ausschreitun­ gen in Irland dienen. Es steht ausser Zweifel, dass die Dogmen der organisierten Religionen mit der Wissenschaft in fundamentalem Konflikt stehen, egal ob Letztere das mechanis­ tisch-materialistische Modell oder das aufkommende Paradigma vertritt. Bei der authentischen Mystik ist die Sachlage eine andere. Die grossen mystischen Tradi­ tionen verfügen über ein umfangreiches Wissen, was das menschliche Bewusstsein

219

und die spirituellen Dimensionen betrifft. Ihre Methoden gleichen denen, welche auch die Wissenschaft zum Erwerb von weiteren Erkenntnissen einsetzt, wie bei­ spielsweise ein genau bestimmtes, systematisches Vorgehen, das Einsetzen ausge­ feilter Techniken, wenn es um die Auslösung transpersonaler Erfahrungen geht, oder das systematische Sammeln der vielen Daten und anschliessend deren per­ sonenunabhängige Validierung. Spirituelle Erfahrungen können, wie alle anderen Aspekte der Realität, einer sorgfältigen, weltoffenen Forschung unterzogen und wissenschaftlich untersucht werden. Es ist nichts Unwissenschaftliches dabei, wenn transpersonale Phänome­ ne und die Herausforderungen, die sie für das materialistische Verständnis der Welt darstellen, unvoreingenommen und rigoros untersucht werden. Nur ein sol­ cher Ansatz kann Antworten zu den wichtigen Fragen über die Ontologie mysti­ scher Erfahrungen liefern: Decken diese nun wirklich tiefe Wahrheiten über die grundlegenden Aspekte der Existenz auf, wie die «Perennial philosophy» (die ewi­ ge Philosophie) es behauptet, oder sind sie bloss Produkte des Aberglaubens, der Fantasterei oder gar Erzeugnisse von Geisteskranken, wie es die westliche mate­ rialistische Wissenschaft sieht? Das grösste Hindernis beim Studium spiritueller Erfahrungen ergibt sich aus dem Umstand, dass die traditionelle Psychologie und Psychiatrie von der materia­ listischen Philosophie dominiert wird und dem Thema Religion und Spiritualität deshalb kein wirkliches Verständnis entgegengebracht wird. Die westliche Psy­ chiatrie unterscheidet nach wie vor nicht zwischen mystischen und psychotischen Erfahrungen und sieht beide als Manifestationen geistiger Erkrankungen an. ln ih­ rer Ablehnung des Religiösen unterscheidet sie nicht zwischen primitivem Volks­ glauben oder fundamentalistischen, buchstabengetreuen Interpretationen religiö­ ser Schriften und den hoch entwickelten, mystischen Traditionen oder östlichen spirituellen Philosophien, die auf Jahrhunderten systematischer Forschung beru­ hen. Ein extremes Beispiel für diesen Mangel an kritischem Urteilsvermögen ist die ablehnende Haltung, welche die westliche Wissenschaft dem Tantra entgegen­ bringt, ein System, das sich durch ein tiefes Verständnis der menschlichen Psyche auszeichnet und auf ausserordentlichen visionären Einsichten beruht. Diese bein­ halten umfassende, hoch entwickelte Theorien wissenschaftlicher Natur. Die tief gründenden Erkenntnisse tantrischer Gelehrter bezüglich der Natur des Univer­ sums wurden durch die moderne Wissenschaft nachträglich immer wieder be­ stätigt: die anspruchsvollen Modelle von Raum und Zeit beispielsweise, die Ur­ knalltheorie oder die Erkenntnis, dass unser planetares System heliozentrisch ist; Konzepte, die von den interplanetaren Anziehungskräften, den planetaren Sphären oder dem Phänomen der Entropie handeln. Mit ihrem Wissensstand wa­ ren sie dem Westen, der die entsprechenden Entdeckungen erst viele Jahrhunder­ te später machte, weit voraus. Zu den weiteren Leistungen der tantrischen Wissenschaft gehören die höhere Mathematik und die Erfindung der Dezimalrechnung unter Einbezug der Zahl

220

Null. Ihr Verständnis der Psyche ist ebenso raffiniert wie ihr Konzept der subtilen Energiekörper: Die verschiedenen psychischen Zentren (Chakras) und Meridiane (Nadis) sind in unzähligen Abbildungen dargestellt. Des Weiteren entwickelte die tantrische Tradition eine hoch kultivierte, abstrakte und figurative spirituelle Kunst und komplexe Rituale (Mookerjee und Khanna 1977). Die Tatsache, dass Wissenschaft und Spiritualität als miteinander unvereinbar angesehen werden, ist an sich erstaunlich. Durch alle Zeitalter hindurch haben Spi­ ritualität und Religion im menschlichen Leben eine entscheidende und lebens­ wichtige Rolle gespielt, bis ihr Einfluss von der wissenschaftlichen und industriel­ len Revolution unterminiert wurde. Beide, Wissenschaft und Religion, sind für un­ ser Leben äusserst wichtig, jedes auf seine Art und Weise. Die Wissenschaft ist un­ ser bestes Instrument für die Suche nach weiteren Erkenntnissen, die unsere materielle Welt betreffen, und die Spiritualität ist die Quelle, die für unsere Sinn­ suche unerlässlich ist. Der religiöse Impuls war ausserdem sicher eine der bedeu­ tendsten Antriebsfedern in der menschlichen Geschichte und Kultur. Es fällt schwer, sich vorzustellen, dass all diese Leistungen auf psychotischen Halluzinationen und Wahnvorstellungen, auf irreellem Aberglauben und Fantas­ tereien beruhen sollen. Um einen so mächtigen Einfluss auf den Lauf des mensch­ lichen Lebens ausüben zu können, muss das religiöse Element ganz klar einen zu­ tiefst authentischen und tiefgründenden Aspekt der menschlichen Natur wider­ spiegeln, wie problematisch und verzerrt dessen Ausdruck im Lauf der Mensch­ heitsgeschichte auch geworden sein mag. Schauen wir uns dieses Dilemma im Licht der Erkenntnisse aus der neuen Bewusstseinsforschung an. Alle grossen Weltreligionen wurden durch die machtvollen holotropen Erfahrungen ihrer Vi­ sionäre inspiriert, welche die jeweilige Glaubensform initiierten und aufrechter­ hielten; wie auch durch die göttlichen Eingebungen ihrer Propheten, Mystiker und Heiligen. Diese Erfahrungen, welche die Existenz heiliger Dimensionen in der Realität offenbarten, dienten als wichtige Quelle in allen religiösen Bewegungen. Als Gautama Buddha in Bodhgaya unter dem Bo-Baum meditierte, überkam ihn eine gewaltige Vision, in welcher Kama Mara, Meister der weltlichen Illusion, versuchte, ihn von seiner spirituellen Suche abzubringen. Zu diesem Zweck setzte er zuerst seine drei verführerischen Töchter ein, die im werdenden Buddha das se­ xuelle Verlangen wecken und ihn damit von seiner spirituellen Zielsetzung ablenken sollten. Als dieser Versuch scheiterte, liess er seine Schrecken erregende Ar­ mee auffahren, welche den Buddha in Todesangst und einen Zustand der Mutlo­ sigkeit versetzen und so seine Erleuchtung verhindern sollte. Aber Buddha über­ wand die Hindernisse erfolgreich, erlangte Erleuchtung und spirituelles Erwachen. Diesem Erlebnis gingen Visionen voran, in denen er sich der langen Reihe seiner früheren Inkarnationen bewusst wurde und die eine vollständige Be­ freiung von seinen karmischen Bindungen zur Folge hatten. Der islamische Text M iraj N ameh beschreibt die «wundervolle Reise Mo­ hammeds», eine machtvolle Vision, während derer der Erzengel Gabriel Moham­ med durch die sieben muslimischen Himmel, durch das Paradies und die Hölle

221

(Gehenna) geleitete. Während dieser visionären Reise hatte Mohammed im sieb­ ten Himmel eine «Audienz» mit Allah. In einem Zustand, den er als «Ekstase na­ he der Vernichtung» beschrieb, erhielt er von Allah eine direkte Botschaft. Diese Erfahrung und weitere mystische Erlebnisse, die er im Laufe von fünfundzwanzig Jahren hatte, wurden zur Grundlage der Suren des Korans und des muslimischen Glaubens. In der jüdisch-christlichen Tradition finden wir im Alten Testament unter an­ derem eine eindrückliche Schilderung, wie Moses im brennenden Dornbusch zu Jahwe fand, oder die Geschichte von Abraham, als ihm ein Engel erschien, und an­ dere visionäre Erlebnisse. Das Neue Testament berichtet vom Erlebnis Jesu, als er in der Wüste der Versuchung des Teufels widerstand. Ebenso sind auch die blendende Vision, die Saul auf seinem Weg nach Da­ maskus von Christus hatte, die apokalyptische Offenbarung, die der heilige Johan­ nes in seiner Höhle auf der Insel Patmos erlebte, Ezechiels Vision des flammenden Wagens und viele andere Episoden eindeutig transpersonale Erfahrungen. In der Bibel finden sich unzählige weitere Beispiele, die von einer direkten Kommunika­ tion mit Gott und seinen Engeln berichten. Auch die Versuchung des heiligen An­ tonius und die visionären Erfahrungen vieler anderer Heiliger sind in den christli­ chen Schriften bestens dokumentiert. Moderne orthodoxe Psychiater interpretieren solche visionären Erfahrungen als Manifestationen ernster Geisteskrankheiten, obwohl dafür weder eine adäqua­ te medizinische Erklärung noch entsprechende Erfahrungswerte vorliegen. In der psychiatrischen Literatur finden sich viele Artikel und Bücher, die sich der Frage widmen, was wohl die beste klinische Diagnose für die grossen Persönlichkeiten der spirituellen Geschichte sei. Dem heiligen Johannes vom Kreuz beispielsweise wurde das Attribut «vererbte Degenerierung» verpasst, die heilige Teresa von Avila litt an Hysterie und schweren Psychosen, und Mohammeds mystische Erfah­ rungen waren epileptischer Natur. Anderen bedeutenden spirituellen Persönlichkeiten, wie Buddha, Jesus, Ramakrishna und Sri Ramana Maharshi, wurde wegen ihrer visionären Erfahrungen und «Wahnvorstellungen» bescheinigt, sie litten unter schweren Psychosen. Eben­ so haben einige traditionell geschulte Anthropologen darüber diskutiert, ob Scha­ manen nun Schizophrene, Psychoten, Epileptiker oder Hysteriker seien. Der berühmte Psychoanalytiker Franz Alexander, bekannt als einer der Begründer der psychosomatischen Medizin, schrieb einen Artikel, in dem sogar die buddhistische Meditation in psychopathologischen Begriffen beschrieben und als «künstliche Katatonie» bezeichnet wurde (Alexander 1931). In unserer industrialisierten Zivilisation werden Personen mit direkten Erfah­ rungen der spirituellen Wirklichkeiten also fast ausnahmslos als geisteskrank an­ gesehen. Traditionell orientierte Psychiater machen zwischen mystischen und psy­ chotischen Erfahrungen keinen Unterschied und sehen beide als psychotische Ma­ nifestationen an. Die wohl nettesten Urteile, welche offizielle akademische Kreise zum Thema Mystik fällten, sind wahrscheinlich in der Erklärung des Komitees

222

Psychiatrie und Religion der Gruppe zur Förderung der Psychiatrie mit dem Titel Mystizismus: S pirituelle S uche oder psychische E rkrankung ? zu finden. Dieses 1976 veröffentlichte Dokument «räumt ein», beim Mystizismus könnte es sich um ein Phänomen handeln, das sich irgendwo zwischen Normalität und Psy­ chose ansiedeln liesse. Religion und Spiritualität hatten auf die Geschichte der Menschheit und der Zivilisation enormen Einfluss. Wären die visionären Erfahrungen der Religions­ gründer tatsächlich nichts anderes als Produkte eines kranken Hirns, Hessen sich die tief greifenden Auswirkungen, die diese während Jahrhunderten auf Millionen von Menschen hallen und haben, ebenso wie die davon inspirierten architektoni­ schen Wunderwerke, die Gemälde und Skulpturen, Musik und Literatur schwer erklären. Es gibt keine einzige alte, vorindustrielle Kultur, in der das rituelle und spirituelle Leben nicht eine zentrale Rolle gespielt hätte. Der heutige theoretische Ansatz der westlichen Psychiatrie und Psychologie pathologisiert demnach nicht nur das spirituelle, sondern auch das kulturelle Leben dieser Zivilisationen über all die vielen Jahrhunderte hinweg - die grosse Ausnahme bildet die gebildete Elite unserer westlichen industrialisierten Zivilisation, welche die materialistische und atheistische Weltanschauung verficht. Die offizielle Einstellung der Psychiatrie spirituellen Erfahrungen gegenüber erzeugt aber auch eine spürbare Gespaltenheit in unserer ganzen Gesellschaft. In den Vereinigten Staaten wird Religion offiziell toleriert und ist gesetzlich ge­ schützt; von gewissen Kreisen wird sie auch selbstgerecht propagiert. In jedem Mo­ telzimmer liegt eine Bibel, Politiker legen in ihren Reden Lippenbekenntnisse zu Gott ab, und bei der Amtseinsetzungszeremonie für den neuen Präsidenten ist das gemeinsame Beten integraler Bestandteil. Aus der Sicht der materialistischen Wissenschaft jedoch sind Menschen, die einem religiösen Glauben anhängen, un­ gebildet, sie leiden an gemeinsamen Wahnvorstellungen und/oder sind emotional unreif. Und wenn jemand während eines Gottesdienstes ein wirklich authentisches spirituelles Erlebnis hat - in der Art, wie sie in einer jeden grossen Religion vorge­ kommen sind und als Inspiration dienten -, so wird ein durchschnittlicher Priester von heute die betreffende Person höchstwahrscheinlich zum Psychiater schicken. Wir aber gehen andererseits in die Kirche, um uns Geschichten über mystische Er­ fahrungen anzuhören, die andere vor über zweitausend Jahren machten. - Es kommt immer wieder vor, dass Personen nach intensiven spirituellen Erfahrungen zum Psychiater gebracht oder gar hospitalisiert werden, wo sie mit Psychopharma­ ka behandelt und ruhiggestellt werden. Zuweilen schrecken die Leute vom Fach auch vor Elektroschocktherapien nicht zurück, und die Betreffenden sind für den Rest ihres Lebens mit dem Diagnose-Stempel «psychopathologischer Fall» gebrandmarkt. In einem solchen Klima erscheint natürlich der blosse Vorschlag, spirituelle Erfahrungen sollten verdientermassen systematisch studiert und kritisch beurteilt werden, den konventionell ausgebildeten Wissenschaftlern als absurd. Allein die

223

Tatsache, dass man für dieses Gebiet ernsthaftes Interesse bekundet, kann als Zei­ chen mangelnder Urteilsfähigkeit gewertet werden und dem professionellen Ruf des Forschers schaden. In Tat und Wahrheit gibt es jedoch keinen einzigen wis­ senschaftlichen «Beweis» dafür, dass die spirituelle Dimension nicht existiert. Die Ablehnung ihrer Existenz ist im Grunde bloss eine metaphysische Annahme unse­ rer westlichen Wissenschaft, welche auf einer inkorrekten Anwendung eines ver­ alteten Paradigmas fusst. Umgekehrt liefert das Studium holotroper Zustände, und hier vor allem die Unmengen an Daten aus den transpersonalen Erfahrungen, mehr als genug Anhaltspunkte, welche auf das Vorhandensein solcher Dimensio­ nen schliessen lassen (Grof 1985, 1988). Wie ich schon vorher erwähnt habe, hat die Wissenschaft, indem sie die ho­ lotropen Bewusstseinszustände als krankhaft ansicht, die gesamte spirituelle Menschheitsgeschichte mitpathologisiert. Ihre Haltung dem spirituellen, rituellen und kulturellen Leben der vorindustriellen Gesellschaften gegenüber ist respekt­ los und arrogant; und dasselbe gilt für deren Einstellung denjenigen spirituellen Ritualen und Techniken gegenüber, die heutzutage in unserer eigenen Gesell­ schaft praktiziert werden. Das hiesse konkret, dass, von all den vielen Kulturen un­ serer Historie, nur die intellektuelle Elite unserer heutigen westlichen Zivilisation, die sich dem monistischen Materialismus verschrieben hat, ein präzises und ver­ lässliches Verständnis der Existenz hat. Wer diese Sichtweise nicht teilt, gilt als pri­ mitiv, ignorant oder irregeleitet. Die Erkenntnisse, die Kliniker in den letzten Jahrzehnten durch den Einsatz der psychedelischen und anderer, ähnlich orientierter Psychotherapien gewonnen haben, die neuen Einsichten von Thanatologen (Sterbeforschern), Anthropolo­ gen, jungschen Analysten, Meditations- und Biofeedbackforschern und die Ergeb­ nisse aus anderen, systematischen Studien mit verschiedenen holotropen Zustän­ den zeigen, dass die westliche Psychologie und Psychiatrie einen schwer wiegen­ den Fehler beging, als sie mystische Erlebnisse als Manifestationen von Gehirner­ krankungen unbekannter Etiologie abtal. Die neuen Erkenntnisse sprechen klar für ein weiteres Erforschen der transpersonalen Bereiche der Psychologie, ein Zweig, welcher ein unvoreingenommenes Erforschen des Spirituellen zum Ziel hat, statt dass dieses nur durch das Prisma des materialistischen Paradigmas be­ trachtet wird. Die transpersonale Psychologie untersucht und respektiert das ganze Spek­ trum menschlicher Erfahrungen, holotrope Bewusstseinszustände und die ver­ schiedenen Ebenen der Psyche - die biografische, die perinatale und die transper­ sonale - mit eingeschlossen. Das Resultat ist eine verstärkte Sensibilisierung ge­ genüber kulturellen Fragen, und wir finden einen universaleres Verständnis der Psyche vor, das für alle menschlichen Gruppierungen und für jede Geschichtsperiode Gültigkeit hat. Sie ehrt auch die spirituelle Dimension der Existenz und an­ erkennt das tiefe menschliche Bedürfnis nach transzendenten Erfahrungen. Eine solche Betrachtungsweise lässt unser spirituelles Streben und Verlangen mehr als nur verständlich erscheinen.

224

Die von der westlichen Wissenschaft hervorgehobenen Unterschiede zwischen unserem Verständnis von Universum, Natur, Mensch und Bewusstsein und demje­ nigen der vorindustriellen Kulturen werden gewöhnlich dahin gehend interpre­ tiert, dass eine materialistisch orientierte Wissenschaftlichkeit dem abergläubi­ schen und primitiven magischen Denken nativer Kulturen nur überlegen sein kann. Nur ihre atheistische Einstellung zeugt von echter Kultiviertheit, und nur diese kann zu einer wahren Erkenntnis der Realität führen. Die übrigen Kulturen müssen ihre antiquierte Geisteshaltung erst mal zu Gunsten unserer modernen Weitsicht aufgeben, wollen auch sie in den Genuss unserer westlichen Gelehrsam­ keit kommen. Bei genauerer Betrachtung dieses Sachverhalts wird allerdings klar, dass die Unterschiede nicht etwa auf eine Überlegenheit der westlichen Wissen­ schaft zurückzuführen sind, sondern auf mangelhaftes Wissen unsererseits und auf fehlende Kenntnisse und Erfahrungswerte, was die Natur holotroper Zustände be­ trifft. ln allen vorindustriellen Kulturen waren die mit solchen Zuständen verbunde­ nen Einsichten hoch angesehen. Viel Zeit und Energie wurde aufgewandt, damit diese auf effektivem und sicherem Weg herbeigeführt werden konnten. Sie ver­ fügten diesbezüglich über einen profunden Wissensschatz und zogen Nutzen dar­ aus, indem sie ihn zu ihrem Hauptvehikel für ihr rituelles und spirituelles Leben machten. Die Weitsicht dieser Kulturen widerspiegelt nicht nur ihre Erfahrungen und Beobachtungen aus dem Alltagsbewusstsein, sondern auch diejenigen, die sie in tiefen visionären Zuständen gewannen. Die moderne Bewusstseinsforschung und die transpersonale Psychologie zeigen, dass die meisten dieser Erfahrungen authentische Enthüllungen von normalerweise verborgenen Realitätsdimensionen und nicht etwa pathologische Verzerrungen des Geistes sind. In visionären Zuständen wirken diese Realitätsebenen oder aber neugewon­ nene Sichtweisen, die unsere Alltagsrealität betreffen, dermassen überzeugend, dass das Individuum keine andere Wahl hat, als diese in seine Weitsicht zu inte­ grieren. So ist es das systematische und hingebungsvolle Erforschen holotroper Zustände auf der einen und die fehlenden Erfahrungen auf der anderen Seite, was die nativen Kulturen von unserer technologisierten Gesellschaft ideologisch so stark unterscheidet. Ich habe noch keinen einzigen Europäer oder Amerikaner ge­ troffen, der nach einer tief greifenden Erfahrung transzendenter Natur mit unse­ rem westlichen materialistischen Weltbild noch etwas anfangen konnte. Intelli­ genz, Bildungsstand und berufliche Stellung des betreffenden Individuums sind dabei ohne Bedeutung.

225

Kapitel 7 Erfahrungen von Tod und Sterben: Psychologische, philosophische und spirituelle Perspektiven

D

ie Erforschung holotroper Bewusstseinszustände hat auch viel Klarheit in ein weiteres Gebiet gebracht, das in der Vergangenheit auf viel Ablehnung stiess und das immer wieder für Zwietracht und Verwirrung sorgte - die Rede ist vom diffizilen Thema Tod und Sterben und den damit verbundenen Problembereichen. Die Anfänge dieser Kontroversen lassen sich auf die konzeptionelle Entwicklung Sigmund Freuds zurückführen. In seinen frühen Schriften meinte er, das Thema Tod sei für die Psychologie nur von marginaler Bedeutung. Der Grund für diese Einstellung war seine Überzeugung, dass das «Es» in einem Reich ausserhalb von Raum und Zeit aktiv sei und es den Tod deshalb weder kennen noch anerkennen kann. Gemäss dieser Theorie maskieren Probleme wie Todesangst (die doch ganz offensichtlich mit Tod und Sterben zu tun haben) hauptsächlich andere Konflikte - den inakzeptablen Wunsch beispielsweise, dass eine gewisse Person sterben mö­ ge; die Angst, kastriert zu werden, oder die Angst vor Kontrollverlust oder vor überwältigenden sexuellen Orgasmen (Fenichel 1945). Freud war anfänglich der Meinung, die wichtigste Motivationskraft der Psyche sei das Lustprinzip, ein angeborener Trieb, der allem Unangenehmen ausweicht und stattdessen die reine Befriedigung der Bedürfnisse anstrebt. Als er in späteren Jahren bestimmte Phänomene entdeckte, bei denen dieses Prinzip keinen Sinn machte - wie eine masochistische Veranlagung, Selbstverstümmelungstendenzen oder das Verlangen, bestraft zu werden -, erkannte er die Unzulänglichkeit dieses Konzepts. Als er sich mit den damit zusammenhängenden konzeptionellen Her­ ausforderungen auseinander setzte, musste er einsehen, dass diese Phänomene «jenseits des Lustprinzips» nicht verstanden werden können, wenn die Probleme rund um Tod und Sterben nicht mit einbezogen werden. Schliesslich formulierte er ein völlig neues Konzept der Psyche: Der wichtigste Kontrahent der Libido war nun nicht mehr der Selbsterhaltungstrieb, sondern der «Todestrieb» (Libido und Destrudo oder Eros und Thanatos). Obwohl Freud selbst die beiden Prinzipien als Instinkte verstand, haben sie auch eindeutig my­ thologische Züge, die den jungschen Archetypen nicht unähnlich sind (Freud 1955 und 1964). Die in diesem Sinne revidierte Theorie sah Freud als die endgültige Version und Quintessenz seines Schaffens an, was unter seinen Anhängern aber nicht eben viel Begeisterung hervorrief. Eine von Brun durchgeführte «statistische Erhebung» zeigte, dass etwa 94 Prozent der Anhänger Freuds die TodesinstinktTheorie ablehnten (Brun 1953).

226

Im Grossen und Ganzen bestätigt die Arbeit mit holotropen Zuständen Freuds Thesen zur psychologischen Bedeutung des Todes, seine Erkenntnisse wurden dennoch in vielerlei Hinsicht revidiert und erweitert. Die Existenz eines unabhängigen Todesinstinkts beispielsweise konnte nicht bestätigt werden. Hinge­ gen scheinen lebensbedrohliche Situationen, schwere Verletzungen, Operationen, Erfahrungen des Beinahe-Ertrinkens und prä- oder perinatale Krisen die Ent­ wicklung der Persönlichkeit stark zu beeinflussen und die Quelle von ernsthaften Psychopathien zu sein. Und auch in den transpersonalen Bereichen ist der Tod ein immer wiederkehrendes Thema von grösser Bedeutung: Hier taucht er in Form von Erinnerungen an vergangene Leben auf, in den Visionen von eschatologischen Gottheiten und Sphären und in komplexen archetypischen Motiven wie der Apo­ kalypse oder dem nordischen Ragnarök (Weltuntergang). Konfrontationen mit dem Tod, die sich im Zusammenhang mit Selbsterfah­ rungstherapien ergeben, bergen ein grosses heilendes, transformatives und evolu­ tionäres Potenzial. Forschungen zeigen, dass unsere Einstellung zum Tod und die Fähigkeit, diesen als unverrückbare Tatsache zu akzeptieren, grosse Auswirkun­ gen haben auf Lebensqualität, Wertehierarchie und allgemeinen Lebensmodus. Begegnungen mit dem Tod, seien diese nun symbolischer Natur (in Meditationen, psychedelischen Sitzungen, in spirituellen Krisen oder im holotropen Atmen) oder real (bei einem Unfall, im Krieg, in Konzentrationslagern oder bei einem Herzin­ farkt) können zu machtvollen spirituellen Erlebnissen führen. Die Erforschung holotroper Zustände förderte auch andere faszinierende Ein­ sichten zum Thema Tod zutage, unter anderem die Phänomene rund um die Nahtoderfahrungen; die Angst vor dem Tod und ihre Rolle im menschlichen Le­ ben; das Überleben von Bewusstsein nach dem Tod; die Reinkarnation. Diese Ein­ sichten sind nicht nur für wissenschaftliche Disziplinen wie Psychiatrie, Psycholo­ gie, Anthropologie und Thanatologie von Bedeutung, sondern für jeden von uns. Es lässt sich wohl kaum ein Thema finden, das sowohl universell wie auch indivi­ duell von solch grösser Bedeutung ist wie das von Tod und Sterben. Wir alle verlieren im Lauf unseres Lebens etliche Bekannte, Freunde oder Verwandte, und zum Schluss stehen auch wir vor dem eigenen Tod. Angesichts dieser Tatsache ist es zumindest erstaunlich, dass, bis in die späten Sechzigerjahre, unsere westliche Zivilisation dem Thema Tod gegenüber so gut wie gar kein Inter­ esse aufbrachte. Dies gilt nicht nur für das Volksganze, sondern speziell auch für die Wissenschaftler und Akademiker derjenigen Disziplinen, die sich eigentlich für dieses Thema interessieren müssten, also Medizin, Psychiatrie, Psychologie, Anthropologie, Philosophie und Theologie. Als einzig plausible Erklärung für die­ se Situation könnte man gelten lassen, dass, aus welchen Gründen auch immer, technologisch hoch entwickelte Gesellschaften zu einer massiven psychologischen Abwehrhaltung dem Tod gegenüber tendieren. Dieses aktive Desinteresse erstaunt noch mehr, wenn wir unsere Situation mit derjenigen der antiken Kulturen vergleichen und realisieren, wie sich deren Hal­ tung zu Tod und Sterben von der unseren so diametral unterscheidet. Der Tod

227

spielte in ihren Kosmologien, Philosophien, in ihrem spirituellen und rituellen Le­ ben, ihren Mythologien und auch in ihrem alltäglichen Leben eine zentrale Rolle. Was dieser Unterschied in praktischer Hinsicht bedeutet, wird vor allem dann er­ sichtlich, wenn wir die Situationen der dem Tode nahe stehenden Personen in ihrem jeweiligen historischen oder kulturellen Umfeld miteinander vergleichen. Menschen, die in unserer westlichen Gesellschaft aufwachsen, haben zumeist eine pragmatische und materialistisch orientierte Weltanschauung oder sind zu­ mindest stark von ihr beeinflusst, indem sie täglich von ihr umgeben sind. Gemäss der westlichen Neurowissenschaft ist Bewusstsein eine Nebenerscheinung der Ma­ terie, ein Produkt physiologischer Vorgänge im Gehirn und deshalb der Materie untergeordnet. Von diesem Standpunkt aus gesehen scheint die These, dass mit dem Tod des Körpers auch jede Bewusstseinsaktivität ihr Ende findet, nur logisch zu sein. Wenn wir vom Grundsatz der Vorherrschaft der Materie ausgehen, scheint diese so nahe liegende Schlussfolgerung über jeden Zweifel erhaben zu sein. Der Glaube an ein Leben nach dem Tod, an ein Weiterreisen der Seele oder an die Reinkarnation erscheint naiv und lächerlich und wird zum Produkt eines Wunsch­ denkens von Menschen, die den offensichtlichen biologischen Imperativ des Todes nicht akzeptieren können. Die unterminierende Wirkung seitens der materialistischen Wissenschaft ist nicht der einzige Faktor, der den Einfluss der Religion in unserer Kultur abge­ schwächt hat. Wie wir zuvor gesehen haben, hat die Religion selbst wesentlich da­ zu beigetragen, indem sie ihre lebendige Erfahrungskomponente verloren hat und damit auch ihre Verbindung zu den tiefen, spirituellen Quellen. Das Resultat ist ei­ ne leere Hülle, die keine Bedeutung tragen kann und für unser Leben zunehmend irrelevant wurde. In dieser Form kann sie mit der Überzeugungskraft der von ihren technischen Triumphen getragenen materialistischen Wissenschaft nicht konkurrieren. Sie ist keine vitale Kraft mehr, weder während unseres Lebens noch zur Zeit unseres Todes. Was sie über das Leben nach dem Tode und die jenseiti­ gen Sphären wie Himmel und Hölle erzählt, wurde in das Reich der Märchen oder die Nachschlagewerke der Psychiatrie verbannt. Dieser Tatbestand hat das wissenschaftliche Interesse für Erfahrungen von Sterbenden und für Nahtoderlebnisse bis in die Siebziger hinein wirksam verhin­ dert. Die spärlichcn Berichte, die sich zu diesem Thema fanden, erregten wenig Aufmerksamkeit, egal, ob diese nun an die Allgemeinheit gerichtet waren - wie T he V estibule von Jess E. Weiss (1972) und A us dem J enseits zurück («Glimpses of the Beyond») von Jean-Baptiste Delacour (1974) - oder als wissenschaftli­ che Forschungsarbeiten erschienen - zum Beispiel die von Karlis Osis durchge­ führte Studie, in welcher Ärzte und Pflegerinnen von ihren Beobachtungen, die sie mit Sterbenden gemacht hatten, berichten (Osis etal. 1961). Seit der Veröffentli­ chung des internationalen Bestsellers L eben nach dem T od («Life after Life», 1975) von Raymond Moody haben Ken Ring, Michael Sabom und andere Pionie­ re der Thanatologie beeindruckendes Beweismaterial zum Thema Nahtoderleb­ nisse gesammelt - vom erstaunlichen Phänomen der präzisen aussersinnlichen

228

Wahrnehmung bei ausserkörperlichen Erfahrungen bis zu den ebenso bemerkens­ werten Folgen, den damit einhergehenden tief greifenden Persönlichkeitsverände­ rungen (Sabom 1982, Greyson und Flynn 1984, Ring und Valarino 1998). Das Material aus diesen Studien wurde durch die vielen Fernsehdiskussionen mit Thanatologen und Nahtod-Erfahrenen, durch Bestseller und auch durch Hol­ lywoodfilme weit verbreitet. Und doch werden diese brisanten, am alten Paradig­ ma rüttelnden Beobachtungen, die unser Verständnis der Beschaffenheit unseres Bewusstseins und seiner Beziehung zum Hirn revolutionieren könnten, von den meisten Akademikern noch immer als irrelevante, durch biologische Krisen her­ vorgerufene Halluzinationen abgetan. Es ist bekannt, dass Nahtoderlebnisse tiefen Einfluss auf das psychische und physische Wohlergehen der Betroffenen nehmen, ebenso auf deren Weltanschau­ ung und die allgemeine Lebenseinstellung. Nichtsdestotrotz wird mit den Patien­ ten in der Regel über solche Erfahrungen nicht diskutiert, ihre Aussagen werden nicht als bedeutender Teil der Patientengeschichte betrachtet und im Krankenrap­ port auch nicht speziell notiert. In den meisten medizinischen Institutionen wird keine spezifische psychologische Unterstützung angeboten, die den Betroffenen dabei helfen würde, diese so herausfordernden Erfahrungen zu integrieren. Wenn sich Menschen bei uns im Westen im Sterbeprozess befinden, fehlt ih­ nen meist eine effektive menschliche Unterstützung, welche ihnen den Übergang erleichtern könnte. Wir Übrigen möchten uns vor dem emotionalen Missbehagen, das der Tod mit sich bringt, schützen, und so werden die Kranken und Sterbenden in Spitäler und Pflegeheime abgeschobcn. Das Augenmerk richtet sich auf die le­ benserhaltenden Systeme und eine mechanische Lebensverlängerung, wobei das vernünftige Mass meist überschritten wird, und nicht auf das Herrichten einer menschenwürdigen Umgebung, welche die Erfahrung der letzten verbleibenden Tage verbessern könnte. Die Familie als Einheit und System hat sich zudem weit gehend aufgelöst, die Kinder leben oft weit entfernt von Eltern und Grosseltern. Zu Zeiten medizinischer Notfälle ist der Kontakt oft nur sehr formeller Natur. Von wenigen Ausnahmen abgesehen widmen die in der Psychiatrie Beschäf­ tigten, die so viele spezifische Formen der psychologischen Unterstützung und Be­ ratung für die verschiedensten emotionalen Krisen entwickelt haben, den Sterben­ den kaum noch ihre Aufmerksamkeit. Wer der tief greifendsten aller vorstellbaren Krisen gegenübersteht, welche gleichzeitig alle biologischen, emotionalen, zwi­ schenmenschlichen, sozialen, philosophischen und spirituellen Aspekte des Indivi­ duums betrifft, bleibt als Einziger von einer sinnvollen Hilfeleistung ausgeschlos­ sen. Eine vielversprechende Entwicklung in diesem Zusammenhang stellt das wachsende Netzwerk von Hospizen dar, inspiriert durch die Pionierarbeit von Cicely Saunders (Saunders 1967). Dieses ist darum bemüht, den Sterbenden ein war­ mes, menschliches Umfeld bereitzustellen. All dies entstand im viel weiteren Kontext einer kollektiven Verleugnung des Unbeständigen und der Sterblichkeit, ein Umstand, der unsere Zivilisation zutiefst charakterisiert. Wenn wir dem Tod begegnen, dann nur in einer hygienisierten

229

Form; wir verfügen über Teams von Berufsleuten, die die direkt sichtbaren Spuren des Todes mildern und vertuschen. Extreme Beispiele sind all die Coiffeure, Schneider, Make-up-Spezialisten und plastischen Chirurgen, die hinzugezogen werden, um der Leiche eine Unzahl kosmetischer Veränderungen angedeihen zu lassen, bevor sie den Verwandten und Freunden gezeigt wird. Auch die Medien tragen dazu bei, dass eine grössere Distanz zum Tod ge­ schaffen wird: Sie verdünnen ihn zu leeren Statistiken und berichten in nüchterns­ tem Ton über Tausende von Opfern, die in Kriegen, Revolutionen und Naturkata­ strophen ihr Leben gelassen haben. Filme und Fernsehsendungen banalisieren den Tod zusätzlich, indem sie aus der Gewalt Kapital schlagen. Sie betäuben im mo­ dernen Zuschauer jede echte emotionale Regung, indem sie ihn zahllosen Todesund Mordszenen aussetzen, die im Sinne der Unterhaltung zu verstehen sind. Im Allgemeinen bieten die Lebensbedingungen in modernen technologischen Ländern also nicht viel an ideologischer oder psychologischer Unterstützung für Menschen, die dem Tode gegenüberstehen. Dies steht in krassem Gegensatz zur Situation von Sterbenden der antiken und vorindustriellen Gesellschaften. Ihre Kosmologien, Philosophien und Mythologien sowie ihr spirituelles und rituelles Leben enthalten die klare Botschaft, dass der Tod nicht das absolute und unwider­ rufliche Ende von allem ist. Sie lassen den Sterbenden wissen, dass die Existenz nach dem biologischen Ableben in irgendeiner Form weitergeht. Eschatologische Mythologien sind sich generell einig, dass die Seele des Ver­ storbenen eine komplexe Serie von Bewusstseinsabenteuern durchläuft. Die posthume Reise der Seele wird oft als eine Reise durch fantastische Landschaften beschrieben, von denen einige eine gewisse Ähnlichkeit mit unseren irdischen auf­ weisen, dann wiederum als eine Reihe von Begegnungen mit verschiedenen ar­ chetypischen Wesen oder als eine Abfolge von verschiedenen Bewusstseinszu­ ständen holotroper Natur. In einigen Kulturen erreicht die Seele ein jenseitiges Zwischenreich - wie das christliche Fegefeuer oder die Lokas des tibetischen Buddhismus -, in anderen ein ewiges Zuhause - Himmel, Hölle, Paradies oder das Sonnenreich. Viele Kulturen haben unabhängig voneinander ein Glaubenssystem der Metempsychose oder Reinkarnation entwickelt, das die Rückkehr der Be­ wusstseinseinheit für ein weiteres physisches Leben auf der Erde einschliesst. Die vorindustriellen Gesellschaften schienen sich alle darin einig zu sein, dass der Tod nicht die endgültige Niederlage, nicht das absolute Ende von allem ist, sondern ein wichtiger Übergang. Mit dem Tod assoziierte Erfahrungen wurden als Besuche in wichtigen Dimensionen der Realität angesehen, die es verdienen, er­ fahren, studiert und sorgfältig aufgezeichnet zu werden. Die Sterbenden kannten die eschatologischen Kartografien ihrer Kulturen, ob dies nun schamanische Kar­ ten zum Reich der Toten waren oder komplexe Beschreibungen dieses Vorgangs gemäss den östlichen spirituellen Systemen, wie wir es im T ibetanischen T oten ­ buch («Bardo Thödol») vorfinden. Dieser bedeutende Text des tibetischen Buddhismus stellt einen interessanten Gegenpol dar zu der ausschliesslich pragmatischen Betonung des produktiven Le­

230

bens und der Verleugnung des Todes, welche unsere Zivilisation charakterisieren. Es beschreibt den Zeitpunkt des Todes als eine einzigartige Gelegenheit, die in ei­ ner spirituellen Befreiung vom Kreislauf von Tod und Wiedergeburt resultieren kann. Auch wenn wir diese nicht erreichen, so ist dieser Prozess trotzdem von höchster Bedeutung, weil er für unsere nächste Inkarnation bestimmend ist. So ge­ sehen sind diese Stadien, die zwischen unseren Leben liegen (die Bardos), wichti­ ger als die irdischen Inkarnationen. Aus diesem Grund ist es für sie unerlässlich, dass man sich durch eine systematische spirituelle Praxis darauf vorbereitet. Ein anderes Charakteristikum, das für die vorindustriellen Kulturen typisch ist und die Erfahrung des Sterbens beeinflusst, ist der Umstand, dass sie den Tod als integralen Bestandteil ihres Lebens akzeptieren. Im Lauf ihres Lebens gewöhnen sich die dort lebenden Menschen daran, Zeit mit den Sterbenden zu verbringen, mit Leichen umzugehen, bei Kremationen zuzuschauen und mit den Überresten der Verstorbenen zu leben. Für einen westlichen Menschen kann ein Aufenthalt in der indischen Stadt Benares, wo diese Haltung in ihrer Extremform gelebt wird, zu einem tief erschütternden Erlebnis werden. In vorindustriellen Kulturen sterben die Menschen normalerweise im Beisein ihrer Grossfamilie, Sippe oder ihres Stammes. So erhalten sie die so wichtige emo­ tionale Unterstützung von nahen Verwandten und Freunden. Wir sollten auch die spirituelle Kraft erwähnen, die von den Ritualen ausgeht, die zum Zeitpunkt des Todes ausgeführt werden. Diese sollen dem Individuum dabei helfen, den letzten Übergang zu vollziehen, oder bieten gar eine spezifische Orientierungshilfe für die Reise nach dem Tode, wie wir dies beim erwähnten B ardo T hödol finden. Die Einstellung vorindustrieller Kulturen dem Tod gegenüber wurde auch massgeblich durch verschiedene Übungen und Prozeduren beeinflusst, die mit Sterbeerfahrungen zu tun haben und im holotropen Bewusstseinszustand durch­ geführt wurden. Dazu gehören: schamanische Methoden Übergangsriten Mysterien von Tod und Wiedergeburt verschiedene spirituelle Praktiken die Totenbücher Wie wir bei den obigen Ausführungen zum Schamanismus gesehen haben, lernen die Novizen während ihrer Initiationskrisen die Territorien des Jenseits kennen. Diese Krisen treten spontan auf oder werden während der Lehrzeit bei einem äl­ teren Schamanen durch verschiedene Methoden ausgelöst. Ist die Initiation voll­ endet und der psychospirituelle Transformationsprozess erfolgreich integriert, so kann der junge Schamane willentlich in den holotropen Zustand eintreten und auch die Mitglieder seines Stammes auf visionäre Reisen führen. ln der schamanischen Literatur herrscht Einigkeit darüber, dass die Erfah­ rungsebenen, die man auf diesen inneren Reisen besucht, identisch sind mit dem

231

Territorium, das man auf der Reise nach dem Tode durchquert. Was der Schama­ ne und die ihm Anvertrauten erleben, kann darum als eine Art Erfahrungstraining für die kommenden jenseitigen Erlebnisse verstanden werden. Wie ich später noch ausführen werde, konnten wir im Rahmen eines gross angelegten Projekts, bei welchem wir die psychedelische Therapie bei Krebskranken im Endstadium anwendeten, viel Material sammeln, das diese These stützt. Anthropologen, die bei nativen Kulturen Feldarbeit leisteten, beschrieben vie­ le Durchgangsriten mit kraftvollen Zeremonien, welche dort zu Zeiten wichtiger Übergänge im Leben durchgeführt werden. Der niederländische Anthropologe Arnold van Gennep, der dafür den Begriff Übergangsritus prägte, zeigte auf, dass diese unter den vorindustriellen Stammesgesellschaften praktisch überall Vorkom­ men (van Gennep 1960). Der äussere Symbolismus der Übergangsriten dreht sich üblicherweise um die Triade Geburt, Sex und Tod. Die innerlichen Erfahrungen der Initianden kombinieren perinatale und transpersonale Elemente, deren ge­ meinsamer Nenner eine tief greifende Begegnung mit dem Tod und dessen an­ schliessende Transzendierung ist. Wer in solchen Kulturen lebt, hat im Laufe sei­ nes Lebens zahlreiche symbolische Erfahrungen von Tod und Wiedergeburt durchgemacht, bevor der Tod im biologischen Sinne eintritt. Die symbolischen Erlebnisse, wie wir sie im Schamanismus und in den Über­ gangsriten vorfinden, spielten auch in den alten Mysterien von Tod und Wiederge­ burt eine wichtige Rolle. Wie wir zuvor gesehen haben, existierten diese in vielen Teilen der Welt. Sie basierten auf mythologischen Geschichten über Gottheiten, die Tod und Wiedergeburt symbolisieren, wie Inanna und Tammuz, Isis und Osi­ ris, Pluto und Persephone, Dionysos, Attis und Adonis, der aztekische Quetzalcoatl oder die Zwillingsheroen der Maya. Diese Mysterienreligionen waren weit ver­ breitet und für die alte Welt von grösster Bedeutung. Wie populär die Mysterienreligionen waren, zeigt sich nur schon darin, dass die Zahl der Initiierten, die alle fünf Jahre an den Mysterien in Eleusis teilnahmen, auf über dreitausend geschätzt wurde. Es finden sich manche Lobpreisungen die­ ser Mysterien, unter anderem in einem epischen Gedichtwerk, H omerische H ym ­ ne an D emeter , das im siebten Jahrhundert vor Christus von einem unbekannten Autor geschrieben wurde: «Gesegnet sind diejenigen, welche diese Mysterien er­ fahren haben. Wer aber nicht eingeweiht wurde und die Gnade dieses Ritus nicht erhielt, wird nicht dasselbe Schicksal haben, wenn er dahinstirbt und da vermo­ dert, wo die Sonne für immer niedergeht.» Der griechische Dichter Pindar schrieb über die eleusinische Einweihung: «Gesegnet sind diejenigen, die diese Riten gesehen haben, bevor sie den Weg un­ ter die Erde antreten. Sie wissen um das Ende des Lebens - wie auch um das gött­ liche Versprechen eines Neuanfangs.» Ähnlich zeugt auch die Aussage des grossen griechischen, tragischen Poeten und Dramatikers Sophokles vom tiefen Eindruck, den die Ehrfurcht einflössende Erfahrung der eleusinischen Mysterien auf die Ein­ geweihten hatte: «Dreifach glücklich schätzcn sich diejenigen Sterblichen, die sich zum Hades begeben, nachdem sie diese Riten gesehen haben; denn ihnen allein ist

232

es vergönnt, dort ein wahres Leben zu führen. Für alle anderen scheint es von Übel zu sein.» (Wasson, Hofmann und Ruck 1978.) Während die Mythen des Homer und die Darlegungen von Pindar und Sopho­ kles die allgemeine Bedeutung der Mysterien für die Begegnung mit dem Tod be­ tonen, hebt der berühmte römische Philosoph, Staatsmann und Jurist Marcus Tullius Cicero in De Legibus deren Bedeutung für sein eigenes Leben hervor und die individuelle Bedeutung, die diese für das Leben von so vielen anderen hatte: «Nichts ist erhabener als diese Mysterien. Sie haben unseren Charakter versüsst und unsere Sitten sanfter gemacht; sie zeigten uns unzivilisierten Wilden den Weg zu wahrer Menschlichkeit. Sie brachten uns nicht nur bei, wie wir in Freude leben können, sie lehrten uns auch, mit Hoffnung zu sterben.» (Cicero 1977.) Eine weitere wichtige Mysterienreligion des Altertums war der Mithra-Kult. Gleichsam Schwesterreligion des Christentums, war sie damals dessen wichtigste Konkurrentin im Rennen um den Status einer Weltreligion. Als der Mithraismus im dritten Jahrhundert nach Christus seinen Höhepunkt erlangte, reichte sein Ein­ fluss vom Mittelmeer bis zur Baltischen See. Über zweitausend Mithraea, unterir­ disch angelegte Sanktuarien, in denen die Rituale abgehalten wurden, wurden ent­ deckt und von Archäologen studiert. Mithraea fand man vom Schwarzen Meer bis zu den Bergen Schottlands und den Randgebieten der Sahara (Umansey 1989). Für transpersonal orientierte Forscher sind vor allem die Praktiken der mysti­ schen Traditionen und der grossen spirituellen Philosophien des Ostens von Inter­ esse - also Yoga, Buddhismus, Taoismus, Sufismus, die christliche Mystik, kabba­ listische Systeme und andere. Diese Systeme entwickelten wirksame Meditations­ formen, Bewegungsmeditationen, Gebete, Atemübungen und andere wirkungs­ volle Techniken zur Hervorrufung holotroper Bewusstseinszustände, immer verbunden mit einer tief spirituellen Geisteshaltung. Ähnlich den Erfahrungen, wie sie die Schamanen, die Eingeweihten von Übergangsriten und die Novizen der alten Mysterien hatten, bieten diese Methoden die Möglichkeit, sich der eigenen Vergänglichkeit und Sterblichkeit bewusst zu werden, die Todesangst zu überwin­ den und unsere allgemeine Lebenseinstellung zu transformieren. Die Aufzählung der den Sterbenden in vorindustriellen Kulturen zugänglichen Ressourcen wäre nicht vollständig, würden wir ihre Totenbücher, wie das tibeti­ sche Bardo Thödol, das ägyptische P ert em hru , den aztekischen Codex Bor­ gia oder das europäische A rs moriendi , nicht erwähnen. Als westliche Wis­ senschaftler auf diese alten Schriften aufmerksam wurden, sahen sie sie als fiktive Beschreibungen der posthumen Reise der Seele an - und somit als projizierte Wunschgedanken von Menschen, welchc die grimmige Realität des Todes nicht akzeptieren konnten. Diese wurden deshalb der Kategorie der Märchen zugeteilt und gellen bis heule als frei erfundene Schöpfungen der menschlichen Fantasie, die zwar eindeutig künstlerische Schönheit haben, aber keinen wirklichen Bezug zur alltäglichen Wirklichkeit und keine praktische Bedeutung aufweisen. Bei einem lieferen Studium dieser Texte wird aber klar, dass sie bei heiligen Mysterienriten und bei spirituellen Praktiken als Führer benutzt wurden und sehr

233

wahrscheinlich die Erfahrungen von Eingeweihten beschreiben. So gesehen scheint der Umstand, dass diese Bücher (nur) als Anleitung für Sterbende be­ zeichnet wurden, einfach ein geschicktes Manöver der Priester gewesen zu sein, um die wirkliche Funktion und tiefere esoterische Bedeutung und Botschaft vor den Uneingeweihten zu verbergen. Das Problem bestand darum im Entschlüsseln der Texte, um die genauen Techniken ausfindig zu machen, welche diese spirituel­ len Systeme zur Herbeiführung mystischer Zustände benutzten. Moderne Forschungen mit holotropen Zuständen führten diesbezüglich zu un­ erwarteten Einsichten. Systematische Studien zeigten, dass in diesen Bewusst­ seinszuständen das ganze Spektrum dieser ungewöhnlichen Erfahrungen erlebt wird - man erlebt Szenen der Agonie und des Sterbens, durchschreitet höllische Dimensionen, muss sich dem göttlichen Urteil stellen, wird neu geboren, gerät in himmlische Sphären oder erlebt Szenen aus früheren Inkarnationen wieder. Diese Erlebnisse sind denjenigen, die in den eschatologischen Texten der antiken Kultu­ ren beschrieben sind, auffallend ähnlich. Timothy Leary, Richard Alpert und Ralph Metzner waren von den Parallelen, die sie zwischen LSD-Erfahrungen und den im Bardo Thödol beschriebenen Zuständen ausmachen konnten, derart beeindruckt, dass sie ihr erstes Buch zu die­ sem Thema D ie psychedelische E rfahrung : E in auf dem T ibetanischen T o ­ tenbuch basierendes H andbuch («The Psychedelic Experience: A Manual Based on the Tibetan Book of the Dead») nannten und gar Passagen aus Letzterem benutzten, um ihre LSD-Versuchspersonen zu führen (Leary, Alpert und Metzner 1964). Ein weiteres Teilchen zum Puzzle steuerte die Thanatologie bei, die junge Wissenschaftsdisziplin, die sich dem Studium von Tod und Sterben widmet. Thanatologische Studien zu Nahtoderfahrungen zeigten, dass die mit lebensbedrohlichen Situationen assoziierten Erfahrungen eine grosse Ähnlichkeit mit den in den alten Totenbüchern beschriebenen aufweisen und ebenso mit denjenigen, welche Versuchspersonen in psychedelischen Sitzungen und bei modernen Selbsterfahrungstherapien hatten. Zu den aussergewöhnlichsten Entdeckungen gehört wohl die wiederholt gemachte Beobachtung, dass das Bewusstsein, wenn es aus dem Körper tritt, sowohl die nähere Umgebung wie auch weit entfernte Orte besichti­ gen kann. Diese Beobachtungen bestätigen eine weitere Aussage des tibetischcn Bardo Thödol, die zuvor fantastisch und absurd schien. Laut dieser verlassen wir bei un­ serem Tod den einengenden physischen Körper und haben nur noch den BardoKörper. In dieser Form können wir uneingeschränkt an jeden Ort der Welt reisen und können gleichzeitig das uns Umgebende voll wahrnehmen. Die moderne Be­ wusstseinsforschung hat gezeigt, dass die allen eschatologischen Texte eigentlich Landkarten der inneren psychischen Gebiete darstellen, die in tiefen holotropen Zuständen und eben nach unserem biologischen Tod erfahrbar werden. Es ist möglich, ein ganzes Leben zu verbringen, ohne diese Reiche je zu Ge­ sicht zu bekommen oder sich ihrer Existenz auch nur bewusst zu werden, bis man zum Zeitpunkt des Todes geradewegs in sie hineinkatapultiert wird. Andere wol­

234

len diese Erfahrungsbereiche jedoch noch zu Lebzeiten erforschen. Hilfsmittel da­ zu sind psychcdelischc Substanzen, tief gehende Selbsterfahrungstherapien, scha­ manische Rituale oder systematisch praktizierte spirituelle Übungen. Bei man­ chen Menschen treten solche Erfahrungen spontan und ohne ersichtlichen Grund als spirituelle Krisen auf. All diese Situationen bieten die Möglichkeit, die inneren Gebiete selber ken­ nen zu lernen - zu einer Zeit, da wir uns noch bester Gesundheit erfreuen. Und wenn wir schliesslich unserem eigenen Tod gegenüberstehen, überwältigt uns die­ ser nicht als ein völlig Unbekannter. Der deutsche Augustinermönch Abraham a Sancta Clara, der im siebzehnten Jahrhundert lebte, drückte sich hierzu folgendermassen aus: «Der Mann, der stirbt, bevor er stirbt, stirbt nicht, wenn er stirbt.» Das «Sterben vor dem Sterben» hat zweierlei Konsequenzen: Es befreit uns von der Angst vor dem Tod und verändert unsere Einstellung ihm gegenüber. Dies hilft uns, wenn wir unserem eigenen Tod dann tatsächlich gegenüberstehen, bei der Loslösung vom materiellen Körper. Gleichzeitig transformiert das Wegfällen der Todesangst auch die Art unseres In-der-Welt-Seins. So gesehen gibt es keine wesentlichen Unterschiede zwischen den Lehren, welche uns mit Exerzitien auf den Tod vorbereiten wollen, und spirituellen Übungen, welche die Erleuchtung zum Ziel haben. Die Totenbücher können demzufolge für beide Zwecke einge­ setzt werden. Wenn man alle Faktoren berücksichtigt, vereinfachten viele Aspekte im Le­ ben der alten Kulturen, vergleicht man sie mit unserer technologisierten Zivilisati­ on, die seelische Situation der Sterbenden beträchtlich. Natürlich stellt sich unmit­ telbar die Frage, ob sich dieser Vorteil einem mangelnden Wissen in Bezug auf die Natur der Realität oder aber einem illusionistischen Wunschdenken zuschreiben lässt. Falls dies der Fall wäre, könnten wir die meisten Probleme, die wir mit dem Tod haben, gleichsam als eine Art Tribut ansehen, welchen wir für all unser ge­ wonnenes Wissen entrichten müssen. Diese unangenehme Begleiterscheinung müssten wir in diesem Sinne eben in Kauf nehmen. Eine genauere Prüfung des vorhandenen Materials zeigt jedoch, dass dieses Argument nicht stichhaltig ist. Wie ich im letzten Kapitel dargelegt habe, ist der wichtigste Faktor, der für die so gewaltigen Unterschiede in den Weltanschauungen vom industrialisierten Wes­ ten einerseits und den antiken Kulturen andererseits verantwortlich ist, nicht etwa die Überlegenheit der materialistischen Wissenschaft einem so genannt primitiven Aberglauben gegenüber, sondern unsere eigene Unwissenheit und Uninformiert­ heit in Bezug auf die holotropen Bewusstseinszustände. Die einzige Möglichkeit, wie die monistisch-materialistische Weitsicht aufrechterhallen wird, scheint im systematischen Unterdrücken und Fehlinterpretiercen des gesammelten Beweismaterials zu liegen, egal, ob dieses nun aus der historischen Forschung, der An­ thropologie oder den vergleichenden Religionswissenschaften kommt oder ande­ ren modernen Forschungszweigen wie Parapsychologie, Thanatologie, psychedeli­ sche Therapie, Biofeedback, Selbsterforschungtherapie oder der therapeutischen Arbeit mit Menschen in spirituellen Krisen entstammt.

235

Die systematische Anwendung verschiedener Formen holotroper Zustände, wie wir sie im rituellen und spirituellen Leben alter Kulturen immer wieder vor­ finden, öffnet den Zugang zu einem reichhaltigen Spektrum transpersonaler Er­ fahrungen. Das führt zwangsläufig zu einer Weltanschauung, was die Realität und das Verhältnis von Bewusstsein zu Materie angeht, die sich von der unseren fun­ damental unterscheidet. Die Meinungsverschiedenheiten, was das Fortbestehen des Bewusstseins nach dem Tod betrifft, reflektieren bestens die unterschiedlichen Haltungen gegenüber holotropen Zuständen und lassen den Grad an Wissen und Erfahrungsschatz erkennen. Wir wollen uns nochmals denjenigen Daten und Beobachtungen der einzelnen Forschungsgebiete zuwenden, welche die materialistische Annahme, der biologi­ sche Tod bedeute gleichzeitig das Ende aller Bewusstseinsaktivität, in Frage stel­ len. Will man sich ehrlich mit solchen Fragestellungen auseinander setzen, so ist es absolut notwendig, dass man vorurteilsfrei bleibt und sich so weit wie möglich auf die beobachteten Fakten konzentriert. Unerschütterliche A-priori-Bekenntnisse zum vorhandenen Paradigma sind von geringem Nutzen und kennzeichnen eine (eigentlich wenig wissenschaftliche) Einstellung, die wir von den fundamentalisti­ schen Religionen schon zu gut kennen. Im Unterschied zu diesem engen, unfreien Verständnis von «Wissenschaft» ist deren wahrer Geist im ursprünglichsten Sinne des Wortes offen für eine unvorein­ genommene Erforschung aller existierenden Phänomene und aller Realitätsgebie­ te, die uns umgeben. - Betrachtet man in diesem Sinne all das gesammelte, be­ weisträchtige Material, so kann man es grob in zwei Kategorien einteilen: Einer­ seits haben wir die Erfahrungen und Beobachtungen, die das traditionelle Ver­ ständnis von Bewusstsein und dessen Beziehung zur Materie in Frage stellen, und andererseits die Erfahrungen und Beobachtungen, die sich speziell auf ein Überle­ ben des Bewusstseins nach dem Tode beziehen.

Erfahrungen und Beobachtungen, die das traditionelle Verständnis von Realität und deren Beziehung zur Materie in Frage stellen Anlässlich der Arbeit mit holotropen Bewusstseinszuständen wurden Unmengen von Daten gesammelt, die eine ernsthafte Herausforderung für die von der westli­ chen Wissenschaft geschaffene, monistisch-materialistische Weitsicht darstellen, insbesondere was ihre Annahme vom Primat der Materie angeht. Die meisten Da­ ten stammen aus dem Studium transpersonaler Erfahrungen und den mit ihnen as­ soziierten Beobachtungen. Dieses Material zeigt klar, wie dringend notwendig ei­ ne radikale Revision unseres heutigen Verständnisses von der Natur unseres Be­ wusstseins und von dessen Beziehung zum Hirn und zur Materie ist. Da das mate­ rialistische Paradigma der westlichen Wissenschaft das Haupthindernis für eine objektive Auseinandersetzung der mit Sterben und Tod assoziierten Daten dar­ stellt, hat das Studium transpersonaler Erfahrungen indirekt auch eine Bedeutung für die Thanatologie.

236

Wie wir gesehen haben, ist es während transpersonaler Erfahrungen möglich, über die üblichen Beschränkungen von Körper-Ich, dreidimensionalem Raum und linearer Zeit hinauszugehen. Das Verschwinden der räumlichen Grenzen kann zu authentischen und überzeugenden Identifikationen mit anderen Menschen, Tie­ ren, pflanzlichem Leben und sogar mit anorganischer Materie und den damit ver­ bundenen Prozessen führen. Man kann die Grenzen der Zeit überwinden und Epi­ soden aus den Leben seiner menschlichen und tierischen Vorfahren erleben oder kollektive, rassische oder karmische Erinnerungen wecken. Transpersonale Erfah­ rungen können uns auch in die archetypischen Gefilde des kollektiven Unbe­ wussten führen; man findet zu den glückseligen und zornigen Gottheiten der ver­ schiedenen Kulturen und sicht die alten mythologischen Reiche. Bei all diesen Erfahrungen ist es möglich, Zugang zu vollständig neuen Infor­ mationen über die beteiligten Phänomene zu bekommen, die alles, was wir während dieser Lebenszeit via die «konventionellen Kanäle» erhalten haben, bei weitem übertreffen. Die Tatsache, dass das Bewusstsein beim Verlassen des Kör­ pers seine Fähigkeit, die Umgebung wahrzunehmen, beibehält und Erfahrungen sammeln kann (das «Theta-Bewusstsein» William Rolls oder der «lange Körper» der Irokesen), ist von eminenter Bedeutung für die Frage, ob Bewusstsein, auf die­ se oder ähnliche Art, auch den Tod überleben kann. Gemäss der materialistischen Wissenschaft braucht jede Erinnerung ein mate­ rielles Substrat, so wie die Neuronen im Hirn oder die DNS-Moleküle in den Ge­ nen. Es fällt jedoch schwer, sich einen materiellen Träger für die Informationen der oben beschriebenen transpersonalen Erfahrungen vorzustellen. In diesen Fäl­ len wurden die Informationen eindeutig nicht in diesem Leben und nicht auf kon­ ventionellem Wege - also durch die Vermittlung der Sinnesorgane, durch Analyse und Synthese - erlangt. Sie scheinen von der Materie unabhängig zu existieren, möglicherweise im Bewusstseinsfeld selbst oder in einer anderen Art von Feld, das mit den heutigen wissenschaftlichen Instrumenten nicht erfasst werden kann. Die Beobachtungen und Studien transpersonaler Erfahrungen finden Unter­ stützung von anderen Forschungszweigen. Indem sie die metaphysischen Grund­ annahmen des newton-kartesianischen Denkens in Frage stellen, forschen einige Wissenschaftler in Themenbereichen wie «Gedächtnis ohne materielles Substrat» (von Foerster 1965) oder «morphogenetische Felder», die von keinem Messgerät der modernen Wissenschaft erkannt werden können (Sheldrake 1981), das Sub­ quantum «Psi-Feld», das eine komplette holografische Aufzeichnung aller Ereig­ nisse enthält, welche die Geschichte des Universums ausmachen (Laszlo 1993). Von speziellem Interesse in diesem Zusammenhang ist der Artikel von Sheldrake, Can our Memories Survive the Death of Our Brains? («Kann unser Gedächtnis den Tod unseres Gehirns überleben?»), welcher sich speziell dem Umstand widmet, dass es keine schlüssigen Beweise für die Behauptung gibt, dass Erinnerungen im Hirn angesiedelt sein sollen (Sheldrake 1990). Die traditionelle akademische Wissenschaft versteht die menschlichen Wesen als hoch entwickelte Tiere und biologische Denkmaschinen. Wenn wir nur diejeni­

237

gen Erfahrungen und Beobachtungen gelten lassen, die im gewohnten, alltäglichen hylotropen Bewusstseinszustand gemacht werden, so scheinen wir newtonsche Objekte aus Atomen, Molekülen, Zellen, Geweben und Organen zu sein. Transpersonale Erfahrungen zeigen jedoch klar, dass jeder von uns auch die Eigen­ schaften eines Bewusstseinsfeldes manifestieren kann, welches Raum, Zeit und li­ neare Kausalität transzendiert. Laut der neuen Formel, die uns entfernt an das Wellen-Teilchen-Paradoxon erinnert, sind wir Menschen paradoxe Wesen mit zwei einander komplementie­ renden Aspekten. Je nach Situation können sie entweder die Eigenschaften new­ tonscher Objekte (den «hylotropen» Aspekt) oder diejenigen unendlicher Bewusstseinsfeldcr (den «holotropen» Aspekt) erfahren. Die Tauglichkeit der einen oder anderen Definition hängt vom Bewusstseinszustand ab, in welchem die Fest­ stellung erfolgt. Der körperliche Tod scheint somit die hylotropen Funktionen zu beenden, während das holotrope Potenzial zu seinem vollen Ausdruck kommt.

Überlebt das Bewusstsein den Tod? Erfahrungen und Beobachtungen aus der Bewusstseinsforschung Phänomene an der Schwelle des Todes Forscher haben auf eine ganze Reihe von interessanten Phänomenen aufmerksam gemacht, die sie bei Personen, die kurz vor ihrem Tod standen, immer wieder be­ obachten konnten. So gibt es zahlreiche Berichte, in denen geschildert wird, wie die Verstorbenen kurz nach ihrem Tod Verwandten, Freunden oder Bekannten erschienen. Diese Erscheinungen erfolgten, gemäss den Statistiken, vor allem in den ersten zwölf Stunden nach ihrem Tod (Sidgwick 1894). Auch gibt es viele Be­ richte über andere unerklärliche physikalische Phänomene - etwa Uhren, die stillstehen oder aber zu ticken beginnen, läutende Glocken oder Gemälde und Foto­ grafien, die von der Wand fallen. Die meisten dieser Begebenheiten geschehen im Flaus der sterbenden Person und scheinen ihren Tod anzukündigen (Bozzano 1948). Menschen, die dem Tod nahe stehen, erzählen zudem oft, dass sie verstorbene Verwandte sehen, die sie in der nächsten Welt willkommen heissen möchten. Die Visionen, die diese Personen auf dem Totenbett erfahren, kommen den Anwesen­ den meist sehr authentisch und überzeugend vor. Sie sind begleitet von einem Zu­ stand der Euphorie und scheinen den Sterbenden den Übergang zu erleichtern. Üblicherweise wird eingewendet, dass solche Visionen einfach Fantasien oder re­ konstruierte Erinnerungsbilder der Verwandten und Freunde seien. Aus diesem Grund haben Forscher spezielle Aufmerksamkeit denjenigen Visionen gewidmet, in denen eine Person Teil des «Empfangskomitees» war, von deren Ableben die sterbende Person nichts wusste. In der parapsychologischen Literatur werden sol­ che Beobachtungen «Peak in Darien»-Fälle genannt (Cobbe 1877). Von speziellem Interesse sind die Nahtoderlebnisse (NDEs: Near-Death Experiences). Diese treten bei etwa einem Drittel der Personen auf, die plötzlich in ei­ ne lebensgefährliche Situation geraten - etwa durch einen Autounfall, in Si­

238

tuationen des Beinahe-Ertrinkens, bei einem Herzinfarkt oder einem Herzstill­ stand während einer Operation. Raymond Moody, Kenneth Ring, Michael Sabom, Bruce Greyson und andere haben diesbezüglich umfangreiche Untersuchungen durchgeführt und ein typisches Erfahrungsmuster entdeckt. Normalerweise beginnt es mit dem Erlebnis des Aus-dem-Körper-Tretens, ei­ nem persönlichen Lebensrückblick und dem Passieren eines dunklen Tunnels. Anschliessend kann dies in einer Erfahrung transpersonaler Art kulminieren; die Personen begegnen einem strahlenden göttlichen Wesen, und ihr Leben wird nach ethischen Massstäben beurteilt. Manchmal werden verschiedene transzendentale Reiche besucht. Im individuellen Fall kann die eine oder andere Komponente die­ ses Musters fehlen. - Seltener sind qualvolle, Angst einflössende und höllische Ar­ ten von NDEs (Grey 1985; Bache 1999). Christopher Bache meinte hierzu, dass negative NDEs eine bruchstückhafte und unvollkommene Variante darstellen, in welcher der Lebensrückblick nicht Uber die Ebene der negativen perinatalen Ma­ trizen hinausgeht. In unserem Forschungsprogramm am Maryland Psychiatric Research Center in Baltimore, wo wir die psychedelische Therapie auch bei unheilbar Krebskran­ ken einsetzten, konnten wir viele Daten sammeln, welche die Ähnlichkeit von NDEs und Erfahrungen, die durch psychedelische Substanzen ausgelöst wurden, belegen. Wir hatten mehrere Patienten, die zuerst psychedelische Erfahrungen ge­ macht hatten und später, als sich ihr Krankheitszustand verschlimmerte, hatten sie eine wirkliche NDE (zum Beispiel durch einen Herzstillstand während einer Ope­ ration, in der ein metastatischer Tumor, der auf den Harnleiter drückte, entfernt werden sollte). Sie berichteten, dass diese beiden Situationen einander sehr ähnel­ ten und sie die psychedelischen Sitzungen für eine unschätzbar wertvolle Hilfe hielten, die ihnen das Sterben leichter machte (Grof und Halifax 1977). Der aussergewöhnlichste und faszinierendste Aspekt der NDEs sind die «als wahr nachgewiesenen» ausserkörperlichen Erfahrungen (OOBEs; Engl.: Out-ofBody Experiences). Dieser Ausdruck wird für Erfahrungen des entkörperlichten Bewusstseins benutzt, die mit nachprüfbaren aussersinnlichen Wahrnehmungen (der Umgebung) einhergehen. Thanatologische Studien haben wiederholt bestä­ tigt, dass Personen, die bewusstlos oder auch klinisch tot sind, OOBEs haben kön­ nen, während denen sie ihre Körper und die praktizierten Rettungsmassnahmen von oben her beobachten und sogar Begebenheiten, die sich in anderen Gebäude­ teilen oder an entfernten Orten abspielen, wahrnehmen können. Vor kurzem haben die Forschungen von Ken Ring diesen Beobachtungen ei­ ne interessante Dimension beigefügt. Jene belegen, dass Personen, die von Geburt an blind waren, während Nahtoderfahrungen Visionen haben können. In einigen Fällen konnte deren Wahrheitsgehalt von unabhängigen Experten verifiziert wer­ den (Ring und Valarino 1998, Ring und Cooper 1999). Die moderne thanatologische Forschung hat somit die klassischen Beschreibungen von OOBEs bestätigt, die man in der spirituellen Literatur und philosophischen Texten aller Zeitalter findet.

239

Das Auftreten von OOBEs beschränkt sich nicht nur auf Nahtodsituationen, lebensgefährliche Notfälle und den Augenblick des klinischen Todes. Sie können auch während Sitzungen hoch wirksamer Selbsterfahrungstherapien (Primärthera­ pie, Rebirthing, holotrope Atemarbeit u. a.), während Sitzungen mit psychedeli­ schen Substanzen (besonders mit dem dissoziativen Betäubungsmittel Ketamin) auftreten. Im Leben eines Individuums kann dies eine einmalige Episode sein oder auch, wie in spirituellen Krisen, wiederholt auftreten. Der bekannteste Forscher in Sachen OOBEs ist Robert Monroe, der nach vie­ len Jahren spontan auftretender ausserkörperlicher Reisen eine elektronische La­ bortechnik entwickelte, die diese induzieren kann, und in Faber, Virginia, ein spe­ zielles Institut gründete, wo sie systematisch untersucht werden konnten. Er be­ schrieb seine Erfahrungen mit diesen Phänomenen in einer Reihe von Büchern (Monroe 1971,1985,1994). Die Authentizität der OOBEs wurde in kontrollierten klinischen Studien demonstriert, wie in den Experimenten des bekannten Psycho­ logen und Parapsychologen Charles Tart mit Frau Z. an der Universität Kaliforni­ ens in Davis (Tart 1968) und in den Wahrnehmungstests von Karlis Osis und D. McCormick mit Alex Tanous (Osis und McCormick 1980). OOBEs, bei denen die aussersinnliche Wahrnehmung der Umgebung objektiv verifiziert werden konnte, sind von besonderer Bedeutung für die Frage, ob das Bewusstsein nach dem Tode weiter besteht, denn sie zeigen, dass das Bewusstsein körperunabhängig operieren kann. Gemäss der westlichen materialistischen Weit­ sicht ist Bewusstsein ein Produkt neurophysiologischer Prozesse im Gehirn; es wä­ re also absurd zu denken, dass es sich vom Körper lösen, selbständig werden und aussersinnlich wahrnehmen könnte. Doch genau dies geschieht in vielen, gut do­ kumentierten Fällen von OOBEs. Natürlich sind Menschen, die OOBEs erlebt ha­ ben, dem Tod nur nahe gekommen, das heisst nicht wirklich gestorben. Es scheint dennoch vernünftig, daraus zu schliessen, dass unser Bewusstsein, indem es schon während des Lebens unabhängig vom Körper funktionieren kann, dies auch nach dem Tode tun kann.

Erinnerungen an vergangene Inkarnationen Eine Kategorie von transpersonalen Erfahrungen, die für die Frage des Weiterbestehens des Bewusstseins nach dem Tode direkt relevant ist, hat mit dem lebhaften Wiedererleben von Episoden zu tun, die sich in früheren historischen Zeiten und in anderen Teilen der Welt abspielten. Dieses Phänomen hat bedeutsame Auswir­ kungen auf unser Verständnis von der Natur des Bewusstseins, für Theorie und Praxis in Psychiatrie, Psychologie und Psychotherapie. Es besteht kein Zweifel, dass Erfahrungen dieser Art die empirische Basis für den weit verbreiteten Glau­ ben an die Reinkarnation bilden. Die historische und geographische Universalität dieses Glaubens zeigt, dass wir hier ein in kultureller Hinsicht äusserst wichtiges Phänomen vor uns haben. Karma und Reinkarnation bilden die Eckpfeiler in den Lehren von Hinduis­ mus, Buddhismus, Jainismus, Sikhismus, Zoroastrismus, Taoismus und dem tibeti-

240

sehen Vajrayana-Buddhismus. Ähnliche Ideen finden sich in geographisch, histo­ risch und kulturell so unterschiedlichen Gruppen wie bei mehreren afrikanischen Stämmen, den Indianern Amerikas, in präkolumbianischen Kulturen, bei den Kahunas von Hawaii, den Anhängern des brasilianischen Umbanda, den Galliern und den Druiden. Im antiken Griechenland gab es mehrere bedeutende Schulen, die sich dem Reinkarnationsgedanken verschrieben, unter anderem die Pythagoräer, die Orphiker und die Platoniker. Diese Doktrin wurde auch von den Esse­ nern, den Pharisäern, den Karaiten und anderen jüdischen und halbjüdischen Gruppen angenommen, und sie bildete einen wichtigen Teil der kabbalistischen Theologie des mittelalterlichen Judentums. Auch die Neoplatoniker und die Gnostiker hielten sich daran. Für die Hindus und die Buddhisten sowie für aufgeschlossene, gebildete mo­ derne Bewusstseinsforscher ist Reinkarnation keine Glaubensfrage, sondern eine empirische Angelegenheit, die auf ganz bestimmten Erfahrungen und Beobach­ tungen basiert. Diesem Thema wurden schon unzählige Artikel und Bücher ge­ widmet. Laut Christopher Bache sind die Indizien auf diesem Gebiet dermassen reichhaltig und bemerkenswert, dass Wissenschaftler, die das Thema Reinkarnati­ on keiner ernsthaften Untersuchung für wert erachten, «entweder uninformiert oder stur» sind (Bache 1998). Angesichts seiner theoretischen Bedeutung und sei­ ner höchst widersprüchlichen Natur ist es absolut notwendig, die zu diesem Thema vorhandenen Indizien genau und kritisch zu überprüfen, bevor man irgendwelche Urteile über Karma und Reinkarnation abgibt. Spontane Erinnerungen an vergangene Leben bei Kindern. Wichtige Indizien, die das Konzept der Reinkarnation stützen, kommen aus dem Studium der vielen spontanen Erfahrungen früherer Leben von kleinen Kindern. Sie schildern, wie sie in einem anderen Körper, an einem anderen Ort und zusammen mit anderen Leu­ ten lebten. Diese Erinnerungen treten normalerweise spontan auf, meist kurz nachdem sie zu sprechen beginnen, und können oft ernsthafte Probleme auslösen, die «herübergebrachte Pathologien», wie Phobien oder psychosomatische Sym­ ptome, darstellen. In vielen Fällen scheinen die erzählten Geschichten ansonsten rätselhafte Vorlieben oder Abneigungen, seltsame Reaktionen auf bestimmte Per­ sonen und Situationen oder spezifische Überempfindlichkeiten, die sie im gegen­ wärtigen Leben zeigen, zu erklären. Es gibt Berichte von Kinderpsychiatern, die derartige Fälle untersuchten und beschrieben. Der Zugang zu diesen Erinnerun­ gen verschwindet normalerweise im Alter von fünf bis acht Jahren. Ian Stevenson, Professor für Psychologie an der Universität von Virginia in Charlottesville, hat über dreitausend solcher Fälle eingehend untersucht und in den Schriften Reinkarnation - Der Mensch im Wandel von Tod und Wieder­ geburt («Twenty Cases Suggestive of Reincarnation»), Unlearned Languages sowie Reinkarnation - Kinder erinnern sich an frühere Leben («Children Who Remember Previous Lives») beschrieben (Stevenson 1966, 1984, 1987). Aus diesem reichhaltigen Material hat er nur einige hundert Fälle herausgesucht, weil viele andere den hohen Anforderungen, die er für seine Arbeit gestellt hatte, nicht

241

genügten. Einige Fälle wurden ausgeschieden, weil sich die Familie in finanzieller oder sozialer Hinsicht Vorteile verschaffen wollte; andere, weil Stevenson eine Be­ zugsperson ausfindig machte, welche die psychische Verbindung hätte sein kön­ nen. Weitere Gründe waren widersprüchliche Aussagen, falsche Erinnerungen (Kryptomnesie), Zeugen zweifelhaften Charakters oder Anzeichen von Betrug. Nur die überzeugendsten Fälle wurden in seinen abschliessenden Bericht aufge­ nommen. Die Ergebnisse von Stevensons Forschungen sind bemerkenswert. Durch un­ abhängig durchgeführte Recherchen gelang es ihm, die Geschichten zu bestätigen, oft mit unglaublich präzisen Details - obwohl er in allen aufgeführten Fällen die Möglichkeit eliminiert hatte, dass die Betreffenden die Informationen über die herkömmlichen Kanäle hätten bekommen können. In einigen Fällen brachte er die Kinder tatsächlich in das Dorf oder die Stadt, an die sie sich aus ihrem frühe­ ren Leben erinnerten. Obwohl sie in ihrem gegenwärtigen Leben noch nie dort ge­ wesen waren, war ihnen die Topografie des Ortes geläufig, sie konnten das Haus finden, in dem sie angeblich gelebt hatten, erkannten die Mitglieder ihrer «Fami­ lie» und die Nachbarn wieder und wussten alle ihre Namen. Laut Stevenson können dramatische Umstände während des Todes der Grund dafür sein, dass Kinder sich an ihr früheres Leben erinnern, besonders wenn dabei ein Schock erlitten wird, der «die Amnesie durchbrechen kann». Die Tatsache, dass die lebendigsten Erinnerungen diejenigen Ereignisse betreffen, die in der Fol­ ge zum Tode führten, scheint diese These zu unterstützen. Christopher Bache lie­ ferte in seinem letzten Buch, D ark N ight , E arly D awn : S teps to a D eep E co logy of M ind , eine detaillierte Analyse zu Stevensons Material. Er meinte, dass der Sterbevorgang in mehreren Stufen abläuft und dass dieser Prozess in den von Stevenson dokumentierten Fällen vielleicht unterbrochen und nicht vollendet wurde. Den betroffenen Individuen gelang es deshalb nicht, ihre Verbindung mit der weltlichen Ebene vollständig zu durchtrennen und in die andere Dimension der Wirklichkeit überzugehen. In all diesen Fällen erfolgte die Wiederverkörpe­ rung nach relativ kurzer Zeit und unweit des Ortes, an dem sie früher gelebt hat­ ten (Bache 1999). In der Regel haben die Kinder kein Wissen davon, was ihnen nach dem Tod ih­ rer vorherigen Persönlichkeit widerfuhr. Dies ist ein wichtiger Punkt, will man herausfinden, ob das Kind unbewusst die Einzelheiten dieses Lebens rekonstruiert, indem es telepathisch die Gedanken derjenigen Menschen aufnimmt, die den Ver­ storbenen gekannt hatten, oder ob diese Details echte Erinnerungen darstellen. Der vielleicht schlagendste Beweis zur Unterstützung der Reinkarnationshypothese findet sich in Stevensons neustem Werk. Es handelt von überdurchschnittlich häufig auftretenden, auffälligen Muttermalen bei diesen Kindern, welche von Ver­ letzungen oder anderen Geschehnissen des erinnerten Leben herrühren (Steven­ son 1997). Bei der Beurteilung dieser Beweise ist es wichtig zu unterstreichen, dass Ste­ vensons Fälle nicht nur aus «primitiven», «exotischen» Kulturen, die ohnehin an

242

Reinkarnation glauben, stammen, sondern auch aus westlichen Ländern wie Grossbritannien oder den Vereinigten Staaten. Seine Forschungen genügen den höchsten Ansprüchen und stiessen auf ein dementsprechendes Echo. 1977 widme­ te das J ournal of N ervous and M ental D iseases diesem Thema fast eine ganze Ausgabe, und die Arbeit wurde auch im J ournal of the A merican M edi ­ cal A ssociation erörtert. Spontane Erinnerungen an vergangene Leben bei Erwachsenen. Erfahrungen spontanen klaren Wiedererlebens von Erinnerungen an vergangene Leben finden bei Erwachsenen am häufigsten in Zeiten transpersonaler (spiritueller) Krisen statt. Doch unterschiedlich klare Erinnerungen können auch unter alltäglichen Bedingungen in mehr oder weniger gewöhnlichen Bewusstseinszuständen auftau­ chen. Diese reichen von einem plötzlichen Gefühl der Vertrautheit, das wir an ei­ nem Ort empfinden, den wir zuvor nie besucht haben, bis zum Auftauchen von komplexen Erinnerungen an bisher unbekannte Zeiten und Orte. Die akademi­ schen psychiatrischen Modelle und die derzeitigen Persönlichkeitstheorien basie­ ren auf überholten Anschauungen. Den traditionellen Akademikern ist das Phä­ nomen der Erinnerungen an vergangene Leben zwar bekannt, doch sie betrachten und behandeln sie als Halluzinationen und Einbildungen und deuten sie im Sinne einer ernsthaften psychischen Erkrankung. Das Wecken von Erinnerungen an frühere Leben. Erinnerungen an vergange­ ne Leben können durch eine Vielzahl an Techniken hervorgerufen werden, die Zugang zu tief liegenden Ebenen der Psyche verschaffen. Zu diesen zählen Me­ ditation, Hypnose, psychedelische Substanzen, Sinnesreizentzug, Körperarbeit und verschiedene hoch wirksame Selbsterfahrungstherapien wie Primärtherapie, Rebirthing oder holotrope Atemarbeit. Erfahrungen dieser Art treten aber oft auch ungebetenerweise in Sitzungen mit Therapeuten auf, die weder mit Reinkarnationserfahrungen arbeiten noch überhaupt an diese glauben. So kann eine solche Situation zu einer schockierenden Überraschung werden, die den Thera­ peuten völlig überrumpelt. - Erinnerungen an frühere Leben treten auch völlig un­ abhängig vom früheren philosophischen und religiösen Glaubcnssystem der be­ troffenen Person auf. Ausserdem ereignen sich diese Phänomene im selben Konti­ nuum wie die akkuraten Erinnerungen aus Jugend, früher und späterer Kindheit, Geburt und vorgeburtlicher Zeit, deren Inhalte oft zuverlässig verifiziert werden können. Manchmal tauchen Erinnerungen an vergangene Leben gleichzeitig oder alternierend mit perinatalen Phänomenen auf (Grof 1988,1992). Es gibt gewichtige Gründe, die darauf hindeuten, dass Erinnerungen an frühe­ re Leben authentische Phänomene sui generis sind, welche wegen ihres heuristi­ schen und therapeutischen Potenzials bedeutende Konsequenzen für Psychologie und Psychotherapie haben. Sie können extrem real und authentisch sein und kön­ nen genaue Informationen zu verschiedenen geschichtlichen Perioden, Kulturen und historischen Ereignissen liefern. Art und Qualität dieser Einsichten überstei­ gen oft den Wissensstand der betroffenen Personen und weisen Details auf, die klar darauf hindeuten, dass sie nicht über die herkömmlichen Kanäle erhalten

243

wurden. Zuweilen können solche präzisen Erinnerungen objektiv und erstaunlich detailliert bestätigt werden. Oft ist karmisches Material auch in der Pathogenese von verschiedenen emo­ tionalen, psychosomatischen und zwischenmenschlichen Problemen involviert, wie wir dies in der Fallstudie von Norbert (siehe S. 89f.) gesehen haben. Umge­ kehrt hat das Wiedererleben von Erfahrungen aus vergangenen Leben grosses therapeutisches Potenzial. Oft können dadurch schwierige Symptome aufgelöst werden, die durch eine therapeutische Arbeit, die sich auf die biografischen und perinatalen Wurzeln konzentriert, nicht bedeutend beeinflusst werden konnten. Ein Aspekt der Erinnerungen an vergangene Leben ist besonders aussergewöhnlich und überraschend: Sie gehen oft mit bemerkenswerten Synchronizitäten ein­ her, die mit verschiedenen Aspekten des Alltagslebens verbunden sind. Die Kriterien zur Verifizierung der Erfahrungen früherer Leben sind diesel­ ben wie die, welche wir zur Bestimmung von Ereignissen anwenden, die letzten Monat oder vor zehn Jahren geschahen. Wir müssen die jeweilige Erinnerung so detailliert wie möglich hervorholen und zumindest für einige Einzelheiten objektiv gültige Beweise finden. Natürlich lassen sich Erinnerungen aus vergangenen schwieriger bestätigen als Ereignisse aus dem gegenwärtigen Leben. Erstere ent­ halten nicht immer die Art von Information, die sich für eine Verifizierung eignen würde. Objektive Zeugnisse sind auch deshalb schwieriger zu beschaffen, weil die Ereignisse viel weiter zurückliegen und sich oft auf andere Länder und Kulturen erstreckt. Wir dürfen nicht vergessen, dass sich selbst Begebenheiten aus unserem gegenwärtigen Leben nicht immer bestätigen lassen. Die meisten Erinnerungen von Erwachsenen lassen sich zudem auch nicht gleich gut nachprüfen wie die spon­ tanen Erinnerungen von Kindern bei Stevenson, weil Letztere in der Regel jünge­ ren Datums und deshalb reicher an Details sind. In seltenen Fällen erlauben die Umstände eine Verifizierung der induzierten Erinnerungen bis in die erstaunlichsten Einzelheiten. Ich habe selbst zwei Fälle untersucht und publiziert, die mitsamt ihren äusserst ungewöhnlichen Details durch historische Recherchen bestätigt werden konnten. Im ersten Fall geht es um Renata, eine neurotische Patientin, die in vier aufeinander folgenden LSD-Sitzun­ gen Episoden aus dem Leben eines tschechischen Aristokraten erlebte, der zu Be­ ginn des siebzehnten Jahrhunderts lebte. Zusammen mit sechsundzwanzig ande­ ren Adligen war dieser Mann auf dem Hauptplatz im alten Prag öffentlich hingerichtet worden, nachdem die Habsburger den tschechischen König in der Schlacht am Weissen Berg besiegt hatten. Durch genealogische Forschungen, die der Vater unabhängig und ohne Renatas Wissen durchführte, konnte dieser nachweisen, dass sie die Nachkommen eines dieser unglücklichen Adligen waren (Grof 1975). Das zweite Beispiel handelt von Karl, der an einem unserer einmonatigen Workshops am Esalen-Institut teilnahm und dort in mehreren Atem-Sitzungen ei­ ne ganze Reihe von Erinnerungen weckte, die aus der Zeit Walter Raleighs stammten, als Grossbritannien gegen Spanien Krieg führte. In seinen Erlebnissen war er ein Priester, der sich zusammen mit etwa vierhundert spanischen Soldaten

244

in der belagerten Festung Dunanoir an der Westküste Irlands befand. Nach langen Verhandlungen versprachen ihnen die Briten freien Abzug, falls sie kapitulieren würden. Die Spanier akzeptierten das Angebot und öffneten die Tore. Die Briten hielten ihr Wort jedoch nicht und schlachteten sie alle brutal ab. Die toten Körper wurden über den Festungswall auf den darunter liegenden Strand geworfen, ein Begräbnis wurde ihnen nicht zuteil (Grof 1988). Da er künstlerisches Talent hatte, stellte Karl die wichtigsten Erlebnisse aus seiner Selbsterforschung in einer Reihe von Zeichnungen und impulsiven Finger­ malereien dar. Eines dieser Bilder zeigte seine eigene Hand, die einen wunder­ schönen Siegelring mit den Initialen des Priesters trug. Durch akribische Detektiv­ arbeit konnte Karl schliesslich Ort und Zeitpunkt der Schlacht ausfindig machen und in Geschichtsarchiven die ausführlichen Schilderungen des Ereignisses nachlesen: Die Beschreibungen glichen seinen eigenen Erlebnissen auf erstaunliche Weise. Ein detailliertes Dokument nannte auch den Namen des Priesters, und Karl war zutiefst verblüfft, als er erkannte, dass die Initialen dieses Mannes die gleichen waren wie die auf dem Siegelring, den er Wochen zuvor gezeichnet hatte. Tibetische Praktiken, die für das Problem der Reinkarnation wichtig sind. In der tibetischen spirituellen Literatur finden sich einige interessante Geschichten, die darauf schliessen lassen, dass hoch entwickelte spirituelle Meister weit rei­ chende Erkenntnisse gewinnen können, was den Prozess der Reinkarnation und die Fähigkeit angeht, auf diesen bis zu einem gewissen Grad Einfluss zu nehmen. So haben sie die Möglichkeit, den Zeitpunkt ihres Todes zu bestimmen, Zeitpunkt und Ort ihrer nächsten Inkarnation vorherzusagen oder gar zu wählen und beim Durchlaufen der Stadien zwischen Tod und nächster Inkarnation (die Bardos) be­ wusst zu bleiben. Hoch entwickelte tibetische Mönche andererseits können auf verschiedenen Wegen - durch Träume, Meditation oder über andere Kanäle - Hinweise erhalten, das sie das Kind finden und identifizieren lässt, das die gesuchte Reinkarnation ei­ nes Dalai-Lama oder Tulku ist. Das Kind wird dann einem Test unterzogen und muss aus einer Auswahl ähnlich ausschauender Gegenstände diejenigen identifi­ zieren, die dem Verstorbenen gehört hatten. Einige Aspekte dieser Praxis könn­ ten, zumindest theoretisch, einer rigorosen Prüfung nach westlichen Massstäben unterzogen werden. Andere aussergewöhnliche Behauptungen aus der tibetischen Vajrayana-Tradition, wie das Wissen um spezielle Übungen, mit denen sich die Körpertemperatur um viele Grade anheben lässt (Tummo), sind von westlichen Fachleuten schon untersucht und bestätigt worden (Benson et al. 1982). Diese For­ schungsarbeiten wurden mit der Erlaubnis und Unterstützung Seiner Heiligkeit des Dalai-Lama durchgeführt. Die ungewöhnlichen Charakteristika von Erfahrungen früherer Leben wur­ den von unabhängigen Beobachtern immer wieder bestätigt. Doch selbst all diese eindrücklichen Fakten sind noch immer nicht unbedingt der definitive Beweis dafür, dass wir den Tod überleben und als dieselbe separate Bewusstseinseinheit oder als dieselbe individuelle Seele reinkarnieren. Diese Schlussfolgerung ist nur

245

eine der möglichen Interpretationen des bestehenden Indizienmaterials. Wir ha­ ben hier im Grunde genommen die gleiche Situation, der wir auch in der Wissen­ schaft begegnen: Wir verfügen über eine gewisse Anzahl an beobachteten Fakten und suchen nach einer Theorie, die diese erklären könnte und sie in einen kohärenten konzeptionellen Rahmen fügt. Eine der Grundregeln der modernen Wissenschaftsphilosophie besagt, dass ei­ ne Theorie nie mit der Wirklichkeit verwechselt werden darf, welche sie be­ schreibt. Die Geschichte der Wissenschaft zeigt klar, dass immer mehr als nur eine Möglichkeit besteht, die vorhandenen Daten zu interpretieren. Bei einem Studium der Phänomene früherer Leben müssen wir, wie in anderen Forschungsgebieten auch, die beobachteten Fakten von den Theorien, die sie zu erklären suchen, ge­ trennt halten. Dass Objekte fallen, beispielsweise, ist ein beobachtbares Faktum, die Theorien jedoch, die erklären sollten, warum dieses geschieht, haben im Lauf der Geschichte mehrmals geändert und werden sich zweifellos weiter ändern. Die Existenz von Erfahrungen vergangener Leben mit all ihren bemerkens­ werten Merkmalen ist eine unbestreitbare Tatsache, die von jedem ernsthaften Forscher bestätigt werden kann, wenn er genügend aufgeschlossen und daran in­ teressiert ist, die vorhandenen Indizien zu überprüfen. Es ist auch klar, dass es für diese Phänomene innerhalb des konzeptionellen Rahmens der traditionellen Psy­ chiatrie und Psychologie keine plausible Erklärung geben kann. Andererseits ist die Interpretation der vorhandenen Daten eine sehr komplexe und schwierige An­ gelegenheit. Das übliche Verständnis von Reinkarnation als einem sich wiederho­ lenden Zyklus von Leben, Tod und Wiedergeburt ist eine vernünftige Folgerung aus dem vorhandenen Belegmaterial. Es ist sicherlich eine viel bessere Einstellung als die Haltung, die die meisten traditionellen Psychologen und Psychiater diesem Thema gegenüber einnehmen. Entweder kennen sie sich in den vorhandenen Da­ ten nicht aus, oder sie ignorieren sie und klammern sich an die etablierte Denk­ weise. Während die Beobachtungen, welche Reinkarnation nahe legen, sehr ein­ drücklich sind, kann man sich doch leicht auch Alternativen zur Deutung dersel­ ben Daten vorstellen. Natürlich deckt sich jedoch keine davon mit dem monistisch-materialistischen Paradigma der westlichen Wissenschaft. Mindestens zwei solche Erklärungsalternativen finden sich schon in der spirituellen Literatur. In der Hindu-Tradition wird der Glaube, dass es separate Individuen sind, die sich reinkarnieren, als ein sehr volkstümliches und undifferenziertes Verständnis von Reinkarnation angesehen. Im letzten Sinne gibt es nämlich nur ein Wesen, das wahre Existenz besitzt, und das ist Brahman - oder das kreative Prinzip selbst. Alle Individuen aller Seinsdimensionen sind nur Produkte der unendlichen Metamorphosen dieses einen immensen Wesens. Da alle Unterteilungen und Grenzen im Universum illusorisch und zufällig sind, reinkarniert in Wirklichkeit nur Brahman. Alle Protagonisten im göttlichen Spiel der Existenz sind die ver­ schiedenen Aspekte dieses Einen. Wenn wir dieses ultimative Wissen erlangen, können wir sehen, dass unsere Erfahrungen vergangenen Inkarnationen nur eine

246

weitere Ebene von Illusion oder von Maya ist. Diese Leben als «unsere Leben» an­ zusehen setzt voraus, dass wir die karmischen Spieler als separate Individuen be­ trachten, und offenbart unsere Unwissenheit in Bezug auf die fundamentale Ein­ heit von allem. Sri Ramana Maharshi drückte die paradoxe Beziehung zwischen dem kreati­ ven Prinzip und den Elementen der materiellen Welt kurz und prägnant so aus: die Welt ist illusorisch Brahman allein ist wirklich Brahman ist die Welt In seinem Werk L ifecycles : R einkarnation and the W eb of L ife diskutiert Christophcr Bache ein weiteres interessantes Konzept der Reinkarnation, dem er in den Büchern von Jane Roberts (1973) und in Werken anderer Autoren begegnele. Bei diesem liegt die Betonung weder auf der individuellen, getrennten Bewusstseinseinheit noch auf Gott, sondern auf der Überseele, eine Entität, die zwi­ schen diesen beiden liegt. Wenn der Ausdruck Seele sich auf das Bewusstsein be­ zieht, das die Erfahrungen einer individuellen Inkarnation sammelt und integriert, dann bezeichnet die Überseele das umfassendere Bewusstsein, das die Erfahrun­ gen vieler Inkarnationen sammelt und integriert. Danach ist es die Überseele, die inkarniert, und nicht die individuelle Bewusstseinseinheit. Bache weist darauf hin, dass, auch wenn wir Weiterführungen unserer frühe­ ren Leben sind, wir deswegen nicht die Summe all derjenigen Erfahrungen sind, die in diesen enthalten sind. Der Grund, warum die Überseele inkarniert, hat mit dem Sammeln von ganz spezifischen Erfahrungen zu tun. Ein volles Eintauchen in ein bestimmtes Leben verlangt die Trennung der Verbindung zur Überseele und die Annahme einer separaten Identität. Zur Zeit des Todes geht das separate In­ dividuum wieder in der Überseele auf und lässt nur ein Mosaik nicht assimilierter, schwieriger Erfahrungen zurück. Diese werden dann in einem Vorgang, der mit dem Austeilen der Karten bei einem Kartenspiel verglichen werden kann, den Le­ ben anderer inkarnierter Wesen zugeteilt. In diesem Modell gibt es keine wirkliche Kontinuität zwischen den Leben der Individuen, die zu verschiedenen Zeiten inkarnieren. Indem wir die unverdauten Teile aus anderen Leben erfahren, bearbeiten wir nicht unser persönliches Karma, sondern klären das Feld der Überseele. Das Bild, das Bache zur Illustration der Beziehung zwischen der individuellen Seele und der Überseele braucht, ist das der Schale der Nautilusschnecke. Hier stellt jede Kammer eine separate Einheit dar und reflektiert eine bestimmte Periode im Leben des Weichtiers, aber sie ist auch in ein grösseres Ganzes integriert. Wir haben bislang drei unterschiedliche Arten der Interpretation von Beob­ achtungen im Zusammenhang mit Phänomenen vergangener Leben betrachtet. Die inkarnierenden Einheiten wurden entsprechend individuelle Bewusstseinsein­ heit, Überseele und absolutes Bewusstsein genannt. Wir haben jedoch noch nicht alle Möglichkeiten alternativer Erklärungen ausgeschöpft, welche für die beo­

247

bachteten Fakten verantwortlich sein könnten. Wegen der Zufälligkeit aller Be­ grenzungen im Universum könnten wir als inkarnierendes Prinzip genauso gut ei­ ne Einheit definieren, die grösser ist als die Überseele, zum Beispiel das Bewusst­ seinsfeld der gesamten menschlichen Gattung oder das aller Lebensformen. Wir können in unserer Analyse noch eine Stufe weiter gehen und die Faktoren untersuchen, welche die spezifische Wahl karmischer Erfahrungen bestimmen, die der inkarnierenden Bewusstseinseinheit zugeteilt werden. So kamen zum Beispiel einige Leute, mit denen ich zusammenarbeitete, zur überzeugenden Einsicht, dass ein wichtiger Faktor im Auswahlprozess die Beziehung zwischen karmischen Mus­ tern und der Zeit und dem Ort einer bestimmten Inkarnation mit ihren spezifi­ schen astrologischen Bezügen sein könnte. Diese Idee stimmt generell mit den Beobachtungen aus psychedelischen Sitzungen, holotropen! Atmen und sponta­ nen Fällen psychospiritueller Krisen überein. Sie zeigen, dass in all diesen Situa­ tionen Inhalt und Zeitpunkt der holotropen Zustände eng mit planetaren Tran­ siten verbunden sind. Eine ausführliche Behandlung dieses Themas findet sich in der akribisch dokumentierten Studie von Richard Tarnas (Tarnas, im Druck).

Erscheinungen von Toten und die Kommunikation mit ihnen Wir haben zuvor die Erfahrungen bei Begegnungen und Kommunikation mit Ver­ storbenen besprochen, die in zweierlei Situationen besonders häufig auftreten. Die erste tritt in den ersten paar Stunden nach dem Ableben der betreffenden Person ein: Sowohl Freunde wie auch Verwandte haben oft Erscheinungen des Verstor­ benen. Die zweite erfolgt zu einer Zeit, in der diese selbst dem Tod nahe stehen und Visionen eines «Empfangskomitees» haben. Aber das Erscheinen Verstorbe­ ner beschränkt sich nicht auf die beiden erwähnten Situationen. Sie können jeder­ zeit auftreten, entweder spontan oder während psychedelischer Sitzungen, im Zu­ sammenhang mit Selbsterfahrungstherapien oder mit Meditation. Natürlich müs­ sen gerade hier die Daten besonders sorgfältig und kritisch überprüft werden. Der Umstand, eine private Erfahrung dieser Art gehabt zu haben, bedeutet an sich nicht viel: Es kann sich leicht als Wunschdenken oder eine Halluzination ent­ puppen. Es müssen schon einige wesentliche Faktoren mit im Spiel sein, will man sie dem gültigen Indizien-Forschungsmaterial anfügen. Zum Glück haben einige der Erscheinungen gewisse Eigenschaften, die sie für den Forscher sehr interessant oder gar herausfordernd werden lassen. In der Literatur wird immer wieder von Fällen berichtet, in denen Verstorbene erschienen, die den wahrnehmenden Per­ sonen nicht bekannt waren, die jedoch später durch Fotografien und verbale Be­ schreibungen zuverlässig identifiziert werden konnten. Es ist auch nicht unge­ wöhnlich, dass Erscheinungen von einer ganzen Gruppe gleichzeitig wahrgenom­ men werden; oder nacheinander von vielen Individuen über einen längeren Zeit­ raum hinweg, wie dies in Spukhäusern oder Spukschlössern der Fall ist. In einigen Fällen weisen die Erscheinungen bestimmte körperliche Merkmale auf, die erst zur Zeit des Todes entstanden - ein Umstand, der der wahrnehmen­ den Person aber nicht bekannt war. Von besonderem Interesse sind die Fälle, in

248

denen der Verstorbene spezifische und präzise Informationen vermittelt, die bis dahin niemandem bekannt waren, die dann nachgeprüft und bestätigt werden kön­ nen oder zusammen mit einer aussergewöhnlichen Synchronizität auftreten. Ich selbst habe in der LSD-Therapie und beim holotropen Atmen mehrere bemer­ kenswerte Fälle dieser Art beobachtet. Hier sind drei Beispiele, die die Natur sol­ cher Beobachtungen illustrieren können. Das erste handelt von einer psychedelischen Therapiesitzung eines jungen, schwer depressiven Patienten, der mehrere Selbstmordversuche hinter sich hatte. Während dieser LSD-Sitzung hatte Richard eine sehr ungewöhnliche Erfah­ rung, die sich in einem fremdartigen und unheimlichen astralen Reich abspiel­ te. Dieser Ort war von einem schauerlichen Leuchten erfüllt und war voll von körperlosen Wesen, die versuchten, mit ihm auf eine aufdringliche und ag­ gressive Weise zu kommunizieren. Er konnte sie weder sehen noch hören; aber er spürte ihre Gegenwart auf fast greifbare Weise und erhielt telepathi­ sche Botschaften von ihnen. Ich zeichnete eine dieser Botschaften auf, die ei­ nen sehr spezifischen Inhalt hatte, der später verifiziert werden konnte. Die Botschaft enthielt den Wunsch, Richard möge sich mit einem Ehepaar in der mährischen Stadt Kromeriz in Verbindung setzen und ihm sagen, dass es ihrem Sohn Ladislav gut gehe und man sich bestens um ihn kümmere. Die Bot­ schaft enthielt den Namen des Ehepaares und die Telefonnummer; diese Da­ ten waren weder mir noch dem Patienten bekannt. Diese Erfahrung schien darum so rätselhaft, weil sie eine fremde Enklave in Richards Erfahrungsfeld darstellte, ohne jedwelchcn sichtbaren Bezug zu seinen Problemen und der späteren Behandlung. Nach der Sitzung beschloss ich, etwas zu tun, was mich zur Zielscheibe des Spotts meiner Kollegen gemacht hätte, hätten sie davon Wind bekommen. Ich ging zum Telefon, wählte die Nummer in Kromeriz und fragte, ob ich mit La­ dislav sprechen könnte. Zu meinem Erstaunen begann die Frau am anderen Ende der Leitung zu weinen. Nachdem sie sich beruhigt hatte, sagte sie mit ge­ brochener Stimme: «Unser Sohn ist nicht mehr bei uns; er ist gestorben; wir haben ihn vor drei Wochen verloren.» Das zweite Beispiel betrifft einen engen Freund und früheren Kollegen von mir, Walter N. Pahnke, der Mitglied unseres psychedeIischen Forschungsteams am Maryland Psychiatric Research Center in Baltimore war. Er interessierte sich sehr für die Parapsychologie, besonders jedoch für die Frage des Bewusstseins nach dem Tode, und arbeitete mit vielen bekannten Medien und Personen mit über­ natürlichen Kräften zusammen, unter anderem mit unserer gemeinsamen Freun­ din Eileen Garrett, der Präsidentin der amerikanischen parapsychologischen Ge­ sellschaft. Er war der Initiator des LSD-Programms für sterbende Krebspatienten am Maryland Psychiatric Research Center in Catonsville. Im Sommer 1971 fuhr Walter mit seiner Frau Eva und seinen Kindern in Ur­ laub zu einem Häuschen in Maine, das direkt am Ozean lag. Eines Tages schwamm er allein zum Tauchen aufs Meer und kehrte nicht mehr zurück. Trotz intensiver und gut organisierter Suche konnten weder sein Körper noch

249

seine Taucherausrüstung gefunden werden. Angesichts dieser Umstände fiel es Eva furchtbar schwer, seinen Tod zu akzeptieren und zu verarbeiten. Ihre letzte Erinnerung an Walter war die, wie er voller Energie und bei bester Ge­ sundheit das Häuschen verlassen hatte. Sie konnte einfach nicht glauben, dass er nicht mehr Teil ihres Lebens war, und fühlte sich ausserstande, einen neuen Lebensabschnitt zu beginnen, ohne den vorhergehenden richtig abgeschlossen zu haben. Da sie Psychologin war, konnte sie an einer LSD-Trainingssitzung für so­ zial Berufstätige, wie diese an unserem Institut über ein spezielles Programm angeboten wurden, teilnehmen. Sie entschloss sich zu einer psychedelischen Sitzung, in der Hoffnung, mehr Einsichten zu gewinnen, und bat mich, sie zu begleiten. In der zweiten Hälfte der Sitzung hatte sie plötzlich eine äusserst lebhafte Vision von Walter und führte lange Zeit ein telepathisches Gespräch mit ihm. Er gab ihr spezielle Instruktionen in Bezug auf ihre drei Kinder und forderte sie auf, ein neues Leben zu beginnen, das nicht durch die Erinne­ rung an ihn belastet war. Dieses Erlebnis berührte sie sehr und war zutiefst be­ freiend. Gerade als Eva sich zu fragen begann, ob diese ganze Episode nicht ledig­ lich eine Wunschfantasie war, erschien ihr Walter nochmals kurz mit der Bitte, sie möge einem seiner Freunde ein geliehenes Buch zurückgeben. Er nannte ihr den Namen des Freundes und das Zimmer, in dem sich das Buch befand, dessen Titel sowie den genauen Platz, an dem es sich befand. Mit Hilfe der An­ weisungen konnte Eva das Buch, von dessen Existenz sie zuvor keine Ahnung gehabt hatte, tatsächlich finden und es dem Freund zurückgeben. Kurt, einer der Psychologen, die an unseren dreijährigen Trainingsprogramm in transpersonaler Psychologie und holotropem Atmen teilnahmen, hatte eine Viel­ falt transpersonaler Erlebnisse seiner Kollegen miterlebt und auch selbst einige gehabt. Trotzdem blieb er in Bezug auf die Authentizität solcher Phänomene sehr skeptisch. Während einer holotropen Sitzung ergab sich dann folgende, un­ gewöhnliche Synchronizität, die ihn davon überzeugte, dass er in seiner Einstel­ lung, was die Natur des menschlichen Bewusstseins betrifft, zu konservativ gewe­ sen war. Gegen Sitzungsende hatte Karl plötzlich das absolut sichere Gefühl, dass er seiner Grossmutter begegne, die viele Jahre zuvor verstorben war. In seiner Kindheit hatte er ihr sehr nahe gestanden, und die Möglichkeit, jetzt wieder mit ihr kommunizieren zu können, bewegte ihn zutiefst. Trotz seines tiefen emotionalen Engagements in diesem Moment behielt er seine berufliche Skepsis der Situation und der Begegnung gegenüber doch bei. Da er viel Kon­ takt mit seiner Grossmutter gehabt hatte, als sie noch lebte, vermutete er, dass sein Geist aus diesen Erlebnissen unschwer eine imaginäre Begegnung kreie­ ren konnte. Die Begegnung mit seiner toten Grossmutter war emotional jedoch dermassen tief greifend und überzeugend, dass er sie nicht einfach als Fantasie oder Wunschdenken abtun konnte. Er beschloss, nach Beweisen zu suchen,

250

die belegen konnten, dass seine Erfahrung real gewesen war und nicht seiner Imagination entsprang. Er fragte seine Grossmutter nach einer Art Bestäti­ gung, die die Realität dieses Geschehens bezeugen konnte, und erhielt folgen­ de Botschaft: «Geh zu Tante Anna und halte nach geschnittenen Rosen Aus­ schau.» Immer noch skeptisch, entschied er sich am folgenden Wochenende zu einem Besuch seiner Tante Anna, um zu sehen, was sich da ereignen würde. Bei seiner Ankunft fand Kurt seine Tante im Garten, umgeben von frisch geschnittenen Rosen. Er war verblüfft. Der Tag seines Besuchs war ausge­ rechnet derjenige Tag des Jahres, an dem seine Tante sich vorgenommen hat­ te, ihre Rosen radikal zurückzustutzen. Wie diese Beispiele sind auch andere Beobachtungen dieser Art sicher kein defi­ nitiver Beweise für die objektive Existenz astraler Reiche und körperloser Wesen. Die erstaunlichen Synchronizitäten jedoch, die oft damit einhergehen, öffnen uns die Augen dafür, wie der Glaube daran entstanden sein könnte und warum man­ che Leute so unerschütterlich und überzeugt daran festhalten. Die heutige gängige Geringschätzung solcher Phänomene, die als Erzeugnisse von Aberglauben und Wunschdenken abgetan werden, ist schlicht fehl am Platz. Dieses faszinierende Gebiet verdient es, von Bewusstseinsforschern ernsthaft untersucht zu werden. Von speziellem Interesse sind die quasi-experimentellen Beweise, die aus dem hochgradig kontroversen Gebiet der spiritistischen Seancen und des Trance-Mediumismus kommen und ebenfalls ein Überleben des Bewusstseins nahe legen. Obwohl einige Berufsmedien, darunter die berühmte Eusapia Palladino, manch­ mal beim Mogeln erwischt wurden, überstanden andere wie Mrs. Piper, Mrs. Leo­ nard und Mrs. Verall alle Tests und erlangten hohes Ansehen als sorgfältige und ehrbare Forscherinnen (Grosso 1994). Die besten Medien konnten in ihren Vor­ führungen Stimme, Sprechweise, Gestik, Manieren und andere charakteristische Einzelheiten der Verstorbenen genau wiedergeben, auch wenn sie die verstorbe­ nen Personen nicht gekannt hatten. Zuweilen waren die erhaltenen Informationen weder den Anwesenden noch irgendeiner lebenden Personen überhaupt bekannt. Und in gewissen Situationen begannen sich ungeladene, störende Wesenheiten einzumischen, deren Identität später von verschiedenen Personen bestimmt wurden. In anderen Fällen konnten bedeutende Botschaften in «Proxy sittings» empfangen werden; eine an einem an­ deren Ort weilende und uninformierte Person versucht dabei, an Stelle eines na­ hen Verwandten oder Freundes des Verstorbenen, Informationen zu erhalten. Im Fall von «Über-Kreuz-Entsprechungen» werden einzelne Teile einer zusammen­ hängenden Botschaft via mehrere Medien übermittelt. Eine interessante Erneuerung auf diesem Gebiet ist eine von Raymond Moo­ dy in R eunions : V isionary E ncounters with D eparted L oved O nes geschil­ derte «Technik». Moody hatte sich von einem griechischen unterirdischen Kom­ plex inspirieren lassen, der dafür bekannt war, dass dort die toten Verwandten und Freunde in einem grossen, mit Wasser gefüllten Kupferkessel geschaut werden konnten, und begann anschliessend die Literatur systematisch nach Kristallschau,

251

Wahrsagung und ähnlichen Phänomenen zu durchforsten. Er entwarf dann eine spezielle Umgebung und entwickelte eine Prozedur, die gemäss seinen Erkennt­ nissen die Möglichkeit einer visionären Begegnung mit verstorbenen geliebten Personen enorm verbessern konnten. Moody schildert Fälle, in denen die Erschei­ nungen tatsächlich aus dem Spiegel heraustraten und sich als dreidimensionale ho­ lografische Bilder frei durch den Raum bewegten (Moody 1993). Einige der spiritistischen Berichte strapazieren schon den Verstand eines durchschnittlichen westlichen Menschen, geschweige denn den eines traditionell geschulten Wissenschaftlers. So schliesst zum Beispiel die extreme Form spiritisti­ scher Phänomene, die «physische Medialität», Telekinese und Materialisationen mit ein. Dazu gehören die Levitation von Objekten und Menschen, das Bewegen von Objekten durch den Raum, die Manifestation ektoplasmatischer Formen und das unerklärliche, plötzliche Auftauchen von Schriftstücken oder Objekten («Ap­ port»), In der brasilianischen spiritistischen Bewegung vollführen Geistheiler Opera­ tionen, in denen sie ihre Hände oder Messer anscheinend von Geistern Verstorbe­ ner führen lassen. Bei diesen Eingriffen ist keine Narkosen vonnöten, und Wun­ den schliessen sich, ohne dass sie genäht werden müssen. Philippinische Geisthei­ ler, die auch Mitglieder der spiritistischen Kirche sind, führen ähnliche aussergewöhnliche Prozeduren durch. Solche Prozeduren sind einige Male von namhaften westlichen Forschern wie Walter Pahnke, Stanley Krippner oder Andrija Puharich untersucht und gefilmt worden. Eine besonders verblüffende Entwicklung unter den vielen Bemühungen, die das Kommunizieren mit Geistern Verstorbener zum Ziel haben, ist ein Ansatz, ge­ nannt instrumenteile Transkommunikation (ITC), der für seine Zwecke die mo­ derne elektronische Technologie zu Hilfe nimmt. Den Stein ins Rollen brachte im Jahr 1959 der skandinavische Filmemacher Friedrich Juergensen, als er auf einem Tonband, auf dem er in einem ruhigen Wald das Gezwitscher von Sperlingen auf­ genommen hatte, auch Stimmen von angeblich verstorbenen Personen registriert fand. Von Jürgensens Fund inspiriert, begann der Psychologe Konstantin Raudive mit einer systematischen Studie dieses Phänomens und nahm über 100000 para­ normale Stimmen in den verschiedensten Sprachen auf, welche angeblich Bot­ schaften aus dem Jenseits waren (Raudive 1971). Später bildete sich ein weltweites Netzwerk von Forschern - darunter Ernest Senkowski, George Meek, Mark Macy, Scott Rogo und Raymond Bayless-, die ei­ ne interdimensionale Kommunikation durch den Einsatz moderner Technologie zu erreichen suchen. Gemäss ihren Aussagen haben sie mittels elektronischer Me­ dien wie Tonband-, Telefon-, Fax- und Fernsehgeräte und Computer eine Vielzahl paranormaler Botschaften und Bilder von verschiedenen verstorbenen Personen erhalten. Unter den aus dem Jenseitigen kommunizierenden Geistern waren an­ scheinend auch einige Forschcr, die, noch zu Lebzeiten, auf diesem Gebiet tätig waren; so zum Beispiel Jürgensen und Raudive (Senkowski 1994). Eine körperlo­ se Wesenheit, die sich selbst «der Techniker» nennt, soll angeblich spezifische

252

technische Instruktionen und Ratschläge zur Herstellung von elektronischen Ap­ paraturen durchgegeben haben, die einen optimalen Empfang jenseitiger Bot­ schaften garantieren sollen. So fantastisch und unglaublich all diese Berichte über eine Kommunikation mit der Geisterwelt uns auch Vorkommen mögen, ist es andererseits doch auch un­ wahrscheinlich, dass Dutzende von kompetenten und angesehenen Forschern, darunter einige mit makellosen wissenschaftlichen Zeugnissen und Auszeichnun­ gen, sich von einem Gebiet angezogen fühlen sollen, das keinerlei echten, erforschenswürdigen Phänomene anzubieten hat. Zu den interessierten Personen, die sich ernsthaft mit dem Spiritismus auseinander setzen, gehören auch hochkarätige Wissenschaftler, die den Nobelpreis gewonnen haben. Es gibt sicherlich kein an­ deres Gebiet, in welchem die Stellungnahmen und Meinungsäusserungen promi­ nenter Wissenschaftler so leichtfertig vom Tisch gewischt oder gar zum Gespött gemacht werden.

Psychedelische Therapien bei unheilbar Kranken In den letzten drei Jahrzehnten konnten wir eine rasante Zunahme von Wissen zum Thema Tod und Sterben beobachten. Thanatologen haben Nahtoderlebnisse systematisch studiert und die gewonnenen Informationen sowohl Fachleuten wie auch interessierten Laien zugänglich gemacht. Bewusstseinsforscher und Thera­ peuten haben gezeigt, dass die Erinnerungen an lebensbedrohliche Erlebnisse, be­ sonders an das Geburtstrauma, in der Psychogenese der emotionalen und psycho­ somatischen Störungen eine entscheidende Rolle spielen. Sie haben auch erkannt, dass die psychologische Konfrontation mit dem Tod in einem therapeutischen Umfeld tief heilend und transformierend sein kann. Viel hat sich auch im Bereich der Pflege von Patienten im Endstadium verän­ dert. Die Pionierarbeit von Elisabeth Kübler-Ross machte die Mediziner auf die emotionalen Bedürfnisse der sterbenden Patienten aufmerksam und liess sie er­ kennen, wie absolut wichtig und notwendig es ist, dass ihnen eine kompetente Un­ terstützung gewährt wird (Kübler-Ross 1969). Das wachsende Netzwerk von Hos­ pizen, das Resultat der von Cicely Saunders am St. Christopher’s-Spital in London 1967 initiierten Bemühungen, die Pflege Sterbender humaner zu gestalten (Saun­ ders 1967), hat die Situation vieler todkranker Patienten enorm verbessert. Die Hospizidee hat wesentlich dazu beigetragen, eine entspanntere und familiärere Atmosphäre, mit Betonung auf menschlicher Wärme, Mitgefühl und emotionaler Unterstützung, zu schaffen. In den späten Sechzigern und frühen Siebzigern hatte ich das Privileg, während mehrerer Jahre an einem Forschungsprogramm der psychedelischen Psychothera­ pie für sterbende Krebspatienten teilzunehmen, zweifelsohne der radikalste und interessanteste Versuch, der in dieser Richtung - das Leiden unheilbar Kranker zu lindern und ihre Sterbenserfahrung zu transformieren - bisher unternommen wor­ den ist. Mitcrlcbcn zu können, wie die Einstellung gegenüber Tod und Sterben sich bei so vielen todkranken Krebspatienten von Grund auf veränderte, nachdem

253

sie profunde mystische Erfahrungen gemacht hatten, gehört zu den bewegendsten Erfahrungen meines Lebens. Unglücklicherweise machten die aus dem unbeaufsichtigten Gebrauch von LSD resultierenden politischen und administrativen Schwierigkeiten es unmög­ lich, dass diese aussergewöhnliche Methode auch Patienten anderer Spitäler und Hospize in einem grösseren Rahmen zugänglich gemacht werden konnten. Es bleibt die Hoffnung, dass in der Zukunft - wenn die momentan herrschende Hys­ terie in Bezug auf psychedelische Substanzen nachlässt und die administrative Po­ litik aufgeklärter ist - todkranke Patienten auf der ganzen Welt von den Erkennt­ nissen aus der Maryland-Studie profitieren und dem Tod mit weniger Schmerz und mehr Gleichmut und Würde begegnen können. Die Idee, dass psychedelische Substanzen in der Therapie von todkranken Krebspatienten von Nutzen sein könnten, entwickelte sich unabhängig voneinan­ der in den Köpfen mehrerer Forscher. Der erste Vorschlag dazu kam von der rus­ sisch-amerikanischen Kinderärztin Valentina Pavlovna Wasson. Nach Jahren in­ tensiver ethnomykologischer Studien fanden sie und ihr Mann, Gordon Wasson, Berichte in der Literatur, die den Gebrauch psychedelischer Pilze in vorkolumbia­ nischen Kulturen erwähnten, worauf sie mehrere Reisen nach Mexiko unternah­ men, um diesen Hinweisen nachzugehen. Nach mehreren Anläufen fanden sie schliesslich eine mazatekische Curandera (Heilerin), Maria Sabina, welche die Geheimnisse der magischen Pilze kannte. Im Juni 1955 wurden die Wassons als erste «Westemers» zu einer Velada zugelassen, einem Ritual mit heiligen Pilzen. In einem Interview, das sie zwei Jahre später gab, schilderte Valentina Pavlovna ihr gewaltiges Erlebnis und meinte, dass die Droge, sobald sie besser bekannt sei, medizinisch zum Einsatz käme und beispielsweise bei der Therapierung von Geisteskrankheiten, Alkoholismus, Drogensucht und bei der Behandlung von Todkranken mit schweren Schmerzen angewendet würde (Wasson 1957). Die zweite Person, welche psychedelische Substanzen für Sterbende empfahl, war nicht ein Arzt, sondern der Philosoph und Schriftsteller Aldous Huxley. Er in­ teressierte sich nicht nur für die mystischen Erfahrungen, die durch die psychede­ lischen Substanzen ausgelöst wurden, sondern auch für die Probleme, die mit Tod und Sterben zusammenhingen. 1955, als seine an Krebs erkrankte erste Frau Ma­ ria im Sterben lag, wandte er eine Hypnosetechnik an, um sie in Kontakt mit den Erinnerungen an mehrere spontane ekstatische Erfahrungen zu bringen, die sie während ihres Lebens gehabt hatte. Die erklärte Absicht dieses Experiments war, ihr durch den induzierten mystischen Bewusstseinszustand den schwierigen Über­ gang zu erleichtern. Dieses Erlebnis stand Pate für Huxleys Beschreibung einer ähnlichen Situation in seinem Roman E iland («Island»), wo die Moksha-Medizin, ein Präparat aus magischen Pilzen, dazu benutzt wird, um Lakshmi, einer der zent­ ralen Figuren, zu helfen, dem Tod zu begegnen (Huxley 1963). ln einem Brief an Humphrey Osmond, Psychiater und Pionier der psychedeli­ schen Forschung, der Huxley mit LSD und Meskalin bekannt gemacht hatte,

254

schrieb er: «Meine eigene Erfahrung mit Maria hat mich davon überzeugt, dass die Lebenden sehr viel für die Sterbenden tun können, um den Akt der menschlichen Existenz, der von allen der physiologischste ist, auf die Ebene des Bewusstseins und vielleicht sogar der Spiritualität anzuheben.» In einem anderen Brief an Humphrey Osmond, den er schon 1958 schrieb, schlug Huxley eine ganze Anzahl von Anwendungen vor, die er für LSD vorgesehen hatte, darunter: «Und noch ein Projekt - der Einsatz von LSD bei Krebs im Endstadium, in der Hoffnung, dass dies das Sterben mehr zu einem spirituellen und weniger zu einem physiologischen Prozess macht». 1963, als Huxley, mittlerweile selbst an Krebs erkrankt, im Sterben lag, de­ monstrierte er, wie ernst ihm mit diesem Vorschlag war. Mehrere Stunden vor sei­ nem Tod bat er seine zweite Frau Laura, ihm 100 Mikrogramm LSD zu verabrei­ chen, um seinen Sterbeprozess zu erleichtern. Diese bewegende Erfahrung hat Laura Huxley später in ihrem Buch D ieser zeitlose M oment («This Timeless Moment») beschrieben (Huxley 1968). Aldous Huxleys Vorschlag, obgleich durch sein eigenes Beispiel mutig und überzeugend illustriert, hatte während mehrerer Jahre keinerlei Einfluss auf die medizinischen Forscher. Der nächste Beitrag zu diesem Gebiet kam aus einer unerwarteten Ecke und hatte keine Verbindung mit dem Denken und den Schriften Huxleys. In den frühen Sechzigerjahren untersuchte Eric Kast von der Chicago Medical School, auf der Suche nach einem guten und verlässlichen Analgetikum, mehrere Drogen in Bezug auf ihr Schmerzlinderungspotenzial. Im Verlauf seiner Suche nach geeigneten Kandidaten begann er sich auch für LSD zu interessieren. In einer 1963 publizierten Schrift kommentierten Kast und Collins die Resultate eines For­ schungsprojekts, in welchem die Wirkung von LSD mit der von zwei starken, eta­ blierten Betäubungsmitteln - den Opiaten Dilaudid und Demerol - verglichen wurde. Eine statistische Analyse der Ergebnisse zeigte, dass die analgetische Wir­ kung von LSD besser war als diejenige der beiden Opiate (Kast 1963, Kast und Collins 1964). Zusätzlich zur Schmerz lindernden Eigenschaft, stellten Kast und Collins fest, zeigten einige Patienten nach erfolgter LSD-Erfahrung eine auffallende Gleich­ mut ihrem ernsten Zustand gegenüber. Sie sprachen oft über ihren nahen Tod, mit einer emotionalen Einstellung, die für unsere Kultur untypisch ist; doch es war of­ fensichtlich, dass diese neue Perspektive im Hinblick auf ihre Situation segensreich war. ln einer späteren Studie bestätigten dieselben Autoren ihre ursprünglichen Resultate bezüglich der analgetischen Wirkung von LSD. Der Schmerz lindernde Effekt hielt im Schnitt etwa zwölf Stunden an, bei einigen Patienten hielt die Wir­ kung mehrere Wochen lang an. Bei vielen Patienten wandelte sich auch ihre phi­ losophische und spirituelle Einstellung dem Sterben gegenüber: «glückliche ozea­ nische Gefühle», und ihre gesamte geistig-seelische Verfassung verbesserte sich (Kast und Collins 1966). In den oben genannten Studien wurde den Patienten das LSD verabreicht, oh­ ne sie vorher über dessen Wirkungsweise zu informieren, und sie erhielten auch

255

keine psychologische Unterstützung während der Sitzungsdauer. Kast interpre­ tierte die Veränderung der Einstellung dem Tod gegenüber nach psychoanalyti­ schen Gesichtspunkten als eine «Regression in den Zustand infantiler Omnipotenz» und als ein «psychologisches Verdrängen der ernsten Situation» statt als re­ elle Wandlung der philosophischen und spirituellen Ansichten. Obwohl die Studi­ en und die Interpretationen in den Augen von LSD-Therapeuten gewisse Mängel aufweisen mögen, die Pionierarbeit Kasts ist vom historischen Wert her unbestrit­ ten. Nicht nur hat er die analgetische Qualität von LSD entdeckt, sondern er er­ brachte auch die ersten experimentellen Beweise für die Ideen Valentina Pavlovnas und Aldous Huxleys. Die viel versprechenden Resultate der Studien von Kast und Collins inspirier­ ten Sidney Cohen - ein prominenter Psychiater aus Los Angeles, Freund von Al­ dous Huxley und einer der Pioniere der psychedeIischen Forschung - dazu, ein psychedelisches Therapieprogramm für Krebspatienten im Endstadium zu starten. Cohen bestätigte Kasts Erkenntnis, dass LSD selbst bei starken Schmerzen stark lindernd wirkt, und machte deutlich, wie wichtig das Entwickeln von Techniken sei, die die Erfahrung des Sterbens verändern könnten (Cohen 1965). Sein Mitar­ beiter Gary Fisher, der diese Studien fortführte, unterstrich die grosse Bedeutung, welche transzendentale Erlebnisse für die Behandlung Sterbender innehaben, ob diese nun spontan auftreten, aus spirituellen Praktiken resultieren oder durch psy­ chedelische Substanzen ausgelöst werden (Fisher 1970). Eine andere Reihe von Beobachtungen, die später in die Theorie und Praxis der psychedelischen Therapie für Sterbende integriert wurden, wurde im Psychia­ trischen Forschungsinstitut in Prag untersucht. Dort leitete ich in den Sechziger­ jahren ein Forschungsprojekt, welches das therapeutische und heuristische Poten­ zial von LSD und anderen psychedeIischen Substanzen zu ergründen suchte. Während dieser Arbeiten konnte ich wiederholt beobachten, wie sich der klinische Zustand der Patienten erheblich verbesserte, nachdem sie eine machtvolle Todund-Wiedergeburts-Erfahrung erlebt hatten. Patienten berichteten nach solchen Erfahrungen, dass, abgesehen von der Bes­ serung der verschiedenen emotionalen und psychosomatischen Symptome, sich oft auch ihre Vorstellung vom Tod und ihre Einstellung dazu von Grund auf gewan­ delt hatten. Dies traf auch für zwei Patienten zu, die an Thanatophobie gelitten hatten, einer pathologischen Angst vor dem Tod. Da diese Testpersonen sich an­ sonsten bester Gesundheit erfreuten, wurde ich neugierig, ob sich bei unheilbar Kranken, denen der Tod unmittelbar bevorstand, wohl dieselben Veränderungen einstellen würden. Ich führte mit mehreren dieser schwer kranken Patienten LSDSitzungen durch und war von den Resultaten tief beeindruckt. Ich war eben im Be­ griff, ein spezielles Forschungsprogramm, das dieser Frage weiter nachgehen soll­ te, in Angriff zu nehmen, als ich ein Angebot für ein einjähriges Forschungsstipendium in den Vereinigten Staaten erhielt. Ich war ziemlich verblüfft, als während der ersten Sitzung des Forschungs­ teams im Spring Grove, nur kurz nach meiner Ankunft in Baltimore, die Anwen­

256

dung der LSD-Therapie bei Krebspatienten debattiert wurde. Die Idee, ein spezi­ elles Forschungsprojekt dieser Art zu beginnen, wurde geboren, als eine unserer Mitarbeiterinnen einen traurigen Bescheid erhielt. Bei Gloria, einer Frau mittle­ ren Alters, die unter ihren Kollegen äusserst beliebt war, war Brustkrebs diagnos­ tiziert worden. Der Krebs hatte schon Metastasen gebildet, und die Prognose war dementsprechend schlecht. Sie fiel in tiefe Depressionen und hatte grosse To­ desängste. Das Spring-Grove-Team war damals mit einer gross angelegten Studie be­ schäftigt, in deren Rahmen chronische Alkoholiker therapiert wurden; unter an­ derem mit LSD. Die Symptome, die am meisten auf die psychedelische Therapie reagierten, waren Depressionen und Angstzustände. Die Auswertung erfolgte nach dem Minnesota Multiphasic Personality Inventory (MMPI). Sidney Wolf, ei­ ner der LSD-Therapeuten, regte an, dass man bei der Kollegin vielleicht einen Versuch mit dieser Methode wagen könnte. Vielleicht würden auch in ihrem Fall Depressionen und Angstzustände auf die LSD-Therapie ansprechen, obwohl die­ se bei ihr klar reaktiver Natur waren und die verzweifelte Lebenssituation wider­ spiegelten. Das Resultat des Sidney-Wolf-Experiments war derart ermutigend, dass das Forschungsteam nun ernsthaft plante, mit einer ganzen Gruppe ausge­ suchter Krebspatienten eine spezielle Studie zu beginnen. Wesentlich in diesem Zusammenhang ist der glückliche Umstand, dass Ende 1967 auch Walter Pahnke zum Spring-Grove-Team stiess. Walter trug wesentlich dazu bei, dass das anfängliche Interesse der Mitarbeiter erst zu einer Pilotstudie und schliesslich zu einem ganzen Forschungsprojekt gedieh. Er war Arzt, Absol­ vent der Harvard Medical School, mit einem zusätzlichen Doktor in vergleichen­ den Religionswissenschaften und einem Abschluss in Theologie. Es ist schwierig, sich einen idealeren Rahmen für die psychedelische Therapierung Krebskranker vorzustellen als diese Kombination von Medizin, Psychologie und Religion. Mit ungewöhnlicher Energie, Enthusiasmus und Hingabe übernahm Walter in dem Projekt, das die Anwendung der LSD-Therapie bei Krebspatienten erforsch­ te, die generelle Leitung. Es gelang ihm, von der Mary-Reynold-Babcock-Stiftung (Winston/Salem-Zigaretten) finanzielle Unterstützung zu erhalten, und startete später noch ein weiteres, ähnliches Projekt, in welchem an die Stelle von LSD das kurzzeitig wirkende psychedelische Di-Propyl-Tryptamin (DPT) gesetzt wurde. Leider verschwand Walter, bevor er das Projekt zu Ende führen konnte, als er im Atlantik in der Nähe seines Sommerhäuschens in Maine tauchen ging. Wie ich an früherer Stelle in diesem Kapitel beschrieben habe, wurden weder sein Körper noch seine Taucherausrüstung je gefunden, und sein Tod blieb ein Rätsel. Nach Walters Tod wurde die Leitung der psychedeIischen Forschung in Spring Grove mir übertragen, wobei die Krebsstudie mein wichtigstes Forschungsgebiet war. Das Projekt wurde erweitert und eine weitere psychedelische Substanz, das Methylen-Dioxy-Amphetamin (MDA), mit einbezogen. Als die Forschungen be­ endet waren, präsentierte ich die Resultate an einem Treffen der ThanatologieStiftung in New York City und veröffentlichte sie später in einem Buch, das ich zu­

257

sammen mit Joan Halifax schrieb: D ie B egegnung mit dem T od («The Human Encounter with Death», Grof und Halifax 1977). Die Spring-Grove-Studie der psychedelischen Therapie mit Krebspatienten geschah in Zusammenarbeit mit dem Maryland Psychiatric Research Center und der Abteilung Onkologie des Sinai-Spitals in Baltimore. Walter Pahnke und ich nahmen im Sinai jeweils einmal wöchentlich an den Mitarbeitertreffen und den Chefarztvisiten teil. Die dortigen Onkologen machten uns mit den Patienten be­ kannt, für die es medizinisch keine Hoffnung mehr gab und die an schweren Schmerzen, Depressionen und Todesangst litten. Walter und ich sassen dann mit ihnen zusammen und erläuterten unser Therapieprogramm. Wenn sie interessiert waren und eine Einverständniserklärung unterschrieben hatten, wurden sie ins Programm aufgenommen. Der Ablauf der psychedelischen Therapie war in drei Phasen unterteilt. Die erste, die Vorbereitungsphase, dauerte an die zwölf Stunden. In diesen ersten Sit­ zungen erforschten wir die Geschichte des Patienten und die gegenwärtige Situati­ on und versuchten, einen guten Kontakt mit ihm und seiner Familie zu schaffen. Wir wollten in Erfahrung bringen, was man ihm zu seiner Krankheit gesagt hatte, wie er auf die Situation reagierte und wie die Krankheit sein Leben beeinflusste. Ein wesentlicher Teil der Vorbereitungsphase galt der Beurteilung der zwischen­ menschlichen Situation in der Familie sowie der Art und Menge von «unerledig­ tem Kram». Die letzten zwei Stunden dieser Vorbereitungsperiode waren der Dis­ kussion der psychedelischen Sitzung gewidmet - der Wirkungsweise der Droge, den Erfahrungen, die auftauchen können, der (fakultativen) Körperarbeit und den verschiedenen Methoden für eine Integration und Vermittlung des Erlebnisses. Die zweite Phase der Behandlung war die psychedelische Sitzung selbst. Die übliche Dosierung bei LSD lag zwischen 300 und 500 Mikrogramm; bei Di-PropylTryptamin (DPT) - einer kurzzeitig wirkenden, LSD-ähnlichen Substanz - zwi­ schen 90 und 150 Milligramm, und bei Methylen-Dioxy-Amphetamin (MDA) zwi­ schen 100 und 150 Milligramm. Eine LSD-Sitzung dauerte normalerweise einen ganzen Tag, DPT- und MDA-Sitzungen mehr als einen halben Tag. Während die­ ser Zeit wurde der Klient von einer Therapeutin/einem Therapeuten und einer Kotherapeutin/einem Kotherapeuten betreut, immer eine Mann-Frau-Dyade. Die liegende Position, Augenbinde und Kopfhörer und (fast durchgehend gespielte) Hi-Fi-Musik helfen den Prozess zu verinnerlichen. Gemäss unserer Erfahrung ma­ ximiert die Verinnerlichung des Prozesses den Nutzen und minimiert das Risiko des Gebrauchs von psychedelischen Substanzen. Wenn die pharmakologische Wirkung der psychedelischen Substanz langsam nachliess, baten wir den Patienten, die Augen zu öffnen, sich aufzusetzen und uns kurz seine Erlebnisse mitzuteilen. Zu diesem Zeitpunkt kam, falls nötig, auch eine gezielte Körperarbeit zum Einsatz, die der Auflösung der verbliebenen energeti­ schen Blockaden diente. Sobald die intensiven inneren Erfahrungen nachliessen, baten wir die Freunde und Verwandte, die der Klient ausgewählt hatte, hereinzu­ kommen. Die «Familienzusammenkunft», die den Rest der Sitzung ausmachte,

258

war ein eminent wichtiger Teil des Prozesses. Dass die Patienten sich auch dann noch in einem holotropen Bewusstseinszustand befanden, erleichterte einen offe­ neren und ehrlicheren Austausch und ermöglichte das Auflösen der Konfusionen und Missverständnisse, welche in den zwischenmenschlichen Interaktionen zwi­ schen dem Sterbenden, der Familie und der medizinischen Belegschaft sehr oft Vorkommen. Die Zusammenkunft bot - meist zum allerersten Mal - die Möglichkeit, die Gefühle, die sowohl Patient wie Familie in Bezug auf die Krankheit, den bevorste­ henden Tod und auch zueinander hatten, offen zu diskutieren. Später folgte meist noch ein gemeinsames Essen, das wir aus einem chinesischen Restaurant anliefern liessen; diese Gerichte wiesen alle möglichen interessanten Geschmacksrichtun­ gen, Farben und Konsistenzen auf. Dies, zusammen mit der warmen menschlichen Umgebung und der Musik, half den Patienten, die positiven neuen Gefühle mit verschiedenen Aspekten des alltäglichen Lebens zu verbinden. Nach dem Essen blieben die Patienten für den Rest des Abends und der Nacht mit den Angehöri­ gen oder Freunden ihrer Wahl zusammen. Unsere Behandlungsräume waren se­ parate Einheiten mit Badezimmern und Kleinküchen, die über alles verfügten, was die Gäste brauchten. Für den folgenden Tag und die nächste Woche planten wir Gespräche - die Post session interviews - ein. Diese sollten dem Patienten dabei helfen, die Erfah­ rungen der Sitzung zu integrieren und die neuen Einsichten in ihr tägliches Leben einzubringen. Die Rahmenbedingungen dieses Forschungsprojekts erlaubten es uns, die Sitzung wenn nötig zu wiederholen. Aufgrund der Natur der Krankheit war der Zeitraum der Studie natürlich begrenzt, und im Gegensatz zu unseren an­ deren Projekten wurden uns hier auch keine Vorschriften bezüglich der Anzahl Sitzungen diktiert. Die Resultate wurden anhand von psychologischen Tests und einem speziell für diesen Zweck von Walter Pahnke und Bill Richards entwickelten Schema, der Emotional Condition Rating Scale (ECRS), bewertet. Die Werte in dieser Skala gehen von -6 bis +6 und geben den Grad an Depression, psychologischer Isolati­ on, Angst, Schwierigkeiten bei der Alltagsbewältigung, Angst vor dem Tod, Be­ schäftigung mit dem Tod und physischem Leiden an. Die Eintragungen wurden je­ weils einen Tag vor und drei Tage nach der psychedelischen Sitzung von den Ärz­ ten, Pflegern, Familienmitgliedern und LSD-Therapeuten vorgenommen. Die Auswertung dieser Studie ergab, dass bei etwa 30 Prozent der Patienten eine dramatische, bei etwa 40 Prozent eine mässige Besserung resultierte, bei den restlichen 30 Prozent blieb der Zustand im Wesentlichen unverändert. In den sel­ tenen Fällen, in denen die Werte nach der Sitzung tiefer waren, war der Unter­ schied minimal und statistisch gesehen irrelevant (Kurland etal. 1968; Richards et al. 1972). Die DPT-Studie zeigte signifikante Resultate und Tendenzen, was be­ stimmte individuelle Skalen anbetraf, doch im Allgemeinen konnte diese Studie nicht nachweisen, dass DPT in der psychedelischen Therapierung von Krebspati­ enten mit Erfolg das LSD ersetzen könnte (Richards 1975). Dies stimmte mit den

259

klinischen Einschätzungen und den Eindrücken der Therapeuten überein, die es praktisch einstimmig vorzogen, mit LSD zu arbeiten. ln einigen Gebieten wurden bedeutende therapeutische Veränderungen beob­ achtet. Am wenigsten überraschend waren die positiven Auswirkungen auf emo­ tionale Symptome wie Depressionen, Selbstmordtendenzen, Anspannung, Ängs­ te, Schlaflosigkeit und seelischer Rückzug - diese waren aus den anderen klini­ schen Studien bestens bekannt. Die Spring-Grove-Studie bestätigte des Weiteren die früheren Berichte von Kast und Collins, wonach LSD über ein beträchtliches Potenzial zur Schmerzlinderung verfügt, selbst in vielen Fällen, in denen Betäu­ bungsmittel wirkungslos waren. Die analgetische Wirkung war oft erstaunlich und erstreckte sich über mehrere Wochen oder gar Monate. sie war jedoch nicht Dosis-bezogen und zu wenig voraussagbar, als dass sie als ein allgemein verwendbares pharmakologisches Analgetikum hätte eingesetzt werden können. Diese Beobachtung gibt in mancher Hinsicht Rätsel auf: Sie kann durch die pharmakologische Wirkung der Droge allein nicht erschöpfend erklärt werden, ganz klar ist hier ein komplizierter Mechanismus involviert. Um diesen Umstand zu erklären, nahmen wir auf die «Gate-Control-Theorie des Schmerzes» von Ro­ nald Melzack Bezug (Melzack 1950; Melzack und Wall 1965). Gemäss dieser Theorie ist der Schmerz ein komplexes Phänomen, bei dem - nebst dem sensori­ schen Vermitteln der Information bei Gewebeschädigung und der motorischen Reaktion darauf - auch die Geschichte der früheren Schmerzen, die emotionelle Bewertung der Empfindungen, die Bedeutung des involvierten Leidens und die kulturelle Prägungen eine wesentliche Rolle spielen. Diese Faktoren unterscheiden sich natürlich, je nach Situation, auf signifikan­ te Weise voneinander - je nachdem, ob der Schmerz zum Beispiel im Zusammen­ hang mit einer progressiven Krankheit, einer schwierigen Geburt, dem Gefoltert­ werden in einem Gefangenenlager oder beim Sonnentanz der Lakota-Indianer empfunden wird. Wird LSD eingenommen, so spiegelt der resultierende Effekt auf den Schmerz die Interaktion zwischen dessen komplexer Wirkung auf die neurophysiologischen und psychospirituellen Prozesse und dessen ebenso komplexen Schmerzmechanismen wider. Das Endresultat bezieht also eine ganze Anzahl von Ebenen und Dimensionen mit ein, weshalb es sich nur schwer Voraussagen lässt. Die wichtigste und herausragendste Wirkung von LSD bei Krebspatienten war der tief greifende Wandel, den wir in Bezug auf ihr Verständnis vom Tod und ih­ rer - um ein Vielfaches verringerten - Angst davor beobachten konnten. Tiefe Er­ fahrungen von Tod und Wiedergeburt oder kosmischem Einssein, Erinnerungen an frühere Leben und andere Formen transpersonalen Bewusstseins scheinen die Angst vor dem physischen Tod zu nehmen. Die Tatsache, dass diese Erfahrungen derart überzeugend wirken auf Personen, die nur noch Monate, Wochen oder Ta­ ge zu leben haben, verdient ganz besondere Beachtung. Diese Erlebnisse werden in einem komplexen psychospirituellen, mythologischen und philosophischen Kontext erfahren und können kaum als momentane Selbsttäuschungen, die aus beeinträchtigten Hirnfunktionen resultieren, abgetan werden.

260

Psychedelische Erfahrungen, welche die perinatale und transpersonale Ebene erreichen, haben typischerweise auch einen tief greifenden Einfluss auf die Werte­ hierarchie und die allgemeine Lebenseinstellung des Patienten. Das Akzeptieren der Unbeständigkeit des Lebens und des Todes führt zur Einsicht, wie sinnlos und absurd grandiose Ambitionen und das Streben nach Reichtum, Status, Ruhm, Macht und anderen vergänglichen Werten ist. Diese Erkenntnis macht es zumin­ dest etwas einfacher, mit der Tatsache, dass die Beendigung der eigenen weltlichen Ziele und der Verlust aller weltlichen Güter uns unmittelbar bevorsteht, fertig zu werden. Eine weitere wichtige Veränderung hat mit unserer Betrachtung der «Zeit» zu tun. Vergangenheit und Zukunft verlieren an Bedeutung, was zählt, ist der gegenwärtige Augenblick: Wir leben «einen Tag nach dem anderen». Meist lässt sich auch eine Steigerung des Tatendrangs feststellen und die Ten­ denz, jeden Moment des Lebens zu schätzen und zu gemessen und sich an einfa­ chen Dingen wie Natur, Essen, Sex, Musik und menschlichem Beisammensein zu erfreuen. Typischerweise finden wir auch eine enorme Steigerung des spirituellen Interesses vor; dieses hat mystischen, universellen und ökumenischen Charakter und hat nichts mit der Zugehörigkeit zu einer spezifischen Kirche zu tun. In eini­ gen Fällen waren wir Zeuge, wie die traditionellen religiösen Glaubenssätze einer sterbenden Person von neuen Sinndimensionen erleuchtet wurden. Die positiven Auswirkungen der psychedelischen Therapie sind nicht nur für die sterbende Person, sondern auch für die Familie und ihre Freunde erfahrbar. Die Art, wie wir trauern und den Verlust empfinden, ist zutiefst von der Art und Schwere der Konflikte geprägt, die in der Beziehung zwischen den Hinterbliebe­ nen und der sterbenden Person vorhanden sind. Sich mit dem Tod eines Familien­ mitglieds abzufinden kann sehr viel schwieriger sein, wenn die Verwandten nega­ tive oder gemischte Gefühle haben in Bezug auf die Frage, ob sie sich der sterben­ den Person gegenüber richtig verhalten und ob die ganze Situation auch richtig gehandhabt wurde. Wenn Gelegenheiten fehlten, in denen die Liebe und das Mitgefühl dem Ster­ benden mitgeteilt und die Dankbarkeit für das Vergangene ausgedrückt werden konnten, und wenn es nicht möglich war, sich richtig zu verabschieden, so haben die Hinterbliebenen später mit Gefühlen von Unvollständigkeit, Unzufriedenheit und von Schuld zu kämpfen. Wenn ein Therapeut in diesem System aber eine Art Katalysatorfunktion einnehmen und dabei helfen kann, die Kanäle für einen hei­ lenden emotionalen Austausch und eine ehrliche Kommunikation zu öffnen, dann können Sterben und Tod für alle Beteiligten zu einer profunden spirituellen Er­ fahrung werden. Ich möchte das Potenzial der psychedelischen Therapie bei Krebspatienten anhand der Geschichte von Joan, Hausfrau, Mutter von vier Kindern und vorma­ liger Tänzerin, veranschaulichen. Zur Zeit der Behandlung war sie vierzig Jahre alt. Von ihren Kindern stammten zwei, eine siebzehnjährige Tochter und ein acht­ jähriger Sohn, aus ihrer ersten Ehe. Joan kümmerte sich auch um einen adoptier­ ten neunjährigen Knaben und einen ebenfalls neunjährigen Sohn aus der ersten

261

Ehe ihres Mannes. Ihr Krebs, ein äusserst bösartiges Karzinom, wurde im August 1971 diagnostiziert, nach einer langen Periode unbestimmter Schmerzen und vor­ übergehender Magen-Darm-Störungen. Joan wurde klar, dass sie nicht für den Rest ihres Lebens auf den Tod warten wollte. Sie wollte sich aktiv am therapeutischen Prozess beteiligen, egal, wie wenig Hoffnung für diese Bemühungen bestand. Nachdem ihr die Ärzte eröffnet hatten, dass medizinisch nichts mehr für sie getan werden konnte, schaute sich Joan eine Zeit lang nach Geistheilern und anderer unorthodoxer Hilfe um. Auf diesem We­ ge vernahm sie vom Spring-Grove-Programm für Krebsleidende und verabredete mit uns ein Treffen, um sich die Örtlichkeit anzuschauen, die beteiligten Personen kennen zu lernen und Genaueres zum Behandlungsprogramm zu erfahren. Zum ersten Interview kam Joan zusammen mit ihrem Mann Dick. Er war Pädagoge und stark von den negativen Pressemeldungen zu LSD beeinflusst. Da er sehr besorgt war, dass dieses sich nachteilig auswirken könnte, mussten wir ei­ nige Zeit aufwenden, um zu erklären, dass bei einem therapeutischen Einsatz von LSD das Gewinn-Risiko-Verhältnis ein drastisch anderes ist als bei frei durchge­ führten, unbegleiteten Selbstexperimenten. Nachdem dieses Problem geklärt war, nahmen sowohl Joan als auch Dick enthusiastisch am LSD-Programm teil. Die Vorbereitungen vor Joans erster Sitzung bestanden in mehreren Ge­ sprächen mit ihr allein und einem gemeinsamen Treffen mit ihr und Dick. Joan war sehr deprimiert und ängstlich. Ihre Lebensfreude war stark gesunken, und sie zeigte auch kaum mehr Interesse an Dingen und Aktivitäten, die ihr vor ihrer Krankheit so viel Freude bereitet hatten. Durch ihre Krankheit fühlte sie sich meist sehr angespannt und war reizbar geworden. Während unserer Vorbespre­ chungen waren ihre physischen Leiden immer noch auszuhalten. Sie hatte zwar unbestimmte Magen-Darm-Beschwerden, aber der Schmerz hatte noch nicht eine solche Intensität erreicht, dass ihr Leben dadurch unerträglich geworden wäre. Joan ahnte, dass ihre jetzigen Schwierigkeiten vor allem mit ihrer Angst vor der ungewissen Zukunft zusammenhingen und weniger mit ihrem gegenwärtigen Leiden. Was Diagnose und Prognose betraf, war sie sich ihrer Situation voll be­ wusst, und sie konnte offen über ihre Krankheit sprechen. Ihre Hauptsorge war, wie sie ihre Beziehung zu Dick und den Kindern zu einem würdevollen und ehrli­ chen Anschluss würde bringen können. Joan wollte, dass sie unbelastet, ohne Schuldgefühle, Zorn, Bitterkeit oder krankhaften Kummer ihr eigenes Leben wei­ terführen konnten, ohne die psychologische Bürde von Joans Tod mit sich tragen zu müssen. Erste LSD-Sitzung Ich begann die Sitzung mit einiger Angst und fand es sehr beruhigend, die Hände von Stan und Jewell zu halten. Etwa zwanzig Minuten nach der Ein­ nahme von 300 Mikrogramm LSD hatte ich ein Gefühl, als würde ich schwe­ ben und am ganzen Körper vibrieren. Während ich dem Zweiten Klavier­ konzert von Brahms lauschte, sah ich mich plötzlich in einer gigantischen Hal­ le eines futuristischen Überschallflughafens stehen, wo ich auf meinen Abflug

262

wartete. Die Halle war voll von Passagieren, alle extrem modern gekleidet; ein seltsames Gefühl von Aufregung und Erwartung schien die ungewöhnliche Menge zu durchdringen. Plötzlich hörte ich eine laute Stimme, die aus dem Lautsprechersystem des Flughafens drang: «Das Ereignis, das ihr jetzt erleben werdet, seid ihr selbst. Wie ihr feststellen könnt, ist es bei einigen von euch bereits im Gange.» Als ich mich unter meinen Mitreisenden umsah, bemerkte ich, wie sich ihre Gesichter eigenartig veränderten. Die Körper zuckten und nahmen eigenartige Stellun­ gen ein, sobald sie ihre Reise in die inneren Welten begannen. In diesem Mo­ ment nahm ich ein intensives, aber beruhigendes und tröstendes Summen wahr, eine Art Radiosignal; es führte mich durch die Erfahrung und gab mir ein sicheres Gefühl. Es schien, als würde mein Gehirn ganz langsam verbren­ nen und dabei seinen Inhalt Bild für Bild enthüllen. Das Bild meines Vaters erschien mit grösser Klarheit, und die Art unserer Beziehung wurde mit der Präzision eines chirurgischen Eingriffs analysiert und erforscht. Ich nahm das Bedürfnis meines Vaters wahr, dass ich etwas oder jemand sein sollte, das oder die ich nicht sein konnte. Ich realisierte, dass ich ich selbst sein musste, selbst wenn es ihn enttäuschen sollte. Ich wurde mir des gesamten Netzwerks der Bedürfnisse anderer Personen gewahr - der meines Gatten, meiner Kinder, meiner Freunde. Ich verstand, dass die Bedürfnisse anderer es mir schwieriger machten, die Tatsache meines nahen Todes zu ak­ zeptieren und mich dem Prozess hinzugeben. Dann vertiefte sich die Reise nach innen, und ich begegnete verschiedenen Furcht erregenden Monstern, den Bildern in der asiatischen Kunst nicht unähnlich - bösen Dämonen und hageren, hungrigen, surrealistischen Krea­ turen, alle von einer befremdlichen, grünen Leuchtfarbe. Als wäre die ganze Palette der Dämonen aus dem T ibetanischen Totenbuch auferweckt wor­ den und würde in meinem Kopf einen wilden Tanz aufführen. Wann immer ich mich auf sie zu bewegte und in sie eindrang, verschwand die Angst und das Bild veränderte sich in etwas anderes, meist etwas Angenehmes. In einem be­ stimmten Moment, da ich gerade wieder einige schleimige, bösartige Krea­ turen anschaute, realisierte ich plötzlich, dass sie die Produkte meines eigenen Geistes und Erweiterungen meiner selbst waren. Ich murmelte: «Hmm, okay ... das bin ich also auch.» Die Begegnung mit den Dämonen war von intensiver Atemnot und grös­ ser Angst begleitet, aber dies war von relativ kurzer Dauer. Als es zu Ende war, fühlte ich fantastische Mengen an Energie durch meinen Körper strömen. Ich dachte, dies sei so viel Energie, dass ein einzelnes Individuum sie unmög­ lich auffangen und effektiv einsetzen konnte. Mir wurde klar, dass ich derart viel Energie in mir hatte, dass ich sie im Alltagsleben verneinen, missbrauchen und auf andere Personen projizieren musste. Ich sah kurze Bilder meiner selbst in verschiedenen Lebensabschnitten - als Tochter, Liebhaberin, junge Gattin, Mutter, Künstlerin - und realisierte, dass sie nicht wirklich funktionie­ ren konnten, weil sie ungeeignete Gefässe für meine Energie waren. Der wichtigste Aspekt dieser Erfahrungen hatte mit meinen Einsichten zu Tod und Sterben zu tun. Ich sah das grossartige Sichentfalten des kosmischen

263

Plans in all seinen unendlichen Nuancen und Verzweigungen. Jedes einzelne Individuum stellte einen Faden im wunderbaren Gewebe des Lebens dar und spielte eine bestimmte Rolle. Alle diese Rollen waren für den zentralen Ener­ giekern des Universums gleichermassen notwendig; keine war wichtiger als die andere. Ich sah, wie die Lebensenergie nach dem Tod eine Verwandlung durchmachte und die Rollen neu verteilt wurden. Ich sah, dass meine Rolle in diesem Leben die einer Krebspatientin war und konnte und wollte dies akzep­ tieren. Eine andere Vision veranschaulichte die Dynamik der Reinkarnation, die ich intuitiv begriff. Sie wurde symbolisch als eine Ansicht der Erde dargestellt, mit vielen Pfaden, die in alle Richtungen gingen; sie sahen wie Tunnels in ei­ nem gigantischen Ameisenhaufen aus. Mir wurde klar, dass es viele Leben vor diesem gegeben hatte und es danach noch viele geben würde. Sinn und Aufga­ be unserer Existenz ist es, das zu erfahren und zu erforschen, was (auch im­ mer) uns im kosmischen Filmskript zugeteilt wird. Der Tod ist nur eine Episo­ de, eine vorübergehende Erfahrung in diesem grossartigen, ewigen Drama. Während der ganzen Sitzung hatte ich immer wieder Visionen von Bil­ dern, Skulpturen, Kunsthandwerk und architektonischen Werken aus ver­ schiedenen Ländern und Kulturen - aus dem alten Ägypten, Griechenland, dem Römischen Reich, aus Persien und Nord-, Süd- und Mittelamerika, bevor Kolumbus da Fuss fasste. Dies war von vielen Einsichten in das Wesen der menschlichen Existenz begleitet. Der unglaubliche Reichtum meiner Erfah­ rung liess mich erkennen, dass die Dimensionen meines Seins um vieles grös­ ser waren, als ich es mir je hätte vorstellen können. Was immer ich «die Welt» tun sah - ob sie feindliche Länder erfand, Ver­ nichtungskriege führte, Rassenhass schürte und zu Massenaufständen aufrief, ob sie korrupte politische Pläne schmiedete oder umweltverschmutzende Technologien erfand -, ich sah, dass ich daran beteiligt war, und sah, wie ich die Dinge, die ich in mir verneinte, auf andere Menschen projizierte. Ich mach­ te die Erfahrung von etwas, das ich als «reines Sein» empfand, und realisierte, dass es nicht verstanden werden konnte und keiner Rechtfertigung bedurfte. Und dadurch wurde mir bewusst, dass meine einzige Aufgabe darin bestand, diese Energie fliessen zu lassen statt «auf ihr sitzen zu bleiben», wie ich es ge­ wohnt war. Der Fluss des Lebens wurde bildhaft durch eine Vielzahl prächti­ ger Szenen von bewegtem Wasser, Fischen und Wasserpflanzen symbolisiert und von wunderbaren Tanzszenen, einige majestätisch und ätherisch, andere substanzieller. All diese Erlebnisse und Einsichten weckten in mir eine bejahende Hal­ tung gegenüber der Totalität des Seins und die Fähigkeit, was immer im Leben geschehen mochte, als letztlich richtig zu akzeptieren. Ich machte viele enthu­ siastische Bemerkungen zum unglaublichen kosmischen Witz und Humor, von welchem das Gewebe der Existenz durchdrungen war. Als ich zuliess, dass die Energie des Lebens durch mich hindurchfloss und ich mich ihr öffnete, vi­ brierte mein ganzer Körper voller Begeisterung und Freude. Nachdem ich die­ se neue Art zu sein eine Weile lang genossen hatte, rollte ich mich zusammen und verblieb in dieser angenehmen fötalen Position.

264

Etwa fünf Stunden nach Beginn der Sitzung beschloss ich, die Augenbin­ de abzunehmen, mich aufzusetzen und mit der Umgebung Kontakt aufzuneh­ men. Ich sass auf der Couch, in tiefem Frieden und vollständig entspannt, hör­ te Zen-Meditationsmusik und betrachtete eine einzelne Rosenknospe in einer Kristallvase, die auf dem Tisch stand. Ab und zu schloss ich wieder die Augen und kehrte in meine innere Welt zurück. Wie ich später auf den Videoaufnah­ men sehen konnte, strahlte mein Gesicht und zeigte den Ausdruck stiller Glückseligkeit, den man so oft auf den Buddha-Statuen sieht. Über längere Zeit hinweg empfand ich nur dieses wunderbar warme, nährende, golden leuchtende Licht, wie einen transzendentalen Regen flüssigen Goldes. Ich ent­ deckte eine Schale mit Trauben im Raum und ass einige davon. Sie schmeck­ ten wie Ambrosia, und die Stiele der Trauben sahen derart schön aus, dass ich ein paar davon zur Erinnerung mit nach Hause zu nehmen gedachte. Später am Nachmittag kam Dick zu uns in den Sitzungsraum. Wir fielen uns gleich in die Arme und hielten uns lange Zeit fest umarmt. Dick meinte, er fühle, wie ich eine enorme Energie ausstrahlte, die er als fast greifbares Energiefeld um meinen Körper herum wahrnahm. Wir wurden für etwa zwei Stun­ den allein gelassen, was wir enorm zu schätzen wussten. Es gab mir die Gele­ genheit, Dick an meinen Erlebnissen Anteil haben zu lassen. Zu den besten Erinnerungen, die ich von dieser Sitzung habe, gehört die Dusche, die wir zu­ sammen nahmen. Ich fühlte mich ungewöhnlich intensiv auf Dicks Körper und auch auf den meinen eingestimmt und hatte Empfindungen von exquisitester Sinnlichkeit, anders, als ich es zuvor je erlebt hatte. Später trafen wir uns alle zu einem gemeinsamen chinesischen Nachtes­ sen. Obwohl das Essen aus einem chinesischen Vorortsrestaurant in der Nähe kam und wahrscheinlich von durchschnittlicher Qualität war, schien es mir das beste Essen überhaupt gewesen zu sein. Ich konnte mich nicht erinnern, dass ich mich je an einem Essen, und an mir selbst, so gefreut hätte. Das Einzige, was meinen kulinarischen Genuss etwas dämpfte, war mein rationales Wissen, dass ich mich mit dem Essen, wegen meiner subtotalen Gastrektomie (partiel­ le Magenentfernung), zurückhalten musste. Den Rest des Abends verbrachten Dick und ich ruhig; wir lagen zusam­ men auf der Couch und hörten uns Stereomusik an. Dick war von meiner Of­ fenheit und all meinen Einsichten sehr beeindruckt. Er war überzeugt, dass ich Quellen echter kosmischer Weisheit angezapft hatte, welche ihm verschlossen waren. Er bewunderte den Tiefgang meiner Schilderungen und die spontane Zuversicht und Autorität, mit der ich über mein Erlebnis sprach. Ich war beschwingt, in strahlender Stimmung, und fühlte mich absolut frei von Ängsten. Meine Fähigkeit, Musik, Geschmäcke, Farben und die Dusche zu geniessen, war enorm gesteigert. Dick meinte, es sei ein reines Vergnügen, mit mir zusammen zu sein. Die Erfahrung wirkte derart ansteckend, dass er ebenfalls eine LSD-Sitzung machen wollte, und er beschloss, sich bezüglich ei­ ner möglichen Teilnahme am LSD-Trainingsprogramm für Fachleute, das am Maryland Psychiatric Research Center ebenfalls angeboten wurde, zu erkun­ digen.

265

Ich blieb lange auf und unterhielt mich mit Dick; in der Nacht wurde ich mehrere Male wach. Ich träumte, dass ich in einer Bibliothek arbeitete und vernahm, wie andere sagten: «Diese Zen-Sache macht überhaupt keinen Sinn.» Ich lächelte, weil ich wusste, dass sie zu einfach war, um für sie einen Sinn zu ergeben. Am Morgen nach der Sitzung fühlte ich mich erfrischt, entspannt und sehr auf die Welt eingestimmt. Dick legte Bachs Brandenburgische Konzerte auf, und dies erschien mir als absolut perfekt. Die Aussenwelt zeigte sich klar, hei­ ter und schön. Auf dem Weg nach Hause sah ich die Dinge so, wie ich sie noch nie gesehen hatte. Die Bäume, das Gras, die Farben, der Himmel - alles war eine reine Freude. Für die Dauer von etwa zwei Monaten fühlte sich Joan entspannt, beschwingt und optimistisch. Die psychedelische Erfahrung schien in ihr auch neue Bereiche mys­ tischer und kosmischer Natur erschlossen zu haben. Die religiösen Elemente, die sie in ihrer Sitzung erfahren hatte, transzendierten die engen Grenzen der tradi­ tionellen katholischen Religion, in welcher sie aufgewachsen war. Sie neigte nun zu einer universelleren Betrachtungsweise, wie man sie in Hinduismus und Bud­ dhismus findet. Während der Wochen, die auf die Sitzung folgten, fühlte sich Joan von derart viel Energie durchströmt, dass die betreuenden Ärzte zutiefst verblüfft waren. Sie fanden, dass ihre Energiereserven mit ihrem ernsten klinischen Zustand nicht übereinstimmen konnten, und waren überrascht, dass sie noch immer allein um­ hergehen und Auto fahren konnte. Sie zweifelten daran, dass sie die kommenden Sommerferien in Kalifornien würde verbringen können, wie die Familie es geplant hatte. Joan selber war jedoch zuversichtlich und meinte, es würde gehen. Die Zeit sollte ihr Recht geben, und der Aufenthalt in Kalifornien wurde für die ganze Fa­ milie eine Zeit von grösser Wichtigkeit und Bedeutung. Diese positive Entwicklung wurde Mitte Januar drastisch unterbrochen, als Jo­ an wegen fortgesetzten Aufstossens und Würgeanfällen ihren Arzt aufsuchte. Die­ ser entdeckte in der Gegend der Milz eine neue Masse, die er als eine metastati­ sche Wucherung identifizierte. Joan war sehr enttäuscht, als ihr nach diesem Be­ fund kein konkretes medizinisches Vorgehen vorgeschlagen wurde. Sie erkannte, dass die Ärzte sie aufgegeben hatten. Deshalb fanden sowohl Joan wie auch Dick, dass sie eine weitere psychedelische Sitzung versuchen sollte, und wir teilten ihre Meinung. Joan war sehr optimistisch, dass die Sitzung ihren emotionalen Zustand verbessern und ihre philosophischen und spirituellen Erkenntnisse vertiefen konn­ te. Sie spielte auch mit dem Gedanken, dass es die von ihr in der Ätiologie ihres Krebses vermutete psychosomatische Komponente beeinflussen könnte. Die zweite LSD-Sitzung fand im Februar 1972 statt. Da beim ersten Mal die Dosis von 300 Mikrogramm eine kraftvolle Wirkung erzielt hatte, entschieden wir uns, in dieser Sitzung dieselbe Menge einzusetzen. Im folgenden Bericht sind die wichtigsten Ereignisse ihrer Sitzung zusammengefasst:

266

Zweite LSD-Sitzung Diese Sitzung war sehr hart für mich. Sie unterschied sich fast komplett von der ersten: Schwarz und Weiss statt Farbe; persönlich statt kosmisch; traurig statt glücklich. Es gab einen kurzen Augenblick zu Beginn der Sitzung, da wähnte ich mich an einem universellen Ort oder Raum, und ich wusste wieder, dass das gesamte Universum in jedem von uns ist und dass unser Leben und unser Tod einen Sinn haben. Danach wurde die Erfahrung enger und viel per­ sönlicher. Der Tod war das Hauptthema meiner Sitzung. Ich sah mehrere Begräbnisszenen, die im näheren Umfeld von üppig aus­ staffierten oder von traditionellen Kirchen stattfanden, manchmal auf dem Friedhof, manchmal in einer Kirche mit einem Chor von vielen Menschen. Im Verlauf dieser Stunden weinte ich viel. Ich stellte auch viele Fragen und be­ antwortete sie, was zu letztlich unbeantwortbaren Problemen führte - dies wirkte dann komisch. Ich erinnere mich, wie ich am Anfang dachte: All diese Hässlichkeit ist eigentlich Schönheit. Im Laufe des Tages kamen mir andere Po­ laritäten in den Sinn - Gut und Böse, Sieg und Niederlage, Weisheit und Un­ wissenheit, Leben und Tod. Ich erlebte meine Kindheit wieder, sah aber keine spezifischen Szenen, sondern empfand sie nur als eine - sehr traurige - Grundstimmung. Vieles hat­ te mit frühen Gefühlen der Frustration und der Entbehrung zu tun, mit Hun­ ger und Entkräftung. Gedanken blitzten durch mein Hirn, ob eine Verbindung bestehen könnte zwischen diesen Erfahrungen und meinem Magengeschwür, das zu Krebs geworden war. Ich erinnere mich an das Gefühl, einmal für, wie mir schicn, lange Zeit im Regen gestanden zu haben. Und ich erinnere mich, wie ich, zusammen mit meinen Brüdern, von einer Show oder Zirkusvorstel­ lung zurückgewicscn wurde und wir beim Weggehen sehr traurig waren und nicht recht wussten, wohin wir gehen sollten. Der versteckte Hinweis zu mei­ ner jetzigen Situation ist offensichtlich - dass mir die weitere Teilnahme an der Show des Lebens verwehrt wird und ich der Ungewissheit des Todes gegen­ überstehe. Für lange Zeit (so kam es mir zumindest vor) war ich mit meiner Familie beschäftigt bzw. wie ich sie auf meinen Tod vorbereiten sollte. Es folgte eine Szene, in der ich, nachdem ich mich selbst vorbereitet hatte, es ihnen schliess­ lich sagte. In einer ganzen Reihe von Szenen sagte ich meinen Kindern Lebe­ wohl, auch meinem Mann, meinem Vater und anderen Verwandten sowie den Freunden und Bekannten. Ich tat dies jedes Mal auf andere Art, die Persön­ lichkeit und die sensitiven Punkte jedes Einzelnen berücksichtigend. Es gab viele Tränen, aber nach einer gewissen Zeit kamen Wärme und Freude auf. Am Ende versammelten sich alle, um sich um mich zu kümmern. Ich erinnere mich, wie sie warme und süsse Speisen zubereiteten. Danach ver­ brachte ich einige Zeit damit, mich von ihnen und von meinem Mann zu ver­ abschieden, und ich sah, dass liebevolle Menschcn sich um sie kümmern wür­ den. Ich verabschiedete mich auch von diesen und fühlte, dass etwas von mir in ihnen weiterleben würde. Gegen Ende der Sitzung gab es eine glückliche, gefühlswarme Szene, die ich, wie es mir schien, beobachtete, ohne ein Teil von ihr zu sein, und sehr ge-

267

noss. Erwachsene und Kinder spielten draussen im Schnee. Der Ort schien weit nördlich zu liegen. Alle waren gut eingepackt und hatten trotz der Kälte und des Schnees schön warm. Die Erwachsenen freuten sich über die Kinder und kümmerten sich um sie, und da war Gelächter und Spiel und ganz allge­ mein eine heilere Stimmung. Dann sah ich eine ganze Reihe von Stiefeln und wusste, dass die Füsse der Kinder da drin waren und warm hatten. Am Abend nach der Sitzung fühlte ich mich in gewisser Weise gut - konn­ te die Dinge auf mich zukommen lassen und war erfreut, Dick zu sehen. Trotz­ dem weinte ich den ganzen Abend lang immer wieder. Ich fühlte, dass ich mich und meine Situation realistisch sah, dass ich jetzt besser damit umgehen konn­ te, aber ich war immer noch sehr traurig. Ich wünschte, die Erfahrung hätte noch ein paar Stunden gedauert und ich hätte von der Traurigkeit zur Freude gefunden. Es stellte sich heraus, dass sich die zweite Sitzung für Joan schliesslich sehr positiv auswirkte. Sie versöhnte sich mit ihrer Situation und beschloss, sich für die ihr ver­ bleibende Zeit auf ihre spirituelle Suche zu konzentrieren. Nachdem sie mit ihrer Familie an der Westküste nochmals Ferien gemacht hatte, entschied sie sich dazu, von ihrem Mann und den Kindern Abschied zu nehmen. Sie meinte, dies würde ih­ nen den schmerzlichen Prozess ersparen, ihren progressiven Verfall mit ansehen zu müssen, und es ihnen ermöglichen, sie voller Leben und Energie in Erinnerung zu behalten. In Kalifornien blieb Joan in engem Kontakt mit ihrem Vater, der selbst am Spirituellen interessiert war und sie mit einer Vedanta-Gruppe bekannt machte. Im Spätsommer interessierte sich Joan für eine weitere LSD-Erfahrung. Sie schrieb uns einen Brief und fragte, ob diese dritte Sitzung in Kalifornien arrangiert werden könnte. Wir schlugen ihr vor, Sidney Cohen zu kontaktieren, einen Psy­ chiater in Los Angeles, der in der psychedelischen Therapierung Krebskranker grosse Erfahrung hatte und auch die Lizenz, die ihm erlaubte, mit LSD zu arbei­ ten. Es folgt Joans Bericht von ihrer dritten LSD-Sitzung, bei der sie von Sidney Cohen begleitet wurde. Die Dosis war auf 400 Mikrogramm erhöht worden. Dritte LSD-Sitzung Als die Droge zu wirken begann, war meine erste Reaktion darauf die Emp­ findung, dass mir kalt, kälter und immer noch kälter wurde. Es schien, als ob auch noch so viele Decken mich nicht vor dieser knochendurchdringenden, spitzen und grünlichen Eiseskälte schützen könnten. Später konnte ich kaum glauben, dass ich mit so vielen warmen Decken zugedeckt worden war, denn im Moment schien nichts die Kälte abhallen zu können. Ich verlangte nach heissem Tee, den ich durch einen Glashalm trank. Während ich die heisse Tas­ se in Händen hielt, tauchte ich in eine äusserst intensive Erfahrung ein. Die Tasse wurde zum Universum, und alles war lebendig, klar und wirk­ lich. Die grünlich-braune Farbe des Tees wurde zu einem wirbelnden Strudel. Keine Fragen mehr; Leben, Tod, Bedeutung - alles war da. Ich war schon im­ mer - wir alle waren es. Alles war eins. Angst existierte nicht; Tod, Leben - al­ les dasselbe. Das wirbelnde Kreisen von allem. Der intensive Wunsch, alle

268

möchten verstehen, dass das Universum in allem ist. In der Träne, die meine Wange hinunterläuft, in der Tasse, im Tee - in allem! Was für eine Harmonie, dachte ich, verbirgt sich hinter dem scheinbaren Chaos! Möchte dies nicht aus den Augen verlieren, alle an dieser Erfahrung teil­ haben lassen; es würde keine Zwietracht mehr geben. Ich fühlte, dass Dr. Co­ hen dies mit mir wusste. Etwas später kam mein Vater herein, und ich ver­ suchte, so gut ich nur konnte, ihm meine intensive Erfahrung mitzuteilen, ver­ suchte, das Unbeschreibbare auszudrücken: dass es keine Angst gibt. Dass wir immer schon da sind, wo wir hinwollen. Dass es genügt, zu sein. Es keinen Grund gibt, sich Sorgen zu machen, zu fragen, in Frage zu stellen, zu überden­ ken. Nur sein. Ich erzählte ihm, wie wichtig es ist, dass wir alle die Dinge in der Alltagswelt in Bewegung halten. Ich trank meine heisse Brühe und den Tee, verzehrte mich nach Nahrung und Wärme. Nach einer Pause kehrte ich in mich selbst zurück. Jetzt erlebte ich düstere und traurige Szenen aus meiner frühen Kindheit, die ich aus mei­ nen früheren Sitzungen bereits kannte. Die Bilder nahmen die Formen von kleinen skelettartigen Wesen ein, die in der Leere herumschwebten, nach Nahrung suchend, keine findend. Leere, keine Erfüllung. Dürre Vögel, die in einem leeren Nest nach Essbarem suchen. Vage Empfindungen von mir und meinen Brüdern, allein, auf der Suche, ohne Zuflucht. Dann kam ich mit meiner Traurigkeit in Berührung. Die Traurigkeit, die von frühster Kindheit an durch mein ganzes Leben zieht. Ich wurde mir mei­ ner zunehmenden Bemühungen gewahr, sie zu kaschieren - um anderen das zu geben, was sie stattdessen wollten: «Lächle ... schau etwas lebhafter drein ... hör mit dem Tagträumen auf!» Später in der Sitzung hatte ich das Gefühl, dass einige dazu auserwählt sind, die dem Universum innewohnende Traurig­ keit zu fühlen. Wenn ich dazu gehöre, fein. Ich dachte an all die Kinder, die nach Müttern suchen, welche nicht da sind. Dachte an die Stationen des Kreuzwegs und fühlte das Leiden Christi oder die Traurigkeit, die er sicher ge­ fühlt hatte. Ich erkannte, dass das Karma anderer ist, Freude zu fühlen, oder die Kraft, Schönheit, was auch immer. Warum also nicht zufrieden die Trau­ rigkeit akzeptieren? Zu einem anderen Zeitpunkt lag ich auf vielen Kissen, mit vielen Decken auf mir, warm, sicher. Ich wollte nicht als Person wiedergeboren werden, aber vielleicht als Regenbogen - orange, rötlich, gelblich, weich, schön. Am Nach­ mittag wurde ich mir der zentralen Bedeutung meines Magens bewusst. All die vielen Bilder von Menschen, die mit Speisen versorgt oder getröstet werden, zuvor meine Gelüste nach heissem Tee, Brühe, ständig gelangt etwas in mei­ nen Magen. Ich erkannte, dass ich mir dessen nun auch in meinem Alltagsle­ ben bewusst war; immer an die Zitze wollen, ersatzweise den Löffel, Stroh­ halm, die Zigarette. Nie genug! Ich wurde wieder zu einem Kind, zwar abhängig, aber diesmal mit einer Mutter, die sich um mich sorgt, sich um mich kümmern will und dies gerne tut. Ich finde Trost und Vergnügen an dem, was ich als Kind nie hatte. - Da waren Momente, in denen ich mich am frischen Duft und am Anfassen von Früchten freute - einer schönen Mango, Birne, einem Pfirsich, Trauben. Während ich

269

sie betrachtete, konnte ich die Zellbewegung erkennen. Viel später erfreute ich mich an einer Rosenknospe, samtig, duftend, herrlich. Gegen Ende des Tages wurde mir plötzlich klar, dass ich einen Weg ge­ funden hatte, um meine lebenslange Traurigkeit zu legitimieren: indem ich un­ heilbar krank wurde. Die Ironie der Situation war, dass ich mich nun glücklich fühlte und die Entdeckung als befreiend empfand. - Ich wollte zum Ursprung meiner Traurigkeit gelangen. Bald sah ich ein, dass meine Mutter mir prak­ tisch von Anfang an nicht viel hatte geben können, dass sie im Gegenteil auf mich schaute, auf dass ich ihr gebe. Und es verhielt sich tatsächlich so, dass ich ihr weit mehr zu geben hatte als sie mir. Ich empfand dies als schwere Last. Ich sprach mit meinem Vater lange Zeit über Traurigkeit, was daran falsch ist und warum andere sie so sehr zu verdrängen suchen. Ich beschrieb ihm, wie viel Energie ich vergeudete, weil ich das Gefühl hatte vorgeben zu müssen, ich sei glücklich und fröhlich und müsse lächeln. Ich sprach über die Schönheit der Traurigkeit - traurige Süsse, süsse Traurigkeit. Sich und anderen zu erlauben, traurig zu sein, wenn man sich so fühlt. Traurigkeit ist vielleicht nicht in Mode wie Fröhlichkeit, Spontaneität oder Vergnügen. Doch diese vorzutäuschen kostete mich enorm viel Energie. Jetzt bin ich einfach; ich bin nicht dies oder das, ich bin einfach. Manchmal fühlt es sich traurig an, oft friedlich, manchmal zornig oder ge­ reizt, manchmal sehr warm und glücklich. Ich bin nicht mehr darüber traurig, dass ich bald sterben werde. Ich habe viel mehr liebende Gefühle als je zuvor. Der ganze Druck, jemand «Anderes» sein zu müssen, ist von mir genommen worden. Ich fühle mich von Betrug und Täuschung befreit. Ein spirituelles Grundgefühl durchdringt mein tägliches Leben. Ein Mitglied unseres Teams, das Joan in Kalifornien kurz vor ihrem Tod besuchte, gab uns eine bewegende Beschreibung aus dem Alltagsleben ihrer letzten Tage. Sie hielt ihr Interesse an der spirituellen Suche aufrecht und verbrachte mehrere Stunden am Tag in Meditation. Trotz ihres sich rapide verschlechternden körper­ lichen Zustands schien sie emotional ausgeglichen und guten Mutes. Bemerkens­ wert war ihr fester Wille, keine Gelegenheit auszulassen, um die Welt in ihrer ganzen Fülle auszukosten, solange sie konnte. Sie bestand darauf, dass man ihr, gleich wie den anderen, alle Mahlzeiten vor­ setzte, obwohl der Magen nun vollends verschlossen war und sie nichts mehr hin­ unterschlucken konnte. Sie kaute das Essen langsam, genoss den Geschmack und spuckte es dann in einen Kübel. Am letzten Abend ihres Lebens war sie ganz da­ von eingenommen, den Sonnenuntergang zu betrachten. «Was für ein herrlicher Sonnenuntergang», waren ihre letzten Worte, bevor sie sich in ihr Schlafzimmer zurückzog. In dieser Nacht starb sie ruhig im Schlaf. Nach Joans Tod erhielten ihre Verwandten und Freunde an der Ostküste die Einladung zu einer Gedenkzusammenkunft, welche sie persönlich verfasst hatte, als sie noch am Leben war. Nachdem sich alle zur verabredeten Zeit eingefunden hatten, waren sie überrascht, von Joans Stimme, aufgenommen auf Tonband, an­ gesprochen zu werden. Es war viel mehr als nur ein ungewöhnlicher und bewegen­

270

der Abschied. Gemäss den Schilderungen der Teilnehmer hatten Inhalt und Ton ihrer Ansprache eine starke beruhigende Wirkung namentlich auf diejenigen, die mit einem Gefühl von Tragödie und tiefem Kummer zum Treffen gekommen wa­ ren. Joan konnte ihnen das Gefühl von innerem Frieden und von Versöhnung ver­ mitteln, die sie selbst in ihren Sitzungen so tief erfahren hatte. Wie wir gesehen haben, hat die psychedelische Therapie das aussergewöhnliche Potenzial, sowohl bei den Sterbenden wie auch bei den Hinterbliebenen die emotionalen und körperlichen Qualen der vielleicht schmerzlichsten Krise im menschlichen Leben bedeutend zu lindern. Die gegenwärtigen politischen und ad­ ministrativen Behinderungen, welche Hunderttausende von Sterbenskranken da­ von abhalten, von dieser bemerkenswerten Methode zu profitieren, sind nicht nur gänzlich unnötig, sondern unhaltbar. Alle Einwände, die man bezüglich einer An­ wendung psychedelischer Substanzen bei anderen Personengruppen - wie Patien­ ten mit emotionalen oder psychosomatischen Störungen, Therapeuten, Künstler und Mitglieder des Klerus - anbringen könnte, werden absurd angesichts einer Si­ tuation, die zeitlich sowieso von kurzer Dauer ist und in welcher die Probleme der­ art ernst und schwer wiegend sind, dass ja auch das Tabu gegen den Einsatz von Narkotika keine Gültigkeit hat.

Individuelle und soziale Folgen, die sich aus Tod- und Sterbeforschung ergeben Die Erkenntnisse, die aus der Erforschung der psychologischen, philosophischen und spirituellen Aspekte von Tod und Sterben gewonnen wurden, haben sowohl in theoretischer wie auch in praktischer weit reichende Implikationen. Die von mir erforschten Erfahrungen und Beobachtungen sind sicher kein endgültiger «Be­ weis» für ein Fortbestehen des Bewusstseins nach dem Tode; für die Existenz astraler Reiche, die von körperlosen Wesen bewohnt werden; oder für die Rein­ karnation individueller Bewusstseinseinheiten und die Fortsetzung ihrer physi­ schen Existenz in einem nächsten Leben. Man kann sich andere Interpretations­ weisen vorstellen, die von denselben Daten ausgehen. Man könnte es mit aussergewöhnlichen paranormalen Fähigkeiten unseres menschlichen Bewusstseins, ge­ nannt Super-Psi, zu erklären versuchen oder im Sinne des hinduistischen Konzepts betrachten, wonach das Universum Lila ist, ein göttliches Spiel mit Bewusstsein, das Spiel der Spiele des kosmischen kreativen Prinzips. Eines scheint jedoch klar: Nicht eine dieser möglichen Interpretationen, die auf einer sorgfältigen Analyse der vielen Daten beruhen, ist mit der monistisch­ materialistischen Weitsicht der westlichen Wissenschaft kompatibel. Ein systema­ tisches Überprüfen und eine unvoreingenommene, neutrale Bewertung des Mate­ rials würde zwangsläufig in einer gänzlich neuen Sichtweise resultieren, was die Natur unseres Bewusstseins, dessen Rolle im universellen Plan der Dinge und die Beziehung zur Materie bzw. zum Hirn betrifft. Die in diesem Kapitel erläuterten Themen sind nicht nur in theoretischer, sondern auch in praktischer Hinsicht von grösser Relevanz.

271

Wir haben uns vorher mit der Bedeutung des Todes im Rahmen der Psychia­ trie, Psychologie und Psychotherapie befasst. Wie wir gesehen haben, sind unsere früheren Begegnungen mit dem Tod - lebensbedrohliche Situationen aus der Zeit nach unserer Geburt, das Geburtstrauma und traumatische Erfahrungen während unserer embryonalen Existenz - tief in unser Unbewusstes eingeprägt. Zudem spielt das Motiv des Todes in Verbindung mit starkem archetypischem und karmi­ schen) Material auch eine wichtige Rolle im transpersonalen Bereich der mensch­ lichen Psyche. In all diesen Variationen trägt das Thema von Tod und Sterben we­ sentlich zur Entwicklung emotionaler und psychosomatischer Störungen bei. Wenn wir umgekehrt eine Konfrontation mit diesem Material nicht scheuen und uns der Angst vor dem Tod stellen, so kann dies enorm heilsam sein, eine po­ sitive Transformation der Persönlichkeit bewirken und zur Weiterentwicklung des Bewusstseins führen. Wie wir im Zusammenhang mit den antiken Mysterien von Tod und Wiedergeburt gesehen haben, beeinflusst dieses «Sterben vor dem Ster­ ben» die Lebensqualität und den allgemeinen Lebensentwurf auf tief greifende Weise. Es reduziert die irrationalen Triebe und verstärkt unsere Fähigkeit, voll und ganz in der Gegenwart zu leben und die einfachen Tätigkeiten in unserem Le­ ben zu geniessen. Wenn man sich von der Angst vor dem Tod befreit, ergibt sich als weitere wichtige Konsequenz eine spirituelle Einstellung, die universeller Natur und kon­ fessionsungebunden ist. Dies scheint so oder so zu passieren, ob eine Begegnung mit dem Tod nun reell war - in Form einer vitalen Bedrohung oder einer Nah­ toderfahrung - oder seelisch erfahren wurde, also im Zusammenhang mit Medita­ tion, in einer Selbsterfahrungstherapie oder während einer spontanen spirituellen Krise. Abschliessend möchte ich kurz auf einige der weitestreichenden möglichen Implikationen aufmerksam machen. Ob wir daran glauben, dass das Bewusstsein den Tod überlebt oder nicht, ob wir an die Reinkarnation und das Karma glauben oder nicht - die Antwort zu diesen Fragen hat tiefsten Einfluss auf unser Verhal­ ten. Der Umstand, dass der Glaube an die Unsterblichkeit auch weit reichende moralische Konsequenzen hat, findet sich schon bei Platon. In Gesetze lässt er So­ krates sagen, dass, wenn wir sorglos die Frage ignorieren, wie sich unsere hiesigen Taten im Leben nach dem Tod auswirken werden, dies ein «gefundenes Fressen für die verruchten Seelen» sei. Moderne Autoren wie Alan Harrington (1969) und Ernest Becker (1973) haben nachgewiesen, dass ein massives Verleugnen des To­ des zu sozialen Pathologien führt, die für die Menschheit gefährliche Konsequen­ zen haben können. Die moderne Bewusstseinsforschung ist ganz klar derselben Ansicht (Grof 1985). Zu einer Zeit, da die Kombination aus ungezügelter Gier, bösartiger Aggressi­ on und dem Riesenbestand an Massenvernichtungswaffen das Überleben der Menschheit und möglicherweise das gesamte Leben auf unserem Planeten gefähr­ det, sollten wir jeden Weg, der einige Hoffnung in sich birgt, ernsthaft in Erwägung ziehen. Diese Begründung ist natürlich nicht so zu verstehen, dass man deswegen

272

das präsentierte Material, das die Theorie eines Fortbestehen des Bewusstseins nach dem Tod verficht, unkritisch und unbesehen gut finden soll. Es soll jedoch ein weiterer Ansporn sein, der zu einem neuerlichen Studium der vorhandenen Daten anregen soll, mit dem offenen und unvoreingenommenen Geist der wahren Wis­ senschaft. Das Gleiche gilt für die heute verfügbaren potenten Techniken, die es ermög­ lichen, die Angst vor dem Tod zu konfrontieren, und so zu einer tiefen seelischen Transformation und zu spirituellem Erwachen führen können. Eine radikale inne­ re Wandlung und das Erreichen einer höheren Bewusstseinsebene sind vielleicht unsere einzigen reellen Hoffnungen in der heutigen Krise. - Später in diesem Buch werden wir auf dieses wichtige Problem noch einmal zurückkommen.

273

Kapitel 8 Pas kosmische Spiel: Forschungen an den Grenzen des menschlichen Bewusstseins

D

ie vorangehenden Kapitel dieses Buches beschäftigten sich hauptsächlich mit den Folgen, welche die Erforschung holotroper Bewusstseinszustände für die Bereiche Psychiatrie, Psychologie und Psychotherapie ergeben hat. Diese Arbeit hat aber auch manche interessante philosophische, metaphysische und spirituelle Einsichten zutage gefördert: Ungeachtet der ursprünglichen Motivation und des kulturellen oder sozialen Hintergrundes einer Person führt eine systematische Selbsterforschung, die im geschützten Rahmen stattfindet und holotrope Zustän­ de mit einschliesst, früher oder später zu einer tiefen philosophischen und spiritu­ ellen Suche. Ich habe oft miterlebt, dass Personen, deren Interesse an psychedeli­ schen oder holotropen Atemsitzungen ursprünglich therapeutischer, beruflicher oder künstlerischer Art war, anfingen, die fundamentalsten Fragen in Bezug auf unsere Existenz zu stellen, sobald der innere Prozess die transpersonale Ebene er­ reicht hatte. «Wie entstand unser Universum?» «Ist die Welt, in der wir leben, bloss ein Produkt aus mechanischen Vorgängen und unbeseelter, träger, reaktiver Mate­ rie?» «Kann unsere materielle Wirklichkeit allein im Hinblick auf ihre Bausteine und die objektiv gültigen Gesetze, welche die Wechselwirkungen zwischen ihnen regeln, erklärt werden?» «Was ist der Ursprung von Ordnung, Form und Bedeu­ tung im Universum?» «Ist es möglich, dass ein Universum wie das unsere mitsamt seiner Evolution ohne die Beteiligung einer höheren kosmischen Intelligenz hätte entstehen können?» «Falls es ein höchstes kreatives Prinzip gibt, welcher Art ist unsere Beziehung zu ihm?» Wie sollen wir mit Dilemmas wie Endlichkeit von Zeit und Raum versus Ewig­ keit und Unendlichkeit fertig werden? Wie verhalten sich Leben und Materie oder Bewusstsein und Hirn zueinander? Wie können wir die Existenz des Bösen er­ klären, und wie dessen überwältigende Gegenwart im universellen Plan der Din­ ge? Ist unsere Existenz auf ein einziges Leben begrenzt, auf die Zeitspanne zwi­ schen Zeugung und Sterben, oder überlebt unser Bewusstsein den biologischen Tod und erlebt eine lange Reihe aufeinander folgender Inkarnationen? Wenn wir die Antworten auf diese Fragen finden - was hat dies für konkrete Folgen für un­ ser tägliches Leben? In den späten Sechzigerjahren beschloss ich, die Aufzeichnungen meiner psy­ chedelischen Forschungen im Hinblick auf die metaphysischen Erlebnisse und Einsichten meiner Klienten zu analysieren. Ich fasste meine Erkenntnisse in einer

274

Schrift mit dem Titel LSD and the C osmic G ame : O utline of P sychedelic O n C osmology zusammen (Grof 1972). Zu meiner Überraschung fand ich, was die Einsichten meiner Klienten zu diesen grundlegenden metaphysischen Fragen anging, weitgehende Übereinstimmung. Das Bild der Realität, das sich durch das Studium des vielen Materials ergibt, versteht das Universum nicht als ei­ ne mechanische Supermaschine im newtonschen Sinne, sondern als eine unendlich komplexe virtuelle Realität, die von einer höheren kosmischen Intelligenz, dem Absoluten Bewusstsein oder Universalen Geist, erschaffen wurde und von diesem durchdrungen ist. Die metaphysischen Einsichten, die sich durch die psychedelische Forschung für die grundlegenden ontologischen und kosmologischen Fragen ergeben haben, stehen offensichtlich in krassem Gegensatz zur Weitsicht und Philosophie der ma­ terialistischen Wissenschaft. Sie weisen jedoch viele Parallelen zu den grossen my­ stischen Traditionen der Welt auf, für welche Aldous Huxley den Ausdruck «die ewige Philosophie» (the perennial philosophy) prägte. Und sie zeigen sich auch überraschend kompatibel mit den revolutionären Erkenntnissen der modernen Wissenschaft, die zusammenfassend als das neue oder das auftauchende Paradigma bezeichnet werden. In den darauf folgenden Jahren, in denen ich intensiv mit dem holotropen At­ men und mit spirituellen Krisen arbeitete, begann ich zu realisieren, dass die im vorhin erwähnten Text beschriebenen metaphysischen Einsichten sich nicht auf psychedelische Erfahrungen beschränkten, sondern für die holotropen Zustände ganz allgemein gültig waren. In diesem Kapitel möchte ich kurz die wesentlichen Ideen und faszinierenden Visionen zu unserer Existenz oder Realität skizzieren, wie sie in Menschen, die systematisch mit holotropen Bewusstseinszuständen ge­ arbeitet haben, spontan auftauchten. Eine umfassendere Erörterung dieses The­ mas findet sich in meinem Buch K osmos und P syche : A n den G renzen mensch ­ lichen B ewusstseins («The Cosmic Game: Explorations of the Frontiers of Hu­ man Consciousness», Grof 1998).

tology and

Die beseelte Natur und die archetypischen Bereiche Wie wir zuvor gesehen haben, können wir in holotropen Zuständen authentische und überzeugende Erlebnisse einer bewussten Identifikation mit Tieren, Pflanzen und selbst mit anorganischer Materie haben. Solche Erfahrungen haben eine Er­ weiterung unserer Weltanschauung zur Folge; wir beginnen, die Sichtweise der animistischen Kulturen zu verstehen, für welche das gesamte Universum beseelt ist. Aus ihrer Perspektive sind nicht nur die Tiere, sondern auch Bäume, Flüsse, Berge, Sonne, Mond und Sterne bewusste Wesenheiten. Das heisst natürlich nicht, dass wir in allen Teilen zur Weltanschauung dieser Kulturen regredieren und die Erkenntnisse der materialistischen Wissenschaft ignorieren oder gar vergessen. Doch sollte unsere Weltanschauung durch eine wichtige empirische Tatsache er­ gänzt werden: Alles, was wir im hylotropen Zustand als Objekt wahrnehmen, hat im holotropen Zustand sein subjektiv erfahrbares Gegenstück.

275

In holotropen Bewusstseinszuständen können wir auch tiefe Einsicht in die Weltanschauung von Kulturen gewinnen, die glauben, dass der Kosmos von my­ thologischen Wesen bevölkert ist und von verschiedenen glückseligen und zorni­ gen Gottheiten beherrscht wird. Zu den archetypischen Welten der Gottheiten, Dämonen, legendären Helden, übermenschlichen Wesenheiten und geistigen Füh­ rer haben wir nun direkten Zugang. Wir besuchen mythologische Welten, fantas­ tisch anmutende Landschaften und Sphären des Jenseits. Diese Bilder und Erleb­ nisse beziehen wir aus dem kollektiven Unbewussten und können mythologische Figuren und Themen aus allen Kulturen und allen geschichtlichen Epochen der Menschheitsgeschichte enthalten. Solche Erlebnisse und Entdeckungen können uns in Verlegenheit bringen, und wir mögen es vorziehen, moderne Ausdrücke wie numinos statt heilig oder sa­ kral und archetypische Figuren statt Gottheiten und Dämonen zu verwenden. Aber wir können die Erlebnisse nicht länger als Halluzinationen oder Fantasien abtun. Tiefe persönliche Erfahrungen in diesem Gebiet lassen uns erkennen, dass Bilder und Mythen zu unserem Kosmos, wie wir sie bei vorindustriellen Gesellschaften vorfinden, nicht auf Aberglauben, primitivem «magischem Denken» oder auf psy­ chotischen Visionen beruhen, sondern auf authentischen Erlebnissen der alterna­ tiven Realitäten. Die Erforschung holotroper Zustände hat genügend Beweise er­ bracht, die zeigen, dass transpersonale Seinsdimensionen im ontologischen Sinne real sind und unabhängigen Validierungen standhalten. Um diese Phänomene von Halluzinationen oder eingebildeten Erfahrungen, die keine objektiv gültige Basis aufweisen, zu unterscheiden, bezeichnen einige Jungianer diese transphänomena­ len Wirklichkeiten als «imaginär». In holotropen Zuständen entdecken wir, dass unsere Psyche Zugang zu ganzen Pantheons mythologischer Wesenheiten und den von ihnen bewohnten Wohnstät­ ten hat. Ein speziell überzeugender Beweis zur Authentizität dieser Erlebnisse ist die Tatsache, dass wir - wie bei anderen transpersonalen Phänomenen auch - ak­ kurate Informationen über Bereiche erhalten können, von denen wir zuvor nichts wussten. Beobachtungen dieser Art führten C. G. Jung zur Annahme, dass wir zu­ sätzlich zu dem von Freud beschriebenen individuellen Unbewussten noch ein kol­ lektives Unbewusstes haben, welches uns mit dem kulturellen Erbe der gesamten Menschheit verbindet. Jung sah solche Erlebnisse als Manifestationen urtümli­ cher, universeller Grundmuster an, als die eigentlichen Bausteine des kollektiven Unbewussten (Jung 1959). Archetypische Figuren lassen sich in zwei Hauptkategorien einteilen. Bei der ersten handelt es sich um verschiedene Entitäten, welche bestimmte Funktionen oder Rollen in einem allgemeinen, universalen Sinn verkörpern. Die bekanntesten sind die Grosse und die Schreckliche Muttergöttin, der Himmlische Vater, der Alte Weise, der Puer aeternus und die Puella aeterna, die Liebenden, der Sen­ senmann und der Narr. Jung entdeckte auch, dass Männer in ihrem Unbewussten ein unspezifisches Urbild des weiblichen Prinzips tragen, das er «Anima» nannte. Deren Gegenstück, das der weiblichen Seele innewohnende Urbild des Männli-

276

chen, nannte er entsprechend «Animus». Die dunklen und zerstörerischen Aspek­ te unserer unbewussten Psyche werden in jungscher Terminologie «Schatten» ge­ nannt. Bei den archetypischen Figuren der zweiten Kategorie handelt es sich um spe­ zifizierte Gottheiten und Dämonen, die den verschiedensten Kulturen und histori­ schen Epochen entstammen. Statt dass die Grosse Muttergöttin in ihrer allgemei­ nen, umfassenden Urform erlebt wird, sehen wir sie in einer ihrer konkreten, kul­ turspezifischen Formen - als Jungfrau Maria beispielsweise, oder als eine Lakshmi oder Parvati (beides Hindu-Göttinnen), als die ägyptische Isis oder als griechische Hera. Entsprechende Beispiele für die Schreckliche Muttergöttin sind die indische Kali, die vorkolumbianische schlangenköpfige Coatlicue oder die ägyptische lö­ wenköpfige Sekhmet. Unser rassisches und kulturelles Erbe scheint in diesen Er­ fahrungswelten keine Rolle zu spielen. Wir erhalten Zugang zu den verschieden­ sten Mythologien, selbst zu solchen, von denen wir noch nie gehört haben. Begegnungen mit archetypischen Figuren sind äusserst eindrücklich und ver­ mitteln oft detaillierte Informationen bezüglich ihrer spezifischen Eigenarten, un­ abhängig vom rassischen, kulturellen und bildungsmässigen Hintergrund der be­ treffenden Person. Je nach Charakter der involvierten Gottheiten sind die extrem intensiven Emotionen, die eine solche Erfahrung begleiten, von ekstatisch ver­ zückter Art, oder sie lähmen uns in einem metaphysischen Horrorzustand. Wer Erlebnisse dieser Art hatte, empfindet für diese archetypischen Wesenheiten gros­ se Ehrfurcht und Respekt. Er oder sie sieht sie als Wesen höherer Ordnung an, welche über aussergewöhnliche Kräfte und Macht verfügen und im Stande sind, unser Weltgeschehen zu beeinflussen und zu formen. Die Betreffenden teilen die Meinung der vielen vorindustriellen Kulturen, die an die Existenz von Göttern und Dämonen glaubten. Wer solche Erlebnisse hatte, verwechselt diese archetypischen Entitäten in der Regel aber nicht mit dem höchsten Prinzip im Universum; und ebenso wenig be­ haupten die Betreffenden, sie hätten, was unser Dasein betrifft, zur ultimativen Erkenntnis gefunden. In der Regel werden diese Gottheiten als Schöpfungen einer höheren Macht verstanden, die diese transzendiert. Joseph Campbell meinte dazu, die Gottheiten müssten «transparent für das Transzendente» sein. Ihre Funktion sollte die einer Brücke sein, die zur göttlichen Quelle führt - mit ihr aber nicht ver­ wechselt werden. Gerade wenn wir uns einer systematischen Selbsterforschung oder einer spirituelIen Disziplin verschrieben haben, ist es absolut wichtig, dass wir nicht diesem Irrtum verfallen und eine bestimmte Gottheit als höchste kosmische Macht betrachten statt als Fenster zum Absoluten. Wird eine spezifische archetypische Figur als Urquelle der Schöpfung oder als deren einzig wahrer Repräsentant missverstanden, mutiert dies über kurz oder lang zur Götzenanbetung, ein Fehler, der sich in der Religions- und Kulturge­ schichte nur zu oft wiederholt hat. Eine solche Einstellung mag zwar Menschen gleichen Glaubens vereinen, bringt diese Menschengruppe aber gegen andere auf, die anderen göttlichen Repräsentanten anhängen. Sie versuchen, diese zu bekeh­

277

ren, zu erobern oder gar auszumerzen. Im Gegensatz dazu ist echte Religiosität von universalem und allumfassendem Charakter. Sie sollte die kulturspezifischen archetypischen Eigenheiten transzendieren und auf den Ursprung allen Seins aus­ gerichtet sein. Von grösster Priorität für die religiöse Welt ist die Frage nach dem Wesen dieses höchsten und letzten Prinzips des Seins.

Erfahrungen des höchsten kosmischen Prinzips Personen, die sich einer systematischen Selbsterforschung mit holotropen Erfah­ rungen unterziehen, beschreiben ihren Weg meist als philosophische und spirituel­ le Suche. Dies brachte mich eines Tages auf die Idee, die Aufzeichnungen aus psy­ chedelischen und holotropen Sitzungen und die ausführlichen Berichte von Perso­ nen, die spirituelle Krisen durchlebt hatten, nach Erlebnissen zu durchforsten, bei denen die Personen das Gefühl hatten, sie hätten Ziel und Bestimmung ihrer Su­ che erreicht. Ich fand heraus, dass Personen, die zu einer Erfahrung des Absoluten kommen, welches zu einer vollumfänglichen Befriedigung ihres spirituellen Ver­ langens führt, in der Regel keine speziellen, figurativen Bilder sehen. Wenn sie meinen, das Ziel ihrer mystischen und philosophischen Suche erreicht zu haben, sind ihre Beschreibungen des höchsten Prinzips hoch abstrakt und einander über­ raschend ähnlich. Menschen, die von einer solchen höchsten Offenbarung berichten, beschrei­ ben in bemerkenswerter Einmütigkeit, dass das Erleben dieses Höchsten mit einer Transzendierung aller Begrenzungen des analytischen Verstands, aller rationalen Kategorien und aller Beschränkungen der gewöhnlichen Logik einhergeht. Die Erfahrung findet ausserhalb der einengenden Strukturen von dreidimensionalem Raum und linearer Zeit, wie wir sie vom Alltagsleben her kennen, statt. Auch wer­ den alle vorstellbaren Polaritäten in Form eines untrennbaren Amalgams gesehen, sodass jegliche Art von Dualität transzendiert wird. Immer wieder wird das Absolute mit einer strahlenden Lichtquelle von unvor­ stellbarer Intensität verglichen, wobei betont wird, dass sich dieses wesentlich von dem Licht unterscheidet, das wir von unserer materiellen Welt her kennen. Wenn man das Absolute als Licht beschreibt, was in gewissem Sinne angebracht scheint, so gehen dieser Definition doch einige der essenziellsten Merkmale ab, vor allem die Tatsache, dass es sich dabei um ein immenses, unergründliches und unbegreif­ bares Bewusstseinsfeld handelt, dessen Intelligenz und kreative Macht unendlich sind. Eine weitere Eigenschaft, die immer wieder erwähnt wird, ist ein exquisiter Sinn für Humor («kosmischer Humor»), Das höchste kosmische Prinzip kann auf zwei verschiedene Arten erfahren werden: Unsere persönlichen Grenzen können sich auflösen oder auf drastische Art zunichte gemacht werden, und wir verschmelzen vollständig mit der göttlichen Quelle und werden eins mit ihr. Oder aber wir empfinden uns weiterhin als sepa­ rate Identitäten und finden uns in der Rolle des staunenden Beobachters wieder, der - gleichsam von aussen her - als Zeuge das mysterium tremendum unserer Exi­ stenz erlebt. Oder wir können die Ekstase eines Mystikers erleben, der, von der

278

Liebe verzückt, seiner Geliebten begegnet. Die spirituelle Literatur aller Zeitalter ist voll von Berichten, die diese beiden Erfahrungsweisen beschreiben. Die Begegnung oder die Identifikation mit dem Absoluten Bewusstsein ist nicht der einzige Weg, wie wir das höchste kosmische Prinzip oder die ultimative Realität erfahren können. Die zweite Erfahrungsvariante, die als erfüllend emp­ funden wird, überrascht speziell deswegen, weil sie ohne spezifischen Inhalt ist. Hier findet eine Identifikation mit der kosmischen Leere oder dem kosmischen Nichts statt, in der mystischen Literatur einfach «die Leere» genannt. Viele Leute gebrauchen diesen Ausdruck allerdings, um ein unangenehmes Gefühl fehlenden Empfindens, mangelnder Initiative oder fehlenden Sinns zu beschreiben. Wenn es sich aber um die Leere handeln soll, so muss dieser Zustand ganz bestimmte Kri­ terien erfüllen. Bei einer authentischen Erfahrung der Leere sind wir der festen Überzeugung, dass es sich dabei um die uranfängliche Leere handelt - Proportion und Bedeutung sind von kosmischem Ausmass. Wir werden zu reinem Bewusstsein, das sich dieses absoluten Nichts bewusst ist; gleichzeitig und paradoxerweise haben wir jedoch ein Gefühl von essenzieller, vollständiger Fülle. Dieses kosmische Vakuum ist gleich­ zeitig ein Plenum - nichts scheint zu fehlen. Obwohl es sich nicht in irgendwelchen konkreten Formen manifestiert, scheint es die gesamte Existenz in potenzieller Form zu enthalten. Die Leere transzendiert unsere gewohnten Kategorien von Raum und Zeit. Sie unterliegt keinen Wandlungen und liegt jenseits aller Dicho­ tomien und Polaritäten, wie Licht und Dunkel, Gut und Böse, Ruhe und Bewe­ gung, Mikrokosmos und Makrokosmos, Agonie und Ekstase, Singularität und Plu­ ralität, Form und Leere und sogar Existenz und Nichtexistenz. Einige nennen sie supra- oder metakosmische Leere, was andeuten soll, dass diese uranfängliche Leere oder dieses uranfängliche Nichts der phänomenalen Welt, wie wir sie kennen, zugrunde liegt - und ihr gleichzeitig übergeordnet ist. Dieses metaphysische Vakuum, das gleichsam mit der ganzen Existenz schwanger ist, scheint die Wiege allen Seins zu sein, die Urquelle der Existenz. Die Schöpfung all der phänomenalen Welten entspricht demgemäss der Verwirklichung und Kon­ kretisierung der bereits existierenden inhärenten Potenziale. Worte können nicht ausdrücken, als wie realistisch, überzeugend und logisch diese paradoxen Antwor­ ten auf die grundlegendsten und tiefgründigsten Fragen zur Existenz erfahren wer­ den. Um diese aussergewöhnlichen Zustände vollumfänglich verstehen zu können, braucht es die persönliche Erfahrung.

Das innere Jenseits Wenn wir systematisch und regelmässig spirituelle Übungen praktizieren, die ho­ lotrope Bewusstseinszustände mit einbeziehen, lernen wir, die gewohnten Gren­ zen unseres Körper-Ich zu überschreiten. Wir entdecken dabei, dass alle Grenzen im materiellen Universum und in anderen Realitäten letztlich willkürlich und überwindbar sind. Indem wir die Beschränkungen des rationalen Verstandes und die Zwangsjacke von Vernunft und Alltagslogik abwerfen, können wir viele der

279

trennenden Barrieren durchbrechen, unser Bewusstsein geradezu unvorstellbar erweitern und schliesslich die Vereinigung und Identifizierung mit dem transzen­ denten Ursprung allen Seins - in der spirituellen Literatur unter den verschieden­ sten Namen bekannt - erleben. Wenn wir zu einer Identifikation mit dem Absoluten gelangen, wird uns klar, dass unser eigenes Sein letztlich umfangsgleich mit dem gesamten kosmischen Netzwerk, der gesamten Existenz ist. Die Erkenntnis unserer eigenen Göttlich­ keit, unserer Identität mit dem kosmischen Ursprung, ist die wichtigste Ent­ deckung, die wir während einer tiefen Selbsterforschung machen können. Dies ist der Kern folgender berühmter Aussage, die wir in den altindischen heiligen Schrif­ ten, den Upanishaden, finden: Tat tvam asi. Wörtlich übersetzt heisst dies: «Das bist Du», womit gemeint ist: «Du bist göttlicher Natur» oder «Du bist Gottheit». Dieser Satz macht deutlich, dass unsere gewohnte Alltagsidentifikation mit dem «hautumhüllten Ich», dem verkörperten individuellen Bewusstsein oder dem «Na­ men und Form» (Namarupa) eine Illusion ist und unsere wahre Natur die der kos­ mischen kreativen Energie (Atman-Brahman) ist. Diese Offenbarung der Identität des Individuums mit dem Göttlichen ist das letzte Geheimnis, das wir im Kern aller grossen spirituellen Traditionen finden, auch wenn dies jeweils etwas anders formuliert wird. Ich habe bereits erwähnt, dass im Hinduismus Atman, das individuelle Bewusstsein, und Brahman, das uni­ verselle Bewusstsein, eins sind. Die Anhänger des Siddha-Yoga bekommen den grundlegenden Lehrsatz ihrer Schule, «Gott lebt in Dir als Du», in vielen Varia­ tionen zu hören. In den buddhistischen Schriften steht: «Schau nach innen, Du bist der Buddha.» Und die konfuzianische Tradition lehrt: «Himmel, Erde und Mensch sind ein Leib.» Die gleiche Botschaft findet sich auch in den Worten Jesu Christi: «Ich und der Vater sind eins» wieder. Und der heilige Gregorios Palamas, einer der grössten Theologen der christlich-orthodoxen Kirche, erklärte: «Denn das Königreich des Himmels, nein, vielmehr der König des Himmels ist in uns.» Ähnlich lehrte der grosse jüdische Weise und Kabbalist Abraham ben Samuel Abulafia: «Er und wir sind eins.» Und Mohammed sagte: «Wer immer sich selbst kennt, kennt den Herrn». Der Sufi-Ekstatiker und Dichter Mansur al-Hallaji, bekannt als «der Mär­ tyrer der mystischen Liebe», beschrieb es so: «Ich sah meinen Herrn mit dem Au­ ge des Herzens. Ich fragte: ‹Wer bist du?› Er antwortete: ‹Du.›» Al-Hallaji wurde später wegen der folgenden Aussage eingekerkert und zum Tode verurteilt: «Ana’l Haqq» - «Ich bin Gott, die Absolute Wahrheit, die Wahre Wirklichkeit.»

Worte für das Unbeschreibbare Das höchste Prinzip kann in holotropen Bewusstseinszuständen direkt erfahren werden, aber es entzieht sich jedem Versuch einer adäquaten Beschreibung oder Erklärung. Die Sprache, die wir zum Kommunizieren unserer alltäglichen Belange benutzen, ist für diesen Zweck einfach nicht geeignet. Menschen, die solche Er­ fahrungen gemacht haben, sind sich darin einig, dass sie unbeschreibbar sind. Wor­

280

te und Struktur unserer Sprache sind völlig ungeeignet, um deren Wesen und Di­ mensionen zu beschreiben, vor allem, wenn man sie Personen erklären will, die keine diesbezüglichen Kenntnisse haben. Alle Beschreibungen müssen sich mit Worten behelfen, die zum Bezeichnen von Gegenständen und Tätigkeiten in der materiellen Welt, die wir in unserem normalen Bewusstseinszustand erleben, entwickelt wurden, weshalb unsere Spra­ chen ungenügend sind, wenn wir die Erfahrungen und Einsichten verbalisieren wollen, die den anderen, holotropen Bewusstseinszuständen entstammen. Dies trifft besonders dann zu, wenn diese mit den letzten Fragen der Existenz zu tun ha­ ben, wie mit der Leere, dem Absoluten Bewusstsein und dem Schöpfungsprozess. Menschen, die sich in den östlichen spirituellen Philosophien auskennen, grei­ fen, um ihre Erlebnisse in Worte zu fassen, häufig auf Begriffe aus verschiedenen asiatischen Sprachen zurück, auf tibetische, chinesische, japanische oder solche aus dem Sanskrit. Diese Sprachen entstanden in Kulturen mit grossem Feingefühl für holotrope Zustände und spirituelle Realitäten. Im Gegensatz zu unseren west­ lichen Sprachen haben sie viele «technische» Ausdrücke mit all den Nuancen der mystischen Erfahrungen und anverwandten Dinge. Aber auch diese Begriffe kön­ nen letztlich nur von denen voll verstanden werden, die selbst solche Erfahrungen gemacht haben. Die Dichtung, zwar noch immer ein unvollkommenes Werkzeug, scheint doch ein adäquateres, geeigneteres Mittel zu sein, um die Essenz der spirituellen und transzendenten Realitäten zu vermitteln. Deshalb bedienten sich viele grosse Vi­ sionäre und religiöse Lehrer der Poesie, wenn sie ihre metaphysichen Einsichten mitteilen wollten. Vielen Menschen, die transzendente Zustände erlebt haben, fal­ len entsprechende Passagen aus visionären Gedichten ein, die sie zitieren.

Der Schöpfungsprozess Menschen, die in holotropen Bewusstseinszuständen das kosmische kreative Prin­ zip erleben, versuchen oft, den Impuls zu verstehen, der zur Erschaffung der Er­ fahrungswelten führt. Ihre Einsichten in die «Motivation» des Göttlichen zur schöpferischen Tätigkeit enthalten einige interessante Widersprüche. Eine wichti­ ge Kategorie dieser Einsichten unterstreicht die fantastischen inneren Ressourcen und das unvorstellbare kreative Potenzial des Absoluten Bewusstseins. Der kos­ mische Ursprung ist von einer solchen Fülle und fliesst derart über von grenzenlo­ sen Möglichkeiten, dass er diesem in einem Schöpfungsakt einfach Ausdruck ge­ ben muss. Andere Offenbarungen tendieren in die Richtung, dass das Absolute Be­ wusstsein durch den Schöpfungsprozess etwas anstrebt, das ihm in seinem ur­ sprünglichen reinen Zustand fehlt und das es vermisst. Aus unserer gewohnten Sichtweise heraus scheinen sich diese beiden Anschauungen zu widersprechen. Im holotropen Bewusstsein aber löst dieser Widerspruch sich auf, die zwei scheinba­ ren Gegensätze können problemlos nebeneinander existieren und ergänzen sich gegenseitig.

281

Der Schöpfungsimpuls wird oft als eine Urgewalt beschrieben, die den unvor­ stellbaren inneren Reichtum und göttlichen Überfluss widerspiegelt. Die kreative kosmische Quelle ist so unermesslich und überreich an endlosen Möglichkeiten, dass sie nicht an sich halten kann und ihr gewaltiges Potenzial zum Ausdruck brin­ gen muss. Andere Beschreibungen unterstreichen das unendliche Verlangen des Universalen Geistes, sich selbst kennen zu lernen und sein volles Potenzial zu er­ gründen und zu erfahren. Dies kann nur durch die Veräusserlichung und Manife­ station all seiner latenten Möglichkeiten in Form eines konkreten schöpferischen Aktes geschehen. Es erfordert die Polarisierung in Subjekt und Objekt, Erfahren­ den und Erfahrenem, Beobachter und Beobachtetem. Ähnliche Ideen finden sich in den mittelalterlichen kabbalistischen Schriften, die das Schöpfungsmotiv mit «Gott wünschte Gott zu schauen» umschrieben. Weitere wichtige Dimensionen des Schöpfungsprozesses, die häufig hervorge­ hoben werden, sind die Verspieltheit, der Selbstgenuss und der kosmische Humor des Schöpfers. Diese Elemente sind in den alten Hindutexten am besten beschrie­ ben worden: Sie stellen das Universum und die Existenz als Lila dar, das göttliche Spiel. Laut ihrem Verständnis ist die Schöpfung ein unendlich komplexes kosmi­ sches Spiel, welches Brahman aus sich selbst und in sich selbst erstehen lässt. Die Schöpfung kann auch als ein Experiment von kolossalen Ausmassen gese­ hen werden, das die immense Neugier des Absoluten Bewusstseins ausdrückt, ei­ ne Leidenschaft, die der Begeisterung eines Wissenschaftlers, der sein Leben der Suche und der Forschung widmet, analog ist. Einige Menschen, die Einsichten in die «Motive» der Schöpfung bekommen haben, unterstreichen auch deren ästheti­ sche Seite. Aus dieser Sicht erscheint das Universum, in dem wir leben, und die er­ fahrbaren Realitäten anderer Dimensionen als Kunstwerke von unglaublicher Schönheit, und der Impuls, diese zu erschaffen, kann mit der Inspiration und krea­ tiven Leidenschaft eines grossen Künstlers verglichen werden. Wie ich schon sagte, werden die der Schöpfung zugrunde liegenden Kräfte manchmal nicht mit dem Überfluss, Reichtum, Selbstgenuss und der Meisterschaft des kosmischen kreativen Prinzips in Verbindung gebracht, sondern eher mit einer Art Mangel, Bedürfnis oder Drang. So kann man zum Beispiel zur Erkenntnis kommen, dass das Absolute, trotz der Unermesslichkeit und Perfektion seines Seinszustandes, realisiert, dass es allein ist. Diese Einsamkeit findet in einem un­ endlichen Verlangen nach Gemeinschaft, Kommunikation und Austausch Aus­ druck, einer Art göttlicher Sehnsucht. Die machtvollste Kraft hinter der Schöp­ fung wird dann als das Bedürfnis des schöpferischen Prinzips, zu lieben und geliebt zu werden, verstanden. Eine weitere entscheidende Dimension des Schöpfungsprozesses, die ebenfalls zu dieser Kategorie gehört, scheint ein Urverlangen des Göttlichen nach Erfah­ rungen zu sein, die für unsere materielle Welt charakteristisch sind. Gemäss diesen Erkenntnissen hat das Schöpferische den tiefen Wunsch, dasjenige in Erfahrung zu bringen, was seiner Natur entgegengesetzt ist. Es will all diejenigen Qualitäten er­ forschen, die es in seinem ursprünglichen Zustand nicht hat, und zu all dem wer­

282

den, was es nicht ist. Da es ewig, unendlich und ätherisch ist, sehnt es sich nach dem Flüchtigen, Unbeständigen, räumlich und zeitlich Begrenzten, dem Soliden und Greifbaren. Ein weiteres wichtiges «Motiv», das oft erwähnt wird, ist das Element der Monotonie. Wie gewaltig und herrlich die Erfahrung des Göttlichen aus der menschlichen Perspektive auch erscheinen mag, für das Göttliche ist es immer das­ selbe und in gewissem Sinne monoton. Die Schöpfung kann so als eine titanische Anstrengung angesehen werden, in der sich dieses transzendentale Verlangen nach Veränderung, Tätigkeit, Bewegung, Drama und Überraschung ausdrückt. All diejenigen, die das Glück hatten, solche tiefen Einsichten in das kosmische Labor der Schöpfung zu bekommen, scheinen sich darin einig zu sein, dass alles, was sich über diese Wirklichkeitsebene sagen lässt, dem authentisch Erlebten kei­ neswegs gerecht wird. Der monumentale Impuls mit seinen unvorstellbaren Di­ mensionen, der für die Erschaffung der phänomenalen Welt verantwortlich ist, scheint all die obigen Elemente (und manche andere) gleichzeitig zu enthalten, wie widersprüchlich und paradox dies unserem alltäglichen Empfinden und unserem «gesunden Menschenverstand» auch Vorkommen mag. Es ist klar, dass - trotz all unseren Bemühungen, die Schöpfung zu begreifen und zu beschreiben - das schöpferische Prinzip und der Schöpfungsvorgang für uns immer ein unergründli­ ches Geheimnis bleiben werden. Nebst Offenbarungen zu den Motiven oder Gründen der Schöpfung (dem «Warum») vermitteln holotrope Zustände oft Einsichten in die Dynamik und Me­ chanik des Schöpfungsvorgangs (das «Wie»). Diese hängen mit der «Technologie des Bewusstseins» zusammen, welche Erfahrungen mit unterschiedlichen Sin­ neseindrücken erzeugt und diese Komponenten systematisch und kohärent so orchestriert, dass es virtuelle Realitäten hervorbringt. Obwohl die Beschreibungen dieser Einsichten sich in Bezug auf Details, Sprache und die benutzten Metaphern unterscheiden - generell lassen sich zwei zusammenhängende und einander ergän­ zende Prozesse unterscheiden, die an der Erschaffung unserer phänomenalen Welten beteiligt sind. Die erste davon ist der Prozess, der die ursprüngliche, undifferenzierte Einheit des Absoluten Bewusstseins in eine zunehmende Vielzahl davon abgeleiteter Be­ wusstseinseinheiten aufspaltet. Der Universale Geist betätigt sich in einem kreati­ ven Spiel, das komplexe Sequenzen von Teilungen, Fragmentierungen und Diffe­ renzierungen beinhaltet. Das Resultat sind Erfahrungswelten mit unzähligen ei­ genständigen Wesenheiten, die mit einer bestimmten Form von Bewusstsein aus­ gestattet sind und eine selektive (Selbst-)Wahrnehmung besitzen. Man stimmt allgemein darin überein, dass diese durch die vielfachen Teilungen und Untertei­ lungen des ursprünglich ungeteilten kosmischen Bewusstseinsfeldes entstehen. Das Göttliche schöpft somit nicht etwa ausserhalb seiner selbst, sondern, durch Transformation seiner selbst, innerhalb des Feldes seines eigenen Seins. Das zweite wichtige Element im Schöpfungsprozess hat mit einer fortschrei­ tenden Abgrenzung, mit zunehmender Dissoziation und Vergessen zu tun, wo­ durch die sekundären Bewusstseinseinheiten in zunehmendem Masse den Kon­

283

takt zu ihrem Ursprung und das Wissen um ihre ursprüngliche Natur verlieren. Sie entwickeln allmählich ein Gefühl individueller Identität und empfinden sich als voneinander getrennt. In den Endphasen dieses Prozesses entstehen immaterielle, aber relativ undurchlässige Trennwände zwischen den einzelnen isolierten Einhei­ ten - und auch zwischen den Einheiten und dem ursprünglichen undifferenzierten Ganzen des Absoluten Bewusstseins. Die Beziehung, die zwischen dem Absoluten Bewusstsein und seinen Teilen besteht, ist einzigartig und von komplexer Natur und lässt sich mit unserem kon­ ventionellen Denken und der normalen Logik nicht begreifen. Unser Verstand sagt uns, dass ein Teil nicht gleichzeitig das Ganze sein kann, und dass das Ganze, als Summe seiner Teile, grösser sein muss als die einzelnen Teile. Im universalen Gefüge bleiben die separaten Bewusstseinseinheiten - trotz ihrer Individualisie­ rung und der jeweiligen Unterschiede - mit ihrem Ursprung identisch. Sie sind pa­ radoxer Natur in dem Sinne, als sie gleichzeitig Ganzes und Teil davon sind. Die vor kurzem entwickelte holografische Technik hat sich als ein taugliches Modell erwiesen, welches auch einen wissenschaftlichen Zugang zu diesen sonst unver­ ständlichen Aspekten der Schöpfung ermöglicht. Die Erforschung holotroper Bewusstseinszustände zeichnet unsere Existenz als ein unbegreiflich-unfassbares Spiel des kosmischen schöpferischen Prinzips, welches Zeit und Raum, eine lineare Kausalität und Polaritäten jeglicher Art transzendiert. Aus dieser Perspektive scheinen die phänomenalen Welten, inklusi­ ve unserer materiellen Welt, von einem höheren Bewusstsein geschaffene und in komplexester Weise orchestrierte «virtuelle Realitäten» zu sein. Diese existieren auf den verschiedensten Realitätsebenen - vom undifferenzierten Absoluten Be­ wusstsein über reiche Pantheons archetypischer Wesenheiten bis zu den unzäh­ ligen individuellen Entitäten oder Einheiten, welche die materielle Welt aus­ machen. All dies scheint sich innerhalb des undifferenzierten Bewusstseins abzu­ spielen.

Wege zur Wiedervereinigung Der Prozess dieser sukzessiven Teilung, verbunden mit zunehmender Trennung und Entfremdung, stellt nur die eine Hälfte des kosmischen Zyklus dar. Personen, die in holotropen Zuständen diesbezügliche Einsichten gewonnen haben, berich­ ten auch von einem konträr dazu verlaufenden Prozess: Welten der Pluralität und Getrenntheit bewegen sich in Richtung einer zunehmenden Auflösung der beste­ henden Grenzen und verbinden sich zu immer grösseren Ganzheiten. Diese Aufteilung in zwei kosmische Urbewegungen finden wir in den ver­ schiedensten spirituellen und philosophischen Systemen wieder. Plotinos, der Be­ gründer des Neuplatonismus, nannte sie Efflux (Ausfliessen; Evolution) und Re­ flux (Rückfliessen; Involution) (Plotinos 1991). In der östlichen Literatur sind die entsprechenden Gedanken am klarsten in den Schriften des indischen Mystikers und Philosophen Sri Aurobindo ausgedrückt - er nannte sie Involution und Evo­ lution des Bewusstseins (Aurobindo 1965). Neuzeitliche Erörterungen zum kosmi-

284

Ein Bild aus einer holotropen Atemsitzung. Dargestellt wird das Durchbrechen eines «verkapselten» und isolierten Zustands; der Schleier, der uns von unserem göttlichen Wesen trennt, wird gehoben, und es findet eine Verschmelzung mit dem Kosmos statt.

sehen Prozess von Abstieg/Evolution (descent) und Aufstieg/Involution (ascent) finden sich in den Büchern von Ken Wilber (Wilber 1980, 1995). Gemäss holotropen Erkenntnissen bietet der universale Prozess nicht nur un­ endlich viele Möglichkeiten, ein eigenständiges Individuum zu werden, er bietet gleichzeitig auch ein ebenso reiches und buntes Spektrum an Gelegenheiten, die zur Entgrenzung und Verschmelzung, zur Rückkehr zum Absoluten führen. Die Erfahrungen von Vereinigung und Einswerdung ermöglichen es den einzelnen Be­ wusstseinsmonaden, ihre Entfremdung zu überwinden und sich von der illusori­ schen Idee des Getrenntseins zu befreien. Durch dieses Transzendieren der zuvor

285

als absolut verstandenen Grenzen und durch den daraus resultierenden zuneh­ menden Prozess von Vereinigung und Verschmelzung entstehen immer grössere lebende Einheiten. In seiner letzten Reichweite kann dieser Prozess alle Grenzen auflösen und zur Wiedervereinigung mit dem Absoluten Bewusstsein führen. Die in so vielen Formen und auf so vielen unterschiedlichen Ebenen stattfindenden Verschmelzungsakte vervollständigen das zyklische Gesamtmuster des kosmi­ schen Tanzes. Die häufigsten Auslöser, die zu spontanen Erfahrungen von Einheitsbewusst­ sein führen, sind Naturwunder wie der Grand Canyon, tropische Inseln oder Son­ nenuntergänge über dem Pazifik. Kunstwerke von aussergewöhnlicher Schönheit können eine ähnliche Wirkung haben, seien es musikalische Meisterwerke, gross­ artige Gemälde und Skulpturen oder hervorragende Architektur. Weitere Quel­ len, die zu Einheitserfahrungen führen können, sind sportliche Aktivitäten, die se­ xuelle Vereinigung oder bei Frauen der Geburtsprozess und das Stillen. Das Her­ beiführen solcher Erfahrungen kann durch viele der althergebrachten und neu­ zeitlichen «Technologien des Sakralen», die am Anfang dieses Buches besprochen wurden, erleichtert werden. Obwohl Erfahrungen von Einheitsbewusstsein meist in emotional positiven Si­ tuationen auftreten, können sie sich doch auch unter Umständen ereignen, die zu­ tiefst ungünstig, beängstigend und für das Individuum gefährlich sind. In diesem Fall wird das Ich-Bewusstsein der betreffenden Person überwältigt und zerrüttet statt aufgelöst und transzendiert. Dies kann bei schwer wiegendem, akutem oder chronischem Stress, zu Zeiten intensiven emotionalen und physischen Leidens oder bei einer ernsthaften Gefährdung unseres physischen Überlebens der Fall sein. Viele Menschen entdecken die mystischen Reiche im Zusammenhang mit ei­ ner Nahtoderfahrung, die sie während eines Unfalls, einer schweren Verletzung, einer gefährlichen Krankheit oder einer Operation erleben. Klassisch orientierte Psychiater, die zwischen Mystik und Psychose nicht un­ terscheiden, sehen solche Erlebnisse als Anzeichen einer geistigen Erkrankung an. Abraham Maslow gebührt die Ehre, nachgewiesen zu haben, dass dies ein schwer wiegender Irrtum ist. Der Begründer der humanistischen und transpersonalen Psychologie zeigte in einer Studie, an der Hunderte von Personen beteiligt waren, dass diese Gipfelerfahrungen (peak experiences) eher «übernormal» denn abnor­ mal sind. Unter günstigen Umständen können sie zu emotionaler und körperlicher Gesundung führen und dem förderlich sein, was Maslow «Selbstverwirklichung» nannte (Maslow 1964).

Das Tabu «zu wissen, wer wir sind» Wenn es wahr ist, dass unsere tiefste Natur göttlich ist und dass wir mit dem krea­ tiven Prinzip des Universums identisch sind, wie erklären wir dann die Hart­ näckigkeit unseres Glaubens, wonach wir materielle Körper in einer materiellen Welt sind? Wie lässt sich diese fundamentale Ignoranz bezüglich unserer wahren Identität, dieser mysteriöse Schleier des Vergessens, den Alan Watts das «Tabu zu

286

wissen, wer man ist» nannte, erklären? Wie ist es möglich, dass eine unendliche und zeitlose spirituelle Wesenheit aus sich heraus und in sich selbst ein virtuelles Faksimile einer greifbaren Realität erschafft, die von lebendigen Wesen bevölkert ist, die sich als getrennt von ihrer Quelle und getrennt von ihren Gefährten erle­ ben? Wie können die Darsteller in diesem Weltdrama sich derart verirren, dass sie an eine objektive Existenz ihrer illusorischen Wirklichkeit glauben? Die beste Erklärung, die ich von Personen, mit denen ich gearbeitet habe, ver­ nommen habe, besagt, dass das kosmische schöpferische Prinzip - in seiner Per­ fektion - sich selbst eine Falle gestellt hat. Die schöpferische Absicht hinter dem göttlichen Spiel besteht darin, Erfahrungswirklichkeiten ins Leben zu rufen, die die besten Gelegenheiten zu Bewusstseinsabenteuern bieten, inklusive der Illusion unserer materiellen Welt. Um diese Voraussetzung zu erfüllen, müssen die Rea­ litäten in allen Details überzeugend und glaubhaft sein. Als Beispiele hierfür kön­ nen wir Kunstwerke wie Theaterstücke oder Spielfilme anführen. Diese werden manchmal derart perfekt gespielt und vorgeführt, dass sie uns vergessen lassen, dass die Ereignisse, die wir sehen, illusorisch sind - und wir reagieren auf sie, als wären sie real. Auch gute Schauspieler können ihre wahre Identität zuweilen ver­ gessen und vorübergehend mit den von ihnen dargestellten Charakteren ver­ schmelzen. Wie schon erwähnt, hat die Welt, in der wir leben, viele Eigenschaften, die dem höchsten Prinzip in seiner reinen Form fehlen, etwa Pluralität, Polarität, Dichte und Körperlichkeit, Veränderlichkeit und Unbeständigkeit. Der Plan, ein Faksimile einer mit diesen Eigenschaften versehenen materiellen Wirklichkeit zu erschaffen, ist in einer solchen künstlerischen und wissenschaftlichen Perfektion ausgeführt, dass die vom Universalen Geist abgespaltenen Einheiten diese absolut überzeugend finden und sie für reell halten. Den extremsten Ausdruck der göttli­ chen Kunstfertigkeit finden wir im Atheisten vertreten: Hier gelingt es dem Schöp­ fer, via sein Geschöpftes Argumente zu kreieren, die nicht nur seine Rolle als Schöpfer, sondern auch seine Existenz allgemein in Frage stellen. Die Existenz des Trivialen und Hässlichen ist ein wichtiges Hilfsmittel zur Er­ schaffung der Illusion einer rein materiellen Wirklichkeit. Wären wir alle strahlen­ de, ätherische Wesen, die unsere Lebensenergie direkt aus der Sonne beziehen und in einer Welt leben, in der alle Landschaften wie der Himalaya, der Grand Canyon oder die unberührten Pazifikinseln aussehen, wäre es zu offensichtlich für uns, dass wir Teil einer göttlichen Wirklichkeit sind. Und würden alle Gebäude wie die Alhambra, der Taj Mahal, Xanadu oder die Kathedrale von Chartres aussehen, wären wir rundum von Michelangelos Skulpturen umgeben und würden wir nur Musik von der Schönheit einer Beethoven-Symphonie oder einer Bach-Kantate hören, so Hesse sich das Göttliche unserer Welt mühelos erkennen. Die Tatsache jedoch, dass wir einen materiellen Körper haben mit allen mög­ lichen Absonderungen, Ausscheidungen, Ausdünstungen, Unvollkommenheiten und Krankheiten und mit einem Magen-Darm-Trakt mit abstossenden Inhalten und ebensolchen Funktionen, trübt und verdunkelt die Wahrnehmung unserer ei­

287

genen Göttlichkeit bestimmt sicher nachhaltig. Verschiedene physiologische Funktionen wie Erbrechen, Rülpsen, Pupen, Defäkieren und Urinieren und der schliessliche Zerfall des menschlichen Körpers komplizieren das Bild noch zusätz­ lich. Wüste Naturlandschaften, Schrottplätze, verschmutzte Industriegebiete, übel riechende Toiletten mit obszönen Graffitti, urbane Ghettos und die Millionen he­ runtergekommener Häuser machen es uns zusätzlich schwer zu realisieren, dass unser Leben ein göttliches Spiel ist. Die Existenz des Bösen und die Tatsache, dass die Natur ihrem Wesen nach räuberisch ist, machen diese Aufgabe für einen Durchschnittsmenschen nahezu unmöglich. Für gebildete Menschen der westli­ chen Welt stellt die von der materialistischen Wissenschaft propagierte Weitsicht eine weitere hohe Hürde dar. Es gibt noch einen weiteren wichtigen Grund, weshalb wir uns so schwer von der Illusion, wir seien separate Individuen einer materiellen Welt, frei machen können. Die Wege zur Wiedervereinigung mit dem göttlichen Ursprung sind voll­ er Mühsal und mit vielen Risiken und schwierigen Herausforderungen behaftet. Das göttliche Spiel ist kein vollständig geschlossenes System. Es bietet den Prota­ gonisten die Möglichkeit, das wahre Wesen der Schöpfung zu entdecken, und auch ihren eigenen Status im Kosmos. Die Wege, die aus der Selbsttäuschung heraus zur Erleuchtung und zur Wiedervereinigung mit dem Ursprung führen, sind je­ doch voll von Konflikten und erdrückenden Problemen, und die meisten der po­ tenziellen Schlupflöcher in unserer geschöpften Welt sind sorgfältig verdeckt. Für die Aufrechterhaltung von Stabilität und Ausgewogenheit in der kosmischen Ord­ nung ist dies absolut notwendig. Diese Tücken und Fallen auf dem spirituellen Weg machen einen wichtigen Teil des Tabus «zu wissen, wer wir sind» aus. In allen Situationen, die zu einer spirituellen Öffnung führen können, finden wir typischerweise auch unterschiedliche, starke Gegenkräfte vor. Einige der Hin­ dernisse, die den Weg zur Befreiung und Erleuchtung schwierig und gefährlich machen, sind innerpsychischer Natur. Hierzu gehören Schrecken erregende Er­ fahrungen, welche die nicht so mutigen und weniger zielstrebigen Sucher von ihrem Weg abbringen können - Begegnungen mit dunklen archetypischen Mäch­ ten beispielsweise, Todesangst weckende Erlebnisse oder Erfahrungen am Rande des Wahnsinns. Noch problematischer können Gegenkräfte sein, die von der Aussenwelt her kommen. Im Mittelalter riskierten viele Menschen mit spontanen my­ stischen Erlebnissen Anklage, Folter und Hinrichtung durch die Heilige Inquisi­ tion. In unserer Zeit ersetzen das vom Psychiater verpasste, stigmatisierende pathologische Etikett oder drastische therapeutische Massnahmen die Hexenver­ folgung, die Folter und die Verbrennung von Ketzern. Die materialistische Wissenschaftlichkeit des zwanzigsten Jahrhunderts hat alle spirituellen Bestrebun­ gen - einerlei, wie fundiert und raffiniert diese sind - lächerlich gemacht und pathologisiert. Die Autorität, der sich die materialistische Wissenschaft in der modernen Ge­ sellschaft erfreut, macht es schwierig, die Mystik ernst zu nehmen und den Weg spiritueller Entdeckungen zu gehen. Überdies tendieren Dogmen und Aktivitäten

288

der Weltreligionen eher zu einer Verschleierung der Tatsache, dass der einzige Ort, an dem wahre Spiritualität gefunden werden kann, in unserer Psyche ist. Im schlimmsten Fall werden organisierte Religionen tatsächlich zu einem schweren Hindernis für jede ernsthafte spirituelle Suche - statt dass sie als Institutionen die Kraft repräsentieren, welche uns auf unserem Weg zur Vereinigung mit dem Gött­ lichen zur Seite steht. Indem sie ihre Mitglieder herabsetzt, fällt es diesen nur noch schwerer zu glauben, dass das Göttliche in ihnen selbst ist. Bei den Anhängern kann dies auch den falschen Glauben schüren, dass ein regelmässiger Besuch des Gottesdienstes, Beten und finanzielle Zuwendungen an die Kirche angemessene und ausreichende spirituelle Aktivitäten seien. Die von verschiedenen Stammeskulturen entwickelten Technologien des Sak­ ralen sind vom Westen als Produkte magischen Denkens und primitiven Aber­ glaubens von Wilden abgetan worden. Die mit dem Sexuellen verbundenen, po­ tenziellen Fallgruben - im Sinne des machtvollen, überwältigenden tierischen Ins­ tinkts - werden vom spirituellen Potenzial der Sexualität, welche im Tantra ihren Ausdruck findet, weit in den Schatten gestellt. Nur kurz nachdem die psychedeli­ schen Substanzen, welche die Tore zu den transzendenten Dimensionen weit aufzustossen vermögen, auftauchten und bekannt wurden, wurden sie schon in miss­ bräuchlichem, unverantwortlichem Sinne konsumiert; ihre Begleiter waren in vie­ len Fällen drohender Wahnsinn, Chromosomenschäden und gesetzliche Sank­ tionen.

Das Problem von Gut und Böse Eine der wichtigsten Herausforderungen, die sich im Verlaufe unserer spirituellen Reise ergibt, hat mit der Existenz des Bösen zu tun beziehungsweise wie wir mit diesem klarkommen. Um dieses auf eine tiefe Art verstehen und in einem philoso­ phischen Sinne akzeptieren zu können, scheint es die Einsicht in dessen wichtige oder notwendige Rolle im kosmischen Prozess zu brauchen. Tiefe Einsichten in die letzten Wirklichkeiten, wie man sie in holotropen Zuständen gewinnen kann, könnten aufzeigen helfen, dass die kosmische Schöpfung symmetrisch sein muss, weil sie eine creatio ex nihilo (eine Schöpfung aus dem Nichts) ist. Alles, was ins Dasein gelangt, muss durch sein Gegenteil ausgeglichen werden. Aus dieser Per­ spektive ist die Existenz von Polaritäten aller Art eine unabdingbare Vorausset­ zung für die Erschaffung der phänomenalen Welten. Wir haben zuvor gesehen, dass eines der «Motive» für die Schöpfung das «Be­ dürfnis» des schöpferischen Prinzips zu sein scheint, sich selbst kennen zu lernen, sodass «Gott Gott sehen kann» oder «Gesicht Gesicht schauen kann». Wenn wir davon ausgehen, dass das Göttliche deswegen schöpferisch tätig ist, weil es sein ei­ genes Potenzial ergründen will, so würde es eine unvollständige Selbsterkenntnis bedeuten, wenn dabei nicht sein gesamtes Potenzial ausgedrückt würde. Und wenn das Absolute Bewusstsein zudem der höchste Künstler, Experimentator und Forscher ist, so wäre die Unterschlagung wesentlicher Optionen dem Reichtum der Schöpfung abträglich. Künstler beschränken sich bei ihrer Themenwahl nicht

289

bloss auf das Schöne, Ethische und Erhabene - sie stellen alle Aspekte des Lebens dar, die interessante Bilder ergeben oder fesselnde Geschichten versprechen. Dass die Existenz über eine Schattenseite verfügt, erhöht deren lichte Aspek­ te durch die entstehenden Kontraste; dem universalen Schauspiel verleiht dies aus­ serordentlichen Reichtum und grosse Tiefe. Der Konflikt zwischen Gut und Böse in allen Bereichen und auf allen Ebenen der Existenz ist eine unerschöpfliche Quelle der Inspiration für die faszinierendsten Geschichten. Ein Schüler fragte einst Sri Ramakrishna, den grossen indischen Visionär, Heiligen und spirituellen Lehrer: «Swamiji, warum ist das Böse in der Welt?» Nach kurzem Überlegen ant­ wortete Ramakrishna knapp: «Damit es spannender wird.» Diese Antwort mag zy­ nisch klingen angesichts des Leidens in der Welt, wenn man etwa an die vielen Mil­ lionen von Kindern denkt, die hungers sterben oder an all den vielen, an sich be­ handelbaren Krankheiten zugrunde gehen, an den Wahnsinn der Kriege in der ganzen menschlichen Geschichte, an die unzähligen geopferten und gefolterten Menschen, an die verheerenden Verwüstungen durch Naturkatastrophen. Machen wir ein Gedankenspiel: Wir stellen uns vor, wie alles, was wir gemein­ hin als schlecht oder böse ansehen, also Krankheit und Gewalt zum Beispiel, aus dem universellen Plan eliminiert wird - und wir werden die Dinge bald ganz an­ ders sehen. Bald stellen wir fest, dass ein solcher Akt ethischer Säuberung auch viele Aspekte des Seins aus der Welt löscht, die wir hoch schätzen - die ganze Ge­ schichte der Medizin etwa, all die Personen, die ihr Leben der Linderung von Lei­ den gewidmet haben, die Heldentaten der Freiheitskämpfer und die triumphalen Siege über böse Imperien. Wir verlieren ebenso all die vielen Kunstwerke, die durch die Konflikte zwischen Gut und Böse inspiriert wurden, und so vieles ande­ re mehr. Eine solche radikale Ausmerzung des universalen Schattens würde der Schöpfung die immense Tiefe und den prächtigen Reichtum entziehen, und wir hätten am Ende eine farblose, uninteressante Welt. Ethische Fragen auf diese Art zu betrachten kann sehr beunruhigend sein, auch wenn sie auf zutiefst überzeugenden persönlichen Erfahrungen holotroper Art beruhen. Die Probleme werden dann ersichtlich, wenn wir über die prakti­ schen Konsequenzen, die sich bei einer solchen Perspektive für unser Leben und unser Verhalten im Alltag ergeben, nachzudenken beginnen. Auf den ersten Blick scheint es das Leben zu trivialisieren und die Tiefe der menschlichen Not zu ver­ harmlosen, wenn man die materielle Welt als «virtuelle Realität» ansehen und die menschliche Existenz mit einem Film vergleichen will. Es sieht aus, als ob eine sol­ che Perspektive den Ernst des menschlichen Leidens ausser Acht lasse und eine Haltung zynischer Gleichgültigkeit unterstütze. Ähnlich könnte man ein Akzep­ tieren des Bösen als einem wesentlichen Teil der Schöpfung und das Erkennen von dessen Notwendigkeit in unserer Existenz leicht im Sinne einer Rechtfertigung für die Aufhebung aller ethischen Einschränkungen und für ein unbeschränktes Ver­ folgen der eigenen egoistischen Ziele fehlinterpretieren. Wir könnten diese An­ schauung auch im Sinne einer Sabotage all jener Bemühungen ansehen, welche das Böse in der Welt aktiv bekämpfen wollen.

290

Bevor wir die ethischen Auswirkungen, welche profunde transzendentale Ein­ sichten auf unser Verhalten haben, begreifen können, müssen wir weitere Fakto­ ren berücksichtigen. Die experimentelle Forschung, die solche profunde Einsich­ ten erst zugänglich macht, enthüllt unter anderem auch die in unserem Unbewus­ sten lagernden biografischen, perinatalen und transpersonalen Quellen der Ge­ walt und der Gier. Eine psychologische Verarbeitung dieses Materials resultiert in einer signifikanten Reduktion von Aggression und einer grösseren Toleranz. Wir gelangen auch zu einem breiten Spektrum von transpersonalen Erfahrungen, in denen wir uns mit den verschiedenen Aspekten der Schöpfung identifizieren. Da­ raus ergeben sich ein tiefer Respekt für das Leben und eine tiefe Empathie mit al­ len empfindenden Wesen. Derselbe Prozess, der uns die essenzielle Leere aller Formen und die Relativität von ethischen Werten entdecken lässt, reduziert auch unsere Neigung zu unmoralischem und asozialem Verhalten und lehrt uns Liebe und Mitgefühl. Wir entwickeln ein neues Wertesystem, das nicht auf konventionellen Nor­ men, Vorschriften und Angst vor Bestrafung basiert, sondern auf unserer Kennt­ nis und unserem Verständnis der universalen Ordnung. Wir erkennen, dass wir ein wesentlicher Teil der Schöpfung sind und dass wir uns selbst schaden, wenn wir an­ deren Schaden zufügen. Zusätzlich führt eine tief gehende Selbsterforschung auch zur Entdeckung der erfahrbaren Tatsache Reinkarnation und zum Verständnis der karmischen Gesetze. Und wir beginnen, uns der Wahrscheinlichkeit ernst zu nehmender Rückwirkungen gewahr zu werden, die sich bei schädlichen Verhaltes­ weisen einstellen - auch in denjenigen Fällen, da diese einer Bestrafung durch die Gesellschaft entgehen konnten. Wie uns die Erfahrung zeigt, steht auch die Erkenntnis der essenziellen Leere aller Formen einer tiefen Wertschätzung und liebenden Einstellung gegenüber der gesamten Schöpfung keinesfalls im Wege. Transzendentale Erfahrungen, die zu tiefen metaphysischen Einsichten in die wahre Natur unserer Realität führen, er­ zeugen eine tiefe Verehrung für alle empfindenden Wesen und führen zu einem verantwortlichen Engagiertsein im Leben. Unser Mitgefühl ist nicht auf Objekte materieller Natur angewiesen. Es kann sich auch an empfindende Wesen richten, die Bewusstseinseinheiten anderer Beschaffenheit sind.

Das kosmische Spiel Viele Religionen versuchen den Härten des Lebens dadurch beizukommen, dass sie die Bedeutung unseres irdischen Daseins herunterspielen und stattdessen auf die transzendenten Reiche verweisen. Solche Religionssysteme sehen die mate­ rielle Welt als eine minderwertige Dimension an, die unvollkommen und unrein ist und daher zwingend zu Leiden und Elend führt. Sie schlagen vor, dass wir unsere Aufmerksamkeit statt auf unsere materielle Existenz auf die anderen Wirklichkei­ ten richten sollen. In ihren Augen ist die materielle Wirklichkeit ein einziges Jam­ mertal und das inkarnierte Dasein ein Fluch oder ein Sumpf von Tod und Wieder­ geburt.

291

Die offiziellen Vertreter geben ihren frommen Anhängern das Versprechen, dass sie im Jenseits eine bessere Welt vorfinden oder einen erfüllenderen Be­ wusstseinszustand erreichen. Im schlichteren Volksglauben werden daraus die Wohnstätten der Seligen. Paradiese oder himmlische Welten. Nach dem Tod sind diese all jenen zugänglich, die die vom jeweiligen theologischen System geforder­ ten Voraussetzungen erfüllt haben. Die gehobeneren, anspruchsvolleren Systeme sehen Himmel und Paradies nur als Stationen auf der spirituellen Reise. Das End­ ziel ist die Auflösung der persönlichen Grenzen und die Vereinigung mit dem Göttlichen, das Wiedererreichen unseres ursprünglichen Wesens als reine Mona­ de in einem von biologischen Bedingtheiten ungetrübten Zustand oder das Auslö­ schen des Lebensfeuers und das Aufgehen im Nichts. Gemäss anderen spirituellen Ausrichtungen enthalten die Natur und unsere materielle Welt das Göttliche oder verkörpern dieses. Betrachten wir dieses Di­ lemma, indem wir Einsichten aus holotropen Zuständen heranziehen. Was können wir gewinnen, wenn wir dem Leben den Rücken kehren und in transzendente Wirklichkeiten fliehen? Und umgekehrt, welches ist der Wert, wenn wir unsere all­ tägliche Realität von ganzem Herzen annehmen? Viele spirituelle Systeme geben als Ziel der spirituellen Reise die Auflösung unserer persönlichen Grenzen und die Wiedervereinigung mit dem Göttlichen an. Menschen, die im Zuge der Erfor­ schung ihres Inneren die Identifikation mit dem Absoluten tatsächlich erlebt ha­ ben, kommen zur Erkenntnis, dass ein ernstes Problem entsteht, wenn man das Endziel dieser Reise der Einswerdung mit dem Allerhöchsten gleichsetzt. Sie stellen fest, dass das undifferenzierte Absolute Bewusstsein beziehungs­ weise die Leere nicht nur das Ende der spirituellen Reise, sondern auch den Ur­ sprung und den Anfang der Schöpfung darstellt. Das Göttliche ist das Prinzip, das den Getrennten die Wiedervereinigung bietet, aber auch die Kraft, die für den Teilungs- und Trennungsprozess der ursprünglichen Einheit verantwortlich ist. Wäre dieses Prinzip, in seiner reinen Form, vollkommen und erfüllt, so gäbe es keinen Anlass, schöpferisch tätig zu sein, und die anderen erfahrbaren Welten würden gar nicht existieren. Da es sie aber gibt, können wir daraus schliessen, dass die Schöp­ fungen des Absoluten Bewusstseins einem fundamentalen «Bedürfnis» entspre­ chen. Die Welten der Vielheit stellen so gesehen eine wichtige Ergänzung zum un­ differenzierten Zustand des Göttlichen dar. In der Kabbala heisst es: «Die Men­ schen brauchen Gott, wie Gott die Menschen braucht.» Das kosmische Drama beruht im Wesentlichen auf einem dynamischen Wech­ selspiel zweier Grundkräfte, von denen die eine - vom kreativen Prinzip aus gese­ hen - zentrifugal (hylotrop, auf materielle Prozesse ausgerichtet) und die andere zentripetal (holotrop, nach Ganzheit strebend) ist. Das undifferenzierte Kosmi­ sche Bewusstsein zeigt eine elementare Tendenz, Welten der Pluralität zu erschaf­ fen, welche unzählige separate Wesen enthalten. Wir haben zuvor einige der mög­ lichen «Gründe» oder «Motive» für diese Neigung, virtuelle Realitäten zu erzeu­ gen, erwähnt. Die individualisierten Bewusstseinseinheiten empfinden ihre Ab­ spaltung und Entfremdung als schmerzlich und entwickeln ein starkes Bedürfnis,

292

zum Ursprung zurückzukehren und sich mit ihm wieder zu vereinen. Die Identifi­ kation mit dem körperlichen Selbst ist mit vielen Problemen behaftet, unter ande­ rem mit seelischen und physischen Leiden, mit räumlichen und zeitlichen Be­ grenztheiten, mit Unbeständigkeit und Tod. Wenn es zutrifft, dass unsere Psyche von diesen beiden kosmischen Kräften, der hylotropen und der holotropen, beherrscht wird und dass diese auf fundamen­ tale Weise miteinander in Konflikt stehen, gibt es dann einen Zugang zur Existenz, der diesem Umstand auf adäquate Weise gerecht werden kann? Da weder die in­ dividualisierte Existenzform noch die undifferenzierte Einheit voll zufrieden stel­ lend ist, was ist die Alternative? Es ist sicher keine Lösung, wenn wir die materia­ lisierte Existenz als minderwertig anschauen und daraus zu entfliehen versuchen. Wir haben gesehen, dass Erfahrungswelten, einschliesslich unserer materiellen Welt, nicht nur ein wichtiges und wertvolles, sondern einen absolut notwendigen Gegenpol zum undifferenzierten Zustand des schöpferischen Prinzips darstellen. Gleichzeitig sind unsere Bemühungen, Erfüllung und inneren Seelenfrieden zu er­ reichen, gezwungenermassen zum Scheitern verurteilt oder können gar nach hin­ ten losgehen, wenn sie sich nur an Objekten und Zielen der materiellen Welt ori­ entieren. Eine Lösung aus diesem Dilemma kann also nur eine Bejahung von bei­ den Dimensionen bedeuten, der weltlichen und der transzendenten, der geformten und der formlosen. Das materielle Universum bietet unendlich viele Möglichkeiten zu aussergewöhnlichen Bewusstseinsabenteuern. In unserer körperlichen Form können wir die spektakulären Welten der Gestirne mit ihren Milliarden von Galaxien beob­ achten und die Naturwunder unserer Erde bestaunen. Nur in dieser Form und auf der materiellen Ebene können wir uns verlieben, die sexuelle Ekstase geniessen, Kinder bekommen, uns Beethovens Musik anhören oder Rembrandts Gemälde bewundern. Die Gelegenheiten zur Erforschung von Mikro- und Makrowelt sind praktisch unbegrenzt. Ausser diesen Erfahrungen der Gegenwart erwarten uns auch unzählige Abenteuer, die sich bei einem Vordringen in die geheimnisvolle Vergangenheit ergeben, angefangen bei den alten Hochkulturen und der vorsint­ flutlichen Welt bis hin zu den Vorgängen, die in den allerersten Mikrosekunden nach dem Urknall stattfanden. Um an der Welt der Phänomene und dem reichen Spektrum an Abenteuern teilnehmen zu können, bedarf es eines gewissen Masses an Identifikation mit un­ serem Selbst in seiner inkarnierten Form und ein Annehmen der materiellen Welt. Doch wenn wir uns ausschliesslich mit dem Körper-Ich identifizieren und die ma­ terielle Welt die einzige Realität für uns ist, können wir unsere Teilnahme an der Schöpfung unmöglich voll geniessen. Die Schreckgespenster von persönlicher Be­ deutungslosigkeit, Unbeständigkeit und Tod können die positiven Seiten des Le­ bens komplett überschatten und ihres Reizes berauben. Hinzu kommt die Frustra­ tion über die wiederholten vergeblichen Versuche, unser volles göttliches Poten­ zial unter den einengenden Bedingungen, die sich durch unsere Körperlichkeit und die materielle Welt ergeben, zu verwirklichen.

293

Um für dieses Dilemma eine Lösung zu finden, müssen wir uns nach innen wenden und unseren eigenen Weg zur Selbsterkenntnis beginnen. Mit zunehmen­ dem Wissen über die verborgenen Dimensionen unseres Selbst und unserer Wirk­ lichkeit wird unsere Identifikation mit dem Körper-Ich zunehmend lockerer. Aus pragmatischen Gründen identifizieren wir uns zwar weiterhin mit unserem «haut­ umhüllten Ich», aber dies geschieht immer mehr in einem spielerischen Sinne. Je mehr eigene Erfahrungen und Erkenntnisse zu den transpersonalen Dimensionen des Seins, zu unserer wahren Identität und unserem Platz im Kosmos wir sammeln, umso leichter und beglückender empfinden wir das Alltagsleben. Wer sich der Selbsterforschung auf systematische Weise widmet, gelangt früher oder später zur Erkenntnis der essenziellen Leere aller Formen. Nach den buddhistischen Lehren kann uns das Wissen um die virtuelle Natur der phänome­ nalen Welten und die Erkenntnis ihres Leer-Seins helfen, die Befreiung vom Lei­ den zu erlangen. Notwendig ist die Erkenntnis, dass die Existenz einzelner Wesen­ heiten, inklusive unserer eigenen, letzten Endes eine Illusion ist. In den buddhisti­ schen Texten wird das Wissen um die essenzielle Leere aller Formen und die dar­ aus folgende Einsicht, dass es keine getrennten Einheiten gibt, als anatta (anatman), wörtlich: «Nicht-Selbst», bezeichnet. Das auf transpersonalem Wege gewonnene Wissen um unsere göttliche Natur und die essenzielle Leere aller Dinge bildet die Grundlage eines Metabezugssys­ tems, das uns bei der Bewältigung der komplexen Alltagsrealität helfen kann. Zwar können wir die materielle Welt mit allem, was sie zu bieten hat, in vollen Zü­ gen geniessen - die Schönheit der Natur, unsere zwischenmenschlichen Beziehun­ gen, die körperliche Liebe, die Familie, Kunstwerke, Sport, alle kulinarische Freu­ den und unzählige andere Dinge. Doch was wir auch tun, das Leben wird immer Hindernisse, Herausforderungen, schmerzliche Erfahrungen und Verluste mit sich bringen. Wenn die Situation zu bedrückend ist und die Dinge zu schwierig werden, können wir uns der allumfassenden kosmischen Perspektive entsinnen, der wir auf unserer Suche begegnet sind. Unser Verbundensein mit höheren Realitäten und das befreiende Wissen um anatta und die Leere hinter allen Formen können uns dabei helfen, Situationen auszuhalten, die ansonsten vielleicht unerträglich wären. Mit Hilfe dieses trans­ zendenten Wissens sind wir möglicherweise in der Lage, das gesamte Spektrum des Lebens - oder, wie Zorbas der Grieche es sagte: «die ganze Katastrophe» - voll an uns herankommen zu lassen. Das Meistern der Aufgabe, den materiellen und den spirituellen Aspekt der Existenz - oder die hylotrope und die holotrope Di­ mension - miteinander in Einklang zu bringen und zu integrieren, gehört zu den erhabensten Zielen von mystischen Traditionen. Eine Person, die sich mit der beschränkten Ebene des Alltagsbewusstseins zu­ frieden gibt und die keinen Zugang zu den transzendenten und numinosen Di­ mensionen der Wirklichkeit hat, wird grosse Mühe haben, die tief sitzenden Äng­ ste vor dem Tod zu überwinden und im Leben einen tieferen Sinn zu finden. Ein Grossteil des täglichen Verhaltens wird durch die Bedürfnisse des falschen Ich be­

294

stimmt, und wichtige Lebensbereiche werden von einem passiv-reaktiven oder in­ authentischen Verhalten dominiert. Allein aus diesem Grund ist es unerlässlich, dass wir unsere praktischen Alltagsaktivitäten mit einer systematisch praktizierten spirituellen Disziplin ergänzen, die uns einen direkten Zugang zu den transzen­ dentalen Reichen verschaffen kann. Die vorindustriellen Gesellschaften hatten zu diesem Zweck ihre schamanischen Rituale, Übergangsriten, Heilungszeremonien, alten Mysterien und mystischen Schulungen - und gewisse Weltreligionen ihre hoch spezifizierten Meditationspraktiken. ln den vergangenen Jahrzehnten liess sich in der westlichen Welt eine Renais­ sance der alten spirituellen Praktiken und «Technologien des Sakralen» beobach­ ten. Die moderne Tiefenpsychologie und erfahrungsorientierte Therapieformen entwickelten zudem neue, hoch wirksame Ansätze, die einer spirituellen Öffnung förderlich sind. Diese Methoden sind all jenen zugänglich, die sich für die seelischspirituelle Transformation und Bewusstseinserweiterung interessieren. C. G. Jung, Vorläufer und Ur-Vater der transpersonalen Psychologie, entwarf in seinen Schriften eine Lebensstrategie, die sowohl die weltlichen wie auch die spirituellen Dimensionen berücksichtigt. Er meinte, wir sollten alle in unserem alltäglichen Leben verrichteten Dinge durch eine systematische Selbsterforschung ergänzen, durch ein gleichzeitiges Sondieren unseres Inneren, bis zu den verborgensten Win­ keln unserer Psyche. Dadurch würden wir uns mit einem höheren Aspekt unserer Persönlichkeit, den er das «Selbst» nannte, verbinden und könnten uns von diesem auf dem Weg zur «Individuation» führen lassen. Folgen wir Jungs Ratschlag, so können die wichtigen Entscheidungen in unse­ rem Leben auf einer kreativen Synthese aus unserem pragmatischen, weltlichen Wissen und der tiefen Weisheit des kollektiven Unbewussten beruhen. Diese Idee des grossen Schweizer Psychologen stimmt mit den Berichten der vielen Personen überein, mit denen ich, während vierzig Jahren, zu arbeiten die Ehre hatte. Es ist meine persönliche Überzeugung, dass eine solche Daseinsstrategie nicht nur für unser persönliches Leben von Segen wäre, sondern sie könnte, würde sie auf einer genügend breiten Basis praktiziert, auch zu einem wichtigen Faktor für die Lösung unserer gegenwärtigen globalen Krise werden. Die Gefährdung allen Lebens auf unserem Planeten und die Notwendigkeit eines radikalen Wandels ist von solcher Bedeutung, dass wir dieses Thema im letzten Kapitel dieses Buches speziell behandeln.

295

Kapitel 9 Bewusstseinsevolution und das Überleben des Menschen: Eine transpersonale Perspektive der globalen Krise

D

ie Resultate, die sich aus der Erforschung holotroper Bewusstseinszustände ergeben haben, sind nicht nur für jeden Einzelnen von uns wichtig, sondern haben auch Auswirkungen für die Zukunft der Menschheit und das Überleben auf diesem Planeten allgemein. In diesem Kapitel möchte ich darauf eingehen, wie Er­ fahrungen und Beobachtungen aus der Bewusstseinsforschung uns helfen können, Wesen und Ursprung der aktuellen globalen Krise zu verstehen. Ich möchte ausserdem auch einige Wege und Möglichkeiten aufzeichnen, die in dieser kritischen Situation hilfreich wären und die ebenfalls aus dieser Arbeit hervorgegangen sind. Wir wollen uns dabei besonders auf die seelisch-geistigen Ursachen zweier Ur­ kräfte konzentrieren, welche unsere Welt seit Menschengedenken bestimmt und vorangetrieben haben - die uns angeborenen Veranlagungen Gewalt und Gier. Wir werden uns ausserdem näher mit der Beziehung zwischen monistisch-materialistischer Weitsicht und technologischem Fortschritt und dem Verlust von spiritu­ ellen Werten befassen.

Gewalt und Gier in der Menschheitsgeschichte Anzahl und Ausmass der Gräueltaten, die durch die Jahrtausende hindurch über­ all auf der Welt verübt worden sind - viele von ihnen im Namen Gottes - sind wahrlich unvorstellbar und unbeschreiblich. Millionen von Soldaten und Zivilisten sind zu allen Zeiten in Kriegen und Revolutionen oder ähnlich schlimmen Situa­ tionen umgebracht worden. Im allen Rom wurden in den Arenen unzählige Chris­ ten geopfert, um den Massen die begehrten Spektakel bieten zu können. Hundert­ tausende unschuldiger Opfer wurden während der Ketzerverfolgungen der mit­ telalterlichen Inquisition gefoltert, umgebracht oder bei lebendigem Leibe ver­ brannt. In Mittelamerika opferten die Azteken auf ihren Altären die überlebenden Soldaten der besiegten Stämme. Die Grausamkeit der Azteken fand ihre Entspre­ chung in den vielen Bluttaten der spanischen Konquistadoren. Die mongolischen Horden des Dschingis Khan fegten mordend und plündernd durch Asien und brannten ganze Städte und Dörfer nieder. Und in seinen beispiellosen militäri­ schen Feldzügen eroberte Alexander der Grosse alle Länder von Mazedonien bis Indien. Weltliche und religiöse Ambitionen - von der Expansion des Römischen

296

Reiches über die Ausbreitung des Islam bis zu den christlichen Kreuzzügen zeichneten sich durch den Einsatz von Schwert und Feuer aus. Der Kolonialismus Grossbritanniens und anderer europäischer Länder oder die napoleonischen Krie­ ge sind weitere Beispiele für die Aggression und unbarmherzige Gier des Men­ schen. Dieser Trend setzte sich im zwanzigsten Jahrhundert ungebremst fort. Die Op­ fer des Ersten Weltkriegs werden auf zehn Millionen Soldaten und zwanzig Mil­ lionen Zivilisten geschätzt. Weitere Millionen starben an den Folgen des Kriegs, den um sich greifenden Epidemien und Hungersnöten. Im Zweiten Weltkrieg wa­ ren die Verluste etwa doppelt so hoch. Das zwanzigste Jahrhundert sah den Auf­ stieg Nazideutschlands und die Schrecken des Holocaust, Stalins rücksichtslose Vorherrschaft in Osteuropa, sein Gulag-Archipel und auch den zivilen Terror in China. Wir können die vielen Opfer der südamerikanischen Diktaturen dazu­ zählen, die Gräueltaten und den Genozid der Chinesen in Tibet oder die Grau­ samkeiten der südafrikanischen Apartheid. Die Kriege in Korea, Vietnam und im Nahen Osten sowie die Gemetzel in Jugoslawien und Ruanda sind weitere Bei­ spiele des sinnlosen Blutvergiessens im vergangenen Jahrhundert. Die menschliche Gier von heute zeigt sich auch in weniger gewaltsamen For­ men, die in der Philosophie und Strategie der kapitalistischen Ökonomie gründen, deren Ziele das Anheben des Bruttosozialprodukts, «unbegrenztes Wachstum» und das rücksichtslose Plündern nicht erneuerbarer natürlicher Ressourcen sowie das Fördern der Konsumsucht und eine «geplante Überalterung» sind. Darüber hinaus wurde ein Grossteil dieser verschwenderischen ökonomischen Politik, wel­ che verhängnisvolle ökologische Auswirkungen zeitigt, auf die Produktion von Waffen ausgerichtct, die von zunehmend grösserem Vernichtungspotenzial sind.

Endzeitszenarien zur Bedrohung des Lebens auf unserem Planeten In früheren Zeiten hatten Gewalt und Gier tragische Konsequenzen für die direkt an den kriegerischen Handlungen Beteiligten und für ihre nahen Verwandten. Sie tangierten jedoch nicht die Evolution der menschlichen Spezies als Ganzes und stellten auch für das Ökosystem und die Biosphäre des Planeten keine Bedrohung dar. Selbst nach den schlimmsten Kriegen war die Natur im Stande, die Folgeschä­ den wieder auszumerzen und sich in wenigen Jahrzehnten zu erholen. Diese Situa­ tion hat sich im Verlauf des zwanzigsten Jahrhunderts radikal geändert. Der ra­ sante technologische Fortschritt und das exponentielle Wachstum der industriel­ len Produktion, die Bevölkerungsexplosion und insbesondere die Entdeckung der Atomenergie haben das natürliche Gleichgewicht unwiederbringlich verändert. Das zwanzigste Jahrhundert konnte pro Jahrzehnt, oder gar pro Jahr, mehr wissenschaftliche und technologische Durchbrüche verzeichnen als früher ein ganzes Jahrhundert. Diese erstaunlichen Erfolge unseres Intellekts haben die mo­ derne Menschheit jedoch an den Rand einer globalen Katastrophe gebracht, da der emotionale und moralische Reifungsprozess nicht im selben Masse erfolgte.

297

Jetzt haben wir das zweifelhafte Privileg, die erste Spezies in der Geschichte zu sein, die im Stande ist, sich selbst und das gesamte Leben auf dem Planeten aus­ zulöschen. Die Geschichte des menschlichen Intellekts ist eine Geschichte der Triumphe. Wir haben die Geheimnisse der Nuklearenergie aufgedeckt, können Töne und Farbbilder rund um die Welt und in den kosmischen Raum senden, haben den DNS-Code entschlüsselt und beginnen nun mit dem Klonen und der Genmanipu­ lation zu experimentieren. Doch werden diese hoch entwickelten Technologien unglücklicherweise zur Befriedigung primitiver Emotionen und instinktiver Im­ pulse eingesetzt, welche von denen der Steinzeitmenschen nicht sehr verschieden sind. Unvorstellbar hohe Geldsummen werden in den Wahnsinn des Rüstungswett­ laufs investiert, und ein Bruchteil des vorhandenen Atomwaffenarsenals würde genügen, alles Leben auf der Erde auslöschen. Mehrere Zehnmillionen Menschen haben in den beiden Weltkriegen und bei unzähligen anderen Konfrontationen, aus ideologischen, rassistischen, religiösen oder ökonomischen Gründen, ihr Le­ ben lassen müssen. Hunderttausende wurden von der Geheimpolizei totalitärer Regime auf grausamste Weise gefoltert. Unersättliche Gier bringt den Menschen dazu, hektischen Mutes irgendwelchen Profiten nachzujagen und persönliche Be­ sitztümer über jedes vernünftige Mass hinaus anzuhäufen. Diese Lebensstrategie hat - nebst dem Schreckgespenst Atomkrieg - dazu geführt, dass die Menschheit sich nun mehreren, auf den ersten Blick zwar nicht so spektakulären, dafür umso heimtückischeren und besser vorhersehbaren Endzeitszenarien ausgesetzt sieht. Diese ergeben sich aus der Verschmutzung des Erdreichs, von Wasser und Luft, der Anhäufung von Atommüll und der Gefahr von atomaren Unfällen, der Zerstörung der Ozonschicht, dem Treibhauseffekt, einer möglichen stetigen Dezi­ mierung des Sauerstoffs auf der Erde als Folge des rücksichtslosen Abholzens der Wälder und des langsamen Vergiftens des Meeresplanktons, sowie den Gefahren, die durch die giftigen Zusätze in Nahrungsmitteln und Getränken bestehen. Dazu gesellt sich noch eine ganze Anzahl anderer Entwicklungen, die zwar von weniger apokalyptischem Charakter, aber nicht weniger beunruhigend sind: das rasend schnell voranschreitende Aussterben von Tier- und Pflanzenarten beispielsweise, der hohe Prozentsatz an Obdachlosen und Hungernden, der Zerfall der Familie und die Krise der Elternschaft, das Verschwinden der spirituellen Werte und der Mangel an Hoffnung und positiven Perspektiven, der Verlust eines inneren Ver­ bundenseins mit der Natur und ein generelles Gefühl des Entfremdetseins. Das Ergebnis davon ist, dass die Menschheit nun in einem chronischen Angstzustand lebt, am Rande einer nuklearen und ökologischen Katastrophe, während sie gleichzeitig über eine unglaubliche Technologie verfügt, die der Welt der ScienceFiction nicht mehr sehr fern ist. Die moderne Wissenschaft hat wirksame Methoden und Hilfsmittel ent­ wickelt, welche die meisten der dringenden globalen Probleme lösen könnten: Die Mehrheit der Krankheiten könnte bekämpft, Hunger und Armut beseitigt, das

298

Ausmass der industriellen Verschmutzung verringert und die destruktiven fossilen Brennstoffe durch erneuerbare Quellen sauberer Energie ersetzt werden. Die Probleme, die dem im Wege stehen, sind nicht ökonomischer oder technologischer Art - ihr Ursprung liegt vielmehr in der menschlichen Natur selbst. Wegen der ungezähmten Kräfte in der menschlichen Psyche werden unvorstellbare Mengen die­ ser Ressourcen für Absurditäten wie Wettrüsten, Machtkämpfe und das Streben nach «unbegrenztem Wachstum» verschleudert. Unsere menschliche Natur ist es auch, die eine gerechtere Verteilung der irdischen Güter verhindert sowie einem Umschwenken von rein ökonomischen und politischen Erwägungen zu ökologi­ schen Prioritäten, die für das Überleben auf diesem Planeten unerlässlich, entge­ gensteht.

Seelisch-geistige Wurzeln der globalen Krise Diplomatische Verhandlungen, administrative und gesetzliche Massnahmen, öko­ nomische und soziale Sanktionen, militärische Interventionen und andere ähnliche Bemühungen waren bis jetzt von wenig Erfolg gekrönt, ja, oft haben sie mehr Pro­ bleme geschaffen als gelöst. Es wird immer klarer, warum sie versagen mussten: Die zur Behebung der Krise eingesetzten Strategien fussen auf denselben Ideolo­ gien, die sie auch ausgelöst haben. Letztlich ist die heutige globale Krise eine seelisch-geistige, die das Niveau der Bewusstseinsevolution unserer menschlichen Spezies widerspiegelt. Es ist daher schwer vorstellbar, dass sie ohne eine radikale innere Verwandlung der Menschheit und ihren Aufstieg zu einer höheren Stufe seelischer Reife und spiritueller Bewusstheit gelöst werden kann. Der Versuch, die Menschheit für ein gänzlich neues Wertesystem und andere Ziele begeistern zu wollen, mag zu unrealistisch und zu utopisch erscheinen, als dass er wirklich Hoffnung erwecken könnte. In Anbetracht der überragenden Rol­ le, welche Gewalt und Gier in der Menschheitsgeschichte gespielt haben, scheint die Möglichkeit, dass sich die moderne Menschheit in eine Spezies von Individuen verwandeln könnte, die friedlich mit ihren Mitmenschen, ungeachtet ihrer Rasse, Hautfarbe und religiösen oder politischen Überzeugung - nicht zu reden mit an­ deren Spezies -, koexistieren könnte, nicht sehr gross zu sein. Wir stehen vor der fast unlösbaren Herausforderung, der Menschheit tiefe ethische Werte, Sensibi­ lität für die Bedürfnisse anderer, frei gewählte Einfachheit und ein volles Gewahr­ sein der ökologischen Imperative einflössen zu müssen. Aber obgleich die Situation ernst und kritisch ist, ist sie wohl doch nicht so hoffnungslos, wie es vielleicht aussieht. Nach über vierzig Jahren intensiven Studi­ ums holotroper Bewusstseinszustände bin ich zum Schluss gekommen, dass die von der transpersonalen Psychologie - eine Disziplin, die versucht, Spiritualität in das neue Paradigma der westlichen Wissenschaft zu integrieren - entwickelten theoretischen und praktischen Konzepte dabei helfen können, der Krise, in der wir uns alle befinden, beizukommen. Unsere Beobachtungen lassen darauf schliessen, dass eine radikale seelisch-geistige Transformation der Menschheit nicht nur mög­ lich ist, sondern schon begonnen hat. Die Frage ist nur, ob sie schnell genug und in

299

einem hinreichend grossen Ausmass vor sich geht, damit sie der momentanen selbstzerstörerischen Tendenz auch eine andere Richtung geben kann.

Die drei Gifte des tibetischen Buddhismus Schauen wir uns nun die theoretischen Erkenntnisse aus der Erforschung holotro­ per Zustände an und wie sich diese in unserem Alltagsleben praktisch auswirken: Könnten diese auf eine Weise genutzt werden, die unser Leben erfüllender und lohnender machen würde? Wie könnte die systematische Selbsterforschung in ho­ lotropen Zuständen unser emotionales und physisches Wohlergehen verbessern und eine positive Transformation der Persönlichkeit bewirken? Und, noch spezifi­ scher, inwiefern könnte diese Strategie zur Bewältigung der globalen Krise und dem Überleben auf diesem Planeten beitragen? Spirituelle Lehrer aus allen Zeitaltern sind sich darin einig, dass das Streben nach rein materiellen Zielen uns weder Erfüllung noch Glück noch inneren Frie­ den bringt. Die sich rapide verschlimmernde Weltkrise, der moralische Zerfall und die wachsende Unzufriedenheit, die mit dem zunehmenden materiellen Wohl­ stand unserer Industriegesellschaft einher geht, scheint diese alte Wahrheit zu be­ stätigen. In der spirituellen Literatur herrscht Einigkeit darüber, dass das Heilmit­ tel für die existenzielle Malaise, welche die Menschheit bedrängt, darin besteht, dass wir uns nach innen wenden, die Antworten in der eigenen Seele suchen und uns einem tief greifenden Transformationsprozess öffnen. Klar ist, dass eine wesentliche Grundvoraussetzung für eine erfolgreiche Exi­ stenz der Intelligenz-Faktor ist - mit einem entwickelten Lern- und Erinnerungssowie Denk- und Urteilsvermögen und der Fähigkeit, angemessen auf unsere Um­ welt zu reagieren. Neuere Forschungen unterstreichen zudem die Bedeutung der «emotionalen Intelligenz», die sich unter anderem im geschickten Umgang mit un­ seren Mitmenschen zeigt (Goleman 1996). Die Erforschung holotroper Zustände führte zum selben Ergebnis, das schon die Ewige Philosophie vertritt, nämlich dass die Qualität unseres Lebens letztlich von einem Faktor abhängt, den man «spiritu­ elle Intelligenz» nennen könnte. Spirituelle Intelligenz entspricht der Fähigkeit, unser Leben auf eine Weise zu führen, dass es die tiefen philosophischen und metaphysischen Einsichten in Bezug auf die Realität und auf uns selbst widerspiegelt. Das wirft natürlich die Frage nach der Natur und der Richtung der Veränderungen auf, die wir vollziehen müssen, um die Qualität unseres Lebens zu verbessern. Eine sehr klare und detaillierte Antwort auf diese Frage geben verschiedene Schulen des Mahayana-Buddhismus. Als Grundlage für unsere Erörterung kann uns das berühmte tibetische Rollbild (Thangka) dienen, das den Kreislauf von Leben, Tod und Reinkarnation dar­ stellt. Abgebildet ist das Rad des Lebens, das sich fest im Griff des schrecklichen Herrn des Todes befindet. Das Rad ist in sechs grosse Segmente unterteilt, welche die verschiedenen Lokas oder Reiche, in die wir hereingeboren werden können, symbolisieren. Der himmlische Bereich der Götter (Devas) wird vom angrenzen­ den Segment der eifersüchtigen Kriegsgötter, der Asuras, herausgefordert. Der

300

Bereich der hungrigen Geister wird von den so genannten Pretas bewohnt, er­ bärmlichen Kreaturen, welche die unersättliche Gier repräsentieren. Sie haben riesige Bäuche, enormen Appetit und Mäuler von der Grösse eines Nadelöhrs, ln den übrigen Radsegmenten sind das Menschenreich, das Tierreich und die Hölle dargestellt. Im Innern des Rades sind zwei konzentrische Kreise. Der äussere zeigt einen auf- und einen absteigenden Pfad, auf welchen die Seelen reisen. Im inneren Kreis befinden sich drei Tiere - ein Schwein, eine Schlange und ein Hahn. Die Tiere im Zentrum des Rades repräsentieren die «drei Gifte» oder Kräfte, welche gemäss der buddhistische Lehre die Zyklen von Leben und Tod in Gang halten und für alles Leiden in unserem Leben verantwortlich sind. Das Schwein symbolisiert Unwissenheit in Bezug auf das Wesen der Wirklichkeit und unser ei­ genes Wesen; die Schlange steht für Zorn und Aggression, und der Hahn bedeutet das Verlangen und die Lust, die zum Anklammern an die Dinge führen. Die Qua­ lität unseres Lebens und unsere Fähigkeit, die Herausforderungen der Existenz zu meistern, hängen davon ab, in welchem Masse wir diese Kräfte, welche die Welt der fühlenden Wesen regieren, eliminieren oder transformieren können. Schauen wir uns jetzt den Prozess der systematischen Selbsterforschung mit Hilfe holotro­ per Bewusstseinszustände aus dieser Perspektive an.

Praktisches Wissen und transzendentale Weisheit Das Erlangen von ausserordentlichen Kenntnissen über uns selbst, andere Men­ schen, die Natur und den Kosmos ist der augenfälligste Nutzen, den wir aus der tie­ fen Selbsterfahrungsarbeit ziehen können. In holotropen Zuständen können wir ein tiefes Verständnis der unbewussten Dynamik unserer Psyche erlangen und entdecken, wie unsere Wahrnehmung von uns selbst und der Welt von vergesse­ nen und verdrängten Erinnerungen aus der Kindheit, der Säuglingszeit, der Ge­ burt und der pränatalen Existenz beeinflusst wird. Des Weiteren können wir uns in transpersonalen Erfahrungen mit anderen Personen, Tieren, Pflanzen und Ele­ menten der anorganischen Welt identifizieren. Erfahrungen dieser Art stellen eine ausserordentlich reichhaltige Quelle einzigartiger Einsichten dar und können un­ sere Weitsicht radikal verändern. In den vergangenen Jahren haben viele Autoren darauf hingewiesen, dass das newton-kartesianische Paradigma und der monistische Materialismus, welche un­ sere westliche Wissenschaft seit dreihundert Jahren dominiert haben, wesentlich für das Entstehen der globalen Krise verantwortlich sind. Diese Denkweise beruht auf einer scharfen Zweiteilung von Geist und Natur und versteht das Universum als eine gigantische, deterministische und von mechanischen Gesetzen geleitete Supermaschine. Die Vorstellung eines Kosmos als rein mechanisches System führ­ te zur irrigen Annahme, dass wenn man denselben in seine Einzelteile zerlegte und dann erforschen würde, er vollständig verstanden würde. Diese Auffassung stellte ein ernsthaftes Hindernis dar, welches ein Betrachten der Probleme hinsichtlich ihrer komplexen Wechselbeziehungen und aus der holistischen Perspektive verun­ möglichte.

301

Indem sie die Materie zum wichtigsten Prinzip des Kosmos erklärte, reduzier­ te die westliche Wissenschaft Leben, Bewusstsein und Intelligenz zu zufällig ent­ standenen Nebenprodukten von materiellen Prozessen. So gesehen sind die Men­ schen nichts anderes als höher entwickelte Tiere. Dieser Glaube führte schliesslich auch dazu, dass die Theorie, laut welcher Antagonismus, Konkurrenzkampf und das darwinsche «Überleben der Stärksten» die dominanten Prinzipien der mensch­ lichen Gesellschaft sind, allgemeine Akzeptanz fand. Die theoretisch hergeleitete Fehlannahme, die Natur sei «unbewusst», wurde zudem im Sinne eines Freipasses zu deren Ausbeutung interpretiert - ganz nach Francis Bacons so eloquent formu­ liertem Programm (Bacon 1870). Die Psychoanalyse hat ein pessimistisches Bild unserer Spezies gezeichnet die wichtigsten Motivationskräfte der Kreatur Mensch sind ihre tierischen Instink­ te. Gemäss Freud würden wir wahllos töten und stehlen, Inzest begehen und uns hemmungslosem, promiskitivem Sex hingeben - hätten wir nicht Angst vor den ge­ sellschaftlichen Folgen und würden wir nicht vom Über-Ich (verinnerlichte Ver­ bote und eingeschärfte Gebote der Eltern) kontrolliert (Freud 1961). Dieses Bild der menschlichen Natur verbannte andere Konzepte wie Komplementarität, Sy­ nergie, gegenseitiger Respekt und friedliche Kooperation in den Bereich zeitwei­ liger, opportunistischer Strategien oder naiver, utopischer Fantasien. Man kann mühelos erkennen, wie diese Konzepte und die damit zusammenhängenden Wer­ tesysteme die gegenwärtige Krise miterzeugt haben. Die aus der Arbeit mit holotropen Zuständen gewonnenen Einsichten und vie­ le überzeugende Belege unterstützen ebenfalls eine radikal neue Sichtweise zu Kosmos, Natur und Mensch. Diese konnten experimentell die von den Pionieren der Informations- und der Systemtheorie formulierten Konzepte erhärten, welche zum Schluss kamen, dass unser Planet und der gesamte Kosmos ein einheitliches Netzwerk darstellen, von dem jeder von uns ein fester Bestandteil ist (Bateson 1979, Capra 1996). In holotropen Zuständen können wir eine ansehnliche Menge an Kenntnissen gewinnen, die uns im Alltag von Nutzen sein können. Die in den tibetischen Thangkas vom Schwein symbolisierte Unwissenheit bedeutet nicht den Mangel oder das Fehlen von Kenntnissen im üblichen Sinne, damit sind nicht ein­ fach unzureichende Informationen über einzelne Aspekte der materiellen Welt gemeint, sondern sie bezieht sich auf das Nichtwissen in einem viel tieferen und umfassenderen Sinn. Diese Unwissenheit (Avidya) bezeichnet eine grundsätzlich falsche Auffas­ sung und einen verwirrten Geist, was die Natur der Wirklichkeit und unser eigenes Wesen betrifft. Das einzige Mittel, das dieser Ignoranz beikommt, ist die transzen­ dentale Weisheit (Prajna paramita). Aus dieser Perspektive ist es unerlässlich, dass die innere Arbeit mit holotropen Zuständen mehr als nur ein Zunehmen, ein Ver­ tiefen und eine Korrektur unserer Kenntnisse der materiellen Welt beinhaltet. Es ist auch ein einzigartiger Weg, Einsichten in Themen von transzendentaler Rele­ vanz zu bekommen, wie wir immer wieder gesehen haben.

302

Im Lichte dieser empirischen Belege ist Bewusstsein nicht ein Produkt von physiologischen Vorgängen im Hirn, sondern ein ursprüngliches Attribut der Exis­ tenz. Die Urnatur des Menschen ist nicht tierisch, sondern göttlich. Das Univer­ sum ist von kreativer Intelligenz durchdrungen, und das Bewusstsein ist untrenn­ bar mit seiner Struktur verwoben. Unsere Identifikation mit dem separaten Körper-Ich ist eine Illusion; unsere wahre Identität ist die Totalität der Existenz. Die­ ses Verständnis bietet eine natürliche Grundlage für die Verehrung des Lebens, für Zusammenarbeit und Synergie, für die Anteilnahme an den Anliegen der Menschheit und unseres Planeten sowie für eine tiefe ökologische Bewusstheit.

Die Anatomie menschlicher Zerstörungskraft Schauen wir uns jetzt aus derselben Perspektive das zweite «Gift» an, die mensch­ liche Aggressionsneigung. Die modernen Studien zu aggressivem Verhalten be­ gannen in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts mit Charles Darwins epocha­ len Entdeckungen auf dem Gebiet der Evolution (Darwin 1952). Der Versuch, die menschliche Aggression mit Hinweisen auf unseren tierischen Ursprung zu erklä­ ren, brachte theoretische Konzepte hervor wie das Bild des «nackten Affen» von Desmond Morris (Morris 1967), die Idee des «territorialen Imperativs» von Ro­ bert Ardrey (Ardrey 1961), das «dreiteilige Gehirn» von Paul MacLean (MacLean 1973) und die soziobiologischen Erklärungen von Richard Dawkins, der Aggres­ sion als genetische Strategien der «selbstsüchtigen Gene» interpretierte (Dawkins 1976). Von Pionieren der Ätiologie wie Konrad Lorenz und Nikolaas Tinbergen entwickelte verfeinerte Verhaltensmodelle ergänzten die mechanische Betonung auf Instinkte durch das Studium von rituellen und anregenden Elementen (Lorenz 1963, Tinbergen 1965). Jede Theorie, die besagt, dass die aggressive Veranlagung des Menschen sich einfach mit seiner tierischen Herkunft begründen lässt, ist mangelhaft und wenig überzeugend. Von seltenen Ausnahmen wie den gelegentlichen heftigen Grup­ penüberfällen von Schimpansen abgesehen (Wrangham und Peterson 1996), wer­ den Tiere nur dann aggressiv, wenn sie hungrig sind, ihr Gebiet verteidigen oder um sexuelle Vorrechte kämpfen. Wesen und Ausmass der menschlichen Gewalt die «bösartige Aggression» Erich Fromms - findet im Tierreich keine Entspre­ chung (Fromm 1973). Die Erkenntnis, dass die menschliche Aggression nicht durch die phylogenetische Evolution allein erklärt werden kann, führte zur For­ mulierung der psychodynamischen und psychosozialen Theorien, welche die menschliche Aggression zu einem grossen Teil als erlernte Phänomene ansehen. Diese Sichtweise kam in den späten Dreissigerjahren auf und wurde durch die Ar­ beiten von Dollard und Miller (Dollard et al. 1939) initiiert.

Biografische Quellen der Aggression Die psychodynamischen Theorien versuchen, die menschliche Aggression als eine Reaktion auf Frustration, Missbrauch und fehlende Liebe in der Babyzeit und der Kindheit zu erklären. Durch Erklärungen dieser Art gelingt es jedoch nicht, die

303

extremen Formen der individuellen Gewalt wie etwa bei den Serienmorden des Würgers von Boston oder jenen von Jeffrey Dahmer oder bei den wahllosen Mehrfachtötungen von Amokläufern zu erklären. Gängige psychodynamische und psychosoziale Theorien sind gar noch weniger überzeugend, wenn es um die bes­ tialischen Taten ganzer Gruppen geht, wie etwa die Morde der Manson-Bande oder die Gräueltaten, die bei Aufständen in Gefängnissen begangen werden. Sie versagen schliesslich vollends, wenn wir sie auf gesellschaftliche Massenphänome­ ne wie Nazismus, Kommunismus, blutige Kriege, Revolutionen, Völkermord oder Konzentrationslager anwenden. In den vergangenen Jahrzehnten konnten die psychedelische Forschung und die tief greifenden Selbsterfahrungstherapien Licht in die Frage der menschlichen Aggression bringen. Diese Arbeiten ergaben, dass die Wurzeln dieses problemati­ schen und gefährlichen Aspekts unserer menschlichen Natur viel tiefer gründen und gewaltiger sind, als die traditionelle Psychologie es sich je vorgestellt hatte. Sie fanden aber auch zu extrem wirkungsvollen Ansätzen, die das Potenzial haben, diese gewaltsamen Elemente der menschlichen Persönlichkeit zu neutralisieren und zu transformieren. Diese Beobachtungen lassen zudem erkennen, dass die bösartige Aggression nicht die wahre Natur des Menschen ist. Diese ist mit einem Bereich voll unbewusster Kräfte verknüpft, der uns von unserer tieferen Identität trennt. Wenn wir zu den jenseits davon liegenden transpersonalen Gebieten vorstossen, realisieren wir, dass unsere wahre Natur göttlich und nicht tierisch ist.

Perinatale Wurzeln der Gewalt Es besteht kein Zweifel, dass die «bösartige Aggression» mit Traumata und Fru­ strationen aus der Säuglingszeit und der Kindheit verknüpft ist. Die moderne Be­ wusstseinsforschung hat in den tief liegenden Nischen der Psyche aber noch weite­ re wichtige Wurzeln der Gewalt aufgedeckt, die jenseits der postnatalen Biografie liegen und dem Trauma der biologischen Geburt zuzurechnen sind. Die Bedro­ hung des Lebens, der Schmerz und die Erstickungsängste, die in den letzten Stun­ den vor der eigentlichen Entbindung erlebt werden, erzeugen enorme Mengen an Angst und mörderischer Aggression, die im Organismus gespeichert werden. Wie wir zuvor gesehen haben, gehört zum Wiedererleben der Geburt nicht nur die kon­ krete Wiederholung der ursprünglichen Emotionen und Empfindungen, sondern es tauchen gleichzeitig auch Inhalte und Szenen aus dem kollektiven Unbewussten auf, die von unvorstellbarer Gewalt sind. Dazu gehören überwältigende Sequen­ zen von Kriegen, Revolutionen, Rassenunruhen, Konzentrationslagern, Totalita­ rismus und Völkermord. Während die Bilder im Bewusstseinsfeld auftauchen, gelangen wir oft zu Ein­ sichten von grösser Überzeugungskraft, welche den perinatalen Ursprung der ex­ tremen Formen menschlicher Gewalt aufzeigen. Natürlich sind Kriege und Revo­ lutionen extrem vielschichtige Phänomene, welche historische, ökonomische, poli­ tische, religiöse und andere Dimensionen aufweisen. Ich habe nicht die Absicht, hier eine reduktionistische Erklärung abzugeben, die alle anderen ersetzen soll,

304

sondern möchte einige neue Einsichten zu den psychologischen und spirituellen Dimensionen dieser Formen von sozialer Psychopathologie hinzufügen, die in früheren Theorien vernachlässigt oder nur oberflächlich behandelt worden sind. Die ins Bewusstsein tretenden Bilder gewalttätiger soziopolitischer Ereignisse sind oft auf sehr spezifische Weise mit den einzelnen Geburtsphasen und der Dy­ namik der perinatalen Matrizen (BPM) verknüpft. Typisch für das Wiedererleben der ungestörten intrauterinen Existenz (BPM I) sind Bilder von menschlichen Ge­ sellschaften mit idealen sozialen Strukturen, von Kulturen, die in völliger Harmo­ nie mit der Natur leben, oder von zukünftigen utopischen Gesellschaften, in denen die wesentlichen Konflikte gelöst worden sind. Wenn wir intrauterine Störungen erleben - eine vergiftete Gebärmutter, eine drohende Fehlgeburt oder eine ver­ suchte Abtreibung -, erscheinen uns oft Bilder von Menschengruppen, die in In­ dustriezonen mit gravierender Umweltverschmutzung leben, oder von Gesell­ schaften mit einer perfiden Sozialstruktur voller Tücken und einer allgegenwärti­ gen Paranoia. Regressive Erfahrungen des ersten klinischen Geburtsstadiums (BPM 11), in dem die Gebärmutter sich rhythmisch zusammenzieht, der Muttermund aber noch nicht ganz offen ist, zeigen ein diametral entgegengesetztes Bild. Wir sehen Szenen von oppressiven und ausbeuterischen totalitären Gesellschaften mit geschlossenen Grenzen, welche die Bevölkerung schikanieren und die persönliche Freiheit «zum Ersticken» bringen: das zaristische oder das kommunistische Russland beispiels­ weise, Hitlers Drittes Reich, die südamerikanischen Diktaturen und die südafrika­ nische Apartheid. Oder wir sehen detaillierte Szenen von Nazi-Konzentrationslagern und ihren Insassen, oder Stalins Gulag-Archipel. Während wir diese Szenen aus lebenden Höllen erleben, identifizieren wir uns ausschliesslich mit den Opfern und haben tiefes Mitgefühl für die Unterdrückten und die Opfer. Das erneute Erleben der zweiten klinischen Entbindungsphase (BPM III), bei welcher der Muttermund erweitert ist und die anhaltenden Kontraktionen den Fö­ tus durch den engen Geburtskanal pressen, weist eine breite Palette an gewalttäti­ ge Szenen auf - blutige Kriege und Revolutionen, Menschen- und Tieropfer, Ver­ stümmelungen, sexueller Missbrauch und Mord. Diese Szenen enthalten oft dä­ monische Elemente und abstossende skatologische (auf den Analbereich bezoge­ ne, obszöne) Motive. Begleitende Bilder können auch Visionen von brennenden Städten, Raketenstarts oder Atombombenexplosionen sein. Hier sind wir nicht auf die Rolle des Opfers beschränkt, sondern können gleich drei Rollen einnehmen - die des Opfers, die des Angreifers und die eines emotional involvierten Be­ obachters. Typische Motive für das dritte klinische Geburtsstadium (BPM IV), also die tatsächliche Geburt und Trennung von der Mutter, sind Siegesszenen von Kriegen und Revolutionen, die Freilassung Gefangener oder Erfolge von kollektiven An­ strengungen wie patriotischen oder nationalistischen Bewegungen. Wir haben Vi­ sionen von triumphalen Feierlichkeiten und Paraden oder aufregende Nachkriegsrekonstruktionen.

305

Diese Beobachtungen, die soziopolitische Umbrüche mit den einzelnen Ge­ burtsphasen verbinden, habe ich 1975 in T opographie des U nbewussten doku­ mentiert (Grof 1975). Kurz nach der Veröffentlichung erhielt ich einen Brief von Lloyd de Mause, einem Psychoanalytiker und Journalisten aus New York. Er ist einer der Begründer der «Psychohistorie», einer Disziplin, welche die Erkenntnis­ se der Tiefenpsychologie auf die Geschichte und die politischen Wissenschaften appliziert. Psychohistoriker studieren Problemkreise wie die Beziehung zwischen der Kindheit politischer Führer und ihren Wertesystemen und Entscheidungsprozessen, oder den Einfluss, den eine bestimmte Art von Erziehung auf das Wesen einer Revolution der entsprechenden Geschichtspcriode nimmt. Lloyd de Mause war an meinen Beobachtungen zum Geburtstrauma und den möglichen soziopolitischen Implikationen sehr interessiert, weil sie eine unabhängige Unterstützung seiner eigenen Forschungen darstellten. De Mause hatte während einiger Zeit die psychologischen Aspekte der Zeit­ räume vor Kriegen und Revolutionen studiert. Es interessierte ihn, wie es militäri­ schen Führern gelang, Massen von friedfertigen Zivilisten zu mobilisieren und sie praktisch über Nacht in Tötungsmaschinen zu verwandeln. Sein Ansatz zu diesem Problem war sehr originell und kreativ. Er analysierte nicht nur die traditionellen historischen Quellen, sondern sammelte auch Material wie Karikaturen, Witze, Träume, persönliche Bilder, Versprecher, Nebenkommentare von Sprechern und selbst Gekritzel an den Rändern von Entwürfen politischer Dokumente. Als er mich kontaktierte, hatte er auf diese Weise siebzehn Situationen, die Kriegsaus­ brüchen und revolutionären Aufständen vorausgingen, aus vielen Jahrhunderten von der Antike bis zur Gegenwart analysiert (de Mause 1975). Er war fasziniert von der aussergewöhnlichen Menge an Ausdrücken, Meta­ phern und Bildern, die Bezug auf die biologische Geburt nahmen. Militärführer und Politiker haben schon immer, wenn sie von einer kritischen Situation sprachen oder den Krieg erklärten, Ausdrücke benutzt, die genauso gut auf die Beschrei­ bung der perinatalen Drangsal passen. Sie bezichtigen den Feind, uns erdrosseln und erwürgen zu wollen, uns das letzte bisschen Lull aus den Lungen pressen, uns einzuengen und nicht genug Raum zum Leben zu lassen (Hitlers «Lebensraum»). Ebenso häufig fand er Anspielungen auf dunkle Höhlen, Tunnels und verwir­ rende Labyrinthe, gefährliche Abgründe, in die man gestossen werden könnte, und die Gefahr, von trügerischem Treibsand oder einem schrecklichen Strudel verschlungen zu werden. Ähnlich kamen auch die Angebote zur Lösung einer Kri­ se in Form von perinatalen Bildern. Der Führer versprach, die Nation aus einem ominösen Labyrinth zu retten, sie ins Licht auf der anderen Seite des Tunnels zu führen und eine Situation zu erschaffen, in welcher der gefährliche Angreifer und Unterdrücker überwältigt wird und jedermann wieder frei atmen kann. Die historischen Beispiele von Lloyd de Mause schliessen solch berühmte Per­ sönlichkeiten wie Alexander den Grossen, Napoleon, Samuel Adams, Kaiser Wil­ helm II., Hitler, Chruschtschow und Kennedy mit ein. Samuel Adams sprach von der amerikanischen Revolution als dem «Kind der Unabhängigkeit, das darum

306

kämpft, geboren zu werden». 1914 sagte Kaiser Wilhelm, dass «die Monarchie am Hals gepackt und gezwungen worden sei, zu wählen zwischen dem Stranguliert­ werden und einem letzten Versuch, sich gegen die Attacken zu wehren». Während der Kuba-Krise schrieb Chruschtschow an Kennedy und setzte sich dafür ein, dass die zwei Nationen nicht «aufeinandertreffen sollten wie zwei Maul­ würfe in einem Tunnel, die sich bis auf den Tod bekämpfen». Noch deutlicher war die kodierte Nachricht des japanischen Botschafters Kurusu, der Tokio anrief, um zu signalisieren, dass die Verhandlungen mit Roosevelt zusammengebrochen wa­ ren und dass es in Ordnung sei, mit der Bombardierung von Pearl Harbor vor­ wärtszumachen. Er teilte mit, dass «die Geburt des Kindes kurz bevorsteht», und fragte, wie die Dinge in Japan verliefen: «Sieht es danach aus, als ob das Kind ge­ boren würde?» Die Antwort war: «Ja, die Geburt des Kindes steht unmittelbar be­ vor.» Interessanterweise erkannte der mithörende amerikanische Geheimdienst die Bedeutung des «Kricg-als-Geburt»-Codes. Extrem unheimlich war die Verwendung perinataler Begriffe im Zusammen­ hang mit der Atombombenexplosion in Hiroshima. Das Flugzeug erhielt den Na­ men der Mutter des Piloten, Enola Gay, die Atombombe selbst hatte den Überna­ men «The Little Boy» (der kleine Junge) aufgemalt, und die vereinbarte Meldung, die als Signal einer erfolgreichen Zündung nach Washington geschickt wurde, war «das Baby ist geboren». Es ist nicht zu weit hergeholt, auch hinter dem Übernamen der Bombe von Nagasaki, «Fat Man» (dicker Mann), das Bild eines Neugeborenen zu sehen. Seit unserem Briefwechsel sammelte Lloyd de Mause viele zusätzliche geschichtliche Beispiele und verfeinerte seine These, wonach die Erinnerung an das Geburtstrauma eine wichtige Rolle als Quelle gewalttätiger sozialer Handlun­ gen spielt. Die mit dem Atomkrieg zusammenhängenden Fragen sind von solcher Rele­ vanz, dass ich weiter darauf eingehen möchte, wobei ich mich auf Material aus ei­ ner faszinierenden Schrift von Carol Cohn mit dem Titel S ex and D eath in the R ational W orld of thf . D efense I ntellectuals («Sex und Tod in der rationa­ len Welt der Verteidigungs-Intellektuellen») beziehen möchte (Cohn 1987). Die Verteidigungs-Intellektuellen sind Zivilisten, die in der Regierung ein- und ausge­ hen und dort als administrative Beamte oder Berater fungieren, die an Universitä­ ten, in Think Tanks (Denkfabriken) oder an ähnlichen Orten arbeiten. Sie formu­ lieren die Theorie, welche die strategische Praxis der Vereinigten Staaten infor­ miert und legitimiert - wie man das Wettrüsten handhabt, wie man vom Einsatz von Nuklearwaffen abschreckt, wie man einen Atomkrieg führt, wenn die Ab­ schreckung nichts genützt hat, und wie man erklärt, warum es nicht sicher ist, oh­ ne Atomwaffen zu leben. Carol Cohn hatte an einem zweiwöchigen Sommerseminar über Atomwaffen, nuklear-strategische Doktrin und Waffenkontrolle teilgenommen. Sie war von dem, was dabei herauskam, derart fasziniert, dass sie das folgende Jahr in diese fast vollständig männliche (mit Ausnahme der Sekretärinnen) Welt der VerteidigungsIntellektuellen eingetaucht verbrachte. Sie sammelte einige hoch interessante Fak­

307

ten, welche die Bedeutung perinataler Dimensionen in der atomaren Kriegs­ führung bestätigen. Nach ihren eigenen Worten offenbart dieses Material die Be­ deutung des Motivs der «männlichen Geburt» und der «männlichen Schöpfung» als wichtige psychologische Kräfte, welche der Psychologie der atomaren Kriegs­ führung zugrunde liegen. Zur Veranschaulichung ihrer Aussage wählte sie folgen­ des historische Beispiel: 1942 schickte Ernest Lawrence ein Telegramm an eine Gruppe von Physikern, die in Chicago an der Entwicklung der Atombombe arbeiteten: «Gratulation an die neuen Eltern. Kann’s kaum erwarten, den Neuankömmling zu sehen.» In Los Alamos wurde die Atombombe als «Oppenheimers Kind» bezeichnet. In seinem Artikel Los Alamos from Below («Los Alamos von unten») schrieb Richard Feynman, dass er, als er wegen des Todes seiner Frau eine Zeit lang abwesend war, ein Telegramm mit folgendem Inhalt erhalten hatte: «Das Kind wird an dem und dem Tag erwartet.» In den Lawrence-Livermore-Laboratorien sprach man von der Wasserstoff­ bombe als «Teller’s baby», obwohl diejenigen, die Edward Tellers Beitrag herab­ würdigen wollten, sagten, er sei nicht der Vater, sondern die Mutter der Bombe. Sie sagten, Stanislaw Ulam sei der richtige Vater, hätte alle wichtigen Ideen gehabt und sie «gezeugt»; Teller hätte sie danach nur «ausgetragen». Auf die Mutterschaft bezogen sich auch Ausdrücke wie «nurturance» (das Nähren), mit dem die War­ tung der Raketen gemeint war. General Grove berichtete in einem triumphierenden kodierten Telegramm, das an den amerikanischen Kriegsminister Henry Stimson, der an der Potsdamer Konferenz weilte, gerichtet war, vom Erfolg des ersten Atomtests: «Der Arzt hat eben höchst enthusiastisch und zuversichtlich erwidert, dass der kleine Junge ebenso kräftig ist wie sein grösser Bruder. Das Licht in seinen Augen ist von hier bis nach Highhold sichtbar, und ich hätte sein Geschrei von hier bis zu meiner Farm hören können.» Stimson wiederum informierte Churchill in einer Notiz: «Die Kinder wurden erfolgreich geboren.» William L. Laurence wohnte dem Test der ersten Atombombe bei und schrieb: «Der grosse Knall kam etwa einhundert Sekunden nach dem grossen Blitz - der erste Schrei einer neugeborenen Welt.» Im frohlockenden Telegramm von Ed­ ward Teller nach Los Alamos, das vom erfolgreichen Test der Wasserstoffbombe «Mike» auf dem Eniwetok-Atoll bei den Marshall-Inseln berichtete, stand: «Es ist ein Junge.» Vom Symbolismus von «The Enola Gay», «Little Boy» und «Das Ba­ by ist geboren» im Zusammenhang mit der Hiroshima-Bombe und von «Fat Man» bei der Nagasaki-Bombe war vorher schon die Rede. Laut Carol Cohn «haben männliche Wissenschaftler einen Nachkommen zur Welt gebracht zur Bestätigung ihrer ultimativen Vorherrschaft über die weibliche Natur.» Carol Cohn erwähnt in ihren Schriften auch eine Fülle von offen sexueller Symbolik in der Sprache der Verteidigungs-Intellektuellen. Das Wesen dieses Ma­ terials, das Sex mit Aggression, Beherrschung und Skatologie verbindet, weist ei­ ne grosse Ähnlichkeit auf mit der Bilderwelt, die im Zusammenhang mit den Ge­

308

burtserfahrungen (BPM III) erscheint. Cohn benutzt die folgenden Beispiele: Der amerikanische Verlass auf Atomwaffen wird als unwiderstehlich erklärt, weil man «more bang for the buck» (wörtlich: mehr Knall pro Dollar; aber bang heisst auch bumsen, und buck ist auch der Bock) bekommt. Die Erklärung eines Professors, warum die MX-Raketen in die Silos der neusten Minuteman-Raketen kommen sollten, statt in diejenigen der alten und weniger genauen Raketen: «You are not going to take the nicest missile you have and put it into a crummy hole» (Man nimmt nicht die schönste Rakete, die man hat, und steckt sie in ein lausiges Loch). Ein ernstes Problem war auch: «We have to harden our missiles, because the Russians are a little harder than we are» (Wir müssen unsere Raketen härter machen, denn die Russen sind etwas härter, als wir es sind). Ein Militärberater am Natio­ nalen Sicherheitsrat wollte «70 bis 80 Prozent unserer Megatonnage in einem orgasmischen Schuss loslassen». Vorlesungen waren voll von Ausdrücken wie: vertikaler Erektions-Raketenwerfer, Schub-zu-Gewicht-Verhältnis, weiche Bettungen, tiefes Eindringen und die Vorteile von hinausgezögerten Attacken im Vergleich zu den spasmodischen. Ein weiteres Beispiel ist der weit verbreitete und populäre Brauch des Tätschelns der Raketen, wie dies Besucher von Atomunterseebooten tun, was Carol Cohn als Ausdruck von phallischer Überlegenheit und auch von homoerotischen Tenden­ zen deutete. In Anbetracht dieses Materials scheint es doch angebracht, wenn feministische Atompolitikgegnerinnen von «missile envy» (Raketen-Neid) und «phallic worship» (Phallus-Verehrung) reden. Im vortrefflichen Buch The Faces of the Enemy («Bilder des Bösen») von Sam Keen (Keen 1988) finden sich weitere Hinweise auf die Schlüsselrolle, die der perinatale Bereich des Unbewussten für die Kriegspsychologie einnimmt. Keen präsentiert eine aussergewöhnliche Sammlung von Kriegsplakaten, Propaganda­ zeichnungen und Karikaturen mit verzerrter und einseitiger Botschaft, die er aus vielen Zeitperioden und Ländern zusammengetragen hat. Er zeigte, dass die Art und Weise, wie der Feind während eines Kriegs oder einer Revolution beschrieben und dargestellt wird, stereotyp ist, nur minimale Abweichungen aufweist und nur sehr wenig mit dem wirklichen Charakter des betreffenden Landes oder dessen Kultur zu tun hat. Er konnte diese Bilder nach den vorherrschenden Merkmalen in mehrere archetypische Kategorien aufteilen (zum Beispiel Fremder, Angreifer, würdiger Gegner, Gesichtsloser, Feind Gottes, Barbar, Gieriger, Krimineller, Folterer, Ver­ gewaltiger, Tod). Nach Keen sind die angeblichen Bilder des Feindes im wesentli­ chen Projektionen der unterdrückten und uneingeräumten Schattenaspekte unse­ res eigenen Unbewussten. Obwohl man in der Menschheitsgeschichte sicher ge­ rechte Kriege finden kann, ersetzen doch diejenigen Parteien, die mit den Kriegs­ aktivitäten beginnen, in der Regel Elemente in ihren eigenen Psychen, die eigentlich mit einer persönlichen Selbsterforschung angegangen werden sollten, durch äussere Ziele.

309

Der theoretische Rahmen von Sam Keen schliesst den perinatalen Bereich des Unbewussten nicht ausdrücklich mit ein. Die Analyse seines Bildmaterials deckt jedoch ein Überwiegen von symbolischen Bildern auf, wie sie für BPM II und BPM III typisch sind. Der Feind wird normalerweise als gefährlicher Oktopus, bösartiger Drache, vielköpfige Hydra, giftige Riesentarantel oder verschlingender Leviathan dargestellt. Andere, oft gebrauchte Symbole sind böse Raubtiere oder Raubvögel, Monsterhaie und bedrohliche Schlangen, allen voran Giftschlangen und die Boa constrictor. In Bildern aus Kriegszeiten, Revolutionen und politischen Krisen finden sich auch Unmengen von Darstellungen, in denen stranguliert oder zugedrückt wird, von bedrohlichen Strudeln und heimtückischem Treibsand. Die Gegenüberstellung von Bildern aus holotropen Bewusstseinszuständen, welche perinatale Erfahrungen darstellen, und den von Lloyd de Mause und Sam Keen gesammelten historischen Bilddokumenten ist ein Beweis dafür, dass die mensch­ liche Gewaltbereitschaft im Perinatalen wurzelt. Diese neuen Einsichten, die aus den Beobachtungen der Bewusstseinsfor­ schung und den Entdeckungen der Psychohistorie resultieren, besagen, das wir al­ le in unserem tiefen Unbewussten kraftvolle Energien und Emotionen tragen, die mit dem Trauma der Geburt verbunden sind, welches wir noch nicht gemeistert und assimiliert haben. Für einige von uns kann dieser Aspekt der Psyche völlig unbewusst bleiben, bis wir uns mit Hilfe von psychedelischen Substanzen oder an­ deren starken Selbsterfahrungstechniken wie holotropem Atmen oder Rebirthing auf eine tief gehende Art selbst erforschen. Andere sind sich, in unterschiedlichem Masse, der in den perinatalen Ebenen des Unbewussten gespeicherten Emotionen und physischen Empfindungen bewusst. Wie wir in einem früheren Kapitel gesehen haben, kann die Aktivierung die­ ses Materials zu einer ernsthaften individuellen Psychopathologie mit unmotivier­ ter Gewaltbereitschaft führen. Es macht den Eindruck, dass die Empfänglichkeit für perinatale Elemente aus noch unbekannten Gründen bei einer grossen Anzahl Menschen gleichzeitig zunehmen kann. Dies generiert eine Atmosphäre von allge­ meiner Anspannung und Angst. Der Anführer ist ein Individuum, das unter einem stärkeren Einfluss von perinatalen Energien steht als der Durchschnittsmensch. Er hat auch die Fähigkeit, diese unakzeptablen Gefühle (den jungschen Schatten) zu verleugnen und sie auf eine äussere Situation zu projizieren. Das kollektive Unbe­ hagen wird dem Feind angelastet und eine militärische Intervention als Lösung angeboten. Im Krieg besteht die Möglichkeit, dass die psychologischen Abwehrmechanismen, welche die gefährlichen perinatalen Tendenzen unter Kontrolle halten, überwunden werden. Freuds Über-Ich - eine psychologische Kraft, welche zu Zurückhaltung und zivilisiertem Benehmen auffordert - wird durch das «KriegsÜber-Ich» ersetzt. Nun werden wir gelobt und erhallen gar Medaillen für Mord, wahlloses Zerstören und Plündern - für dieselben Verhaltensweisen, die zu Frie­ denszeiten unakzeptabel sind und uns ins Gefängnis bringen würden. Ähnlich ist auch sexuelle Gewalt in Kriegszeitcn üblich geworden und wird im Allgemeinen

310

toleriert. Militärische Führer versprechen ihren Soldaten oftmals unbeschränkten Zugang zu den Frauen der eroberten Gebiete, damit sie im Kampf motiviert sind. Ist der Krieg erst einmal ausgebrochen, dann werden die destruktiven und selbstzerstörerischen perinatalen Impulse frei ausgelebt. Die Themen, denen wir normalerweise auf einer bestimmten Stufe des inneren Erforschungsprozesses und der inneren Transformation (BPM II und BPM III) begegnen, sind nun Teil unse­ res täglichen Lebens, entweder direkt oder aber über die Fernsehnachrichten. Verschiedene Tätigkeiten und Verhaltensweisen - sadomasochistische Orgien, se­ xuelle Gewalt, bestialisches und dämonisches Verhalten, Entfesselung von enor­ men explosiven Energien und Skatologie -, die zu den perinatalen Standardbil­ dern gehören, werden in Kriegen und Revolutionen mit aussergewöhnlicher Leb­ haftigkeit und Kraft ausgelebt. Das Miterleben von Szenen der Zerstörung und das Ausagieren heftiger un­ bewusster Impulse - ob nun auf einer individuellen Ebene oder kollektiv in Krie­ gen und Revolutionen - resultieren nicht in Heilung und Transformation, wie es bei einer inneren Konfrontation mit diesen Elementen in einem therapeutischen Rahmen geschehen würde. Die Erfahrung wird nicht von unserem eigenen Unbe­ wussten generiert, ihr fehlt das Element tiefer Selbstprüfung, und sie führt zu kei­ nen Einsichten. Die Situation ist vollständig veräusserlicht, und eine Verbindung mit den tiefer liegenden dynamischen Kräften der Psyche fehlt. Natürlich gibt es auch keine therapeutische Absicht und keine Motivation für eine Veränderung und Transformation. So kann das Ziel der zugrunde liegenden Geburtsenergie, welche die tiefste Antriebskraft solcher Brutalitäten ist, nicht erreicht werden, selbst wenn der Krieg oder die Revolution zu einem erfolgreichen Ende geführt wurde. Selbst der triumphalste Sieg in der Aussenwelt kann uns das, was wir er­ warteten und uns erhofften - ein inneres Gefühl von emotionaler Befreiung und psychospiritueller Wiedergeburt - nicht vermitteln. Auf die anfänglich berauschenden Gefühle des Triumphs folgt erst ein ernüch­ terndes Erwachen und später bittere Enttäuschung. Und normalerweise dauert es nicht lange, bis sich aus den Ruinen des gestorbenen Traumes ein Faksimile des al­ ten Unterdrückungssystems erhebt, weil dieselben unbewussten Kräfte weiterhin im tiefen Unbewussten aller Beteiligten wirken. Dies scheint sich in der Mensch­ heitsgeschichte immer wieder zu ereignen, ob das entsprechende Ereignis nun die französische, die bolschewistische oder die chinesische Revolution sei oder irgend ein anderer, von grossen Hoffnungen und Erwartungen begleiteter gewaltsamer Aufstand. Da ich in Prag in der Zeit, als die Tschechoslowakei noch ein marxistisches Regime hatte, während vieler Jahre tiefgehende Selbsterfahrungstherapien leitete, konnte ich einiges an faszinierendem Material zur psychologischen Dynamik des Kommunismus sammeln. Die mit der kommunistischen Ideologie verknüpften Themen tauchten in der Behandlung meiner Patienten meist dann auf, wenn sie mit ihren perinatalen Energien und Emotionen kämpften. Es wurde bald klar, dass die von den Revolutionären gegen die Unterdrücker und ihr Regime verspürte

311

Leidenschaft durch die Rebellion gegen das innere Gefängnis ihrer perinatalen Erinnerungen mächtig verstärkt wurde. Umgekehrt ist das Bedürfnis, andere zu nötigen und zu dominieren, eine nach aussen gerichtetes Verdrängen des Bedürf­ nisses, seine Angst, vom eigenen Unbewussten überwältigt zu werden, zu bezwin­ gen. Die mörderische Verstrickung des Unterdrückers und des Revolutionärs ist in diesem Sinne eine veräusserlichte Nachbildung der im Geburtskanal erlebten Si­ tuation. Die kommunistische Vision enthält ein Element psychologischer Wahrheit, die sie für eine grosse Anzahl Menschen ansprechend machte. Die Grundidee, dass eine brutale Erfahrung revolutionärer Art notwendig sei, um Leid und Un­ terdrückung zu beenden und eine Situation grösserer Harmonie zu errichten, ist korrekt, wenn sie als Prozess innerer Transformation verstanden wird. Sie ist aber gefährlich falsch, wenn sie als politische Ideologie gewalttätiger Revolutionen auf die äussere Welt projiziert wird. Der Irrtum liegt im Umstand, dass das, was auf ei­ ner tieferen Ebene im Grunde ein archetypisches Muster des spirituellen Todes und der Wiedergeburt ist, die Form eines atheistischen und antispirituellen Pro­ gramms annimmt. Kommunistische Revolutionen waren in ihrer destruktiven Phase extrem er­ folgreich, aber statt der versprochenen Brüderlichkeit und Harmonie züchteten sie Regimes, in denen Unterdrückung, Grausamkeit und Ungerechtigkeit die Herr­ scher waren. Heute, da die ökonomisch ruinierte und politisch korrupte Sowjet­ union gescheitert und die kommunistische Welt auseinandergefallen ist, können alle klar erkennen, dass dieses gigantische historische Experiment, das Millionen von Menschenleben gekostet und unvorstellbares menschliches Leid gebracht hat, ein kolossaler Fehlschlag war. Wenn die eben erwähnten Beobachtungen und Schlüsse stimmen, dann haben von aussen kommende Interventionen keinerlei Chance, eine bessere Welt zu erschaffen, ausser diese gehen mit einer tief greifen­ den Transformation des menschlichen Bewusstseins einher. Die Beobachtungen aus der modernen Bewusstseinsforschung bringen auch Licht in die Psychologie der Konzentrationslager. Über mehrere Jahre hinweg hat Professor Bastians aus Leiden in Holland die LSD-Therapie bei Menschen ange­ wandt, die am «Konzentrationslager-Syndrom» litten, einem Zustand, der sich erst viele Jahre nach der Gefangenschaft entwickelt. Bastians hat auch mit vormaligen Kapos an ihren Schuldgefühlen gearbeitet. Eine künstlerische Beschreibung dieser Arbeit findet sich im Buch S hivitti , geschrieben von einem ehemaligen Insassen, Ka-Tzetnik 135633, der eine Serie therapeutischer Sitzungen mit Bastians gemacht hatte (Ka-Tzetnik 135633,1989). Bastians selbst schrieb einen Bericht über seine Arbeit mit dem Titel Man in the Concentration Camp and Concentration Camp in Man («Der Mensch im Kon­ zentrationslager und das Konzentrationslager im Menschen»). Darin weist er, oh­ ne es genauer zu spezifizieren, darauf hin, dass die Konzentrationslager eine Pro­ jektion einer bestimmten Domäne sind, die sich im menschlichen Unbewussten befindet: «Bevor es einen Menschen im Konzentrationslager gab, gab es das Kon-

312

zentrationslagcr im Menschen.» (Bastians 1955). Das Studium holotroper Be­ wusstseinszustände ermöglicht das Identifizieren der von Bastian erwähnten psy­ chischen Bereiche. Eine eingehendere Untersuchung von allgemeinen und spe­ ziellen Bedingungen in den Nazi-Konzentrationslagern zeigt, dass sie eine diaboli­ sche und realistische Nachstellung der albtraumhaften Atmosphäre sind, welche das Wiedererleben der biologischen Geburt charakterisiert. Die Stacheldrahtbarrieren, Stromzäune, Wachttürme mit Maschinengeweh­ ren, Minenfelder und ganze Rudel von trainierten Hunden haben ein höllisches und beinahe archetypisches Bild einer gänzlich hoffnungslosen und bedrückenden Situation ohne Ausweg geschaffen, wie sie absolut charakteristisch für die erste klinische Geburtsphase ist (BPM II). Gleichzeitig gehören die Elemente Gewalt, Bestialität, Skatologie und sexueller Missbrauch von Frauen und Männern - Ver­ gewaltigung und sadistische Praktiken mit eingeschlossen - alle zur Phänomenolo­ gie der zweiten Geburtsphase (BPM III). In den Konzentrationslagern kam sexueller Missbrauch auf einer individuellen Ebene vor wie auch in den «Puppenhäusern», Einrichtungen, welche «Unterhal­ tung» für Offiziere anboten. Das einzige Entkommen aus dieser Hölle war der Tod - durch die Kugel, den Hunger, durch Krankheit oder Ersticken in den Gaskam­ mern. Die Bücher von Ka-Tzetnik 135633, House of Dolls und Sunrise Over Hell (Ka-Tzetnik 1955 und 1977), enthalten erschütternde Beschreibungen des Konzentrationslageralltags. Die Bestialität der SS schien vor allem gegen schwangere Frauen und kleine Kinder gerichtet zu sein, eine weitere Bestätigung der Perinatal-Hypothese. Die stärkste Passage im Buch T he S urvivor («Der Überlebende») von Terence Pres ist zweifelsohne die Beschreibung von einem Lastwagen, vollgepfercht mit kleinen Kindern, die ins Feuer geschüttet wurden, und die anschliessende Szene, in der schwangere Frauen mit Knüppeln und Peitschen geschlagen, von Hunden zer­ fleischt, an den Haaren herumgeschleift, in den Bauch getreten und dann, noch le­ bend, ins Krematorium geworfen wurden (Pres 1976). Die perinatale Natur der irrationalen Impulse, die im Lager manifestiert wur­ den, wird auch im skatologischen Verhallen der Kapos ersichtlich. Praktiken wie Essgeschirr in die Latrinen zu werfen und es von den Insassen wieder herausholen zu lassen, oder Insassen zu zwingen, sich gegenseitig in den Mund zu urinieren, bargen, nebst dem bestialischen Element, auch die Gefahr von Epidemien in sich. Wären die Konzentrationslager bloss Einrichtungen zur Isolation politischer Fein­ de gewesen, welche billige Sklavenarbeiter abgaben, dann wäre das Einhallen von Hygieneregeln eine Hauptsorge der Organisatoren gewesen, wie dies bei jeder Anlage, die eine grosse Anzahl von Menschen beherbergt, der Fall ist. Allein in Buchenwald ertranken aufgrund dieser perversen Praktiken im Laufe eines einzi­ gen Monats siebenundzwanzig Insassen in Fäkalien. Die Intensität, der Tiefgang und die überzeugende Art all der mit dem perina­ talen Prozess verbundenen Erfahrungen kollektiver Gewalt lassen vermuten, dass sie nicht individuell nach Quellen wie Abenteuerbüchern, Filmen und Fernseh­

313

shows fabriziert werden, sondern ihren Ursprung im kollektiven Unbewussten ha­ ben. Wenn unser Selbsterforschungsprozess zum Geburtstrauma vorstösst, verbin­ den wir uns mit einem riesigen Reservoir schmerzhafter Erinnerungen unserer menschlichen Spezies und finden Zugang zu Erlebnissen von anderen Menschen, die einst in einer ähnlichen Notlage waren. Man kann sich gut vorstellen, dass die perinatale Ebene unseres Unbewussten, die ganz genau um die Geschichte der menschlichen Gewalt «weiss», in Wirklichkeit teilweise für Kriege, Revolutionen und ähnliche Gräueltaten verantwortlich ist. Die Intensität und die Menge der perinatalen Erfahrungen, die unterschiedli­ che Brutalitäten aus der Menschheitsgeschichte darstellen, ist erstaunlich. Christopher Bache zog eine interessante Schlussfolgerung, nachdem er verschiedene Aspekte dieses Phänomens sorgfältig analysiert hatte. Er meinte, dass die Erinne­ rungen an die durch alle Zeitalter der Menschheitsgeschichte hindurch verübte Gewalt das kollektive Unbewusste kontaminiert hat, auf die gleiche Weise wie Traumata aus unserer Kindheit unser individuelles Unbewusstes verschmutzen. Nach Bache wäre es deshalb denkbar, dass unser innerer Prozess den Rahmen der persönlichen Therapie transzendiert und wir an der Heilung des Feldes des Spe­ zies-Bewusstseins teilhaben, wenn wir anfangen, diese kollektiven Erinnerungen nachzuerleben (Bache 1999). Die Rolle des Geburtstraumas als Quelle der Gewalt und selbstzerstörerischer Tendenzen wurde durch klinische Studien bestätigt. So scheint es zum Beispiel ei­ ne wichtige Wechselbeziehung zwischen einer schwierigen Geburt und Krimina­ lität zu geben. Ähnlich scheint nach innen gerichtete Aggression, insbesondere der Selbstmord, psychogenetisch mit einer schwierigen Geburt verbunden zu sein. Laut einem in der britischen Medizinzeitschrift Langet veröffentlichten Bericht führt Reanimation bei der Geburt zu einem erhöhten Selbstmordrisiko nach der Pubertät. Der skandinavische Forscher Bertil Jacobson fand eine enge Beziehung zwischen der Form selbstzerstörerischen Verhaltens und der Art der Geburt. Selbstmorde durch Erstickung waren mit Ersticken bei der Geburt assoziiert, ge­ walttätiger Selbstmord mit mechanischen Geburtstraumata und zu Selbstmord führende Drogensucht mit während der Wehen verabreichten Opiaten und/oder Barbituraten (Jacobson et al. 1987). Die Umstände der Geburt spielen eine wichtige Rolle bei die Erzeugung einer Neigung zu Gewalt und zu selbstzerstörerischen Tendenzen oder, umgekehrt, zu liebendem Verhalten und gesunden zwischenmenschlichen Beziehungen. Der französische Geburtsarzt Michel Odent hat gezeigt, wie die beim Geburtsvorgang und beim Stillen und mütterlichen Verhalten beteiligten Hormone an dieser Prä­ gung teilhaben. Die Katecholamine (Adrenalin und Noradrenalin) spielten während der Evolution eine wichtige Rolle als Vermittler des aggressiven/be­ schützenden Instinkts der Mutter zu Zeiten, da Geburten noch in einem unge­ schützten, natürlichen Umfeld stattfanden. Oxytozin, Prolaktin und Endorphine sind bekannt dafür, dass sie in Tieren bemutterndes Verhalten auslösen und die Abhängigkeit und Anhänglichkeit fördern. Die geschäftige, lärmige und chaoti-

314

sehe Umgebung in vielen Spitälern führt zu Angstzuständen, setzt unnötigerweise das Adrenalinsystem in Aktion, prägt das Bild einer potenziell gefährlichen Welt und verlangt nach aggressiven Reaktionen. Dies wirkt sich störend auf die Hor­ mone aus, die positive zwischenmenschliche Erinnerungen vermitteln. Es ist des­ halb unerlässlich, für die Geburt eine ruhige, sichere und private Umgebung zur Verfügung zu haben (Odent 1995).

Transpersonale Wurzeln der Gewalt Das oben vorgestellte Material zeigt, dass ein auf die postnatale Biografie und das freudsche Unbewusste beschränktes Rahmenkonzept die extremen Formen der menschlichen Aggression, ob individuell oder kollektiv, nicht ausreichend zu er­ klären vermag. Es scheint jedoch, dass die Wurzeln der menschlichen Gewalt tie­ fer reichen als bis in die perinatale Ebene der Psyche. Die Bewusstseinsforschung hat in der transpersonalen Domäne noch bedeutende zusätzliche Quellen der Ge­ walt entdeckt, wie die archetypischen Figuren von Dämonen und zornigen Gott­ heiten, komplexe, destruktive, mythologische Träume und Erinnerungen an physi­ schen und emotionalen Missbrauch in vergangenen Leben. C. G. Jung glaubte, dass die Archetypen des kollektiven Unbewussten einen machtvollen Einfluss nicht nur auf das Verhalten der Individuen, sondern auch auf die Ereignisse der Menschheitsgeschichte haben. Von diesem Gesichtspunkt aus kann es sein, dass ganze Nationen und kulturelle Gruppierungen in ihrem Verhal­ ten wichtige mythologische Themen darstellen. Im Jahrzehnt vor Ausbruch des zweiten Weltkriegs fand Jung in den Träumen seiner deutschen Patienten viele Elemente aus dem nordischen Ragnarök-Mythos, der Götterdämmerung. Ausge­ hend von diesen Beobachtungen kam er zum Schluss, dass dieser Archetyp dabei war, sich in der kollektiven Psyche der deutschen Nation zu entwickeln, und dass dies in eine riesige Katastrophe münden würde, die sich schliesslich als selbstzer­ störerisch heraussteilen sollte. Militärische Führer und Politiker aller Zeiten benutzten zur Erreichung ihrer politischen Ziele nicht nur perinatale, sondern auch archetypische Bilder und spi­ rituellen Symbolismus. Die mittelalterlichen Kreuzritter mussten bereit sein, für Jesus ihr Leben zu geben in einem Krieg, der das heilige Land von den Moham­ medanern zurückerobern sollte. Adolf Hitler nutzte die mythologischen Motive der Überlegenheit der nordischen Rasse und des tausendjährigen Reichs ebenso wie die alten vedischen Symbole der Swastika und des Sonnenadlers. Ayatollah Khomeini und Saddam Hussein feuerten die Fantasie ihrer muslimischen Anhän­ ger durch Hinweise auf den Jihad, den heiligen Krieg gegen die Ungläubigen an. Carol Cohn diskutierte in ihrem Artikel nicht nur die perinatale, sondern auch die spirituelle Symbolik im Sprachgebrauch rund um nukleare Waffen und Dokt­ rinen. Die Autoren der strategischen Doktrin bezeichnen Mitglieder ihrer Ge­ meinschaft als die «nukleare Priesterschaft». Der erste Atomtest wurde «Trinity» (Dreifaltigkeit) genannt - die Einheit von Vater, Sohn und Heiligem Geist, der männlichen Kräfte der Schöpfung. Aus ihrer feministischen Perspektive erkannte

315

Cohn dies als einen Versuch der männlichen Wissenschaftler, die ultimative Schöpferkraft für sich zu beanspruchen und sich anzueignen (Cohn 1987). Die Wissenschaftler, die an der Atombombe mitgearbeitet hatten und den Test beob­ achteten, beschrieben diesen wie folgt: «Es war, als ob wir am ersten Tag der Schöpfung stünden.» Und Robert Oppenheimer dachte an die Worte Krishnas zu Arjuna in der B hagavad G ita : «Ich bin der Tod, der alles raubt, Erschütterer der Welten.»

Biografische Determinanten der unersättlichen Gier Dies bringt uns zum dritten Gift des tibetischen Buddhismus, einer mächtigen see­ lisch-geistigen Kraft, welche die Qualitäten von Lust, Verlangen und unersättli­ cher Gier in sich vereint. Diese Qualitäten sind, zusammen mit der «bösartigen Aggression», sicher für einige der dunkelsten Kapitel in der Menschheitsgeschich­ te verantwortlich. Westliche Psychologen verbinden verschiedene Aspekte dieser Kraft mit den von Sigmund Freud beschriebenen triebhaften Zwängen. Die psy­ choanalytische Interpretation des unersättlichen menschlichen Triebs, seinen Kopf durchzusetzen, besitzen und mehr werden zu müssen, als man ist, schreibt diese psychologische Kraft sublimierten niederen Instinkten zu. Gemäss Freud «kann das, was wie ein unermüdlicher Impuls in Richtung wei­ terer Perfektion aussieht, auf dem alles basiert, was in der menschlichen Zivilisati­ on am kostbarsten ist, leicht als das Resultat einer instinktgesteuerten Unter­ drückung verstanden werden. Der unterdrückte Instinkt hört nie auf, nach der ab­ soluten Zufriedenheit zu streben, in der Absicht, das erste elementare Befriedi­ gungserlebnis immer wieder von neuem zu wiederholen. Kein Ersatz, keine Reaktionsbildungen oder Sublimierungen sind stark genug, als dass sie die andau­ ernde Spannung dieses unterdrückten Instinkts beheben könnten» (Freud 1955). Freud sah Gier als ein spezifisch auf die Probleme während der Stillzeit bezo­ genes Phänomen an. Frustration oder übermässiger Genuss während der oralen Phase der libidinösen Entwicklung können laut Freud das primitive kindliche Be­ dürfnis, sich Objekte einzuverleiben, derart verstärken, dass es im Erwachsenenal­ ter in einer sublimierten Form auf eine ganze Anzahl anderer Objekte und Situa­ tionen übertragen wird. Wenn sich der Aneignungstrieb auf das Geld konzentriert, schreiben es die Psychoanalytiker einer Fixierung auf die anale Phase zu, ein uner­ sättlicher sexueller Appetit wird als eine Folge von phallischer Fixierung gedeutet. Viele andere, permanente menschliche Bestrebungen werden als eine Sublimation solch phallischer, instinktgesteuerter Zwänge interpretiert. Die moderne Bewusst­ seinsforschung empfindet diese Interpretationen als allzu oberflächlich und eng gefasst. Sie entdeckte bedeutende zusätzliche Quellen von Habsucht und Gier auf den perinatalen und transpersonalen Ebenen des Unbewussten.

Perinatale Quellen unersättlicher Gier Im Verlauf einer biografisch orientierten Psychotherapie entdecken viele Men­ schen, dass ihr Leben in bestimmten Bereichen der zwischenmenschlichen Inter­

316

aktion nicht sehr authentisch war. Konflikte mit der elterlichen Autorität bei­ spielsweise können zu entsprechenden Mustern wie Schwierigkeiten im Umgang mit Autoritätsfiguren führen; bei wiederholt auftauchenden Problemen in sexuel­ len Beziehungen können die Eltern als Vorbild für sexuelles Verhalten angesehen worden sein. Probleme mit Geschwistern können zukünftige Beziehungen mit Gleichgestellten färben und verzerren, und so weiter. Wenn der Selbsterforschungsprozess die perinatale Ebene erreicht, entdecken wir. dass unser bisheriges Leben als Ganzes weitgehend unecht war, und dies nicht nur in bestimmten Segmenten. Zu unserer Überraschung und Verwunderung fin­ den wir heraus, dass unser ganzer Lebensentwurf ein fehlgeleiteter war und des­ halb keine echte Befriedigung hatte bringen können. Der Grund dafür lag hauptsächlich in der Angst vor dem Tod und vor den unbewussten, mit der biolo­ gischen Geburt verknüpften Kräfte, welche nicht fertig verarbeitet und integriert worden waren. Anders gesagt haben wir diesen Prozess während der biologischen Geburt zwar anatomisch, aber nicht emotional abgeschlossen. Wenn unser Bewusstseinsfeld stark von der zugrunde liegenden Erinnerung an den Kampf im Geburtskanal beeinflusst wird, führt das zu einem Gefühl des Unbehagens und der Unzufriedenheit mit der gegenwärtigen Situation. Dieses Unbehagen kann sich auf ein weites Themenspektrum beziehen - auf eine unbe­ friedigende physische Erscheinung, auf unzureichende Ressourcen und geringen materiellen Wohlstand, auf einen niederen sozialen Status und zu wenig Einfluss, Macht, Berühmtheit und so weiter. Wie das im Geburtskanal stecken gebliebene Kind haben wir das ausgeprägte Verlangen, in eine bessere Situation zu kommen, die irgendwo in der Zukunft liegt. Wie auch immer unser gegenwärtiges Leben aussehen mag, wir empfinden es als nicht zufrieden stellend. Unsere Fantasie erschafft immer neue Bilder von zukünftigen Situationen, die mehr Erfüllung zu versprechen scheinen als die ge­ genwärtige. Es scheint, als wäre, solange wir diese Ziele nicht erreicht haben, das Leben nur eine Vorbereitung auf die bessere Zukunft und eben noch nicht «das Wahre». Daraus resultiert ein Lebensmuster, das als «Tretmühlen»- oder «Konkurrenz»-Existenz beschrieben wird. Die Existentialisten sprechen von «Selbst­ projektion» in die Zukunft. Diese Lebenseinstellung ist ein grundlegender Trug­ schluss des menschlichen Lebens. Sie ist vor allem eine Verliererstrategie, weil sie das von ihr Erwartete gar nicht befriedigen kann. Aus dieser Perspektive gesehen ist es unerheblich, ob sie in der materiellen Well Früchte trägt oder nicht. Wenn wir das Ziel, das uns vorschwebte, nicht erreichen konnten, geben wir die Schuld an unserer anhaltenden Unzufriedenheit unserem Unvermögen, uns die richtigen Gegenmassnahmen auszudenken. Gelingt es uns aber, das Ziel zu er­ reichen, hat dies in der Regel keinen grossen Einfluss auf unsere Grundstimmung. Die weiter bestehende Unzufriedenheit wird dann dem Umstand angelastet, dass das gewählte Ziel nicht das Richtige oder nicht hochgesteckt genug war. Als Re­ sultat kommt dann entweder das Ersetzen des alten Zieles durch ein neues oder das Maximieren der gleichen Ambition in Frage.

317

Jedenfalls wird das Versagen nicht richtig diagnostiziert, nämlich als die un­ vermeidliche Folge einer fundamental falschen Daseinsstrategie, welche grund­ sätzlich nicht im Stande ist, uns voll zu befriedigen. Dieses trügerische Muster, in einem grossen Massstab zur Geltung kommend, ist verantwortlich für das rück­ sichtslose, halsbrecherische Streben nach verschiedenen grandiosen Zielen, aus welchem viel Leid und viele Probleme in unserer Welt resultieren. Es kann in je­ dem Bereich und auf jedem Wohlstandsniveau durchexerziert werden, weil es nie zu wahrer Befriedigung führen kann. Die einzige Strategie, die diesem irrationalen Antrieb effizient begegnen kann, ist ein vollständig bewusstes Wiedererleben und die Integration des Geburtstraumas.

Transpersonale Ursachen der unersättlichen Gier Moderne Bewusstseinserforschung und Selbsterfahrungstherapien haben zur Ein­ sicht geführt, dass die tiefste Quelle unserer Unzufriedenheit und unseres Strebens nach Perfektion sogar jenseits des perinatalen Bereichs liegt: Das unersättliche Verlangen, welches das menschliche Leben antreibt, ist in letzter Konsequenz transpersonalen Ursprungs. In den Worten Dante Alighieris: «Der Wunsch nach Perfektion ist der Wunsch, der jedes Vergnügen immer unvollständig erscheinen lässt, denn in diesem Leben gibt es keine Freude, kein Vergnügen, das so gross wä­ re, dass es den Durst der Seele löschen könnte» (Dante 1990). Im umfassendsten Sinne können die tiefsten transpersonalen Wurzeln der un­ ersättlichen Gier am besten auf dem Hintergrund von Ken Wilbers Konzept des Atman-Projekts verstanden werden (Wilber 1980): Unsere wahre Natur ist gött­ lich - Gott, Kosmischer Christus, Allah. Buddha, Brahman, das Tao -, und obwohl uns der Schöpfungsvorgang von unserer Quelle trennt und ihr entfremdet, geht uns das Bewusstsein dieser Tatbestandes nie voll und ganz verloren. Die tiefste Antriebsfeder unserer Psyche auf allen Ebenen unserer Entwicklung ist das Ver­ langen danach, die Bewusstheit unserer Göttlichkeit wiederzuerlangen. Die ein­ schränkenden Bedingungen des inkarnierten Daseins lassen die Erfahrung der vollen spirituellen Befreiung in Gott und als Gott jedoch nicht zu. Wirkliche Transzendenz verlangt das Sterben unseres separaten Selbst, den Tod des exklusiven Subjekts. Wegen unserer Furcht vor Auslöschung und wegen unseres Festhaltens am Ich muss sich das Individuum mit Surrogaten begnügen, die den Atman ersetzen sollen. Diese verändern sich im Laufe des Lebens und sind immer auf ein bestimmtes Stadium zugeschnitten. Für den Fötus und das Neuge­ borene bedeutet dies der selig machende gute Mutterschoss oder die gute Brust. Für ein Kind bedeutet es die Befriedigung elementarer physiologischer Bedürfnis­ se. Im Erwachsenen ist das Spektrum der möglichen Atman-Projekte breit und äusserst komplex; neben Essen und Sex bedeutet es auch Geld, Ruhm, Macht, Aussehen, Wissen und vieles mehr. Weil wir tief im Innern wissen, dass unsere wahre Identität die Gesamtheit der kosmischen Schöpfung und das kreative Prinzip selbst ist, werden die Ersatzbe­ friedigungen der einzelnen Stufen und verschiedener Dimensionen - die Atman-

318

Projekte - immer unbefriedigend bleiben. Nur die Erfahrung der eigenen Gött­ lichkeit in einem holotropen Bewusstseinszustand kann unsere tiefsten Bedürfnis­ se voll befriedigen. Deshalb liegt der Schlüssel für die ultimative Erlösung aus der unersättlichen Gier in unserer Innenwelt und nicht in weltlichen Bestrebungen je­ der Art und jeden Ausmasses. Der persische Mystiker und Poet Rumi stellte dies sehr klar dar: So ist es mit allen Hoffnungen und Wünschen, Lieben und Zärtlichkeiten, die die Leute für alle Art von Sachen haben - für Väter, Mütter, Freunde, Him­ mel, Erde, Gärten, Paläste, Wissenschaften, Aktionen, Speisen und Getränke - der Weise weiss: sie alle haben den Wunsch nach Gott, und all diese Dinge sind Schleier. Wenn sie aus dieser Welt gehen und jenen König ohne diese Schleier sehen, wissen sie, dass all dies Schleier und Hüllen waren und dass ihr Suchen in Wirklichkeit dem Einen galt (Hines 1996).

Die Technologien des Sakralen und das Überleben des Menschen Die Entdeckung, dass die Wurzeln menschlicher Gewalt und unersättlicher Gier viel tiefer reichen, als die akademische Psychiatrie es sich jemals erträumt hätte, und dass deren Vorräte in der Psyche wahrlich riesig sind, könnte an und für sich schon sehr entmutigend sein. Doch die aufregenden Entdeckungen neuer thera­ peutischer Mechanismen und transformativer Potenziale, die in holotropen Zu­ ständen auf den perinatalen und transpersonalen Ebenen der Psyche zugänglich werden, hält dem zumindest die Waage. Über die Jahre hinweg war ich immer wieder Zeuge profunder emotionaler und psychosomatischer Heilungen, ebenso von radikalen Persönlichkeitsverände­ rungen bei vielen Menschen, die auf einer ernsthaften und systematischen inneren Suche waren. Einige von ihnen meditierten und beschäftigten sich regelmässig mit spirituellen Praktiken, andere hatten beaufsichtigte psychedelische Sitzungen oder nahmen an verschiedenen Formen der erfahrungsorientierten Psychotherapie und Selbsterforschung teil. Ebenso habe ich auch bei vielen Menschen, die während spontaner Episoden spiritueller Krisen fachgerecht unterstützt wurden, tief grei­ fende positive Veränderungen gesehen. Wenn die Inhalte der perinatalen Bewusstseinsebenen ins Bewusstsein traten und integriert wurden, erlebten diese Menschen radikale Persönlichkeitsverände­ rungen. Der Grad an Aggression verminderte sich beachtlich, und sie wurden friedfertig, waren mit sich selbst im Reinen und tolerant gegenüber anderen. Die Erfahrung von psychospirituellen! Tod und Wiedergeburt und die bewusste Ver­ bindung mit positiven nachgeburtlichen oder vorgeburtlichen Erinnerungen ver­ minderte die irrationalen Triebe und Ambitionen. Dies löste eine Verlagerung der Aufmerksamkeit weg von der Vergangenheit und Zukunft hin zum jetzigen Mo­ ment aus und erhöhte ihre Fähigkeit, sich an einfachen, alltäglichen Aktivitäten, an Essen, Liebe-Machen, Natur und Musik zu erfreuen. Ein weiteres wichtiges Resultat war das Wecken einer universalen und mystischen Spiritualität, die sehr «

319

authentisch und überzeugend ist, weil sie auf einer tiefen persönlichen Erfahrung beruht. Der Prozess der spirituellen Öffnung und Transformation vertiefte sich als Re­ sultat transpersonaler Erfahrungen wie einer Identifikation mit anderen Men­ schen, mit ganzen Menschengruppen, Tieren, Pflanzen und selbst anorganischen Materialien und Naturprozessen oftmals weiter. Weitere Erfahrungen vermittel­ ten bewussten Zugang zu Ereignissen, die in anderen Ländern, Kulturen und Geschichtsperioden stattfanden, und selbst zu mythologischen Bereichen und ar­ chetypischen Wesen des kollektiven Unbewussten. Erfahrungen des kosmischen Einsseins und der eigenen Göttlichkeit führten zu einer zunehmenden Identifika­ tion mit der gesamten Schöpfung und generierten Gefühle des Staunens, von Lie­ be, Mitgefühl und innerem Frieden. Was als psychologisches Erforschen der unbewussten Psyche begonnen halte, wurde automatisch zu einer philosophischen Suche nach dem Sinn des Lebens und einer Reise der spirituellen Entdeckungen. Menschen, die sich mit dem transper­ sonalen Bereich ihrer Psyche verbinden konnten, entwickelten oft ein neues Ver­ ständnis der Existenz und eine Ehrfurcht vor allem Leben. Eine der auffälligsten Konsequenzen verschiedener Formen transpersonaler Erfahrungen war das spon­ tane Auftreten und die Entwicklung tiefer humanitärer und ökologischer Anlie­ gen und das Bedürfnis, im Dienst einer allgemein gültigen, guten Sache tätig zu werden. Dies basierte auf einem beinahe zellulären Wissen, dass die Grenzen im Universum willkürlich sind und dass jeder von uns mit dem gesamten Netzwerk der Existenz identisch ist. Es wurde plötzlich klar, dass wir der Natur nichts antun können, ohne es gleichzeitig auch uns selbst anzutun. Die Unterschiede zwischen den Menschen schienen eher interessant und bereichernd als bedrohlich zu sein, ob sie nun das Geschlecht, die Rasse, die Farbe, die Sprache, die politische Überzeugung oder den religiösen Glauben betrafen. Es ist klar, dass eine Transformation dieser Art unsere Überlebenschancen erhöhen würde, wenn sie in genügend grossem Um­ fang geschähe.

Lehren aus holotropen Zuständen für die Psychologie des Überlebens Einige der Einsichten von Menschen, die holotrope Bewusstseinszustände erleb­ ten, sind direkt mit der heutigen globalen Krise und ihrer Beziehung mit der Be­ wusstseins-Evolution verknüpft. Sie zeigen, dass wir in der modernen Welt viele der wesentlichen Themen des perinatalen Prozesses, dem sich eine in tiefer per­ sönlicher Transformation befindliche Person stellen und den sie innerlich bewälti­ gen muss, veräusserlicht haben. Die gleichen Elemente, denen wir während des seelischen Tod-und-Wiedergeburts-Prozesses in unseren visionären Erfahrungen begegnen würden, erscheinen heute in den Abendnachrichten. Dies gilt besonders in Bezug auf die Phänomene, die BPM III charakterisieren. Wir sehen jedenfalls eine enorme Entfesselung der aggressiven Impulse in den vielen Kriegen und re­

320

volutionären Aufständen auf der ganzen Welt, in der zunehmenden Kriminalität, im Terrorismus und in Rassenunruhen. Ebenso dramatisch und bedeutsam ist die Befreiung aus der sexuellen Unterdrückung und die Befreiung des sexuellen Im­ pulses - im gesund-natürlichen wie auch im problematischen Sinne. Der Umgang mit Sex zeigt sich in einer noch nie da gewesenen Form - etwa im freizügigen Ver­ halten junger Menschen, in der Gay Liberation (Schwulenbewegung), in der ver­ breiteten Promiskuität, bei den offenen Ehen, in hoher Scheidungsraten, anhand von Büchern, Theaterstücken und Filmen mit unverblümt sexuellem Charakter, an den verbreiteten sadomasochistischen Praktiken und in vielen anderem mehr. Das dämonische Element tritt in der modernen Welt auch immer deutlicher auf. Die Renaissance satanischer Kulte und der Hexenbewegung, die Popularität von Büchern und Filmen mit okkulten Themen sowie Verbrechen mit satanischer Motivation belegen dies. Die skatologische Dimension zeigt sich in der zunehmen­ den industriellen Verschmutzung, in der globalen Anhäufung von Abfallpro­ dukten und in den sich rapide verschlechternden hygienischen Zuständen in den Grossstädten. Eine eher abstrakte Form des gleichen Trends ist die eskalierende Korruption und Entartung in politischen und ökonomischen Kreisen. Viele der Personen, mit denen ich gearbeitet habe, sahen die Menschheit an ei­ ner entscheidenden Kreuzung ankommen, wo sie sich entweder der kollektiven Auslöschung oder einem Evolutionssprung nie da gewesenen Ausmasses gegen­ über sieht. Terence McKenna drückte dies kurz und bündig aus: «Die Geschichte des dummen Affen ist so oder so vorbei» (McKenna 1992). Es scheint, dass wir al­ le kollektiv in einen Prozess eingebunden sind, der dem psychologischen Tod-undWiedergeburts-Prozess, den so viele Menschen individuell in holotropen Bewusst­ seinszuständen erfahren haben, parallel geschaltet ist. Wenn wir die den Tiefen un­ seres Unbewussten entspringenden, problematischen, zerstörerischen und selbst­ zerstörerischen Tendenzen weiter ausleben, werden wir uns und das Leben auf diesem Planeten zweifellos zerstören. Wenn es uns jedoch gelingt, diesen Prozess in einem genug grossen Ausmass zu verinnerlichen, könnte daraus ein evolutio­ närer Fortschritt entstehen, der uns ebenso weit über unseren heutigen Zustand hinausbringen kann, wie wir heute von den Primaten weg sind. So utopisch die Möglichkeit einer derartigen Entwicklung auch scheinen mag, sie könnte unsere einzige wirkliche Chance sein. Schauen wir nun in die Zukunft und untersuchen wir, wie die aus der Bewusst­ seinsforschung, aus dem transpersonalen Feld und aus dem neuen Wissen­ schaftsparadigma kommenden Konzepte in der Welt in Aktion gesetzt werden können. Obwohl die Leistungen der Vergangenheit sehr beeindruckend sind, stel­ len die neuen Ideen immer noch ein unzusammenhängendes Mosaik statt einer kompletten und umfassenden Weitsicht dar. Es ist noch viel zu tun, wie Daten sammeln, neue Theorien formulieren und zu einer kreativen Synthese kommen. Zusätzlich müssen bestehende Informationen ein viel grösseres Publikum er­ reichen, bevor eine signifikante Auswirkung auf die Weltsituation erwartet wer­ den kann.

321

Aber selbst eine radikale intellektuelle Verlagerung in ein neues Paradigma in grossem Ausmass würde nicht genügen, die globale Krise zu mindern und den zer­ störerischen Kurs, auf dem wir uns befinden, umzukehren. Dies würde eine tief greifende emotionale und spirituelle Transformation der Menschheit erfordern. Mit den existierenden Beweisen ist es möglich, gewisse Strategien vorzuschlagen, die einen solchen Prozess ermöglichen und unterstützen könnten. Alle Bemühun­ gen, die Menschheit zu verändern, müssten mit vorbeugenden psychologischen Massnahmen in frühem Alter beginnen. Die Daten aus der pränatalen und perina­ talen Psychologie weisen darauf hin, dass durch eine Veränderung der Umstände bei der Schwangerschaft, der Niederkunft und der nachgeburtlichen Fürsorge viel erreicht werden kann. Dazu gehören eine Verbesserung der emotionalen Vor­ bereitung der Mutter während der Schwangerschaft, eine natürliche Geburt, die Schaffung einer psychospirituell informierten Geburtsumgebung und die Pflege des emotional nährenden Kontaktes zwischen Mutter und Kind nach der Geburt. Über die Bedeutung der Kindeserziehung ist viel geschrieben worden, ebenso über die verheerenden emotionalen Konsequenzen traumatischer Bedingungen in der Kindheit. Auf diesem Gebiet ist eine fortdauernde Erziehung und Führung si­ cherlich notwendig. Um die theoretisch bekannten Prinzipien jedoch anzuwenden, müssen die Eltern selbst erst eine genügende emotionale Stabilität und Reife er­ reichen. Es ist bekannt, dass etwa emotionale Kundgebungen wie Flüche von Ge­ neration zu Generation weitergegeben werden. Wir stehen hier dem sehr komple­ xen Problem des Huhns und des Eis gegenüber. Die humanistischen und transpersonalen Psychologien haben wirksame, er­ fahrbare Methoden der Selbsterforschung, des Heilens und der Persönlichkeits­ transformation entwickelt. Einige davon entstammen therapeutischen Traditio­ nen, andere repräsentieren moderne Adaptionen von alten spirituellen Praktiken. Es gibt Ansätze mit einem sehr günstigen Verhältnis zwischen professionellen Helfern und Kunden, und andere, die innerhalb von Selbsthilfegruppen praktiziert werden können. Die systematische Beschäftigung damit kann zu einer spirituellen Öffnung führen, zu einer Bewegung in eine auf der kollektiven Ebene zum Über­ leben unserer Spezies dringend benötigte Richtung. Es ist wichtig, die Informatio­ nen über diese Möglichkeiten zu verbreiten und genügend Leute daran zu interes­ sieren, ihnen auch nachzuleben. Wir scheinen an einem dramatischen Rennen um Zeit ausgesetzt, wie es in der gesamten Menschheitsgeschichte noch nie vorgekommen ist. Auf dem Spiel steht nichts weniger als die Zukunft des Lebens auf diesem Planeten. Wenn wir mit den allen Strategien weilermachen, die in ihrer Konsequenz eindeutig extrem selbstzerstörerisch sind, ist es höchst unwahrscheinlich, dass die menschliche Spezies überleben wird. Wenn jedoch eine genügend grosse Anzahl von Menschen einen Prozess tiefer innerer Transformation durchmacht, könnten wir eine Ebene der Bewusstseins-Evolution erreichen, wo wir den stolzen Namen, den wir unserer Spezies gaben, auch verdienen: Homo sapiens.

322

Appendix Psyche und Kosmos Holotrope Bewusstseinszustände, archetypische Psychologie und Transit-Astrologie

D

ie psychedelischen Substanzen im Allgemeinen und LSD im Besonderen können die menschliche Seele auf tief greifende Art beeinflussen. Je nach Persönlichkeitsstruktur des Einzelnen und den während einer Sitzung herrschen­ den Umständen können die Resultate äusserst vorteilhaft oder aber katastrophal sein. Seit Anbeginn der experimentellen Arbeit mit Psychedelika wurde darum nach einer Technik gesucht, mit der sich die Wirkung dieser Substanzen vorherse­ hen lässt. Nach einer solchen Prognosemethode, die über das therapeutische Potenzial im einzelnen Fall Aufschluss geben konnte, suchten wir auch im Rahmen einer breit angelegten klinischen Studie, die unser Forschungsteam am Maryland Psy­ chiatric Research Center durchführte. Wir probierten eine ganze Reihe der gängi­ gen psychologischen Tests, wie das Minnesota Multidimensional Personality Inventory (MMP1), Shostrom’s Personal Orientation Inventory (POl), den Rorschach-Test, unseren eigenen Psychedelic Experience Questionnaire (PEQ) und andere. Die Resultate bestätigten einmal mehr meine Vermutung, die ich schon zuvor bei den Forschungen am Psychiatrischen Forschungsinstitut in Prag hatte: Die Tests, die unsere westliche traditionelle Psychologie entwickelt hatte, ergaben für diese Zwecke keinerlei Sinn. Nach Jahren frustrierender Suche fand ich die Antworten schliesslich in einem Wissensgebiet, das ironischerweise noch umstrittener und noch kontroverser war als die psychedelische Forschung selbst - in der Astrologie. Ich realisierte, dass diese Wissenschaft, für welche ich trotz der vielen Jahre, die ich mit dem Studium transpersonaler Phänomene verbracht hatte, bloss Geringachtung übrig hatte und die ich als pseudowissenschaftlich abtat, auch für viele andere holotrope Zustände von unschätzbarem Wert war, so bei den hochwirksamen experimentellen Psycho­ therapien (Primärtherapie, Rebirthing, holotropes Atmen) oder den spontan auf­ tretenden spirituellen Krisen. Die radikale Wende in meiner Einstellung zur Astrologie erfolgte durch mei­ ne Zusammenarbeit mit dem Psychologen und Philosophen Richard Tarnas, mei­ nem langjährigen Freund und Arbeitskollegen. Ricks bedeutendes Werk The Pas­ sion of the Western Mind, das von der Geschichte und dem Weltverständnis un­ serer westlichen Zivilisation handelt, wird in den Vereinigten Staaten und in ande­ ren Ländern in vielen Universitäten zum Studium empfohlen. Rick ist zudem ein brillanter Astrologe, der eine untadelige Gelehrsamkeit mit profunden Kenntnis­

323

sen der holotropen Bewusstseinszustände - das Thema seiner Dissertation - ver­ bindet. Rick verfügt ausserdem über ein ausserordentlich breites Wissen in Kultur und Geschichte. Während vielen Jahren haben wir zusammen nach Übereinstimmungen und Wechselbeziehungen zwischen der Astrologie und mystischen Erfahrungen, spiri­ tuellen Krisen, psychotischen Schüben und den Erlebnissen aus psychedelischen und holotropen Atemsitzungen gesucht. Wir fanden heraus, dass sich mit der Astrologie, und hier vor allem mit den planetaren Transiten, die archetypischen Inhalte und auch der Zeitpunkt ihres Auftretens vorhersehen lassen. Unser syste­ matisches Erforschen der Korrelationen zwischen Inhalt und Qualität der jeweili­ gen holotropen Zustände und den planetaren Transiten überzeugte mich davon, dass eine Kombination von experimenteller Therapie, archetypischer Psychologie und Transit-Astrologie die vielversprechendste Strategie für die Psychiatric der Zukunft zu sein scheint. Ich bin mir bewusst, dass diese Aussage gewagt und extrem ist, vor allem weil die meisten Wissenschaftler die Astrologie nach wie vor als grundsätzlich unver­ einbar mit dem herkömmlichen wissenschaftlichen Weltbild ansehen. Zu zeigen, dass die Astrologie als System sowohl philosophischen wie auch wissenschaftli­ chen Argumentationen durchaus gewachsen ist, würde den Rahmen dieser Ab­ handlung sprengen. Den interessierten Lesern möchte ich zu diesem Zweck die Publikationen von Richard Tarnas empfehlen, der in diesem Gebiet viel besser be­ wandert ist als ich (Tarnas 1991, 1995; im Druck), ln diesem Kontext möchte ich nur eine kurze Zusammenfassung präsentieren, die zeigt, wie sich der Status der Astrologie im Lauf der Geschichte gewandelt hat, und diejenigen einleuchtenden Beweise erwähnen, die sich durch die moderne Bewusstseinsforschung ergeben haben und für diese alte Disziplin sprechen. Astrologie ist eine alte Kunst und Wissenschaft, die wahrscheinlich schon im dritten Jahrtausend vor Christi Geburt in Mesopotamien entstand und von da aus nach Indien und Griechenland gelangte. Sie entstand auf der ideellen Basis der universalen Sympathie. Der Grundsatz «wie oben, so unten» geht von der Annah­ me aus, dass der Mikrokosmos der menschlichen Psyche den Makrokosmos re­ flektiert und dass die irdischen Geschehnisse die himmlischen widerspiegcln. Während der hellenistischen Ära verfeinerten die griechischen Astrologen die astronomischen Berechnungen und ordneten den einzelnen Planeten mythische Gottheiten zu, welche den mythologischen Assoziationen, welche die Babylonier schon festgesetzt hatten, entsprachen. Dieses System nutzten sie dann, um kol­ lektive Geschehnisse oder Ereignisse im Leben individueller Personen vorauszu­ sagen. Die Bedeutung der einzelnen Planeten, ihre Positionen und geometrischen Aspekte sowie ihr spezieller Einfluss auf die menschlichen Angelegenheiten wur­ den erstmals von Ptolemäus zu einer Synthese gebracht. Ptolemäus war gleichzei­ tig auch der grösste Systematiker der alten Astronomie. In den folgenden Jahr­ hunderten haben Generationen von Astrologen das System von Ptolemäus erwei­

324

tert, revidiert und neu definiert. Die griechische Astrologie in ihrem voll ent­ wickelten Zustand beeinflusste während fast zweitausend Jahren Religion. Philo­ sophie und Wissenschaft des heidnischen und später des christlichen Europas. Die neuzeitlichen Astrologen, die sich die astronomischen Errungenschaften, die durch die Erfindung des Teleskops ermöglicht wurden, zunutze machten, fügten dann dem alten Siebenersystem die drei äusseren Planeten Uranus, Neptun und Pluto hinzu, studierten sie und beschrieben ihre archetypische Qualität. Wie so viele andere esoterische Systeme wurde auch die Astrologie ein Opfer des Rationalismus und Materialismus der wissenschaftlichen Revolution. Sie wur­ de nicht aufgrund von wissenschaftlichen Beweisführungen verworfen, die gezeigt hätten, dass ihre Prämissen falsch wären, sondern wegen ihrer Inkompatibilität mit den metaphysischen Grundannahmen unserer westlichen Wissenschaft, die vom monistischen Materialismus geprägt sind. Genauer betrachtet hat es mehrere wichtige Gründe, weswegen die Astrologie in die Verbannung geschickt wurde. Das Bild, das die westliche Wissenschaft vom Universum zeichnet, ist das eines unpersönlichen und weitgehend unbeseelten mechanischen Systems; eine Super­ maschine, die sich selbst geschöpft hat und von mechanischen Naturgesetzen be­ herrscht wird. In einem solchen Kontext scheinen Leben, Bewusstsein und Intelli­ genz mehr oder weniger zufällige Produkte der Materie zu sein. Im Gegensatz da­ zu sicht das astrologische Weltbild den Kosmos als die Schöpfung einer überge­ ordneten Intelligenz an. welcher eine unvorstellbar komplexe und ausgeklügelte Ordnung zugrunde liegt und die einen höheren Sinn hat. Die astrologische Perspektive hat in engstem Sinne mit der Urbedeutung des griechischen Begriffes Kosmos zu tun, welcher die Welt als ein intelligent geord­ netes, strukturiertes und kohärent untereinander verbundenes System ansieht, in welchem die Menschheit integraler Teil des Ganzen ist. Aus dieser Sicht ist die menschliche Existenz nicht das Resultat zufällig wirkender Kräfte und launischer Zufälle, sondern diese verläuft in einer klar verständlichen Bahn, die mit den Be­ wegungen der Himmelskörper korrespondiert und darum, zumindest teilweise, in­ tuitiv verstanden werden kann. Das astrologische Denken setzt die Existenz von Archetypen voraus, zeitlosen Urprinzipien, die dem Weltgefüge zugrunde liegen, dieses speisen und formen. Die Idee, unsere Existenz im Zusammenhang mit diesen archetypischen Prinzipi­ en zu verstehen, tauchte erstmals im antiken Griechenland auf und war eines der prägendsten Merkmale der griechischen Philosophie und Kultur. Archetypen kön­ nen aus verschiedenen Perspektiven betrachtet werden. In den Epen Homers nah­ men sie die Form personifizierter mythologischer Figuren an, als Gottheiten wie Zeus, Poseidon, Hera, Aphrodite oder Ares. Für den Philosophen Platon waren sie reine metaphysische Prinzipien: transzendente Ideen oder Formen. Von ihrer Natur her unabhängig, existieren sie in einer eigenen Sphäre, die den gewöhnli­ chen menschlichen Sinnen nicht zugänglich sind. C. G. Jung schliesslich führte das Konzept der Archetypen in die moderne Psychologie ein; er sah sie im Wesentli­ chen als psychologische Prinzipien an (Jung 1959).

325

Die Vorstellung, dass unsichtbare Realitätsdimensionen existieren könnten, ist der materialistischen Wissenschaft fremd, ausser wenn diese materieller Art sind und mittels spezieller Techniken oder Apparaturen (wie Mikroskope, Tele­ skope oder Sensoren zur Registrierung elektromagnetischer Strahlung), die unser Wahrnehmungsspektrum erweitern, unseren Sinnen zugänglich gemacht werden können. Wie wir vorher gesehen haben, arbeiten akademische und klinische Psy­ chiater ausserdem in einem zu eng gefassten theoretischen Rahmen, der auf die postnatale Biografie und das freudsche individuelle Unbewusste beschränkt ist. Ein weiterer wichtiger Grund, welcher die westliche Wissenschaft daran hin­ dert, Astrologie als seriöse Disziplin zu akzeptieren, ist ihr deterministisches Den­ ken. Das Universum wird als eine Kette von Ursachen und Wirkungen verstanden, und das Kausalitätsprinzip ist die Conditio sine qua non für alle Prozesse des Uni­ versums. Eine der relevanten, beunruhigenden Ausnahmen zu dieser Regel, die sich dann ergibt, wenn wir nach dem Ursprung des Universums und nach der «Ur­ sache aller Ursachen» fragen, wird in wissenschaftlichen Diskussionen nur selten erwähnt. Kausalität ist damit die einzige Art von Einfluss, welche die Kritiker der Astrologie sich gewöhnlich vorstellen können und in Betracht ziehen. Und die Vorstellung einer direkten materiellen Wirkung von Planet zu Psyche ist selbst­ verständlich wenig plausibel und absurd. Schliesslich ergibt auch der Umstand, dass die Astrologie auf den Moment der Geburt so viel Wert legt, für die akademische Psychologie und Psychiatrie wenig bis gar keinen Sinn, da sie die biologische Geburt für psychologisch irrelevant er­ achten und die perinatale Ebene des Unbewussten nicht anerkennen. Dieser Glau­ be basiert auf der höchst fragwürdigen Annahme, dass das Gehirn des Neugebo­ renen das Trauma der Geburt nicht registrieren kann, weil der Myelinisierungs­ prozess (die Bildung von Myelin-Fettschichten, welche die Neuronen umhüllen) im Hirn zur Zeit der Geburt noch nicht voll abgeschlossen ist. Mehrere Jahrzehnte systematischen Erforschens von holotropen Bewusst­ seinszuständen haben zu einer Unmenge von Daten geführt, welche diese Grund­ annahmen der materialistischen Wissenschaft untergraben und zu Gunsten der Astrologie sprechen. Diese Beobachtungen enthüllen: die Existenz transpersonaler Erlebnisse, die auf einen beseelten Kosmos schliessen lassen, durchdrungen von Bewusstsein und schöpferischer kosmi­ scher Intelligenz; die Möglichkeit einer direkten Erfahrung der spirituellen Realitäten mit archetypischen Gestalten, Motiven und Reichen - und eine empirische Validie­ rung der Authentizität dieser Erlebnisse; das Prinzip der Synchronizitäten, welches eine wichtige und entwicklungsfähi­ ge Alternative zum Kausalitätsprinzip darstellt; die entscheidende psychodynamische Bedeutung des Geburtserlebnisses für die psychologische Entwicklung und das Leben des Individuums;

326

das ausserordentliche Potenzial astrologischer Transite zur Vorhersage von Inhalt und Zeitpunkt holotroper Erfahrungen. 1. Indizien, die für einen belebten Kosmos sprechen. Das Studium holotroper Be­ wusstseinszustände hat vielfach belegt, dass transpersonale Erfahrungen nicht ein­ fach als irrelevante psychotische Produkte abgetan werden können. Die Tatsache, dass sie Zugang verschaffen können zu akkuraten neuen Informationen in ver­ schiedenen Bereichen unserer Existenz, lässt keinen Zweifel daran, dass sie Phä­ nomene sui generis sind, welche die fundamentalsten Grundannahmen der mate­ rialistischen Wissenschaft ins Wanken bringen. Sie zeigen auf, dass das Universum ein einheitliches Netz von Bewusstseinserlebnissen ist, durchdrungen von einer höheren Intelligenz und eine höhere Ordnung reflektierend. Diese Erfahrungen können auch empirisch belegen, dass die individuelle menschliche Psyche keine Grenzen hat und essenziell mit der übrigen Existenz kommensurabel ist. Sie bestätigen damit auch den wichtigsten Grundsatz vieler esoterischer Systeme, inklusive der Astrologie, dass der Mikrokosmos den Makro­ kosmos widerspiegelt. Diese Erkenntnis, die aus der Perspektive der mechanisti­ schen Wissenschaft und der aristotelischen Logik völlig absurd erschienen war, be­ kam in den letzten Jahrzehnten auch unverhofft Unterstützung aus einem ganz an­ deren Gebiet: Die Entwicklung des Lasers und der optischen Holografie liess, was die Beziehung zwischen dem Teil und dem Ganzen betrifft, radikal neue Sichtwei­ sen zu. 2. Empirisch gewonnene Erkenntnisse, welche die Existenz von Archetypen be­ legen. Holotrope Zustände ermöglichen einen direkten Zugang zu den spirituellen (numinosen) Dimensionen der Existenz und somit auch zu den Archetypen. Dies ist aus diesem Grund wichtig, weil das Konzept der Archetypen für die Astrologie von essenzieller Bedeutung ist. Im zwanzigsten Jahrhundert brachte C. G. Jung die Archetypen zu einer Renaissance und führte sie als psychologische Prinzipien, die organisierenden Urmuster der Psyche, in die moderne Tiefenpsychologie ein (Jung 1959). Jung und seine Nachfolger erforschten und beschrieben sehr detailliert die wichtige Rolle, welche Archetypen in der Existenz von Individuen und Nationen sowie in der Natur spielen. Viele Fachartikel und Fachbücher sowie populäre Li­ teratur, die von Autoren jungscher Orientierung verfasst wurden, vertreten die Idee, dass unsere persönlichen Charakteristiken und unser Benehmen die dynami­ schen Kräfte mächtiger archetypischer Prinzipien reflektieren (Shinoda Bolen 1984,1989) und wir in unserem Alltag typische archetypische Themen ausagieren (Campbell 1972). Ein wichtiges Charaktermerkmal der Archetypen ist, dass sie nicht auf den menschlichen Verstand beschränkt sind, sondern von den transzendentalen Ebe­ nen aus operieren und einen synchronistischen Einfluss auf die individuellen Psy­ chen und die Geschehnisse in der Aussenwelt ausüben. Die Heirat von wissen­

327

schaftlicher Astrologie und jungscher archetypischer Psychologie stellt einen aus­ serordentlichen Fortschritt in beiden Bereichen dar. Sie bringt die mathematische Präzision der Astronomie in die kreative und imaginative Well der Tiefenpsycho­ logie, was sowohl die Möglichkeiten theoretischer Spekulationen wie auch die kli­ nischen Voraussagen enorm bereichert. Akademische Psychologen und Psychiater haben bis dato die jungsche Idee der Archetypen als wenig fundiert und spekulativ angesehen und sich geweigert, sie ernst zu nehmen. Trotzdem hat die moderne Bewusstseinsforschung die Exis­ tenz von Archetypen jenseits allen Zweifels nachgewiesen, gestützt auf die vielen Erfahrungsberichte aus holotropen Sitzungen, die davon Zeugnis geben, dass die­ se sogar direkt erfahren werden können. Ich habe, in jeweils anderem Kontext, mehrere Fallgeschichten veröffentlicht, die illustrieren, wie während Iransperso­ naler Erlebnisse archetypischer Art Detailwissen zu mythologischen Welten von Kulturen gewonnen wurde, die den Personen zuvor unbekannt waren. Hier eröff­ nen sich auch neue therapeutische Perspektiven (Grof 1985, 1988,1992). 3. Die Entdeckung der Synchronizität. Unsere Tendenz, vorwiegend in kausalen Begriffen zu denken, ist einer der Hauptgründe, warum Astrologie so vehement abgelehnt wird. Ich erinnere mich an eine der vielen Diskussionen, die ich mit Carl Sagan über transpersonale Psychologie führte, in der er mir, erhitzten Gemüts, un­ ter anderem sagte: «Astrologie ist blanker Unsinn; so wie ich da stehe, habe ich weit mehr Einfluss auf dich als Pluto.» Er dachte dabei ganz klar in Begriffen wie Masse, Distanzen, Anziehungskräften und anderen physikalischen Begriffen. Eine solche Annäherung trifft den Kern der Sache natürlich nicht. Kritiker der Astrolo­ gie wie Carl Sagan begreifen nicht, dass die Astrologen ein hoch entwickeltes Pa­ radigma anwenden, das von einer synchronistischen Beziehung zwischen den Pla­ neten, der menschlichen Psyche und den äusseren Ereignissen ausgehl. Um Astro­ logie verstehen zu können, müssen wir in synchronistischen Begriffen denken. Richard Tarnas und ich haben zusammen über unsere Entdeckungen, was die Beziehung zwischen Psyche und Kosmos betrifft, an mehreren Kursen auf Hochschulstufe am California Institute of Integral Studies (CHS) oder in unseren Transpersonal-Training-Workshops sowie an öffentlichen Seminaren unterrichtet. Wir haben immer versucht, als Allererstes (und bevor eine Diskussion zu diesem The­ ma entstand) klar zu machen, dass wir, wenn wir von Korrelationen zwischen Er­ fahrungen oder Ereignissen und planetaren Bewegungen und Aspekten reden, da­ mit keinesfalls eine kausale Beeinflussung meinen, die von einem Himmelskörper ausgeht und auf die menschliche Psyche oder auf Begebenheiten in der materiel­ len Welt einwirkt. Welcher Art unser Denken in der Astrologie sein sollte, lässt sich anhand ei­ nes einfachen Beispiels illustrieren. Wenn ich auf meine Uhr schaue, die richtig geht, und sie zeigt an, dass es sieben Uhr ist, kann ich davon ausgehen, dass alle Uhren, die sich in derselben Zeitzone befinden und richtig gehen, auch sieben Uhr anzeigen. Ich kann zudem mit ziemlicher Sicherheit annehmen, dass, wenn ich den

328

Fernseher einschalte, ich die Sieben-Uhr-Nachrichten schauen kann oder dass man im Restaurant, in dem ich für sieben Uhr reserviert habe, meine Ankunft er­ wartet. Das bedeutet nun natürlich nicht, dass meine Uhr einen direkten Einfluss auf die anderen Uhren in der Umgebung hat, dass sie die Sieben-Uhr-Nachrichten be­ wirkt oder mit dem Bewusstsein des Restaurantpersonals interagiert. All diese Be­ gebenheiten sind ganz einfach in Relation zur astronomischen Zeit synchronisiert, einer verborgenen Dimension, die hinter den Szenen operiert und nicht direkt wahrgenommen werden kann. Entsprechend geht die astrologische Denkweise von der Idee aus, dass im uni­ versellen Schema der Dinge die Bewegungen der Planeten und ihre geometrischen Aspekte mit den verborgenen archetypischen Kräften korrelieren, welche die Er­ eignisse in der phänomenalen Welt formen. Da die Planeten sichtbar sind, können sie benutzt werden, um Rückschlüsse zu ziehen zum Geschehen in der Welt der Archetypen oder, um das vorherige Beispiel wieder zu gebrauchen, um zu sehen, «wie viel Uhr» es in der Welt der Archetypen ist. Die Winkel, die sie zu den Planetenstellungen in unserem Radix bilden (die Transite), geben Aufschluss über die Art und Weise, wie sich die Situation in unserem Leben manifestieren könnte. Das Synchronizitätsprinzip als eine wichtige Alternative zur linearen Kausa­ lität hat auf umfassende Weise zuerst C. G. Jung beschrieben. Laut Jung ist Syn­ chronizität ein akausales, verbindendes Prinzip, das sich auf bedeutungsvolle Ko­ inzidenzen von Ereignissen bezieht, die zeitlich oder räumlich auseinander liegen. Obschon Jung sich generell für seltsame Koinzidenzen im Leben interessierte, galt sein primäres Interesse doch denjenigen unter ihnen, in denen diverse äussere Er­ eignisse sinnhaft mit inneren Erfahrungen, zum Beispiel Träumen, Fantasien und Visionen verknüpft sind. Dies war die Varietät ausserordentlicher Koinzidenzen, die er «Synchroni­ zität» nannte. Er definierte diese Art von Synchronizität als das «gleichzeitige Vor­ kommen eines bestimmten Seelenzustands und eines oder mehrerer äusserer Er­ eignisse, die sinnige Parallelen zu dem momentanen subjektiven Zustand darstel­ len» (Jung 1960). Synchronizität kann viele verschiedene Formen annehmen; eini­ ge verbinden Individuen und Geschehnisse an verschiedenen Orten; andere schlagen eine Brücke durch die Zeit. Wegen des tief verankerten modernen Glaubens an Kausalität als einem zen­ tralen Naturgesetz zögerte Jung viele Jahre lang, seine Beobachtungen von Ge­ schehnissen, welche in dieses Schema nicht hineinpassen wollten, zu veröffentli­ chen. Er verschob die Publikation dieser Arbeit, bis er und andere buchstäblich Hunderte von überzeugenden Beispielen gesammelt hatten und er sich absolut si­ cher war, dass er etwas Hieb- und Stichfestes bieten konnte. Wichtig war für ihn auch, dass er von zwei Pionieren der modernen Physik, Albert Einstein und Wolf­ gang Pauli, unterstützt wurde. Was unser Thema betrifft, ist es interessant anzu­ merken, dass Jung in seinem bahnbrechenden Essay S ynchronizität : E in akau sales , verbindendes P rinzip (Jung 1960) speziell die Astrologie behandelt.

329

Wenn wir mit holotropen Zuständen arbeiten, so kommen bemerkenswerte Synchronizitäten so häufig vor, dass keine Zweifel mehr bestehen können, dass es sich hierbei um eine wichtige Alternative zur Kausalität als verbindendem Prinzip handelt. Bei Meditationsübungen, in der psychedelischen Therapie, der holotro­ pen Atemarbeit und bei spirituellen Krisen gehen die Inhalte, die aus dem Unbe­ wussten auftauchen, oft ein komplexes, kreatives Spiel ein mit verschiedenen Aspekten der objektiven Realität. Dies fordert unsere tiefstsitzenden Anschauun­ gen zur Realität heraus und löst die scharfen Grenzen, die wir gewöhnlich zwi­ schen Innen- und Aussenwelt ziehen, weitgehend auf. Ein typisches Beispiel ist das Auftreten aussergewöhnlicher Synchronizitäten im Leben von Personen, die sich im Prozess des Wiedererlebens der biologischen Geburt und der Integration dieser Erinnerung befinden. Wenn der Prozess der in­ neren Selbsterforschung sie bis nahe an die Erfahrung des Ich-Todes bringt, aber nicht vollendet werden kann, erleben sie in ihrem Alltag höchst ungewöhnlich vie­ le gefährliche Situationen, Verletzungen und Unfälle. Ich möchte betonen, dass diese Vorfälle durch andere Leute oder äussere Umstände verursacht wurden und nicht das Resultat selbstzerstörerischer Tendenzen sind. Wenn diese Personen im weiteren Verlauf ihres Prozesses den Ich-Tod und die seelisch-geistige Wiedergeburt erfahren haben, verschwinden solche Situationen auf gleich magische Weise, wie sie entstanden waren. Es scheint, als ob das Indivi­ duum, das sich in dieser Phase des persönlichen Transformationsprozesses befin­ det, sich zwar mit dem Thema Zerstörung und Verlust auseinander setzen muss, aber die Wahl hat, es als inneren Prozess oder als reelle Begebenheit zu erleben. Dies entspricht exakt den Beobachtungen, die Astrologen hinsichtlich der Wir­ kungen von schwierigen planetaren Transiten machen. Ebenso bemerkenswerte Synchronizitäten finden wir auch bei verschiedenen transpersonalen Erlebnissen. Synchronistische Ereignisse begleiten oft das Wiedererleben von Sequenzen aus früheren Leben und die Begegnung mit archetypi­ schen Figuren und Motiven. Wenn Leute in einem intensiven inneren Prozess mit den Themen Animus, Anima, der alte Weise, die Grosse oder die Verschlingende Muttergöttin in Berührung kommen, so manifestieren sich oft geeignete menschli­ che Repräsentanten in ihrem Alltagsleben. Ähnlich kann einer Person nach einer tiefen schamanischen Erfahrung, in der sie Kontakt mit einem Tiergeistführer aufnahm, das Tier plötzlich auf verschiede­ ne Arten begegnen, mit einer Häufigkeit, die weit jenseits jeder Wahrscheinlich­ keit liegt. Leute berichten auch immer wieder, dass wenn sie sich selbstlos in einem Projekt engagieren, welches von den transpersonalen Bereichen der Psyche inspi­ riert wurde, sich aussergewöhnliche Synchronizitäten ergeben, die ihre Arbeit überraschend leicht werden lässt. 4. Die psychologische Bedeutung der Geburt. Die Beobachtungen und Erkennt­ nisse aus der Arbeit mit holotropen Zuständen, welche die eminente Bedeutung der Geburt für das spätere Leben belegen, unterstützen die Astrologie, welche

330

dem Moment der Geburt schon immer höchste Bedeutung beigemessen hat und sie gleichsam als symbolischen Vorläufer unseres übergreifenden allgemeinen Le­ bensmusters versteht. - Sie nehmen ebenfalls Bezug auf einen anderen Grundsatz der Astrologie, der präzis die Beziehungen zwischen geschichtlichen Grossereig­ nissen und den Geschehnissen in individuellen Leben beschreibt. Die grossen Be­ wegungen und historischen Ereignisse finden ihre Entsprechung in den planetaren Positionen und den zwischen ihnen gebildeten Aspekten. Bis zu welchem Grad ein Individuum an diesen kollektiven Geschehnissen teilnimmt und welcher Art diese Beteiligung ist, wird von den persönlichen planetaren Transiten reflektiert. Umge­ kehrt zeigen diese wiederum die Beziehung zwischen dem jeweiligen persönlichen Geburtshoroskop und den Welttransiten an. Wir werden später noch genauer auf diese Thema zu sprechen kommen. 5. Korrelationen zwischen holotropen Zuständen und planetaren Transiten. Während die obigen Ausführungen auf eine Weltanschauung und Persönlichkeitstheorie Bezug nehmen, die vom Konzept her mit der Astrologie übereinstimmen, hat die Forschung mit holotropen Zuständen auch massenweise Beobachtungen zusammengetragen, welche die wichtigen Grundthesen der Astrologie auf eine sehr spezifische Weise stützen: Diese zeigen, dass Thema und Inhalt von holotro­ pen Erfahrungen mit den individuellen Transiten übereinstimmen. Der erste Hinweis, dass eine bemerkenswerte Verbindung zwischen der Astrolo­ gie und meinen Forschungen bestehen könnte, ist Richard Tarnas zu verdanken, der realisierte, dass meine Beschreibung der Phänomenologie der vier perinatalen Matrizen (BPM) eine verblüffende Ähnlichkeit zu den vier Archetypen aufweisen, welche Astrologen empirisch den vier äusseren Planeten zugeordnet haben. Mei­ ne Beschreibung der BPM entstand viele Jahre, bevor ich mich für Astrologie zu interessieren begann, und basierte auf meinen klinischen Erforschungen. Die positiven Aspekte der ersten Matrix (BPM I) - Episoden der ungestörten intrauterinen Existenz, das Auflösen von Grenzen, ozeanische Ekstase, kosmi­ sches Einssein, Transzendenz von Zeit und Raum und das Wahrnehmen der mys­ tischen Dimensionen der Realität - spiegeln zweifelsohne das Prinzip Neptun wi­ der. Das Gleiche gilt für die negativen Seiten von BPM I, regressiven Erfahrungen mit vorgeburtlichen Störungen. Das Auflösen von Grenzen wird hier nicht als mystisch erfahren, sondern ist psychotischer Natur; es führt zu Verwirrungszustän­ den, der Empfindung, chemisch vergiftet zu werden, und einer paranoiden Wahr­ nehmung der Welt. Diese Matrix steht ebenfalls psychodynamisch in Verbindung mit Alkohol- und Drogenmissbrauch und -Vergiftung - all dies entspricht den astrologischen Schattenseiten Neptuns. Die Charakteristiken der zweiten Matrix (BPM II) - das «No exit»-Stadium im Geburtsprozess, während welchem die Kontraktionen einsetzen, die Cervix aber noch nicht erweitert ist - drehen sich um Altern und Tod, schwere Prüfungen, schwerste Arbeit, Unterdrückung, Eingeengtsein und Entbehrung. Typisch sind

331

Gefühle der Unzulänglichkeit, Minderwertigkeit und Schuld. Skeptizismus und ei­ ne zutiefst pessimistische Weltanschauung, eine vernichtende Sinnkrise, die Un­ fähigkeit, etwas zu geniessen, und das Verlieren einer jeglichen Verbindung zur göttlichen Dimension der Realität sind ebenfalls dieser Matrix zuzurechnen. ln der Astrologie entsprechen alle diese Qualitäten den negativen Seiten Saturns. Dass es in der Astrologie eine genaue Entsprechung zur dritten Matrix (BPM III) gibt, ist besonders aussergewöhnlich und überraschend, da diese Matrix eine ungewöhnliche Kombination von Elementen aufweist, die mit dem letzten Geburtsstadium korrespondieren. Wir sind unerbittlichen, gewaltsamen Schübe einer elementaren, titanischen Energie ausgeliefert, erfahren dionysische Ekstase; Geburt, Sex, Tod und Wiedergeburt, Vernichtung und skatologische Elemente. Hierher gehören Leben und Tod, vulkanische Eruptionen, das reinigende oder das Fegefeuer und die verschiedenen Gesichter der Unterwelt - die urbane, die krimi­ nelle, die psychische, die sexuelle und die mythologische. Astrologisch gesehen sind all diese Attribute im planetaren Prinzip Pluto vereinigt. Die Phänomenologie der vierten Matrix (BPM IV) schliesslich - das Austre­ ten aus dem Geburtskanal, die eigentliche Geburt - ist eng verwandt mit dem uranischen Archetyp. Wie ich später noch ausführen möchte, ist dies der einzige Pla­ net, dessen archetypische Bedeutung wesentlich von derjenigen seines mythologi­ schen Namensvetters abweicht. Der Archetyp, der das Wesen des astrologischen Uranus widerspiegelt, ist vielmehr die Heldengestalt des Prometheus aus der grie­ chischen Mythologie (Tarnas 1995). Zu den charakteristischen Merkmalen gehö­ ren die unerwartete Erlösung aus einer schwierigen Situation, das Durchbrechen und Transzendieren von Begrenzungen, brillante, erleuchtende Einsichten, die prometheische Offenbarung des Göttlichen, das unerwartete Aufsteigen und Er­ reichen einer höheren Wahrnehmungs- und Bewusstseinsebene, Befreiung und Freiwerden von bestehenden Einschränkungen. Noch erstaunlicher als die verblüffenden Parallelen zwischen der Phänomeno­ logie der perinatalen Matrizen und den planetaren Archetypen war Tarnas’ Ent­ deckung, dass in holotropen Zuständen die Erfahrung einer Konfrontation mit diesen Matrizen regelmässig dann geschah, wenn die betreffenden Individuen be­ deutende Transite der entsprechenden Planeten hatten. Im Verlauf der Jahre konnten wir diese Tatsache anhand von Tausenden konkreter Beispiele beobach­ ten. Auf diese bemerkenswerten Korrelationen werden wir später noch einmal eingehen und sie anhand von Fallbeispielen veranschaulichen. Die Geburts- und Transit-Astrologie hat auch Licht in ein anderes wichtiges Konzept gebracht, das ebenfalls im Zusammenhang mit meiner psychedeIischen Forschung entstand: in die in diesem Buch bereits erörterten COEX-Systeme. Ei­ ne wesentliche Verfeinerung erfuhr dieses Modell, als ich erkannte, dass Art und Inhalt von individuell relevanten COEX-Systemen mit den wichtigen Haupt­ aspekten im Radix der betreffenden Person übereinstimmen. Hinzu kommt, dass eine Aktivierung der biografischen Ebenen dieser COEX-Systeme mit Zeitpe­ rioden zusammenfallen, in denen diese Geburtskonstellationen von bedeutenden

332

Transiten aspektiert werden. Diese Beobachtungen werfen ein neues Licht auf die dynamischen Verbindungen zwischen den biografischen, den perinatalen und den transpersonalen Bestandteilen eines COEX. die ich in meiner Arbeit so oft beo­ bachten konnte. Angesichts dieser erstaunlich präzisen Korrelationen entpuppte sich die Astrologie, und insbesondere die Transit-Astrologie, als der lang gesuchte Stein von Rosette der Bewusstseinsforschung. Hier war der Schlüssel zum Verständnis der «gewählten» Themen in vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen (indu­ zierten oder spontanen) holotropen Zuständen. Während die Korrelationen bei vergangenen Erfahrungen vorwiegend von theoretischem Interesse sind, ist das Examinieren der gegenwärtigen Transite von grösstem praktischem Nutzen, wenn wir mit Personen arbeiten, die sich in einer spirituellen Krise befinden; ebenso ist das Wissen um zukünftige Transite von unschätzbarem Wert, wenn wir psychede­ lische oder holotrope Sitzungen einplanen. Nach dieser allgemeinen Einführung möchte ich spezifischer auf die Astrolo­ gie als Bezugssystem für die Arbeit mit holotropen Zuständen eingehen. Eine um­ fassende Diskussion der Bedeutung der Astrologie für Bewusstseinsforschung, Psychiatrie und Psychologie würde den Rahmen dieser Abhandlung sprengen. Doch weil dieses Thema von solch eminenter Bedeutung für die holotrope Arbeit ist, möchte ich wenigstens einen kurzen Abriss der astrologischen Grundprinzipi­ en und ihrer Anwendung in diesem Bereich skizzieren. Ich hoffe, dass sich dadurch das Interesse von Lesern wecken lässt, die sich im Gebiet der Astrologie noch nicht auskennen, und dass es sie dazu anregt, sich im reichhaltigen Literaturange­ bot umzuschauen. Um dieses System als Arbeitsmittel richtig beurteilen zu kön­ nen, ist es notwendig, dass man es selbst quasi am eigenen Leibe erfährt und als Klient einen erfahrenen und fähigen Astrologen aufsucht oder, noch besser, sich in diesem Gebiet so viel Wissen aneignet, dass man seine Erfahrungen in der prakti­ schen Anwendung selbst machen kann. Im folgenden kurzen Abriss der astrologischen Basiskonzepte halte ich mich eng an ein unveröffentlichtes Papier von Richard Tarnas, das er seinen Klienten zukommen lässt, um sie auf das astrologische Reading vorzubereiten. Leser, die in­ teressiert sind, sich ernsthafter mit dieser Materie zu befassen, finden detaillierte und umfassende Informationen in den Büchern von Fachexperten wie Robert Hand und Richard Tarnas; Robert Hand hat ein viel benutztes und empfehlens­ wertes Buch über die planetaren Transite: P lanets in T ransit . L ife C ycles for L iving publiziert (Hand 1976). Richard Tarnas' Meisterwerk The Passion ofthe Western Mind (Tarnas 1991), welches die Entwicklung der westlichen Denkwei­ se von den vorsokratischen Philosophen bis zur postmodernen Zeit zum Thema hat, folgt ein sehr rigoros dokumentierter Nachfolgeband mit dem Titel C osmos and P syche : I ntimations of a N ew W orld V iew , welcher die astrologischen Korrelationen zu den einzelnen Themen des ersten Bands ausführt (Tarnas, im Druck). Tarnas' Buch P rometheus the A wakener (Tarnas 1995), das von der archetypischen Bedeutung des Planeten Uranus handelt, ist ein gutes Beispiel für

333

sein Verständnis von archetypischer Psychologie und Astrologie. Das generelle Bezugssystem, das in der astrologischen Arbeit benutzt wird, basiert auf den Winkelbeziehungen im Radix (die Aspekte), welche Sonne, Mond und acht Planeten untereinander bilden. Und die Transit-Astrologie untersucht im Speziellen die Aspekte, die zwischen den Radix-Planetenpositionen und den Positionen, die die­ se zu einem bestimmten Zeitpunkt einnehmen, gebildet werden. Ausserdem sind auch die Winkelbeziehungen von Bedeutung, die zwischen den Planeten und den Punkten eines Koordinatensystems bestehen, welches von einer AC/DC- und ei­ ner MC/IC-Achse gebildet wird. Es handelt sich hier also um einen konzeptuellen Rahmen und ein Bezugs­ system von beträchtlicher Komplexität. Wie ich schon gesagt habe, kann diesem faszinierenden Thema in diesem Kontext unmöglich Genüge getan werden. Ich hoffe, dass ich, zusammen mit Rick Tarnas, zu einem späteren Zeitpunkt eine um­ fassende und detaillierte Studie zu diesem Thema veröffentlichen kann. Das Radix- oder Geburtshoroskop ist ein zweidimensionales Bild, das die Si­ tuation wiedergibt, die zum Zeitpunkt der Geburt am Himmel herrschte. Es be­ steht aus einem Kreis, der durch eine horizontale und eine vertikale Achse (die Koordinaten) in vier Quadranten geteilt wird. Der Kreis ist in 360° unterteilt und in zwölf 30°-Segmente, denen die zwölf Zodiak- oder Tierkreiszeichen zugeordnet sind. Auf diesem Hintergrund zeigt das Horoskop die Stellungen der Planeten an sowie die Winkel, die sie zueinander bilden. Die Planeten repräsentieren die grundlegenden archetypischen Prinzipien oder Kräfte, und ihre Winkelstellungen, die Aspekte, spiegeln die Interaktion zwi­ schen diesen Archetypen wider. In der Astrologie gibt es zehn Planeten, wobei auch Sonne und Mond dazugehören. Diese Bezeichnung stimmt mit der ursprüng­ lichen Bedeutung des griechischen Wortes planetes überein, was soviel wie «der Wanderer» bedeutet und auf den Umstand Bezug nimmt, dass sich diese Him­ melskörper auf einer autonomen Bahn bewegen, die nicht der Bewegung des Fix­ sternhimmels entspricht. Wie die astrologischen Zeichen sind auch die einzelnen Planeten mit einer bestimmten archetypischen Energie verbunden. Die vier Punkte, an denen die Koordinaten den Kreis schneiden, sind speziell von Bedeutung und werden Aszendent (AC), Deszendent (DC), Himmelsmitte oder Medium Coeli (MC) sowie Nadir oder Immum Coeli (IC) genannt. Ein Pla­ net, der zur Zeit der Geburt am Horizont aufsteigt, ist im entsprechenden Horo­ skop in der Nähe des Aszendenten zu finden; ein Planet, der zu diesem Zeitpunkt direkt über uns am Himmel steht, in der Nähe des MC. Ist er im Begriff, am West­ horizont zu verschwinden, figuriert er am DC. Entsprechend würde sich ein Pla­ net, der sich in der Nähe des IC aufhält, unter uns - an den Antipoden - befinden. Wenn im Geburtshoroskop eines Individuums ein Planet sich innerhalb eines en­ gen Orbis an einer dieser Achsen befindet, dann beeinflusst der entsprechende Ar­ chetyp das Leben dieser Person besonders stark. Ich möchte kurz auf die Charak­ teristiken und die spezifische Energie der Archetypen eingehen, die mit den ein­ zelnen Planeten korrelieren.

334

Die Sonne repräsentiert das zentrale Prinzip der vitalen Energie und der per­ sönlichen Energie; ist unser Wesenskern, das bewusste Selbst. Sie entspricht zu­ dem unserem persönlichen Willen und der Art und Weise, wie wir uns als selb­ ständige Individuen ausdrücken. Die archetypische Energie der Sonne ist männ­ lich - oder Yang - und spiegelt gewöhnlich bedeutende männliche Figuren unseres Lebens wider. Die Archetypen von Planeten, die mit der Sonne einen wichtigen Aspekt bilden, werden im Leben der Person eine wichtige Rolle spielen und prä­ gend für ihren Charakter sein. Im Gegensatz dazu steht der Mond für diejenigen Persönlichkeitsanteile, die dem bewussten Ego und dem psychosomatischen Selbst verborgen sind und von den emotional und instinktiv reaktiven Aspekten unserer Persönlichkeit ausge­ hen. Der Archetyp ist mit dem weiblichen Prinzip, oder Yin, assoziiert, mit der frühen Mutter-Kind-Beziehung und der Kindheit, mit weiblichen Personen, die in unserem Leben eine Schlüsselrolle spielten, mit unserem Heim und dem Erbgut. Planeten, die wichtige Aspekte zum Mond bilden, werden im Leben des Individu­ ums eine wichtige Rolle einnehmen und sich in den Lebensbereichen manifestie­ ren, die vom Mond beherrscht werden. Der Merkur-Archetyp repräsentiert den Intellekt, die Vernunft oder den Lo­ gos. In seine Domäne fallen die mentalen Aktivitäten, die Wahrnehmungs- und die Lernfähigkeit, das Artikulieren und Konzeptualisieren von Ideen und die all­ gemeine Anwendung der Sprache. Er wird ebenfalls assoziiert mit der Art und dem Talent, wie wir uns bewegen, mit anderen Personen Kontakt aufnehmen und aufrechterhalten und wie wir unsere Ideen vermitteln. Die wichtigen Aspekte, die Merkur zu den anderen Planeten bildet, zeigen, wie wir Informationen empfangen und übermitteln, auf welche Weise unser Intel­ lekt arbeitet und worauf in unserer Erziehung speziell Wert gelegt wurde. Die my­ thologische Entsprechung dieses Archetyps ist der griechische Gott Hermes oder der römische Merkur, der Botschafter der Götter. Venus ist das Prinzip der Liebe und des Eros. Sie drückt den Yin-Aspekt von Sinnlichkeit und Sexualität aus, die sich in der Sehnsucht nach Romantik, Liebes­ beziehungen, gesellschaftlichen Kontakten, der Anziehung und des Angezogenwerdens äusserl. Venus regiert auch das ästhetische Empfinden, den künstleri­ schen Ausdruck und das Streben nach Harmonie. Aspekte zur Venus informieren uns darüber, wie wir Zuneigung und Liebe geben und empfangen, wie wir uns in Gesellschaft und speziell in romantischen Situationen verhalten und welcher Art unsere künstlerischen Interessen, Talente, Impulse und Ausdrucksmöglichkeiten sind. Der Archetyp findet seinen mythologischen Ausdruck in der griechischen Aphrodite oder der römischen Venus, der Göttin der Schönheit und der Liebe. Mars entspricht dem Prinzip der dynamischen Energie, der initiierenden und treibenden Kraft. Die Entsprechungen auf der materiellen Ebene sind Naturge­ walten, die enormen Auswirkungen der Technologie, Kriege und andere Ereignis­ se, die Gewalt involvieren, Vitalität, athletische Meisterschaft sowie der YangAspekt der Sexualität. Auf der psychischen Ebene steht er für unsere Ambitionen,

335

unsere Selbstbehauptung, Konkurrenzdenken, Mut, Wut und Gewalt. Bei wichti­ gen Aspekten oder Transiten mit Mars finden wir oft aggressive Verhaltensweisen vor, die auf Selbstbehauptung ausgerichtet sind und zu Konflikten und Konfronta­ tionen führen; es besteht eine Anfälligkeit zu impulsivem Verhalten und für Ver­ letzungen. In der Mythologie ist Mars, der römische Ares, der Gott des Krieges. Jupiter wird mit Wachstum, Expansion, Erfolg, Glück und Freude gleichgesetzt, mit Optimismus, Überfluss, dem Streben nach Höherem oder Besserem und mit Grosszügigkeit und Edelmut. Er steht zudem für einen offenen Geist, weit rei­ chende Perspektiven, hohe moralische Werte und philosophische Ideale, für intel­ lektuellen Reichtum und kulturelle Werte. Aufgrund all dieser Eigenschaften wird Jupiter oft als der grosse Wohltäter bezeichnet - allerdings hat auch er seine Schat­ tenseiten: Selbstverwöhnung, Ego-Inflation, Exzentrik, Extravaganzen und Exzes­ se aller Art gehören in seine Domäne. Jupiter (der griechische Zeus) ist der höch­ ste Gott des römischen Pantheons und der König der olympischen Götter. Das Saturn-Prinzip ist dem jupiterischen in vielerlei Hinsicht polar entgegen­ gesetzt. Bekannt als der grosse Übeltäter, bedeuten seine negativen Seiten Ein­ schränkung, Entbehrungen, Defizite, Hungersnöte, Unterdrückung, Minderwer­ tigkeit, Schuld und Depression. Mythologisch gesehen wird der altrömische Gott dem griechischen Chronos gleichgesetzt; er steht für Impermanenz, Altern, Tod, das Ende von Dingen; er ist der Herrscher über die Zeit und der Sensemann. Trotz allem hat der saturnische Archetyp auch eine wichtige positive Funktion - als das Prinzip, das uns beim Verankern und Integrieren unserer Alltagserfah­ rungen hilft: Zu seiner Domäne gehört das Strukturieren, die materielle Realität der Dinge, die Ordnung und die lineare Abfolge von Ereignissen. Auf den Ge­ burtsprozess (das Tod-und-Wiedergeburts-Erlebnis) bezogen, entspricht Saturn dem Stadium, in dem das Kind von den Gebärmutterkontraktionen periodisch zu­ sammengepresst wird, der Muttermund aber noch nicht erweitert ist und kein Aus­ weg zu bestehen scheint. Im persönlichen Leben steht Saturn für Zuverlässigkeit, Verantwortlichkeit und Treue. Hier werden wir mit den Konsequenzen aus den Taten unseres gegen­ wärtigen und unserer früheren Leben konfrontiert; er verkörpert das Über-Ich, das moralische Gesetz, unser Gewissen, das Gesetz. Aspekte zum Saturn zeigen an, in welchen Lebensbereichen wir wichtigen Herausforderungen gegenüberste­ hen werden und an welchen wir arbeiten müssen, um wachsen zu können. SaturnTransite fallen mit Zeiten zusammen, die für unsere Entwicklung von Bedeutung sind oder mit «harter Arbeit» verbunden sind. Schicksalsprüfungen und Zeiten der Drangsal sind weitere Auslösungsmöglichkeiten. Im Positiven können Strukturen von bleibendem Wert entstehen und wichtige Sachen vollendet werden. Im Gegensatz zu Mars, Jupiter oder Saturn entspricht der Archetyp, der mit dem Planeten Uranus assoziiert wird, nur geringfügig dem griechischen Gott Ura­ nus (der Himmel), der seine Kinder hasste und auf Gaias Wunsch hin von seinem Sohn Chronos kastriert wurde. Wie Richard Tarnas (1995) überzeugend dargelegt hat, können die Eigenschaften dieses planetaren Archetyps am besten anhand der

336

mythologischen Gestalt des Prometheus illustriert werden: Prometheus, der dem Geschlecht der Titanen angehörte, stahl das Feuer aus dem himmlischen Olymp, um der Menschheit zu mehr Freiheit zu verhelfen. Uranus ist dem Prinzip der unerwarteten Überraschung, der Rebellion gegen das Status quo, rebellischer Aktionen, der Befreiung, des spirituellen Erwachens oder des emotionalen wie intellektuellen Durchbruchs. ln seinen Einflussbereich gehören auch das plötzliche Kollabieren etablierter Strukturen, Individualisierung und Originalität, revolutionäre Einsichten, das kreative Genie, die Erfindung und die Technologie. Bezogen auf den Geburtsprozess ist Uranus der letzten Phase der Entbindung zuzurechnen, in der die unerträgliche Spannung und der enorme Druck ihren Höhepunkt erreichen und die in eine explosive Befreiung münden. Zu den Schattenseiten des Uranus/Prometheus-Archetyps gehören anarchi­ sches Verhalten, unfruchtbare Exzentrik und wahlloses Rebellieren gegen Limi­ tierungen und Gesetze jeglicher Art. Bei Personen, denen es an psychologischer oder spiritueller Einsicht mangelt, kann es zu plötzlichen, unerwünschten Ände­ rungen im Leben kommen, bei welchen sie die Rolle des passiven und hilflosen Opfers spielen und weniger die enthusiastisch Agierenden sind. Bildet Uranus ei­ nen Aspekt zu einem anderen Planeten, so bewirkt er eine Befreiung von dessen archetypischer Energie, die dadurch zu einem volleren Ausdruck gelangt. Dies ge­ schieht oft auf eine unerwartete, ungewöhnliche, überraschende und aufregende Art und Weise. Der Neptun-Archetyp hat mit der Auflösung von Grenzen zu tun - den Gren­ zen zwischen uns und den anderen, zwischen uns und der Natur oder dem Univer­ sum, zwischen dieser materiellen Welt und anderen Realitäten, zwischen dem Selbst und Gott. Es ist der Archetyp der Unio mystica, des kosmischen Bewusst­ seins, der imaginären und spirituellen Reiche. Allerdings bedeutet das Auflösen von Grenzen nicht notwendigerweise Transzendenz. Auf der neptunischen Schat­ tenseite finden wir den Realitätsverlust, die Flucht in die Fantasiewelt, Selbsttäu­ schung, Illusion und Enttäuschung, die verzerrte Realitätswahrnehmung des Psy­ chotiker und den verwirrten Geisteszustand eines Alkohol- oder Drogenabhän­ gigen. Neptun spiegelt sich in der transzendenten Glückseligkeit des Mystikers wi­ der - aber auch im göttlichen Spiel Maya, welches uns in der samsarischen Welt ge­ fangen hält. Er kann sich in der absoluten Klarheit einer mystischen Erfahrung manifestieren - aber auch im konfusen Geisteszustand der Psychose. Dem Nep­ tun-Prinzip entspringt die Selbstlosigkeit eines Heiligen oder Yogi, es kann aber auch zu Individualitätsverlust, Desorientierung und Hilflosigkeit führen. Neptun ist der Archetyp der idealistischen Träume und Aspirationen, des phy­ sischen und psychischen Heilens, der spirituellen Sehnsucht, der erhöhten Intui­ tion, übersinnlichen Wahrnehmung und kreativen Imagination. Bildet Neptun ei­ nen wichtigen Aspekt zu einem anderen Planeten, wird dessen archetypische Energie geschwächt, idealisiert oder spiritualisiert. Wie es Neptun in der römi­ schen (Poseidon in der griechischen) Mythologie als Gott des Meeres nahe legt, ist

337

dieser Archetyp eng mit dem Wasser verbunden, sei dies nun die amniotische Um­ gebung im Mutterleib, seien es Körpersäfte oder Flüsse, Seen und Ozeane. Pluto verkörpert den Archetyp der uranfänglichen Energie, das dynamische Prinzip, welches der kosmischen Schöpfung zugrunde liegt; die universale Lebensenergie und treibende Kraft hinter der Evolution der Natur und der menschlichen Gesellschaft (Kundalini Shakti) - aber auch den zerstörerischen Aspekt derselben Energie, wie wir ihn in der Gestalt der verschlingenden Muttergöttin symbolisiert finden. Pluto herrscht über die fundamentalen biologischen Prozesse Geburt, Sex und Tod, den transformierenden psychospirituellen Tod-und-Wiedergeburts-Prozess und die lnstinktkräfte von Körper und Psyche (Freuds Es). Pluto verkörpert die chthonischen Elemente - die Unterwelt sei dies nun im wörtlichen (der Un­ tergrund, die Infrastruktur der Metropolis), im metaphorischen (Rotlichtquartiere, organisiertes Verbrechen), im psychologischen (das Unbewusste) oder ar­ chetypisch/mythologischen Sinne. ln der biologischen Geburt und ihrem psychospirituellen Gegenstück, dem Tod-und-Wiedergeburts-Erlebnis, entspricht das plutonische Prinzip dem Stadi­ um, in welchem das Baby gewaltsam aus dem mütterlichen Körper ausgestossen wird und im Geburtskanal um sein Überleben kämpft. Zu diesem Zeitpunkt wer­ den enorme physische und instinktive (libidinöse und aggressive) Energien entfes­ selt. ln der Mythologie ist der altrömische Pluto (der altgriechische Hades) der Gott der Unterwelt. Bildet Pluto einen wichtigen Aspekt zu einem anderen Plane­ ten, intensiviert und verstärkt er dessen Energie gewaltig. Er kann das Leben der betreffenden Person so stark beeinflussen, dass er zu einer kompulsiven Kraft wird. Dies kann zu Machtkämpfen und Konflikten führen, aber auch zu einer voll­ ständigen Transformation der Persönlichkeit. Nebst den zehn Planeten sind für Astrologen auch die Aspekte wichtig, also die Winkelbeziehungen zwischen den Planeten, sowie die Transite, das heisst die Winkelbeziehungen, welche die laufenden Planeten zu den Planeten zur Zeit der Ge­ burt bilden. Je nach Winkel, der von zwei planetaren Prinzipien geformt wird, wird ein Radix-Aspekt oder ein Transit als eher harmonische oder eher herausfordern­ de Interaktion gedeutet. Das Geburtshoroskop spiegelt die archetypische Gesamtkonfiguration, die unsere Persönlichkeit und unser Leben bestimmt. Es zeigt, in welchen Bereichen (die Planeten und Häuser) wir Spannungen und Reibungen erwarten können oder aber die Energien harmonisch funktionieren. Das Geburtshoroskop bleibt natür­ lich während unseres ganzen Lebens dasselbe und gibt uns direkt keine Auskunft über die Veränderungen, die wir in den verschiedenen Lebensabschnitten erfah­ ren. Wie wir alle wissen, gibt es, was die Qualität unseres Erlebens betrifft, von Jahr zu Jahr, Monat zu Monat, sogar von Tag zu Tag gewaltige Unterschiede. Die Astrologie vertritt die Ansicht, dass die Wandlungen in den archetypischen Fel­ dern, die im Verlauf unseres Leben Einfluss nehmen, mit den Bewegungen der Planeten korrelieren und darum vorhersagbar sind. Diese Korrelationen sind The­ ma eines Zweigs der Astrologie, der Transit-Astrologie genannt wird.

338

Transit-Astrologie basiert auf dem Ansatz, dass die Potenziale, die im Ge­ burtshoroskop eingebettet sind, durch planetare Transite aktiviert werden und so zu ihrer Entfaltung kommen: Dabei werden die Stellungen der laufenden Planeten (zu irgendeiner Zeit) zu den Stellungen, die sie zur Zeit der Geburt einnahmen, in Beziehung gesetzt. Die Komplexität und Dynamik der resultierenden Beziehun­ gen ist bemerkenswert und kann als klar definiertes Bezugssystem genutzt werden. Anders als viele konventionelle Methoden - wie zum Beispiel die traditionellen psychologischen Tests - kommt dies sicherlich der merkurischen Natur unserer Alltagserfahrung entgegen und auch der reichen Vielfalt und den vielen Varianten holotroper Bewusstseinserfahrungen. Die Dauer der Transite ist von den Orben und der Laufgeschwindigkeit der beteiligten Planeten abhängig. Voraussagen, welche archetypische Einflüsse im menschlichen Leben betreffen, können darum für Stunden (Mond), Tage (Sonne, Merkur, Venus, Mars) oder für Monate oder gar Jahre (äussere Planeten) erstellt werden. Es sind die Transite der äusseren Planeten (Saturn, Uranus, Neptun und Pluto), die für unser Leben die grösste Bedeutung haben - sie prägen unser Leben wesentlich und beeinflussen insbesondere die Dynamik unserer spirituellen Ent­ wicklung und die Erweiterung unseres Bewusstseins. Die Qualität der Interaktion zwischen zwei oder mehr planetaren Archetypen ergibt sich aus ihrer Winkelbeziehung (Längengrade am Himmel, entlang der Ekliptik). Generell gilt: Je genauer die (für die Astrologie relevanten) Winkel, um­ so prononcierter die gegenseitige Beeinflussung. Der Charakter dieser Beziehun­ gen basiert auf den Prinzipien, die Pythagoras in seiner Zahlen- und Musiktheorie formulierte. Die wichtigsten Aspekte ergeben sich, wenn der Kreis von 360° durch die ganzen Zahlen 1,2, 3,4 bzw. 6 geteilt wird. Die Qualität der Aspekte steht mit der pythagoräischen Zahlendeutung ebenfalls in Einklang. Die Konjunktion (annähernd 0°) ist durch ein kraftvolles Zusammenfliessen der beiden planetaren Archetypen charakterisiert; sowohl die positiven wie auch die negativen Energien sind potenziell wirksam. Die Opposition und das Quadrat (180° bzw. 90°) repräsentieren eine herausfordernde und oftmals konfliktgeladene Interaktion («harte» Aspekte), während Trigone und Sextile (120° bzw. 60°) zu ei­ ner harmonischen und fliessenden Interaktion tendieren («weiche» Aspekte). Andere wichtige Punkte im Horoskop werden von den Halbsummen gebildet. Dieser Begriff kommt zur Anwendung, wenn ein Planet genau zwischen zwei an­ deren steht. In der angewandten Astrologie werden noch viele andere Variablen zu Hilfe genommen, wie die Positionierung der Planeten in den Tierkreiszeichen und in den so genannten Häusern, welche das Horoskop ebenfalls in zwölf Segmente mit diversen Qualitäten teilen. Und zum Erstellen von Prognosen eignen sich auch verschiedene andere Techniken wie Progressionen, Sonnenbogendirektionen, Sonne- und Mond-Rückkehr, Harmonics oder die Astro*Carto*Graphy. Aller­ dings kann allein schon das System, das ich als Erstes kurz erörtert habe, ausseror­ dentlich akkurate und spezifische Vorhersagen zu vielen verschiedenen Aspekten

339

der Existenz ermöglichen. Wie auch die jungschen Archetypen kann es uns einen tieferen Einblick in das Wesen des Individuums gewähren lassen - in ihre Persön­ lichkeit, ihre Verhaltensmuster und das sich entfaltende Potenzial. Wir gewinnen ausserdem auch neue Einsichten in das Wesen von kulturellen Bewegungen und geschichtlichen Entwicklungen, die eine Vielzahl an Menschen tangieren. Es ist wichtig, dass wir begreifen, dass Astrologie nur für archetypische Vor­ aussagen angewendet werden kann - und nicht zur Prognose von ganz spezifi­ schen, konkreten Ereignissen. Sie kann darüber Aufschluss geben, welche ar­ chetypischen Energien oder universellen Prinzipien zu einem bestimmten Zeit­ punkt wirksam sind, welcher Art ihre Interaktion ist und wie sich diese Qualität in Verbindung mit dem Geburtshoroskop eines Individuums schliesslich manifestie­ ren könnte. Wie erstaunlich diese Voraussagen auch sein mögen, ihr genereller Aktionsradius lässt immer Raum genug für die kosmische Kreativität, damit diese ihr archetypisches Potenzial in Form von immer neuen, ganz spezifischen, konkre­ ten Ereignissen und Verhaltensweisen ausdrücken kann. Selbst der beste Astrolo­ ge wird kaum im Stande sein, mit Bestimmtheit dem Horoskop zu entnehmen, dass wir an einem bestimmten Tag eine neue Stelle bekommen, an der Börse Geld verlieren, unserem Seelenpartner begegnen, einen Lotteriegewinn einstreichen oder verhaftet werden. Wenn wir Astrologie mit der Arbeit in holotropen Bewusstseinszuständen ver­ binden. erkennen wir, wie die Komplexität der Interpretationen mit der Anzahl der gleichzeitig stattfindenden planetaren Transite und der Anzahl der involvier­ ten Planeten zunimmt. Oft sind zwei oder mehr Transite simultan am Wirken, und ihre Energien können miteinander in Konflikt geraten. Für eine umfassende In­ terpretation braucht es einen erfahrenen Astrologen, der die Situation gründlich in Augenschein nimmt, sich das Geburtshoroskop und die Transite anschaut und das Ganze als ein vereintes Feld und eine integrale Gestalt versteht und auch deutet. Nach dieser allgemeinen Einführung möchte ich die bemerkenswerten Korre­ lationen zwischen dem thematischen Inhalt einer holotropen Erfahrung und den planetaren Transiten anhand von zwei gekürzten Fallgeschichten veranschauli­ chen. Das erste Beispiel handelt von einer ungewöhnlich eindringlichen Episode aus einer LSD-Sitzung, das zweite von einer spontan aufgetretenen psychospiri­ tuellen Krise («spiritual emergency»).

Flora Als ich noch am Maryland Psychiatric Research Center arbeitete, wurde ich zu einer Mitarbeiterkonferenz am Spring Grove State Hospital eingeladen. Einer der Psychiater stellte uns den Fall Flora vor - eine 28-jährige, allein stehende Frau, die schon mehr als acht Monate in einer geschlossenen Abteilung ver­ bracht hatte. Man hatte alle verfügbaren therapeutischen Massnahmen, wie die Behandlung mit Sedativa und Antidepressiva, Psychotherapie und Be­ schäftigungstherapie, ausprobiert - ohne jeden Erfolg. Nun stand ihr die Über­ weisung in eine Abteilung für chronische Fälle bevor.

340

Die Kombination von Symptomen und Beschwerden, die Flora aufwies, war die schwierigste, die ich während meiner ganzen psychiatrischen Laufbahn je zu Gesicht bekommen hatte: Als Sechzehnjährige war sie Mitglied einer Räuber-Gang gewesen, die einen bewaffneten Raubüberfall verübte und da­ bei einen Nachtwärter umbrachte. Da sie dabei das Fluchtfahrzeug fuhr, wur­ de sie zu einer mehrjährigen Gefängnisstrafe verurteilt. Vier Jahre davon musste sie absitzen. der Rest wurde ihr auf Bewährung erlassen. Während der folgenden, stürmisch verlaufenden Jahre entwickelte sie eine multiple Dro­ gensucht. Sie war alkohol- und heroinabhängig und nahm oft hohe Dosen von Psychostimulanzien und Barbituraten ein. Sie litt unter schweren Depressio­ nen und tendierte zu gewalttätigen Selbstmordfantasien. So verspürte sie oft­ mals den Impuls, sich mit dem Auto über eine Klippe zu stürzen oder in ein entgegenkommendes Fahrzeug zu fahren. Sie litt ebenfalls an hysterischem Erbrechen, das sich vor allem während emotional aufwühlender Situationen einstellte. Das quälendste Symptom war wohl ein schmerzhafter Muskelkrampf im Gesicht, ein «tic douloureux». Ein Neurochirurg der Johns-Hopkins-Klinik hatte aus diesem Grund schon eine Gehirnoperation empfohlen, bei der die involvierten Nerven durchtrennt wer­ den sollten. Flora war zudem lesbisch und hatte diesbezüglich schwere Proble­ me und Schuldgefühle. Bis zu dem Zeitpunkt hatte sie nie heterosexuellen Ge­ schlechtsverkehr gehabt. Kompliziert wurde die Situation ausserdem durch die Tatsache, dass Flora ihre Freundin und Mitbewohnerin schwer verwundet hatte, als sie unter Heroineinfluss ihre Waffe zu reinigen versuchte. Am Ende der Spring-Grove-Mitarbeiterkonferenz gelangte der betreffen­ de Psychiater zu Dr. Charles Savage und mir mit der Frage, ob wir Flora für ei­ ne LSD-Psychotherapie in Betracht ziehen würden. Dies stellte uns vor eine äusserst schwierige Entscheidung, besonders in Anbetracht der damaligen lan­ desweiten Hysterie wegen LSD. Und Flora hatte eine kriminelle Vergangen­ heit, hatte Zugang zu Waffen und zeigte massive Selbstmordtendenzen. Uns war klar: Würde irgendein Unglück geschehen, würde alles automatisch auf die Droge und die Behandlung geschoben werden, ohne Berücksichtigung der speziellen Umstände. Andererseits waren alle anderen Versuche erfolglos ver­ laufen, und ohne unser Eingreifen würde Flora den Rest ihres Lebens in der Klinik verbringen. Nach einiger Bedenkzeit entschieden wir uns für die sich bietende Chance und nahmen sie ins LSD-Programm auf. Wir fanden, dass ih­ re desperate Situation das Risiko rechtfertigte. Floras erste beiden, hoch dosierten LSD-Sitzungen unterschieden sich nicht sonderlich von vielen anderen, die ich zuvor durchgeführt hatte. Sie wur­ de mit verschiedenen Situationen aus ihrer stürmischen Kindheit konfrontiert und erlebte wiederholt Sequenzen aus ihrem Kampf im Geburtskanal. Sie ver­ mochte ihre gewalttätigen Selbstmordfantasien und ihren schmerzhaften Ge­ sichtskrampf mit bestimmten Aspekten ihres Geburtstraumas in Verbindung zu bringen und konnte eine Unmenge intensiver Emotionen und körperlicher Spannungen loswerden. Trotzdem waren die Erfolge in therapeutischer Hin­ sicht nur minimal. Auch während der ersten zwei Stunden ihrer dritten LSDSitzung geschah nichts Aussergewöhnliches, die Erfahrungen glichen denen

341

ihrer vorhergehenden Sitzungen. Doch dann begann sie plötzlich zu klagen, die schmerzhaften Gesichtskrämpfe würden unerträglich. Vor unseren Augen begannen diese Gesichtsspasmen mehr und mehr groteske Formen anzunehmen, bis ihr Ausdruck zu etwas gefror, das man am besten mit einer Maske des Bösen vergleichen konnte. Sie fing an, mit einer tiefen, männlichen Stimme zu sprechen, und ihr ganzes Wesen veränderte sich dermassen, dass ich kaum mehr eine Verbin­ dung hersteilen konnte zwischen ihrer jetzigen Erscheinung und der vorheri­ gen Person. Der Ausdruck in ihren Augen war von einer unbeschreiblichen Bosheit, und ihre Hände waren zu Krallen verkrampft. Die fremde Energie, die Floras Körper und Stimme in Besitz genommen hatte, nahm eine personi­ fizierte Gestalt an und stellte sich als der Teufel vor. «Er» wandte sich direkt an mich und befahl mir, von Flora abzulassen und alle Versuche, ihr zu helfen, aufzugeben. Sie würde ihm gehören und er würde jeden bestrafen, der es wag­ te, sein Gebiet zu betreten. Was dann folgte, war reine Erpressung: Er schil­ derte mir, was mit mir, meinen Kolleginnen und Kollegen sowie dem For­ schungsprogramm passieren würde, falls ich nicht gehorchte. Die unheimliche Atmosphäre, die dabei entstand, lässt sich nur schwer in Worte fassen. Die Präsenz von etwas Fremdem schien beinahe greifbar. Die Macht, die sich in dieser Erpressung ausdrückte, wirkte noch bedrohlicher angesichts des Um­ stands, dass die Patientin selbst ja unmöglich Zugang zu gewissen Informatio­ nen, die diese Stimme jetzt mir gegenüber erwähnte, haben konnte. Zwar war ich in früheren LSD-Sitzungen mit ähnlichen Erscheinungen konfrontiert worden, doch hatten sie nie diesen so realistischen und überzeu­ genden Charakter gehabt. Ich merkte, wie ich unter einen enormen emotiona­ len Stress geriet, der metaphysische Dimensionen anzunehmen begann. Es fiel mir schwer, meine Angst unter Kontrolle zu halten und davon abzulassen, in einen aktiven Kampf mit dieser Wesenheit einzutreten. Meine Gedanken jag­ ten sich, als ich herauszufinden versuchte, welches wohl die beste Strategie in dieser Situation war. Ich ertappte mich dabei, wie ich einmal ernsthaft in Er­ wägung zog, dass man im Behandlungszimmer ein Kruzifix als therapeutisches Instrument zur Verfügung stellen sollte. Ich rechtfertigte diese Idee damit, dass es sich hierbei ja offensichtlich um die Manifestation eines Archetyps im jungschen Sinne handelte, gegen den man sich am besten mit dem archetypi­ schen Symbol des Kreuzes zur Wehr setzen konnte. Bald begann ich aber zu realisieren, dass meine Emotionen, egal, ob es sich dabei um Angst oder Aggression handelte, die Situation und das fremde Wesen nur noch reeller werden Hessen. Ich musste an eine Folge aus der Science-Fiction-Serie «StarTrek» denken, in der es um eine fremde Entität ging, die sich von menschlichen Emotionen ernährte. Mir wurde klar, dass ich ruhig und zentriert bleiben musste, und gab mir Mühe, in einen meditativen Zustand zu gelangen. Dabei hielt ich Floras verkrampfte Hand und versuchte, sie mir so vorzustellen, wie ich sie bis anhin gekannt hatte. Gleichzeitig visualisierte ich im Geiste eine Lichtkapsel, die uns beide umhüllte; dies schien mir intuitiv das Beste zu sein. Diese Situation hielt, nach objektiver Zeitrechnung, vielleicht etwas mehr als zwei Stunden an. Subjektiv gesehen allerdings waren dies die

342

längsten zwei Stunden, die ich jemals, ausserhalb meiner eigenen psychedeli­ schen Sitzungen, erlebt hatte. Nach Ablauf dieser Zeit begannen sich Floras Hände zu entspannen, und ihr Gesicht nahm wieder die gewohnten Züge an. Diese Wandlung vollzog sich ebenso abrupt wie diejenige zu Beginn der Sitzung. Ich sah bald, dass sie sich an nichts, was in den letzten beiden Stunden vorgefallen war, erinnern konnte. Im Sitzungsprotokoll, das sie anschliessend verfasste, beschrieb sie zunächst die ersten beiden Stunden der Sitzung, um dann unmittelbar zu der Phase überzugehen, die auf den «Besessenheitszustand» folgte. Ich fragte mich, ob ich mit ihr über die Geschehnisse zur Zeit ihrer Amnesie reden sollte, ent­ schied mich dann aber dagegen. Es schien mir keinen Grund zu geben, der es rechtfertigen würde, ihr Bewusstsein mit einem solch makaberen Thema zu­ sätzlich zu belasten. Zu meiner grossen Überraschung hatte die Sitzung einen gewaltigen the­ rapeutischen Durchbruch zur Folge. Flora verlor ihre Selbstmordneigungen und fand zu einer neuen Wertschätzung des Lebens. Sie gab Alkohol, Heroin und Barbiturate auf und begann voller Enthusiasmus an den Treffen einer kleinen religiösen Gemeinschaft in Catonsville, Maryland, teilzunehmen. Sie hatte kaum noch Gesichtskrämpfe; die zugrunde liegende Energie schien sich in der «Maske des Bösen», die sie während zwei Stunden aufrechterhalten hat­ te, erschöpft zu haben. Zwar kamen die Schmerzen ab und zu wieder, aber sie waren von geringer Intensität und bedurften keiner medikamentösen Behand­ lung. Flora begann auch mit heterosexuellen Beziehungen zu experimentieren und heiratete schliesslich. Diese sexuelle Anpassung war allerdings nicht prob­ lemlos. Zwar konnte sie sich dem Geschlechtsverkehr hingeben, empfand ihn aber als schmerzhaft und wenig erfreulich. Die Ehe endete drei Monate später, und Flora nahm wieder ihre lesbischen Beziehungen auf, diesmal aber mit weit weniger Schuldgefühlen. Ihr Zustand verbesserte sich so, dass sie eine Anstel­ lung als Taxifahrerin erhielt. Zwar hatten auch die folgenden Jahre ihre Höhen und Tiefen, doch musste sie nie mehr zurück in die Klinik, die beinahe ihr permanentes Zuhause geworden wäre. Selbst bei einer oberflächlichen Betrachtung von Floras Radix-Horoskop (siehe Abb. S. 344, die genaue Geburtszeit fehlt) und den Transiten zur Zeit ihrer Sitzung zeigt sich eine bemerkenswerte Korrespondenz zwischen dem Inhalt ihrer Erfah­ rung und den Konstellationen. Das Auffälligste an ihrem Geburtshoroskop ist ein Stellium von 11°, an dem vier Planeten (Neptun, Merkur, Sonne und Mars) betei­ ligt sind. Neptun ist dabei 6 1 / 2 ° von der Sonne entfernt. Während die Sonne das Prinzip von persönlicher Identität und Individualität verkörpert, tendiert Neptun dazu, die Ich-Funktionen zu schwächen und die psy­ chologischen Grenzen aufzulösen. Diese werden durchlässig, und Elemente aus dem transpersonalen Bereich und dem kollektiven Unbewussten können in die Psyche einfliessen. Da der laufende Neptun zu jener Zeit ein exaktes Sextil zu Floras Radix-Neptun bildete, wurde diese latent vorhandene Veranlagung zusätz-

343

Flora Innen: Radix; aussen: LSD-Sitzung

lich aktiviert. Sonne/Neptun-Aspekte finden sich oft in den Horoskopen von Mys­ tikern und spirituellen Lehrern (Meher Baba, C. G. Jung u. a.); die problematische Seite dieses Aspekts zeigt sich in einem schwachen Ego und einer potenziellen An­ fälligkeit für das Eindringen fremder Entitäten. - Zum Stellium von Floras Ge­ burtshoroskop gehören ausserdem Mars, der dem Ganzen eine aggressive Note verleiht, und Merkur, der das kommunikative Element einbringt. Floras Sitzung fand in den späten Sechzigern statt. Zu dieser Zeit bildeten Plu­ to, Uranus und Jupiter eine dreifache Konjunktion (diese Konstellation ergab sich in diesem Jahrhundert nur ein einziges Mal). Die dreifache Konjunktion stand wiederum in Konjunktion mit ihrem natalen Stellium, wobei der laufende Pluto ei­ nen engen Aspekt zu Neptun und Merkur bildete und Jupiter in exakter Konjunk­ tion zu ihrer Sonne stand. Die Kombination von Jupiter, Uranus und Pluto weist eines der stärksten expansiv-transformierenden Potenziale überhaupt auf und kann zu einer enormen Befreiung führen. Da gleich alle drei eine Konjunktion mit ihrem dominanten Sonne-Stellium bildeten, kann dies als der Transit und die

344

Chance ihres Lebens betrachtet werden, mit einem enormen Potenzial für eine tie­ fe seelische Transformation und Befreiung. Die Konjunktion von Pluto mit Uranus, welche als kollektiver Transit zu den aufregenden kulturellen, sozialen, sexuellen und spirituellen Befreiungsbewegun­ gen der Sechzigerjahre führte und den dionysischen Zeitgeist dieser Periode präg­ te, erlebte Flora gleichzeitig als machtvollen persönlichen Transit. Die Konjunkti­ on von Jupiter mit Uranus und Pluto, die 1968 und 1969 wirksam war, fiel mit der weit verbreiteten erfolgreichen Befreiung der emanzipatorischen Kräfte zusam­ men. Und wenn der transitierende Jupiter eine Konjunktion zur Geburtssonne bil­ det, ergibt sich oft ein Vorfall oder ein Erlebnis, das mit glücklichen Fügungen oder, wertneutraler, mit Expansion zu tun hat. Eine Neptun/Uranus-Opposition kann eine unerwartete spirituelle Ent­ deckung bedeuten. Diese Konstellation war beispielsweise wirksam, als Jesus sei­ ne Botschaft verkündete und das Christentum seinen Anfang nahm; dies ist inso­ fern interessant, als Floras Erlebnis in eine religiöse Bekehrung mündete und sie zur Catonsville Christian Community führte. Der laufende Pluto bildete zudem eine Konjunktion mit Floras Neptun, was an und für sich schon eine kraftvolle Kombination darstellt. Üblicherweise wird sie von intensiv als, bedeutenden mystischen Erfahrungen und spirituellen Krisen, die in eine pro­ funde psychospirituelle Transformation münden, begleitet. Pluto verstärkt die Wirkung eines jeden planetaren Archetyps, zu dem er in einem bedeutenden Win­ kel steht, mit einer potenziell destruktiven und schliesslich transformierenden Energie. Im Falle Floras werden sowohl das befreiende Uranus- wie auch das Neptun-Prinzip intensiviert; wenn Letzteres aktiviert wird, fliessen vermehrt transper­ sonale Energien ins Bewusstsein, da die gefestigten Persönlichkeitsstrukturen durchlässig werden. Die Befreiung des Dämonischen und durch das Dämonische wie auch die auf­ regende Befreiung des Selbst können dem Einfluss des Uranus-Archetyps - in Kombination mit Jupiter - zugeschrieben werden. Das Interesse an satanistischen Aktivitäten war eine der Schattenseiten der Sechzigerjahre. Bekanntes Beispiel ist Charles Manson, dessen Gruppe Sharon Tate und andere ermordete. Dass der dä­ monische Aspekt Plutos (eng mit der dritten Matrix verknüpft) bei Flora zu einer so vollständigen Manifestation fand, könnte auf die hochgradige Schwächung des individuellen Selbst zurückzuführen sein, in Kombination mit dem traumatischen Charakter ihrer Biografie. Was die Fähigkeit der dämonischen Entität angeht, Informationen, die Flora selbst nicht besass, zu Erpressungszwecken einzusetzen, ist der Umstand von In­ teresse, dass Neptun/Merkur-Konjunktionen oft in den Horoskopen von Individu­ en Vorkommen, die über ungewöhnliche übersinnliche Fähigkeiten verfügen, mit­ tels ihrer Hellsichtigkeit Zugang zu bestimmten Informationen gewinnen und die­ se auch Channeln können. Rudolf Steiner und die US-amerikanische Hellseherin hatten beide diese Konstellation. Dass ein Aspekt des laufenden Pluto zu einer

345

Merkur/Neptun-Konjunktion gewöhnlich mit einem intensivierten Selbstaus­ druck, mit verbaler Aggression, obszönem Sprachgebrauch, Umgang mit Ge­ heiminformationen und mit Erpressungsversuchen assoziiert wird, ist in diesem Zusammenhang ebenfalls bemerkenswert. Zur Zeit der Sitzung war Flora achtundzwanzig Jahre alt, und die Wirkungen der beginnenden Saturn-Rückkehr, die in der Regel zwischen dem neunundzwanzigsten und dem einunddreissigsten Altersjahr stattfindet, begannen sich abzuzeichnen. Die Saturn-Rückkehr markiert das Ende eines ganzen Lebenszyklus; sie ist charakterisiert von einem unbestimmten Gefühl von Kontraktion und Schwere, Ereignissen und Erfahrungen, die für den Reifungsprozess von Bedeutung sind, und zuweilen auch von Begegnungen mit dem Tod. Wenn sich der Transit seinem Ende zuneigt, stellt sich ein Gefühl von «Vollendung» ein, wir fühlen uns erlöst und befreit und gehen in einen neuen Lebenszyklus über. Da die Saturn-Rückkehr in Floras Fall mit den erwähnten, hoch wirksamen Transiten zusammenfiel, ge­ wannen diese an struktureller Tiefe und Dauerwirkung. In ihrem Radix finden wir noch einige weitere Aspekte und Transite, die zur Zeit ihrer Sitzung aktiv waren und die sich sinnvoll auf ihre Lebensgeschichte im Allgemeinen und den Inhalt der Sitzung im Speziellen beziehen lassen. Eine Vcnus/Pluto-Konjunktion wird üblicherweise mit tabuisiertem Sex und damit einher­ gehenden Schamgefühlen assoziiert. Archetypisch entspricht sie der Anziehung des Dunklen, dem Liebhaber aus der Unterwelt und, in ihrer Extremform, dem dä­ monischen Liebhaber. In der Mythologie finden wir dieses Motiv in der Geschich­ te von Persephone wieder, die von Hades in die Unterwelt entführt wird («sie gehört mir»). Dass Flora sich zur kriminellen Unterwelt hingezogen fühlt, hat un­ ter anderem mit ihrer Sonne/Pluto-Konjunktion zu tun. In Floras Radix finden wir zudem ein weiteres Stellium: Uranus, Jupiter und Saturn bilden eine dreifache Konjunktion. Uranus in Kombination mit Jupiter ent­ spricht dem Archetyp des sozialen oder Kulturrebellen. Und wenn Uranus in Kon­ junktion mit Saturn steht, besteht eine Neigung zur agitierten Depression, zu ge­ walttätigen Impulsen mit Verletzungsgefahr (Tendenz, Frontalkollisionen zu ver­ ursachen oder über Klippen zu stürzen) und einer allgemeinen Unfallanfälligkeit (Schuss löst sich aus der Waffe und trifft die Freundin). In ihrem Geburtshoroskop bildet Neptun ausserdem eine Konjunktion mit Mars. Typisch für diese Konstella­ tion sind Drogen- oder Alkoholabhängigkeit und eine Empfänglichkeit für das Eindringen von aggressiven Energien aus dem Unbewussten. Man könnte noch weitere Geburtsaspekte oder Transite erwähnen, die für Floras Fall relevant sind. Doch selbst diese kurze Fassung kann einen guten Eindruck vermitteln, wie diese Korrelationen sich auswirken. Die Betrachtung der folgenden Fallstudie und ihrer astrologischen Entspre­ chungen ermöglicht uns, die Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen den beiden Fällen festzustellen. Hier zeigt sich auch, dass die spezifischen Manifestationen ei­ nes Archetyps nicht auf eine rigide Weise determiniert sind. Die astrologischen Archetypen können sich auf verschiedene Arten ausdrücken, ohne ihrer essenziel­

346

len Natur zu widersprechen. Öffnen wir uns der Idee, dass das Universum gleich­ sam ein kosmisches Spiel des Universalen Geistes ist - das hinduistische Lila dann lässt uns die Vieldeutigkeit der Archetypen genügend Raum, um diese ar­ chetypischen Felder in ihren vielen kreativen Variationen erleben zu können.

Karen Karen war eine bezaubernde junge Frau Ende zwanzig, blond und agil und von einer sanften, verträumten Schönheit. Äusserlich wirkte sie eher schüchtern und still, doch war sie sehr intelligent und körperlich aktiv. Ihre Kindheit war schwierig gewesen - ihre Mutter beging Selbstmord, als sie drei war, und sie wuchs mit einem alkoholabhängigen Vater und dessen zweiter Frau auf. Sie war noch keine zwanzig, als sie das Elternhaus verliess, und litt periodisch an Depressionen und zwanghaften Essanfällen. Sie reiste viel, studierte und entdeckte ihre Liebe zum Jazztanz. Sie wurde eine vorzügliche Tänzerin und gab gelegentlich auch Unterricht. Sie sang ger­ ne und bildete sich auch zur professionellen Masseuse aus. Später zog sie aufs Land, wo sie Peter kennen lernte, einen sanften und liebevollen Mann, mit dem sie wenig später zusammenzog. Sie heirateten zwar nicht, bekamen aber eine Tochter, Erin, der sie beide völlig zugetan sind. Karens Geschichte schildert das dramatische Ende einer kontinuierlichen, sanften spirituellen Entwicklung, die plötzlich in einen heftigen spirituellen Notfall umschlug. Die beschriebenen Situationen liefern lebhafte Beispiele für die Art von Fragen, welche sich denjenigen Personen stellen, die sich ebenfalls in einem transformativen Prozess befinden. Vieles von dem, was hier geschil­ dert wird, konnten wir selbst mitverfolgen. Karens Krise enthielt viele Ele­ mente, die für eine spirituelle Krise typisch sind, und hielt dreieinhalb Wochen an. Während dieser Zeit konnte sie ihr normales Leben nicht weiterführen, da sie selbst rund um die Uhr volle Aufmerksamkeit benötigte. Karen befand sich schon mehrere Tage in der Krise, als uns einige ihrer Freunde, die von unse­ rem Interesse an diesem Gebiet wussten, auf sie aufmerksam machten und uns um Hilfe baten. In den folgenden zweieinhalb Wochen sahen wir Karen dann fast jeden Tag. Wie die meisten spirituellen Krisen begann auch die von Karen plötzlich und unerwartet, und sie wurde von ihren Erfahrungen dermassen in Beschlag genommen, dass sie sich weder um sich selbst noch um ihre dreijährige Toch­ ter, die während dieser Zeit bei ihrem Vater blieb, kümmern konnte. Einige ihrer Freunde beschlossen, sie wenn möglich nicht in ein Krankenhaus zu brin­ gen, sondern eine Art Betreuungsdienst einzurichten, um sie in ihrer Erfah­ rung zu unterstützen. Karen wurde von ihrem Haus fort- und in ein anderes gebracht, in wel­ chem einige ihrer Freunde wohnten. Dort hatte man ein spezielles Zimmer eingerichtet und einen Tag-und-Nacht-Schichtbetrieb organisiert, in dem sich die Betreuer, rund um die Uhr, für jeweils zwei bis drei Stunden eintrugen. Vor dem Zimmer lag ein Notizbuch, in welchem die Helfer ihr Kommen und Gehen und ihre Eindrücke zu Karens Zustand vermerkten und was sie gesagt

347

oder getan, gegessen und getrunken hatte und mit welchen Verhaltensweisen die nächste Betreuer rechnen konnten. Am ersten Tag ihrer Episode bemerkte Karen, wie ihre Sicht plötzlich kla­ rer wurde und nicht mehr so «weich und verschwommen» war wie sonst. Sie hörte Frauenstimmen, die ihr sagten, dass sie nun eine heilsame und wichtige Erfahrung machen würde. Durch ihren Körper begann eine enorme Hitze zu strömen, was mehrere Tage lang anhielt, und sie hatte Visionen von Feuer und roten Feldern. Manchmal hatte sie das Gefühl, sie selbst würde von den Flammen verschlungen. Um den extremen Durst zu löschen, von dem sie meinte, dass er von diesem inneren Brennen herrühre, trank sie Unmengen von Wasser. Es machte den Eindruck, als ob eine enorme Energie sie durch die gesam­ te Episode hindurchtragen würde; diese schien sich in sie zu ergiessen und sie zu vielen Ebenen ihres Unbewussten und den dort lagernden Erinnerungen, Emotionen und anderen Gefühlen und Empfindungen zu führen. Ihr Beneh­ men wurde sehr kindlich, und sie erlebte Szenen aus ihrer Kindheit wieder, wie den Selbstmord ihrer Mutter und die späteren körperlichen Misshandlungen durch ihre Stiefmutter. Einmal verwandelte sich eine Szene, in der sie mit ei­ nem Gürtel geschlagen wurde, in eine gänzlich andere, in der sie eine leidende Afrikanerin war, die auf einem überfüllten Sklavenschiff ausgepeitscht wurde. Sie durchlebte von neuem den emotional und körperlich qualvollen Prozess ihrer eigenen Geburt und wiederholte Male auch die Entbindung ihrer Toch­ ter. Auch wurde sie immer wieder mit dem Tod in seinen vielen Erscheinungs­ formen konfrontiert; ihr intensives Beschäftigtsein mit dem Sterben liess bei den Beteuern die Sorge aufkommen, sie könnte sich das Leben nehmen. Al­ lerdings machte der sichere Ort und die Aufmerksamkeit ihrer Helfer einen solchen Vorfall unwahrscheinlich. Stets war jemand bei ihr, der sie ermutigte, die Erfahrungen innerlich zu leben statt sie auszuagieren. Zeitweilig hatte sie das Gefühl, in Kontakt mit ihrer verstorbenen Mutter und einer Freundin zu stehen, die ein Jahr zuvor bei einem Autounfall ums Le­ ben gekommen war. Sei sagte, wie sehr sie die beiden vermisse und sich danach sehne, zu ihnen zu kommen. Bei anderen Gelegenheiten meinte sie, andere Leute würden sterben oder sie selbst sei am Sterben. Ihre Betreuer erinnerten sie in solchen Momenten daran, dass es möglich ist, den Tod symbolisch zu er­ fahren, ohne dass man dabei tatsächlich stirbt. Sie forderten sie auf, die Augen geschlossen zu halten, und ermutigten sie, diese Sterbesequenzen innerlich voll und ganz zu erfahren und den damit verbundenen schwierigen Emotionen Ausdruck zu verleihen. Karen ging darauf ein und konnte so die intensive Konfrontation mit dem Tod bald hinter sich lassen. Mehrere Tage lang wurde Karen von Sequenzen überrollt, die mit ver­ schiedenen Aspekten des Bösen zu tun hatten. Manchmal hatte sie das Gefühl, sie sei eine alte Hexe und nehme an magischen Opferritualen teil. Andere Ma­ le meinte sie ein fürchterliches Monster in sich zu verspüren. Als das diaboli­ sche Biest seine dämonischen Energien zum Ausdruck brachte, stiess Karen zornige Erklärungen aus und rollte sich, wilde Grimassen schneidend, auf dem Boden herum. Ihre Helfer erkannten, dass diese Ausbrüche nicht gegen sie

348

selbst gerichtet waren, achteten darauf, dass sie sich nicht verletzte, und rede­ ten ihr zu weiterzumachen. Andere Erfahrungen drehten sich um Sexualität. Nachdem sie mehrere traumatische Erfahrungen aus ihrer eigenen Biografie wiedererlebt hatte, be­ gann sie in ihrem Becken eine starke Energiequelle zu spüren. Bis dahin hatte sie Sexualität als einen niedrigen, instinkthaften Impuls betrachtet - und hatte jetzt erstmals eine profunde spirituelle Erfahrung, die sie zur selben Einsicht führte, die auch viele spirituelle Traditionen vertreten. Der sexuelle Impuls ist demnach nicht einfach ein biologischer Trieb, sondern ebenfalls und vor allem eine göttliche, spirituelle Kraft. Sie meinte die erste Frau zu sein, der diese Er­ kenntnis zuteil wurde, und brachte eine neue Ehrerbietung für ihre mystische Rolle als Leben spendende Mutter zum Ausdruck. Zu einem anderen Zeitpunkt fühlte sich Karen eins mit der Erde und ihren Bewohnern, hatte jedoch Angst, dass beide bald zerstört würden. Sie sah, wie der Planet und seine Bewohner auf ihre Zerstörung zusteuern, und äusserte klar und detailliert Einsichten zur Lage der Welt. Sie sah Bilder von amerikanischen und sowjetischen Führern, die «den Finger am Abdruck­ knopf» hatten, und gab akkurate und oft humorvolle Kommentare zur inter­ nationalen politischen Situation ab. Mehrere Tage lang schien Karen direkt einen mächtigen Strom von Krea­ tivität angezapft zu haben und drückte viele Erfahrungen in Form von Liedern aus. Für die Anwesenden war es eine unglaubliche Erfahrung mitzuverfolgen, wie, kaum war ein inneres Thema ins Bewusstsein aufgetaucht, sie sich schon ein Lied ausgedacht hatte oder sich an eines erinnerte - und sich so gleichsam durch die ganze Phase sang. Karen war extrem medial und sensibel und in hohem Grade auf die Welt um sie herum eingestellt. Sie war im Stande, die Personen in ihrem Umfeld zu durchschauen, und wusste oft schon im Voraus, was sie sagen oder tun würden. Einer der Betreuer hatte, bevor er das Zimmer betrat, über sie gesprochen und erfuhr zu seinem grossen Erstaunen, dass Karen die ganze Konversation mit­ bekommen hatte, die sie getreulich wiedergab. Sehr zur Verlegenheit der Be­ troffenen äusserte sie sich auch offen über die zwischenmenschlichen Spiele, die im Haus abliefen und die sie akkurat wahrnahm. Auch konfrontierte sie je­ den, der ein zu starkes Kontrollverhalten an den Tag legte oder aber zu stren­ ge Ansichten vertrat, und weigerte sich, mit ihnen zu kooperieren. Nach etwa zwei Wochen begannen einige der schmerzhaften, schwierigen Zustände nachzulassen. Karen hatte zunehmend wohltuende, lichterfüllte Er­ fahrungen und fühlte sich immer mehr mit einer göttlichen Quelle verbunden. Sie nahm ein heiliges Juwel in ihrem Innern wahr, eine leuchtende Perle. Sie hatte das Gefühl, diese symbolisiere ihre wahre Mitte, und verbrachte viel Zeit damit, zärtlich mit ihr zu reden. Eine innere Quelle gab ihr Anweisungen, wie sie sich selbst lieben und gut zu sich sein sollte, und sie spürte, wie die emotio­ nalen Wunden in ihrem Herzen und in ihrem Körper geheilt wurden. Sie sag­ te, sie habe das Gefühl, etwas Besonderes zu sein, «neu geboren» zu sein oder eine zweite Geburt durchlaufen zu haben, und sagte: «Ich öffne mich dem Le­ ben, der Liebe, dem Licht und dem Selbst.»

349

Als Karens Erfahrung sich allmählich dem Ende zu neigte, wurde sie im­ mer weniger von ihrer inneren Welt in Anspruch genommen und interessierte sich wieder zunehmend für ihre Tochter und die sie umgebenden Personen. Sie ass und schlief wieder regelmässiger und konnte sich wieder vermehrt um ihre alltäglichen Bedürfnisse kümmern. Sie wollte nun ihr Erlebnis zu Ende führen und nach Hause zurückkehren und realisierte, dass auch die Leute um sie herum bereit waren, die Episode abzuschliessen, da diese Zeit auch an ihren Kräften gezehrt hatte. Alle waren sich darin einig, dass der Prozess so weit gediehen war, dass sie wieder selbst die täglichen Pflichten und die Ver­ antwortung für sich und ihre Tochter übernehmen konnte. Wir hatten später mehrfach Gelegenheit, mit Karen zu sprechen, und freuten uns, dass die positiven Veränderungen anhielten. Ihre Stimmung war besser, und sie war selbstbewusster und offener geworden. Ihr gestärktes Selbstbewusstsein machte es möglich, dass sie nun als Sängerin öffentlich auftreten konnte. Wie in Floras Fall wird auch Karens Radix (siehe Abb. gegenüber) von einem kraftvollen Stellium, an dem die vier Planeten Venus, Pluto, Merkur und Mars be­ teiligt sind (die zusammen eine enge Konjunktion von insgesamt 8° bilden), domi­ niert. Sonne und Uranus stehen ebenfalls in enger Konjunktion, und alle sechs Pla­ neten stehen in Löwe. Überraschenderweise war die diesem Horoskop innewoh­ nende enorme Energie auf den ersten Blick nicht ersichtlich, und erst als diese durch die kraftvollen Transite der äusseren Planeten aktiviert wurde, erfolgte eine Freisetzung des aussergewöhnlichen Potenzials. Dass dies auf eine so dramatische, heftige Art geschah, hat mit einem wichtigen Transit zu tun, der im Leben nur ein Mal vorkommt: Pluto stand damals im Quadrat zu ihrer Uranus/Sonne-Konjunk­ tion. Karens Empfänglichkeit für das überwältigende Hereinströmen der tief lie­ genden, unbewussten Energien beruht zu einem grossen Teil auf ihrem Sonne/Neptun-Quadrat. Wie Floras Sonne/Neptun-Konjunktion spiegelt auch Ka­ rens Quadrat ein «poröses» Ego wider, das der geballten Invasion der zu jenem Zeitpunkt auftauchenden transpersonalen Energien wenig Widerstand entgegen­ setzen konnte. Und wie bei Flora war auch hier wieder ein plutonischer Transit im Spiel - Pluto bildete ein Quadrat zu ihrer Uranus/Sonne-Konjunktion der die Geburtskonfiguration aktivierte. Zusätzlich und gleichzeitig war auch der transitierende Uranus wirksam, der gleichfalls zur Auslösung der in dieser Vierer-Kon­ junktion kombinierten archetypischen Energie beitrug. Im Oktober und November 1986 fiel der Pluto-Transit zu Uranus/Sonne mit der Freisetzung einer spektakulären Kreativität zusammen. Dies manifestierte sich als ein unaufhörliches Ausfliessen von Energie in Form einer ganzen Fuge von Ideen und Logorrhö; Karen erfand haufenweise witzige Neologismen, Wortspiele und neue Lieder. Oft begleitete sie ihren Gesang und verbalen Schöpfungen mit originellen Gesten, Grimassen und Tanz. Die ausserordentlich aggressive Pluto/Mars-Energie fand ihren Ausdruck in ihrem Wiedererleben verschiedener Szenen aus der Kindheit und Säuglingszeit

350

Karen Innen: Radix: aussen: spirituelle Krise

und aus vergangenen Leben, die mit Misshandlung und Missbrauch zu tun hatten, und in ihren verbalen Attacken, die an verschiedene Personen in ihrer Umgebung gerichtet waren. Ihr sarkastischer Humor war brillant und ätzend und griff gna­ denlos alle Schwächen und Fehler auf, welche die Personen zu verstecken suchten oder derer sie sich nicht einmal bewusst waren. Ihre Bemerkungen waren voller Kraftausdrücke skatologischer und sexueller Natur. All diese Manifestationen sind charakteristisch für eine Kombination von Pluto, Mars und Merkur. Der Ve­ nus-Archetyp drückte sich im Tanz, beim Singen und in ihren erotischen Anwand­ lungen aus. Pluto bringt die Elemente von BPM III ein: Er steht für Eruptionen machtvol­ ler vulkanischer Energien, für Hitzewellen, die Identifikation mit wilden Tieren, dämonische Erfahrungen und sexuelle Impulse, die ein breites Spektrum - von

351

obszönen Gesten bis zur Erweckung der Kundalini und tantrischen Erfahrungen abdecken. Pluto, Venus und Mars in Kombination bilden die archetypische Kon­ stellation für sexuelle Aggression, welche sich bei Karen in verschiedenen Situa­ tionen manifestierte. Ein weiterer, astrologisch bedeutender Faktor hat mit dem Umstand zu tun, dass sich Karen mit ihren damals neunundzwanzig Jahren mitten in der Saturn-Return-Phase befand (der transitierende Saturn war nur 1° von ihrem Radix-Saturn entfernt). Wie in Floras Fall ging auch hier ein ganzer Lebenszyklus zu Ende, und der Beginn eines neuen kündigte sich an. Zur Zeit des Saturn- Return resümieren wir oft unser bisheriges Leben und befassen uns mit lang vergessenen Erlebnissen aus unserer Vergangenheit. Während dieser Zeit werden meist auch bedeutende neue Weichen gestellt, die durch diesen psychischen Transformationsprozess be­ wirkt werden. Dies sind nur zwei Beispiele, die die bemerkenswerten Beziehungen zwischen holotropen Erfahrungen und planetaren Transiten aufzeigen. Wir konnten dassel­ be jedoch in Hunderten von Fällen beobachten, in denen Personen die verschie­ denen Formen holotroper Bewusstseinszustände erfuhren. Ich mache mir keine Il­ lusionen, dass diese Beispiele - aus dem Zusammenhang der den Horoskopen ei­ genen Komplexität gerissen und ohne eine konkrete Verbindung zu den direkt ge­ machten holotropen Erfahrungen - diejenigen Leser, die sich in der Astrologie noch nicht auskennen, überzeugen könnten. Die moderne euro-amerikanische Zi­ vilisation ist von der materialistischen Wissenschaft derart stark geprägt, dass es in der Regel mehrere Jahre des Erforschens holotroper Zustände und viele eigene Erfahrungen braucht, bevor wir ihren Bann brechen und die Notwendigkeit ak­ zeptieren können, dass unser Verständnis der menschlichen Psyche und der Natur der Wirklichkeit grundlegend revidiert werden muss, um für die neuen, «holotro­ pen Erkenntnisse» Raum zu schaffen. Besonders relevant sind die Implikationen, die sich für Psychologie und Psychiatrie ergeben - durch das stark erweiterte Mo­ dell der Psyche, die viel komplexere vielschichtige Struktur emotionaler und psy­ chosomatischer Störungen, das Konzept des inneren Radars, die Existenz einer inneren heilenden Intelligenz und der therapeutische Einsatz derselben und ande­ res mehr. Da die Erlebnisse von Klienten sowohl im normalen wie auch im holotropen Bewusstseinszustand lief gehende Verbindungen mit den archetypischen Energien der planetaren Transite zu einer spezifischen Zeit aufweisen, unterliegen sie kon­ stanten Wandlungen. Theoretiker, die versuchen, ein fixes Klassifikationssystem für psychiatrische Diagnosen zu erstellen, kommen auf keinen grünen Zweig. Mittlerweile sind wir bei der vierten revidierten Fassung des offiziellen amerikani­ schen Diagnostic and Statistic Manuals (DSM-IV) angelangt, doch die Kliniker zeigen sich nach wie vor frustriert angesichts des Mangels an Übereinstimmung zwischen den beschriebenen diagnostischen Kategorien und der klinischen Rea­ lität. Aus astrologischer Sicht reflektieren die sich wandelnden klinischen Bilder die ständig ändernden Winkelbeziehungen zwischen den Planeten.

352

In den verschiedenen geschichtlichen Perioden bilden jeweils zwei oder mehr Planeten wichtige Aspekte am Himmel. Diese sind von besonderer Bedeutung und lang anhaltender Wirkung, wenn die äusseren Planeten von Jupiter bis Pluto daran beteiligt sind. Das kombinierte Feld der Archetypen, die mit diesen Plane­ ten assoziiert sind, verleiht dieser Periode den bestimmten «Geschmack» und be­ stimmt ihren Zeitgeist. So waren zum Beispiel, wie ich schon erwähnte, die Jahre 1960 bis 1972 von einer Pluto/Uranus-Konjunktion dominiert, die einzige in die­ sem Jahrhundert. Diese Kombination von Archetypen war zweifelsohne ideal für eine Periode anhaltender seelisch-geistiger Revolution der dionysischen Art, die charakterisiert war von sozialen Umbrüchen, der Bürgerrechtsbewegung, von technologischen Triumphen, radikalen Innovationen in Musik und Kunst, der se­ xuellen Revolution, der Frauenbewegung, den Studentenunruhen und den weit verbreiteten gegenkulturellen Aktivitäten und Kreativitäten. Im Gegensatz dazu war der wesentliche archetypische Einfluss während der Neunzigerjahre eine Konjunktion von Neptun und Uranus. Diese Periode fiel mit tief greifenden, jedoch im Allgemeinen gewaltlosen spirituellen und gesellschaftli­ chen Veränderungen zusammen: «samtene» Revolutionen wie die Wiedervereini­ gung Deutschlands, die Befreiung osteuropäischer Länder und die friedliche Auf­ lösung der Sowjetunion als gefährliche Supermacht. Zu dieser Zeit gewann die jungsche Psychologie zunehmend an Wertschätzung, und eine Vielzahl spirituell orientierter Bücher wurde zu Bestsellern. Transpersonale Themen fanden den Weg ins Kino. Mythologie, Nahtoderfahrungen, UFO-Entführungen, instrumen­ teile Transkommunikation (ITC) und virtuelle Realität weckten das Interesse von Spezialisten wie auch der Allgemeinheit. Sind wichtige globale Aspekte am Wirken, dann kann sich diese Konstellation auch in Individuen personalisieren, wenn sie zu deren Radix-Planetenpositionen starke Aspekte bildet. In solchen Fällen besteht die Tendenz zu ganz bestimmten emotionalen und psychosomatischen Störungen. Das Resultat davon ist, dass ein Psychiater, der in einer bestimmten Zeitperiode tätig ist, andere Phänomene be­ obachtet als ein Kollege, der zu einer früheren oder späteren Zeit tätig ist. Dies ist eine mögliche Erklärung für den Umstand, dass das Erstellen eines fixen, allge­ mein gültigen DSM von Beginn weg problematisch ist. Doch das ist noch nicht die ganze Geschichte. In den alljährlich stattfindenden Kursen, die Richard Tarnas und ich am California Institute for Integral Studies (CIIS) geben, besprechen wir die wichtigsten Schulen der Tiefenpsychologie und analysieren die Horoskope ihrer Gründer. Dabei lässt sich bald ersehen, dass es nicht möglich ist, dass diese Pioniere die Psyche ihrer Klienten objektiv hätten stu­ dieren können und dass sich daraus keine allgemeinen Schlüsse ziehen lassen, die für immer gültig bleiben würden. Sie nahmen die Probleme ihrer Klienten durch einen subjektiven Raster oder eine verzerrende Linse wahr, welche den Aspekten in ihrem Geburtshoroskop und den Transiten, die zur Zeit der gemachten Beob­ achtungen wirksam waren, entsprechen.

353

Mit Ausnahme der organisch bedingten Störungen hat die Psychiatrie also kein festes Set von Phänomenen, die sie studieren könnte. Die Ergebnisse, die aus einer Erforschung emotionaler und psychosomatischer Störungen resultieren, die nicht organischen Ursprungs sind, werden demnach vom komplexen Zusammen­ spiel einer ganzen Reihe von Faktoren mitbestimmt: vom Horoskop des Forschers und seinen Transiten zur Zeit der gemachten Beobachtungen; von den globalen Aspekten, die den Zeitgeist einer bestimmten Periode definieren, und den Transi­ ten, welche die Erfahrungen der Klienten färben. Das Bild der Psychiatrie als einer Disziplin, welche über präzise Definitionen zu chronischen oder vorübergehenden pathologischen Zuständen verfügt und ein grosses Arsenal an spezifischen Heilmitteln und Behandlungsmethoden anbieten kann, ist eine Illusion. Die einzige Lösung in Anbetracht dieser Umstände scheint zu sein, psychiatrische Störungen in einem Sinne zu beschreiben, indem man mög­ liche Verbindungen und Verknüpfungen aufzeigt und Techniken anführt, die sich eignen, wenn man eine Situation zu jeder beliebigen Zeit analysieren möchte und sie anhand der Phänomenologie der Erfahrungen des Klienten und deren Bezie­ hung zu seinen planetaren Transiten charakterisieren will. Im Sinne eines Korrek­ tivs ist es auch notwendig, die globalen Aspekte sowie das Horoskop und die Tran­ site des Forschers zu berücksichtigen. Die durch die Astrologie aufgedeckten Verbindungen sind derart komplex, verwickelt, kreativ und ideenreich, dass sie keinen Zweifel an ihrem göttlichen Ur­ sprung aufkommen lassen. Sie bietet mehr als genug überzeugende Fakten, die für eine tiefe, sinnvolle Ordnung sprechen, welche der Schöpfung zugrunde liegt - und für eine überlegene kosmische Intelligenz, die sie erzeugt hat. Hier stellt sich eine interessante Frage: Gibt es eine umfassende Weitsicht, welche die Astrologie mit einschliessen und deren Entdeckungen assimilieren kann? Über die Jahre, und nicht ohne innere Kämpfe und Leidenszeiten, kam ich zur Ansicht, dass es eine Weltanschauung gibt, welche meine Erfahrungen und Beobachtungen aus der Be­ wusstseinsforschung integrieren und erklären sowie auch die Astrologie mit einbe­ ziehen kann. Diese unterscheidet sich jedoch diametral vom Glaubenssystem, das die moderne westliche Zivilisation dominiert. Ich habe diese Weltanschauung in meinem Buch K osmos und P syche : A n den G renzen menschlichen B ewusstseins (Grof 1998) beschrieben und sie auch in einer knappen Form in einem früheren Kapitel dieses Buchs dargelegt. Diese Sicht der Wirklichkeit basiert auf Erfahrungen und Einsichten aus holotro­ pen Zuständen und porträtiert das Universum nicht als ein materielles System, sondern als ein unendlich komplexes Spiel des Absoluten Bewusstseins. Alte hin­ duistische Schriften beschreiben eine ähnliche Sicht des Kosmos und beziehen sich auf die phänomenalen Welten als Lila, das göttliche Spiel. Ich habe in meinen früheren Publikationen zu zeigen versucht, dass diese Sichtweise des Universums zunehmend mit den verschiedenen revolutionären Erkenntnissen der das neue Pa­ radigma vertretenden Wissenschaft in Einklang steht (Grof 1985,1998).

354

Wenn wir davon ausgehen, dass der Kosmos eine Schöpfung einer übergeord­ neten Intelligenz ist und nicht eine Supermaschine, die sich selbst erschaffen hat, wird es zunehmend plausibler, dass die Astrologie eine der vielen Ordnungssyste­ me sein könnte, die im universellen Gewebe eingeflochten sind. Sie könnte als nützliche Ergänzung zum Feld der Wissenschaft angesehen werden - statt als ein Rivale, der mit der wissenschaftlichen Weitsicht unvereinbar ist. Sich dieser Mög­ lichkeit konzeptmässig zu öffnen würde es ermöglichen, das grosse Potenzial, das die Astrologie bereithält, als klinisches Arbeitsmittel und Forschungswerkzeug für Psychiatrie, Psychologie und Psychotherapie sowie für eine Vielfalt von anderen Disziplinen zu nutzen.

355

Referenzen / Bibliografie

Abraham. K. 1927. A Short Study of the Development of the Libido. Selected Papers London: In­ stitute of Psychoanalysis and Hogarth Press. Adler. A. 1932. The Practice and Theory of Individual Psychology. New York: Harcourt, Brace & Co. Alexander. F. 1931. «Buddhist Training As Artificial Catatonia», in: Psychoanalytic Review, 18:129. - 1950. Psychosomatic Medicine. New York: W. W. Norton. Anonymous. 1975. A Course in Miracles. New York: Foundation for Inner Peace. Ardrev. R. 1961. African Genesis. New York: Atheneum. Assagioli. R. 1976. Psychosynthesis. New York: Penguin Books. -

1977. «Self-Realization and Psychological Disturbances», in: Synthesis 3-4. (Auch in: Grof, S., Grof, C.: Spiritual Emergency: When Personal Transformation Becomes a Crisis. Los Angeles: J. P. Tarcher.)

Aurobindo. Sri. 1977. The Life Divine. New York: India Library Society. Bache. C. M. 1988. Lifecycles: Reincarnation and the Web of Life. New York: Paragon House. Bache. C. 1999. Dark Night, Early Dawn: Steps to a Deep Ecology of Mind. Albany: State Uni­ versity of New York Press. Bacon. F. 1870. «De Dignitate and The Great Restauration», Vol. 4., The Collected Works of Fran­ cis Bacon. (Hg. J. Spedding, L. Ellis, D. D. S. Heath). London: Longmans Green. Bastians. A. 1955. «Man in the Concentration Camp and the Concentration Camp in Man». Unpubliziertes Manuskript, Leyden, Holland. Bateson. G. 1979. Mind and Nature: A Necessary Unity. New York: E. P. Dutton. Becker. E. 1973. The Denial of Death. New York: Free Press. Benson. H. et al. 1982. «Body Temperature Changes during the Practice of g Tummo Yoga», in: Na­ ture, 295:232. Blanck. G.. und Blanck. R. 1974. Ego Psychology I: Theory and Practice. New York: Columbia University Press. -

1979. Ego Psychology II: Psychoanalytic Developmental Psychology. New York: Columbia University Press.

Bohm. D. 1980. Wholeness and the Implicate Order. London: Routledge and Kegan Paul. Bolen. J. S. 1984. Goddesses in Everywoman. A New Psychology of Women. San Francisco: Har­ per and Row. -

1989. Gods in Everyman: A New Psychology of Mens Lives and Loves. San Francisco: Harper and Row.

Bozzano. E. 1948. Dei Fenomeni di Telekinesia in Rapporto con Eventi di Morti. Casa Editrice Europa. Brun. A. 1953. «Über Freuds Hypothese vom Todestrieb», in: Psyche, 17:81.

356

Campbell. J. 1968. The Hero with A Thousand Faces. Princeton. NJ: Princeton University Press. - 1972. Myths to Live By. New York: Bantam. - 1984. The Way of the Animal Powers. New York: Harper and Row. Capra. F. 1996. The Web of Life: A New Scientific Understanding of Living Systems. New York: Doubleday. Cicero. M. T. 1977. De Legilus. Libri Tres. New York: Georg Olms. Cobbe. F. P. 1877. «The Peak in Darien: The Riddle of Death», in: Linells Living Age and New Quarterly Review, 134:374. Cohen. S. 1965. «LSD and the Anguish of Dying», in: Harpers Magazine, 231:69,77. Cohn. C. 1987. «Sex and Death in the Rational World of the Defense Intellectuals», in: Journal of Women in Culture and Society, 12:687-718. Dalman. C. et al. 1999. «Obstetric Complications and the Risk of Schizophrenia: A Longitudinal Study of a National Birth Cohort», in: Arch. Gen. Psychiatry, 56:234-240. Dante Alighieri 1990. Il Convivio (Übers. R. H. Lansing). New York: Garland. Darwin. C. 1952. The Origin of Species and the Descent of Man (Original 1859 publiziert). In Great Books of the Western World. Encyclopaedia Britannica. Chicago. Dawkins. R. 1976. The Selfish Gene. New York: Oxford University Press. Delacour. J. B. 1974. Glimpses of the Beyond. New York: Delacorte Press. Pollard. J. el al. 1939. Frustration and Aggression. New Haven, Conn.: Yale University Press. Eliade. M. 1964. Shamanism: The Archaic Techniques of Ecstasy. New York: Pantheon Books. Fenichel. 0.1945. The Psychoanalytic Theory of Neurosis. New York: W. W. Norton. Fisher. G. 1970. «Psychotherapy for the Dying: Principles and Illustrative Cases with Special Reference to the Use of LSD», in: Omega, 1:3. Foerster. H. von. 1965. «Memory without a Record», in: The Anatomy of Memory (Hg. D. P. Kimb­ le). Palo Alto: Science and Behavior Books. Flynn. C. P. 1986. After the Beyond: Human Transformation and the Near-Death Experience. Englewood Cliffs, NJ: Prentice-Hall. Freud. S. 1953. «Three Essays on the Theory of Sexuality», in: Standard Edition of the Complete Works of Sigmund Freud, vol. 7. London: Hogarth Press and Institute of Psychoanalysis. -

1955. «Beyond the Pleasure Principle», in: Standard Edition, vol. 18 (Hg. J. Strachey). London: Hogarth Press and Institute of Psychoanalysis.

-

1961. «Civilization and Its Discontents», in: Standard Edition, vol. 21. London: Hogarth Press and Institute of Psychoanalysis.

-

1964. «An Outline of Psychoanalysis», in: Standard Edition, vol. 23. London: Hogarth Press and Institute of Psychoanalysis.

- und Breuer. J. 1936. Studies in Hysteria. New York: Nervous and Mental Diseases. Fried. R. 1987. The Hyperventilation Syndrome: Research and Clinical Treatment. Baltimore: Johns Hopkins Series in Contemporary Medicine and Mental Health. Fromm. F.. 1973. Anatomy of Human Destructiveness. New York: Holt, Rinehart and Winston. Gennep. A. van. 1960. The Rites of Passage. Chicago: University of Chicago Press. Goleman. D. 1996. Spiritual Intelligence: Why It Can Matter More Than IQ. New York: Ban­ tam. Gormsen. K.. und Lumbye. J. 1979. «A Comparative Study of Stanislav Grof’s and L. Ron Hubbard’s Models of Consciousness», vorgestellt an der 5. International Transpersonal Conference, Boston, November 1979. Green. E. E.. und Green. A. M. 1978. Beyond Biofeedback. New York: Delacorte Press.

357

Grey. M. 1985. Return from Death: An Exploration of the Near-Death Experience. London: Arcana. Grevson. B.. und Flynn. C. P. (Hg.) 1984. The Near-Death Experience: Problems, Prospects, Perspectives. Springfield, IL: Charles C. Thomas. Grof. C. 1993. The Thirst for Wholeness: Attachment, Addiction, and the Spiritual Path. San Francisco: Harper. -

und Grof. S. 1990. The Stormy Search for the Self. Los Angeles: J. P. Tarcher. (Dt.: Die stürmi­ sche Suche nach dem Selbst. Kösel, München 1991.)

Grof. S. 1972. «LSD and the Cosmic Game: Outline of Psychedelic Cosmology and Ontology», in: Journal for the Study of Consciousness, 5:165. -

1975. Realms of the I Iuman Unconscious. Observations from LSD Research. New York: Vi­ king Press. (Dt.: Topographie des Unbewussten. LSD im Dienst der tiefenpsychologischen Forschung. Klett-Cotta, Stuttgart 1978.)

-

und Halifax. J. 1977. The Human Encounter with Death. New York: E. P. Dutton. (Dt.: Die Be­ gegnung mit dem Tod. Klett-Cotta, Stuttgart 1980.)

-

1980. LSD Psychotherapy. Pomona, CA: Hunter House. (Dt.: LSD Psychotherapie. Stuttgart, Klett-Cotta, 1983.)

-

1985. Beyond the Brain. Birth, Death, and Transcendence in Psychotherapy. Albany: State University of New York Press. (Dt.: Geburt, Tod und Transzendenz. Kösel, München 1985.)

- 1987. «Spirituality, Addiction, and Western Science», in: Re-Vision Journal, 10:5-18. -

1988. The Adventure of Self-Discovery. Albany: State University of New York Press. (Dt.: Das Abenteuer der Selbstentdeckung. Kösel, München 1987.)

-

1994. Books of the Dead. Manuals for Living and Dying. London: Thames and Hudson. (Dt.: Totenbücher. München, Kösel, 1994.)

-

1998. The Cosmic: Game: Explorations of the Frontiers of Human Consciousness. Albany: State University of New York Press. (Dt.: Kosmos und Psyche. An den Grenzen menschlichen Be­ wusstseins. W. Krüger Verlag, Frankfurt a. M. 1997; Fischer TB, Frankfurt a. M. 2000.)

-

und Grof. C. (Hg.) 1989. Spiritual Emergency: When Personal Transformation Becomes a Crisis. Los Angeles: J. P. Tarcher.

-

und Grof. C. 1982. Beyond Death. The Gates of Consciousness. London: Thames and Hudson. (Dt.: Jenseits des Todes. An den Toren des Bewusstseins. Kösel, München 1984.)

-

und Bennett. H. Z. 1992. The Holotropic Mind. The Three Levels of Human Consciousness and How They Shape Our Lives. San Francisco: Harper. (Dt.: Die Welt der Psyche. Kösel, Mün­ chen 1993.)

Grosso. M. 1994. «The Status of Survival Research: Evidence, Problems, Paradigms». Vortrag anläss­ lich des Symposiums «The Survival of Consciousness After Death» am Institute of Noetic Sciences, Chicago, Juli 1994. Group for the Advancement of Psychiatry. Committee on Psychiatry and Religion. 1976. «Mysticism: Spiritual Quest or Psychic Disorder?» Washington, D.C. Hand. R. 1976. Planets in Transit. Life Cycles for Living. Gloucester, MA: Para Research. Harman. W. 1984. Higher Creativity: sights. Los Angeles: J. P. Tarcher.

Liberating

the

Unconscious

for

Breakthrough

In­

Harner. M. 1980. The Way of the Shaman: A Guide to Power and Healing. New York: Harper and Row. Harrington. A. 1969. The Immortalist. Milbrae, CA: Celestial Arts. Hines. B. 1996. God’s Whisper, Creation’s Thunder: Echoes of Ultimate Reality in the New Physics. Brattleboro, VT: Threshold.

358

Hubbard. L. R. 1950. Dianetics: The Modern Science of Mental Health. East Grinstead, Sussex. England: Hubbard College of Scientology. Huxley. A. 1945. Perennial Philosophy. New York und London: Harper. - 1963. Island. New York: Bantam. Huxley. L. A. 1968. Tins Timeless Moment. New York: Farrar, Straus, and Giroux. Jacobson. B. etal. 1987. «Perinatal Origin of Adult Self-Destructive Behavior», in: Acta psychiat. Scand., 76:364-71. James. W. 1961. The Varieties of Religious Experience. New York: Collier. Janus. S.. Bess. B.. und Saltus C. 1977. A Sexual Profile of Men in Power. Englewood Cliffs, NJ: Prentice-Hall. Jilek. W. G. 1974. Salish Indian Mental Health and Culture Change: Psychohygienic and Therapeutic Aspects or the Guardian Spirit Ceremonial. Toronto and Montreal: Holt, Rin­ ehart, and Winston of Canada. Jung. C. G. 1956. «Symbols of Transformation», in: Collected Works, vol. 5, Bollingen Series 20. Princeton, NJ: Princeton University Press. -

1958. «Psychological Commentary on the Tibetan Book of the Great Liberation», in: Collected Works, vol. II. Bollingen Series 20. Princeton, NJ: Princeton University Press.

-

1959. «The Archetypes and the Collective Unconscious», in: Collected Works, vol. 9,1. Bollingen Series 20. Princeton, NJ: Princeton University Press.

-

1960a. «Synchronicity: An Acausal Connecting Principle», in: Collected Works, vol. 8, Bollingen Series 20. Princeton, NJ: Princeton University Press.

-

1960b. «A Review of the Complex Theory», in: Collected Works, vol.8, Bollingen Series20. Princcton, NJ: Princeton University Press.

-

1960c. «The Psychogenesis of Mental Disease», in: Collected Works, vol. 3. Bollingen Series 20. Princeton, NJ: Princeton University Press.

-

1964. «Flying Saucers: A Modern Myth of Things Seen in the Skies», in: Collected Works, vol. 10. Bollingen Series 20. Princeton, NJ: Princeton University Press.

-

1996. The Psychology of Kundalini Yoga: Notes on the Seminars Given in 1932 by C. G. Jung (Hg. Soma Shamdasani). Bollingen Series 99. Princeton, NJ: Princeton University Press.

Kane. J. M. 1999. «Schizophrenia: How Far Have We Come?», in: Current Opinion in Psychiatry, 12:17. Kaplan. H. S.. und Kaplan. H. I.. 1967. «Current Concepts of Psychosomatic Medicine», in: Compre­ hensive Textbook of Psychiatry. Baltimore: Williams and Wilkins. Kast. F.. C. 1963. «The Analgesic Action of Lysergic Acid Compared with Dihydromorphinone and Meperidine», in: Bull. Drug Addiction Narcotics, App. 27:3517. Kast. E. C.. und Collins. V. J. 1964. «A Study of Lyscrgic Acid Diethylamid as an Analgesic Agent», in: Anaesth. Analg. Curr. Res., 43:285. - 1966. «LSD and the Dying Patient», in: Chicago Med. Sch. Quart., 26:80. Katz. R. 1976. «The Painful Ecstasy of Healing», in: Psychology Today, Dezember 1976. Kn-Tzetnik 135633. 1955. THE HOUSE of DOLLS. New York: Pyramid. - 1977. Sunrise over Hell. London: W. A. Allen. - 1989. Shivitti: A Vision. San Francisco: Harper and Row. Keen. S. 1988. Faces of the Enemy: Reflections of the Hostile Imagination. San Francisco: Har­ per. Küblcr-Ross. F.. 1969. On Death and Dying. London: Collier-Macmillan Ltd. Kucera. O.1959. «On Teething», in: Dig. Neurol. Psychiat., 27:296.

359

Kurland. A. A.. Pahnke. W. N.. Unger. S.. Savage. C.. und Goodman. L. E. 1968. «Psychedelic Psycho­ therapy (LSD) in the Treatment of the Patient with A Malignancy. Excerpta Medica International Congress Series No. 180», in: The Present Status of Psychotropic Drugs 180.6. Internationaler Kongress der CINP in Tarragona, Spanien, April 1968. LaBerge. S. 1985. Lucid Dreaming: Power of Being Awake and Aware in Your Dreams. New York: Ballantine. Laszlo. E. 1993. The Creative Cosmos. Edinburg: Floris Books. Lavin. T. 1987. «Jungian Perspectives on Alcoholism and Addiction». Vortrag anlässlich des Seminars «The Mystical Quest, Attachment, and Addiction» am Esalen Institute, BigSur, CA, USA. Lawson. A. 1984. «Perinatal Imagery In UFO Abduction Reports», in: Journal of Psychohistory, 12:211. Lcarv. T.. Alperl. R.. und Metzner. R. 1964. Psychedelic Experience: Manual Based on ihe Tibe­ tan Book of the Dead. New Hyde Park, NY: University Books. Lee. R. B.. und DeVore. I. tHy.I. 1976. Kalahari Hunter-Gatherers: Studies of Kung San and Their Neighbors. Cambridge: Harvard University Press. Leuner. H. 1962. Experimentelle Psychose. Berlin: Springer Serie 95. Lilly. J. C. 1977. Deep Self: New York: Simon and Schuster.

Profound

Relaxation

and

the

Tank

Isolation

Technique.

Lorenz. K. 1963. On Aggression. New York: Harcourt, Brace and World. Mack. J. 1994. Abductions: Human Encounters wi th Aliens. New York: Charles Scribner Sons. -

1999. Passpor t to the Cosmos: Human Transformation and Alien Encounters. New York: Crown Publishers.

MacLean.P. 1973. «A Triune Concept of the Brain and Behavior. Lecture I: Man’s Reptilian and Lim­ bic Inheritance; Lecture II: Man's Limbic System and the Psychoses; Lecture III: New Trends in Man’s Evolution», in: The Hincks Memorial Lectures (Hg.: T. Boag und D. Campbell). Toronto: University of Toronto Press. Mahler. M. 1961. «On Sadness and Grief in Infancy and Childhood: Loss and Restoration of the Sym­ biotic Love Object», in: Tile Psychoanalytic Study of the Child. 16:332-351. Maslow. A. 1962. Toward a Psychology of Being. Princeton: Van Nostrand. - 1964. Religions, Values, and Peak Experiences. Cleveland: Ohio State University. -

1969. «A Theory of Metamotivation: The Biological Rooting of the Value of Life», in: Readings in Humanistic Psychology (Hg.: A. J. Sutich und M. A. Vich). New York: Free Press.

Mause. L. de. 1975. «The Independence of Psychohistory», in: The New Psychohistory. New York: Psychohistory Press. McGee. D. ct al. 1984. «Unexperienced Experience: A Critical Reappraisal of the Theory of Repres­ sion and Traumatic Neurosis», in: Irish Journal of Psychotherapy, 3:7. McKenna. T. 1992. Food of the Gods: The Search for the Original Tree of Knowledge. New York: Bantam Books. Melzack. R. 1950. The Puzzle of Pain. New York: Basic Books. Melzack. R. und Wall. P. D. 1965. «Pain Mechanisms: A New Theory», in: Science, 150:971. Monroe. R. A. 1971. Journeys Out of the Body. New York: Doubleday. - 1985. Far Journeys. New York: Doubleday. - 1994. Ultimate Journey. New York: Doubleday. Moody. R. A. 1975. Life after Life. New York: Bantam. - Reunions: Visionary Encounters with Departed Loved Ones. New York: Villard Books. Mookeriee. A.. und Khanna. M. 1977. The Tantric Way. London: Thames and Hudson.

360

Morris. D. 1967. The Naked Ape. New York: McGraw-Hill. Neher. A. 1961. «Auditory Driving Observed with Scalp Eleclrodes in Normal Subjects», in: Electro­ encephalography and Clinical Neurophysiology, 13:449. -

1962. «A Physiological Explanation of Unusual Behavior Involving Drums», in: Human Biology, 34:151 Qdent. M. 1995. «Prevention of Violence or Genesis of Love? Which Perspective?», 14. International Transpersonal Conference in Santa Clara, CA, Juni 1995. Oripenes Adamantins 1973. Df Principiis («On First Principles»: englische Übersetzung von G.T. But­ terworth), Gloncestcr, MA: Peter Smith. Osis. K. et al. 1961. Deathbed Observations of Physicians and Nurses. New York: Parapsycholo­ gy Foundation. Osis. K.. und McCormick. D. 19X0. «Kinetic Effects at the Ostensible Location of an Out-of-Body Pro­ jection during Perceptual Testing», in: Journal of the American Society for Psychical Re­ search, 74:319-24. Pahnke. W. N.. und Richards. W. I'. 1966. «Implications of LSD and Experimental Mysticism», in: Journal of Religion and Health, 5:175. Pahnke. W. N.. Kurland. A. A.. Unger. S.. Savage. C.. und Grof. S. 1970. «The Experimental Use of Psy­ chedelic (LSD) Psychotherapy», in: J. Amer. Med. Assoc., 212:1856. Peris. F.. 1976. Gestalt Therapy Verbatim. New York: Bantam Books. Perry. J. W. 1953. The Self in the Psychotic Process. Dallas: Spring Publications.

- 1966. Lord of the Four Quarters. New York: Braziller. - 1974. The Far Side of Madness. Englewood Cliffs, NJ: Prentice Hall. - 1976. Roots of Renewal in Myth and Madness. San Francisco: Josscy-Bass. Plotinos. 1991. The Enneads. London: Penguin Books. Pres. T. des. 1976. The Survivor: An Anatomy of Life in the Death Camp. Oxford: Oxford Uni­ versity Press. Pribram. K. 1981. «Non-Locality and Localization: A Review of the Place of the Holographic Hypo­ thesis of Brain Function in Perception and Memory», Preprint für den 10. ICUS, November 1981. Rank. O. 1929. The Trauma of Birth, New York: Harcourt Bracc. Rappaport. M. et al. 1978. «Are There Schizophrenics for Whom Drugs Might Be Unnecessary or Con­ traindicated?», in: International Pharmacopsychiatry, 13:100. Raudive. K. 1971. Breakthrough, New York: Lancer. Reich. W. 1949. Character Analysis. New York: Noonday Press. -

1961. The Function of the New York: Farrar, Strauss and Giroux.

Orgasm:

Sex-Economic

Problems

of

Biological

Energy.

- 1970. The Mass Psychology of Fascism. New York: Simon & Schuster. Richards. W. A. 1975. «Counseling, Peak Experiences, and the Human Encounter with Death: An Em­ pirical Study of the Efficacy of DPT-Assisted Counseling in Enhancing the Quality of Life of Persons with Terminal Cancer and Their Closest Family Members», Ph. D. Dissertation, School of Edocation, Catholic University of America, Washington, D. C. Richards. W. A.. Grof. S.. Goodman. L. E. und Kurland A. A. 1972. «LSD-Assisted Psychotherapy and the Human Encounter with Death», in: Journal of Transpersonal Psychology, 4:121. Riedlinger. T. 1982. «Sartre's Rite of Passage», in: Journal of Transpersonal Psychology, 14:105. Ring. K. 1982. Life at Death: A Scientific Investigation of the Near-Death Experience. New York: Quill. - 1985. Heading toward Omega: In Search of the Meaning of the Near-Death Experience. New York: Quill.

361

Ring, K., und Valarino, E. E. 1998. Lessons from the Light: What Wr Can Learn from the NearDeath Experience. New York: Plenum Press. Ring;. K. und Cooper. S. 1999. Mindsight: Near-Death and Out-of-Bo»y Experiences in the Blind. Palo Alto, CA: William James Center for Consciousness Studies. Roberts. J. 1973. The Education of Oversoul 7. Englewood Cliffs, NJ: Prentice-Hall. Ross. C. A. 1989. Multiple ment. New York: John Wiley.

Personality Disorder: Diagnosis, Clinical Features, and Treat­

Sabom. M. 1982. Recollections of Death: A Medical Investigation. New York: Harper and Row. Sannella. L. 1987. The Kundalini Experience: Psychosis or Transcendence? Lower Lake, CA: In­ tegral. Saunders. C. M. 1967. The Management of Terminal Illness. London: Hospital Medicinc Publica­ tions. Savage. C.. und MeCabc. O. I.. 1971. «Psychedelic (LSD) Therapy of Drug Addiction», in: The Drug Abuse Controversy (Hg.: C. C. Brown und C. Savage), Baltimore: Friends of Medical Science Re­ search Center. Schultes. R. E.. und Hofmann. A. 1979. Plants of the Gods: Origin of Hallucinogenic Use. New York: McGrawHill. Senkowski. E. 1994. «Instrumental Transcommunication (ITC)», Institute for Noetic Sciences, Corte Madera Inn, Corte Madera, CA, Juli. Sheldrake. R. 1981. A New Science of Life. Los Angeles: J. P. Tarcher. -

1990. «Can Our Memories Survive the Death of Our Brains?», in: What Survives? Contemporary Explorations of Life After Death. (Hg. G. Doore). I .os Angeles: J. P. Tarcher.

Sidewick. H. et al. 1894. Report on the Census of Hallucinations, Proc. S. P. R„ vol. 10,245-51. Silverman. J. 1967. «Shamans and Acute Schizophrenia», in: American Anthropologist, 69:21. Sparks. T. 1993. The Wide Open Door: Tim Twelve Steps, Spiritual Tradition, and the New Psy­ chology. Center City, MN: Hazelden Educational Materials. Stevenson. 1.1966. Twenty Cases Suggestive of Reincarnation. Charlottesville: University of Vir­ ginia Press. - 1984. Unlearned Languages. Charlottesville: University of Virginia Press. - 1987. Children Who Remember Previous Lives. Charlottesville: University of Virginia Press. -

1997. Reincarnation and Biology: A Contribution to the Etiology of Birthmarks and Birth Defects. Westport, CT: Pracger.

Tafova.T. 1994. «Completing the Circle: One Heart. Two Spirits, and Beyond», Vortrag an der jährli­ chen Tagung der Association lor Transpersonal Psychology in Asilomar, CA, August 1994. Tarnas. R. 1991. The Passion of the Western Mind. New York: Harmony Books. -

1995. Prometheus the Awakener: An Essay on the Archetypal Meaning of the Planet Ura­ nus. Woodstock, CT: Spring Publications. im Druck: Psyche and Cosmos: Intimations of a New World View. New York: Random House.

Tart. C. 1968. «A Psychophysiological Study of Out-of-Body Phenomena», in: Journal of the So­ ciety for Psychical Research, 62:3-27. Tausk. V. 1933. «On the Origin of the Influencing Machine in Schizophrenia», in: Psychoanalyt. Quart. II. Tinbergen. N. 1965. Animal Behavior. New York: Time-Life. Tomatis. A. A. 1991. The Conscious Ear. Barrylown, NY: Station Hill Press. Ulansev. D. 1989. Origins of the Mithraic Mysteries: Cosmology and Salvation in the Ancient World. Oxford: Oxford University Press.

362

Vaughan. F. 1979. «Transpersonal Psychotherapy: Context, Content, and Process», in: Journal of Transpersonal Psychology, 11:101-110. Verdoux. H.. und Murray. R. M. 1998. «What Is the Role of Obstetric Complications in Schizophre­ nia?» in: Harv. Ment. Health Lett. Vernv. T„ und Kelly. J. 1981. The Secret Life of the Unborn Child. Toronto: Collins. Vithoulkas. G. 1980. The Science OF Homeopathy, New York: Grove Press. Warner. R. 1999. «New Directions for Environmental Intervention in Schizophrenia: I. The Individual and the Domestic Level», in: Mental Health Services, 83:61-70. Wasson. R. G.. Hofmann. A. und Ruck. C. A. P. 1978. The Road to Eleusis: Unveiling the Secret of the Mysteries. New York: Harcourt, Brace, Jovanovich. Wasson. V. P. 1957. Interview in This Week, Baltimore, 19. May 1957. Watts. A. 1966. The Book about the Taboo against Knowing Who You Are. New York: Vintage Books. Weil. A. 1972. The Natural Mind. Boston: Houghton Mifflin. Weisse. J. E. 1972. The Vestibule. Port Washington, NY: Ashley Books. Whitwell. G. E. 1999. Life Before Birth: Prenatal Sound and Music. Besprechungen im Internet von Publikationen zu prenatalen Geräuscheffekten: http://www.birthpsychology.com. Wilber. K 1977. The Spectrum of Consciousness. Wheaton, IL: Theosophical Publishing House. -

1980. The Atman Project: A Transpersonal View of Human Devei.opment. Wheaton, IL: Theosophical Publishing House.

- 1995. Sex, Ecology, and Spirituality: The Spirit of Evolution. Boston: Shambhala. Wilson. W.. und Jung. C. G. 1963. Briefe, abgedruckt in: S. Grof (Hg.): «Mystical Quest, Attachment, and Addiction», Spezialausgabe des Re-Vision Journal, 10 (2):1987. Wrangham. R.. und Peterson. D. 1996. Demonic Males: Apes and the Origins of Human Violence. New York: Houghton Mifflin Company. Wright. P. et al. 1998. «Maternal Influenza, Obstetric Complications, and Schizophrenia», in: Amer. J. Psychiat., 154:292.

363

Der Autor

S

tanislav Grof ist Arzt und Psy­ chiater mit über vierzig Jahren Erfahrung in der Erforschung aussergewöhnlicher Bewusstseinszu­ stände. In Prag, wo er auch geboren ist, erhielt er seine wissenschaftli­ che Ausbildung und doktorierte in Medizin an der medizinischen Fa­ kultät der Prager Karls-Universität und in Medizinphilosophie an der Tschechischen Akademie der Wis­ senschaften. Die ersten Jahre sei­ ner Forschungsarbeit verbrachte er am Psychiatrischen Forschungsins­ titut in Prag. Dort leitete er ein For­ schungsprogramm, bei dem LSD und andere psychoaktive Substan­ zen klinisch zum Einsatz kamen, um ihr heuristisches und therapeu­ tisches Potenzial zu untersuchen. 1967 folgte Grof einer Einla­ dung und gelangte als klinischer Forschungsstipendiat an die JohnsHopkins-Universität in Baltimore/ USA. Nach Beendigung des zwei­ jährigen Stipendiums blieb er in den Vereinigten Staaten und führte seine Forschungen als Leiter der psychiatrischen Forschung am Maryland Psychiatric Research Center und als Assis­ tenzprofessor der Psychiatrie an der Henry-Phipps-Klinik der Johns-Hopkins-Universität fort. Von 1973 bis 1987 wohnte und lehrte er am Esalen-Institut in Big Sur, Kali­ fornien, schrieb Bücher und Fachartikel, leitete Seminare, hielt Vorträge und amtete als Vorstandsmitglied des Instituts. Zusammen mit seiner Frau Christina entwickelte er die holotrope Atemarbeit, eine neuartige Form der erfahrungsorientierten Psycho­ therapie. Stanislav Grof ist einer der Begründer und wichtigsten Theoretiker der Transper­ sonalen Psychologie. Als Gründungspräsident der International Transpersonal Asso­ ciation (ITA) organisierte er zahlreiche internationale Kongresse in den Vereinigten

364

Staaten, Indien, Australien, der Tschechoslowakei und Brasilien. Gegenwärtig ist er Professor der Psychologie am California Institute of Integral Studies (CIIS), wo er im Bereich Philosophie, Kosmologie und Bewusstsein lehrt. Grof lebt in Mili Valley, Ka­ lifornien, schreibt Bücher, leitet Weiterbildungskurse in holotroper Atemarbeit und transpersonaler Psychologie (Grof Transpersonal Training) und hält auf der ganzen Welt Vorträge und Seminare. Zu seinen Veröffentlichungen gehören zahlreiche, weltweit beachtete Bücher und an die 100 Artikel in Fachzeitschriften.

Bücher von Stanislav Grof Topographie des Unbewussten. LSD im Dienst der tiefenpsychologischen Forschung. KlettCotta, Stuttgart 1978. («Realms of the Human Unconscious. Observations from LSD Research». Viking Press, New York 1975.) Die Begegnung mit dem Tod (mit Joan Halifax). Klett-Cotta, Stuttgart 1980. («The Human Encoun­ ter with Death». E. P. Dutton, New York 1977.) LSD Psychotherapie. Stuttgart, Klett-Cotta, 1983. («LSD Psychotherapy». Hunter House, Pomona, CA, 1980.) Jenseits des Todes. An den Toren des Bewusstseins (mit Christina Grof). Kösel, München 1984. («Beyond Death. The Gates of Consciousness». Thames and Hudson, London 1980.) Alte Weisheit und modernes Denken (Hrsg.). Kösel, München 1986. («Ancient Wisdom and Mo­ dern Science». State University of New York Press, Albany, NY, 1984.) Geburt, Tod und Transzendenz. Kösel, Münchcn I985. («Beyond the Brain. Birth, Death, and Transcendence in Psychotherapy». State University of New York Press, Albany, NY, 1985.) Das Abenteuer der Selbstentdeckung. Kösel, München 1987. («The Adventure of Self-Discovery». State University of New York Press, Albany, NY, 1988.) Human Survival and Consciousness Evolution (Hg.). State University of New York Press, Al­ bany, NY, 1988. Spiritual Emergency: When Personal Transformation Becomes a Crisis (Hg. mit Christina Grof). J. P. Tarcher, Los Angeles, CA, 1989. Die stürmische Suche nach dem Selbst (mit Christina Grof). Kösel, München 1991. («The Stormy Search for the Seif». J. P. Tarcher, Los Angeles, CA, 1990.) Die Welt der Psyche (mit Hai Zina Bennctt). Köscl, München 1993. («The Holotropic Mind. The Three Levels of Human Consciousness and How They Shape Our Lives». Harpcr Publications, San Francisco, CA, 1992.) Totenbücher. München. Kösel, 1994. («Books of the Dead. Manuals for Living and Dying». London: Thames and Hudson, 1994.) Kosmos und Psyche. An den Grenzen menschlichen Bewusstseins. W. Krüger Verlag, Frankfurt a. M. 1997; Fischcr TB, Frankfurt a. M. 2000. («The Cosmic Game». State University of New York Press, Albany. NY, 1997.) The Transpersonae Vision: The Healing Potential of Nonordinary States of Consciousness. Sounds True. Boulder, CO, 1998. Tue Consciousness Revolution: A Transatlantic Dialogue (with E. Laszlo and P. Russell). Ele­ ment Books, Rockport, MA, 1999. Psychology of the Future: Lessons from Modern Consciousness Research. State University of New York Press, Albany, NY, 2000.

Kontaktadresse Für Informationen zu Workshops mit holotropen! Atmen oder für die Ausbildung zum Facilitator kon­ taktieren Sie bitte: Grof Transpersonal Training, PMB 314,20 Sunnyside Avenue, Mill Valley, CA 94941, USA Phone: 001 415 383 8779, Fax: 001 415 383 0965, Internet: www.holotropic.com, E-Mail: [email protected]

365

Weitere Bücher der Edition Astrodata Erhältlich in jeder Buchhandlung

Heidi Dohmen

Astrologische Lebensaspekte Zwischen Liebesverlangen und Konfliktbewältigung Format 17x24cm, geb., 352 Seiten, mit Transpluto-Stellungen, ISBN 3-907029-72-0

O

ft ist es nicht einfach, die wesentlichen Lebensthemen aus einem Ho­ roskop herauszulesen - mit den hier vorliegenden Deutungen aller

möglichen 66 Planetenverbindungen geht dies sehr viel besser: Zuerst wer­ den die wichtigsten Planetenpaare (die «Lebensaspekte») aus der Horo­ skopzeichnung herausgesucht, und anschliessend können die dazugehöri­ gen Texte in diesem Buch nachgeschlagen werden. In ihren psychologisch orientierten Darlegungen beschreibt die Autorin jeweils zuerst die menschlichen Grundbedürfnisse, wie sie die astrologische Symbolik aus­ drückt, und wechselt dann auf den Familienschauplatz. Den Beschreibun­ gen von möglichen negativen Folgen schliessen sich jeweils Hinweise auf Liebespotenzial und Bewusstseinsgewinn des entsprechenden Lebens­ aspektes an.

Erin Sullivan Astrologische Familiendynamik Format 17x24 cm, gebunden, 300 Seiten, 10 Horoskope, 10 Abbildungen

J

eder Mensch trägt in sich das Erbe seiner Vorfahren und ist tief verwur­ zelt in der Geschichte seiner Herkunftsfamilie. Zugleich trägt auch je­ der Mensch etwas Neues und Unbekanntes in seine Familie hinein und bringt dadurch eine Dynamik in Gang, die sowohl zum Fortbestand der

Familie als auch zur Erneuerung des familiären Musters beiträgt. Dieses Buch zeigt, wie in den Horoskopen der Familienmitglieder archetypische Strukturen und Themen von einer Generation an die nächste weiterver­ erbt werden. Ebenso werden die astrologischen Generationszyklen be­ schrieben. Gerade in der heutigen Zeit, wo viele Menschen auf der Suche nach neuen Formen des familiären Zusammenlebens sind, ist das Buch ein nützlicher Wegbegleiter: Es zeigt, dass wir uns erst dann in die grosse Fa­ milie der Menschheit eingliedern können, wenn wir die Dynamik unserer eigenen Familie erkannt und integriert haben. Bei dieser Aufgabe leistet das Horoskop unschätzbare Hilfe.

Judy Hall

Déjà vu? Wie WIR KARMISCHE VERBINDUNGEN ERKENNEN Format 17x24 cm, gebunden, 224 Seiten

I

mmer mehr Menschen interessieren sich für die Reinkarnation, die Leh­

re von der Wiedergeburt. Viele hoffen, den Sinn ihres jetzigen Lebens ergründen zu können, wenn sie etwas über ihre früheren Leben wissen. Entsprechen jedoch die Erinnerungen, die in Rückführungs-Sitzungen auftauchen, tatsächlich der Wahrheit? - Judy Hall, die mit Hunderten von Menschen Rückführungen gemacht hat, zeigt in diesem Buch, dass es in je­ dem Fall sinnvoll ist, sich mit der Geschichte der eigenen Seele zu beschäf­ tigen, ob es sich bei den Erinnerungen nun um «wahre», symbolische oder allegorische Bilder handelt. Sie stellt anhand vieler Rückführungsproto­ kolle dar, dass Erinnerungen an frühere Leben durchaus wichtige Hinwei­ se für unser jetziges Leben enthalten und zur Heilung von psychischen und physischen Erkrankungen beitragen können. J. Claude Weiss & Verena Bachmann

Pluto - Eros, Dämon und Transformation Dritte, aktualisierte und erweiterte Auflage Format 17 x 24cm, geb., 312 Seiten, mit Horoskopen und Abbildungen

D

ie Stirb-und-Werde-Prozesse, die Pluto aktiviert, konfrontieren uns mit vielen Tabus, insbesondere mit Themen wie Macht und Sexua­

lität. Im ersten Teil dieses Buches wird Plutos Bezug zur Mythologie, zum kollektiven Unbewussten und zur Geschichte dargestellt, im zweiten, praktischen Teil erfahren die Leser die individuellen, oft schicksalsprägenden Entsprechungen. Die aktualisierte dritte Auflage dieses astrologischen Standardwerks ist ergänzt mit einer Darlegung der markanten Gescheh­ nisse von Pluto im Schützen (1995-2008) und der dramatischen Zuspitzun­ gen der Saturn/Pluto-Oppositioncn im Herbst 2001. Anhand früherer Er­ eignisse werden zudem die Pluto-Transite in den auf diesen Zyklus folgen­ den Zeichen Steinbock, Wassermann und Fische astrologisch analysiert und mögliche Szenarien für die Zukunft entworfen - somit wird Pluto in der neusten Auflage in allen zwölf Tierkreiszeichen mundanastrologisch (in Bezug auf das Weltgeschehen) gedeutet.

Die führende Astrologie-Fachzeitschrift Astrologie Heute erscheint alle zwei Monate und ist durchgehend vierfarbig. Das Heft enthält im Mittelteil ein Maga­ zin. das auf anschauliche Weise die Grundlagen der Astrologie vermittelt. Im Ka­ lender macht Verena Bachmann eine astrologische Vorschau auf die nachfolgen­ den zwei Monate. In der Rubrik Astrologie im Weltgeschehen werden anhand der aktuellen Konstellationen die wichtigen politischen und gesellschaftlichen Ereig­ nisse von Claude Weiss astrologisch analysiert und interpretiert. In jeder Nummer sind die Horoskope von berühmten Persönlichkeiten abgedruckt. Weitere Rubri­ ken: Interview. Praxis (astrologische Deutungs- und Arbeitsmethodik), Baukasten (astrologisches Grundwissen), Psychologie. Bücherschau. Trends. Reflexe/Refle­ xionen. Abonnement oder Gratis-Probenummer bei: Astrologie Heute, Postfach, CH-8047 Zürich Telefon: (0041) (0) 43 343 33 00; Fax: (0041) (0) 43 343 33 01 E-Mail: [email protected] Internet: www.astrologieheute.ch

In diesem Buch fasst der Psychiater und Bewusstseinsforscher Stanislav Grof sei­ ne bahnbrechenden Erkenntnisse erst­ mals zu einer Gesamtschau zusammen. Grofs jahrzehntelange Forschung und die klini­ sche Arbeit gelten der systematischen Untersu­ chung des therapeutischen, transformativen und evolutionären Potenzials von aussergewöhnli­ chen Bewusstseinszuständen, die durch psyche­ delische Substanzen, die holotrope Atemtherapie sowie psychospirituelle Krisen hervorgerufen werden. Um die Resultate dieser fundamentalen therapeutischen Prozesse besser steuern zu kön­ nen, bedient sich Grof seit einigen Jah­ ren der Transit-Astrologie. Seine diesbe­ züglichen Erfahrungen stellt er hier erst­ mals anhand praktischer Beispiele vor.

S t a n i s l a v G r o f ist Arzt und Psychiater mit über vierzig Jahren Erfahrung in der Erforschung ausser­ gewöhnlicher Bewusstseinszustände und einer der Begründer und wichtigsten Theoretiker der Trans­ personalen der

Psychologie.

International

Als

Gründungspräsident

Transpersonal

Association

(ITA)

organisierte er zahlreiche internationale Kongresse in den Verei­ nigten Staaten. Indien, Australien, der Tschechoslowakei und Bra­ silien. Gegenwärtig ist er Professor der Psychologie am California Institute of Integral Studies (CIIS), wo er im Bereich Philosophie, Kosmologie und Bewusstsein lehrt. Grof lebt in Mill Valley, Kali­ fornien, schreibt Bücher, leitet Weiterbildungskurse in holotroper Atemarbeit und Transpersonaler Psychologie (Grof Transpersonal Training) und hält auf der ganzen Welt Vorträge und Seminare.

ISBN 3-907029-76-3