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German Pages 210 Year 2020
Heinrich Wilhelm Schäfer Die protestantischen »Sekten« und der Geist des (Anti-)Imperialismus
Religionswissenschaft | Band 19
Für Leo – in zwanzig Jahren – und für Kirstin – die dabei war
Heinrich Wilhelm Schäfer (Dr. phil. [rer. soc., Dr. theol.] habil.) ist Professor für Religionssoziologie und evangelische Theologie an der Universität Bielefeld. Seit 1980 arbeitete er in verschiedenen Phasen immer wieder in unterschiedlichsten lateinamerikanischen Ländern und den USA. Er ist Mitglied des Center for Interamerican Studies in Bielefeld sowie Mitgründer des Center for the Interdisciplinary Research on Religion and Society (CIRRuS).
Heinrich Wilhelm Schäfer
Die protestantischen »Sekten« und der Geist des (Anti-)Imperialismus Religiöse Verflechtungen in den Amerikas
Bundesministerium für Bildung und Forschung
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Inhalt
Vorwort ............................................................................ 9 1
Einleitung..................................................................... 11
2 2.1 2.2 2.3
Panama 1916 und der Vorlauf ................................................ Panama 1916 ................................................................. Puritanischer Perfektionismus: Gesetz, Expansion und »Freiheit«.............. Perfektionierung der Puritaner: Emotion, Charisma und Macht ................
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3 Verflechtung religiöser Dispositionen ....................................... 53 3.1 Bedingungen der religiösen Verflechtung ...................................... 53 3.2 Religiöse Dispositionen: Transformation durch Verflechtung ................... 64 4 Die soziale Frage »von unten« .............................................. 89 4.1 Brasilien: Gesellschaft und Kirche ............................................. 90 4.2 Cochabamba: Kirche und Gesellschaft......................................... 94 5 5.1 5.2 5.3
Militärisch-spiritueller Krieg ................................................. 99 Spiritual Warfare ............................................................. 99 Guatemala: die Stadt auf dem Berge .......................................... 101 USA: ideologisches Schlachtfeld .............................................. 117
6 6.1 6.2 6.3
Neues Millennium: Prosperity und Migration ................................ 137 Neoliberalismus und Prosperity ............................................. 137 Kleiner Grenzverkehr ......................................................... 141 Gelobtes Land? ............................................................... 151
7 Panama 2016 und der gesellschaftliche Kontext ............................ 169 7.1 Missverstehen .............................................................. 169 7.2 Kolonisierung und Refeudalisierung ........................................... 172 7.3 Panama 2016 ................................................................ 180 Nachwort: Verflechtungsdynamiken .............................................. 191 Bibliografie....................................................................... 195
Dann allerdings [unter dem siegreichen Kapitalismus] könnte für die »letzten Menschen« dieser Kulturentwicklung das Wort zur Wahrheit werden: »Fachmenschen ohne Geist, Genußmenschen ohne Herz: dies Nichts bildet sich ein, eine nie vorher erreichte Stufe des Menschentums erstiegen zu haben.« (Max Weber 1981, 204)
Vorwort
Das vorliegende Buch geht auf die Kooperation in den interamerikanischen Studien, dem Center for InterAmerican Studies (CIAS), an der Universität Bielefeld zurück. Zum Abschluss eines interdisziplinären Forschungsprojektes des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) mit dem Thema »Die Amerikas als Verflechtungsraum« wurde eine Reihe von Essays aus verschiedenen fachlichen Perspektiven zu dieser Thematik in Spanisch und Englisch aufgelegt. Das vorliegende Buch ist die deutsche Fassung des Essays aus der Perspektive der Religionssoziologie. Es geht also um Verflechtungen religiöser Praxis zwischen Lateinamerika und den USA. Da diese in vorwiegendem Maße durch Protestantismus erzeugt worden sind und werden, geht es vor allem um Protestanten; und da das Verhältnis der beiden Subkontinente von Expansion kapitalistischer Wirtschaft und Gesellschaft gekennzeichnet ist, sollte der Kontext zur Interpretation der Verflechtungen entsprechend umrissen werden. Wo es um Kapitalismus und Protestantismus geht, ist auch Max Weber nicht weit. Ich werde seine Studie über die USA folglich als Sprungbrett nehmen, um in eine Geschichte der religiösen Verflechtungen einzutauchen, die zunächst von der Dynamik der US-amerikanischen Mission geprägt ist und dann in zunehmendem Maße von der Dynamik der lateinamerikanischen Pfingstbewegung und den Einwanderern in die USA bestimmt wird. Wer nun eine trockene historische Abhandlung erwartet, sei gewarnt. Nicht nur das Konzept der Essay-Reihe ist auf polemische Zuspitzung angelegt. Auch ich als Autor, so gestehe ich, bin nach fast 40 Jahren Beschäftigung mit religiöser Praxis in Lateinamerika und den USA keineswegs frei von Erfahrungen, die sich kaum anders als in polemischer Zuspitzung zu Papier
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bringen lassen.1 In der Einleitung wird allerdings zunächst Theorie diskutiert. Wer gleich in die Geschichte selbst eintauchen möchte, kann die Lektüre auch direkt bei Panama 1916 beginnen. Für Initiative und Ansporn möchte ich an dieser Stelle den KollegInnen aus den interamerikanischen Studien danken, allen vorweg Olaf Kaltmeier und Wilfried Raussert; dazu auch dem Rektorat der Universität für vielerlei Unterstützung. Vor allem danke ich – wie schon öfters – meinem Mitarbeiter Sebastian Schlerka für seine ganz ausgezeichnete, zuverlässige und humorvolle Unterstützung in allen technischen Angelegenheiten. Bielefeld, im Januar 2020
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Dieses Buch dokumentiert keine Interviews, Gesprächspartner und andere Quellen in einem eigenen Anhang, sondern nur in den Fußnoten. Es handelt sich eben um einen Essay, der bereits mit Fußnoten und Bibliographie stark beladen ist. Eine Studie über Protestantismus und Politik in den USA und in Lateinamerika mit dem Charakter eines sachlichen Berichts können interessierte LeserInnen hier finden: Schäfer 2019. Längere Zitate aus dem Englischen und Spanischen sind in der Regel vom Autor selbst übersetzt.
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Einleitung
Webers Reise: Max Weber hat bei seiner Reise 1904 nach St. Louis den von ihm herausgearbeiteten Unterschied zwischen »Kirche« und »Sekte« praktisch und wesentlich deutlicher als in Deutschland kennenlernen können. Auf der einen Seite die stark institutionalisierten europäischen Katholiken und Lutheraner: Heilsanstalten bzw. Gnadenanstalten. Auf der anderen Seite – neben den behäbigen deutschen Lutheranern der Missouri Synod in St. Louis – die auf freiwilliger Mitgliedschaft beruhenden »Sekten«1 von Baptisten, Methodisten und Anderen, die in den USA die bei weitem führende Rolle innehatten. Man könnte auch von »Freikirchen« sprechen in dem Sinne, dass sie von staatlicher Verwaltung frei waren (und sind). Weber hat in seinem Aufsatz »Die protestantischen Sekten und der Geist des Kapitalismus« (Weber 1988a) einige Beobachtungen dargelegt, die auch für die interamerikanische Perspektive von Interesse sind. Der Unterschied zwischen der »Heilsanstalt« mit quasi obligatorischer Mitgliedschaft und der »bruderschaftlichen Gemeinschaft« der Gleichgesinnten ist auch von Bedeutung, wenn man über die religiösen Verflechtungen zwischen den USA und Lateinamerika nachdenkt. Für das Vertrauen durch andere Menschen oder die öffentliche Anerkennung bspw. als Politiker oder Geschäftsmann ist die Mitgliedschaft in einer Anstalt, in die man hineingeboren wird, nur von geringer Bedeutung. Die Mitgliedschaft in einer Gemeinschaft auf freiwilliger Basis, die noch dazu Konversion und einen gewissen Grad an Corpsgeist erfordert, ist hingegen signifikant. Im Kreise der Brüder und Schwestern begründet sie etwa Kreditwürdigkeit. Und erstreckt sich die Gemeinschaft der Gleichgesinnten erst einmal über einen ansehnlichen Bevölkerungsanteil von, sagen wir, 25 %, kann die religiöse Kreditwürdigkeit in politisches Kapital konvertiert werden.
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Wir verwenden den Begriff der Sekte hier im strikt soziologischen Sinne. Eine theologische Wertung ist damit nicht verbunden.
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Weber berichtet von einer baptistischen Gruppentaufe eines Verwandten, der ihn auf einen jungen Mann aufmerksam macht und dessen Taufe voraussagt, der sich der Mann auch tatsächlich unterzieht. Woher der Verwandte das wisse…? »Weil er in M. eine Bank aufmachen will.« Da er nun getauft sei, bekomme er in jener Stadt »die Kundschaft der ganzen Umgegend und wird alles niederkonkurrieren« (Weber 1988a, 210). Die Tatsache seiner Mitgliedschaft in der baptistischen Kirche werde in M. als Erweis seiner ethischen Qualitäten aufgefasst, was ihm die Zustimmung und das Vertrauen der dortigen Bevölkerung garantiere. Bolsonaro: Jair Bolsonaro hat sicher nicht Weber gelesen, vermutlich aber von einem seiner Freunde unter der religiösen Rechten – vielleicht Silas Malafaia – den Hinweis auf diesen Effekt bekommen. Brasilien hat einen protestantischen Bevölkerungsanteil von ca. 30 %, und Politiker der religiösen Rechten erhoffen sich ein korporatistisches voto evangélico: »Bruder stimmt für Bruder.« So hat sich also der Rechtsaußen-Katholik Bolsonaro 2016 von Pastor Everaldo – ein bekannter pentekostaler Rechter – im Jordan taufen lassen. Das ist in den Medien der religiösen Rechten verbreitet worden und in den Köpfen des Publikums hängengeblieben. Da nun aber die Lage in Brasilien eine andere ist als in den USA, die katholische Hierarchie und die katholische Rechte immer noch einen starken Einfluss ausüben, hat Bolsonaro immer wieder versichert, er sei noch katholisch – auch nach der Taufe. Das flimmerte selbstverständlich nicht über die Monitore der rechten protestantischen Medien, sondern erschien eher auf der zweiten oder dritten Seite der säkularen Presse. Abgesehen davon ist auch die theologische Auffassung der Wiedertaufe hinter dieser Aktion und dem folgenden Teildementi höchst interessant, ebenso wie die ausbleibende Reaktion der katholischen Hierarchie. Im ausgehenden Mittelalter hat man Wiedertäufer in Säcke gesteckt und ertränkt. Das wäre heute nicht mehr adäquat. Aber Exkommunikation wäre wohl angemessen. Wie dem auch sei: Die Taufaktion dürfte Bolsonaro Stimmen von Mitgliedern evangelikaler, pfingstlicher und neopfingstlicher Kirchen beschert haben. Die Unterstützung der Bancada Evangélica, des fraktionsübergreifenden Lagers der konservativen Protestanten (und katholischen Charismatiker) im Kongress und im Senat, hatte er jedenfalls. Bruch der katholischen Hegemonie: Kurz, durch die Ausbreitung der protestantischen Kirchen aus den USA in Lateinamerika wird die katholische Hegemonie auf dem Kontinent aufgebrochen, was verschiedene Effekte zeitigt. Zunächst entsteht Konkurrenz und damit überhaupt erst ein religiöses
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Feld. Die katholische Kirche, die ohnehin schon strukturell unter Priestermangel und – je nach Land unterschiedlich – an den Folgen von Laizismus leidet, hat nun noch einen potenten Konkurrenten um Mitglieder bekommen. Ein weiterer Effekt ist der, dass protestantische Akteure mittlerweile in der Politik aktiv sind, entweder als einzelne Kandidaten oder als protestantische Parteien. Hatten sich – sehr grob gesagt – im politischen Feld mit Parteien der alten Oligarchien, Parteien der modernisierenden Liberalen und der organisierten Linken zuvor drei Pole herausgebildet, so treten jetzt neue Akteure auf, die vor allem an korporatistischen Eigeninteressen orientiert sind und heute eher nach rechts – zur Macht! – tendieren. Das bringt vor allem die lateinamerikanische Linke unter Druck. Migranten in den USA: Umgekehrt bringen die teils katholischen, teils pfingstlichen Migranten aus Lateinamerika in den USA das dortige religiöse Feld in Bewegung, was sich mittlerweile auch auf die Politik auswirkt. Im Jahr 2016 wurde Donald Trump noch mit 81 % der Stimmen der weißen Evangelikalen ins Amt gewählt. Alle Statistiken deuten jedoch darauf hin, dass dies in Zukunft nicht mehr reichen wird, da sich das Gewicht der weißen Evangelikalen verringert. Mit Blick auf die Wahlen 2024 gibt es Berechnungen (Wong 2018, 96), dass die Republikaner selbst mit 100 % der Stimmen von weißen Evangelikalen mindestens 3 % unter der Mehrheit lägen. Diese Veränderung in der Relation leitet sich nicht zuletzt davon ab, dass die wahlberechtigten Latino-Migranten – und die nicht wahlberechtigten Latinos wahrscheinlich noch stärker – positiv eingestellt sind zum Big Government, zur staatlichen Gesundheitsversorgung, zur stärkeren Besteuerung der Reichen sowie zur Klimapolitik. Außerdem sind die schwarzen Kirchen noch progressiver als die Latinos, was allerdings nichts mit interamerikanischen Verflechtungen zu tun hat, sondern mit der für die afroamerikanische Bevölkerung sich überschneidenden Diskriminierung in ethnischer2 und sozialer Hinsicht. Weber: Klassen, Kapitalismus: Zurück zu Weber. Ihm geht es um den Zusammenhang zwischen den protestantischen »Sekten« und der Entwicklung des Kapitalismus sowie der Demokratie. So sieht er beispielsweise Zu-
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Wir werden von »Ethnie« anstatt, wie in den USA üblich, von »Rasse« sprechen, da letzteres Konzept nicht wissenschaftliche Voraussetzung, sondern Effekt von Rassismus ist. Siehe Deutsche Zoologische Gesellschaft: Jenaer Erklärung, September 2019 (https://www.uni-jena.de/unijenamedia/Universit%C3%A4t/Abteilung%20Hochschulkommunikation/Presse/Jenaer%20Erkl%C3%A4rung/Jenaer_Erklaerung.pdf, abgerufen am 22.09.2019)
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sammenhänge zwischen der Organisation der sozialen, kulturellen, ethnischen und religiösen Unterschiede in freiwilligen Clubs, Vereinen oder Sekten und der Entwicklung von demokratischen Strukturen (Weber 1988a, 215). Er macht allerdings auch darauf aufmerksam, dass unterschiedliche Klassenzugehörigkeit durchaus unterschiedliche Haltungen gegenüber Religion und Verwendungen von Religion implizieren – ein Argument, das er im Kapitel »Stände, Klassen und Religion« in Wirtschaft und Gesellschaft (Weber 1972, 285ff.) im Detail entwickelt. Multimillionäre etwa brauchen keine Religion für ihr Selbstverständnis und den sozialen Aufstieg (Weber 1988a, 214) – sie benutzen sie vielmehr, wird man im Blick auf die heutigen Amerikas sagen müssen. Webers Blick auf die ausdifferenzierten gesellschaftlichen Klassen verbietet auch eine einseitige modernisierungstheoretische Lesart seines Ansatzes. Für Weber ist der Kapitalismus nicht das Paradies am Ende sozialer Evolution. Es empfiehlt sich, die letzten Seiten der für die Modernisierungsthese gern verwendeten Protestantismus-Schrift (Weber 1981, 203ff.) zu lesen. Der industrielle Kapitalismus bestimmt das Leben aller Einzelnen, »die in dieses Triebwerk hineingeboren werden (…) mit überwältigendem Zwange« und wird es wohl bestimmen »bis der letzte Zentner fossilen Brennstoffs verglüht ist. Nur wie ein ›dünner Mantel, den man jederzeit abwerfen könnte‹, sollte (…) die Sorge um die äußeren Güter um die Schultern seiner Heiligen liegen. Aber aus dem Mantel ließ das Verhängnis ein stahlhartes Gehäuse werden.« Der siegreiche Kapitalismus macht den Menschen zum »Fachmenschen ohne Geist und Genussmenschen ohne Herz«, der sich überdies noch einbildet, »eine nie vorher erreichte Stufe des Menschentums erstiegen zu haben.« – Womit wir bei der Problematik des American exceptionalism wären. Puritanismus: Dass der puritanische Protestantismus in der Neuen Welt und mit ihm auch die United States als Staat etwas ganz Besonderes seien, ist die Geburtserzählung der Nation, wie sie seit den puritanischen Kolonien gepflegt wird. Das puritanische Projekt auf dem neuen Kontinent – bewohnt zwar von »Indianern«, aber gerade so menschenleer – ist der neue Zion, die Stadt auf dem Berge, von der das Heil für die gesamte Menschheit ausgeht. Dieser Ausnahmestatus verpflichtet das Volk der Siedler, die Grenzen der geheiligten Gemeinschaft immer weiter auszudehnen, wie später auch Madison in seiner Interpretation des neuen Staatswesens festhielt: es kann sinnvoll nur in einer »ausgedehnten Sphäre« operieren, die immer weiter ausgedehnt werden muss. Ganz im Gegensatz zu vielen Unabhängigkeitskämpfern wendet sich Madison gegen Montesquieus Grundsatz, dass »Selbstbestimmung nur
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in einem kleinen Staat existieren könne. Madison vertrat kühn das Gegenteil: daß imperiale Großmacht für Freiheit unabdingbar sei« (Williams 1984, 40). Damit wandelt der aufklärerische, säkulare Verfassungsvater das religiöse Missions- und Zivilisationsprojekt der Puritaner in eine expansive säkulare Programmatik um. In seiner Präsidentschaft verfolgt er entsprechende Ziele mit dem Kauf von Louisiana und dem Britisch-Amerikanischen Krieg von 1812. Unter seinem Nachfolger James Monroe wird der Expansionismus bekanntlich durch die Monroe-Doktrin auf die gesamte westliche Hemisphäre ausgedehnt und von Präsident Polk zur Legitimation des Krieges gegen Mexiko verwendet. »Der Welt Gesetz und Freiheit geben«, darum geht es (Williams 1984). Einflusssphären: Im Blick auf unsere Fragestellung ist von Bedeutung, dass Gesetz und Freiheit in den USA einen stark religiösen Unterton haben und dass es im Zusammenhang mit der Ausdehnung der Einflusssphären eine Kollusion zwischen dem religiösen Missionseifer der protestantischen Kirchen, den Interessen der Handelshäuser und letztlich nahezu der gesamten Wirtschaft sowie der politisch-militärischen Akteure gibt. Nur weil das so ist, kann man aber nicht einfach davon ausgehen, dass es hier eine konzertierte Aktion zwischen Wirtschaft bzw. Militär und Missionaren gegeben habe. Auf der anderen Seite kann man Fälle enger Kooperation von Missionaren etwa mit Geheimdiensten jedoch nicht einfach ausschließen. Unterschiedliche soziale Operationen und Prozesse nehmen nicht nur deshalb ähnliche Verläufe, weil planende Individuen sich miteinander verabreden – was selbstverständlich auch der Fall sein kann. Die Prozesse verlaufen meist deshalb ähnlich bzw. in die gleiche Richtung, weil die Akteure homologen praktischen Logiken folgen, die sie aufgrund einer ähnlichen Sozialisation inkorporiert haben. Somit stellen sich auch gewisse Interessenidentitäten ein und führen zu ähnlichen – nicht aber gleichen – Ergebnissen. Die territoriale Ausdehnung der Einflusssphären verläuft in der praktischen Logik dieser verschiedenen Akteure gemäß einer je eigenen Gesetzmäßigkeit, gemäß spezifischer Legitimationen und Motivationen, besonderer Semantiken und je besonderer Interessen – aber in derselben Richtung: nachdem die Siedlungsgrenze, die frontier, im Westen geschlossen ist, nach Süden. Konservative und Liberale: Im Süden existiert aber nicht nichts. Als sich in den 1830er Jahren, kurz nach der Proklamation der Monroe-Doktrin, die ersten organisierten Protestanten aus dem Norden auf den Weg nach Lateinamerika machen, befinden sich die dortigen Staaten gerade im Unabhängigkeitskampf gegen die spanische Krone bzw. gerade im Stadium kurz nach
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der Erlangung der Unabhängigkeit. Von besonderem Belang ist, dass der Unabhängigkeitskampf sich als Konflikt zwischen konservativen und liberalen Eliten fortsetzt; die einen kolonialistisch, im Hacienda-System verankert und im Bund mit der katholischen Hierarchie, die anderen antikolonialistisch, republikanisch und ohne religiöse Repräsentation. Es liegt auf der Hand, dass Letztere vor allem im nördlichen Lateinamerika sich grosso modo eher an den USA orientierten als an Europa und damit zu »natürlichen« Partnern der ersten US-amerikanischen Missionare wurden. (In Argentinien, Uruguay und Brasilien hat Frankreich besonderen Einfluss.) Disposition für Hierarchie: Allerdings gilt es, die katholische Kirche in Lateinamerika nicht zu unterschätzen. Ein vortridentinischer, ritualistischer und magischer Katholizismus hat den Subkontinent bereits fast 300 Jahre geprägt, als es zu den antikolonialen Aufständen kommt. Monarchie – nicht puritanische Kolonie – und die Strukturen der Hacienda-Wirtschaft haben die Gesellschaften mittels undurchdringlicher Hierarchien geprägt; zugleich aber auch korporatistische Verantwortungszusammenhänge und Plausibilität für einen starken Staat etabliert. Diese Zusammenhänge sind religiös durch die katholische Kirche abgesichert. Vor allem aber hat diese gesellschaftliche Struktur die Habitūs der meisten Lateinamerikaner geprägt. Diese überdauern raschen strukturellen Wandel und tragen dazu bei, die neuen Strukturen im Modus des Big Government als starke Staaten, teils Diktaturen unter Herrschaft der liberalen Eliten, zu etablieren. Auch im gesellschaftlichen Leben wird die Orientierung an Hierarchien und starken korporatistischen Strukturen in Familie, Wirtschaft, Religion und Politik fortgeschrieben; die Zentralität von groß-familiären Beziehungen anstelle von Individualismus sowohl in der Oberschicht wie in der Unterschicht; und Undurchlässigkeit der Klassengrenzen für sozialen Aufstieg. Im Blick auf die Migration von Lateinamerikanern in die USA haben wir bereits festgestellt, dass die genannten Dispositionen die politischen Optionen der Migranten prägen und damit politischen Einfluss ausüben – sehr zum Unbill der weißen Evangelikalen in der religiösen Rechten. Die Dispositionen prägen allerdings auch den Protestantismus in Lateinamerika. In den meisten Fällen – außer in Brasilien – handelt es sich zwar letzten Endes um Missionsprotestantismus aus den USA. Aber dessen Amalgamierung mit dem lateinamerikanischen Alltag hat vielfach neue Praktiken und sogar Formationen von religiösen Akteuren hervorgebracht, die neue Richtungen einschlagen und ihrerseits den Protestantismus in den USA beeinflussen. In diesem Zusammenhang sei hier nur der Einfluss von sozial engagierten Latino-Evangelikalen oder auch der Theolo-
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gie der Befreiung auf die Entstehung einer evangelikalen Linken in den USA während der 1970er Jahre genannt. Kurz, die religiösen Beziehungen zwischen den USA und Lateinamerika zeichnen sich im Laufe der Zeit durch eine starke reziproke Verflechtung aus. Man ist sogar fast geneigt, symmetrische Austauschverhältnisse anzunehmen. Dieser erste Eindruck sollte jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Verflechtungsbeziehungen noch immer asymmetrisch sind. Literatur 1: In der Literatur über interamerikanische religiöse Beziehungen wird weniger Verflechtung als vielmehr einseitige Einflussnahme von Norden nach Süden und Migration in der anderen Richtung thematisiert. Ersteres betrifft vor allem die protestantische Mission in Lateinamerika. Die Interpretation der protestantischen Präsenz in Lateinamerika ist selbst ein Feld von Kämpfen um die Deutungshoheit und die Beeinflussung von Religionspolitik. Es finden sich, grob gesagt, vier Interpretationen.3 Die erste ist klar polemisch. Schon in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts werden öffentliche Stellungnahmen von katholischen Würdenträgern bekannt, in denen Protestanten als Agenten des »Yankee-Neokolonialismus« und des »Imperialismus«, als »Vaterlandsverräter« sowie als Förderer von Atheismus, Freimaurerei, Spiritismus und Kommunismus bezeichnet wurden. Fast hellsichtig – allerdings lange vor dem Phänomen – erscheint aus heutiger Sicht die Erklärung des katholischen Missionswissenschaftlers Josef Peters (1927), dass der Protestantismus in Lateinamerika einen »utilitaristisch umgebogenen puritanischen Geist« verbreite (vgl. Prien 1978, 838). Dieses Urteil dürfte erst 50 bis 60 Jahre später wirklich zutreffen. Fortgesetzt wird diese Linie der Kritik in den 1980er Jahren von Vertretern der Theologie der Befreiung und der politischen Linken unter dem Druck von Militärregimen und Wahrnehmung protestantischer Kollaboration mit Diktaturen. »Die Sekten« gelten weithin als Maulwürfe der CIA. Das ist zu pauschal; aber vollends von der Hand weisen kann man das Urteil nicht. Denn Zusammenarbeit von Missionaren und US-Geheimdiensten hat es in der Tat immer wieder gegeben, wie das Frank Church Committee des US-Senats (1975), die Iran-Contra-Affäre und Militär-Missionars-Kooperationen in Guatemala in den 1980er Jahren gezeigt haben. Die zweite Interpretation ist sozialwissenschaftlich und wird vor allem von den Arbeiten des Deutsch-Brasilianers Emilio Willems (1967) in Brasilien 3
Vgl. Escobar 1994, von dessen Darstellung wir allerdings verschiedentlich abweichen. Vgl. ferner B. Smith 1998, 3f.; Prien 1978, 837ff.
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und Chile sowie des Schweizers Christian Lalive d’Epinay (1969; 1975) in Chile während der 1960er und frühen 1970er repräsentiert. Diese Autoren studieren protestantische Praxis soziologisch, ausgehend von den Gemeindegliedern im Rahmen der Industrialisierungsprozesse. Die Bekehrung zum Protestantismus erfolgt ihnen zufolge als Nebenprodukt der Veränderungen für die arme Bevölkerung, vor allem der Migration und des Verlustes traditioneller Lebensformen und Loyalitäten (z.B. die Hacienda). Diese Verluste werden in den Gemeinden kompensiert. Durch diese Kompensation funktioniere der Protestantismus als Agent der Modernisierung. Eine besondere Rolle komme der ekstatischen Pfingstbewegung zu, die eine hoch integrative Gemeindepraxis mit charismatischer Legitimation durch direkte »Offenbarungen« für Analphabeten verbindet und so symbolisch gegen das System protestiert. Der Befund des Protests ist Resultat der Untersuchung von Mikroprozessen wie der Glossolalie und steht im Wiederspruch zur Affirmation der Modernisierungsdynamik. Die dritte Interpretationslinie folgt der Dependenztheorie. Sie geht, so Escobar (1994, 122ff.), zurück auf anti-imperialistisches Denken vom Typ des peruanischen Marxisten José Carlos Mariátegui, das bestätigt wurde durch eine ethnologische Analyse indigener Adventisten von Luis Valcárcel (1972). Die gegenwärtige Interpretation des Protestantismus in dependenztheoretischer Weise ist vor allem von dem argentinischen methodistischen Theologen José Míguez Bonino (1995) geprägt. Der US-amerikanische Protestantismus ist in dieser Interpretationslinie vor allem ein Agent US-amerikanischer Kultur in Lateinamerika. Insbesondere in geschichtlicher Perspektive sieht Míguez den historischen (bzw. in den USA »Mainline«) Protestantismus als eine Option der liberalen Eliten im 19. Jahrhundert. Die Allianz schreibt sich in der Geschichte fort durch das Kolportieren eines positiven Bildes der USA in Lateinamerika. Die Pfingstbewegung wird aus dieser Perspektive als ein Schritt zur Indigenisierung des Protestantismus in Lateinamerika gewürdigt, allerdings mit dem Schönheitsfehler, dass sie sozial entfremdend wirkt. Das politische Engagement des historischen Protestantismus – bzw. seiner Reste – heute gibt kaum Anlass zu einer solchen Beurteilung. Im Blick auf die Pfingstbewegung sind wichtige Differenzierungen vorzunehmen. So warten manche Pfingstler auf das Jenseits, andere suchen das Gesetz Gottes anzuwenden und wieder andere lehren (erfolgreich!) Management-Strategien zum Erlangen von Reichtum und politischer Macht. In einer vierten Interpretationslinie wird versucht, ganz im Sinne des Selbstverständnisses der evangelikalen Missionstradition den Protestantis-
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mus und insbesondere »die« Pfingstbewegung als Lösung aller zivilisatorischen Probleme Lateinamerikas zu präsentieren.4 David Martin nimmt im Kontext der Auseinandersetzungen um die politische Rolle der Pfingstbewegung in Lateinamerika während der Ära Ronald Reagan eine eindeutig parteiische Position für die US-Außenpolitik ein. Das führt ihn zu einem positiven Vorurteil gegenüber »der« Pfingstbewegung, das ungefiltert auf seine Ergebnisse durchschlägt. Er appliziert eine auf triviale Modernisierungstheorie eingedampfte »Weber-These«, um den lateinamerikanischen Protestantismus einem modernisierungstheoretischen Reduktionismus zu unterwerfen. Da wir auf Martins ideologische Arbeit noch zu sprechen kommen, konzentrieren wir uns hier auf die Verwendung dieser »These« im Allgemeinen, die auch in Arbeiten anderer Autoren (z.B. Sherman 1997) zu finden ist. Die »Weber-These« soll sich dementsprechend in Lateinamerika dahingehend beweisen lassen, dass die Protestanten dort generell ein soziales »betterment« (Martin) erfahren durch die von ihnen dank der »methodistischen« Tradition betriebene Askese. Außerdem heißt es, der Protestantismus und nicht zuletzt die Pfingstbewegung begünstigten die Demokratie. Die These der sozialen Verbesserung stimmt in gewissen Grenzen. Aber sie ist nicht auf protestantische Gläubige beschränkt. Auch überzeugte Gläubige im orthodoxen Katholizismus der Mittelschicht oder in der charismatischen Bewegung üben in diesem Sinne Askese: sie rauchen nicht, sie trinken nicht oder selten und moderat, sie gehen nicht ins Bordell, sie verspielen ihr Geld nicht… Wenn über die »Weber-These« eine Differenz zwischen lateinamerikanischen (oder US-amerikanischen) Protestanten und Katholiken grosso modo aufgemacht werden soll, ist sie nicht nur trivial, sondern falsch. Es kommt nicht auf die Konfession an, sondern auf das Vorhandensein starker religiöser Überzeugungen im Kontext einer ethischen Religiosität – gleich, ob sie an der katholischen Soziallehre oder am Reglement der Asambleas de Dios orientiert ist. Zudem gilt noch eine weitere Einschränkung. Die Religiosität der ProsperityPropheten lenkt den Blick auf monetären Reichtum, und zwar als magisches Resultat von hohen Spenden an die religiösen Organisationen und vom Glauben an das Wunder der 100-fachen monetären Vergütung durch den Herrn; und in der oberen Mittelschicht wird mit der Legitimation der Prosperität
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Escobar rechnet Stoll (1990) und Martin (1990), beide zu einer gemeinsamen Interpretationslinie. Ich sehe nicht, wie die ethnologische, nach allen Seiten kritische und weitgehend theoriefreie Arbeit von Stoll mit dem vorurteilsgeleiteten Text von Martin zusammengehen sollte.
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ein besonderes feeling für den Genuss im einst asketischen Protestantismus beheimatet: SUVs, Fernreisen mit der Familie, Ferienhäuser, teure Kleidung usw. Und was die Demokratie betrifft: Ein Blick auf die Strategien der protestantischen Rechten in Lateinamerika und in den USA – insbesondere der an Management-Logik orientierten Neopentekostalen – zeigt vielmehr, dass sie demokratische Prozesse unterlaufen und mittelfristig eine Refeudalisierung (Kaltmeier 2019) legitimieren und vorantreiben. Man wird schwerlich behaupten wollen, dass die Unterstützung der brasilianischen Militärdiktatur und die Wahlhilfe der Bancada Evangélica für Bolsonaro oder auch die Kooperation mit der Diktatur Rios Montts in Guatemala Akte der Demokratieförderung gewesen seien. Von einer programmatisch demokratischen Haltung sprechen kann man allenfalls im Blick auf den historischen Protestantismus im 19. Jahrhundert und auf einige der entsprechenden Kirchen heute, wie Methodisten, Lutheraner oder Presbyterianer. Auch kann man die mittlerweile abebbenden Sympathien evangelikaler Christen für linksorientierte Parteien wie APRA (Peru), PT (Brasilien) und PRD oder PRI (Mexiko) erwähnen, die allerdings vor allem wegen deren Eintreten für Religionsfreiheit zustande kam. Von den historischen und den genannten evangelikalen Akteuren gehören heute einige der ökumenischen Bewegung an, sind in diesen Kooperationszusammenhängen förderlich für Demokratie und werden genau deshalb von jenen Akteuren angefeindet, die mithilfe der pauschalen »Weber-These« zu lupenreinen Demokraten stilisiert werden. Literatur 2: Die umgekehrte Flussrichtung, von Lateinamerika nach Norden, ist in religiöser Hinsicht von weit geringerer Bedeutung, wie ich oben schon durch die Feststellung einer Asymmetrie angedeutet habe. Mit den meist mexikanischen Arbeitern, die durch das bracero-Programm in den 1940er und 1950er Jahren in die USA kommen verstärkt sich langsam der Katholizismus im Südwesten (wo heute dessen Schwerpunkt liegt, anstatt in Rhode Island). Für die soziodemografisch arbeitende Sozialwissenschaft wird die Migration erst ab dem Immigration and Naturalization Act (1965) interessant. Die Religion kommt allerdings erst seit den 1990er Jahren ins Visier der Migrations- und Transnationalitäts-Soziologie (Vasquez und Marquardt 2003; Alba, Raboteau und DeWind 2009; Juergensmeyer 2005). Clara Buitrago Valencia (2019) unterscheidet zwei analytische Ansätze. Der Incorporation-Approach betrachtet die Rolle von latino-pentekostalen Gemeinden bei der Integration von Migranten in die US-Gesellschaft. Der dabei in Stellung gebrachte Funktionalismus beachtet jedoch vor allem nicht-religiöse Faktoren. Auf der anderen Seite betrachtet der Religion on the Move-Ansatz die Rolle
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von transnationalen Missionsunternehmungen für den Erhalt dauerhafter Beziehungen zwischen Migranten und der Heimat, vernachlässigt dabei aber die Rolle religiöser Überzeugungen. Diesem Feld widmet sich Buitragos Arbeit. Dabei findet sie einen Zusammenhang zwischen sozialer Position, Glaubensüberzeugungen und der Re-Definition von religiösen Identitäten und Strategien durch den Missionsauftrag im Norden. So werden aus hilfsbedürftigen Migranten spirituell helfende expatriates. Diese Veränderung von Position und Strategien zeitigt andere Effekte in der Aufnahmegesellschaft. So vermögen latino-protestantische Prediger heute, Stadien zu füllen, während Latino-Katholiken den US-Katholizismus umgestalten. Religiöse Praxis ereignet sich hier gerade durch die Wirkung religiöser Glaubensinhalte im Modus authentischer Verflechtung. Kollektive Akteure: Der Blickwinkel des vorliegenden Essays ist auf Verflechtung ausgerichtet, weshalb zentrale Theoreme der Verflechtungsgeschichte (Werner und Zimmermann 2002) die Beobachtung leiten. Der Einfachheit halber konzentrieren wir uns auf zwei kollektive Akteure, US-amerikanische Protestanten, u.a. Missionare, und lateinamerikanische Protestanten. Die induktiv ansetzende Untersuchung dieser Relation berücksichtigt selbstverständlich Kontextfaktoren wie die katholische Kirche und die gesellschaftliche Klassenstruktur. Damit ist es nicht nur zulässig, sondern notwendig, unterschiedliche Untersuchungsmaßstäbe und Untersuchungseinheiten zu berücksichtigen. Da es nicht »den« Protestantismus gibt, wird schon in der konfessionsgeschichtlichen Literatur eine Taxonomie nach Zugehörigkeit zu Denominationsgruppen entworfen: historische bzw. Mainline Protestanten, Evangelikale, Pfingstkirchen und Neopfingstkirchen. Diese Taxonomie ist als Maßstab nur sehr bedingt tauglich. Unsere Forschung hat vielmehr gezeigt, dass sich abhängig von sozialen Klassen noch weitere Differenzierungen aufzeigen lassen. Vor allem ist die Taxonomie wenig aussagekräftig, wenn es um die politische Mobilisierung von religiösen Akteuren geht. Wir unterscheiden deshalb zwischen folgenden politisch relevanten Akteursformationen, die cum grano salis sowohl in den USA als auch in Lateinamerika aktiv sind: •
Die auf die Errettung im Jenseits hoffen und politisch nicht aktiv sind, rekrutieren sich vielfach aus der klassischen Pfingstbewegung und evangelikalen Gruppen und gehören vielfach der informellen Unterschicht an (Jenseitshoffnung);
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die die Werte des Reiches Gottes durch sozialen Dienst in der Welt zur Geltung kommen lassen möchten, gehören meist dem historischen bzw. Mainline Protestantismus, dem Evangelikalismus oder Kirchen von Indígenas an und variieren zwischen unterer Mittelschicht und Unterschicht (Reich Gottes); die das Gesetz Gottes legalistisch zur Geltung bringen wollen, kommen ebenfalls aus der evangelikalen sowie pfingstlichen Richtung und sind häufig der absteigenden (unteren) Mittelschicht zuzuordnen (Gesetz); die auf der Grundlage von Prosperity und Management-Idealen das politische System kontrollieren wollen gehören vielfach dem Neopentekostalismus oder auch dem klassischen Pfingstlertum an und verorten sich sozial in der aufsteigenden oberen Mittelschicht und sogar der Oberschicht (Management).
Die beiden letzten Formationen bilden heute in der Regel die religiöse Rechte und die zweite Formation die religiöse Linke. Diese Polarisierung ist in der aktuellen politischen Lage von Bedeutung. Experten: Eine weitere Differenzierung muss zwischen Gläubigen und religiösen Experten unterscheiden. Die Letzteren produzieren die Heilsgüter (Weber), für die die Ersteren einen Bedarf haben. Diese Experten konkurrieren um Anhänger und konstituieren durch diese Expertenkonkurrenz das religiöse Feld. Diejenigen mit den meisten und vermögendsten Anhängern dominieren das Feld; so in Lateinamerika die katholische Kirche und in den USA die wichtigsten Akteure der Formationen Management und Gesetz – also ein institutionell nicht homogener Cluster. Die Anhänger haben nur insofern etwas mit dem religiösen Feld zu tun, als dass sie durch ihre Optionen bestimmte Experten präferieren und damit stärken. Das heißt keineswegs, dass die Gläubigen nicht religiös seien. Man kann im Gegenteil davon ausgehen, dass sie ihre Religiosität in den verschiedensten gesellschaftlichen Sphären leben: in der Wirtschaft durch Fleiß, in der Mode durch Zurückhaltung, in rechtlichen Beziehungen durch Ehrlichkeit und in der Politik dadurch, dass sie religiöse Politiker wählen, die Bischöfe ihrer Kirche sind, wie zum Beispiel der religiöse Rechte Marcelo Crivella in der Igreja Universal do Reino de Deus in Brasilien. Unter der Bedingung der formalen Demokratie kann durch die Beeinflussung des Wahlverhaltens religiöser Akteure also religiöses Kapital (Anerkennung eines Experten als religiösem Experten durch seine Klientel) in politisches Kapital (Wählerstimmen) transformiert werden. Für die
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Betrachtung religiös-politischer Praxis ist es primär nötig, die Experten zu beobachten und erst sekundär kommen die Laien in den Blick. Container: Die Verflechtungsgeschichte sucht die Behandlung von Nationen als Containern zu vermeiden. Wir sprechen hier dennoch von den USA im Unterschied zu Lateinamerika. Das ist lediglich deshalb der Fall, weil das historische Phänomen nur so zu erfassen ist. Es sind eben Missionare aus den USA, die im Zusammenhang eines protestantisch konzipierten Panamerikanismus die Mission im »katholischen Lateinamerika« aufnehmen und so den besagten Gegensatz praktisch bestätigen und zum Ausgangspunkt ihrer Programmatik machen. Und umgekehrt beurteilen katholische und protestantische Lateinamerikaner die Missionare als Entsandte eines Landes, dessen Eingriffe in die inneren Angelegenheiten der lateinamerikanischen Länder offensichtlich ist, und die auch noch sprachlich sehr deutlich zu identifizieren sind als Leute, die die lateinamerikanischen kollektiven Habitūs nicht teilen. Bei aller Unterschiedlichkeit werden wir im Folgenden die beiden Regionen nicht als Container behandeln. Allerdings schließen wir den Vergleich und die Untersuchung von Transfer als Arbeitsformen nicht kategorisch aus. Angesichts der Tatsache, dass mit der protestantischen Mission in Lateinamerika religiöse Dispositionen transferiert werden, die im US-Calvinismus entstanden sind und denen der katholischen Sozialisation überhaupt nicht entsprechen, ist die Untersuchung der Ausgangslage in den USA im Vergleich mit Lateinamerika sowie der Verarbeitung der Dispositionen in Lateinamerika die Voraussetzung dafür, die Verflechtung US-amerikanischer und lateinamerikanischer Habitūs zu neuen Praxisformen zu verstehen. Transnationalismus: Das vorliegende Bändchen wäre allerdings überladen, wenn hier über die interamerikanischen Verflechtungen hinaus transnationale Praxis religiöser Akteure im Allgemeinen in den Blick genommen würde.5 Gewiss werden entsprechende Akteure wie der Vatikan, der Weltkirchenrat oder die World Evangelical Alliance am Rande zur Sprache kommen. Eine Untersuchung dieser und ähnlicher Akteure – etwa der vernetzten Hilfsorganisationen wie ActAlliance – ist in diesem Rahmen allerdings nicht möglich. Imperialismus: Symmetrie ist hier allerdings – wie auch Werner und Zimmermann betonen – irreführend. Symmetrie existiert weder zwischen den beiden Regionen als kollektiven politischen und wirtschaftlichen Akteuren noch zwischen dem missionierenden Protestantismus und dem lokal 5
Mit Blick auf das Transnationale, siehe Schäfer 2016. Siehe auch Juergensmeyer 2005.
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verankerten sowie an die römische Universalkirche gebundenen Katholizismus. Diesem theoriegeleiteten Statement entspricht in der historischen Entwicklung der imperiale Zugriff der USA auf Lateinamerika. Es reicht, die Tabellen der militärischen Interventionen der USA in Lateinamerika seit 1800 mit an die 100 Fällen zu sehen, um daran und an den daraus resultierenden Einstellungen in Lateinamerika keinen Zweifel zu hegen – wobei es entscheidend darauf ankommt zu untersuchen, bei welchen Akteuren diese Eingriffe negative und bei welchen sie positive Konnotationen auslösen. Wir sind also im Blick auf die Verflechtung zwischen den USA und Lateinamerika auf eine analytische Ähnlichkeit mit dem imperialismustheoretischen und dem dependenztheoretischen Ansatz verwiesen – sofern man nicht, wie Martin (1990), die Praxis der lateinamerikanischen Akteure unter einem US-amerikanischen Vorurteil begraben will. Gerade im Rahmen einer Verflechtungsgeschichte ist unsere Transformation des Weber’schen Aufsatztitels also gerechtfertigt. Allerdings: es handelt sich nur um Ähnlichkeit. Denn erstens lassen sich religiöse Überzeugungen nicht oktroyieren, und zweitens wird auch imperialistisch oktroyiertes religiöses Verhalten in der Praxis der Akteure re-signifiziert, was nichts anderes ist als religiöse Verflechtung. Andererseits darf man nicht aus den Augen verlieren, dass bestimmte soziale Lagen – wie beispielsweise Counter Insurgency-Krieg – eine religiöse Nachfrage produzieren können, die wiederum leicht manipulierbar ist; aber auch das ist Verflechtung. Eine besonders delikate Situation in beiden Regionen – sichtbar durch Vergleich – ergibt sich dadurch, dass in reziproker Weise der jeweilige Hegemon des religiösen Feldes unter Druck gerät. In den USA ist es der weiße angelsächsische Protestantismus, der gegenüber dem hispanischen Protestantismus, dem Katholizismus und dem Agnostizismus derart stark abbaut, dass in den Wahlen 2024 keine Regierung mehr bestimmt werden kann, selbst wenn alle weißen Protestanten dieselbe Partei wählten (Wong 2018, 96). Im Vergleich dazu ist in Lateinamerika der Katholizismus dominant und ebenfalls unter Druck: von einem steigenden protestantischen Bevölkerungsanteil (bis hin zu annähernd 50 % in Guatemala),6 von Laizität der Staaten und von verschiedenen anderen Faktoren wie einer erdrückenden protestantischen Medienpräsenz. Wir haben schon die irritierten Kommentare katholischer Hierarchen gegen den Protestantismus zitiert; ähnliche Kommentare finden
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Mexiko hat allerdings nur 9 %, und die meisten Länder liegen irgendwo dazwischen.
1 Einleitung
sich heute in den USA aus dem Munde der protestantischen Rechten gegen Einwanderer aus Lateinamerika, ob katholisch oder evangelisch. Beobachter: Die Verflechtungsgeschichte hat noch einen reflexiven Aspekt, der darin besteht, die Verflochtenheit der jeweiligen wissenschaftlichen BeobachterInnen in die Thematik zu reflektieren, um gegebenenfalls im Verlauf der Untersuchung eine Positionsänderung erfahren zu können. Dazu sei gesagt, dass der Verfasser mit Fragestellungen von Religion und sozialem Wandel in Lateinamerika seit Ende der 1970er Jahre befasst ist. Eine erste große Feldforschung unternahm er 1983, 1985 und 1986 in Guatemala, Nicaragua und den USA. In über 200 Tiefeninterviews und mitgeschnittenen Predigten fokussierte er vor allem die Praxis von protestantischen Gläubigen in Counter Insurgency-Kriegen sowie die Effekte auf Missionsorganisationen und die interessierte Öffentlichkeit in den USA.7 Zwischen Ende 1994 und 2003 hat er als Professor für Theologie und Soziologie an der Universidad Bíblica Latinoamericana, Costa Rica, in verschiedensten Ländern Lateinamerikas mit protestantischen Studierenden gearbeitet und kleinere Feldforschungen vorgenommen. Als Religionssoziologe an der Universität Bielefeld hat er nach 2006 eine Reihe von Feldstudien über religiöse Akteure in Lateinamerika begleitet und selbst durchgeführt, vor allem eine große Studie in Nicaragua und Guatemala zwischen 2012 und 2014. Zudem ist der Autor als einziger Europäer Mitglied der Red Latinoamericana de Estudios Pentecostales (RELEP). All dies hat zu einer grundlegenden Sympathie für die protestantischen Akteure geführt. 2008 hat eine vergleichende Untersuchung zwischen USamerikanischem und islamischem Fundamentalismus die Stimmung etwas getrübt (Schäfer 2008). In den letzten Jahren ist eine neue Studie entstanden über die politischen Aktivitäten protestantischer Experten in den USA und Lateinamerika, die bereits vermutete Abgründe in voller Breite bestätigt hat. Die Korruption der Bancada Evangélica in Brasilien beispielsweise ist nur noch durch ihren Missbrauch religiöser Überzeugungen zu überbieten. Die religiöse Rechte in den USA arbeitet mit gezielter Doppelzüngigkeit. Deren führende Akteure dürfen allerdings nicht mit durchschnittlichen protestantischen Gläubigen verwechselt werden – und umgekehrt. Für eine Untersuchung der religiösen Verflechtungen zwischen Lateinamerika und den USA gilt es, ein Auge auf die Differenz zwischen Experten 7
Eine 600-seitige Untersuchung wurde aufgrund widriger Umstände bis heute nicht veröffentlicht. Eine knappe Essenz davon findet sich in Schäfer 1992a und auf deutsch, gekürzt Schäfer 1990.
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und Laien zu haben und einen gegen Experten gerichteten Bias zu vermeiden. Es gilt allerdings auch, Ergebnisse der Studien über Laien nicht einfach auf Experten zu projizieren. Da Experten in der Regel über eine bedeutend größere gesellschaftliche Handlungsfähigkeit verfügen, nehmen sie das soziale Umfeld anders wahr, beurteilen die Lage anders und handeln entsprechend anders als Laien. Eine weitere Differenz besteht zwischen Akteuren der religiösen Rechten (Gesetz und Management) und der religiösen Linken (Reich Gottes). Aufgrund früherer Untersuchungen, der langjährigen Praxis mit Protestanten in Lateinamerika und einem europäischen Blick hat der Autor einen Bias nach links. Darauf gilt es beim Schreiben ebenso wie beim Lesen zu achten. Aus europäischer Perspektive stellt sich meines Erachtens – in Anlehnung an Habermas (2004) – die post-säkulare Frage in doppelter Hinsicht: Erstens fragt sich, ob religiöse Akteure willens sind, ihre Positionen in öffentlich kommunizierbare ethische Grundsätze zu übersetzen und zur Diskussion zu stellen, oder ob sie religiös legitimierte Geltungsansprüche universalisieren wollen. Zweitens fragt sich, welche Resultate die post-säkulare Übersetzung der religiösen Diskurse in ethische Diskurse zutage fördert. Die bisherigen Studien des Verfassers zeigen, dass sich die Akteure der religiösen Linken um genau diese Übersetzung bemühen, wogegen die Akteure der religiösen Rechten ihre religiösen Machtansprüche politisch zu oktroyieren suchen. Aufbau des Buches: Dieses Buch ist ein Essay. Das heißt, dass nicht wie in der wissenschaftlichen Abhandlung versucht wird, ein Problem möglichst lückenlos auszuleuchten. Es heißt aber nicht, dass eine ungeordnete Aphorismensammlung vorgelegt wird. Wir setzen einen zugleich zeitlichen und sachlichen Rahmen mit der Konferenz US-amerikanischer Missionare in Panama 1916 und dem kritischen Rückblick auf diese Konferenz auf einer Tagung von lateinamerikanischen Pfingstlern in Panama 2016. In diesem Rahmen werden schlaglichtartig einige Episoden aus der missionarischen Verflechtungsgeschichte zwischen den Amerikas thematisiert. Der Behandlung des Kongresses in Panama ist ein Rückblick auf die Entwicklung des Protestantismus in den USA nachgestellt, da nur auf diesem Hintergrund die Verflechtungen nach Süden zu verstehen sind. Ein zentrales Kapitel behandelt die Verflechtung religiöser Dispositionen. Es wird gezeigt, wie tragende Narrative des US-Protestantismus in Lateinamerika zu religiösen Dispositionen mit unterschiedlicher Bedeutung geformt werden.
1 Einleitung
Der Blick ist allein auf Protestanten gerichtet, der Begriff im weitesten Sinne verstanden. Natürlich hätte es mehr sein können, insbesondere im Blick auf die Rolle der katholischen Kirche im Zusammenhang mit der hispanischen Einwanderung in die USA oder der Konterstrategien gegen den Protestantismus in Lateinamerika. Es hätten auch noch weitere Episoden bearbeitet werden können. Aber das ist ja immer der Fall.
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2 Panama 1916 und der Vorlauf
Der katholische Erzbischof von Panama war vorbereitet auf den Kongress, den US-amerikanische Protestanten in seiner Residenzstadt 1916 abhalten wollten. Deshalb drohte er allen Hoteliers, die die Protestanten beherbergen wollten, mit Exkommunikation.1 Die Zusammenkunft sollte die US-amerikanische Mission in Lateinamerika, die schon seit fast 100 Jahren lief, koordinieren und thematisch bündeln. Das war in doppelter Hinsicht schwierig. Auf der einen Seite versuchten die Organisatoren, eine panamerikanische Perspektive beizubehalten; auf der anderen Seite wollte man sich die katholische Kirche nicht vollends zum Feind machen. Katholische Beobachter, die eingeladen waren, kamen nicht. Vielleicht, weil sie den Bannstrahl des bischöflichen Kollegen fürchteten. Der Kongress in Panama war der Auftakt für eine koordinierte und strukturierte Arbeit von historischen Missionskirchen aus der Mainline und der evangelikalen Tradition in Lateinamerika, die in weiteren regionalen und kontinentalen Treffen weitergeführt wurde. Da diese Bemühung nicht ohne ihren historischen Vorlauf im USamerikanischen Protestantismus verstanden werden kann, werden wir nach kurzen Überlegungen zum Missionskongress einen historischen Rückblick einflechten.
2.1
Panama 1916
Der Congress on Christian Work in Latin America (CCWLA), den das Committee on Cooperation in Latin America (CCLA) vom 10. bis 20. Februar
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V.a. Prien 1978, 914. Zum Congress on Christian Work in Latin America (CCWLA) des Committee on Cooperation in Latin America (CCLA) vgl. u.a. Prien 1978; Salinas 2017.
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1916 aufgrund des bischöflichen Bannstrahls in der Kanalzone und nicht in Panama-Stadt organisiert hat, war das Ergebnis einer Enttäuschung. Der Vorlauf in den USA war insofern massiv, als dass die Missionsbewegung gegen Ende des 19. Jahrhunderts bereits auf Hochtouren lief. Es waren verschiedene Missionsgesellschaften nach dem Modell von Handelsgesellschaften gegründet worden, und die Ecumenical Missionary Conference 1900 in New York war mit 200.000 Teilnehmern die größte Veranstaltung dieser Art überhaupt. Aus dem Umfeld des evangelikalen Erweckungspredigers Dwight Moody löste sich der junge Aktivist John Mott, der 1888 das erweckliche Student Volunteer Movement for Foreign Missions (SVM) unter dem Motto gründete: Evangelization of the world in one generation. Dieses Motto begleitete auch die von vielen Missionsgesellschaften für 1200 Delegierte organisierte World Missionary Conference 1910 in Edinburgh, deren Plenarsitzungen von Mott moderiert wurden. Das Evangelium zu allen nichtchristlichen Völkern zu tragen war ein Programm mit kolonialistischem Unterton, schloss aber im Verständnis der meisten Delegierten Lateinamerika von der protestantischen Mission aus, da dort ja bereits die katholische Kirche gründlich gearbeitet hatte. Für die US-amerikanischen Delegierten mit bereits begonnener Missionsarbeit in Lateinamerika war dies nicht akzeptabel. Deshalb wurden auf einem Treffen am Rande des Kongresses unter der Leitung von Robert Speer US-amerikanische Sondermaßnahmen beschlossen. Zurück in den USA wurde 1913 das Committee on Cooperation in Latin America (CCLA) mit dem expliziten Missionsauftrag »Lateinamerika« gegründet. Es sollte nicht gegen die Katholiken arbeiten, sondern effektiver auf dem »vernachlässigten Kontinent« Gott bekanntmachen. Im CCLA kooperierten Missionare mit guter Kenntnis Lateinamerikas, die versuchten, einen irenischen Eindruck zu machen. Deshalb sollte die in Panama geplante Konferenz statt Latin America Missionary Conference auch CCWLA genannt werden, weil das »von den lateinamerikanischen Freunden besser verstanden würde«.2 Nichtsdestoweniger kommen nur sehr wenige Delegierte aus Lateinamerika. Es ist eine Konferenz der Missionare. Adressiert wurden explizit die sozialen Probleme Lateinamerikas, für die »das Evangelium die einzige Lösung bereithält« (ebd.). Den Segen und Geld erhält die Konferenzvorbereitung nicht nur von den Missionsgesellschaften und Kirchen, sondern 2
…so der Informationsbulletin der CCLA im August 1915 (Committee on Cooperation in Latin America 1915).
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auch von Diplomaten und Geschäftsleuten. Einer von ihnen, »Vorsitzender einer der größten Banken Nordamerikas«, stellt die Konferenz sehr richtig in den Zusammenhang des »Pan-Americanism« und würdigt die missionarischen Aktivitäten freundliche Beziehungen zu fördern. Die friedlichen Absichten dieser Nation und unsere würdigen nationalen Ambitionen sind unseren südlichen Nachbarn wie nie zuvor eingeprägt worden. Sie sehen, dass die Motive, die unseren Beziehungen zu ihnen zugrunde liegen, nicht imperialistisch sind. (Committee on Cooperation in Latin America 1915) Gemeinsam könne es gelingen, die religiösen und erzieherischen Standards in jenen Ländern zu verbessern. Die Vorbereitungsdokumente und die Konferenzberichte atmen das Flair des wohlmeinenden Erziehers. Die Konferenz wurde im Detail vorbereitet von einem 215 Mitglieder starken Team, das Expertisen von 600 Korrespondenten in Lateinamerika verarbeitete. Außerdem unternimmt Speer eine 12-monatige Forschungsreise durch Lateinamerika. Nach den damaligen wissenschaftlichen Standards hätte es kaum besser gemacht werden können. In den Berichten der Konferenz in Panama ist die vorsichtige und selbstkritische Hand der Social Gospel-Bewegung erkennbar. In der Kommission 1 »Survey and Occupation« wird festgestellt, dass es die Berufung der Kirchen sei, »zu evangelisieren, nicht zu amerikanisieren« (Committee on Cooperation in Latin America 1917, 130). Im Übrigen werden der manifeste und latente Rassismus in der Beziehung der US-Amerikaner zu Lateinamerikanern scharf kritisiert und die Pan American Union als Instrument seiner Überwindung gelobt. Gleichwohl zeigt sich im Vergleich mit rassistischen Äußerungen in der Kommission 2 (Committee on Cooperation in Latin America 1916, 11ff.) die Ambivalenz des US-amerikanischen Protestantismus in der Rassenfrage. Auch im Social Gospel sind manifeste Rassisten repräsentiert, wie beispielsweise bei einem der Führer der Bewegung, Josiah Strong. Um Verflechtung zu untersuchen, ist der Bericht der 2. Kommission über »Message and Method« der interessanteste (Committee on Cooperation in Latin America 1916, 11ff.). Er stellt auf sehr moderne Weise die Missionsaufgabe in den Rahmen einer detaillierten Analyse der Verhältnisse in Lateinamerika, die als Herausforderungen für die Mission aufgefasst werden. Die relevant facts betreffen zuerst die racial complexity, dann den Latin spirit, das religiöse Erbe, die politische Isolation und schließlich die Demokratie. Ein großes Problem, abgesehen von den eingeborenen Genen, sei die Tatsache, dass die Conquis-
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ta zunächst eine »rassische Beimischung« aus dem indigenen Blut und dem von »Abenteurer, Freibeuter, Soldaten – prinzipienlos, gesetzlos, mit Verachtung für moralische Zurückhaltung, nur auf Gold aus« hervorgebracht habe. Erst später sei »höhere kastilische Kultur« dazugekommen. Gleichwohl sei die hispanische Tradition in Lateinamerika sehr stark durch Recht, Religion und Kunst aus Spanien und Italien beeinflusst sowie durch Rationalismus, Sozialismus und poetisches Gefühl aus Frankreich. Erst in jüngster Zeit versuche der Latin spirit, sich an die »nutzenorientierten Realitäten der angelsächsischen, tuetonischen und nordamerikanischen Handels« anzupassen. Vor allem der französische Einfluss müsse genau analysiert werden. Insofern als die Missionare Angelsachen sind, sei die größte Schwierigkeit der »missionarischen Unternehmung« die »das von Sympathie getragene Eindringen in den lateinamerikanischen Geist.« Das religiöse Erbe stelle eine besondere Herausforderung dar, weil es der katholischen Kirche nicht gelungen sei, die heidnischen Religionen zu beseitigen und da sie leider – trotz aller guten Seiten ihrer Arbeit! – das Christentum auch falsch interpretiere: Es bliebe nur Zwang und Institutionalisierung übrig. Wissenschaftliche Analysen zeigten die katholische Kirche im Modus des langsamen Zerfalls, weshalb man nicht von einem christlichen Lateinamerika sprechen könne. Allerdings sei die katholische Kirche auch unter den Bedingungen der von den Liberalen eingeführten Religionsfreiheit vielerorts immer noch de facto Staatsreligion und somit ein Hindernis für das Evangelium. Der Katholizismus in Lateinamerika sei folglich ein kompletter Fehlschlag. Als LeserIn bekommt man geradezu den Eindruck eines aller religiösen Wahrheit entleerten Kontinents. Angesichts dessen müssten die spät eingetroffenen protestantischen Missionen gebündelt werden. Die Lektüre dieses Abschnittes erinnert etwas an die Polemik gegen die katholischen Einwanderer in den USA. Des Weiteren wird der Einfluss des Kolonialsystems verantwortlich gemacht für eine politische Isolation, die Beziehungen zu nicht-latinischen Ländern – also vornehmlich zu den USA – blockiere. Zur Kontrolle des Handels, der Politik und des intellektuellen Lebens hinzu komme die absichtliche Vernachlässigung der Erziehung. Diese Kritik wiederum deckt sich mit der missionarischen Rückführung von Unterentwicklung auf mangelnde Erziehung und der Präferenz für Erziehungsprogramme. Und schließlich sei im Blick auf die Demokratie der Liberalismus zu loben, der – wenngleich oft gewalttätig – das Streben des Lateinamerikaner zu Gleichheit, Brüderlichkeit, Freiheit, Individualismus und somit Demokratie verkörpere. Wohl wissend, dass es sich bei vielen dieser Demokraten um Agnostiker handelt, wird das Kapitel mit einer interessan-
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ten argumentativen Figur beendet. Die Autoren beziehen sich als einen für Liberale signifikanten Dichter auf den französischen (!) Romantiker Lamartine und stellen fest, dass dieser seine politischen Ideen aus dem Neuen Testament beziehe und dass man mit ihm Demokratie definieren könne als »›die unmittelbare Regierung Gottes‹, die Anwendung christlicher Prinzipien auf die Probleme dieser Welt.« Die protestantische Predigt müsse sich deshalb positiv auf die idealistischen Bestrebungen der Führer der Liberalen richten und ihnen klarmachen, dass durch die Annahme und Anwendung des Evangeliums Christi (…) die höchsten Hoffnungen der Führer erfüllt werden, insoweit sie berechtigt sind, und noch übertroffen werden (können), soweit sie noch unvollkommen sind; und dass das wahre Wohlergehen der Republiken verwirklicht werden kann durch die Errichtung dessen, was Jesus mit dem Reich Gottes gemeint hat. (Committee on Cooperation in Latin America 1916, 33) Die Kirche sei also beauftragt, die reinen »essentials« des Christentums zu predigen, ohne katholische oder ultra-sektäre3 protestantische Verdunkelung. »Grundlage dieses Evangeliums ist die Versicherung, dass die wahre christliche Kirche die Heimat und die treibende Kraft von wahrer Demokratie ist.« Aus der Sicht der Kommission sind die essenziellen Gehalte des christlichen Glaubens mehr oder weniger eindeutig die des historischen Protestantismus der vorletzten Jahrhundertwende mit einer Beimischung von Evangelikalismus. Letzteres zeigt sich deutlich an der Betonung der Bibel als ultimative Quelle der Wahrheit. Das gelte für die »Armen und Ungebildeten genauso wie für die Reichen und Gebildeten«. Allerdings wird im Zusammenhang der Methoden zum Erreichen der »gebildeten Klassen« eine historische Interpretation light der Bibel vorgeschlagen. D’accord mit den konservativen Evangelikalen wird Christi Gottheit und sein Sühnetod für menschliche Sünden als heilsnotwendige Überzeugungen proklamiert. Daraus erwachse ein spirituelles Leben, das die »Tyrannenherschaft der ›Priesterei’« (»tyranny of priestcraft«) breche, heißt es mit einer scharfen antikatholischen Spitze. Die Zielvorstellung ist typisch für die evolutionistische Variante des Social Gospel: das Reich Gottes auf Erden – ein höchst dehnbares Konzept, das heute für theokratische Bestrebungen der religiösen Rechten eingesetzt wird. Für die Missionare des Social Gospel ist das Konzept jedoch nicht mit dem Wunsch 3
Hier schlägt die Fundamentalismus-Kontroverse in den USA durch.
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nach einer totalitären Theokratie verbunden. Das Reich Gottes werde vielmehr durch moralisches Handeln gemäß entsprechender Werte allenfalls in Ansätzen erlebbar. Und so weckt das Konzept dann auch politische Konnotationen, die eher einer moralischen Linken zuzurechnen wären: Ablehnung von Ungerechtigkeit und Eintreten für »Errettung der Armen von Ungerechtigkeit und Unterdrückung« (41). Das Gesamtprogramm läuft also etwa auf folgendes Amalgam hinaus: persönliche Errettung, Vaterland, Nächstenliebe, Reinigung des politischen und industriellen Lebens von Grausamkeit, des Handels von Unehrlichkeit und des sozialen Leben von Laster und Sittenlosigkeit (42). Anstatt nach der Beschreibung der lateinamerikanischen Probleme und des eigenen religiösen Programms nun zu anderen Themen voranzuschreiten, nimmt die Kommission die soziale Programmatik erneut auf; dieses Mal unter den spezifischen Aspekten der zu erwartenden industriellen Revolution in Lateinamerika und der »educated classes« als speziellen Adressaten. Die Überlegungen sehen die einsetzende Industrialisierung in Lateinamerika unter dem Aspekt der Ressourcennutzung, dem Aufbau von verarbeitender Industrie (also nicht Extraktivismus wie heute), und dem dafür nötigen Kapital sowie dem urbanen Konsum. Ein zweiter Aspekt sind die neuen sozialen Probleme durch abrupten Wandel wie ideologische Konflikte, Sozialismus, Gewerkschaften und die Abwanderung der Arbeiterschaft aus den Kirchen. Die lateinamerikanischen Eliten hätten dafür keine Kenntnisse, sondern »Fähigkeiten in anderer Richtung«. England, Deutschland und Italien hätten da eher Erfahrungen, aber leider Geschäftsleute, die (natürlich bei löblichen Ausnahmen) schlechten moralischen Einfluss ausüben. Evangelical clergy, der YMCA sowie Personen aus anderen Nationen, die bessere Beziehungen zu Lateinamerika aufbauen wollen, seien da besser geeignet. Diese Hilfe zur industriellen Entwicklung solle auf Prävention achten; und gerade dafür seien die Erfahrungen der USA mit der Industrie (gegen Kinderarbeit z.B.) fruchtbar. In solch einem Setting habe die missionarische Sozialarbeit ihren Platz. Der Missionare »Geschäft ist es nicht nur, Seelen für Christus zu gewinnen, sondern auch eine christliche Zivilisation zu errichten« (49). Die Unterstellung, dass lateinamerikanischen Ländern ein »Gemeinsinn« (»common sentiment«) fehle, führt zu der Feststellung, dass die souverän gewordenen Lateinamerikaner »für ihre Pflichten trainiert werden müssen«. Die entsprechende Aufklärung des Geistes und Reinigung der Moral sei eine genuine Aufgabe des Evangeliums, welches somit die Demokratisierung vorantreibe (51). In den USA und bei den protestantischen Missionen in Lateinamerika gebe es dafür
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viele Beispiele. Jesus habe Gesetze, die nur richtig angewandt werden müssten, um Gottes Willen auf der Erde ebenso zu erfüllen wie im Himmel, sodass das Reich Gottes dann Wirklichkeit sei (57). Gemäß der Einschätzung der Kommission dürfte von dieser Programmatik aber den mehrheitlich agnostischen »educated classes« wohl nur der inhärente Evolutionismus einleuchten; die religiöse Komponente aufgrund einer »verbreiteten Feindseligkeit gegenüber dem christlichen Glauben« (58) eher weniger. Deshalb werden die Missionare eigens auf intellektuelle Debatten mit den liberalen Eliten vorbereitet. Sie sollen mit einer »modernen Tendenz« die Evolutionstheorie christlich erklären, der Bibel eine leicht historische Interpretation geben, die Religion als etwas anthropologisch Notwendiges plausibilisieren und die Kirche als Gemeinschaft darstellen. Schließlich sollen Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit so kooptiert werden, dass sie als ursprünglich christliche Ideale dargestellt werden können, die der Stärkung durch religiöse Argumentation bedürfen. Mit anderen Worten, die Missionare nutzen die Tatsache, dass der moderne liberale Staat keine weitere Begründung hat als seine bloße Existenz, um sich als Spezialisten für nicht-katholische transzendente Begründung anzubieten. Dabei mögen Erfahrungen wie die der presbyterianischen Mission in Guatemala Pate gestanden haben, wo 1883 der Präsident die Mission explizit eingeladen hat; die Zuarbeit protestantischer Missionare zur urbanen mexikanischen Revolution unter Carranza; oder die Einführung des Lancaster-Schulsystems durch presbyterianische Missionare in Kolumbien.4 Eine objektive und subjektive Verflechtung von Interessen liberaler lateinamerikanischer Eliten und protestantischer Mission hat es im 19. Jahrhundert immer wieder gegeben. Mit dem Panama-Kongress sollte sie in ein systematisch verfahrendes panamerikanisches Missionsprogramm überführt werden. Der Wahlspruch des Kongresses in Edinburgh: Evangelisierung der Welt in einer Generation, wird gelegentlich mit ausgeklügelten Interpretationen versehen. Die am weitesten geteilte war die triviale, wortwörtliche: In einer Generation soll die Welt mit nordatlantischem, vorwiegend angelsächsischem »Evangelium« geflutet werden, um damit die Wiederkunft Christi auf den Wolken des Himmels zu beschleunigen oder – in anderer Fassung – den Himmel auf Erden zu erzeugen. Im Panama-Kongress wird dieser Wahlspruch 4
In Mexiko sollten noch mindestens Juárez und Cárdenas genannt werden; in Venezuela Guzmán Blanco; in Kolumbien Hilario López; in Ecuador Eloy Alfaro und Leónidas Plaza. Vgl. Damboriena 1963, 20f.
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in ein zivilisatorisches Programm für die Hemisphäre überführt, in dessen Mittelpunkt die Bibel und eine auf den Tod Christi zur Sühne für menschliche Sünde verengte Christologie steht. Zivilisatorisch ist dieser Ansatz nicht durch diese theologische Ausrichtung. Diese kann gut mit einer Abkehr von der Welt kombiniert werden. Er wird zivilisatorisch vielmehr durch die Projektion eines religiös-sozialen Idealzustandes – dem Reich Gottes auf Erden –, der konkrete Missstände in Missionsgebieten konterkariert. Die Notwendigkeit von Expansion der eigenen religiösen Überzeugungen und Organisationen ist von vornherein aus religiösen Motiven gegeben: dem Missionsbefehl (»great commission«) und der erwarteten Totalisierung des nordatlantischen Christentums als Gehorsam gegenüber Gott und als Erwartung der großen Reaktion Gottes. Als zivilisatorisches Projekt muss die Expansion allerdings begründet werden, und zwar in Abhebung vom US-Imperialismus und von den sozialen Zuständen in Lateinamerika her. Die mit Aufwand geführten Analysen über die Lage in Lateinamerika zeigen eine wiederkehrende Argumentationsstruktur und letztlich immer nur ein Ergebnis. Lateinamerika, seinen Einwohnern und den Katholiken wird bescheinigt, dass sie Potenzial haben und dass einige Individuen das deutlich bewiesen haben; dass aber – leider, leider – aufs Ganze gesehen die Rasse, die Kultur, das wirtschaftliche Handeln und die Religion den Subkontinent ins soziale Verderben stürzen. Damit ist das reine Evangelium und protestantisches Know-How gefordert, um dem Subkontinent aus der Patsche zu helfen. Damit bei den lateinamerikanischen Freunden kein Verdacht aufkommt, ist es notwendig, sich vom militärischen und wirtschaftlichen Imperialismus zu distanzieren – was bei einem zivilisatorisch auftretenden Programm angesichts der politischen und militärischen Praxis der USA im 19. Jahrhundert unumgänglich gewesen sein dürfte. Die Missionare kommen also nicht zum Amerikanisieren, sondern zum Evangelisieren, sagen sie. Eigentlich kommen sie, um zu helfen. Darin ist eine implizite Absage an Theodore Roosevelts Big Stick-Diplomatie enthalten. Sie sind eher der imperialen Freundlichkeit ihres Zeitgenossen Woodrow Wilson ähnlich, der den American way of life eher mit multilateraler Diplomatie unter Führung der USA weltweit verbindlich machen wollte (vgl. Williams 1984, 119ff.). Bei aller verbalen Distanzierung ist bei Wirtschaftsführern der allgemeine und objektive Nutzen der Mission – nicht zuletzt durch das Interesse der Missionare für Bildung und technische Unterstützung – für wirtschaftliche Unternehmungen im Ausland durchaus bekannt. Um diese Synergie zu stärken, spendet beispielsweise John D. Rockefeller Senior (Standard Oil) große
2 Panama 1916 und der Vorlauf
Summen für die Mission. Sein baptistischer Vermögensverwalter und Berater Frederick Gates wird zitiert mit der Überlegung, dass die »heidnischen Nationen« durch Mission mit »Licht und Zivilisation, mit modernem industriellem Leben und Anwendungen moderner Wissenschaft« gesegnet werden. Im Ergebnis werden durch die größere »Produktivkraft« jener Länder »auch wir als Importeure ihrer Waren bereichert.« »Wir sind erst in der ganz am Beginn, mit all seinen Versprechen, des Öffnens der Kanäle durch die christlichen Missionare.« Nelson Rockefeller, der Enkel des Seniors und Autor des Rockefeller Report on the Americas (1969), baut die Kooperation mit dem Summer Institute of Linguistics/Wycliff Bible Translators5 aus, das aufgrund von Zusammenarbeit mit US-Behörden und schädigendem Einfluss auf indigene Kulturen stark umstritten ist. Dies dient dem Zweck, »Ressourcen zu sichern und indigene Völker zu ›befrieden‹ im Namen von Demokratie, Profit von Unternehmen und Religion«.6 Weltweit verbindlich zusammen mit dem American way of life soll schließlich auch der American way of belief werden. Dass selbst historische Protestanten trotz des Einflusses europäischen hermeneutischen Denkens auf ihre Theologie nicht aus dem Muster der Expansion herausfanden, dürfte mit der Identifikation der US-amerikanischen Nation mit der Religion der Pilgrims zu tun haben.
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Puritanischer Perfektionismus: Gesetz, Expansion und »Freiheit«
Die Entstehung des US-amerikanischen Nationalstaates und die Rolle der Religion – insbesondere des Protestantismus – darin ist mit den entsprechenden Prozessen in Europa und Lateinamerika kaum zu vergleichen. Der US-Nationalstaat entspringt aus der Geschichte einer europäischen religiösen Minderheit, die in dem »neuen« Kontinent das Terrain sieht, um eine religiöse Utopie Realität werden zu lassen, das »neue Jerusalem«. Es entsteht eine religiös geprägte – nicht eine säkulare – Moderne. Die Institutionen dieser Moderne sui generis entstehen nicht durch Umformung des Bestehenden (wie dies in Europa der Fall war), sondern aus dem Mythos eines radikalen Neuanfangs in einem leeren Kontinent, aus der faktischen Eroberung des Landes von den Native Americans und durch revolutionäre Befreiung von der 5 6
Hvalkof und Aaby 1980; Arbeitskreis ILV 1979. Zitiert nach Blanke 2003, 3f.
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bei der Eroberung zunächst behilflichen Kolonialmacht. Der wichtigste Unterschied knapp zusammengefasst: In der stark antiklerikalen europäischen und lateinamerikanischen Moderne verschwindet die Religion aus dem öffentlichen Diskurs über Politik, während zwischen dem Staat und den stark institutionalisierten Kirchen Kooperationsverträge geschlossen oder explizit verweigert werden. In den USA hingegen wurde mit der Jefferson’schen Interpretation des ersten Verfassungszusatzes eine institutionelle Trennung von Staat und Kirche vorgenommen, während Religion den öffentlichen politischen Diskurs bestimmt, und zwar nicht irgendeine Religion, sondern die der Puritaner.7 John Winthrop, der Gründer der Massachusetts Bay Colony, entwirft in seiner Predigt »A model of Christian charity« (1630) im Zuge der Ankunft einer Dissenters-Gruppe in den gerade etablierten Kolonien (ab 1611) die Programmatik einer »Stadt auf dem Berge«.8 Mit dem Ideal eines neuen Jerusalems und der Idee eines exklusiven Bundes Gottes mit der puritanischen Siedlergemeinschaft geht ein hoher Anspruch an Bewährung durch moralisches Wohlverhalten und missionarischen Eifer einher. Auf dieser Grundlage ruht das Dogma des American exceptionalism. Sollten die Gläubigen diesem Anspruch nicht genügen, droht Gottes Strafe. Durchaus ähnlich zu Calvins Genf, entwickelt sich aus der Erwählungstheorie ein soziales Zwangsregime nach innen. Als Kriterium zur Messung des Wohlverhaltens wird der Sündenbegriff verdinglicht und in Kataloge überprüfbarer Laster gegossen, wie beispielsweise liederliche Reden, Verbrechen, Faulheit, Auflehnung gegen Autoritäten, Ausschweifungen, Glücksspiel und Ehebruch. Theologisch gesehen ein Unding, wirkt die Verdinglichung als ein Disziplinierungsinstrument, das dem jeweils herrschenden religiösen, sozialen und politischen Common sense leicht anzupassen ist. Die Drohkulisse wird verbunden mit apokalyptischen bzw. jenseitigen Wesenheiten und Orten wie Teufel, Dämonen, Hexen sowie der Hölle (vgl. Fuller 1995) – spätmittelalterliche Vorstellungen, die von der religiösen Rechten mit den gleichen sozialen Intentionen bis heute gepflegt werden. Die religiös legitimierte Repression nach innen erreicht einen Höhepunkt mit der Verbrennung von 160 »Hexen« und Sympathisanten in Salem (1692). Die religiöse Vorstellung dahinter: Die Welt befinde sich in einem Krieg zwischen dem »Teufel und seinen Instrumenten und Christus mit seinen Anhängern«; es gebe nur zwei Lager in der 7 8
Stärker ins Detail gehen Hochgeschwender 2007; Schäfer 2008, 91ff. Fea 2020, 78ff.
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Welt, das des Lammes und das des Drachens (Samuel Perris, 11.9.1692, zit.n. Fea 2018, 83). Damit ist auch eine Strategie der Dämonisierung nach außen angelegt, die auf die amerikanische Urbevölkerung angewandt wird. Cotton Mather (1663-1728), ein früher Harvard-Professor mit Ehrendoktorwürde der Universität Glasgow und puritanischer Geistlicher, erklärt in seiner Geschichte der amerikanischen Kolonien,9 dass die »Indians« von Satan in die Neue Welt geworfen worden seien als erste Verteidigungslinie gegen das Evangelium vom Herrn Jesus Christus. Auf dieser Grundlage oder durch schlichte Entmenschlichung werden zahllose Massaker an der indigenen Bevölkerung legitimiert. Mather hat übrigens in seinem »Essay to convey religion into the Spanish Indies«10 auch schon die Ausdehnung seines Zivilisationsmodells über den Golf von Mexiko hinaus im Blick. Die rassistische Radikalität der calvinistischen Position wird besonders deutlich, wenn man entgegenhält, dass die deistischen bzw. unitarisch-universalistischen Verfassungsväter Franklin, Jefferson und Washington für ethnische Anerkennung und/oder kulturelle Assimilation der Natives auf dem Kontinent eintraten, wenn auch nicht unbedingt gegen die territoriale Expansion. Ein zweites prägendes Element der US-Religion ist der Emotionalismus. Während sich die Siedlungsgrenzen weiter nach Westen verschieben, kommen immer neue, weniger an das Kolonialregime gebundene Kirchen in die USA. Die Landnahme wird zum Kontext für groß angelegte Missionskampagnen, den sogenannten Great Awakenings ab 1734. Hier mischen sich zunächst puritanische Programmatik (Jonathan Edwards) und methodistischer Emotionalismus (George Whitefield): die Stadt auf dem Berge, Erwählung aus Gnade, die Realisierung des Tausendjährigen Reiches im Geschichtsprozess durch moralische und religiöse Besserung sowie emphatische Spiritualität. Die Ideen der Erweckung und der subjektiven Entscheidung zur frommen Existenz stehen allerdings in Spannung zum calvinistischen Objektivismus einer göttlichen Erwählung. Auf die Dauer wird mit Moderne und Postmoderne der Subjektivismus individueller Entscheidung stärker im Blick auf die Ableitung von Legitimität und Wahrheitsansprüchen angewandt gegenüber Glaubensgenossen; im Außenverhältnis zu Nichtgläubigen jedweder Art
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Magnalia Christi Americana, 1702, vgl. Fuller 1995. »Aufsatz darüber, Religion in die spanischen Westindischen Inseln zu bringen«. Vgl. Prien 1978, 794f.; vgl. auch Rosenberg 1999.
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bleibt die Haltung des berufenen calvinistischen Glaubenskämpfers mit Sendungsbewusstsein en vogue. Das Dämonisierungsmotiv etabliert sich unterdessen mit dem Unabhängigkeitskrieg gegen König George III. von England in der Außenpolitik. Der König wird zum Agenten des Antichristen erklärt (Fuller 1995, 68ff.). Dämonisierung des politischen Gegners hat eine lange Geschichte, in der sich das dualistische Basisschema als vielfältig transformierbar erwiesen hat. In einer gesellschaftlichen Lage, die nicht von Staatskirchen geprägt ist, entwickelt der Dualismus noch eine besondere Funktion: Die religiösen Akteure deuten die außenpolitischen Verhältnisse als Kampf zwischen dem Teufel und Gott und erarbeiten sich so eine Position als legitime Repräsentanten der ganzen jeweiligen Nation. Auf ganz ähnliche Weise hat der Erweckungsprediger und Millionär Billy Sunday sich zum religiösen Repräsentanten der Nation stilisieren wollen, als er sich für den Eintritt der USA in den Ersten Weltkrieg stark machte. Ähnlich funktionierten auch die Legitimationsstrategien der religiösen Rechten für die Geheimdienst-Aktionen in Zentralamerika unter Ronald Reagan und den Irak-Krieg G.W. Bushs. Verstoßen derartige Aktionen nicht gegen das Trennungsgebot der Verfassung? Zunächst: die Verfassung der USA ist weder vollends laizistisch noch puritanisch. Die Präambel der Verfassung ist schlicht vertragstheoretisch gehalten (United States Senate 1791). Im Jahr des Inkrafttretens (1789) verleiht George Washingtons Rede zum Amtsantritt der Verfassung bzw. dem Regieren unter dieser Verfassung einen leichten, deistisch-zurückhaltenden Glanz von Ewigkeit – eine deistische Religiosität light, wenn man so will. Es wäre, so Washington, unangebracht, die glühenden Bitten an das »Almighty Being« zu unterlassen, das »rules over the Universe« und das in den »Council of Nations« den Vorsitz führt. Mehr als jedes andere Land seien die USA verpflichtet, »to acknowledge and adore the invisible hand, which conducts the Affairs of men«. Jeder Schritt, den das Land zur Unabhängigkeit gegangen sei, habe einen Hinweis vom Wirken der Vorsehung erkennen lassen. (Washington 1789) Damit hat der erste Präsident sozusagen den Mindeststandard an Religiosität für das Regieren festgesetzt. Ein Allmächtiges Wesen, das über das Universum und die Nationen regiert und wie mit unsichtbarer Hand als Vorsehung die politischen Geschicke leitet – das muss es an Civil Religion11 schon geben (National Archives and Records Administration 1789). Angesichts dieser Offenheit und des fortwährenden Einflusses der etablierten Ostküsten11
Vgl. zur Zivilreligion in den USA den Klassiker von Robert Bellah (1986).
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Kirchen scheint es ratsam, das Verhältnis von Staat und Religion zu klären. Der erste Verfassungszusatz (1791) soll dies leisten. Er etabliert indes keine strikte Laizität des Staates im französischen Sinne, die den Staat und zu einem gewissen Grad auch das öffentliche Leben vor dem Einfluss religiöser Aktivisten schützt. Vielmehr verbietet er nur die Bildung einer Staatskirche und schützt die freie Religionsausübung vor Einmischung des Staates.12 Der Zusatz besagt, dass der Kongress »weder ein Gesetz zur Etablierung einer Religion machen darf noch die freie Ausübung (einer Religion) verbieten darf« (United States Senate 1791). Er sagt also nichts über die umgekehrte Einmischung, nämlich die seitens religiöser Akteure in Staatsangelegenheiten. Thomas Jefferson interpretiert den ersten Zusatz 1802 allerdings als eine »wall of separation between Church & State« (Jefferson 1998[1802]) – die Trennmauer zwischen Kirche und Staat – mit dem Interesse, die Einmischung etablierter (kolonialer) Kirchen in die Politik auszuschließen. Diese Formel, die die Spannungen zwischen kirchlichen Aktivisten und Deisten wiedergibt, prägt die öffentliche Debatte stärker als der Verfassungszusatz selbst. Sie provoziert noch heute eine starke Spannung zwischen universalistischem Laizismus und der religiösen Rechten, die in puritanischer Tradition eine »Christian Nation« errichten will. Religiöse Angstkampagnen schon gegen Jefferson (vgl. Fea 2020, 13ff., 75ff.) lassen erkennen, dass das liberale Programm der Trennung von Staat und Kirche von Anfang an unter Beschuss seitens religiöser Protagonisten einer christlichen Nation steht. Spätere Gerichtsentscheide (1947, Everson v. Board of Education) und das Johnson Amendment (1954) bestätigen allerdings die Interpretation Jeffersons. Das politische Werbeverbot des Johnson Amendments für religiöse Akteure erklärt, warum in Evangelisationskampagnen vor Wahlen nicht »Republican«, sondern »red« gesagt wird – aber »red« wird klar gesagt. Unter dem Strich: Gerade die verfassungsmäßig verordnete Trennung von Staat und Kirchen hat zu einer umso stärkeren permanenten Neuinszenierung von Religion im gesellschaftlichen und politischen Diskurs geführt (Noll 2008, 28f.).13 Im Unterschied zu vielen lateinamerikanischen und europäischen Staaten muss allerdings deutlich bleiben, dass auch die nicht-puritanische Position
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Die Freiheit, ohne staatliche Einschränkung jedwede Religion praktizieren zu dürfen wurde bezeichnenderweise zuerst in der Maryland-Kolonie 1634 auf die Initiative des katholischen Lord Baltimore festgeschrieben und kann als Vorläufer des First Amendment betrachtet werden. Ähnlich Prätorius 2003, 61f.
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nicht anti-religiös ist. Bereits in seiner schon erwähnten Inauguralansprache versteht der erste Präsident den Perfektionismus, das Streben des Volkes der USA nach »Segen Freiheit und Glück«, als Segen seitens der göttlichen Vorsehung. Auch der exceptionalism findet sich implizit im Verweis darauf, dass kein Volk stärker als das der USA zur Anerkennung der unsichtbaren Hand der Vorsehung verpflichtet sei. Im Blick auf religiöse Verflechtungen zwischen den USA und Lateinamerika zeigt gerade die deistisch-religiöse Orientierung vermeintlich säkularer Politiker eine teilweise Übereinstimmung zwischen deren religiösen Dispositionen und denen der Puritaner. Mit Robert Bellah kann man somit von einer verbreiteten deistisch-christlichen Zivilreligion14 sprechen. Die puritanische Religiosität greift die Zivilreligion in bestimmter Hinsicht auf und radikalisiert sie. Der exceptionalism und die damit verbundenen Verpflichtungen im Blick auf weniger Begünstigte – etwa Menschen südlich des Rio Grande – ist nicht mehr nur in einer vagen Vorsehung, sondern in einem gesetzgebenden und strafenden Gott verankert, der sich im Kampf gegen den Teufel befindet. Durch diese Homologie der Habitūs wird mit der Zeit der christliche Gründungsmythos der USA mitsamt seiner Verpflichtung, das »Licht der Völker« auch unter die Völker zu tragen, zu einem höchst wirksamen Operator im politischen Feld. Dieser Operator erzeugt somit auch Homologien zwischen politischer, militärischer, wirtschaftlicher und religiös-missionarischer Expansion. Perfektionismus und Expansion – die erste Hälfte des 19 Jahrhunderts: In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis zum Bürgerkrieg besteht weitgehende Einigkeit über das utopische Projekt der US-amerikanischen Moderne: die Schaffung des Neuen Jerusalems auf dem Boden der Nation durch Konversion zum bewusst gelebten Christentum und durch moralische Verbesserung. Die methodistische Idee der individuellen und gesellschaftlichen Verbesserung durch moralisches Handeln verbindet sich mit der postmillenaristischen Erwartung eines tausendjährigen Reiches auf Erden. Diese wird von den meisten in Panama zusammengekommenen Missionskirchen in abgeschwächter Form geteilt, wie wir gesehen haben. Diese Kirchen sind aber bei Weitem nicht alle, die in der Mission in Lateinamerika aktiv sind. Der Streit um das Bibelverständnis im US-amerikanischen Protestantismus führt zur Entstehung des Evangelikalismus im Unterschied zu den Mainline Churches.
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Zur civil religion vgl. Bellah 1986.
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Der Unterschied zwischen dem Verständnis der Bibel als einem wortwörtlich zu nehmenden Gesetzbuch und als einem historischen Dokument – aber auch so noch Wort Gottes (entsprechende Ambivalenzen waren in den Panama-Dokumenten erkennbar) –versteht sich aus der sozialen Lage der Akteure. Die baptistischen und methodistischen Gemeinden an der Siedlungsgrenze verfügen nicht über theologisch gebildetes Personal, und die kleinen Siedlungen selten über juristische Institutionen. Also muss Recht gesprochen werden von denen, die lesen können aus jenem Gesetzesdokument, das wenigstens in der Kirche vorlag: der Bibel. Die Bibel kreiert öffentliche Ordnung, kommunitären Common sense und lokale Autonomie. Als Gesetzgebungsinstanz muss sie literalistisch interpretiert werden und öffentliche Geltung beanspruchen. Für die Siedlergemeinden ist das lebenswichtig. Rechtsfindung oszilliert somit – wie Huntington hervorhebt – zwischen Recht, Moral und Religion; und selbst Staatsraison muss moralisch und religiös legitimiert werden. (Huntington 1982, 241f.) An der Ostküste dagegen eignen sich die Theologen bereits etablierter protestantischer Kirchen (Presbyterianer, Episkopale, Kongregationalisten und einige Methodisten) im urbanen Bürgertum eine europäisch beeinflusste historische Bibelauslegung an. Das konnte im ruralen Nordamerika nur als Anschlag auf die öffentliche Ordnung und, letztlich, auf das Wort Gottes und Gott selbst wahrgenommen werden. Diese Spaltung kommt allerdings erst in der zweiten Hälfte des 19. Jh. voll zur Geltung, nicht zuletzt in der Entwicklung des literalistischen Fundamentalismus und selbstständiger konservativ-evangelikaler Missionsgesellschaften. Für die Verflechtung zwischen US-amerikanischer Mission und sozial unterschiedlich positionierten Konvertiten in Lateinamerika ist dieser Unterschied bis heute relevant. Eine zweite religiös-kulturelle Entwicklung von großer Bedeutung ist der Perfektionismus, der vor allem durch die methodistisch geprägte Zweite Große Erweckung (um 1837/8, Charles Finney, Henry W. Beecher, Richard Allen) vorangetrieben wird. Den Methodisten ging es um Heiligung, die sich in moralischem Handeln zeigt und zur individuellen und kollektiven Perfektionierung beiträgt. Diese Idee amalgamiert sich im Laufe der Zeit mit der der Verfassungsväter vom »pursuit of happiness« – der Suche nach Glück – zu einer zivilisatorischen Perfektionierungsidee. Der Habitus des Strebens selbst wird auf diese Weise zum kulturellen Gut, zur Voraussetzung für das Gebot, sich immer wieder selbst zu erfinden, und damit auch zu einem starken Ausdruck von Zukunftsoffenheit. Nicht mehr methodistische Sozialethik, sondern jedes beliebige Ziel, vor allem die individuelle Suche nach Glück, kann ange-
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strebt werden. Die religiöse Tradition verstärkt seither die Idee vom American Dream, und sie läuft bereits mit ihrer religiös-sozialen Teleologie der Entwicklung der Darwinschen Evolutionstheorie zum Sozialdarwinismus des Gilded Age in den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts voraus. Das religiöse Streben nach wirtschaftlicher Prosperität hat auch hier seinen Ursprung. Sozialer Optimismus und religiös erworbenes Selbstvertrauen gehören in dieser Phase zusammen. Dementsprechend vertritt die Erweckungsreligiosität – im Gegensatz zur calvinistischen Erwählungslehre –, dass jedes Individuum für sein Heil selbst zuständig sei. Dieser religiöse Voluntarismus besagt, dass das Individuum sein Heil wählt und dafür sorgt, es nicht zu verlieren – oder dass es das Heil verwirft. Jeder ist seines Heiles Schmied. Erfolg oder Misserfolg gehen in jedem Fall auf die eigene Rechnung. Das Perfektionsdenken findet seine Übersetzung im individualistischen ökonomischen Leistungswillen, der sich nahtlos in die besitzindividualistische Wirtschaftsorganisation einfügt. Die Rechtfertigung des Eigentums aus dem gelungenen Streben heraus kommt unausgesprochen gleich mit. Im Umkehrschluss heißt das: Wer arm ist, hat sich nicht genug angestrengt. Die voluntaristische Wende durch die Erweckungstheologie bedeutete allerdings nicht, dass damit die objektivistische Tradition des Calvinismus (Erwählung durch Gott, besonderer Bund mit den USA, Gesetzesorientierung) völlig obsolet geworden sei. Beide religiösen Habitūs amalgamieren leicht, wenn man Bundestheologie und Exceptionalism als Rahmen für das Streben der Individuen auffasst. Damit bekommt das Perfektionierungsmotiv auch Wirkungen auf das Außenverhältnis. Exceptionalism, Außenpolitik und Mission: »Außenverhältnis« meint zunächst das Interesse an der Ausweitung der Siedlungsgrenze im Westen. In der Literatur wird oft der Zusammenhang zwischen Exceptionalism, Bundestheologie, Millenarismus, Monroe-Doktrin, Manifest Destiny und Panamerikanismus hergestellt. Zu recht. Die von Huntington (1982, 240ff.) skizzierte Disjunktive zwischen Isolation und Kreuzzug findet sich repräsentiert in der Spannung zwischen Isolationismus, der Allianzen ablehnt (»entangling alliances with none«, Jefferson 2006), und der schon von Madison eingeleiteten faktischen Entwicklung im Sinne der Monroe-Doktrin. Das fremde Andere kann entweder gleichgültig sein oder aber auf nahezu hysterische Weise als Infragestellung der eigenen Identität und Existenz wahrgenommen werden oder auch als Bestätigung des eigenen Sendungsbewusstseins. Damit findet sich das Eigene verklärt: die christliche Religion als Element eines utopischen
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Projekts der Moderne. Die Monroe-Doktrin (1823) – formuliert just zu dem Zeitpunkt der Unabhängigkeitskämpfe in Lateinamerika und nach einer Reihe von militärischen Operationen im spanischen Kolonialgebiet – ist von Anfang an ambivalent. Sie ist eine Doktrin zum Schutz gegen kolonialistische Einmischung und zugleich ein Anspruch auf hemisphärische Hegemonie der USA. In der Politik verbindet sie sich schnell mit dem Motiv des Manifest Destiny, der »evidenten Bestimmung« der USA durch die Vorsehung, den gesamten Kontinent in Besitz zu nehmen. In diesem Sinne verwendet Präsident Polk 1845 die Doktrin in einer offensiven Weise zur Legitimation des Krieges gegen Mexiko – und Missionare verteilen später Bibeln in den annektierten mexikanischen Landesteilen.15 Das »neue Jerusalem«, so Marcia Pally (2008), reift zu einer Nation mit der Erfahrung, dass Gewalt, Freiheit und der Segen Gottes in einem positiven Verhältnis zueinander stehen. Um die protestantischen Kirchen im Rahmen dieser Entwicklungen zu positionieren, entwirft der calvinistische Theologe Lyman Beecher in seinem weit verbreiteten Traktat A Plea for the West (Beecher 1835 – also ein knappes Jahrzehnt vor der Annektierung halb Mexikos) eine Expansionsstrategie, in der er die protestantische Weltmission mit einer Ausbreitung des USamerikanischen Modells von »Liberty« verbindet. Der Triumph protestantischer Mission wird gleichgesetzt mit dem der Ausbreitung der Zivilisation der Freiheit im Auftrag der Vorsehung. »Aber wenn diese Nation in der Vorsehung Gottes dazu bestimmt ist, den Weg in der moralischen und politischen Emanzipation der Welt zu weisen, ist es an der Zeit, dass sie ihre hohe Berufung versteht und sich für das Werk rüste.« (Beecher 1835, 11). Beecher weitet den Blick schon nach Lateinamerika, wo es gelte, gegen den Despotismus der katholischen Priesterschaft die Kräfte des Aberglaubens zu beseitigen (Beecher 1835, 117f.). Während Beecher schreibt, finden in Lateinamerika die Unabhängigkeitskämpfe und der Aufstieg der Liberalen statt und in den USA arbeitet schon seit 1810 das calvinistische American Board of Commissioners for Foreign Missions (ABCFM). Ein Zug der Arbeit des ABCFM mit Native Americans ist für die Frage nach Verflechtungen interessant und tritt auch unter US-amerikanischen Missionaren in Lateinamerika während der 1970er und
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Auch der Louisiana Purchase 1803 und der Ausgang des Krieges von Kuba etc., wurden als providentielle Akte verstanden.
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1980er vermehrt auf.16 Die Arbeit von Missionaren mit den indigenen Gruppen führte dazu, dass sie sich gegen die Verdrängungspolitiken (etwa den Removal Act von 1830) einsetzten. Es kann also eine Identifikation mit den Adressaten und Umkehrung der Rolle erfolgen. Diese Logik ist in moderner religiöser Kooperation beispielsweise seitens der Global Ministries, USA, sogar intendiert. Im Laufe des 19. Jahrhunderts bis 1916 gründen die meisten historischprotestantischen Kirchen konfessionelle Missionsgesellschaften, die noch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ihre Arbeit aufnehmen.17 Eine neue Organisationsform entwickelt sich wenig später aus der evangelikalen Erweckungsbewegung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Es entstehen themenorientierte Organisationen nach dem Modell von wirtschaftlichen Gesellschaften, also praktisch NROs: Young Men’s Christian Association (1844), Student Volunteer Movement (1886), Central America Mission (1890), Latin America Mission (1921), und im weiteren 20. Jahrhundert eine nahezu unüberschaubare Zahl. Die Positionierung der meisten dieser neuen Organisationen ist nicht so vorsichtig wie die der Missionare in Panama. Prien (1978, 797f.) zitiert von der Missionskonferenz 1913, New York: Ob die Kirchen in den Missionsländern christlich sind oder nicht, sei vollkommen gleichgültig. Es käme hingegen darauf an, dass »Abermillionen ihrer Einwohner des Wortes Gottes beraubt sind und nicht einmal wissen, was das Evangelium ist«. Um als kirchlich nicht gebundene Organisation das Wort Gottes zu den Ungläubigen bringen zu können, braucht man Geld. Das Laymen’s Missionary Movement (1906, Speer und Mott sind dabei) ist eines von vielen Beispielen der Institutionalisierung und Professionalisierung durch moderne Geschäftstechniken (Rosenberg 1999, 32f.). Eine solche war das Fundraising. Es hatte erheblichen Einfluss auf die inhaltliche Ausrichtung der Organisationen. Je fürchterlicher die Lage von Menschen unter der Herrschaft von Armut, Gewalt, Selbsthass, Dummheit, Rückständigkeit usw. dargestellt wurde, umso besser konnten die Spender als Retter, Wissende, Fähige und als höherwertige Vertreter der Spezies dargestellt werden, um eine größere Summe Geldes zu entlocken. Ein legendäres Beispiel ist das »Schauspiel von Finsternis und Licht« (Cambridge Tribune 1911) am Rande einer Missionsausstellung 1911 in Boston. Natives, Eskimos und Afrikaner erfahren hier in ihrer Finsternis 16 17
Ross und Gloria Kinsler, Irene und Robert Foulkes, John und Irene Stam und Andere. 1825, Presbyterian Church USA in Argentinien; 1824 in Kolumbien und 1827 in Mexiko, auf Einladung von Liberalen.
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durch Missionare die Botschaft des Lichts. Das brutale Othering und Deklassieren der Missionsadressaten ist schon deshalb als Finanzierungstechnik gut verwendbar, weil der Rassismus nicht einmal in den Reihen des Social Gospel überwunden ist. Josiah Strong (1847-1916) war einer der Begründer des Social Gospel und zugleich ein ausgewiesener Rassist. In seinem Buch Expansion18 entwickelt er überdies im Rahmen einer Diatribe über Ökonomie und Weltherrschaft der USA eine listige Theorie zum Verhältnis von Freiheit und Unabhängigkeit unterentwickelter Völker, in seinem Falle die Philippinen. Wahre Freiheit bedeute, unter dem richtigen, dem US-amerikanischen Gesetz, zu leben; Unabhängigkeit hieße dagegen, in der Rückständigkeit zu verharren usw. Ein von Rosenberg (1999, 43f.) zitierter Missionar sieht sogar eine objektiv wirksame Funktion der Christianisierung in der Expansion, denn wenn auch »blind und unwürdig, so doch unter Gott, knechten die christlichen Nationen die Welt auf sichere und beständige Weise, um die Menschheit frei zu machen.« Ökonomische Effizienzüberlegungen lassen die Fundraiser stärker nach Großspendern suchen. Diese bringen, ähnlich wie Strong, normalerweise ihre eigenen, von der Wirtschaft geprägten Vorstellungen ins religiöse Spiel. Umgekehrt wird protestantischen Missionaren im Laufe des Jahrhunderts klar, dass Handelsstationen von Nutzen sind; und Händlern und Investoren, dass missionarische Aktivitäten unterschiedlichster Form ebenfalls für ihre Aktivitäten etwa in Hafenstädten einen nützlichen Kontext darstellen. Ähnliches dürfte der Fall mit dem Militär gewesen sein. Jedenfalls wächst die YMCA nach 1898 vor allem auf Kuba und den Philippinen (Rosenberg 1999, 31). Samuel Capen vom Laymen’s Missionary Movement wird mit der Auffassung zitiert, dass ein Heide, wenn er erst einmal konvertiert ist, auch christliche Kleidung, Hauseinrichtung und Werkzeuge haben wolle und »andere Dinge, die die christliche Zivilisation von der engstirnigen und niedrigen Lebensweise der Heiden unterscheiden« (Rosenberg 1999, 32). Damit besteht eine, subjektiv wahrgenommene, objektive Interessenidentität zwischen dem Tun des Missionars und dem des Händlers an der Christianisierung der Welt, wobei 18
So Rosenberg (1999, 44). Vgl. Strong 1900, 284ff. Strong entwickelt hier eine Legitimationstheorie für Weltherrschaft der USA aufgrund ökonomischer und rassischer Suprematie. Der entwickelte Kapitalismus benötige ausländische Märkte (72ff.). Berücksichtigte Regionen sind u.a. der Panamakanal und das »angelsächsische« Mittelmeer. Die »village world« (214) brauche eine neue Politik und Ethik, eine Weltpolizei, die wohlmeinende Gewalt ausüben können solle sowie Klarheit über die Unterscheidung zwischen Freiheit und Unabhängigkeit.
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das Interesse des Händlers der Gewinn ist und das des Missionars die Verbreitung seines Glaubens, und das heißt auch: seine Position im religiösen Feld. In Lateinamerika ist die katholische Kirche die Hauptgegnerin der protestantischen Mission. Daheim in den USA haben es die Protestanten seit der Kolonialzeit beispielsweise im »French and Indian War« (1754-63) mit katholischen Franzosen und ab etwa 1812 mit biertrinkenden Einwanderern aus Irland und Deutschland zu tun, nicht aber mit einer hegemonialen Macht. Nichtsdestoweniger kritisiert Lyman Beecher (1835, 61ff.), ähnlich wie auch die Panama-Kommissionen, das katholische System als »adverse to liberty«. Die individuellen Katholiken seien also für ihren Glauben weder zu fürchten noch zu diskriminieren. Aber die Papisten fielen wie »Heuschrecken …von den Hügeln und Ebenen Europas« auf die »grünen Weiden« der USA. Damit die Katholiken nicht zum »Altar von Dämonen« geführt werden, seien sie zu bekehren (Beecher 1835, 72f. und 78). Bürgerkrieg, Klassenfrage und Religion – zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts: Der Bürgerkrieg über die Frage der Sklaverei und letztlich auch über die Dominanz von einer der beiden Wirtschaftsweisen, der ländlich-patriarchalen oder der urban-kapitalistischen, sowie seine Folgen haben nicht nur das 19. Jahrhundert, sondern auch die Bevölkerung der USA tief gespalten. Der Historiker Mark Noll (2008, 1) hält fest, dass Rassenzugehörigkeit und Religion gemeinsam zu den einflussreichsten politischen Faktoren in den USA gehören. Der Rassismus schlägt auf Theorie und Planung der Mission durch. In der Praxis in Lateinamerika spielt er allenfalls eine untergeordnete Rolle. Die schwarzen Kirchen sind für den US-Protestantismus sehr wichtig; für die Mission aber nicht, da sie anders als der weiße Protestantismus keinen Anlass zu zivilisatorischer Expansion sahen. Wir beleuchten also nur die für die Verflechtung wichtigen Aspekte unmittelbar. Soziale Frage und Millennium: Sehr wichtig für die Verflechtung unterschiedlicher Typen von Mission mit lateinamerikanischen Akteuren ist die Entstehung von zwei sehr unterschiedlichen religiösen Zeitverständnissen als Reflex auf die soziale Spaltung, die durch die Industrialisierung im Gilded Age, dem vergoldeten (nicht: goldenen) Zeitalter, erzeugt wurde. Die alte Idee, durch moralische Perfektionierung ein nationales Reich Gottes auf der Erde zu realisieren, ist an Handlungsspielräume gebunden, die es ermöglichen, entsprechende Aktionen zu starten. Diese »postmillenaristischen« Pläne sind durch den Bürgerkrieg durchkreuzt worden. Unter den Bedingungen der Industrialisierung kommt die Idee der irdischen Perfektionierung allen-
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falls noch für die gehobenen Klassen in Betracht und lässt sich gut mit säkularem Evolutionismus und sogar Sozialdarwinismus verbinden. Aus dieser Traditionslinie entwickelt sich – dennoch! – das sogenannte Social Gospel, das die Programmatik der Panama-Konferenz prägt. Dessen einflussreichste Richtung, vertreten vor allem von dem sozial engagierten baptistischen Theologen Walter Rauschenbusch (1861-1918), setzte auch auf strukturelle Veränderungen vor allem im Blick auf Kapitalismus, Nationalismus, Militarismus und Individualismus. Nach seiner Auffassung soll das Reich Gottes aber nicht realisiert, sondern nur ansatzweise spürbar gemacht werden. Heute werden diese Positionen unter Anderem von politisch linken Evangelikalen in den USA und Lateinamerika geteilt. Das Proletariat und mehr noch die informell Arbeitenden haben in ihrer Lage allerdings kaum Handlungsperspektiven. Die alte Zeitvorstellung entspricht nicht mehr ihren Lebensbedingungen. Abhilfe schafft die von konservativen Erweckungspredigern – u.a. Cyrus Scofield und Dwight Moody – vertretene Vorstellung, dass »in Wirklichkeit« alles auf das Weltende zustrebe und immer schlechter werde, bis der Herr die wahren Gläubigen in den Himmel holen und dann erst höchst selbst das tausendjährige Reich eröffnen werde. Damit ist die Konstruktion des Reiches außerhalb menschlicher Zuständigkeit und kein nationales Projekt mehr, die Bekehrung zum rechten Glauben ist aber umso wichtiger. In diesem »Prämillenarismus« liegt seit der Jahrhundertwende der Keim für die auf Bekehrung und Gemeindeaufbau gerichtete Aktivität der evangelikalen »Glaubensmissionen«, die wenig Interesse an zivilisatorischen Veränderungen zeigen. Die prämillenaristischen Prediger knüpfen ähnlich wie die Gewerkschaften an sozialen Missständen im Proletariat an, geben aber »amerikanischere« Antworten; jedenfalls Antworten ohne strukturelle Veränderungsperspektiven. Das Individuum muss sich für Christus entscheiden und die soziale Krise durch moralische Selbstdisziplinierung und kirchliche Aktivität meistern. Das kompensiert soziale Deprivation durch religiöse Betätigung. Zudem bieten die Organisationen karitative Hilfen an. Die simplen, am unmittelbaren Umfeld orientierten und autoritativ in einem Schriftvers begründeten evangelikalen Positionen finden auch in Lateinamerika Resonanz in der Unterschicht. Die neuen evangelikalen Glaubensmissionen sind allerdings nur zum Teil beim Panama-Kongress vertreten.
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2.3
Perfektionierung der Puritaner: Emotion, Charisma und Macht
Pfingstbewegung: Überhaupt nicht vertreten ist die Pfingstbewegung. Diese religiöse Bewegung aus der schwarzen und weißen Unterschicht löst sich zu Anfang des 20. Jahrhunderts aus dem festgefahrenen fundamentalistischen Streit, indem sie ekstatische Praktiken aus der evangelikalen Heiligungsbewegung kultiviert und ihnen einen Namen gibt: Herabkunft des Heiligen Geistes an Pfingsten. Die Pfingstbewegung kommt 1906 zur ersten offiziellen Gemeindegründung (Azusa St., Los Angeles) unter dem schwarzen Prediger William Seymour. Sie breitet sich extrem schnell unter marginalisierter schwarzer und weißer Bevölkerung sowie ins Ausland aus; über den kleinen Grenzverkehr der Migranten auch unmittelbar nach Mexiko. Der Clou der Bewegung war die charismatische Legitimation »von unten«, die selbst Analphabeten göttliche Autorität zuspricht, erkennbar durch eine ekstatische Sprachform (Glossolalie). Zudem wurde mit Emphase auf Wunderheilung eine wichtige religiöse Nachfrage der Marginalisierten aufgegriffen. Die ethnisch gemischte Gemeinde in Azusa St. spaltete sich nach wenigen Jahren in eine schwarze und eine weiße Gemeinde auf (wobei die Weißen sich mit der Gemeindekasse davon gemacht haben sollen). Die entstehende schwarze Pfingstbewegung betreibt keine äußere Mission; und selbst heute nur in geringem Maße. Die weiße Pfingstbewegung19 – insbesondere die großen Assemblies of God – greift bald auf das fundamentalistische Schriftprinzip zurück, bemühte sich um hierarchische Organisation und steigt in die äußere Mission ein, unter baldigem Einsatz des Radios. Auch das Modell der freien Religionsunternehmen wird von der Bewegung für die Mission übernommen.20 Die charismatisch (also durch Behauptungen göttlicher Offenbarung und deren Anerkennung) und legalistisch (durch Ausbildung und Zertifizierung) legitimierten Missionare interessieren sich nur für Bekehrungsmission, ekstatische Gottesdienstfeiern und Vergrößerung ihrer Gemeinden. In den USA routinisiert sich die weiße Pfingstbewegung, steigt in die untere Mittelschicht auf und wird den Evangelikalen immer ähnlicher. Die ekstatischen religiösen Impulse wirken sich in Lateinamerika viel stärker aus.
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Vor allem: Assemblies of God (1914), Church of the Foursquare Gospel (ab 1923), die Pentecostal Church of God of America (1919), die Church of God, Cleveland (ca. 1907), Church of God of Prophecy (1923), Pentecostal Church of Christ (1917). 1948 wurde die Pentecostal Fellowship of North America als Dachorganisation gegründet. Jimmy Swaggart, Oral Roberts, T.L. Osborne und Manuel »Yiye« Avila (Puerto Rico).
2 Panama 1916 und der Vorlauf
Neopfingstbewegung: Eine für heute entscheidende Entwicklung findet in den 1950er Jahren in Kalifornien mit der Gründung der Full Gospel Businessmens Fellowship International (FGBMFI) durch den Millionär Demos Shakarian statt. Die Vereinigung schafft schnell den Sprung in die Oberschicht und obere Mittelschicht mit zahlreichen Politikern, Industriellen und Militärs unter den Mitgliedern. Anfang der 60er Jahre weitet sich die neue Tendenz mit der sogenannten charismatischen Bewegung auf den historischen Protestantismus aus; in den 80er Jahren schließlich mit der sogenannten »Dritten Welle« auf evangelikale Kirchen. Parallel dazu sind aus der Pfingstbewegung mit Kenneth Hagin und dem Ehepaar Copeland »Health and Wealth«-Prediger mit riesigen religiösen Entertainment-Unternehmen und Propaganda für Gesundheit und Reichtum hervorgegangen. Ihre Botschaft ist bestens kompatibel mit der auf die Esoterik des 19. Jahrhunderts (Phineas Quimby) und deren Aktualisierung durch positive thinking in der Motivationsindustrie ab den 1950er Jahren (Norman Vincent Peale, der Pastor des jungen Trump und persönlicher Freund Richard Nixons). Die Bewegung organisiert sich weniger nach dem Muster traditioneller Kirchen, sondern als Klientel bekannter Prediger. Dies sind, neben vielen anderen, in den 1980er Jahren, jeder mit eigenem Fernsehkanal: Pat Robertson (Christian Broadcasting Network, CBN), Jim Bakker (Praise The Lord, PTL) und Paul Crouch (Trinity Broadcasting Network, TBN). Sie alle sind in der religiösen Rechten aktiv. In den 1970er Jahren haben sich zudem noch autoritärtheokratische Bewegungen formiert, und zwar um die Dominion-Doktrin, den Reconstructionism mit dem Programm des alttestamentlichen Gesetzes in Verfassungsrang und die autoritäre Discipleship-Lehre. Heute stehen in dieser Tradition vor allem neuere Prosperity-Unternehmen (etwa die modische Paula White mit direktem Zugang zu Donald Trump) und die postmodern-legeren Independent Network Charismatics in easy going California. Entscheidend ist: Die neue Bewegung richtet sich an den religiösen Bedürfnissen der modernisierenden oberen Mittelschicht und Oberschicht aus. Sie verbindet die charismatische Legitimation eigener Positionen und Strategien mit der sozialen und politischen Handlungsfähigkeit privilegierter sozialer Schichten und kanalisiert sie in die Unterstützung der religiösen Rechten. Alle diese Akteure sind für die puritanische Sache keineswegs verloren. Ganz im Gegenteil: Sie propagieren mit modernsten Mitteln und einem hohen Maß an manipulativer Kompetenz die puritanischen Kernanliegen und gehen noch darüber hinaus: den Gottesstaat, den exceptionalism, die Expansi-
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on im Interesse von dominion, das Dämonisierungsmotiv als spiritual warfare und Wohlergehen in der kapitalistischen Form von individueller prosperity – selbstverständlich alles im neoliberalen Modus der Republican Party. Max Weber hat eine Verwandtschaft zwischen dem radikalen Calvinismus der New England-Kolonien und dem radikalen Islam festgestellt. Deren »Heilsaristokratismus« verpflichte die jeweiligen Gläubigen, zu Gottes »Ruhm die Welt der Sünde zu bändigen« und dazu die Figur des »Glaubenskämpfers« hervorzubringen (Weber 1988b, 549f.; ähnlich auch andernorts). Die Frage ist, was in der Verflechtung mit protestantischer Praxis in Lateinamerika davon übrigbleibt oder vielleicht sogar verstärkt wird.
3 Verflechtung religiöser Dispositionen
Verflechtung findet unter Bedingungen statt, die ihr selbst vorausliegen. Deshalb kommt es darauf an, sich die Differenzen der an der Verflechtung beteiligten Regionen und Akteure klarzumachen. Auf dieser Grundlage können wir einen Überblick über die wichtigsten Operatoren der Verflechtung und deren Veränderung durch diesen Prozess des Sich-Verflechtens gewinnen. Da uns aus Gründen der historischen Faktizität vordringlich die Verflechtungsdynamik vom US-amerikanischen Protestantismus in Richtung auf Lateinamerika interessiert und wir die USA schon beleuchtet haben, beginnen wir mit einer kurzen Reflexion über die Bedingungen in Lateinamerika. Dann greifen wir die wichtigsten religiösen Dispositionen des US-amerikanischen Missionsprotestantismus wieder auf und skizzieren ihre Transformationen durch den Verflechtungsprozess.
3.1
Bedingungen der religiösen Verflechtung
In den USA hat der Protestantismus, wie wir gesehen haben, in der Kolonisierung eine entscheidende Rolle gespielt und repräsentiert die raison d’etre des neuen Staatswesens: das Neue Jerusalem, die Stadt auf dem Berge. Der puritanische Protestantismus steht für gelungene Befreiung vom Kolonialherrn und vollendete Revolution, sodass von konservativen Protestanten heute eine Reform des politischen Systems als Rückkehr zum Urzustand einer Christian Nation der Weißen phantasiert wird. Die ethnische (»racial«) Spaltung ist hier zentral. In Lateinamerika hingegen ist die katholische Kirche traditionell die religiöse und gesellschaftliche Hegemonialmacht. Der Protestantismus ist zunächst ein subalterner Eindringling, der sich erst im Laufe der Zeit eine relativ starke Position aufbauen kann; dies allerdings erkauft durch eine Reihe
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von Veränderungen, die durch die Verflechtung mit der lateinamerikanischen Wirklichkeit stattfanden. Hacienda: In Lateinamerika fällt der katholischen Kirche eine ähnliche zivilisatorische Rolle zu wie dem Protestantismus in den USA. Diese Rolle wird allerdings anders ausgefüllt. In Verbindung mit den europäischen, vormodernen Kolonialmächten stabilisierte sie eine hierarchische, am Ständesystem orientierte Gesellschaftsstruktur durch eine ebenfalls hierarchische Organisationsstruktur und eine ritualistische religiöse Praxis. Die Hacienda, ihre Hierarchie, ihre korporatistischen Verantwortungsbeziehungen, ihre religiöse Absicherung durch direkte Legitimation seitens der katholischen Kirche (jede Hacienda hat eine Kapelle) sowie die Homologie dieser Struktur zur gesamtgesellschaftlichen Herrschaftsstruktur steht pars pro toto für die koloniale Gesellschaft Lateinamerikas. Die Hacienda verschwindet mit dem späten 19. Jahrhundert als Institution bzw. als Dispositiv; aber von ihr geprägte Dispositionen wirken noch lange nach:1 die Orientierung an Hierarchien und starken korporatistischen Strukturen in Familie, Wirtschaft, Religion und Politik; die Zentralität von groß-familiären Beziehungen anstelle von Individualismus sowohl in der Oberschicht wie auch in der Unterschicht; Undurchlässigkeit der Klassengrenzen für sozialen Aufstieg. In den heutigen Prozessen der Refeudalisierung (vgl. Kaltmeier 2019) werden entsprechende Dispositionen in ganz neuer Weise mit neoliberaler Logik zu einem modernen Autoritarismus verbunden. Für die Politik bleibt festzuhalten, dass in Lateinamerika – anders als in den USA – der starke Staat eine Selbstverständlichkeit ist. Für die Religion liegt die Affinität der Hacienda-Dispositionen zum hierarchisch organisierten Katholizismus auf der Hand. Im Blick auf die Pfingstbewegung ist schon in den 1970er Jahren festgestellt worden (Lalive d’Epinay 1969; 1975), dass Gemeinden bzw. Kirchen die sozialen Funktionen der verlorenen Hacienda in einem kapitalistischen Wirtschaftskontext übernehmen. In Brasilien sieht man einen ähnlichen Effekt in der Rolle der Pastores presidentes, die ihre Kirchen wie Fazendas führen.
1
Kaltmeier (2016) begreift nach Foucault die Hazienda als ein »Dispositiv«, also als eine unterscheidbare soziale Einheit, die aus Institutionalität, wiederkehrenden Praktiken und entsprechenden Dispositionen der Akteure besteht. Geht man davon aus, dass Habitūs das Ende von ihnen entsprechenden Strukturen überdauern können (HysteresisEffekt, Bourdieu), so liegt es nahe, die Einstellungen und Verhaltensweisen der Hazienda auch unter veränderten gesellschaftlichen Strukturen noch vorzufinden.
3 Verflechtung religiöser Dispositionen
Liberalismus: Der zweite strukturprägende Faktor ist der Liberalismus der Unabhängigkeitsbewegungen. Die in Lateinamerika geborenen und auf Handel mit den USA und Freiheit von den europäischen Monarchien setzenden Criollo-Eliten streben vorwiegend Liberalisierung auf wirtschaftlichem Gebiet und republikanische Verfassungen an. Der Wirtschaftsliberalismus schließt allerdings weder Diktatur als Regierungsform (Guatemala) aus noch die Möglichkeit sozialrevolutionärer Entwicklungen (Mexiko). Die Liberalen schwächen die katholische Kirche – in unterschiedlichem Maße je nach Land (am geringsten in Costa Rica und Paraguay, am stärksten in Mexiko und Uruguay) – durch die Verstaatlichung kirchlicher Güter, laizistische Verfassungen und die Öffnung des religiösen Feldes vermittels Religionsfreiheit. In religiöser Hinsicht besteht somit eine objektive Affinität zum Protestantismus. Von zentraler Bedeutung ist die Laizität des Staates und damit die Entfernung der katholischen Präsenz aus dem politischen Feld. Die Laizität in Lateinamerika ist das Resultat eines blutigen Kampfes zur Beendigung des Kolonialregimes und Gegenstand fortdauernder, teilweise gewalttätiger Auseinandersetzungen zwischen zwei Fraktionen der herrschenden Klasse. Sie ist also in viel höherem Maße ein Politikum als dies in den USA der Fall ist, wo der Erste Verfassungszusatz ein Gegenstand politischer Debatte zwischen einer stark und einer geringfügig religiösen Gruppe war, von der öffentlichen Debatte ohnehin konstant unterlaufen wurde und erst in der Gegenwart durch fundamentalistische Versuche religiöser Verfassungsmanipulationen wieder zum Gegenstand von Konflikten geworden ist. Elitenkampf: Allerdings ist in Lateinamerika der Konflikt mit den Repräsentanten des Kolonialsystems durch die Etablierung liberaler Republiken nicht erledigt. Vielmehr schreibt sich die Spannung zwischen ursprünglich kolonial orientierten, konservativen und pro-katholischen Kräften auf der einen Seite und ursprünglich anti-kolonialen, wirtschaftsliberalen und kapitalistischen Kräften bis heute fort in Form von Kämpfen zwischen unterschiedlichen Fraktionen der Eliten, wie sie sich besonders in Zwei-ParteienSystemen wie dem kolumbianischen spiegeln. Der Tendenz nach sind die alten Oligarchien pro-katholisch und mit der traditionalistischen katholischen Rechten – dem Opus Dei, den Legionären Christi usw. – verbunden. Dies sind die Einzigen, die auf die Kolonialzeit als einem goldenen Zeitalter zurückblicken. Dagegen stehen die neoliberalen und technokratischen Aufsteiger früher dem historischen Protestantismus und heute dem Prosperity Gospel nahe und blicken positivistisch und evolutionistisch nach vorn, nicht selten auf eine »Amerikanisierung« der Gesellschaft. Immer wieder kann man sehen, dass
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mit der von Pareto aufgezeigten Zirkulation der Eliten (Pareto 1916), durch welche kombinatorische »Füchse« und persistente »Löwen« einander ablösen, auch die Chancen unterschiedlicher religiöser Akteure auf Beeinflussung der Politik steigen oder sinken. Evangelikale Linke: Diese Mechanik bedeutet allerdings nicht, dass die undurchlässige hierarchische Trennung des gesellschaftlichen Oben vom Unten damit erledigt wäre. Die hierarchische Gesellschaftsstruktur erweist sich auch heute noch als hartnäckig fortdauernd. Dass sie vor dem 2. Vaticanum von der katholischen Kirche abgesegnet wurde, hat dazu beigetragen, dass sich nicht-religiöse bzw. antiklerikale Widerstandsbewegungen von Unten entwickelt haben. In den USA war das signifikanterweise nicht der Fall. Werner Sombart (1906) hat für das beginnende 20. Jahrhundert festgestellt, dass es in den USA keinen Sozialismus gäbe, dass er sich aber wohl bald entwickeln dürfte. Er hat ganz offensichtlich nicht mit der Kooptation eines großen Teils der Industriearbeiter im 19. Jahrhundert durch die Evangelikalen gerechnet. Dagegen entwickeln sich mit anti-katholischem Verve in Lateinamerika stabile sozialistische und marxistische Bewegungen und Parteien, und zwar sowohl in den Städten wie auf dem Land. Dies hat verschiedenste Effekte auf das religiöse Feld. Der stärkste dürfte die Veränderung des Katholizismus durch die Befreiungstheologie und deren Basisorganisationen sein. Im Protestantismus kommt es ab der Mitte des 20. Jahrhunderts einerseits zu Affinitäten mit politischen Parteien der Linken (z.B. APRA in Peru, PRD in Mexiko), vermutlich aufgrund der homologen Positionen der beiden marginalen Akteure im Verhältnis zu den herrschenden Schichten und der katholischen Kirche. Andererseits entsteht aus der Ähnlichkeit der Positionen auch objektive Konkurrenz, etwa zwischen der Arbeiterbewegung und der Pfingstbewegung in Chile (nicht zuletzt um die Zeit, die die Mitglieder in die jeweiligen Organisationen investierten). Die rigide Sozialstruktur und die soziale Plausibilität sozialistischer Alternativen haben im lateinamerikanischen Protestantismus zur Herausbildung sozialreformerischer und -revolutionärer Gruppen geführt, wie etwa in Brasilien die studentisch basierte und ökumenisch orientierte Confederação Evangélica do Brasil (CEB) unter der Leitung des Presbyterianers Waldo César schon ab 1934. In der Folge dieser Entwicklungen ist das Social Gospel lateinamerikanisch »auf links gezogen« worden. Selbst die Bekehrungsfrömmigkeit der evangelikalen und pfingstlichen US-Organisationen ist von dieser Entwicklung Anfang der 1970er Jahre gründlich eingeholt worden.
3 Verflechtung religiöser Dispositionen
Gleichwohl gilt es zu beachten, dass im lateinamerikanischen Protestantismus – gemäß eigener früherer Studien (u.a. Schäfer 2009) – die politische Transformation religiöser Überzeugungen keineswegs so selbstverständlich ist, wie dies im US-amerikanischen Protestantismus der Fall ist. Dies zeigt sich besonders an der politischen Aufladung apokalyptischer Vorstellungen und einer politischen Verwendung der Doktrin der geistlichen Kriegsführung in den USA. In Lateinamerika hingegen ist der Protestantismus gerade in seiner pfingstlichen Variante vor allem im Alltagsleben verankert. Politische Aktivitäten protestantischer Akteure haben erst in den letzten Jahrzehnten an Bedeutung gewonnen durch die neopfingstlichen Gruppen in der modernisierenden oberen Mittelschicht, sind dafür heute aber umso aggressiver. Wertevergleiche: Wenn es um die Unterschiede zwischen den USA und Lateinamerika als Bedingungen für die Verflechtungen geht, wird der Protestantismus in Lateinamerika nicht selten mit bestimmten, auf die USA projizierten Werten identifiziert, die angeblichen lateinamerikanischen Werten diametral entgegenstehen sollen. Diesen meist aus US-amerikanischer Perspektive angestellten Wertevergleichen liegt ein Körnchen Wahrheit und ein Körnchen naive Selbstwahrnehmung zugrunde. Den USA werden beispielsweise Freiheit und Gleichheit zugerechnet, und sie werden mit den philosophischen Prinzipien Lockes, Madisons und Jeffersons assoziiert, die selbstverständlich nur ad bonam partem interpretiert werden, obwohl man an Madisons Vorbereitung globaler Expansion durchaus Kritik anmelden könnte (vgl. Williams 1984, 43ff., 53ff., 63ff.). Seymour Lipset bildet die USA als eine Gesellschaft der freien Farmer ab, während er in Lateinamerika hingegen tiefgreifende Ungleichheit am Werk sieht durch den Gegensatz von Latifundium und Minifundium. Diesem Bild entsprechend wird für Lateinamerika eine auf Ungleichheit beruhende undemokratische Staatsform postuliert, und für die USA das Gegenteil.2 In diesem Rahmen fällt der protestantischen Mission in Lateinamerika dann quasi automatisch die Rolle zu, dem lateinamerikanischen Kontinent Freiheit und Gleichheit zu bringen. In besonders naiver Anwendung der »Weber-These« wird – wie schon in der Einleitung bemerkt –
2
Vgl. hierzu die knappen Ausführungen bei Krumwiede 2002, 26ff. Bei den genannten Argumenten wird allerdings unterschlagen, dass in den USA das politische ZweiParteien-System plutokratisch abgedichtet ist gegen jede Möglichkeit einer Kandidatur, die nicht mit Unsummen aus der Wirtschaft finanziert wird. Und es wird die Durchsetzung demokratischer Prozeduren in Lateinamerika unterschlagen, die zu einer Periode sozialdemokratischer bzw. sozialistischer Regierungen geführt hat.
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gelegentlich auch angenommen, dass die protestantische Ethik (methodistischer Ausprägung) Lateinamerika einen Fortschrittsschub und den Menschen »betterment« bringe. Derartige Annahmen zur Rolle des Protestantismus haben ihr Körnchen Wahrheit darin, dass es in der Tat Habitusunterschiede zwischen traditionellen Katholiken in Lateinamerika und Protestanten in den USA gibt, die selbstverständlich auch mit unterschiedlichen gesellschaftlichen Strukturen, religiösen Organisationsformen und Glaubenspraktiken zu tun haben. Sie verkennen allerdings, dass der Protestantismus aus den USA sich nicht einfach übertragen lässt – ebenso wenig wie democracy bei militärischen regime change-Unternehmungen. Ein auch nur knapper Blick auf die Entwicklung des Protestantismus in Lateinamerika zeigt, dass sich schon in der ersten Generation Diskursschemata aus dem protestantischen religiösen Angebot mit religiösen und kulturellen Dispositionen aus dem lateinamerikanischen Kontext stark amalgamieren und sich im Zusammentreffen mit dem veränderten Handlungskontext verändern. Schon der für den White AngloSaxon Protestantism der USA konstitutive Blick zurück zum puritanischen Zeitalter ist für einen lateinamerikanischen Protestanten – selbst für Evangelikale – kaum nachzuvollziehen. Worauf sollte er oder sie zurückblicken? Auf die katholische Kolonialzeit? Die liberale Revolution? Oder etwa auf die Puritaner-Kolonie in Massachusetts? Mit dieser Bedingung hängt auch zusammen, dass das Gros des Protestantismus in Lateinamerika schon bald nach der liberalen Periode im 19. Jahrhundert unpolitisch wurde und sich vielmehr als Alltagsfrömmigkeit ausprägte. Dies wiederum heißt, dass der eifersüchtige Blick auf doktrinale Reinheit und die kategorische Ablehnung nicht-protestantischer Religiosität durch die Puritaner sich nicht einfach aus den USA auf die lateinamerikanische Praxis übertragen lässt. Im Gegenteil wird doktrinäre Disziplin von einer Zunahme charismatischer Frömmigkeitsformen in Lateinamerika tendenziell aufgeweicht. Das sei emblematisch dargestellt am Urteil eines lateinamerikanischen Pfingstpastors über das Statement eines evangelikalen Christen aus den USA, dass das Heil einzig und allein durch den Glauben an Jesus Christus erwirkt werden kann. Der Pastor, ein Pfingstler (!), sagte schlicht: »Dieser Mann ist ein Fundamentalist.« USA: Hegemonialer Protestantismus: Mit anderen Worten: Als Resultat der englischen Kolonialgeschichte ist der puritanische Protestantismus in den USA hegemonial und hat zur Bildung einer Zivilreligion beigetragen. In Lateinamerika hingegen nimmt, als Resultat der spanischen Kolonialgeschichte, ein ritualistischer Katholizismus die hegemoniale Position ein. Das bedeutet für den Protestantismus, der uns hier interessiert, dass in den USA eine un-
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gebrochene Traditionslinie des hochpolitischen, stark calvinistischen Puritanismus vorliegt – auch wenn diese in den letzten Jahrzehnten neopfingstlich und neoliberal transformiert wurde. Das Eingreifen protestantischer Akteure mit religiösen Argumenten in politische Debatten und Entscheidungen gilt in der Öffentlichkeit jedenfalls – trotz des Ersten Verfassungszusatzes – als normal. Die Spannung zwischen religiös-politischem Kollektiv und pflichtgemäß rechtgläubigem Individuum kann nur durch rigorose Kontrolle der Rechtgläubigkeit und der gesetzeskonformen Praxis des Individuums durch das Kollektiv in hinreichend engen Grenzen gehalten werden, um die Fortdauer des kollektiven Lebensentwurfs zu ermöglichen. Gegenüber nicht konformem Verhalten sind Strategien des Ausschlusses und die Setzung von harter Differenz von besonderer Bedeutung, ebenso wie die sie begleitende Orientierung an Ethnizität (race), was sich an den Strategien des weißen Evangelikalismus besonders deutlich zeigt. Der entsprechende religiöse Habitus hat im Laufe des letzten Jahrhunderts auch die weiße Pfingstbewegung in den USA deutlich geprägt, weswegen diese kaum in der Lage war, eine attraktive unique selling position im Verhältnis zur evangelikalen Hegemonie aufzubauen. Ob Pfingstbewegung oder Evangelikalismus, der Protestantismus in den USA (insbesondere der der Weißen) ist von einer Logik des Entweder-Oder bestimmt.3 Lateinamerika: Hegemonialer Katholizismus: In Lateinamerika hingegen ist der Protestantismus zunächst eine sehr marginale religiöse Option gegenüber dem hegemonialen Katholizismus. Bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts wird der religiöse Habitus des größten Teils der lateinamerikanischen Bevölkerung durch die magisch-ritualistische Frömmigkeit eines traditionellen Katholizismus geprägt, was insbesondere am Volkskatholizismus und an dessen Amalgamierung mit indigener Religion zu sehen ist. Die praktische Logik dieses Katholizismus’ ist inklusivistisch und hierarchisch. Das Interesse besteht darin, zu taufen, welcher ethnischen oder sozialen Gruppe auch immer eine Person angehören mag. Es geht darum, die zivilisatorische Präsenz eines hierarchischen Gesellschaftsmodells auf die größtmögliche Menge physisch anwesender Personen auszudehnen. Selbstverständlich kommt es immer wieder auch zu Exklusion, insbesondere gegenüber aufständischen Indigenen. Nichtsdestoweniger ist jedoch das Differenzierungsprinzip dieser praktischen Logik die Einordnung gesellschaftlicher Akteure in eine Hierarchie, an deren Spitze die katholische Kirche steht und allenfalls 3
Vgl. hierzu und zum Folgenden Vasquez und Marquardt 2003, 30.
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noch eine, wenn möglich royale – also von Gottes Gnaden abhängige –, Repräsentanz weltlicher Macht. In der Praxis des Volkskatholizismus sind endlose Variationen von Heiligenverehrung und faktischen religiösen MehrfachZugehörigkeiten möglich, solange die Individuen formal in der Hierarchie eingeordnet sind. Ethnische Zugehörigkeit bzw. Rasse wird in diesem Zusammenhang als ein Kontinuum aufgefasst, was sich in Begriffen wie der brasilianischen morenidade spiegelt. Lateinamerika: Marginaler Protestantismus: Der US-amerikanische Missionsprotestantismus tritt zu diesen kulturellen Verhältnissen Lateinamerikas in einen scharfen Gegensatz. Dies ist insbesondere der Fall beim Evangelikalismus und der Pfingstbewegung. Die Rolle des Protestantismus ist aber nicht hegemonial wie in den USA, ja nicht einmal dominant. Er ist fremd in eine katholisch geprägte Kultur hineingekommen und spielt eine marginale Rolle bis etwa in die 1980er Jahre hinein. Er ist also keineswegs von Anfang an von Bedeutung für die Politik, sondern muss sich zunächst über Bekehrungsmission und quantitatives Wachstum überhaupt erst eine einigermaßen signifikante Position in der Gesellschaft erkämpfen. Dementsprechend ist für den größten Teil des lateinamerikanischen Protestantismus bis heute die Bekehrung von Katholiken auf der Suche nach neuen Anhängern zentral. Die sich daraus ergebende Spannung zwischen Protestantismus und Katholizismus im religiösen Feld lässt sich nur punktuell überwinden, beispielsweise in der Kooperation bezüglich dritten, politischen Themen wie zum Beispiel im Kampf um restriktive Abtreibungsgesetze oder um soziale Gerechtigkeit. Protestanten versuchen Bekehrungsmission und die Aufwertung der eigenen politischen Bedeutung dadurch miteinander zu verbinden, dass sie behaupten, die gesellschaftlichen Probleme würden sich von selbst lösen, wenn nur möglichst alle Menschen zum evangelikalen oder pfingstlichen Protestantismus konvertierten. Die Grenze zur sozialen Umwelt wird also religiös gezogen, durch die Zugehörigkeit zu einer sehr klar definierten religiösen Gruppierung. Diese harte, religiöse Grenzziehung wird in jüngerer Zeit allerdings durch zwei Prozesse aufgeweicht. Einerseits ergreift der ökumenisch gewandelte und teilweise von indígenas angeführte historische Protestantismus immer stärker Initiativen des interreligiösen Dialogs. Und andererseits entwickelt die Pfingstbewegung – mit der Zeit und in deutlich höherem Maße als in den USA – ihre Fähigkeit, Diversität zuzulassen und zu kultivieren. Je stärker sich die Pfingstkirchen in Lateinamerika verwurzeln, umso stärker diversifizieren sie sich und umso häufiger ist es der Fall, dass ein und dieselbe Person in unterschiedlichen religiösen Kulten
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praktiziert. Eine wichtige Informantin unseres wissenschaftlichen Partners in São Paulo ist in den pfingstlichen Assambléias de Deus organisiert, weil diese gute Gemeinwesensarbeit machen; sie geht in die katholische Kirche, um meditative Distanz vom Stress der Stadt zu bekommen; und sie geht zum Priester des Candomblé, wenn sie ernsthaft erkrankt ist. Rassismus: Rassismus haben wir bereits als einen entscheidenden Erklärungsfaktor für religiöse Konflikte in den USA identifiziert. Rassismus ist auch in Lateinamerika ein wichtiger Faktor. Allerdings ist in den USA etwa durch die quasi-Vernichtung der indigenen Bevölkerung, die Sklaverei und die institutionalisierte Diskriminierung bis in die 1960er Jahre eine sehr viel brutalere Segregation vorgenommen worden als in den meisten lateinamerikanischen Ländern. Zudem war die Rassendifferenz auch für Kirchenzugehörigkeit (black churches) lange konstitutiv und ist immer noch ein wichtiger Faktor. In Lateinamerika hat bei allem Rassismus dennoch eine sehr viel stärkere, biologische und kulturelle mestizaje stattgefunden, die teilweise sogar programmatischen Charaker hatte (Mexiko, Brasilien, Kuba).4 Die katholische Kirche hat zwar immer noch eine überwiegend weiße Hierarchie, aber doch auch integrative Pastoralarbeit (pastoral indígena) und Symbolik (Jungfrau von Guadalupe) entwickelt. Im Protestantismus sind die Mitglieder als Personen aus der Unter- und Mittelschicht ohnehin fast alle Mestizen oder Schwarze; nur in einigen Neopfingstkirchen ist ein Rassenunterschied objektiv feststellbar, aber nur von geringer, wenn überhaupt von irgendeiner Bedeutung. Dennoch muss man von mindestens unterschwelligem Rassismus gegenüber der indigenen und afroamerikanischen Bevölkerung sprechen, die jedenfalls von Indigenen in den letzten Jahrzehnten mit der Gründung selbstständiger indigener Kirchen beantwortet wird. Diese verbinden die religiöse Praxis generell mit Sozial- und Kulturarbeit, häufig auch mit politischer Teilhabe im Sinne indigener Interessen. Neokoloniale Dominanz: Eine sehr wichtige Rahmenbedingung für die hauptsächlich aus den USA kommende protestantische Mission in Lateinamerika ist die neokoloniale Dominanz der USA über Lateinamerika in fast allen Feldern gesellschaftlicher Praxis, insbesondere in der Wirtschaft. In Fortführung der hemisphärischen Politik der Monroe-Doktrin und im Interesse eines ungehinderten Zugriffs auf günstige Rohstoffe hat es seit dem 19. Jahrhundert zahllose militärische und politische Übergriffe der USA auf Lateinamerika gegeben. Diese objektive Dominanz hatte noch im späten 20. 4
…wieviel Euphemismus auch immer dahinter stecken mag.
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Jahrhundert Effekte auf die öffentliche Wahrnehmung des Protestantismus als eines U-Bootes US-amerikanischer Geheimdienste oder mindestens USamerikanischer Kultur. Bei lateinamerikanischen Protestanten ist jedoch das Replizieren US-amerikanischer Kultur nicht von größerem Interesse als in der Gesellschaft insgesamt. Die Ausnahme bilden neopentekostale Organisationen der modernisierenden oberen Mittelschicht, für die US-amerikanische Modelle des self management, des positive thinking und der beruflichen Karriere identitätsbestimmend sind. In der Masse des lateinamerikanischen Protestantismus aber wird die kulturelle und sonstige Dominanz der USA meist stillschweigend, manchmal aber auch laut protestierend, abgelehnt. Von besonderer Bedeutung für die Entwicklung des Protestantismus in Lateinamerika waren Konflikte mit Missionaren. Seit Beginn der 60er Jahre distanziert sich jüngeres nationales Führungspersonal von der Kontrolle, Weisungsbefugnis und Programmatik der US-amerikanischen Missionare und oft auch vom US-amerikanischen Kulturmodell. Dies führt zur Gründung einheimischer Kirchen, oft aus pfingstlicher Tradition (wie etwa die Unión Evangélica Pentecostal Venezolana, UEPV), die eine eigene, oftmals an sozialem Engagement orientierte Programmatik entwickeln. Die UEPV beispielsweise setzt sich klar aus Angehörigen der Unterschicht zusammen und ist ebenso klar auf Seiten der Bolivarischen Revolution. Binäre und kontinuierliche Identitäten: Mit aller gebührenden Vorsicht kann man schließlich einen weiteren wichtigen Unterschied zwischen den USA und Lateinamerika im Blick auf die Konstruktion kollektiver und individueller Identitäten festhalten. Der Unterschied besteht lediglich der Tendenz nach und trifft in beiden Regionen auf Ausnahmen. Aber er betrifft eine zentrale Struktur der Identitätskonstruktion. Daher erscheint er uns hilfreich für eine allgemeine Orientierung. Vásquez und Marquardt (2003, 30) machen auf eine Beobachtung Nestor García Canclinis (2001, 108ff., bes. 117) bezüglich der Identitätskonstruktion im Zusammenhang mit der ethnischen (rassischen) Zuordnung aufmerksam. In den USA werden aufgrund der scharfen Segregation und der dementsprechenden binären Codierung (black/caucasian) Identitäten als »autonome Einheiten« aufgefasst, was Verhandlungen über Abstufungen bzw. Schattierungen schwierig bis unmöglich mache. In Lateinamerika, besonders in Brasilien, sei der kulturelle Rahmen zwar noch hierarchisch und eurozentrisch, aber das »Subjekt bewahrt sich die Möglichkeit verschiedener Zugehörigkeiten, es kann zwischen den Identitäten verkehren und sie mischen« – so wie im Falle der katholischen Candomblé-Pfingstlerin aus São Paulo. Damit verliert sich auch der essentialistische Bezug auf eine bestimm-
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te Ethnie als Kern der nationalen Kultur. Dieser offenen und variablen Form der Identitätsbildung entspricht eine Auffassung ethnischer Unterschiede als einem Kontinuum von unterschiedlichen Graden der Mischung. Während das den USA zugeschriebene Modell deutlich mit der Praxis der Sklaverei assoziiert ist, hat das lateinamerikanische seine Entsprechung in der mestizaje – was nicht heißt, dass es nicht auch rassistisches Potenzial birgt. Aber die Identitäten, bzw. ihr Wert im sozialen Austausch, werden in der täglichen Alltagspraxis, unter Machtverhältnissen und über den Wandel der Zeiten immer wieder neu ausgehandelt. Somit sind sie ständigem Wandel unterworfen. Blickt man mit der skizzierten Fragestellung auf religiöse Praxis, so finden sich Ähnlichkeiten. Die Annahme der Erwähltheit und Einzigartigkeit der USA erzeugt einen starken Innen-Außen-Gegensatz. Dieser kann sowohl durch Expansion als auch durch Isolation operieren. Beides ist aus der Geschichte der USA bekannt. Das Außen ist traditionell identifiziert mit dem alten Europa, dem Papst, Feudalismus, kirchlicher Hierarchie, exogener Kontrolle usw. Im Inneren wirkt die Freiheit der individuellen Entscheidung zur wahren Religion. Innen herrscht das wahre Christentum, außen etwas anderes, sei es Atheismus oder fremde Religion. Jedenfalls ist das Außen weder erwählt noch amerikanisch. Im Falle der Option für Expansion entwickelt sich die Logik der Weltmission – die ja interessanterweise von den black churches nie in Betracht gezogen wurde! – gleichsinnig mit der Logik des manifest destiny, der Monroe-Doktrin, der Handels- und Rohstoffflotten sowie der militärischen Interventionen. Die für Lateinamerika konstatierte Identitätskonstruktion entlang von kontinuierlich sich abzeichnenden Differenzen ist in religiöser Hinsicht vor allem mit dem Katholizismus assoziiert. Das grenzt die Offenheit ein, insbesondere wenn man die in der Kolonialzeit verbreitete Haltung der katholischen Kirche gegenüber nicht-Katholiken in Betracht zieht. Doch die Entwicklung des Katholizismus bis heute zeigt, dass er in der Lage ist, sich selbst interreligiös zu öffnen. Allerdings unterliegt auch diese Öffnung immer der Bedingung der hierarchischen Logik.Hierarchie. Der Katholizismus kann inklusiv sein, weil er hierarchisch ist –genau genommen sogar angefangen bei Gott (dem ersten Beweger) über den Papst und die Priesterhierarchien bis zum einzelnen Gläubigen. Und das heißt, dass der Katholizismus eine eigene, theologisch konstruierte Universalität behauptet (was streng genommen paradox ist). Eingeordnet in diese große Pyramide des Seienden ist das Kontinuum der Ethnien, deren einzelne Repräsentanten als geordnete Elemente der Pyramide selbstverständlich vollwertig gemäß ihrer Position akzeptiert
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sind; ganz ähnlich wie die Vertreter unterschiedlicher Religionen prinzipiell als theologisch wahrheitsfähig akzeptiert werden, nur eben mit unterschiedlich naher oder ferner Position von der Mitte eines konzentrisch gedachten Wahrheitskontinuums. Dem entspricht auch, dass der lateinamerikanische Katholizismus nach vollendeter oder nicht mehr nötiger Christianisierung der indígenas kein Außen mehr kennt. Er ist Teil einer universalen Gemeinschaft, der Weltkirche. Ein ähnliches Bild der Welt scheint auch in die Habitūs der meisten lateinamerikanischen Politiker Eingang gefunden zu haben, was die geringe Zahl internationaler Konflikte auf dem Kontinent und den völligen Verzicht auf extrakontinentale Expansion teilweise erklären könnte. Es gibt bei lateinamerikanischen Katholiken zwar lokale Heilige (die Jungfrau von Guadalupe, die von Aparecida usw.), aber es gibt keine auf eine Nation bezogene religiöse Erwähltheitsideologie. Vielmehr gibt es die Position in der Hierarchie, deren Spitze Rom bildet. Große Teile des lateinamerikanischen Protestantismus haben sich folglich in einer komplizierten Gemengelage zurechtzufinden, wenn erst einmal die Erwähltheitsideologie der US-amerikanischen Missionare abgestreift ist – die ja ohnehin per definitionem nur die eigene Sonderrolle betont und die lateinamerikanischen Aktivisten auf einen Platz im billigen historischen Parkett verwiesen hat, denn das gelobte Land liegt ja genau genommen in Massachusetts. Wie schon angedeutet, träumen einige Neopentekostale der oberen Mittelschicht davon, ihre Länder an die USA anzugleichen, die laizistische Politik zu re-sakralisieren und damit alle Probleme zu lösen (seltsamerweise auch die der ökonomischen Abhängigkeit von den USA). Die meisten lateinamerikanischen Protestanten aber werkeln an einer eigenen, möglichst authentischen Identität. Insofern diese Identität aus protestantischen religiösen Dispositionen konstruiert sein soll, müssen sie auf das diskursive Inventar des Protestantismus zurückgreifen und es in Beziehung zur heimischen Gesellschaft neu profilieren. Welches sind die wichtigsten Elemente dieses Inventars und wie können lateinamerikanische Protestanten damit verfahren?
3.2
Religiöse Dispositionen: Transformation durch Verflechtung
Zu den spezifischen Bedingungen der Eroberung und Besiedlung des nordamerikanischen Kontinents gehört, dass die puritanischen Einwanderer den religiösen Diskurs einer zur Aussiedlung gezwungenen europäischen
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Randgruppe mitbrachten. Wie in sektären5 Diskursen üblich, operiert auch in diesem eine Logik der harten Abgrenzung, des Entweder/Oder und des Innen/Außen-Gegensatzes. Anders als in Europa – wo der sektäre Diskurs aus subalternen Positionen schallt – wird dieser Diskurs mangels hinreichender Konkurrenz in Nordamerika dominant, sodass exklusivistische Schemata nun von herrschenden Positionen aus verwendet werden. Im Laufe der US-amerikanischen Geschichte hat sich aus diesem Diskurs und aus neuen religiösen Impulsen (z.B. Methodisten) sowie politischen Ideologien (z.B. manifest destiny) eine Reihe von zum Teil widersprüchlichen religiösen Überzeugungen herausgebildet, die Ausdruck des Selbstverständnisses unterschiedlicher Formationen der US-amerikanischen Gesellschaft waren und bis heute sind. Diese religiösen Dispositionen generieren ihrerseits den Diskurs, mit dem die Missionare »ins Feld« gehen. In Lateinamerika trifft dieser Diskurs auf religiöse, politische, wirtschaftliche, kulturelle usw. Dispositionen und Institutionen, die sich im Laufe der Kolonialzeit und der antikolonialistischen Kämpfe der Liberalen herausgebildet haben. Dominant sind in der bislang wichtigsten Zeit der Verflechtung durch Mission, dem 20. Jahrhundert, zwei konkurrierende Positionen: der Katholizismus und der Liberalismus. Je nach nationalem Grad des Laizismus ist eine dieser Positionen vorherrschend, und beide repräsentieren jeweils sehr unterschiedliche Operationsbedingungen für protestantische Kirchen. Doch selbst wenn die Operationsbedingungen unter liberaler Herrschaft, bei Religionsfreiheit und geringem Laizismus (bspw. in Guatemala) gut sind, ist der Protestantismus subaltern. Er bleibt es in den meisten Ländern bis heute, selbst wenn er aus verschiedenen Gründen gute politische Operationsbedingungen vorfindet, wie etwa in Brasilien oder Guatemala. Aus der subalternen Position heraus bieten Missionare und nationale Experten zunächst einen religiösen Diskurs nach dem US-amerikanischen Modell an. Dieser wird nun allerdings unter anderen Bedingungen und mit anderen Wahrnehmungs- und Urteilsdispositionen rezipiert, als sie in den USA etabliert sind. Er wird, sozusagen, zunächst einmal »katholisch gehört«. Religiöse Dispositionen, die hart exkludieren (gerettetes Gemeindeglied/der Hölle geweihter Heide), treffen auf Diversitätstoleranz; strikter Heilsindividualismus (persönliches öffentliches Bekenntnis zu Jesus als dem Herrn) trifft auf gewohnten Heils5
Der Begriff »Sekte« wird hier im Sinne Max Webers verwendet und bezeichnet eine subalterne religiöse Kleingruppe, die sich scharf gegen dominante Großorganisationen, »Kirchen«, abgrenzt.
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kollektivismus (Kindertaufe und Sakramentalismus). Selbst wenn der protestantische Missionsdiskurs behauptet, dass die Konversion das Leben radikal verändert und einen ganz »neuen Menschen« hervorbringt, gilt unserer Beobachtung nach eher, dass viele der alten Dispositionen in der neuen Identität weiter am Werk sind; manchmal mit neuen inhaltlichen Besetzungen, manchmal nicht einmal damit. Dies ist unseres Erachtens der Fall, wenn – wie im nächsten Kapitel gezeigt wird – lateinamerikanische Protestanten dem US-amerikanischen Heilsindividualismus die soziale Verantwortung des Christenmenschen entgegenhalten. Es stellt sich also die Frage, was aus den für den US-amerikanischen Protestantismus konstitutiven Diskursen in der Herausbildung von religiösen Dispositionen in Lateinamerika wird. Einzigartigkeit: Der religiös-politische Vorstellungskreis vom American exceptionalism, der Einzigartigkeit der USA, ist für die Pilgrims wie auch für die heutige religiöse Rechte konstitutiv. Und man kann sogar auf Bahnfahrten mit gebildeten und weitgereisten US-Amerikanern dahingehend belehrt werden, dass die USA eine derart großartige Entwicklung in Sachen democracy und technology genommen habe, dass sie nun die Verantwortung dafür trage, eine solche Entwicklung auch allen anderen Nationen auf dieser Welt zu ermöglichen. Von den Pilgrims wird die Vorstellung von der Einzigartigkeit des neuen Landes in die Metaphern der »Stadt auf dem Berge«, des »neuen Jerusalems« und des »Lichtes der Völker« (Winthrop, 1630) gekleidet. Die zugrunde liegende alttestamentlich-zionistische Vorstellung vom endzeitlichen Zion als Herrschaftszentrum über die Völker der Welt wird hier aus dem jüdischen auf den amerikanischen Kontext übertragen. Im Laufe der Geschichte – insbesondere seit der Entstehung des christlichen Zionismus im späten 19. Jahrhundert – entwickelte sich hieraus neben dem Anspruch auf Einzigartigkeit ein ambivalentes Verhältnis zum Judentum. Vor allem läuft die Vorstellung der Einzigartigkeit zusammen mit der eines exklusiven Bundes mit Gott sowie der des manifest destiny auf das Projekt einer Christian Nation hinaus. Im Zusammenhang mit der Eroberung des Kontinents verbindet sich mit dem Projekt des »Lichtes der Völker« ein starkes Missions- und Expansionsmotiv, das zunächst auf die Bekehrung der Native Americans gerichtet ist, aber schon kurz nach der Staatsgründung auch auf andere Hoheitsgebiete ausgedehnt wird. Die Vorstellung vom Bund Gottes mit den US-Amerikanern ist ebenfalls aus dem Alten Testament entlehnt. Die theologische Vorstellung eines exklusiven Bundes Gottes mit Israel wurde im Neuen Testament auf das Christentum übertragen bzw. ausgedehnt. Im frühen Calvinismus wird
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die Theorie als »Föderaltheologie« zur Selbstlegitimation verwendet und bald von den Pilgrims exklusiv auf sich selbst angewandt.6 Der exklusive Bund mit Gott, der covenant, bestätigt und verstärkt den exceptionalism durch die religiöse Vorstellung der Auserwähltheit. Außerdem sollte man nicht vergessen, dass im Alten Testament die Erzählungen vom Bund Gottes in die Vorbereitung zur kriegerischen Landnahme Israels in Kanaan (Josua-Buch) gehören. Expansionismus wird also mitgedacht. Das ist auch der Akzent bei der Übertragung der Erwähltheitsidee in die politische Ideologie als Metapher vom manifest destiny, der offensichtlichen Vorherbestimmung der US-Amerikaner. Auch vom divine destiny kann die Rede sein, denn die Vorstellung ist religiös verankert, sodass man auch immer wieder darauf stößt, dass das Ziel die salvation of mankind sei. Die göttliche Vorsehung habe den USA eine besondere Mission zuteilwerden lassen, zunächst im Zusammenhang mit der weiter fortschreitenden Siedlungsgrenze, dann im hemisphärischen und später im weltweiten Maßstab. Das Konzept des manifest destiny entsteht in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts unter dem Eindruck folgender Entwicklungen: Immer häufigere Militäroperationen in spanischem, französischem und britischem Kolonialgebiet;7 die Entwicklung des Panamerikanismus seit Jefferson (mit einer ersten Konferenz 1826 in Panama); die hegemoniale Interpretation des Panamerikanismus durch die Monroe-Doktrin (1823), die den Schutz der jüngst unabhängig gewordenen lateinamerikanischen Staaten gegen europäische Übergriffe proklamiert – und damit natürlich die militärische Hegemonie der USA in der westlichen Hemisphäre voraussetzt. Liest man eines der frühesten Dokumente des manifest destiny, – den Artikel »Annexation« von John O’Sullivan im Democratic Review (O’Sullivan 1845) – so wird der Nutzen des Narrativs zur religiösen Überdeterminierung von Territorialansprüchen sofort deutlich. O’Sullivan vertritt vehement die Trennung Kaliforniens und Texasʼ von Mexiko und deren Aufnahme in die Union. Die angelsächsischen Siedler in diesen Gebieten hätten ein größeres Recht darauf als es die »künstliche Souveräni-
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Ins Kraut geschossen ist diese Vorstellung mit der British Israel-Theorie, die im 19. Jahrhundert viele Anhänger fand. Demnach sind 10 Stämme Israels nach Europa gewandert und hätten Großbritannien gegründet. Sogar Jesus soll dort gesehen worden sein. 1798-1800 Seekrieg gegen Frankreich; 1806 Übergriff am Rio Grande; 1810 Westflorida; 1812 Ostflorida; 1813 Westflorida; 1814-25 verschiedene karibische Inseln; 1822-23 Kuba; 1824 Puerto Rico; 1831 Falkland Inseln; 1833 Argentinien; 1835 Peru, 1844 Mexiko…
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tät« Mexikos habe.8 Zudem eröffnet er die Perspektive auf eine Annexion Britisch-Kanadas und Spanisch-Amerikas. Dort existiere kein wirkliches Bevölkerungswachstum wie in den USA, weshalb die pure Masse der Millionen Amerikaner, die sich gegen europäische Bajonette unter dem Sternenbanner versammeln, jedes Recht auf Besiedlung und Annexion habe. Man ließe sich nicht von Europäern daran hindern, »unsere offensichtliche Vorherbestimmung zu erfüllen, den uns von der Vorsehung zugedachten Kontinent für die freie Entwicklung unserer jährlich sich vervielfachenden Millionen auch [mit diesen Millionen] zu überziehen.« In der Tat wird das politisch-religiöse Motiv zur Legitimation des Krieges mit Mexiko und der Annexion der mexikanischen Gebiete genutzt. Anhand dieser Tatsache wird schlagartig klar, dass Lateinamerikaner mit dem Vorstellungskreis der expansiven Einzigartigkeit der USA ihre Schwierigkeiten haben. Als Folge des Krieges mit Mexiko verschlechtern sich über lange Zeit die Arbeitsbedingungen US-amerikanischer Missionare in Mexiko. Die Ideologien der Einzigartigkeit und des manifest destiny sind nicht einfach auf den Protestantismus in Lateinamerika übertragbar. Die göttliche Mission liegt bei den USA, nicht in lateinamerikanischen Ländern. Diese sind nur Adressaten des Herrschaftsanspruchs der USA. Im zivilisatorischen Anspruch der frühen protestantischen Missionare in Lateinamerika schwang die Vorstellung vom manifest destiny der USA mit, aber als Motivationshintergrund der Missionare, nicht der Missionierten. Heute kann man allenfalls von einer subordinierten Identifikation mit dem US-amerikanischen Anspruch bei den Neopentekostalen der oberen Mittelschicht sprechen. Sie identifizieren sich mit dem Kulturmodell der USA, insbesondere mit dem Neoliberalismus, geben sich im nationalen Kontext als Botschafter des nordamerikanisch-protestantischen way of life und versuchen auf diese Weise, symbolisches Kapital der USA auf sich selbst zu übertragen. Die Idee eines nationalen manifest destiny mit dem Ziel der Herrschaft über die gesamte Hemisphäre wird nicht einmal im Brasilien Bolsonaros geäußert. Dementsprechend gibt es auch keine Notwendigkeit der Entscheidung zwischen Kreuzzug und Isolation, wie sie den US-amerikanischen Protestantismus gelegentlich heimsucht. Das Motiv vom Bund Gottes mit seinem Volk allerdings können die lateinamerikanischen Protestanten auf sich selbst übertragen. Nur ist es dann nicht
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»Dämlich und abgelenkt kann Mexiko niemals wirkliche Regierungsautorität in diesen Gebieten ausüben.«
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mehr der Bund mit den USA, einer Nation mit Territorium und Herrschaftsstrukturen, sondern mit einem kollektiven religiösen Akteur in einer subordinierten Position im Kontext einer vornehmlich ablehnenden Gesellschaft. In besonderen Situationen können die Motive der Erwählung und des Bundes auch für lateinamerikanische Nationen beansprucht werden. Dies war der Fall während der eineinhalb Jahre, in denen Guatemala vom neopentekostalen Diktator Rios Montt beherrscht wurde. Guatemala wurde von den neopfingstlichen Kirchen des geistlichen Managements zum auserwählten Land erkoren und der Diktator zum König David. Man könnte auch die Errichtung des neuen Jerusalemer Tempels in São Paulo durch die Igreja Universal do Reino de Deus, den Templo de Salomão, schon aufgrund der puren Symbolik in diesem Sinne verstehen. Dann hätten wir hier den Anspruch, dass die rechtmäßige Erwählung Gottes vom Volk Israel – das es nicht schafft, den Tempel wieder zu errichten und also seinen geistlichen Verpflichtungen nicht nachkommt – auf die milliardenschwere Event-Firma des »Bischofs« Edir Macedo übergangen sei. Der Operator für Erwählung wäre somit nicht mehr die göttliche Entscheidungsgewalt, sondern die Dicke der Brieftasche. Gesetz und Offenbarung: Die Auffassung von der Bibel als eines wortwörtlich diktierten Gesetzes Gottes war unter den Lebensbedingungen von Siedlergemeinschaften (seien es Puritaner in New England oder die späteren Siedler an der frontier) sehr nützlich. Insbesondere bei schwacher Repräsentation säkularer Gesetzgebung fungiert das biblische Gesetz dann als ein moralisches und soziales Ordnungsprinzip. Diese Tatsache erklärt die Wertschätzung der Bibel als solcher in den USA. Biblizismus geht allerdings mit einem nicht-hermeneutischen, a-historischen und verdinglichenden Verständnis der Schrift einher. Im 19. Jahrhundert konkurrierte diese Konzeption mit der aus den Akademien Europas importierten historischen Hermeneutik, die die Bibel zunächst als ein historisches Dokument versteht. Während für die Siedler und später die ländliche Bevölkerung im Allgemeinen diese historische Hermeneutik schlichtweg eine Gefährdung des naiven, aber praktischen Zugangs zur Schrift war, konterten die evangelikalen Universitätstheologen mit einer sehr speziellen, positivistischen Theorie der Induktion. Die Bibel bildet, dieser Theorie zufolge, einfach transzendente Realitäten ab. Aus diesem biblizistischen Fundamentalismus entwickelt sich in den 1970er und 1980er Jahren die Moral Majority des Jerry Falwell als wichtigster Akteur der religiösen Rechten. Getreu den biblizistischen Prinzipien hantieren die Führer der religiösen Rechten zu jener Zeit häufig und autoritär mit Bibelzitaten. Falwell selbst sagte aufgrund seiner Exegese sogar die Wiederkunft des Herrn
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für Mitte der 1980er Jahre voraus. Die Willkür und Häufigkeit des Einsatzes der Schrift und der Zank um die »richtigen« Auslegungen der Verse blockierte allerdings die politische Handlungsfähigkeit der Bewegung. In den Jahren nach Präsident Reagan wurde sie deshalb von Strategen wie Ralph Reed generalüberholt, und von Neopentekostalen mit einer neuen Offenbarungsquelle versorgt. Die Vorstellung, Gott gebe direkte Offenbarungen in Form von Visionen, Auditionen oder (guten) Ideen, ist alt wie die Religion selbst und eine klassische Form der charismatischen Legitimation. In den USA entwickelt sich dieser Zugang zur göttlichen Wahrheit aus dem methodistischen Emotionalismus und der daran anschließenden Heiligungsbewegung. Eine Schlüsselfunktion bekommt diese Offenbarungsweise in der frühen Pfingstbewegung, wo sie Menschen aus der Unterschicht, Marginalisierten und Analphabeten zu Würde und Selbstbewusstsein verhilft. Diese Offenbarungsform wird in die Neopfingstbewegung übernommen und wechselt damit die soziale Position. War sie in der frühen Pfingstbewegung eine Form religiöser Kompensation erlittener Marginalisierung, so wird sie in der Neopfingstbewegung der oberen Mittelschicht – insbesondere bei ihren Experten und Entertainern – zu einem Instrument willkürlicher Prätention, Herrschaftslegitimation und gegebenenfalls auch Distinktion. Jetzt kann jeder – vorausgesetzt, er hat ein hinreichend großes Mikrofon – behaupten Gott habe ihm direkt etwas gesagt und er oder sie besäße nun das Mandat, die göttlichen Befehle umzusetzen. So hat etwa Pat Robertson 2005 in seiner Fernsehshow 700 Club behauptet, Gott habe ihm gesagt – vermutlich bei der morgendlichen Nassrasur –, dass der venezolanische Präsident Chavez von einer Killertruppe des CIA ermordet werden solle, um einen sonst notwendig werdenden Krieg gegen Venezuela zu vermeiden, denn dort säße die Regierung auf US-amerikanischen Ölvorkommen. (Nach öffentlicher Kritik hat er das noch einmal bestätigt.) Wenn man sich nun nach den göttlichen Vorstellungen von Völkerrecht fragt, ist man schief gewickelt. Denn Gott ist nach Auskunft von Propheten der religiösen Rechten ja gegen das Völkerrecht und für Theokratie. Das Entscheidende ist, dass das fromme Fernsehvolk, und wenn möglich auch die Regierung, den durch den Entertainer verkündeten göttlichen Willen umsetzen. Es liegt auf der Hand, dass diese Offenbarungslogik für die religiöse Mobilisierung viel praktischer ist als lästiges Schriftauslegen. Die Legitimität der Botschaften entscheidet sich mittelfristig über Einschaltquoten, Spendenaufkommen sowie Privatvermögen der Prosperity-Propheten und somit schlicht über ökonomisches Kapital. Den Platz von gefallenen Propheten – wie Jim-
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my Swaggart aus sexuellen und die Bakkers aus sexuellen sowie finanziellen Gründen – nehmen schnell neue Unfehlbare ein. Und die Koordination mit interessierten Politikern – hauptsächlich der Republikaner – ist einfach. Mit der zunehmenden Mediatisierung und der immer perfekter werdenden Event-Technologie nimmt auch das Manipulationspotenzial zu. Heute ist das Ausüben religiöser Führerschaft durch die Prätention direkter Offenbarung und religiöser Gefolgschaft durch den Glauben an solche Behauptungen zu einer verbreiteten Grundlage eines nahezu unbeschränkten Autoritarismus religiöser Führerpersönlichkeiten geworden. Wo detaillierte Auskünfte über Gottes Willen gegeben werden können, weiß man auch, was er nicht will. Der Sündenbegriff ist für den Protestantismus in den USA seit den Zeiten der Pilgrims ein zentrales Instrument religiöser Lebensführung und autoritärer Herrschaft über Menschen. Dabei ist entscheidend, dass Sünde als konkrete Tat aufgefasst wird. Sünde ist nicht wie im theologischen Luthertum abstrakt gefasst als eine Störung im menschlichen Verhältnis zu Gott. Sünde existiert vielmehr im Plural, weswegen konkrete Taten als Sünden definiert werden können. Im Puritanismus war das neben liederlicher Lebensführung und Alkoholgenuss auch Hexerei, weshalb die »Hexen« von Salem auch mit dem Tode bestraft werden konnten. Die Verdinglichung von Sünde in Form von klar umschriebenen Handlungen orientiert sich in der Regel stillschweigend am sozialen Common sense. Sünden sind dann Taten, die nicht mit den Common sense-Vorstellungen einer Gruppe von Tugend und Laster konform gehen. Damit dient der verdinglichte Sündenbegriff dazu, konkrete Handlungen zu inkriminieren und das Verhalten von Menschen im Sinne des Kollektivs sozial zu disziplinieren. Die aktuelle Debatte über Familie, Abtreibung und Homosexualität wird von der religiösen Rechten weitgehend auf diese Weise geführt. Die evangelikale Linke in den USA unterscheidet sich nicht grundsätzlich: sie verdinglicht Sünde nur in anderen Gebieten, wie etwa dem ökologischen Verhalten. In Lateinamerika spielt das Motiv des Gesetzes eine wichtige Rolle im Alltag und der politischen Projektion des Protestantismus. Vor allem im Evangelikalismus nimmt man an, dass die Schrift für gesellschaftliche und politische Angelegenheiten die passenden Regelungen bereithalte. Die Formation Management bezieht die Regeln auch aus direkter Offenbarung. Die Bibel ist im lateinamerikanischen Protestantismus, außer in der Neopfingstbewegung, zentral und wird im Allgemeinen in der Tradition des US-amerikanischen Biblizismus ausgelegt. Allerdings spielt der in den USA seit dem späten 19. Jahrhundert tobende Kampf zwischen wissenschaftlicher (Evolutionstheorie)
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und biblischer Wahrheit (Schöpfung in sechs Tagen mit anschließendem Feierabend) in Lateinamerika kaum eine Rolle. Hier geht es eher um die praktische Anwendung biblischer Diskurse als göttliche Leitlinie für das Verhalten in der Gesellschaft. Diese Funktion spielt eine wichtige Rolle, insofern als Prozesse unübersichtlichen und raschen gesellschaftlichen Wandels sowie die nicht planbare Existenz in der informellen Wirtschaft der extrem Armen als Unordnung erfahren werden, die nach einer ordnenden Macht ruft. Zudem kann man im Blick auf die protestantischen Gläubigen im Vergleich mit den katholischen eine funktionale Homologie feststellen zwischen dem Einsatz der Bibel als Gesetz und der ordnenden Macht einer Bischofskonferenz. In der Pfingstbewegung und insbesondere in der Neopfingstbewegung spielt die Annahme direkter göttlicher Offenbarung eine mindestens ebenso große Rolle wie die Schrift. Während in der Pfingstbewegung in den unteren Schichten direkte Offenbarungen beispielsweise durch »Propheten« meist im Kontext von Seelsorge und Heilungspraktiken verwendet werden, werden sie bei Neopfingstlern in der Mittel- und Oberschicht gern auch als Wahrheitsgarant für die Beurteilung politischer Lagen und die Empfehlung politischer Strategien verwendet. Dies ähnelt der Verwendung in den USA, hat aber wegen der Spannung zum Katholizismus größere Probleme in der Plausibilisierung. In Lateinamerika wird der Sündenbegriff in der Regel ähnlich stark verdinglicht wie in den USA. Nach einem gründlichen Vergleich der Diskurse haben wir allerdings den Eindruck, dass er mit geringerer Verbissenheit verwendet wird als im Norden. Dies hängt sehr wahrscheinlich mit folgenden Gründen zusammen. Erstens ist in Lateinamerika keine pseudowissenschaftliche Legitimation nötig, da es keinen ausgeprägten Konflikt zwischen fundamentalistischem Begriffsrealismus und Hermeneutik gibt. Zweitens ist der Innen/Außen-Gegensatz zwischen Gläubigen und Andersgläubigen weniger scharf profiliert. Drittens relativieren die gesellschaftlich dominanten religiösen Dispositionen des Katholizismus die Tatsünden durch das Bußsakrament. Außerdem lässt sich in Lateinamerika eine sozialstrukturelle Differenzierung des Sündenbegriffs beobachten, die in den USA weniger deutlich hervortritt. In der Unterschicht ist beispielsweise der Alkoholgenuss Sünde, was mit der sozial zerrüttenden Wirkung von Alkoholismus und mit den knappen Einkünften der Familien zu tun hat. In den neopfingstlichen Gruppen der oberen Mittelschicht hingegen ist mäßiges soziales Trinken kein Problem. Auch politische Faktoren spielen eine Rolle. Es kann Sünde sein, nicht zum Militärdienst zu gehen oder hinzugehen – je nach Regierung.
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Emotionalismus wird seit dem First Great Awakening (1730-1740) durch den Methodismus (George Whitefield) in den USA stetig wichtiger. Er verleiht dem Individualismus eine emotional-subjektive Note und bereitet den Siegeszug der charismatischen Legitimation vor, der mit der Pfingstbewegung (ab ca. 1900) seinen ersten organisatorischen Rahmen gefunden hat. Allerdings ist die schwarze Pfingstbewegung in den USA aufgrund des starken Einschlags des Faktors Rassismus mit dem schwarzen Protestantismus amalgamiert; und die klassische weiße Pfingstbewegung ist relativ schnell in die (untere) Mittelschicht aufgerückt und zu evangelikalen Ritualformen gewechselt. In der Neopfingstbewegung ist Emotionalismus heute die allgemein anerkannte rituelle Ausdrucksform. Mit den Emotionen verhält es sich ähnlich wie mit dem Anspruch auf direkte Offenbarung. Emotionale Erfahrungen und das religiöse Gefühl gelten als Maßstab religiöser Legitimität. Je ekstatischer das Erlebnis, umso wahrer. Damit schließt der aktuelle Emotionalismus in den Prosperity-Organisationen oder bei den Independent Network Charismatics unter Millennials nahtlos an das intellektuelle laissez faire der Postmoderne und die populistische Vertauschung von diskursiver Wahrheit durch triebgesteuerte Überlegenheitsgefühle an. Wenn das Gefühl im Event gut ist, dann ist auch die Wahlempfehlung »Red« richtig. In Lateinamerika steht die Emotion in einem sozialen Kontext, der dem Ursprungskontext der Pfingstbewegung in den USA ähnelt. In den Kirchen der Unterschicht spielt Emotionalität eine wichtige Rolle für die Kompensation sozialer Randständigkeit und die Erfahrung, als minderwertig abgestempelt zu werden. Zudem spielt Ethnizität keine segregierende Rolle. Trotz Prozessen der Verbürgerlichung bei klassischen Pfingstkirchen auch in Lateinamerika ist in der Unterschicht kompensatorische Emotionalität nach wie vor weit verbreitet. Für die Neopfingstbewegung trifft in Lateinamerika Ähnliches zu wie in den USA. Je nach Grad der Laizität von Politik ist die rechtspopulistische Manipulation religiöser Emotionalität eine verbreitete Praxis der Führer dieser religiösen Strömung. Während diesem Treiben in Mexiko enge Grenzen gezogen sind, greift es in Brasilien mit allen Varianten von Korruption, Vorteilsnahme, Lüge und Diffamierung ungehindert um sich. Teufel und Dämonen: Satanisierung von Gegnern ist eine verbreitete Technik der Disqualifizierung. Teufel und Dämonen spielen in der religiösen Vorstellungswelt der Puritaner eine wichtige Rolle zur Disziplinierung nach innen und zur Eroberung nach außen. Sowohl die Hexenverfolgung (Salem) wie auch die Verteufelung der Native Americans folgen dieser dualistischen Logik. Und in der Regel funktioniert die kommunikative Gewalt zur Le-
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gitimation physischer Gewalt. In leicht abgewandelter Weise wird diese Schematik bis heute verwendet. Im biblizistischen Fundamentalismus der 1980er Jahre wird noch relativ unspezifisch vom Teufel und von der Hölle geredet, und die Zukunft im Jenseits ist noch ein wichtiger Referenzpunkt, weil es letztlich um die ewige Errettung geht. Das ändert sich mit dem charismatischen Fundamentalismus der Neopfingstler seit den 1980er und 1990er Jahren. Ihnen geht es nicht primär um das ewige Heil, sondern um die Gegenwart und letztlich um die Förderung theokratischer Ansätze (Dominion) in der Politik. Nun wird ein Szenario des kosmischen Kampfes von Engeln gegen Dämonen aufgezogen, ein Spiritual Warfare, worin die Menschen, ob sie wollen oder nicht, auf der Seite der Dämonen oder der Engel verwickelt sind. Damit kann man für beliebige Individuen dämonische Besessenheit diagnostizieren und gegebenenfalls einen Exorzismus vornehmen. Aus dem großen Heer der höchst phantasievoll produzierenden Literaten9 ragt der ehemalige evangelikale Missionar und spätere Missionswissenschaftler C. Peter Wagner um Vieles heraus. Wagner hat als Professor an der renommierten Fuller School of World Mission, Pasadena, nicht nur der fundamentalistischen Angstpropaganda mit einer ausgefeilten Dämonologie neuen Zunder gegeben. Er hat zum Beispiel während der Lehre Studierende angeleitet, dem Reisegepäck, das sie bei der Besichtigung von indigenen religiösen Stätten in Lateinamerika dabei hatten, die Dämonen auszutreiben. Traurige Berühmtheit erlangt Wagner durch die Erfindung von territorial demons. Diese Gesellen seien in der Lage, ganz Landstriche, Nationen oder gar Weltregionen unter ihre Kontrolle zu bringen. Damit wären die politischen Führer und letztlich auch die Bürger dieser Regionen dämonisch besessen. Mindestens muss hier missioniert werden, am besten aber ist regime change. Vor allem aber darf man sich von den satanischen politischen Führern nie über ihre Absichten täuschen lassen. Man braucht nicht viel Phantasie, um sich vorzustellen, dass nicht nur indigene Menschen in Lateinamerika gemeint sind, sondern dass auch die Palästina-Frage und überhaupt alles Islamische damit gemeint sind. Zwischen dieser Theorie und dem etwas seriöser missionarisch daherkommenden Projekt »10/40 Window« gibt es fließende Übergänge. 10/40 beschreibt in militärischem Jargon
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Theologisch sind die Traktate aus diesen Quellen nicht ernstzunehmen; allenfalls in dem Sinne, dass es sich um Produkte moderner Häresie handelt.
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nach Längen- und Breitengraden ein »Fenster« über der muslimischen und ostasiatischen Welt, in dem dringend missioniert werden müsse.10 In der frühen Mission und im lateinamerikanischen Protestantismus sind die Teufel des Puritanismus zunächst von untergeordneter Bedeutung. Insbesondere werden sie nicht für politische Diskurse herangezogen. Dämonische Besessenheit spielte allenfalls in der pfingstlichen Volksfrömmigkeit überall dort eine Rolle, wo kein Arzt vorhanden ist oder wo bei psychischen Störungen wie manischer Depression der Arzt nicht weiterkommt. Wenn solch eine »Behandlung« im Gemeindekontext durchgeführt wird, bedeutet das in der Regel eine rituelle Begleitung des Patienten durch Pastor und Diakone während der akuten Phasen der Krankheit. Es geht nicht – wie bei Wagner und seinen Gefolgsleuten – um Ferndiagnosen und Pauschal-Satanisierung von schlecht gelittenen Bevölkerungsgruppen. In letzterem Sinne, dem »wagnerianischen« sozusagen, wird die Ideologie der geistlichen Kriegsführung von Akteuren der Formation Management auf breiter Front angewandt. In Guatemala wird sie im Krieg zur Satanisierung der Guerilla und der gesamten Linken verwendet; oder auch später in Präsidentschaftswahlkämpfen als Mobilisierungsideologie und zur Dämonisierung des indigenen Kulturerbes. In Brasilien liegt sie der gesamten Propaganda der religiösen Rechten als Voraussetzung des Diskurses zugrunde. Die gesamte Konstruktion steht im Dienst des Zugriffs auf politische Macht. In den USA steht die so genannte dominion-Doktrin für den religiös untermauerten Anspruch darauf, den Staat und die Gesellschaft »christlich« zu kontrollieren.11 Sie teilt nicht nur diesen Anspruch mit dem Puritanismus; sie hat selbst auch Wurzeln in der calvinistischen Tradition. Einer der Chefideologen dieser in den 1980ern entstehenden neopfingstlichen Denkrichtung, Rousas Rushdooney, strebt eine Rekonstruktion des ursprünglichen, im Paradies bestehenden Zustandes (Genesis 1,28) der Herrschaft des Menschen über alles an. Nur dass es sich bei »dem Menschen« hier um ihn selbst und seine Anhänger handelt und dass die Herrschaft durch geistliche Kampfführung dann erreicht sein wird, wenn »Gottes Volk eine langdauernde Regierung über die ganze Welt ausführen wird und alle Feinde unter Christi Füße unterworfen sind« (Rushdooney 1986, 24; zit.n. Diamond 1989). Die Ideologie läuft auf
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https://joshuaproject.net/resources/articles/10_40_window (abgerufen am 29.09.2019) Vgl. Diamond 1989, 136ff., Schäfer 1992c, 80ff.
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einen religiösen Totalitarismus hinaus, der allen anderen religiösen und politischen Positionen radikal die Legitimität abspricht. Der Chef der Coalition on Revival, Jay Grimstead, hat etwa einen 10-Jahres-Plan ausgearbeitet, wie in Kalifornien das Orange County (mit viel Rüstungsindustrie) und das Santa Clara County (mit dem Silicon Valley) komplett zu »christianisieren« seien. Hauptziel war die Kontrolle von Führungspositionen und der Aufbau von Befehlsketten. Der harte Kern der Bewegung verfolgt die Wiedereinführung alttestamentlichen Rechts mit Todesstrafe für Homosexuelle, Schuldfron und Abschaffung der Kreditwirtschaft. Die politisch kooperativeren Aktivisten sind zufrieden mit neoliberalem Kapitalismus, Steuersenkungen, Privatisierung der sozialen Dienste, Aufrüstung und imperialer Kriegführung sowie Unterstützung terroristischer Kräfte in der Dritten Welt wie etwa der nicaraguanischen Contras in den 1980er Jahren. Der harte Kern der Bewegung hatte nicht genügend Dauer, um eine langanhaltende Herrschaft über die Welt zu erleben. Die Grundidee der Bewegung – eine religiöse, theokratische Kontrolle über die Politik auszuüben – hat allerdings breite Zustimmung unter der religiösen Rechten in den USA gefunden. Der Fernsehstar und republikanische Prä-Kandidat auf die Präsidentschaft Pat Robertson hat ab den 1980er Jahren mit dieser Logik gearbeitet. Heute wird sie als seven mountain dominionism von den sich schnell verbreitenden Independent Network Charismatics vertreten. Die Verbindungen zur parlamentarischen Rechten sind eng. Im evangelikal dominierten Missionsprotestantismus trifft die Ideologie jedoch auf Skepsis. In Lateinamerika sind es denn auch nicht evangelikale Missionare, die die Ideologie verbreiten, sondern lateinamerikanische Führer der Formation Management, die belesen genug sind, um auf diese Möglichkeit der politischen Aufrüstung religiöser Praxis aufmerksam zu werden. Gelegentlich helfen auch der Geheimdiensttätigkeit verdächtige Personen bei der Verbreitung der Ideologie. Probates Beispiel ist auch hier wieder Guatemala, wo die Dominion-Doktrin der Diktatur des Neopfingstlers Rios Montt die höheren Weihen als neuem König David zukommen ließ. Der ehemalige Außenminister Harold Caballeros ist Spezialist im Einsatz der Doktrin gegen seine politischen Feinde. Unter dem Strich tendiert das politische Engagement der Formation Management als Ganzes in die theokratische Richtung. Zeit: Millenarismus: Die Zeitauffassung spielt beim politischen Einsatz religiöser Überzeugungen eine entscheidende Rolle. Im Bezug darauf kann man eine strukturelle Differenz zwischen der neo-puritanischen Richtung des US-amerikanischen Protestantismus und dem Protestantismus in Latein-
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amerika festhalten. Für den weißen Protestantismus in den USA liegt das Idealbild einer Gesellschaft in der puritanischen Vergangenheit. Reform oder Revolution der gegenwärtigen Gesellschaft werden unter dieser Voraussetzung verstanden als Reinigung der Gegenwart von den Schlacken der Geschichte und ihre Rückführung auf den Idealzustand der reinen puritanischen Gesellschaft. In Lateinamerika ist eine ähnliche Geschichtskonstruktion für Protestanten unmöglich. Sie wird eher von reaktionären katholischen Gruppen wie dem Opus Dei oder den Legionären Christi gepflegt, deren Idealbild die barocke Gesellschaft mit ihrer quasi unumschränkten Herrschaft des Katholizismus ist. Das findet sich etwa in der Architektur mit dem Neubau von Kirchen nach barockem Muster in Kooperation mit dem Opus Dei, wie es in Guatemala in der Gated Community von Cayalá der Fall ist. Dem lateinamerikanischen Protestantismus hingegen ist die Kolonialzeit keinen positiven Bezug wert. Ihm bleibt sozusagen nur die Flucht nach vorn; einerseits in positivistische Vorstellungen gesellschaftlicher Evolution, andererseits in millenaristische Projektionen eines nahen Weltendes oder eines theokratischen Reiches in der Zukunft. In der letztgenannten Konstruktion ist die Attraktivität des Dominionism für die obere Mittelschicht und Oberschicht in Lateinamerika begründet. Dieser verlegt die Rekonstruktion eines Idealzustandes – Adams Herrschaft vor dem Sündenfall oder auch die gute alttestamentliche Zeit – in die Zukunft. Damit stellt sich die Frage nach der Zeitkonstruktion im millenaristischen Modell. Millenarismus, die Erwartung eines Tausendjährigen Reiches Gottes, ist eng verknüpft mit dem Programm des Neuen Jerusalems. Es gibt den Millenarismus allerdings in zwei Varianten.12 Der Postmillenarismus (Christus kommt nach dem Tausendjährigen Reich) zielt auf die Realisierung des Reiches in der Geschichte. Diese Auffassung war in den USA vorherrschend bis zum Bürgerkrieg. Der Postmillenarismus konnte später mit säkularen, evolutionistischen Fortschrittsvorstellungen amalgamieren und sowohl religiösen Sozialdarwinismus wie auch die Sozialarbeit (Social Gospel) des Mainline Protestantismus beeinflussen. Die Variante Prämillenarismus (Christus kommt vor dem Tausendjährigen Reich) zielt auf das Jenseits. Das Reich kommt erst, nachdem der siegreiche Christus aus den Wolken herabsteigt und die wartende, politisch passive Kirche zu sich holt. Diese Auffassung wurde nach dem Bürgerkrieg vorherrschend als Reaktion auf den krisenhaften Einschnitt in die nationale Geschichte, auf das Scheitern 12
Zur praktischen Logik vgl. Schäfer 1992c, 46ff. und 52ff., sowie Schäfer 2020, 414ff.
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des nationalen Gesamtprojekts und zur Plausibilisierung der in der Industrialisierung entstandenen extremen Klassengegensätze. Die Gegenwart erscheint hier als eine Zeit des Niedergangs ins Chaos, und die entsprechenden Handlungsperspektiven sind entweder religiös oder fatalistisch. Prämillenarismus hat insbesondere die weiße evangelikale Bewegung beeinflusst. Eine konservative Variante des Prämillenarismusʼ ist der so genannte Dispensationalismus, der die Weltgeschichte in zeitliche Perioden aufteilt und so Ordnung und Erwartungssicherheit in die prämillenaristische Chaostheorie bringt. In dem auf das ewige Heil fokussierten konservativen Missionsprotestantismus spielt er eine große Rolle, wenngleich das Motto der »Evangelisation der Welt in einer Generation« in einer gewissen Spannung zu der Jenseits-Programmatik steht. Gegenwärtig hat dieser Ansatz der Missionstheorie gegenüber anderen, charismatischen Legitimationsmustern und dem Postmillenarismus der Dominion-Doktrin an Gewicht verloren. In Lateinamerika ist der Millenarismus in der katholischen Kirche praktisch unbekannt, außer in einigen wenigen messianischen Bewegungen aus der katholischen Volksfrömmigkeit. Im Protestantismus spielt er indes eine wichtige Rolle. Eine Anknüpfung an indigenen, afroamerikanischen oder volkskatholischen Messianismus oder Millenarismus erfolgt dabei gerade nicht; eher eine scharfe Abgrenzung. Die Anknüpfung an lateinamerikanische Dispositionen funktioniert für den Dispensationalismus einigermaßen gut bei indigenen Gläubigen. Hier wird vermutet, dass das an der Ähnlichkeit des historischen Phasenmodells mit indigenen Vorstellungen von einander ablösenden historischen Perioden (in Guatemala baktún) liegen könnte. Jedenfalls findet die dispensationalistisch orientierte Central America Mission im guatemaltekischen Hochland rasche Ausbreitung. Ähnlich scheint es bei den Mitgliedskirchen der ecuadorianischen protestantisch-indigenen Organisation FEINE gewesen zu sein. Der Dispensationalismus oder der offene Prämillenarismus bestimmen die Überzeugungen der gesamten evangelikalen und der klassischen Pfingstbewegung in Lateinamerika und stimmen in der entscheidenden Hinsicht überein: Sie bringen die Kirche in eine Position des passiven Abwartens gegenüber den gesellschaftlichen Ereignissen und der Konzentration auf innergemeindliche religiöse Tätigkeiten. Der Prämillenarismus antwortet damit auf die Nachfrage nach kompensatorischer Religiosität in einer gesellschaftlichen Lage, in der soziales oder gar politisches Handeln unmöglich ist. Es ist folglich eine typische Unterschichtsreligiosität, eine »Theodizee des Leidens« (Weber).
3 Verflechtung religiöser Dispositionen
»Runaway religion does not make armies« – »Weglauf-Religion schafft keine Armeen« – pflegen Anhänger theokratischer Konzepte über den Prämillenarismus zu sagen. Wenn religiöse Akteure über einen guten Handlungsspielraum für politisches Eingreifen verfügen, ist es für sie viel plausibler, (wie in der katholischen Kirche) die millenaristische Perspektive entweder ganz zu vergessen oder in eine postmillenaristische umzuwandeln. Dies ist in den USA geschehen und in Lateinamerika von der Formation Management sogleich übernommen worden. Die für Guatemala bereits erwähnten Organisationen haben während des Krieges nicht nur ihren eigenen Diskurs postmillenaristisch umgestellt. Vielmehr hat auch eine US-amerikanische Person durch Radiopropaganda versucht, in breiter Front die prämillenaristischen Überzeugungen der Evangelikalen und Pfingstler sowie den residualen Prämillenarismus bei einigen Neopfingstlern durch einen kriegstauglichen Postmillenarismus zu ersetzen. Analysiert man die religiösen Dispositionen der neopfingstlichen Bewegung zu jener Zeit, so lassen sie deutliche interne Widersprüche in dieser Hinsicht erkennen, die auf die Umwandlung der Dispositionen zurückzuführen sind. Heute hat sich bei den Neopentekostalen der oberen Mittelschicht der Postmillenarismus durchgesetzt. In jüngerer Zeit reden diese Akteure immer mehr davon, das Reich Gottes auf der Erde Wirklichkeit werden zu lassen. Damit wildern sie sozusagen im diskursiven Terrain des Social Gospel-Protestantismus und der Theologie der Befreiung. Der Begriff des Reiches Gottes ist im aktuellen religiösen Vokabular in den USA wie auch in Lateinamerika ein multivalenter Begriff. In den USA ist er zunächst locker mit der Vision der nationalen Perfektionierung assoziiert, ohne jedoch zu einem zentralen diskursiven Operator zu werden. Das wurde er in der Programmatik des Social Gospel. Social Gospel bezeichnet sowohl eine religiöse Sozialtheorie als auch eine Strömung im Mainline Protestantismus. Unter dem Eindruck der sozialen Folgeschäden der Industrialisierung im Norden der USA wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts im Mainline Protestantismus (beispielsweise durch Walter Rauschenbusch) die Theorie einer glaubensbasierten und hermeneutisch reflektierten sozialen Verantwortung entwickelt sowie in vielfältigen Sozialprojekten praktiziert. Dabei war das vorwiegende Verständnis des Konzepts »Reich Gottes« allerdings nicht, dass durch menschliche Anstrengung das vollendete Reich Gottes auf der Welt Wirklichkeit werden würde. Vielmehr war die herrschende Annahme die, dass eine Orientierung an Werten, die mit dem Reich Gottes assoziiert wurden – vor allem soziale Gerechtigkeit und Friedfertigkeit –, zu einer ansatzweisen und immer wieder zu erfahrenden Ähnlichkeit mit
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dem erhofften Reich Gottes führen würden. Dieses Verständnis, gerahmt von panamerikanischen Ideen, war vorherrschend in der Mission der historischen Kirchen, wie sie im Panama-Kongress diskutiert wurde. Heute findet sich der Einfluss des Social Gospel vor allem in den im National Council of Churches organisierten Kirchen des Mainline Protestantismus. In der Auslandsarbeit verbindet es sich mit interkirchlichen Partnerschaften und der Förderung von Entwicklungsprojekten. In dieser Tradition ist die Idee der Bekehrungsmission vollständig dem Konzept eines gemeinsamen ökumenischen Lernens auf der Grundlage von Partnerschaft und solidarischem Handeln gewichen. Der Begriff des Reiches Gottes spielt eine Rolle als ethische Rahmung der Aktivitäten im lateinamerikanischen Verständnis.13 Während in den USA das Social Gospel immer noch mit Kirchen der (oberen) Mittelschicht verbunden ist, hat es in Lateinamerika eine andere Entwicklung genommen. Der historische Protestantismus ist in Lateinamerika eher in der heute absteigenden unteren Mittelschicht und – durch die früheren Missionsaktivitäten auf dem Land – in der Unterschicht verankert. Nicht selten wird er von sozialreformerischen oder gar revolutionären Gruppen unter Studierenden – Iglesia y Sociedad en América Latina (ISAL) in Brasilien und dem Cono Sur sowie dem Movimiento Estudiantil Cristiano-Comisión Evangélica Latinoamericana de Educación Cristiana (MEC-CELADEC) – weitergeführt. Die historisch-protestantische Praxis »von unten« stellt das sozialethische Gewissen in einen Handlungszusammenhang, in dem gegen ökonomische Marginalisierung und politische Repression überhaupt erst einmal Gestaltungskapazität erkämpft werden muss. Damit ergibt sich eine ähnliche Position wie sie die Akteure der katholischen Theologie der Befreiung innehaben, die zu ökumenischer Kooperation und theologischem Austausch führt. Debatten über theologische Fragen im engeren Sinne tragen zu einer Verständigung und gemeinsamen Weiterentwicklung der theologischen Konzepte weniger bei als die gemeinsame Arbeit an gesellschaftlichen Problemstellungen in Instituten wie dem Departamento Ecuménico de Investigaciones (Costa Rica), dem Centro Antonio Valdivieso (Nicaragua), der Koinonia (Brasilien) oder dem Centro de Estudios Ecuménicos (Mexiko). Ähnliche Entwicklungen stellen sich in der lateinamerikanischen theologischen Ausbildung ein
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Einen ganz besonderen Ansatz für eine Theologie der Befreiung und der Gerechtigkeit, der mit dem Motiv des Exodus operiert, findet sich im schwarzen Protestantismus der USA. Da dieser so gut wie keine Verflechtungen mit Lateinamerika entwickelt hat, wird er hier jedoch nicht behandelt.
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mit Instituten wie der Universidad Bíblica Latinoamericana (Costa Rica),14 der Comunidad Teológica (Mexiko), dem Instituto Superior Evangélico de Estudios Teológicos (Argentinien), dem Instituto Superior Ecuménico Andino de Teología (Bolivien) und verschiedenen anderen. Der Begriff »Reich Gottes« konnotiert hier in der Regel zwar nicht die vollkommene Verwirklichung eines idealen Zustandes (wie in der theokratischen Dominion-Doktrin), aber doch einen radikalen gesellschaftlichen Wandel, durchaus auch mit den Mitteln bewaffneten Widerstandes und der Revolution, wie dies in Nicaragua in den 1980ern der Fall war. Das Reich Gottes bekommt so die Funktion einer Utopie, die – genau genommen und mit einem Konzept aus Kants Philosophie bezeichnet – nichts anderes ist als eine regulative Idee für sozialrevolutionäre Ethik. Hier besteht eine inhaltliche Parallele zur Befreiungstheologie der schwarzen Kirchen in den USA, die sich übrigens auch darin äußert, dass protestantische Initiativen dieses Typs in Lateinamerika gelegentlich auch Martin Luther King als Leitfigur wählen (z.B. das Centro Martin Luther King in Cuba). Perfektionierung, Heiligung, Prosperität: Unter den religiösen und kulturellen Dispositionen des US-amerikanischen Protestantismus spielt der perfectionism eine zentrale Rolle. Die methodistische Idee der Heiligung – mit Emotionalismus und Geistfrömmigkeit verbunden – sieht das gläubige Individuum nach seiner Bekehrung in einer Bewegung der immer weiter voranschreitenden religiösen und moralischen Perfektionierung. Einige Schulen halten die vollkommene Perfektionierung zu Lebzeiten für möglich, andere fokussieren nur die Entwicklung dahin. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde die Perfektionierung auch für die gesamte Nation für möglich gehalten. Schon de Tocqueville hat erkannt, dass dieses Motiv der Erlösung durch Perfektionierung homolog zur Religion auch im vorherrschenden besitzindividualistischen Leistungsdenken der Wirtschaft zu finden ist. Nach der gesellschaftlichen Spaltung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wird die Perfektionierungsvorstellung in den Heiligungskirchen der Unterschicht als religiöse Disziplinierung fortgeführt. Der Oberschicht nahe stehend, verwandeln andere religiöse Experten, wie Henry Ward Beecher, die Perfektionierungsidee mit einem Schuss Evolutionismus in einen ziemlich brutalen Sozialdarwinismus. Beecher bescheidet streikende Eisenbahner 1877 mit dem Hinweis, dass sie nicht überlebensfähig seien, wenn ihnen Wasser
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Im Detail s. Kirkpatrick 2019.
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und Brot nicht reiche. Bereits im 19. Jahrhundert verbindet sich das Perfektionierungsschema mit einem vulgär-calvinistischen Segensmotiv zur Verheißung von Reichtum und Gesundheit. Die Fokussierung auf Reichtum im sogenannten Prosperity Gospel wird im Laufe des 20. Jahrhunderts immer stärker und erreicht ihren vorläufigen Höhepunkt im Rahmen des neoliberalen Finanzkapitalismus – dem die Anhänger der Prosperität rückhaltlos zustimmen. In Lateinamerika erfolgt eine ähnliche Spaltung des Motives der Perfektionierung. Die Heiligungstradition findet sich im Emotionalismus der Pfingstkirchen repräsentiert, und die Pflicht zum »heiligmäßigen Leben« dient hier vor allem zur Disziplinierung der Gläubigen. Die Übertragung auf nationale Projekte moralischer Perfektionierung erfolgt schon deshalb nicht, weil die protestantischen Akteure entweder von zu geringer Bedeutung sind oder weil sie lediglich an ihrem eigenen Zugang zur politischen Macht interessiert sind und Moral allenfalls über Themen wie »Abtreibung« oder »Familie« zur rechtspopulistischen Wählermobilisierung nutzen. Die Abgeordneten der brasilianischen Bancada Evangélica jedenfalls halten es nicht sehr streng mit der Moral; sie haben einen höheren Korruptionsindex als der Durchschnitt aller Abgeordneten. Seit den 1980er Jahren wird von den Akteuren der Formation Management in der oberen Mittelschicht die Prosperity-Doktrin eingeführt. Im Kontext der harten sozialen Gegensätze hat sie zunächst eine legitimatorische Funktion als eine »Theodizee des Glücks« (Weber) und Beseitigung der Marginalisierten aus dem Blickfeld; dann nordet sie das religiöse und soziale Bewusstsein der Mitglieder auf die Akkumulation von ökonomischem Kapital im Rahmen neoliberaler Volkswirtschaften ein; und schließlich bereitet sie den Führern der Bewegung einen mit Spendengeldern reich gedeckten Tisch im Angesicht ihrer Feinde. Bei der Spendensammlung wird dabei oftmals behauptet, die gespendeten Gelder würden von Gott hundertfach zurückgezahlt. Tatsächlich hat diese Geschichte aber lediglich die Taschen der Bewegungsführer mit Abermillionen von Dollars gefüllt – aus europäischer Perspektive kaum zu glauben angesichts der hier verbreiteten hartnäckigen Verweigerung von milden religiösen Gaben. Eine neuere Entwicklung ist die Übertragung der Prosperity-Ideologie auf neopentekostale Kirchen in der Unterschicht. Hier knüpft die Lehre allerdings an den grassierenden ökonomischen Misserfolg an und führt ihn auf dämonische Besessenheit der Klienten zurück. Um Erfolg im Leben zu haben, muss man sich erst von den bestallten Funktionären den Dämon austreiben lassen. Wenn sich der Erfolg dennoch nicht
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einstellt, liegt das wiederum am Kleinglauben der Klienten. Da es in vielen Gesellschaften unter andauerndem sozialem Kahlschlag keine gangbaren kollektiven Möglichkeiten zur Verbesserung der Lage mehr gibt und individueller Erfolg die erste und letzte Option ist, sind diese Kirchen voll. Die Anstrengung der Perfektionierung läuft allerdings leer im ewigen Kreislauf von trial und error, und die Schuld dafür liegt natürlich beim Opfer dieses Mechanismusʼ selbst. Kommunitarismus vs. Individualismus: In der US-amerikanischen Kultur ist vielfach eine Spannung zwischen Kommunitarismus und Individualismus beobachtet worden. Biblizismus, Bundestheologie und Gemeindefrömmigkeit kann man als Vorläufer und Pendant für eine kommunitaristische Konzeption von Gesellschaft und schließlich auch für eine republikanische Auffassung von Nation bezeichnen. Gleichzeitig ist derselbe Biblizismus gemeinsam mit protestantischem Heilsindividualismus (jedes Individuum ist Gott direkt verantwortlich) und der Perfektionierungsdisposition Vorläufer und Pendant für individualistische Auffassungen von Gesellschaft und liberale Vorstellungen von Politik und Nation. Es spricht Vieles dafür, dass kommunitaristische religiöse Praxis eher ländlich, unterschichtgebunden oder ethnisch gerahmt ist; und dass individualistische Praxis eher (sub-)urban und mittelschichtsorientiert verfährt und mit der Zeit eher agnostisch als religiös vermittelt wird. Diese Unterscheidung spiegelt sich auch in der Soziodemografie der republikanischen Wähler im Vergleich zu den demokratischen. Einen Gegensatz zwischen Kommunitarismus und Individualismus gibt es in Lateinamerika auch. Religiös lässt er sich festmachen an der Spannung zwischen einem kulturell verankerten, nicht zuletzt auf den katholischen Korporatismus und auf linke politische Bewegungen zurückgehenden Kommunitarismus auf der einen Seite und, auf der anderen Seite, einer auf die individuelle Konversion zielenden Bekehrungsmission. Individualismus findet sich dementsprechend in Lateinamerika häufig in der Ablehnung kollektiv orientierter Politiken sozialer Gerechtigkeit mit dem Argument, dass die individuelle Bekehrung des Herzens schon die gewünschten gesellschaftlichen Auswirkungen haben werde. Solange das harmlos erscheinende Argument der individuellen Bekehrung auf das ewige Seelenheil gerichtet ist, bleibt es politisch auch relativ harmlos – außer, dass es eine in der Regel systemstabilisierende Entpolitisierung zur Folge hat. Wenn man aber als Zielvorstellung der vielen Einzelbekehrungen eine vollständig bekehrte Gesellschaft mit entsprechend kontrollierten politischen Institutionen in Rechnung stellt, so verliert
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das Konzept seine Unschuld und wird als eine verdeckt theokratische Auffassung erkennbar – das heißt als das glatte Gegenteil von Individualismus. Laizität: Für die Verflechtung des US-amerikanischen Protestantismus mit der lateinamerikanischen Gesellschaft ist auch die unterschiedliche Auffassung von Laizität von Bedeutung. Der berühmte »Wall of separation« zwischen Staat und Kirche ist eine aus einem Brief Jeffersons an einen baptistischen Gemeindeverband entnommene Interpretation des Ersten Verfassungszusatzes. Sie ist zwar von späteren Gerichtsurteilen bestätigt worden; aber streng genommen stellt das First Amendment Religionsfreiheit fest, verbietet die Gründung einer Staatskirche, sagt aber nichts über Einmischung von religiösen Akteuren in die Politik. Die tendenziell laizistische Interpretation Jeffersons steht deshalb auch in einer starken Spannung zur politischen Realität der USA, mit religiösen Akten bei der Amtseinführung von Präsidenten, geistlichen Beratern bis hin zu veritablen »court evangelicals«, religiösen Lobbying-Institutionen am Capitol Hill und einem riesigen National Prayer Breakfast, bei dem der Präsident jährlich zum Vorbeten gezwungen ist. God talk ist in der politischen Öffentlichkeit entgegen der Jefferson’schen Formel überall vertreten und einflussreich. Die Laizitätsproblematik ist in Lateinamerika komplizierter und einfacher zugleich. Wie auch in den USA bewegt sich die Praxis politisch interessierter religiöser Akteure zwischen dem Ausreizen der mittlerweile von allen Verfassungen garantierten Religionsfreiheit einerseits und laizistischen oder staatskirchlichen Restriktionen andererseits. Länder mit einer strikt laizistischen Verfassung wie Uruguay und vor allem Mexiko haben die prinzipielle Religionsfreiheit durch restriktive Gesetzgebung für religiöse Organisationen stark eingeengt. Kein Grundeigentum außer für Ritualgebäude, kein Medienzugang, strenge Finanzauflagen, keine politische Meinungsäußerung von Klerikern usw. Religionsfreiheit bedeutet in Mexiko auch nach der Reform von 1992 nicht politische Gestaltungsfreiheit. Zurückgeschnitten wird die Religionsfreiheit für Protestanten im Vergleich zur katholischen Kirche auch in Costa Rica, wo Letztere als Staatskirche Privilegien genießt, die Erstere nicht haben. In Kolumbien ist mit der Verfassung von 1991 Religionsfreiheit etabliert, ohne das weitreichende laizistische Einschränkungen gemacht worden wären. Im Gegenteil ist durch die jahrhundertelange direkte Einmischung der katholischen Kirche in öffentliche Angelegenheiten die Auffassung tief habitualisiert, dass religiöse Akteure selbstverständlich das Recht zur politischen Äußerung haben. Das hat schließlich auch dazu beigetragen, dass das Referendum über den Friedensvertrag 2016 aufgrund religiöser Propaganda mit
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einem (knappen) Nein beschieden wurde. In Bezug auf Brasilien kann man von einer »laicidade com jeito« – einer »Laizität so lala« – sprechen. Religionsfreiheit und Laizität des Staates sind zwar etabliert, aber für die Laizität ist weder ein hinreichender juridischer noch praktischer Rahmen geschaffen worden (Montero 2006), sodass letztlich jeder sich nach eigenem Gusto verhält – was sehr deutlich an der Wahlpropaganda der Rechten und der Bancada Evangélica zu erkennen ist. Wir haben bereits früher darauf hingewiesen, dass Samuel Huntington für die Außenpolitik der USA eine Spannung zwischen Kreuzzugsbereitschaft und Isolationismus diagnostiziert hat (Huntington 1982, 241f.). Im Blick auf zentrale religiöse Überzeugungen kann man eine ähnliche Ambivalenz feststellen. Verbindet sich das Selbstbild von Erwähltheit und Einzigartigkeit sowie das millenaristische Projekt (insbesondere im prämillenaristischen Verständnis) mit dem Bestreben nach moralischer und religiöser Perfektion, so resultiert mehr Plausibilität für Isolation. Verbinden sich die puritanischen Dispositionen mit dem Interesse an territorialer oder ressourcenbezogener Ausdehnung, dann werden das Missionsmotiv und die Dämonisierungsbereitschaft zu symbolischen Operatoren eines Kreuzzuges. Letzteres hat in den vergangen zweihundert Jahren das Übergewicht gehabt (vgl. Williams 1984). Im Blick auf Lateinamerika kann man sagen, dass die Spannung zwischen Isolationismus und Kreuzzug als außenpolitisches Muster nicht anschlussfähig ist. Internationale Übergriffe und entsprechende Bestrebungen sind in Lateinamerika die Ausnahme. Religiöse Kreuzzüge des lateinamerikanischen Protestantismus sind – bis in die jüngste Vergangenheit – nur national durchgeführt worden. Dies hat sich allerdings mit den neopentekostalen Megakirchen geändert. Die Igreja Universal do Reino de Deus ist in weit über 100 Ländern aktiv; viele andere Megakirchen aus den verschiedensten Ländern haben ebenfalls Unternehmungen in jeweils anderen lateinamerikanischen Ländern, den USA oder – mit meist sehr kleinen Dependancen – in Europa. Zudem ist 1987 von verschiedenen lateinamerikanischen Organisationen die Cooperación Misionera Iberoamericana (COMIBAM) und 1995 die Organisation ##AD2000 and Beyond (die die Mission durch das 10/40-window durchführen) als Versuche transnationaler Einflussnahme (mit Unterstützung aus den USA) gegründet worden (vgl. Schäfer 2013). Die Zeichen beginnen sich auf Kreuzzug zu stellen. Die Tatsache, dass die Anschlussfähigkeit des US-amerikanischen Protestantismus an die lateinamerikanische Gesellschaft nur bedingt gegeben ist und die Verflechtung somit eine ganze Reihe von Veränderungen provoziert
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hat, lässt sich auch auf einen grundlegenden Unterschied zurückführen. In Anlehnung an Kategorien, die der türkisch-amerikanische Psychoanalytiker Vamik Volkan (2018, 17ff.) für die the Identitätsbildung von großen Gruppen (Völkern) vorschlägt, könnte man für die weiße, protestantische Bevölkerung in den USA von einem chosen triumph sprechen, einem gewählten Triumph. Das heißt, von einer Identität, die auf die Utopie des Neuen Jerusalems, des Lichtes der Völker, zurückgeht und die sich mit dem Unabhängigkeitskrieg als siegreich erwiesen hat. Passende Objekte der Externalisierung sind – je nach Grad der Exklusivität des gefühlten Triumphes – Zuwanderer (etwa katholische Iren im 19. Jahrhundert oder Hispanos heute), ausländische Mächte wie etwa der Kommunismus oder der Islam oder einfach alle nicht-Weißen. Welche entsprechende Kategorie könnte man für lateinamerikanische Protestanten etablieren? Von chosen triumph kann man selbstverständlich nicht sprechen. Vielleicht kann man aber im Blick vor allem auf das Selbstverständnis der politisch Aktiven unter ihnen von chosen conquest sprechen, einer erwählten Eroberung. Mit dem chosen triumph kann man noch eine weitere Beobachtung verbinden. Die Revolution, der Geburtsakt der Moderne, wird mit der Unabhängigkeit oder sogar bereits mit den puritanischen Kolonien als bereits erreicht wahrgenommen. Die Nation und die religiöse Gemeinschaft repräsentieren die gelungene Revolution, die Gestalt gewordene Utopie, das Licht der Völker, die Idealgestalt der Moderne. Die Gesellschaft ist also in ihrer Selbstwahrnehmung bereits revolutionär, und zwar dank ihrer Religion, dank also des evangelikalen Protestantismus. Eine weitere Revolution wäre gegenstandslos und somit sinnlos. Die Gesellschaft kann allenfalls von der wahren, protestantischen Orientierung abfallen. Dann muss sie auf ihre Ursprünge zurückgeführt werden. Revolution ist somit Restauration. Diese Sicht der Dinge provoziert bei weißen Evangelikalen eine negative Einstellung zu den Entwicklungen des 20. Jahrhunderts, insbesondere der zweiten Hälfte (vgl. Jones et al. 2016, 8, 17). Teilt man diese puritanische Tradition nicht oder nur zu geringem Grad (wie die Black Churches oder die Hispano-Katholiken und Hispano-Evangelicals), so ist die Zukunftsperspektive eher positiv (Jones et al. 2016, 8). Revolutionen – sofern nötig – und Reformen werden nicht restaurativ verstanden, sondern liegen in der Zukunft und müssen noch realisiert werden. Auf diesem Hintergrund ist die ansonsten eher problematische Unterscheidung zwischen progressiv und konservativ sinnvoll; allerdings sollte »konservativ« dann synonym mit »restaurativ« verstanden werden.
3 Verflechtung religiöser Dispositionen
In Lateinamerika ist mit der Unabhängigkeit die liberale Revolution noch nicht besiegelt. Die neoliberale Revolution in den letzen Jahrzehnten hat vielleicht den Traum der Wirtschaftsliberalen aus dem 19. Jahrhundert in Erfüllung gebracht. Aber für die Mehrheit der Bevölkerung und die Mehrheit der Protestanten ist sie zum sozialen Albtraum geworden. In Lateinamerika liegen die Revolutionen immer noch in der Zukunft. Die Frage ist, ob man sie will, und wenn ja, welche Sorte von Revolution man bevorzugt.
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4 Die soziale Frage »von unten«
In der protestantischen Bewegung in Lateinamerika entwickelten sich in der Tat sehr unterschiedliche Vorstellungen darüber, wie die künftige Gesellschaft aussehen könnte. Das Committee on Cooperation in Latin America (CCLA) führte die Arbeit des Panama-Kongresses konsequent fort und berief nach mehreren Regionalkonferenzen 1925 einen weiteren Missionskongress in Montevideo ein (Prien 1978, 916ff.). Dieser Kongress war schon wesentlich stärker von Lateinamerikanern geprägt. Von ca. 250 Delegierten waren nur 50 aus den USA. Das CCLA hatte in der Zwischenzeit eine Arbeit der zwischenkirchlichen Vernetzung betrieben, und mehrere historische Kirchen hatten sich den transnationalen Weltbünden ihrer Konfessionen angeschlossen. Anstelle dieser auf religiöse Reproduktion und Konsolidierung gerichteten Arbeit verlangte das chilenische Nationalkomitee, das Verhältnis von Kapital und Arbeit zu thematisieren, und andere hoben auf Friedensarbeit im Völkerbund oder auf Zusammenarbeit mit Regierungen bei Erziehung und Gesundheit ab. Der Folgekongress für die Anrainer der Karibik, Havanna 1929, ist für die Verflechtungsgeschichte ein wichtiges Datum, da hier die lateinamerikanische Kontrolle über die protestantische Arbeit in Lateinamerika gefordert wird (Prien 1978, 919ff.). Der Kongress ist von Lateinamerikanern organisiert. Den US-Missionaren wird gesagt, dass sie nicht mehr blinden Gehorsam fordern können und dass sie sich vor ihrer Entsendung intensiv mit der lateinamerikanischen Geschichte, Kultur und Sprache beschäftigen sollen. In Havanna erfolgt ein Bruch und der Beginn einer Reorganisation der Arbeit des historischen Protestantismus in Lateinamerika aus eigener Kraft, insbesondere über die Jugend- und Studierendenarbeit in den Organisationen Unión Latinoamericana de Juventud Evangélica (ULAJE), dem YMCA und dem Movimiento Estudiantil Cristiano (MEC). Viele evangelikale und pfingstliche Missionen arbeiten noch einige
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Jahrzehnte unter missionarischer Hegemonie weiter und erfahren ihren Unabhängigkeitsschock später.
4.1
Brasilien: Gesellschaft und Kirche
In Brasilien entwickelte sich diese Veränderung in den Verflechtungsverhältnissen besonders rasch. Dies wurde begünstigt durch zwei besondere Umstände, die es erlauben, einen systematischen Schluss zum Zusammenspiel von internationaler Mission und nationaler Politik zu ziehen. Erstens wird nationale Selbstständigkeit protestantischer Akteure in Brasilien und dem Cono Sur durch Einwandererkirchen (wie den Lutheranern) exemplifiziert und gestärkt, wobei naturgemäß Missionare keine Rolle spielen. Zweitens sind in Brasilien auch bei Pfingstkirchen so gut wie keine Missionare aus den USA aktiv gewesen (und nur wenige aus Schweden). Zudem engagieren sich nationale religiöse Akteure sehr früh auf verschiedenen Ebenen in der Politik, zunächst auf kommunaler Ebene. Unsere These ist, dass Missionare das politische Engagement verhindern, weil ihr primäres Interesse der quantitative Erfolg im Blick auf Kirchenmitgliedschaft ist, denn daran werden sie daheim gemessen. Dementsprechend ist auch bei den Pfingstkirchen in anderen lateinamerikanischen Ländern mit der ab den 1960er Jahren zunehmenden Unabhängigkeit von Kirchen ein Anstieg des sozialen und politischen Engagements zu verzeichnen. Christlicher Sozialismus: Der historische Protestantismus ist mit der Konferenz in Panama durch den presbyterianischen Kirchenmann Erasmo Braga verbunden.1 Zusätzlich tragen Impulse aus der ökumenischen Bewegung (aus den Arbeitsgruppen »Mission and Evangelism« und »Life and Work« lange vor der Gründung des Weltkirchenrates [WCC]) bei zur Organisation einer kirchlichen Jugendbewegung und dem seit 1934 bestehenden Dachverband Confederação Evangélica do Brasil (CEB) mit seinem Geschäftsführer Waldo César. Einflüsse aus der Studenten- und der Gewerkschaftsbewegung bewirken, dass in der Zeitschrift Mocidade (Jugend) Anfang der 1950er immer mehr kapitalismuskritische Artikel erscheinen.
1
Vgl. zum Folgenden: Prien 1978; Schilling 2016, 69ff., ganz ausgezeichnet zur Verbindung zum Weltrat der Kirchen; Sinner 2012, 58f.; Ferreira Vilela o.J.; Conrado 2008; Calvani 2015; Cesar und Ultimato 2007; Silva 2017; Barreto Jr. 2010; Lienemann-Perrin und Lienemann 2006.
4 Die soziale Frage »von unten«
Dazu kommen theologische Publikationen aus der Feder des presbyterianischen Missionars und Professors Richard Shaull, der mit der Bewegung identifiziert ist und die europäische Theologie Karl Barths und Dietrich Bonhoeffers propagiert. 1953 organisieren César, Shaull und Andere einen ökumenischen Arbeitskreis über soziale Verantwortung der Kirchen – just als der 1949 gegründete Weltrat der Kirchen in Genf die Arbeitseinheit »Kirche und Gesellschaft« ins Leben ruft. Die Generalversammlung des WCC 1954 in Evanston und folgende Tagungen in Lateinamerika geben Impulse für die Gründung der Comissão Igreja e Sociedade (Kommission für Kirche und Gesellschaft) im Jahr 1955 mit drei Arbeitsgebieten: Politik, Probleme auf dem Land, Industrie und Arbeiterschaft. Zudem wird enge Kooperation mit dem WCC verabredet.2 Mehrere Konsultationen und Treffen zu sozialen Themen wecken Interesse an Fragen der öffentlichen Verantwortung von Kirchen bei vielen weiteren Kirchenleuten. Die Akteure üben Selbstkritik an der evangelischen Flucht aus der sozialen Verantwortung hinter puren Moralismus und bearbeiten sozialstrukturelle Probleme in ethischer Hinsicht. Diese Dynamik – übrigens zur selben Zeit, in der in Zentralamerika die Bekehrungskampagnen des In-Depth-Evangelism laufen – führt zur Gründung des Lateinamerika-weiten Verbandes Iglesia y Sociedad en América Latina (ISAL) 1962 in São Paulo (Schilling 2016, 100). Die ab 1963 publizierte Zeitschrift Cristianismo y Sociedad sollte für die in der sozialen Frage engagierte ökumenische Bewegung in Lateinamerika bis 2000 zentral sein. Die Einstellung der Zeitschrift gibt den Blick frei auf die aktuellen finanziellen Schwierigkeiten des sozial engagierten Christentums in Lateinamerika und der ökumenischen Bewegung weltweit. Diktatur und Widerstand: In den frühen sechziger Jahren arbeiten die sozial engagierten Protestanten in Synergie mit der Politik João Goularts, die den Gerechtigkeitsforderungen benachteiligter Schichten tendenziell nachkommt und die Gesellschaft kulturell liberalisiert – Bossa Nova, Architektur Niemeyers usw. Damit treffen sie wie auch Goulart auf immer stärkere Ablehnung bei konservativen Kreisen. 1964 putscht das Militär, und General Castello Branco geht mit harter Hand und Kommunismusvorwürfen auch
2
Da zahlreiche Mitglieder der Arbeitsgruppe Methodisten waren (Julio de Santa Ana, José Míguez Bonino, Oscar Bolioli u.A.), wurden ab 1960 Studienprogramme mit dem Instituto Metodista in São Paulo entwickelt und die Arbeit auf breitere akademische Füße gestellt.
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gegen die kirchlichen Aktivisten vor. Konservative Protestanten hingegen beteiligen sich an der Hetzjagd auf »Kommunisten« unter anderem damit, dass sie »Verdächtige« aus den Reihen der eigenen Kirchen denunzieren. Die inkriminierten Aktivisten gehen ins Exil, in den Untergrund oder in den offenen Widerstand. Eine besondere Leistung im Widerstand ist 1973 zusammen mit der katholischen Bischofskonferenz die Gründung der Entwicklungsorganisation Coordenadoria Ecumênica de Serviço (CESE), die bis heute erfolgreich arbeitet.3 Zwischen 1979 und 1985 stellt CESE klandestin eine Dokumentation von Folter und anderen Menschenrechtsverletzungen zusammen: Brasil Nunca Mais. Durch seine Leistungen im Widerstand hat sich der ökumenisch orientierte Protestantismus über die Diktatur hinweg in Brasilien halten können und hat heute eine deutlich stärkere Rolle als etwa in Zentralamerika, Kolumbien, Peru oder Chile. ISAL arbeitet als zentrales Organ im sozial engagierten lateinamerikanischen Protestantismus, entwickelt ähnliche Positionen wie die Theologie der Befreiung und steht im Dialog mit ihr. 1975 muss ISAL nach einem Anschlag auf das Wohnhaus des Generalsekretärs Julio de Santa Ana in Uruguay unter zunehmender Repression die Arbeit einstellen. Aus dieser Linie ökumenischer Arbeit im lateinamerikanischen Protestantismus geht Ende der 1970er Jahre das ökumenisch orientierte Consejo Latinoamericano de Iglesias (CLAI) hervor. Die meisten Akteure, die heute in dieser Linie weiterarbeiten, unterhalten enge Beziehungen zum Weltrat der Kirchen und zu Partner- (nicht: Missions-)Organisationen in den USA. Letztere wiederum sind die durch Erfahrungen in Lateinamerika und der Dritten Welt generell transformierten ehemaligen Missionsgesellschaften. Schaut man auf die religiösen Diskurse sowie die Ziele und Strategien dieser Akteure, so bewegt man sich zwar im Protestantismus, aber in einer vollkommen anderen Welt als der von dessen restlichen religiös-politischen Formationen. Hier handelt es sich nicht um eine umwandelnde Anpassung US-amerikanischer Überzeugungen an lateinamerikanische Wirklichkeit. Hier wird vielmehr ausgehend von der in Brasilien entwickelten Pädagogik der Unterdrückten Paulo Freires der Blick auf die sozialen Probleme gerichtet. Emotionalität, Wunder oder zehn Gebote weichen Themen wie »Probleme auf dem Land« und »Industrie und Arbeiterschaft« als Gegenstände soziologischer Analyse und theologischer Reflexion über ethische Empfehlungen. Diese Arbeitsweise wird später in der protestantischen und katholischen Theologie der Befreiung als »hermeneutischer Zirkel« von Sehen, Urteilen und 3
https://www.cese.org.br/ (abgerufen am 03.05.2019)
4 Die soziale Frage »von unten«
Handeln bezeichnet. Ein wichtiges Unterscheidungsmerkmal von den anderen Formationen des Protestantismus ist die theologische Selbstkritik. Damit wird Offenheit für Dialog mit allen denkbaren Akteuren anstelle von Bekehrungsdiskurs gefördert. Verflechtungsdynamik: Im Blick auf die Verflechtungsdynamik ist hier ein mehrstufiger Prozess erkennbar. Erstens wird der Impuls des Social Gospel (Braga und die Panama-Konferenz) aus der Perspektive der radikalen Problemstellungen lateinamerikanischer sozialer Ungleichheit und struktureller Gewalt reformuliert. Zweitens wird der theologische Blick diversifiziert, indem auch europäisches protestantisches Denken rezipiert wird. Um Unterstützung für den neuen Ansatz zu bekommen, werden drittens neue internationale Kontakte zu Organisationen mit ähnlichem Fokus aufgebaut (unter anderem zum WCC). Viertens werden lateinamerikanische Kooperationsnetzwerke aufgebaut. Fünftens werden durch gemeinsames ökumenisches Lernen auch die Partner in den USA verändert und die Beziehungen können neu definiert werden. Diese Prozesse können auch biografisch verfolgt werden. Der presbyterianische Missionar Richard Shaull hat in Brasilien begonnen, seine »Theologie der Revolution« zu entwickeln, ist zeitlebens auch über das Exil mit Brasilien identifiziert geblieben und hat auch in den USA in späten Jahren diese Haltung mit vielfältigem sozialen Engagement dokumentiert. Das ebenfalls presbyterianische Missionarsehepaar Gloria und Ross Kinsler haben 1963 im konservativen presbyterianischen Seminar in Guatemala begonnen, haben sich über die politischen Erfahrungen dort und über langjährige Mitarbeit im Programm für kontextuelle theologische Bildung des Weltkirchenrates mit der Theologie der Befreiung identifiziert und sind in ihren letzten Dienstjahren an die ökumenische Universidad Bíblica Latinoamericana in Costa Rica gegangen. Dort war bereits das Ehepaar Irene und Robert Foulkes, das 1955 von der Latin America Mission an das stockkonservative Seminario Bíblico Latinoamericano (Vorläufer der Universidad, Costa Rica) entsandt worden war. Die Foulkes und andere Missionare erlebten in den frühen 1970ern einen studentischen »Putsch«, der die Schule auf den Kurs der Theologie der Befreiung brachte und einige Missionare zum Rückzug veranlasst. Die Foulkes entschließen sich, die Seiten zu den Latinos zu wechseln und zu bleiben. 1957 wurden auch Doris und John Stam an das Seminario Bíblico entsandt. Sie trafen dieselbe Entscheidung wie die Foulkes, übernahmen dann aber auch Lehraufträge in Nicaragua und Cuba
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und engagierten sich von Lateinamerika aus auch stark in den USA, um Befreiungstheologie protestantischer Prägung zu propagieren. Einige Zeit später sollte auch die evangelikale Bewegung ähnliche Entwicklungen erleben, die allerdings mit härteren Brüchen verbunden sind.
4.2
Cochabamba: Kirche und Gesellschaft
Die Kongresse in Montevideo und Havanna und die Erfahrungen in Brasilien haben eine neue Entwicklung angedeutet, die freilich nicht im ganzen Missionsprotestantismus in Lateinamerika um sich greift. Die konservativevangelikalen Missionare, die in der Interdenominational Foreign Missions Association (IFMA, 1917) und später, ab 1945, unter der Evangelical Foreign Missions Association (EFMA) organisiert sind, ebenso wie nicht organisierte große Pfingstkirchen missionieren nach dem alten Modell der Leitung durch Missionare einfach weiter. In den Pfingstkirchen kommt es ab den 1960er Jahren durch die Entstehung neuer, jetzt nationaler Führungsschichten in zweiter Generation vermehrt zu Abspaltungen von den US-amerikanischen Missionskirchen und zu Neugründungen. Damit kommen, wie schon angedeutet, sozialethische Themen und Unternehmungen immer stärker auf die Tagesordnung. Die konservativen Missionen – die noch keine organisierte religiöse Rechte bilden – reagieren darauf mit Kommunismusvorwürfen und der Unterstellung, dass die reformierenden Akteure das wahre Christentum ausmerzen wollten, um mit dem »kommunistischen« Weltkirchenrat (WCC) zu kooperieren. Confraternidad Evangélica Latinoamericana (CONELA): Auf dieser Linie wird die Gründung des ökumenischen Lateinamerikanischen Kirchenrats (CLAI, 1978 auf einer wichtigen protestantischen Tagung in Mexiko offiziell beschlossen und 1982 in Peru gegründet) bereits 1982 mit der Gründung einer Gegenorganisation beantwortet.4 Die Idee zur Confraternidad Evangélica Latinoamericana (CONELA) stammt von einer Aktivistengruppe bei einem Billy-Graham-Kongress in Pattaya, Thailand, unter der Führung von zwei Mitarbeitern des US-amerikanisch-argentinischen Massenevangelisten Luis Palau. Palau finanziert die Gründung CONELAs 1982 in Panama und stellt den ersten Generalsekretär. CONELA gelingt es zwar nicht, eine nennenswerte Anzahl wichtiger Mitglieder der gediegenen, liberal-konservativen 4
Eine schöne Darstellung CONELAs bei Stoll 1990, 132ff.
4 Die soziale Frage »von unten«
Fraternidad Teológica Latinoamericana zu rekrutieren. Aber CONELA denunzierte CLAI wegen Kommunismus, Radikalismus und all dem, was sonst so aufgefahren wird, und die resultierende Polarisierung ist in den 1980er und 1990er in fast allen Gesprächen mit lateinamerikanischen Protestanten thematisch oder mindestens spürbar. CONELA als Organisation ist allerdings sehr viel weniger bekannt als CLAI. Die Gesprächspartner, die dieser Organisation angehörten, zeichneten sich aus durch eine harte fundamentalistische Position und die Orientierung an Donald McGavrans Church GrowthStrategie sowie am US-amerikanischen Missionsprotestantismus. Dem entspricht, dass – wie Stoll festhält – CONELA vom rechtsgerichteten MissionsEstablishment der USA unterstützt wird, darunter Billy Graham, Campus Crusade for Christ, Overseas Crusades und Luis Palau. Darüber hinaus ist ein Großteil ihrer Führer und Mediengesichter in den USA stationiert. Wir haben hier also ein Kooptations- und Kontrollmodell transnationaler Verflechtung. Eine aus den USA geschaffene und kontrollierte lateinamerikanische Organisation vertritt Positionen der konservativen US-amerikanischen Missionsbewegung und der religiösen Rechten als »lateinamerikanisch«. Fraternidad Teológica Latinoamericana (FTL): Etwas Ähnliches hat vorher schon der US-amerikanische Missionar und Agitator C. Peter Wagner mit dem Lateinamerikanischen Missionskongress (CLADE I) und mit der Fraternidad Teológica Latinoamericana (FTL) im Sinn.5 Wagner war Missionar in Bolivien, später Church Growth-Guru für die quantitativ orientierte USamerikanische Mission und schließlich neopentekostaler Erfinder von dämonologischen Feinheiten wie den territorial spirits. Wagner versteht es, sich selbst die Rolle des Protagonisten zuzuschreiben. Die Antagonisten sind, pars pro toto, drei sehr gut ausgebildete, junge evangelikale Nachwuchs-Leiter: René Padilla aus Ecuador, Samuel Escobar aus Peru und Orlando Costas aus Puerto Rico. Als Fortführung des Weltmissionskongresses der Billy Graham »Industries« in Berlin 1966 organisieren lateinamerikanische Evangelikale den Congreso Latinoamericano de Evangelización I (CLADE I) 1969 in Bogotá. Zudem kann man das Gefühl nicht loswerden, dass der Kongress eine evangelikale Antwort auf die Tercera Conferencia Evangélica Latinoamericana (CELA III) sein sollte, die der Weltkirchenrat im selben Jahre ausgerichtet hatte. Die Antwort war in fast jeder Hinsicht US-amerikanisch – außer darin, dass sehr
5
Salinas 2009; Swartz 2012; Clawson 2012; Gutiérrez 2015b.
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viele Delegierte aus lateinamerikanischen Kirchen zugegen waren, die alltäglich mit Not, Gewalt und Repression zu kämpfen hatten. Wagner arrangierte es, dass ein Traktat von ihm über Latin American Theology: Radical or Evangelical? an alle TeilnehmerInnen gratis verteilt wurde. Darin unterschied er drei Typen von Christen in Lateinamerika: konservative Protestanten, konservative katholische Hierarchie und Linksradikale mit säkularisierter Theologie. Da im lateinamerikanischen Protestantismus – wie er ausführte – nichts Vernünftiges über das Verhältnis von Kirche und Welt zu hören sei, könne man der Flut von Links nur mit seinem Modell des Kirchenwachstums begegnen. So begeistert wie manche US-Amerikaner waren, so indigniert waren die Latinos. Escobar, der den Planungen nach über die Benefizien der freien US-Wirtschaft in Lateinamerika reden sollte, hielt eine Rede über die soziale Verantwortung der Kirche, über den Verkauf des Evangeliums an eine Mittelschichtsideologie, das Aufzwingen einer US-amerikanischen Agenda, den notwendigen Verzicht auf ausländische Hilfe und die Konfrontation mit »Anglo«-Theologien. Ein Jahr später schon, im Dezember 1970, gründete eine Gruppe evangelikaler lateinamerikanischer Theologen in Cochabamba, Bolivien, die Fraternidad Teológica Latinoamericana (FTL). Wagner scheiterte bei dieser Gelegenheit mit seiner Rolle als Quälgeist. Er erschien zur Gründungssitzung mit einem selbstgeschriebenen, fertigen Entwurf der FTL-Statuten und verlangt, dass dieses Papier offiziell angenommen würde. Wagner wollte nicht nur Unfehlbarkeit der Schrift durchsetzen, sondern die Finanzierungswürdigkeit der FTL an das Einhalten theologischer Bedingungen binden. Selbstverständlich kam Wagner damit nicht durch. Zwei Jahre später droht der Evangelikale Dachverband Evangelical Foreign Missions Association mit dem Zurückziehen einer Finanzierungszusage, wenn die FTL den liberalen Theologen José Míguez Bonino zu einem Treffen einladen sollte. Das Antwortschreiben hält fest, dass »Sie uns nicht sagen werden, wen wir einladen und wen nicht. Wir sind die FTL (mit Betonung auf dem ›L‹)« (Swartz 2012, 120). Die FTL vertritt in vielerlei Hinsicht evangelikale Positionen, aber sie nimmt die hermeneutische Arbeitsweise der Befreiungstheologie ernst, würdigt deren Exegese, kritisiert US-Imperialismus und die Identifikation von Glaube mit Kapitalismus, und sie legt großen Wert auf die soziale Verantwortung der Kirchen. Der Versuch, Befreiungstheologie und evangelikale Identität zu versöhnen, erfolgt hermeneutisch, über die Feststellung der Kontextualität allen Wissens – eine Erkenntnis, die dem naiven Positivismus konservativ-evangelikaler Theologie in den USA diametral zuwider läuft. Die FTL, schließlich,
4 Die soziale Frage »von unten«
präsentiert sich als Mittelweg zwischen Marxismus und militaristischem Antikommunismus. Effekte in den USA: Ein besonderer Effekt dieser Aktivitäten ist ihre Rückwirkung auf den Evangelikalismus in den USA. Wichtige Vertreter der FTL haben in den USA studiert, unterhalten gute Beziehungen und werden zu Vorträgen und Seminaren eingeladen. Der Bulletin der FTL erscheint auch auf Englisch und kann so Wirkung in den USA entfalten. Besondere Wirksamkeit entfaltete der Auftritt Escobars auf dem von Billy Grahams Organisation ausgerichteten Congress of World Evangelization in Lausanne 1974. Etwa ein Dutzend Mitglieder der FTL haben dort die US-amerikanische Engführung des Evangeliums auf head count und dessen Bindung an die nordamerikanische Kultur kritisiert, die Kriegsbegeisterung unter den Evangelikalen aufs Korn genommen, die Rechte der Palästinenser gegenüber Israel zur Sprache gebracht und eine holistische Evangelisation (misión integral) gefordert. Vor allem haben sie mithilfe einer Pressure Group in das Statement der Konferenz und damit in die Gesamtprogrammatik der Lausanne-Bewegung einen langen Artikel zur sozialen Verantwortung der Kirche eingefügt (World Evangelical Fellowship 1974, Abschnitt 5). Wagner und andere Kämpfer seines Schlages waren damit in keiner Weise einverstanden, die große Zahl der Delegierten aus der Dritten Welt schon. Zudem vergrößerte die Aktion den Einfluss der FTL unter den sich gerade in den USA formierenden evangelikalen Linken um Jim Wallis und seinen Sojourners und Ron Siders Evangelicals for Social Action sowie anderen Organisationen. Bis heute – so Clawson – sind Nachwirkungen spürbar, zum Beispiel wenn es um Bewegungen für Integral Mission nach Padillas Ideen geht. Durch die Strategen der FTL gerät mit der sozialen Frage auch Lateinamerika stärker in den Fokus der evangelikalen Linken in den USA. Damit hat sie die objektive Richtung der Verflechtung umgekehrt, wenn man so sagen darf. Darin ist sie dem ökumenischen Protestantismus Lateinamerikas ähnlich, der die Diskurse und Praktiken des Mainline Protestantismus schon seit langem mit theologischen Ideen versorgt – nur, dass die FTL die Evangelikalen mit einer ihnen gemäßen Sprache anzusprechen versteht. Diese Umkehrung der Verflechtungsrichtung kann man vielleicht als einen Panamerikanismus von Süden her verstehen. Man darf ja nicht vergessen, dass für den panamerikanischen Gedanken auch Bolívar und San Martín verantwortlich zeichnen. Auf jeden Fall wird die Umkehrung der Verflechtung in den Auseinandersetzungen um die Kriege in Mittelamerika eine wichtige Rolle spielen.
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5 Militärisch-spiritueller Krieg
Besonders intensive Verflechtungen zwischen interessierten Akteuren im Süden und Norden, die weit über religiöse Praxis hinaus ins Politische und Militärische reichten, kommen während den zentralamerikanischen Kriegen in den 1980er Jahren zustande. Die militärische Unterstützung und die Waffen spiritueller Kriegsführung wurden aus den USA geliefert. Und der Funke der zentralamerikanischen Kämpfe entzündet politische Auseinandersetzungen in den USA.
5.1
Spiritual Warfare
Im Zuge des kalten Krieges macht sich dessen Logik auch im Selbstverständnis von religiösen Akteuren im Allgemeinen und von Missionsagenturen im Besonderen bemerkbar. Diesem Selbstverständnis nach will die Welt dualistisch und antagonistisch verstanden werden. Eine zunehmende Zahl von Agencies begreift ihre Mission als Krieg gegen Dämonen. In der klassischen Pfingstbewegung hat die Dämonenaustreibung ihren Ort in der Behandlung von (psychischen) Krankheiten, wenn ein Arzt zu teuer ist. In den 1970er Jahren allerdings bildet sich unter dem Schock der Bürgerrechtsbewegung, der Anti-Vietnam-Proteste und der Studentenbewegung in der (oberen) Mittelklasse der Neopfingstbewegung die shepherding- oder discipleship-Bewegung heraus, autoritäre Formen der Gemeindeleitung.1 In diesem und ähnlichem Umfeld erweist sich eine hart dualistische Interpretation des Weltgeschehens als praktisch für Disziplinierung nach innen bei aggressiver Expansivität nach außen. Das Motiv des Kampfes gegen Dämonen wird
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Entsprechende Namen sind Bob Mumford, Ern Baxter, Derek Prince. Siehe Schäfer 1992c, 76ff.
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auf die verschiedensten sozialen Felder ausgedehnt, selbstverständlich auch auf die Politik. Die Logik ist einfach: die Welt ist voller Dämonen, die die Christen und vor allem alle Anderen unter Druck setzen, weshalb Christen in den anti-dämonischen Krieg eintreten müssen. Ab den 1970ern nimmt die Literatur dieses Genres ständig zu, nicht nur in religiösen Traktaten, sondern auch in der Belletristik.2 Auch im Feld der äußeren Mission tauchen immer mehr Agenturen auf, die diese Logik verfolgen. 1985 wird die Association of International Mission Services (AIMS, später Accelerating International Mission Strategies) als Dachverband von 50 Missionsgesellschaften mit ca. 1000 Missionaren gegründet und von EFMA sowie IFMA in jeder Hinsicht unterstützt. AIMS setzt sich zum Ziel, »geistliche Macht aufzubringen, um die Herrschaft Satans über die Nationen zu überwinden« (Roberts und Siewert 1989, 38f.). Auch andere Missionsorganisationen wie etwa die personalstarke Youth With a Mission (YWAM) folgen der Linie der theokratischen Dominion-Doktrin in der äußeren Mission und sind mit der religiösen Rechten verbandelt (Diamond 1989, 206). Diese Tendenz geht nicht am Missionswissenschaftler C. Peter Wagner vorbei. Die nun von Wagner angeführte Church Growth-Bewegung war mit ihrer geradezu fordistischen Strategie der Herstellung von zahlenmäßig erfassten Bekehrungsprodukten aus alter Verbundenheit vor allem auf Lateinamerika gerichtet. Aber die Latinos hatten ihm und seiner Strategie eine Abfuhr erteilt. Escobar hatte sie öffentlich wegen ihres »kalten Pragmatismus« angegriffen, und die FTL hatte ihm signalisiert, dass sie auch gut ohne ihn auskäme. Der Dämonenkrieg und die autoritäre Wende der Neopfingstler bieten also eine neue Chance. Wagner nutzt seine privilegierte Position, um zunächst die »Dritte Welle« des Pfingstlertums auszurufen, die Pentekostalisierung der Evangelikalen – was nicht zuletzt auch die Legitimation der eigenen Wende zu neopfingstlichen Strategien bewirkt. Gegen Ende des Jahrtausends (zu Beginn des »Second Apostolic Age, roughly in 2001«)3 ruft er sich selbst zum Apostel und Mitglied eines internationalen Apostelrates aus; natürlich mit der Fähigkeit, direkte und autoritative Offenbarung von Gott zu empfangen und dem so von Gott erhaltenen Mandat, härtesten seven-mountain-dominionism zu vertreten. Dominion-
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Bubeck 1975; 1984; Dawson 1989; Dickason 1987. Siehe auch z.B. die Romane von Frank Peretti. International Coalition of Apostolic Leaders: https://www.icaleaders.com/about-ical/ definition-of-apostle(abgerufen am 02.10.2019). Siehe auch Eagles Vision Apostolic Team und New Apostolic Reformation (NAR).
5 Militärisch-spiritueller Krieg
Doktrin braucht allerdings Gegner. Dem kommt sehr zu Pass, dass Wagner vorher die Ideologie der geistlichen Kriegführung in der Missionsbewegung bzw. der internationalen Kommunikation neopentekostaler Akteure in den USA und in Lateinamerika hat. Der Fokus liegt auf den politischen Effekten der Doktrin, ausgedeutet als Kampf gegen territorial spirits, die ganze Länder dominieren. In militärischer Diktion unterscheidet Wagner den ground level für interpersonalen Exorzismus vom occult level gegen Hexerei, Astrologie und Satanismus und schließlich vom strategic oder cosmic level, auf dem Exorzismus bei dämonisch besessenen Regierungen praktiziert wird. Für letzteres muss man – wie in Guatemala praktisch durchgeführt – ein spiritual mapping von Regionen vornehmen, das die Kriegsziele genau zu bestimmen erlaubt. Es liegt auf der Hand, dass Wagner und seine Missionsfreunde mit dieser Ideologie bei den sozial verantwortlichen Evangelikalen der FTL nicht mehr landen konnte. Er gewinnt dafür finanziell potentere Verbündete in der neopentekostalen Oberschicht, die gelegentlich auch – wie Harold Caballeros aus Guatemala – in den Panama Papers registriert sind. Die spiritual warfare-Ideologie wird nun aber nicht mehr hauptsächlich als Doktrin von Missionaren den einheimischen Protestanten aufgedrängt; viele der klassischen Missionen bleiben bei Church Growth. Was sollten auch ausgehungerte und militärisch unterdrückte Kleinbauern mit spiritual warfare anfangen – es sei denn als konstruierte Abschreckung gegen »Kommunismus«? Das Arsenal des spiritual warfare wird vielmehr von den neopfingstlichen Gruppen in der Oberschicht und oberen Mittelschicht insbesondere in Guatemala als religiös-symbolische Waffe im counter insurgency-Krieg in Zentralamerika erkannt, aktiv rezipiert und eingesetzt.
5.2
Guatemala: die Stadt auf dem Berge
Hotel Panamericano: Wenn man in das Restaurant des traditionsreichen Hotel Panamericano eintritt, sieht man links in dem kleinen Foyer unter Glas das aufgeschlagene Gästebuch des Hotels aus den 1950er Jahren. Die Zahl US-amerikanischer Offiziere unter den Gästen ist erstaunlich. Es verwundert nicht mehr so sehr, wenn man sich klarmacht, dass mit Hilfe der ersten Geheimoperation der CIA und auf Wunsch der United Fruit Company (Chiquita) 1954 ein Putsch gegen den sozialdemokratischen Präsidenten Jacobo Árbenz wegen »Kommunismus’« durchgeführt wurde. Von diesem Moment an bis gegen Ende der 1980er Jahre bestimmen Militärdiktatur und der Wi-
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derstand von Guerilla-Verbänden eine der blutigsten Geschichten Lateinamerikas. Die kürzlich verstorbene presbyterianische Menschenrechtsaktivistin und Angehörige der Iglesia Guatemalteca en el Exilio Julia Esquivel erinnerte sich in einem Interview mit dem Verfasser daran, wie sie als kleines Mädchen die Bomben hörte, die von US-amerikanischen Flugzeugen zum Erschrecken der Bürger auf die Stadt abgeworfen wurden. Und sie erinnerte sich daran, wie sie unter dem Eindruck der Diktatur als Jugendliche ein einfaches Evangelium entdeckt habe, nämlich das des Jesus von Nazareth, der selbst arm war und jederzeit für die Armen und Ausgestoßenen da war. Zu Beginn der schwersten Phase der Repression Ende der 1970er Jahre wurde sie aufgrund ihres ökumenischen Engagements schwer gefoltert und floh dann mit Hilfe von Indígenas ins Exil. Spricht man – wie ich am selben Tag dieses Interviews – mit einem der führenden Neopfingstler heute über jene Zeit, so zählt für ihn vor allem, dass seine religiöse Organisation damals steilen Aufschwung genommen hat. Über den neopfingstlichen Diktator Efraín Rios Montt, der das vorher wahllose Massakrieren dank seiner Militärausbildung in den USA systematisiert hat, weiß er nur Gutes zu sagen. Der General habe lediglich 9 Banditen in der Stadt öffentlich erschießen lassen; dann sei Ruhe gewesen. Das Problem seien die europäischen Menschenrechtsorganisationen, die Guatemala belagern. Wenn man im Kriegsgebiet mit Menschen sprach, bekam man ein ganz anderes Bild. Ein Junge in Nebaj erzählte uns, wie er aus einem Versteck beobachten musste, wie sein gesamtes Dorf inklusive seiner Eltern und Geschwister von Soldaten abgeschlachtet wurde. Zahlen: Auch die Zahlen der von der UNO eingerichteten Wahrheitskommission (CEH 1999) liegen ein wenig höher, als der Pastor behauptet. Die Gesamtzahl der Opfer liegt bei ca. 200.000 in der Mehrheit von der Armee und Paramilitärs massakrierten indigenen Zivilisten, hunderten zum Teil mit Napalm niedergebrannten Dörfern, zahllosen Fällen von Folter und »Verschwindenlassen«, ca. 1 Million Kriegsflüchtlingen und schweren ökologischen Folgeschäden. Von den Toten hat die Armee über 90 % zu verantworten. Die Regierung Reagan war mit materieller und personeller Militärhilfe engagiert und hat dafür 1983 ein wegen Menschenrechtsverletzungen verhängtes Embargo aufgehoben. Reagan war über Rios Montts christliche Attitüde erfreut. Die implementierte Gewalt war allerdings derart drastisch, dass Bill Clinton sich genötigt sah, sich 1999 beim guatemaltekischen Volk offiziell zu entschuldigen. Rios Montt wurde 2013 zu 80 Jahren Gefängnis verurteilt wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermord. Was hat das mit religiöser Verflechtung zu tun?
5 Militärisch-spiritueller Krieg
US-Politik und Religion: Eine allgemein gehaltene Antwort auf die Frage kann man von einer Kommission von Theologen aus Guatemala, Nicaragua, El Salvador, Südafrika, Namibia, Südkorea und den Philippinen in ihrem Dokument »Der Weg nach Damaskus. Kairos und Bekehrung« (Catholic Institute for International Relations 1989) erhalten. Zur Erhaltung der Idolatrie des Geldes in nordatlantischem Interesse werde in der Dritten Welt die Strategie des Low Intensity Conflict angewandt – eine starke Form der Verflechtung, sozusagen. Diese Strategie richtet sich gegen das neue Phänomen des Guerillakrieges und verbindet militärische Gewalt mit sozialen Projekten sowie ideologischer, auch religiöser, Propaganda. Sehr spezifisch empfehlen die Field Manuals FM 31-16 und FM 31-176 (Fort Bragg) der US Army, in militärischen und psychologischen Operationsgebieten die religiösen Verhältnisse zu beachten. 1976 stellt der Untersuchungsausschuss des Senats zu geheimdienstlichen Tätigkeiten unter Senator Frank Church eine direkte operationelle Verwendung von 21 US-amerikanischen religiösen Individuen fest – Ausländer nicht gerechnet (United States Senate 1976). Die Journalistin Sara Diamond (1989, 207) zitiert die evangelikale Zeitschrift Christianity Today (CT), dass in den 1970er Jahren Mitarbeiter des Predigers Luis Palau regelmäßig von der CIA einem debriefing unterzogen wurden. Nach CT sollen zwischen 10 % und 25 % der US-Missionare Informationen an die CIA weitergegeben haben. Seit den 1960ern kommt im Blick auf Lateinamerika auch in öffentlichen Studien in höherem Maße die Religion in den Blick der Politik. Ein Forschungsprojekt der Universität Notre Dame in Kooperation mit der Rockefeller Foundation examiniert unter dem Eindruck der Allianz für den Fortschritt die katholische Kirche in Lateinamerika.4 Bald darauf tritt der Gouverneur von New York, Nelson Rockefeller, auf Bitte von Präsident Nixon eine Informationsreise nach Lateinamerika an. In seinem Bericht von 1969 werden die jungen Militärs und die katholische Kirche als Kräfte möglichen revolutionären Wandels portraitiert. Die Kirche sei »eher antwortbereit auf den Willen des Volkes«, »verwundbar gegenüber subversiver Penetration« – mit Blick auf die legendäre Bischofskonferenz von Medellín 1968 – »einsatzbereit (…) wenn nötig für revolutionären Wandel« (United States 1969). Die für die Reagan-Regierung von einer Planungsgruppe ab 1980 angefertigten Santa Fe-Papers stellen die Lage noch dramatischer dar und raten dazu, die 4
D’Antonio und Pike 1964, mit nur einem Beitrag zum Protestantismus von Emilio Willems.
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Theologie der Befreiung proaktiv anzugreifen und nicht nur im Nachhinein zu reagieren. Folglich gilt es, die christliche Basisbewegung zu analysieren und zu bekämpfen;5 und es gilt, Religion zur psychologischen Kriegsführung zu nutzen. Krieg: El Verbo und FUNDAPI: Die Lage in Zentralamerika um 1980 ist für die Strategen in Washington und die örtlichen Oligarchien in der Tat besorgniserregend. Die dortigen Oligarchien haben mit Hilfe der US-Botschaften fast das gesamte 20. Jahrhundert die Bevölkerung ausgebeutet und unter der Knute von politischer Gewalt, Folter, Entführungen, Morden und Massakern gehalten. Die Dynastie der Somozas in Nicaragua hat sich dabei besonders hervorgetan. Um nur ein Beispiel des Grauens zu nennen, das mir eine mir gut bekannte und glaubwürdige Augenzeugin, eine Anwohnerin des Ortes Masaya, berichtet hat: Nach der Befreiung des Landes öffneten die Sandinisten die Kerker der Festung Coyotepe und fanden Menschen vor, die zum Teil über Jahrzehnte ohne Licht in ihrem eigenen Kot hatten liegen müssen, bleich, entkräftet, entstellt. Viele der Insassen sind nach der Freilassung an Licht und Luft gestorben. Die Geister dieser und anderer Grausamkeiten beginnen in den späten 1970ern, die Oligarchien El Salvadors, Hondurasʼ und Guatemalas zu verfolgen, und der Geist des Kommunismus, repräsentiert durch die Guerillatruppen, versetzt die US-amerikanischen Militärs in Aufregung. In Guatemala6 hat die Unterdrückung unter General Romeo Lucas García gegen Ende der 1970er Jahre mit Massakern und wahllosen Morden auch in der Hauptstadt überhandgenommen, und seit dem Sieg der Sandinisten in Nicaragua 1979 haben die Guerillabewegungen und der Aufstand des Volkes neue Impulse bekommen. Die Panamericana – die wichtigste Verkehrsverbindung – ist nicht mehr befahrbar, die Guerilla rückt auf die Hauptstadt vor, und General Lucas hat keine gangbare Militärstrategie. Aber General Rios Montt, ein moderner Militär mit Ausbildung in Fort Gulick und der School of the Americas, hat Ideen. Außerdem ist er Mitglied in der neopentekostalen Gruppe El Verbo/Gospel Outreach, die seit Mitte der 1970er in Guatemala
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Das schlugen auch Dokumente der XVII. Konferenz der Amerikanischen Armeen, 1987, vor. Vgl. Duchrow, Eisenbürger und Hippler 1989. Die Geschichte des Krieges und Rios Montts ist vielfach sehr kompetent beschrieben worden. Deshalb bleibt es hier bei einigen Stichworten. Sehr zu empfehlen ist vor allem Melander 1999; Garrard-Burnett 2010, und andere Arbeiten dieser Historikerin; Stoll 1990; zur militärischen Gewalt aus ethnologischer Sicht vgl. Montejo 2008.
5 Militärisch-spiritueller Krieg
unter der oberen Mittelschicht missioniert hat, wie viele andere Organisationen, die nach dem Erdbeben 1976 ins Land gekommen sind. Ob nun der Putsch, der Rios Montt im März 1982 an die Macht bringt von ihm selbst mit geplant oder ob es eine Einladung in die Militärjunta war, die aufgrund einer Prophetie von Gott selbst veranlasst war, wie El Verbo behauptet – wer weiß es? Jedenfalls hat Rios Montt die Militärstrategie grundlegend umgestellt: möglichst Ruhe in der Hauptstadt und verbrannte Erde auf dem Land, wo die Presse nicht so leichten Zugang hatte. Die selektive Repression gegen die Katecheten und Aktivisten der katholischen Kirche in indigenen Gebieten wird fortgesetzt. Der Bischof der Diözese Quiché muss ins Exil. Und schließlich bezeichnen sich viele ländliche Katholiken als Protestanten, um wenigstens eine relative Sicherheit zu genießen. Vor allem aber operiert die neue militärische Strategie, gemäß der counter insurgency-Doktrin, über eine Kombination von militärischer Grausamkeit mit sozialen Projekten, wodurch konservative protestantische Hilfsorganisationen ins Spiel kommen. Nach der Machtübernahme Rios Montts ergriffen die Führer der Verbo-Kirche die Gelegenheit, um der Regierung des neuen »König David« mit der Substitution von Mitteln für den sozialen Part der counter insurgency zur Hand zu gehen. In der heißesten Konfliktzone, im Ixil-Dreieck im Norden des Landes, beteiligten sie sich an einem umfangreichen Programm mit verschiedensten Dienstleistungen. El Verbo ist Partner der US-amerikanischen Mission Gospel Outreach, die für Fundraising und Infrastrukturelles die Organisation International Lovelift gründet. In Guatemala gründen El Verbo, die medizinische Carol BerhorstStiftung und das Summer Institute of Linguistics gemeinsam die Fundación para Ayuda a los Pueblos Indígenas (FUNDAPI, Hilfsstiftung für indigene Völker). Ein Ex-Marine, Harris Whitbeck, koordinierte die Arbeit mit der Regierung. Die Stiftung unterstützt mit Hilfslieferungen und Organisation ziviler Aktivitäten wie food for work-Programme auf vielfältige Weise die militärische Kampagne zur Aufstandsbekämpfung Plan Victoria 82. Wichtig für die Verflechtung zwischen religiösen Akteuren in Lateinamerika und den USA ist die Tatsache, dass Lovelift nicht nur Spenden gesammelt und Hilfsgüter transportiert hat. Vielmehr verbindet sich damit eine breite öffentliche Kampagne. Zu deren Unterstützung werden wichtige Akteure der religiösen Rechten in den USA mobilisiert, wie etwa der neopentekostale TV-Prediger Pat Robertson, Bill Bright vom Campus Crusade for Christ (Campus für Christus) und Jerry Falwell, das fundamentalistische Urgestein der Moral Majority. Dazu kommen offiziöse Regierungskontakte. Der Verbo-Älteste Francisco Bianchi
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trifft sich im Juni 1982 in den USA mit Regierungsmitgliedern in Sachen Hilfe für Guatemala (Diamond 1989, 165). Zudem hilft die Informationspolitik der Organisation gegenüber Spendern und Besuchern in Guatemala. Die Argumente sind interessanterweise häufig ganz im Sinne imperialistischer Rohstoffstrategien im Kontext des Ost-West-Konfliktes. Die Werber setzen einfach voraus, dass das ein religiös plausibles Argument sei – und liegen damit wahrscheinlich gar nicht falsch, wenn man ihre Adressaten betrachtet. Die Verbo-Vorstände Carlos Ramirez und Bob Means richten sich am 1.9.1982 in einem Rundbrief an Spender und lassen sie Folgendes wissen: [Indem wir Rios Montt helfen, HWS] werden wir die Position der Marxisten schwächen und ihre Fähigkeit reduzieren, aus den reichen Öl-, Titan- und sonstigen Ressourcenvorkommen Guatemalas Nutzen zu ziehen. (Schäfer 1992b, 223) Vor Ort in Guatemala werben die Mitarbeiter bei Besuchern für die counter insurgency-Maßnahmen und schreiben nachweisliche Massaker des Militärs der Guerilla zu. Derartige »alternative Fakten« erzeugen dann »Spezialisten«, die nach Rückkehr in die USA behaupten, dass die Grausamkeiten der Armee in Wahrheit von infiltrierten kubanischen Agenten begangen werden, die überall im Lande verstreut seien (Stoll 1990, 192, 206). Ganz in diesem Sinne bezeichnet sich Lovelift selbst als »effektivsten Beitrag [US-] Amerikas für die Sache der Freiheit in der latinischen Welt«. Maranatha Campus Ministries drückt es so aus: »den Kommunismus in diesem zentralamerikanischen Land ausrotten« (Schäfer 1992b, 229). Es sieht ganz danach aus, dass die Sozialarbeit – ähnlich wie die karitativen Leistungen der frühen Bekehrungsmissionen – nicht voll auf das Soziale gerichtet ist, sondern auf etwas Drittes. Und dieses Dritte ist nun nicht mehr die Bekehrung zu Christus im engeren Sinne, sondern die Bekehrung zu einem politisch positionierten Gott. In einem Interview mit der Journalistin Viola Schmid vom 27.10.1987 fasst Rios Montt das wie folgt. Auf die Frage, ob Verbo so etwas wie medizinische Hilfsprogramme unterhalte, ist die Antwort: Das heißt humanistische Religiosität. Wir haben, umständehalber, Kliniken und dies alles. Aber das ist nicht, was uns berührt oder uns auch nur interessiert. (Schäfer 1992b, 229) Es ist ziemlich deutlich, dass der entscheidende Beitrag El Verbos und des gesamten Verbundes die Kooperation mit der Aufstandsbekämpfung ist. Das trifft auch auf die psychologische Kriegsführung zu. Das Field Manual 31-16
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(Department of the Army Headquarters 1971; vgl. auch Schäfer 1992b, 233) thematisiert traumatische Folgen von Einsätzen gegen verdächtige Kinder und Frauen bei Soldaten der Aufstandsbekämpfung. Rios Montt hat in den späten 1980ern mit dem Project Whole Armor (Komplette Rüstung) 70.000 Bibeln für Militärangehörige aus den USA nach Guatemala gebracht. Ein Werbeblatt der Bible Literature International schildert, wie ein Betreuer einem Soldaten mit der Bibel die Schuldgefühle für das Verbrennen von Kindern und Frauen genommen habe. Ein Prediger der Paralife Ministries, Texas, drückt das vor Soldaten in El Salvador etwas anders aus: Töten nur zum Spaß ist falsch, aber Töten, weil es nötig ist, um ein antichristliches System zu bekämpfen, den Kommunismus, ist nicht nur richtig sondern auch die Pflicht eines jeden Christen. (Diamond 1989, 177) Religiöse Nachfrage und Angebot: Der Konflikt niedriger Intensität hat psychische Folgen hoher Intensität vor allem für Zivilisten und bei Weitem nicht nur für die unmittelbar in counter insurgency-Operationen verwickelten Soldaten. Zivilisten sind unterschiedlich betroffen, und zwar ihrer sozialen Klasse und (damit) ihrem Wohngebiet entsprechend. Die indigenen ländlichen Armen werden somit am direktesten in Mitleidenschaft gezogen, und die städtische Mittel- und Oberschicht am wenigsten. Vor allem aber verarbeiten die Akteure dieser unterschiedlichen gesellschaftlichen Klassen die verschiedenen Zumutungen des Krieges religiös auf eine unterschiedliche Weise. Sie bringen positionsspezifische religiöse Dispositionen mit: indigene Religion und Volkskatholizismus versus orthodoxer Katholizismus oder Evangelikalismus. Sie werden unterschiedlichen neuen Angeboten aus der religiösen Produktion ausgesetzt: klassische Pfingstbewegung und Evangelikalismus versus Neopfingstbewegung. Und schließlich haben sie unterschiedliche Chancen, zu überleben und zu handeln. Aus diesen Faktoren entsteht eine spezifische religiöse Nachfrage an Experten (beispielsweise nationale religiöse Anführer oder Missionare aus dem Ausland), die daraus ein aktuelles, für die jeweilige Lage und die gesellschaftliche Position spezifischer Akteure passendes religiöses Angebot schneidern müssen, das zur Mobilisierung von möglichst vielen Personen in den entsprechenden religiösen Organisationen taugt.7 Dar-
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Wer jetzt meint, dieses Konzept von religiöser Praxis sei neomarxistisch, krude materialistisch etc., der sei darauf verwiesen, dass Donald McGavrans und C. Peter Wagners Church Growth-Bewegung nach genau diesen Strategien klassenspezifisch (!) missioniert haben. Dies allerdings mehr aus einem marktwirtschaftlichen Instinkt heraus,
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aus ergibt sich, auf eine Gesellschaft bezogen, ein komplexes Bild religiöser Akteure (vgl. Schäfer 2015, 204, 215). Wir werden uns hier auf die einfachste aller einfachen Differenzierungen beschränken müssen, die zwischen Oben und Unten – die sich im Übrigen für die Betrachtung einer durch zwei Kriegsparteien in einem Klassenkonflikt polarisierten Gesellschaft recht gut eignet. Diese einfachste aller möglichen Differenzierungen zeigt sich übrigens auch homolog in der politischen Wahrnehmung des gesellschaftlichen Konflikts durch rechtsgerichtete religiöse Akteure. Linke und Rechte: Aus soziologischer Sicht besteht der Unterschied zwischen den polarisierten US-amerikanischen Missionsakteuren darin, dass sich die ökumenischen Organisationen mit den Interessen der unteren gesellschaftlichen Klassen identifizieren, das heißt mit denen, die unter den Produktions- und Machtverhältnissen leiden; die religiösen Rechten handeln hingegen im Interesse derer, die die bestehenden Machtverhältnisse in modernisierter Form weiterführen wollen. Pat Robertson verwandelt diese Lage in eine politische Kartierung der Landschaft und eine geschickte Selbstpositionierung der religiösen Rechten in der »Mitte«. Er sieht sich und seinesgleichen zwischen der »Unterdrückung durch korrupte Oligarchien« und der »Tyrannei von Russland-gesteuertem kommunistischem Totalitarismus« (Stoll 1990, 182). Im soziologischen Klartext heißt das: auf der Position des aufsteigenden, technokratischen und neoliberalen Flügels der Oberschicht und oberen Mittelschicht. Die Ökumeniker stehen somit für ihn auf der »marxistischen« Seite. In der Tat sind beide Gruppen USamerikanischer Akteure im Konflikt antagonistisch positioniert und damit auf unterschiedliche Weise mit Macht assoziiert: die Rechten positiv mit den Machthabern, die Ökumeniker positiv mit den Machtlosen.8 Das beeinflusst die objektiven Handlungsbedingungen in den Verflechtungsbeziehungen. Die Rechten haben wesentlich mehr Bewegungsfreiheit und physische Sicherheit; die Ökumeniker sind von Verfolgung bedroht, was etwa die Folter
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wie religiöse Praxis unter den Bedingungen von Religionsfreiheit (also unter Marktbedingungen) funktioniert. Wer sich für eine wissenschaftliche Begründung interessiert, sei verwiesen auf Klassiker: Weber 1972, Kap. »Stände, Klassen, Religion«; Durkheim 1981; und sei verwiesen auf Bourdieu 2000. Schließlich auch Schäfer et al. 2015a; 2015b oder auch Schäfer 2020. Dies ist auch in Nicaragua der Fall. Zwar sind im Land unter der Regierung der Sandinisten die Machtverhältnisse invertiert. Die Ökumeniker sind mit der Macht assoziiert. Aber im Außenverhältnis liegt die Macht bei den USA, was sich deutlich im Embargo und im Contra-Krieg und deren Konsequenzen im Land zeigt.
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und Exilierung von Kirchenmitgliedern und die Ausreise von Missionaren aus Guatemala zeigt. Die objektive Positionierung schlägt sich auch in den Dispositionen der Akteure nieder. Die religiösen Rechten zeigen einen kratozentrischen, an Macht orientierten religiösen Habitus und identifizieren sich im politischen Feld mit den vielversprechenden Positionen der technokratischen Oberschicht. Ihr Diskurs kreist um die Macht Gottes und die Austreibung von »Dämonen«. Die Ökumeniker entwerfen ihre Strategien ausgehend von der Identifikation mit einem machtlosen Jesus »compañero« als solidarische Aktion im Interesse der gänzlichen Neuordnung der Machtverhältnisse, etwa durch Reformen oder Revolution. Mobilisierung von Oben: Man kann auch von gut situierten Leuten getrost annehmen, dass die Religiösen unter ihnen religiös sind, weil die religiöse Praxis ihnen persönlich etwas gibt und bedeutet, und nicht, weil sie die Gesellschaft mit Priesterbetrug überziehen wollen oder nach der Rolle eines Rasputin gieren. Damit religiöse Akteure politisch werden und dann möglicherweise Gefallen an der Rolle des Einflüsterers, des Politikers oder gar des Diktators finden, müssen soziale Bedingungen erfüllt sein, die das möglich bzw. wahrscheinlich machen. Vieles hängt von der Wahrnehmung der eigenen Position in der gesellschaftlichen Lage ab; in unserem Falle von der Wahrnehmung des Krieges. Bei religiösen Experten ist die Wendung zur Politik natürlich einfacher und wahrscheinlicher als bei Laien. In Bezug auf El Verbo haben wir die Dynamik bei Experten schon kurz beleuchtet. Welches ist die Lage der Laien der bürgerlichen Mittel- und Oberschicht? Auch diese Menschen sind nicht immun gegen die militärische, politische und wirtschaftliche Lage. Der Sozialpsychologe Ignacio Martín Baró – einer der 1989 vom Militär in El Salvador an der Universidad Centroamericana massakrierten Jesuiten – hat für diese sozialen Klassen schwerwiegende psychische Kriegsfolgen wie etwa anhaltende Bulimie, Alkoholismus und andere Kontrollverluste diagnostiziert (Martín-Baró 1984). Die Analyse meiner Interviews mit Neopfingstlern der oberen Mittelschicht und Oberschicht Guatemalas zeigen ein ganzes Feld von Äußerungen, die vergebliche Sinnsuche und suchtartiges Konsumverhalten anzeigen, die Martín-Barós Analysen bestätigen: allgemeine Vergnügungssucht, starker Konsum von Drogen, Genussmitteln und anderen Konsumgütern, Bulimie, Alkoholmissbrauch, häufiger Besuch von Diskotheken und Parties sowie häufiger Wechsel des Sexualpartners. Martín-Baró spricht von »Vergnügungsbulimie« der mittelamerikanischen Oberschicht angesichts einer Hegemoniekrise (Martín-Baró 1984, 509). Diese Vergnügungsbulimie sei Ausdruck einer Negation der Wirklich-
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keit und eines Realitätsverlustes. Die inkorporierten gehobenen Konsumgüter seien Symbole von gefährdeten oder erstrebten gesellschaftlichen Positionen. Die Strategie sei allerdings kontraproduktiv, da sie die Reaktionsfähigkeit auf die Krise stark herabsetzt. Das bulimische und zugleich kompensatorische Inkorporieren von schädlichen Konsumgütern bedeute eine Somatisierung der Krise und damit eine Unterwerfung darunter. Im Gegenzug setzten die Neopentekostalen mit der Logik der spiritual warfare, den Exorzismen an den Gläubigen und der Verteufelung ihrer gesellschaftlichen Gegner auf die Exteriorisierung der Probleme: Teufel und Dämonen. Das schon interiorisierte Böse, die schädlichen Substanzen und Handlungen, werden mit Dämonen identifiziert und können so durch Exorzismus symbolisch exteriorisiert werden. Inkorporiert werden in den Gottesdiensten hingegen die Macht Gottes und eine freudige Stimmung, wodurch affektive Probleme behandelt werden. Ein Interviewpartner: Ich habe nun eine Freude und einen inneren Frieden erlangt, die ich nicht hatte. Immer lebt man mit Angst. Vor allem in so einem Land wie dem unsrigen, mit so vielen Problemen, lebte man immer in Angst. Und diese Angst in mir ist nun verschwunden. (Interview 88, 1986) Im Übrigen ist die gesellschaftliche Position der oberen Mittelschicht auch objektiv prekär. Die Lage ist polarisiert zwischen der reaktionären alten Oligarchie und der militärisch aktiven Linken. Die ehemals aufsteigende und dann ausgebremste obere Mittelschicht hat unter Lucas García keine im Krieg wirksame politische Repräsentation. Mit Rios Montt kommt eine solche Alternative ins Spiel, denn dieser war 1974 Präsidentschaftskandidat der Christdemokraten. Zudem bietet Rios Montt zugleich eine religiöse Alternative. Das ist nicht unwichtig, denn für die aufsteigende Mittelschicht besteht ein Problem der religiösen Zugehörigkeit und damit der Möglichkeit einer religiösen Verarbeitung der psychischen Probleme. Die katholischen Bischöfe nehmen spätestens seit Erzbischof Penados del Barrio (1983 bis 2001) eine Position pro Menschenrechte ein, die Orden sind schon lange auf Seiten der aufständischen Landbevölkerung, die indigenen Katecheten sind ohnehin keine Ansprechpartner und die charismatische Bewegung hat ihren Schwerpunkt noch auf dem Land. In der Zeit des heißesten Konfliktes in der ersten Hälfte der 1980er Jahre etablieren sich immer mehr Alternativen in Guatemala, und zwar neopentekostale Gruppierungen ähnlich El Verbo aus den USA sowie in zunehmendem Maße nationale. Zu nennen sind Fraternidad Christiana (1979, national), die Full Gospel Business Men’s Fellowship
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International (FGBMFI [FIHNEC] 1979), El Shaddai (1983, national), sowie Elim Zona 10 (national), Hombres Cristianos (national) und Shekina ebenfalls in jener Zeit. Klassenspezifisch ist die Positionierung klar. Ein Mitglied der Hombres Cristianos versicherte dem Verfasser, dass diese Gruppe »etwas Besonderes« habe, »das den abergläubischen normalen Pfingstkirchen abgeht«. Das ist zunächst die soziale Exklusivität der in Luxushotels und »besseren« Vierteln stattfindenden Versammlungen. Es ist auch eine Veränderung des üblichen und in Guatemala bereits gut etablierten (ca. 20 % protestantische Bevölkerung) pfingstlichen und evangelikalen Diskurses. Galt bis zu dem Zeitpunkt unverbrüchlich der Prämillenarismus und warteten die Protestanten in der Regel auf ihre Entrückung in den Himmel, so rückt jetzt die Macht des Heiligen Geistes in das Zentrum des Diskurses und die Zeitperspektive öffnet sich in Richtung auf gesellschaftliche Veränderung. Das entspricht einer Nachfrage nach Sinn seitens einer sozialen Klasse, die zwar unter Kontrollverlust leidet, aber noch über politische und wirtschaftliche Handlungsressourcen verfügt. Dieser Impuls wurde durch die Diktatur Rios Montts für die kurze Zeit seiner Regierung deutlich verstärkt, und es gelingt, die neopentekostale Option auch stärker in der Oberschicht zu verankern. Angehörige von Familien der Oligarchie wie der Verbo-Älteste bauen an entsprechenden Allianzen (vgl. Casaús Arzú 2007, 169f., 257). Gleichwohl ist der Widerstand gegen diesen Ansatz im Gros des guatemaltekischen Protestantismus beträchtlich. Dies ist nicht nur der Fall unter der marginalisierten Bevölkerung, für die ein solcher Diskurs keinen Sinn macht, sondern auch unter den Leitungen der wichtigen pfingstlichen und evangelikalen Massenkirchen wie den Asambleas de Dios, der Iglesia Centroamericana oder Príncipe de Paz. Diese Kirchen sind auf Prämillenarismus eingeschworen, haben ihn in ihren Glaubensbekenntnissen verpflichtend gemacht und sind somit für den Kampf um ein theokratisches Guatemala schwer bzw. gar nicht zu mobilisieren. Vom prämillenaristischen Erbe sind selbst nationale neopfingstliche Gruppen betroffen, deren Leiter sich aus evangelikalen und pfingstlichen Kirchen rekrutieren und die mit dem Prämillenarismus großgeworden sind. Eine Habitusanalyse der Neopfingstler von 1985 zeigt deutlich, dass in der Bewegung selbst widersprüchliche Positionen in Sachen Millenarismus existieren. Die Mobilisierung der Bevölkerung für einen theokratischen Staat unter Rios Montt oder – nach Rios Montt – für einen Kampf um eine radikale Umgestaltung der Gesellschaft nach USamerikanischem Muster ist schlecht zu leisten, wenn diese auf die Entrückung der Gläubigen innerhalb der nächsten Wochen wartet.
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»Doch wo Gefahr ist, wächst das Rettende auch.« (Hölderlin) John Carrette hat als Green Beret im Vietnamkrieg gedient, geht nachher nach Guatemala und betreibt seit den frühen 1970er Jahren – wie auch immer finanziert – ein Hotel im Touristenort Antigua sowie das Hotel Panamericano in der Hauptstadt.9 Carrette erzählt, er sei im Vietnamkrieg zum Glauben gekommen durch eine Vision im Herzen, die ihm sagte, dass Jesus der Herr ist. In Guatemala ist er nach Ausbruch der heißen Phase des Krieges und besonders nach der Machtübernahme Rios Montts einer der zentralen Aktivisten, um das Millenarismus-Problem zu lösen. Als engagiertes Mitglied der FGBMFI und der Shekinah-Organisation verbringt Carrette einen großen Teil seiner Zeit mit politisch relevanten religiösen Aktivitäten: Er organisiert Missionsfeldzüge der Shekinah gegen den Kommunismus in EI Salvador, gründet die Gruppe der »Fürbeter für Guatemala« (Intercesores de Guatemala, mit Teilnehmern aus gehobenen Klassen), organisierte Veranstaltungen für die Nation der FGBMFI, publiziert religiös-politische Traktate, spricht im Radio und finanziert zu Teilen 1979 die Gründung einer neuen, protestantischen Organisation indigener Pastoren, die Asociación Indigenista de Evangelización (ASIDE). In ASIDE propagiert er, dass protestantische Indígenas keine eigenen Kandidaten für politische Ämter nominieren oder unterstützen dürften. Es kommt für die counter insurgency ja nicht zuletzt darauf an, die Subalternen von politischen Beteiligungsmöglichkeiten auszugrenzen – solange man nicht sicher ausschließen kann, dass sie sich in eigenem Interesse organisieren, und das ist bei den guatemaltekischen Maya schlecht zu garantieren. Die urbane obere Mittelschicht und Oberschicht muss hingegen mobilisiert und mit religiöser Klassenkampfideologie indoktriniert werden. Eineinhalb Monate vor dem Putsch Rios Montts im März 1980 trommelt Carrette in diesem Sinne eine Gruppe von Pastoren für ein Gebet um die nationale Rettung zusammen. Das Besondere dieses Gebets ist: Sie haben im Namen Jesu den Teufel gebunden und haben ihm befohlen, die Nation zu verlassen. Und als sie dieses Hindernis für den Segen Gottes beseitigt hatten, haben sie Jesus gebeten: Jetzt heile unsere Nation! (Interview mit Carrette, Jan van Bilsen und Dirk van der Sypen, 1986)
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Vgl. Stoll 1990, 215ff.; Melander 1999, 175f.; Interview mit Carrette, Jan van Bilsen und Dirk van der Sypen, Belgisches Fernsehen, 1986 Hotel Panamericano; Recherchen des Verfassers u.a. zusammen mit einem Profiler.
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Der Erfolg kam auf dem Fuße dadurch, dass Gott Rios Montt durch eine göttliche Intervention in die nationalen Angelegenheiten eingesetzt habe. Warum ist es nötig, den Teufel zu binden? Weil er – so Carrette im selben Interview – Guatemala beherrscht. Gott hat ihm in einer Vision klargemacht, warum Zentralamerika zwar »spiritually alive« ist, aber dennoch im Krieg. Die Vision klingt so, als habe Gott entweder ins Handbuch der Puritanerkolonie geschaut oder aber das Handbuch selbst diktiert. Die Maladie Zentralamerikas liege also daran, dass während der indigenen Vergangenheit der Teufel alles dominiert habe und dass später die katholische Kirchen nicht wirklich etwas dagegen tun konnte. Erst als schließlich das Evangelium – das neopentekostale? – nach Zentralamerika kommt, »das Licht ausstrahlt« und die Region mehr und mehr »unter die Herrschaft Jesu« komme, wolle der Teufel seinen tausendjährigen Besitz nicht einfach aufgeben und beginne »zu rauben, zu töten und zu zerstören« – was man besonders gut an der Christenverfolgung in Nicaragua erkennen könne. Carrette macht sich sehr verdient um die Oktroyierung des spiritual warfare-Motivs im guatemaltekischen Protestantismus. Er bleibt dabei, Politik mit Religion zu infizieren. Als 1985 der »Prophet« der Elim-Kirche Jorge Serrano Elias als Präsidentschaftskandidat antritt, gehört Carrette zu den engagierten Verfechtern einer Präsidentschaft dieses Kandidaten Gottes. Nachdem dieser Kandidat Gottes 1991 ins Präsidentenamt einzieht, muss er schon 1993 wegen schweren Korruptionsvorwürfen und einem Putsch gegen die eigene Regierung in die USA fliehen. Mir ist keine Äußerung Carrettes dazu bekannt. Vermutlich hätte er eine Finte des Teufels parat. Ein Profiler, der solche Fälle aus der Nähe kennt, geht jedenfalls davon aus, dass er von professionell anonymen Auftraggebern nach Guatemala entsandt wurde, um immer die »richtigen« religiösen Antworten für politische Fragen parat zu haben. Die spiritual warfare-Doktrin in Kombination mit der theokratischen dominion-Ideologie jedenfalls hat in Zentralamerika über die Zeit des Krieges hinaus noch Bedeutung behalten. Ein prominentes Beispiel dafür ist der ehemalige Außenminister Guatemalas, Harold Caballeros (1999). Dieser führte mit seiner El Shaddai-Kirche 1990 parallel zur Wahlkampagne Serranos einen nationalen Kreuzzug geistlicher Kriegsführung durch, um für Serrano zu werben. Caballeros vertritt die reine Lehre des Spiritual Warfare nach C. P. Wagner, trägt mit seinen Kampagnen des »spiritual mapping« stark zur Diskriminierung der indigenen Bevölkerung bei und strebt für Guatemala eine angloprotestantische Kultur mit neoliberaler Wirtschaft an. Im Übrigen trägt Caballeros dazu bei, die autoritären Wahrheitsansprüche des charismatischen
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Protestantismus auf die Spitze zu treiben. Dies durch die Gründung eines Rates von »Aposteln« (Consejo Apostólico de Guatemala, 2000), dem derzeit in etwa 20 selbsternannte »Apostel« angehören, deren Apostolat jeweils darin besteht, individuellen Zugang zu direkten göttlichen Offenbarungen zu haben. Ein Kollektiv individualistischer Rechthaber. Im Blick auf die Verflechtungslogik ändern sich beginnend mit den 1980er Jahren bis heute die Macht- und Interessenverhältnisse. Die Organisationen der Formation Management – heute zum Teil millionenschwere Mega-Kirchen – sind in jeder Hinsicht unabhängige und selbstständige Akteure, zum Teil mit Missionen in den USA oder auf anderen Kontinenten. Diese Akteure üben selbst Einfluss in den USA aus; aber sie haben Interesse an neueren Entwicklungen und besser entwickelten Kompetenzen in den USA. Deshalb ergreifen sie selbst die Initiative, Spezialisten aus den USA einzuladen wie etwa motivational speakers von Rang, um ihre Organisationen etwa für Geschäftsleute interessant zu machen. Mobilisierung von Unten: Die geschilderte Mobilisierung von Oben hat indes die Protestanten in den unteren gesellschaftlichen Schichten erheblich unter Druck gebracht. Die Reaktionen sind unterschiedlich. Die eine folgt der Linie, die wir mit der Formation Jenseitshoffnung in bezeichnen, die andere den Werten des Reiches Gottes. Erstere sind meist Evangelikale oder Gemeinden klassischer Pfingstkirchen wie der Asambleas de Dios auf dem Land oder in Vierteln der Unterschicht. Insbesondere die Gemeinden auf dem Land erfahren die volle Wucht der Militäraktionen, der Vertreibungen und Massaker. Viele mögen zwar Sympathie für die Gerechtigkeitsprogrammatik der Theologie der Befreiung oder der indigenen historischen Protestanten haben, aber ihre objektive Lage der extremen Not und der Repression wirft sie auf die Erwartung eines jenseitigen Reiches Gottes zurück. Der US-amerikanische Ethnologe und Kenner des Ixil-Dreiecks Benjamin Colby hat es in einem Gespräch 1986 wie folgt ausgedrückt. Wenn Indígenas in einer entlegenen Siedlung die Morgen- und die Abendzeremonie mit dem »heiligen Feuer« zu feiern gewohnt sind, und eines Tages kommen des Morgens über die Bergkette mehrere Bell-Helikopter und werfen Napalm, und Soldaten kommen, um die Hütten abzubrennen, dann kann die Zeremonie darauf nichts Sinnvolles mehr sagen. Dann werden stattdessen die Schilderungen apokalyptischer Bedrohungen durch die Pfingstprediger plausibel. Ein indigener Bauer aus einem Wohnort nahe einer Kaserne berichtete uns 1985, wie sein Schwager des Nachts vom Militär aus dem Hause geholt
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wurde und am anderen Morgen mit durchgeschnittener Kehle aufgefunden wurde. Im weiteren Verlauf des Interviews kamen wir auf religiöse Fragen: [Mir gefällt] vor allem, was derzeit gepredigt wird: dass Christus kommt, und dass man sich vorbereiten kann. Das ist die ganze Sicherheit, die einer hat: sich vorbereiten, um in der Begegnung mit dem Herrn dabei sein zu können. Man darf keine Dinge tun, die vor Gott nicht angenehm sind, denn – ich sage es noch einmal – man weiß nicht, ob einen der Tod überrascht oder ob einen die Entrückung wegholt. Wir können nicht darüber entscheiden, was morgen oder übermorgen geschieht, denn wir kennen die Zukunft nicht. Von jetzt an in zwei Stunden kann der Tod kommen oder die Entrückung. Was mich sehr interessiert, ist die Wiederkunft Christi, damit man sich vorbereiten kann und weil man so eine Hoffnung hat, nicht wahr. (Interview 9, 1985) Diese Praxis entzieht sich der militärischen Gewalt durch Rückzug aus allen sozialen, politischen und vor allem militärischen Aktivitäten. Dafür werden die entsprechenden Gemeinden und Individuen vom Militär tendenziell (aber auf keinen Fall garantiert) in Ruhe gelassen. Somit funktioniert die prämillenaristische Erwartung als eine List der Vernunft. Wer sich mit Frömmigkeitsübungen im Rahmen seiner Gemeinde auf die Entrückung vorbereitet und sich aus der weiteren Gesellschaft heraushält, kann in der Gemeinde solidarische Beziehungen aufbauen, die die schlimmste Not lindern helfen und damit überleben, ohne die Selbstachtung zu verlieren. Allerdings ist diese Praxis auch ambivalent. Zum Einen können die entsprechenden Gemeinden durch ihre Prediger politisch indoktriniert werden, in der Regel gegen den »Kommunismus« und pro Gehorsam gegen die staatlichen Autoritäten. Zum Anderen können sie – die Einschränkung durch soziale Kontrolle berücksichtigend – zum taktischen Rückzug bzw. zur Tarnung von Aktivisten des Volkaufstandes genutzt werden. In der folgenden Lagebeurteilung eines solchen Aktivisten, Mitglied der Asambleas de Dios, im Interview 1986 werden Kollaboration und Manipulation als auch Tarnung deutlich. Er schildert unter Anderem, dass schon unter Lucas García evangélicos mit dem Militär kollaboriert und selbst Häuser angezündet und Frauen und Kinder vergewaltigt hätten. Die Pastoren hätten die Augen davor verschlossen, weil die Mörder ja mit »den Autoritäten« zusammenarbeiteten. Er fährt fort: Die Evangelischen haben sich schlecht benommen. Wenn sie nicht an Kampfhandlungen an der Seite des Militärs teilgenommen haben, dann
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haben sie doch mit denen durch die Theologie kooperiert. Das heißt, wenn das Wort »Kommunismus« auch nur zu Ohren kommt, stehen ihnen schon die Haare zu Berge, sie werden beunruhigt und bekommen große Angst. (…) [Dieser Pastor und die Diakone] predigten und sagten: »Brüder, (…) die Subversion, das ist die Bestie [der Apokalypse, HWS], die nicht will, dass wir an Gott glauben. Danken wir lieber Gott, dass wir in einem demokratischen Land leben, wo das Wort Gottes gepredigt werden kann. (Interview 128, 1986) Der Diskurs spricht für sich selbst. Durch ein Element ist er über die Kriegssituation hinaus erweiterbar. Demokratie wird gleichgesetzt mit der Möglichkeit, das »Evangelium zu predigen«, also mit Religionsfreiheit. Diese Figur findet sich in ganz Lateinamerika immer wieder und lässt sich zuspitzen auf das Argument: Solange wir im Interesse der Vergrößerung unserer Organisation aktiv sein können, ist uns alles Andere gleichgültig. Das sieht völlig anders aus in der Formation Werte des Reiches Gottes, wo es in den Zeiten des Krieges um soziale Gerechtigkeit, Schluss mit der Rassendiskriminierung und baldigen Frieden geht. Im guatemaltekischen Protestantismus geht der Widerstand gegen die Unterdrückung des Militärs und – bis zu einem gewissen Grad – die Kooperation im Aufstand zurück auf die Arbeit der historischen Kirchen mit indigener Bevölkerung. Als Folge des Erdbebens wird auf indigen-presbyterianische Initiative die NRO Consejo Cristiano de Agencias de Desarrollo (CONCAD) gegründet. Diese baut anlässlich der Katastrophenhilfe Beziehungen zu ökumenisch orientierten Hilfsorganisationen in den USA auf, schwerpunktmäßig dem Church World Service des National Council of Churches, Lutheran World Relief, Mennonite Central Committee und Presbyterian Church USA. Mit der heißen Phase des Krieges geraten viele der guatemaltekischen Aktivisten ins Visier des Militärs und müssen untertauchen oder ins Exil gehen. In dieser Lage entwickeln sich Beziehungen solidarischer Unterstützung zwischen den US-amerikanischen und guatemaltekischen Partnern. 1987 wird CONCAD in die Conferencia de Iglesias Evangélicas de Guatemala (CIEDEG) überführt, die die Widerstandstradition fortsetzt und neben Sozialarbeit theologische Bildungsarbeit durchführt, die der Bewusstseinsbildung der Theologie der Befreiung sehr ähnlich ist. Die Organisation vernetzt sich nun auch transnational mit dem ökumenischen Lateinamerikanischen Kirchenrat (CLAI) und dem Weltrat der Kirchen (WCC) in Genf. Ähnlich vernetzt ist auch die 1985 gegründete Bildungsund Hilfsorganisation CEDEPCA (Centro Evangélico para Estudios Pastora-
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les en Centroamérica). Die genannten Verflechtungen haben die Aktivisten dieser Formation gegen gewaltsame Übergriffe aus dem Militär einigermaßen gut schützen können. CIEDEG bleibt nach dem Krieg weiterhin aktiv, nicht zuletzt in der Unterstützung des Friedensprozesses bis 1996 sowie des Referendums für ein multiethnisches Guatemala 1999. Akteure der Formation Management waren nicht am Friedensprozess beteiligt, aus der Formation Gesetz die Alianza Evangélica de Guatemala nur am Rande. Gegen ein multiethnisches Guatemala haben diese Formationen sogar mobil gemacht. Mobil gemacht hat auch Bruder Efraín, nachdem er nicht mehr Diktator war. Rios Montt reist 1984 zu einer Tour durch evangelikale Talkshows in die USA, unterstützt von Luis Palau und Christianity Today. In Veranstaltungen der FGBMFI, der Religious Broadcasters, und der National Association of Evangelicals stellt er sich als Opfer religiöser Verfolgung dar. Sei nicht überall dort Kommunismus, wo man nicht nach Gusto die Politik mit religiösen Meinungen durchsetzen darf? Rios Montt kommt zu einer Zeit in die USA, in der sich auch mancher Andere dort die Ehre gibt.
5.3
USA: ideologisches Schlachtfeld
Mit dem Konflikt in Zentralamerika ist Konservativen und Imperialisten in den USA der Ost-West-Konflikt gefühlt sehr nah auf den Leib gerückt.10 Die in Südostasien bereits bewährte Zusammenarbeit zwischen Missionsgesellschaften wie World Medical Relief und staatlichen Stellen verspricht auch für Zentralamerika einige Vorteile. Guatemala: In Guatemala haben wir bereits die Koordination zwischen der guatemaltekischen Regierung, El Verbo und Lovelift gesehen. Koalitionen, Kollusionen, Synergien und so weiter gibt es zwischen der International Christian Embassy Jerusalem (Jorge López, Fraternidad Cristiana), dem Gospel Crusade von Gerald Derstine (seinerseits kooperierend mit Col. Oliver North) und den Friends of the Americas (mit Jorge Serrano im guatemaltekischen Vorstand), die ihrerseits eng mit dem US-Botschafter Alberto Piedra zusammenarbeiten. Die Stärke von unübersichtlichen Vernetzungen besteht
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In diesem Kapitel greife ich vor allem zurück auf Blanke 2003; Diamond 1989; Melander 1999; Stoll 1990; Garrard-Burnett 2010; Ezcurra 1982; Fuerstenberg 1984; und eigene Recherchen in den 1980er Jahren.
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in ihrer Unübersichtlichkeit, durch die sie getrennt marschieren können und vereint schlagen. In diesem Fall gegen Nicaragua. Nicaragua: Nach dem Sieg der Sandinisten gegen die Diktatur Somozas in Nicaragua 1979 und vergeblichen Versuchen, die USA für die Kooperation mit einem sozialdemokratischen Weg zu gewinnen, musste die dortige gemischt bürgerlich-sozialistische Übergangsregierung ab Januar 1981 mit der ungünstigen Tatsache zurechtkommen, dass Ronald Reagan Präsident der USA geworden war. Damit war klar, was für die Vertreter der religiösen Rechten schon vorher klar war: Nicaragua wird von nun an als marxistisch-leninistisches U-Boot in der Region eingestuft und auch so behandelt. Dazu gehörte nicht nur ein Wirtschaftsembargo – bis heute ein beliebtes Mittel, um unbotmäßige Gesellschaften und Regierungen in die Knie zu zwingen –, sondern auch die Organisation einer schlagkräftigen und vielköpfigen Terrortruppe, der so genannten »Contra«. Im Aufstand gegen Somoza hatten sich auch sehr viele Protestanten – darunter auch Pfingstler – beteiligt; zum Teil bewaffnet, häufiger aber mit Aktionen des zivilen Ungehorsams und der Subversion. Ein Pfingstpastor berichtete mir in einem Interview 2013, dass die Jugendgruppe seiner Kirche Kampfsport-Ausbildung organisiert hatte. Einige standen Schmiere, während die Gruppe in der Kirche trainierte. Sobald Somozas Nationalgardisten auftauchten, begannen die Jugendlichen zu singen und zu beten. Nachts bauten sie Barrikaden. Nach dem Sieg der Sandinisten fanden sich 500 Pastoren zu einer Solidaritätsveranstaltung mit der Revolution zusammen. Umgekehrt nahmen die Sandinisten eine offene Position zur Zusammenarbeit mit religiösen Organisationen ein. Der Kommandant und Innenminister Tomás Borge hat eine Zeit lang – wie David Stoll berichtet – sogar Versammlungen der FGBMFI in Managua besucht und um die Sendung von 800.000 Neuen Testamenten gebeten; dies allerdings nur solange, bis von der Zentrale der FGBMFI in den USA eine Verbindung zu den Sandinisten verboten wurde. Trotz aller Offenheit für religiöse Akteure, die ich in den ersten Jahren der Revolution selbst beobachten konnte, kam es aufgrund des Labeling der Sandinisten bei konservativen Organisationen als marxistisch zur Distanzierung und zu Spannungen. 1980 war ich mit einem Priester zu Pferde in einer sehr abgelegenen Hochlandgegend, um die dortigen Gemeinden zu besuchen. In einem Dörfchen erzählten die Kirchgänger, dass es Probleme bei der Impfkampagne gegen Polio gäbe. Der örtliche Pastor der Asambleas de Dios predige gegen die Impfung, weil damit der »Kommunismus eingeimpft werden« solle. Die Asambleas de Dios und andere große, klassische Pfingstkirchen nehmen für
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sich in Anspruch, politisch unparteiisch und nur an der Predigt des Evangeliums interessiert zu sein; so auch der damalige Leiter der zentralen Abteilung für Weltmission der Assemblies in Springfield, MI, Loren Triplett, im Interview 1986. Triplett sagte, es ginge den Asambleas in Nicaragua nur um das Evangelisieren. Das Problem sei, dass sie als »rechts« abgestempelt würden. Ich habe den ganz starken Eindruck, dass das »Marxismus«-Labeling dem anderen vorausging. Interessant in diesem Zusammenhang sind zwei Interviews mit Repräsentanten der Asambleas de Dios, die ich 1986 in Guatemala und Nicaragua geführt habe. Unter der rechtsgerichteten Diktatur in Guatemala ist es für die Asambleas de Dios offiziell Sünde, nicht zum Militärdienst zu gehen, denn Paulus hat im 13. Kapitel des Römerbriefes Gehorsam gegenüber der Obrigkeit verordnet. In Nicaragua ist es zur selben Zeit unter der linksgerichteten Revolutionsregierung bei denselben Asambleas de Dios Sünde, Militärdienst im sandinistischen Heer zu leisten, denn im 2. Kapitel der Apostelgeschichte heißt es, man solle Gott mehr gehorchen als den Menschen. Und Gott ist nun einmal durch die Kirche repräsentiert. Die Aktion »Only Life« des Verlages Editorial Vida der Assemblies of God macht im August 1986 Spendenwerbung, um »Bibeln nach Nicaragua schmuggeln« zu können. Während in Nicaragua wegen des Embargos der USA zwar keine Ersatzteile für Busse mehr zu bekommen sind und Lebensmittel knapp werden, kann man ungehindert und wo man will an Bibeln kommen. Aber die Unterstellung der »Christenverfolgung« in Nicaragua (und überhaupt unter dem Kommunismus) ist ein preisgünstiges Propaganda-Argument der religiösen Rechten in den USA und wird von Only Life als solches verwendet. Pastor Triplett sagt kurze Zeit später, dass die Anzeige ein schwerer Fehler gewesen sei. Die verantwortlichen Prüfer der Missionsabteilung seien bei der kurz vor Redaktionsschluss eingereichten Anzeige nicht erreichbar gewesen. Für die Asambleas in Nicaragua sei die ganze Angelegenheit kompromittierend. Wenngleich diese Art von Propaganda für die Asambleas de Dios vielleicht nicht repräsentativ ist, so ist sie für andere Akteure in Nicaragua und den USA nur ein kleiner Fisch. Die US-amerikanische Botschaft in Nicaragua etwa arbeitet mit Pastoren des 1981 als konservatives Sammelbecken gegründeten Consejo Nacional de Pastores Evangélicos de Nicaragua (CNPEN) zusammen und organisiert Reisen für Pastoren in die USA.11 Vor allem aber sind die Or11
Religious News Service (rns), 25.8.1986. Vom State Departement wurde die Information bestätigt.
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ganisationen der religiösen Rechten der USA bei diesem religiös-politischen Verflechtungsprojekt aktiv. USA, Rios Montt und die Contra: religiöse Rechte: Wenige Monate nach Rios Montts Putsch reist sein Berater und Bruder im Glauben Francisco Bianchi – wie schon erwähnt – auf die Initiative des Botschafters der USA bei der OAS, William Middendorf, nach Washington. Zweck des Treffens ist es, Hilfe aus privaten Quellen für Montts counter insurgency abzuzapfen (vgl. Diamond 1989, 164ff.; Melander 1999, 171f., dort mit weiteren Quellen). Pat Robertson, der ebenfalls anwesend ist, hatte Montt in der New York Times im Mai 1982 versprochen, Milliarden Dollar beizutragen. Vielleicht war das ja durch eine offiziöse Koalition zwischen religiösen Organisationen und staatlichen Organen möglich. An dem Treffen nahmen von Seiten der Regierung der Präsidentenberater Edwin Meese, der Innenminister James Watt und der damalige Botschafter in Guatemala, Frederick Chapin teil – alle gläubige Evangelikale. Neben Pat Robertson sind noch zwei weitere Schwergewichte der religiösen Rechten vertreten: Jerry Falwell, der Führer der damals noch wichtigen Moral Majority, und Loren Cunningham, der Leiter der mächtigen12 Youth With a Mission (YWAM). Nach Informationen von Maranatha Campus Ministries wurde im Oktober 1982 im State Department ein weiteres Koordinierungstreffen mit Vertretern der religiösen Rechten abgehalten, um die GuatemalaAktionen zu koordinieren. Man kann davon ausgehen, dass noch eine erkleckliche Anzahl weiterer solcher Treffen in den 1980er Jahren stattgefunden haben (und noch wesentlich mehr unter der Regierung George W. Bush). Melander berichtet auf der Grundlage einer Kopie des offiziellen Einladungsschreibens von einem Treffen im März 1984, ebenfalls auf Initiative Middendorfs, von evangelikalen und jüdischen Executives im State Department zur Koordination der Zentralamerika-Politik. Interessanterweise sind keine Katholiken eingeladen, an denen es in der religiösen Rechten nicht mangelt. Melander vermutet, dass das damit zu tun haben könnte, dass die katholische Bischofskonferenz zu der Zeit die Politik der Regierung in Zentralamerika nicht mehr gutheißt. Ein weiteres Hindernis im Blick auf Nicaragua – dem Hotspot der konservativen »Angst« – ist das Boland Amendment von 1982. Es verbietet der
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Seinerzeit mit ca.4.000 festen Kräften und 14.000 Short-Termers in ca. 80 LÄndern aktiv. Das Einkommen ist natürlich nicht angegeben. Vgl. Roberts und Siewert 1989, 248.
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Regierung, Aktivitäten zu unterstützen, die zum Sturz (overthrow) der nicaraguanischen Regierung beitragen könnten. Dass private Hilfe eingesprungen ist, wird am 1. September 1984 öffentlich bekannt, als die Sandinisten einen Hubschrauber der Contra abschießen, in dem Mitglieder der paramilitärischen Civil Military Assistance-Gruppe aus Alabama sitzen, die bei dem Abschuss sterben. Im Oktober 1984 wird das Boland Amendment durch das generelle Verbot der Unterstützung der Contra verschärft. Also ist private Hilfe zum Umgehen der Regelung noch wichtiger. Dazu trägt das Denton Amendment, ebenfalls 1984, etwas bei, welches der US-Armee erlaubt, private Hilfslieferungen zu befördern. Außerdem ist der findige, neopentekostale Col. Oliver North, wie allseits bekannt, so phantasiereich, einen Waffendeal mit Iran abzuschließen, dessen monetäre Gewinne in die Unterstützung der Contra gesteckt werden können. Dieser Deal fliegt 1986 in der so genannten Iran-Contra-Affäre auf und wird juristisch bearbeitet. Die anderen religiösmilitärischen Unterstützungsnetze bleiben davon allerdings weitgehend unberührt. Die private Hilfe wird vor allem auf drei Feldern geleistet. Erstens sind die bekannten politischen Lobbygruppen der Rechten aktiv: American Security Council, Citizens for America, International Business Communications etc. Zweitens sind paramilitärische Vereine am Werk, wie Refugee Relief International oder die besagte Civil Military Assistance. Drittens ist die religiöse Rechte beteiligt, mit Organisationen wie dem Christian Broadcasting Network, aber auch einer religiösen Paria-Organisation mit viel Geld und guten Geheimdienstverbindungen: der CAUSA des koreanischen Messias Sun Myung Moon, der in Honduras eine feste Basis hat (vgl. Fuerstenberg 1984). Unklar ist, ob es jemals zu einer Gebetsgemeinschaft zwischen einem Vertreter der »christlichen« Rechten und einem der Vereinigungskirche gekommen ist. Handeln in Synergie ist jedenfalls kein Problem. Die Liste der Organisationen im Dienste der Contras und im direkten Kontakt mit ihnen ist lang (The Interhemispheric Education Resource Center 1988). World Medical Relief kanalisiert Hilfe im Wert von etwa 300.000 USD. Gospel Crusade Inc. von Philipp Derstine, dem Sohn Geralds, bringt u.a. Nahrungsmittelhilfe in die Contra-Camps und kooperiert mit Enrique Bermúdez, einem Ex-Offizier der Nationalgarde Somozas. Derstine erzählt auf einer Konferenz der National Religious Broadcasters, dass Oliver North ihn persönlich den Contra-Führern Adolfo Calero und Enrique Bermúdez vorgestellt habe. Friends of the Americas – selbst nicht religiös, aber mit der religiösen Rechten koordiniert – transportiert große Mengen an Hilfsgütern
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über US-Militärbasen, etwa von der Kelly-Basis in Texas nach Honduras. Das Christian Emergency Relief Team (CERT) bringt außer Medizin und Nahrung auch Hightech-Kampfstiefel. Die America Freedom Coalition ist eine Kooperation mit der Moon-Organisation und den Contras. Weitere Beteiligte sind die Organisationen Pat Robertsons,13 die Malta-Ritter, und so weiter. Was mich immer wieder in Gesprächen mit Missionaren dieser Couleur befremdet hat, war die naive Direktheit, mit der politische und militärische Handlungen durch die simple Assoziation einer religiösen Bedeutung legitimiert werden – ein rhetorisches Muster, das niemals von Gesprächspartnern der Befreiungstheologie verwendet wurde. Für die Freunde der Contra und der Militärdiktaturen scheint die richtige, US-evangelikale Religiosität alles zu rechtfertigen. Nichts Anderes kommt einem in den Sinn, wenn man heute die Websites der Derstines durchsieht:14 Visionen, »übernatürliche Ereignisse«, »Familien- und Geschäftsangelegenheiten: Ordnung & Profit«, »Zweck des Lebens«… Da kann man doch nur alles richtig machen! Diamond (1989, 173) jedenfalls zitiert den geradezu begeistert klingenden Phil Derstine mit einem Bericht über einen seiner Besuche bei den Contras, unter anderem in deren »secret map room« zusammen mit den Ex-Nationalgardisten Bermúdez und Calero. Derstine: »I have been preaching to the Contras. They’re so open to the Gospel.« Aus anderer Quelle erfährt man eine genauere Einschätzung Derstines: Wir ergreifen eigentlich nicht politisch Partei. Die Freiheitskämpfer sind Gott sehr tief verpflichtet, zu 100 Prozent, soweit wir das sehen können. Die Contras wissen, dass das Evangelium die Antwort ist. (The Interhemispheric Education Resource Center 1988, 44) Vermutlich hat er gar nicht mitbekommen, dass die Contras vor allem an Antworten von Seiten nicaraguanischer Bauern interessiert sind und diese unter anderem mit »la cucharita« zum Reden motivieren. Vom »Löffelchen« haben mir 1986 an der honduranischen Grenze Bauern erzählt, die sich vor den frommen Contras in ein Flüchtlingslager gerettet hatten: Ein Eierlöffel hat ziemlich genau die passende Größe für eine menschliche Augenhöhle. Selbstverständlich kann man davon ausgehen, dass die Aktionen dieser religiösen Organisationen aus den USA mit der CIA koordiniert waren. Da13 14
700 Club, Operation Blessing und Christian Broadcasting Network. Christian Retreat (https://www.christianretreat.org/our-history/, abgerufen am 08.10.2019) und Phil Derstine (http://philderstine.com/, abgerufen am 08.10.2019).
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für spricht schon der Rückschluss aus der Tatsache, dass das honduranischnicaraguanische Grenzgebiet auf der nördlichen Seite von US-Kräften kontrolliert war und keine Organisation ohne deren Einwilligung dort arbeiten konnte. Zudem berichtet Derstine freundlicherweise Sara Diamond davon, dass es bei der Rückkehr von einer Reise immer zu De-Briefings kam, sei es mit Beamten aus Langley oder aus dem State Department. Noch offizieller wird das gute Verhältnis dokumentiert, wenn Präsident Reagan dem Christian Emergency Relief Team im Mai 1986 seine Glückwünsche zur gelungenen Arbeit übermittelt (Diamond 1989, 175). Vom Internationalen Gerichtshof in Den Haag kommen keine Glückwünsche, sondern eine Rechnung. Am 27. Juni 1986 wird die USA wegen Unterstützung des Contra-Krieges zur Beendigung der Aktivitäten und der Zahlung von Reparationen in Höhe von ca. 14 Milliarden Dollar verurteilt. Das Urteil und ein nachfolgendes Diktum des UN-Sicherheitsrates werden ignoriert bzw. mit einem Veto blockiert. Die Contra-Aktivitäten dauern an, auch über die Unterzeichnung des Friedensvertrages 1988 hinaus. Durch den Krieg und das Wirtschaftsembargo mürbe gemacht, verlieren die Sandinisten die Wahl 1989. Die dann folgende Präsidentin, Violeta Chamorro, gibt den Anspruch auf die Reparationen auf und »erlässt« den USA die Zahlung. Die Nicaraguaner machen sich selbst ans Reparieren, werden dabei aber von den auf Chamorro folgenden neoliberalen Regierungen, insbesondere von Arnoldo Alemán, in großem Stil beraubt. 2006 gewann der Sandinist Daniel Ortega dann überwältigend die Wahlen, und hat Nicaragua in sein Patrimonium verwandelt – aber das ist eine andere Geschichte. USA, indigene Bauern und Sandinisten: NCC und linke Evangelikale: Im Kampf gegen Somoza und vor allem im Versuch des Wiederaufbaus der nicaraguanischen Gesellschaft in den 1980er Jahren erhielten dortige Kirchen und NROs Unterstützung von religiösen Akteuren aus den USA; ebenso wie die religiösen Organisationen im Widerstand in El Salvador und Guatemala. Erste Adresse dafür in den USA ist der National Council of Churches (NCC), ein Dachverband der Mainline Churches wie Methodisten, Presbyterianer, Lutheraner und Episkopale. Diese Organisation geht aus dem 1908 im Geiste des Social Gospel gegründeten Federal Council of Churches (FCC) zurück, der damals ein Social Creed mit Einsatz für soziale Gerechtigkeit zur Grundlage seiner Arbeit machte und gegen den Fundamentalismus Front machte. Nach der Gründung des Weltkirchenrates (Genf) in Amsterdam 1948 wird in den USA 1950 der FCC in den NCC umgewandelt, der seither enge
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Kontakte nach Genf unterhält. Der NCC hat das Social Creed übernommen und 2007 modernisiert. Anders als die Missionen der religiösen Rechten, die ihren Auftrag darin sehen, ihre absoluten Wahrheiten gegen den Kommunismus in Lateinamerika ins Feld zu führen, machen die Missionen, die im NCC organisiert sind, bewusst einen Prozess des »ökumenischen Lernens« durch (Blanke 2003). Diese Entwicklung ähnelt der in katholischen Orden, vor allem Maryknoll. Deren Ordensleute waren mit einem antikommunistischen Konzept nach Lateinamerika gegangen, haben die Erfahrung der Unterdrückung der Bauern gemacht und diese in den USA theologisch reflektiert. Die Brüder Daniel und Philipp Berrigan, die Catholic Peace Fellowship und Clergy and Laity Concerned About Vietnam (CALC) machen schon in den späten 1960er Jahren partizipative Ansätze für Kooperation in den USA bekannt. Parallel dazu finden ähnliche Prozesse in den Missionen des NCC statt. 1972 stellt der Missionar William (Bill) Wipfler in einem Artikel mit dem Titel »Latin America: US-Colony« die bisherige Missionspraxis infrage, weil sie letztlich nur den Interessen der USA gedient habe. Es komme demgegenüber aber darauf an, im Interesse der »legitimen Bestrebungen der lateinamerikanischen Völker« (Blanke 2003, 40f.) zu handeln. In dieser Linie tragen viele Missionare zu einer Veränderung der Arbeit in mehrfachem Sinne bei. Erstens werden Mitarbeiter aus den USA ab diesem Zeitpunkt mit spezifischen Funktionen in die Struktur der Partnerorganisation eingebunden und sind nicht mehr direkt der entsendenden Organisation unterstellt. Das erklärt das starke Zurückfahren der Zahl »eigentlicher« Missionare der Mainline Kirchen in den 1970er Jahren um die Hälfte (von ca. 8.000 auf ca. 4.000; vgl. Roberts und Siewert 1989, 36f.). Die Zahlen der »fraternal workers«, der Unterstützung für die Anstellung nationaler Kräfte durch die Partnerkirchen und des Austausches steigen. Zweitens nimmt die Bedeutung der Entwicklungsarbeit ohne Bekehrungsabsichten zu; der Church World Service gewinnt an Bedeutung. Drittens schwenkt die Aufmerksamkeit auf advocacy, das Eintreten für verfolgte, unterdrückte, ihrer Rechte beraubte Bevölkerungsgruppen oder GrassrootsBewegungen in Lateinamerika. Dazu sind wissenschaftliche oder mindestens sauber recherchierte journalistische Daten nötig. Deshalb gründen 1966 religiöse und studentische Initiativen das Dokumentations- und Forschungszentrum National Council on Latin America (NACLA) und bitten den aus Brasilien exilierten presbyterianischen Befreiungstheologen Richard Shaull in den Vorstand (Board). In ähnlicher Stoßrichtig, aber stärker religiös orientiert, gründen Phil Wheaton und Bill Wipfler 1968 das Ecumenical Program for
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Inter-American Communication and Action (EPICA). Die genaue Analyse und die advocacy wird bald schon bitter nötig, denn Verfolgte und Unterdrückte wird es viele geben unter den Diktaturen der 1970er Jahre in Brasilien, Chile, Argentinien, Uruguay, Bolivien, Nicaragua, Guatemala, El Salvador und so weiter. Nach dem Putsch in Chile gründet der NCC zusammen mit der katholischen Bischofskonferenz 1974 das Washington Office on Latin America (WOLA), eine vollgültige Forschungs- und Lobby-Organisation mit Schwerpunkt auf Menschenrechtsfragen. Unterstützt wird WOLA heute von europäischen Akteuren mit dezidierten Menschenrechtspolitiken wie dem norwegischen und dem schweizerischen Staat sowie liberalen Stiftungen in den USA wie der Open Society Foundation von George Soros. Die sachliche Klärung der vielen Nachrichten von Folter und sonstigen Menschenrechtsverletzung wird als Voraussetzung genommen für fallbezogene Aktionen und für allgemeines Menschenrechtslobbying im Kongress. Im Umkreis einer sich formenden Lateinamerika-Bewegung mit kirchlichem Hintergrund bilden sich selbstverständlich auch relativ unabhängige Grassroots-Initiativen. Eine davon ist das im Februar 1979 – fünf Monate vor dem Sieg der Sandinisten – gegründete National Nicaragua Network (heute NicaNet), das die Sandinistische Revolution unterstützt und für eine Lateinamerika-Politik eintritt, bei der Selbstbestimmung der Völker, soziale Gerechtigkeit, Menschenrechte und internationales Recht die Regel sind. Eine weitere Grassroots-Organisation für Solidarität ist das 1980 gegründete Committee in Solidarity with the People of El Salvador (CISPES). Schon wenige Monate nach dem Beginn der Arbeiten wird die Organisation aufgrund ihrer Verbindungen zur FMLN-Guerilla in El Salvador vom FBI infiltriert, weshalb sie ab Mitte der 1980er Jahre mehrere Prozesse gegen das FBI führt. In Lateinamerika geht aus den genannten Aktivitäten von EPICA 1974 der Servicio para Paz y Justicia (SERPAJ) hervor, dessen erster Direktor der spätere Friedensnobelpreisträger Adolfo Perez Esquivel ist. Diese Linie der religiösen Arbeit etabliert selbstverständlich Arbeitskontakte zu ökumenischen Initiativen in Lateinamerika, wie etwa dem Lateinamerikanischen Kirchenrat (CLAI). Für die NCC-nahen Missionen und Organisationen laufen die Jahre der Begleitung von kirchlicher Grassroots-Arbeit sowie von Menschenrechtsund advocacy-Arbeit in Lateinamerika darauf hinaus, dass sie in den zentralamerikanischen Konflikten schon durch ihre Partnerschaften kompromittiert sind. Die Begleitung der presbyterianischen fraternal workers in Guatemala läuft darauf hinaus, dass die presbyterianischen Indígenas im Allgemeinen und ihre Organisationen CONCAD und CIEDEG natürlich gegen die Verfol-
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gung durch das Militär unterstützt werden müssen. Damit ergeben sich auch solidarische Beziehungen zum 1977 gegründeten Comité pro Justicia y Paz, obschon mehrheitlich katholisch, und zur Iglesia Guatemalteca en el Exilio. Zudem ist es selbstverständlich, der verfolgten presbyterianischen Poetin Julia Esquivel im Exil weiterzuhelfen. In Nicaragua läuft die Kooperation mit dem baptistisch basierten Dachverband CEPAD darauf hinaus, dass Kirchen des NCC sich als Partner im Wiederaufbau engagieren oder auch enge Kooperation mit dem ökumenischen Centro Antonio Valdivieso aufnehmen. Damit sind sie in Guatemala klar gegen die Militärdiktatur positioniert und in Nicaragua auf der Seite des sandinistischen Wiederaufbaus und gegen die ContraAktivitäten. Damit ist das Szenario für einen Kulturkampf in den USA über die Rolle religiöser Akteure im zentralamerikanischen Konflikt aufgespannt. Institute on Religion and Democracy: Üblicherweise kommt ja ein Unglück selten allein. Zusätzlich zu den hochkochenden Konflikten in El Salvador und Guatemala wird also in den USA Ronald Reagan zum Präsidenten gewählt – ein Mann von festgefahrenen politischen Vorstellungen, zufrieden mit Halbwahrheiten, den Tatsachen abgeneigt und von wirrem Apokalyptizismus ergriffen: »I swear I believe Armageddon is near.«15 In der Jahreskonferenz der National Association of Evangelicals16 1983 prägt er die Formel vom »Reich des Bösen« für die Sowjetunion, die vermutlich vom Apokalyptiker Hal Lindsay stammt, einem seiner geistlichen Berater. Kurzum, der Rahmen für die religiös-politische Offensive der religiösen Rechten ist gesetzt, und die Jagd auf den National Council of Churches und andere ökumenisch orientierte christliche Akteure kann beginnen. Zu einem der potentesten Jäger soll das Institute on Religion and Democracy aufgebaut werden, was allerdings nur zu mäßigem Erfolg führt. Das Institut wird gleich zu Anfang der Regierung Reagan gegründet (vgl. Howell 2003; Diamond 1989, 148ff.; Ezcurra 1982). Der Gründung geht eine Kontroverse in der Methodistischen Kirche voraus. Ein Methodist, Angestellter bei der konservativen Gewerkschaft AFL-CIO und eine Zeit lang Vorsitzender der Social Democrats USA, legt bei der General Conference der methodistischen Kirche 1980 einen Bericht vor über die Unterstützung von Organisationen
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»Ich schwöre, ich glaube Harmageddon ist nahe.« Ein Tagebucheintrag, siehe Brinkley 2007. …die damals keineswegs so friedliebend waren, wie sie es heute geworden sind.
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in den USA und der Dritten Welt, die er für kommunistisch und terroristisch hält, unter anderen NACLA und WOLA. Ebenso kommt der NCC in das Schussfeld der Kritik. Unterstützt wird die Initiative vor allem von einer biblizistischen Gruppe in der methodistischen Kirche um die Zeitschrift Good News. Diese Kontroverse wird in der Regel als Impuls zur Gründung des Institute on Religion and Democracy erachtet, die allerdings schon ein Jahr später 1981 erfolgt. Die Gründung erfolgt auf Initiative einer Gruppe aus katholischen und protestantischen Neokonservativen: vor allem Michael Novak, Richard John Neuhaus, Penn Kemble und David Jessup. Die Organisation beschreibt sich selbst natürlich als eine Institution der politischen Mitte. Das könnte auch, angesichts der Geschichte Kembles als Anti-Vietnam Protestler und der Parteizugehörigkeit zweier IRD-Gründungspersönlichkeiten bei den Social Democrats, auf den ersten Blick sogar plausibel erscheinen. Das ist es jedoch nicht, wenn man sich vergegenwärtigt, dass die Social Democrats mit einem harschen Antikommunismus vor allem zur Legitimation antikommunistischer Einstellungen beitragen und (Ex-)Mitglieder wie Paul Wolfowitz unter G.W. Bush sogar Verteidigungsminister geworden sind; und schließlich das IRD Bushs Krieg gegen den Irak unterstützt hat. Der derzeitige Vorsitzende Mark Tooley hat vor seinem Eintritt 1994 in das IRD acht Jahre bei der CIA gearbeitet. Unseres Erachtens liegt es sehr viel näher, die zentristische Selbstverortung des IRD aufzufassen als die Schaffung einer Situation des falschen Gleichgewichts (false balance),17 mit der sich üblicherweise radikale Positionen tarnen. Finanziert wird das IRD im Laufe seiner Geschichte jedenfalls von solchen Stiftungen, deren »Mitte« sehr weit rechts liegt, wie Scaife, Smith Richardson, Castle Rock/Coors, Bradley und Fieldstead. Das IRD hat gute Verbindungen und macht gute publizistische Arbeit – was nicht heißt, dass sauber recherchiert wird. Schon 1982 wird im Publikumsmagazin Reader’s Digest (14 Millionen Leser) ein Artikel mit dem Titel »The Gospel According to Marx« veröffentlicht, in dem ökumenische Organisationen wie der NCC, der Weltkirchenrat in Genf (WCC) und sogar der im Kampf gegen Apartheid engagierte und entsprechend gefährdete Südafrikanische Kirchenrat scharf wegen »Kommunismus« und Unterstützung von Terror angegriffen werden.18 Die Sache wird 1983 von der Fernsehshow 60 Minutes aufgegrif-
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In der klassischen Rhetorik auch als argumentum ad temperantiam oder »goldene Mitte« bezeichnet. Austin, Charles. 1982. »National Council of Churches Faces New Type of Critic«. New York Times, 3. November 1982, Abschn. Section A. (https://www.nytimes.com/
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fen. Der WCC wird hier – wie Diamond schreibt – wegen der Unterstützung der kommunistischen Alphabetisierungskampagne in Nicaragua angegriffen, wobei den Machern entgeht, dass diese Alphabetisierung auch von US-AID unterstützt worden ist. In den 1980er Jahren ist Zentralamerika die Hauptfront der Arbeit des IRD. Alan Wisdom – der später als Vize-Vorsitzender des IRD den Irakkrieg G.W. Bushs unterstützt (Wisdom o.J.) – legt mir im Oktober 1986 in einem Gespräch dar, dass das IRD keine eigene Kenntnis von der Lage in Nicaragua habe. Noch niemand der damaligen Beschäftigten sei dort gewesen. Man verarbeite Informationen aus anderen Quellen.19 Eine Quelle konnte ich einsehen: eine Nachricht von »White House, Robert Reilly, Assistant to the President on Public Liaison, to Penn Kemble, 12.12.1984, … Dear Penn… Bob.« In dem Schreiben wird dem IRD Informationsmaterial über Gustavo Parajón angeboten, dem Leiter des baptistisch geführten ökumenischen Hilfsfonds Consejo de Iglesias Pro-Alianza Denominacional (CEPAD) in Nicaragua. Der CEPAD solle Geld veruntreut haben, so Wisdom. Das sei aber nicht der springende Punkt. Das eigentliche Problem sei, dass der CEPAD mit den sandinistischen Stadtteilkomitees zusammenarbeite.20 Als dann noch die medizinische Hilfe und Alphabetisierung durch CEPAD auf dem Land von der nicaraguanischen Regierung öffentlich gelobt wird, ist das für die IRD-Mitarbeiterin Diane Knippers – gut positioniert auch in der National Association of Evangelicals – der Anlass für Aktivitäten. Sie entfacht eine Desinformationskampagne gegen CEPAD als einer »kommunistischen« Organisation. Das wiederum bringt das CEPAD-Personal in den ländlichen Kliniken in Bedrängnis durch die Contras. Im Ergebnis kann das IRD die Falschinformationen nicht aufrecht halten und erleidet schließlich eine publizistische Niederlage – wohl auch deshalb, weil damals die Lüge noch nicht als allgemeine Kommunikationsweise oktroyiert worden war. Erfolgreicher war ein Coup in der Wissenschaft. Wissenschaft: Der Religions-Kampf um die Deutungshoheit der Konflikte in Zentralamerika und insbesondere die Rolle unterschiedlicher Akteure, der durch den klaren Angriff des Santa Fe I-Papiers auf die Theologie der
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1982/11/03/us/national-council-of-churches-faces-new-type-of-critic.html, abgerufen am 10.10.2019) Ganz im Gegensatz zur oben zitierten Darstellung Loren Tripletts von den Assemblies of God sagte Wisdom, die Assemblies arbeiteten heimlich und hätten das IRD zu einem Treffen mit einem Pastor aus Nicaragua eingeladen, der Radioarbeit mache – vermutlich derselbe, von dem sich Triplett distanziert hat. …was vollkommen normal war, um die Aktionen effektiv organisieren zu können.
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Befreiung und die Publizistik des IRD angefacht wurde, macht sich auf im Feld der Wissenschaft bemerkbar. Die ökumenischen Akteure machen den Aufschlag, da sie schon seit Ende der 1960er Jahre an einer sachgerechten, wissenschaftlich gestützten Informationsbasis für ihre Praxis in Lateinamerika interessiert sind, die Kritik der Außenpolitik durch Aufklärung als ihre Pflicht sehen und dafür WOLA und NACLA gegründet haben (Goff 1966). NACLA schickt ein zweiköpfiges soziologisches Team mit spezifischer Perspektive auf politische Praktiken für 8 Monate nach Zentralamerika. Deborah Huntington und Enrique Domínguez – beide erfahren in Lateinamerika und des Spanischen mächtig – publizieren im NACLA Report on the Americas, Januar 1984, den 36 Seiten langen Bericht »Salvation Brokers«. Darin benennen sie klar einen Anlass ihrer Arbeit: die wütenden (und gefährdenden) Angriffe auf engagierte liberale Protestanten in Zentralamerika wie Julia Esquivel seitens des IRD. Ganz im Gegensatz zur uninformierten Propaganda des IRD wird hier eine fact finding mission durchgeführt. Entsprechend der Konzentration auf Politik bringen sie religiöse Einstellungen in Verbindung mit politischem Engagement, differenzieren zwischen Akteuren nach deren politischer Praxis und untersuchen mit historischem Tiefgang die Verwicklung US-amerikanischer Missionen in die Politik. In einem Kapitel wird die counter insurgency Rios Montts thematisch, in einem anderen die Kooperation von Kirchen (auch den Asambleas) in Entwicklungsaktivitäten im Rahmen der nicaraguanischen Revolution. Alles in allem zeigt die Publikation in journalistischer Aufmachung ein differenziertes Bild, das allerdings durch seinen politikwissenschaftlichen Fokus nicht alle Erwartungen theologischer Leser erfüllt hat. Auf jeden Fall widerspricht die kleine Publikation allem, was von der religiösen Rechten in die Welt gesetzt wird. Und sie hat eine sehr starke Wirkung auf die Debatte Mitte der 70er Jahre. Auf diese Herausforderung kann das IRD nicht selbst reagieren. Es hat dazu einfach keine wissenschaftlichen Ressourcen. Aber es sitzt der konservative Religionssoziologe Peter L. Berger der Boston University (Direktor des Institute for the Study of Economic Culture) im Advisory Board des IRD. Es kann nicht mit Sicherheit gesagt werden, dass die folgende Aktion mit dem IRD koordiniert war; aber sein Institut legt in der Stunde der Not ein Forschungsprojekt zum Thema Protestantismus in Lateinamerika auf. Der Soziologe David Martin von der London School of Economics bekommt den Zuschlag, um das Projekt durchzuführen, obwohl (oder weil?) er bis dahin mit Säkularisierung und nicht mit der Pfingstbewegung oder auch mit Lateinamerika befasst war und seinerzeit sowie auch in
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späteren Jahren weder Spanisch noch Portugiesisch gesprochen hat. In nur drei Jahren war ein Buch von 350 Seiten fertig (Martin 1990), dank der Assistenz für Lektüre und Übersetzungen sowie einiger Reisen nach Lateinamerika hauptsächlich zu Interviewpartnern, die Englisch sprechen konnten. Das Buch wird gut platziert (Oxford University Press) und besiegelt den Sieg einer neokonservativen Sicht auf die Dinge in der US-amerikanischen Öffentlichkeit. Ins Spanische übersetzt wird es nicht. Lateinamerikanische Leser der englischsprachigen Version, die ich gesprochen habe, erklären sich das so, dass das Buch für sie zum Einen sehr oberflächlich sei und zum Anderen zu sehr US-amerikanisches ideologisches Herrschaftswissen reproduziere. Wie eingangs schon angedeutet, läuft das gesamte Argument des Buches darauf hinaus, dass der in England und den USA entstandene Protestantismus in Lateinamerika Fortschritt und »betterment« für die Armen bringe. Das starke Machtungleichgewicht zwischen den USA und Lateinamerika wird zum Verschwinden gebracht, indem es einfach keine Rolle spielt oder allenfalls – in einer bewährten rhetorischen Strategie – hinter Naturmetaphern verborgen wird: »…soziales Erdbeben, das entsteht, wenn sich die tektonischen Platten zweier Weltzivilisationen übereinander schieben« (292). Im Übrigen – so Martin im Blick auf andere Autoren – würden Beobachter immer wieder Verbindungen zur »Electronic Church« in den USA und zu konservativen Stiftungen ziehen.21 Die Debatte sei nun einmal »von Propaganda überladen«, sodass ein Forscher geradezu im Kreuzfeuer stünde (291). Anstatt einmal ernst zu nehmen, dass es den Protestanten unpolitisch um »Seelenheil« (»salvation«) ginge, kreise die Debatte oft um ihre Stellung zu »Befreiung« (»liberation«) und ihre unterstellte Rolle als Träger einer fremden Kultur (233). Martin will auch explizit darauf verzichten, die Welten der lateinamerikanischen Armen (die er nicht einmal kennt, da er keine Feldforschung betrieben hat) »in einer Sprache der verdeckten politischen Feindseligkeit« zu rahmen und in einer »säkularen Version des ›Jüngsten Gerichts’« die Akteure zu beurteilen (1). Er hat sicher Recht, dass die Debatte über die »Sekten« in Lateinamerika oft recht vorurteilsbeladen war. Aber er täuscht sich und seine Leser doppelt. Erstens unterstellt er implizit allen seinen Kollegen Vorurteile. Zweitens tut er so, als rahme er nicht durch theoretische Vorannahmen. Genau dies stimmt nicht, wie ich eben schon erwähnt habe. 21
Hier zitiert Martin nicht etwa Huntington und Domínguez, deren Artikel zwar im Literaturverzeichnis steht, mit denen er sich aber an keiner Stelle auseinandersetzt, sondern Ezcurra 1982.
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Auch ein positives Vorurteil ist ein Vorurteil; und verifizierbare bzw. falsifizierbare Kriterien für eine kritische Erzeugung und Überprüfung von Forschungsergebnissen findet man als LeserIn bei Martin nicht. Das liegt auch daran, dass der Inhalt des Buches über weite Strecken aus dem Referat von Sekundärliteratur besteht.22 Auch werden beschreibende Passagen vielfach nicht interpretiert. Im Zusammenhang mit der Erdbebenhilfe in Guatemala erfahren wir nur den Allgemeinplatz, dass protestantische Gruppen die Menschen vom Alkohol, der Kleinkriminalität und der Korruption befreien (92). Rios Montt erscheint als ein guter Herrscher, der »Tatendrang gegen Gewalt und Korruption« verbindet mit einer »grimmigen und effektiven Angriff auf die Guerilla, indem er Bohnen anbietet – und den Tod«. Manche Protestanten hätten sich zwar auf die Seite der Guerilla geschlagen und seien mit der katholischen Linken aus dem Land geflohen; die meisten aber hätten Rios Montt unterstützt (92). Mit Bezug auf protestantischen Widerstand (254) erfahren wir in der US-amerikanischen Unterscheidung von »radicals« versus »liberals« (die für Lateinamerika überhaupt nicht funktioniert), dass indigene Protestanten »deeply affected by radicals« seien und sogar eine »erbittert antiamerikanische« Gruppe herausgebildet hätten. Viele »Radikale« flöhen, und die anderen Protestanten böten »geistliche Zuflucht«, während der christliche General Bohnen oder Gewehrkugeln verteile. FUNDAPI bekommt von Martin ganze 7 Zeilen mit der Information, dass die Organisation sich um die Bohnen kümmere und dafür Geld aus fundamentalistischen Quellen verwende. Schließlich wird der brave General wegen seines Vorgehens gegen Korruption von »rechten politischen Kräften« aus dem Amt getrieben. Er steht also – ganz wie das IRD – bei Martin zwischen Rechten und Linken, also sicherlich ganz balanciert in der Mitte und hat somit auch sicher keinen Genozid veranstaltet. Nun, die Gerichte in Guatemala sehen das anders. Wenn man sich nun verwundert fragt, woher dieses Wissen kommt, so findet man Antwort, aber keinen Trost, auf Seite xii. Martins Gewährsmann in Guatemala ist der des Englischen mächtige Virgilio Zapata Arceyuz, ein extrem konservativer Evangelikaler, der das Regime Rios Montts nach Kräften gestützt hat. Als ich Zapata kurz nach dem Putsch gegen Rios Montt in Guatemala traf, war seine größte Sorge, gegenüber der neuen Diktatur die allzu enge Verbindung von
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Zur Masse der Sekundärliteratur kommen noch (nicht ausgewiesene) Informationsgespräche mit ca. 12 Gesprächspartnern und etwa 60 unveröffentlichte Papiere. Die Referate der Sekundärliteratur hängen jeweils von den unterschiedlichen Perspektiven der Autoren ab, so dass einheitliche Auswertungskriterien kaum zu finden sind.
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ihm und anderen Evangelikalen zu Rios Montt wieder auszubügeln und von der neuen Diktatur als Gesprächspartner akzeptiert zu werden.23 In Martins Fallstudie zu Nicaragua werden wir beschieden, dass er für eine »balance« in der Berichterstattung sich lieber allein auf die evangelikale Christianity Today verlässt (248). Immerhin legen die tatsächlich ausgewogenen Ausführungen über CEPAD nicht die Propaganda des IRD neu auf. Eine Fallstudie über Protestantismus und Politik in Brasilien lässt die Diktatur weitgehend außen vor, wenn es sich nicht gerade um innerkirchliche Effekte handelt (255); bei Mexiko fällt die für das Land konstitutive Laizität völlig unter den Tisch (261). Im Feld der sozialen und wirtschaftlichen Beziehungen schließlich erfahren wir, dass protestantische Netzwerke nicht nur stabile Beziehungen garantieren. »Darüber hinaus prägen sie auch nordamerikanische Verhaltensnormen ein (inculcate) und erziehen ihre Mitglieder in solchen Dingen wie Haushaltsbudgets, gesellschaftlichem Benehmen und Tischsitten«; (218) und darüber hinaus bescheren sie noch Ehen, »sexuelle Disziplin« und einen Bruch mit der »endemischen Korruption«. Darüber sollte man mal mit Mitgliedern der Bancada Evangélica in Brasilien ins Gespräch kommen. Die hätten einen ganzen Abend lang Spaß. Kurzum, Martin blickt – vermeintlich ohne zu »rahmen« und ohne Felderfahrung – aus der Perspektive des nordatlantischen, milde neokonservativen Säkularisierungstheoretikers auf Lateinamerika, hebt seine als positiv empfundenen Beobachtungen hervor, sieht Vieles gar nicht (wie den Genozid unter Rios Montt) und hüllt die Präsenz von Protestanten in Lateinamerika schließlich in einen milde neokonservativen »Geist des Kapitalismus«. Die britische Zurückhaltung ist nicht der Stil des IRD. Dennoch dürften die Aktivisten des IRD über die Publikation höchst erfreut gewesen sein. Während das IRD und seine Freunde weiter für Diktaturen, Terrorverbände und Kriege Werbung machen, engagieren sich in Guatemala die indigenen Protestanten (Martins »radicals«) und nicht die Freunde Rios Montts zusammen mit internationalen Organisationen für einen erfolgreichen Friedensvertrag; und in den USA kümmern sich der NCC und seine Partner in der
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Im Folgebuch, Pentecostalism: the world their parish (Martin 2001, XII), erfährt man von einem Gespräch mit Arturo Piedra, Costa Rica, der als einer der führenden Vertreter der »Pentecostal intelligentsia« in Lateinamerika eingeführt wird. Arturo war fast 10 Jahre lang mein Arbeitskollege, ein guter Kenner des lateinamerikanischen Protestantismus, bis auf die Knochen reformiert und ein profilierter Kritiker, wenn nicht Gegner, der Pfingstler.
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Sanctuary-Bewegung um die Opfer der zentralamerikanischen Kriege. Die Kriege werden durch Friedensverträge beendet und weichen einem prekären Frieden, in dem die soziale Ungerechtigkeit fortgeschrieben wird. Wer aber meint, dass mit dem Ende der Kämpfe die frommen Offensiven aus den USA nachgelassen hätten, sollte sich enttäuscht sehen. Regierungsfundamentalisten: Das Dekret Donald Trumps vom 3.5.2018 (Trump 2018) zu religiösen Initiativen ist ein Zusatz zu einem früheren Dekret George W. Bushs. Schon die Initiative Bushs ist stark kritisiert worden, weil sie die Trennung von Staat und Kirchen unterminiert und zu viele Fördergelder an die religiöse Rechte geflossen sind. Die Neuregelung dürfte noch mehr Anlass zur Kritik geben. Die kleine Veränderung im Namen von »White House Faith and Opportunity Initiative« zu »White House Office of FaithBased and Community Initiatives« könnte andeuten, dass nun weniger die Aktivität des Weißen Hauses selbst von Interesse ist als vielmehr die von den Initiativen, die dort zusammenkommen. Vieles sieht danach aus, dass das Büro ein Tummelplatz und ein Legitimationsinstrument für die Court Evangelicals (Fea) geworden ist. Dementsprechend positiv sind die ersten Reaktionen, in denen die Ausweitung des Geltungsbereichs und die größere Nähe zwischen Kirchen und Staat betont werden. Paula White wird im National Catholic Reporter zitiert: »Dieses Dekret ist eine historische Handlung, die in den USA die Verbindung zwischen Glauben und Regierung stärkt; und das Ergebnis werden unzählige transformierte Leben sein.« (Banks 2018) Wessen Leben da verändert werden sollen, ist Gegenstand einer investigativen journalistischen Untersuchung,24 die das Folgende zutage gefördert hat. Das Fehlschlagen der eigenen Suche nach einem Webauftritt des Büroraumes wird bestätigt durch die Journalisten, die feststellen, dass Trump und die beteiligten religiösen Akteure das Profil flach halten, wahrscheinlich um die oben genannten Kritiken zu vermeiden. Jedenfalls sind Interview- und Auskunftsersuchen der Journalisten abgelehnt worden. Genutzt wird die Aktionsplattform laut dem Recherchekollektiv von Akteuren der Formationen
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Die folgenden Ausführungen basieren auf: Segnini und Cordero 2019. Die Reportage ist Ergebnis einer Kooperation von 16 lateinamerikanischen Medienhäusern unter der Leitung von Columbia Journalism Investigations der School of Journalism an der Columbia University, New York. Die Studie ist Teil eines größeren investigativen Projekts »Transnacionales de la fe« (https://www.elclip.org/category/investigaciones/ transnacionales-de-la-fe/, abgerufen am 11.10.2019).
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Gesetz und Management, die aufgrund ihrer Wahlhilfe mehr oder weniger offiziellen Beraterstatus erlangt haben und die von John Fea als Court Evangelicals bezeichnet werden. John Fea setzt sich in seinem Buch Believe Me mit der Frage auseinander, wie es zur evangelikalen Unterstützung Donald Trumps kam. Er etabliert für die Trump-Unterstützer die Kategorie der höfischen Evangelikalen (Court Evangelicals) und unterteilt diese in drei sehr instruktive Untergruppen: die alte religiöse Rechte, zum legalistischen Flügel gehörig; das Prosperity Gospel und die Independent Network Christians (INC), eher zum charismatischen.25 Das Büro ist von doppeltem Nutzen. Es gibt den religiösen Akteuren die Möglichkeit, ihr symbolisches Kapital zu stärken, indem sie sich über das Weiße Haus identifizieren können und damit offene Türen haben, um ihre eigenen Ministries voranzubringen. Zugleich hat Trump dadurch einen Vorteil, dass die Religiösen seine Politik zu 100 % unterstützen (vielleicht mit leichten Abstrichen bei den Hispanics in Sachen Migration), politisch Werbung für sie machen und ihr zudem noch eine religiöse Bedeutung geben. Dementsprechend können die evangelicals Briefings mit Trump oder Vizepräsident Pence für gewogene Gäste arrangieren. Der Kubastämmige Mario Bramnick, Gründer der Gruppe »Latinos for Trump« und der »Latino Coalition for Israel«, rechnet sich dem Büro zu und ist sehr aktiv für die Verlegung der Botschaften möglichst vieler Ländern von Tel Aviv nach Jerusalem. Dazu knüpft er vor allem in Lateinamerika rechtslastige religiös-politische Netzwerke mit Politikern wie Bolsonaro und Jimmy Morales sowie nach Israel zu Netanjahu. Ihm und anderen Mitgliedern des Büros ist, so die Recherchen der Journalisten, ein interessantes Arrangement zur Unterstützung der Botschaftsinitiative Trumps gelungen. Präsident Jimmy Morales in Guatemala hatte Probleme mit der von der UNO vor einigen Jahren in Abstimmung mit einer früheren Regierung eingesetzten Kommission zur Verfolgung von Korruption (CICIG). Sein Bruder wurde wegen dieses Delikts angeklagt, und ihm selbst rückte die Sache auf den Leib. Die USA hatte CICIG aber bisher immer unterstützt. Also hat er sich von Bramnick erklären lassen, dass Trump großes Interesse daran habe, dass möglichst viele Länder ihre Botschaft in Israel nach Jerusalem verlegen. Also verlegte Morales und hatte dann freie Hand gegen die CICIG, die ihre Arbeit niederlegen musste. Michelle Bachmann von der inzwischen leblosen Tea Party und evangelikales Mitglied des Büros hat in Brasilien ihren »friends« per Videobotschaft (und gesetzwidrig) geraten, den Kandidaten zu 25
Zum Folgenden Fea 2020, 115ff.
5 Militärisch-spiritueller Krieg
wählen, der die Botschaft verlegen will. Bolsonaro wollte, kann aber nicht, weil die brasilianischen Militärs dagegen sind. »Faith and Opportunity« bezeichnen also die Tätigkeiten dieser Regierungseinrichtung ziemlich genau. Neben dem mehr oder weniger offiziellen Büro hat es Pastor Ralph Drollinger geschafft, seine »Capitol Ministries« gewissermaßen als Epiphyten an den Regierungsstellen in Washington anzulagern. Auch dazu das RechercheKollektiv: Drollinger hat einen schlechten Ruf unter Geistlichen. Aus seiner früheren Organisation ist er mit überwältigendem Mehrheitsbeschluss seiner Kollegen wegen Untauglichkeit zum geistlichen Amt, Autokratie und finanziellen Unregelmäßigkeiten – dem Üblichen also – herausgeflogen. Aber Drollinger wurde von Jeff Sessions – dem späteren Verteidigungsminister – 2016 Trump vorgestellt und hat ihn im Wahlkampf unterstützt. Dazu hat er sogar explizite religiöse Wahlwerbung unter Namensnennung Trumps betrieben und sich somit für Trump strafbar gemacht. Die Loyalität wurde belohnt mit einer Sonderstellung für Drollingers »Capitol Ministries« im politischen Gebets-Lobbying. Er und seine Leute haben jetzt die Hegemonie über die (offiziösen) Gebetskreise im Weißen Haus, im Senat und im Abgeordnetenhaus. Drollinger geht mit einer, auch auf seiner Website leicht identifizierbaren, ultrarechten Glaubenslehre ans Werk. Ökologie sei eine falsche Religion; illegale Migranten müssten ins Gefängnis und deportiert werden; der Zorn Gottes falle auf die gleichgeschlechtliche Ehe; Sünden würden bestraft; und die Todesstrafe sei eine biblische Wohltat. Capitol wird bei Drollinger zu Kapital, indem er seine Positionierung als White House Bible teacher zur Vergrößerung seiner Ministries nutzt. In Lateinamerika ist er dabei, internationale Zweige seiner Ministries in dortigen Präsidentenpalästen und Parlamenten zu verankern.26 Er hat zunächst folgende Länder auf dem Programm: México, Honduras, Brasilien, Perú, Uruguay, Ecuador, Paraguay, Costa Rica und Panama. Besonders interessant ist, dass Nicaragua zwar nicht im Programm stand, sondern Präsident Ortega sich selbst gemeldet hat. Der Präsident hat ihn eingeladen, auf der 40-Jahr-Feier der sandinistischen Revolution im Juli 2019 zu reden. Ortega, der wegen Menschenrechtsverletzungen stark unter Druck steht, hat im Einladungsschreiben27 geschrieben, er wisse, dass »born again«-Regierende mit der Bibel regieren würden. Drollinger dankte es ihm,
26 27
Über Capitol Ministries alias »Parlamento y Fe« in Argentinien siehe Carbonelli 2014. »Nicaragua President to CM: Come Establish Bible Studies to National Leaders!« 2019. Capitol Ministries. 13. Juli 2019. https://capmin.org/nicaragua-president-to-cm-comeestablish-bible-studies-to-national-leaders/ (abgerufen am 12.11.2019).
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indem er in seiner Rede (Drollinger 2019) nur von Friede, Liebe und Geduld sprach – genau das, was Ortega zur Demobilisierung der Bevölkerung gerade braucht und worauf er durch Kooptation viele protestantische Führer schon einschwören konnte. Mit dem honduranischen Präsidenten Juan Hernández – derzeit unter Verdacht des Drogenhandels – ist Drollinger bereits gut im Geschäft. Dazu haben zwei US-Regierungsmitglieder beigetragen. Der Vizepräsident Mike Pence und der Außenminister und Ex-CIADirektor Mike Pompeo sind beide gläubige Evangelikale und wohl auch Bibelschüler von Drollinger. Zusammen mit Mitgliedern von Trumps Court haben sie schon 2018 Hernández dazu gedrängt, in seinen Institutionen Capitol Ministries fürs Geistliche zu installieren. Diese Vermischung von Politik und Religion liegt offensichtlich in der Tradition der politischen Denker seit John Winthrop, »die Metaphern mit der Realität verwechseln« und dem Irrglauben anhängen, dass die »Stadt auf dem Hügel das Recht hätte (…), die Geschicke der Welt zu kontrollieren« (Williams 1984, 185). Es könnte auch umgekehrt sein. Dann wäre die Stadt auf dem Berge keine Metapher, sondern eine Metonymie: Sie stünde, pars pro toto, für den ganzen Rest des Herrschaftssystems. Dann würden US-Politiker die Pilgrim-Religion nutzen, um in aller Welt ihren Herrschaftsanspruch überhaupt erst plausibel zu machen. Dann wäre das Programm von Capitol Ministries für diese Politiker noch attraktiver: »Making Disciples of Jesus Christ in the Political Arena throughout the World« (»Capitol Ministries« o.J.). Etwas Ähnliches nehmen sich auch einige der lateinamerikanischen Migranten vor, nur anders herum in den USA.
6 Neues Millennium: Prosperity und Migration
Das neue Millennium ist eingetreten, allerdings ganz anders als viele Gläubige es erwartet hatten: ganz unspektakulär als eine simple Jahreswende. Freilich hat sich zwischen den 1980ern und heute Einiges geändert, auch im Hinblick auf die Arten und Weisen der Verflechtung. Für die religiöse Praxis dürfte die Durchsetzung neoliberaler Hegemonie in Wirtschaft und Gesellschaft von großer Bedeutung sein, insofern als dadurch eine breite Plausibilität für die prosperity-Doktrin und religiöse Selbstoptimierungsstrategien entsteht. Zudem gewinnt für die religiöse Verflechtung der Süden eine immer stärkere Dynamik. Wir werden uns in diesem Kapitel auf Mexiko und Kalifornien konzentrieren, aber vorher einen Blick auf den Zusammenhang zwischen Neoliberalismus und prosperity-Doktrin werfen.
6.1
Neoliberalismus und Prosperity
Nach dem Ende des Ost-West-Konflikts und dem Ende vieler Diktaturen in Lateinamerika setzt eine Entwicklung hin zu einer immer stärkeren Hegemonie neoliberaler Wirtschafts- und Gesellschaftsorganisation ein.1 Die politische und militärische Polarisierung in lateinamerikanischen Gesellschaften sowie der Kalte Krieg zwischen den USA und der Sowjetunion weichen einer weniger sichtbaren wirtschaftlichen Polarisierung in zunehmend reiche und zunehmend abgehängte gesellschaftliche Sektoren unter dem Schirm neoliberaler Hegemonie. Es steigen neue wirtschaftliche Gewinner in Finanzen und Technokratie auf. Eine neue Mittelschicht im Dienstleistungssektor bildet sich heraus, wenn auch unter prekären Bedingungen. Die alte Mittelschicht im Beamtenapparat und der lokalen mittelständischen und kleinen
1
Für Zentralamerika vgl. Schäfer, Reu und Tovar Simoncic 2013.
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Industrie kommt zunehmend unter Konkurrenzdruck. Die ohnehin marginalisierten unteren Klassen werden immer stärker in den informellen Sektor abgedrängt; die Jugendlichen in die Bandenkriminalität. Und in nahezu allen Schichten gewinnt die Drogenkriminalität eine größere wirtschaftliche Bedeutung. In den USA finden ähnliche Prozesse statt, wenn auch auf einem deutlich höheren wirtschaftlichen Gesamtniveau. Makrosoziologisch lässt sich somit der Wandel von einer starken politischen und militärischen Polarisierung zwischen mehr oder weniger organisierten gesellschaftlichen Blöcken zu einer unscharfen Gemengelage mit sehr unterschiedlichen Zukunftsperspektiven für die verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen feststellen. Vor allem werden in Lateinamerika Potenziale gesellschaftlicher Organisation von unten – Gewerkschaften, sozialistische Parteien, Bauernorganisationen – zurückgedrängt gegenüber der neoliberalen Logik des individuellen Aufstiegs. In den USA ist der Individualismus ohnehin schon lange etabliert und braucht vom Neoliberalismus nur überformt zu werden. Mikrosoziologisch lässt sich sagen, dass der alternativlose individuelle Aufstiegskampf die Wahrnehmung der Gesellschaftsstruktur und der Chancen auf (Über-)Lebensmöglichkeiten stark verändert hat. Die mexikanische Theologin Elsa Támez spricht von einer Logik des »Rette sich, wer kann!« (sálvese quien pueda). Das Ziel bei unübersichtlichen Desintegrationsprozessen ist die Integration des eigenen Lebens, vor allem der wirtschaftlichen Tätigkeit und der Stabilität familiärer Strukturen. Für die religiöse Praxis hat der Übergang von der politischen Polarisierung zum dominanten Neoliberalismus insbesondere in der aufsteigenden Mittelschicht und der technokratischen Oberschicht (weniger bei der Landoligarchie oder auch bei Geldaristokratie Neu Englands) bemerkenswerte Folgen. Die dualistischen Theorien des Kampfes Gottes gegen den Teufel verloren tendenziell an Bedeutung. In den USA, in denen schon seit der Zeit der Pilgrims ein mehr oder weniger paranoider Blick auf das Fremde üblich ist (Williams 1984, 205, 208), werden der Satan und seine territorial demons schon sehr bald nach dem Ende der Sowjetunion nach Süden in die Gebiete des Islams umquartiert. Der wünschenswerte äußere Feind bleibt also erhalten. Außerdem schwingt vor allem in der Formation Management die Dämonologie in der dominion-Doktrin mit, in der es ja um die Eroberung unterschiedlicher gesellschaftlicher Felder aus den Händen der Gottlosen (und damit je nach Belieben auch von Dämonen) geht. Zugleich rückt das prosperity Gospel ins Zentrum des religiösen Interesses. In Lateinamerika wandert die Disposition, Dämonen zu bekämpfen, im Netz der religiösen Dispositionen aus dem Zen-
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trum, bleibt aber im Zusammenhang der dominion-Doktrin aktiv. Religiöse Akteure sind somit vor allem mit Selbstoptimierung und »positive thinking« beschäftigt, um sich systemkonform zu machen und an das Wunderhorn des neoliberalen Kapitalismus heranzureichen. »Smile or die!« (Ehrenreich 2010) ist die Devise der Management-Religiosität moderner Neopentekostaler in den USA und in Lateinamerika. Das Heilsversprechen ist »diesseitig«, wie Max Weber sagen würde. Letztlich ist es der ökonomische Erfolg. Während die aktuelle wirtschaftliche Entwicklung traditionelle gesellschaftliche Strukturen in Frage stellt, ermöglicht die Umpolung des religiösen Interesses auf materiellen Erfolg eine Zurichtung der Habitūs auf die neue Form der Reproduktion. Das hat schon Weber gesehen. »Kapitalistischer Erfolg eines Zunftgenossen zersetzte den Zunftgeist – wie es in England und Frankreich geschah – und war perhorresziert. Kapitalistischer Erfolg eines Sektenbruders war – wenn rechtlich errungen – ein Beweis von dessen Bewährung und Begnadung, hob das Prestige und die Propagandachancen der Sekte und war deshalb gern gesehen.« (Weber 1988a, 236) Etwas gewandelt gegenüber Webers Eindrücken haben sich die Parameter des Erfolges im Vergleich zu anderen »Sektenbrüdern«. War bei Weber noch das Zusammenspiel zwischen einer Bewährung durch »Sittenzucht« (227) in der Gemeinde und einer Bestätigung des eigenen »Selbstgefühls« (215) durch Aufnahme in einen kapitalistischen Club für den Gesamterfolg der religiösen Strategie entscheidend, so sind es heute einfach der ökonomische Erfolg des Individuums und der quantitative Erfolg des Predigers in Mitgliederzahlen. Die heutigen Megakirchen funktionieren nicht über die exklusive Zulassung von »Würdigen« (226), sondern über die pure Masse der Spender und über die Investition des so generierten monetären Kapitals in Wirtschaftsunternehmen – bevorzugt im Bereich der Medien, aber auch Immobilien und Vieles mehr, was sich in Panama verstecken lässt. Und mit dieser Entwicklung ist auch das alte christliche Kriterium des wirtschaftlichen Erfolges verabschiedet: Die Befriedigung der Bedürfnisse als Indikator des »Genug« ist dem neidvollen Vergleich mit dem Nachbarn gewichen. Es kann kein »Genug« geben, wenn es jemanden gibt, der mehr hat. Die religiöse Praxis in der Formation Management ist selbst zum Business mit ins Unendliche projizierter Kapitalakkumulation und -zentralisation geworden.
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Die dominion-Doktrin überträgt diese Logik der funktionalen Verbindung von Religiosität und Ökonomie auf die Politik.2 Indem behauptet wird, dass das Christentum – genauer: die eigene religiöse Meinung – die Kompetenz und das Recht habe, Staatsgeschäfte zu führen, wird eine Re-Sakralisierung von Politik betrieben. Dies lässt sich in den USA in den Zeiten der Präsidenten Ronald Reagan, George W. Bush und – in Gestalt der Court Evangelicals – auch Donald Trump beobachten. In Lateinamerika gibt es entsprechende Versuche vor allem in Brasilien und Guatemala, aber auch in anderen Ländern. Von religiösen Strategien und Diskursen wird auf genuin fundamentalistische Weise Allgemeingültigkeit postuliert; und es wird versucht, die religiöse Logik den politischen Institutionen aufzuprägen. In der Mittel- und Unterschicht sind ein verzweifelter Individualismus und die Selbstbeschuldigung für ausbleibenden wirtschaftlichen Erfolg weit verbreitet. Im Zentrum der religiösen Praxis steht freilich das Realisierbare: die Stabilisierung der Familie und die Forderung nach Recht und Ordnung. Die »natürliche« und »von Gott gewollte« bürgerliche Kleinfamilie fungiert sozial als letztes Refugium und wird religiös als göttliche Pflicht und Gnade verstanden. (Dies erklärt zum Teil die harsch ablehnende Haltung gegenüber der LGBT-Bewegung.) Die Gläubigen verbinden ihren Wunsch nach familiärer Stabilität eng mit der Rede von »Gott«. »Gott« legitimiert die eigene Sehnsucht. »Gott« hat die Familie geschaffen. »Gott« hat ein Gesetz, das genau das sagt, was man selbst wünschen kann. »Gott« ist – aus semiotischer Perspektive – ein »leerer Signifikant« (Levi-Strauss, Laclau), der letztendlich nur besagt: »Was ich gerade gesagt habe, steht unumstößlich fest.« Das ist eine Menge, wenn man sich klarmacht, dass es in den sich desintegrierenden Lebenswelten der meisten Menschen in der Unterschicht und unteren Mittelschicht der USA und Lateinamerikas sonst kaum eine Gewissheit gibt. Zur Veränderung der Gesamtbedingungen gehört auch eine extreme Verbesserung der Kommunikationsbedingungen, wenn auch nicht der Reisefreiheit. Die hier genannten Faktoren zusammengenommen, haben sich auch die Bedingungen für religiöse Verflechtungen zwischen Lateinamerika und den USA zum Teil verändert.
2
Für den Zusammenhang von Religion und Politik vgl. Schäfer 2020b.
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6.2
Kleiner Grenzverkehr
Wenn auch missionarische Aktivitäten aus den USA nach Lateinamerika weiterhin aktuell sind, wird für die heutige Verflechtungsdynamik die Praxis lateinamerikanischer Akteure in den USA wichtiger. Diese hat eine Vorgeschichte, die mindestens bis 1848 rückreicht, als die USA große Teile des mexikanischen Territoriums annektiert haben. Im Laufe der nächsten 150 Jahre wechseln sich Einwanderungs- mit Deportationswellen ab. Katholiken: Die meisten der spanischsprachigen Bewohner der USA sind katholisch. Viele von ihnen importieren einen ritualistischen Katholizismus, der um Marien- und Heiligenverehrung kreist. Die Zahl der Heiligenschreine in den Wohngebieten dieser Menschen nimmt zu, und es kommt zu Konflikten mit Bischöfen der orthodoxen Vatikan-II-Linie. Man kann allerdings zwischen unterschiedlichen Typen von katholischen Einwanderern unterscheiden. Die Soziologin Olga Odgers vom Colegio de la Frontera Norte (COLEF) in Tijuana bildet für Los Angeles drei unterschiedliche katholische Einwanderertypen, entsprechend dem Organisationsgrad der Kirche im Herkunftsgebiet.3 Zacatecas ist in Mexiko stark in die katholische Hierarchie integriert. Die Einwanderer von dort besuchen in den USA mehrheitlich gängige katholische Gemeinden. In Veracruz ist der Katholizismus schlecht integriert und die religiöse Diversität mit Protestanten und magischen Kulten weit fortgeschritten. Diese Migranten tendieren mit der Migration zum Übertritt in verschiedenste religiöse Angebote, seien es hispanische oder koreanische Pfingstler oder auch Mormonen. Der Katholizismus in Oaxaca hingegen hat eine stark indigene Prägung. Unter den Einwanderern aus dieser Region zeigt sich weiterhin ein starker regionaler Zusammenhalt, der sich durch kollektive Feiern und die Einrichtung von Kultstätten heimischer Heiliger in den USA manifestiert. In dieser Variante dient die religiöse Praxis auch dazu, die grenzüberschreitenden Beziehungen zu den Heimatländern aufrecht zu erhalten. So wurde etwa die Verehrung einer Jungfrau Maria aus San Juan de los Lagos (Jalisco) in San Juan (Texas) weitergeführt (vgl. Vasquez und Marquardt 2003, 145ff.). Die Migrationsforscherin Liliana Rivera vom Colegio de México berichtet im Interview4 beispielsweise von einer regional gebundenen Gemeinschaft in New Jersey, die vom heimischen Heiligen ein Duplikat 3 4
Alarcon, Escala und Odgers 2016, 151ff., und Olga Odgers im Gespräch in Bielefeld, 6.12.2016. Mexiko, 26.10.2016.
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hat fertigen und segnen lassen, um die Heiligenfigur dann auf einem eigenen Sitzplatz im Flugzeug in die USA reisen zu lassen. Im Laufe der Zeit verlagert sich aufgrund der immer weiter zunehmenden Präsenz lateinamerikanischer Katholiken der demografische Schwerpunkt des Katholizismus in den USA von Rhode Island in den Südwesten.5 Und langsam findet der hispanische Katholizismus auch Anerkennung. Ein architektonischer Beweis dafür ist die 2002 errichtete »Kathedrale Unserer Lieben Frau von den Engeln« in Los Angeles. Dieses Gebäude kann architektonisch gelesen werden als »kompensatorische Geste der US-amerikanischen Kriche gegenüber ethnischen und nationalen Katholiken« und als »Emblem einer pluralistischen Visison des USamerikanischen Katholizismus« (Lint 2009, 69). Die kulturelle Universalität der Mutterfigur schafft hier eine symbolische Einheit und lässt dabei die kulturelle Unterschiedenheit weiter bestehen. Auf dem Portal der Kirche sind von einem mexikanischen Künstler 15 verschiedene Mariendarstellungen aus der ganzen Welt versammelt worden. Der Katholizismus überholt regionalistische Tendenzen von hüben und drüben der Grenze mit universalistischer Organisation und Habitus. Spontane Verflechtung mit ihren Reibungen und Widersprüchen wird von einer supranationalen hierarchischen Institution reguliert und eingehegt. Bei aller Universalität der Pfingstbewegung sind die Aktionen jeder einzelnen Kirche – anders die transnationalen Religionsunternehmen! – eher am kleinen Grenzverkehr orientiert. Pfingstler: Die Borderlands zwischen den USA und Mexiko sind ein Mikrokosmos der Verflechtung nicht nur für Katholiken. Und in der Tat findet sich eine spezifische Verflechtung religiöser Praxisformen der Pfingstbewegung an der gesellschaftlichen Basis. Sie wird geleistet von Migranten, die zu Missionaren und Kirchengründern werden; und damit – im Sinne Clara Buitragos – von migrants zu expatriates. Das Zentralbeispiel für diese Entwicklung ist die Geschichte der Iglesia Apostólica de la Fe en Cristo Jesús (IAFCJ).6 Die Kirche entsteht aus einer direkten Wirkung des berühmten Azusa Street Revivals 1906 auf mexikanische Einwanderer in »Sonoratown« im nördlichen Zentrum 5 6
Zwischen 1970 und 2016 wuchs die Latino-Bevölkerung von 9,6 auf 57,5 Millionen Menschen (Flores 2017b, 1). Im Folgenden greife ich auf historische Arbeiten von Mitgliedern der Kirche zurück, vor allem auf die hervorragende Monografie von Daniel Ramirez (2015) sowie auf verschiedene Beiträge in Torres Alvarado (2014): Castillo Hernández 2014; Chiquete Beltrán 2014; Bustillos Almendáriz 2014; López Torres 2014; 1999. Zudem auf ein Interview mit Samuel López Torres vom 1.11.2016.
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von Los Angeles und anderen Gegenden an der südlichen Grenze der USA. Die Erfahrung des Sprechens in engelsgleicher Sprache (Glossolalie) und des Offenbarungsempfangs ließ einige der subalternen mexikanischen Arbeiter ihre Berufung darin sehen, neue Gemeinden mit dieser Frömmigkeitsform in den USA sowie in Mexiko zu gründen. Unter einer Anzahl von ca. 10 Personen, die in der frühen Zeit die mexikanische Mission von US-amerikanischem auf mexikanischen Boden vorantrieben, gilt eine Frau als besondere Ikone: Romana Carbajal de Valenzuela. Sie trägt stark zur Dynamik und zur religiösen Orientierung der Bewegung bei. Die Arbeit der pfingstlichen Missionare in »El Norte« – dem nördlichen Grenzland Mexikos – wird durch die mexikanische Revolution begünstigt. US-amerikanische Missionare der Methodisten beispielsweise verlassen das Land, während sich mexikanische Evangelisten wie etwa Antonio Nava an der Autorität und Authentizität von Revolutionsführern wie Pancho Villa orientieren und in Zeiten der Revolution den methodistischen Gemeinden eine pfingstliche Alternative anbieten. Die ersten Aktivitäten außerhalb der USA richten sich auf Villa Aldama (Chihuahua) Torreón (Coahuila) und Gómez Palacio (Durango); die ersten festen Gemeinden werden in Mexicali/Calexico (Baja California Norte) und Santa Rosalía (BC Sur) gegründet (bei ca. 30 Gemeinden in den USA). Für die Mobilisierung und Organisation einer religiösen Bewegung sind identitätsbildende Differenzen unumgänglich. Die Glossolalie reicht gegenüber historisch-protestantischen Kirchen, nicht aber gegen große (weiße) Konkurrenten wie die Assemblies of God. Also entsteht auf den Zusammenkünften der führenden Köpfe – nicht zuletzt durch das Insistieren von Romana Carbajal – die Idee, die theologische Theorie der Unizität (Oneness) Gottes statt seiner Trinität (wie sonst gelehrt) zu übernehmen; im Grunde eine strikte Übernahme des jüdischen Monotheismus ins Christentum mit der feinen Differenz, dass Jesus die einzige göttliche Person sei. Da dies in der nicht-trinitarischen Taufformel gefasst wird, ist es ein praktisches religiöses Detail, das bis heute die Stabilität der Zugehörigkeit getaufter Mitglieder zur Gruppe stärkt. In den 1920er Jahren finden die ersten internationalen Zusammenkünfte von kirchlichen Aktivisten statt, die man sich weniger als business meetings denn als gottesdienstliche Veranstaltungen vorstellen sollte, die die spirituelle Verbundenheit und pfingstliche Identität betonen. Zudem sind die mexikanischen Missionare mit der afroamerikanischen Pentecostal Assemblies of the World, einer Oneness-Kirche, eng verbunden und übernehmen religiöses Material, ohne sich allerdings dieser Kirche formell anzuschließen.
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Dieser Punkt ist insofern für den Verflechtungsmodus interessant, als die afroamerikanischen Kirchen in den USA in der Regel keine Mission betrieben und sich dieser Kontakt als Solidarität zwischen Akteuren ergibt, die beide in den USA eine marginalisierte soziale Position innehaben. Allerdings ziehen es die Mexikaner auf die Dauer vor, in den USA ihre eigene Organisation zu gründen, die Apostolic Assembly of the Faith in Christ Jesus (AAFCJ, 1930). Als Migranten sind sie allerdings den sozialen Dynamiken des Ziellandes weitgehend schutzlos ausgeliefert. Im Anschluss an die Wirtschaftskrise der 1920er und 30er Jahre nimmt – wie dies häufig der Fall ist – ökonomisch motivierter Hass auf Latino-Einwanderer in den USA zu, der in ein Repatriierungsprogramm mündet. Die Zahl der mehr oder weniger »freiwillig« Deportierten schwankt, je nach Quelle, zwischen einer halben und zwei Millionen Personen. Für die Kirche sind die deportierten Pfingstler ein Segen. Sie steigern das Potenzial an Aktivisten und deren geografische Verteilung in Mexiko. Die Latino-Pfingstler aus den USA selbst kommen allerdings insofern vom Regen in die Traufe, als in Mexiko der sogenannte Cristero-Konflikt (1926-1929) zwischen Regierung und katholischen Extremisten eine Welle von Gewalt gegen Protestanten ausgelöst hat. Unter dem Strich hat die durch die Deportation eingetretene Entwicklung die mexikanische Seite der Kirche gestärkt und – mit zunehmender Institutionalisierung der Kirchen beiderseits der Grenze – eine Partnerschaft hervorgebracht. Wenn die soziale Dynamik des Ziellandes es erfordert, geht der Fluss der Migranten in die andere Richtung. Aufgrund des Bedarfs an Arbeitskräften durch den Eintritt in den Zweiten Weltkrieg beschließen die USA und Mexiko 1942 das so genannte bracero-Programm, das Vertragsarbeiter in die USA bringen soll. Schon nach dem Krieg (ab 1947) aber greift die Grenzpolizei wieder hart durch und die Hilfe für illegale Einwanderer (wetbacks) wird unter Strafe gestellt. In der Folge versucht man durch eine Quotenregelung (Hart-Celler Act, 1965) und den Immigration Reform and Control Act (1986) eine klarere Unterscheidung zwischen legalen und illegalen Einwanderern. Vor diesem Hintergrund erweisen sich die Gemeinden auf beiden Seiten der Grenze als strategisch für die Begleitung der Migration und die Evangelisierung unter Migranten. Aufgrund der großen Zahl von Migranten soll 1946 im apostolischen Kirchengebäude in Tijuana ein zweites Stockwerk für Migrantenunterkünfte errichtet werden, was jedoch aus bautechnischen Gründen nicht zugelassen wird. Eine große Küche – wie sie in allen apostolischen Kirchen üblich ist (vgl. Chiquete Beltrán 2014, 367) – und die Nutzung verschiedener Räume als Schlafplätze ermöglicht dennoch die Versorgung von Migranten.
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Zugleich laden Kirchen in den USA braceros aus ihren Camps zum Essen und Evangelisiert-Werden ein. Mit dem erneuten Druck nach dem Krieg erhöht sich die Zahl der Illegalen in den apostolischen Gemeinden, die die Neuankömmlinge in der Regel nach Kräften zu schützen suchen. Zur Kommunikation und gegenseitigen Anerkennung von Kirchenmitgliedern dienen – ganz wie Weber es für die frühe USA beschreibt – Empfehlungsschreiben mit zusätzlichen Noten von Gastgemeinden. Im Blick auf die Unterstützung aller Migranten werden auch identitätsstiftende Symbole wie das Kirchenlied »La Biblia es la Bandera« (Die Bibel ist die Nationalflagge) eingesetzt. Das Lied besingt in poetischer Analogie zur US-Flagge die Pfingstler als Bürger der universalen »ewigen Stadt«. So unterwandert es – in Ramírezʼ Interpretation – die Einwanderungspolitik der USA in symbolischer Weise (131f.). Ramírez betont, dass die apostolischen Pfingstler ihr Verhalten nie als zivilen Ungehorsam aufgefasst haben, sondern als Ausdruck einer höheren, religiös legitimierten Gastfreundschaft. Diese Beobachtung trifft auch auf unsere (von Clara Buitrago und dem Autor) Studien in den Borderlands von heute zu. Es sind religiöse Dispositionen, die die Wahrnehmung, das Urteil und das Handeln dieser Gläubigen maßgeblich orientieren. Die grenzübergreifenden Beziehungen zwischen den Apostolischen in Mexiko und denen in den USA werden durch »internationale Gottesdienste«, Tagungen und gegenseitige Besuche bis heute gepflegt. Die geografische Nähe und Verwandtschaftsbeziehungen veranlassen häufige alltägliche Kontakte, wie den Besuch eines apostolischen Pastors aus Los Angeles in Tijuana, der in einem normalen Sonntagsgottesdienst als Gruß an die Gemeinde eine kleine Show neuer geistlicher Lieder im Stil Frank Sinatras aufführt. Die Nähe zwischen Apostolischen hüben und drüben sollte allerdings nicht dazu veranlassen, eine Nähe zwischen Mexikanern und USAmerikanern zu vermuten. Ein Gespräch mit einer leitenden Persönlichkeit mit US-amerikanischer Staatsangehörigkeit offenbart viele Erfahrungen der Erniedrigung in den USA, die zu einer deutlichen Ablehnung des American way of life, der sozialen Ungleichheit in den USA und des zunehmenden Einflusses US-amerikanischer Medien beigetragen haben. Zu negativen Einflüssen aus den USA rechnen Vertreter der IAFCJ insbesondere den Neopentekostalismus seit den 1980er Jahren in der oberen Mittelschicht. Castillo Hernández (2014, 76ff.) kritisiert prosperity und dominion-Doktrin (Kingdom now) sowie die Management-Ideologie. Zudem parallelisiert er die Neopentekostalen mit der Projektion der USA als Weltmacht. Nun könnte man meinen, dass die IAFCI selbst einen fundamentalistischen
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Wahrheitsanspruch stellt, da sie sich als apostolisch bezeichnet. Dem ist nicht so, denn Erstens gibt es die Tendenz, die Entwicklung der Kirche und ihrer Doktrin als einen Veränderungsprozess zu begreifen (Luque 2014, 168ff.). Zweitens gibt es keinen Apostel. Der Begriff »apostolisch« bezeichnet hier die Behauptung, dass Doktrin und Praktiken der Kirche dem entsprechen, wie es die Apostel seinerzeit festgelegt haben. Die »Apostel« des Neopentekostalismus hingegen nehmen für sich in Anspruch, sie selbst seien Apostel. Damit ist nicht gesagt, dass die IAFCJ ein liberales theologisches Profil vertritt. Doktrin und Praktiken sind vielmehr konservativ, bis dahin, dass Frauen im Gottesdienst ein Kopftuch tragen. Die konservative, typisch pfingstliche Doktrin wird allerdings kontextualisiert. Castillo stellt die Praxis seiner Kirche seit den 1990ern in den Kontext der Postmoderne, die u.a. Relativismus, Nihilismus und Konsumismus verbreite. Mit Rekurs auf den linksliberalen deutschen Theologen Jürgen Moltmann fordert Castillo, dass die Kirchen sich der Postmoderne entgegenstellen sollen. Dazu solle die lateinamerikanische Kultur als Modell für kirchliche Praxis dienen. Damit werde die Theologie der Befreiung thematisch, die kritisch überprüft werden müsse, aber Impulse geben könne. Diese bestünden vor allen Dingen in der Identifikation der Kirche mit den Marginalisierten. Dabei müsse die Kirche allerdings a-politisch bleiben, könne der Regierung aber Hinweise auf sinnvolles Handeln geben. Und schließlich müsse man sich – trotz bestimmter Kritiken – bis zu einem bestimmten Grade mit der lateinamerikanischen Volkskultur identifizieren. Kulte: Auf der Linie einer selektiven Identifikation mit der Volkskultur liegt für die Apostolischen in Tijuana auch die klare Differenzierung zwischen zwei populären Kulten. Den Kult des San Juan Soldado sehen sie mit einer gewissen Sympathie, den der Santa Muerte (Heiliger Tod) mit Ablehnung. Der Heilige Juan Soldado ist einem unschuldig zum Tode verurteilten Rekruten aus den 1940er Jahren nachempfunden und wird vielfach als wundertätiger Helfer bei der Migration verehrt. Auf dem »Panteón #1«, dem Friedhof Nummer eins, von Tijuana ist das Grab und die Stelle, an der er erschossen wurde. Der Rekrut ist für einen Mord mit Vergewaltigung verurteilt worden, welche in Wahrheit von einem seiner Vorgesetzten begangen worden war. An Allerseelen, dem Dia de los Muertos, ist der Friedhof voll mit Besuchern der Familiengräber, die auch einen Besuch mit Bittgebeten bei San Juan Soldado machen. Votivtafeln erzählen von Wundern, Schmierereien allerdings auch von frommen Gegnern. Ganz im Gegensatz dazu, erzählt mir ein ziemlich robuster sowie über und über tätowierter Mann, dass er jede Woche Blu-
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men bringe, denn der Heilige helfe seiner Familie immer wieder. Zwei augenscheinlich gut situierte Damen legen einen Strauß ab und bekreuzigen sich. Ein Taxifahrer verrät, was auch schon aus den Gesprächen mit den Apostolischen klar geworden war: ein Katholik kann problemlos zu San Juan Soldado, denn dieser sei wie Jesus unschuldig ermordet worden. Ganz anders La Flaca (die Dürre), La Santa Muerte (der Heilige Tod), die Adressatin des gleichnamigen Kultes. Dieser Kult wird von Pfingstlern und (offiziellen) Katholiken strikt als satanisch abgelehnt. Der Kult ist entstanden in den 1960er Jahren in Catemaco, Veracruz. Im Zentrum steht die Verehrung des Todes als eines Erzengels und dargestellt durch kunstvoll bekleidete Skelette. Die Orte der Verehrung irritieren nicht wenige Beobachter aufgrund der Häufung von Skeletten und einer etwas finsteren Atmosphäre. Der Vertreter des Kultes in Tijuana war nicht zu einem Gespräch bereit; der Erzbischof der Engelskirche Mexiko/USA – der offizielle Name des Kults – in Los Angeles ist freundlich und zuvorkommend. In einem kleinen Haus an der Melrose Avenue ist ein Laden mit Merchandise und eine winzige Kapelle untergebracht. Der Erzbischof ist ein lockerer Mann, der in einem Interview (10.11.2016) betont, dass der Heilige Tod den Menschen am Ende seiner Tage ins Licht geleite und während des Lebens mit allerlei Wundertaten helfe. Große Prosperität bringe er allerdings nicht, sondern helfe relativ armen Leuten im Alltäglichen. Die Leute suchen ökonomische Wunder und Schutz auf der gefährlichen Straße in den Unterschichtsvierteln. Neben der normalen Benevolenz von Heiligen liegt eine Besonderheit allerdings darin, dass La Santa auch Kriminellen helfe. Sie mache nicht, wie andere Heilige, einen Unterschied zwischen der Unterwelt der Gesetzlosen (bajo mundo) und der Welt der normalen Gesellschaft (alto mundo). Sie spendet Dieben Schutz vor der Polizei und hilft unter Umständen auch dabei, jemanden umzubringen, der es verdient hat – ganz wie im Alten Testament Gott auch den Israeliten gegen ihre Feinde helfe. Außerdem helfe sie, die Angst vor dem Tod zu verlieren. Ohne in der Analyse in die Tiefe gehen zu können, scheint es so zu sein, dass der Kult die Lebensbedingungen vieler Menschen im Angesicht von Alltagskriminalität und Krankheit gewissermaßen über eine Spiegelung reflektiert und ins Gegenteil zu verwandeln sucht. Unter manchen Existenzbedingungen ist der Tod immer nahe; man steht mit einem Fuß im Grab und in der Welt der Erfahrung siegt der Tod immer. Erfährt man das Drama des Lebens auf diese Weise, kann es plausibler sein, den Tod selbst zum Heilsbringer zu erklären anstatt ihn, wie im Christentum, durch eine Projektion ewigen Lebens religiös zu bekämpfen. Auf jeden Fall leuchtet es ein, dass der Kult der
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Santa Muerte – selbst wenn dies von seinen Erfindern nicht intendiert ist – zu einem bevorzugten Kult von Gangstern im Drogengeschäft (Narcos) geworden ist. Ein weiterer stark frequentierter Kult unter Narcos in den Borderlands ist der des Jesús Malverde mit seinem zentralen Schrein in der Hauptstadt des Sinaloa-Kartells, Culiacán. Jesús Malverde ist eine aus dem Kult für einen Banditen hervorgegangene Robin-Hood-artige Figur, die für ähnliche Aufgaben zuständig ist wie die Flaca. Jedenfalls finden sich Schreine für Malverde und die Santa Muerte entlang der Straßen in Grenznähe und sollen den Ausbreitungsrouten des Drogengeschäfts und der Migration folgen.7 In der Tat werden diese Kulte auch von politischen Akteuren in Verbindung mit dem Drogenhandel gebracht. Eine der propagandistischen Maßnahmen von Präsident Calderón (2006-2012) in seinem »Krieg gegen den Drogenhandel« war es, die besagten Schreine vom Militär zerstören zu lassen. Sehr wahrscheinlich stammte die Idee zu dieser Maßnahme von seinen Politikberatern aus dem neopentekostalen Milieu, dem Ehepaar Orozco von Casa sobre la Roca.8 In Tijuana wurde die Aktion von religiösen Akteuren ganz im Sinne der geistlichen Kriegsführung als Eroberung der Stadt aus den Klauen des Bösen unterstützt. Diese Gewaltaktion stieß jedenfalls bei meinen Gesprächspartnern aus apostolischen Kreisen auf wenig Verständnis. Das sei keine Art des Umgangs mit religiösen Akteuren, selbst wenn man sie für illegitim hält. Drogen: Die mexikanische Nordgrenze ist ohne die prägende Präsenz des Drogenhandels nicht vorstellbar. Die Kartelle durchsetzen Wirtschaft, Politik und Verwaltung. Sie bekämpfen sich untereinander um Plazas, Grenzorte für Handelsverbindungen in die USA, und ersticken damit oft über viele Monate das zivile Leben in ganzen Landstrichen unter Pulver, Blei und Blut. Nicht selten bedienen sie sich der Migranten zum Drogentransport in Rucksäcken oder indem sie junge Männer zwangsrekrutieren und zu Mördern konditionieren sowie Frauen in die Prostitution zwingen. Und sie bedienen sich der Kirchen, so dass diese sich auf unterschiedlichen Ebenen dazu verhalten müssen. Pfingstkirchen handeln selbstverständlich auf einer institutionell niedrigeren Ebene als etwa die katholische Kirche. Vieles bleibt der Kapazität des einzelnen Pastors überlassen.
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Interview Liliana Rivera, COLMEX, 26.10.2016; Manuel Valenzuela, COLEF, 3.11.2016. Genaueres in Schäfer 2019.
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In einem Seminar über Ethik im Centro Cultural Mexicano, der Ausbildungsstätte der apostolischen Kirche in Tepito, einem Unterschichtsviertel von Mexiko-Stadt, habe ich Ende der 1990er Jahre von teilnehmenden Pastoren das folgende ethische Problem als alltagsrelevant dargestellt bekommen. Nicht wenige Pastoren von Gemeinden nahe der Grenze bekommen Besuche von Vertretern irgendeines Kartells, die das Angebot »plata o plomo« machen: Geld oder Blei. In der Regel wurden damals 1.000 Dollar pro Monat geboten – so die Pastoren –, wenn sie zuließen, dass unter ihrem Kirchengebäude ein Drogendepot angelegt würde. Das Geld könne nach Belieben für die Gemeinde, die Familie oder für sonst irgendetwas verwendet werden. Falls der Pastor aber nicht zustimme, gäbe es Blei. Natürlich konnten wir das Problem verantwortungsethisch diskutieren, aber verbessern konnte dies die prekäre praktische Lage der Pastoren nicht. Die Nützlichkeit pfingstlicher Kirchen zur Tarnung krimineller Aktivitäten ist von Drogenkartellen längst zur Kenntnis genommen und in eigene Strategien umgesetzt worden. Es gibt mittlerweile ganze Denominationen, Netzwerke von Gemeinden, die als Infrastruktur für den Drogenhandel funktionieren, die Narco-iglesias. In einem Dorf im westlichen Hochland Guatemalas gibt es beispielsweise eine solche Gruppierung. Es ist die einzige Gemeinde, in der der Pastor ein Gehalt von der Zentrale bekommt und die Mitglieder des Kirchenchores ein Honorar. Vor einigen Jahren hatte der Pastor genug von dieser Tätigkeit, wusste aber zu viel. Seine Tochter studierte in einer Provinzstadt. Als er gewissermaßen seine Kündigung einreichte, wurde sie abgelehnt und zur Bekräftigung wurde das Mädchen ermordet. Für eine andere Form der Verwicklung in Drogenkriminalität sind neopentekostale Megakirchen gewissermaßen prädestiniert. Mit dem immensen Spendenaufkommen, das in den meisten Fällen – nicht aber in Mexiko – ohne jede Kontrolle verwaltet werden kann, eignen sich diese Organisationen perfekt zur Geldwäsche.9 Entsprechende Untersuchungen (zuletzt bei der Casa de Dios in Guatemala, 2018) werden immer wieder von staatlichen Stellen durchgeführt. Die Präsenz der Drogenmafia ist auch in anderer Hinsicht für einige Pfingstkirchen höchst ambivalent. In Städten, in denen die Familien von höheren Funktionsträgern der Kartelle wohnen, kommt es nicht selten vor, dass deren Frauen und Kinder Pfingstkirchen frequentieren und nebenbei die Arbeit der Gemeinden finanziell stark fördern. Was solle er tun, fragte 9
Einen guten Überblick bietet De Sanctis 2015.
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mich ein Pastor einer solchen Gemeinde, sie etwa hinauswerfen oder sie beleidigen, indem er das Geld für die Gemeinde ablehnt? Und schließlich gibt es auf Gemeindeebene protestantische Initiativen für den Exit ohne Exitus von Bandenmitgliedern. Diese Praxis ist in ganz Lateinamerika verbreitet. Sozial gut verankerte Gemeinden bzw. einzelne Aktivisten nehmen Austrittswillige auf, bekehren sie und machen sie zu Gemeindegliedern, Den Banden garantieren sie, dass die Konvertiten nicht zu anderen Banden überlaufen, sondern sich hinfort in der Kirche engagieren. Diese Aktivitäten finden auf unterschiedlicher Ebene statt, bis hinauf in die höheren Etagen der Kartelle. Einen nicht sehr gewöhnlichen Fall hat Pastor Rivera von der Apostolischen Kirche in Tijuana erlebt.10 Einige Jahre vor unserem Interview wird er wegen eines Termins für ein Seelsorgegespräch angerufen. Pünktlich zum Termin erscheint ein elegant gekleideter Mann in seinem einfachen Büro im etwas zerschlissenen Kirchengebäude. Der Mann legt dar, dass psychologischer Rat ihm nicht hatte helfen können. Er könne nicht mehr schlafen, sei extrem nervös und habe nichts als Streit mit seiner Familie. Er wolle endlich Frieden. Dem Pastor bietet er eine hohe Summe Geldes für eine erfolgreiche Behandlung an. Dieser wittert aus dem gesamten Setting, dass der Mann mit Drogenhandel zu tun hat. Er konfrontiert ihn und bietet ihm einen Seelsorgeprozess zu Bedingungen. Eine davon ist, dass er kein Geld nimmt, weder für sich noch als Spende für die Kirche. Der Mann solle auch nicht zum Gottesdienst kommen. (Vermutlich hätte das angesichts der sozialen Position der Mitglieder ohnehin eher zu Irritation geführt.) Vielmehr wolle der Pastor mit ihm in seinem Zuhause arbeiten. Es beginnt ein Prozess von vier Jahren Dauer, in dem der Pastor auch die Frau und die Tochter kennenlernt. Zunächst führt er den Mann an religiöse Reflexion und rudimentäre religiöse Praktiken heran: Gebet und Handauflegung. Dann bezieht er die Frau und die Tochter in die Gespräche ein. Ein erstes Hindernis war der Altar der Santa Muerte (»Lassen Sie das ›Santa‹ weg, wenn Sie davon reden! Es ist einfach nur der Tod.«) im Zimmer der Tochter. Dieser musste im Laufe der Zeit entfernt werden. (Von Widerständen erzählt er nichts.) Es stellt sich mit der Zeit heraus, dass der Mann einen hohen Rang als Funktionär im regionalen Drogenkartell bekleidet und aus seinen Mafiageschäften u.a. eine Firmenkette besitzt. Der Pastor macht ihm klar, dass er nur Frieden finden könne, wenn er bereue, sich von allem illegitimen Besitz befreie und seine Tätigkeit im Kartell 10
Interview Pastor Rivera, IAFCJ, 4.11.2016, Tijuana.
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niederlege. Das sei das größte Hindernis gewesen, denn damit habe er sich gegen das Kartell gestellt. Nach ersten Gesprächen mit dem Chef des Kartells habe das Kartell über zwei Jahre intensive Nachforschungen über das Leben des Mannes und das des Pastors angestellt. Weitere Gespräche mit dem Chef folgen. Der Funktionär gibt sein gesamtes Vermögen an das Kartell zurück und dokumentiert penibel die Übergabe. Ihm verbleibt nichts als eine kleine Wohnung, die seiner Familie schon lange gehörte. Heute arbeitet er in einem zivilen Beruf, geht nicht zur apostolischen Gemeinde des Pastors und kann wieder ruhig schlafen. Fazit des Pastors: Ein Mitglied für die Gemeinde zu finden, ist nicht der springende Punkt. Es kommt darauf an, mit Gott eine Änderung des Lebens zu finden. Aus soziologischer Perspektive wird hier deutlich, dass Konversion noch andere Aspekte hat als Proselytenmacherei. Für die gläubig Gewordenen eröffnet sie eine neue Perspektive auf sich selbst und die eigenen Möglichkeiten. Anders gesagt, sie erzeugt Mut. »Alles ist möglich dem, der glaubt« (Markus 9,23) – auch das Überwinden des Grenzzaunes, der die Borderlands zerschneidet. Ob damit das gelobte Land erreicht ist, bleibt zunächst einmal offen.
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Gelobtes Land?
Während die USA für die Pilgrims das gelobte Land gewesen sind und es für manche White Anglo-Saxon Protestants es auch heute noch bleiben, darf man bei Einwanderern und Saisonarbeitern aus Lateinamerika von profaneren Einschätzungen ausgehen. Die USA ist für Arbeitsmigranten ein Ort, wo man Arbeit findet und sich dann, sofern man es schafft sich zu legalisieren, in einer Latino-Community auf »Spanglish« ein Leben aufbaut. Für Flüchtende in den 1980er Jahren bieten Menschen der Sanctuary-Bewegung in den USA Schutz vor den Kriegen in Zentralamerika, die zum großen Teil von der Regierung der USA befeuert werden. Seither ist die Sanctuary-Bewegung eng mit den ökumenisch orientierten Kirchen des National Council of Churches verbunden. Die Riverside Church in New York mit Pastor Coffin war eine wichtige Sanctuary-Gemeinde; sie liegt um die Ecke des Interchurch Centers – der so genannten God Box –, in dem der NCC und einige seiner Mitgliedskirchen ihren Sitz haben. Noch heute sind diese Akteure und mittlerweile auch ganze Städte aktiv darin, Menschen, die vor den Folgen eines autoritären Neoliberalismus aus Lateinamerika fliehen, Schutz zu geben. Und noch heute sind sie Gegenstand von Angriffen aus der religiösen Rechten. Der religiös-politi-
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sche Kampf in den USA um inklusive oder exklusive Konzeption des Heils ist keineswegs beigelegt. Je mehr die weißen Evangelikalen ihren Anteil an der Bevölkerung schwinden sehen, umso stärker werden Fremde als Gefahr begriffen. Und je stärker die objektiven Verflechtungen werden, umso schärfer wird die Angst vor Verflechtung. Für Franklin Graham sind Sanctuary-Orte »just a little picture of Hell«, ein »kleines Abbild der Hölle« (vgl. Smith 2018). Für Menschen wie Mr. Graham, die national und international nur mit dem Flugzeug unterwegs sind und deren Einbildungskraft gerade für ihre eigene religiöse Symbolik hinreicht, wird es vermutlich immer uneinsichtig bleiben, dass illegale Migranten den Grenzzaun, die Wüsten diesseits und jenseits dessen und die Auffanglager der Grenzpolizei als eine sehr konkrete Hölle erfahren. Durch die Wüste ins gelobte Land: Für Francisco Quiacaín – einen alten Bekannten – trifft dies zu.11 Er wurde in den 1950ern geboren, lebt als Maya in einem Hochlanddorf in Guatemala und steht den Krieg als Diakon in einer Gemeinde der Asambleas de Dios durch. Zunächst schlägt er sich in der Hauptstadt mit verschiedenen Gelegenheitsarbeiten durch. Zurück in seinem Dorf arbeitet er zunächst als Landarbeiter und entwickelt eine eigenwillige Geschäftsidee. Mit einem kleinen Handkarren zum ambulanten Verkauf von Speiseeis kommt er mehr schlecht als recht über die Runden. Immerhin kann er heiraten und mit Magdalena, der er heute immer noch treu ist, 5 Kinder bekommen. Nach dem Krieg engagiert er sich in seinem Dorf für den Umweltschutz (Verbot von Plastik) und kommentiert Sport und Umwelt in einem Piratensender. Außerdem wechselt er von den Asambleas zu einer indigenen Pfingstkirche. Sein Engagement dort als Sänger, Akkordeonist und Organisator bringt ihm Prestige und vertieft seinen asketischen Habitus und Glauben daran, dass jeder Schritt, den einer tut, in irgendeiner geheimnisvollen Weise von Gott abhängt. Er baut auf einem kleinen Grundstück der Familie ein Haus. Die wirtschaftliche Lage verschlechtert sich, und eine hoffnungslose Verschuldung droht. Also zieht er in Erwägung, in die USA zu gehen. Er redet mit seiner Familie, und sie beschließen, ein Zeichen des Willens Gottes abzuwarten. Die illegale Reise in die USA sollte ca. 2500 Dollar kosten. Wenn man diese Summe leihen könne, wäre es der Wille Gottes, wenn nicht, dann nicht.
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Er war einer unserer Informanten in unseren Feldforschungen in den 1980er Jahren und im Projekt von Clara Buitrago (2014) sowie in einer eigenen Feldforschung in Los Angeles, 2016. Hier ein Interview von Clara Buitrago, 02.06.14, Los Angeles, und ein eigenes Interview mit ihm, 10.11.2016, Los Angeles.
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Das Geld kommt, und am 10.8.2004 bricht Francisco auf, dem Willen Gottes zu folgen. Die Reise ist weniger gefährlich als derselbe Weg heute, denn die Drogenkartelle – insbesondere die Zetas – hatten die Flüchtlinge noch nicht als leichte Beute für Raub, Erpressung und Entführung entdeckt. Der größte Teil der Reise ist von mexikanischen Schleppern organisiert. In Güterwagen des berüchtigten Flüchtlingszuges La Bestia, in Autos, in Autobussen und zu Fuß geht die Reise bis in die Wüste von Sonora in Grenznähe, von wo ein mühevoller Marsch zum Grenzzaun und in die Wüste von Arizona beginnt. Das Wasser geht aus. Die Lage wird schwierig. Auf der US-amerikanischen Seite werden sie in einiger Distanz von der Grenze von Schleppern aufgenommen und in einem geschlossenen Lastwagen weiter verfrachtet. Die Luft geht aus und sie kämpfen um Sauerstoff. Im letzten Moment – »in zwanzig Minuten wäre es soweit gewesen« – kommt der Wagen an sein Ziel. Für Francisco geht das alles nur, weil Gott mitgeht. In seiner Schilderung des Weges spielt das gemeinsame Gebet in der Gruppe von Migranten die entscheidende Rolle. Eine genaue Analyse der Praxis von pfingstlichen Migranten in Los Angeles belegt die Bedeutung religiöser Überzeugungen für die Verflechtung pfingstlicher Migranten mit der Gesellschaft in den USA. Aber die USA selber wird nicht religiös konnotiert. Sie bietet einfach eine gute Gelegenheit, Geld zu verdienen, um in Guatemala die Ausbildung der Kinder und den Bau eines Hauses am Rand des Heimatortes zu ermöglichen. Darüber hinaus sind die USA ein Land mit vielen Lastern und Libertinage, in dem man sich eng an die Gebote Gottes halten muss, um nicht unterzugehen. Eigentlich darf man nur gläubigen Menschen, eher noch: nur gläubigen Latinos, über den Weg trauen. Man ist in den USA, um eines Tages wieder nach Guatemala zurückkehren zu können. Personen wie Francisco Quiacaín sind freilich nicht typisch für alle religiösen Migranten und transnationalen religiösen Akteure. Es gilt, zu differenzieren. Typen von transnationalen Akteuren: Die eleganteste Weise, sich der transnationalen Praxis religiöser Akteure anzunähern, wäre es sicherlich, mit den Methoden der HabitusAnalysis zu verfahren.12 Für eine allgemeine Kartografie der relevanten Akteure fehlen dazu allerdings die notwendigen 12
Dies hieße, in drei Schritten zu verfahren. Es wäre ein transnationales religiöses Feld aufzuspannen, in dem die Konkurrenz zwischen religiösen Anbietern gezeigt werden könnte. Zudem würde man transnational relevante Formationen religiöser Habitūs erheben, um die Nachfrage nach Heilsgütern differenziert in den Blick zu bekommen. Schließlich müsste man einen Raum transnationaler Allokation der relevantesten Ka-
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Daten. Deshalb werden wir hier nur drei Typen vorstellen. Dennoch ist es möglich, an einer Stelle einen Blick in die mikrosoziologische Tiefe zu tun. Clara Buitrago untersucht mit der HabitusAnalysis zwei von diesen typischen Formationen. Das erlaubt genauere Einsicht in die religiösen Identitäten und Strategien dieser Akteure (Buitrago Valencia 2019). Zunächst wenden wir meine frühere Klassifizierung an und schauen später die Arbeiten von Clara Buitrago. Ich unterscheide zwischen Managern, Kirchengründern und Migranten.13 Mit jedem dieser Typen transnationaler religiöser Akteure verbindet sich eine eigene soziale Klassenposition und eine eigene Form der transnationalen Verflechtung. Auch wenn die Sozialwissenschaften schon seit einiger Zeit unter der Dominanz kulturalistischer Ansätze zu ersticken drohen, wird man nicht darum herumkommen, mit Anja Weiß (Weiß und Berger 2008) ökonomisches Kapital als einen entscheidenden Faktor für die Unterscheidung zwischen Formen transnationaler Praxis zu berücksichtigen. Dass in zweiter Linie andere Kapitalformen wie soziales oder kulturelles eine Rolle spielen, liegt auf der Hand. Die Manager jedenfalls verfügen über deutlich mehr Kapital als die Kirchengründer und diese wiederum mehr als die Migranten. Die Kategorie Manager bezeichnet die Funktionäre bzw. Besitzer oder Gurus transnational arbeitender religiöser Event-Agenturen oder auch, im kirchlichen Vokabular, »Ministries«. Das Modell der von Bindungen an eine Denomination freien Missionsagentur geht auf die so genannten Faith Missions zurück, die im 19. Jahrhundert in den USA entstanden sind und einen größeren Teil der US-amerikanischen Mission in Lateinamerika besonders in der neopentekostalen Phase bestimmt haben. Unternehmen wie die von Billy Graham, Donald McGavran, Jimmy Swaggart oder Luis Palau bestimmten über lange Zeit die Wirkungsrichtung der Verflechtung von Norden nach Süden. Das ist heute nicht ganz vorbei, hat sich aber abgeschwächt (zugunsten medialer Präsenz) und wird vor allem konterkariert von lateinamerikanischen religiösen Firmen mit erheblicher kommunikativer Schlagkraft. Die wohl erfolgreichste dürfte die brasilianische Igreja Universal do Reino de
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pitalformen konstruieren, der die religiöse Praxis mit anderen gesellschaftlichen Praxisformen in Beziehung setzt. Vgl. Schäfer 2013, 2016 y 2020. Vgl. Schäfer 2016. Ursprünglich war das Forschungsprojekt von Clara Buitrago auf den Vergleich zwischen Managern und Migranten ausgelegt. Es war nicht durchführbar, weil Management-Organisationen – also Megakirchen und ähnliche – Frau Buitrago keine Interviews und keinen Zutritt für Beobachtung geben wollten.
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Deus (IURD) sein, die in weit über 100 Ländern operiert – selbstverständlich auch in den USA – und nicht nur Stadien mit Interessenten füllt, sondern auch Gemeinden gründet. In Brasilien kommen noch eine ganze Reihe Mega-Kirchen mit transnationalem Engagement dazu. In Kolumbien setzt beispielsweise die Misión Carismática Internacional auf transnationale Verbreitung. Und selbst aus kleinen Ländern wie Guatemala operieren MegaKirchen wie die Casa de Dios amerikaweit und propagieren Guatemala – genauer: das eigene Gebäude – als neues Jerusalem, zu dem nun die Völker pilgern (sollten). Eine Selbstinszenierung, die in Konkurrenz zu der der IURD steht, die in São Paulo den Tempel des Salomo angeblich nach alten Plänen errichtet hat und damit denselben Anspruch geltend macht. Ganz nebenbei und ohne expliziten Kommentar wird mit diesen Selbstinszenierungen auch der Anspruch der US-amerikanischen religiösen Rechten in Frage gestellt, die USA seien das neue Jerusalem. Diese lateinamerikanischen Akteure operieren selbstverständlich auch in den USA, und zwar hauptsächlich mit Massenevents, zu denen vor allem Latino-Klientel kommt, die aber in Konkurrenz zu ähnlichen Veranstaltungen, beispielsweise von Benny Hinn, stehen. Damit hat sich, verflechtungsgeschichtlich gesehen, in formaler Hinsicht die geografische Richtung der Initiative verändert; oder mindestens ist ein Raum transnationaler Operationen entstanden, in dem nicht mehr nur nördliche, sondern auch südliche Akteure operieren. Vieles spricht dafür, dass die Beschreibung des transnationalen Raumes bzw. einer transnationalen Klasse hilfreich sein könnte, ähnlich der, die Sklair (2001) für die Finanzwelt beschreibt. Neben der Operationsweise unterscheiden sich selbst die vermittelten Inhalte in der Tat wenig. Im Allgemeinen stehen das erfolgreiche Management des eigenen Lebens, positive thinking und prosperity im Zentrum. Ohne genaue Analyse drängt sich allenfalls der Eindruck auf, dass die Lateinamerikaner ein wenig mehr von Wundern reden und dafür die US-Amerikaner ein wenig mehr von dominion. Es scheint sich also in der transnationalen religiösen Managementklasse mindestens in den Amerikas ein relativ homogenes Vokabular zu entwickeln. Verflechtung wird zur Verschmelzung aufgrund zunehmender Gleichheit der globalen Positionierung. Weniger ökonomisches Kapital, aber dafür eine dichtere kulturelle Einbindung in lokale religiöse Praxis liegt bei dem Typus »Kirchengründer« vor. Wir verstehen unter dieser Kategorie (neben kleineren lokalen Initiativen von aktiven Pastoren) vor allem relativ große Kirchen, die in der Unterschicht operieren, wie die brasilianische Deus é Amor, Ebenezer aus Guatemala oder Re-
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stauración Elim aus El Salvador.14 Neben diesen relativ großen Unternehmen machen sich auch Pastoren von kleinen Kirchen in die USA auf, um dort Gemeinden von Latino-Immigranten zu gründen und mehr oder weniger regelmäßig zu besuchen, wie etwa Pastor Eladio Velázquez der Samaria-Kirche aus Guatemala. Diese Gründer-Organisationen funktionieren nach dem traditionellen Modell der Missionskirche, die im Ausland Gemeinden gründet und weiterhin die Rolle der »Mutterkirche« einnimmt. Letztere repräsentiert eine national geprägte religiöse Identität auch im Ausland (beispielsweise durch eine Nationalflagge im Kirchenraum). In den »Tochterkirchen« engagieren sich oft überproportional viele Landsleute des Gründers und der örtlichen PastorInnen. Es findet allerdings auch eine Internationalisierung statt, und zwar nicht so sehr nach nationaler Identität, sondern eher nach sozialer Klassenzugehörigkeit. So sammeln sich etwa die zumeist armen bolivianischen Migranten in Argentinien in den dortigen Gemeinden der brasilianischen Unterschichtskirche Deus é Amor. Verflechtung ereignet sich aufgrund der Gemeindebildung, der sozialen Position der Akteure, der Verankerung der Mitglieder in verschiedenen Kulturen und der asymmetrischen Machtrelation zwischen Gründern und Klientel in einer kulturell vertieften, aber einseitig dominanten Weise. Am ökonomisch »unteren Rand« dieser Formation wirken in der Regel sehr proaktive Pastoren. Diese stehen den religiösen Migranten in Vielem Nahe. Der zunächst wichtigste Unterschied ist jedoch der Aspekt des Besitzes einer materiellen Grundlage für transnationale religiöse Streifzüge. Unsere Kategorie »Migrant« meint Personen wie Francisco Quiacaín, die unter schwierigen Bedingungen und um zu arbeiten – nicht zum Missionieren – in die USA gekommen sind. Im Gegensatz zu den Managern sind sowohl die kleinen Kirchengründer als auch die gläubigen Migranten in einem lateinamerikanischen Pentekostalismus verwurzelt, der wichtige, kulturell bedingte Wandlungen des religiösen Habitus durchgemacht hat, wie wir sie oben schon untersucht haben. Im Blick auf die Verflechtung ist auch hier eine relativ starke Dynamik zu erwarten, die gewissermaßen dialektisch abläuft. Eine protestantische Doktrin wird nach Lateinamerika verpflanzt, wird dort transformiert und kommt als transformierte Doktrin wieder zurück in die USA, wo sie zwar vor allem unter Latino-Gläubigen operiert, aber immerhin doch in einem US-amerikanischen kulturellen und sozialen Kontext.
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Insofern die IURD auch Gemeinden bildet, kann man sie auch diesem Typ zurechnen.
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Eine weitere Differenz zwischen den marginalen Kirchengründern und den einfachen Migranten besteht in der religiösen Position. Das heißt, die Gründer vertreten eine lateinamerikanische Institution, die möglicherweise schon Ableger in den USA hat; sie haben ein Visum als religiöser professional; und sie haben die Rückendeckung ihrer Institution, und sei sie auch noch so klein. Die Habitusanalyse von Clara Buitrago zeigt eine diskursiv vermittelte religiöse Identität, die um den Gemeindeaufbau kreist. Als zentrales Problem wird ein Mangel an Strebsamkeit und Angst vor Führungspositionen benannt. Gott als Wiederhersteller (God as restorer) – so der Diskurs – formt aus dem furchtsamen Prediger einen Führer, der sich für den Wohlstand (der Gemeindeglieder) einsetzt. Dieser bekämpft mittels verschiedener Formen der Verkündigung (u.a. Coaching) den Mangel des Glaubens, der zur verzagten Haltung führt. Die Gründer suchen Engagement in den von ihnen gegründeten Gemeinden zu verstärken, und das heißt immer auch: Propagation des eigenen Glaubens in den US-amerikanischen Nachbarschaften. Im Blick auf Verflechtung sehen wir hier im Wirkungskontext von diesen Predigern und deren Gemeinden deutlich eine Umkehrung der Wirkungsrichtung. Die »Migranten« haben meist keine der Voraussetzungen, die die Gründer mitbringen. Viele von ihnen sind sogar illegal in den USA, ohne die geringste institutionelle Unterstützung. Sie arbeiten allenfalls verlässlich in Kirchen mit – wie Francisco Quiacaín – und erwerben so symbolisches und soziales Kapital. Dennoch zeigt eine genaue Analyse, dass die Religiosität bei ihnen wichtige Transformationen ermöglicht. Viele pfingstliche Migranten bearbeiten die Härte ihrer Lage, so Buitrago, über eine Logik der geistlichen Kampfführung (Spiritual warfare). Den am meisten verbreiteten Problemen wie Einsamkeit, Traurigkeit, wirtschaftlicher Not und Alkohol begegnen sie damit, dass sie all das aus dem Wirken des Teufels ableiten und dieses mit der Autorität Gottes konterkarieren. Indem sie sich der Autorität Gottes unterstellen, finden sie, so die Selbstauskünfte, in der Kirche Kameradschaft, »Bruderschaft« (Weber), Gesundheit und Glück. Wenn man den Alltag Francisco Quiacaíns unter diesen Aspekten betrachtet, ist es seit fünfzehn Jahren genau dies: Der Autorität Gottes gehorchen heißt, zuverlässig arbeiten; jeden Morgen um 5 Uhr die zwanzig Kilometer nach Santa Monica zurücklegen und am Baumarkt Home Depot auf Gelegenheitsarbeit warten; viel des verdienten Geldes nach Hause schicken; seine Söhne in Los Angeles unterbringen und einweisen; sonntags niemals arbeiten, sondern in mindestens zwei Gottesdiensten Akkordeon spielen und vielleicht predigen sowie gelegentlich mit buntem Trikot zum Fußball. Vor allem aber heißt es, wie in dem Marsch durch
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die Wüste: jederzeit Gott bitten und ihm danken. Aus dieser Praxis entsteht nicht nur eine relativ stabile Position inmitten der Instabilität eines illegalen Lebens in einem fremden Land. Insofern als dieses Land außerdem noch von Libertinismus und vielen anderen Fehlern geprägt ist, der Migrant selbst in der Kirche mitwirkt und nun auch gelegentlich predigt, kommt ihm eine höhere Verantwortung zu: Er predigt nun einem verirrten Volk die Wahrheit, um es auf die Pfade des Herrn zurückzuführen. Das heißt, die neuen Strategien haben seine Identität gründlich verändert. Buitrago fasst das für ihre Studie in dem Unterschied zwischen Migranten und expatriates. Migranten sind in der öffentlichen Wahrnehmung und vielfach auch der Selbstwahrnehmung entwurzelte und hilfsbedürftige Personen. Der Begriff »expatriate« hingegen bezeichnet Experten, die beispielsweise als Entwicklungshelfer für eine bestimmte Dauer entsandt werden. Etwas Ähnliches tut Francisco Quiacaín. Er ist expatriate für doppelte Entwicklungshilfe: geistliche Hilfe in den USA und materielle Hilfe für seine Familie in Guatemala. Demnächst ist seine Dienstzeit abgelaufen. Wahrscheinlich im nächsten Jahr wird er in sein Dorf zurückkehren. Aus hilfsbedürftigen Migranten werden spirituell helfende expatriates. Durch die Veränderung der Selbstpositionierung der Akteure und ihrer objektiven Position in den Kirchen erfolgt eine Veränderung ihrer Strategien und damit auch der Effekte, die sie in den USA zeitigen. Heute füllen Latino-Pentekostale große Kirchen und ihre Prediger Stadien; und Latino-Katholiken gestalten den Katholizismus in den USA um. Verflechtung meint hier nicht zuletzt religiöse Konkurrenz sowie soziale und politische Alternativen. Veränderungen im US-Protestantismus: Der Protestantismus ging einst mit einer individuellen Heilsbotschaft und einer wirtschaftsliberalen Soziallehre nach Lateinamerika und kommt nun mit Migranten und Kirchengründern in die USA zurück, die eine Option für die Großfamilie und das Big Government mitbringen. Die »Rückkehr« des Protestantismus von seinem Ausflug nach Süden in die USA hat somit nicht nur quantitative Aspekte, sondern auch qualitative. Dazu kommt, dass durch diese Rückkehr die Verbindungen nach Süden nicht abreißen. Durch die rasante Medienentwicklung der letzten zwei Jahrzehnte bleiben Migranten in konstanter Kommunikation mit den Familien und kirchlichen Gruppen zuhause. Ihre angestammten sozialen und religiösen Identitäten halten sich hartnäckig. Es ist freilich zunächst einmal die schiere Zunahme des hispanischen Bevölkerungsanteils, was die weißen Evangelikalen befürchten lässt, dass es
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bald mit der »christlichen Nation« ein Ende haben werde. Immerhin machten sie 1991 noch die Hälfte der US-amerikanischen Bevölkerung aus; heute jedoch nur noch ein Drittel (Jones und Cox 2017, 23). Besonders drastisch muss ihnen die Entwicklung im »Neuen Südwesten« erscheinen. In folgenden Staaten sind über 30 % der Bevölkerung Hispanics: Arizona, Kalifornien, New Mexico und Texas. Etwa 13 % der Gesamtbevölkerung sprechen zuhause Spanisch. Wenn man sich in Südkalifornien bewegt, kommt man mit Spanisch sehr gut über die Runden – aber auch in New York vereinsamt man nicht (Flores 2017a). Immerhin müssen sich die White Anglo Saxon Protestants nicht ausschließlich vor Katholiken fürchten. Spätestens im letzten Jahrzehnt setzt sich unter Hispanics ein deutlicher Trend vom Katholizismus zum Protestantismus durch – meist zu Pfingstkirchen. Während sich 2006 noch 69 % der Befragten einer entsprechenden Studie als Katholiken bezeichneten, waren dies 2013 nur noch 59 %. Nahezu komplementär ist die Zunahme der evangelikal-pfingstlichen Organisationen (Pew Research Center 2014, 37f.). Fragt man nach den Gründen für diesen Trend, so findet man ihn nicht in einer »US-Amerikanisierung« des Katholizismus oder etwas Ähnlichem. Vielmehr fällt auf, dass die meisten Konvertiten relativ neue katholische Migranten sind. 16 % der im Ausland geborenen Migranten wechseln in den USA das Bekenntnis.15 Vieles spricht dafür, dass sie in den Pfingstgemeinden eine unmittelbarere Eingliederung (und nicht nur Sozialhilfe) erfahren, die mit einer religiösen Re-Definition von Identität und Rolle einhergeht. Dementsprechend wachsen in pfingstlichen Hispano-Kirchen nicht die karitativen Programme, sondern es verbreiten sich enthusiastische Liturgieformen, wie sie auch in schwächerer Form in der katholischen charismatischen Bewegung bekannt sind. Wenn sie es aus lateinamerikanischen Pfingst- und Neopfingstkirchen noch nicht kennen sollten, lernen die Konvertiten aus der Perspektive von subalternen Migranten die Praktiken des spirituellen Empowerments kennen. Jedenfalls gibt fast die Hälfte der Mitglieder enthusiastischer protestantischer Gruppen an, zumindest einige der folgenden Praktiken schon einmal selbst erfahren zu haben:16 göttliche Heilung, direkte göttliche Offenbarung, Austreibung von Dämonen und Glossolalie.
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Pew Research Center 2014, 12. Ca. 30 % der im Ausland geborenen Immigranten hat den Katholizismus durch Konversion verlassen, und zwar 16 % nach der Einreise in die USA und 13 % in ihren Herkunftsländern. Durchschnittlich 48 % der protestantischen im Unterschied zu 22 % der katholischen Akteure. Vgl. Pew Research Center 2017, 95f.
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Aus der genannten Bevölkerungsentwicklung – und sicherlich neben anderen Gründen – leitet sich auch eine wichtige Differenz zwischen den weißen Evangelikalen und den Latino- sowie schwarzen Protestanten ab: die Zukunftserwartung. 75 % der befragten protestantischen Latinos erwarten eine Verbesserung der Gesamtlage in den nächsten 10 Jahren.17 Eine ähnliche Umfrage informiert, dass 70 % der weißen Evangelikalen der Meinung sind, dass seit den 1950er Jahren die Lage in den USA schlechter geworden sei, während nur 38 % von Latino-Katholiken dieser Auffassung ist.18 Viele der weißen Evangelikalen, insbesondere der religiösen Rechten, reagieren auf diese Entwicklung mit Jeremiaden über den Verfall der Nation, der Entwicklung einer Wagenburgmentalität oder apokalyptischen Erwartungen. Dies wiederum löst Diskussionen in der evangelikalen Szene mit New Evangelicals aus, die wie Gregory Boyd die Idee von der christlichen Nation rundheraus als Mythos bezeichnen (Boyd 2005). Auf diese Weise triggert die zunehmende Präsenz hispanischer Christen unter den weißen Evangelikalen eine Debatte über ihre religiöse Identität und politisches Selbstverständnis. In politischer Hinsicht unterscheidet sich der Durchschnitt der LatinoChristen deutlich von den weißen Evangelikalen.19 Von zentraler Bedeutung für die US-amerikanische politische Diskussion ist die Frage nach den Kompetenzen und Zuständigkeiten der Regierung, nach Big oder Small Government. Es ist auffällig, dass die bei weitem größte Mehrheit der Hispanics weitere Regierungskompetenzen bevorzugt.20 Ein starker Staat wird in ganz Lateinamerika als normal empfunden, vor allem in Mexiko. Dabei liegen die Protestanten bei 62 % Zustimmung zum Big Government und die Katholiken bei 72 %. Dieses Ergebnis entspricht durchaus der eher korporatistischen und kommunitaristischen Ausrichtung der katholischen Kirche, die die Neigung der Hispanics zum Wohlfahrtsstaat verstärkt. Parteipolitisch stehen die weißen Evangelikalen fest zu den Republikanern (49 % R, 14 % D)21 , während die Latinos klar mit den Demokraten sympathisieren. Allerdings findet sich ein kleiner Unterschied, der zu denken gibt. Die katholischen Latinos halten mit 40 % zu den Demokraten (9 % R), die protestantischen hingegen nur mit 30 % (bei 17 % R; vgl. Jones und Cox 17 18 19 20 21
Der Hispano-Durchschnitt beträgt 72 % (Pew Research Center 2014, 131). Die Latino-Protestanten wurden nicht berücksichtigt (Jones et al. 2016, 8). Für die USA immer unter Einschluss der klassischen Pfingstler! Im Durchschnitt 67 % für Big zu 21 % für Small; vgl. Pew Research Center 2014, 130) Die restlichen Befragten sind nur zu einer der Seiten geneigt (»lean«) oder völlig unentschieden.
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2017, 36). Warum das so ist, vermag ich derzeit nicht schlüssig zu beantworten. Wahrscheinlich hängt es mit dem Einfluss der tendenziellen Neigungen der Leitung der katholischen Kirche auf der einen Seite und denen der evangelikalen Wortführer auf der anderen Seite zusammen. Dazu kommt wahrscheinlich auch die Tatsache, dass der Katholizismus unter den Hispanos eher eine Gewohnheitsreligiosität mit geringer akuter Mobilisierung ist, während der erweckliche Protestantismus unter ihnen eine jüngere und stark mobilisierende Religiosität repräsentiert. Damit wäre der in den USA generell beobachtbare Zusammenhang zwischen Intensität christlicher religiöser Praxis und politischem Konservatismus zur Erklärung dieser Differenz relevant. Je häufiger die Individuen in die Kirche gehen und beten, und je stärker sie den Biblizismus vertreten, umso mehr sind sie Abtreibungsgegner und neigen zu den Republikanern.22 Was die Verflechtung betrifft, sehen wir in diesen politischen Einstellungen eine interessante Rückwirkung des politischen Systems auf die Strukturierung der hispanischen Präsenz in den USA. Man kann diesen Strukturierungseffekt sogar noch präziser im Blick auf den Protestantismus festmachen. Es haben sich zwei hispano-protestantische Dachverbände herausgebildet, die die scharfe politische Polarisierung der USA in der Latino-community replizieren. Latino-Organisationen: Mit dem neuen Millennium haben sich zwei große protestantische Latino-Organisationen in den USA formiert und den Rückfluss des Protestantismus in den Norden politisch kanalisiert. Evangelikal-pfingstlich im religiösen Stil sind beide. In der religiös-politischen Projektion tendiert die größere eher in Richtung Management und steht rechts; die kleinere tendiert zu den Werten des Reiches Gottes und ist linksliberal. Die linksliberale National Latino Evangelical Coalition23 (NaLEC), gegründet 2010 vom Pastor der multiethnischen Lamb’s Church in New York, Gabriel Salguero, repräsentiert ca. 3000 evangelikale Latino-Kirchen, NGOs und Einzelpersonen. Über das unter Hispanos allgegenwärtige Lobbying für eine Reform des Einwanderungsrechts hinaus versucht NaLEC, sich als eine anwaltliche Stimme für das Gemeinwohl und für soziale Gerechtigkeit zu profilieren. Dazu dienen Langzeitpartnerschaften mit Hilfsorganisationen, Programme zur Weiterbildung der Mitgliedsorganisationen sowie politische advocacy. Die 22 23
Nota bene: 29 % der religiös nicht Gebundenen beten täglich. http://nalec.org/ (abgerufen am 19.01.2019)
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Die protestantischen »Sekten« und der Geist des (Anti-)Imperialismus
Organisation unterhält Kontakte zu den New Evangelicals und entspricht deren Kombination von theologisch konservativer und sozial progressiver Programmatik. Somit sucht die Organisation »immer Gottes Leitung« und profiliert sich zugleich durch Aktionen zur Ermöglichung von sozialer Aktion und Koalitionsbildung im Sinne des common good und der sozialen Gerechtigkeit. Maßnahmen zielen u.a. auf folgende Bereiche: Armut und Hunger »among U.S. under-served communities«; Reform der Einwanderungsgesetzgebung; Bildungsgerechtigkeit; Gesundheitsreform; Jugendarbeit; Reform des Strafvollzuges; aktuelle Nothilfe, vor allem an der Grenze zu Mexiko. Zudem arbeitet NaLEC mit NROs wie International Urban Strategies, Evangelical Immigration Table, Evangelical Environmental Network und Evangelicals for Social Action. Die National Hispanic Christian Leadership Conference (NHCLC)24 wird 2001 von Rev. Samuel Rodriguez gegründet, um die evangelikalen Hispanics »zu vereinen, ihnen zu dienen und sie zu repräsentieren«, wie die Website informiert. Die Organisation repräsentiert nach eigenen Angaben 40000 Gemeinden. Rodríguez möchte, ganz im Stil der Formation Management, die »vertikale, göttliche« und die »horizontale, menschliche« Dimension eines imaginierten Raumes durch die »sieben Direktiven« der Organisation auf die »Agenda des Lammes« zuschneiden. Das heißt so viel wie als oberster leader die born again-Menschen zu key influencers auf dem marketplace zu machen. Es wird behauptet, die die NHCLC verknüpfe die Programmatik Billy Grahams mit der von Martin Luther King. Damit soll das Medien-Image des wütenden weißen Evangelikalen konterkariert werden durch eine »überzeugte und doch mitfühlende multi-ethnische Königreichs-Kulturgemeinschaft, engagiert im Teilen von Wahrheit mit Liebe«25 . Außerdem gelte es, einen multi-ethnischen Firewall gegen moralischen Relativismus, kulturelle Dekadenz und kirchliche Lauheit zu errichten aus biblischer Ehe, Ablehnung der Abtreibung und Religionsfreiheit. »Influence« müsse genommen werden auf Erziehung, Medien, Business, Kunst, Regierung und Kirche. Ein interessanter Unterschied zu NaLEC liegt im Gerechtigkeitsbegriff. Während bei NaLEC soziale Gerechtigkeit als eine nicht gewährleistete Bedingung von Humanität gemeint ist, stellt NHCLC »justice« zum Einen in einen Zusammenhang mit Mitleid und
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http://nhclc.org/ (abgerufen am 19.01.2019) …«convicted yet compassionate multi-ethnic kingdom culture community committed to sharing truth with love« https://nhclc.org/mission-vision-statement (abgerufen am 25.10.2019).
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versteht sie zum Anderen als retributive, auf Vergeltung beruhende Wiederherstellung eines abstrakten Gleichgewichts durch Lohn und Strafe. Religionsfreiheit wird aufgefasst als Freiheit politischer Repräsentanten, religiöse Einflussnahme auf die Politik zuzulassen. Wen wundert es, dass Rodríguez bei der starken Kooptationsleistung (40.000 Gemeinden) und diesem Programm ein Angehöriger des religiösen Beraterkreises um Präsident Donald Trump ist, den so genannten Court Evangelicals (Fea). Samuel Rodríguez von der NHCLC ist als Sohn puerto-ricanischer Eltern – also mit US-amerikanischer Staatsangehörigkeit – in den USA geboren. Er steht mit beiden Füßen in den USA. Sein politisches Alleinstellungsmerkmal, ohne das er sicher nicht bis in das Weiße Haus vorgedrungen wäre, ist allerdings, zwischen republikanischer Politik und den Interessen von jenen Latinos zu vermitteln, die noch von den Einwanderungs- und Deportationsgesetzen betroffen sind. Republikanische Standards bedient er mit einer immer wiederkehrenden Betonung von Legalität und gelegentlichen kleineren Diffamierungen, wie beispielsweise dem Hinweis auf die »birthing industry«, um Staatsbürgerschaft für Babies durch Geburt zu erreichen. Andererseits modifiziert er Vorschläge Trumps und rät beispielsweise von einer Verfassungsänderung zur Abschaffung des Geburtsrechts ab.26 Er verbreitet per Anzeige in der New York Times, dass »Immigranten und Immigration die USA stärken«.27 Im Zusammenhang mit der »Karawane« von Migranten aus Zentralamerika bekräftigt er die Pflicht von Christen, Bedürftigen zu helfen. Aber er überträgt diese Aufgabe ganz in Trumps Sinn den Kirchen in Mexiko und Zentralamerika mit dem Argument, dass Staaten ihre Grenzen schützen müssen und illegaler Übertritt – von den 70 % jungen Männern in der Karawane – eben ein Gesetzesbruch sei. Rodriguez löst die Probleme im Zusammenhang von Migration bisher legalistisch. Er setzt dabei ziemlich deutlich auf
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›We Could Do Better‹ – Trump Faith Advisor Says President Should Talk About More than Immigration (http://nhclc.org/we-could-do-better-trump-faith-advisor-sayspresident-should-talk-about-more-than-immigration/ und https://www1.cbn.com/ cbnnews/us/2018/november/we-could-do-better-ndash-trump-faith-advisor-sayspresident-should-talk-about-more-than-immigration (abgerufen am 21.01.2019) ›How We Treat Immigrants Reflects Our Values‹: Christian Leaders Publish ProImmigration NYT Ad http://nhclc.org/how-we-treat-immigrants-reflects-our-valueschristian-leaders-publish-pro-immigration-nyt-ad/ Aus: https://www1.cbn.com/ cbnnews/us/2018/july/how-we-treat-immigrants-reflects-our-values-nbsp-christianleaders-publish-pro-immigration-nyt-ad (abgerufen am 5.7.2018).
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die in den USA etablierten Latinos, die pochos,28 da die Illegalen zwar als Arbeitskräfte in der Landwirtschaft unverzichtbar sind, aber keine Lobby haben. Auch das dürfte wohl ganz im Sinne Trumps sein, weniger allerdings im Sinne Francisco Quiacaíns. Trump in der Wahrnehmung illegaler Pfingstler: Am Wahlabend im November 2016 war ich in der Kirche. In einer kleinen pfingstlichen StorefrontChurch, nicht weit südlich vom McArthur Park in Los Angeles trifft sich eine Gemeinde, die sich zu einem großen Teil aus illegalen Einwanderern zusammensetzt. Der nüchterne Raum mit der immerwährenden Tribüne an einer Seite und ein paar Tischen mit Kaffeemaschine an der anderen ist mit einer langen Reihe von Flaggen geschmückt, die alle lateinamerikanischen Nationen repräsentieren. Die Stimmung gegen 6 Uhr abends, bevor der Gebetsgottesdienst beginnt, ist angespannt. Der rassistische und fremdenfeindliche Wahlkampf Trumps ist auch an den politisch wenig interessierten Mitgliedern der Gemeinde nicht spurlos vorbeigegangen; die Drohungen gegen Migranten noch weniger. Für die etwa dreißig Anwesenden ist nun die Frage, was Gott hier wohl unternehmen wird. In den Gesprächen zeigt sich, sie haben eine klare politische Meinung: kein Trump! Das teilt auch die Pastorin. Zudem ist ihr sehr klar, dass man sich über Trump keine Illusionen machen darf, schon gar nicht aus der Perspektive illegaler Einwanderer. Die Versammlung an diesem Abend steht unter einem besonderen Vorzeichen. Die Pastorin beginnt den Gottesdienst routiniert mit den üblichen Eingangsritualen, Gebeten und einer üblichen unspezifischen Begrüßung der Gemeinde. Dann entscheidet sie sich, den üblichen Rahmen zu verlassen, und bittet die Anwesenden, sich vor der Tribüne in einem Kreis aufzustellen. Ihre Ansprache beginnt sie mit einer düsteren Lagebeschreibung. Es sei ein wichtiger Tag für alle Latinos und vor allem die illegalen Migranten, die durch Trump sehr gefährdet seien. Wenn Trump gewählt werde, könne man mit viel Verzweiflung rechnen. Das Land sei in einer großen Gefahr und in einer schweren Krise. Nach dieser Situationsanalyse formuliert sie freilich nicht einen Aufruf zum Protest oder zu politischen Aktionen. Sie sagt sogar explizit, dass Protest mit Plakaten vor dem Weißen Haus ausdrücklich nicht
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Als »pochos« bezeichnet man US-amerikanische Staatsbürger lateinamerikanischer Abstammung, die schon lange oder gar in zweiter oder dritter Generation in den USA leben und deren Identität sich häufig auch aus der Abgrenzung gegenüber Lateinamerika speist.
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das Mittel sei, um Trump zu begegnen, sondern vielmehr »das Knie«, also das Gebet. Deshalb solle nun aus dem Kreis heraus eine »Abwehrmauer« gegen den Einfluss des Teufels gebildet werden, indem sich alle die Hände reichen und beten. So könne der Teufel mit seinen Interessen nicht durchkommen. Im Gebet solle darum gebeten werden, dass die Absicht Gottes sich erfülle und sein Wille geschehe. Im Gebet selbst, bei dem die Stimme der Pastorin gelegentlich im üblichen aufbrandenden Stimmengewirr der einzelnen, ziemlich laut vor sich hin betenden Gläubigen versinkt, beschwört sie zunächst in üblicher Weise das Blut Christi. Dann entwickelt sich der Inhalt des Gebetes nicht in Richtung auf Exorzismus, was man bei hinreichenden Handlungschancen der Gläubigen jetzt hätte erwarten können. Vielmehr wird die implizite Identifikation Trumps mit dem Teufel auf verschiedene Weise, aber mit demselben Fluchtpunkt relativiert: religiöses Handeln und Gottes unergründlicher Ratschluss als letztes Wort. Gott habe einen Plan, auch wenn wir den nicht kennen können. Gott könne auch das Herz eines Menschen wie Trump umwandeln. Und schließlich »deklariert« sie – ganz im Stil der dominion-Doktrin, aber ohne politische Konsequenzen – »Gottes Herrschaft über diese Nation«; und diese Herrschaft solle sich als religiöse »Erweckung« bemerkbar machen, damit »die Leute erkennen, dass es nur in Dir [Gott] Hoffnung gibt«. Gloria a Dios! Zu dieser Zeit sind unter den Gottesdienstbesuchern noch keine Tendenzen der Hochrechnungen bekannt, die wohl auch den Statistikern noch nicht klar sind. Die performative Einheit – gebildet von »Schutzwall« mit impliziter Dämonisierung von Trump und Gebetstext mit bloßer religiöser Kompensation – lässt den Ausgang der Dinge in der Schwebe. Verliert Trump, ist das ein Erfolg des spirituellen Containments gegenüber den Machenschaften des Teufels. Gewinnt er, dann weiß Gott ganz sicher warum und hält sich mit der Umwandlung des Herzens ein Handlungsfeld offen. Und schließlich werden die politisch vollkommen ohnmächtigen Illegalen nicht mit politischen Aktionsforderungen überlastet, sondern auf den Ausweg gefahrloser religiöser Aktion (Gebet) mit einem religiösen Ausgang (Erweckung) verwiesen. In ähnlicher Weise setzt die Pastorin nach dem Gebet ihren Diskurs mit einer – ziemlich gut informierten – Erklärung politischer Zusammenhänge fort. Selbst wenn Trump Präsident werde, könne er nicht tun, was er will, denn es gäbe noch den Obersten Gerichtshof. Außerdem sei ein Präsident abhängig von Beratern und Funktionsträgern. Deshalb solle man auch für die Minister unterschiedlicher Ressorts beten. So weit, so gut; wenigstens hat
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eine relevante politische Angelegenheit Eingang in das religiöse Bewusstsein der Gläubigen gefunden. Doch dann folgt die systematische Verwechslung der Sphären, die so viele Gläubige der Unterschicht auf den Leim der religiösen Rechten gehen lässt: Wenn nur gläubige und »gottesfürchtige« Personen in Regierungsämter kämen, dann würden sie auch entsprechende gute Gesetze erlassen und gute Politik machen. In einem weiteren freien Gebet geht es zunächst um das Hauptthema der Migranten: wirtschaftliche Stabilität in Form von Arbeitsplätzen und bescheidenem Auskommen. Dann flicht die Pastorin das bei Evangelikalen weltweit verbreitete Dauerthema »Israel« in ihre Rede ein. Sie redet allerdings nicht von einer Verlegung der Botschaft der USA nach Jerusalem, wie es die religiöse Rechte schon seit Langem verfolgt. sondern bleibt rein religiös. Genauer, sie verrennt sich in das immerwährende Paradox konservativ evangelikaler und pfingstlicher Israelbegeisterung: Die Israelis sollen zum Christentum und zu Jesus als dem wahren Messias bekehrt werden. Die Zeit schreitet voran mit der langen Ansprache eines Gastpredigers und einer Bibelstunde, beides ohne Bezug auf die Wahlen. Gegen Ende des Gottesdienstes liegen um 22 Uhr (Pacific Time) einigermaßen verlässliche Hochrechnungen vor, und die Stimmung ist im Keller. Die Pastorin sagt, dass Trump zwar ein gefährlicher Mann für die Immigranten sei, dass es aber nun einmal Gottes Wille sei, dass er regiere. Gott könne mit seiner Macht das Herz des Präsidenten umwandeln und deshalb solle man darum beten, dass Gott aus Trump einen frommen, wenigstens aber rechtgeleiteten Menschen mache und ihm die richtigen Berater an die Seite stelle. Die Gemeindeglieder könnten aber wissen – gleich, was auch immer geschehe –, dass Gott seinen Plan zum Vorteil »seines Volkes« durchführe. Unter dem Strich ist die Botschaft der Pastorin möglicherweise das Einzige, was man einer Gruppe von illegalen Migranten ohne jegliche politische oder soziale Handlungsmöglichkeit angesichts dieser Lage sagen kann. Dass in dieser Situation großer politischer Spannung mit starker Emphase für ökonomische Stabilität gebetet wurde, lässt auf die vordringlichen Sorgen der Gemeindemitglieder schließen. Noch drei Jahre nach diesem Gottesdienst sagte Francisco in einem Skype-Gespräch, wegen Gottes Plänen sei ihm Trump eigentlich ziemlich egal; wichtig sei viel eher, dass er regelmäßig Arbeit finde und das Geld nach Hause schicken könne. Das ist klar. Politisch hochgradig manipulierbar ist allerdings der verbreitete Glaube, dass Personen mit religiöser Fassade annehmbarere PolitikerInnen seien. Die Effekte
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davon dürften aber gering sein unter Menschen, die weder wählen noch sich bei politischen Veranstaltungen erwischen lassen dürfen. Und schließlich geraten die Gottesdienstbesucher durch das Thema Israel leicht in die schlechte Gesellschaft derer, die sie am liebsten sofort deportieren würden – mit einem großen publizistischen Aufwand natürlich, um bei ihrer Wählerschaft unter den weißen Evangelikalen und den pochos zu punkten. Am Tag nach der Wahl Trumps höre ich in Los Angeles im Autoradio einen religiösen Latino-Sender. Der Sprecher ist angetan von der Entscheidung Gottes, Trump in den Präsidentensessel zu hieven. Natürlich, Migranten haben Probleme, gibt er zu verstehen. Aber zu einem guten Teil seien sie auch selbst schuld, wenn sie illegal die Grenze überqueren. Kurz, die Schwierigkeiten, die sich für Migranten erwartungsgemäß nun häufen, werden in der Sendung kleingeredet und den Opfern wird die Schuld an ihrer Lage zugeschrieben. Viel wichtiger sei, dass Trump jetzt mit Homosexualität und Drogen Schluss mache. Das zeige, dass er auf Gottes Seite stehe. Außerdem habe dieses großartige Land ja auch eine großartige Demokratie. »God bless America.« Ende der Sendung.
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7 Panama 2016 und der gesellschaftliche Kontext
Nach 100 Jahren US-amerikanischer Mission im Zeichen des Kongresses von Panama 1916 bietet Panama im Jahre 2016 – dieses Mal ohne Exkommunikationsdrohungen seitens des Erzbischofs – erneut Raum für einen Kongress und eine Tagung. Beide erinnern an den früheren Missionskongress, wenn auch aus sehr unterschiedlichen Perspektiven. Die Tagung lateinamerikanischer Pfingstler bringt einen Gegenentwurf kirchlicher Praxis in Stellung. Der Kongress der World Evangelical Alliance scheint mit dem Motto der polyzentrischen Mission neue Horizonte zu eröffnen; bei näherem Hinsehen setzt er jedoch das alte Modell fort. Bevor wir einen Blick auf diese Veranstaltungen werfen, werden wir kurz auf einige Quellen von Irritation zwischen lateinamerikanischen und US-amerikanischen Protestanten schauen.
7.1
Missverstehen
In unseren Überlegungen zum Gelobten Land haben wir Irritationen fokussiert, die das Auftauchen von immer mehr religiösen Latinos bei Protestanten in den USA auslöst, insbesondere bei weißen Evangelikalen. Die weit größere Quelle von Irritation ist allerdings in Lateinamerika die protestantische Mission, insbesondere die der konservativen Evangelikalen. Verflechtung ereignet sich hier als nicht-intendiertes, aber systemisch unumgängliches Missverstehen. Christian nation: Ein großer Anteil der Missionsaktivitäten wird seitens der Formationen Gesetz und Management durchgeführt. Viele dieser Akteure halten die USA für eine christliche Nation mit der Verpflichtung, »das Evangelium« – oder präziser: ihre ziemlich partikulare Version davon – global zu verbreiten. Ich habe viele Missionare kennengelernt, die das in aller ehrlichen Überzeugung und mit der fröhlichen Gewissheit tun, den Adressa-
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ten etwas wirklich Gutes zu bringen. (Andere haben diese Idee aufgegeben und sind Theologen an der Seite ihrer lateinamerikanischen Kollegen geworden, ohne den Anspruch eines besonderen Auftrages aus den USA.) Sofern sie dabei der Überzeugung sind, die USA seien eine christliche Nation oder gar die beispielhafte christliche Nation, sitzen sie einem folgenschweren Irrtum auf. Gregory Boyd beschreibt diesen Irrtum aus der Perspektive der New Evangelicals (Boyd 2005). Er fragt nach der Rolle der Idee der Christian Nation im Zusammenhang zwischen Mission und US-Außenpolitik. Er knüpft beim Beispiel des Irak-Krieges unter G.W. Bush an. Dieser Präsident führte diesen ungerechten Krieg als bekennender Evangelikaler und kombiniert mit einer Rhetorik von der Verbreitung von »freedom« in der ganzen Welt. Was aber »einge Leute auf dem Globus« hören – so Boyd – ist dies, »dass der USamerikanische Imperialismus lebt und bei bester Gesundheit ist« sowie dass die USA auf aggressive Weise und aus Selbstsucht andere Regierungen unter ihre Kontrolle bringen wollen. Der springende Punkt für die Mission sei aber nicht dieser Zusammenhang. Er ist …that this disdain gets associated with Christ when America is identified as a Christian nation. The tragic irony is that those who should be most vehemently denying the association for the purpose of preserving the beautiful holiness of the kingdom of God (…) are the primary ones insisting on the identification! The result is that it has become humanly impossible for many around the globe to hear the good news as good. Instead, (…) they hear the gospel as bad news, as American news, exploitive capitalistic news, greedy news, violent news, and morally decadent news. They can’t see the beauty of the cross because everything the American flag represents to them is in the way. (Boyd 2005, 89 [e-book]) Gerade weil Boyd den Sinn der US-amerikanischen Mission nicht bezweifelt, in seiner Kirche selbst Auslandsarbeit betreibt (wenn auch eher im Bereich sozialer Dienste) und selbst evangelikale Überzeugungen vertritt, ist seine Kritik im Effekt besonders scharf. Die weißen Evangelikalen, die die USA als christliche Nation begreifen – allen voran die religiösen Rechten –, schädigen damit im Verhältnis zu den Adressaten ihrer Missionsarbeit das Ansehen des Evangeliums, also der maßgeblichen Botschaft, indem sie es verwenden, um den Staat und seine Praktiken religiös aufzuwerten. Auf den theologischen Punkt gebracht: Durch diese Identifikation betreiben sie Blasphemie. Soviel zu Boyd. Man kann sich indes selbst aus gläubig-christlicher Perspektive mit Fug und Recht auch fragen, ob Mission überhaupt nötig ist.
7 Panama 2016 und der gesellschaftliche Kontext
Pfingstliche Begegnung: Wenn schon nicht Mission, so sind doch partnerschaftliche Begegnungen denkbar, die gegenseitiges Verstehen und Kooperation zu guten Zwecken fördern. Solche Treffen scheinen besonders vielversprechend unter Anhägern ein- und derselben konfessionellen Tradition. Aber auch auf diesen Wegen der Verständigung können die Pilger im Treibsand des systematischen Missverstehens versinken. Davon erzählt beispielhaft eine Erfahrung, die der mexikanisch-USamerikanische Historiker Daniel Ramírez (Ramirez 2015, XIff.), Mitglied in der Iglesia Apostólica de la Fe en Cristo Jesús (IAFCJ), anlässlich einer Konferenz der Society of Pentecostal Studies (SPS) 1993 in Guadalajara gemacht hat. Es ist zwischen 1971 und heute die einzige Jahreskonferenz der SPS außerhalb der USA. Der Bericht von Ramírez erklärt, warum der Versuch der direkten Kommunikation von 1993 nicht zu einer Wiederholung internationaler Treffen an ausländischen Tagungsorten führen wird. Ramírez berichtet: Die englischsprachigen Sitzungen finden im Konferenzhotel statt, die spanischsprachigen in einer Kirche. Ein Roundtable soll die beiden Gruppen von Theologen schließlich miteinander ins Gespräch bringen. Im Laufe der Unterredungen stellt der Moderator Manuel Gaxiola den US-amerikanischen Repräsentanten die folgende Frage: What is your opinion of the dangers that neoliberalism poses for the well-being of our church members in Latin America, and what can the North American churches do to slow its expansion? Die Antwort lautet: We should be wary of all currents of liberalism that can sway the church. Perhaps we in North America can do a better job of publishing materials to help the church in Latin America mature theologically and be on her guard. Ramírez kommentiert zunächst einmal, dass die lateinamerikanischen Konferenzteilnehmer nicht wenig verwundert gewesen seien und wieder einmal eine Gelegenheit für einen Dialog zwischen dem globalen Süden und Norden vergeudet worden sei. Hinter der Frage Gaxiolas habe die Sorge über das neoliberale NAFTA-Abkommen1 und dessen verheerende Auswirkungen auf mexikanische Kleinbauern und mittlere Industrie gestanden, sowie über den beginnenden Aufstand der Zapatisten im Süden. Was haben die US-Amerikaner 1
Wie üblich, wurde lediglich der Warenverkehr »liberalisiert«, nicht aber der Verkehr von Personen.
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zu sagen? Sie verstehen nichts. Unter dem sozio-ökonomischen Begriff »Neoliberalismus« verstehen sie hingegen theologischen Liberalismus, der die Kirche gefährdet. Diese Gefahr soll durch theologische Traktate bekämpft werden, für deren Herstellung sich die US-Amerikaner besonders befähigt sehen, da die lateinamerikanische Kirche noch nicht reif genug sei, um theologisch adäquat auf der Hut zu sein. Während die lateinamerikanischen Pfingstler mit den sozio-ökonomischen Problemen beschäftigt seien, so Ramírez, entspräche es dem bequemen Leben der US-Amerikaner, dass sie irgendeine theologische Bedrohung – vielleicht eine neue Befreiungstheologie – sehen. Die Inkommensurabilität zwischen Pfingstlern diesseits und jenseits des Rio Grande läge tiefer als nur in theologischen Meinungen: vielmehr in den »epistemic-experiential prisms«, den erfahrungsbedingten »Augengläser«, durch die hindurch wir erkennen. The Pentecostal South, whose theological reflection and religious practice, like that of the liberationists, were shaped by economic exigencies, was decrying inequitable arrangements in the production and consumption of food. In earnest response, the Pentecostal North pledged to produce better food for thought. Man muss den Hinweis auf die »epistemischen Prismen«, die grundlegenden Bedingungen der Wirklichkeitswahrnehmung, noch ernster nehmen als Ramírez es tut. Wenn lateinamerikanische Christen als »food for thought« den US-amerikanischen Positivismus übernehmen, läuft diese Verflechtung auf eine Kolonisierung des Denkens hinaus. Eine noch weitergehende Problematik liegt in der Refeudalisierung des Denkens durch die Programme der Management-Organisationen.
7.2
Kolonisierung und Refeudalisierung
Spricht man mit progressiven Pfingstlern und anderen Protestanten aus Lateinamerika, so werden vielerlei Praktiken der religiösen Rechten und Konservativen auf US-amerikanischen Einfluss zurückgeführt. Missionare kämen meist aus dem Süden der USA und verträten die konservativsten Strömungen des dortigen Protestantismus. Sie stülpen der pfingstlichen Alltagsreligiosität die Ungeduld apokalyptischen Denkens über und fördern anti-sozialistische und anti-ökumenische Haltungen. Sie seien verantwortlich für Unduldsamkeit im Umgang, dogmatisches Insistieren und harte Sanktionen gegen pro-
7 Panama 2016 und der gesellschaftliche Kontext
gressive Pastoren und Kirchenmitglieder, wenn diese auch nur falsches Vokabular verwenden. Sie engen das Spektrum der kirchlichen Arbeit ein auf Themen wie Schwangerschaftsabbruch, sexuelle Praktiken, Familie und Gender. Außerdem werde das Thema Israel aufgedrängt, mit dem man in Lateinamerika erst einmal nichts zu tun habe. Eine neu entstehende, junge und eher progressive Führungsschicht werde auf diese Weise unterdrückt. Vor allem aber würden die wichtigen Fragen, wie gesellschaftliche Gerechtigkeit und Umwelt, verdrängt durch die Proselytenmacherei. Anstelle von den Inhalten kirchlicher Praxis werde die Anzahl von Bekehrungen zum Maß aller Dinge gemacht. Zahlen, Zahlen, Zahlen. Nun ist allerdings nicht das Zählen selbst das Problem. Der Fixierung auf Zahlen und dem doktrinären Wahrheitsverständnis liegt vielmehr eine Kolonisierung des Geistes durch eine Tradition evangelikal-fundamentalistischer Erkenntnistheorie zugrunde. Den Herausforderungen der Gegenwart wird mit den Mitteln eines Empirismus des 16. und 17. Jahrhunderts zu begegnen gesucht. Kolonisierung: Wie wir auf der gesamten Länge dieses Buches gesehen haben, existiert in Lateinamerika eine tief greifende Differenz zwischen zwei theologischen Denkstilen. Der eine ist in Lateinamerika aus einer Transformation und Amalgamierung dreier verschiedener Traditionen hervorgegangen: der europäischen katholischen Theologie sowie dem europäischen und dem US-amerikanischen Mainline Protestantismus. Er wird von der Formation Werte des Reiches Gottes gepflegt. Der andere geht auf eine durch kulturelle Dispositionen gebrochene Übertragung des konservativen, biblizistischen oder charismatischen Protestantismus aus den USA zurück. Er wird vor allem von den Formationen Gesetz Gottes und Management vertreten. Im erstgenannten Denkstil findet man immer eine mehr oder weniger starke Spur von hermeneutischem Relativismus. Theologische Erkenntnis und damit religiöse Wahrheit werden programmatisch (!) immer relativ zu den bereits früher erlernten Wissensbeständen und den sozialen Lagen der Interpreten entwickelt und in einem beständigen Dialog weitertransformiert. Das ist jedenfalls seit dem Zweiten Vaticanum auch in der offiziellen katholischen Theologie der Fall. Hermeneutische Reflexivität wird auch explizit vom ökumenisch orientierten Protestantismus und Teilen der Pfingstbewegung vertreten. Und zudem findet sie sich implizit in der diskursiven Praxis vieler kleiner Pfingstkirchen bzw. -gemeinden, in denen die Laien als QuasiExperten in einem dauernden Dialog um die für bestimmte Situationen gültige Wahrheit debattieren und manchmal auch heftig streiten.
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Im orthodoxen Evangelikalismus und »Charismatismus« der USA, insbesondere in der religiösen Rechten, liegt hingegen ein positivistisches Verständnis der Wahrheit vor, das im 19. Jahrhundert aus dem naturwissenschaftlich orientierten Empirismus des Francis Bacon heraus entwickelt wurde und als Princeton-Theology den biblizistischen Fundamentalismus geprägt hat. Hier gilt die textuell »wörtlich« verstandene Schrift als ein wissenschaftlicher Fakt, aus dem eindeutige Schlüsse auf ewige göttliche Fakten gezogen werden können. Damit ist – in der Theorie – eine gegebene Schriftstelle auf nur eine Bedeutung festgelegt. Divergierende Interpretationen sind damit kategorisch ausgeschlossen. In der Praxis heißt das schlicht: Der Mächtigste setzt seine Interpretation durch. Und da schließlich der Bibelvers eine unumstößliche, zeitlose und damit überlegene Wahrheit zum Ausdruck bringt, können profane Probleme wie Nahrungsmittelproduktion unter neoliberalen Bedingungen überhaupt nicht als theologische Probleme in den Blick kommen. Als gefährlich gilt vielmehr der theologische und gesellschaftliche Liberalismus, der das positivistische Schriftverständnis überwindet. Um solcherlei fundamentalistische Lehre zu verbreiten, greifen entsprechende Akteure zu erstaunlichen Maßnahmen. Zum Beispiel berichtet der brasilianische pfingstliche Theologieprofessor und Pastor David Mesquiati aus Vitória, dass an seiner Universität eines Tages ein Lastwagen voller Bücher eintraf, sauber adressiert an die Bibliothek, aber ohne Absender. Es handelte sich um portugiesische Übersetzungen von fundamentalistischer Literatur aus den USA. Man habe lange überlegt, was man damit anfangen solle. Einen Absender habe man nicht ermitteln können. In der Bibliothek hätte man diese Sorte von Büchern auf keinen Fall haben wollen. Aber das Verbrennen von Büchern habe eine schlechte Tradition. Lange habe man diskutiert, sie auf die Müllhalde zu fahren. Aber aus Respekt vor dem geschriebenen Wort habe man auch darauf verzichtet. Stattdessen wurde – in ökumenischer Offenheit, wie ich finde – entschieden, die Bücher auf Häuser zur Rehabilitation von Drogenabhängigen und Obdachlosen zu verteilen, die von konservativen Pfingstkirchen unterhalten werden. Der Grund: die Bücher entsprechen deren Weltanschauung. Einmal abgesehen davon, dass man sich fragen kann, ob die Bücher dort segensreich zum Einsatz kommen, stellt sich noch die weitergehende Frage, wer für solche unwillkommenen »Buchgeschenke« das Geld bereitstellt.
7 Panama 2016 und der gesellschaftliche Kontext
Refeudalisierung: Diese Frage führt zum Zusammenhang zwischen der in der Einleitung bereits angesprochenen Refeudalisierung2 der heutigen Gesellschaften und religiös-politischen Interessen. Die Theorie der Refeudalisierung analysiert und interpretiert die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Dynamiken, die mit der fortschreitenden Konzentration von Kapital in großen Vermögen verbunden sind. Sie belegt unter Anderem eine quasiständische Verfestigung von Herkunft und dem damit verbundenen Besitzstand; ein arbeits- und risikofreies Einkommen von wenigen Menschen; und die Umwandlung von Sozialpolitik in mildes Geben. Darüber hinaus scheinen uns noch andere Charakteristiken dieser Entwicklung für unsere Fragestellung nach der Rolle der Religion in diesem Szenario wichtig. Das erste ist der Zugriff von Geldoligarchen auf die Politik. In den USA ist es durch die plutokratischen Züge des politischen Systems ohnehin nur für Menschen mit reichen Spendern möglich, effektiv um die Präsidentschaft zu konkurrieren – selbst wenn man die derzeitige Präsidentschaft eines MultiMilliardärs eher als einen Zufall betrachten mag. In Lateinamerika wie in anderen Weltgegenden gehen immer mehr neue Millionäre und Milliardäre in die Politik, und zwar meist als Seiteneinsteiger gleich ganz oben als Präsidenten oder Präsidentschaftskandidaten.3 Oder aber Prätorianer der Milliardäre wie Jair Bolsonaro gelangen ins Amt, mit der Unterstützung der nationalen Oligarchien und der religiösen Rechten. Was hat das mit Religion zu tun? Max Weber beobachtet auf seiner Reise in die USA auch das Verhältnis von Multimillionären zur Religion und stellt scharfsichtig fest: Zwar gehörten bekanntlich nicht ganz wenige (…) der Multimillionäre und auch der Trustmagnaten formell Sekten (…) an. Diese indessen naturgemäß oft nur aus konventionellen Gründen, wie bei uns, und nur zur persönlichgesellschaftlichen, nicht aber zur geschäftlichen, Legitimation. Denn wie schon zur Zeit der Puritaner bedurften naturgemäß solche ›ökonomischen Übermenschen‹ einer derartigen Krücke nicht und ihre »Religiosität« war natürlich oft von mehr als zweifelhafter Aufrichtigkeit. (Weber 1988a, 214)
2 3
Vgl. Kaltmeier 2019 und Neckel 2010, der seinerseits auf Habermas aufbaut. Als Präsidenten: Sebastián Piñera in Chile, Mauricio Macri in Argentinien, Donald Trump in USA, Petro Poroschenko in der Ukraine, Bidsina Iwanischwili in Georgien, Thaksin Shinawatra in Thailand, Saad Hariri im Libanon, Silvio Berlusconi in Italien.
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Weber sieht sehr richtig, dass die Milliardäre Religion nicht benötigen. Was wir heute vielleicht deutlicher sehen – was aber mit John D. Rockefellers Mäzenatentum für die Mission zur Förderung des Handels auch damals schon deutlich war – ist Folgendes: Die Milliardäre brauchen Religion zwar nicht, aber sie benutzen sie. Die Religiosität Anderer ist für sie in vielerlei Hinsicht eine nützliche Sache. Also werden genehme religiöse Gruppierungen auf verschiedenste Weise unterstützt. Ein Präsident kann religiöse Akteure in einen »Hofstaat« berufen und so gegenseitige Gewinne an symbolischem Kapital einfahren. Meist aber werden religiöse Akteure direkt von den Magnaten oder über Stiftungen unterstützt, wie wir beim IRD gesehen haben. Dafür stehen Namen wie Rockefeller, J.P. Grace, Richard deVos, Arthur de Moss, Adolph Coors, die John Birch Society, das American Enterprise Institute, die American Heritage Foundation und viele Andere. Die aus diesen Quellen – und natürlich auch aus eigenen, wie etwa den Millionen aus Spenden – finanzierte religiöse Rechte funktioniert als religiös-politische Brigade für den privaten Eingriff in politische Angelegenheiten, wie man gut an der Infrastrukturhilfe für die nicaraguanische Contra sehen kann. Und schließlich ist unser drittes Charakteristikum das Handeln der religiösen Experten, die selbst Millionäre und Milliardäre sind. Dort, wo die Laizität schwach, die Religionsfreiheit weit ausgelegt und der Zugang religiöser Akteure zu Medien frei ist, bilden sich vor allem Organisationen der Formation Management zu Wirtschaftsimperien mit starkem Einfluss auf die öffentliche Meinung aus. Die religiösen Oligarchen werden auf diese Weise selbst zu politischen Königsmachern, und zwar mit religiöser Propaganda – obwohl es für sie doch eigentlich »Gott ist, der die Könige einsetzt«… Aber dies ist ja nur, was die Klientel in den Versammlungen, vor dem Fernseher und in den (a-)sozialen Medien glauben soll. Die religiösen Oligarchen streben vielmehr an, die Einsetzung derjenigen voranzutreiben, mit denen sich die besten Synergien erzielen lassen. Die Religiösen fördern Neoliberalismus im Tausch gegen die Liberalisierung der Religionsgesetzgebung zu ihren Gunsten. Konkret gewinnen sie beispielsweise freie Mediennutzung sowie Medienbesitz bei Steuerfreiheit »religiöser« Sender. Der von ihnen geförderte staatliche Autoritarismus gegen linke Opposition nützt ohnehin rechtsgerichteten Herrschern und religiösen Oligarchen in ähnlicher Weise, da sich unter zusammengeknüppelten Gerechtigkeitsdemonstranten sehr oft auch ökumenische religiöse Kritiker der religiösen Rechten befinden. Die religiöse Rechte spielt in Lateinamerika und in den USA ihre Rolle in der Refeudalisierung der Politik homolog zur Rolle der Wirtschaft. Ebenso
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wie die Wirtschaft trachtet sie danach, politische Prozesse unter die Kontrolle politikfremder Handlungslogiken und Akteure zu bringen. Formales Prozedere wird zwar eingehalten und somit der Anschein demokratischer politischer Prozesse gewahrt. Aber die Inhalte, mit denen politische Prozesse überdeterminiert werden, sind nicht politisch, sondern ökonomisch oder religiös. Aufgrund von Medienmacht kann den Wählern vorgegaukelt werden, in der Politik käme es vor allem auf den besten »Deal« oder auf Gottes offenkundigen Willen an. Die Refeudalisierung wird somit noch dadurch weitergetrieben, dass die Grenzen zwischen den ausdifferenzierten Feldern moderner Gesellschaften systematisch eingerissen werden. Die funktionale Differenzierung wird durch Wirtschaft und Religion unterlaufen. Der Alliance Defense Fund in den 1990er Jahren in den USA hatte auf dem Programm, den 10 Geboten Verfassungsrang zu verschaffen; in Lateinamerika gibt es in manchen Ländern ähnliche Bestrebungen. Die dominion-Doktrin hat die Eroberung aller gesellschaftlichen Systeme durch religiöse Autoritäten zum Ziel, wie es der Seven Mountain Dominionism propagiert. Man könnte meinen, dass bestimmte religiöse Akteure die Rückkehr ins Mittelalter auf dem Programm haben. Selbst wenn das aus vielen Gründen kaum gelingen dürfte, so liegt es doch ziemlich klar auf der Hand, dass die Verbindung moderner Religiosität mit demokratischer Politik von den Akteuren der religiösen Rechten, insbesondere seitens der Formation Management, aufgekündigt worden ist – auch wenn dauernd von democracy geredet wird. Ein Blick zurück in die Kirchengeschichte zeigt Folgendes. Der politische Herrschaftsanspruch der katholischen Kirche im Mittelalter war religiös begründet. Den stärksten Ausdruck findet dieser Anspruch in der so genannten »Zwei-Schwerter-Theorie« (Bulle Unam Sanctam, 1302), die Papst Bonifatius VIII aus dem Bibelvers Lukas 22,38 an den Haaren herbeigezogen hat.4 Ein Schwert sei von der Kirche zu führen, ein zweites von den politischen Autoritäten für die Kirche. Die Kirche also beansprucht die totale Herrschaft in einer feudalen Ordnung für sich. Damit räumt die lutherische Reformation auf, sehr zur Freude des städtischen Bürgertums und selbstbewusst gewordener frühkapitalistischer Wirt-
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Für die Bibelinteressierten: Der Kontext des Verses ist eine Leidensankündigung Jesu. Zwar empfiehlt Jesus den Jüngern, sich ein Schwert zu kaufen. Aber unberührt davon sagt er den Jüngern, dass es mit ihm zu Ende gehe. Als die Jünger darauf antworten, sie hätten schon zwei Schwerter, wehrt Jesus das Ansinnen, sie einzusetzen, allerdings mit den Worten ab: »Ihr versteht mich nicht.« Vielleicht hat auch Papst Bonifatius VIII nicht recht verstanden.
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schaftssubjekte. Während zunächst noch obrigkeitliche Strukturen anerkannt werden, entwickeln sich innerkirchlich im klassischen Protestantismus unterschiedliche Demokratiemodelle, seien es die kongregationale, die presbyteriale oder die synodale Ordnung. Damit entsteht eine prinzipielle Offenheit für politische Vertragstheorien und die Herausbildung politischer Demokratie. In der europäischen und nordamerikanischen Entwicklung lassen sich durchweg Parallelen zwischen den Organisationsweisen des historischen Protestantismus und denen demokratischer Verfassungen beobachten. Zudem ist nicht nur die Organisationsstruktur, sondern auch der legal-rationale Legimitationsmodus ähnlich. Die demokratieähnlichen Strukturen halten sich auch im Evangelikalismus der USA und Lateinamerikas weitgehend. Allerdings werden sie in dessen fundamentalistischen Absplitterungen in der Regel durch doktrinären Autoritarismus ersetzt. Zudem bilden sich evangelikale Missionsgesellschaften heraus, die nach dem Modell von Handelsfirmen funktionieren. Da sie durch Spenden finanziert werden, müssen sie wie ein Industrieunternehmen quantitative Erfolge in der Produktion von Konvertiten aufweisen. Damit ist die Grundlage geschaffen für die Organisationsform des freien »Ministry«, eines Heilsbetriebes – als Weiterentwicklung von Webers lutherischer »Heilsanstalt« – unter der Leitung eines Besitzers, der für den Erfolg der Produktion geradesteht und den erwirtschafteten Profit abschöpfen kann, ob dies nun symbolisches Kapital als erfolgreicher Missionar oder auch schlicht Geld ist. Bei Dwight Moody und vor allem Billy Sunday war es beides. Ein besonderes Phänomen tritt in den Gruppen der frühen Pfingstbewegung auf, und zwar die charismatische Legitimationsform. Dabei wird der Anspruch auf direkt – nicht schriftlich, legalistisch oder rationalistisch – vermittelte Legitimation durch Offenbarung erhoben. Dies lässt sich als Versuch von ethnisch, ökonomisch und/oder religiös diskriminierten Menschen verstehen, sich in ihrer Lage einen Selbstwert und neue Handlungskompetenz zu verschaffen, ohne dass dieser Selbstwert von den Wohlhabenden und Gebildeten hinterfragt werden kann. Solange sich diese Dynamik in kleinen Gemeinden mit Beziehungen von Angesicht zu Angesicht und in Ausflügen zum Predigen auf der Straße abspielt, hat sie emanzipatorischen und praktischdemokratischen Charakter; die Offenbarungen der Schwester im Glauben lassen sich bei der nächsten Gelegenheit durch eigene Offenbarungen anderen Inhalts ja infrage stellen bzw. überwinden. So weit, so gut. Aber das Tückische am gesellschaftlichen Leben sind die nicht intendierten Effekte. In dem Maße, in dem sich religiöse Eventfirmen und Medienakteure den charismati-
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schen Legitimationsmodus zu Eigen machen, wird er zum Instrument eines religiösen Autoritarismus. Genau dies ereignet sich in den USA und Lateinamerika etwa seit den 70er Jahren mit der Durchsetzung der neopentekostalen Bewegung am Markt der Heilsbetriebe. An die Stelle der gegenseitigen Relativierung von Offenbarungsansprüchen in kleinen Gemeinden tritt jetzt die Autorität von Massenpredigern im Fernsehen, bei Kampagnen in Sportstadien oder in Mega-Kirchen. Redender Experte und hörende Massen begegnen einander ohne jeglichen Dialog. Die Prediger beanspruchen jetzt für sich die Autorität der göttlichen Offenbarung, die sie zunächst über die Massen ihrer HörerInnen ausüben und dann für weitere Kontexte wie etwa die Politik ebenfalls behaupten. Der religiöse Absolutheitsanspruch beruht also auf nichts anderem als der eigenen Meinung, die aus einem guten populistischen Gespür und ein paar Bibelversen heraus entwickelt wird. Ganz ähnlich wie Papst Bonifatius VIII können sie aus einem verlorenen Verslein oder gar aus ihrer puren Prätention weltweit reichende Machtansprüche herausmanipulieren. Damit der Anspruch dann auch in ähnlicher Weise historisch legitimiert wird, erfinden sie für sich selbst das Amt des »Apostolats«, das sie mit dem Papst auf eine hierarchische Stufe stellt. Wenn auch mit dem feinen Unterschied, dass der Papst laut Vaticanum I (1870) nur für Äußerungen zum Glauben ex catedra als unfehlbar gilt, aber neopentekostale Apostel auch für politische oder private Angelegenheiten Unfehlbarkeit genießen – kurz für alles, woran sie Interesse haben. Wir haben ja bereits gesagt, dass Pat Roberson eine Offenbarung hatte, dass der venezolanische Präsident Chávez von der CIA ermordet werden müsse. Mit demokratischer Partizipation sind solche Programme schlecht vereinbar; wohl aber mit Refeudalisierung und Post-Demokratie. Die religiösen Event-Stars fungieren wie PR-Experten, denen eine schweigende Masse gegenübersitzt, die nur auf ihre Signale reagiert; und wie Lobbyisten, die die Reaktionen der Masse im eigenen Interesse in eine Politik einspeisen, die hinter verschlossenen Türen betrieben wird. Dadurch werden die Menschen der Masse in einen Zustand religiöser Fixierung, des Desinteresses am politischen Argument und der wohlfeilen Manipulierbarkeit versetzt, »wodurch sie freiwillig wieder jene Position einnehmen, die sie in prädemokratischen Zeiten gezwungenermaßen innehatten« (Crouch 2008, 10, 35). So weit, so schlecht. Aber dies ist nicht die ganze Story. Die Logiken von Kolonisierung des Denkens und Refeudalisierung bestimmen keineswegs die
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praktische Logik des gesamten Protestantismus in den USA und in Lateinamerika.
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Panama ist viel zu heiß für einen Kongress, auf dem Menschen aus gemäßigten Breiten tagsüber arbeiten sollen. Aber das Land hat seit 1914 den interozeanischen Kanal und liegt damit verkehrstechnisch wesentlich günstiger als das gemäßigte San José in Costa Rica. Der Kanalbau in der damals noch kolumbianischen Provinz Panama wird im 19. Jahrhundert begonnen von einer französischen Firma, die das Projekt jedoch nicht zu Ende bringt. Ein Versuch der USA, einen Kontrakt für den Kanalbau unter US-amerikanischer Regie mit Kolumbien auszuhandeln, scheitert 1903. Also unterstützen die USA die Unabhängigkeitsbewegung der Provinz und können schon 1904 die junge Republik Panama anerkennen, um den Kanalbau zu beginnen. Der »big stick« hat einen neuen Staat mit »open doors« für die US-amerikanische Wirtschaft geschaffen. Der Kanal wird zu einem Emblem für den US-amerikanisch dominierten Welthandel. Für die Bevölkerung in Panama wird er zudem zu einem Emblem ethnischer Segregation. Zum Bau des Kanals wurden schwarze Arbeiter aus den Antillen zu schlechten Arbeitsbedingungen verpflichtet, die nach dem Ende des Baus 1914 zum großen Teil als eine marginale Bevölkerungsgruppe in Panama bleiben. Bis heute wird vor allem die episkopale Kirche Panamas von der Segregation in weiße und schwarze Mitglieder geplagt, wie ich aus der Arbeit mit dieser Kirche weiß. Wie immer hängt alles davon ab, wie man die Dinge sieht. In Panama finden 2016, wie gesagt, zwei Tagungen statt, die aus unterschiedlicher Perspektive auf den Kanal und die protestantische Politik in Lateinamerika blicken. Polyzentrismus: World Evangelical Alliance: Die Weltversammlung der auf Billy Grahams Initiative von 1974 zurückgehenden World Evangelical Alliance (3.-7.10.2016) hat als Logo das Bild eines Handelsschiffs im Kanal auf dem Hintergrund einer Stickerei der Cuna-Indígenas von der Karibikküste Panamas. Das Schiff dominiert das Bild und wird von den technischen Apparaturen der Schleusen auf den Betrachter zu bewegt. Im Hintergrund farbenprächtig und bewegungslos wie das Firmament die indigene Weberei. Wie soll man das Bild als Emblem eines Missionskongresses an einem so geschichtsträchtigen Ort wie Panama verstehen? Die Mission identifiziert mit
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dem Handelsschiff und das indigene Panama als bloßer Standort oder, vielleicht besser, als Gateway für den globalen Handel mit den Heilsgütern? Wie dem auch sei, klar ist, dass Kanal und Mission sich gegenseitig affirmieren, wie einst im ausklingenden 19. Jahrhundert.5 Nichts anderes erfährt man im »brief historical overview« von Timothy Halls, der im »geopolitical context« einen nostalgischen Blick zurück wirft auf die Öffnung der Kanalzone mit dem schönen Hotel Tivoli und dem Besuch von Teddy Roosevelt. Eine kritische Auseinandersetzung mit den Positionen der 1916er Konferenz konnte ich in den Dokumenten der 2016er nicht finden. Aber was hat sich geändert? Die Mission ist »polyzentrisch« geworden. Das Thema der Konsultation ist »Polycentric Mission – from all nations to all nations«. »The fast changing world scenario« – so die Einführung zur Konferenz6 – mache »partnership solutions« erforderlich. Auf der Welt gibt es mittlerweile gut positionierte Christen in den verschiedensten Orten. Was liegt da einer globalen Organisation näher, als ihr Arbeitskonzept dieser strukturalen Gegebenheit formal anzupassen? Somit entspricht die Anpassung den Veränderungen der evangelikalen Bewegung in der globalen Peripherie. In Lateinamerika wird in den 1980er Jahren die oben erwähnte CONELA gegründet, die ihrerseits die Gründung des Congreso Misionero Iberoamericano (COMIBAM, 1987) initiiert, der nationale evangelikale Missionsinitiativen zusammenfasst und sie international und ethnisch orientiert.7 Die World Evangelical Alliance kann also weltweit in unterschiedlichem Maße auf regionale evangelikale Initiativen zurückgreifen und sie bündeln. Wie der neu bestallte Leiter der Mission Commission, David Ruiz (2016), in Panama formuliert, bleibt der Blick der Regionen weiterhin auf quantitatives Wachstum ausgerichtet, nun aber im Horizont koordinierter Aktivitäten der Weltmission. Das kann auch dazu führen, dass frühere Entsendungsländer nun zu Empfängerländern werden, die um Mission aus dem Süden bäten. Ob dies die USA sind oder eher Europa, bleibt offen. In der Hoffnung, etwas wirklich Neues zu finden, greife ich zu zwei Vorträgen der Konferenz. Der eine ist vom Titel her eine Auseinandersetzung mit der 1916er Zusammenkunft. Der Exeget Samuel Pagán (2016) vom Florida 5
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https://www.worldea.org/news/4723/wea-mission-commission-highlights-polycentric-mission-during-panama-global-consultation (abgerufen am 29.10.2019), https://weamc.global/category/conferences/panama/ (abgerufen am 29.10.2019); http://mc.worldea.org/panama-global-consultation-intro/28.9.2016 (12.12.2016) https://www.comibam.org/es/ (abgerufen am 29.11.2018). Motto: »Iberoamérica llevando todo el evangelio a todas las etnias«.
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Center for Theological Studies in Miami verspricht das im Titel seines Vortrages. Er untersucht allerdings nur sehr deskriptiv die Verwendung der Bibel im Kongress 1916 und thematisiert dann die exegetischen Herausforderungen für die Gegenwart. Die Komplexität der Gesellschaften und die Notwendigkeit kontextueller Bibelinterpretation werden zwar erwähnt; aber es folgt kein Vorschlag zu einer kontextuellen Hermeneutik, sondern ein Verweis auf die Segnungen des Computers, der noch mehr Details im Text zu finden erlaube. Damit ist eine Position markiert, die noch Jahrzehnte früher als die Theologie der Befreiung liegt. Das Problem ist erkannt – und umschifft. Der Autor des Vortrags über »Mission from the periphery«, Samuel Escobar, verspricht Erlösung. Man lernt zunächst, dass Mission immer ein Risiko sei – ein weit verbreiteter Gemeinplatz unter US-amerikanischen Missionaren. Dann verweist Escobar auf Orlando Costasʼ interessante Idee, die Zentrum-Peripherie-Rhetorik der Dependenztheorie auf die Mission anzuwenden. Dadurch komme die Zentrumsmission in die Kritik. Ein Blick auf die Konversionszahlen zeige überdies, dass das Wachstum im Süden aktuell fast 20 Mal größer sei als im Norden. Entsprechend gebe es eine Missionsbewegung von der Peripherie her und – in muslimischen Ländern – eine »von unten«. Die südlichen Missionare seien selbstkritischer und würden zu biblischen Modellen mit »Aufmerksamkeit auf Geschichte« zurückkehren. Was das aber praktisch heißt, bleibt auch hier im Dunkeln. Das zentrale Anliegen der Konferenz, die »polyzentrische Mission«, wird im Schlussstatement durch andere, »closely related concepts« genauer beschrieben: Das würde ein polyphones Missionsgespräch einschließen, poly-direktionale Mission, poly-generational, eine auf das Kreuz oder auf Christus zentrierte Mission und Einheit in der Mission. (WEA Mission Commission 2016) Ganz gewiss ist es so, dass die US-amerikanischen Missionare nicht mehr das alleinige Kommando über das Missionsschiff haben. Aber die Ziele – quantitatives Kirchenwachstum auf Kosten nicht-evangelikaler Konfessionen8 und Religionen – bleiben ebenso dieselben wie die Inhalte – konservativ evangelikale, kreuzeszentrierte Opfertheologie und Bekehrungsindividualismus. Aus dekolonialer Prespektive wird man die Vermutung nicht los, dass das Programm der polyzentrischen Mission ein gelungener Versuch ist, die religiösen Dispositionen von religiösen Akteuren aus dem globalen Süden mit 8
….bei zunehmender Toleranz gegenüber Katholiken.
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den zentralen Konzepten der US-amerikanischen Missionstradition so zu kolonialisieren, dass die Akteure selbst und vollkommen freiwillig so denken und handeln wie die Kolonialisten selbst, und zwar durch die Süd-NordMission sogar in Richtung auf die Kolonialisten selbst. Es wäre eine gelungene Operation »symbolischer Gewalt« (Bourdieu), wenn dem tatsächlich so ist. Aus theologischer Perspektive spricht Einiges dafür. Das wird durch einen Kontrast zu anderen lateinamerikanischen Handlungsmodellen und entsprechender theologischer Kritik deutlich. Jedenfalls wird gerade die von der WEA propagierte (und vom traditionellen US-Fundamentalismus favorisierte) Opfertheologie von pfingstlichen Theologen aus Lateinamerika scharf kritisiert, beispielsweise vom brasilianischen Theologen Paulo Ayres Mattos auf der Tagung 2016 der Red Latinoamericana de Estudios Pentecostales (RELEP). Red Latinoamericana de Estudios Pentecostales: Dieses lateinamerikanische Netzwerk für pfingstliche Studien geht aus diversen Treffen von theologischen Dachverbänden9 zwischen 1995 und 2000 hervor, auf denen eine Gruppe von ökumenisch ausgebildeten pfingstlichen Akademikern beschließt, ein Netzwerk zu bilden. Der Startschuss fällt 1998 in Mexiko mit einer Zusammenkunft von vier Aktivisten aus Mexiko, Brasilien, Peru und Chile. Die erste größere Tagung findet 1999 in Santiago de Chile mit 20 pfingstlichen Akademikern aus 8 Ländern statt. Eine zweite Tagung wird 2002 mit Unterstützung der Universidad Bíblica Latinoamericana in Costa Rica organisiert sowie weitere in Santiago de Chile (2008, 2009) in Quito (2011) und schließlich in Panama (2016). Die Tagungsbeiträge werden publiziert.10 Vor allem bilden sich im Laufe der Zeit regionale Gruppen heraus. Aktuell hat die brasilianische Gruppe etwa vierzig Mitglieder und die des hispanischen Lateinamerikas etwa einhundert. Das Netzwerk vereinigt Disziplinen von der Theologie über Geschichte, Anthropologie, Architektur und Pädagogik bis zur Religionssoziologie. Das Ziel des Unternehmens ist es, pfingstkirchliche Praxis im sozialen Kontext Lateinamerikas zu reflektieren und so in einem theologisch verantworteten Rahmen zu unterstützen. Im Unterschied zur rigorosen Trennung normativer Theologie von deskriptiven Sozialwissenschaften in nordatlantischen Ländern werden hier diese Wissenschaften in einem problemorientierten, interdisziplinären Dialog
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Comunidad de Educación Teológica Ecuménica Latinoamericana y Caribe (CETELA) und Asociación de Teólogos del Tercer Mundo (ASETT). Chiquete und Orellana 2003; 2009ª; 2009b; Mesquiati de Oliveira und Freire de Alencar 2017.
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zusammengeführt. Die Mitglieder der Vereinigung sind zum größten Teil in Universitäten, theologischen Seminaren oder NROs beschäftigt und in der Regel sehr gute Kenner des religiösen Feldes ihres jeweiligen Landes. Die Tagung 2016 in Panama zur kritischen Aufarbeitung des 1916er Kongresses findet in Kooperation mit dem Foro Pentecostal Latinoamericano y Caribeño (FPLC) statt. Dieses Forum ist ein lockerer Zusammenschluss von Kirchen und Personen, die am ökumenischen Dialog im weitesten Sinne interessiert sind. Es ist zwischen 2007 und 2010 als regionaler Ausdruck der Arbeit des Global Christian Forum11 entstanden. Dieses wiederum wurde 1998 auf Initiative des Weltrates der Kirchen gegründet, um ökumenische Verständigung auch für solche Kirchen anzubieten, denen die institutionelle Mitgliedschaft im Rat eine zu enge Bindung an dessen Programmatik bedeutet. Das Forum ist mittlerweile institutionell vollständig unabhängig vom Weltrat und bringt Kirchen der unterschiedlichsten Traditionen miteinander ins Gespräch. Zahlreiche Mitglieder von RELEP sind ebenfalls im Foro Pentecostal engagiert. In Panama finden zwischen dem 21. und 26. 11.2016 zwei direkt aufeinanderfolgende Tagungen am selben Tagungsort mit fast denselben Teilnehmern und starkem Einfluss von RELEP statt. Bis auf wenige Ausnahmen gehören alle TeilnehmerInnen der lateinamerikanischen Pfingstbewegung an. Ihr Blick auf die Lage des Christentums in Lateinamerika unterscheidet sich tiefgreifend vom dem der polyzentrischen Missionare, nicht zuletzt im Bezug auf den Kanal. Pfingstler-Tagung 2016: Der Kanal ist auch ein Bezugspunkt für mehrere Vortragende der Tagungen von FPLC und RELEP. In deutlichem Unterschied zum Event der World Evangelical Alliance stellen die meisten von ihnen den Kongress 1916 ebenso wie den Kanal in den Rahmen der Monroe-Doktrin und der Ideologie vom Manifest Destiny. Diese und verschiedene weitere Positionen der lateinamerikanischen Pfingstler, die im Folgenden skizziert werden, zeigen schlaglichtartig wieder die Differenz, die wir schon im Missverständnis zwischen den Theologen der Society for Pentecostal Studies und denen der Iglesia Apostólica de la Fe en Cristo Jesús gesehen haben. Auf der Tagung des FPLC wiederholt sich ein solches systematisches Missverstehen. Der altgediente US-amerikanische Pfingst-Theologe und langjährige Fuller-Professor Mel Roebeck war als Präsidiumsmitglied des Global Christian Forum zur Tagung der FPLC eingeladen. Er spricht – 11
www.globalchristianforum.org/ (abgerufen am 29.10.2019).
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auf Englisch – am Ende des zweiten Tages vor den versammelten lateinamerikanischen Akademikern. Im Norden sei man an einem Dialog mit starken Stimmen aus dem Süden interessiert. Außerdem müsse man einen Prozess gegenseitiger (!) Vergebung anstreben. In den USA würde in der Pfingstbewegung Theologie gelehrt und nicht Soziologie, wie dies in Lateinamerika offensichtlich der Fall sei. Aber die Fragen der Lateinamerikaner seien geistlich zu beantworten, so wie Jesus die Jünger auf die Blätter eines Baumes verweist, um die Jahreszeit zu erkennen und so wie der Apokalyptiker Johannes die Sendschreiben an sieben Gemeinden in einer Vision empfangen habe. Für »uns alle« sei es wichtig zu hören, was der Geist sage. Dann hebt er auf der Bedeutung interkonfessionellen und interreligiösen Dialogs ab. Der große Vorteil des Pentekostalismus sei, dass er eine Spiritualitätsform sei, die sich mit vielen Konfessionen verbinden könne. Der brasilianische Historiker Gideon Freire de Aléncar antwortet – mit dem Druck der brasilianischen religiösen Rechten im Rücken –, dass es unter den konservativen Protestanten und Katholiken in Lateinamerika üblich sei, interkonfessionell über Themen wie Homosexualität und Abtreibung zu kooperieren; und im Anschluss daran fragt er, ob man nicht besser zu Themen wie Gewalt, Krieg oder Emanzipation kooperieren solle. Roebeck verweist auf seine Erfahrungen im Dialog mit der katholischen Kirche, insbesondere mit Johannes Paul II., und sagt, dass man über viele Themen reden könne, wie beispielsweise Menschenwürde oder auch Erziehung. Der chilenische Historiker Luis Orellana fragt daraufhin nach der politischen Verantwortung der Kirchen. Er erfährt von Roebeck, dass es vor allem darauf ankomme, die Kirche zusammenzuhalten und a-politisch zu sein; aber, nun ja, die Kirchen des Südens sollten die des Nordens schon dazu drängen, mehr über Politik zu reden. Vielleicht entsprang das Zugeständnis ja der Höflichkeit. Über Politik, soziale Lagen, kulturelle Diskriminierung als sehr konkrete Kontexte ihrer kirchlichen Arbeit reden die lateinamerikanischen TeilnehmerInnen der Tagung unentwegt. Es ist Konsens, dass im interkonfessionellen Dialog der soziale Kontext eine entscheidende Rolle spielt. Wieder wird die Differenz zu den USA deutlich. Das Gros dieser lateinamerikanischen Christen akzeptiert nicht mehr, dass Theologie als ein akademisches Glasperlenspiel betrieben wird und kirchliche Einheit als verbale Übereinstimmung über theologische Sätze verstanden wird. In den meisten Beiträgen zu den Themen der Tagungen wird dies deutlich. Kongress 1916: Mit dem Missionskongress von 1916 beschäftigen sich 4 der 18 Vorträge der FPLC und 12 der 22 Vorträge bei RELEP. Die Spannweite der
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Einschätzungen reicht von einer Würdigung der missionarischen Bemühungen um eine panamerikanische Demokratisierung in Lateinamerika (Tomás Gutiérrez) über Reflexionen zur Modernisierung des Kontinents auf dem Hintergrund der Monroe-Doktrin (Daniel Oviedo) bis hin zu einer kritischen Positionierung des Kongresses von 1916 im Kontext geopolitischer Machtstrategien (Freire de Alencar und David Mesquiati). Freire de Aléncar sieht den Kanal und den 1916er Kongress im Zusammenhang der Geopolitik (Freire de Alencar 2016). 1914 begann der erste Weltkrieg (und in den USA die Diskussion über den Eintritt) und der Kanal wurde fertiggestellt. Aléncar unterstreicht, dass am Kongress für Christian Work in Latin America 1916 panamaische Minister, auswärtige Botschafter, Gesandte des US-Außenministeriums und der Chef des Kanals, ein US-Oberst, als Gäste zugegen waren. Zudem verweist er darauf, dass von den 230 religiösen Delegierten nur 145 US-Amerikaner auch in Lateinamerika wohnten und nur 21 gebürtige Lateinamerikaner anwesend waren. Dass dies wichtige Kontextfaktoren sind, um den Kongress zu verstehen, sieht auf der Tagung 2016 bei weitem nicht nur er so. Aléncar erkennt aus der Sicht eines modernen brasilianischen Pfingstlers ein Problem des Kongresses von 1916 darin, dass er den Protestantismus als anti-katholisches Kulturmodell profiliert und mit dieser Orientierung auch die in Lateinamerika entstehende Pfingstbewegung beeinflusst (Freire de Alencar 2016).12 Vor allem aber habe der Kongress eine kolonialistische Perspektive auf Lateinamerika gehabt, die mit rassistischen und intellektualistischen Vorurteilen angereichert gewesen sei. Ein großes Problem sei – so zitiert er die grundlegende Untersuchung von Arturo Piedra (1993) –, dass der Kongress an den Interessen der lateinamerikanischen Mittel- und Oberschicht orientiert gewesen sei. Dies zeigt Aléncar gerade nicht am Diskurs von US-Missionaren, sondern vielmehr am Beispiel der drei brasilianischen Vertreter im Kongress. Dem Kongress war 1903 ein Schisma in der brasilianischen presbyterianischen Kirche vorausgegangen: die mit Missionaren ausgestattete, pro-US-amerikanische, dem Freimaurertum nahestehende Igreja Presbiteriana do Brasil versus das nationalistische Projekt brasilianischer Pastoren, die Igreja Presbiteriana Independente. Vertreter der erstgenannten reisten nach Panama. Dies erkläre, so Alencar, dass sie – jeder Einzelne in stärkerem oder geringerem Maße – die USA und ihren Protestantismus als weiß (was als Wert an sich verstanden wird), gebildet und kapitalistisch darstellten, während Lateinamerika als geringwertig, rassisch gemischt 12
Freire de Alencar 2016; Mitschnitt eines mündlichen Vortrags vom 21.11.2016.
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und krank zur Sprache kam. Bei einem solchen Setting fand die Pfingstbewegung – obgleich schon präsent in den USA, Brasilien und anderen Ländern – keine Erwähnung, weil deren Mitglieder eben arm und schwarz gewesen seien und es immer noch sind. Der Theologieprofessor David Mesquiati sieht die Sache ähnlich. Seit 1916 seien Mission und Kapitalismus miteinander identifiziert. Es sei dringend nötig, dass Konzept der Evangelisation auf Menschenrechte, soziale Gerechtigkeit und Friede zu fokussieren. Der Pastor und Theologe Daniel Chiquete macht an einer Medienanalyse deutlich, wie im 19. Jahrhundert eine »Leyenda negra«, eine »schwarze Legende«, über den lateinamerikanischen Katholizismus gewoben wurde und Rechtfertigungsmetaphern wie »Modernisierung«, »Freiheit« und »Ethik« die Mission noch heute legitimieren. Andere betonen, dass der von Norden dominierte Panamerikanismus keineswegs nur Demokratie – was ist damit eigentlich gemeint? – nach Lateinamerika gebracht habe, sondern Diktaturen, Folter, Unfreiheit und Marginalisierung. Gewiss sei es richtig, dass viele Missionare auch Kritik an imperialistischer Politik geübt haben; aber die Mission sei sehr ambivalent und habe auch – so heißt es aus der Perspektive indigener Völker – gelegentlich vor Genozid nicht zurückgeschreckt. Der brasilianische Theologieprofessor Paulo Ayres Mattos schlägt für das missionarische Nord-Süd-Verhältnis die Metapher der »kulturellen Menschenfresserei« (antropofagia cultural) vor, da hier die beherrschte Kultur von der herrschenden verschlungen werde. Man könne das etwa an der Militarisierung des pfingstlichen Liedgutes durch die USamerikanischen Missionare sehen, die dauernd von Blut reden und »Christi Bataillone« in den Kampf um Städte schickten. Pastorale Herausforderungen: Viele Vorträge und Debatten der RELEPTagung haben in direkter oder indirekter Weise mit pastoralen Herausforderungen der Pfingstbewegung zu tun. In diesem Zusammenhang ist es von Bedeutung, dass meines Wissens niemand unter den vertretenen pfingstlichen AkademikerInnen einer Mega-Kirche angehört und alle vertraut sind mit pfingstlichem Gemeindeleben der unteren Mittelschicht und sogar Unterschicht. Für viele kleine Gemeinden, vor allem in marginalen Vierteln, sei die Straßenmission in der Nachbarschaft deutlich wichtiger als die Weltmission. Also stellt sich durchaus die Frage nach einem legitimen Proselytismus. Diese wird vom peruanischen Pastor und theologischen Autor Bernardo Campos dahingehend beantwortet, dass die Evangelisation und die Eingliederung in Kirchengemeinden die Verwirklichung des Menschenseins in einem holis-
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tischen Sinne zum Ziel haben müssen, nicht aber die quantitative Realisierung von Missionszielen. Die unzähligen kleinen Gemeinden der informellen Bevölkerung bestünden meist aus 20 bis 30 Mitgliedern, häufig einer Frau an der Spitze und praktisch allen Mitgliedern in der Rolle von Aktivisten und Experten. Eine der besonderen Herausforderung für die alltägliche Pastoral in diesen Vierteln seien die Jugendbanden, die häufig in Drogenhandel verwickelt seien. Viele dieser Kirchen vermitteln und dienen als Ausstiegsoption. Der Blick auf die pastorale Praxis ist freilich nicht nur dokumentierend; er ist durchaus selbstkritisch. David Mesquiati hebt hervor, dass die Gewalt keineswegs eine neue Herausforderung, sondern von der Pfingstbewegung früher nur nicht zur Kenntnis genommen worden sei. Viele Pfingstler seien weiterhin unkritisch und passten sich den herrschenden Verhältnissen und Machtstrukturen an. Sie seien häufig ekklesiozentrisch und nur an Gottesdiensten und Evangelisationskampagnen interessiert und verrieten so die Verpflichtung reformatorischer Kirchen zur sozialen Verantwortung. Stattdessen hingen sie US-amerikanischen Konzepten des religiösen Konservatismus an und ließen die Bürgerrechtsaktivisten allein. Die Pfingstbewegung sei jedoch herausgefordert, sich kritisch in die Kultur und Gesellschaft einzubringen, sich zu dekolonisieren, die Bibel hermeneutisch lesen zu lernen und ein gutes Verhältnis zu den Katholiken herzustellen. Etwas abstrakter formuliert, kann man die genannten Forderungen auf Inhalte wie soziale Gerechtigkeit, Frieden und Ökologie zuspitzen, die in der Tat in verschiedensten Beiträgen als Forderung nach einer neuen Ethik eine wichtige Rolle spielen. Statt um das Visum zum Himmel gehe es um die genannten Werte. Theologie: Management und Opfer: Mit alldem sind freilich nicht die neopfingstlichen Megakirchen gemeint. Die Akteure der Formation Management werden eindeutig als Gegner im religiösen Feld identifiziert, wenn auch nicht viel Redezeit darauf verwendet wird.13 Verbreitete Kritiken heben hervor, dass sich die Neopentekostalen in Lateinamerika wie »Vizekönige« der USA positionierten und der neoliberalen Logik des victim blaming folgten, was zusätzlichen psychischen Schaden bei den Opfern anrichte und auf der anderen Seite eine billige Legitimation von Reichtum liefere. Ein anderes Ziel scharfer Kritik ist die Opferterminologie der USamerikanischen evangelikalen Bewegung, mehrheitlich in der Formation 13
Nur einmal werden Neopentekostale wegen ihrer Medienkenntnisse lobend erwähnt. Man könne sie einladen, um Hilfestellung für die eigenen Strategien zu bekommen.
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Gesetz Gottes organisiert. Paulo Ayres Mattos führt aus, dass Opferund Sühnetheologie mit der Idee der Wiedergutmachung durch Strafe die christliche Heilslehre durch eine juridische Interpretation verzerren. Damit werde der Weg bereitet für eine noch weiter reichende Verzerrung durch das neopfingstliche und zugleich neoliberale prosperity-Programm. Hier werden das blutige Opfer Christi und das Geldopfer bei der Spende äquivalent gesetzt. Von dort her wird, wie bei einem Kreditgeschäft, eine Verpflichtung Gottes abgeleitet und schließlich Geld als Form der Erlösung etabliert. Somit werde der neoliberale Kapitalismus legitimiert, den Opfern des Systems (im deutschen Vokabular: die »Minderleister«) die Schuld zugeschoben und der Konsum als gelobtes Land inszeniert. Indigene Pfingstler: In ganz besonderer Weise tut sich die Spannung zwischen US-amerikanischer Mission und lateinamerikanischer religiöser Praxis im Verhältnis zu indigenen Pfingstlern auf. Verflechtung ereignet sich hier oft mit einer starken Dosis indigener Kultur. Bernardo Campos aus Peru verweist darauf, dass es eine »Syntonie« zwischen Pfingstbewegung und indigener Kultur gebe, die sich etwa darin ausdrücke, dass Pfingstpastoren eine dem indigenen Priester ähnliche Rolle einnähmen. Über diese funktionale Analogie hinaus sind programmatische Verflechtungen inkulturierter pfingstlicher Praxis und indigener Identität in Arbeit. Diese Strömung, die besonders in den Anden, aber auch in Guatemala stark ist, ist auf der Tagung durch den promovierten14 Aymara-Theologen Jacobo Tancara aus Bolivien vertreten. Tancara hat tiefgreifende und reflektierte Erfahrung im indigenen Alltag und als Pastor in indigenen Gemeinden in marginalen Vierteln Boliviens15 sowie breite akademische Kenntnisse in der Theologie und Philosophie der Befreiung. Tancara, der in einer theologischen Hochschule in den Anden arbeitet, entwirft ein indigenes Gegenprogramm zu dem der Mission und der konservativen weißen Pfingstbewegung. Er greift dafür zum Einen auf solche indigenen religiösen Praktiken zurück, die mit pfingstlichen vermittelt sind, wie beispielsweise die Annahme einer von Geistern belebten Natur16 und einer hohen Bewertung der Gemeinschaft im Unterschied zum Individuum. Zum Anderen lassen sich durch den
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Promotion in Bielefeld beim Verfasser. Vgl. das Buch Tancara Chambe 2011. Seitens europäischer systematischer Theologie gibt es hier durchaus Möglichkeiten einer Verständigung über eine weit gespannte Pneumatologie.
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akademischen Rückgriff auf die Literatur zur Dekolonisierung (von Mariátegui über Quijano bis zu Enrique Dussel) Elemente der Dekolonisierung in der pfingstlichen Praxis entdecken und verstärken. Wenn sich die Pfingstkirchen als innovativ sehen, was sie zweifelsohne tun, fordert Tancara sie auf, die Innovation im Blick auf die Gesellschaft in Gang zu setzen. So wie Trotzki von der permanenten Revolution sprach, gelte es von der permanenten Reformation zu sprechen.17 Von der Theologie der Befreiung sei schließlich zu lernen, dass man Theologie und kirchliche Praxis nur betreiben könne, wenn man den Konflikt zwischen den gesellschaftlichen Klassen und dessen Übersetzung in einen ethnischen Konflikt als Grundlage für die theologische und pastorale Praxis ernst nehme. Der Fluchtpunkt einer solchen Theologie und pastoralen Praxis aus der indigenen Perspektive ist die Dekolonisierung als Abschied von einer schädlichen Verflechtung mit dem Norden und die Perspektive auf einen neuen Versuch aus dem Süden, vielleicht, eines Tages. Fürs Erste scheint Vielen die Entflechtung die beste Form der Verflechtung zu sein.
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…was ja im reformierten Protestantismus ohnehin schon etabliert ist.
Nachwort: Verflechtungsdynamiken
Aber als die Flöße und Boote deutlicher in Sicht waren, sahen die Passagiere des Schiffs, dass die Menschen nicht mit leeren Händen kamen. ...sie alle hatten in ihren winzigen Wasserfahrzeugen die unverwechselbaren orange eingebundenen Bücher, die einst die Brücke der Glory gesäumt hatten. (Dave Eggers: Der größte Kapitän aller Zeiten) Verflechtung von Praktiken, Habitūs und gesellschaftlichen Institutionen kommt in den unterschiedlichsten Formen vor. In diesem Buch wurde nur ein gut eingrenzbares Feld untersucht, nämlich das der protestantischen Mission aus den USA in Lateinamerika und deren Rückwirkungen. Dieser Blick hat eine Verflechtungsdynamik offenbart, die nicht nur Asymmetrie, sondern auch eine gewisse Dialektik erkennen lässt. Die US-amerikanische Mission (die Position) bringt in der Verflechtung mit Lateinamerika einen besonderen Protestantismus hervor (Negation), der dann wiederum in den USA aktiv wird und zu einer Synthese führt. Schön wär’s. Die Prozesse sind deutlich komplizierter, auch wenn sie hier nur unter der Voraussetzung von zwei kollektiven Akteuren betrachtet werden. Es lassen sich allenfalls folgende Ausprägungen praktischer Verflechtung zeigen. Dominanz: Die objektive Verflechtung erfolgt mit der Einrichtung von Kontrollinstanzen beim subalternen Pol. Die klassische US-Mission verfolgt das Ziel kultureller Dominanz in Lateinamerika und verwaltet die protestantische Praxis durch US-Missionare. Eine kognitiv-emotionale Dominanz entsteht dann, wenn Wahrnehmungs- und Bewertungsschemata übertragen werden und durch langanhaltende, verpflichtende Einübung inkorporiert werden. Davon kann man in Missionsschulen und noch stärker bei der Ausbildung lateinamerikanischer Prediger ausgehen.
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Subalternität: Sie ist das Komplement von Dominanz. Die subalternen Akteure akzeptieren die Subalternität, identifizieren sich mit der Dominanz und entwickeln entsprechende Praktiken. Der rechte hispanische Protestantismus scheint dieser Dynamik zu folgen, ebenso wie die »polyzentrische« Mission aus dem Süden. Subversion: Diese agiert ebenfalls unter Bedingungen von Dominanz, erkennt diese aber und arbeitet an der eigenen Emanzipation unter Nutzung von Elementen der dominanten Praxis. Dies dürfte in den Praktiken der indigenen Protestanten der Fall sein, wie auch, in ähnlicher Form, in der Theologie der Befreiung. Eine drastische Form der Subversion des Katholizismus stellt der Kult der Santa Muerte dar. Kooperation: Die Idealform der Verflechtung ereignet sich dann, wenn objektive und wahrgenommene Synergien erzeugt werden. Dies ist der Fall zwischen den ersten liberalen Missionaren in Lateinamerika und den (wirtschafts-)liberalen Criollo-Eliten. Sie kann auch zwischen indigenen Protestanten in Lateinamerika und den ökumenischen Hilfswerken des Nordens oder auch zwischen konservativen Evangelikalen in den USA und CONELA in Lateinamerika konstatiert werden. Verschmelzung: Diese findet statt, wenn sich aufgrund einer objektiven Angleichung der sozialen Positionen im Laufe der Zeit übereinstimmende (religiöse) Habitūs entwickeln und ein mehr oder weniger unmittelbares Verstehen möglich wird. Bei der in den letzten vielleicht 5 bis 6 Jahrzehnten entstandenen »transnationale religiöse Klasse« (in Anlehnung an Sklair) dürfte dies der Fall sein. In einzelnen Fällen kann man annehmen, dass sich Positionen einzelner, dissidenter Missionare denen lateinamerikanischer Christen angleichen, insbesondere wenn langjährige familiäre Verbindungen eingegangen werden. Missverstehen: Dies lässt sich als ein misslungener Versuch der Herstellung von Kooperation beschreiben. Es ereignet sich dann, wenn die Wahrnehmungs- und Wertungsdispositionen derart unterschiedlich sind, dass ein- und dieselben Konzepte vollkommen anders verstanden werden. Dies haben wir zwischen US-amerikanischen und lateinamerikanischen Theologen beobachtet. Verzicht: Im Verzicht auf versprochene Vorteile von Verflechtung und deren Ablehnung kommt das Selbstbewusstsein zum Ausdruck, mit der eigenen Lage besser selbst als unter Einmischung von außen zurechtzukommen. Diese Strategie lässt sich bei indigenen Völkern in der Zurückweisung von Missionsinitiativen beobachten.
Nachwort: Verflechtungsdynamiken
Abbruch: Abbrechen ist eine aktive Variante des Verzichts bei bereits bestehenden Beziehungen, etwa von Dominanz. Dafür steht emblematisch die Nationalisierung vieler klassischer US-Missionen in den 1960er Jahren in Lateinamerika. Konter: Die Gegenaktion wäre wohl die einzige Form von Verflechtung, die als dialektisch bezeichnet werden kann. Diese ereignet sich in der bewussten und expliziten Kritik an den Positionen der Anderen. Dies ist etwa der Fall beim Aufstand der jungen Evangelikalen beim CLADE-Kongress in Bogotá 1969 und beim Weltmissionskongress in Lausanne 1974. Auf der Ebene der religiösen Alltagspraxis findet sich der Konter in der Aktion religiöser Migranten in den USA als religiöse Expatriates, die sich den göttlichen Auftrag zurechnen, den konsumsüchtigen gabachos (Gringos) den rechten Glauben zu bringen.
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Aufbruch in die Öffentlichkeit? Reflexionen zum ›public turn‹ in der Religionspädagogik 2018, 254 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-4227-8 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation, ISBN 978-3-8394-4227-2
Nora Kim Kurzewitz
Gender und Heilung Die Bedeutung des Pentekostalismus für Frauen in Costa Rica März 2020, 272 S., kart., 2 Farbabbildungen 40,00 € (DE), 978-3-8376-5175-1 E-Book: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5175-5
Thomas Klie, Jakob Kühn (Hg.)
Das Jenseits der Darstellung Postdramatische Performanzen in Kirche und Theater März 2020, 214 S., kart., 13 SW-Abbildungen 35,00 € (DE), 978-3-8376-5162-1 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5162-5
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Religionswissenschaft Isabella Schwaderer, Katharina Waldner (Hg.)
Annäherungen an das Unaussprechliche Ästhetische Erfahrung in kollektiven religiösen Praktiken Februar 2020, 272 S., kart., 23 SW-Abbildungen 34,99 € (DE), 978-3-8376-4725-9 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation, ISBN 978-3-8394-4725-3
Martin Tulaszewski, Klaus Hock, Thomas Klie (Hg.)
Was Heilung bringt Krankheitsdeutung zwischen Religion, Medizin und Heilkunde 2019, 218 S., kart., 4 Farbabbildungen 34,99 € (DE), 978-3-8376-5042-6 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5042-0
Oliver Wäckerlig
Vernetzte Islamfeindlichkeit Die transatlantische Bewegung gegen »Islamisierung«. Events – Organisationen – Medien 2019, 432 S., kart., 9 SW-Abbildungen 44,99 € (DE), 978-3-8376-4973-4 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation, ISBN 978-3-8394-4973-8
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