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German Pages 258 Year 2014
Tobias G. Natter, Michael Fehr, Bettina Habsburg-Lothringen (Hg.) Die Praxis der Ausstellung Über museale Konzepte auf Zeit und auf Dauer
Tobias G. Natter, Michael Fehr, Bettina Habsburg-Lothringen (Hg.)
Die Praxis der Ausstellung Über museale Konzepte auf Zeit und auf Dauer
Dokumentation der Fachtagungen Mit Dingen erzählen. Die Schausammlung (Bregenz, 4. November 2010) und Mit Dingen argumentieren. Die Sonderausstellung (Bregenz, 3. März 2011). Die Tagungen fanden im Rahmen der Veranstaltungsreihe Relaunch: Das Museum neu denken statt, die das Vorarlberger Landesmuseum anlässlich seiner inhaltlichen und baulichen Neukonzeption in Zusammenarbeit mit der Museumsakademie Joanneum und dem Institut für Kunst im Kontext, UdK Berlin, organisierte.
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Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat: Silvia Groß, Anja Rhomberg, Irina Wedlich Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1862-4 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
Inhalt
Vorwort
Tobias G. Natter | 7 Zur Einführung
Michaela Reichel | 11 Sonderausstellungen Grundlegende Bemerkungen zu einem Format am Beispiel der Ausstellungstätigkeit am Universalmuseum Joanneum seit 1811
Bettina Habsburg-Lothringen | 17 Ausstellen heißt … : Bemerkungen über die Muséologie de la rupture
Marc-Olivier Gonseth | 39 Verschwimmende Grenzen Sammeln und Ausstellen im Kunstmuseum Luzern
Peter Fischer | 57 Kreative Unruhe See history 2003-2008 in der Kunsthalle zu Kiel
Dirk Luckow | 73 Grundsätzliches zum Ausstellen im vorarlberg museum
Tobias G. Natter/Michaela Reichel | 89 Erzählstrukturen in der Bildenden Kunst Modelle für museale Erzählformen
Michael Fehr | 121 Mit Dingen erzählen Möglichkeiten und Grenzen der Narration im Museum
Michael Parmentier | 147
Besucherorientierung im Museum für Kommunikation in Bern Die Dauerausstellungen über Computer und Briefmarken
Jakob Messerli | 165 Erzählen im jüdischen Museum
Felicitas Heimann-Jelinek | 181 Generationenwechsel Fünfzig Jahre Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen in Düsseldorf Ein Erfahrungsbericht
Anette Kruszynski | 201 Vaterländische Alterthümer hinter entspiegeltem Glas Die Dauerausstellung des Landesmuseums für Vorgeschichte Halle
Harald Meller | 217 Was lange währt, soll gut sein Gespräch mit der Schweizer Ausstellungsgestalterin Ursula Gillmann
Bettina Habsburg-Lothringen/Ursula Gillmann | 241 Die Autoren dieses Bandes | 251
Vorwort
Parallel zu meinem Amtsantritt als Direktor 2006 fiel die Entscheidung des Vorarlberger Landtages zum Bau eines neuen Landesmuseums. Der Altbau zeichnete sich zwar durch eine prächtige Lage im Zentrum von Bregenz aus, entsprach aber in vielerlei Hinsicht nicht mehr den zeitgemäßen Erfordernissen. Mit der architektonischen Neugestaltung tat sich also auch die Chance auf, das Museum auf der Höhe der Zeit neu zu denken, sein Profil zu schärfen und eine für Vorarlberg unersetzliche Kulturinstitution erfolgreich in das 21. Jahrhundert zu führen. Während meiner fünfjährigen Dienstzeit, die bis Mai 2011 dauerte, war ich gemeinsam mit meinem Team in der Verantwortung für den damit eingeleiteten und weitausholenden Transformationsprozess. Unser Anspruch bestand darin, auf der Höhe der aktuellen museologischen Diskussion ein Konzept für ein regional verankertes Haus zu entwickeln, das sich auch mittel- und langfristig als tragfähig, publikumswirksam, ressourcenschonend und lebendig erweist. In zahllosen Gesprächen mit Kollegen1 anderer Museen stellten wir immer wieder fest, dass bei vielen Grundsatzfragen zu zentralen Funktionen der Institution Museum im 21. Jahrhundert hoher Diskussionsbedarf bestand. Theoretisch wie praktisch beschäftigen sich viele mit dem 1
Mit Nennung der männlichen Funktionsbezeichnung ist in diesem Buch, sofern nicht anders gekennzeichnet, immer auch die weibliche Form mitgemeint.
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Potenzial wie mit der Problematik historisch gewachsener Sammlungen, der Bedeutung von Ausstellungsszenografie, dem Einsatz Neuer Medien, den Möglichkeiten einer adäquaten Zielgruppenansprache und Besucheranalyse und den daraus ableitbaren Schlüssen. Die zahlreichen Um- und Neubauten im Museumsbereich in den letzten Jahren stellten die Verantwortlichen vor oft ähnliche Herausforderungen: Es galt, das Museum in eine neue Zeit zu führen, modernen museologischen Anforderungen zu entsprechen, in einer sich ändernden Umwelt konkurrenzfähig zu bleiben und dennoch Profil, Charakter und Unverwechselbarkeit zu bewahren und zu stärken. Um den von uns im Rahmen der Neuausrichtung des Vorarlberger Landesmuseums initiierten internationalen Austausch mit Kollegen vernetzt zu führen und auf eine institutionalisierte Ebene zu bringen, riefen wir in Kooperation mit dem Institut für Kunst im Kontext an der Universität der Künste in Berlin und der Museumsakademie Joanneum Graz (im Rahmen eines forMuse-Forschungsprojektes) die Tagungsreihe Relaunch: Das Museum neu denken ins Leben. Der Aufbau der Tagungsreihe folgt dem von mir und meinem Team für das Landesmuseum entworfenen Konzept 3 Ebenen – 3 Zugänge, das auf drei räumlich annähernd gleichwertigen Ausstellungsebenen mit Schaudepot, Schausammlung und Sonderausstellungen drei unterschiedliche Zugänge zu seinen Beständen und Inhalten bieten will. Im Fokus der Tagungen standen folgende Grundthemen: 1. Die Ordnung der Dinge. Das Schaudepot 2. Mit Dingen erzählen. Die Schausammlung 3. Mit Dingen argumentieren. Die Sonderausstellung Diese Tagungsreihe soll um einen vierten Teil ergänzt werden, der sich unter dem Titel Dinge im multimedialen Kontext. Zum sinnvollen Verhältnis musealer Informationsträger mit dem Einsatz Neuer Medien im Ausstellungsbereich beschäftigt. Mittlerweile können wir auf drei Veranstaltungen zurückblicken, die im Zeitraum von März 2010 bis März 2011 in Bregenz stattfanden.
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Bereits das erste Symposium, zu dem im Oktober 2010 der Tagungsband Das Schaudepot. Zwischen offenem Magazin und Inszenierung erschienen ist, erwies sich als großer Erfolg gemessen an Resonanz und Ergebnis. Auch die beiden folgenden Veranstaltungen mit den Themenschwerpunkten zunächst Dauer- und dann Sonderausstellung erreichten ein Fachpublikum, weit über den Bodenseeraum hinaus, aus Österreich, Deutschland und der Schweiz. Wie die Ergebnisse und Diskussionen des zweiten und dritten Teils der Veranstaltungsreihe zeigen, hängen die Präsentations- und Erzählformen Dauer- und Sonderausstellung eng zusammen – oder besser formuliert, sollten ursächlich und im Dialog miteinander konzipiert und gedacht werden. Gerade aus dem Zusammenspiel beider entsteht das sinnvolle Profil eines Museums. Aus diesem Grund enthält der vorliegende Band auch die Referate und Fallbeispiele beider Tagungen. Unter dem Titel Die Praxis der Ausstellung. Über museale Konzepte auf Zeit und auf Dauer geht es um Sammlungs- und Wechselausstellungen, deren Grenzen bei aller Eigenart zunehmend verschwimmen, wie nicht nur der Direktor des Kunstmuseums Luzern, Peter Fischer, in seinem Beitrag anmerkt. Neue Formen der Narration und innovative Partizipationsmöglichkeiten sichern Aktualität und Gegenwartsbezug langfristiger Ausstellungsprojekte, wohingegen sich temporäre Präsentationen im kreativen Umgang mit dem eigenen Bestand üben und somit in ein übergeordnetes Gesamtkonzept eingebunden sind, das die institutionelle Identität widerspiegelt. Für das Gelingen der Tagungen ist vielen zu danken. Mein erster Dank geht zum wiederholten Mal an die beiden Kooperationspartner Dr. Bettina Habsburg-Lothringen, Graz, und Prof. Dr. Michael Fehr, Berlin. Sie bereicherten mit ihrem enormen Fachwissen unser Unterfangen und brachten mit ihrer anerkannten Expertise ein freundschaftlichkollegiales Interesse an den museologischen Umwälzungen in Bregenz ein. Ohne die beiden wäre das Projekt schon im Vorfeld um nachhaltige Diskussionsrunden ärmer gewesen.
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Entscheidend für den unmittelbaren Ertrag der Tagungen waren die Referentinnen und Referenten. Ihrem Engagement und ihrer Bereitschaft zu offenem Austausch gilt unser aller Dank: Neben den bereits genannten Dr. Habsburg-Lothringen und Prof. Fehr sind das Peter Fischer (Kunstmuseum Luzern), Prof. Ursula Gillmann (atelier gillmann), Dr. Marc-Olivier Gonseth (Musée d’ethnographie de Neuchâtel), Dr. Sabine Haag (Kunsthistorisches Museum Wien), Dr. Felicitas Heimann-Jelinek (Jüdisches Museum der Stadt Wien), Dr. Peter Jezler (Museum zu Allerheiligen Schaffenhausen), Dr. Wolfgang Kos (Wien Museum), Dr. Anette Kruszynski (Kunstsammlung NordrheinWestfalen), Dr. Dirk Luckow (Deichtorhallen Hamburg), Prof. Dr. Harald Meller (Landesmuseum für Vorgeschichte Halle), Dr. Jakob Messerli (Historisches Museum Bern) und Prof. em. Dr. Michael Parmentier (Göttingen). Im Haus gilt mein besonderer Dank jenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Vorarlberger Landesmuseums, die trotz knapper Ressourcen und großer Arbeitsbelastung die Organisation und Durchführung der Tagung sicherstellten. Die größte Last ruhte auf den Schultern von Michaela Reichel und Silvia Groß, die gemeinsam die Tagung organisierten und vorbereiteten. Weil wir zum Zeitpunkt der Veranstaltungen bereits »obdachlos« waren, danke ich genauso herzlich dem Vorarlberger Landestheater, in dessen Räumen wir die Tagungen abhalten konnten. Dank sage ich schließlich den vielen Kollegen für ihr Kommen, deren rege Diskussionsbeiträge unseren vernetzten Ansatz bestärken. Tobias G. Natter
Zur Einführung M ICHAELA R EICHEL
Mit dem vorliegenden Band setzt das vorarlberg museum seine Publikationsreihe zu allgemeinen museologischen Fragen fort. Auf die 2010 erschienene Publikation zum Schaudepot1 folgt nun jene, die sich mit Ausstellungen auf Dauer und Zeit beschäftigt. Der Band enthält Beiträge mit theoretischen Überlegungen zu Fragen des Ausstellens im Museum, konkret zu Präsentations- und Erzählformen. Dazwischen eingeschoben sind Artikel, die Beispiele aus der Museumspraxis bringen, konkrete Konzepte und ihre Realisierung vorstellen. Auf diese Weise treten Theorie und Praxis in einen Dialog, der Widersprüche und Analogien sichtbar macht. Die Autoren vertreten dabei unterschiedliche, teilweise widersprüchliche Ansätze. Allen gemeinsam ist jedoch der Wunsch, den jeweiligen Zielgruppen optimalen Zugang zu den präsentierten Inhalten zu ermöglichen. Die eingeschlagenen Wege dorthin zeigen das breite Spektrum der Möglichkeiten. Michael Fehr, Marc-Olivier Gonseth, Felicitas Heimann-Jelinek und Michael Parmentier setzen sich in ihren Beiträgen mit Fragen der Generierung von Bedeutung im Museum auseinander. Sie wählen dazu
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Tobias G. Natter, Michael Fehr, Bettina Habsburg-Lothringen (Hg.), Das Schaudepot. Zwischen offenem Magazin und Inszenierung. Bielefeld: transcript 2010.
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völlig unterschiedliche Herangehensweisen. Während Fehr und Parmentier in ihren Überlegungen vorwiegend vom konkreten Objekt ausgehen, thematisiert Heimann-Jelinek, ausgehend von der speziellen Situation Jüdischer Museen, die Bedeutung des Abwesenden. Gonseth nimmt hier eine Zwischenposition ein, da für ihn der zu thematisierende Inhalt Priorität vor dem Objekt hat, er sich dabei aber stark am Sammlungsbestand orientiert. Fehr schlägt vor, sich bei Ausstellungspräsentationen an bildlichen Erzählstrukturen zu orientieren, um Inhalte und Objekte zu erschließen. Bildliche Erzählstrukturen treten für ihn mindestens gleichwertig neben jene der Wortsprache. Besucher nehmen Vitrinen, Installationen und Räume als bildliche Strukturen wahr, selbst wenn sie nicht explizit als solche konzipiert wurden. Er hält es daher für wesentlich, die unterschiedlichen Möglichkeiten, Objekte in räumlichen Bezug zueinander zu stellen, im Museum bewusst und im Wissen um ihre Auswirkungen auf die Wahrnehmung durch Besucher einzusetzen. Audioguides, audiovisuelle Medien, Computerterminals oder Videoinstallationen stellen für ihn keine Alternative dar. Durch Neue Medien sieht er die (intellektuelle) Unabhängigkeit der Besucher gefährdet und fragt sich, ob Besucher im Museum der Zukunft noch einen eigenen Gedanken fassen können und dürfen. Das Museum schaffe sich durch intensiven Medieneinsatz als Ort, an dem die unmittelbare Auseinandersetzung mit Dingen möglich ist, selbst ab. Der Einsatz bildlicher Erzählstrukturen im Museum mache hingegen aus passiven Besuchern aktive, partizipierende Beobachter. Wie für Fehr gewinnen für Parmentier die Stücke einer Sammlung ihre Bedeutung zum großen Teil durch den Kontext, in den sie gestellt werden. Konsequenterweise setzt er sich ebenfalls mit der Frage der Auswirkung der Präsentation eines Objekts auf den Erkenntnisgewinn auseinander, hält jedoch Wortsprache für die narrative Darstellung im Museum für unverzichtbar. Das vielschichtige Bedeutungspotential der Dinge stellt für ihn die Basis der Narration im Museum dar. Es definiert die Möglichkeiten, aber auch die Grenzen der Narration im Museum. Davon ausgehend beschreibt er fundamentale Verfahren, die die Basis jeder Präsentation von Dingen, die aus ihren Herkunftskontexten herausge-
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nommen wurden, zum Zweck des Erkenntnisgewinns bilden. Die Problematik des Objekts als Überrest der Geschichte(n) führt HeimannJelinek weiter aus. Sie bezeichnet Museen »als stetig höher werdender Müllplatz materieller Dekontextualisierungen«. Sie diskutiert die allgemeinen Funktionen von Museen als Orte der Identitätsstiftung und der Repräsentation sowie der Konstruktion von Geschichtsbildern und sieht die Narration im Museum deutlich stärker eingeschränkt als Parmentier. Sie bezeichnet den »Unterschied vom Objekt, das seinen Sitz im Leben hat, vom Objekt in Aktion, zu dem Akteure, immer aber auch spezifische Zeiten und spezifische Orte gehören, und dem Objekt im Museum, zu dem nur noch jene Menschen gehören, die es entweder in Szene setzen oder die es als Betrachter konsumieren« als unüberbrückbar und durch keine szenografischen Maßnahmen »zu beschönigen«. Im Gegensatz zu Fehr und Parmentier setzt sie sich auch mit der Frage, ob Geschichten ohne Objektdinge erzählt werden können, auseinander. Gonseth skizziert die Muséologie de la rupture als theoretische Basis von Ausstellungen. Die Sammlungsobjekte stehen für ihn im Dienst einer theoretischen Betrachtung, eines Diskurses oder einer Geschichte. Er arbeitet jedoch gleichzeitig stark aus der eigenen Sammlung heraus und plädiert für Narration im Museum, denn der Weg zum Besucher führe über das Erzählen einer Geschichte. Er sieht in dem Zusammenwirken von Gegenständen, Texten und Illustrationen ein Spezifikum des Diskurses im und über ein Museum und spannt damit den Bogen zwischen den Ansätzen von Fehr und Parmentier. Für die Praxisbeispiele wurden bewusst sehr unterschiedliche Museumstypen gewählt. Alle hier vorgestellten Projekte wurden erst vor kurzem abgeschlossen bzw. befinden sich noch in der Umsetzungsphase. Peter Fischer, Dirk Luckow und Anette Kruszynski beschäftigen sich mit dem Ausstellen in Kunstmuseen. Allen drei Häusern gemeinsam ist die »Lückenhaftigkeit« der Sammlung, die einen enzyklopädischen Überblick über die Kunstgeschichte von vornherein unmöglich macht und nach anderen Ansätzen verlangt. Fischer und Luckow berichten beide über Häuser, in denen die Grenzen zwischen den ver-
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schiedenen Ausstellungsformaten verschwimmen und die in allen Bereichen intensiv aus den eigenen Sammlungen heraus arbeiten. Fischer demonstriert mit Hilfe von Projekt Sammlung 04-06 am Kunstmuseums Luzern das intensive Zusammenspiel von Sammlungserweiterung, Entwicklung von Ausstellungsformaten und von Ausstellungen aus der Sammlung. Sammeln – Ausstellen – Vermitteln sind bei diesem Ansatz auf das Engste miteinander verknüpft. Ausstellen heißt für ihn, die Sammlung des Hauses in wechselnden, meist thematischen Zusammenstellungen zu zeigen. Von Museum und Publikum werden diese Neuzusammenstellungen als autonome Ausstellungen aufgefasst. Einen ähnlichen Ansatz vertritt Luckow mit SEE history 2003-2008 in der Kunsthalle zu Kiel. Die Bruchstückhaftigkeit der Sammlung sieht er als Chance für das Knüpfen von Querbezügen zwischen Werken über verschiedene Zeitepochen oder Generationen hinweg. Im Kieler Modell wechselt jedes Jahr die Präsentation der »Dauerausstellung«. Der Museumsbestand wird mal nach Themen, mal nach Betrachterstandpunkt in jeweils neue Zusammenhänge gebracht. Als Ausstellungskuratoren fungieren Museumsmitarbeiter – seien sie Kunsthistoriker oder Reinigungspersonal –, Sammler oder Künstler. Kruszynski berichtet über den Weg der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen in Düsseldorf zur Neuaufstellung der Dauerausstellung, der eine/die intensive Auseinandersetzung mit der Architektur der Gebäude und dem Potential der Sammlung vorausging. Die Ausstellungssituationen zielen auf »Kunstgenuß pur« ab – das Einzelwerk steht (ohne begleitenden Text) im Vordergrund. In ihrem Haus wird im Gegensatz zu Luzern und Kiel klar zwischen Dauer- und Sonderausstellung unterschieden. Jakob Messerli und Harald Meller vertreten die Position der Spezialmuseen. Messerli zeichnet die Entwicklung des äußerst besucherorientierten Konzepts für die Dauerausstellungen As Time Goes Byte: Computer und digitale Kultur sowie Bilder, die haften: Welt der Briefmarken im Museum für Kommunikation in Bern nach. Durch geschickten Einsatz des Sammlungsbestandes erreicht er die gewünschte knappe und präzise Darstellung komplexer Sachverhalte. Aus der kla-
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ren Definition der Zielgruppe des Hauses – Familien und Kinder – resultiert ein Masterplan für die Dauerausstellungen, der die Ziele und die zu ihrer Erreichung notwendigen, meist verblüffend schlichten Mittel genau festlegt. Im Gegensatz dazu zielt Meller im Landesmuseum für Vorgeschichte Halle darauf ab, durch aufwendige szenografische Umsetzung in der Dauerausstellung wissenschaftliche Ergebnisse für Besucher fassbar zu machen. Er beschreibt das praktische Vorgehen bei der Erarbeitung und praktischen Umsetzung des Konzeptes für ein Archäologiemuseum mit riesigem, kontinuierlich wachsendem Sammlungsbestand. In beiden Häusern besteht eine klare Trennung zwischen den Formaten Sonder- und Dauerausstellung. Stellvertretend für Mehrspartenhäuser wird Ausstellen am Beispiel des Universalmuseums Joanneum und des vorarlberg museums besprochen. Bettina Habsburg-Lothringen setzt sich mit Spezifika, Geschichte und Bedeutung von Sonderausstellungen anhand der Ausstellungspolitik des Universalmuseums Joanneum in Graz seit dem 19. Jahrhundert auseinander. Für das Joanneum stellt sie in den Sonderausstellungen der letzten Jahre ein Loslösen vom Sammlungsbezug fest. Das Sammlungsobjekt verliert damit seine traditionelle Bedeutung für die Konzeption von Ausstellungen. Damit vertritt das Grazer Museum einen anderen Ansatz als viele der hier präsentierten Konzepte, die vom Objektbestand ausgehen. Letztlich beobachtet Habsburg-Lothringen auch in ihrem Haus zunehmend die Auflösung der Grenze zwischen Dauer- und Sonderausstellungen. Tobias G. Natter und Michaela Reichel zeigen am Beispiel des vorarlberg museums, dessen Neueröffnung nach heutigem Planungstand 2013 erfolgen wird, einen möglichen Weg zur Neukonzeption eines Mehrspartenhauses mit starkem regionalem Bezug auf. Schaudepot, Dauerausstellung und (semipermanente) Sonderausstellungen ermöglichen den Besuchern unterschiedliche Zugänge zu den Inhalten. Die Trennung zwischen den verschiedenen Ausstellungsformaten, denen architektonisch jeweils eigene Stockwerke zugewiesen werden, wird jedoch durch das Format der semipermanenten Ausstellung mit einer Laufzeit von bis zu zwei Jahren und dem intensiven Reflektieren auf die Sammlungen des Hauses unterlaufen.
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Abschließend bringt Ursula Gillmann den Standpunkt einer Ausstellungsgestalterin in die Diskussion ein. Für sie erscheinen die Unterschiede zwischen Dauer- und Sonderausstellung in der Entwurfsphase nicht sehr groß. Die grundsätzliche Vorgangsweise ist bei beiden gleich. In ihren Augen gründen Dauerausstellungen primär auf den Sammlungen eines Museums und dienen der Präsentation eigener Bestände. Sonderausstellungen nehmen bei einem bestimmten Thema ihren Ausgang. Sie geht zudem auf praktische Frage wie Teamorganisation, Dauerhaftigkeit und Belastbarkeit der Ausstellungsarchitektur, Gestaltungsspielraum des Szenografen ein. Es zeigt sich, dass bei der Konzeption unabhängig vom Sammlungsschwerpunkt der Häuser immer ähnliche Probleme auftreten: die Fragen kreisen um die Vermittlung der Inhalte an die Besucher, um das sinnstiftende Potential, Nutzung und Gewichtung der eigenen Sammlung und um die Abgrenzung und die Bedeutung von Dauer- und Sonderausstellung.
Sonderausstellungen Grundlegende Bemerkungen zu einem Format am Beispiel der Ausstellungstätigkeit am Universalmuseum Joanneum seit 1811 B ETTINA H ABSBURG -L OTHRINGEN
Seit wann gibt es Sonderausstellungen an Museen? Wie lassen sie sich charakterisieren? In welchem Verhältnis stehen sie zu den Dauerausstellungen? Welche Bedeutung haben sie für die institutionelle Identität oder das Selbstverständnis Museumsverantwortlicher? Welche Ziele verfolgen diese mit Sonderausstellungen? Und was bedeuten Sonderausstellungen schließlich für das Museum als Betrieb? Ein Blick in die Literatur zeigt, dass das Thema Sonderausstellungen museologisch betrachtet im engeren Sinn keines ist. Publikationen zur Museumsgeschichte, zur Geschichte der Präsentationsästhetik, zur Vermittlung usw. rühren zwar an das Thema, Sonderausstellungen werden darin aber kaum gesondert behandelt. Ich versuche mich daher in meinem Beitrag mit ein paar grundlegenden Bemerkungen zum Thema, die ich auf Grund der fehlenden Literatur weitgehend durch einen systematischen Blick auf die diesbezügliche historische und aktuelle Praxis am Universalmuseum Joanneum entwickle.
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Das Joanneum feiert 2011 als Steiermärkisches Landesmuseum sein 200-jähriges Bestehen. Es ist somit das älteste und zweitgrößte Museum Österreichs mit heute 20 Sammlungen an mehr als 10 Standorten. Das Joanneum ist ein Mehrspartenhaus, ein Universalmuseum, das es seit 2010 auch im Titel führt. Zum Joanneum gehören: die Alte Galerie, das Archäologiemuseum, das Jagdmuseum, das Kunsthaus Graz, das Künstlerhaus Graz, das Landeszeughaus, das Landwirtschaftsmuseum, die Multimedialen Sammlungen, das Münzkabinett, das Museum im Palais mit der Kulturhistorischen Sammlung, das Naturkundemuseum, die Neue Galerie Graz, der Österreichische Skulpturenpark, das Römermuseum Flavia Solva, Schloss Trautenfels und das Volkskundemuseum.1 Die Geschichte des Joanneums ist – und darauf beziehe ich mich – in Jahresberichten mit einer Lücke im zeitlichen Umfeld des 2. Weltkrieges seit 1811 gut dokumentiert. Was die Verwendung der Begriffe Wechsel-, Sonder- und temporäre Ausstellungen angeht, scheint es in der Geschichte des Joanneums bzw. den diversen Häusern lange Zeit keine einheitliche Praxis gegeben zu haben. Ab den 1970er Jahren setzt sich der Begriff Sonderausstellung weitgehend durch. Ich halte mich im Folgenden daran. Die Gründung des Joanneums war durch die Ideale der Aufklärung geprägt, das frühe Museum durch den Aufbau der Sammlungen und Dauerausstellungen bestimmt. Ausstellungstätigkeit in den ersten Jahrzehnten bedeutete: fortlaufendes Arbeiten an, Verdichtung und Erweiterung der Sammlungspräsentationen. Die Attraktivität des Museums ergab sich für das Publikum aus den Beständen und ihrer Vermittlung in Vorlesungen und Vorträgen. Sonderausstellungen spielten eine untergeordnete Rolle, wurden aber, wo es sie gab, in den Jahresberichten genannt und beschrieben. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelte sich das Museum, und mit ihm eine zunehmend rege Sonderausstellungstätigkeit, in teils eigenen Räumlichkeiten, die in den Jahresberichten gebüh-
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Die Bezeichnungen der einzelnen Häuser und Abteilungen hat sich im Verlauf der 200-jähringen Museumsgeschichte teilweise mehrmals verändert.
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rend dargestellt wird. Anlässe für Sonderausstellungen boten Neuzugänge in den Sammlungen, Feste und Jubiläen, Geburts- und Todestage, des Weiteren Kongresse und Großveranstaltungen in Graz oder die Besuche prominenter Personen aus Politik und Wissenschaft. Das Joanneum des 19. Jahrhunderts entwickelte sich als Landesmuseum mit immer größeren Sammlungen und einer zunehmenden Zahl an Abteilungen und Museen zum zentralen Ort der Dokumentation und Repräsentation des Landes. Die Geschichte der Sonderausstellungen ist von dieser Geschichte des Museums nicht zu trennen. Hanno Möbius2 konstatiert bei allen Unterschieden in der Entwicklung der Museen im 19. Jahrhundert als allgemeine Tendenzen im Museumswesen dieser Zeit 1) das Spannungsverhältnis von nationaler Beschränkung und Internationalität, 2) die Spannung von ursprünglich enzyklopädischem Anspruch, faktisch aber immer stärkerer Spezialisierung sowie schließlich 3) jene von antiquarischer Bewahrung und gegenwärtigem Praxisbezug. All dies zeigt sich auch auf Ebene der Sonderausstellungen des Joanneums deutlich. So war das Joanneum als Identitätsagentur des Landes dazu angelegt, in seinen Sammlungen, Ausstellungen und Vorlesungen das Eigene zu definieren und festzulegen, der politischen und wirtschaftlichen, technischen und kulturellen Entwicklung der Steiermark Form und Präsenz zu geben. Die Darstellung des Anderen, Fremden, nicht Bekannten folgte nationalen Interessen und wurde zur besseren Profilierung der eigenen Geschichte und Identität, aber auch als Wertmaßstab, Orientierungsgröße und Vorbild genutzt. So war das 19. Jahrhundert bestimmt von Sonderausstellungen, die heimische Maler und Komponisten feierten oder der Größe des Herrscherhauses sowie den bedeutenden Momenten der Landesgeschichte huldigten. Die benachbarte europäische und außereuropäische Kultur und Natur wurde mit ihren Münzen und Antiken, Teppichen und Spielkarten, in archi-
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Vgl. Möbius, Hanno: »Konturen des Museums im 19. Jahrhundert (17891918)«, in: Bernhard Graf/Hanno Möbius (Hg.), Zur Geschichte der deutschen Museen im 19. Jahrhundert 1789-1918, S. 11ff.
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tektonischen Modellen und Fotografien, Gemälden und Zeichnungen vergleichend vorgestellt. Der enorme Wissenszuwachs im 19. Jahrhundert führte in allen Bereichen des Museums zu einer entsprechenden Anhäufung von Belegen. Für das Joanneum beauftragte Erzherzog Johann selbst Wissenschaftler mit der Erfassung und Vermessung des Landes und der Ordnung der Wappen und Siegel, der Pflanzen, Mineralien und zoologischen Gegenstände, der Bücher und Archivalien etc. nach Kreisen, Bezirken und Gegenden. Ebenso schickte er Künstler durchs Land, um seine Natur und Kultur (Trachten, Volksfeste etc.) zu dokumentieren und abzubilden. Aus diesem aufklärerischen Anspruch einer Aneignung der umliegenden Welt in enzyklopädischer Form erwuchsen immer neue, spezialisierte Sammlungen, die in entsprechenden Sonderausstellungen der Kunst, Volkskunde, Natur und Kulturgeschichte mit den Erkenntnissen der sich entwickelnden Wissenschaften vorgestellt wurden. Das frühe Museum war nicht nur zur nationalen Identitätsstiftung und Präsentation neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse angelegt. Im 19. Jahrhundert galten Fortschrittsoptimismus und Zukunftsgewandtheit, Produktivität und Innovationsgeist als für die Gesellschaft konstitutive Werte.3 So wurde das Museum zum Ort wirtschaftlicher Statistiken, von Maschinen und Modellen, innovativer Produkt- und kunstgewerblicher Mustersammlungen. Schon im ersten Jahresbericht zu 1811 wird erwähnt, dass Künstler, Fabrikanten und Professoren selbst verfertigte Produkte im Museum zur öffentlichen Ansicht aufstellen konnten und die Öffentlichkeit durch Zeitungsblätter darüber benachrichtigt würde.4 Eine ständige Ausstellungs- und Verkaufshalle für das steirische Kunstgewerbe war selbstverständlicher Bestandteil des im ausgehenden 19. Jahrhundert gegründeten Kulturhistorischen und Kunstge-
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Vgl. Maleuvre, Didier: »Von Geschichte und Dingen. Das Zeitalter der Ausstellung«, in: Dorothea von Hantelmann/Carolin Meister (Hg.), Die Ausstellung. Politik eines Rituals, S. 22f.
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Vgl. Jahresbericht 1811, S. 20.
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werbemuseums. Ziel der dortigen, wechselnden Präsentationen war es, zur Weiterbildung der Vertreter der heimischen Wirtschaft beizutragen, die Produktion zu optimieren und die Konsumenten in einer Zeit der einsetzenden Massenkultur über Neuerungen des Marktes zu informieren. Zur Bildung und Geschmacksbildung der Bevölkerung beizutragen, dies beschreibt Hanno Möbius als weiteres zentrales Ziel des Museums im 19. Jahrhundert. So war das Joanneum dieser Zeit voll und ganz dem Publikum verpflichtet: Vorlesungen und Vorträge, Objekte in Augenhöhe, Modelle und Ordnungen zur Unterstützung der Vermittlung waren selbstverständlich. Es darf angenommen werden, dass die didaktische Aufbereitung der Exponate auch ein wesentliches Motiv in der Strukturierung der Sonderausstellungen gewesen ist. Diese Verpflichtung gegenüber der Öffentlichkeit, die hier anklingt, zeigt sich im Zusammenhang der Sonderausstellungen auch in anderer Weise. Von Beginn an wurden private Sammler und Sammlungen in die Ausstellungsprogrammatik einbezogen und diverse Vereine und Gruppierungen im Museum aktiv: Der Steiermärkische Kunstverein, der Amateur-Photographen-Klub, der Verein der bildenden Künstler Steiermarks, die Landes-Kunstschule, die Fotogruppe Graz u.a. – sie alle nutzten die Räumlichkeiten des Museums für Ausstellungen. Die Offenheit gegenüber privaten Initiativen gilt auch für das 20. Jahrhundert: Bis zu Beginn der 1990er Jahre wurde der so genannte Ecksaal im Hauptgebäude des Joanneums für bis zu 20 private Ausstellungen pro Jahr zur Verfügung gestellt und bis zu 10.000 mal jährlich besucht. Nennenswert scheint auch, dass das Museum die eigenen Räumlichkeiten verließ. So gab es bis in die 1970er Jahre Ausstellungen, die außerhalb der Hauptstadt Graz in Städten und Gemeinden der Steiermark gezeigt wurden, in Festsälen und Handelskammern, in Kultur- und Bildungshäusern. Es entstanden Ausstellungen gemeinsam mit Schulen oder so genannte Schaufenster-Ausstellungen in diversen Bank- und Versicherungsfilialen. Sonderausstellungen waren schließlich ein zentrales Instrument, um mit anderen, nationalen und internationalen Museen und Institutionen zu kooperieren.
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Die jährliche Zahl der Sonderausstellungen am Joanneum, ihre Laufzeit und Größe lassen sich für das 19. Jahrhundert nur teilweise rekonstruieren. Die Jahresberichte belegen, dass zu Beginn die Abteilungen der Natur, in weiterer Folge das Münzkabinett immer wieder, aber in unregelmäßigen Abständen Sonderschauen veranstaltet haben. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kam das Kupferstichkabinett (heute Teil der Alten Galerie) mit regelmäßig zumindest vier Ausstellungen pro Jahr hinzu. Am Ende des Jahrhunderts trat das Kulturhistorische und Kunstgewerbemuseum (später Kulturhistorische Sammlung) mit einem regelmäßigen Sonderausstellungsbetrieb in eigens dafür geschaffenen Sälen an die Öffentlichkeit. Wenn sich auch je nach Zeit unterschiedliche Abteilungen als Veranstalter hervortun, so ist doch allen Sonderausstellungen eine im Vergleich zu heute kürzere durchschnittliche Laufzeit von nur einigen Wochen gemein. Größe und Umfang der Ausstellungen lassen sich nur bedingt nachvollziehen. In den Anfängen beanspruchen Sonderausstellungen aber lediglich einzelne Präsentationstische und -schränke. Die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts war durch Kriege und Kriegsfolgen bestimmt, was am Joanneum unter anderem zu einem Einstellen der Jahresberichte in den 1930er Jahren führte. Ihre Tradition wurde erst 1971 wieder aufgenommen. Für die Museumsentwicklung ab den 1970er Jahren lassen sich allgemein 1) ein Bekenntnis zum weitgehenden Bildungs- und Vermittlungsauftrag der Institution und eine damit einhergehende Didaktisierung des Mediums Ausstellung, 2) ein Museumsboom und die inhaltliche Ausdifferenzierung der Museen, 3) die Entwicklung massenwirksamer Großausstellungen in- und außerhalb der Museen, 4) die Professionalisierung des Ausstellungswesens und schließlich 5) die Neustrukturierung und betriebswirtschaftliche Neuorganisation vieler Museen als die zentralen Neuerungen skizzieren. Noch einmal zurück in die 1970er Jahre: Was die Themenentwicklung dieser Zeit angeht, lässt sich für viele Abteilungen festhalten, dass die Sonderausstellungsthemen die schon bekannten sind: Körbe und Korbflechten (Schloss Stainz 1976), Kästchen und Kassetten in der
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Volkskunde (1976), die Steirische Schmiedekunst (1971) und Alte Kräuterbücher im Kunstgewerbe (1972), die Hallstattzeit im Ostalpenraum in der Vor- und Frühgeschichte (1971), Der Grazer Harnisch in der Türkenabwehr im Landeszeughaus (1972), Einheimische Kriechtiere und Lurche in der Natur (Zoologie 1976). Ganz anders klingen da Titel wie Identität/Gegenidentität/alternative Identität (Trigon ’75) oder Masculin – Feminin (Trigon ’79) in der Neuen Galerie, die sich, 1941 begründet, in der Nachkriegszeit zu einem zentralen Ausstellungsort entwickelt hat. In allen Abteilungen gleichermaßen wurden die eigenen Sammlungen thematisiert, die Kulturhistorische Sammlung riskierte schon 1973 einen Blick hinter die Kulissen. Auffallend – neben all den klassischen Themen – ist die Auseinandersetzung mit durchaus kritischen Gegenwartsthemen in den Abteilungen der Natur, die sich in mehreren Ausstellungen der bedrohten Tierwelt (Natur/Zoologie 1977) und dem gefährdeten Lebensraum (Schloss Trautenfels 1975) gewidmet haben. Abb. 1: Hirsche weltweit (Ausstellungsplakat). © Universalmuseum Joanneum.
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Auch die Sonderausstellungen der 1980er Jahre sind in vielen Abteilungen durch einen starken Regionalbezug geprägt. Was von draußen kommt, verspricht das Besondere, was Titel wie Exotische Hirschkäfer (Natur/Zoologie 1978) oder Begegnungen mit dem All – Mondgestein und Meteroiten (Natur/Mineralogie 1982) nahe legen. Personenbezogene Sonderausstellungen gab es nicht nur in der Kunst, was solche zu Peter Rossegger (Schloss Trautenfels/Schloss Stainz 1983) oder Viktor von Geramb (Volkskundemuseum 1984) zeigen. Nennenswert scheinen die Sonderausstellungsaktivitäten des Bild- und Tonarchivs (nun Multimediale Sammlungen), das sich bereits seit den 1970ern auf das Fotografieren als Tätigkeit und Medium bezieht und sich nun dem 2. Weltkrieg (Der Krieg vor 70 Jahren. Bilder und Berichte steirischer Kriegsteilnehmer 1984), damit der Zeit- und Politikgeschichte zuwendet, die im Joanneum bis dahin unterrepräsentiert ist. Die zahlreichen Sonderausstellungen der Neuen Galerie sind personen- und gegenwartsbezogen sowie betont international ausgerichtet, wobei Blicke auf nationale Entwicklungen (Neue Malerei in den Niederlanden, Neue Tendenzen der Malerei in Frankreich, beide 1980) bis hinein in die 1990er Jahre durchaus gebräuchlich sind. Bestimmte Themen und Themenzugänge der 1990er Jahre würde man heute vermutlich nicht mehr finden, wenn beispielsweise im Zeughaus 1990 der Leistungsfähigkeit alter Handfeuerwaffen gehuldigt wird (Von alten Handfeuerwaffen – Entwicklung, Technik, Leistung). Und es gibt Titel, wie Getreide. Gestern – Heute – Morgen (Schloss Stainz 1990) oder Der Weihnachtsbaum einst und jetzt (Volkskundemuseum 1991), für die man heute Marketing-Verantwortliche kaum begeistern könnte, obwohl sie in den 1990ern noch zehntausende Menschen in die Sonderausstellungen geführt haben. Heute ist die Bandbreite dessen, was unter dem Begriff Sonderausstellung subsumiert wird, beachtlich. Großausstellungen und solche, die in einem Schaufenster Platz finden, Gruppen- und Themenschauen, partizipative Ausstellungsformen und Aktionen gegebenenfalls außerhalb des Museums – verschiedene Konzepte und Sprachen, Formen der Vermittlung und Darstellung. Für die letzten Jahre lassen sich im Zu-
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sammenhang mit dem Thema folgende Entwicklungen und Diskussionen skizzieren: Die Relativierung des Sammlungsbezugs: Die klassische Sonderausstellung nahm lange Zeit in der Sammlung ihren Ausgang, deren Erforschung die Wissenschaftler zu möglichen Ausstellungsthemen führte. Dies hat sich natürlich auch am Joanneum teilweise umgekehrt, wo man sich ein aktuelles oder interessantes Thema wählt, um dann in einem weiteren Schritt zu prüfen, was die Sammlung dazu bereit hält. Gleichzeitig ist ein Gegentrend zu beobachten, nachdem gerade die eigene Sammlung wieder als herausfordernde, aber für durchaus positive Überraschungen gute Basis der Sonderausstellungstätigkeit gewertet wird. Dazu an späterer Stelle mehr. Als Bezugspunkt von Sonderausstellungen präsenter geworden ist das Zeitgeschehen, aktuelle, gesellschaftlich relevante Fragestellungen, die am Joanneum immer wieder in Ausstellungen des Kunsthaus Graz verhandelt werden (Protections. Das ist keine Ausstellung 2006; Volksgarten. Die Politik der Zugehörigkeit 2007; Human Condition. Mitgefühl und Selbstbestimmung in prekären Zeiten 2010), aber auch andere Abteilungen wie das Volkskundemuseum (l[i]eben. Uferlos und andersrum 2010) erreicht haben. Themen rund um soziale und politische Ordnungen, um Fragen kultureller Zugehörigkeit und die Brüchigkeit globaler Wirtschaftssysteme, Ethik und Verantwortung oder Geschlecht und Sexualität fehlen klassische museale Objekte und naheliegende Narrative teilweise oder ganz. Der Entscheidung, sie dennoch im Museum aufzugreifen, liegt die Haltung zu Grunde, dass sich das Museum grundsätzlich allen Themen, unabhängig von ihrer Darstellbarkeit über das klassisch Medium Objekt zuwenden sollte. Die Kunst gewinnt hier mit ihrer langen Tradition im Sichtbarmachen von Ideen und als sublimes Ausdrucksmittel auch außerhalb der Kunstausstellungen eine neue Bedeutung.
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Abb. 2: l[i]eben. uferlos und andersrum (Ausstellungsplakat). © Universalmuseum Joanneum/N. Lackner. Abb. 3: Tatiana Trouvé Il Grande Ritratto (Ausstellungsplakat). Tatiana Trouvé: Untitled, 2008, Foto: André Morin, courtesy Galerie Emmanuel Perrotin.
Die Einbeziehung der Kunst in die museale Aufbereitung ganz unterschiedlicher Inhalte ist Ausdruck eines neuen, breiteren Zugangs zu Themen: Wo der isolierte Blick der etablierten Sparten keine befriedigenden Antworten auf komplexe Fragestellungen mehr bringt, soll die Einbeziehung unterschiedlicher Disziplinen sowie die Verzahnung von Wissenschaft und Kunst Verständnis und Erkenntnis möglich machen. Neben den oben genannten Präsentationen im Kunsthaus war die Ausstellung Das Meer im Zimmer. Von Tintenschnecken und Muscheltieren (Natur/Zoologie 2005), als Auseinandersetzung aus Perspektive der Naturwissenschaften, der Wissenschaftsgeschichte und der Kunst gleichermaßen angelegt, ein erfolgreiches Projekt in diesem Sinn. Ebenso wurde 2011 die Ausstellung Der grimmige Berg. Mons Styriae altissimus (Schloss Trautenfels) als Gemeinschaftsprojekt von Kurato-
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ren und Wissenschaftlern der Volkskunde, Natur, Archäologie, Geschichte, Kunst und Literatur erarbeitet und realisiert. Neben einem, Disziplinen übergreifenden Themenverständnis ist für die oben genannten Ausstellungen auch teilweise eine stark theoriegeleitete Annäherung an die Themen zu beobachten. Vor dem Hintergrund einer Wissenschaft, die sich der Logik ihrer eigenen Entwicklung und Konstrukte besinnt, haben sich die Werkzeuge und Methoden der kuratorischen Auseinandersetzung und gestalterischen Umsetzung verändert. An die Stelle deskriptiver Auflistungen und der lebendigen Darstellung eines vermeintlichen »Wie-es-war/ist« auf der Basis von Sammlungen oder Kunst- bzw. Kulturgeschichtserzählungen, wird wissenschaftlichen Interpretationsansätzen und theoretischen Erklärungsversuchen zum gegenständlichen und räumlichen Ausdruck verholfen bzw. ergeben sich neue Erzählungen aus der theoretischen Befassung, die andere Lesarten der Bestände vorschlägt. Interessant scheint, dass unberührt von derartigen Entwicklungen die bekannten Themen, Erzählungen und Zugänge weiterhin parallel existieren und es beispielsweise die bewährte Jubiläumsausstellung noch gibt: So fanden anlässlich des 150. Todestages des Stifters Erzherzog Johann 2009 zwei gut besuchte Ausstellungen im Schloss Stainz und dem Münzkabinett statt. Zum so genannten Gedankenjahr 2005 wurde mit der Ausstellung Wo keine Steiermark, da kein Österreich (Bild- und Tonarchiv) ganz bewusst ein kritischer Zugang gewählt. Neben Projekten zu eigenen und nationalen Jahrestagen gibt es in den letzten Jahren auch Sonderausstellungen, die sich im Rahmen internationaler Feierlichkeiten wie dem Darwin-Jahr (Diana Thater. gorillagorillagorilla) oder der Wiederkehr von Woodstock bewegten bzw. bewegen (Schere – Stein – Papier, beide Kunsthaus Graz 2009). Eine weitere Entwicklung der letzten Jahre scheint die tendenzielle Grenzauflösung zwischen Dauer- und Sonderausstellungen zu sein. Dauerausstellungen hat es, wie Depots, Studiensammlungen und Sonderausstellungsbereiche, nicht immer schon gegeben. Sie wurden im Verlauf der Museumsgeschichte – mit einer Vergrößerung der Samm-
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lungen, einer inhaltlichen Ausdifferenzierung der Häuser, ihrer Öffnung nach außen usw. – erst herausgebildet und haben sich in ihren Funktionen und Erscheinungsformen durchaus immer wieder verändert. Bei allen Unterschieden lassen sich Dauerausstellungen heute folgendermaßen charakterisieren: In Dauerausstellungen werden repräsentative Objekte der Sammlung dauerhaft einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Nach innen und außen gelten sie als wesentlich für die Identität von Museen, sind »Visitenkarte« eines Hauses und prägen das Museums- und Selbstverständnis jener, die in einem Museum arbeiten, wesentlich mit. Das Museum als Institution wird u.a. über ihr Vorhandensein definiert. Bestimmte gesellschaftliche Funktionen des Museums (wie Sacharchiv zu sein) werden mit den ständigen Ausstellungen assoziiert. Dauerausstellungen sind in ihrer Kontinuität berechenbar, stehen immer bereit, was für bestimmte Gruppen wie Schüler und Touristen relevant ist. Sie sind im Umfang zumeist komplexer und räumlich größer angelegt als temporäre Schauen. Dafür sind sie beschränkter und reduzierter in ihren Konzepten und Designs (sie folgen konzeptionell traditionell der Klassifikation oder der Chronologie) sowie folglich der sozialen Praxis, die sie nahe legen: Wie Jana Scholze5 ausführt, werden im Kontext klassifizierender Ausstellungen exemplarische, weitgehend austauschbare Objekte als Repräsentanten wissenschaftlicher Systeme genutzt. Die Objekte werden dabei auf formale und funktionelle Eigenschaften reduziert, ihre individuelle Geschichte, ihre sozialen, regionalen, kulturellen Kontexte bleiben unbesprochen. Die Ordnung der Dinge vermittelt trotz ihrer Unterschiedlichkeit und Vielfältigkeit den Eindruck von Homogenität und Zeitlosigkeit. Dies wird durch ein Minimum an Präsentationsmitteln gestützt. Im Falle chronologischer, linearer Ordnungen6 werden Ereignisse, Biografien und gegenständliche Überreste als (Ab-)Folgen definiert.
5
Vgl. Scholze, Jana: Medium Ausstellung. Lektüren musealer Gestaltung in Oxford, S. 86f.
6
Ebd., S. 122f.
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Chronologien entsprechen dem Wunsch, Menschen und Dinge in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu verorten und vorstellbar zu machen. Da sie sich nicht in erster Linie auf die Museumssammlung beziehen, scheinen Objekte in chronologischen Erzählungen oft untergeordnet und in ihrer Bedeutungsvielfalt reduziert. Sonderausstellungen sind im Gegensatz zu ständigen Ausstellungen auf bestimmte Zeit angelegt und in ihrer räumlichen Ausdehnung begrenzter. Sie sind thematisch weniger komplex und haben häufig eine Fragestellung oder These als Ausgangspunkt, vermitteln Argumente und Positionen. Konzeptionell und gestalterisch gelten Sonderausstellungen als abwechslungsreicher und experimenteller, wenn sie beispielsweise dem Publikum die Möglichkeit zu Dialog und Teilnahme geben. Sonderausstellungen wirken offen gegenüber technischer und medialer Innovation, in ihren Gestaltungskonzepten lassen sie sich von den Lösungen und Strategien anderer Raum- und Bild-Medien inspirieren. Sonderausstellungen tragen eher die persönlichen Handschriften von Kuratorinnen und Kuratoren als dies bei Dauerausstellungen der Fall ist. Dies erscheint angesichts der nur temporär notwendigen Gültigkeit der Präsentation als legitim, hat aber fallweise einfach auch damit zu tun, dass an Häusern externe Experten mit der Planung von Sonderausstellungen beauftragt werden, die ein starkes kuratorisches Bewusstsein mitbringen und sich intensiver mit der Ausstellung als Medium, als kulturelles Format und Ritual auseinandersetzen, als dies bei dem im System Museum sozialisierten Dauerausstellungsverantwortlichen der Fall ist, die eine stärkere Identität als Fachwissenschaftler haben und ihre Arbeit oft primär im Dienste der Sammlung sehen. Sonderausstellungen können durchaus auch einmal nur auf eine bestimmte Gruppe, ein eingeschränktes Publikum zugeschnitten sein. Natürlich können sie wie Dauerausstellungen das Image eines Museums sowie dessen innere Identität prägen. Und sie tragen zum Museum als Gedächtnisspeicher und Sacharchiv, als Schauplatz von Identitätswissen und Wissenschaftsgeschichte, als Ort der Bildung und kritischen Öffentlichkeit bei; natürlich sind auch sie Orte der Repräsentation.
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Inwiefern nun lösen sich die traditionellen Unterschiede zwischen Dauer- und Sonderausstellung heute auf? Der Begriff »Dauer« ist relativ geworden, wo so genannte ständige Ausstellungen auf fünf, zehn, 15 Jahre und keinesfalls für die Ewigkeit angelegt werden. Auch scheint sich das Größenverhältnis zwischen Dauer- und Sonderausstellung teilweise umzukehren: Wurde traditionell der Sammlungspräsentation ein Gutteil der Ausstellungsfläche zugesprochen, wird man heute zunehmend mit »kompakten Dauerausstellungen« konfrontiert, die einen knappen Überblick z.B. einer Stadtentwicklung und einen Einblick in die Sammlung bieten und dabei wachsenden Sonderausstellungsflächen gegenüberstehen. Traditionelle Unterschiede verschwinden auch, wo die einst objektdichten Dauerausstellungen im wenig komplexen Stil der Sonderausstellungen mit nur noch einer »Story« für den einmaligen Durchgang neu erstehen. Von einem tendenziellen Zerfallen der bekannten Formate Depot, Studiensammlung, Dauer- und Sonderausstellung in semipermanente Angebote, Schaudepots, Interventionen, ortsbezogene Arbeiten, Aktionen im Stadtraum, partizipatorische Initiativen etc. sind beide Ausstellungsformen betroffen. Wie für das 19. Jahrhundert möchte ich auch für die letzten Jahrzehnte kurz auf die Zahl der Sonderausstellungen am Joanneum, Laufzeiten und Besuche eingehen: Die Zahl der Ausstellungen hat in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gegenüber dem 19. Jahrhundert zugenommen, wobei es an den diversen Standorten des Joanneums schon in den 1970er Jahren zwischen gut 30 und gut 50 Sonderausstellungen pro Jahr gab und in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre ein Höhepunkt mit über 60 jährlichen Ausstellungen erreicht wurde. Für die Zeit danach sind im Schnitt rund 50 Ausstellungen pro Jahr belegt. Die hohe Zahl an Ausstellungen überrascht, allerdings gilt zu bedenken, dass viele nicht mehr als einen Raum beanspruchten und ihre Laufzeit oft nur wenige Wochen betrug. Gutes Beispiel dafür ist die Neue Galerie, die neben programmatischen Kollektivausstellungen und großen Einzelausstellungen jährlich eine Vielzahl kleiner (Personal-) Ausstellungen mit nur kurzer Laufzeit im so genannten Studio der
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Neuen Galerie, der Hofgalerie sowie in weiteren Räumen in und außerhalb des Joanneums zeigte. Was die Besuchszahlen angeht, so gibt es enorme Schwankungen, sowohl was die Zahl der Sonderausstellungsbesuche pro Jahr als auch was den Anteil dieser an der Gesamtbesuchszahl angeht. Tendenziell nehmen die Besuchszahlen im Verlauf der 1970er Jahre zu, sowohl was die Sonder- als auch die Dauerausstellungen angeht. Ein Höhepunkt für die 1970er ist das Jahr 1977 mit 208.762 Sonderausstellungsbesuchen bei insgesamt 459.490 Besuchen. In den 1980ern fallen dann diverse, sehr gut angenommene Großausstellungen auf: So sind für die Ausstellung Biomineralogie – Leben mit Kristallen, die ab 1983 an verschiedenen Standorten gezeigt wurde, insgesamt 112.500 Besuche dokumentiert. Vom Leben auf der Alm, 1987 im Schloss Trautenfels eröffnet, wurde beinahe 75.0000 mal gesehen, Die Werkstatt des Harnischmachers – Zur Geschichte des Plattnerhandwerks im Grazer Zeughaus rund 60.000 mal. Ein besonderes Phänomen sind die Weihnachts- und Krippenschauen des Volkskundemuseums, die, nur für jeweils einige Tage in der Vorweihnachtszeit gezeigt, über Jahre 35.00060.000 Besucher anlockten. Heute sind es im Vergleich 3.500-4.000 Personen, die diese Ausstellungen besuchen. Einen absoluten Höhepunkt, was Besuchszahlen betrifft, stellt das Jahr 1989 dar, in dem das Joanneum beinahe 800.000 Besuche verzeichnen konnte, wovon knapp 430.000 auf die Sonderausstellungen der diversen Häuser entfielen. Blickt man auf die 1990er Jahre, so gehen die Sonderausstellungen wie die Zahl der Gesamt- und Sonderausstellungsbesuche gegenüber den 1980ern zurück. Innerhalb der Abteilungen der Kunst sind die Zahlen sehr unterschiedlich, je nachdem ob es Großausstellungen wie jene zu Egon Schiele im Jahr 1997 (knapp 80.000 Besuche) oder August Gauguin im Jahr 2000 (110.000 Besuche) gab. Großausstellungen gab es dabei nicht nur in den Häusern der Kunst, wovon Die Farben Schwarz in der Kulturhistorischen Sammlung 1999 oder Turmbau zu Babel im Schloss Eggenberg 2003 zeugen. 2003 war auch das Jahr, in dem das Kunsthaus Graz eröffnet wurde, dessen wechselnde Ausstellungen im Jahr nach seiner Eröffnung beinahe 120.000 mal besucht wurden.
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Blickt man auf die Entwicklung der Sonderausstellungen an einem Museum wie dem Joanneum, stellt sich auch die Frage, ob sich ihr Ziel und Zweck im Laufe der Museumsgeschichte verändert hat. Was wollten Museumsverantwortliche mit Sonderausstellungen erreichen? Ich habe eingangs bereits erwähnt, dass Sonderausstellungen in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts gezeigt wurden, um Neuerwerbungen zu präsentieren, besondere Personen zu würdigen, die Sammlung vorzustellen, gewonnene Forschungsergebnisse zu veröffentlichen oder einzelne Aspekte der Dauerausstellung zu vertiefen. Diese Zielsetzungen werden heute nach wie vor verfolgt. Zudem werden Sonderausstellungen genutzt, um ständige Ausstellungen zu aktualisieren bzw. an die Gegenwart heranzuführen: Dauerausstellungen können aus finanziellen Gründen oder Erwägungen des Denkmalschutzes in manchen Fällen nicht einfach erneuert werden. Korrespondieren die in ihnen transportierten Weltbilder aber nicht mehr mit heutigen Wertehaltungen, kann Sonderausstellungen die Funktion zukommen, Kontrapunkte zu setzen, vorhandene Repräsentationen zu thematisieren oder eine alternative Betrachtung der präsentierten Objekte anzuregen. Unabhängig von existierenden Schausammlungen können sie ein Instrument sein, um neue Blicke auf die Sammlung zu organisieren und z.B. mit neuen Fragestellungen das schon Bekannte unter anderen Fragezeichen zusammenzuführen. Wo Sammlungen fehlen, werden Sonderausstellungsprojekte zur Sammlungsentwicklung genutzt. Wo eine neue Dauerausstellung geplant ist, sind sie Labore und Experimentierfelder für das Neue. Sonderausstellungen sind als vergleichsweise schnelles Format dazu geeignet, schwierige, brennende Fragen und Probleme der Zeit zu thematisieren. Natürlich eignen sie sich nach wie vor zur Steigerung der Besuchszahlen. Sie können aber auch einer Steigerung der innermusealen Reflexion dienen, wenn es beispielsweise darum geht, der eigenen Institutionen-Geschichte nachzugehen. Sonderausstellungen sind ideal, um Netzwerke mit Kollegen zu pflegen und Kooperationen mit Institutionen oder gesellschaftlichen Gruppierungen zu initiieren. Sonderausstellungen können ein gutes Instrument zur Organisationsentwicklung sein und jenen, die sie planen,
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Freude bringen, weil das Konzipieren und Entwickeln von Ideen zu den spannenden Bereichen einer Museumstätigkeit gehört. Ich möchte am Ende noch zwei Aspekte aufgreifen, die mir aktuell am Universalmuseum Joanneum im Zusammenhang mit dem Thema interessant erscheinen: Zum einen geht es dabei um den Stellenwert von Sonderausstellungen für die Identität einzelner Häuser, zum anderen um die Bedeutung von Sonderausstellungen für das Museum als Betrieb. Welche Bedeutung haben Sonderausstellungen für die Identität einer Abteilung oder eines Museums? Ich denke, dass es dafür keine allgemeine Antwort geben kann, auch keine allgemein gültige, was ein Haus, wie das Joanneum angeht. Das professionelle Selbstverständnis und das Institutionenverständnis der Mitarbeitenden am Joanneum wird stark von der Zugehörigkeit zur jeweiligen Abteilung geprägt. Auch der Anteil der Sonderausstellungen an der Abteilungs- oder gesamtinstitutionellen Identität wird je nach Abteilungszugehörigkeit sehr unterschiedlich bewertet. Die Identität des Landeszeughauses beispielsweise wird durch seine Dauerausstellung bestimmt, die eine Sehenswürdigkeit ist und unter Denkmalschutz steht. Sonderausstellungen gibt es nicht, weil schlichtweg der Platz fehlt. Interventionen, die eine Möglichkeiten des aktiven kuratorischen Weitertuns darstellen, werden fallweise von externen Künstlern oder Kuratoren erbeten. Das Selbstverständnis der Angehörigen der Abteilungen der Natur ist, um ein weiteres Beispiel zu nennen, das von Forschenden am Museum. Es speist sich aus der wissenschaftlichen Arbeit und Bearbeitung der Sammlung, Sonderausstellungen gab es in den letzten Jahren nur vereinzelt, sie sind daher für die aktuelle Identität als Naturkundemuseum nicht von vorrangiger Bedeutung. Das 2003 eröffnete Kunsthaus Graz – als drittes Beispiel – ist Ausstellungshaus ohne Sammlung und definiert sich folglich weitestgehend über seine wechselnden Ausstellungen und die im Vergleich aufwendigen Rahmenprogramme. Die Ausstellungstätigkeit ist hier zentrales Moment innerer Identitätsbildung und Profilierung des Hauses nach außen. Weil so wesentlich, geht die Beschäftigung mit dem Ausstellen weit über die
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Wahl eines Themas hinaus. Ein Gutteil dessen, was ich an früherer Stelle als aktuelle Debatten und Entwicklungen im Feld der Sonderausstellungen skizziert habe, wird im Kunsthaus Graz aktiv diskutiert und gelebt. Nennenswert scheinen mir weiters das Volkskundemuseum und die Multimedialen Sammlungen, vormals Bild- und Tonarchiv, zu sein. Das Volkskundemuseum ist ein interessantes Beispiel dafür, dass die Identität eines Hauses hinterfragt, bearbeitet und neu ausgerichtet werden kann – über Sonderausstellungen. Die typische Weihnachtsausstellung gibt es dort nach wie vor. Daneben haben aber verstärkt Themen und Zugänge ihren Platz gefunden, die gegenwartsbezogen und nah am Alltag der Menschen sind. Die Schwierigkeit einer solchen Neuausrichtung liegt dabei bestimmt darin, das traditionelle Publikum nicht zu verlieren und gleichzeitig den Erwartungen neuer potenzieller Besucher zu entsprechen: Was für die einen zu weit geht, geht für andere möglicherweise noch lange nicht weit genug. Konsequenz aus den Debatten der letzten Jahre ist die Eingliederung des Volkskundemuseums in die Abteilung für Alltagskultur ab 2011. Während das Volkskundemuseum eine Dauerausstellung besitzt, werden die aus dem Bild- und Tonarchiv hervorgegangenen Multimedialen Sammlungen ausschließlich temporäre Ausstellungen anbieten. Interessant ist hier, dass das Bild- und Tonarchiv als Servicestelle begründet wurde und sich ab den 1970er Jahren über seine Sonderausstellungen den Status als museale und Sammlungsabteilung erarbeitet hat. Die aktuelle Neuausrichtung hat interdisziplinäre Sonderausstellungen in ihrem Zentrum, deren Bindeglied der Medienbezug ist.7 Macht man sich bewusst, wie unterschiedlich sich die identitäre Bedeutung von Sonderausstellungen für einzelne Häuser des Joanneums ausnimmt, stellt sich die Frage, ob Sonderausstellungen überhaupt eine Rolle für die gesamtinstitutionelle Identität einnehmen können. Am Mehrspartenmuseum Joanneum scheint die einzige, allgemein anerkannte Gemeinsamkeit aller Häuser der Bezug auf die Gründungs-
7
Vgl. Elke Murlasits, unveröffentlichte Studie: Das Bild- und Tonarchiv im Spannungsfeld zwischen dem »modernen Museum« und seiner visionären Gründungsidee, 2009.
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statuten von 1811 zu sein. Die Verschiedenheit der Traditionen, Präsentationssprachen, wissenschaftlichen Rahmenbedingungen und künftigen Zielsetzungen der einzelnen Sparten anerkennend, haben die beiden Leiter Peter Pakesch und Wolfgang Muchitsch in den letzten Jahren eine Diskussion darüber in Gang gebracht, ob nicht gerade die Vielfalt Basis eines Identitätsangebots sein kann. In praktischer Umsetzung bedeutet dies, vor allem vom Intendanten Peter Pakesch forciert, dass Themen integrierter behandelt werden, innerhalb des Hauses mehr Kommunikation über Themen passiert, über den Rand der eigenen Abteilung geblickt und gemeinsam Projekte realisiert werden, mit Kollegen, die man in einem Museum mit rund 500 Mitarbeitenden nicht zwangsläufig trifft. In der Praxis der Sonderausstellungen bedeutet dies Themenschwerpunkte, die es seit 2008 gibt. Vier interdisziplinäre, abteilungsübergreifende Gruppen (zur Zeitgenössischen Kunst, zur Kulturgeschichte, Naturkunde und Volkskunde) erarbeiten jeweils mögliche Sonderausstellungsthemen für das gesamte Joanneum. Die Ergebnisse dieser Arbeitsgruppen werden einem Gremium aus leitenden Mitarbeitern präsentiert. Diese wählen aus den eingegangenen Vorschlägen für jedes Jahr ein Thema aus, das dann für alle Gruppen und Abteilungen des Hauses gilt. In dieser Weise wurde für 2008 das Thema intermezzo italiano, für 2009 rock me, joanneum und für 2010 so lebt der mensch festgelegt. 2012 wird das Generalthema Natur, 2013 Am Weg sein. Natürlich sind auch weiterhin Sonderausstellungen außerhalb des Schwerpunktthemas möglich. Von Vorteil sind diese Themenschwerpunkte jenseits ihres identitätsbildenden Moments auch deshalb, weil die Sammlungen dafür neu befragt werden müssen, aus durchaus unkonventionellen Perspektiven. Vorteile bringen sie auch für die Arbeit der Referate für Marketing und Presse, die mit den Themen Aufmerksamkeit auch für kleinere Teilprojekte und Standorte schaffen können. Die Schwerpunkte haben schließlich einen innerbetrieblichen Sinn, sie dienen der Entwicklung der Organisation und der Weiterentwicklung von Teams, womit ich zu mei-
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nem letzten Punkt, der Bedeutung der Sonderausstellungen für das Museum als Betrieb, komme. Wie der Schweizer Organisationsberater Samy Bill8 ausgeführt hat, haben Projekte wie eben zum Beispiel Sonderausstellungen das Potenzial, Anstoß zur Weiterentwicklung eines Unternehmens zu geben und Organisationen zu verändern, weil sie Störfaktoren sind: Neue Arbeitsstrukturen und -abläufe stellen gewohnte Organisationsstrukturen in Frage. Gemeinsame Leistungen eines interdisziplinären Teams ermöglichen Erfolgserlebnisse und Motivationen. Mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern von außen kommen andere Arbeits- und Teamkulturen ins Haus, Gewohntes wird in Frage gestellt, Hierarchien außer Kraft gesetzt, wenn gegebenenfalls jene eine Stimme erhalten, die im Regelbetrieb nicht gehört werden. Welche Personen, Kompetenzen und Arbeitsschritte notwendig sind, um eine Sonderausstellung in die Tat umzusetzen, hängt erwartungsgemäß vom jeweiligen Ausstellungsvorhaben ab. Relativ unabhängig von Inhalt und Größe einer Ausstellung gestalten sich, um die Arbeit eines Referats hervorzuheben, die Arbeiten des Pressereferats im Umfeld einer Eröffnung. Nach Information der Referatsleiterin Sabine Bergmann9 bedeutet eine Sonderausstellung für ihr Team – jeweils in Abstimmung mit den Kuratoren, der Leitung des Hauses, den Abteilungen für Vermittlung und Marketing – Bildmaterial zu organisieren und aufzubereiten, Texte in unterschiedlicher Länge und Komplexität für die Pressunterlagen, die Website des Museums und Übersetzungen in vier Sprachen zusammenzustellen, mit den Kontaktpersonen für Slowenien/Kroatien und Italien die Bewerbung der jeweiligen Ausstellung in der dortigen Presse zu konzipieren, frühzeitig diverse Ausstellungskalender zu beschicken, Medienpartner und Journalisten diverser deutschsprachiger und internationaler Medien mit Materialien, per E-Mail und telefonisch zu informieren, Interviewmöglichkeiten,
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Samy Bill, Beitrag im Rahmen der Internationen Sommerakademie für Museologie 2006, Retzhof/Leibnitz, 12.-19. August 2006.
9
Gespräch mit Sabine Bergmann, 18. Februar 2011.
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Sonderthemen und exklusive Angebote zu recherchieren, Pressekonferenzen samt Unterlagen vorzubereiten sowie Journalisten vor Ort während der gesamten Laufzeit der Ausstellung zu betreuen. Was Sonderausstellungen kosten, wird, wie Markus Enzinger, Prokurist und Leiter der Abteilung für interne Dienste am Joanneum10, erklärt, an österreichischen Museen nicht im Detail erhoben. Ausstellungskosten werden im Joanneum wie anderswo als direkte Ausstellungskosten erfasst. Die eigenen Mitarbeiter, die der finanziell wesentliche Faktor bei der Planung und Umsetzung von Sonderausstellungen sind, scheinen darin nicht differenziert auf, weil Arbeitsstunden (am Joanneum mit Ausnahme der Zentralwerkstatt und der Grafikabteilung) nicht bestimmten Tätigkeiten oder Projekten zugeordnet werden. Die direkten Ausstellungskosten nehmen einen gewissen Anteil am Gesamtbudget eines Hauses ein, der allerdings stark variiert und am Joanneum beispielsweise zwischen 2003 und 2010 zwischen 5,8 Prozent und 15,1 Prozent lag. Für einzelne Abteilungen ist der Anteil der Sonderausstellungskosten am Gesamtbudget freilich wesentlich höher. Nach Angabe der Leiterin des Marketing, Elisabeth Weixler11, fließen 80 Prozent ihres Gesamtbudgets in die Bewerbung von Sonderausstellungen. Eine neue Dauerausstellung wird dabei im Jahr ihrer Eröffnung als Sonderausstellung gewertet. Erste Versuche im letzten Jahr, den Dauerausstellungen mit einer eigenen Kampagne mehr Beachtung zu schenken, haben sich bewährt und sich sogleich positiv auf die Besuchszahlen ausgewirkt. Sonderausstellungen sind an einem großen Museum mit entsprechender Kompetenzverteilung eine komplexe Angelegenheit. Um die Vorstellungen, die einzelne Mitwirkende von einem Ausstellungsvorhaben entwickeln, möglichst früh einander anzunähern, wurde am Joanneum für zwei Ausstellungen in den letzten Jahren eine Evaluierung im Vorfeld der Ausstellung erprobt. Ziel dieser war es nicht nur, die Zuständigen für Inhalte, Presse, Finanzen, Tourismus, Marketing und Vermitt-
10 Gespräch mit Markus Enzinger, 7. Februar 2011. 11 Gespräch mit Elisabeth Weixler, 18. Februar 2011.
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lung für einen gemeinsamen Zeitplan zu gewinnen. Ziel war vor allem auch, rechtzeitig die Erwartungen der einzelnen Beteiligten im Hinblick auf die Ausstellung abzustimmen und eben nicht Wünsche und Hoffnungen auf der Basis ganz unterschiedlicher Projekteinschätzungen zu formulieren, was beispielsweise das zu erwartende Sponsoreninteresse, das Medienecho, die Besuchszahlen oder den Katalogverkauf angeht. Entsprechend der getroffenen Projektbewertung im Vorfeld wurden dann Ziele und Maßnahmen gemeinsam definiert. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Geschichte des Museums nicht ohne die Geschichte der Sonderausstellungen zu denken ist. In unterschiedlicher Ausprägung und Deutlichkeit spiegeln sie den Wandel der Institution, das Selbst- und Insitutionenverständnis der Verantwortlichen wider. Gleichzeitig waren und sind Sonderaustellungen Probebühnen für konzeptionelle und gestalterische Innovationen und Instrumente zur Weiterentwicklung des Museums als Organisation. Ihre Bedeutung und Funktion auf eine Steigerung der Besuchszahlen zu reduzieren, würde eindeutig zu kurz greifen.
L ITERATUR Maleuvre, Didier: »Von Geschichte und Dingen. Das Zeitalter der Ausstellung«, in: Dorothea von Hantelmann/Carolin Meister (Hg.), Die Ausstellung. Politik eines Rituals, Zürich. Berlin: diaphanes Verlag 2010, S. 19-46. Möbius, Hanno: »Konturen des Museums im 19. Jahrhundert (17891918)«, in: Bernhard Graf/Hanno Möbius (Hg.), Zur Geschichte der deutschen Museen im 19. Jahrhundert 1789-1918, Berlin: G+H Verlag 2006, S. 11-21. Murlasits, Elke: Das Bild- und Tonarchiv im Spannungsfeld zwischen dem »modernen Museum« und seiner visionären Gründungsidee. Unveröffentlichte Studie, 2009. Scholze, Jana: Medium Ausstellung. Lektüren musealer Gestaltung in Oxford, Leipzig, Amsterdam und Berlin, Bielefeld: transcript 2004.
Ausstellen heißt … : Bemerkungen über die Muséologie de la rupture M ARC -O LIVIER G ONSETH
Ich wurde gebeten, über Sonderausstellungen zu sprechen, genauer gesagt über »das Manifest«, die Ausstellungstheorie, die ich zusammen mit Jacques Hainard1 verfasst habe. Und ich sollte die Prinzipien der »Muséologie de la rupture« erläutern, was man als »Museologie des Bruchs« ins Deutsche übersetzen könnte. Wie für so viele »Etiketten«, mit denen wir kulturelle Prozesse irgendwann versehen, gilt auch hier: Wir beherrschen die Bezeichnung »La rupture« nicht wirklich. Der Begriff entstand während der Arbeit an Projekten, die wir seit 1983 mit verschiedenen Teams am Musée d’ethnographie de Neuchâtel MEN konzipiert haben. Um was für einen Bruch handelt es sich? Jacques Hainard antwortete seinerzeit, dass es mit Kritik und Destabilisierung zu tun habe. In diesem Zusammenhang habe ich nun vier verschiedene Aspekte ausgewählt, auf die ich näher eingehen möchte:
1
Von 1980 bis 2005 Direktor des Musée d’ethnographie de Neuchâtel, von 2006 bis 2009 Direktor des Musée d’ethnographie de la Ville de Genève (MEG).
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1. Bruch mit der althergebrachten Museumsrethorik: Das Erzählen
einer Geschichte ersetzt die bloße Aneinanderreihung. In diesem Sinne könnte man fast sagen, dass unsere Expographie das Konzept des Storytellings seit den 1980er Jahren in Szene setzt. 2. Bruch mit der Diktatur der Gegenstände, die unabhängig von ihrem ökonomischen und ästhetischen Wert zu wandlungsfähigen Bedeutungsträgern werden: Jacques Hainard sprach in diesem Zusammenhang von einer »Versklavung der Objekte«. Ich teile diese Meinung nicht, sondern betrachte die Gegenstände als eine Art Schauspieler, die ihren Text vortragen, der aufs engste verbunden ist mit ihrem Ursprung, ihrer Form, ihrer Funktion und ihrem Symbolgehalt. 3. Bruch mit dem Korporativismus und der Fachdisziplin zugunsten von Transversalität und spartenübergreifender Arbeit: Wir haben z.B. in den Bereichen Archäologie, Geografie, Geschichte, Kunst, Linguistik, Gender Studies, Biologie und Technologie gearbeitet. 4. Bruch mit der Vorstellung, dass es sich bei Ausstellungen um eine Inszenierung der Realität handelt: Mimesis, die Nachahmung, spielt in unseren Sonderausstellungen sehr oft eine wichtige Rolle. Wir gestalten Orte, die eng mit unserer sozialen Wirklichkeit verknüpft sind, als Bühne für die Geschichte, die wir erzählen wollen. Aber wir machen immer deutlich, dass es sich um realistische Rhetorik handelt, um ein kulturelles Konstrukt wie fast alle Themen, die wir behandeln; ein kulturelles Konstrukt, das auch außerhalb des Museums zu finden ist. Das erste Bild, das in der Ausstellung Temps perdu, temps retrouvé (1983) aufgenommen wurde, illustriert diese vier Prinzipien: Es wird eine Frage gestellt, die in sich eine komplexe Theorie und Geschichte beinhaltet. Die spezifischen Eigenschaften des einzelnen Objekts werden ausgelöscht zugunsten der Aussage, die die Gruppe, das Arrangement der Objekte, macht. Dies steht in Verbindung zur Arbeit verschiedener Künstler, z.B. Silence sonore von Chen Zhen im Palais Tokyo 2003, und ermöglicht dem Besucher, eine andere Ebene der Wirklichkeit zu erlangen.
A USSTELLEN HEISST … | 41
Abb. 1: Installation in der Ausstellung Temps perdu, temps retrouvé im Vergleich mit dem Objekt Silence sonore von Chen Zhen. © MEN, Chen Zhen.
Nun werde ich die vier Prinzipien, die ich soeben erläutert habe, in Relation zu unserem »Manifest« setzen und zu jedem Punkt eine kurze Erklärung anhand von Beispielen aus unserer Arbeit abgeben. »Das Manifest« wurde 1995 verfasst, als wir die Ausstellung La différence (Der Unterschied) zusammen mit den Museen von Grenoble, Paris und Quebec2 konzipierten. Dabei handelte es sich um einen Vergleich verschiedener museologischer Stile und Haltungen. Wir wollten die Gelegenheit nutzen, die Unterschiede theoretisch festzuhalten.
1. AUSSTELLEN
HEISST DIE
H ARMONIE
TRÜBEN
Dieser erste Punkt ist mir sehr wichtig. Ausstellungen dürfen nicht als »Anti-Nostalgie-Medikament« für Besucher missbraucht werden; sie dürfen nicht zur Bühne lokaler Politiker, nicht zum Diskussionsforum für Experten verkommen.
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Am Ausstellungsprojekt La différence: trois musées, trois regards beteiligt waren das Musée de la Civilisation de Québec, das Musée dauphinois de Grenoble und das Musée national des Arts et Traditions Populaires de Paris. Vgl. hierzu www.men.ch/04Exposi/41tempor/95DIFFER/95rjfr.htm
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Mein erstes Beispiel stammt aus der Wanderausstellung Helvetia Park, die wir im September 2010 im MEN in Neuchâtel eröffnet haben. Im Anschluss wurde sie 2010/2011 in Bellinzona gezeigt, bevor sie ab dem 31. März 2011 in Aarau zu sehen war.3 Die Ausstellung setzt sich aus elf flexiblen Modulen zusammen, die vom Bild des Jahrmarkts inspiriert sind. Die Schau widmet sich dem Thema Kultur, ihren vielfältigen Definitionen und den mannigfaltigen Einflüssen, die auf sie wirken. Mit diesem Projekt sind wir bewusst ein Risiko eingegangen, da wir Kultur und Unterhaltung in einen Zusammenhang gestellt haben. Die Ausstellung fand bei den Anthropologen große Zustimmung, wohingegen diejenigen, für die Kultur etwa Sakrales darstellt, das Projekt kritisierten. Die Abbildungen, die ich hier zeige, entstammen der Geisterbahn. An der Wand dieses Moduls finden sich als Normverstöße gewertete Bildbeispiele, wie sie auf den Plattenumschlägen der Schweizer Heavy Metal Szene zu sehen sind. Der Inhalt des Moduls legt dar, dass die so genannte »High Culture« ähnliche Strategien nutzt. Dahinter steht die These, dass all diese Pseudo-Skandale früher oder später von der Kunst- und Kulturszene akzeptiert werden. Gleichzeitig provozieren sie über lange Zeit moralisierende Kommentare, da sie sich einer Interpretation verschließen. Das folgende Bild bezieht sich auf einen Skandal, der von einem Akt der Zensur hervorgerufen wurde. Im Mai 1981 löst die Ausstrahlung des Theaterstücks Sennentuntschi im Fernsehen DRS einen Proteststurm aus. Es wird eine Klage wegen Verletzung der Schamgefühle eingereicht. Das 1972 von Hansjörg Schneider verfasste Stück, das eine im ganzen deutschsprachigen Alpenraum verbreitete Legende aufnimmt, erzählt von den Abenteuern dreier trinkender, depressiver Sennen, die eine Sexpuppe aus Stroh bauen, um ihre Langeweile zu
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Castelgrande und Biblioteca cantonale in Zusammenarbeit mit Bellinzona Turismo, Archivio di Stato und der Stadt Bellinzona (17.10.201023.01.2011); Stadtmuseum Aarau und Forum Schlossplatz (01.04.31.07.2011).
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vertreiben. Fernsehzuschauer werfen dem Autor vor, den suggestiven Teil der Legende vernachlässigt zu haben und »alles auf den Sex zu reduzieren«. DRS sieht sich deshalb gezwungen, auf eine Zweitausstrahlung zu verzichten. Die linke Abbildung thematisiert einen Konflikt bezüglich der Kulturszene. In Genf entwickelt sich im Laufe der 1980er Jahre eine starke Hausbesetzerszene, die zur kulturellen Dynamik beiträgt, indem sie jungen Künstlern Raum zum Leben, für ihr Schaffen und für ihre Aufführungen bietet. Nachdem sich die Stadt lange Zeit durch eine liberale Haltung gegenüber den alternativen Orten auszeichnet, vollzieht sie nach der Wahl eines neuen Staatsanwalts 2002 eine radikale Wende. In sechs Jahren werden die besetzen Häuser geräumt und die selbstverwalteten, öffentlich zugänglichen Kulturräume auf zwei reduziert. Die Methoden, Ziele und Ergebnisse werden von einem Teil der öffentlichen Meinung heftig kritisiert, was zu einer großen Debatte über die Stellung der Kultur und das Image führt, das die Stadt nach außen vermitteln will. Abb. 2: Installationen in der Ausstellung Helvetia Park. © MEN.
Mein zweites Beispiel stammt aus unserem aktuellen Projekt Bruits. Dieser Begriff umfasst alles, was dem Zuhörer akustisch missfällt, das ihm zu laut, zu unerwartet oder zu fremd erscheint. Die Auswahl ist mit Vorbehalt zu betrachten, denn die Wahrnehmung des Schönen, des
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Zusammenhängenden, der Verhältnismäßigkeit, des Angenehmen, der Ausgeglichenheit und sogar des Erträglichen hängt von Zeit und Raum ab: Die Geräusche von gestern sind nicht die gleichen wie heute und die Geräusche von anderswo entsprechen nicht den unsrigen. Die gesamte Ausstellung ist als U-Boot inszeniert. Die unten stehende Abbildung (linkes Bild) zeigt den Frachtraum, wo die verschiedenen Geräusche gelagert werden. Bewegt sich der Besucher durch den als Instrument gestalteten Raum, produziert er Geräusche. Die rechte Aufnahme zeigt den Maschinenraum, wo Erklärungen zum Inhalt des Frachtraums zu hören sind. All diese Erklärungen verschmelzen zu einem neuen Geräusch. Abb. 3: Installationen in der Ausstellung Bruits. © MEN.
2. AUSSTELLEN
HEISST DEN B ESUCHER IN SEINEM INTELLEKTUELLEN W OHLBEFINDEN STÖREN
Diese Aussage unterstreicht den ersten Punkt des Manifests und legt fest, dass Ausstellungen keine Vitrinen sind, in denen konventionelle, unserer Realität entsprechenden Vorstellungen präsentiert werden. Im Gegenteil, eine Ausstellung kann uns in die Lage versetzen, unser alltägliches Leben mit anderen Augen zu sehen. Wir Ethnologen nennen diese in unserem Fachbereich verbreitete Haltung »L’exotisation du proche«, die »Exotisierung« dessen, was uns nahe ist. Was als selbstverständlich genommen wird – taken for granted – kann auch als pro-
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visorisches, kulturelles Konstrukt verstanden werden. Des Weiteren kann eine Ausstellung dazu beitragen, dass wir die Anderen von hier und anderswo besser kennenlernen und dass wir sie akzeptieren können, da wir verstehen, dass sie nicht so verschieden von uns sind wie behauptet. Wir Ethnologen sprechen von »La banalisation du lointain«, der Banalisierung dessen, was uns fern ist. Als Beispiel dient die Ausstellung Le musée cannibale (Das kannibalische Museum).4 Das Team des MEN befasste sich 2002 mit dem Thema »sich von den Anderen ernähren«, eine Frage, die Völkerkundemuseen seit ihrer Gründung bewegt. Deren Sammlungen, die über Jahre hinweg durch Ankäufe und Sammeltätigkeit vermehrt wurden, belegen das Bedürfnis, die Alterität zu absorbieren, je radikaler desto besser. In diesem Stadium bereitet die Küche des ethnografischen Museums ein Festmahl zu, das zahlreiche Möglichkeiten offeriert, die Anderen aufzuessen. Die Anderen – die hinter den inszenierten Objekten vorschimmern und gleichzeitig zu verschwinden scheinen – haben durch die verschiedenen Zubereitungsweisen an Kontur gewonnen. Ihre Präsentation im geschmückten Festsaal rückt sie in ein spezifisches Licht: Abb. 4: Installation in der Ausstellung Le musée cannibale. © MEN.
Urmensch, blutrünstiger Wilder, akkulturierter Mensch, guter Wilder, volkstümlicher Mensch, verlorengegangener Mensch, unbekann4
Le musée cannibale (9.3.2002-2.3.2003, MEN).
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ter Künstler oder Weltbürger werden so den nach Alterität hungernden Gästen aufgetischt. Aber es wird deutlich, dass der Besucher der Menschfresser ist und nicht derjenige, der auf dem Tisch und auf den Plakaten präsentiert wird. Selber Menschenfresser! Umkehr- und Spiegeleffekt: Wer frisst letztendlich wen? Ob es sich um symbolische Schöpfung handelt, um opfernde Kommunion oder um das Verständnis des Anderen, ob im Museum oder außerhalb: Das Thema des Kannibalismus führt uns zurück zur Verbindung von Identitätsansprüchen und religiösem Glauben mit der Gewalt und dem Heiligen. Abb. 5: Installation in der Ausstellung Le musée cannibale. © MEN.
Als zweites Beispiel dient die Sonderausstellung La marque jeune (Die Marke Jugend), die 2008 in Neuchâtel gezeigt wurde, bevor sie dann 2009 in Liège (Belgien)5 eine Neuauflage erfuhr. In dieser Ausstellung beschäftigt sich das Team des MEN mit den komplexen Beziehungen, die zwischen Jugend, Protest und Konsum bestehen. Hinterfragt wird die Ambivalenz. Die Abbildung zeigt fünf im Dogville-Stil6 gestaltete Wohnzimmer aus den 1950er bis zu den 1990er Jahren. Sämtliche Arrangements beinhalten ein Radio und einen Fernseher, die fast identi-
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Musée de la vie walonne, 5.3.-15.8.2010. Der dänische Regisseur und Dogma-Mitbegründer Lars von Trier drehte 2003 den Film Dogville, dessen Handlung in bewusst minimalistisch gehaltener Theaterdekoration spielt.
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sche Botschaften abspielen: »Die Jungen sind unverständlich, gewalttätig, exzessiv, asozial und gefährlich«. Die Ausstellung formuliert die Hypothese, dass die immer wiederkehrende Rebellion der Jugend keineswegs Chaos erzeugt, sondern vielmehr dazu beiträgt, die Gesellschaft zu erneuern. Auf den Abbildungen sieht man Orte, an denen die Jungen ihre Spuren hinterlassen haben. Abb. 6 und 7: Installationen in der Ausstellung La marque jeune. © MEN.
Seit Jahrzehnten ist die Rebellion – und nicht der Konformismus – sehr wohl Triebkraft des Marktes. Anderseits haben die Protagonisten der Revolte so wie ihre »Verweigerungsriten« erheblich zu einem Wertewandel und zur Durchsetzung neuer Gewohnheiten beigetragen, die niemand mehr bemerkt, da sie zu nahe am Geschehen sind. Sobald der Markt die Rebellion aufbereitet und zum Produkt umwandelt, bewirkt er ihre Läuterung, indem Verhaltensweisen, Haltungen oder Personen, die einst angeprangert wurden, als annehmbar, ja sogar empfehlenswert und vorbildlich dargestellt werden.
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3. AUSSTELLEN
HEISST G EFÜHLE , W UT HERVORRUFEN UND DAS V ERLANGEN , MEHR ZU WISSEN
Positiv gewertet besagt dieser Punkt, dass Polemik als Mittel genutzt werden kann, latent vorhandene Probleme ans Tageslicht zu bringen. Risiken eingehen wird zum Ausstellungsprinzip erklärt. Ich beziehe mich hier auf die Sonderausstellung Remise en boîtes, die 2005 in Neuchâtel gezeigt wurde. Das Projekt beschäftigte sich mit dem Bedürfnis nach Gedenkanlässen, wie es 2004 anlässlich der Hundertjahrfeier des MEN zum Ausdruck kam. Im Jahr 2005, in dem sich das Ende des Zweiten Weltkriegs zum 60. Mal jährte, trafen wir das Phänomen auf breiter gesellschaftlicher Ebene an. Gefangen im Netz alltäglicher Beschäftigungen, beruhigender Gewohnheiten und regelmäßig wiederkehrender Feierlichkeiten ermessen die Menschen nur selten, wie fragil ihre Existenz in dieser Welt ist. Erst wenn sie selber mit dem Tod, einem Drama, einem Unfall oder einer Katastrophe konfrontiert werden, entdecken sie mit Bestürzung, dass »so etwas« nicht nur den anderen passiert. Die Ausstellung stellt die Frage nach der Trauer und nach der Entstehung eines kollektiven Gedächtnisses, das seinen Ursprung in tragischen Ereignissen hat. Ereignisse, deren Spuren oft absichtlich verwischt werden, von den Opfern, den Zeugen, den Medien, den Schriftstellern und den Vertretern der Schauspielindustrie, die aber auch gerne aufgegriffen, kommentiert, verbreitet, analysiert und verändert werden. Über die unmittelbare Reaktion der Gesellschaft in ihrer Gesamtheit hinaus hinterfragt die Ausstellung die Arbeit der beharrlichen Vestalinnen und sorgfältigen Archivare, die die Erinnerungen der Menschen an ihre banalen Tätigkeiten wie auch an außergewöhnliche Ereignisse wach halten. Sie zeigen uns, dass der Tod nicht das Ende bedeutet, dass Trauer Zeit braucht und dass es die Menschen so lange zu den Verstorbenen, zu den tragischen Ereignissen zieht bis eine anhaltende Vernarbung der Wunde kollektiv erlebt werden kann. Die Idee der ruhelosen Seele und der lebenden Toten gehört somit nicht nur zum
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Repertoire des Horrorfilms, sondern betrifft, wenn auch nur metaphorisch, alle menschlichen Gemeinschaften. Abb. 8: Installationen in der Ausstellung Remise en boîtes. © MEN.
Die Ausstellung unterstreicht aber auch die Maßlosigkeit eines Marktes, der das Bedürfnis nach Erinnerung und Vergessen bis ins Letzte ausschlachtet, der uns zur Regression in eine nostalgische und idealisierte Vergangenheit drängt, der uns zwingen will, unsere Existenz mit rituellen Zeichen und Reliquien zu umreißen, gegen die Pforten der Anonymität anzurennen oder mit unserer Geschichte abzurechnen. Die Ausstellung weist darauf hin, dass gewisse Individuen aus der anonymen Masse herausragen und zu jenen Vorfahren werden, die über mehrere Generationen hinweg das Verhältnis zu Wissen, zu Macht und zum Glauben bestimmen. Das ist die Bedeutung, die wir der überdimensionierten Konservendose in der Mitte zugewiesen haben. Abb. 9: Installation in der Ausstellung Remise en boîtes. © MEN.
Sie verweist den Besucher auf die vielfältigen Spuren, die seine Existenz beeinflussen und seine Beziehung zur Familie bestimmen, zu den
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Mitgliedern der Gemeinschaft, zu berühmten Verstorbenen, zu Ereignissen, die ihn berühren oder kaltlassen, zum Rest der Menschheit, mit denen er dieselbe Endlichkeit teilt. Anhand von zwei Bildern aus der Ausstellung Helvetia Park möchte ich mich noch zum Aspekt der Polemik äußern. Sie zeigen die museale Version einer Freakshow, in der problematische Objekte aus unserer Sammlung den Part des Monsters übernehmen. Es handelt sich dabei einmal um ein Tsantsa, einen Schrumpfkopf von den Shuar oder Jivar, der kürzlich einen Aufruhr in St. Gallen ausgelöst hat. Das andere ist eine Tonfigur, eine Djenné aus Mali, die auf der roten Liste der ICOM steht, weil derartige Objekte oftmals aus unerlaubten Grabungen stammen. Abb. 10: Objekte in der Ausstellung Helvetia Park. © MEN.
4. AUSSTELLEN HEISST EINEN SPEZIFISCHEN D ISKURS ÜBER EIN M USEUM FÜHREN , BESTEHEND AUS G EGENSTÄNDEN , T EXTEN UND I LLUSTRATIONEN Als wir diesen Satz formuliert haben, existierte die Ausstellung Derrière les images (1998) noch nicht und ich nutzte die Konzeption dieses Projekts, um ein tieferes Verständnis der Bedeutung zu gewinnen, die einem Text, einem Bild oder einem Objekt in einer Ausstellung zukommt.
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Seit Derrière les images habe ich verstanden, dass der wahre Text einer Ausstellung nicht unbedingt geschrieben werden muss, da er der intellektuellen Struktur des Projekts entspricht. Ein expographisches Bild ist keine Abbildung an der Wand, sondern ein Raum, den die Besucher begehen können. Ein Gegenstand muss nicht unbedingt greifbar sein; er kann auch zweidimensional daherkommen, er kann gehört, gefühlt und berührt werden. Als Beispiel nehme ich die Sonderausstellung Figures de l’artifice (2006/2007), die erste Ausstellung, die ich als Direktor des Museums konzipiert habe. Unter diesem Titel lud das Team des MEN dazu ein, über die Beziehung zwischen der Gesellschaft des beginnenden 21. Jahrhunderts und den Spitzentechnologien nachzudenken, die in naher Zukunft den Bauplan des Menschen und die Grenzen seiner Existenz verändern könnten. Die Ausstellung thematisierte nacheinander die Distanz MenschMensch, Mensch-Gott, Mensch-Tier und Mensch-Maschine. Figuren aus der gesellschaftlichen Praxis und der wissenschaftlichen Forschung wurden mit solchen aus Mythen und Märchen in Verbindung gebracht. Abb. 11: Ansichten der Ausstellung Figures de l’artifice. © MEN.
Die Schau berief sich dabei auf das Schicksal einer Gestalt aus der griechischen Mythologie mit ihrer komplexen Laufbahn auf dem Gebiet der Forschung und ihren Anwendungen: Dädalus – Bildhauer, Architekt, Ingenieur und sogar Robotertechniker, aber auch impulsiver Mörder, gerissener Stratege, der die Vorteile seiner Erfindungen zu nutzen, aber sich auch von ihnen zu befreien wusste.
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5. AUSSTELLEN HEISST G EGENSTÄNDE IN DEN D IENST EINER THEORETISCHEN B ETRACHTUNG , EINES D ISKURSES ODER EINER G ESCHICHTE ZU STELLEN UND NICHT UMGEKEHRT Unsere Sonderausstellungen bieten dem Besucher neuartige Überlegungen zu einem Thema, das sich auf Aktuelles bezieht. Sie verbinden unterschiedslos das Hier und das Anderswo, das Hervorragende und das Banale, das Handwerkliche und das Industrielle als vielfältige Zeichen einer komplexen und kulturorientierten Wirklichkeit. In einem solchen Zusammenhang werden die Gegenstände nicht um ihrer selbst Willen ausgestellt, sondern weil sie sich in den Diskurs einfügen, weil sie zu Argumenten einer Geschichte werden, welche die eine oder andere Eigenschaft betont, sei diese nun ästhetisch, funktionell oder symbolisch. Um meine neue Definition von Text, Bild und Objekten in unserer Praxis zu verdeutlichen, habe ich ein Schema erstellt. Es zeigt aufeinanderfolgende, sich teilweise auch überschneidende Phasen, die die Praktiken der Ausstellungsmacher mit denen der Besucher verbindet. Die zu Grunde liegende Idee besagt, dass in jeder Phase Texte, Bilder und Objekte existieren, allerdings nicht auf selber Ebene. In der ersten Phase ist alles noch virtuell. In der zweiten Phase geht es um den Raum und die Vorbereitung der theatralischen Inszenierung. Die dritte Phase handelt von den Verbindungen zwischen den Akteuren, den Objekten oder besser gesagt den Exponaten, die es zu installieren und kommentieren gilt. Die linken Pfeile geben die Richtung der Ausstellungsmacher an. Ich habe erkannt, dass die Besucher sich in die entgegengesetzte Richtung bewegen (rechte Pfeile). Zu Beginn gilt ihr Interesse in erster Linie dem, was in den Vitrinen gezeigt wird, bevor sie ein Gefühl dafür bekommen, dass der Raum eine Bedeutung für die Gegenstände hat. Ist dies geschehen, verbinden die Besucher die vielfältigen Informationen miteinander, um während des gesamten Be-
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suchs eine allgemeine Theorie aufzustellen. Diese Schwierigkeit müssen wir berücksichtigen. Abb. 12: Schematische Darstellung der Praktiken von Ausstellungsmachern und Ausstellungsbesuchern. © MEN.
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6. AUSSTELLEN
HEISST , DAS W ESENTLICHE DURCH KRITISCHE D ISTANZ NAHEZUBRINGEN , MIT H UMOR , I RONIE UND S POTT GEFÄRBT
Kritische Distanz bedeutet in diesem Zusammenhang vor allem sich der expographischen Rhetorik bewusst zu sein. Daher die Redefiguren, die wir in unsere Ausstellungen integriert haben und die wir im Projekt Le musée cannibale thematisiert haben. Damit die Ausstellungsbesucher etwas zu beißen haben, wählen die Museologen regelmäßig Stücke materieller Kultur aus ihren Vorräten. Sie bereiten diese nach Rezepten zu, die diesen oder jenen Aspekt einer Ähnlichkeit oder auch eines Unterschieds zwischen dem Hier und dem Anderswo deutlich machen. Sie gehorchen dabei einer mehr oder minder festgelegten Rhetorik, die noch ungenügend analysiert ist und ohne Systematik in die Praxis umgesetzt wird. Sowohl im Rahmen einer einfachen Präsentation in Schaukästen wie auch einer komplexen Inszenierung im Raum vermengen sich Aneinanderreihung, technische Assoziation, funktionelle Assoziation, Mimesis, Parameterwechsel, Ästhetisierung, Sakralisierung, Hybridisierung, ästhetische Assoziation usw.
7. AUSSTELLEN HEISST V ORURTEILE , S TEREOTYPEN UND D UMMHEIT BEKÄMPFEN Dieser zentrale Punkt stellt die Frage nach dem gesunden Menschenverstand, dem Moment, in dem ein »Werkzeug zum einfachen Verständnis« zum »gefährlichen Weg des Denkens und Handelns« wird. Als Beispiel führe ich die Ausstellung Si… an, die wir 1993 konzipiert haben. Der erste Teil der Ausstellung besagte, dass jeder von uns zu nur sehr wenigen Gebieten über Spezialwissen verfügt, wohingegen wir als Generalisten oder common sense thinker für eine Vielzahl von Themen gelten. Wir wollten zum Ausdruck bringen, dass die allgemeinen Vorstellungen vom gesunden Menschenverstand zu einem hohen Maße
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von den Medien konstruiert werden und stellten ein »Werkzeug« zu Verfügung, das zur Vereinfachung und zum Verständnis der Realität beitrug. Beispiele wurden in Form einer Nachrichtensendung gezeigt, die Allgemeinplätze zur Wirtschaft, Kunst, Politik und Sport wiedergab. Wir haben das Ganze überspitzt dargestellt und gezeigt, dass diese alltäglichen Vereinfachungen in Krisenzeiten dramatische Wirkungen haben können, da die Argumente viel zu kurz greifen, um der ganzen Komplexität gerecht zu werden. In der Ausstellung standen Waschmaschinen als Metapher für dieses »kurze Denken«, Wäschekörbe wiesen auf die ethnische Reinigung hin, die zur Aussonderung – symbolisiert durch Abfalleimer – von gewissen Gruppen von Immigranten führt. Wir in Neuchâtel sind der Ansicht, dass derartige Dummheiten auch von Museen bekämpft werden müssen. Abb. 13: Installationen in der Ausstellung Si …. © MEN.
8. AUSSTELLEN
HEISST EINE E RFAHRUNG GEMEINSAM INTENSIV LEBEN
Am Ende meines langen Vortrags möchte ich diesen mir wichtigen Aspekt der gemeinsamen Erfahrung betonen. Die Abbildungen zeigen eine intensive und konstante Interaktion zwischen den verschiedenen Spezialisten, die an unseren Sonderausstellungen mitwirken. Zum Schluss verrate ich Ihnen noch einen sehr effizienten Trick, den unsere Kollegen, die Filmemacher, gut kennen: Wenn möglich, versuchen Sie während des gesamten Ausstellungsaufbaus mit allen
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Mitarbeitern zu Mittag zu essen. Dies erleichtert die Kommunikation, hilft Probleme zu lösen, Freundschaften zu knüpfen und schafft wahren Teamgeist. Abb. 14: Ausstellungsaufbauten im MEN. © MEN.
L ITERATUR Gonseth, Marc-Olivier/Hainard, Jaques/Kaehr, Roland: La différence, Neuchâtel: Musée d’ethnographie 1995. Gonseth, Marc-Olivier/Hainard, Jaques/Kaehr,Roland: Le musée cannibale, Neuchâtel: Musée d’ethnographie 2002. Gonseth, Marc-Olivier/Hainard, Jaques/Kaehr, Roland: Cent ans d’ethnographie sur la colline de Saint-Nicolas 1904-2004, Neuchâtel: Musée d’ethnographie 2005. Gonseth, Marc-Olivier/Knodel, Bernard/Laville, Yann/Mayor, Grégoire: Bruits, Neuchâtel: Musée d’ethnographie 2011. Gonseth, Marc-Olivier/Laville, Yann/Mayor, Grégoire: Remise en boîtes, Neuchâtel: Musée d’ethnographie 2005. Gonseth, Marc-Olivier/Laville, Yann/Mayor, Grégoire: Figures de l’artifice, Neuchâtel: Musée d’ethnographie 2007. Gonseth, Marc-Olivier/Laville, Yann/Mayor, Grégoire: La marque jeune, Neuchâtel: Musée d’ethnographie 2008. Gonseth, Marc-Olivier/Laville, Yann/Mayor, Grégoire: Helvetia Park, Neuchâtel: Musée d’ethnographie 2010.
Verschwimmende Grenzen Sammeln und Ausstellen im Kunstmuseum Luzern P ETER F ISCHER
Dieser Text will aufzeigen, mit welchen Konzepten am Kunstmuseum Luzern seit 2004 zwei der wichtigsten musealen Aufgaben, die Präsentation von Sammlungsbeständen und diejenige von Wechselausstellungen, miteinander in Relation gesetzt werden und wie sich Wechselausstellungen und die Sammlungstätigkeit generell gegenseitig befruchten können. Das Hauptinteresse liegt dabei bei der Sammlung, die anscheinend (dies suggeriert das Exposé zu dieser Tagung) vom Wechselausstellungsbetrieb bedrängt wird. Die Gesamtausrichtung des Kunstmuseums Luzern zielt generell auf eine »Versöhnung« der verschiedenen musealen Bereiche, auf ein Miteinander, das sich gegenseitig befruchtet, was auch der Titel dieses Beitrags reflektiert. Vorweg muss bemerkt werden, dass natürlich nicht alle Museen über einen Leisten geschlagen werden können, da sie unterschiedliche Missionen verfolgen. So geht es gerade bei den Kunstmuseen nicht primär um die Vermittlung von Fakten und Wissen, sondern darum, das Verständnis für einen kulturellen und ästhetischen Ausdruck zu fördern. Insofern ist der Spielraum, die inhaltliche Programmierung betreffend, in den Kunstmuseen ungleich größer als etwa in historischen oder naturwissenschaftlichen. Die folgenden Ausführungen stützen sich auf eine Pu-
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blikation, die sich den Sammlungspräsentationen des Kunstmuseums Luzern von 2004 bis 2010 gewidmet hat und den programmatischen Titel Modell für ein Museum1 trägt. Der Ruf des Kunstmuseums Luzern nährt sich aus seiner Ausstellungsgeschichte. Gleich nach Bezug des neu erbauten Kunsthauses 1933 holte der Konservator Paul Hilber mit der vom damals 22-jährigen Künstler Hans Erni organisierten Schau These, Antithese, Synthese die europäische Avantgarde in die Schweiz, von Kandinsky über Picasso bis zu Alberto Giacometti (Abb. 1). Abb. 1: Installationsansicht der Ausstellung These, Antithese, Synthese, Kunstmuseum Luzern, 24.2.-31.3.1933, kuratiert von Hans Erni, an der Wand von links: Wassily Kandinsky, Jean Hélion, Hans Erni, Skulptur von Alberto Giacometti. © Kunstmuseum Luzern und die Künstler.
Nach den Kriegsjahren fanden 1946 die oberitalienischen Kirchenschätze der Ambrosiana den Weg an den Vierwaldstättersee, bevor 1
Vgl. Fischer, Peter/Lichtin, Christoph: Modell für ein Museum: die Sammlungsausstellungen des Kunstmuseums Luzern 2005-2010, Heidelberg: Kehrer 2010.
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1948 im Kunstmuseum Luzern die Meisterwerke der Sammlungen des Fürsten von und zu Liechtenstein zum ersten Mal und seither nie mehr außerhalb Wiens zur Gänze gezeigt wurden. Noch deutlicher in die Geschichte des Kunstbetriebs eingegangen ist die Ära von JeanChristophe Ammann. Er leitete das Kunstmuseum Luzern von 1969 bis 1978. In diese Zeit fallen so denkwürdige Ausstellungen wie Visualisierte Denkprozesse (1970) oder Transformer (1974) sowie eine ganze Reihe von Einzelausstellungen der damaligen internationalen Avantgarde von Beuys, Kosuth und Darboven über Richter bis zu Paul Thek (Abb. 2) oder Giuseppe Penone. Abb. 2: Installationsansicht der Ausstellung Paul Thek. Arc, Pyramid, Easter. A visiting group show, Kunstmuseum Luzern, 25.3.-29.4.1973. © Kunstmuseum Luzern und Künstler.
Ammans Nachfolger versuchten, an diese gloriose und auch glorifizierte Dekade anzuknüpfen, inzwischen war die Kunstlandschaft aber in Veränderung begriffen, überall begannen die Kunsthallen zu sprießen und es pilgerte nicht mehr einfach so die ganze Schweizer Kunstszene nach Luzern. Die Sammlung des Kunstmuseums Luzern, seit 1933 im
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Aufbau begriffen, war schon seit längerem in den zwar schönen, aber isolierten »Oberlichtsaal« verbannt und zumeist mit den immer gleichen Highlights präsentiert. Alle paar Jahre widmete man ihr eine Sonderausstellung. Ganz klar, der Sammlung wegen kam nur nach Luzern, wer Robert Zünd, Hodlers Breithorn und vielleicht noch das anrührende Zimmermädchen von Soutine sehen wollte. Ihre Wertschätzung durch die Direktoren ließ dann und wann an Feingefühl zu wünschen übrig, etwa wenn Ulrich Look zur Eröffnung des neuen Kunstmuseums im KKL Luzern im Sommer 2000 die Glanzstücke der Innerschweizer Landschaftsmalerei in seiner programmatischen Schau Mixing Memory and Desire ausgerechnet im architektonisch schwierigsten Saal des neuen Museums installierte. Leider waren die Synergien zwischen Sammlung und Ausstellung auch in umgekehrter Richtung nur gering. Nicht auszumalen, wie die Luzerner Sammlung aussähe, hätten es Ammann und Konsorten geschafft, aus den Wechselausstellungen mehr als nur Zufälliges im Hause zu behalten. Der Fall Paul Thek zeigt dies exemplarisch auf. Wohl aus Zeitmangel und weil man die Transportkosten scheute, blieb nach seiner Ausstellung 1973 einiges an Material im Depot liegen, während Thek selbst mit seiner Entourage nach Stockholm weiter zog. Heute dürfen wir uns deswegen – die rund siebzig Inventarnummern umfassende Werkgruppe hat inzwischen offiziell per Schenkung Eingang in die Sammlung erhalten – einer der weltweit bedeutsamsten ThekSammlungen rühmen. Die unterschwelligen Vorwürfe an die ehemaligen Museumsleiter werden natürlich relativiert durch das Wissen von den finanziellen Schwierigkeiten und bescheidenen Ressourcen, auch personellen, mit denen sie konfrontiert waren. In der Zwischenzeit hat sich ein anderes Bewusstsein hinsichtlich der Komplexität der musealen Aufgaben herausgebildet. Das Konzept, das ich für das Kunstmuseum Luzern entwickelt hatte, basiert auf dem Grundsatz, dass die einzelnen Tätigkeitsbereiche eines Kunstmuseums sich möglichst stark verbinden und möglichst wenig rivalisieren. Dies schließt übrigens nebst dem Sammeln und dem Ausstellen ebenso sehr die Kunstvermittlung mit ein, die es aus ihrem eigenartig ausgegrenz-
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ten Status zu befreien und als eine Kernaufgabe wieder in die Gesamtstrategie eines Museums einzubinden gilt. Ebenso wenig sollen die Sammlung und die Ausstellungstätigkeit in einem hierarchischen Verhältnis zueinander stehen. Sammlungsausstellungen sind nicht mehr und nicht weniger wert als Wechselausstellungen. Bis heute halten fast alle Kunstmuseen die Tradition hoch, prominente Räumlichkeiten für die permanente, zumeist statische Präsentation der Sammlung zu reservieren. Luzern pflegt seit einigen Jahren einen anderen Umgang mit der Sammlung. Sie wird in wechselnden, zumeist thematischen Zusammenstellungen gezeigt, und das Museum kommuniziert diese als autonome Ausstellungen. Die jeweilige Werkauswahl erfolgt nach immer wieder anderen Aspekten, wobei nicht nur die Exponate wechseln, sondern auch der Ort innerhalb des Raumprogramms. Oft kann man sie auf den ersten Blick nicht von einer Wechselausstellung unterscheiden. Für die interessierten Museumsgänger sind sie aber durchaus identifizierbar und gerade das wiederkehrende Publikum weiß das Gesamtkonzept der Ausstellungsprogrammierung zu schätzen. Es beruht auf einer möglichst fruchtbaren Gesamtwirkung mehrerer parallel stattfindender Ausstellungen, wobei sich in der Regel immer eine davon bestimmten Aspekten der Sammlung widmet. So verfügt die Sammlung in gewisser Hinsicht über eine permanente Präsenz. Dies ist natürlich keine Erfindung des Kunstmuseums Luzern. Besonders die »rollend« sich verändernde Sammlungshängung der im Jahre 2000 eröffneten Tate Modern, gefolgt von den Neuhängungen des Musée national d’art moderne im Centre Pompidou in Paris im gleichen Jahr und des MoMA in New York 2004 brachten die Diskussion über die adäquate Vermittlung großer Sammlungen ins Bewusstsein einer breiteren Öffentlichkeit. Bereits zuvor, nämlich von 1991 bis 2001 setzte Jean-Christophe Ammann im Museum für Moderne Kunst in Frankfurt die Sammlung in einen Dialog mit Leihgaben von Werken einzelner Künstler und inszenierte im Halbjahresturnus seine berühmt gewordenen »Szenenwechsel«. Ein weiterer Pionier für den innovativen Umgang mit den Sammlungsbeständen ist Michael Fehr, von 1987 bis 2005 Leiter des Karl-Ernst Osthaus-
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Museums in Hagen. Er initiierte einen Metadiskurs, indem er für seine Sammlungskonzepte unterschiedliche Exponenten des Kunstsystems beizog: Kunstschaffende, Studierende, Wissenschaftler oder auch die so genannt normalen Museumsbesucher. Künstler sind im Zuge der aufkommenden Institutionskritik, also seit den 1960er Jahren, immer wieder für Sammlungshängungen beigezogen worden, dafür gäbe es unzählige Beispiele. Die Abkehr vom Prinzip einer auf Chronologie, Geografie oder sonst irgendeine Weise einem Ordnungssystem verpflichteten Gliederung ist deshalb derart brisant, weil sie mit der Abkehr von einer kanonisierenden Kunstgeschichtsschreibung einher geht und zugleich eine generelle Wende im Wechselverhältnis von Institution und Rezipienten widerspiegelt: Gefordert wird eine individuelle und interaktive oder gar partizipative Auseinandersetzung mit der Kunst. Wenn die Kuratoren ihr Publikum als mündig begreifen, verlangt dies von ihren Ausstellungen, dass sie ein Beziehungsgeflecht zur Verfügung stellen, dass deren Strukturen keine autoritäre, keine singuläre These vertreten, sondern hinsichtlich des Potenzials Bedeutung zu generieren, einen Spielraum eröffnen. Die Luzerner Bestrebungen für die Neuentwicklung von Sammlungsausstellungen entsprechen durchaus einem nationalen und internationalen Trend. Museen mittlerer Größe verabschieden sich von traditionellen Sammlungskonzepten, während die großen Häuser, die einen universalen Anspruch noch zu verfolgen vermögen oder zumindest vermeinen, längst an Kapazitätsgrenzen stoßen. Enthierarchisierung und Globalisierung lassen das potenziell zu sammelnde Kunstgut ins Unendliche wachsen, so dass nicht zuletzt ganz einfach Not an räumlichen wie personellen Ressourcen ansteht. Es ist aber – wie zuvor ansatzweise ausgeführt – doch eher der sich verändernde gesellschaftliche Kontext, der in den letzten Jahren viele Museumsverantwortliche motiviert hat, ihre Sammlungsstrategien zu überdenken, als die oft ins Feld geführten finanziellen Bedingungen. Nicht anders als in der erst seit wenigen Jahren plötzlich aufflammenden Kunstvermittlungsdiskussion geht es im Sammlungsbereich um die gewaltige Herausforde-
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rung, dass sich die Kunstmuseen proaktiv auf ein dynamisches Umfeld einzustellen haben, wollen sie ihre öffentliche kulturelle Funktion weiterhin wirkungsvoll wahrnehmen können. Nebst solchen Gedanken stehen auch hausgemachte Gründe hinter der Entwicklung des neuen Präsentationskonzepts der Sammlung des Kunstmuseums Luzern. Von der Geschichte des Hauses war schon die Rede, sie ist aber bei der Eröffnungsausstellung des Jahres 2000 stehen geblieben. Ihr folgte ein überaus schwieriger, wenn nicht gar missglückter Neustart des Museums im von Jean Nouvel erbauten Kultur- und Kongresszentrum KKL Luzern (Abb. 3), und es sollte vier Jahre dauern, bis der »Turn-around« geschafft war. (Die Wirtschaftssprache ist angesichts der damaligen Finanzsituation durchaus angebracht.) Abb. 3: Westfassade des Kultur- und Kongresszentrums KKL Luzern, erbaut 1995-2000 von Jean Nouvel. © Kunstmuseum Luzern.
Ich selbst wurde 2001 als Direktor nach Luzern berufen. In den ersten Jahren lagen die Prioritäten zwangsläufig beim kurzfristigen Überleben, der einst prall gefüllte Ankaufsfonds hatte gar für die Deckung aufgelaufener Defizite hinhalten müssen. Erst 2004 wurde es überhaupt erst möglich, der Sammlung neue Aufmerksamkeit zu schenken. Es ging darum, deren brachliegendes Potenzial wieder zu nutzen. Das
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Entwicklungskonzept erhielt den Titel Projekt Sammlung 04-06. Es war in verschiedener Hinsicht innovativ. Um den laufenden Betrieb nicht zu gefährden, erfolgte die Finanzierung ausschließlich durch private Drittmittel und baute auf eine Partnerschaft mit der Stiftung Art Mentor Foundation Lucerne. Sie erklärte sich bereit, bis zu einer gewissen Obergrenze alle weiteren Zuwendungen zu verdreifachen. Auf diese Weise konnten die budgetierten 1,3 Millionen Franken vollumfänglich beigebracht werden. Von Vornherein stand fest, dass die Sammlung nicht nur bewahrt, sondern substanziell erweitert werden soll: Mindestens die Hälfte der Projektmittel floss in Neuerwerbungen. Inhaltlich verknüpfte das Projekt die wissenschaftliche Aufarbeitung mit der Vermittlung der Sammlung in zwei Medien: einerseits der Publizierung der Inventarisate nach wissenschaftlichen Standards in Form einer Datenbank im Internet – das Kunstmuseum Luzern nahm und nimmt bis heute diesbezüglich weit über die Schweiz hinaus eine Pionierrolle ein –, andererseits einem neuen Konzept zur Ausstellung der Sammlung. 2007 konnte das Projekt Sammlung mit beträchtlichem Erfolg abgeschlossen werden, sein größtes Verdienst liegt in der Nachhaltigkeit, was bedeutet, dass der neue Standard in jeder Beziehung aufrecht erhalten werden kann. Im Vorfeld des Projekts sowie im Zuge der Neuinventarisierung der Sammlung wurde diese einer kritischen Betrachtung unterzogen. Sie erwies sich besser als ihr Ruf, auch wenn sie – abgesehen von der Schweizer Malerei des 19. Jahrhunderts – weit davon entfernt ist, größere Entwicklungslinien nachvollziehen zu können. Sie lebt von durchaus markanten, in der Regel aber etwas solitären Werkgruppen, zwischen denen sich auch schmerzliche Lücken auftun. An eine klassische Sammlungshängung war nicht zu denken. Dagegen sprachen auch die neuen Museumsräume im KKL Luzern: In ihrer neutralen Gleichförmigkeit hatten sie einen »Sammlungsflügel« gar nicht antizipiert, und aus Gründen einer möglichst großen Flexibilität in der Ausstellungsplanung wollten die Museumsverantwortlichen auch nicht einen maßgeblichen Teil der Museumsfläche von insgesamt 2100 qm fest belegen.
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Somit galt es, für die Sammlung ein Ausstellungskonzept zu finden, das mit ihren Stärken arbeitet, in unterschiedlichen zur Verfügung stehenden Raumtypen funktioniert und geeignet ist, das vielfältige Potenzial der Kunst zur Geltung zu bringen. Darüber hinaus sollte es erlauben, in der Kombination mit frei programmierten Wechselausstellungen größere Beziehungslinien – sei es unter historischen, kunstgeografischen oder thematischen Aspekten – auszulegen. Dann geht es immer auch darum, die über viele Jahrzehnte gewachsene und von einem Museum mit öffentlichem Auftrag gepflegte Sammlung als kulturelles Archiv der Region Zentralschweiz sichtbar zu machen, diesbezüglich ein Stück Identität zu verkörpern sowie in der Öffentlichkeit das Bewusstsein und die Wertschätzung der Sammlung zu befördern. Die Lösung konnte nur in einem bewusst heterogenen Konzept liegen: wechselnde Kriterien für die Auswahl der Exponate, wechselnde Räumlichkeiten, unterschiedlicher Tiefgang hinsichtlich kunstwissenschaftlichem und kunsthistorischem Anspruch. Wenn ein Rückblick auf nunmehr sieben Jahre Sammlungspräsentationen im Kunstmuseum Luzern also disparat anmutet, entspricht dies ausdrücklich der zugrunde liegenden Konzeption. Sie operiert mit drei unterschiedlichen Ausstellungstypen: Die kunsthistorische Ausstellung dient der Rekonstruktion und Dokumentation von Zusammenhängen und Entwicklungen. Sie wurde bislang hauptsächlich in monografischer Form realisiert (z.B. Joseph Reinhard und Clara Reinhard, 2005). Die assoziativ angelegte thematische Ausstellung erleichtert einen intuitiven Zugang zur Kunst und erlaubt unkonventionelle Kombinationen, wenn nicht gar Konfrontationen der Medien, Zeiten und künstlerischer Haltungen (z.B. Der Lesesaal, 2006, Abb. 4, oder Modell für ein Museum, 2006/ 2007, Abb. 5).
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Abb. 4: Installationsansicht der Ausstellung Lesesaal, Kunstmuseum Luzern, 6.5.-27.8.2006, Hodler-Saal mit Hodler-Bibliothek. © Kunstmuseum Luzern.
Abb. 5: Installationsansicht des Saals Wunderkammer der Ausstellung Modell für ein Museum, Kunstmuseum Luzern, 21.10.2006-18.2.2007. © Kunstmuseum Luzern und die Künstler.
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Der dritte Typus ist experimenteller Natur und nennt sich Labor Sammlung: In öffentlich zugänglichen Ausstellungsräumen findet eine prozesshafte, wissenschaftliche Beschäftigung mit der Sammlung statt, deren Ausgang offen ist (Labor Sammlung: Paul Thek, 2004-2005, Abb. 6 oder Labor Sammlung: Video, 2007). Die Vermittlung passiert in Echtzeit sowie auch auf einer Metaebene, nämlich im Sinne eines Blicks »hinter die Kulissen« der Museumsarbeit. Abb. 6: Exemplarische Präsentation in der Ausstellung Paul Thek. 1973/2005, 11.6.-24.7.2005 im Rahmen von »Labor Sammlung: Paul Thek«, Rekonstruktion von Theks Environment The Artist’s Co-op (Chicken Coop) von 1969 mit Originalobjekten. © Kunstmuseum Luzern und der Künstler.
Inzwischen hat sich das Kunstmuseum Luzern mit diesen Präsentationen in der Schweiz einen Ruf erarbeitet, der zum Profil des Hauses gehört. Hinter den einzelnen Projekten, die auf dem geschilderten Grundkonzept aufbauen, steht von der Idee bis zur Realisation mit wenigen Ausnahmen die Autorschaft von Christoph Lichtin, der 2004 als Konservator der Sammlung an das Kunstmuseum Luzern verpflichtet wer-
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den konnte. Lichtin bewies, dass ein kreativer Ansatz wissenschaftliche und konservatorische Sorgfalt nicht ausschließt, sondern vielmehr versucht, der Vielschichtigkeit und spezifischen Qualität einer Sammlung gerecht zu werden. Von 2004 bis 2011 hat er 17 Ausstellungen entwickelt, die in unmittelbarem Zusammenhang zur Sammlung standen. Sie vermochten deutlich mehr als 1000 verschiedene Werke aufzunehmen, darunter solche, die unter strengen kunsthistorischen Maßstäben nie das Licht der »heiligen Hallen« erblicken würden, andere wiederum, die so genannten »Highlights«, tauchen in immer neuen Zusammenhängen auf. Kein anderes Präsentationskonzept – es sei denn die Petersburger Hängung – wäre imstande, die Sammlung in ihrer Vielfalt und mit einer so hohen Zahl von Werken in den Museumsräumen zu vermitteln. Und wenn die monografischen Wechselausstellungen von Künstlern, die in der Sammlung mit großen Werkgruppen vertreten sind, dazugezählt werden, kommen im betrachteten Zeitraum nochmals 200 Werke dazu, so dass in sieben Jahren mehr als ein Viertel des gesamten Sammlungsbestandes in den Ausstellungsräumen zu sehen war. Das Luzerner Konzept erweist sich inzwischen als ein nie wirklich abgeschlossener Prozess mit einem Potenzial, das nicht so schnell ausgeschöpft sein wird. Die Einbindung von wechselnden Sammlungspräsentationen in den größeren Zusammenhang einer Ausstellungsprogrammierung, die in Luzern jährlich acht bis zehn Ausstellungen umfasst, mag bislang vor allem als eine formale Lösung erscheinen. Das Kunstmuseum Luzern hat mangels Konkurrenz in der näheren Umgebung einen breit gefächerten kulturellen Auftrag wahrzunehmen. Sein Selbstverständnis und seine Außenwahrnehmung gründen stärker als in der Sammlung in seiner Ausstellungsgeschichte mit zeitgenössischer Kunst, ein wertvolles Profil, mit dem sorgsam umzugehen ist. Für diese Konstellation birgt die Sammlung ein reichhaltiges Potenzial. So vermag sie beispielsweise die Vermittlung historischer Aspekte der Kunst zu leisten und somit das Gesamtprogramm des Museums zu ergänzen, ohne dass in diesem Bereich auch noch aufwendige Sonderausstellungen organisiert werden
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müssen. Dies will nicht heißen, dass Sammlungsausstellungen Zweitklassausstellungen sind, auch wenn in ihnen nicht lauter große Meisterwerke hängen. Gleichwohl stehen sie aber eher im Dienst der Vermittlung, als dass sie das große Publikum zu generieren hätten. Insofern tragen sie in Luzern wesentlich zur Aufrechterhaltung der erwähnten, gebotenen Vielfalt bei. Zum Schluss mag interessieren, welche Rückwirkungen Wechselausstellungen mit externen Leihgaben auf die Sammlung haben können. Die Weiterentwicklung einer Sammlung wie auch die Konzeption einer Ausstellungsplanung unterliegen vielfältigen Kriterien und Entscheidungsprozessen. Beide sind auch ganz wesentlich geprägt von der Person, die ein Museum leitet. Eine künstlerischen Grundhaltung sowie durchaus auch individuelle Präferenzen werden und müssen einen Widerhall finden, und zwar in beiden Gefäßen. Das Kunstmuseum Luzern hat eine Sammlungspolitik entwickelt, die sich auf vier Schwerpunkte konzentriert. Nebst solchen, die historisch gewachsen sind oder sich aus geografischen Gründen ableiten, gibt es den Grundsatz der so genannten »Spurensicherung«. Wie oben ausgeführt, sind Wechselausstellungen das erste Vehikel, um die künstlerischen Überzeugungen der Museumsverantwortlichen zu transportieren. Sie sind somit über das momentane Ereignis hinaus für den Ort und die Zeit von Relevanz und prägen die Geschichte des Museums mit. Ihre Exponate sind aus diesem Grunde geradezu prädestiniert, in die Sammlung Eingang zu finden (Abb. 7).
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Abb. 7: Installationsansicht der Ausstellung »Referenz und Neigung«. Kunst des 21. Jahrhunderts aus der Sammlung, Kunstmuseum Luzern, 27.2.-27.7.2010, mit Erwerbungen hauptsächlich aus Wechselausstellungen, von links: Rémy Markowitsch, Berlinde de Bruyckere, Rosemary Laing. © Kunstmuseum Luzern und die Künstler.
Als Spuren repräsentieren sie diese Relevanz auch für spätere Generationen. Daneben gibt es auch viele pragmatische Gründe, aus Wechselausstellungen Werke für die Sammlung anzukaufen: Wegen guter Kontakte zu den Kunstschaffenden und Galerien sind die Konditionen besser, Transportkosten können gespart werden, dank der Ausstellungsvorbereitungen verfügen die Entscheidungsträger über ein umfassendes Kontextwissen. Schließlich kann das Werk in seiner zukünftigen Umgebung beurteilt werden und auch potenzielle Geldgeber lassen sich vor Originalen leichter motivieren. Diese Ausführungen, so fragmentarisch sie leider bleiben müssen, wollten aufzeigen, wie sehr ganzheitlich und komplex die Museumsarbeit ist. Sie steht im Dienste des Kulturguts und dessen Vermittlung. Diese Feststellung scheint eine Dualität zu implizieren, die sich
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plakativ umschreiben ließe als ein Spannungsverhältnis zwischen Konservierung und Konsum oder zwischen Sammlung und Ausstellung oder zwischen Dauerausstellung und Wechselausstellung, eine Polarisierung, die aber nirgendwohin führt. Öffentliche Museen besitzen die Aufgabe, an der Schnittstelle zwischen Kunst und Öffentlichkeit vermittelnd tätig zu sein, und der Begriff der Vermittlung lässt sich nur bidirektional auslegen, im Sinne eines gegenseitigen Austauschs. Kunstwerke sind keine autarken Größen und Werte, Kultur generell lebt nicht von den Objekten allein, sondern vom Umgang, den die Gesellschaft, die Menschen mit ihnen unterhalten. Genau an dieser Stelle besitzt das Museum seinen Platz oder hat ihn zu finden.
D IE S AMMLUNGSAUSSTELLUNGEN IM K UNSTMUSEUM L UZERN 2004-2011 2004 Labor Sammlung: Paul Thek 2005 Characters. Werke aus der Sammlung Ergriffenheit. Werke aus der Sammlung von Hodler bis Henning Paul Thek 1973/2005. Exemplarische Präsentation Josef Reinhard (1749-1824) und Clara Reinhard (1777-1848) 2006 Der Lesesaal. Werke aus der Sammlung von Hodler, Augusto und Giovanni Giacometti, Amiet, Vallotton, Markowitsch Modell für ein Museum. Werke aus der Sammlung, mit der integralen Schenkung Minnich, dazu ein »Bilderzimmer« von Anton Henning und Allan Porters »I Am a Museum«
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2007 Terrain. Von Robert Zünd bis Tony Cragg. Landschaftsmalerei des 19. Jahrhunderts und zeitgenössische Skulptur aus der Sammlung »Her ob schwebsel wer die das rauschgeräum da«. Werke aus der Sammlung von André Thomkins, Philippe Schibig, Charles Moser Labor Sammlung: Video 2008 Schweizer Meister. Sammlungsausstellung zum 75-Jahr-Jubiläum der Bernhard Eglin-Stiftung 2009 Passagen und Relikte. Vom Holbein-Wandbild bis zu Meglingers Brückenbildern. Werke des 16. und 17. Jahrhunderts aus der Sammlung Silence. Ausgewählte Werke aus der Sammlung 2010 Referenz und Neigung. Kunst des 21. Jahrhunderts aus der Sammlung Hodler, Amiet, Giacometti. Werke aus Innerschweizer Sammlungen Franz Erhard Walther. Gesang der Schreitsockel 2011 Max von Moos, gesehen von Peter Roesch, Robert Estermann und Christian Kathriner
Kreative Unruhe SEE history 2003-2008 in der Kunsthalle zu Kiel D IRK L UCKOW
Als Appendix der Christian-Albrechts-Universität und hervorgegangen aus dem Schleswig-Holsteinischen Kunstverein konnte die Kieler Kunsthalle seit ihrer Gründung 1855 bis heute eine Sammlung mit rund 1000 Bildern, 200 Skulpturen und 40.000 Grafiken aufbauen und ist dadurch das größte Universitätsmuseum Deutschlands. Vis à vis einer der wichtigsten Ostseehäfen mit vornehmlich skandinavischen Touristen ist die Kunsthalle zugleich an der geostrategisch wichtigen Schnittstelle zwischen Osteuropa, Skandinavien und Mitteleuropa gelegen, was sich in der Kieler Sammlung mit einem bedeutenden Konvolut russischer Kunst aus dem 19. Jahrhundert sowie skandinavischer und europäischer Kunst aus den letzten beiden Jahrhunderten spiegelt. Kennzeichnend für das Kieler Haus ist der Mix aus freiheitsliebendem Bürgersinn und universellem Wissenschaftsgeist sowie die flexible Struktur, nämlich zugleich Museum, Ausstellungshalle, Schleswig-Holsteinischer Kunstverein und Universitätsinstitut zu sein. Das lässt der Museumsleitung – unterstützt von einem rührigen Freundeskreis – weitreichende Freiräume für Experimente aller Art, wie z.B. für neue Museumskonzepte. Zwischen 2003 und 2008 erprobte die Kunsthalle zu Kiel verschiedenste Szenarien, um herausfinden, wie das Museum mit Randlage dy-
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namisiert werden kann, wie es Stätte nicht nur der Präsentation, sondern auch der Produktion wird, wie es klassischer Ort der Kunst sein und zugleich avantgardistische Kunstdiskurse reflektieren kann. Gerade die Nähe zur aktuellen Kunst war und ist wichtig, da sich die Kunsthalle in starkem Maße auf den Erwerb zeitgenössischer Kunst konzentriert. Durch besonderes Geschick bereichern heute bedeutende Werke von z.B. Sigmar Polke, Gerhard Richter, Marlene Dumas, Daniel Richter, Peter Doig oder Neo Rauch die Sammlung. Sie konnten rechtzeitig gekauft werden und wären heute für die Kunsthalle unbezahlbar. Andererseits deckt die Kieler Sammlung nicht automatisch in enzyklopädischem Maßstab ganze Epochen ab – ein Grund dafür, dass sie zu Experimenten aufgefordert ist: schon um nicht von Entwicklungen überrascht zu werden und auch, um einen gewissen Erlebniswert in die Sammlung einzubringen. Abb. 1: Peter Doig »Okahumkee (Some other Peoples’ Blues)«, 1990, Kunsthalle zu Kiel. Foto: Martin Frommhagen.
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Um die Menschen stärker einzubeziehen, den Meinungsaustausch zu fördern, erschien es wichtig, das Tempelhafte des Museums abzubauen. Eine Hängung nach gängiger kunsthistorischer Lehrmeinung, in Kiel lange Zeit selbstverständlich, weckt den Anschein des Ganzheitlichen, verstärkt den Nimbus von Neutralität und Objektivität, ein Trugbild angesichts der fragmentarischen Kieler Bestände. Steht man hingegen zur Bruchstückhaftigkeit der Sammlung, bieten sich ihr viele Möglichkeiten musealer Entfaltung. Es lässt sich z.B. das »Prinzip Museum« konzeptualisieren, fundamentale Fragen über das Kunstsammeln aufwerfen oder die Sammlung zum Fokus eines kulturellen Ereignisses machen. Um dies zu bewirken, haben wir den Sammlungsteil in ihr schwereloses Gegenstück die »Ausstellung« verwandelt. Programmatisch hieß die erste Folge von SEE history im Jahr 2003: Eine Sammlung wird ausgestellt. Jahr für Jahr wanderten zwischen 2003 und 2008 jeweils nach neuen Konzepten rund 200 Gemälde und Skulpturen durch die Kieler Geschosse und Sammlungsräume. Jeweils wurde eine vollkommene Neusichtung der Sammlung ermöglicht. Diese Art der unchronologischen Präsentation, ›quer zu den Jahrhunderten und damit gegen die Stilepochen gebürstet‹, löste das ›traditionelle Prinzip ein Raum pro Epoche‹ ab. Der Zuschnitt der Kieler Sammlung mit Schwerpunkten im 19. und 20. Jahrhundert und Ausblicken in die Kunst von sechs Jahrhunderten inklusive einer Antikensammlung war für das Verknüpfen von Querbezügen zwischen Werken über verschiedene Zeitepochen oder Generationen hinweg ideal. So konnte der Sammlungsbestand des Hauses mal nach Themen, mal nach Betrachterstandpunkt in jeweils neue Zusammenhänge gebracht werden. Es wurde zum Markenzeichen der Kieler Kunsthalle, mit generations- und epocheübergreifenden Sammlungs- und Ausstellungskonzepten immer wieder die Aufmerksamkeit auf Kiel zu lenken. Man konnte von künstlerischen (Geister-)Gesprächen über die Abgründe der Jahrhunderte hinweg sprechen, die die Kunsthalle zu Kiel fortlaufend inszenierte. Immer wieder ließ sich auch ein Wettstreit unter den Künstlern um handwerkliche Meisterschaft, sinnliche Faszi-
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nation oder raffinierte Blicke unter den Spitzenwerken der Sammlung zwischen den Jahrhunderten austragen. Obwohl keine mit Luxusproblemen behaftete Sammlung, konnte sie doch aus der Konfrontation des Ungleichzeitigen Funken schlagen. Interessant war zu verfolgen, dass, egal ob die eigenen Mitarbeiter, Unternehmer, Sammler, Künstler oder Wissenschaftler mit in die Hängungen und Konzepte involviert waren, sie stets mit großen Zeitsprüngen, vergleichenden Gegenüberstellungen und auf Kontrast angelegten Akzentuierungen operierten. In keinem Fall wurden die Bestände biografisch, epochenspezifisch oder chronologisch gehängt. Man gewinnt den Eindruck, dass heutiger technologischer Standard, Bilder über Raum und Zeit, über Originalität und Kausalität hinweg kombinieren zu können, in den Köpfen längst ein neues imaginäres oder subjektives Museum formte – im Widerspruch zur gängigen kunsthistorischen Lehrmeinung. Abb. 2: Florian Slotawa »Kieler Sockel«, 2004, Gipsskulptur (Carl Schneider, Männliche Büste, 1933) und Büroinventar der Kunsthalle zu Kiel, Kunsthalle zu Kiel. Im Hintergrund: Matthieu Mercier »Still untitled«, 2002, Farbe und Klebefolie auf Holz, Kunsthalle zu Kiel. Foto: Martin Frommhagen.
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Die alljährlich wechselnden Präsentationen der Sammlung, die als »Kieler Modell« bekannt wurden und die die ganze Kunsthalle zum Ausstellungshaus verwandelten, rückten das Prinzip »Museum« selbst mit seinen museumsspezifischen Praktiken in den Fokus. Bei der ersten SEE history-Folge wurden auf der Basis von mit Le Corbusier-Farben gestalteten Wänden Themenpfade zwischen älterer und zeitgenössischer Kunst mit Werken aus sechs Jahrhunderten erarbeitet und überraschend Verbindungen geschaffen. Stilbruch als Stilprinzip, Inszenierungen oder Expressionismus und Expression lauteten die Überschriften, unter denen Kunst unterschiedlicher Jahrhunderte miteinander konfrontiert wurde. Das Nebeneinander zwischen älterer und zeitgenössischer Kunst kann zu reizvoller Balance zwischen Tradition und Moderne führen, konflikthaft enden oder außergewöhnliche kunsthistorische Konstellationen ans Tageslicht holen. In kaum einem Fall handelte es sich um reine Stilgeschichten oder Formanalysen. Eher waren es komplizierte kunsthistorische Fälle, die spannende Fragen aufwarfen. In dem Raum mit dem Titel Wunde hing eine Kopie eines Schmerzensmannes von Jan van Hemessen von 1540 gegenüber Lucio Fontanas Bild Concetto Spaziale, Attese von 1959 und in der Mitte hinter einem Nagel-Objekt von Günther Uecker das informelle Bild von Gerhard Hoehme mit dem graffitiartigen Schriftzug »Zeige Deine Wunde«, ein Werk mit autobiografischen Zügen. Christus als Schmerzensmann mit klaffender Wunde und dazu Lucio Fontanas Schnitt in die rosafarbene Leinwand, machen deutlich, das Fontana nicht nur Modernist war, der mit seinen Leinwandschnitten auf einen hinter dem Bild liegenden unendlichen Raum verweist, sondern auch ein Künstler, der in Italien mit Darstellungen des gemarterten Christuskörper groß geworden ist, aus denen wiederum das Blut rinnt, das man in dem transitorischen Bild Hoehmes entdecken kann. Wenn ein Werk aus der Gegenwart einem älteren Werk gegenübergestellt ist, dann greift der historische Zugang nicht. Stattdessen muss das Rätsel der Verbindung, des Zwiegesprächs der Werke, gelöst werden. Der Schnitt durch die Leinwand ist nicht mehr vermeintlicher Willkürakt des modernen Künstlers, sondern steht auf
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faszinierende Weise in der uralten Tradition christlicher Symbolik. Die Tradition ist plötzlich so aktuell wie die Moderne. Nebenbei ermöglichte diese epocheübergreifende Hängung im Jahr 2003, dass vieles, was jahrzehntelang im Depot ein Schattendasein führte, darunter Spitzenwerke von Abraham Bloemaert, einem Süddeutschen Meister im Stile Garofalos, Johann Liss, Jacob Ruisdael oder Jan David de Heem, erstmals wieder gezeigt wurde. Zuvor passten sie nicht in das Konzept einer Sammlung des 19. und 20. Jahrhunderts. Jetzt konnten diese Solitäre, die eher zufällig in die Sammlung geraten sind und mit denen sich kaum Epochenräume bestreiten ließen, zu spannungsvollen Ensembles zusammengefügt werden. Ging es 2003 um die Umwandlung eines gewohnten chronologischen oder geschichtlichen Blicks auf die Kunst in ein mehr nach ästhetischen und innerbildlichen Kriterien gelenkten Augenspiels, thematisierte die zweite SEE history-Folge 2004 ganz neue Zugangsformen zur Sammlung, ausgelöst dadurch, dass die Sammlungsstücke nicht von mir oder den wissenschaftlichen Kollegen, sondern von allen Mitarbeitern des Hauses ausgewählt wurden – darunter die Reinigungskraft oder der Hausmeister, der Werkstattleiter oder die Sekretärin. Basis-Demokratie im Museum, so der Titel in der Reportage des Kunstmagazins ART1, wurde zur populärsten SEE history-Folge. Jenseits von Künstlermuseen und Kuratorenkonzepten stand im Vordergrund, mit Kollegen eine Sammlung einzurichten, die selbst zum Teil länger als zwanzig Jahre mit ihr gearbeitet haben und sie bestens kennen. Heraus kam eine sehr emotional geprägte, unorthodoxe Präsentation mit Bekenntnissen bzw. schriftlichen Konzepten der Mitarbeiter. Die Auswahl der Werke war geprägt vom eigenen Leben, von der Arbeit, persönlichen Erfahrungen und Vorlieben. Der Werkstattleiter Bernhard Seifert stellte zum Beispiel »Meine Lieblingsbilder« vor. Vorurteile gegenüber moderner Kunst weichen außerdem auf, wenn die Reini-
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Dörrzapf, Anke: »Basis-Demokratie im Museum«, in: ART 10/2004, S. 1221. Siehe www.art-magazin.de/div/heftarchiv/2004/10/OGOWTEGWPPRO PPOGOASTSGCWATWGWTRWWWAW/Basis-Demokratie-im-Museum
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gungsfrau einen Raum u.a. mit Werken von Joseph Beuys einrichtet. Die Aufseher von der Kasse folgten dem Wunsch vieler Besucher, endlich einmal wieder Kieler Ansichten zu zeigen. Die für den Versand zuständige Kollegin entschloss sich zu einer Kombination zwischen Daniel Buren, Nam June Paik und Stefan Kern. Diese Hängung wurde zur Sensation mit Kritiken in vielen Tageszeitungen bis hin zum Londoner Guardian. Das Argument, moderne Kunst verstehe ich nicht, welches häufig in Kiel zu vernehmen war, wird obsolet in dem Moment, wo die Reinigungsfrau sie präsentiert. Was woanders fürstliche oder industrielle Sammlermäzene besorgen, deckt in der Kunsthalle zu Kiel seit 27 Jahren hauptsächlich der Stifterkreis der Kunsthalle ab, indem er regelmäßig zeitgenössische Kunstwerke zwischen 50.000 und 100.000 Euro pro Jahr erwirbt. Kontakte der Kunsthalle zu Privatsammlern blieben eher die Ausnahme in ihrer über 150-jährigen Geschichte. Ein Grund hierfür ist die besondere Situation der Kunsthalle als Universitätsmuseum. Die Professoren der Kunstgeschichte, bis 1971 gleichzeitig Direktoren der Kunsthalle, hatten anderes im Kopf als Privatsammler den Hof zu machen. Ihre Erwerbungen entsprachen häufig mehr ihren Forschungsinteressen und weniger dem konsequenten Ausbau der Sammlung. Mit der dritten SEE history-Folge im Jahr 2005 wurden 17 renommierte deutsche Privatsammler eingeladen, sich mit unseren Beständen in je einem der 17 Sammlungsräume auseinanderzusetzen. In dieser Zeit erreichte gerade die öffentliche Diskussion um die neue »Macht der Privatsammler« und die schleichende Entwicklung hin zur Privatisierung der Museen innerhalb der deutschen Museumslandschaft, mit Friedrich Christian Flick in Berlin, Hans Grote in Bonn und Dieter Bock in Frankfurt, ihren Höhepunkt. Die Sammler, die nach Kiel eingeladen wurden, sollten mit der Kieler Sammlung zunächst völlig losgelöst von ihren eigenen Kollektionen arbeiten. Im Vordergrund stand der Sammler als Mensch, der eigentlich einem bürgerlichen Beruf nachgeht und die eigene Sammlung als eine Art Labor zur Erprobung eigener Orientierungsmöglichkeiten und Utopien versteht. Eingeladen waren u.a. Harald Falckenberg, Thomas Grässlin, Erika Hoffmann, Paul Maenz,
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Wilhelm Schürmann, Wolfgang Wittrock oder Reiner Speck. Nur ein Sammler hielt allerdings die Ausgangsidee, sich ausschließlich auf unsere Sammlung zu beziehen, konsequent durch: Christian Dräger aus Lübeck wählte nur Kieler spätklassizistische und romantische Zeichnungen aus. Abb. 3: Elmgreen Dragset »Temporarily Placed«, 2002, Sammlung Christian Boros, Wuppertal. Mit Gerhard Richter »Abendstimmung«, 1969, Kunsthalle zu Kiel. Foto: Martin Frommhagen.
Alle anderen Sammler boten Leihgaben an und nutzten die Möglichkeit der Zusammenführung. Ihre Leihgaben gaben neue, erhellende Impulse für die Sammlung. Erika Hoffmann gab eine zweite Plastik
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von Antony Gormley oder der junge Berliner Sammler Ivo Wessel zu Werken konkreter Kunst aus unserer Sammlung ein Werk von Florian Slotawa. Ganz neue Ansätze wurden an unsere Sammlung herangeführt: Thomas Grässlin aus St. Georgen im Schwarzwald, Paul Maenz aus Berlin oder Wilhelm Schürmann aus Aachen etwa beschäftigte an der Kieler Sammlung weniger das herausragende Einzelwerk. Sie fassten die Sammlung als eine Art profanierter Bildergeschichte auf und begriffen das Museum als Hort historischer Kunst, dessen künstlerische Qualität immer wieder neu hinterfragt werden muss. So hatte sich Paul Maenz dafür entschieden, in seinem Raum aus Bilderrahmen entfernte Landschaftsdarstellungen unserer Bestände aus dem 19. Jahrhundert Stoß an Stoß zu präsentieren und zugleich den Berliner Künstler Markus Sixay einzuladen, sich in das Erscheinungsbild dieses Raums einzubringen. Das geschah in Form einer elektrisch aufgeladenen Ritterrüstung, die der ehemalige Kölner Galerist dann in Absprache mit dem Künstler der Kieler Sammlung schenkte. Maenz weist im Katalogbeitrag auf das Verhältnis zwischen Mensch und Natur sowie von Individuum und Kosmos hin, auf die, wie er schreibt, »lächerliche Wehrhaftigkeit dieses ›Ritters‹, einst abendländisches Symbol männlicher Tugenden hier als leere Hülle, quasi als ›Mann ohne Eigenschaften‹, vor dem Hintergrund einer Naturauffassung, bei der noch das Erhabene mitschwingt, einer Idee, die der Kunst gründlich abhanden gekommen ist.«2 Wilhelm Schürmann brachte in seinen Raum ein weiteres außergewöhnliches Kunstwerk mit in die Kieler Kunsthalle ein: eine »tickende« Zeitbombe des belgischen Künstlers Kris Martin. Sie wurde im Jahr 2004 geschaffen und wird laut Aussage des Künstlers nach hundert Jahren, also im Jahr 2104 explodieren. Um diese Bombe gruppierte Schürmann Werke aus unserer Sammlung, die um 1904 herum entstanden sind, wie die Nächtliche Bordellszene von Karl Aksel Jørgensen. Der zeitliche Horizont wird für die Besucher zur Zukunft
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Maenz, Paul: »Aller guten Dinge sind drei«, in: Dirk Luckow (Hg.), See history 2005. Der private Blick, Ausstellungskatalog S. 72.
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wie zur Vergangenheit hin um hundert Jahre erweitert; Kunstwerke treten gegen Kunstwerke an. An der Wand zitierte Schürmann Frank Wedekind aus Die Büchse der Pandora von 1904: »Ich freue mich, wenn sich die Menschen freuen, am ehrlichsten am Funkelnagelneuen.« Abb. 4: Markus Sixay »Life is Friction«, 2005, Kunsthalle zu Kiel. Im Hintergrund: Landschaftsgemälde der Kunsthalle zu Kiel. Foto: Frank Peter.
Wie viele Museumssammlungen läuft auch die Kieler Gefahr, im Schatten des expandierenden Kunstmarktes mit ins Unermessliche steigenden Preisen zu verharren. Deshalb startete die Kunsthalle im Jahr 2006 eine Erwerbsoffensive, die zum weiteren Ausbau der Sammlung beitragen sollte, um Anschluss an das 21. Jahrhundert zu
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halten. Damit rückte die Kunsthalle die Wirtschaft als Partner der Kunst in den Blickpunkt. Insgesamt konnten 19 Kunstwerke für diese SEE history-Folge im Wert von insgesamt rund 300.000 Euro durch überwiegend norddeutsche Unternehmen erworben werden. Die Unternehmen ihrerseits sahen ein Jahr lang, wohin ihr Geld geflossen war. Jeder Neuerwerbung wurde jeweils ein Ausstellungsraum des Museums gewidmet, wo sie mit Kunstwerken aus der eigenen Sammlung in einen Dialog traten. Auf die Förderung durch das Unternehmen wurde ausdrücklich hingewiesen. Für beide Seiten ergaben sich unerwartete Anregungen und Sichtweisen. So passte die fotografische Serie des 1971 auf Rügen geborenen und heute in Leipzig lebenden Künstlers Sven Johne, die Geschichten von Schiffskatastrophen mit Ansichten von Meeresoberflächen kurzschließt, sowohl zum Standort der Kieler Kunsthalle als Museum am Meer als auch zur Zeitschrift mare, die das Werk stiftete. Genauso dürfte die Verbindung zwischen einer Mühle von Andreas Slominski, als Symbol für Winde und Speicherkapazität, und dem Schifffahrtsunternehmen Sartori & Berger unmittelbar einleuchten. Und zum High Tech von Mercedes, vertreten durch Süverkrup & Söhne GmbH, fügt sich das Low Tech einer fein ausgeklügelten Maschinenästhetik aus schlichten Materialien in Michael Beutlers Installation Sputnik, die er für die Biennale in Moskau geschaffen hat. Weitere Erwerbungen stammten z.B. von Katharina Grosse, Jörg Sasse, Martin Boyce, Mathieu Mercier, Hans-Peter Feldmann, Dirk Skreber, Norbert Schwontkowski oder Per Kirkeby. Jeweils wurden diese Werke so in den Sammlungskontext eingebaut, dass der Erwerb für die Sammlung aus Sicht der Sammlung selbst der Öffentlichkeit als sinnvoll und überzeugend nachvollziehbar wurde und nicht etwa dem Interesse des Unternehmens und seiner Produktpalette entspricht. Anlässlich ihres 150-jährigen Bestehens im Jahr 2007 strebte die Kunsthalle die Herausgabe eines repräsentativen Jubiläumskataloges an: Ein Prachtband, der farbige Abbildungen von 250 Meisterwerken umfasst und herausragende Werke der Sammlung dauerhaft und wissenschaftlich auf dem neuesten Stand der kunsthistorischen Forschung
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vorstellt. Entsprechend konzentrierte sich die Sammlungspräsentation in jenem Jahr auf Highlights der Sammlung, die nach Themen und Schwerpunkten gehängt waren: zum Beispiel Asger Jorn, Per Kirkeby und Tal R in einem Raum, oder Barlach, Paula Modersohn Becker und Max Liebermann in einem nächsten oder zeitgenössische Malerei mit Neo Rauch, Marlene Dumas und Peter Doig. In der sechsten und damit letzten unter meiner Leitung präsentierten Folge wurden dreizehn Künstler aus aller Welt eingeladen, »kreative Visionen« für die nach europäischen Standards gewachsene Kieler Kollektion zu entwickeln. Wie sich die Aktualität eines Kunstwerkes heute im Kontext globaler Kunstproduktion bewähren muss, so muss sich auch ein Museum, insbesondere eines mit Meereslage, einem breiteren Blick stellen. Wie soll sich die Kunsthalle zukünftig ausrichten, wie wird sie sammeln: einheimisch, europäisch oder global? Die Antwort liegt in einer Gratwanderung, zum einen offen und anpassungsfähig zu bleiben, zum anderen nicht die Bodenhaftung zu verlieren. Je mehr Globalisierung um einen herum spürbar wird, desto mehr rückt aber auch die Vergewisserung der eigenen Identität, Seele und lokalen Geschichte wieder in den Blickpunkt. Diese SEE history-Folge im Jahr 2008 versuchte, den Blick auf die eigenen kulturellen Wurzeln zu schärfen und gleichzeitig ihn über den eigenen Tellerrand hinaus zu richten. Die eingeladenen Künstler kamen nach Kiel, zunächst um die Sammlung in Augenschein zu nehmen und dann um die von ihnen konzipierten Räume aufzubauen, die Werke – ihre und die der Sammlung – zu stellen oder zu hängen. In einem der Räume stand eine hyperrealistische Skulptur der Holländerin Mathilde ter Heijne. Die dunkel eingefärbte Bronze ist das Abbild der Künstlerin selbst. Sie sitzt dort auf einer Museumssitzbank als Gedankenträger für uns Betrachter und konterkariert eingefleischte Interpretationen eines sehr bekannten Werkes aus unserer Sammlung: Abraham Bloemaerts Bild Cimon und Pero von 1613. Die Tochter Pero ernährt ihren Vater Cimon mit der Milch ihrer Brust, um den im Gefängnis Einsitzenden vor dem Hungertod zu retten. Der üblichen Interpretation der Rolle der aufopferungsvollen Tochter zwischen einem reinen und einem
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sündigen Herzen, zwischen Caritas und Prostitution, widerspricht die Künstlerin vehement. Sie erkennt in Pero hingegen die universelle Mutter, die Erlöserin der unsterblichen Seele des Cimon als Kern aller heidnischen und christlichen Mysterien – eine Ansicht über das ungleiche Paar, die der offiziellen (männlichen) Lesart vom römischen Überlieferer der Geschichte Valerius Maximus, über den Künstler Bloemaert selbst bis zur aktuellen kunsthistorischen Analyse des Werkes durch den Kustoden der Kieler Sammlung, Peter Thurman, widerspricht. Ter Heijne geht es allgemein um die Verkürztheit in unserem Denken in immer gleichen Bahnen. Abb. 5: Mathilde Ter Heijne »Dessen Mutter ich am Ende bin…«, 2008. Mit Abraham Bloemaert »Cimon und Pero«, um 1610, Kunsthalle zu Kiel. Foto: Martin Frommhagen.
Im ersten Raum beim Durchgang durch die Sammlung sahen die Besucher eine Installation des in Südamerika groß gewordenen, heute in Long Island lebenden, gebürtigen Lübecker Künstlers Luis Camnitzer. Er macht hier etwas sichtbar, was eigentlich unsichtbar ist, nämlich die Blicke der Porträtierten in den dort gezeigten Skulpturen oder Gemälden etwa von Bertel Thorvaldsen, Paula Modersohn Becker oder Marlene Dumas. Anhand von roten Fäden wird die Wirkung der Blicke im Raum nachvollziehbar und wir können uns als Betrachter in der Geschichte der Blicke verstricken. Die Fäden werfen Fragen auch nach der wirklichen Blickrichtung im gesellschaftli-
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chen Leben auf, was wir sehen, wann wir hin- und wann wir wegschauen. Also kann man hier von politischer Poesie sprechen. Abb. 6: Luis Camnitzer »Lost Glances – Verlorene Blicke«. Auguste Rodin »Der Komponist Gustav Mahler«, 1909, Kunsthalle zu Kiel. Foto: Martin Frommhagen.
Boris Michailows darauf folgenden Raum könnte man hingegen als die Poesie des puren Lebens bezeichnen. Er kombiniert seine teils liebevoll heiteren, teils sentimentalen, teils bedrückend schonungslosen, kritischen Fotografien mit dem Idyll russischer Landschaftsmalerei des 19. Jahrhunderts aus unserer Sammlung. Über seine Aktualisierung der klassischen Gemälde, durch die klaren In-Bezug-Setzungen seiner Fotografien zu diesen Gemälden wird der russische Kontext dieser Bilder erst wirklich klar. So z.B. lassen sich das Licht, die Naturstimmung einer Flusslandschaft wie auf Konstantin Kryshitzkijs Gemälde An der Oka von 1894 gut mit der realen russischen Landschaft auf der Fotoarbeit Ukraine Countryside von 2006 von Boris Michailow vergleichen. An der großräumigen Installation des aus Benin stammenden Künstlers Georges Adéagbos ist vor allem die Rezeption »in die andere Richtung« faszinierend. Plötzlich geht es nicht mehr um die afrikani-
K REATIVE U NRUHE
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sche Plastik, die Ernst Ludwig Kirchner in seinem expressionistischen Gemälde darstellt. Bei Adéagbos wird unsere Bildikone auf eine Schildinformation, auf das Klischee des Bildes reduziert, indem es von traditionellen afrikanischen Schildermalern kopiert und an afrikanische Sehgewohnheiten angepasst wurde. Dieser Umkehrprozess ist durchaus eine kritische Reflexion darüber, wie Kulturen anderer Völker gegenseitig wahrgenommen wurden und werden. Ein weiterer Ausgangspunkt von Adéagbos »Museum im Museum« ist Franz von Lenbachs Bismarck-Porträt aus der Kieler Sammlung von 1888. Bismarck hatte 1884 den Vorsitz der Kongokonferenz in Berlin inne. Dieses Werk bildet einen weiteren wichtigen Baustein in Adéagbos gigantischer interkulturellen Zeitreise zwischen der lokalen Geschichte Kiels und der Afrikas. Abb. 7: Georges Adéagbo »Regardez l’histoire – Betrachtet Geschichte«, Kunsthalle zu Kiel. Foto: Martin Frommhagen.
Das Faszinierende an diesem SEE history-Projekt war, dass dank des extremen Einfühlungsvermögens der Künstler jeder einzelne der von ihnen bespielten Sammlungsräume selbst zum Kunstwerk geworden ist. Die Kieler Sammlung bildete somit für ein Jahr eine Schnittstelle komplexer
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künstlerischer Sichtweisen im globalen Kontext und erfüllte einmal mehr das Ziel, immer wieder die Neugierde auf das Museum nicht nur über die Wechselausstellungen, sondern auch über die eigenen Kunstschätze zu wecken und deren Reichtum über ungewohnte Einblicke in die Vielfalt und Tiefe der Sammlungsbestände zu würdigen.
Grundsätzliches zum Ausstellen im vorarlberg museum T OBIAS G. N ATTER /M ICHAELA R EICHEL
Der Neubau des Landesmuseums für Vorarlberg in Bregenz bietet die Chance, ein Museum von Grund auf neu zu denken. Die Aufgabe, ein traditionsreiches und für die Geschichte, Kunst und Identität des Landes wesentliches Haus in die Gegenwart zu führen, stellt eine große Herausforderung für alle Beteiligten dar. Die Frage, was, wie, für wen und warum ausgestellt wird, steht im Mittelpunkt der folgenden Überlegungen. Im Laufe des Projektes zeigte sich in intensiven Gesprächen mit Fachkollegen, dass Problematik und Ausgangslage für die Neugestaltung von Ausstellungen in vielen Häusern vergleichbarer Größe und Funktion einander sehr ähneln. Im vorliegenden Beitrag soll daher nicht das Spezifische des Vorarlberger Projektes stehen, für das Tobias G. Natter während seiner fünfjährigen Direktionszeit, die am 15. Mai 2011 endete, gemeinsam mit der Projektleiterin Michaela Reichel die inhaltliche Verantwortung inne hatte. Ein detailliertes Konzept wurde an anderer Stelle bereits vorgelegt.1 Vielmehr soll ein möglicher Weg zu einem Ausstellungskonzept für einen bestimmten Museumstyp skizziert und der Entscheidungsprozess, der dazu führte, sichtbar ge-
1
Vgl. Tobias G. Natter: 3 Ebenen – 3 Zugänge.
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macht werden. Das hier vorgestellte Konzept ist eines von vielen möglichen. Es wird im Folgenden beispielhaft argumentiert und entwickelt. Aufgezeigt werden soll, dass an Schlüsselpunkten des Projektes richtungweisende Festlegungen erfolgen müssen und so ein Rahmen entsteht, in dem sich das Museum dann »abspielt«. Durch unterschiedliche Gewichtung der einzelnen Punkte würde bei gleicher Ausgangsbasis vermutlich ein völlig »anderes« Museum entstehen. Zum Zeitpunkt der Drucklegung befindet sich einzig das Schaudepot bereits in der Umsetzungsphase.
D IE N EUPOSITIONIERUNG
ALS
»L ANDESMUSEUM «
Die stark regionale Verankerung bei gleichzeitig breitem Sammlungsspektrum bedingt, dass sehr unterschiedliche Einzel- und Gruppeninteressen an solche Museen herangetragen werden. Von einer Stärkung der provizinalrömischen Abteilung, einer forcierten Auseinandersetzung mit der Zeitgeschichte in einem Haus der Geschichte bis zur prominenten Präsentation der bildenden Kunst, namentlich der aktuellen Kunstszene des Landes in einer Landesgalerie, reichen im konkreten Fall die Erwartungen. Wie zentral die Frage nach der grundsätzlichen Ausrichtung eines Hauses ist, zeigt die Diskussion um die Neu-/Umbenennungen von Museen in den letzten Jahren: So nennt sich das steirische Landesmuseum Joanneum mittlerweile Universalmuseum Joanneum, das Historische Museum der Stadt Wien wurde zum Wien Museum, hinter Technoseum verbirgt sich das Landesmuseum für Technik und Arbeit in Mannheim. Im Hintergrund steht immer die Notwendigkeit, sich als Museumstyp definieren und positionieren zu müssen. Der ursprüngliche Anspruch, den die Gründer der meisten Landesmuseen in einer zeittypischen Einstellung des 19. Jahrhunderts stellten, eine Region vollständig abzubilden, alle Facetten der Kultur und Geschichte zu »ersammeln«, gilt seit langem als nicht zeitgemäß und nicht realisierbar. Eine Umdeutung im Vorfeld der Neukonzeptionierung war somit auch in Vorarlberg unvermeidbar. Gemeinsam mit dem Träger des Hauses, dem Land Vorarlberg,
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erfolgte die Festlegung, dass es ein Landesmuseum bleiben soll – also ein Museumstypus, der sich in seiner Heterogenität, was und wie er Geschichte abbildet, unter den vielen Spezialmuseen generell schwer tut und trotzdem nicht obsolet ist. So soll das herkömmliche Landesmuseum nicht in ein Kunstmuseum überführt werden oder in ein Haus der Geschichte oder gar in ein »Mega-Heimatmuseum« umgewandelt oder facettiert werden. Bei allen Veränderungen in der Museumswelt und beim Publikum will das neue Haus den Typus Landesmuseum auch weiterhin ernst nehmen, auch wenn es eine Fülle von durchaus attraktiven Möglichkeiten gibt, die Aufgabe einfacher zu machen, die damit verbundene Vielfalt an Inhalten und Erwartungen zu dezentralisieren oder einzelne Abteilungen gar radikal zu marginalisieren oder ganz zu schließen. Externe Vorschläge etwa zur Abschaffung ganzer Abteilungen kamen im laufenden Transformationsprozess genug, betrafen aber immer »die anderen« und hatten stets die Stärkung der partikularen eigenen Interessen im Auge. Die Überlegungen gehen von einem Mehrspartenhaus aus, • • • •
dessen inhaltlicher Schwerpunkt auf Geschichte und Kultur einer bestimmten Region/Landschaft liegt; das als bürgerliche Gründung im 19. Jahrhundert entstand; dessen Sammlungsspektrum breit gefächert und ohne klaren Schwerpunkt ist; das kaum so genannte Highlights besitzt.
Jeder dieser Faktoren wirkt sich wesentlich auf Fragen des Ausstellens aus: Auch das neue Haus sieht sich als Landesmuseum mit Schwerpunkt bei der Kulturgeschichte Vorarlbergs. Nicht aber die lückenlose Darstellung der regionalen Kulturgeschichte, sondern die Frage nach wechselnden politischen, intellektuellen und kulturellen Bezugssystemen, die im engeren Sinn den Raum um den Bodensee umfassen, im weiteren eine (mittel-)europäische Dimension einbeziehen, steht im Mittelpunkt. Es geht nicht mehr darum, das Land in seinen Eigenarten von seinem Umfeld abzugrenzen, sondern es in dem zur Interpretation
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benötigten Beziehungsnetz darzustellen. An die Stelle eines kulturellen Selbstbilds, das sich auf die eigene Kultur konzentriert und zu Isolation und Exklusion führt, tritt ein Bild von Kultur, das Diversität vor Homogenität stellt und auf Integration und Inklusion abzielt. Diese weit im Vorfeld getroffenen Entscheidungen, was das neue Landesmuseum für Vorarlberg sein soll, bedingt jede Form des Ausstellens in der Zukunft, denn »to control a museum means precisely to control the representation of a community and its highest values and truths. It is also the power to define the relative standing of individuals within that community. […] It is precisley for that reason that museums and museum practices can become objects of fierce struggle and impassioned debate.«2 So paraphrasiert das Haus den Gründungsgedanken von 1857, der es im Vorfeld der politischen Landwerdung als Mittel einer bürgerlichen Identitätsfindung Vorarlbergs verstand3, und definiert das Land über sein Beziehungsgeflecht weit über die heutigen politischen Grenzen hinaus neu. Der Großteil der Sammlungen des Hauses entstand in der Zeit des »wilden Sammelns«4 zwischen der Museumsgründung 1857 und den 1930er Jahren, mit all den damit verbundenen Problemen wie fehlenden Objektgeschichten, oft wenig reflektierten Selektionskriterien und Lücken in den Beständen. Dies stellt einerseits bei der Neukonzeptionierung eine Herausforderung dar, da die Bestände lückenhaft sind und es zu willkürlichen Schwerpunktsetzungen kam, gleichzeitig wohnt dem Entstehungsprozess von Sammlungen Aussagekraft für gesellschaftliche und politische Phänomene inne.5 Die Reflexion über Art
2
Carol Duncan: Civilizing rituals. Inside public art museums, S. 8.
3
Vgl. Brigitte Truschnegg: »Der Vorarlberger Landesmuseumsverein – Freunde der Landeskunde 1857-2002«, in: Jahrbuch des Vorarlberger Landesmuseumsvereins – Freunde der Landeskunde 146, S. 1-157.
4
Andreas Platthaus: »Prinz Lu verbreitet Bayerns Ruhm«, in: FAZ vom 2.
5
HG Merz: »Lost in decoration«, in: Dingwelten – Das Museum als Er-
April 2009. kenntnisort, S. 39.
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und Zustand der Bestände bildet einen weiteren wesentlichen Schritt in Richtung Ausstellung. Wie in vielen Mehrspartenhäusern finden sich im vorarlberg museum zwar zahlreiche Objekte von hervorragender Qualität, doch nicht vergleichbar mit großen Spezialmuseen oder Sammlungen, die in einem höfischen Umfeld entstanden. Das Museum unterliegt somit nicht dem Zwang, Highlights aneinanderreihen zu müssen, um den Erwartungen im Sinne eines »must see« und seinem Auftrag gerecht zu werden. Dem Ausstellungskonzept kommt damit entscheidende Bedeutung für die Ausrichtung des Hauses zu – vermutlich mit ein Grund, warum Diskussionen um Inhalte, Stoßrichtung und Fragen des Ausstellens häufig von solchen Museen ausgehen. Ehe es am vorarlberg museum um Fragen des Ausstellens gehen konnte, mussten einige logistische Voraussetzungen geschaffen werden: Erstmals wurde begonnen, die Sammlungsbestände in einer Museumsdatenbank zu erfassen, um die Manipulation der Objekte professionell abwickeln zu können, um die Sammlung unter modernen Gesichtspunkten neu zu sichten und vielfältige Abfragemöglichkeiten und Verknüpfungen zu schaffen. Parallel dazu entstand ein Sammlungskonzept, um die Bestände mittel- und langfristig konsequent weiterzuentwickeln und den schmalen Grat zwischen »raffen und in der Objektflut ertrinken« und strenger Gewichtung, die »sich vom Leben entfernt«6 zu bewältigen. Ein weiterer wesentlicher Schritt war die Berufung eines wissenschaftlichen Beirats durch den Direktor des Museums. Aus dem Bewusstsein, dass ein Landesmuseum als Mehrspartenhaus nur in der grenzüberschreitenden Vernetzung mit den verschiedenen Fachwelten funktionieren kann, wurde eine Expertenrunde zusammengestellt, welche das Haus bei der Entwicklung des Ausstellungskonzeptes begleiten und externe Perspektive einbringen sollte. Aus ähnlichen Überlegungen heraus und um die Diskussion
6
Christian Kauffmann: »Raffen oder gewichten – zwei unterschiedliche Zielsetzungen in der Sammeltätigkeit der Postmoderne«, in: Museologie. Neue Wege – neue Ziele, S. 151.
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aktueller museologischer Fragestellung zum Ausstellen auf breiter Basis zu ermöglichen, initiierte das Landesmuseum die Tagungsreihe Relaunch: Das Museum neu denken7, gemeinsam mit den Kooperationspartnern Institut für Kunst im Kontext der Universität der Künste Berlin und der Museumsakademie Joanneum, Graz.
D IE Z IELGRUPPEN Eine wesentliche Frage, die im Vorfeld des Museumskonzepts geklärt werden musste, war »für wen«, also nach den Zielgruppen des Hauses. In den Jahren davor hatte das Landesmuseum mit seiner wenig zeitgemäßen Präsentation nur mehr geringe Beachtung gefunden. Die Besuchszahlen stagnierten auf niedrigem Niveau. Prinzipiell konnten zwei große Besuchergruppen unterschieden werden. Zum einen handelte es sich um Schulkinder, vorwiegend Grundschüler, die mit ihrer Klasse an museumspädagogischen Aktivitäten teilnahmen, die das römische Bregenz zum Thema hatten. In manchen Jahren betrug ihr Anteil fast 40 Prozent der Gesamtbesucher. Die zweite überdurchschnittlich vertretene Gruppe stellten die Senioren dar, die das Haus regelmäßig und mehrfach im Jahr aufsuchten. Durch eine veränderte Ausstellungspolitik kam es ab 2006 zu einer massiven Steigerung der Besuchszahlen, was im Wesentlichen auf die überregional beachteten Sommerausstellungen zurückzuführen war. Der Direktor strukturierte das Ausstellungsprogramm, indem die kuratorischen und finanziellen Ressourcen nachvollziehbar zugewiesen, betriebswirtschaftlichen Kennzahlen berücksichtigt und klare Zeitfenster definiert wurden. Die Großausstellungen im Sommer wandten sich bewusst auch an die Touristen, die die Bodenseeregion in den Monaten Juni bis September besuchen, und erschlossen so eine neue Zielgruppe, die zuvor kaum eine Rolle gespielt hatte. Um ein Besu-
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Seit März 2011 fanden drei Veranstaltungen zu den Schwerpunkten Schaudepot, Dauer- und Sonderausstellung statt.
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cherprofil für das alte Museum zu erstellen, erfolgte im Sommer 2009 eine Besucherbefragung, deren Stichprobenumfang und Art der Datenerhebung nur sehr grundsätzliche Folgerungen ermöglichte. Es zeigte sich, dass auch die Besucher des vorarlberg museums tendenziell über einen höheren Bildungsabschluss verfügen und dass sie, sofern es sich nicht um Touristen handelt, aus dem unmittelbaren Einzugsgebiet des Museums kommen. Ausgehend von dieser Befragung und der Auswertung der für Vorarlberg relevanten demographischen Daten der Statistik Austria bezüglich Alter, Bildung und sozialem Hintergrund der im Lande lebenden Menschen, wurde in der Folge ein Besucherprofil erarbeitet und das Potenzial des neuen Museums analysiert. Es flossen auch die seit 2006 im Zuge der politisch beabsichtigten Neuausrichtung und Profilschärfung des Museums gemachten Erfahrungen und das Feedback des Publikums ein.8 Die Gruppe der (Grund-)Schüler spielt wie erwähnt eine wesentliche Rolle für die Besuchszahlen des Hauses, die sich durch gezieltes Eingehen auf den Lehrplan zahlenmäßig noch steigern und sich vor allem auf die Gruppe der Jugendlichen, die bisher das Haus kaum besuchten, ausdehnen lässt: So zeigte sich, dass während der Ausstellung Kanton Übrig die Anzahl der Besucher zwischen 16 und 18 Jahren signifikant zunahm, da Lehrer die Gelegenheit nutzten, Lehrstoff im Rahmen eines Museumsbesuchs durchzunehmen. Ein weiteres, vor 2006 stark unterrepräsentiertes Besuchersegment stellen Erwachsene zwischen 20 und 60 Jahren dar. Die großen Sonderausstellungen im Sommer zogen sie, ebenso wie Touristen, verstärkt an. Für das Ausstellungskonzept ergeben sich daraus einige wesentliche Konsequenzen: der Lehrplan der Schulen muss bei Auswahl der Themen mitgedacht werden, den Sonderausstellungen kommt innerhalb des Museums ebenso große Bedeutung wie den Dauerausstellungen zu und die Kulturvermittlung wird von Anfang an in die Konzeptionierung der Inhalte einbezogen. Realistisch gesehen, liegt das Hauptaugen-
8
Vgl. Tobias G. Natter: 3 Ebenen – 3 Zugänge. Das museologische Konzept zur Neuausrichtung des vorarlberg museums 2013, S. 93-96 und 135-144.
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merk langfristig nicht primär auf der Steigerung der Besucherzahlen, sondern darauf, die Besuchszahlen zu erhöhen.
D IE ARCHITEKTUR
DES VORARLBERG MUSEUMS
Von weitreichender Konsequenz für alle Fragen des Ausstellens sind die architektonischen Vorgaben. Das vorarlberg museum befindet sich in der glücklichen Lage, 2013 einen Neubau zu beziehen, in dessen Planung es von Beginn an involviert war. Im Laufe von zwei Jahren entstand so gemeinsam mit dem Team von cukrowicz nachbaur architekten zt GmbH ein Gebäude mit drei Ausstellungsgeschossen mit offener Binnenstruktur. Der Verzicht auf feste Zwischenwände und die damit ermöglichte Flexibilisierung wurde im Wissen um die Bedeutung architektonischer Räume für die spätere Erzählstruktur der Ausstellungen angestrebt. Dies gelang, obwohl die unter Denkmalschutz stehende historistische Bezirkshauptmannschaft in den Museumsneubau integriert wird. Indem die einzelnen Bereiche innerhalb eines Ausstellungsbereichs a priori nicht getrennt sind, ist im vorarlberg museum der Weg frei, die Wechselwirkung von Objekten mit dem Raum und miteinander gezielt für das Transportieren von Inhalten einzusetzen. Dies ist ein wesentlicher Faktor für die Rezeption der Inhalte durch das Publikum, »denn es ist ja keineswegs so, dass der Besucher nur das wahrnähme, was er sehen soll, sondern gleichermaßen immer auch, wenn auch wahrscheinlich weniger bewusst, sieht und wahrnimmt, wie und auf welche Weise ihm etwas gezeigt wird.«9 Die Ausstellungsebenen sind ringförmig um einen überdachten Innenhof angelegt und nehmen die drei obersten Geschosse des sechsgeschossigen Baus ein. Sie haben insgesamt eine Fläche von ca. 2300m2 und sind räumlich als gleichwertig erlebbar, obschon Grundfläche und Raumhöhe nicht immer identisch sind.
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Michael Fehr, Krise der Muße im Museum.
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G RUNDLEGENDE
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MUSEOLOGISCHE
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F ESTLEGUNGEN
Ausgehend von der oben skizzierten Neupositionierung des Hauses hinsichtlich Leitbild, dem Sammlungsbestand und der bewussten Berücksichtigung der verschiedenen Zielgruppen erfolgten im nächsten Schritt grundsätzliche museologische Festlegungen, die die weitere Vorgangsweise maßgeblich bestimmen: Wie der Vergleich zwischen Museen zeigt, gibt es viele Möglichkeiten, Geschichte und Geschichten darzustellen. Das vorarlberg museum entschloss sich, das Originalobjekt als materiellen Träger von Geschichte zum Ausgangspunkt der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit zu machen. Es stellt die gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, kulturellen und künstlerischen Wechselwirkungen und Abhängigkeiten zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft dar, denn »ohne Ausnahme spielen sie [die Objekte] alle die Rolle von Vermittlern zwischen den Betrachtern und einer unsichtbaren Welt, von der Mythen, Erzählungen und Geschichten sprechen.«10 Der umfangreiche Sammlungsbestand kann im Sinne eines inspired by wesentliche Themenfelder in den Ausstellungen vorgeben. Im alten Landesmuseum folgte die Präsentation der klassischen Spartentrennung in Kunstgeschichte, Volkskunde, Archäologie und Geschichte, denen, grob gesprochen, jeweils ein Stockwerk eingeräumt worden war. Das neue Landesmuseum versteht sich weiterhin als landeskundliches Mehrspartenhaus, bricht die alte Spartentrennung im neuen Haus zugunsten eines interdisziplinären, spartenübergreifenden Ansatzes auf. Das 20. und 21. Jahrhundert wird, anders als im alten Haus, wo Geschichte kaum und Kunst nach 1945 überhaupt nicht vorkam, im neuen Museum umfangreich thematisiert. Ziel ist eine bewusste Öffnung zur Gegenwart. Gemäß den historischen Abläufen, den Quellen und der Materialüberlieferung sind die einzelnen Epochen in den Sammlungsbeständen
10 Krystof Pomian: Der Ursprung des Museums, S. 45.
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des Museums unterschiedlich dicht abgebildet. Die Gründe dafür sind vielfältig. Aber einerseits als Konsequenz daraus und andererseits, weil eine erschöpfende kulturhistorische Darstellung Vorarlbergs in einem Museum illusorisch ist, erarbeitet das Haus klar definierte Themenschwerpunkte, die im Rahmen der Ausstellungen behandelt werden und nimmt die dadurch entstehenden »Lücken« nicht nur bewusst in Kauf, sondern macht diese genauso zu relevanten Informationen. Indem sich das Museum nicht als bebildertes Lexikon versteht, sind solche bewussten inhaltlichen Setzungen zentral und es gilt, diese durch die Ausstellungsgestaltung für das Publikum unmittelbar spürbar zu machen. Die fatale Fehleinschätzung, das Museum wolle eine sowohl umfassende wie abschließende Geschichte des Landes vermitteln, die nicht mehr verhandelbar ist, kommt in dieser Struktur gar nicht erst auf. Das Museum tritt aus der scheinbar neutralen Position heraus, indem es die Bedingungen, unter denen die Inhalte entstanden, offenlegt und die Urheberschaft deklariert. So demontiert es die üblicherweise vorausgesetzte Deutungshoheit des Museums und relativiert die von den Kuratoren vorgenommene Interpretation als eine von vielen möglichen.11 Das Sichtbarmachen der Macht der Institution Museum bei Interpretation und Vermittlung von Geschichte ist seit langem überfällig.12 Schon in der Gründungsphase des vorarlberg museums vor 150 Jahren wurde ein »artistisches Fach« eingerichtet, das mehrfach modifiziert und an das jeweilige Zeitverständnis angepasst bis heute gepflegt wird. Die Auseinandersetzung mit Kunst ist aber mehr als nur ein historischer Auftrag: Sie ist ein unverzichtbarer und integraler Bestandteil des Museums und ihr kommt allein ihrer künstlerischen Aussagekraft und Qualität wegen ein hoher Stellenwert zu. Gleichzeitig
11 Vgl. Susanne Claußen: Anschauungssache Religion: Zur musealen Präsentation religiöser Artefakte, S. 49. 12 Vgl. Martin Roth: Heimatmuseum. Zur Geschichte einer deutschen Institution, S. 263. Carol Duncan: Civilizing rituals. Inside public artmuseums, S. 8. Julius Meier-Graefe: »Das Museum – Dem Andenken Tschudis«, in: Neue Rundschau 24 (1913) Nr. 1, S. 32.
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reagiert Kunst zeitnah als sensibler Seismograph auf gesellschaftliche Befindlichkeiten und spiegelt gesellschaftliche, kulturelle und politische Gegebenheiten wider. Ihre Rolle wird im Vergleich zur Präsentation im alten Haus sichtbar gestärkt.13 Für jedes Landesmuseum ist die Frage nach dem Stellenwert der zeitgenössischen Kunst in seinem Haus entscheidend. Die Frage ist aber immer auch standortbezogen und kann nur aus einer Umfeldanalyse von möglichen Mitbewerbern in dieser Sparte fruchtbare Ansätze entwickeln. Für das Wien Museum etwa inmitten einer hochspezialisierten Museumslandschaft mit zahlreichen einschlägigen Museumsorten wie dem Museum Moderner Kunst, der Albertina, dem Österreichischen Museum für angewandte Kunst/Gegenwartskunst, zahlreichen Künstlervereinigungen und einer vitalen Galerienszene wird die Antwort auf diese Frage eine andere sein. Ausstellung wird hier als ein Medium sui generis verstanden, d.h. als eine öffentliche Plattform mit eigenen Erzähl-, Darstellungs- und Funktionsweisen. »Wer vor die Schaulust die Leselast stellt, hat sich im Medium verirrt und macht das Museum zu einer Agentur der Zerstörung der Sinnlichkeit.«14 Durch die Möglichkeit, mit Objekten zu erzählen, grenzt sich das Medium Ausstellung klar von anderen wie Archiven, Theater, Film, Erlebniswelten aber auch Druck- und AVMedien ab. Ein Museum in eine »Lesetapete« zu verwandeln, hat nichts mit Didaktik zu tun, sondern ist – zumindest außerhalb von Propaganda-Ausstellungen – Zeichen eines tiefgehenden Missverständnisses seiner Möglichkeiten. Ausstellungen sind eine eigenständige Medienform mit ganz spezifischen Anforderungen, Möglichkeiten und Grenzen, wo Objekte die primären Vermittler von Inhalten sind. Räumliche Anordnung, Inszenierung und Kontext der Objekte spielen eine wesentliche Rolle. Das vorarlberg museum versteht sich als Welt
13 Vgl. Tobias G. Natter: VLM Neu. Das museologische Konzept zur inhaltlichen und baulichen Neupositionierung des Vorarlberger Landesmuseums. Bregenz, 2006, S. 10ff. 14 Gottfried Korff: Museumsdinge deponieren – exponieren, S. 120.
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der Realie und nicht der veranschaulichenden, verbildlichten Aussagesysteme.15 Der ästhetische Aspekt eines Objektes hat auch in einem kulturgeschichtlichen Museum seine Berechtigung, d.h. das Museum zu besuchen, um zu schauen, ist legitim und willkommen. Als kulturhistorisches Museum stellt es zu jedem Objekt andere, gleichwertige Zugangsebenen her, denn erst durch ihre Vielschichtigkeit und ihr Zusammenspiel wird »Geschichte als Dickicht unterschiedlicher Interessen, Ansichten und Stile«16 erkennbar. Das Erkennen dieser Mehrdeutigkeit und die unterschiedlichen Decodierungsansätze tragen zur DeDistanzierung zwischen den Besuchern und dem, was einst war, bei.17 Es gilt das Bewusstsein zu schaffen, dass Dinge, die ihre Lebenswelt verloren haben, decodiert werden müssen, dass Sichtbarmachen der Vergangenheit Interpretation bedeutet und ihrer bedarf18, denn »we are but left with murdered evidence to be placed in the ›ghastly charnelhouse‹ of the museum.«19 Eine Voraussetzung der Neukonzeption ist wissenschaftliche Vorgangsweise beim Aufarbeiten der Sammlungsbestände. Hier besteht hoher Forschungsbedarf, da viele Objekte erstmals gezeigt werden und bisher nicht unter modernen Forschungsaspekten bearbeitet wurden. Das vorarlberg museum sieht sich dennoch nicht als eine Art Forschungsabteilung oder Plattform zur Darstellung wissenschaftlicher Erkenntnisse der jeweiligen Fachrichtung, denn Objekte nur zur Illus-
15 Ebd., S. 113ff. 16 Michael Fehr: »Nicht mein Haus, nicht meine Geschichte. Ein Kommentar zum Haus der Geschichte in Bonn«. 17 Rolf Schörken: Historische Imagination und Geschichtsdidaktik, S. 18. 18 Gottfried Korff: Museumsdinge deponieren – exponieren, S. 66. 19 William Flinders Petrie: Methods and Aims of Archaeology, S. 48.
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tration von Lehrmeinungen einzusetzen, bedeutet ihre Degradierung und Entmündigung.20
»3 E BENEN – 3 Z UGÄNGE « Auf Basis des zuvor Gesagten gilt es, die Ziele, die mit dem Ausstellungskonzept erreicht werden sollen, zu definieren und die dazu erforderliche Umsetzungsstrategie zu entwickeln. Ziel des Ausstellens ist es, Besucher aus ihrer passiven Rolle heraustreten zu lassen und sie zu animieren, die Objekte, Darstellungen und Thesen, die das Museum präsentiert, kritisch zu hinterfragen. Im vorarlberg museum sollen nicht Fakten vermittelt werden, sondern Techniken zur eigenständigen Erschließung von Inhalten. Es geht um Geschichtsbewusstsein, um das Wissen, dass Rekonstruktion der Vergangenheit immer an Erkenntnismöglichkeit, Deutungswünsche und Fragestellungen der Gegenwart gebunden ist und nicht um das Transportieren von unveränderlichen Geschichtsbildern.21 Das Museum nimmt hier auf den französischen Historiker Fernand Braudel Bezug: »Geschichtsforschung ist nichts anderes als die ausdauernde Befragung der Vergangenheit im Namen der Probleme und Wissbegier der Gegenwart. […] Gewesen zu sein, stellt die Bedingung zu sein«.22 Das bedeutet Realitätsprüfung von Idealbildern und Einbinden des »Vorarlbergischen« in einen größeren Bezugsrahmen. Fragen an die Geschichte sind also immer zeitbedingt und ändern sich genauso wie die Antworten, die gegeben werden. Auf Basis dieser Grundhaltung kann es nicht Ziel sein, die eine, abschließende Darstellung der Geschichte
20 Vgl. Michael Parmentier: »Antwort auf die Frage: Was ist Museumspädagogik?«. Michael Parmentier: »Der Bildungswert der Dinge oder: Die Chancen des Museums«. 21 Brigitte Kaiser: Inszenierung und Erlebnis in kulturhistorischen Ausstellungen. Museale Kommunikation in kunstpädagogischer Perspektive, S. 66. 22 Fernand Braudel et al.: Die Welt des Mittelmeers.
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und Kultur Vorarlbergs festzuschreiben. Permanente Überprüfung der Aussagen, Inhalte und Interpretationen stellt die wesentliche Voraussetzung dar, und die daraus unvermeidbar folgenden Adaptionen bringen die gewünschte Dynamik in die Ausstellungen ein. Für die Besucher lässt sich auch bei wiederholtem Besuch immer Neues entdecken, während bestimmte »Eckpfeiler« für Kontinuität und Wiedererkennung sorgen. Das Ausstellungskonzept, auf dessen Grundlage die oben skizzierten Ziele erreicht werden sollen, lässt sich unter dem Motto »3 Ebenen – 3 Zugänge« subsumieren: In jedem der drei räumlich gleichwertigen Ausstellungsgeschosse stellen sich die Inhalte unterschiedlich dar, jedem wird ein eigenes Ausstellungsformat zugeordnet – Schaudepot, Rundgang und Sonderausstellungen. Sie unterscheiden sich im methodischen Ansatz, in der Inszenierung und der Erzählstruktur. Jedes Stockwerk funktioniert selbständig für sich, gleichzeitig sind sie inhaltlich und gestalterisch aufeinander bezogen. Ein Aspekt der unterschiedlichen Aufbereitung liegt in der Art und Weise, wie mit der eigenen Sammlung umgegangen wird: Das Schaudepot arbeitet aus den eigenen Beständen, das darüberliegende Geschoss mit einem thematischen Rundgang fallweise mit Leihgaben, das dritte Geschoss mit den Sonderausstellungen stark mit Objekten von außen. Damit verbunden sind auch unterschiedliche Zeithorizonte der Inszenierung und die Halbwertszeit der Präsentation insgesamt. Immer geht es um die Vielfalt der Interpretation und Multiperspektivität, was durch ein gut geplantes Zusammenspiel der verschiedenen Ausstellungsformate und die ihnen jeweils adäquate Themenwahl erreicht wird. Die drei verschiedenen Ausstellungsformate machen sichtbar, dass an ein Objekt mehrere, durchaus gleichwertige Fragen gestellt werden können (und sollen). Die verschiedenen Sonderausstellungsformate bieten zudem die Möglichkeit, aktuelle gesellschaftliche oder politische Fragen in rascher Folge aufzugreifen und abzuhandeln – was zu einer »Beschleunigung« des Museums führt und der Erstarrung entgegenwirkt. Mit »3 Ebenen – 3 Zugänge« kommuniziert das neue Museum, dass eine eindeutige, ab-
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solute Deutung von Dingen und Ereignissen nicht möglich ist. Das Museum gibt nicht nur Wirklichkeit wider, sondern konstruiert und interpretiert sie durch das Herstellen von Zusammenhängen zwischen verschiedenen Exponaten und durch das Verschneiden von Objekt, Text und Bild immer neu. Es bedeutet auch, das Format der Dauerausstellung zu überdenken und ihr Zusammenspiel mit den Sonderausstellungen im obersten Ausstellungsgeschoss genau zu definieren. In der Folge seien kurz die Ziele der drei Ausstellungsformate dargestellt. Das Schaudepot bietet eine Möglichkeit, die Institution und ihre Sammlung, die das Rückgrat des Museums bildet, zu thematisieren. Es gibt durch die Art seiner Konzeption Auskunft über die Autorenschaft des Museums, gibt Einblick in seine Vielfalt und macht das Museum als Ort des Sammelns selbst zum Exponat. Es ist auch der Ort, wo aktuelle Neuzugänge laufend ausgestellt werden. Die Sammlung erhält ihren Platz im untersten Ausstellungsgeschoss und wird damit in der räumlichen und funktionalen Organisation des Hauses zur Basis für Geschichte und Geschichten in den beiden darüberliegenden Stockwerken. Anders als bei den meisten bislang üblichen Modellen ist das Schaudepot im vorarlberg museum a priori Teil des Gesamtkonzeptes, wurde mit der grundlegenden Neuausrichtung entwickelt und funktioniert gleichwertig und im Austausch mit den beiden darüber liegenden Ausstellungsgeschossen. Das Schaudepot beschäftigt sich besonders intensiv mit den Sammlungsbeständen per se. Es hat nicht das Einzelobjekt, sondern Objektgruppen zum Thema. Der Rundgang zeichnet sich durch ein chronologisches Ordnungsprinzip aus. Hier finden Besucher wichtige Themen zu Vorarlberg in zeitlicher Abfolge. Die Auswahl und die Beschränkung auf einige wenige Themen folgen einer bewussten Schwerpunktsetzung. Zwischen den Themeninseln liegen größere Zeiträume – bis zu mehreren Jahrhunderten –, die nicht behandelt werden. So entstehen automatisch »Zeitlücken«, die deutlich machen, dass die Schausammlung weder auf eine chronologisch-historisch vollständige Darstellung abzielt, noch eine geschlossene lineare Landesgeschichte reflektiert. Damit meidet
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das Museum die Gefahr, verharmlosend-romantisierende Modelle zu suggerieren und scheinbar monokausale Erklärungen für komplexe Strukturen zu favorisieren. Die ausgewählten Fragen markieren Eckpunkte zum Verständnis Vorarlbergs, erheben aber keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Vielmehr geht es um eine Annäherung an Vorarlberg verstanden als Realität und Wunschbild, Vorarlberg als Ansage, Aussage oder Annahme, als Behauptung, Entwurf, Bekenntnis, als Konstruktion, Chimäre, Trugbild, Einbildung, Illusion oder Vision. Gleichzeitig ist der Rundgang mehr als die lose Abfolge von Einzeldarstellungen. Beabsichtigt ist Lebendigkeit und nicht Frontalunterricht. Das Museum darf nicht »zum sinnfeindlichen Dokumentationszentrum«23 austrocknen. Eine Rolle spielt hier das Medium Museum selbst mit der ihm eigentümlichen Verknüpfung visueller, ästhetischer, akustischer und textlicher Elemente. Sonderausstellungen sind für das neue vorarlberg museum wie für jede vitale Museumseinrichtung unabdingbar. Sie schaffen die Möglichkeit, Themen zu vertiefen und auf aktuelle Fragen und Bedürfnisse zu reagieren. Publikumsbefragungen belegen, wie wichtig Sonderausstellungen für die Wahrnehmung in der Öffentlichkeit sind und für die Motivation, ein Museum wiederholt zu besuchen. Die Themen der Sonderausstellungen sollen im neuen Landesmuseum aus dem Selbstverständnis des Hauses kommen: Einerseits geht es um Themen zur Geschichte und Kultur Vorarlbergs. Das heißt, es gilt Beliebigkeit und Austauschbarkeit des Ausstellungsprofils zu vermeiden. Andererseits darf das Ausstellungsprogramm nicht zur Nabelschau verkommen. Dazu muss eine klare Vorstellung des kulturgeographischen Rahmens auf die Bereitschaft zur Entgrenzung und die bewusste überregionale und grenzüberschreitende Kontextualisierung der Themen treffen. Untereinander stehen die Ausstellungsformate in einem engen Zusammenhang. Wissenschaftliche Ergebnisse und neue Sichtweisen der
23 Hermann Glaser: »Zukunft braucht Herkunft. Über die ästhetische Erziehung des Menschen und den gesellschaftlichen Sinngehalt des Musealen«, in: Museumskunde 67 (2002) Heft 2, S. 29.
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Sonderausstellungsformate fließen kontinuierlich in den Rundgang ein. Im Zeitraum von circa fünf bis zehn Jahren durchläuft damit auch er einen grundlegenden Wandel und bleibt dynamisch und lebendig. Die Präsentation verkommt nicht zur unveränderbaren »Dauerausstellung«. Ziel ist ein lebendiges Museum, das der Gefahr der Selbstmusealisierung entgeht.
D IE AUSSTELLUNGSFORMATE UND IHRE E RZÄHLSTRUKTUR Da sich das vorarlberg museum nicht als traditioneller »Lernort« versteht, sondern als Raum, innerhalb dessen man Inhalte kritisch in Frage stellen kann, bildet die aktive Beteiligung seiner Besucher an der Bedeutungsfindung die Grundlage für das »Funktionieren« der Ausstellungen.24 Den Bemühungen, das Museum offen zu gestalten, sind trotz allem Grenzen gesetzt: Die Besucher erhalten nur durch die vorgeprägte Version der Kuratoren Zugang zu Inhalten, die Anordnung der Objekte in den Ausstellungen führt ihrerseits zu Bedeutungsfestlegung. Der Freiraum der individuellen Gestaltung und Interpretation durch Besucher wird durch die Struktur der Ausstellung, die den Bezugsrahmen darstellt, eingeschränkt. Die möglichen Zugänge zwischen Objekten, Inhalten und Besuchern bestimmt in großem Maß der Kurator. Besonders aus diesem Grund ist es, wie oben erwähnt, unumgänglich, dessen vorgeblich »neutrale Position« und die Deutungshoheit des Museums öffentlich zu thematisieren. Die wesentliche Rolle, die Kuratoren mit ihrer wissenschaftlichen Ausrichtung für das Ausstellen einnehmen, macht es weiter nötig, die Position des »Erzählers« in den Ausstellungen zu reflektieren und zu definieren. Die Ziele des vorarlberg museums, namentlich das spezifisch
24 Lisa C. Roberts: From Knowledge to Narrative. Educators and the Changing Museum, S. 3.
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»Vorarlbergische« in einen größeren Zusammenhang einzubetten, bedingen die Festlegung auf den heterodiegetischen, unbeteiligten Erzähler, der auf wissenschaftlicher Basis die Inhalte kommuniziert. Dies impliziert die Gefahr, dass der dargestellte Inhalt durch die Besucher als »objektiv korrekt« wahrgenommen wird. Punktueller Einsatz von homodiegetischen Erzählern, sei es als unbeteiligter Beobachter oder als am Geschehen beteiligte Person, steuern hier durch das Einbringen alternativer Sichtweisen gegen. Gleiches gilt für die Festlegung der Perspektive auf Nullfokalisierung, um die Sicht auf größere kulturgeschichtliche Zusammenhänge zu lenken. Das gezielte Umschalten auf (multiple) interne Fokalisierung, die die subjektive (zeitgenössische) Sicht einer Situation wiedergeben, bewirkt den angestrebten Perspektivenwechsel.25 Teil der Erzählstruktur bildet auch der architektonische Rahmen, in dem ausgestellt wird. Die Bewegungen der Besucher im und durch den Raum wirken sich auf die Rezeption der Inhalte und Objekte aus. Die Kombination der Objekte und ihre räumliche Abfolge beeinflussen die möglichen Interpretationen.26 Wie in einer literarischen Erzählung entwickeln sich aus dem Objektensemble eine (zeitliche) Abfolge und schließlich der Zusammenhang.27 Der Forderung des Museums nach offenen Raumstrukturen liegt diese Überlegung zugrunde. Diese grundsätzlichen Festlegungen kommen in den drei Ausstellungsformaten unterschiedlich gewichtet zum Tragen.
D AS S CHAUDEPOT Mit dem Schaudepot schafft das Museum einen alternativen Zugang zu den Sammlungen, der traditionelle Sehgewohnheiten unterläuft, Wertvorstellungen und Hierarchisierungen im Museum fragwürdig macht und gleichzeitig einen vielfältigen Einblick in die Bandbreite der Be-
25 Vgl. Gerard Genette: Die Erzählung. 26 Siehe dazu den Beitrag von Michael Fehr in diesem Band, S. 121. 27 Vgl. E.M. Forster, Aspects of the Novel.
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stände gibt. Außerdem kommt es zu einer Auseinandersetzung mit der Geschichte der Sammlung und dem Sammeln an sich, auch als ein alltägliches Phänomen, das ganz selbstverständlich bei vielen Menschen in vielseitiger Form vertreten und als solche bedenkenswert ist. Inhalt, Funktion und Struktur des Schaudepots wurden bereits im Detail publiziert.28 Das Videoprojekt »Facetten des Sammelns« ergänzt und kommentiert die Objektflut des Schaudepots und arbeitet ausschließlich mit multipler interner Fokalisierung: in Kurzinterviews sprechen Kinder, Erwachsene, Laien und Fachleute über ihre Sammlungen. Das allem zugrundeliegende Thema ist sammeln und Sammler als übergeordnetes soziales und gesellschaftliches Phänomen. Die Interviews sind als Collage und aktuelles Stimmungsbild zu verstehen, es geht dabei um die Verbreitung und unterschiedliche Ausprägung des Phänomens Sammeln, von ernsthaften Ambitionen zu skurrilen Formen. Konventionelle Sammlungsgebiete werden ebenso vorgestellt wie außergewöhnliche Objekte, kindliches Sammeln steht gleichbedeutend neben professionellen Ansätzen. In Sammeln für die Ewigkeit geht es um Bewahrung und Überlieferung von kulturellen und künstlerischen Leistungen, die den Nachruhm Einzelner (Künstler, Herrscher) oder ganzer Gruppen (Völker, Nationen, Religionsgemeinschaften) sichern und dazu beitragen, den/die Namen über Generationen und Grenzen zu tradieren und schaffen eine – zeitlich durchaus begrenzte – Form der »Unsterblichkeit«. Voraussetzung für die Dauerhaftigkeit von Sammlungen ist die ordnungsgemäße Verwaltung und Verwahrung, die in modernen Museen von ausgebildetem Fachpersonal übernommen wird. Sammeln und Mission befasst sich mit den Gründen für das Anlegen von Sammlungen. Den einen Sammler treibt die Leidenschaft, an-
28 Vgl. Tobias G. Natter: »Die Sammlung als Museumsfundament. Das Schaudepot im neuen Vorarlberger Landesmuseum«, in: Tobias G. Natter/Michael Fehr/Bettina Habsburg-Lothringen (Hg.), Das Schaudepot. Zwischen offenem Magazin und Inszenierung, S. 135-156.
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dere verfolgen gezielte Strategien, die aus einer bestimmten Weltanschauung resultieren. Der Sammlung kommt die Funktion zu, die Weltanschauung des Sammlers zu manifestieren, anschaulich zu machen und zu verbreiten. Viele Museumssammlungen resultieren aus Lehrsammlungen, die ursprünglich zu pädagogischen Zwecken zusammengetragen wurden. Sammeln und Erinnerung setzt sich damit auseinander, warum ein Museum sammelt, Dinge bewahrt und ausstellt und was an den Ausstellungen in einem Museum fasziniert. Das Museum sammelt mit den Objekten gleichzeitig (individuelle) Erinnerung und stellt sie wiederum dem Kollektiv als Materialisierung dieses Gedächtnisses zur Verfügung. Bei Sammeln wider das Vergessen stehen die Frage nach Erinnern und Vergessen, der Zusammenhang zwischen Sammeln und Erinnern, zwischen Nicht-Sammeln und Vergessen im Mittelpunkt. In Museales Sammeln stehen der passionierte Privatsammler und der »Profi«, der Kraft seines Amtes mit dem Aufbau, dem Unterhalt und der Präsentation einer Sammlung befasst ist, der sich dem institutionellen, in vielen Fällen dem musealen Sammeln widmet, einander gegenüber. Wie literarische Texte speichern Museen Informationen und sind an der (Weiter-)Entwicklung von Diskursen über kulturelle Verhältnisse, soziale Gefüge, psychologische Strukturen und politische Zusammenhänge beteiligt. Der Wunsch nach Wissen – also Sammeln zum Erkenntnisgewinn – ist Grundlage vieler Sammlungen. Die Sammlungen materieller Hinterlassenschaften dienen der Erforschung vergangener Epochen, mit Hilfe der Objekte werden Ordnungssysteme aufgestellt, die die Welt strukturieren und in fassbare Form bringen. Ein weiterer Aspekt ist Sammeln und Repräsentation, denn Sammlungsgegenstände sind mehr als Kulturgut, sie sind auch Statussymbol, stehen für Reichtum und Macht, für Ansehen und Ausdruck der Kennerschaft. Hinter dem Sammeln steht der Wille zum Zurschaustellen, zum Sichzeigen, das Offenbaren von Anspruch. Repräsentationswille ist ein starkes Motiv zu sammeln, vielschichtig, multidimensional und stark abhängig vom Zeitgeist. Sammler sind stolz auf ihre Sammlun-
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gen, im Extremfall gierig nach Ruhm, Genie, Exzentrik und Repräsentation. Bei Auktionen wechseln (Kunst-)Objekte immer rascher und zu immer phantastischeren Preisen die Besitzer. Die Sammelleidenschaft des leidenschaftlichen Sammlers hat viele Facetten. Sie überfällt Kinder ebenso wie Erwachsene, findet sich überall in unserer Gesellschaft. Wertvolle Objekte werden ebenso gesammelt wie wertlose. Die Motivationen sind ebenso vielfältig wie die Strategien bezüglich Auswahl und Erwerb.
D ER R UNDGANG – D IE S CHAUSAMMLUNG Das vorarlberg museum bekennt sich in seiner Neukonzeption ausdrücklich zu einer Dauerausstellung, die, eingebettet in den Dreiklang 3 Ebenen – 3 Zugänge, entlang der genannten Weichenstellungen entwickelt wurde. Sie zeichnet sich durch klare Akzentuierung, Mut zur Lücke, Überschaubarkeit und Flexibilität aus. Die räumlichen Gegebenheiten auf Ebene +3 bieten auf etwa 800 m2 ideale Voraussetzungen für einen Rundgang. Im Geschoss darunter befindet sich das Schaudepot, in jenem darüber die Sonderausstellungsflächen. Bewusst wurde die vierflügelige Anlage um einen glasgedeckten Innenhof in ihrer Binnenstruktur offen gehalten. Es besteht damit die größtmögliche Flexibilität für die Bespielung und Gestaltung. Dies gilt sowohl für die Neueröffnung 2013 als auch für die Zeit danach und ist Teil einer bewussten museologischen Strategie, die Permanenz, Festlegungen und überlange Dauer vermeiden will. Berücksichtigt wurde bei der Konzeptionierung auch, dass der Rundgang von der Erschließungszone zwischen Lift und Treppenhaus durch vier gleichwertige Eingänge betreten werden kann. Diese räumliche Vorgabe wirkt sich auf seine Struktur aus. Dem Besucher kann zwar nahegelegt werden, den Rundgang durch den »richtigen« Eingang zu betreten, gezwungen werden kann er nicht. Auch für »Quereinsteiger« müssen Mittel zur Verfügung gestellt werden, sich zu orientieren und die Inhalte zu erschließen.
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Der Rundgang operiert grundsätzlich mit drei Elementen, die von gleicher strategischer Bedeutung sind: 1. eine Haupt-Zeitachse; 2. Themeninseln, die in die Zeitachse »eingehängt« sind; 3. Brückenschlag und Weiterführung von Aussagezielen einer The-
meninsel hin zur Gegenwart. Grundsätzlich folgt der Rundgang der Chronologie entlang der Haupt-Zeitleiste. Die Entscheidung, die Inhalte in zeitlicher Abfolge aneinander zu setzen, fiel im Wissen um die Diskussion und die Problematik dieser Vorgangsweise.29 Das Ordnungsschema »Vorher/ Nachher« ist ein simples, spielt aber im Alltag aller eine wichtige Rolle bei der Orientierung. Das Museum greift also bewusst auf ein seinen Besuchern vertrautes Navigationsinstrument zurück, um neue Inhalte begreifbar und analysierbar zu machen. Die Zeitleiste zieht sich durch den ganzen Rundgang. Auf ihr sind wesentliche Stationen der Geschichte markiert, die chronologisch von den ersten menschlichen Spuren in Vorarlberg bis in die Gegenwart reichen. Sie besteht aus drei Strängen – für internationale, nationale und regionale Ereignisse –, die sich kreuzen, verknüpfen oder auseinanderdriften. So macht die Zeitleiste die Einbettung Vorarlbergs in übergeordnete Systeme sichtbar. Von ihr aus öffnen sich die Themeninseln. Werke zeitgenössischer Künstler markieren den Einstieg in ein Thema und stellen gleich zu Beginn eine Verbindung zum Hier und Heute her. Die Themeninseln schaffen inhaltliche Schwerpunkte und gliedern den Ausstellungsraum in klare räumliche Einheiten. Sie stehen inhaltlich nicht in Zusammenhang und sind nicht kausal aufeinander bezogen. Jede der Inseln bietet eine neue Facette Vorarlbergs, einen neuen Blickwinkel und die Auseinandersetzung mit neuen Inhalten.
29 Vgl. Michael Parmentier: »History is bunk. Gibt es Alternativen zur Chronologie in historischen Museen?«, in: Standbein/Spielbein. Museumspädagogik aktuell 67 (2003), S. 4-8.
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Trotzdem unterläuft die Art der Darstellung in den Themeninseln einen streng chronologischen Ansatz: Das Hauptthema wird ausgeweitet und Bezüge, die den zeitlichen Rahmen »sprengen«, hergestellt. So kann es bei der Insel Fundort Vorarlberg, die mit archäologischen Funden und Befunden arbeitet, gleichermaßen um Fragen (kultur-)politischer Grenzen und ihre willkürliche Ziehung, um Überlegungen zur Besiedlung eines unwirtlichen Landes gehen. Den Brückenschlag zur Gegenwart stellt beispielsweise die Beschäftigung mit dem »Alemannentum«, ein heute noch inner- und außerhalb Vorarlbergs gepflegtes Klischee, her. Die (fehlenden) archäologischen Funde verweisen es in den Bereich des Mythos und entlarven es als Produkt des 19. Jahrhunderts. Ähnlich wird bei den übrigen Themeninseln vorgegangen. In diesem Sinn geht es bei der Themeninsel Angelika Kauffmann, eine adoptierte Landestochter? nicht nur um Leben und Werk, sondern ebenso um deren Nachleben, Vereinnahmung und Umdeutung gerade in Vorarlberg quer durch die Zeiten. Die Struktur überlässt es den Besuchern, ob sie der vorgeschlagenen Leserichtung folgen oder »Zeitsprünge« vornehmen. »Quereinsteiger« und »Springer« können sich durch die Zeitleiste und die in sich geschlossenen Themeninseln jederzeit inhaltlich und zeitlich orientieren und nach Belieben in den Rundgang einsteigen. Ein chronologisch »richtiges« Abgehen der Schausammlung entlang der Zeitachse ist für das Navigieren des Besuchers nicht erforderlich. Analepse und Prolepse als stilistisches Mittel spielen im Rundgang innerhalb jeder Themeninsel eine wesentliche Rolle. Die räumlichen Vorgaben dazu sind durch die Offenheit der Architektur gegeben. Das Konzept funktioniert nur dann wie geplant, wenn die Kuratoren die Rolle heterodiegetischer Erzähler einnehmen: Die Verortung an der Zeitleiste und der Bezug zur Gegenwart erfolgt durch diese »Außensicht«. Da die Themeninseln von unterschiedlichen Kuratoren erarbeitet werden, kommt es automatisch zum Perspektivenwechsel. Punktuell eingesetzte »Mitsicht« in Form autobiographischer Elemente und individueller Wahrnehmungen bieten zusätzliche Zugangsmöglichkeiten zu den Inhalten, benötigen jedoch des Kommentars. Ein weiteres für
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die Bedeutungsfindung im Rundgang wesentliches Element sind die »Lücken«. Die bewusste Reduktion auf wenige Schwerpunkte machen die Leerstellen dazwischen deutlich. Die Besucher sehen sich gefordert, selbstständig nach Verknüpfungen bzw. nach Gründen für die Auslassungen zu suchen. Das Konzept des Rundgangs zielt darauf ab, den Besuchern eine Vielzahl von inhaltlichen Richtungsentscheidungen zu überlassen und einen individuellen, situations- und personenbezogenen Zugang zu ermöglichen. Einen äußeren Rahmen für die Themeninseln und gleichzeitig auch eine Art Leseanleitung für sie geben das VorarlbergPanorama und das Medienprojekt ma ka nia gnuag kriga. Das Vorarlberg Panorama hat die Funktion eines »Vorworts«, das erste, rasche Einblicke in das Land, in seine naturräumliche Vielfalt zwischen Bodensee und Arlberg vermittelt und die Komplexität der Kulturgeschichte aus der Vogelperspektive anreißt. Es vermittelt eine Vorstellung davon, dass das, was heute Vorarlberg ist, historisch gesehen in ständig wechselnde Bezugssysteme eingebettet war. Es geht um die Zugehörigkeit zum Imperium Romanum, im Mittelalter einerseits zur Diözese Chur und andererseits zum Bistum Konstanz, dem Habsburgerreich, der verwaltungsmäßig engen Verbindung mit Tirol im 19. Jahrhundert, die Schaffung des selbständigen Bundeslandes 1918 und die folgenreichen kulturgeografischen Orientierungen im 20. und 21. Jahrhundert. Zentrale Inhalte der Themeninseln blitzen kurz auf. Es stellt eine weitere Orientierungshilfe für den Rundgang dar, in dem es wesentliche »Fakten« zusammenfasst. Homodiegetische Ansätze haben hier keinen Platz. Im Gegensatz dazu fungiert ma ka nia gnuag kriga – typisch vorarlbergerisch als ganz subjektives Resümee. Es gründet in dem Ansatz des Museums, seine eigene Autorenschaft zu reflektieren. Am Ende des Rundgangs treffen die Besucher auf eine audiovisuelle Installation, die genauso gut am Anfang des Rundgangs stehen könnte: In Interviews sprechen »Menschen von der Straße« quer durch alle Gesellschafts- und Bevölkerungsschichten über Vorarlberg. An keiner anderen Stelle im Museum haben homodiegetische Erzähler so ausschließlich das Sagen. Den Rahmen geben drei bewusst sehr of-
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fen gehaltene Fragen vor: Was ist für Sie typisch vorarlbergerisch? Vermissen Sie in Vorarlberg etwas? Wie sehen Sie Vorarlberg in der Zukunft? Mit der ersten Frage beschäftigt sich das Museum auf seinen drei Ausstellungsebenen und liefert dazu zahlreiche Fakten und Hintergrundinformationen. Offen bleibt aber dabei immer: Was bedeutet Vorarlberg für die Menschen heute – ganz subjektiv und für sie persönlich? Mit dieser einfach klingenden Frage holt das Museum die Besucher in ihrem Alltag ab, denn es geht um ihre Einstellung zur Welt, die sie umgibt. Es gilt den Menschen, gleichgültig, ob er im Land lebt oder es nur besucht, zu gewinnen, ihn emotional anzusprechen, ihn innerlich zu mobilisieren, zu sensibilisieren und ihn dazu zu bringen, Position zu beziehen. Die zweite Frage gibt den Anstoß, die aktuelle Situation zu reflektieren. Bei Gesprächspartnern mit Migrationshintergrund, die das Land gleichzeitig als Zuhause und als Fremde wahrnehmen, erscheint die Frage, was ihnen hier fehlt, besonders relevant. Es geht um Identität und Identitäten, Eigen- und Fremdwahrnehmung und um Klischees. Die Kombination der Fragen führt dazu, dass sich Klischees und Stereotype – sofern sie geäußert werden – in den Antworten selbst relativieren. Die Frage nach der Zukunftsperspektive schließlich zwingt, darüber nachzudenken, was sich ändern soll oder muss. Gleichzeitig richtet das Museum hier – ganz ohne Glaskugel – den Blick in die Zukunft. Es fragt nach dem, was sein wird und der Bedeutung des Vergangenen für das Kommende. Die Antworten mögen lustig, verblüffend, sprachlich unverständlich und schwer dialektlastig sein, witzig oder banal, reflektiert und argumentativ gut unterlegt, augenzwinkernd oder wie auch immer – es entsteht ein Kaleidoskop und Abbild eines Ist-Zustandes. Die Collage gibt dem Betrachter die Anregung, den eigenen Standort zu bestimmen. Vor allem aber besteht die Chance, Menschen, die als klassische Non-Visitors gelten und aus unterschiedlichsten Gründen nicht ins Museum gehen, durch Partizipation einen Einstieg in das Haus und seine Inhalte zu ermöglichen.
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D IE S ONDERAUSSTELLUNGEN Eine andere grundlegende Festlegung betrifft das Verständnis von Sonderausstellungen und Ausstellungswesen im neuen Landesmuseum. Der Stellenwert von Ausstellungen im heutigen Museumsbetrieb ist unbestritten hoch. Gerade Ausstellungen sind ein zentrales Instrument, um Besucher erfolgreich zu adressieren und Themen rasch und vielfältig zu erzählen. Die aktuelle Tendenz, die Attraktivität der Museen durch Sonderausstellungen zu sichern, ist unübersehbar. Üblicherweise steuern die Verantwortlichen einen Großteil sowohl der Ressourcen ihrer Häuser als auch der Aufmerksamkeit des Publikums in diese Richtung. Wechselausstellungen gelten, nicht zu Unrecht, als jenes Ausstellungsformat, das rascher reagieren kann, besser konsumierbar scheint, essayistischer funktioniert und für Lebendigkeit und Dynamik sorgt. Die Gefahr, sich von einem Museum in ein Ausstellungshaus zu verwandeln, wird dabei bewusst oder unbewusst oft in Kauf genommen. Bei der Konzeptentwicklung für das neue vorarlberg museum erschien es daher wesentlich, ein ausgewogenes Verhältnis zwischen den einzelnen Ausstellungsformaten herzustellen. Das Prinzip »3 Ebenen – 3 Zugänge«, wo Schaudepot/Rundgang/Sonderausstellungen dicht ineinander verwoben sind, sichert diese Ausgewogenheit. Durch die enge Verknüpfung mit den Sonderausstellungen fließen regelmäßig neue Informationen in die Schausammlungen ein, die sich auf diese Weise in ihren Inhalten langsam, aber kontinuierlich verändern und aktualisieren. Diese Wechselwirkung zwischen den Ausstellungsebenen garantiert, dass die permanente Schausammlung von den aktuellen Sonderausstellungen profitiert und umgekehrt. Im neuen Museum vergrößert sich die Fläche für Wechselausstellungen im Vergleich zur Situation im Altbau 2006 um ein Mehrfaches von 180m2 auf 650m2. Das oberste Ausstellungsgeschoss kann mit bis zu drei verschiedenen Sonder- oder semipermanenten Ausstellungen gleichzeitig bespielt werden.
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Wie im Schaudepot und der Schausammlung geht es um die Kontextualisierung Vorarlbergs. Im Unterschied zu den beiden anderen Ausstellungsebenen wird hier, als dritter Gliederungsansatz, der thematische Zusammenhang der Objekte als Ordnungskriterium gewählt. Für die Erzählstruktur haben die zeitlich befristete Laufzeit und essayistische Form zur Konsequenz, dass in größerem Umfang eine interne Fokalisierung zur Darstellung eingesetzt werden kann. »Mitsicht« als Mittel, Inhalte darzustellen, ersetzt in einer Sonderausstellung unter Umständen die dem Konzept prinzipiell zugrundeliegende Nullfokalisierung des heterodiegetischen Kurators. Das vorarlberg museum verortet Sonderausstellungen an der Schnittstelle von Wissenschaft und Öffentlichkeit. Sie stellen ein Hauptinstrument dar, Besucher an ein Haus zu binden, zu wiederholten Besuchen zu animieren und damit die Besuchszahlen zu steigern30 und führen NonVisitors31 an das Haus heran. Seit 2006 entwickelte das Landesmuseum ein neues, klar definiertes Ausstellungsprofil. Die Sonderausstellungen steigerten das Interesse am Landesmuseum signifikant, führten zu einer Verdreifachung der Besucherzahlen und einer davor unbekannten Steigerung in der öffentlichen Wahrnehmung. Die Themenwahl und Gestaltung der großen Sommerausstellungen Angelika Kauffmann – Ein Weib von ungeheurem Talent, Gold – Schatzkunst zwischen Bodensee und Chur sowie Schnee. Rohstoff der Kunst brachten dem Haus neue Besuchergruppen. Die Erfahrungen zeigen, dass die strategisch klare Strukturierung eines durchschnittlichen Ausstellungsjahres mit einer großen Sommerausstellung pro Jahr und zusätzlich zwei bis drei weiteren, kleineren Ausstellungen zielführend war. Dazu kommt eine semipermanente Ausstellung jährlich. Die Planung des Ausstellungsprogramms ab 2013
30 Bm:bwk (Hg.), Evaluierung der österreichischen Bundesmuseen. Wien 2004. 31 Vgl. Tony Bennett: »Those who run may read«, in: Eileen Hooper-Greenhill (Hg.), The educational role of the museum, S. 241ff. Ruth Rentschler und Anne-Marie Hede: Museum Marketing: Competing in the Global Marketplace, S. 181f.
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basiert auf den hochgerechneten bisherigen finanziellen und personellen Ressourcen des Museums. In den Jahren 2007-2009 bewies das Museum bei geringerem Personalstand, dass ein vergleichbares Ausstellungsprogramm ohne Ressourcenüberschreitung realisierbar ist. Charakteristisch für die großen Sommerausstellungen sind die erweiterte Zielgruppenperspektive (neben der einheimischen Bevölkerung auch das internationale Festspielpublikum und Tagestouristen), das klar definierte und auf Vorarlberg bezogene Schwerpunktthema bei gleichzeitig überregionaler Ausstrahlung, der hohe Anteil an nationalen und internationalen Leihgaben, eine durchschnittliche Laufzeit von drei Monaten und, als kulturpolitisch besonders relevantes Merkmal, die geographische Öffnung des Museums und Präsentation der Ausstellung an zwei Orten innerhalb des Landes Vorarlberg. Damit unterstreicht es erfolgreich seine Rolle als Landesmuseum auch innerhalb der vielfältigen Museumslandschaft Vorarlbergs. So wurde die Angelika-Kauffmann-Ausstellung gemeinsam mit der Gemeinde Schwarzenberg, die Gold-Ausstellung mit Feldkirch und die Ausstellung Schnee mit Lech am Arlberg veranstaltet. Mit der strategischen Entscheidung, einen zweiten Ort im Land einzubinden, wird auch deutlich, dass das Haus tatsächlich als Landesmuseum und nicht als Bregenz-zentriertes Stadtmuseum agiert. Wechselausstellungen durchschnittlicher Größe zeichnen sich durch einen stärkeren Vorarlberg-Bezug bei der Themenwahl aus und sind speziell auf die Menschen in Vorarlberg, mit ihrem Wissen über die und ihr Interesse an der Region, in der sie leben, zugeschnitten. Die gezeigten Bestände stammen vorwiegend aus dem Fundus des Hauses, ergänzt um wichtige Leihgaben. Der Aufwand hinsichtlich der Leihgaben und der Kommunikation ist geringer als jener für die Sommerausstellungen. Beispiele für solche Wechselausstellungen waren Ansichten. Frühe Fotografie aus Vorarlberg (2008), die Haubenausstellung Schappele, Chränsle & Co (2008) und Kanton Übrig (2008/09). Neu werden 2013 die so genannten semipermanenten Ausstellungen eingeführt. Für deren ganzjährige Bespielung kommt dem semipermanenten Format besondere Bedeutung zu, die sich von der klassi-
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schen Sonderausstellung durch die längere Laufzeit von ein bis zwei Jahren unterscheiden. Möglich wird dies nur durch den forcierten Einsatz von eigenen Sammlungsbeständen.
E INER
VON VIELEN
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Abschließend sollen nochmals kurz die wesentlichen Entscheidungen und deren Konsequenzen dargestellt werden: Im Vorfeld wirkten sich die Festlegungen, weiter ein Landesmuseum zu bleiben und von den Objekten auszugehen, weichenstellend aus. Sie mündeten letztlich in dem Ansatz »3 Ebenen – 3 Zugänge«. Er eröffnet die Möglichkeit, sich Geschichte und Geschichten der Region auf unterschiedliche Weise zu nähern. Unterschiedlich im Sinne des methodischen Ansatzes, der Inszenierung und der Erzählstruktur soll der Dreiklang dem Museum weit über den Bodenseeraum hinaus Ausstrahlung und einen unverwechselbaren Charakter geben. Die Entscheidung, im neuen Museum nicht Fakten vermitteln zu wollen, sondern Techniken, sich die Inhalte eigenständig zu erschließen, bestimmt die Weiterarbeit maßgeblich und definiert die Position der zukünftigen Besucher im Museum. Wesentlichen Einfluss nahm auch der Wunsch, einen Ansatz für das neue Museum zu finden, der sich auch für die Jahre nach 2013 als tragfähig und für das Team als umsetzbar erweist und dem Haus ein klares Profil gibt.
L ITERATUR Bennett, Tony: »Those who run may read«, in: Eileen HooperGreenhill (Hg.), The educational role of the museum, London: Routledge 1999, S. 241-254. Bm:bwk (Hg.): Evaluierung der österreichischen Bundesmuseen, Wien 2004.
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Erzählstrukturen in der Bildenden Kunst Modelle für museale Erzählformen M ICHAEL F EHR
I. Die folgende Argumentation baut auf der Erfahrung auf, dass beim Einräumen einer Vitrine – wenn dieses Einräumen nicht nur ein so genanntes Bestücken, sondern der ernsthafte Versuch, mit Hilfe von Dingen etwas mitzuteilen ist – ähnliche Fragen und Probleme zu lösen sind, wie sie sich bei der Anfertigung von Bildern ergeben. Denn Vitrinen, Installationen und Räume können nicht nur den Charakter von Bildern annehmen, sondern werden im Grunde auch dann als bildliche Strukturen wahrgenommen, wenn sie nicht explizit als solche konzipiert sind. Von dieser Erfahrung ausgehend kam ich auf die Frage, ob es irgendwelche Regeln für das Ausstellen gibt und wo gegebenenfalls Referenzen aufzufinden wären. Bevor ich einige Überlegungen zu dieser Frage vorstelle, möchte ich andeuten, warum ich sie überhaupt aufwerfe. Denn angesichts der Tatsache, dass zunehmend mehr Museen das so genannte Vermittlungsproblem anscheinend erfolgreich lösen, indem sie auf zeitbasierte Medien setzen, scheint sich die Aufgabe, mit den Dingen selbst argumentieren zu wollen, zu erübrigen und nachgerade obsolet. Doch stellt sie sich aus
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meiner Sicht gerade vor dem Hintergrund dieser Entwicklung wieder neu, ja grundsätzlich. Denn mit dem Medieneinsatz – seien es nun Audioguides, Audiovisualia, Computerterminals oder Videoinstallationen – schafft sich das Museum als Ort, an dem die unmittelbare Auseinandersetzung mit Dingen möglich ist, tendenziell selbst ab. Jedenfalls ist zu beobachten, dass der allfällige Trend, Ausstellungen und insbesondere ständige Sammlungen als multimediale Installationen zu gestalten, fast immer auf Kosten der ausgestellten Dinge durchgesetzt wird: Nicht nur, dass in den Schausammlungen immer weniger Dinge gezeigt werden und sie gewissermaßen zu Statisten in den Medieninszenierungen verkommen; vielmehr können sie häufig nur noch unter deren technischen Bedingungen, also in abgedunkelten Räumen wahrgenommen werden und bedürfen, um überhaupt noch Aufmerksamkeit zu erregen, einer eigenen Inszenierung, die sich in dem Maße, wie sie den Objekten helfen soll, sich gegenüber den medialen Vermittlungsangeboten zu behaupten, zwischen sie und ihre Betrachter schiebt. Wenn also die musealen Einrichtungen der Dekoration von Schaufenstern, der Gestaltung von »points of sale« und der Einrichtung von Messeständen immer ähnlicher werden oder als Ergebnis der aufwändigen szenografische Inszenierungen zunehmend den Charakter von Geisterbahnen annehmen1 und ob des Publikumserfolgs kein Weg an diesen Formen des Ausstellens vorbeizuführen scheint, so lässt sich fragen: Ist es überhaupt möglich, sinnvoll und erstrebenswert, Dinge in einer Weise zu zeigen, die erleben und erkennen lässt, dass es im Museum nicht um stillgelegte Waren, sondern um Dinge geht, die auf Grund bestimmter Erkenntnisinteressen gesammelt wurden? Lässt sich etwas zeigen und dabei zugleich zur Anschauung bringen, dass es und warum es gezeigt wird? Oder etwas anders gefragt: Wird der Besucher im Museum der Zukunft noch einen eigenen Gedanken fassen können und dürfen?
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Als jüngstes Beispiel für diesen Trend möchte ich hier auf das 2010 wieder eröffnete Rautenstrauch-Joest-Museum Köln (außereuropäische Geschichte, Kultur und Kunst) verweisen.
E RZÄHLSTRUKTUREN
IN DER
B ILDENDEN KUNST
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Hinter diesen Fragen steht meine Forderung, dass Museen als primär auf den Augensinn orientierte Einrichtungen beim Arrangement und Aufstellen ihrer Sammlungen sich nicht nur an den Erzählstrukturen der Wortsprache, sondern an bildlichen Erzählstrukturen orientieren und dafür die Leistungen und Lösungen der Bildenden Künste fruchtbar machen könnten. Dabei zielt diese Forderung nicht nur darauf ab, dem Museum seine Eigentümlichkeit zurückzugewinnen und es gegenüber den zeit- und textbasierten Medien als eigenständiges Format der Darstellung und Vermittlung von Wissen zu behaupten. Vielmehr stelle ich mir vor, dass ein auf Bildsprachen aufbauendes Museum seinen Besuchern eben die Freiheit im Wahrnehmen und Reflektieren geben könnte, wie sie angesichts von Kunstwerken entwickelt werden kann; dass es also nicht nur informieren, sondern tatsächlich ein Institut der Aufklärung, und zwar vor allem über die Bedingungen des Wahrnehmens und Erkennens, werden könnte.
II. Dass Erzählstrukturen in bildlichen Darstellungen ganz anders beschaffen sind als die der Wortsprache, liegt auf der Hand: Wortsprachliche Erzählstrukturen bauen immer auf linear-zeitlichen Strukturen auf und werden linear, als Abfolge von Worten und Sätzen erfasst; wobei zum Beispiel eine Person, über die etwas erzählt wird, in jedem Satz, der sich mit ihr beschäftigt, immer wieder aufs Neue genannt werden muss. Demgegenüber kann die Bildsprache beispielsweise zeitlich voneinander unabhängige Momente einer Erzählung simultan darstellen, des Weiteren eine Figur als Teil einer Situation zeigen und ihr zugleich überordnen oder unterschiedliche Realitätsebenen in einem Bild zur Anschauung bringen – wie dies zum Beispiel bei der Darstellungen von Wundern der Fall ist. Grundlegend für den strukturellen Unterschied zwischen Wortund Bildsprache ist, dass bildliche Elemente oder Phänomene, die als Bilder wahrgenommen werden, immer einer Figur-Grund-Relation
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unterliegen, also immer mit einem Kontext erscheinen, der dieses Element eben nicht ist, Worte dagegen immer zu allererst mit anderen Worten einen Kontext bilden. Das bedeutet nicht nur, dass bildliche Darstellungen immer einen konkret-materiellen Charakter haben, sondern bildliche Elemente – seien sie nun eine Figur oder nur ein Farbklecks – immer in einer Beziehung, und sei dies nur zur Fläche, die sie umgibt, wahrgenommen und insoweit immer als schon bewertet erscheinen. So wird beispielsweise an nahezu jedem Ding, sei es nun ein Artefakt oder ein Stück aus der Natur, beziehungsweise an seinem Abbild unvermeidlich ein bestimmter Richtungswert oder gerichtet-Sein wahrgenommen, die sich über die Platzierung des Dings in oder auf der Fläche, also nur auf Grund einer formalen Position, neutralisieren, verstärken und interpretieren lassen. Hat man zwei oder drei Dinge vor sich, so stellt sich unwillkürlich der Versuch ein, sie untereinander in Beziehung zu setzen; denn die Fläche oder der Raum, auf der oder in dem sie sich befinden, lässt uns annehmen, dass zwischen ihnen ein Zusammenhang besteht, der als irgendwie sinnvoll gedeutet werden kann. Eingangs hatte ich behauptet, dass beim Einräumen einer Vitrine2 im Prinzip ähnliche Fragen auftreten wie beim Aufbau eines Bildes. Diese Behauptung gilt natürlich nur mit einer wesentlichen Einschränkung. Denn während in einer Vitrine gegebene Objekte, die nicht verändert werden dürfen, nur arrangiert werden können, kann bei einem Bild alles, was es ist und zeigt, hergestellt werden. Bestehen bei Bildern insoweit denkbar große Gestaltungsspielräume, so hat der Umgang mit Dingen den Vorzug, dass hier mit der Sache selbst und nicht mit ihrem Abbild gearbeitet werden kann; doch haben Bild und Vitrine gemeinsam, dass sie, was immer dargestellt oder ausgestellt wird, nur auf eine Weise, also in einer Ansicht zur Anschauung bringen können und in der Regel einen bestimmten Betrachterstandpunkt voraussetzen, von dem aus ihre opti-
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Ich beziehe mich im Folgenden auf konventionelle, als Blick in einen anderen Raum konzipierte Bilder einerseits und Tisch- oder Wandvitrinen andererseits.
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male Betrachtung möglich ist. Schließlich sind sie auch im Hinblick auf den Umstand vergleichbar, dass sie begrenzt und statisch sind. Das Statische und Begrenzte ist allerdings immer da ein Hauptproblem der Malerei oder anderer bildlicher Darstellungsformen einschließlich plastischer Gestaltungen, wo ein Ereignis, also ein Geschehen in der Zeit vergegenwärtigt werden soll. Da die Ereignisdarstellung jedoch sehr häufig eine zentrale Anforderung an Bilder war, können wir seit den ersten gegenständlichen Darstellungen bis in unsere Gegenwart zahllose Einzellösungen dieses Problems verzeichnen. Doch bauen diese auf nur relativ wenigen grundlegenden Schemata auf. Ein wesentlicher Aspekt von Ereignissen ist die Bewegung in Raum und Zeit. Deshalb möchte ich zuerst auf die Bewegungsdarstellung zu sprechen kommen. Mein Beispiel dafür ist kein Bild, sondern eine Skulptur, der berühmte Diskobol des Myron, also ein frei stehendes Objekt, an der sich eine nachgerade klassische Lösung der Bewegungsdarstellung erkennen lässt (vgl. Abb. 1).3 Das Diskuswerfen ist ein komplexer, mindestens sechs verschiedene Phasen umfassender Bewegungsvorgang, der sich allerdings auf zwei gegenläufige Bewegungen, das Ausholen und das Abwerfen, reduzieren lässt. Beim Wurf kommt es darauf an, möglichst viel Kraft aus der Aushol- in die Abwurfbewegung übersetzen zu können, und dabei zu einem kritischen Moment, in dem die eine in die andere Bewegung übergeht. Dieser kritische Moment, in dem die Kraft der gesamten Bewegung kulminiert, ist aber der Moment, in dem die Bewegung des Werfers für einen Augenblick zur Ruhe kommt: Wenn es gelingt, exakt diesen Moment zu erfassen und zur Darstellung zu bringen, dann sehen wir, wie in dieser Skulptur, eine Figur im Ausdruck höchster Anspannung und Dynamik. Und schon die kleinste Veränderung in der Haltung dieser Figur, etwa durch eine schon mehr vom Abwerfen oder mehr vom Ausholen bestimmten Armhaltung, würde diesen Eindruck zerstören und ließe uns nur noch eine Momentaufnahme des Bewegungsablaufs im Sinne seiner Arretierung erkennen.
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Diskobol des Myron, Museo Nazionale Romano; römische Kopie aus dem 2. Jh. n. Chr. (Marmor) nach dem Original (Bronze) aus dem 5. Jh. v. Chr.
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Abb. 1: Diskobol des Myron, Museo Nazionale Romano; römische Kopie aus dem 2. Jahrhundert n. Chr. (Marmor) nach dem Original aus dem 5. Jahrhundert v. Chr.; Foto: Museo Nazionale.
Solche kritischen Momente lassen sich allerdings nicht nur im Hinblick auf Bewegungsdarstellungen, sondern auch auf Zeitdarstellungen benennen. Ein hervorragendes Beispiel aus unserer Zeit ist dafür die Figur des Homo sapiens (2004) im Landesmuseum für Vorgeschichte in Halle (Abb. 2).4 Denn in dieser Figur ist der von Rodin zum Klassiker entwickelte Bildtypus des »Denkers« nicht nur als Motiv und Pose zi-
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Laut Auskunft des Museums wurde die »Ante-Neandertaler-Figur« (aus dem Altpaläolithikum) anhand von Knochen verschiedener Individuen aus verschiedenen Teilen Europas rekonstruiert, die allerdings gleichen Geschlechts, möglichst gleicher Statur und etwa gleichen Lebensalters waren. Die Figur wurde von Elisabeth Daynes, Paris, geschaffen; die Idee für die Pose der Figur entstand aus der Zusammenarbeit der Künstlerin mit dem Gestalter des Museums für Vorgeschichte, Juray Liptàk.
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tiert, sondern dessen selbstreflexive Haltung in eine aktive, kritische und dazu psychologisch präzise kalkulierte Haltung gewendet. Im Hallenser Homo sapiens sehen wir einen archaischen Denker, der uns, seine Betrachter, zu unserer Überraschung mit wissend-schlauem Blick begegnet und damit uns nicht nur zum Nachdenken über unsere Vorurteile mit Bezug auf unsere vermeintlich primitiven Vorläufer und unsere eigene Position in der Geschichte der Menschheit veranlasst, sondern uns erkennen lässt, dass auch die Vergangenheit eine Zukunft hatte, wir uns also nicht nur als Produkt, sondern auch als Projektion früherer Zeiten verstehen können. Mit anderen Worten: In dieser Figur sind, darin dem Diskuswerfer vergleichbar, zwei verschiedene zeitliche Momente, das Vorgeschichtliche und das Jetzt, mit zwei unterschiedlichen Formen des Denkens nicht nur simultanisiert, sondern kulminieren in ihrem kritischen Blick vorbei an ihrem Betrachter in die gemeinsame Zukunft. Abb. 2: Homo sapiens (Ante-Neandertaler-Figur), 2004, Landesmuseum für Vorgeschichte Halle; Ausführung: Elisabeth Daynes, Paris; Foto: Autor.
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Dass solche komplexen Zeitdarstellungen nicht nur in derart hoch organisierten Einzelfiguren, sondern auch als Organisation von Figuren in der Fläche möglich sind, möchte ich an einem Gemälde von Eduard Degas, dem Gruppenbild des Comte Lepic mit seinen Töchtern aus dem Jahre 1886, anzudeuten versuchen5 (vgl. Abb. 3). Dieses Bild habe ich ausgewählt, weil es im Unterschied zu beiden genannten Beispielen nicht eine kontrollierte Aktion, sondern die für einen Platz typische Erfahrung der Kontingenz von Bewegungen zum Thema hat. So sehen wir den Grafen mit seinen Töchtern in jeweils unterschiedlicher Haltung in verschiedene Richtungen aus dem Bild heraus orientiert oder in Bewegung dargestellt; den Hund, der parallel zur Bildfläche nach links gerichtet steht; einen halb angeschnittenen Mann links im Bild, der auf den Grafen und seine Töchter schaut; oben ein parallel zur Bildfläche trabendes Pferd; hinten den Eingang in die Tuilerien und, nicht zuletzt, eine große leere Fläche, eben den Platz, auf dem dies alles zugleich geschieht. Abb. 3 und 4: Eduard Degas, Place de la Concorde, 1886, http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Degas__Place_de_la_Concorde.jpg
5
Im folgenden Abschnitt stütze ich meine Argumentation auf Max Imdahl, Die Momentfotografie und »Le Comte Lepic« von Eduard Degas (1970), in: Angeli Janhsen-Vukicevic (Hg.), Max Imdahl – Zur Kunst der Moderne, S. 181-193.
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Man könnte denken, es handle sich um ein Gemälde nach einer Momentfotografie, die zum Zeitpunkt der Entstehung dieses Bildes gerade allgemein verfügbar geworden war. Doch lässt sich eine solche Situation nicht fotografieren. Vielmehr haben wir es bei Degas’ Gemälde mit einer Reflexion der Momentfotografie zu tun, mit einem Bild, in dem die Kontingenz der Situation nicht nur durch deren typische Merkmale, dem Anschnitt von Figuren und Szenen, dem Unzusammenhang der Motive und der Divergenz der einzelnen Bewegungs- und Richtungsmotive zum Thema gemacht, sondern durch Komposition, durch den geradezu konstruierten Aufbau des Bildes gesteigert zur Anschauung gebracht wird. Diese Konstruktion, über die Degas die Malerei gegenüber der Fotografie in Stellung bringt, lässt sich am einfachsten über ein von den Motiven abstrahierendes Liniensystem erkennen, wie es in Abbildung 4, auf das Wesentliche reduziert, zu sehen ist. Es ist dann beispielsweise zu erkennen, dass das Bild mehrfach über den Goldenen Schnitt organisiert ist und in ihm, ich kann dies hier nur andeuten, die Dreiecksform eine große Rolle spielt, die vom Schirm und der Zigarre des Comte gebildet wird. Ohne diese beiden, anscheinend zufällig so angeordneten Attribute verliert, wie hier experimentell gezeigt, nicht nur der Comte seinen Halt, sondern wirken die verschiedenen Bewegungsmomente wie erstarrt und unmotiviert. Für die Organisation des Bildganzen spielt dabei die Spitze des Schirms die womöglich wichtigste Rolle. Denn im Schnittpunkt des vertikalen und horizontalen Goldenen Schnitts des Bildes gelegen, ist sie auch der Drehund Ankerpunkt für die wichtigsten Richtungswerte innerhalb der Komposition. Für die Frage, was über eine bildliche Darstellung im Sinne einer Erzählung zur Anschauung kommen kann, spielen also nicht nur die Ikonografie einer Figur, ihre Gesten, Attribute und ihre Organisation im Sinne eines Ausdrucks oder einer Bewegung eine Rolle, sondern ebenso, wie an Degas Bild angedeutet, ihre Position im Verhältnis zu anderen Bildelementen und der Bildfläche selbst. Wenn es nun dem künstlerischen Arbeiten vorbehalten bleibt, alle Elemente einer Darstellung durch ihre Gestaltung optimal aufeinander zu beziehen und
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zu einem Ganzen organisieren zu können, so lässt sich über die Betrachtung und Analyse entsprechender Bilder jedoch Einiges für den Umgang auch mit vorgegebenen Objekten in definierten Räumen, also im musealen Setting gewinnen. Und dies gilt nicht nur für die Analyse entsprechender Arrangements, sondern auch für die Frage, wie sich Objekte in Vitrinen und anderen Schaumöbeln aufstellen lassen. Denn, auch wenn dies die Gestalter gerne übersehen: Alles, was und wie etwas gezeigt wird, wird von den Betrachtern immer wahrgenommen; und es ist nur eine Frage des Trainings darauf zu achten und formulieren zu können, welche Bedeutungen durch die Arrangements entstehen und wo und warum es zu den nicht seltenen Kollisionen zwischen den Bedeutungen kommt, die sich einerseits über die Aufstellung der Objekte und andererseits über die in Texten formulierten Zuschreibungen ergeben. Die komplexeren Formen bildlicher Darstellungen, es sind hier für den westeuropäischen Raum nur vier bis fünf zu unterscheiden, möchte ich hier an historischen Beispielen anzudeuten versuchen. Es sind dies der kontinuierende, der komplettierende, der hieroglyphische, der distinguierende und der dialektische Stil, wobei natürlich auch Mischformen zu verzeichnen sind. Den kontinuierenden Stil hat Franz Wickhoff am Beispiel der Trajansäule (vgl. Abb. 5) exemplarisch erläutert: »Ununterbrochen folgen sich dort die Darstellungen der kaiserlichen Feldzüge. Wir wollen nur ein Stück davon betrachten. Zu Beginn […] verlässt der Kaiser das Winterquartier, er schreitet zum Hafen, um sich einzuschiffen, und, wie wir weiter fortschreiten, finden wir ihn sogleich wieder in der kaiserlichen Barke sitzen, wo er, wie gewohnt, alle Mühen des Krieges mitzutragen, selbst das Ruder führt. […] Dreiundzwanzigmal erscheint der Kaiser in der Darstellung dieses einen Feldzugs, und wenn wir die dreiundzwanzig Windungen der Säule umschreiten, finden wir ihn über neunzigmal. […] Das Kunstmittel der beständigen Wiederholung (der Kaiserfigur), das dem denkenden Verstande die Einheit zu zerreißen scheint, erregt hier die Phantasie des Betrachters, der […] die
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Empfindung heim trägt, als hätte er den ganzen Krieg an der Seite des Kaisers mitgemacht.«6
Es ist schon nach dieser Beschreibung klar, dass der kontinuierende Stil sehr viele Ähnlichkeiten mit der Struktur von wortsprachlichen Texten aufweist. Allerdings ist der große Unterschied zu Texten, dass die kontinuierende Erzählweise auch da, wo sie, wie zum Beispiel bei Lorenzo Ghibertis Türen für das Baptisterium am Dom in Florenz, nicht in streifenförmigen Bildern, sondern im Rahmen eines Bildes auftritt, die verschiedenen Phasen des dargestellten Ereignisses überschauen lässt. Abb. 5: Kopie der Trajansäule im Victoria & Albert-Museum, London; Foto: Autor.
6
Franz Wickhoff, Römische Kunst, in: M. Dvorak, Die Schriften Franz Wickhoffs, S. 14.
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Als eine weitere Erzählstruktur hat Wickhoff den komplettierenden Stil definiert und an der so genannten Francoisvase des Klitias, die den Tod des Troilus zum Thema hat (vgl. Abb. 6), beschrieben: »Alles, was auf den Tod des Troilus Bezug hat, soll vollständig gesehen werden. Alle zeitlich getrennten Folgen dieses Ereignisses sollen vollständig übersehen werden. Es wird uns noch dazu erst im Zustande der Vorbereitung gezeigt, um auch nach rückwärts die Handlung zu komplettieren.«7
Abb. 6: François Krater, 570 v. Chr., Archäologisches Museum Florenz; Foto: http://commons.wikimedia.org/wiki/ File:Museo_archeologico_di_Firenze,_Vaso_Fan %C3 %A7 ois_2-2008-11-23.JPG
Darstellungen im kontinuierenden und komplettierenden Stil sind vor allem dann vergleichbar, wenn sie in streifenförmigen Kompositionen auftreten. In jedem Fall erfordern sie immer eine sukzessive Betrachtungsweise. Im Unterschied zum kontinuierenden Darstellungsprinzip
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Wickhoff, ebda., S. 14.
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treten beim komplettierenden jedoch in den verschiedenen, jeweils ein eigenes Erzähl- bzw. Zeitmoment repräsentierenden Szenen identische Figuren nie mehrfach auf und sind häufig in eine Haupt- und eine Reihe von Nebenszenen strukturiert. Die Nebenszenen sind dann links und rechts von der Hauptszene angelegt, so dass deren Zeitmoment durch die Zeitmomente der Nebenszenen in die Vergangenheit und die Zukunft, das heißt, die Haupthandlung durch eine bereits geschehene sowie eine noch bevorstehende Handlung komplettiert wird. Eine Differenzierung der komplettierenden Erzählstruktur hat Nikolaus Himmelmann-Wildschütz aus der Beobachtung entwickelt, dass bei archaischen Darstellungen häufig ein vorab fixiertes Figurenvokabular zu Szenen kombiniert wird. Diese Erzählstruktur hat er deshalb als hieroglyphische Erzählweise bezeichnet und folgendermaßen definiert: »1. Es handelt sich um geschlossene, meist von einem Mittelmotiv symmetrisch entwickelte Kompositionen, in denen jedes Detail aus dem formalen Zusammenhang des Ganzen seinen Platz bekommt. 2. Trotz der offensichtlichen Geschlossenheit des Bildes wird keine einheitliche Situation dargestellt. Manchmal scheint es zwar so, als herrsche eine Haupthandlung vor, der sich das andere nur ›komplettiv‹ einfüge. Prinzipiell hat aber jede Figur und jeder Gegenstand seinen eigenen Erzählwert, der auf eine Grundsituation, wenn sie denn überhaupt vorläge, nicht bezogenen werden kann. Jede Figur trägt sozusagen ihre Erzählung am Leibe. 3. Trotz ihres unabhängigen Erzählwertes sind die Figuren nicht unabhängig für sich stehende Teile, sondern greifen kräftig ins Ganze der geschlossenen Darstellung ein […]. Die einzelne ›Hieroglyphe‹ ist kommunikationsfähig, ja aus einer Art Bewegungsüberschuss drängt sie geradezu, an der Handlung anderer Figuren, die zum Teil ganz anderen Episoden verkörpern, teilzunehmen.«8
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Nikolaus Himmelmann-Wildschütz, Erzählung und Figur in der archaischen Kunst, in: Abhandlungen der Geistes- und Sozialwissenschaftlichen Klasse der Akademie der Wissenschaften und der Literatur, S. 81.
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Die hieroglyphische Erzählweise (vgl. Abb. 7) kennt also weder die Einheit des Raumes noch der Zeit, entwickelt allerdings geschlossene Bildformen, ohne dass sich ein erzählerischer Rahmen benennen ließe. Abb. 7: Attische Schale, Museum antiker Kleinkunst München, Foto: nach Himmelmann-Wildschütz, Tafel 7.
Dies ist nun das entscheidende Merkmal der von Wickhoff als distinguierend benannten Erzählstruktur.9 Von der komplettierenden und kontinuierenden Erzählform unterscheidet sie sich vor allem darin, dass sie keine sukzessive Betrachtungsweise erfordert, sondern eine Erzählung in einer komplexen, simultan überschaubaren Anschauungseinheit vergegenwärtigt. Und zwar handelt es sich bei Darstellungen im distinguierenden Stil in der Regel um die Darstellung des prägnanten Moments10 eines Ereignisses, wobei diese prägnante, szenisch Sinn tragende Konstellation nicht als ein absolut gesetzter zeitlicher Ausschnitt (wie dies etwa beim Bild von Degas der Fall ist), sondern als ein Ereignis in der Zeit visualisiert ist.11 Mit anderen Worten gesagt: Für die distinguierende
9
Wickhoff, ebda., S. 9f.
10 Wickhoff, ebda., S. 10. 11 Ein klassisches Beispiel für diesen Stil ist die Darstellung der »Hochzeit zu Kana« von Giotto in der Arena-Kapelle. Vgl. dazu Max Imdahl, Über einige narrative Strukturen in den Arenafresken Giottos, in: R. Kosseleck/W.-
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Erzählstruktur charakteristisch ist das so genannte Ereignisbild, in dem zwar die Einheit des Ortes und die Einheit der Zeit gegeben sind, doch nicht notwendig eine Einheit der Handlung. Vielmehr kann die distinguierende Ereignisdarstellung unterschiedliche Handlungsmomente in einem simultan überschaubaren Zusammenhang zur Anschauung bringen, wobei alle Figuren immer nur ein einziges Mal auftreten. Dies ist der wichtigste Grund dafür, dass Darstellungen im distinguierenden Stil sich von der sukzessiven Struktur von Texten lösen können und die Möglichkeit bieten, auch als Interpretationen von Texten angelegt zu werden und zu wirken. Abb. 8: Giotto di Bondone, Hochzeit zu Kana, Capella degli Scrovegni, Padua; Foto: http://commons.wikimedia.org/wiki/ File:Giotto_-_Scrovegni_-_-24-_-_Marriage_at_Cana.jpg
D. Stempel (Hg.), Geschichte – Ereignis und Erzählung, S. 156ff., siehe Abbildung 8.
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Diese besondere Eigenschaft teilt die distinguierende mit der dialektischen Narrationsstruktur, die: 1. einen nicht zeitlich, sondern thematisch geordneten szenischen Zu-
sammenhang vor Augen stellt, 2. gleichwohl eine Zeitdarstellung erlaubt, doch nur als Funktion des
thematischen Zusammenhangs, 3. auf mindestens zwei »antithetischen« und einem »dialektischen« Element aufbaut, 4. als Aufhebung oder Synthesis dieser Elemente ein im (Wickhoff’schen Sinn) prägnantes Moment erkennen lässt und somit, 5. indem sie einen Handlungszusammenhang innerhalb einer simultan überschaubaren szenischen Situation vergegenwärtigt, das dargestellte Geschehen als ein Ereignis visualisiert, das allerdings keinen realistischen Charakter hat.12 Das heißt, die dialektische Erzählstruktur lässt zwar wie die distinguierende ein prägnantes Moment des dargestellten Ereignisses erkennen, doch ist dies vor allem thematisch, gewissermaßen als Botschaft zur Anschauung gebracht und der zeitlichen Struktur übergeordnet. Ein gutes Beispiel für den dialektischen Stil ist die Darstellung des Brudermords auf den Hildesheimer Bronzetüren aus dem Jahr 1007 (vgl. Abb. 9), in der die Ermordung Abels mit der Verfluchung Kains durch den Schöpfer in einen sinnfälligen bildlichen Zusammenhang gebracht ist, der über die reine Illustration der Ereignisse weit hinausgeht, indem hier Kain tatsächlich als Mörder gezeigt wird.
12 Vgl. Michael Fehr, Zur Ikonographie und Erzählstruktur der Hildesheimer Bronzetüren, Bochum 1978, S. 122.
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Abb. 9: Kopie der Hildesheimer Bronzetüre im Victoria & Albert-Museum London, linkes Türblatt, unterstes Feld; Foto: Autor.
III. Was lässt sich nun aus der Kenntnis solcher Erzählstrukturen für die Frage gewinnen, wie Dinge innerhalb eines musealen Settings gezeigt, also für die Darstellung von Erkenntnissen eingesetzt werden können? Ich glaube, zunächst lässt sich mit ihrer Hilfe vor allem der Blick auf die Eigentümlichkeiten der musealen »Erzählweise« und ihren Anspruch schärfen, eben kein Erzählstil, sondern eine wissenschaftliche Form der Darbietung von Dingen zu sein. So kennzeichnet die wissenschaftlich motivierte Ausstellungsweise, alles zu vermeiden, was dazu führen könnte, dass die Dinge in den Vitrinen untereinander in Beziehung treten und ihr Beieinander in irgendeiner Form im Sinne einer Erzählung gedeutet werden könnte. Dies wird meistens dadurch zu erreichen versucht, dass die Dinge vereinzelt oder entlang einfachster geometrischer Grundformen und mit ihrer angenommenen oder tatsächlichen Schauseite auf die Betrachter hin orientiert platziert, also so gezeigt werden, dass sie weder eine Art Eigenleben entwickeln können, noch als irgendwie bewertet erschei-
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nen. Das wissenschaftlich begründete Ausstellen hat daher in der Regel den Charakter des Vorführens, des Vorlegens und/oder des Herausstellens, durch das die Dinge den Blicken ihrer Betrachter ungehindert ausgesetzt werden und das ihre gewissermaßen von allen Nebeneffekten unbeeinträchtigte Wahrnehmung ermöglichen soll. Kommt, wie in neu eingerichteten Ausstellungen häufig zu beobachten, noch ein Ausleuchten der Dinge hinzu, so haben wir es mit einem ausgesprochenen Zur-Schau-Stellen zu tun, einem Präsentieren im vollen Umfang der Wortbedeutung: dem anbietenden Gegenwärtigmachen durch eine spezifische Form der Verdinglichung, durch Ästhetisierung. Die wissenschaftliche Präsentation ist daher keineswegs so neutral, wie sie gehandelt wird. Vielmehr ist sie nur eine besondere Form der Erzählweise, über die sich das Museum als eine Disziplinierungsanstalt und als ein Ort offenbart, an dem die Dinge, nachdem ihnen noch die letzten Fünkchen Leben ausgetrieben13 und sie von den Spuren ihrer Herkunft oder ihres vormaligen Gebrauchswerts gereinigt wurden, zu Materialien gemacht werden, die alsdann, mit objektivierenden Zuschreibungen versehen, in das große Gebäude der Wissenschaften eingebaut werden können. Präsentationen in Museen erzählen daher immer und zu allererst von der Beherrschung und Beherrschbarkeit der Welt, indem sie diese anhand der Verfügung und Verfügbarkeit über Dinge demonstrieren.14 Diese Botschaft jedes seine Sammlungen auf
13 Diese Form des Vorzeigens wirkt im Übrigen häufig so, als müsse man sich von dem möglichen Zauber der Objekte schützen und dazu noch einmal »töten«. Jedenfalls lässt sich die Vitrinisierung nicht nur als Schutz der Objekte vor den Betrachtern, sondern auch als Schutz der Betrachter vor dem möglichen Voodoo der Objekte verstehen. 14 Hier ist festzuhalten, dass insbesondere in historischen und kulturhistorischen Museen, nicht selten aber auch in naturhistorischen Museen die Ausstellungsstücke als Belege für unabhängig von ihnen aufgestellte Theorien oder zur Illustration von Erzählungen dienen, die auf der Basis von Texten entwickelt werden. Ein gutes Beispiel dafür ist die Ständige Ausstellung des Deutschen Historischen Museums in Berlin.
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diese Weise präsentierenden Museums nehmen wir als Betrachter von Exponaten immer, wenn auch meistens nicht bewusst, wahr. Und sie ist der Anlass für ein spezifisches Unbehagen in solchen Museen, nicht nur, weil durch diese Art der Präsentation die natürliche Distanz, die wir fremden Dingen gegenüber normalerweise an den Tag legen, aufgehoben ist, sondern weil wir diese Botschaft unwillkürlich auf uns selbst rückprojizieren, also angesichts der zur Schau gestellten Exponate uns selbst potenziell den wissenschaftlichen Präsentationsmodi unterworfen sehen.15 In jedem Fall aber wird durch diese Botschaft ein unmittelbares, womöglich naiv staunendes Verhältnis gegenüber der Welt unmöglich gemacht und damit die wesentliche Grundbedingung für die Curiositas – das selbst Entdecken-, Beobachten- und sich behutsam Nähernkönnen – erschwert, wenn nicht ganz außer Kraft gesetzt. Hier lässt sich erkennen, warum zunehmend mehr Museen, die mit nicht speziell für die Anschauung gemachten Gegenständen, also mit Bildern umgehen, auf Vermittlungsangebote insbesondere durch Bildmedien setzen: Denn mit deren Einsatz verbindet sich die Hoffnung, auch in solchen Museen eine Wahrnehmungsmodalität etablieren zu können, die sich in der Regel nur in Kunstmuseen einstellt, und das ist die Möglichkeit zu Beobachten. Denn wenn wir Bilder sehen, dann sehen wir Artefakte, die eine bestimmte Wahrnehmung und Auffassung auf die Welt zur Anschauung bringen, können also nicht nur sehen was, sondern auch wie etwas von jemandem wahrgenommen und als Bild gefasst wurde und stehen damit immer – zumindest strukturell – in einer Dialogsituation mit den jeweiligen Autoren. Genau diese Dialogsituation ist aber bei den wissenschaftlichen Präsentationen nicht gegeben, weil die Kuratoren sich hier hinter dem objektivierenden Präsentationsmodus und den einschlägigen Vermittlungsangeboten gewissermaßen verschanzen, jedenfalls nicht als Autoren der Displays
15 So ließe sich das eigentümlich gehemmte Verhalten vieler Museumsbesucher nicht nur damit erklären, dass sie hier beim Betrachten der Exponate offen durch Aufsichtspersonal beobachtet werden, sondern möglicherweise als eine Art unbewusster Rapport zur Erfahrung des Exponiert-Seins selbst.
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zu erkennen geben bzw. nicht ohne Umstände als solche erkennbar sind. Die anonymisierte und einseitige Kommunikationsstruktur von wissenschaftlichen Präsentationen wird aber durch die medialen Vermittlungsangebote nicht nur nicht aufgehoben, sondern eher noch verstärkt. Denn die Audioguides, Audiovisualia und sonstigen technischen Vermittlungsangebote wie im Übrigen auch die meisten szenografischen Inszenierungen sind allem Anschein zum Trotz ja nichts anderes als mediale Aufbereitungen von Objekt-Zuschreibungen, also Informationen, mit denen die Institutionen ihre Autorität gegenüber ihren Besuchern gewissermaßen bis ins Absolute stärken können, weil diese auf Grund ihrer technischen Geschlossenheit und ihres immersiven Charakters nur noch rezipiert werden können, zumindest jedoch einen Dialog, wie er zum Beispiel bei Führungen möglich ist, in der Regel vollkommen unmöglich machen. Als Alternative zu dieser Medialisierung schlage ich vor, Dinge im Museum so zu zeigen, dass ihre Betrachter zu Beobachtern werden, also sehen und erkennen können, dass auch im Museum Dinge gebraucht, also auf Grund eines bestimmten Erkenntnisinteresses aufbewahrt und mit einer bestimmten Intention zur Anschauung gebracht werden, mithin im Prinzip gerade so, wie wir dies aus bildlichen Darstellungen kennen. Denn angesichts der umfassenden Informationsmöglichkeiten, die uns über die Medien zur Verfügung stehen, kann es im Museum mit seinen notwendig begrenzten und häufig kontingenten Beständen nicht mehr darum gehen, weiter irgendwelche Fakten zu präsentieren, sondern kann seine Funktion nur darin bestehen, anhand seiner Bestände nachvollziehbar zu machen, wie Wissen generiert wird, was Wissenschaft bedeutet und wie sie eingesetzt wird respektive eingesetzt werden kann. Eine Neukonzeption des Museums in diesem Sinne hätte zur Konsequenz, dass die technisch ausgebaute Repräsentationsfunktion der Museen aufgegeben werden müsste und diejenigen, die ein Museum aufsuchen, nicht länger als Besucher, sondern als Nutzer verstanden würden, also als Individuen, die – zumindest in öffentlichen Häusern – das Recht hätten, nach Maßgabe ihrer Interessen nach-
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zufragen und gegebenenfalls mit den Kuratoren über das, was das Museum zeigt, in einen Dialog zu treten. An dieser Stelle kommen die bildlichen Erzählstrukturen als eine Möglichkeit ins Spiel, die allfälligen Präsentationsformen zu überwinden und mit und aus den Sammlungen selbst Bedeutung und Wissen zu erzeugen, indem ihr Gebrauch für entsprechende Argumentationen offen zur Anschauung gebracht würde. Dabei dürften vor allem die Erzählstrukturen von Interesse sein, die, wie die komplettierende, die hieroglyphische, die distinguierende und die dialektische nicht auf einer linear-zeitlichen Darstellungsweise und damit auf einer iterativen Struktur aufbauen, sondern unterschiedliche zeitliche Momente anhand nur einmal vorkommender Elemente16 in einer nicht-zeitlichen, Sinn stiftenden Entität zu integrieren vermögen. Generelle Regel für entsprechende Versuche müsste dabei sein, das Bei- oder Miteinander der ausgestellten Dinge so zu organisieren, das ihre Betrachter immer auch eine Beobachterposition einnehmen können, ihnen also die Entscheidung freisteht, in die entsprechenden Ensembles zumindest gedanklich einzutreten, sich darin zu positionieren und als historisches und moralisches Subjekt zu engagieren. Klassisches Beispiel für ein solches Museum, dass ein Betrachten und Beobachten ermöglicht und seine Besucher in die Rolle von Kuratoren setzt, bleibt aber das Sir John Soane-Museum in London, das zum Glück einer Medialisierung bisher entgangen ist.17 Dieses Mu-
16 Linear-zeitliche Darstellungsweisen bauen darauf auf, dass das Hauptelement der »Erzählung« wiederholt gezeigt werden kann; angesichts des Umstands, dass in den meisten Sammlungen Objekte nur einmal zur Verfügung stehen oder überhaupt nur einmal existieren, sind solche Darstellungsweisen nicht realisierbar. 17 Zur Bedeutung des seit 1837 mehr oder weniger unverändert erhaltenen und öffentlich zugänglichen Sir John Soane-Museums vgl. auch: Donald Preziosi: Brain of the Earth’s Body. Art, Museums, and the Phantasms of Modernity, S. 63ff. Vgl. zum Folgenden auch: Michael Fehr: Krise der Muße im Museum, in: Roland Burkholz/Christel Gärtner/Ferdinand Ze-
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seum ist nicht nach Perspektiven konstruiert, sondern bietet stattdessen Ansichten, Durch- und Rückblicke und entfaltet, auf Vieldeutigkeit und Ambivalenz hin angelegt, sein Material so im Raum, dass es seine Besucher regelrecht umfängt. So wird es zu einem Setting, in dem man sich seiner selbst als Beobachter bewusst wird, also zu beobachten beginnt, wie man sich verhält, wie man beobachtet und sich orientiert und dabei sich selbst als freies Subjekt gegenüber den Exponaten oder im Raum erfährt. Induziert wird diese Selbstbeobachtung aber nicht zuletzt dadurch, dass man in diesem Museum zu beobachten beginnt, wie andere Beobachter/Besucher beobachten, was sie sich anschauen, was sie fragen, wo sie verweilen, worauf sie einander aufmerksam machen und wie sie in diesem Setting erscheinen. Kurz: im Sir Soane-Museum hat man nicht nur die Chance, die übliche Besucherrolle in Museen, die Rolle und Haltung als Rezipient, aufgeben zu können, sondern kann, ja muss wie ein Sammler auftreten, als ein Beobachter, der nach Maßgabe seiner eigenen Interessen auswählt und bestimmt, was er wie betrachten und beobachten will. Allerdings ergibt sich die Vieldeutigkeit und Ambivalenz dieses Museums nicht nur aus der Wahrnehmung in heutiger Sicht, sondern ist das Ergebnis einer ebenso gezielten Sammlungstätigkeit wie eines überlegten, immer wieder revidierten Arrangements der Sammlungen, die sehr bewusst mit rhetorischen Mitteln umgeht und dieses Haus als die Urform eines ironischen Museums verstehen lässt.18
hentreiter (Hg.), Materialität des Geistes. Zur Sache Kultur – im Diskurs mit Ulrich Oevermann, S. 331-352. 18 Diesen Begriff entwickelte der britische Historiker Stephan Bann gegen die Eintönigkeit der Geschichtsmuseen. Er forderte damit »alternative, doch nicht gänzlich widersprüchliche Lesarten der ausgestellten Objekte« und schlug vor, dass man sich dabei »sowohl der integrativen, verbindenden Mechanismen der Synekdoche als auch der dispersiven, isolierenden Mechanismen der Metonymie bedienen« könne, doch nicht darauf abzielen solle, diese zu hierarchisieren, sondern für wechselnde Bewusstseins- und Wahrnehmungsmöglichkeiten des Publikums zu nutzen.« Stephen Bann:
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Abb. 10: Blick in den Model Room im Chamber Floor, Sir John Soane-Museum London; Reproduktion von Tafel 38 aus »Description«, 1835, nach John Elsner, The House and Museum of Sir John Soane, in: John Elsner and Roger Cardinal (Ed.), The Cultures of Collecting, Cambridge, Mass., 1994, S. 161.
Was dies bedeuten kann, lässt sich am deutlichsten am so genannten Model Room (vgl. Abb. 10) des Hauses erfahren, mit dem Soane mehrfach im Hause umherzog, bis er 1835 seinen heutigen Platz in der 2. Etage, dem ehemaligen Schlafzimmer seiner Frau, fand: Architekturmodelle waren ein besonderes Steckenpferd von Sir Soane.19 Er besaß über einhundert Modelle der von ihm selbst gebauten Häuser und darüber hinaus etwa zwanzig Gipsmodelle antiker Gebäude in ihrem originalen, das heißt rekonstruierten Zustand, weiterhin vierzehn Modelle aus Kork, die Das ironische Museum, in: Jörn Rüsen et al. (Hg.), Geschichte sehen. Beiträge zur Ästhetik historischer Museen, S. 63. 19 Sir John Soane (1753-1837) war ein erfolgreicher Architekt und baute, neben zahllosen Landhäusern, die Bank of England und verschiedene Regierungsgebäude.
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antike Gebäude in ihrem aktuellen, also ruiniertem Zustand veranschaulichen. Die meisten Modelle wurden im Model Room gezeigt. Dieser wurde von einem Ausstellungsmöbel beherrscht, das speziell für Soanes Haupt- und Lieblingsstück in dieser Sammlung, einem Korkmodell der Ruinen von Pompeji im Zustand von 1820, angefertigt worden war. Damit ergab sich hier nicht nur eine um geografische und zeitliche Distanzen völlig unbekümmerte Versammlung der berühmtesten Gebäude der Antike, sondern eine sehr eigentümliche Konfrontationsstruktur, in der die tatsächlichen Ruinen dieser Gebäude als Korkmodelle Gebäuden in einem nicht mehr erhaltenem, einem angenommenen ursprünglichen Zustand, in einer idealen Form also, als Gipsmodelle konfrontiert wurden. Dabei repräsentierten diese Modelle nicht nur die wichtigsten Referenzstücke für Soanes eigene Bauten, deren bedeutendste Beispiele in Holzmodellen in der untersten Etage des Ausstellungsmöbels präsentiert waren, sondern – klar unterschieden als Kork- oder Gipsmodelle – die beiden Ideale der Romantik: Ruine und originales Meisterwerk, wobei einzelne Gebäude sowohl als Ruine als auch im rekonstruierten idealen Zustand erscheinen. Zusätzlich dazu verweist Soane in seinen Descriptions darauf, dass in seinem Museum reale Fragmente der in den Modellen dargestellten Gebäude zu finden seien, so zum Beispiel Kapitelle von der Villa Adriani oder einige Pilaster vom Pantheon. Wir haben es hier also mit einer systematischen Verschränkung unterschiedlicher Darstellungsund Argumentationsmethoden zu tun. Und zwar zum einen über die synechdotische Strategie, mit Hilfe von realen Fragmenten die wahre Größe der betreffenden Bauwerke in der Phantasie entstehen zu lassen, und zum anderen mit einer pars-pro-toto-Strategie, über die hier die gesamte Antike auf einem Tisch verfügbar gemacht wird – wobei diese Modellwelt wiederum im synechdotischen Sinn als Modell für die Realität zu verstehen ist, die der Architekt Soane ja nachhaltig mitgestalten konnte und wollte. Den entscheidenden Hinweis hierauf gibt der Umstand, dass der Model Room, bevor er seinen heutigen Platz fand, im Dachgeschoss des Hauses lokalisiert war, einem Raum, von dem aus man die City Londons überblicken und die realen – auf Grund der Entfernung auf Modellmaß verkleinerten – Gebäude im Zusammenhang mit den Model-
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IN DER
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len wahrnehmen konnte. Soanes Haus und Museum bekam damit selbst einen strategischen Platz im Gebäudeensemble der Stadt, eine Bedeutung, die keineswegs zufällig entstand, sondern dem Anspruch des Hausherrn, eine Schule für Architekten zu begründen, entsprach. Allerdings hat Soane diese Ansprüche nie selbst artikuliert, sondern über eine – vermutlich fiktive – zweite Stimme, die Stimme einer Frau mit Namen Barbara Hofland zu Gehör gebracht. Ihre Kommentare ergänzen, in den letzten Descriptions als Anhang in kleinerer Schrift veröffentlicht, Soanes eigene, trocken-distanzierte Aufzählungen in unerwartet poetischer Weise, indem sie sich unmittelbar auf das Museum beziehen, seine Sammlungen und es selbst als Realität setzen und vergessen lassen, dass es Modelle sind, die hier beschrieben werden.20
20 »Our first attention is fixed perforce upon Pompeii; for what subject so powerful and terrible in its general character – so affecting in details, could arrest the mind of man, or employ his faculties, either in actual research or ideal supposition? – The excavations made when this model was finished shew us a Temple of Isis, which must have been very splendid, an amphitheatre capable of containing fifteen thousand persons, and a theatre for tragedy which could accommodate five thousand. […] There is also a basilica where justice was administered, a forum, numerous shops, and private houses, each proving, from its situation with regard to culinary utensils and food preparing for use, how sudden as well as terrible was the destruction which overwhelmed the inhabitants, and rendered its site unknown for ages, blotting out its very existence from the earth. […]« Zitiert nach: John Elsner, The House and Museum of Sir John Soane, in: John Elsner and Roger Cardinal (Ed.), The Cultures of Collecting, Cambridge, Mass., 1994, S. 168.
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L ITERATUR Bann, Stephen: »Das ironische Museum«, in: Jörn Rüsen et al. (Hg.), Geschichte sehen. Beiträge zur Ästhetik historischer Museen, Paffenweiler: Centaurus Verlagsgesellschaft 1988. Elsner, John: »The House and Museum of Sir John Soane«, in: John Elsner/Roger Cardinal (Hg.), The Cultures of Collecting, Cambridge, Mass.: Reaction Books Ltd. 1994. Fehr, Michael: Zur Ikonographie und Erzählstruktur der Hildesheimer Bronzetüren, Bochum 1978. Fehr, Michael: »Krise der Muße im Museum«, in: Roland Burkholz/Christel Gärtner/Ferdinand Zehentreiter (Hg.), Materialität des Geistes. Zur Sache Kultur – im Diskurs mit Ulrich Oevermann, Weilerswist: Velbrück Wissenschaft 2001, S. 331-352. Himmelmann-Wildschütz, Nikolaus: »Erzählung und Figur in der archaischen Kunst«, in: Abhandlungen der Geistes- und Sozialwissenschaftlichen Klasse der Akademie der Wissenschaften und der Literatur, Jg. 1967, Nr. 2, Wiesbaden: 1967. Imdahl, Max: »Über einige narrative Strukturen in den Arenafresken Giottos«, in: R. Koselleck/W.-D. Stempel (Hg.), Geschichte – Ereignis und Erzählung, München: Wilhelm Fink Verlag 1973. Imdahl, Max: »Die Momentfotografie und »Le Comte Lepic« von Eduard Degas (1970)«, in: Angeli Janhsen-Vukicevic (Hg.), Max Imdahl – Zur Kunst der Moderne. Gesammelte Schriften, Band 1, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1996, S. 181-193. Preziosi, Donald: Brain of the Earth’s Body. Art, Museums, and the Phantasms of Modernity, Minneapolis/London: University of Minnesota Press 2003. Wickhoff, Franz: »Römische Kunst«, in: M. Dvorak, Die Schriften Franz Wickhoffs, Bd. 3, Berlin: Meyer & Jessen 1912.
Mit Dingen erzählen Möglichkeiten und Grenzen der Narration im Museum M ICHAEL P ARMENTIER
Gelegentlich hört man von Sammlern, die die Stücke, die sie dem Museum geschenkt oder auch nur geliehen haben, an dem verabredeten Platz in den Schauräumen nicht finden können. Das ist sicher ärgerlich und lässt Spekulationen zu. Doch die Wahrheit dahinter ist ziemlich trivial. Sie besteht nicht in besonders infamen Tricksereien der Museumsleitung, auch nicht in einer neuen Variante des Spendenbetrugs, denn die Stücke stehen genau dort, wo sie stehen sollen. Der enttäuschte Mäzen hat sie nur nicht wiedererkannt. Die Stücke, die er suchte, haben einfach in der neuen Umgebung ihre Bedeutung und damit auch die Wirkung ihres Erscheinungsbildes geändert. Das ist ein bekannter Sachverhalt. Wie alle Dinge so gewinnen auch die Stücke einer Sammlung ihre Bedeutung, vielleicht nicht ganz aber doch zum großen Teil, durch den Kontext, in den sie gestellt werden. Ob ein Gegenstand auf einem schwarzen Samtsockel mit Goldbordüren, unter Glas und intensiver Punktbestrahlung präsentiert wird oder auf einem industriell gefertigten Metallregal neben anderen liegt und mit Raumlicht auskommen muss, das kann seine Semantik total verändern und das Wiedererkennen erschweren. Die Bedeutung der Dinge ist eben immer auch ein Kontextphänomen, vielleicht sogar nur ein Kontextphänomen.
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Folgt man einer einflussreichen Strömung in der Semiologie, dann konstituiert sich die Bedeutung der Dinge nicht selbständig durch irgendeinen positiven Inhalt, sondern negativ im Spiel der Differenzen und Oppositionen. Das einzelne Ding, ganz und gar isoliert und für sich genommen, ist völlig bedeutungslos, im Grunde »nichts«, wie Baudrillard notiert.1 Bedeutungen entstehen erst in dem Gewebe von Unterschieden oder Unterscheidungen, die dem an sich qualitätslosen materiellen Substrat seine bestimmte Form und seinen spezifischen Ausdruck verleihen. Form, Größe, Farbe, Glanz, Granulation, Helligkeit, Glätte, kurz alle sinnlich wahrnehmbaren Merkmale eines Dinges sind bedeutungsstiftend durch das Netz von Abgrenzungen und Gegensätzen, in das sie eingespannt sind. Man könnte es auch so sagen: Jedes Ding ist nur das, was es ist, durch all das, was es nicht ist. Es trägt als Zeichen die Spur aller anderen Zeichen in sich. Ohne eine Spur, die das andere als anderes im Gleichen festhält, könnte, wie Derrida formulierte, »kein Sinn in Erscheinung treten«2. Denn »die Spur ist die Differenz, in welcher das Erscheinen und die Bedeutung ihren Anfang nehmen«3. Das war in einer etwas weniger kryptischen Form schon die Quintessenz der Semiologie von Saussure. Nach ihrer Logik, die freilich erst von den strukturalistischen Nachfolgern voll entfaltet wurde, bilden die Dinge wie alle Zeichen ein System rein differentieller Artikulation, in welchem jedes Element nur negativ bestimmt ist durch seine Abgrenzung von allen anderen. Weil sich der differenzielle Kontext jedoch ständig durch Verschiebung, Neuproduktion und Vernichtung der Dinge verändert, verändern sich auch die einzelnen Bedeutungen darin. Sie »gleiten« nach der berühmten Formel Lacans »unaufhörlich«4, aber sie gehen nicht verloren. Die verschiedenen Bedeutungen, die die Dinge im Laufe der Zeit an-
1
Jean Baudrillard: For a Critique of the Politial Economy of the Sign, S. 63.
2
Jacques Derrida: Grammatologie, S. 109.
3
Ebd., S. 114.
4
Jacques Lacan: Schriften II, S. 27.
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nehmen, bleiben – etwas ungenau gesprochen – an ihnen haften. Sie setzen sich in aufeinander folgenden Schichten, wie Jahresringe gewissermaßen, an ihnen fest. So werden die Dinge auf ihrer Bahn durch die wechselnden Kontexte des symbolischen Universums allmählich mehrdeutig, polyvalent, wie der Fachterminus heißt. Am Ende kann dasselbe Ding gleichzeitig vieles sein: So ist der Parka das Exempel für ein militärisches Kleidungsstück, aber auch für ein Industrieprodukt und zugleich ist er ein Symbol der Friedensbewegung, die Kopfbedeckung Napoleons ist ein Beutestück aus der Schlacht von Belle Alliance (d.i. Waterloo), aber auch eine Metapher für unbegrenzte Machtfülle, und sie ist außerdem der Nachfolger des Dreispitz, der in dem Kinderlied vom Hut mit den drei Ecken besungen wird. Und das Schwert ist ein Instrument der Vernichtung, klar, aber auch ein Kultgegenstand, ein Erbstück und dazu noch ein Beispiel für den kunsthandwerklichen Stil eines Volkes oder der Beleg für eine neue Technik der Eisenverarbeitung. Polyvalenzen dieser Art lassen sich an allen Gegenständen nachweisen. Sie sind das Ergebnis jener Wanderung durch die verschiedensten Kontexte, bei der die Dinge immer neue Bedeutungen annehmen und den bisherigen hinzufügen. Beim Übergang von einem Kontext zum nächsten werden diese akkumulierten Bedeutungen dann jedes Mal für einen Augenblick wieder freigesetzt. In dem kurzen Moment des Kontextwechsels tritt das gesamte Bedeutungspotenzial eines Gegenstandes in Erscheinung. Danach ist es wieder vorbei. Sobald der Gegenstand in seinen neuen Kontext eingefügt ist, wird das vorhandene Bedeutungspotenzial wieder reduziert. Der neue Kontext wirkt wie ein Filter, der den Überschuss an nicht realisierten Bedeutungsmöglichkeiten aussortiert und in den Untergrund verdrängt. Auf diese Weise wird jedes Dingzeichen in zwei Bedeutungsschichten aufgespaltet, in eine manifeste und in eine latente. Im Museum ist das nicht anders. Auch das Museum setzt die Dinge in einen neuen Kontext und vereindeutigt sie dadurch – und für viele sogar zum letzten Mal. Dennoch ist es nicht diese möglicherweise finale Stellung in der Kette der Kontexte, die dem Eintritt der Dinge in den
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musealen Zusammenhang seine Besonderheit verleiht. Was diesen musealen Zusammenhang vielmehr auszeichnet ist die Freiheit, die ihn – der Idee nach wenigstens – hervorgebracht hat. Die Museumsleute, die Kuratoren und Ausstellungsmacher, haben die Wahl. Sie können darüber entscheiden, welche Bedeutung von den vielen möglichen sie hervorheben wollen. Im Idealfall, also dann wenn sie ihrer ursprünglich aufklärerischen Mission verpflichtet bleiben, setzen sie die Dinge so zusammen, dass diese ihre vergessenen und unterdrückten Bedeutungen frei geben, dass sie das bis dahin unter der Oberfläche des Gewohnten Verdeckte sichtbar werden lassen, zur Sprache bringen, was die Ideologie verbirgt. Das verbindet die Ausstellungstätigkeit mit der künstlerischen Tätigkeit. Sie gibt nicht, nach dem berühmten Diktum Paul Klees, das Sichtbare wieder, sondern sie macht sichtbar und sie muss dabei – wiederum wie die künstlerische Tätigkeit, diesmal nach einem Diktum Adornos – an ihren fragwürdigsten Stellen Glück haben. Man kann die Qualität einer Ausstellung nicht methodisch erzwingen. Ausstellungen machen, das ist notgedrungen eine experimentelle Tätigkeit. Sie lässt sich nicht gängeln. Dennoch ist in einem gegebenen historischen Moment nicht alles möglich. Ich sehe zur Zeit – in Anlehnung an einen Vorschlag von Jana Scholze5 – vier fundamentale Verfahren, auf die jeder zurückgreifen muss, der die Dinge, nachdem sie aus ihren Herkunftskontexten herausgenommen worden sind, zum Zweck der Aufklärung im Museum neu ordnen will. Diese Verfahren sind fundamental, insofern sie den denkbaren Kreis von Möglichkeiten abstecken. Aber sie treten fast nie in reiner Form auf. Im Museum finden wir sie in vielen Mischungen, Überblendungen und Ausprägungen. Das älteste dieser fundamentalen Verfahren ist wahrscheinlich die Klassifikation. Sie ist unmittelbar mit dem Aufkommen der ersten wissenschaftlichen Sammlungen verbunden und hat spätestens in der
5
Vgl. Jana Scholze: Medium Ausstellung. Lektüren musealer Gestaltung in Oxford, Leipzig, Amsterdam und Berlin.
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zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts, als nach den Zerstörungen des Dreißigjährigen Krieges die Bestände der Kunst- und Wunderkammern – oder das, was davon noch übrig war – neu geordnet werden mussten, als dominantes Organisationsprinzip vor allem in den Naturalienkabinetten sich durchgesetzt. Noch heute verknüpfen wir fast reflexhaft die klassifikatorische oder auch taxonomische Ordnung mit der Präsentationsform in naturkundlichen Museen: mit Schmetterling-, mit Käferund mit Mineraliensammlungen. Die Nähe des klassifikatorischen Verfahrens zur Wissenschaft kann natürlich niemanden überraschen. Bei diesem Verfahren werden nämlich die Gegenstände logisch nach bestimmten gemeinsamen und unterscheidenden Merkmalen in Gruppen und Untergruppen, in genera und spezies hierarchisch geordnet, d.h. begrifflich systematisiert. Das befriedigt den Verstand und erleichtert dem Publikum das Vergleichen der Gegenstände. Doch die begriffliche Ordnung hat auch ihren Preis. Wie immer klassifiziert wird, die Gegenstände werden dabei zwangsläufig nicht nur aus ihren lebensweltlichen Zusammenhängen herausgerissen und isoliert, sie werden auch zu bloßen Exempeln, zu austauschbaren Vertretern ihrer Klasse entindividualisiert. Anders gesagt: die Klassifikation kann dem einzelnen Gegenstand niemals gerecht werden. Doch deshalb ist die Klassifikation als museale Präsentationsform keineswegs unbrauchbar geworden. Durch geschickte Auswahl der Klassifikationskriterien können eingeschliffene Ordnungsvorstellungen aufgebrochen und den Dingen selbst durchaus neue Aspekte abgerungen werden. Welche Möglichkeiten sich da eröffnen, zeigt das Klassifikationssystem der chinesischen Enzyklopädie, das Foucault im Vorwort der »Ordnung der Dinge« zitiert.6 Das zweite fundamentale Verfahren der musealen Präsentation nenne ich – wieder mit Jana Scholze – »Komposition«. Bei diesem Verfahren, das, wie der Name andeutet, der künstlerischen Tätigkeit wahrscheinlich am nächsten kommt, steht die Ordnung, in die die Din-
6
Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge, S. 17.
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ge eingefügt werden, nicht, wie im Falle der Klassifikation, am Anfang, sondern am Ende. Sie muss auf dem Wege der spielerischen Erprobung erst noch gesucht und gefunden werden. Dabei gibt es keine Regeln, an die man sich, wie an ein Geländer, halten könnte. Die Suchbewegung führt ins Offene und ein erfolgreicher Abschluss ist keineswegs garantiert. Die Ausstellungsmacher können sich im Grunde nur auf sich selbst, auf ihre Erfahrungen und ihr Gespür verlassen. Am besten folgen sie zunächst ihren eigenen Vorlieben, also irrationalen Kriterien. Der Anfang darf durchaus gefühlsbestimmt sein. Spätestens jedoch wenn dann die ersten Treffer in Gestalt stabiler Verknüpfungen zwischen den Dingen gelandet sind, geraten neben den Gemüts- auch die Verstandeskräfte in Bewegung und lassen die ars combinatoria nicht mehr zur Ruhe kommen. Dann beginnt jene heiße Phase in der Ausstellungsentwicklung, in der der Kurator, oder der Ausstellungsmacher und sein Team, neue Bedeutungen und Sichtweisen kreieren durch die kontrolliert-abwägende Art und Weise, wie sie die Sammlungsstücke zueinander in Beziehung setzen. Alles, was die ars combinatoria dabei erfasst, ist schon da, aber es wird aus der Bahn genommen, gedreht und gewendet, befragt und geprüft, und schließlich in eine andere gehaltvollere und aktuellere Konstellation gebracht. Friedrich Schlegel kennzeichnet dieses Verfahren als »universelle Scheidungs- und Verbindungskunst«7 und Jean Paul beschreibt es als »wiz«, der das vertraute Gefüge der Üblichkeiten sprengt und statt zu bestätigen, was jedermann immer schon zu sehen und zu wissen glaubt, durch das respektlose Zusammenfügen von Entlegenem etwas Neues aufblitzen lässt. Die Leute vom Museum der Dinge in Berlin, die mit diesem Verfahren der Komposition vielleicht die meisten Erfahrung haben, sprechen in diesem Zusammenhang auch gerne von »Alchimie«8. Das klingt ein bisschen nach Hexenküche und Magie und ist ja auch nicht
7 8
Friedrich Schlegel: Kritische Schriften, S. 83. Vgl. Eckard Siepmann: Alchimie des Alltags. Das Werkbund-Archiv. Museum der Alltagskultur im 20. Jahrhundert. Gebrauchsanweisung für einen neuen Museumstyp.
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ganz falsch. Doch den Kern des Kompositionsverfahrens bildet eine präzise beschreibbare Technik, die seit der Frühromantik bekannt ist und im Stummfilm und den Avantgardebewegungen des vorigen Jahrhunderts höchste Anerkennung genoss: die Technik der Montage. Durch sie werden die Dinge als Bedeutungsträger nicht geduldig kumuliert und nebeneinandergestellt und auch nicht zu bloßen Exemplaren derselben Kategorie nivelliert, sondern einander entgegengesetzt. Erst die Montage des Verschiedenen, vor allem die Kontrastmontage, zwingt die Dinge ihre verborgenen Bedeutungen freizugeben und in einen neuen Zusammenhang einzutragen. Wie überzeugend die Kombination von Objekten auf der Basis der Montagetechnik gelingen kann, zeigt die Ausstellung Bildwelten der Beyeler Foundation von 2009. In dieser Ausstellung wurden Skulpturen afrikanischen und ozeanischen Ursprungs mit Bildern von Matisse, Picasso, Leger und Monet kombiniert, aber nicht, um sie auf das Niveau einer Inspirationsquelle herabzusetzen und nach ihrem Beitrag zur Formbildung der klassischen Moderne zu befragen, wie das seit Carl Einstein üblich geworden war und auch noch von William Rubin in der berühmten Ausstellung Primitivism in 20th Century 1984 in New York versucht wurde, sondern um zwei kulturell völlig unterschiedliche Ausdruckssysteme auf Augenhöhe miteinander so ins Gespräch zu bringen, dass sie sich wechselseitig erhellen und kommentieren. Dazu hat der Kurator mit Absicht die Präsentation typischer Paarungen wie die einer Maske aus Afrika mit einem perfekt dazu passenden Bild von Picasso vermieden und statt dessen auf Asymmetrien und Dissonanzen gesetzt. Das Ergebnis war ein subtil ausgewogenes Feld von großen visuellen und ästhetischen Spannungen. Dass ein solch gewagtes Experiment auch bisweilen in bloß formalen Entsprechungen hängenbleiben kann und manche Kontrastierung, wie die des Seerosenbildes von Monet mit einem Kultkrokodil aus Papua-Neuguinea, vielleicht doch etwas schlicht und allzu direkt erscheint, wird man in Kauf nehmen können, eine Erfrischung des müden europäischen Blicks auf das allzu Vertraute war es jedoch allemal.
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Ein Extremfall der Komposition, im Grunde ihr Negativ, ist übrigens die von John Cage für den Umgang mit Tönen erfundene Aleatorik. Sie verfolgt das Ziel akustische Ereignisse, Klänge ebenso wie Geräusche, mit Hilfe von Zufallsverfahren so zusammenzustellen, dass alle musikalischen Beziehungen, die bisherigen, die eingeschliffenen und vertrauten, aber auch die aktuellen zwischen ihnen nachhaltig gekappt werden. Die einzelnen Töne sollen sich von allen Kontexten emanzipieren. Sie sollen restlos autonom werden, nur sie selbst, reiner, bedeutungsfreier Klang. Das ist ein sehr anspruchsvolles Vorhaben und wahrscheinlich nicht realisierbar. Denn sobald Klänge zusammen auftreten, stellen sich unvermeidlich Beziehungen zwischen ihnen ein und damit auch Bedeutungen. Im Bereich des Museums kommen aleatorische Kompositionsverfahren am ehesten dort zur Anwendung, wo die Dinge nach dem ihnen gegenüber völlig willkürlichen Prinzip alphabetischer Systeme organisiert werden. Das Ergebnis ist dann der so genannte Dachbodeneffekt, ein de facto Durcheinander, das aber, wie alle Beobachter bestätigen, überaus anregend wirken kann. Das dritte fundamentale Verfahren der Objektpräsentation im Museum ist, nach Klassifikation und Komposition, die szenische Darstellung. Bei diesem Verfahren werden die Exponate möglichst realistisch einfach in eine alltägliche oder natürliche Umgebung eingebettet. Die Lindenmadonna steht dann nicht mehr in einer Vitrine, sondern auf einem Bord in der Ecke der detailliert nachgebauten Bauernstube. Der ausgestopfte Wiedehopf befindet sich nicht mehr auf einem Regal, sondern stolziert im sonnigen Gras vor einer aus Pappmaschee, Gips und Sägemehl rekonstruierten Waldkulisse und der alte Orientteppich hängt nicht mehr im Dämmerlicht an der Wand des Depots, sondern liegt vor dem Eingang eines offenen Zeltes im Wüstensand, der über den Parkettboden der Schauräume geschüttet wurde. Das Spektrum der szenischen Darstellungsmöglichkeiten ist sehr groß. Es erstreckt sich zwischen zwei Extrempolen. Auf dem einen Ende befinden sich historische Räume, die unversehrt konserviert werden und sich oft auch noch an den Originalschauplätzen befinden.
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Manchmal handelt es sich dabei um ganze Wohnkomplexe wie im Falle des Franklin House in London, in dem der Diplomat und Erfinder 16 Jahre gelebt hat. Manchmal aber auch nur um einzelne so genannte period rooms oder historische Zimmer, die an Ort und Stelle abgebrochen und samt Architektur und Inventar im Museum wieder originalgetreu aufgebaut werden. Am anderen Ende der Skala dagegen befinden sich nur Nachbauten, szenische Faksimiles, Raumattrappen, dreidimensionale Naturimitationen, Modell-Biotope und Lebensweltkopien, in denen kein Bauteil, bisweilen nicht einmal die Größenverhältnisse, mehr der Wirklichkeit entnommen sind. Dazwischen bewegt sich alles Übrige: verschiedene Mischungen aus Originalteilen und Nachbildungen wie historisierende Interieurs, Stil- und Epochenräume, aber auch Dioramen mit Dermoplastiken von Tieren, bei denen wenigstens das verwendete Fell aus der freien Natur stammt. All das variiert im Hinblick auf den empirischen Wahrheitsgehalt der Vorlage, im Hinblick auf den Detaillierungsgrad der Ausführung und im Hinblick auf die Zugänglichkeit für den Betrachter. Einige szenische Darstellungen basieren etwa auf mythischen Texten, wie die Gruppe der präparierten Tiere in der Halle des Pariser Musée d’Histoire naturelle, die den Zug zur oder aus der Arche Noah visualisieren. Andere sind das Ergebnis aufwendiger wissenschaftlicher Recherchen, wie die Rekonstruktion der Feuerstelle einer Neandertalerfamilie im Rheinischen Landesmuseum in Bonn. Einige Szenen beeindrucken durch ihren Hyperrealismus, andere sind eher skizzenhaft und schematisch. Einige kann man betreten und andere, wie alle Dioramen, nur als Guckkastenbühne betrachten. Immer jedoch wird dem Betrachter eine szenische Gesamtsicht von einem Ausschnitt dargestellter Wirklichkeit geboten. Das vierte fundamentale Verfahren, das geeignet ist die dinglichen Exponate in eine neue, Erkenntnis generierende Ordnung zu bringen, ist die Erzählung oder, wie es mit der gewollten Exklusivität eines Fachterminus heißt, die Narration. Sie ist vielleicht das komplexeste
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Verfahren, obwohl sie eigentlich nichts weiter scheint als eine temporalisierte Form der szenischen Darstellung. Die Narration taut einfach die im Tableau der Szene eingefrorenen Geschichten wieder auf, indem sie sie zeitlich auseinanderfaltet und um das, was vorher und nachher geschah, ergänzt. Man könnte auch sagen: In der Narration wird der in der szenischen Darstellung festgehaltene Augenblick wieder als Teil einer Bewegung fassbar. Narration, das ist, wie Johann Gustav Droysen einmal definierte, »eine Mimesis des Werdens«9. Nur wie ist sie möglich? Die Antwort auf diese Frage scheint nicht besonders schwierig. Denn die Formgesetze der Erzählung werden seit langem untersucht und beschrieben. Inzwischen sind wir vor allem durch die Bemühungen der literaturwissenschaftlichen10, psychologischen und psychotherapeutischen Erzähltheorien, der volkskundlichen und ethnologischen Märchen- und Mythenuntersuchungen11, der soziologischen Biographieforschung und der soziolinguistischen Sprechakt- und Gesprächsanalyse12 umfangreich und zuverlässig über alles informiert, was die konstitutiven Bedingungen, die elementaren Strukturen und Prozesse
9
Vgl. J.G. Droysen: Historik. Vorlesungen über Enzyklopädie und Methodologie der Geschichte.
10 Vgl. Eberhart Lämmert: Bauformen des Erzählens.Stanzel, F.K.: Theorie des Erzählens. T. Todorov: »Die Kategorien der literarischen Erzählung«, in: H. Blumensath (Hg.), Strukturalismus in der Literaturwissenschaft, S. 263-294. 11 Vgl. C. Lévi-Strauss: Mythologica I-IV. Vladimir Propp: Morphologie des Märchens. 12 Vgl. Ch.J. Fillmore: »Pragmatik und die Beschreibung der Rede«, in: M. Auwärter/E.Kirsch/M. Schröter (Hg.), Seminar: Kommunikation, Interaktion, Identität W. Kallmeyer/F. Schütze: »Zur Konstitution von Kommunikationsschemata der Sachverhaltsdarstellung, in: D. Wegener (Hg.), Gesprächsanalysen. W. Labov/J. Waletzky: »Erzählanalyse: mündliche Version persönlicher Erfahrungen«, in: J. Ihwe (Hg.), Literaturwissenschaft und Linguistik II, S. 78-126.
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des Erzählens betrifft. Dazu kommen noch die methodologischen Reflexionen im Bereich der neueren Historiographie, die zuletzt in den Arbeiten von Hayden White zur Fiktionalität der geschichtlichen Erzählung einen viel diskutierten Höhepunkt erreicht haben.13 Gäbe es nicht an den Unis immer noch DFG geförderte einschlägige Projekte und Zentren der Narratologie14, könnte man als Außenstehender versucht sein, das Forschungsfeld eigentlich für erschöpft und die Forschungsarbeit für abgeschlossen zu halten. Doch die Forschungstätigkeit und das korrespondierende Publikationsvolumen zum Thema Narrativität sind nicht nur ungebrochen, sie expandieren sogar. Die Narratologie erlebt zurzeit eine regelrechte Blüte. Die Erkenntnisfortschritte bewegen sich allerdings, wie so oft bei fest etablierten und ausdifferenzierten Forschungsdisziplinen, nur im Millimeterbereich. Die großen Themen, die focal concerns der Erzählforschung, haben sich seit Jahrzehnten nicht geändert. Das gilt vor allem für ihre vielleicht zentralste Kategorie: die Perspektive oder – im englischsprachigen Diskurs – den point of view. Eine Perspektive als selektiver Blick auf das dargestellte Geschehen ist beim Erzählen unvermeidlich. In der Regel muss man sogar gleich mit mehreren hantieren: mit den Erzähler- und mit den Figurenperspektiven nämlich. Sie können sich ergänzen und widersprechen in dem, was sie erzählen, und sie können sich abgrenzen und profilieren, in der Art und Weise, wie sie erzählen: von der direkten Rede bis zum inneren Monolog. Die Erzählforschung hat das alles und vieles mehr seit nun mehr als 100 Jahren immer genauer und feingliedriger untersucht. Sie hat den empirischen Autor vom abstrakten Autor geschieden, den auktorialen Erzähler vom Ich-Erzähler, den realen Leser vom impliziten Leser. Und sie hat gezeigt, wie eng sich die Perspektiven miteinander verschränken können.
13 Vgl. Hayden White: Auch Klio dichtet. Die Fiktion des Faktischen. Studien zur Topologie des historischen Diskurses. 14 Wie z.B. an der Uni Hamburg; vgl. www.icn.uni-hamburg.de oder das Zentrum für Erzählforschung an der Uni Wuppertal www.fba.uni-wuppertal. de/zef/
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Ein weiteres Dauerthema der Narratologie sind, neben der Perspektive und ihren Auswirkungen u.a. auf Redemodus und die Wahl von Tempus und adverbialen Bestimmungen, die »Bauformen des Erzählens«, die, nach Eberhardt Lämmert, von dem der Ausdruck stammt, das Erzählwerk in seiner Erstreckung gliedern und fügen. Solche Bauformen entstehen dadurch, dass die monotone Sukzession der erzählten Zeit durch Vor- und Rückgriffe umgestellt, durch Parallelhandlungen aufgesplittert und durch Sprünge oder Detailausmalungen gerafft und gedehnt werden kann. Je nach dem Willen des Erzählers lässt sich das Geschehen in ein mehr oder weniger komplexes Gefüge von ineinander verschachtelten Ereignisreihen strukturieren, mit diesen oder jenen Geschwindigkeiten, mit Verästelungen hier, Abbrüchen und Neuansätzen dort, mit überraschenden Wendungen und manchem mehr. Neben der Perspektivität und der Morphologie der Bauformen sind ein weiteres Schlüsselthema der Erzählforschung die Verknüpfungen zwischen den dargestellten Ereignissen. Ohne solche Verknüpfungen kommt keine Erzählung aus. Um Ereignisse oder Handlungen als Momente einer Entwicklung oder überhaupt als Momente einer zeitlichen Folge, also als Geschichte, darstellen zu können, müssen sie miteinander verknüpft werden. Die einfachste Form einer solchen Verknüpfung ist das additive Nacheinander. Sie findet sich in allen Kulturen und Altersklassen, in den alten Mythen ebenso wie in der frühbürgerlichen Familienchronik – und auch in den Erzählungen der Kinder. Ihr sprachliches Korrelat hat diese zeitliche Verknüpfungsweise im epischen »und dann und dann und dann«. Doch das schlichte Nacheinander sagt noch nichts über den inneren Zusammenhang der Ereignisse, nichts über die Notwendigkeit ihrer Aufeinanderfolge. Um diesen inneren Zusammenhang, die Notwendigkeit in der Sukzession sichtbar zu machen, braucht man komplexere Verknüpfungsschemata, wie z.B. das kausale und das finale. Bei der kausalen Verknüpfungsweise tritt an die Stelle der bloßen Aneinanderreihung der erinnerten oder erwarteten Ereignisse ihre Verkettung zu einer Folge von Ursachen und Wirkungen. Die finale dagegen verknüpft das erzählte Geschehen zu einer Kette von Zwecken und Mitteln. In der Regel, d.h. nicht immer, sind
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kausale und finale Verknüpfungen zu erkennen an der Verwendung von »da-weil« und »um-zu« Konjunktionen. Soviel zur Narratologie. Sie ist ein weites und differenziertes Feld. Meine abenteuerlich knappe und durchweg selektive Charakterisierung dieses Feldes sollte nur zeigen, dass es eine Antwort gibt auf die Frage, wie erzählen, also wie die Darstellung von zeitlichen Abläufen, wie eine »Mimesis des Werdens« möglich ist. Aber die Antwort hat natürlich einen Haken. Sie gilt erst einmal nur für den medialen Typus des Erzählens, an dem sie entwickelt und erprobt wurde: für den Typus des verbalen Erzählens. Für das Erzählen mit den Dingen gilt sie nicht. Im Gegenteil: Der Vergleich mit den schier unbegrenzten Potenzialen der leicht beweglichen Verbalsprache wirft die Frage auf, ob von einem Erzählen mit den eher schwerfälligen Dingzeichen überhaupt anders als metaphorisch die Rede sein kann. Die Gelehrten der Akademie von Lagado, bzw. einige von ihnen, die Gulliver auf seiner Reise nach Balnibarbi besuchen durfte, wollten es genau wissen und entschlossen sich die Frage empirisch zu prüfen. Sie entwarfen ein großangelegtes Experiment, bei dem die Menschen nicht mehr die sprachlichen Zeichen der Dinge, sondern diese selbst zur Verständigung benutzen sollten. Die einzige Unbequemlichkeit, die sich aus der Verwendung von Dingen statt Wörtern ergeben sollte, bestand nach Meinung der Projektmacher »nur darin, dass ein Mann, dessen Geschäft sehr groß und von verschiedener Art ist, ein Bündel auf seinem Rücken mit sich herumtragen muss, wenn er nicht im Stande ist, sich einen oder zwei starke Bediente als Begleiter zu halten.«15 Gulliver konnte dann auch auf der Straße beobachten, wie einige Probanden unter der Last ihrer Bündel beinahe zusammengebrochen sind. Doch nicht daran ist das Experiment gescheitert. In Wirklichkeit beruhte schon die Versuchsanordnung selbst von Anfang an auf einer Fehlkalkulation. Es musste zum Desaster kommen. Denn man kann mit
15 Jonathan Swift: Gulliver’s Reisen in unbekannte Länder, III. Teil, 5. Kap., S. 69.
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Dingen allein weder sich verständigen noch etwas erzählen. Es fehlen einfach die elementarsten Voraussetzungen, um die für jede Erzählung konstitutiven Zeitverhältnisse, Synchronität oder Sukzession auszudrücken, es fehlen Tempusformen und adverbiale Bestimmungen der Zeit, es fehlen Personalpronomina und Konjunktionen jeder Art, kurz: Es fehlt alles, was man braucht um eine Geschichte zu erzählen. Mit ihrem gescheiterten Experiment haben die Wissenschaftler aus Lagado ungewollt auch die Grenzen einer Narration im Museum aufgezeigt. Die Dinge sind für sich allein genommen noch kein geeignetes Erzählmedium. Doch deshalb braucht man die Flinte nicht schon ins Korn werfen. Man kann auch mit Dingen erzählen, auch im Museum, nur müssen dafür zwei Bedingungen erfüllt werden: Die erste dieser Bedingungen hätten die Wissenschaftler aus Lagado wahrscheinlich sogar anerkannt: Man braucht Platz. Um mit Dingen zu erzählen, müssen diese einer Linie entlang aufgereiht werden. Die Linie kann gerade oder gebogen sein, sie kann einen Kreis beschreiben oder im Zickzack verlaufen, sie kann sich aufspalten, verdoppeln, vervielfachen und wieder zusammenfinden, sie kann unterbrochen werden und neu ansetzen, sie kann dies und jenes tun, immer jedoch braucht sie Platz. Sie muss sich in einem Raum ausdehnen können. Die Architektur kann ihr dabei entgegenkommen. Sie kann Strecken frei machen, Längen und Breiten definieren, Durchblicke eröffnen, nach vorne und nach hinten, nach innen und nach außen, Übergänge schaffen und Wege sperren – oder auch nicht. In jedem Falle bleibt die museale Dingerzählung auf den Raum angewiesen. Er ist nicht nur der leere Behälter, in dem die Erzählung vorgetragen wird, er ist vielmehr so oder so durch Größe und Form ihr konstitutiver Bestandteil. Dem entspricht das Rezeptionsverhalten. Anders als im Falle der verbalen Erzählung sitzt der Rezipient im Museum nicht im Sessel und hört zu oder blättert im Buch, sondern schreitet die räumlich aufgereihten Dinge ab. Im Museum muss sich der Rezipient die Geschichte erlaufen. Doch da ist noch ein Problem. Die Reihe der Dinge im Raum, welche Form auch immer sie aufweist, bedeutet zunächst ja nur ein schlichtes Nebeneinander. Woher soll der Besucher wissen, dass es
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sich um eine zeitliche Folge handelt und nicht um ein einfaches ahistorisches Vergleichsetting? Wie wird aus dem räumlichen Nebeneinander ein zeitliches Nacheinander, aus der Reihe eine Sukzession, aus der Linie ein Zeitstrahl, aus dem Raumwechsel ein Zeitsprung, aus dem Blick durch die Wandöffnung ein erzählerischer Vorgriff oder Rückgriff, aus dem Übergang eine zeitliche Zäsur? Die Antwort auf diese Fragen nennt die zweite Bedingung, die für ein Erzählen mit Dingen erfüllt werden muss: Man braucht die Sprache. Auch die museale Narration ist auf Worte angewiesen. Schon für die Darstellung der einfachsten Chronologie sind mindestens adverbiale Bestimmungen wie »früher« oder »später« unverzichtbar. Je vielfältiger die Erzählperspektiven, je komplexer die Erzählstruktur, je filigraner die Ereignisverknüpfungen, desto notwendiger und desto aufwendiger werden die temporalen Bestimmungen. Allein die Sprache kann das leisten. Nur sie verfügt über die nötigen Mittel, um Zeiten und Zeitverhältnisse zu bezeichnen. Erst durch das Hinzutreten der Sprache wird aus der Anordnung der Dinge im Raum ein Zeitraum, in dem und mit dem sich die Erzählung entfaltet und den man in lockerer Anlehnung an eine Wortschöpfung des russischen Literaturwissenschaftlers Bachtin ein »Chronotop« nennen könnte. Die für jede Art von Erzählung unverzichtbare Sprache darf im Museum allerdings nicht den Kontakt, und zwar den Sichtkontakt, zu den Dingen verlieren, sie muss immer auf das vorliegende Exponat bezogen bleiben und deshalb im Vergleich zu der situationsunabhängigen Sprache der Romane und Geschichtsbücher, die man überall lesen kann, überproportional viele deiktische Ausdrücke aufweisen. Andernfalls besteht die Gefahr, dass die dinglichen Exponate zu bloßen Aufhängern oder Illustrationen von Geschichten verkommen, die man auch ohne sie und an jedem anderen Ort erzählen könnte. Diese Gefahr sehe ich bei dem Ausstellungstypus, der unter dem Namen musée sentimentale bekannt wurde. In der Variante, die Daniel Spoerri, der Erfinder des musée sentimentale, 1979 im Kölner Kunstverein realisierte, wird die Geschichte der rheinischen Großstadt nicht mit den Dingen, sondern zu den Dingen erzählt. Die Dinge, meist Relikte aus dem Alltagsleben und einige
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Kultgegenstände, wurden zum bloßen Anlass von sprachlichen Erzählungen und Anekdoten, die auch ohne Dingpräsenz in einem gesonderten Buch allein für sich verständlich gewesen wären. Wenn man diese Gefahr einer gegenüber den Exponaten verselbständigten Erzählung im Auge behält und außerdem die genannten zwei Bedingungen, die Raumabhängigkeit und die Sprachunterstützung, respektiert, dann ist das Museum ein Eldorado für das Erzählen mit den Dingen. Es lassen sich wahrscheinlich unendlich viele Geschichten mit Dingen erzählen, je nachdem wie man kontextuiert, wie man verknüpft und welche Perspektive man wählt. Man kann die Geschichten parallel erzählen, man kann sie kontrastieren und man kann sie interferieren lassen. Alles ist möglich. Für jede Geschichte gibt es allerdings eine Referenzerzählung. Sie wird von der Wissenschaft geliefert und setzt die Norm, an der sich alle anderen orientieren und messen lassen müssen. Die Wissenschaft ist in unserer Kultur die Instanz, die darüber entscheidet, ob eine Geschichte wahr ist oder nicht. Sie definiert die methodischen Bedingungen, die erfüllt sein müssen, um historische Sachverhalte ermitteln, sichern und als »Fakten« ausgeben zu können. Narrative, die sich an diese Vorgaben halten, die den Filter der wissenschaftlichen Erhebungsund Prüfungsverfahren erfolgreich passiert haben, dürfen erwarten, dass ihr Geltungsanspruch auf Wahrheit anerkannt wird. Sie verfügen in unserer modernen Welt über einen Status, der die Funktion der alten Offenbarungsgeschichten und bisweilen auch ihren Verkündigungsgestus geerbt hat. Jedenfalls scheinen das manche Museumsbesucher so zu sehen. Sie lassen sich von dem Wahrheitsanspruch der wissenschaftlichen Geschichten einschüchtern und sind bereit entweder – bildlich gesprochen – in die Knie zu gehen und die präsentierten Botschaften als unumstößliche Gewissheiten gläubig hinzunehmen oder sich zurückzuziehen in die private Welt ihrer subjektiven Assoziationen. Doch solche Reaktionsweisen beruhen natürlich auf einem Missverständnis. Denn das Charakteristische an den wissenschaftlichen Erzählungen ist ja, dass ihre Wahrheit nur hypothetischer, d.h. vorläufiger Natur ist. Sie gilt bloß solange, wie sie nicht widerlegt wird. Deshalb müssen die
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wissenschaftlichen Geschichten so erzählt werden, dass sie für Revisionen offen bleiben. Das Ziel muss sein, die Besucher selbst in dieses Revisionsgeschäft einzubeziehen, sie als Co-Autoren der wissenschaftlichen Narration im Museum zu gewinnen. Das wird um so eher gelingen, je mehr die Besucher den Eindruck haben, dass die Geschichten, die im Museum erzählt werden, nicht der politisch kastrierten und ökonomisch motivierten Eventkultur Tribut zollen, sondern ihre eigenen Interessen, die Interessen der Besucher, zur Sprache bringen und sie über die Bedingungen ihrer Existenz, die historischen, aber auch die aktuellen, aufklären.
L ITERATUR Baudrillard, Jean: For a Critique of the Politial Economy of the Sign, St Louis: telos press 1981. Derrida, Jacques: Grammatologie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1983. Droysen, Johann Gustav: Historik. Vorlesungen über Enzyklopädie und Methodologie der Geschichte, Darmstadt 1960. Fillmore, Charles J.: »Pragmatik und die Beschreibung der Rede«, in: M. Auwärter/E. Kirsch/M. Schröter (Hg.), Seminar: Kommunikation, Interaktion, Identität, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1976, S. 191220. Foucault, Michel: Die Ordnung der Dinge, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1974. Kallmeyer, W./Schütze, F.: »Zur Konstitution von Kommunikationsschemata der Sachverhaltsdarstellung, in: D. Wegener (Hg.), Gesprächsanalysen, Hamburg: Buske 1977. Labov, William/Waletzky, J.: »Erzählanalyse: mündliche Version persönlicher Erfahrungen«, in: J. Ihwe (Hg.), Literaturwissenschaft und Linguistik II, Frankfurt a.M.: Fischer-Athenäum 1973, S. 78126. Lacan, Jacques: Schriften II, Olten und Freiburg: Walter 1975. Lämmert, Eberhart: Bauformen des Erzählens, Stuttgart: Metzler 1955.
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Lévi-Strauss, Claude: Mythologica I-IV, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1976. Paul, Jean: Sämtliche Werke, Bd. 2, Teil 1, München: Hanser 2007. Propp, Vladimir: Morphologie des Märchens, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1975. Schlegel, Friedrich: Kritische Schriften, München: Hanser 1964. Scholze, Jana: Medium Ausstellung. Lektüren musealer Gestaltung in Oxford, Leipzig, Amsterdam und Berlin, Bielefeld: transcript 2004. Searle, John Roger: Sprechakte, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1971. Siepmann, Eckhard: Alchimie des Alltags. Das Werkbund-Archiv. Museum der Alltagskultur im 20. Jahrhundert. Gebrauchsanweisung für einen neuen Museumstyp, Frankfurt a.M.: Anabas 1987. Stanzel, Franz Karl: Theorie des Erzählens, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1979. Swift, Jonathan: Gulliver’s Reisen in unbekannte Länder. Übersetzt von: Dr. Fr. Kottenkamp mit 450 Bildern und Vignetten von Grandville, Stuttgart: Verlag Adolph Krabbe 1843. Todorov, Tzvetan: »Die Kategorien der literarischen Erzählung«, in: H. Blumensath (Hg.), Strukturalismus in der Literaturwissenschaft, Köln: Kiepenheuer & Witsch 1972, S. 263-294. White, Hayden: Auch Klio dichtet. Die Fiktion des Faktischen. Studien zur Topologie des historischen Diskurses, Stuttgart: Klett-Cotta 1986.
Besucherorientierung im Museum für Kommunikation in Bern Die Dauerausstellungen über Computer und Briefmarken J AKOB M ESSERLI
Das Museum für Kommunikation in Bern wurde 1907 als Schweizerisches Postmuseum gegründet, 1949 um den Sammlungsbereich Telekommunikation erweitert und in PTT-Museum umbenannt. Im Zuge der Liberalisierung und Entstaatlichung von Post und Telekommunikation in den 1990er Jahren wurde das PTT-Museum 1997 zum Museum für Kommunikation. Getragen wird es von der Schweizerischen Stiftung für die Geschichte der Post und Telekommunikation, die durch die beiden 1 Unternehmen Swisscom und Schweizerische Post finanziert wird. Mit der Namensänderung einher ging eine Neupositionierung: Aus dem ehemals technikorientierten Firmenmuseum wurde ein kulturhistorisches Museum zum Thema Kommunikation. Neue Sammlungsschwerpunkte wie Computer und Neue Medien kamen dazu. Deutlichster Ausdruck der Neupositionierung war die komplette Erneuerung der
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Eine kurze Darstellung der Geschichte des Museums findet sich unter www.mfk.ch/geschichte.html (Stand: 26.03.2011).
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Dauerausstellungen des Museums in den Jahren 1998/99 bis 2007. In einer ersten Etappe entstand die 2003 eröffnete Ausstellung Nah und fern: Menschen und ihre Medien. Sie gibt einen Überblick über die Kommunikation und ihre Entwicklung von der Körpersprache bis zum 2 Austausch von Informationen mittels alter und neuer Medien. Die zweite Etappe umfasste zwei Ausstellungen: As Time Goes Byte: Computer und digitale Kultur sowie Bilder, die haften: Welt der Briefmarken, die beide 2007 eröffnet wurden. Bei beiden Ausstellungen spielte die Besucherorientierung eine wichtige Rolle. Im Folgenden geht es um diese beiden Dauerausstellungen. Ich skizziere anhand von Beispielen einige der zentrale Überlegungen und Grundsätze, von denen 3 wir uns bei beiden Ausstellungen haben leiten lassen.
AS T IME G OES B YTE : C OMPUTER UND DIGITALE K ULTUR In der Schweiz gehörten die PTT-Betriebe zu den ersten Nutzern von Großrechnern. Und weil diese Großcomputer nach ihrer Außerbetriebnahme in die Sammlung des PTT-Museums aufgenommen worden waren, verfügte das Museum für Kommunikation 1997 über eine gute Grundlage, auf der in den Folgejahren systematisch eine bedeutende Computersammlung aufgebaut werden konnte. Diese Sammlung bildet die Grundlage für die Dauerausstellung As Time Goes Byte: Computer und digitale Kultur.
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Vgl. dazu die Informationen auf der Website des Museums für Kommunikation unter www.mfk.ch/abenteuer0.html (Stand: 26.03.2011).
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Der Autor war von 2003 bis 2010 Direktor am Museum für Kommunikation. Neben ihm gehörten Rolf Wolfensberger, Beatrice Tobler und Gallus Staubli zum Projektteam der Ausstellung As Time Goes Byte: Computer und digitale Kultur und Rolf Wolfensberger, Ueli Schenk, Jean-Claude Lavanchy, Monika Litscher und Gallus Staubli zum Projektteam der Ausstellung Bilder, die haften: Welt der Briefmarken.
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Den Besuchern wird bereits im Einleitungstext der Ausstellung knapp und präzise offengelegt, um was es in der Ausstellung geht: »Wir leben in einer digitalen Welt. Keine andere Technologie hat unser Leben in derart kurzer Zeit so grundlegend verändert wie die Informations- und Computertechnologie. Computer sind heute allgegenwärtig, sie werden immer kleiner, immer leistungsfähiger und übernehmen immer neue Funktionen. Ohne sie ist Kommunikation kaum noch vorstellbar. Und trotzdem: wir Menschen sind und bleiben analoge Wesen. Die Ausstellung »As Time Goes Byte: Computer und digitale Kultur« zeigt die Entwicklung von der Mitte des vorigen Jahrhunderts bis in die Gegenwart.« Mit zwei Objekten wird dieser Einleitungstext ins Bild gesetzt (vgl. Abb. 1). Die ERMETH, die Elektronische Rechenmaschine der Eidgenössischen Technischen Hochschule, wurde 1956 in Betrieb genommen. Dieser erste in der Schweiz gebaute Computer wiegt 3,5 Tonnen, hat eine Speicherkapazität von 80 Kilobyte und eine Taktfrequenz von 32 Kilohertz. Ihm gegenübergestellt ist ein früher Personal Digital Assistant (PDA), der Palm Pilot von 1997, mit einem Gewicht von 150 Gramm (23 333 mal leichter als die ERMETH), einer Speicherkapazität von 512 Kilobyte (6,4 mal mehr als die ERMETH) und einer Taktfrequenz von 16 Megahertz (500 mal schneller als die ERMETH). Mit diesem suggestiven Objektensemble ist die Fragestellung der Ausstellung ins Bild gesetzt: Wie kam es, dass innerhalb von nur 40 Jahren aus einem raumfüllenden Großrechner, den nur Fachleute bedienen konnten, ein omnipotentes und omnipräsentes Gerät im Westentaschenformat für jedermann wurde? Der Einleitungstext und die beiden Objekte illustrieren zwei unserer Leitlinien: Wir nehmen die Besucher bei der Hand und sagen ihnen knapp und präzise, um was es geht (Metaebene). Sie erhalten einen klaren Rahmen und werden nicht im Dunkeln gelassen. Wir vereinfachen: Eine komplexe und komplizierte Entwicklung wird aus einer Perspektive als eine große Linie erzählt (keep it simple). Als Angebote zur Vertiefung gibt es darin viele kleine Erzählungen.
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Abb. 1: Der Großrechner ERMETH von 1956 und der Palm Pilot von 1997 (vorne rechts). © Museum für Kommunikation/Lisa Schäublin.
Die Ausstellung geht der Ausgangsfrage in sechs Teilen nach: • • • • • •
Die ersten Computer Silizium verändert die Welt 0 und 1 Computer für alle und alles Ein Fenster in die Gegenwart und die Zukunft Game Lounge und mehr
Der Ausstellungsteil Computer für alle und alles ist der umfangreichste und zeigt, wie der Computer als Personal Computer (PC) sich dem Menschen angepasst hat und zum populären, allgegenwärtigen und allmächtigen Medium werden konnte. Er beinhaltet diese Abschnitte: • •
Schreibtisch, Fenster, Maus: Der Computer passt sich dem Menschen an. Unterwegs mit dem Computer: Vom Koffer in die Westentasche
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Computer als Spielplatz: Elektronische Spiele eröffnen eine neue Welt. Der Computer lernt kommunizieren: Die Verbindung von Informations- und Kommunikationstechnologie Software: Wie sagen wir dem Computer, was er tun soll? PC-Design: Computer sind nicht nur grau-beige. Peripheriegeräte: Der Computer kann (fast) alles. Zusätzlich gibt es in diesem zentralen Ausstellungsteil vier Abschnitte, die den Einfluss des PCs und der digitalen Technologien auf den Menschen zum Thema haben: Das digitale Gedächtnis Computer gehen unter die Haut. Vernetzung macht verletzlich. Geteilte Welt
Diese Unterteilung der Ausstellung ist Ausdruck einer weiteren für uns zentralen Leitlinie: Die Ausstellung soll eine klare Struktur und eine leichte Lesbarkeit haben. Neben der Metaebene, auf der wir den Besuchern sagen, um was es geht, und der Vereinfachung waren uns weitere Leitlinien wichtig: Der Museums-/Ausstellungsbesuch soll Spaß machen. Besucher sollen selber etwas entdecken bzw. herausfinden können. In vielen Fällen ist es hilfreich, den Besuchern dazu eine Aufgabe zu stellen. Die Ausstellung soll unterschiedliche Sinne ansprechen. Besucher sollen sich zur Thematik in Beziehung setzen können.
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Wir nutzen, wo immer möglich, einfache Lösungen. In einer Ausstellung zu einem Hightech-Gegenstand setzen wir bei den vermittelnden Medien bewusst auf einen Lowtech-Ansatz. Diese Leitlinien lassen sich besonders gut mit Spielen oder spielerischen Aufgaben umsetzen. Dies zeigen die folgenden drei Beispielen. Nachdem im Ausstellungsteil Silizium verändert die Welt die Bedeutung der Halbleiter für die Geschichte des Computers thematisiert wurde, geht es im dritten Teil 0 und 1 um das binäre Zahlensystem und damit um eine zentrale Grundlage von Computertechnologie und digitaler Kultur. Wir entschieden uns für einen spielerischen Zugang zu diesem abstrakt-mathematischen Thema (vgl. Abb. 2). Mit Hilfe einer Art »Flipperkasten« können Dezimalzahlen in Binärzahlen umgewandelt werden. Der Weg, den eine Kugel zu einer Dezimalzahl zurücklegt, bestimmt die Binärzahl. Deren Eigenheiten können gewissermaßen zuerst erfahren und anschließend – und im Idealfall – verstanden werden.
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Abb. 2: Umwandlung von Dezimalzahlen in Binärzahlenauf spielerische Art. © Museum für Kommunikation/Lisa Schäublin.
Im Abschnitt Software: Wie sagen wir dem Computer, was er tun soll? aus dem Ausstellungsteil Computer für alle und alles geht es unter anderem um den Algorithmus. Dieser wird durch die Analogie zum Kochrezept erklärt. Konsequenterweise ist deshalb dieser Ausstellungsteil als Küche gestaltet (vgl. Abb. 3). Ein anderes Thema in diesem Abschnitt sind proprietäre und freie Software. Dieses Thema wird mit Hilfe eines einfachen Leiterspiels am Küchentisch dargestellt. Wir waren im Vorfeld skeptisch, ob Ausstellungsbesucher sich effektiv im Museum an einen Küchentisch setzen und zusammen ein unspektakuläres Leiterspiel spielen würden. Auch kauften wir vorab eine beträchtliche Menge an Ersatzspielfiguren und Ersatzwürfeln. Unsere Zweifel
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und Befürchtungen erwiesen sich als unbegründet: Das Spiel wird fleißig gespielt und Spielfiguren und Würfel kommen kaum abhanden. Abb. 3: Software: Wie sagen wir dem Computer, was er tun soll? Am Küchentisch das Leiterspiel zum Thema proprietäre und freie Software. © Museum für Kommunikation/Lisa Schäublin.
Beim dritten Beispiel bestand die Herausforderung darin, Besucher dazu zu bringen, sich mit Peripheriegeräten auseinanderzusetzen. Zwölf verschiedene Peripheriegeräte wie Tastatur, Drucker, Scanner usw. sind ausgestellt (vgl. Abb. 4). Wir entschieden uns sowohl für einen spielerischen als auch für einen akustischen Zugang in Form eines »Geräuschequiz«. Dazu zeichneten wir die spezifischen Geräusche auf, die jedes Peripheriegerät macht. Mit Hilfe eines Zufallsgenerators ist jeweils ein Geräusch zu hören, wenn man einen Schlauch ans Ohr hält. Dieser Schlauch muss anschließend bei jenem Peripheriegerät in eine Buchse gesteckt werden, von dem der Besucher annimmt, es mache im Betrieb das entsprechende Geräusch. Ist die Zuordnung richtig, wird das Gerät in der Vitrine beleuchtet. Die Anzahl der Versuche, die ein Besucher zur Verfügung hat, ist nicht limitiert. Sind am Schluss alle zwölf Peripheriegeräte beleuchtet, wird dem Besucher noch die Anzahl der dafür benötigten Versuche angezeigt.
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Abb. 4: Ausstellungsbereich zu den Peripheriegeräten. © Museum für Kommunikation/Lisa Schäublin.
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Bei der Neupositionierung des Museums war früh klar, dass das Museum für Kommunikation eine Dauerausstellung über Computer zeigen würde. Bei den Briefmarken dagegen waren wir unsicher. Die traditionelle philatelistische Dauerausstellung mit ihren rund 2250 Schiebern stieß in den 1990er und frühen 2000er Jahren auf nur noch geringes Interesse, Besucher waren darin Mangelware. Wäre es da nicht folgerichtig und konsequent, dem Zeitgeist zu folgen und Briefmarken gar nicht mehr auszustellen? Wir verneinten schließlich die Frage und entschieden uns für die Briefmarken, aber gegen die Philatelie. Briefmarken sind kulturhistorische Objekte par excellence, sie haben eine enorm große Verbreitung und sind, ikonografisch betrachtet, ein sehr aufschlussreiches Kulturgut. Mit der Dauerausstellung Bilder, die haften: Welt der Briefmarken wollten wir nicht mehr Philatelisten ansprechen, sondern in erster Linie das klassische Publikum des Museums für Kommunikation: Familien und Schulen. Der Einleitungstext zur Aus-
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stellung macht auch hier klar, um was es geht, dass wir nämlich Briefmarken als Bilder verstehen: »Mit Briefmarken frankieren wir unsere Post. Aber die Briefmarke ist mehr als ein alltäglicher Gebrauchsgegenstand. Sie ist ein Spiegel der Welt. Die Bilder auf den Marken erzählen uns spannende Geschichten. Mit jedem Briefmarken-Motiv wird eine Botschaft verbreitet, manchmal klar und offensichtlich, manchmal hintergründig und versteckt – aber immer mit Absicht. Briefmarken sind interessante Zeitzeugen, die viel über ihr Herkunftsland und ihre Entstehungszeit verraten.« Weil die Anziehungskraft des Objektes Briefmarke limitiert ist, entschieden wir uns für eine Ausstellung in zwei Teilen. Der erste Teil hat primär die Aufgabe, die Besucher anzuziehen und überhaupt erst in die Ausstellung hineinzubringen, er hat die Funktion eines Teasers. Dazu schufen wir eine begehbare Welt aus 130 Schweizer Briefmarken, die jeweils so vergrößert wurden, dass ihr Motiv ungefähr den realen Dimensionen entspricht (vgl. Abb. 5). Abb. 5: Der erste Raum der Ausstellung »Bilder, die haften: Welt der Briefmarken«. © Museum für Kommunikation/ Lisa Schäublin.
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In dieser Welt der Briefmarken gibt es zusätzlich eine vielstimmige Tonlandschaft und eine interaktive Station Meine Briefmarke, an der Besucher eine eigene Briefmarke entwerfen, ausdrucken und nach Hause nehmen können. Bei diesem ersten Raum ließen wir uns von folgenden Grundsätzen leiten: Wir unterlaufen bestehende Seh- und Wahrnehmungsformen, indem wir einen kleinen Gegenstand ganz groß zeigen. Wir wollen die Besucher zum Staunen bringen. Wir bieten die Möglichkeit, sich dem Gegenstand Briefmarke spielerisch zu nähern. Im zweiten Raum wird die eigentliche Ausstellung gezeigt. Sie besteht aus sieben räumlich kleinen Ausstellungseinheiten und 750 Schiebern (vgl. Abb. 6). Die sieben Einheiten beleuchten sieben unterschiedliche Aspekte der Briefmarke als Bild: • • • • • • •
Helden der Nation? Patriotische Bildmotive auf Schweizer Briefmarken Karl Bickel: der Künstler, der elf Milliarden Schweizer Briefmarken gestaltete Die Ersten: die ersten Briefmarken der Welt und der Schweiz Mit wehenden Fahnen: politische Propaganda zum Aufkleben Objekte der Begierde: die wertvollsten Briefmarken der Welt Lady Diana – Queen of Hearts: von der Prinzessin zum Star Nur Sender kann man orten: der Schweizer Künstler H.R. Fricker und die Mail-Art-Bewegung
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Abb. 6: Der zweite Raum der Ausstellung »Bilder, die haften: Welt der Briefmarken«: Sieben Ausstellungseinheiten, hier zum Thema »Lady Diana – Queen of Hearts«: von der Prinzessin zum Star. © Museum für Kommunikation/Lisa Schäublin.
Unter dem Titel Helden der Nation? Patriotische Bildmotive auf Schweizer Briefmarken wird beispielsweise auf lediglich einem Quadratmeter die Geschichte des erfolgreichen Schweizer Nationbuilding in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und des nationalen Selbstverständnisses der Schweiz von 1848 bis in die Gegenwart thematisiert (vgl. Abb. 7). Der 1848 gegründete Schweizer Bundesstaat hatte keine gemeinsamen Helden – und keinen Monarchen, die sich als Sujets für die nationalen Briefmarken angeboten hätten. Stattdessen zierte während Jahrzehnten die allegorische Figur der Helvetia die Postwertzeichen. Erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts war die Konstruktion einer gemeinsamen schweizerischen Geschichte so weit fortgeschritten, dass Tell und der Tellensohn auf Briefmarken abgebildet werden konnten. Von den 1920er bis zu den 1940er Jahren finden sich neben Generälen auch Henri Dunant und Johann Heinrich Pestalozzi als Briefmarkensujets und in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vermehrt nationale Unternehmen wie die Schweizerischen Bundesbahnen, die Schweizerische Post oder die Swissair. In den 1990er Jahren wurde erstmals eine Comicfigur und 2007 mit Roger Federer erstmals eine lebende Person auf einer Schweizer Briefmarke abgebildet. Mit Briefmarken können große Themen auf wenig Raum gezeigt werden.
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Abb. 7: Der zweite Raum der Ausstellung »Bilder, die haften: Welt der Briefmarken«. Studiensammlung in 750 Schiebern. © Museum für Kommunikation/Lisa Schäublin.
Das gilt auch für das Thema Mit wehenden Fahnen: politische Propaganda zum Aufkleben. Zum einen werden Briefmarken mit den beiden »klassischen« Motiven der Hissung der Sowjetfahne 1945 auf dem Deutschen Reichstag in Berlin sowie der US-Fahne ebenfalls 1945 auf Iwo Jima im Pazifik gezeigt. Zum andern eine Installation, bei der zuerst nur ein Bild gezeigt wird. Der Besucher muss selber herausfinden, aus welchem Land eine Briefmarke mit diesem Motiv stammen könnte. Dabei ergeben sich überraschende Ergebnisse. Die bereits erwähnten Leitlinien, den Besuchern eine Aufgabe zu geben und das spielerische Element, finden sich auch in dieser Installation wieder. Die 750 Schieber bieten einerseits die Möglichkeit, das in den sieben Ausstellungseinheiten Präsentierte in der Sammlung zu finden und zu vertiefen. Andererseits wird in ihnen immer noch die umfangreichs-
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te Schweizer Briefmarkensammlung als Studiensammlung gezeigt. Dazu kommt eine Auswahlpräsentation ausländischer Briefmarken. Als Interface zu dieser Studiensammlung stehen den Besuchern Lupen zur Verfügung. Die in diesem Beitrag skizzierten Grundsätze, die uns bei den beiden Ausstellungen As Time Goes Byte: Computer und digitale Kultur und Bilder, die haften: Welt der Briefmarken geleitet haben, sind Ausdruck einer konsequenten Besucherorientierung des Museums für Kommunikation. Von dieser Haltung haben wir uns von Beginn weg leiten lassen. Am Anfang stand eine lange Phase, in der ein Masterplan für die Dauerausstellungen entwickelt wurde: Inhalte, zentrale Aussagen, Erzählstruktur, Schlüsselobjekte, emotionale und kognitive Erlebnisse der Besucher, räumliche Struktur, Medien, szenografische und 4 museologische Zugänge wurden dabei festgelegt. Bei diesen Diskussionen ging es immer wieder auch um Fragen wie: Wer sind unsere Besucher? Wen wollen wir als unsere Besucher? Für wen machen wir unsere Dauerausstellungen? Welche Erzählungen sind für unsere Besucher relevant? Welche Erzählungen verstehen unsere Besucher? Welche Erzählungen faszinieren unsere Besucher? Welchen Erzählstil wählen wir? Für die Ausstellung As Time Goes Byte: Computer und digitale Kultur entschieden wir uns zusätzlich, eine Front-End Evaluation 5 durchzuführen. Für das Museum für Kommunikation hat sich diese konsequente Besucherorientierung bewährt: So wurde die Ausstellung As Time Goes Byte: Computer und digitale Kultur 2008 von der Society for the History of Technology (SHOT) mit dem Dibner Award for Excellence in Museum Exhibits ausgezeichnet. Die Begründung für die Preis-
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Der Masterplan entstand in Zusammenarbeit mit der Firma GSM Design aus Montreal.
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Vgl. dazu Wegner, Nora: Front-End Evaluation – Eine Antwort auf neue Herausforderungen an Museen? Beispielhaft dargestellt an einer Untersuchung am Museum für Kommunikation Bern. Magisterarbeit im Fach Kulturwissenschaft an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg, 2005.
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verleihung nahm direkt auf die Besucherorientierung Bezug. Und – wichtiger als jeder Preis – nach Abschluss der Neupositionierung ist das Museum für Kommunikation in der Publikumsgunst gestiegen, es zählt im Schnitt pro Jahr gut doppelt so viele Besucher wie früher.
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»Computers form a major part in the collective memory and imagination of most citizens in the industrialized world. These remarkable machines have changed how people live and work in fundamental ways, yet the compelling story of this critical technology is difficult to display and interpret in a museum setting, especially to a lay audience. Explaining the concepts, functioning, power, limits, and development of computers to nonspecialists beyond a simple, progress-oriented narrative is a challenging endeavor. In a typical exhibit, computers appear as silent objects encased in a metal or plastic box, perhaps with an attached screen and keyboard. Rarely do they function; they are inert, lacking the visual appeal of a steam engine, a spinning jenny, or an early modern clockwork. The Museum of Communication in Berne, Switzerland, has […] overcome virtually all the possible obstacles previously encountered in presenting the story of this vital technology. This is a remarkable accomplishment, especially as the exhibit is directed specially towards a broad audience, particularly families and schools.« (Begründung für die Vergabe des Dibner-Preises 2008 an das Museum für Kommunikation)
Erzählen im jüdischen Museum F ELICITAS H EIMANN -J ELINEK
Die Frage, was man mit Dingen erzählen kann, soll oder gar muss, ist eine brisante Frage für alle jüdischen Museen im 21. Jahrhundert. Schlüsselfrage ist allerdings, was ein jüdisches Museum, insbesondere in Europa, überhaupt erzählen kann, soll oder muss – jenseits der Frage, ob mit Dingen oder vielleicht auch gar ohne. Soll ein jüdisches Museum in Europa im 21. Jahrhundert das erzählen, was an anderen Orten nicht erzählt wird, jene entlasten, die nicht erzählen, gar für sich reklamieren, was Aufgabe aller ist? Soll es ein Ort der Aufklärung durch Belastung sein, soll es ein Ort der Nachlassverwaltung jüdischer Geschichte und Kultur sein? Soll es ein Memorialraum sein, der Erinnerungen archiviert und Gedächtnis aktiviert? Oder soll es ein Ort der Verunsicherung sein? Die Geschichte der jüdischen Museen und Sammlungen im Europa der Vorkriegszeit ist in den letzten rund 25 Jahren profunder aufgearbeitet worden1, auch die Geschichte der jüdischen Nachkriegsmuseen
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Vgl. eine Auswahl an Publikationen: F. Heimann-Jelinek/G. Heuberger (Hg.): Was übrig blieb. Das Museum Jüdischer Altertümer in Frankfurt 1922-1938. I. Benoschofsky/A. Schreiber (Hg.): Das Jüdische Museum in Budapest. B. Kirshenblatt-Gimblett: Vom Kultus zur Kultur. Jüdisches auf Weltausstellungen; J.D. Feldmann, Die Welt in der Vitrine und außerhalb:
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auf dem Boden vormaliger NS-Herrschaft rückte in den Fokus von Museumsmachern und Museumsbetrachtern.2 Über das Schicksal jüdi-
die soziale Konstruktion jüdischer Museumsexponate; M. Brock-Nannestad: Jüdische Museologie. Entwicklungen der jüdischen Museumsarbeit im deutsch-jüdischen Kulturraum; M.E. Keen: Die »Anglo-Jewish Historical Exhibition« und die Judaica-Sammlung des Victoria & Albert Museums; C. Daxlmüller: Dr. Max (Meir) Grunwald, Rabbiner, Volkskundler, Vergessener. Splitter aus der Geschichte des jüdischen Wiens und seines Museums; F. Wiesemann: Das Jüdische Zentralmuseum für MährenSchlesien in Nikolsburg,; G. Kohlbauer-Fritz: Judaicasammlungen zwischen Galizien und Wien. Das Jüdische Museum in Lemberg und die Sammlung Maximilian Goldstein, alle in: J.H. Schoeps et al. (Hg.), Wiener Jahrbuch für Geschichte, Kultur und Museumswesen, Bd. 1. D.M. Swetschinski/J.-M. Cohen/S. Hartog: Orphan Objects: Facets of the Textiles Collection of the Joods Historisch Museum. L. Sigal : Museum Guide (Art & History of Judaism): Musee d’art et d’histoire du Judaisme. C.C. Schütz/H. Simon (Hg.), Karl Schwarz. Jüdische Kunst – Jüdische Kultur. Erinnerungen des Direktors des ersten Berliner Jüdischen Museums.K. Rauschenberger, Jüdische Tradition im Kaiserreich und in der Weimarer Republik. J. Hoppe, Jüdische Geschichte und Kultur in Museen. Zur nichtjüdischen Museologie des Jüdischen in Deutschland. M. Veselská: Jewish and Related Museums in Czechoslovakia in the First Republic. F. Heimann-Jelinek/W. Krohn (Hg.): Das Erste: Das erste jüdische Museum. I. Bertz: Das erste Jüdische Museum in Berlin. M. Korey: Fragments of Memory: The Temple of Solomon in the Zwinger of Dresden. 2
Vgl. eine Auswahl an Publikationen:A. Parik: Das Jüdische Museum in Prag. Seine Entwicklung und Geschichte seit 1945; C. Kugelmann: Das Jüdische Museum als Exponat der Zeitgeschichte. Das Beispiel Frankfurt. Ein Lagebericht und Versuch einer Einordnung; E. Grabherr: »Erinnerung ist Erinnerung an etwas Vergessenes«. Die Wiederentdeckung der jüdischen Geschichte in einer Kleinstadt der österreichischen Provinz, alle in: J.H. Schoeps et al. (Hg.), Wiener Jahrbuch für Geschichte, Kultur und Museumswesen, Bd. 2. E. Dorner/D. Libeskind: Jüdisches Museum Berlin. R.E. Gruber: Virtually Jew-
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IM JÜDISCHEN
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scher Museen während der NS-Zeit wurde ebenfalls bereits vielfach publiziert, auch wenn es auf diesem Gebiet noch relativ viel Forschungsarbeit zu leisten gilt.3 Strategien zur Präsentation von jüdischer Geschichte und Kultur in einigen jüdischen Nachkriegsmuseen finden sich ebenfalls in einschlägigen Publikationen diskutiert.4 Eine theoretische Auseinandersetzung darüber, was die jüdischen Museen in den historischen Tätergesellschaften jenseits von kulturpolitischer Wiedergutmachung tatsächlich beinhalten sollen, gibt es jedoch nicht. Bewertet man allgemeine Ziele wie Erziehung zur Toleranz, Geschichte erklären, über Religion aufklären, Verständnis für die jüdische Kultur schaffen, Versöhnung mit den Opfern suchen, als das was sie tatsächlich sind, nämlich Worthülsen von angesichts des Ausmaßes zeithisto-
ish. Reinventing Jewish Culture in Europe.G. Cohen Grossman: Jewish Museums of the World. 3
Vgl. eine Auswahl an Publikationen: B. Purin (Hg.): Beschlagnahmt. Die Sammlung des Wiener Jüdischen Museums nach 1938. D. Rupnow: Täter – Gedächtnis – Opfer. Das »Jüdische Zentralmuseum« in Prag 1942-1945. M. Veselská: The Problem of Identifying »Collection Points« in the German Catalogue of the Jewish Museum in Prague, in: L. Kybalová, E. Kosáková, A. Putík (Hg.), Textiles from Bohemian and Moravian Synagogues from the Collections of the Jewish Museum in Prague. M. Veselská: Defying the Beast. The Jewish Museum in Prague, 1906-1940. M. Veselská: »Where Did All the Pretty Old Things Come From?« – Judaica Provenance Research at the Jewish Museum in Prague. F. HeimannJelinek: Zur Provenienzforschung im Jüdischen Museum Wien, in: K. Albrecht-Weinberger/A. Stalzer, 15 Jahre Jüdisches Museum Wien im Palais Eskeles. J.-M. Cohen: Dealing with Looted Art. The Pre-war Collection of the Jewish Historical Museum of Amsterdam Reexamined.
4
Vgl. S. Offe: Ausstellungen, Einstellungen, Entstellungen. Jüdische Museen in Deutschland und Österreich. G. Fliedl/S. Offe: Die Dauerausstellung des Jüdischen Museums der Stadt Wien, in: H. Landsmann (Hg.), Wiener Jahrbuch für jüdische Geschichte, Kultur und Museumswesen 6. K. Pieper: Diaspora und Migration als neues Paradigma in Jüdischen Museen.
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rischer Barbarei hilflosen politischen Entscheidungsträgern, so bleibt kein substantieller Ansatz übrig. Zu der Frage, was diese Museen inhaltlich leisten sollen und können, gehört zweifellos die Frage, welchen Narrationen sie folgen sollten. Wenn darüber reflektiert werden soll, welchen Beitrag ein europäisches jüdisches Museum im 21. Jahrhundert im kulturellen Kontext leisten kann, dann möchte ich zur Diskussion stellen, dass dies ein präsentativer und repräsentativer Umgang mit dem es ausmachenden Material, d.h. mit der eigenen Sammlung und dem eigenen Thema sein kann. Museen sind unserem Verständnis nach neben Bibliotheken, Theatern und Opernhäusern etc. die Horte von Hochkultur. Sie sind Horte materieller Objektkultur. Museen als Orte von Sammlungen sind Kulturträger, Museen als Orte von Ausstellungen sind Kulturvermittler. Sie stellen das von ihnen verwaltete Kulturgut nicht als Abstraktum zur Verfügung, sondern in einen bestimmten, zielgerichteten Erkenntnisund Interpretationsrahmen. Und sie stellen dieses Kulturgut nicht für sich aus, sondern für eine Öffentlichkeit, die sich dieses Kulturguts bewusst werden und es sich aneignen soll. Aneignung von Kultur wird nicht nur als wünschenswert, sondern als fortschrittlich in der Geschichte gesellschaftlicher Entwicklung gesehen. Kultur funktioniert auf der Basis von Partizipation, einem scheinbar demokratischen Prinzip. Scheinbar deshalb, weil das Bildungs-, Aufklärungs- und Erkenntnisziel der Kultur nicht aus der Gesellschaft heraus nach oben, sondern vom politischen, heute zunehmend auch finanziellen Entscheidungsträger quasi nach unten formuliert wird. Museen sind Orte der Identitätsstiftung und der Repräsentation. Es sind Orte, in denen Gesellschaften ihre meist hegemonial geprägten Geschichtsbilder, ihr Geschichtsverständnis konstruieren und tradieren. Das Mittel, mit dem im Museum eine spezifische Identität gestiftet und eine Gesellschaft repräsentiert wird, ist in der Regel die Ausstellung, vor allem die Dauerausstellung. In einem kulturhistorischen Museum werden Geschichtsbilder vermittelst kuratierter Ausstellungen konstru-
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iert, die aus ganz bestimmten, gezielten Ensembles zusammengesetzt sind. Also aus dem, was in vielen Museumsdiskussionen so oft eingefordert wird, nämlich dem geschlossenen Narrativ. Die soziale und kulturelle Praxis der Gesellschaft wird durch die Präsentation von Kulturgeschichte oder einem Ausschnitt von Kulturgeschichte mittels des Mediums in der Regel affirmierend erklärt und den nächsten Generationen eben weiter vermittelt, weiter tradiert. In dieser kurzen Skizzierung der traditionellen Institution Museum mag deutlich werden, mit welcher Macht der Ort Museum ausgestattet ist und zwar mit welcher Definitionsmacht und mit welcher Handlungsmacht. Wenn der Ort Museum ein identitätsstiftender ist, geht es auch um Teilhaberschaft. Mit seinen Sammlungen schafft sich das Museum Teilhaberschaft an einer oder gar verschiedenen Kulturen, klinkt es sich in die Tradition eines kulturellen Erbes ein und macht sich selbst zum Teilhaber, gar zum Nachfahren dieser Kultur und damit zu seinem legitimen Erbe. »In the West […] collecting has long been a strategy for the deployment of a possessive self, culture, and authenticity« brachte James Clifford das Phänomen schon früh auf den Punkt.5 Mit der Konsumierung der ausgestellten Sammlung oder des präsentierten Sammlungsteiles wird die Gesellschaft, für die das Museum gegründet wurde, ebenfalls Teil dieser Kultur und damit legitimer Miterbe, was für die jüdischen Museen natürlich von zentraler Bedeutung ist. Schließlich ist das Sammlungsgut, das im Besitz vieler Museen ist, nicht unbedingt ihr kulturell legitimes Erbe oder Eigentum, wie wir wissen. Denken wir an den Louvre in Paris, an das British Museum in London mit ihren ägyptischen und vorderorientalischen und an das Pergamon Museum in Berlin mit seinen vorderasiatischen Sammlungen, so wird deutlich, dass viele ihrer Sammlungsbestände als materieller Ausdruck französischer, britischer oder deutscher, kolonialistischer und/oder imperialistischer Herrschaftsansprüche zu interpretieren sind, die mittels der Museen das Bewusstsein und Verständnis seiner Besuchergesellschaft im Sinne der hegemonialen Aspirationen ihrer Staaten lenken.
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J. Clifford: The Predicament of Culture, S. 218.
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Das kulturelle und damit auch das politische Selbstverständnis der Gesellschaft werden also je nach Maßgabe manipuliert. Denn kann man auch sagen, dass Museen und die in ihnen angebotene Kultur seit der Französischen Revolution zu einer »Verbesserung« des bürgerlichen Individuums der Gesellschaft als ganzer beitragen sollen, so steht doch außer Frage, dass mit »Verbesserung« unter anderem eine Nationalisierung, Patriotisierung und die Loyalisierung der Gesellschaft ihrem Staat gegenüber gemeint ist.6 Zusammenfassend lässt sich sagen – und ich übernehme damit ein von mir gern zitiertes Wort von Gottfried Fliedl –: »Museen sind öffentliche Räume der Kulturaneignung.« Nun beruhen diese Aneignungen vielfach auf historischen Ereignissen und Prozessen, die abgeschlossen und daher schwerlich reversibel sind. Das soll aber nicht heißen, dass diese Objekte in den Museen, in denen sie sich befinden, denen sie heute also quasi gehören, als selbstverständlich Eigenes, der Gesellschaft Zugehörendes und Zustehendes präsentiert werden können. Im Gegenteil fordert gerade das Angeeignete nach einer adäquaten Repräsentation und das heißt nach einer Repräsentation der Aneignung des Objekts. Dies wirft für die jüdischen Museen in Europa einen ganz anderen Problemkomplex auf, den man pointiert auf die Frage »Wem gehört das jüdische Kulturgut in Europa?« reduzieren könnte. Wenn es sich bei dem gesammelten Kulturgut um religiöses Kulturgut handelt, also um Kult- und Ritualobjekte, die einer lebendigen religiösen Praxis entzogen wurden, scheint die Forderung nach adäquater Repräsentation noch dringlicher. Ein Objekt, das vor 60 Jahren durch Fremdeinwirkung aus einem synagogalen oder auch privaten rituellen Zusammenhang gerissen wurde, kann heute nicht einfach als museales Kunst- oder Kulturobjekt mit dem Ziel ausgestellt werden, Auskunft über die Ästhetik des Objekts, seine kunsthistorische, kunsthandwerkliche, ethnographische, historische oder was immer für eine narrative Einordnung zu geben.
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Vgl. K. Pomian, Der Ursprung des Museums. G. Fliedl (Hg.), Die Erfindung des Museums.
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Eine adäquate Repräsentation setzt zunächst eine adäquate Beforschung der Objekte voraus. Aus Europa stammende Ritualobjekte in jüdischen Museen und das heißt, nicht nur dort, sind, soweit sie nach 1945 erworben wurden, von ihrer Provenienz her prinzipiell fragwürdig. Viele von diesen wurden als herrenloses Gut nach 1945 von der Jewish Cultural Reconstruction verteilt. Die Jewish Cultural Reconstruction (JCR) war eine Organisation, die das materielle jüdische Kulturgut Europas nach dem 2. Weltkrieg einsammelte und neuen Verwendungszusammenhängen zuführte.7 Dabei musste die Herren- und Erblosigkeit in wenigen Jahren innerhalb eines äußerst kurzen Zeitraums und mit aus heutiger Sicht sehr begrenzten öffentlichkeitswirksamen medialen Mitteln festgestellt werden. Viele andere dieser Objekte konnten gar nicht von der Jewish Cultural Reconstruction erfasst werden und gelangten in Privat- und in Händlerbesitz, aus dem sie im Laufe der Zeit zu steigenden Preisen auf dem freien Markt gehandelt wurden. Und wieder andere materielle Zeugnisse jüdischen Lebens gelangten überhaupt erst nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Systems in Osteuropa in den internationalen Handel. Ihnen gemeinsam ist die Herkunft aus Lebenszusammenhängen, die zwischen 1933 und 1945 brutal zerstört wurden und denen in den seltensten Fällen tatsächlich nachgegangen werden konnten. Als Beispiel für die Problematik können Sammlungsbestände des Jüdischen Museums Wien dienen, das nebstbei über keine Jewish Cultural Reconstruction-Bestände verfügt und überhaupt erst 1990 gegründet wurde, von dem also anzunehmen wäre, es könne über keine
7
www.jmberlin.de/raub-und-restitution/de/glossar_j.php: »Schon vor Kriegsende stellten jüdische Intellektuelle und Juristen in den USA Überlegungen zum kulturellen Wiederaufbau jüdischen Lebens an. Sie mündeten 1947 in die Gründung der Nachfolgeorganisation Jewish Cultural Reconstruction, Inc. (JCR). Seit 1949 fungierte die JCR als Bevollmächtigte der 1948 gegründeten JRSO (Jewish Restitution Successor Organization) für Kulturgüter. Sie suchte nach erbenlosen Kulturgütern und organisierte deren Weiterleitung an jüdische Einrichtungen vor allem in den USA und in Israel.«
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fragwürdigen, im Sinne der Provenienz beforschungswerten Sammlungen verfügen. Doch ist dies ein Fehlschluss. Das Jüdische Museum Wien verfügt über zwei Hauptsammlungen, die so genannte Sammlung Berger, die von der Stadt Wien für das zu gründende Museum im Jahre 1988 angekauft wurde, sowie über die Sammlung der jüdischen Kultusgemeinde, der IKG, die weniger als eine Sammlung als die Einsammlung dessen, was nach 1945 vom jüdischen Wien übrig geblieben war, zu definieren ist und die 1992 dem Jüdischen Museum Wien als Dauerleihgabe überantwortet wurde. Max Berger, um auf diesen Sammlungsbestand einzugehen, hatte seit den frühen 1960er Jahren bis zu seinem Tod aus Leidenschaft für das Judentum, aus Trauer um den Verlust seiner Familie und aus Liebe zur vergangenen Welt der Habsburger Monarchie – er stammte aus Galizien – Judaika gesammelt. Wie die wenigsten Sammler hat er nach der Herkunft des ihm Angebotenen gefragt. Außerdem hat er in einer Zeit zu sammeln begonnen, als das Thema Provenienz noch in keiner Weise im Bewusstsein der Öffentlichkeit war. Ihm ging es viel mehr um Bewahrung und Öffentlichmachung von jüdischem Kulturgut, das, hätte nicht er es erworben, vermutlich nach Übersee angeboten worden und somit für Österreich verloren gewesen wäre. Daher befinden sich in diesem Bestand etliche Objekte ungeklärter Provenienz. Als Beispiel können einige aus dem Bestand des alten Jüdischen Museums Wien – Wien hatte das erste jüdische Museum weltweit – angeführt werden, die in die Sammlung Berger gelangt sind, aber auch Objekte aus Osteuropa, die wohl auf ungeklärten Wegen zum Kauf angeboten wurden. Auch Objekte aus dem Hauptbestand der jüdischen Gemeinde Wiens sind in dieser Sammlung zu finden. Die Tatsache, dass offensichtlich weit nach 1945 Ritualgegenstände aus dem Bestand der jüdischen Gemeinde ohne deren Wissen in Umlauf kamen, wirft ein bezeichnendes Licht auf die Post-Holocaust-Gemeinde, auf ihre Situation, ihr Verhältnis zum eigenen kulturellen Erbe und auf den Pragmatismus, der ihr Überleben als Post-Holocaust-Gemeinde erst sicherte. Sofern es bei den Objekten in der Berger-Sammlung um Objekte aus dem alten Jüdischen Museum Wien geht, dessen Bestände 1938 be-
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schlagnahmt und nach 1945 der IKG Wien restituiert wurden, sind diese eindeutig zu identifizieren. Auch jene aus dem Hauptbestand der IKG Wien sind relativ leicht zu bestimmen. In allen anderen Fällen ist eine Recherche nach Herkunft und Geschichte allerdings äußerst schwierig und zeitaufwendig, da uns die wichtigsten Anhaltspunkte fehlen. In etlichen Fällen finden sich Namen auf den Objekten, die Hinweise auf Schenker oder Stifter bieten, nicht aber auf die begünstigte Institution oder Privatvereinigung. Auch ist nicht ohne weiteres ersichtlich, inwieweit es sich bei diesen Widmungen um tatsächliche Eigentumswechsel gehandelt hat. In anderen Fällen finden sich auf Objekten Namen, die eindeutig als Besitzervermerke gedacht sind. Um die Bandbreite möglicher Provenienz in den Sammlungsbeständen jüdischer Museen aufzuzeigen und um darauf hinzuweisen, dass man im Museum auch Geschichte ohne Objektdinge erzählen muss, sei als Beispiel eine von privater Seite an das Jüdische Museum Wien gerichtete Anfrage gegeben: Es handelte sich dabei um eine Tora-Krone aus Polen, Herstellungsort Auschwitz, auf die Verwandte des Objektstifters im Jahr 2003 zufällig in einer Wiener Publikation stießen und, ohne einen juristischen Anspruch formulieren zu können, das Museum um Stellungnahme baten. Eine Widmungsinschrift auf dieser Tora-Krone wies den Familiennamen des Restitutionswerbers auf, der nicht nachweisen konnte, ob das Objekt der Synagogengemeinde, in der es sich bis 1939 befunden hatte, juristisch gehört hatte oder ob es im Eigentum des Widmers verblieben war. Um ein Restitutionsverfahren, das für die Rückstellungswerber auf einer formaljuristischen Ebene auf Grund mangelnder Nachweise vermutlich negativ ausgefallen wäre, zu umgehen, entschloss sich das Museum, dem Rückstellungswerber eine Dauerleihgabe anzubieten, die dieser annahm. Das Wissen um einen vorhandenen Lebenszusammenhang, um die Möglichkeit einer Rekontextualisierung dieser Krone, hätte eine weitere Präsentation im Museum verunmöglicht, auch wenn der Gegenstand auf Grund seines Herstellungsortes, nämlich Auschwitz, eine Besonderheit, in einem eventkulturellen Rahmen möglicherweise sogar ein so genanntes Highlight hätte sein können. Das Beispiel mag zeigen,
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dass Sammeln nicht immer unbedingt etwas Positives ist, dass Sammeln nicht immer der Fragmentierung der Welt entgegenwirkt, sondern dass das Sammeln im Gegenteil diese Fragmentierung auch aktiv vorantreibt. Das Beispiel mag aber auch zeigen, dass Museen, vor allem jüdische Museen, nicht unbedingt die Friedhöfe materieller Objektkultur sein müssen, dass man dekontextualisierte und ins Museum deplatzierte Objekte wieder in ein aktives Leben einspeisen und sie in Umlauf bringen kann. In diesem Falle also war die Rückgabe des Objekts aus den Beständen des Museums die partielle Wiederherstellung eines bestimmten historischen Lebenszusammenhangs, von dessen Zerstörung das Museum bei Beibehaltung des Objekts im Bestand profitiert hätte. Der zweite Sammlungsbestand, die Sammlung der jüdischen Gemeinde Wien, beinhaltet die Bestände der Wiener Synagogen und Bethäuser, soweit sie nach den Pogromen im Jahre 1938 im November noch vorhanden waren. Auf Grund ihrer Aufbewahrungssituation über Jahrzehnte wurde einerseits vieles daraus entwendet und auf den Markt gebracht, andererseits kam etliches hinein, was nicht hineingehört. Hier sei als Beispiel die so genannte Bial-Schachtel genannt, eine Schachtel mit dem Privateigentum eines Mädchens namens Lilly Bial, das mit dem Kindertransport nach England gelangte und dem diese, von den in Wien verbliebenen, später in den Tod deportierten Eltern gepackte Schachtel offenbar nie zugestellt wurde. Nach 1945 wurde die Schachtel anscheinend vergessen und kam, wie vermutlich auch andere Alltagsobjekte aus den Örtlichkeiten des jüdischen Elternheimes, im Zuge von Aufräumaktionen in diesen besagten IKG-Bestand.8 Trotz intensiver Recherche und Forschung konnte das Museum die Eigentümerin erst sehr spät mit internationaler Hilfe ausfindig machen. Die Adressatin Lilly Bial überließ dem Museum die Schachtel und ihren Inhalt fast vollständig, nachdem sie die Memorabilien ihrer Kindheit rund 60 Jah-
8
Vgl. F. Heimann-Jelinek: 1942-2004. Ein Paket kommt an, in: H. Landsmann (Hg.), Wiener Jahrbuch für jüdische Geschichte, Kultur und Museumswesen, S. 147-150.
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re später zugestellt bekommen hatte. Soll diese Schachtel mit ihrer sehr eindrücklichen Geschichte von Anfang bis Ende in vordergründiger Augenscheinlichkeit erzählt werden? Oder soll sie als das präsentiert werden, was sie ist? Ein Objekt unter vielen, eine Geschichte unter zahllosen, der Überrest eines Lebens, dem man sich nur mit Mühe annähern und dessen zahlreiche Dimensionen man kaum erfassen kann. Aus heutiger Sicht fragwürdig erscheint auch die Restitution von Ritualgegenständen an die jüdische Gemeinde Wien, die in privaten Bethäusern, Betstuben und Wohnungen beschlagnahmt und in österreichische Museen überführt worden waren. Nach 1945 wurde die IKG erst als de facto, später auch als de jure Nachfolger aller jüdischen Einrichtungen definiert und erhielt daher alle vorhandenen jüdischen Objekte als Erbe zurück. Zu diesem Zeitpunkt – wir befinden uns in der Nachkriegszeit – dachte keiner in der IKG daran, Gemeindeeigentum und Privateigentum zu trennen, was langwierige Recherchen vorausgesetzt hätte und auch den restituierenden österreichischen Behörden kam es nicht in den Sinn, nach tatsächlichen Eigentumsverhältnissen zu fragen. Sie waren froh, das zuvor beschlagnahmte und arisierte jüdische Kulturgut möglichst einfach und schmerzlos wieder loszuwerden und restituierten der IKG kurzerhand alles, was ihnen irgendwie »jüdisch« vorkam und was zu einem großen Teil auch tatsächlich als Judaica-Objekte definiert werden kann.9 Damit wurde nicht nur die Verantwortung für die Objekte der Kultusgemeinde aufoktroyiert, die Kultusgemeinde wurde auch gezwungen, sich
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Als Definition für Judaica mag die der Conference on Jewish Material Claims Against Germany dienen, wenn sie diese benennt als »historical and literary materials relating to Judaism. Included are not only objects that carry a quality of holiness (tashmishey kedusha) or that are essential to the performance of a particular ritual or commandment (tashmishey mitzvah), but also those that have no intrinsic quality that can be defined as sacred or holy. Included are not only archives, libraries, and objects relating to Judaism as a religion but also those relating to Jewish organizations and Jewish life generally«, in: Descriptive Catalogue on Looted Judaica, http:// forms.claimscon.org/Judaica/DescriptiveCatalogueofLootedJudaica.pdf
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Dinge anzueignen, die ihr teilweise nicht gehörten. Die Recherche ist heute nach einer so langen Zeit aber natürlich noch schwieriger als sie sich in den späten 1940er und frühen 1950er Jahren gestaltet hätte. Wie in der Sammlung Berger finden sich auch in diesem IKG-Bestand viele Fälle, wo Namen auf den Objekten Hinweise auf Schenker oder Stifter bieten, nicht aber auf die begünstigte Institution oder Privatvereinigung. Auch hier ist wieder nicht ohne weiteres ersichtlich, inwieweit es sich bei diesen Widmungen um tatsächliche Eigentumswechsel handelt. Und ebenso wie in der Sammlung Berger gibt es Objekte mit namentlichen Beschriftungen, die eindeutig als Besitzervermerke gedacht sind. Solche Fälle sind besonders forschungsbedürftig. Damit seien nur einige wunde Punkte angerissen in unserer Sammlung, die eigentlich unsere Dauerausstellung konstituieren sollte. Diese wunden Punkte, von denen ich nur ganz, ganz wenige genannt habe, sind kein Spezifikum unserer Sammlungen. Sie betreffen die meisten jüdischen Museen, seien sie in Europa, in den USA oder in Israel. Sie alle stehen vor der Frage, ob es nicht auf Grund unseres heutigen Verständnisses und einer heutigen Perspektive angemessen wäre, diese Bestände systematisch auf ihre mögliche Provenienz hin zu beforschen. Diese mühsame Beforschung gehört jedoch zu einem korrekten Umgang mit ehemals in rituellem Kontext verwendeten Gegenständen, die ihren Besitzern und Kontexten gewaltsam entzogen wurden. In einem weiteren Schritt vor der Präsentierung oder Repräsentierung müsste der Weg der Dekontextualisierung der Dinge versucht herausgefunden zu werden. Denn wie eingangs dargelegt, landen Objekte nicht zufällig in einem Museum. Ihrer Überführung in den musealen Raum unterliegt ein Sinn. Im besten Falle der Versuch, sie vor dem Vergessen zu retten, im schlechtesten Falle, sich mit ihnen der Geschichte ihrer Herkunft und ihrer Träger zu bemächtigen. Dieser Schritt inkludiert also die Bearbeitung der Frage, wer welches Interesse an der Überführung in einen musealen Bestand hatte, wer die Entscheidungsmacht hatte, welche Objekte als museumswert zu definieren und welcher Institution sie zugewiesen wurden. Kurz: wer war und/ oder ist mit dem Pouvoir ausgestattet, die verschiedenen Auswahlkrite-
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rien und nach welchen Gesichtspunkten zu treffen. Die Befunde dieser Beforschung müssen in einem weiteren Schritt in der Dokumentation des Objektes mit dem Objekt nachvollziehbar festgehalten werden. Sie gehören so selbstverständlich zum Narrativ des in Frage stehenden Gegenstandes wie seine Materialität, seine formalen Eigenschaften, sein Verwendungszusammenhang und der Ort seiner Herstellung. Im Falle, dass sich durch die Provenienzforschung keine konkreten Anhaltspunkte auf ehemalige Eigentümer ergeben, kann sich das Museum trotzdem nicht der Pflicht entziehen, den Weg des Objektes ins Museum und seinen ganzen erforschten Geschichtszusammenhang gemeinsam mit dem Objekt auszustellen – also wenn es ausgestellt wird, zu thematisieren, dass die Herkunft im Dunkeln liegt. Es scheint völlig unangemessen, Ritualgegenstände problematischer Provenienz als Illustrationen von Kulturgeschichte zu benutzen, ohne offen zu legen, wie sie zu Museumsobjekten wurden. Die Geschichte eines Objektes hört nicht hinter der Museumstür auf. Ritualobjekte sind kulturhistorische Objekte, d.h. sie finden im musealen Zusammenhang in kulturhistorischen Ausstellungen ihre Verwendung. Eine kulturhistorische wie auch eine historische Ausstellung macht Vergangenheit, konstruiert Geschichte, indem sie eine Anzahl von Einzeldingen der Vergangenheit zu einem neuen Ganzen der Gegenwart macht. Sie benützt ihrem Lebenszusammenhang entfremdete Objekte, um sie in dem Sinne zusammenzustellen und damit neu zu definieren, den sie zum Aussageziel hat, benützt sie also für ihre intentionale Narration. Welche Objekte, Bilder, Geschichten und Deutungen auch immer im Museum in historischen oder kulturhistorischen Ausstellungen angeboten werden, es sind auch Erzählungen und Projektionen zu unserem Verhältnis zum musealen und kulturellen Besitz und zu unserer Verfügungsgewalt über diesen Besitz. Nehmen wir die Frage nach einem adäquaten, repräsentativen und präsentativen Umgang mit Ritualobjekten ernst, so müssen wir in einem letzten Schritt, in welchem wir das Objekt in einer Ausstellungssituation präsentieren, fragen, welche Möglichkeiten und Strategien es gibt, dieses Objekt adäquat zu präsentieren, nicht nur seine materielle Besonderheit oder seinen ehe-
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maligen Verwendungszusammenhang, sondern auch seine Herkunft und die Geschichte seiner Dekontextualisierung repräsentativ darzustellen. Diese Darstellung muss dem Besucher die Möglichkeit geben, Kultur jenseits festgeschriebener musealer Diskurse zu sehen, scheinbar normative museale Praktiken zu hinterfragen und angebotene Geschichtsnarrative – auch die unseren – weniger affirmativ zu konsumieren als sich kritisch damit auseinanderzusetzen. Das heißt, dass von Museumsseite Präsentationsformen gefunden und gewählt werden müssen, die deutlich machen, dass Besitz nicht gleichbedeutend mit Eigentum ist. Über die richtige Präsentation der Sammlungen und der Forschungsergebnisse werden die Meinungen und Erwartungen immer auseinander gehen, ganz besonders, wenn es sich bei der Sammlung um Objekte handelt, die mit jüdischer Kultur und Zeitgeschichte zu tun haben. Dies ist der Fall in den jüdischen Museen, deren Sammlungen es in der gegebenen Form nicht gäbe, wären die Lebenszusammenhänge, aus denen sich ihre Objekte speisen, nicht zerstört worden. Mehr noch: Es wären viele dieser Institutionen vermutlich bis heute nicht geschaffen worden, hätte man gesellschaftspolitisch nicht den Druck jener Bringschuld auf sich lasten gefühlt, die europäisch-jüdische Geschichte dauerhaft in einem öffentlichen Raum zu thematisieren, nämlich Europas aktiver Rolle bei der Entrechtung, Vertreibung und Ermordung der Juden in den Jahren 1933 bis 1945. Da diese Museen nie darauf ausgerichtet waren, allein die Schoa zu fokussieren, sondern jüdisch-österreichische, jüdisch-deutsche etc. Geschichte in ihrer Gesamtheit darzustellen, erwarten viele eine eher traditionelle Darstellung jüdischer Religion und ein lineares historisches Narrativ. Dabei liefe eine diesen Erwartungen entgegenkommende Herangehensweise allen museologischen Diskussionen zur Repräsentierbarkeit von Geschichte diametral entgegen. Die Konsequenz aus diesen Diskussionen ist, dass sich jüdische Geschichte nicht als Kontinuum darstellen lässt und jüdische Kultur nicht als Ansammlung von liturgischen Gerätschaften. Weder die historischen Objekte in diesen Samm-
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lungen, noch die religiösen können naiv, quasi »unschuldig« benutzt werden, um jüdisches Leben adäquat zu repräsentieren. Dies wäre nicht nur eine mutwillig geschaffene Illusion auf Basis derjenigen materiellen Überreste, die ihrem Lebenskontext mit dem Ziel entrissen wurde, genau diese Kultur zu zerstören, mehr noch, es wäre blanker Zynismus. Über die historische Sondersituation der Bestandsgenese vieler europäisch-jüdischer Museen hinaus gibt es weitere Bedenken dagegen, Judaika als Illustrationen jüdischer Kultur zu präsentieren und in einen entsprechenden narrativen Rahmen zu stellen. Denn eine beispielsweise österreichische Tora-Rolle oder ein österreichischer Chanukka-Leuchter können Synonyme für die Essenz eines gelebten österreichischen Judentums nur für Menschen sein, die dieses gelebt haben oder leben, nicht aber für ein Museum. Das gelebte oder das erlebte Objekt, das Objekt, mit dem Menschen in bestimmten Zusammenhängen in bestimmter Weise agiert haben, ist ein anderes, als dasjenige Objekt, das, aus welchen Gründen dann auch immer, in ein Museum verbracht wurde und deponiert oder ausgestellt ist. Das Objekt im Museum ist ein Überrest von Geschichte, ein Abfallprodukt, das keiner mehr zum täglichen Leben braucht. Man kann etwas überspitzt sagen, dass das Museum eine stetig anwachsende Deponie, ein stetig höher werdender Müllplatz materieller Dekontextualisierungen ist. So gesehen gehören die sehr speziellen Sammlungen jüdischer Museen – noch überspitzter und provokanter ausgedrückt – möglicherweise in die Kategorie »Sondermüll«, da sie nie wieder ein ganzes Bild ergeben können, nie mehr eine Vollständigkeit widerspiegeln können. Museumsmenschen glauben oft, dass sie mit ihren Sammlungen nicht nur Einzeldinge, sondern mit vielen Einzeldingen auch Zusammenhänge haben. Das ist ganz besonders im Jüdischen Museum ein Irrtum. Der Unterschied vom Objekt, das seinen Sitz im Leben hat, vom Objekt in Aktion, zu dem Akteure, immer aber auch spezifische Zeiten und spezifische Orte gehören, und dem Objekt im Museum, zu dem nur noch jene Menschen gehören, die es entweder in Szene setzen oder die
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es als Betrachter konsumieren, ist unüberbrückbar, durch nichts reversibel und vor allem durch keine noch so gekonnte Inszenierung zu beschönigen. Das ist kein alleiniges Schicksal Objekte jüdischer Provenienz, das Schicksal teilen die Objekte aus jüdischen Lebenszusammenhängen mit allen anderen. Am Beispiel der Judaika werden sie uns vielleicht nur deutlicher als am Beispiel anderer Objekte, die auf Grund anderer Brutalitäten als dem Völkermord an Millionen Juden ihrem Sinnzusammenhang mit den sie verwendenden Menschengruppen entzogen wurden und werden. Insofern bieten eher dekonstruierende und abstrakte Präsentationsformen den Besuchern an, sich mit Darstellungsmöglichkeiten und -unmöglichkeiten von Geschichte und Kultur auseinanderzusetzen, anstatt der Versuchung zu erliegen, sich einem zeitgeistigen, simplizierenden Objektfetischismus zu unterwerfen. Durch das Spezifische ihrer Sammlungsgeschichten und Entstehungsgenesen können die jüdischen Museen leichter als andere dem, wie Sabine Offe es genannt hat, »narrativen Fetischismus der schönen Dinge entgehen«.10 Ihre besondere Rolle könnte und sollte es sein, die Fragen der Konsumenten nicht mit auratisierten und inszenierten Objekten durch vermeintliche Narrative »zum Schweigen zu bringen«11, sondern mit einer Geste des einfachen, des lakonischen Zeigens von dem, was von einer der größten Gewalterfahrungen in unserer Geschichte der vorgeblichen Zivilisation übriggeblieben ist. Damit wäre ein jüdisches Museum nicht nur ein Ort der Nachlassverwaltung jüdischer Geschichte und Kultur; es wäre auch ein Memorialraum, der Erinnerungen durch Objekte archiviert und durch ihre spezifische Präsentation Gedächtnis aktiviert. Es wäre ein Memorialraum, der nicht durch systematisch lexikalischen Erkenntniszuwachs wirken will, der nicht schnellen Zugriff auf Erklärungsmuster bietet, der nicht überwältigen will. Er würde an Weniges erinnern, doch das umso nachdrücklicher: »Erinnern heißt, anderes in den Hintergrund treten lassen, Unterscheidungen treffen, vieles ausblenden, um manches auszu-
10 S. Offe: Anm. 4, S. 224. 11 Ebda.
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leuchten.«12 Es wäre ein Ort der Aufklärung durch Verunsicherung; es wäre ein Belastungszeuge im Prozess der Auseinandersetzung zwischen Vergangenheit und Zukunft.
L ITERATUR Assmann, Jan: Religion und kulturelles Gedächtnis, München: C.H. Beck 2000. Benoschofsky, Ilona/Schreiber, Alexander (Hg.): Das Jüdische Museum in Budapest, Budapest: Corvina 1989. Bertz, Inka: Das erste Jüdische Museum in Berlin, www.jmberlin.de/ main/DE/Pdfs/Sammlung-Forschung/Erstes_Juedisches_Museum.pdf Brock-Nannestad, Margarethe: »Jüdische Museologie. Entwicklungen der jüdischen Museumsarbeit im deutsch-jüdischen Kulturraum«, in: Julius H. Schoeps et al. (Hg.), Wiener Jahrbuch für Geschichte, Kultur und Museumswesen, Bd. 1, Wien 1994, S. 55-70. Clifford, James: The Predicament of Culture. Twentieth-Century Ethnography, Literature, and Art, Cambridge; London: Harvard University Press 1988. Cohen, Julie-Marthe: »Dealing with Looted Art. The Pre-war Collection of the Jewish Historical Museum of Amsterdam Reexamined«, read at the conference »Jewish Art in Context: The Role and Meaning of Artefacts and Visual Images«, Tel Aviv, January 14-16, 2008. Cohen Grossman, Grace: Jewish Museums of the World, Southport: Hugh Lauter Levin Associates 2003. Daxlmüller, Christoph: »Dr. Max (Meir) Grunwald, Rabbiner, Volkskundler, Vergessener. Splitter aus der Geschichte des jüdischen Wiens und seines Museums«, in: Julius H. Schoeps et al. (Hg.), Wiener Jahrbuch für Geschichte, Kultur und Museumswesen, Bd. 1, Wien 1994, S. 89-106.
12 Vgl. J. Assmann: Religion und kulturelles Gedächtnis, S. 13.
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Dorner, Elke/Libeskind, Daniel: Jüdisches Museum Berlin, Berlin: Mann 1999. Feldmann, Jeffrey David: »Die Welt in der Vitrine und außerhalb: die soziale Konstruktion jüdischer Museumsexponate«, in: Julius H. Schoeps et al. (Hg.), Wiener Jahrbuch für Geschichte, Kultur und Museumswesen, Bd. 1, Wien 1994, S. 38-54. Fliedl, Gottfried/Offe, Sabine: »Die Dauerausstellung des Jüdischen Museums der Stadt Wien«, in: Hannah Landsmann (Hg.), Wiener Jahrbuch für Jüdische Geschichte, Kultur und Museumswesen, Bd. 6, Wien 2004. S. 19-26. Fliedl, Gottfried (Hg.): Die Erfindung des Museums. Anfänge der bürgerlichen Museumsidee in der Französischen Revolution, Wien: Turia+Kant 1996. Grabherr, Eva: »Erinnerung ist Erinnerung an etwas Vergessenes. Die Wiederentdeckung der jüdischen Geschichte in einer Kleinstadt der österreichischen Provinz«, in: Julius H. Schoeps et al. (Hg.), Wiener Jahrbuch für Geschichte, Kultur und Museumswesen, Bd. 2, Wien 1995/96, S. 57-77. Gruber, Ruth Ellen: Virtually Jewish. Reinventing Jewish Culture in Europe, Berkeley: University of California Press 2002. Heimann-Jelinek, Felicitas: »Zur Provenienzforschung im Jüdischen Museum Wien«, in: Karl Albrecht-Weinberger/Alfred Stalzer, 15 Jahre Jüdisches Museum Wien im Palais Eskeles, Wien: Jüdisches Museum der Stadt Wien 2008, S. 50-53. Heimann-Jelinek, Felicitas/Krohn, Wiebke (Hg.): Das Erste: Das erste jüdische Museum, Wien: Jüdisches Museum der Stadt Wien 2006. Heimann-Jelinek, Felicitas: »1942-2004. Ein Paket kommt an«, in: Hannah Landsmann (Hg.), Wiener Jahrbuch für jüdische Geschichte, Kultur und Museumswesen Bd. 6, Wien 2004, S. 147-150. Heimann-Jelinek, Felicitas/Heuberger, Georg (Hg.): Was übrig blieb. Das Museum Jüdischer Altertümer in Frankfurt 1922-1938, Katalog zur gleichnamigen Ausstellung des Jüdischen Museums der Stadt Frankfurt a.M., Frankfurt a.M.: Jüdisches Museum 1988.
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Generationenwechsel Fünfzig Jahre Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen in Düsseldorf. Ein Erfahrungsbericht A NETTE K RUSZYNSKI
Vor dem Hintergrund der Frage, welche Aspekte bei der Einrichtung einer Schausammlung zu berücksichtigen sind und ob »mit Dingen« erzählt werden kann und soll, stellt die Kunstsammlung einen besonderen Fall dar. Sie ist kein Haus der Kulturgeschichte, sondern ein Museum der Kunst des 20. und 21. Jahrhunderts. Die Sammlung von so genannten Meisterwerken – von Gemälden, Skulpturen, Medienarbeiten und Installationen – liegt qualitativ auf gleicher Höhe mit den Beständen der Museen moderner Kunst in Berlin, Stuttgart, Hamburg und anderen. Auch international genießt die Kunstsammlung mit Stücken wie Wassily Kandinskys Komposition IV (1911) oder Jackson Pollocks monumentalen Number 32 (1950) hohe Anerkennung. Die aktuelle Einrichtung der Schausammlung in Düsseldorf ist eng mit der Geschichte des Museums verbunden und der Tradition verpflichtet, die vor allem durch den ersten Direktor seit den 1960er Jahren begründet wurde. Der jüngste Wechsel in der Leitung der Institution bot Gelegenheit, in allen Bereichen das Konzept des Museums zu überdenken. Der personelle Generationenwechsel ging mit der architektonischen Neuaufstellung der Institution einher: Gleichzeitig mit der Sanierung des bestehenden Gebäudes am
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Grabbeplatz, K20, wurde 2008 bis 2010 der Erweiterungsbau realisiert. Zusammen mit dem Ständehaus, K21 und dem kürzlich dazu gewonnenen Schmela Haus verfügt das Museum insgesamt über drei architektonisch sehr unterschiedliche Standorte. Die Kunstsammlung ist eine relativ junge Institution mit einer zahlenmäßig überschaubaren Sammlung. Mit der Gründung im Jahr 1961 erfüllte das Bundesland Nordrhein-Westfalen die selbstauferlegte verfassungsmäßige Verpflichtung, ein Museum für Gegenwartskunst zu schaffen. Der Entschluss wurde durch den Ankauf von 88 Werken von Paul Klee vorbereitet. Paul Klee hatte eine enge Beziehung zu Düsseldorf gehabt, da er bis zu seiner Entlassung im Jahr 1933 Lehrer an der ortsansässigen Akademie gewesen war. Mit dem Erwerb der KleeSammlung bemühten sich die gewählten politischen Vertreter, nach dem Zivilisationsbruch durch die Nationalsozialisten Wiedergutmachung zu leisten. Heute umfasst der Bestand der Kunstsammlung 99 Arbeiten von Paul Klee. Dazu kommen im Bereich der Kunst von der Klassischen Moderne bis zur Gegenwart rund 300 Gemälde und ungefähr 100 Skulpturen und Installationen. An Arbeiten auf Papier besitzt die Kunstsammlung neben den erwähnten Werken von Paul Klee den Nachlass von Julius Bissier. Ferner sind etwa 90 Zeichnungen und plastische Arbeiten von Joseph Beuys zu nennen. Das fast vollständige frühe lithografische Œuvre von Gerhard Altenbourg sowie rund 90 Videoarbeiten gehören ebenfalls zum Inventar. Die Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen ist nicht im Sinn eines enzyklopädischen Überblicks über die Entwicklung der Kunst seit dem frühen 20. Jahrhundert aufgebaut worden. Werner Schmalenbach, der erste Direktor, löste sich bereits bei der Aufnahme seiner Tätigkeit 1962 von allen konzeptuellen Verpflichtungen, die ihm aufzuerlegen versucht wurden. Er entledigte sich sogar der Kunstwerke, die zu diesem Zeitpunkt in Landesbesitz waren, die aber seiner Vorstellung nicht in das aufzubauende Museum gehörten.1 Stattdessen begann Schma-
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Es handelte sich unter anderem um Werke von Max Ernst und Heinrich Campendonk.
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lenbach, eine Sammlung zusammenzutragen, die allein der Qualität verpflichtet war und sich keinen regionalen oder nationalen Beschränkungen unterwarf. Er konzentrierte sich auf Erwerbungen von Gemälden der westlichen Kunst. Skulpturen oder Installationen berücksichtigte er nicht. Beim Ausscheiden Schmalenbachs aus seinem Amt 1990 konnte ein Rundgang durch die Kunstsammlung somit nicht die historischen künstlerischen Avantgarden lückenlos anschaulich machen. Doch war eine qualitativ äußerst hochwertige Sammlung mit Werken von Beckmann, Kandinsky, Picasso, Kirchner, Pollock, Lichtenstein, Warhol und anderen zusammengekommen, so dass international nicht selten von dem »Schmalenbach-Museum« die Rede war.2 Dem Prinzip Schmalenbachs folgte in wesentlichen Punkten auch sein Nachfolger Armin Zweite bis in das Jahr 2007. Bei der Erweiterung der Sammlung bemühte er sich, dem Ruf des Hauses gerecht zu werden und versuchte – wohlgemerkt vor dem Hintergrund der explodierenden Preise auf dem Kunstmarkt – Erwerbungen auf höchstem qualitativem Niveau zu leisten. Er stärkte die Auswahl an Werken aus dem Surrealismus mit Arbeiten von René Magritte und Max Ernst und erschloss Bereiche der Kunstgeschichte, die vorher nicht zum Sammlungsbestand gehörten. So sicherte er für die Kunstsammlung neben skulpturalen Arbeiten von Max Ernst, Carl Andre, Anthony Caro, John Chamberlain, Donald Judd, Barnett Newman, Tony Smith etc. die bis dato vermisste Position Joseph Beuys mit der großen Installation Palazzo Regale (1986). Das Profil des Museums stärkte Zweite darüber hinaus durch Erwerbungen von international anerkannten Künstlern wie Gerhard Altenbourg, Marcel Broodthaers, Imi Knoebel, Nam June Paik und Gerhard Richter und behauptete damit die Bedeutung des Museums im Bereich der auf die Klassische Moderne folgenden Be-
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Schmalenbach verfügte über einen außerordentlich hohen Ankaufsetat. Immer wieder warf man ihm vor, ausschließlich Werke anerkannter Kunst zu überteuerten Preisen zu erwerben. Darüber hinaus beklagte man, dass er beim Aufbau der Sammlung keine Experimente im Bereich der zeitgenössischen Kunst wage.
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wegungen. Immer wieder gewann Zweite Werkensembles dazu, um Künstler wie Joseph Beuys oder Gerhard Richter in einer repräsentativen Auswahl vorzustellen. Zur Vermittlung der Inhalte an das Publikum hatte Schmalenbach museumspädagogische Projekte mit kleinen Präsentationen und erläuternden Broschüren ins Leben gerufen. Zweite konzentrierte sich auf ein ambitioniertes Ausstellungsprogramm. Er realisierte Überblicke über das Schaffen von Barnett Newman, Joseph Beuys, Markus Lüpertz und anderen. Weitere Unternehmen fußten auf den Sammlungsbeständen und stellten spezielle inhaltliche Aspekte im Werk von Paul Klee, Pierre Bonnard, Henri Matisse, Pablo Picasso, Max Ernst, René Magritte oder im Surrealismus zur Diskussion. Während diese Ausstellungen die Relevanz der Werke der Kunstsammlung innerhalb der Kunstgeschichte überprüften, reflektierten andere Projekte die jeweilige Phase, in der sich das Museum befand: So thematisierte eine Schau zur zeitgenössischen Museumsarchitektur die Situation der Kunstsammlung kurz vor der Realisierung des Erweiterungsbaus. Ausstellungen zu nicht-westlichen Kulturen behandelten den Umgang mit Impulsgebern der historischen Avantgarden oder fragten nach ihrer Rezeption in der Gegenwart. Seit 2009 ist Marion Ackermann Direktorin der Kunstsammlung. Wie beim Übergang von Schmalenbach zu Zweite markiert auch ihre Einsetzung einen Generationenwechsel. Ackermanns Dienst begann unmittelbar vor der Wiedereröffnung der Kunstsammlung am Grabbeplatz nach zwei Jahren der Schließung, so dass es sich wie selbstverständlich anbot, die Institution einer Neuorientierung zu unterziehen. Die Notwendigkeit der konzeptuellen Erneuerung ergab sich darüber hinaus auch auf Grund des Zugewinns eines dritten Standorts, des Gebäudes der ehemaligen Galerie Schmela. Das Bekenntnis zu den klassischen Museumsaufgaben – Sammeln, Forschen, Bewahren und Vermitteln – bleibt für Ackermann vollständig gültig. Die Revision betrifft auch nicht alle Bereiche der Umsetzung dieser Prinzipien. Ganz bewusst nimmt Ackermann davon Abstand, mit der Tradi-
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tion zu brechen, nach der Sammlungsbestände präsentiert werden. In diesem Punkt ist sie dem seit der Gründung der Institution eingeschlagenen Weg eng verbunden und konzentriert sich wie Schmalenbach und Zweite auf die Wirkung des einzelnen Werkes. Auch bei der Erweiterung der Sammlungsbestände agiert Ackermann wie ihre Vorgänger auf dem gleichen hohen qualitativen Niveau. Bald nach Amtsantritt erhielt Rosemarie Trockel den Auftrag, einen Raum für die Kunstsammlung zu gestalten. Die Sammlung amerikanischer Kunst des 20. Jahrhunderts wurde um eine exzeptionelle Skulptur von Alexander Calder und ein repräsentatives Gemälde von Robert Motherwell ergänzt. Neue Aspekte kommen in der Vermittlungsarbeit in den Blick. Bei allen Aktivitäten der Kunstsammlung steht das Publikum im Mittelpunkt, womit vor allem die Öffnung des Museums an den Betrachter gemeint ist. Trotz aller Erfolge, die in der Vergangenheit zu verbuchen waren, wurde die Institution von der Mehrheit der Besucher als verschlossen und hermetisch wahrgenommen. Transparenz und Partizipation gehören daher zu den zentralen Begriffen der aktuellen Arbeit. Es gilt, die Divergenz zwischen der ästhetischen Überzeugungskraft eines Kunstwerks und der Notwendigkeit, Inhalte zu vermitteln, zu überwinden. Die Werke von Matisse, Picasso, Pollock oder Warhol mögen faszinieren. Außer ihrem ästhetischen Wert teilen sie aber heute von ihren komplexen Inhalten nur dann etwas mit, wenn der Betrachter mit den Entstehungsbedingungen und den historischen Kontexten vertraut gemacht wird. Seit dem Bestehen der Institution Museum hat es immer wieder neue Ansätze bei der Vermittlung kunsthistorischer Inhalte gegeben. Aus dem frühen 20. Jahrhundert sind in diesem Zusammenhang zum Beispiel Alfred Lichtwark (1852-1914) an der Hamburger Kunsthalle und auch Ernst Gosebruch (1872-1953) zu nennen, der das Folkwang Museum in Essen leitete. Der erste hat die Vermittlungsarbeit als einen zentralen Teil seiner Tätigkeit verstanden. Der zweite versuchte, die Ideen von Karl Ernst Osthaus fortzuführen und neue Wege der Präsen-
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tation einzuschlagen. Er zeigte expressionistische Kunst gemeinsam mit afrikanischer Plastik, um auf die Inspirationsquellen der Kunst hinzuweisen.3 Programmatische Entscheidungen in der Vermittlungsarbeit, mit denen die Weichen für die Zukunft der Kunstsammlung gestellt wurden, fällte Marion Ackermann für die Abteilungen der Bildung und der Kommunikation. Beide Bereiche wurden mit erheblich mehr Personal ausgestattet. Um die Außenwirkung der Kunstsammlung zu stärken, wurden die Aktivitäten der Presse- und Marketingabteilung intensiviert. Intern prägte sich der Begriff des Guerilla-Marketings mit GiveAways wie Aufklebern, Armbändern, Buttons zum Anstecken, die auf Messen und bei anderen kulturellen Veranstaltungen verteilt werden. Diese Mittel ergänzen die bekannten Werbemedien wie Poster und Leporello. Zusätzlich wurde nach einer Analyse internationaler Internetauftritte die eigene Homepage neu gestaltet. Das Programm der museumspädagogischen Abteilung ist vielfältiger geworden. Die Angebote richten sich an alle Altersgruppen vom Kleinkindalter aufwärts. Nicht das Entweder/Oder steht in der Diskussion, sondern die Frage, wen kann ich mit welchem Angebot erreichen. In diesen Bereich gehören die neu eingerichtete Medienwerkstatt, die besonders Jugendliche ansprechen soll, und bekannte Angebote wie der iPod-Audioguide, Führungen, Kurzführer, Workshops, Karten, Rallyes usw. Neu sind die Zeitungen, die von bestimmten Zielgruppen selbst erstellt werden und die sich an gleichaltrige beziehungsweise gleichgesinnte Besucher wenden. Zur Umsetzung ihrer Aktivitäten erhielt die Abteilung der Bildung mehr Raum zur Verfügung. Hervorzuheben ist, dass einer dieser Räume, das so genannte Labor, seit der Wiedereröffnung unmittelbar in den Museumsrundgang integriert ist,
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Auch heute werden im Museo Nacional Centro de Arte Reina Sofia in Madrid oder in der Neuen Nationalgalerie in Berlin neue Möglichkeiten der Vermittlung erprobt.
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so dass er zu einem selbstverständlichen Teil des Besuchs wird.4 Die gewählte Platzierung verzahnt die Schausammlungsräume mit dem Bildungsbereich. Sie soll zur Partizipation anregen und dem Besucher ermöglichen, Ergebnisse und Erfahrungen in unmittelbaren Zusammenhang zu bringen. Das »Labor« offeriert ein wechselndes Programm. Zur Wiedereröffnung der Kunstsammlung am Grabbeplatz im Sommer 2010 wurde Karin Sander in das »Labor« eingeladen. Sie richtete ihr 3D-Body-ScanProjekt »Museumsbesucher« ein, das dem Einzelnen die Möglichkeit bietet, ein dreidimensionales Abbild seiner selbst im Maßstab 1:8 herstellen zu lassen. Der Betrachter wird zum Betrachteten, wodurch ein Diskurs über das Verhältnis zwischen Kunstwerk und Betrachter entsteht. Thomas Struth, der zweite Teilnehmer im »Labor«, macht seine intensive Auseinandersetzung mit Musik zum Thema. Parallel zur Ausstellung von Struths Fotografien in den Ausstellungshallen in K20 gibt es eine besondere Form des Musikunterrichtes unter Leitung von hochrangigen Solisten. Auf diese Weise wird unter Einbeziehung des Publikums vermittelt, welche Ansprüche der Künstler an Qualität stellt und was er mit dem Begriff der Perfektion verbindet. Die unmittelbare und persönliche Einbeziehung des Besuchers steht in Zusammenhang mit der konzeptuellen Entscheidung, die Kunstwerke in der Schausammlung für sich stehen zu lassen. Die Vermittlungsarbeit steht autonom neben der Sammlungspräsentation. Bewusst wird auf stationäre Erklärungen zu Bedeutung und Inhalt, die auf Schautafeln oder ähnlichem vorgenommen werden könnten, verzichtet (vgl. Abb. 1). Das einzelne Werk entfaltet seine Wirkung ohne Ablenkung. Ackermann steht damit nicht nur bewusst in der Tradition der Institution, sondern erfüllt auch die Erwartung, die an die Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen als »heimlicher Nationalgalerie« gestellt wird. Mit den bekannten Highlights von Picasso bis Pollock, von
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In den Zeiten bis zur Wiedereröffnung waren die Werkräume der Pädagogik beispielsweise in K20 ausschließlich in separaten Gebäudeteilen untergebracht.
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Klee bis Beuys wird Vertrautes präsentiert. Die Erklärung zum Fortgang der Kunstgeschichte wird parallelen Angeboten zugewiesen. Abb. 1: Ausstellungsraum in K20, © Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen.
Abb. 2: Grundriss K20, 2. OG, © Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen.
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Um den puren Kunstgenuss zu gewährleisten, wurden Eingriffe an der Architektur vorgenommen. Am Grabbeplatz bewirkte die Sanierung der Lichtdecken, dass die Räume ihren strahlenden und lebendigen Eindruck zurück gewannen, den sie durch die Alterung des Materials verloren hatten. Die neue Binnenstruktur im zweiten Obergeschoss von K20 ergibt eine mäandernde Abfolge von Räumen (vgl. Abb. 2). Statt der früheren Reihung von nahezu gleichgroßen Sälen, wird der Besucher jetzt durch ein System von kleinen Kabinetten geführt, aus denen sich immer wieder Durchblicke auf ferner liegende Sammlungsteile bieten. Auf diese Weise ergibt sich die Möglichkeit der Konzentration auf das Einzelwerk und zugleich die vergleichende Zusammenschau von Werken aus ganz unterschiedlichen künstlerischen Bewegungen. Ein wichtiger Aspekt besteht für Ackermann darin, die Eigenheiten der Gebäude in die Aktivitäten einzubeziehen. Die Präsentation der Wechselausstellungen wie auch der eigenen Bestände soll mit der Architektur in unmittelbarem Dialog stehen, Projekte und Bauten idealerweise stimmig miteinander verzahnt werden. Im Bereich des Ausstellungsprogramms geht es darum, jedem Projekt ein spezifisches Erscheinungsbild zu verleihen. Auf Grund dieses Ansatzes nähert sich der Besucher in der Joseph Beuys-Ausstellung Parallelprozesse den Installationen Palazzo Regale (1986) oder Zeige deine Wunde (1974/ 75) aus der gleichen Richtung, wie er es bei der ersten, vom Künstler vorgenommenen Einrichtung dieser Arbeiten getan hatte. Ein weiterer Teil der Schau steht in der Tradition der von Harald Szeemann veranstalteten legendären Beuys-Ausstellung im Kunsthaus Zürich (1993/ 1994). Die im dritten Bereich eingerichteten Kabinette ermöglichen die Konzentration auf die kleinformatigen Zeichnungen. Die heterogenen Eigenheiten der Bauten von K20, K21 und dem Schmela Haus bieten für eine spezifische Einrichtung der Sammlungsbestände wesentliche Voraussetzungen. K20, das Haus am Grabbeplatz, ist ein Bau im Design des »international style« der späten 1970er Jahre. Zu seinen markanten architektonischen Charakteristika gehören die Deckenstruktur und die kathedralenartige Ausstellungshalle mit einer Raumhöhe von 14m. Seit der Wiedereröffnung des sanierten
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Hauses und des Anbaus steht neben zusätzlichen Flächen für die Sammlungsbestände entscheidend mehr Raum für Wechselausstellungen zur Verfügung.5 Der Bau von K20 macht durch die schwarze Fassade einen eleganten, aber auch abweisenden Eindruck. Besonders der Durchgang durch das Gebäude hat grundsätzlich eine geradezu abschreckende Wirkung. Im Winter ist er kalt und zugig, im Sommer trübe und dunkel. Seit der Wiedereröffnung ist die Passage durch den Bau durch zusätzliches Licht und Leuchtkästen belebt worden. Vor allem lockt den Besucher eine farbenprächtige große Arbeit, die für den Paul-Klee-Platz auf der Rückseite des Gebäudes entworfen wurde. Es handelt sich um Hornet (2009) von Sarah Morris, eine Wandarbeit, die zu der Origami-Serie der Künstlerin gehört. Die leuchtend bunten Fliesen beleben den Platz und machen ihn zu einem Anziehungspunkt im Areal. Im Durchgang von K20 ist gegenüber dem Eingang eine Arbeit von Olafur Eliasson installiert worden. Sie trägt den Titel Your natural yellow daylight (2010) und befindet sich im Lichtschacht über einem Wasserbecken, das den Himmel über dem Gebäude spiegeln kann. Das Werk selbst besteht aus gelbem Monofrequenzlicht. Es trifft auf Wasserdampf, der aus Düsen in den Schacht gesprüht wird. Der entstehende gelbe Nebel verändert die Atmosphäre im Durchgang und auf den einzelnen Stockwerken, deren Fenster zum Schacht hinausgehen. So wird ein Dialog von Außen und Innen erzeugt – ein zentraler Aspekt im Schaffen Eliassons. Besonders im zweiten Obergeschoss von K20 entfaltet Eliassons Arbeit ihre Wirkung. Je nach Wetterlage taucht sie vom Lichtschacht her den Innenraum in tiefgelbes Licht oder überzieht ihn mit einem leichten hellgelben Schleier. Vor dem Fenster können aber auch geradezu bedrohliche dichte Nebelschwaden vorbeiziehen. Ausgehend von der Farbigkeit der Lichtstrahler sind in diesem Foyer zur Sammlung Werke von Paul Klee und Yves Klein zu sehen, die maßgeblich von Gelb- und Goldtönen bestimmt werden.
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Im Erdgeschoss von K20 gibt es 1700 qm für Wechselausstellungen. Der Sammlungsbereich umfasst etwa 3300 qm.
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Eliassons Arbeit markiert im Inneren des Museums den Auftakt des Sammlungsrundganges. Zugleich vermittelt die Installation einen wichtigen Aspekt des Konzeptes der weitgehend chronologischen Anordnung der Schausammlung. Denn immer wieder brechen Eingriffe zeitgenössischer Künstler den Ablauf auf. Diese Irritationen schaffen einen Dialog zwischen den Werken der Klassischen Moderne und der Gegenwartskunst und machen unerwartet Inhalte auf assoziative Weise erfahrbar. Die erste Unterbrechung im Rundgang bietet die Cafeteria. Der Niederländer Joep van Lieshout hat für diesen Ort, von dem man einen reizvollen Blick bis hinunter zum Rhein werfen kann, Möbel, Beleuchtung und Geschirr in bunten Farben entworfen. Das lebendige Ambiente des »Lokal Lieshout« unterläuft durch seine Buntheit die Prinzipien der historischen Avantgarden.6 Darüber hinaus bildet das Café ein Pendant zur so genannten »Pardo Bar«, dem Restaurant in K21, das Jorge Pardo zur Eröffnung des Ständehauses 2002 eingerichtet hatte. Die klassischen Disziplinen des Museums überschreitend, findet im »Lokal Lieshout« die Reihe »Auslese« statt. Autoren, Schauspieler und Literaturwissenschaftler stellen an ausgewählten Tagen im Jahr eine eigene Auswahl von Büchern vor, die sich am Museum und seinen Inhalten orientiert und die dem Besucher einen eigenen Zugang zur Kunst bieten soll. Darüber hinaus bietet die wachsende Zahl an Literaturbeispielen, die im »Lokal« bereitsteht, Gelegenheit zum Lesen und Verweilen. Die nächste Unterbrechung im Sammlungsrundgang bildet eine Wandzeichnung des US-Amerikaners Sol LeWitt. Die Arbeit befindet sich unmittelbar in der Nähe des »Labors«, dem Raum der Museumspädagogik. Sie ist – ganz im Sinn der assoziativen Annäherung – zusammen mit Werken von Giorgio de Chirico und Hans Arp kombiniert. Die metaphysische Landschaft des Italieners findet auf der Zeichnung Widerhall in dem angedeuteten Horizont. Sol LeWitts Schwung der unendlichen Linie scheint aber auch die Bewegung der Form aus Arps Relief aufzunehmen.
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Lieshout nennt seinen Stil »primitiv modern«.
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Das zweite Haus der Kunstsammlung ist K21, das Ständehaus am Schwanenspiegel. Die historistische Architektur des späten 19. Jahrhunderts diente bis in die 1980er Jahre dem Parlament des Landes Nordrhein-Westfalen als Versammlungsort und wurde nach einer grundlegenden Sanierung 2002 eröffnet. Wechselausstellungen sind im K21 im Untergeschoss oder in der Bel Etage in kleinem oder mittlerem Format möglich.7 Die Aufgabe, Bau und Kunst miteinander sinnfällig zu verknüpfen, erforderte es, der kitschig anmutenden Neorenaissancearchitektur im Park mit spröden Arbeiten wie zum Beispiel dem Schloß (2002) von Andreas Slominski, Zim Zum II (1969/1985) von Barnett Newman oder dem Revolver mit dem Titel Idealmodell PK/90 (1987) von Olaf Metzel entgegenzuwirken. Im Inneren konterkariert die Eleganz eine Skulptur von Monika Sosnowska. The Staircase (2009) ist eine Wendeltreppe, die von einer rohen Kraft an die Außenseite des Kubus des Innenhofes gequetscht worden zu sein scheint. Auch im Ständehaus steht das Einzelwerk in seiner uneingeschränkten Entfaltung im Mittelpunkt. Die ehemaligen Abgeordnetenbüros, die um ein Atrium mit Arkadenumgängen angeordnet sind, gewannen atmosphärisch Geschlossenheit durch den Einbau kürzerer Wandstücke vor den Fensterfronten. Ackermann richtete hier ihre Aufmerksamkeit auf ausgewählte Beispiele der Klassischen Moderne, die durch die Schließung von K20 über fast zwei Jahre der Öffentlichkeit entzogen waren. Temporär kombinierte sie in der Präsentation Silent Revolution ausgewählte Werke mit zeitgenössischen Arbeiten wie zum Beispiel die Bilder von Piet Mondrian mit einer Skulptur von Gerhard Richter, Wassily Kandinskys Komposition IV (1911) mit Arbeiten von Joseph Beuys oder Die Nacht (1918/1919) von Max Beckmann mit Two Families (2002) von Thomas Hirschhorn. Mit der Wiedereröffnung von K20 wurde auch K21 noch einmal neu eingerichtet. Die kleinen Räume gewinnen eine besondere Qualität, wenn sie für raumbezogene Arbeiten und Künstlerinstallationen genutzt werden. In diesem Bereich besitzt die Kunstsammlung einen
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Die Flächen variieren zwischen 400 und 1000 qm.
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besonderen Schwerpunkt, der sich durch den Zuwachs der Privatsammlung von Heinz und Simone Ackermans im Jahr 2004 ergab. Zu diesem Zeitpunkt kamen zu den eigenen installativen Werken von Marcel Broodthaers, Imi Knoebel und Nam June Paik raumbezogene Arbeiten von Künstlern wie Christian Boltanski, Reinhard Mucha und Juan Muñoz dazu. Weitere Räume sind mit Werkensembles von Künstlern wie Katharina Fritsch, Kris Martin, Thomas Schütte oder Jeff Wall besetzt. Um das Prinzip abzurunden wurden Künstlerinnen wie Monica Bonvicini, Janet Cardiff oder Lucy Skaer eingeladen, eigene Rauminstallationen vorzunehmen. Der von Thomas Hirschhorn unter dem Titel Intensif-Station eingerichtete Parcours, der dem Projekt den Namen lieh, konnte kürzlich erworben werden. Zur Belebung der de Chirico-artigen Architektur von K21 forderte man ferner Künstler wie Ulla von Brandenburg oder Jen Christensen auf, die Umgänge zu gestalten. Die Präsentation im Ständehaus bietet einen Dialog zwischen Werken aus dem Bestand der Kunstsammlung und bisher nicht vertretenen Positionen. Er dient dazu, die Qualität der Sammlung zu überprüfen, befeuert aber auch den Diskurs über die künftige Ausrichtung der Erweiterung der eigenen Bestände. Ausgelöst durch das Vorhaben, die monumentale Installation Deutschlandgerät (1990/2002) von Reinhard Mucha temporär aus dem einzigen großformatigen Saal zu entfernen, wurde die Frage aufgeworfen, ob eine solche Arbeit integraler und unverrückbarer Bestandteil der Präsentation sein kann. Streitbare internationale Beiträge von Kollegen mündeten in der Überlegung, eine Gesprächsreihe zur konservatorischen und kuratorischen Freiheit im Umgang mit künstlerischen Rauminstallationen zu konzipieren. Die fortgesetzte Auseinandersetzung zur Sammlungspräsentation und zum Inhalt wie zur Gestaltung der Ausstellungen wird vor und mit dem Publikum geführt. Für diese Debatte eignet sich der dritte Standort der Kunstsammlung. In unmittelbarer Nachbarschaft des K20 am Grabbeplatz ist das Schmela Haus gelegen, der 1971 erbaute ehemalige Sitz einer kommerziellen Kunstgalerie. Die verschachtelte Architektur von großer Charakterstärke ist hervorragend für Diskussionsveranstal-
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tungen und Vorführungen geeignet. Im Vorfeld der Beuys-Ausstellung fand hier unter dem Titel Beuys ausstellen der Austausch von Erfahrungen von Beuys-Kuratoren und Weggefährten statt. Begleitend zur Beuys-Schau liefen Gespräche und Performances mit jungen Künstlern unter dem Motto »Von Beuys inspiriert«. Das Einzelwerk steht im Mittelpunkt in der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen. In der Fortführung der Tradition des Hauses ruht das Vertrauen auf der Kraft des Originals. Werner Schmalenbach fühlte sich allein der Qualität eines Werkes verpflichtet und empfand dieses Kriterium als ausreichend, um dem Besucher gegenüberzutreten. Armin Zweite brachte dem Publikum die Inhalte der Werke in Ausstellungen nahe. Marion Ackermann stellt die Vermittlung – sei es in der Schausammlung, sei es in Wechselausstellungen – ins Zentrum ihrer Tätigkeit. Sie führt die Idee fort, das Original für sich sprechen zu lassen, ohne zu versäumen, die Inhalte der Sammlung auf neue Weise zu aktivieren. Grundsätzlich gilt: Jedes Kunstwerk verdichtet auf einzigartige Weise einen sozialen, politischen und historischen Kontext. Das einzelne Werk als Beispiel des Kulturguts dient als Gedächtnis der Gesellschaft und es ist, wie Tobias Natter formuliert, »materieller Träger des kulturellen Erbes«.8 Kunst gibt jedoch keine Erklärungen. Bestenfalls vermittelt sie Utopien, selten vielleicht Weltbilder, häufig stehen sie wohl eher für deren Verwerfungen. Zur Vermittlung der komplexen Bezüge vertraut Marion Ackermann auf begleitende Maßnahmen: durch die spezifische Atmosphäre in den Ausstellungsräumen, durch die persönliche Teilhabe an den Angeboten und durch überraschende Konfrontationen. Die Kunstwerke provozieren Fragen oder lösen Irritationen aus, die letztlich das gesellschaftliche Bewusstsein des Individuums prägen. Im Leitbild der Kunstsammlung heißt es entsprechend: Wir vertrauen in die Kraft der Kunst, die Menschen zu bilden, zu
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Natter, Tobias G.: »Die Sammlung als Museumsfundament«, in: Tobias G. Natter/Michael Fehr/Bettina Habsburg-Lothringen (Hg.), Das Schaudepot. Zwischen offenem Magazin und Inszenierung, Bielefeld: transcript 2010, S. 137/138.
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unterhalten, zu verwandeln, zu neuen Denkpositionen zu bewegen und mit neuen Erfahrungen zu bereichern. Mit Kunst wollen wir zu Neuem und Unbekanntem vorstoßen. Wir verbinden Kunst mit dem realen Leben.
Vaterländische Alterthümer hinter entspiegeltem Glas Die Dauerausstellung des Landesmuseums für Vorgeschichte Halle H ARALD M ELLER
Bereits im Jahr 1882 beschloss der Landtag der preußischen Provinz Sachsen die Einrichtung eines Provinzialmuseums in der Neuen Residenz am halleschen Dom. Dieses konnte nach zwei Jahren als »Museum für heimatliche Geschichte und Alterthumskunde der Provinz Sachsen« eröffnet werden. Grundlage und zugleich der Anlass für die Präsentation bildete die außerordentlich reiche Sammlung des bereits 1819 auf der Burg Saaleck gegründeten »Thüringisch-Sächsischen Vereins für Erforschung des vaterländischen Alterthums und Erhaltung seiner Denkmale«. 1910 beschloss der Provinziallandtag den Bau eines eigenen Gebäudes für das Provinzialmuseum. Dieses wurde von 1911 bis 1913 nach den Entwürfen von Wilhelm Heinrich Kreis (1873-1955) erbaut (Abb. 1 und 2). Auf Grund des Ersten Weltkrieges musste die Eröff-
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nung des Museums mit einer neugestalteten Dauerausstellung jedoch bis zum 9. Oktober 1918 warten.1 Abb. 1 und 2: Das Landesmuseum für Vorgeschichte (vormals »Landesanstalt für Vorgeschichte«) in der Frontansicht vom Wettiner Platz aus gesehen: im Jahre 1918 (oben) und 2011 (unten). Bei den Eröffnungsfeierlichkeiten des neuen Museums mit neuer Dauerausstellung 1918 war eine Vielzahl hochrangiger Persönlichkeiten anwesend, darunter der Prähistoriker Oscar Montelius. © LDA (Abb. 1), Andrea Hörentrupp (Abb. 2).
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Zur Geschichte des Landesmuseums vgl. Dieter Kaufmann (Hg.): Jahresschrift für Mitteldeutsche Vorgeschichte 67. Zum hundertjährigen Bestehen des Landesmuseums für Vorgeschichte Halle. Dieter Kaufmann: »Provinzialmuseum – Landesanstalt – Landesmuseum – Landesamt für Archäologie. Zur Geschichte des Museums«, in: Harald Meller (Hg.), Schönheit, Macht und Tod. 120 Funde aus 120 Jahren Landesmuseum für Vorgeschichte Halle, S. 24-36.
V ATERLÄNDISCHE A LTERTHÜMER
HINTER ENTSPIEGELTEM
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Das Landesmuseum für Vorgeschichte ist somit der erste Museumszweckbau für prähistorische Archäologie in Deutschland. Die Fassade des neoklassizistischen, festungsartigen Baus greift mit den beiden markanten Türmen ein Zitat der Porta Nigra auf. Im Inneren reihen sich klar gegliederte Räume mit reduzierter Schmuck- und Formensprache um einen monumentalen, zentralen Innenhof (Abb. 3). In seiner Klarheit, Schlichtheit und Rationalität ist der Innenraum noch heute in idealer Weise für Ausstellungszecke nutzbar. Die Raumkubaturen mit hohen, im zweiten Stock lichtdurchlässigen Decken belegen eindrucksvoll, dass Wilhelm Kreis, der hauptberuflich der Tätigkeit als Direktor der Kunstgewerbeschule in Dresden nachging, auch als bedeutender Museumsarchitekt wahrgenommen werden muss. Seinem Wirken ist neben vielen anderen auch der Entwurf für das Dresdener Hygienemuseum zu verdanken.
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Abb. 3: Blick in den Lichthof im Zentrum des Landesmuseums. Der Aufbau der drei Geschosse ist klar strukturiert und entsprechend der neoklassizistischen Gestaltungsprinzipien durch die Verwendung von verschiedenen Gebälken auch hierarchisiert. © LDA. Die ursprüngliche Dauerausstellung ist im Laufe des 20. Jahrhunderts mehrfach überarbeitet und erneuert worden (Abb. 4). Auf Grund von Baumaßnahmen wurde sie zuletzt 1994 geschlossen und aus den sanierungsbedürftigen Räumen entfernt. Im Jahr 2001 wurde der Entschluss zu einer völligen Neukonzeption gefasst und zwei Jahre später der Bereich Altpaläolithikum wieder eröffnet. Seit 2008 ist die neue Dauerausstellung zum Paläolithikum, Mesolithikum, Neolithikum und zur Frühbronzezeit der Öffentlichkeit wieder im gesamten zweiten Stock des Gebäudes zugänglich. Seitdem wird die Dauerausstellung in chronologischer Folge kontinuierlich fortentwickelt.
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Abb. 4: Ausstellung zum Paläolithikum 1948. Blick in den Südwest-Eckturm in der zweiten Etage. © LDA.
G RUNDLAGEN
DER
AUSSTELLUNG
Das Landesmuseum bietet neben dem bedeutenden Baudenkmal selbst drei optimale Grundlagen für die Entwicklung einer Dauerausstellung. Den Ausgangspunkt bildet eine äußerst umfangreiche Sammlung mit derzeit etwa 15 Millionen Funden. Diese geht – wie bereits eingangs erwähnt – auf die Initiative des Thüringisch-Sächsischen Vereins Anfang des 19. Jahrhunderts zurück. Seitdem wurde die Sammlung kontinuierlich durch Funde aus eigenen Forschungs- und Rettungsgrabungen, aber auch gezielte Neuerwerbungen erweitert. Durch die Verabschiedung des neuen Denkmalschutzgesetzes im Jahr 1991 konnten im Zuge der großen Infrastrukturmaßnahmen während der letzen beiden Dekaden2 umfangreiche Grabungen durch das
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Beispielsweise im Rahmen der »Verkehrsprojekte Deutsche Einheit«, von denen fünf Schienen-, vier Straßen- sowie ein Wasserstraßenprojekt zumindest in Teilen das Bundeslandes Sachsen-Anhalt queren.
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Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie durchgeführt werden. Diese erbringen momentan pro Jahr einen Fundzuwachs von ca. 3000 Verpackungseinheiten.3 Da Museum und zugehörige Sammlung auf provinzialer Ebene angelegt wurden, reichen die Funde weit über die Grenzen des heutigen Landes Sachsen-Anhalt hinaus. Etliche der im Landesmuseum präsentierten Artefakte sind nicht nur von überregionaler Bedeutung, sondern, wie das Beispiel der Himmelsscheibe von Nebra4 eindrucksvoll belegt, auch von herausragendem europäischem Rang. Die Landesausstellung Der geschmiedete Himmel mit der bronzenen Himmelsscheibe im Mittelpunkt konnte auch an vier weiteren internationalen Häusern Besuchererfolge verzeichnen. Eine kleinere Variante reist mit hochwertigen Kopien bestückt als Wanderausstellung Ein Himmel auf Erden seit 2007 durch kleinere Museen in Deutschland. Ein Problem dieser umfassenden Sammlung waren – wie auch andernorts – die stets schwierigen Lagerungsbedingungen an vielen verschiedenen Standorten. Ab 2006 wurde in Sachsen-Anhalt daher systematisch damit begonnen, die Einzelmagazine an einem zentralen Sammlungsstandort im Norden der Stadt Halle zusammenzuführen (Abb. 5 und 6).
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Die im Magazin eingehenden Fundobjekte verschiedenster Gattungen und Größen werden in Verpackungseinheiten magaziniert. Diese können je nach Art und Fragmentierungsgrad der enthaltenen Funde von einem bis mehreren hundert Einzelstücken enthalten.
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Zur Himmelsscheibe vgl. Harald Meller (Hg.): Der geschmiedete Himmel. Die weite Welt im Herzen Europas vor 3600 Jahren. Harald Meller: »Nebra: Vom Logos zum Mythos – Biographie eines Himmelsbildes«, in: Harald Meller/Francois Bertemes (Hg.), Der Griff nach den Sternen, S. 23-73.
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Abb. 5 und 6: Zentraldepot in Halle. Hier werden seit 2006 alle Außenmagazine unter einem Dach zusammengeführt. Einer der ehemaligen Bodenspeicher beherbergt auch die Studiensammlung des Landes. © LDA.
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Weitere Grundlage einer jeden Ausstellung ist die intensive wissenschaftliche Durchdringung des eigenen Fundmateriales. Das Landesmuseum Halle hat sich in den fast 130 Jahren seines Bestehens einen ausgezeichneten wissenschaftlichen Ruf erarbeitet. Trotz der ungeheueren Fundmenge sind ganze Zeitabschnitte, wie beispielsweise das Neolithikum, in der Vergangenheit intensiv und auf der Höhe des jeweiligen Forschungsstandes vorbildlich aufgearbeitet worden. Diese Vorgehensweise wird auch heute mit einem erweiterten Team von zahlreichen Wissenschaftlern in einer Vielzahl vernetzter, transdisziplinärer Forschungsprojekte auf internationalem Standard fortgeführt. Ein hervorragendes Beispiel für die Ergebnisse dieser fachübergreifenden Forschungen sind die Familiengräber von Eulau, Burgenlandkreis. Die Resultate wurden international hochrangig publiziert und durch das Time Magazine zu den »Top 10 Scientific Discoveries« des Jahres 2008 gewählt.5 Drittes und letztes Standbein der Entwicklung der zukünftigen Dauerausstellung ergibt sich aus der Organisationsstruktur der hiesigen Landesarchäologie. Das Landesmuseum für Vorgeschichte sowie die Bodendenkmalpflege sind in Sachsen-Anhalt unter einer zentralen Lei-
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Im Kiestagebau Eulau konnten in vier schnurkeramischen Gräbern insgesamt 13 gewaltsam zu Tode gekommene Individuen nachgewiesen werden, die gleichzeitig bestattet wurden. Eines der Gräber birgt eine Vierfachbestattung, die auf Grund genetischer Analysen als älteste Kernfamilie der Welt anzusprechen ist. Vgl. z.B. Haak u.a. 2005; Haak u.a. 2008. Wolfgang Haak et al.: »Ancient DNA from the First European Farmers in 7500-Year-Old Neolithic Sites«, in: Science 310, S. 1016-1018. Wolfgang Haak et al.: »Ancient DNA, Strontium isotopes, and osteological analyses shed light on social and kinship organization of the Later Stone Age«, in: Proc. Nat. Acad. Scien. USA 105, S. 18226-18231. Zum Ranking des Time Magazine siehe Kluger 2008. Die wissenschaftliche Aufarbeitung des »Kriminalfalles« Eulau wurde außerdem im Rahmen der ZDF-Reihe Terra X filmisch umgesetzt und in einem Begleitbuch veröffentlicht.
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tung zusammengefasst. Die dadurch gewährleistete enge Zusammenarbeit mit ständigem Informationsaustausch erlaubt es, die frisch geborgenen Funde oder aber neue Erkenntnisse aus den verschiedenen Grabungsressorts sofort in die Konzeption der zu planenden Ausstellung einfließen zu lassen. Abb. 7: Nach nur zwei Jahren Bauzeit wurde im März 2008 die Restaurierungswerkstatt eingeweiht. Das Gebäude hinter dem eigentlichen Museumbau greift die Kubatur des Eckturmes auf der rechten Seite wieder auf (Entwurf dietzsch & weber, Halle). © Juraj Lipták, LDA.
Als Bindeglied zwischen Ausgrabung und Ausstellung dient die 2008 neu geschaffene, zentrale Restaurierungswerkstatt des Landesmuseums (Abb. 7). Die Funde gelangen direkt nach der Bergung in die Werkstatt und können so zeitnah dem Besucher in Ausstellungen zugänglich gemacht werden. Zu den eindrucksvollsten »Präparaten« zählen sicherlich die Blockbergungen. Durch eine Bergung en bloc ist es möglich nicht nur einzelne Funde, sondern ganze Befundzusammenhänge in eindrucksvollen Bildern auch in der Vertikale in die Ausstellung zu
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integrieren. In Sachsen-Anhalt blickt diese Bergungsmethode zudem auf eine lange Tradition zurück. Bereits bei der Ausgrabung des Gräberfeldes von Rössen, Saalekreis, wurden in den 1880er Jahren die Bestattungen auf diese Weise geborgen (Abb. 8). Abb. 8: Die Bergung einer Hockerbestattung der Rössener Kultur en bloc auf dem eponymen Gräberfeld in Rössen, Saalekreis, um 1886. © LDA.
P RINZIPIEN
DER
D AUERAUSSTELLUNG
Die Dauerausstellung des Landesmuseums wird seit 2003 in Einzelabschnitten nach chronologischer Reihung weiterentwickelt. Dabei profitieren die Wissenschaftler des Museums von den spezifischen Fachkompetenzen der Kollegen der Bodendenkmalpflege, die beratend hinzu gebeten werden. Weitere externe Kollegen werden als ausgewiesene Experten eines jeweils zu behandelnden Zeitabschnitts ergänzend hinzugezogen.
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Bei allen vorbereitenden Sitzungen zur Planung der Ausstellung sind zudem Gestalter bzw. Architekten anwesend. Sie sind an der baulichen Konzeption und deren Umsetzung maßgeblich beteiligt. Zu den grundlegenden Gestaltungsprinzipien der umfangreichen Dauerausstellung des Landesmuseums zählt unter anderem die Präsentation archäologischer Funde und Befunde entsprechend ihrer prinzipiellen chronologischen Abfolge. Dies schließt jedoch nicht die Implementierung thematischer Komplexe innerhalb dieser Abfolge aus. Die Basis jedes Ausstellungsabschnitts bilden immer die Originalfunde. Da es sich in der Regel nicht um Kunstwerke handelt, die um ihrer selbst willen ausgestellt werden, ist es zwingend notwendig die Funde zu interpretieren und zu kontextualisieren. In einem ersten Schritt müssen daher die höchst spezifischen wissenschaftlichen Kenntnisse auf das Wesentliche reduziert werden. Die Konzentration auf die essentiellen Inhalte ermöglicht es in einem weiteren Prozess, aussagefähige und assoziativ-künstlerische Bilder zu schaffen. Durch diese Bilder werden die wichtigsten wissenschaftlichen Aussagen für den Besucher schnell sowohl intellektuell als auch emotional fassbar und ermöglichen ihm zudem eine dauerhafte Memorierung. Ziel ist schließlich die Rekonstruktion historischer Lebensszenen auf Grund des erarbeiteten Forschungsstandes in Bezugnahme auf die originalen Funde. All dies gelingt nur unter Verwendung exzellenter, innovativer Ausstellungstechnik. Im Landesmuseum Halle zählt der Einsatz von entspiegeltem Glas, direktem Licht in den Vitrinen, schwebender Montage der Exponate sowie entsprechenden adäquaten Exponattexten zum Standard (Abb. 9). Die Verwendung dieser Elemente ist – entgegen einer weit verbreiteten Annahme – keineswegs generell kostspieliger. In eigener Ausschreibung und Planung liegen die anfallenden Kosten regelmäßig unter dem Preis für die Anschaffung von Standardvitrinen. So bleibt auch bei individueller Konzeption und herausragender Umsetzung einer Ausstellung die Wirtschaftlichkeit gewahrt. Doch ungeachtet aller theoretischen Grundlagen und Erläuterungen können inhaltliche Konzepte und die damit verbundenen gestalteri-
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schen Prinzipien am Besten durch einen kurzen Rundgang durch die Dauerausstellung verdeutlicht werden. Abb. 9: Die einzelnen neolithischen Kulturen wurden in chronologischer Reihenfolge in jeweils einer Vitrinenstele wiedergegeben. Die keramische Leitform ist in Sichthöhe schwebend hinter entspiegeltem Glas montiert und punktgenau ausgeleuchtet. Weitere, vertiefende Informationen kann der Besucher den Schubladenelementen entnehmen. © Juraj Lipták, LDA.
AUSSTELLUNGSBEREICH P ALÄOLITHIKUM Im Zentrum des Raumes ist die Rekonstruktion eines frühen Neandertalers aus dem Atelier Daynes (Paris) dem voranschreitenden Mammut von Pfännerhall gegenübergestellt. Entlang dieses Ensembles verläuft an einer der Längsseiten ein durchgehendes Artefaktband mit unzähligen Originalfunden zeittypischer Steingeräte. Die gegenüberliegende Wand nimmt neben der zeichnerischen Rekonstruktion von Fundorten auch ein in comichafter Manier skizzierter hypothetischer Tagesablauf einer Neandertalergruppe ein.
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Die Gesamtkonzeption des Raumes Alt- und Mittelpaläolithikum führt eindrucksvoll das Zusammenspiel von Raumarchitektur und gestalterischer Umsetzung vor Augen. Obwohl der Raum selbst einen weitläufigen, nicht verstellten Eindruck macht, ist durch die Einbeziehung der Wandflächen die Präsentation einer großen Funddichte möglich (Abb. 10). Abbildung 10: Der Ausstellungsraum zum Abschnitt Paläolithikum wirkt mit frei im Raum stehenden Objekten und durch die Einbeziehung der Wandflächen weitläufig und offen. Mit dem Rücken zum Betrachter sitzt der »Neandertaler als Denker«. © Juraj Lipták, LDA.
Eine der zentralen wissenschaftlichen Aussagen dieses Raumes ist die hohe Adaptionsfähigkeit des Neandertalers, die jener des Homo sapiens sapiens gleich kommen dürfte. Dies wird durch Originalfunde innerhalb der Ausstellung belegt. Gezeigt wird ein kleines Stück Birkenpech aus Königsaue, Salzlandkreis, das den ältesten Fingerabdruck der Welt trägt und vor ca. 80.000 Jahren als Werkstoff in einem kom-
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plizierten chemischen Verfahren hergestellt wurde. Um diese Fähigkeiten und Eigenschaften des Neandertalers bildlich zu fassen, wird die zentrale Aussage in Form des Urmenschen als Denker in Anlehnung an die bekannte Skulptur des Auguste Rodins zusammenfassend dargestellt (Abb. 11). Abb. 11: Die Dermoplastik eines Neandertalers als »Denker« ist eine der Schlüsselfiguren der Dauerausstellung. Sie vermittelt in eindrucksvoller Weise einen Einblick in die dem Homo sapiens bereits ähnliche Gedankenwelt der Hominiden in der Zeit um 200.000 v. Chr. © Juraj Lipták, LDA.
Die gänzlich andere, jägerische Lebensweise der Urmenschen wird durch den fiktiven Tagesablauf des 10. August vor 89.564 Jahren verdeutlicht. Obwohl die Bilder von ungewöhnlich umfangreichen Texten begleitet werden, wird dieser Ausstellungsabschnitt von den Besuchern häufig rezipiert, da die Szenen unmittelbar mit dem eigenen Alltagsgeschehen verglichen werden können. Das Thema der Jagd wird im südöstlichen Rundraum wieder aufgegriffen. Der Waldelefantenschlachtplatz von Gröbern, Landkreis Anhalt-Bitterfeld, wird in vier Versionen beleuchtet: Im Originalbefund, der daraus resultierenden Rekonstruktion des Waldelefanten, in der filmischen Dokumentation einer Jagd auf Elefanten mit Speeren in Zentralafrika sowie in einer bildlichen Interpretation des paläolithischen Jagdgeschehens. Auch sind die Originalfunde von der Interpretationsebene getrennt, lassen sich in der Betrachtung aber dennoch leicht zusammenführen (Abb. 12).
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Abb. 12: Im südöstlichen Rundraum des Museums wird der Waldelefantenschlachtplatz von Gröbern, Lkr. Anhalt-Bitterfeld, thematisiert. Neben dem rekonstruierten Elefanten sind hier die knöchernen »Abfälle« der Zerlegung desselben zu sehen. © Juraj Lipták, LDA.
Der nicht präzise fassbare Übergang vom Homo neanderthalensis zum Homo sapiens während des Aurignacien wird in der Raumgestaltung nur metaphorisch angedeutet: Das Artefaktband der Steinwerkzeuge durchbricht an dieser Stelle die Wand zum nächsten Raum. Bildlich wird der Menschenwechsel durch einen Neandertaler, der in einer Höhle verschwindet, vollzogen. Im nächsten Raum tritt aus derselben Höhle eine Homo sapiens-Frau heraus (Abb. 13 und 14). Dieser Raum ist dem späten Paläolithikum gewidmet. Das Artefaktband durchbricht ein aus der Decke vordringender Gletscher, als Symbol für den Impakt der letzten Eiszeit. Auch hier wird das Museum nicht als geschlossener Raum, der einzelne Exponate aufnimmt, verstanden – vielmehr greifen die Installationen selbst in den Raum ein und verändern ihn.
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Die zweite Längsseite nimmt den Tagesablauf des vorhergehenden Raumes wieder auf. Gezeigt wird ein Jahresablauf von Jägern in vier Sequenzen, der die Unterschiede von jägerischer und bäuerlicher Lebensweise verdeutlicht. Abb. 13 und 14: Am Übergang vom Pälao- zum Neolithikum vollzieht sich auch ein »Menschenwechsel«. Der Neandertaler verlässt die Bildfläche (li). Im nächsten Raum tritt die Homo sapiens-Frau aus der Höhle heraus (re). © Karol Schauer.
AUSSTELLUNGSBEREICH M ESOLITHIKUM Der zentrale Bereich des Abschnittes »Mesolithikum« ist das Grab der Schamanin von Bad Dürrenberg, Saalekreis. Die Vitrine mit diesem außergewöhnlichen Fund wird von den darunter angebrachten, präparierten Vögeln gleichsam hinweg getragen. Die zeichnerische Rekonstruktion der Schamanin, angefertigt von Karol Schauer, verdeutlicht ebenso wie der denkende Neandertaler eines der Grundprinzipien des Landesmuseums: Die Darstellung von vorgeschichtlichen Menschen
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geschieht immer in respektvoller und keineswegs herablassender Weise, so dass kein Eindruck von Primitivität oder gar Unterlegenheit erzeugt wird. Sowohl im Blick der Schamanin als auch in dem des Neandertalers wird deutlich, dass sich beide auf Augenhöhe mit dem Betrachter befinden (Abb. 15). Abb. 15: Die so genannte Schamanin von Bad Dürrenberg stellt die älteste Bestattung Mitteldeutschlands dar. Die Frau starb an einer bakteriellen Infektion der Zähne, die in der zeichnerischen Rekonstruktion an der verdickten Oberlippe zu erkennen ist. © Karol Schauer.
AUSSTELLUNGSBEREICH N EOLITHIKUM Am Übergang vom Meso- zum Neolithikum vollzieht sich der entscheidende Bruch in der Menschheitsgeschichte, der Wandel von jägerisch-nomadischer zur sesshaft-bäuerlichen Lebensform. Im Landesmuseum wird dieser Bruch durch eine große Lehmwand mit Gebäuderesten, brandgerodetem Wald und Tierspuren inszeniert. Die Querwand blockiert den Eingang zum eigentlichen Ausstellungsraum. Unzählige, zu beiden Seiten aus der Wand wachsende Gesichter sym-
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bolisieren die mit Beginn der Jungsteinzeit und den einhergehenden veränderten Lebensbedingungen einsetzende Bevölkerungsexplosion. Hat der Besucher vorbei an den Gesichtern die Lehmwand überwunden, steht er vor einer die gesamte Seitenwand bedeckenden Installation aus mehr als 4000 Steinbeilen, die wie ein Regen auf einen großen, zunehmend bearbeiteten Eichenstamm hernieder zu prasseln scheinen. Der Beilregen verdeutlicht die bis heute wirkende transformierende Wucht des Neolithikums (Abb. 16). Abb. 16: Im Bereich Neolithikum ist hinter einem domestizierten Rind – die umrahmende Vitrine ist allegorisch als Gehege zu verstehen – ein »Regen« von Steinbeilen zu sehen. Die Beile verbildlichen den nun massiven Eingriff des Menschen in seine Umwelt. © Juraj Lipták, LDA.
Diesem assoziativen und interpretierenden Bild stehen auf der gegenüberliegenden Wandseite wieder Originalfunde in chronologischer Reihung gegenüber. Nur die grundlegenden Informationen der jeweiligen archäologischen Kultur sind auf den ersten Blick erkennbar. Zur inhaltlichen Vertiefung können zahlreiche thematische Schubladen geöffnet werden. Diese befassen sich jeweils mit Angaben zu Ausbrei-
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tung der Kultur, Siedlungswesen und Bestattungspraktik. Die einzelnen Kulturen sind somit leicht untereinander vergleichbar und auch für Studienzwecke nutzbar. Bewusst sind Themenkomplexe mit derzeit noch mangelndem Kenntnisstand in den Schubladen mit einem Fragezeichen versehen. Neuentdeckungen können solche Fundlücken jederzeit schließen und die entsprechenden Informationen ergänzt werden. Für den Besucher ist auf diese Weise auch der momentane wissenschaftliche Forschungsstand transparent (vgl. Abb. 9). Für Kinder wurde eine zusätzliche Betrachtungsebene geschaffen, auf der die Ausstellungsinhalte durch Modelle besonders veranschaulicht werden. Der Tages- und Jahreszyklus aus dem Paläolithikum wird nun durch die bildliche Darstellung bäuerlichen Lebens in Doppelmonatsbildern – in Anlehnung an die Arbeiten Pieter Brueghel des Älteren – verdeutlicht. Eine Hauptattraktion des Museums sind sicherlich die Blockbergungen aktueller Grabungen. Die geborgenen Befunde werden, ähnlich Bildern, senkrecht an der Wand montiert. Zum einen ermöglicht diese vertikale Anbringung einen besseren Blick auf das Objekt, vor allem aber erlebt der Besuch auf diese Weise einen respektvollen Umgang mit den Bestatteten. Ein ausgezeichnetes Beispiel für die gelungene Präsentation von im Block geborgenen Gräbern sind die Familiengräber von Eulau (vgl. Anm. 5). Die Bestatteten standen entweder sozial miteinander in Beziehung oder gehörten einer Familie an. Sie sind vor über 4500 Jahren von Fremden ermordet und anschließend von der eigenen Gruppe liebevoll in Gräber gebettet worden. Die Beigabenausstattung ist gemäß der Schnurkeramischen Kultur mit Steinbeil und Fleischbeigaben äußerst spärlich. Wären die Gräber in üblicher archäologischer Manier ergraben worden, könnte sich der Ausstellungsbesucher bestenfalls sekundär durch Fotos über die originalen Befunde informieren. Durch die Bergung im Block wird das Bild der Bestatteten dem Betrachter gänzlich unverändert vor Augen geführt. Die liebevoll niedergelegten Familien erzeugen ein äußerst kraftvolles, emotionales Bild, das Raum und Zeit vergessen lässt
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und verdeutlicht, dass zentrale menschliche Werte nicht nur choro- sondern auch chronologisch universell sind. Die Gräber selbst sind in einem abgedunkelten Raum in Form eines Triptychons aufgestellt. In Verbindung mit der Beleuchtungsregie, die den Befund außen heller als innen ausleuchtet, erzeugt dies eine den Toten geschuldete, respektvolle Distanz (Abb. 17). Abb. 17: Aus der Zeit der Schnurkeramik-Kultur stammen die Familiengräber von Eulau, Burgenlandkreis, die als Block geborgen in der Ausstellung als Triptychon verbaut wurden. Das mittlere Grab birgt die älteste nachgewiesene Kernfamilie der Welt. © Juraj Lipták, LDA.
AUSSTELLUNGSBEREICH F RÜHE B RONZEZEIT Die Toten von Eulau sind chronologisch bereits am Ende des Neolithikums zu verorten. Der Wechsel zur Frühbronzezeit ist in erster Linie durch die nun regelhafte Verwendung des neuen Rohstoffes Metall charakterisiert. Neben der Präsentation anderer Hortfunde aus wertvollen Metallerzeugnissen ist die frühbronzezeitliche Himmelsscheibe von Nebra das
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wichtigste Ausstellungsobjekt des Landesmuseums. Sie ist ohne jede weitere Erklärung, für sich selbst wirkend in einem runden Raum, unter einem sich langsam drehenden Sternenhimmel aufgestellt. Die Vitrine, in der sie sich befindet, erinnert an die berühmte Stele aus Stanley Kubricks Film 2001: Odyssee im Weltraum (Abb. 18). Alle Informationen zur Himmelsscheibe, ihrer Entdeckung, Niederlegung und Deutung werden dem Besucher in einem Vorraum bereit gestellt. In den kommenden Jahren soll die Dauerausstellung von der Spätbronzezeit bis in die frühe Neuzeit weiter ausgebaut werden. Schon der kurze Rundgang durch das Landesmuseum Halle verdeutlicht, dass der Anspruch darin besteht, die Vorgeschichte zu kontextualisieren und in künstlerischen Bildern assoziativ erlebbar zu machen. Diese Bilder gründen auf umfassenden, wissenschaftlichen Diskussionen und verdeutlichen deren Quintessenz. Dennoch überprägen die Inszenierungen die zahlreichen Originale nicht, sondern unterstützen lediglich ihr Verständnis und helfen die Geschichte hinter dem Fund zu fassen. Das Landesmuseum bietet dem Besucher durch diese künstlerischen Installationen zudem die Möglichkeit, entweder in einem relativ zügigen Rundgang das Wesentliche zu erfahren, oder durch die zahlreichen, individuell zu nutzenden Vertiefungsebenen detailliertere Einblicke zu erhalten und auch bei mehrfachen Ausstellungsbesuchen immer wieder Neues zu entdecken.
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Abb. 18: In einem eigenen Raum wird die schwebend in einer schwarzen Stele montierte Himmelsscheibe von Nebra präsentiert. Über ihr dreht sich stetig der leuchtende Sternenhimmel. © Juraj Lipták, LDA.
L ITERATUR Kaufmann, Dieter (Hg.): Jahresschrift für Mitteldeutsche Vorgeschichte 67. Zum hundertjährigen Bestehen des Landesmuseums für Vorgeschichte Halle, 1984. Kaufmann, Dieter: »Provinzialmuseum – Landesanstalt – Landesmuseum – Landesamt für Archäologie. Zur Geschichte des Museums«, in: Harald Meller (Hg.), Schönheit, Macht und Tod. 120 Funde aus 120 Jahren Landesmuseum für Vorgeschichte Halle. Begleitband zur Sonderausstellung vom 11. Dezember 2001 bis 28.
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April 2002 im Landesmuseum für Vorgeschichte Halle, Halle (Saale): Landesamtf. Denkmalpflege u. Archäologie Sachsen-Anhalt 2001, S. 24-36. Meller, Harald (Hg.): Der geschmiedete Himmel. Die weite Welt im Herzen Europas vor 3600 Jahren. Begleitband zur Sonderausstellung, Halle (Saale): Theiss 2004. Meller, Harald: »Nebra: Vom Logos zum Mythos – Biographie eines Himmelsbildes«, in: Harald Meller/Francois Bertemes (Hg.), Der Griff nach den Sternen. Wie Europas Eliten zu Macht und Reichtum kamen. Internationales Symposium in Halle (Saale) 16.-21. Februar 2005. Tagungen des Landesmuseums für Vorgeschichte Halle (Saale) 05, Halle (Saale) 2010, S. 23-73. Haak, Wolfgang/Forster, Peter/Bramanti Barbara/Matsumura, Shuichi/ Brandt, Guido/Tänzer, Marc/Villems, Richard/Renfrew, Colin/Gronenborn, Detlef/Alt, Kurt Werner/Burger, Joachim: »Ancient DNA from the First European Farmers in 7500-Year-Old Neolithic Sites«, in: Science 310, 2005, S. 1016-1018. Haak, Wolfgang/Brandt, Guido/de Jong, Hylke/Meyer, Christian/Ganslmeier, Robert/Heyd, Volker/Hawkesworth, Chris/Pike, Alistair W.G./Meller, Harald/Alt, Kurt Werner: »Ancient DNA, Strontium isotopes, and osteological analyses shed light on social and kinship organization of the Later Stone Age«, in: Proc. Nat. Acad. Scien. USA 105, 2008, S. 18226-18231. Kluger, Jeffrey: Top 10 Scientific Discoveries. 10 – First Family, www.time.com/time/specials/packages/article/0,28804,1855948_1 863947_1863934,00.html (Zugriff 3.11.2008).
Was lange währt, soll gut sein Gespräch mit der Schweizer Ausstellungsgestalterin Ursula Gillmann
Bettina Habsburg-Lothringen (BHL): Ursula Gillmann, Sie sind seit vielen Jahren als Ausstellungsgestalterin tätig und arbeiten aktuell unter anderem an den Dauerausstellungen der Historischen Museen in Basel und Frankfurt. Wenn Sie zurückblicken, wie viele Ihrer Projekte waren Sonder-, wie viele Dauerausstellungen? Ursula Gillmann (UG): In meiner bisherigen 20-jährigen Praxis habe ich etwa 90 Sonderausstellungen gestaltet. Demgegenüber stehen etwa zehn Dauerausstellungen, wobei sich vier noch im Stand der Planung und Umsetzung befinden. Zu den genannten in Basel und Frankfurt gehören dazu Dauerausstellungen im Historischen Museum Hamburg sowie im Schloss Ludwigslust bei Schwerin. BHL: Ist Ihre Herangehensweise an eine Ausstellung anders, je nachdem ob diese auf Zeit oder Dauer angelegt ist? UG: In der Entwurfsphase scheinen mir die Unterschiede noch nicht sehr groß: Die Analyse des Ortes, die Beschäftigung mit dem Inhalt und dem Raum, die Diskussionen mit den Kuratorinnen und Kuratoren, die Suche nach einem Konzept, das Inhalt und Form verbindet, die
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Entwicklung einer Erzählung – all dies ist notwendig, gleich, ob es sich um eine temporäre oder permanente Ausstellung handelt. Gleichzeitig bringt die Erfahrung ein Wissen um die doch sehr unterschiedlichen Anforderungen und Rahmenbedingungen der beiden Ausstellungsformen und damit einen oft schon vorauseilenden Gehorsam mit sich, von dem sich zu lösen oft schwer fällt. Von daher bin ich ganz froh, den Einstieg in das Metier der Ausstellungsgestaltung und Szenografie über Sonderausstellungen, vor allem am Museum für Gestaltung Basel, genommen zu haben: Klassische museale Objekte spielten dort auf Grund der Themenwahl meist eine untergeordnete Rolle. Wichtig war der Raum als Medium der Vermittlung, meine Gestaltungen oft Rauminstallationen, die das Publikum ganz und gar in das Geschehen involviert haben. Beim Entwerfen und Entwickeln fühlte ich mich weitgehend frei von den ganzen Verboten, Don’ts und Tabus, die mit musealen Ausstellungen einhergehen. Gleichzeitig war man immer angehalten, mit den Ausstellungen über das Medium Ausstellung nachzudenken. BHL: Sie haben die unterschiedlichen Anforderungen und Rahmenbedingungen angesprochen. Worin liegen nun konkret diese Unterschiede zwischen Dauer- und Sonderausstellungen? UG: Ein wesentlicher Unterschied ergibt sich sicher aus der Grundintention und dem Ausgangsmaterial einer Ausstellung. Dauerausstellungen basieren gemeinhin auf den Sammlungen eines Museums, sie dienen der Präsentation der eigenen Bestände, Leihgaben gibt es im Normalfall nicht. Die inhaltlichen Konzepte und Vermittlungs- bzw. Gestaltungskonzeptionen drehen sich daher von Anfang an um die Objekte. Zum Ausstellungskonzept, mit dem man zu Beginn seiner Tätigkeit konfrontiert wird, erhält man zumeist schon eine Objektliste. Sonderausstellungen dagegen nehmen häufig nicht bei der Sammlung, sondern bei einem bestimmten Thema ihren Ausgang. Meine Aufgabe als Szenografin ist es dann, die Umsetzung des Themas in eine Ausstellung überhaupt erst zu entwickeln und zu überlegen, mit
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welchen Mitteln Inhalte am besten im Raum erzählt werden können. Das Objekt muss dabei je nach Thema nicht zwingend die Hauptrolle spielen, manche Themen lassen sich eben besser über den Raum, mit Hilfe von Installationen, Texten, Bildern und audiovisuellen Medien oder unter Einbeziehung des Publikums umsetzen. BHL: Sind museale Objekte demnach für Sie als Gestalterin bloß »gleichwertige« Bedeutungsträger in Ausstellungen? Welchen Bezug haben Sie zu den Dingen im Museum? UG: Von den Kuratorinnen und Kuratoren werden Objekte meist unter der Perspektive ihres fachwissenschaftlichen und Quellenwerts gesehen, wesentlich scheint ihre Brauchbarkeit für eine bestimmte Argumentation oder Beweisführung in der Ausstellungen. Gerade bei Dauerausstellungen verwende auch ich als Gestalterin viel Aufmerksamkeit auf die Objekte. Allerdings versuche ich, mit einem »unbefangenen Blick« an die Dinge heranzugehen und herauszufinden, welche ästhetischen, poetischen, assoziativen und emotionalen Qualitäten der Objekte in der Präsentation und für die Erzählung gestärkt werden können, insbesondere, wenn die unter kuratorischer Perspektive wichtigen Aspekte dem Ding nicht anzusehen sind. Ich gehe gerne mit in die Depots, um zu sehen, was nicht ausgewählt wurde und warum, und um vielleicht Dinge zu entdecken, die unentdeckte Qualitäten haben, die der fachliche Blick übersieht. BHL: Objekte zu präsentieren bzw. dauerhaft zu präsentieren bringt vermutlich auch klare Regelungen mit sich, was konservatorische Standards und Sicherheitsfragen angeht. Inwiefern beeinflussen solche Aspekte Ihre kreative Planungsarbeit? UG: Werden Objekte auf Dauer präsentiert, werden natürlich hohe Anforderungen hinsichtlich konservatorischer Bedingungen gestellt und die Restauratoren sind diesbezüglich wichtige Partner. Speziell bei Dauerausstellungen müssen die verwendeten Materialien, die Lacke,
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Kleber und Dichtungen, die Drucke und Objektsockel auf Jahre hinaus emissionsfrei bleiben. Vitrinen müssen staub- und klimadicht sein oder eben doch luftdurchlässig. Alles muss erdbebensicher montiert werden, es muss geprüft werden, wie lange Dinge liegen, stehen oder hängen dürfen. Dann kommen noch das Klima dazu, der Luftzug und mögliche Erschütterungen durch z.B. die Straßenbahn. Und alles muss immer geprüft und belegt sein. Eine Herausforderung, die sich bei Sonderausstellungen für die Gestaltung nicht in gleichem Maße stellt. BHL: Und zu Klima und Erschütterungen durch Straßenbahnen kommt der tagtägliche Ausstellungsbetrieb … UG: Ja, eine Dauerausstellung muss robust sein, am besten vandalensicher. Sie muss im Idealfall auch die dreihundertste Schulklasse noch unbeschadet überstehen, die Knöpfe, Klappen und Schubladen immer noch funktionieren. Und wenn doch etwas altert oder beschädigt wird, ganz einfach ersetzt werden können. Man soll überall gut putzen können, keine unzugänglichen Hohlräume schaffen für Mäuse und anderes Getier. Die Ausstellung muss mit einem Schalter ein- und ausgeschaltet werden können, alle Lampen problemlos gewechselt, die Medien jederzeit erneuert werden können. Ach ja – und zuviel Energie sollte sie auch nicht brauchen. Schließlich muss die Möglichkeit, Sammlungsobjekte zu bearbeiten, zu erforschen oder zu verleihen, erhalten werden und so auch eine klimadichte Vitrine jederzeit problemlos von einer Person geöffnet werden können. BHL: Das klingt nach einer Vielzahl von notwendigen Überlegungen im Vorfeld. Gibt es denn eine Korrespondenz zwischen der Dauer der Planung und der angestrebten Lebensdauer einer Präsentation? UG: Natürlich sind Planungen für Dauerausstellungen in der Regel wesentlich zeitaufwendiger. Ist bei Sonderausstellungen das Verhältnis von Idee/Entwurf zu Planung vielleicht 40:60, so liegt es bei Dauerausstellungen bei 20:80 und es braucht wesentlich mehr Energie, die Qua-
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lität der Ideen vom Beginn über die ganze Planungszeit hinweg bei allen Rahmenbedingungen aufrecht zu erhalten. Auch der Entwicklungs- und Planungsprozess mit dem Museumsteam ist bei permanenten Ausstellungen ein anderer. Sonderausstellungen haben einen kürzeren Projektzeitraum: von dem Zeitpunkt an, an dem wir als Gestalter involviert werden, dauert die Arbeit von vier Monaten (das ist schon sportlich) bis zu maximal zwei Jahren. Bei Dauerausstellungen hatte ich noch kein Projekt unter zwei Jahren, die aktuellen, zu Beginn angesprochenen Dauerausstellungen haben Planungshorizonte von bis zu sechs Jahren. In dieser Zeit ändern sich Ideen, gibt’s neue Erkenntnisse, werden neue Sammlungskonvolute entdeckt und manchmal wird vergessen, was man vor zwei Jahren schon entschieden hatte. Der Adrenalinspiegel und die Dynamik lassen sich bei diesen Zeiträumen nicht immer aufrechterhalten. Und ich muss mir meiner Ideen sicher sein, wenn ich nach ihrer Entwicklung drei bis vier Jahre an ihnen weiterarbeiten muss. BHL: Sie haben bereits die Restauratoren und die Museumsteams angesprochen. In welchen Teams entstehen Sonder- bzw. Dauerausstellungen? Spiegelt sich die Komplexität eines Vorhabens in der Anzahl und Zusammensetzung der beteiligten Personen und Professionen wider? UG: Sonderausstellungen haben meist kleinere Projektteams. Auch wenn sie an einem Museum entstehen, werden sie teilweise von externen Kuratoren verantwortet, die Fachleute des Themas und nicht unbedingt der Sammlungen sind. Die Konzeptentwicklung kann hier oft in intensiven Diskussionen in einem »Kernteam« stattfinden. Bei Dauerausstellungen sind die Organigramme erwartungsgemäß komplexer: Projektleiter, verschiedene Kuratoren, die Verantwortlichen für Vermittlung, Restaurierung und Betriebstechnik, die ITBeauftragten, die Vertretungen der Bauherrenschaft, der Bau- und Finanzbehörden usw. Da Dauerausstellungen feste Installationen sind, sind sie zudem oft mit Umbau- und Sanierungsarbeiten verbunden, was die Einbeziehung von Ingenieuren, Elektro-, Lüftungs- und Medien-
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planern notwendig macht. Und alle möchten gerne mitreden, manchmal auch mitgestalten und natürlich zu einem frühen Zeitpunkt über die Wirkungsweise konzeptioneller und gestalterischer Entscheidungen Bescheid wissen: Das Sicherheitsbedürfnis in Bezug auf die entsprechenden Entscheidungen ist groß. BHL: Welchen Einfluss hat die Größe eines Projektteams auf die Kommunikation und Entscheidungsfindung? Sind hier – je nach Anzahl und professionellem Hintergrund der beteiligten Personen – unterschiedliche Zugangsweisen erforderlich? UG: Für mich bedeuten große Projektteams hohe Ansprüche bezüglich Kommunikation und Visualisierung. Es ist wesentlich einfacher, bei Sonderausstellungen jene Vertrauensbasis zu entwickeln, die uns Gestaltern die Möglichkeit zur freien Entscheidung innerhalb unseres Zuständigkeitsbereichs bringt, als dies bei Dauerausstellungen der Fall ist, die durch diverse Gremien und Kommissionen mitbestimmt werden. Man muss hier wesentlich mehr kommunizieren und darstellen, argumentieren und nachweisen. Dies ist manchmal gerade deshalb schwierig, weil sich inszenatorische, atmosphärische oder performative Wirkungen schwer im Vorfeld vermitteln lassen. Zudem führen große Planungsteams manchmal dazu, dass man als Gestalter in die Rolle kommt, die Regie des Prozesses hin zu tragfähigen Entscheidungen übernehmen zu müssen. Das Management von Kompromissen will geübt sein, damit das Konzept nicht in Einzelteile zerfällt oder aus einer Museumsausstellung mit sechs Kuratoren sechs Ausstellungen werden – außer das wäre das Konzept … BHL: Hinter der Neuplanung einer Dauerausstellung steht häufig eine Kommune, eine Stadt oder ein Ministerium als Auftraggeber und Geldgeber. Beeinflussen Auftraggeber die Arbeitsweise? UG: Öffentliche Auftraggeber und öffentliche Mittel bringen bestimmte Regeln mit sich. So ist man bei den Vergaben an die Submissionsvor-
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schriften gebunden, der klassische Ablauf von Entwurf, Planung und Ausschreibung muss eingehalten werden, der administrative Aufwand ist hoch. Dagegen lassen Sonderausstellungen, speziell wenn es sich um kleinere Projekte handelt, noch Platz für Spontanität und Entwicklung im Prozess – durchaus zum Vorteil des Endergebnisses: Man experimentiert im Ausstellungsraum, erprobt Lösungen gemeinsam mit Handwerkern oder Künstlern oder findet den besten Weg erst in der konkreten Anschauung diverser Varianten. BHL: Eine Schwierigkeit bei Dauerausstellungen ist bestimmt, dass ihre Ästhetik Bestand haben soll, sie auch noch nach 15 Jahren ansehnlich sein muss. Ist das zu schaffen? UG: Dieser Anspruch einer zeitlosen Ästhetik wird meist schon im ersten Anforderungskatalog für die Gestalter aufgeführt: Es wird erwartet, dass eine Dauerausstellung über 15 bis 20 Jahre zeitgemäß und modern wirkt, gleichzeitig klassisch und zurückhaltend ist, mit Materialien von hochwertiger Anmutung. Daraus ergibt sich ein gewisser Vorbehalt gegenüber expressiven Gestaltungen und Inszenierungen, ebenso gegenüber neuer, wenig erprobter Technik. Ich denke, dass man Dauerausstellungen immer und in jedem Falle die Zeit ihrer Entstehung ansieht, sie ist immer »state of the art«, im besten Fall Avantgarde ihrer Zeit. BHL: Wie halten Sie es mit der Integration von audiovisuellen Medienangeboten, die oft schon nach wenigen Jahren alt aussehen? UG: Durch die aktuell rasante Entwicklung der Medientechnik wird das Verfallsdatum zurzeit drastisch verkürzt und die Ausstellungen veralten diesbezüglich tatsächlich dementsprechend schnell – sowohl was die Hardware, die Interfaces, die Interaktionskonzepte und die Zeitindikatoren aktuellen Bildmaterials anbelangt. Dies spricht meiner Ansicht nach dafür, gerade in Dauerausstellungen medial zurückhaltend zu agieren und auf analoge Aktionen und Interaktionen, auf Ob-
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jekt und Raum zu setzen und die medialen Inszenierungen eher den kurzfristigen Formaten vorzubehalten. BHL: Wir haben bereits über die (Un-)Möglichkeit einer dauerhaft gültigen Präsentationsästhetik gesprochen. Aus museologischer Sicht sind Dauerausstellungen auch auf Grund der in ihnen suggerierten dauerhaften Gültigkeit der Inhalte ein schwieriges Thema. Ist das etwas, womit sich eine Ausstellungsgestalterin befassen muss? UG: Es ist so, dass bei Dauerausstellungen nicht nur die ästhetische, sondern auch die inhaltliche Risikobereitschaft kleiner ist, mit Auswirkungen für die Gestaltung: Für viele Museumsleiter oder Kuratoren ist die Planung einer neuen Dauerausstellung einmalig in ihrer Museumskarriere. Entsprechend hoch ist der Druck und die Angst vor der Fachkollegenschaft ist manchmal größer als die Sorge um das Publikum. Ausgestellt werden kann folglich nur, was wissenschaftlich die nächsten Jahre standhält, alles muss möglichst vollständig und ausführlich gesagt werden. Das kann dazu führen, dass auch kleine Themenbereiche enzyklopädisch werden und mehr als »wissenschaftliche Abhandlungen« denn als »Essays« angelegt sind – um bei der Textmetapher zu bleiben. Der Prozess der didaktischen Reduktion ist dann meist langwierig und der Platzbedarf für Texte, vielleicht auch noch dreisprachig, wächst exponenziell. Ausstellungen sind als bildlich-räumliches Medium grundsätzlich ein unpräzises, unscharfes Kommunikationsmedium. Je eindeutiger die Information sein soll, desto mehr muss man auf die Vermittlung durch Text zurückgreifen. Zeichnet sich dies ab, so habe ich als Gestalterin die Strategie, Gefäße für dieses Wissen zu schaffen, die sich allerdings nicht in den Vordergrund der Ausstellung drängen. Idealer scheint es mir, von Anfang an gemeinsam ein verbindliches Vermittlungskonzept zu entwickeln, dass die Rolle der Texte ganz klar und auch in der Menge definiert. Eine andere Strategie ist es, mittels Gestaltung und Vermittlung ein deutungsoffenes Konzept zu entwickeln, das bei der Objektpräsenta-
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tion unterschiedliche Befragungen und Interpretationen der Objekte zulässt. Die Objekte bleiben dabei möglichst autonom und werden nicht in eine Erzählung eingebunden. Für mich als Gestalterin ist dies als Aufgabe schwieriger, da ich die Dinge »als etwas« ausstelle und ich für die Gestaltung gerne Themen oder Thesen habe, um daraus die Rauminstallation, den Kontext zu entwickeln. Wenn der Kontext »nur« Museum ist, sind die Gestaltungsspielräume geringer. Schließlich bleibt noch die Möglichkeit, in der Gestaltung eine bestimmte Flexibilität anzulegen. Warum nicht Inhalte und Objekte im Lauf der Zeit auswechseln oder neuen Erkenntnissen und Fragestellungen anpassen? Vor allem bei großen Investitionen sollen die Raumeinbauten, Vitrinen, Installation, Strukturen auch andere Bespielung zulassen. Nicht von ungefähr haben Schaudepots als Format für Dauerausstellungen zurzeit Konjunktur, weil sie genau diese Offenheit oder Wechsel der Interpretationen auf lange Zeit zulassen und die Ausstellungsmacher nicht zur Stellungnahme zwingen. BHL: Was wäre – abschließend – Ihr Wunsch, auch an Museumsverantwortliche und Kuratoren, für zukünftige Projekte? UG: Sonderausstellungen machen mehr Spaß, Dauerausstellungen mehr Arbeit. Für letztere wäre mehr Risiko- und Experimentierbereitschaft von Seiten der Projektpartner schön, auch um das Format stärker für neue Ansätze und Entwicklungen zu öffnen. Sonderausstellung könnten dabei besser genutzt werden, um Neues auszutesten und zu erproben, was das Medium Ausstellen sein kann. BHL: Vielen Dank für das Gespräch!
Die Autoren dieses Bandes
Prof. Dr. Michael Fehr studierte Kunstgeschichte und Geschichte in Bochum und promovierte bei Max Imdahl über ein frühmittelalterliches Thema. Er war wissenschaftlicher Mitarbeiter am Museum Bochum und an der GHS Universität Wuppertal (Lehrstuhl Ästhetik/Kunstvermittlung). 1987-2005 leitete er das Karl Ernst OsthausMuseum Hagen. Seit 2003 ist er Vorsitzender des Werkbundarchiv e.V., Berlin und seit 2005 Professor und Direktor des Instituts für Kunst im Kontext an der Universität der Künste Berlin. Peter Fischer studierte Kunstgeschichte in Zürich. Von 1991 bis 1994 war er Direktionsassistent am Schweizerischen Institut für Kunstwissenschaft (SIK). Von 1995 bis 2001 war er als Konservator und Kurator maßgeblich an der Entwicklung der Daros Collection, die in dieser Zeit auch ihr Museum in Zürich eröffnete, beteiligt. Von 2001 bis 2011 war er Direktor des Kunstmuseums Luzern, das unter seiner Leitung zu einem der fünf bestbesuchten öffentlichen Kunstmuseen der Schweiz avancierte. Mit seinen Ausstellungen und den Vermittlungsprogrammen prägte er maßgeblich das Profil seines Hauses und entschied sich auch für einen neuen Weg des Umgangs mit den eigenen Sammlungsbeständen. Prof. Ursula Gillmann ist Ausstellungsgestalterin, Professorin für Ausstellungsdesign an der Hochschule Darmstadt/Fachbereich Gestal-
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tung und mit dem atelier gillmann Partnerin der arge gillmannschnegg in Basel, Projekte: Alpenverein Museum Innsbruck, Alltag – eine Gebrauchsanweisung Technisches Museum Wien, Terra Cognita Ruhrlandmuseum Essen, PSYCHOanalyse Jüdisches Museum Berlin, MEGA GRIECHISCH ZOOM Kindermuseum Wien, Tabu Museum Baselland u.a. Aktuelle Projekte: Dauerausstellung Historisches Museum Basel, Dauerausstellung Historisches Museum Frankfurt. Dr. Marc-Olivier Gonseth studierte Ethnologie, Linguistik und Französisch. Von 1983-87 war er Assistent, danach bis 1991 Lehrbeauftragter am Ethnologischen Institut der Universität Neuchâtel. Er führte Feldforschungen in der Schweiz, in Frankreich, auf den Philippinen und La Reunion durch. Gleichzeitig kuratierte er Sonderausstellungen für das Ethnologische Museum Neuchâtel. 1992 wechselte er endgültig an das Museum, für das er in der Folge zahlreiche weitere Sonderausstelllungen u.a. Le musée cannibale konzipierte. Seit 2006 leitet er das Ethnologische Museum Neuchâtel als Direktor. Gemeinsam mit Jacques Hainard entwickelte er das Konzept der Muséologie de la rupture. Dr. Bettina Habsburg-Lothringen studierte Geschichte und Deutsche Philologie. Sie beschäftigt sich seit dem Studium mit Fragen musealer Wirklichkeitskonstruktion und Konzepten zur Wissenschaftspräsentation. Nach ihrem Studium war sie zwei Jahre lang für ein Berliner Ausstellungsbüro tätig, seit 2005 ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin und seit 2010 Leiterin der Museumsakademie Joanneum Graz. Seit 2001 diverse Lehraufträge an den Universitäten Innsbruck und Klagenfurt sowie der FH Joanneum Graz, seit 2009 Mitglied des Museumsförderbeirats des Bundesministeriums für Unterricht, Kunst und Kultur. Dr. Felicitas Heimann-Jelinek studierte Judaistik und Kunstgeschichte in Jerusalem und Wien. Sie war von 1993 bis 2011 Chef-Kuratorin am Jüdischen Museum der Stadt Wien. Der Schwerpunkt ihrer Arbeit liegt auf der Konzeption von Ausstellungen zu kulturhistorischen und religionsgeschichtlichen Fragen. Sie lehrt ab 2012 an der Hochschule
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für Jüdische Studien in Heidelberg, ist im Advisory Board des European Shoah Legacy Institute und ist Mitglied des Beirats im Jüdischen Museum Hohenems. Dr. Anette Kruszynski studierte Altphilologie, Italienischen Romanistik, Kunstgeschichte, Psychologie und Medizin und promovierte über die Emblematik des 16. Jahrhunderts. Nach Aufenthalten in London und Rom und einem Volontariat an der Staatsgalerie Stuttgart lehrte sie an der Heinrich Heine-Universität Düsseldorf. Seit 1986 ist sie an der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf, zunächst im Bereich der Wechselausstellungen, dann als Sammlungsleiterin tätig. Seit 2009 leitet sie die wissenschaftliche Abteilung. Sie publiziert und kuratiert Ausstellungen zur Kunst des 20. und 21.Jahrhunderts, so zu Max Beckmann, Gerhard Richter, Thomas Struth etc. Dr. Dirk Luckow studierte Kunstgeschichte, Archäologie und Alte Geschichte an der Freien Universität in Berlin. Nach seiner Tätigkeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Kunstsammlung NordrheinWestfalen, Düsseldorf, am Solomon R. Guggenheim Museum New York und beim Württembergischen Kunstverein Stuttgart betreute er das Projekt Bildende Kunst des Siemens Art Program. 2002 folgte er Hans Werner Schmidt als Direktor der Kunsthalle zu Kiel und war damit auch geschäftsführender Vorsitzender des Schleswig-Holsteinischen Kunstvereins Kiel. Dort realisierte er die Ausstellungen Der demokratische Blick und Der freie Blick, bei denen er die hauseigenen Sammlungen zum Thema von Sonderausstellungen machte. Seit 2007 ist er Mitglied im Künstlerischen Beirat der Temporären Kunsthalle Berlin. 2009 wurde er Intendant der Deichtorhallen in Hamburg. Prof. Dr. Harald Meller studierte Vor- und Frühgeschichte, Provinzialrömische Archäologie und Ethnologie in München und Berlin. Ab 1991 arbeitete er als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Urund Frühgeschichte der Universität Köln. 1995 nahm er seine Tätigkeit im Landesamt für Archäologie Sachsen auf. Seit 2001 ist er Landes-
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archäologe von Sachsen-Anhalt sowie Direktor des Landesmuseums für Vorgeschichte Halle an der Saale. Dr. Jakob Messerli studierte Geschichte, Philosophie und Psychologie in Zürich und Bern. Nach einigen Jahren Tätigkeit in Forschung und Lehre leitete er ab 1996 das Deutsche Uhrenmuseum Furtwangen/Schwarzwald, danach das baden-württembergische Landesmuseum für Technik und Arbeit, Mannheim. 2003 übernahm er als Direktor das Museum für Kommunikation in Bern, wo er die zweite Hälfte der kompletten Neugestaltung der Schausammlung realisierte. Seit März 2010 ist er Direktor des Historischen Museums Bern. Dr. Tobias G. Natter, Studium der Kunstgeschichte und Geschichte in Innsbruck, München und Wien. Fünfzehn Jahre an der Österreichischen Galerie Belvedere Wien, zuletzt als Chefkurator. Wiederholt Gastkurator für das Jüdische Museum Wien. 2001-2002 Kurator der Neuen Galerie New York. Umfangreiche Publikationstätigkeit sowie Konzeption und Organisation von Ausstellungen zu »Wien um 1900« weltweit. Von 2006-2011 war er Direktor des Vorarlberger Landesmuseums in Bregenz mit der museologischen Verantwortung für den Neubau und die inhaltliche Neukonzeption. Seit Oktober 2011 steht er dem Leopold Museum in Wien als Direktor vor. Prof. Dr. Michael Parmentier studierte unter anderem Germanistik, Geschichte, Philosophie, Erziehungswissenschaft und Soziologie. Er lehrte zuletzt von 1993-2003 Allgemeine Erziehungswissenschaft und Museumspädagogik am Institut für Allgemeine Pädagogik der Humboldt-Universität zu Berlin. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen im Bereich der Ästhetischen Bildung und Bildungstheorie, beide bezogen auf die Institution des Museums. In seiner wissenschaftlichen Arbeit beschäftigt er sich unter anderem mit dem Bildungssinn der Dinge und mit der Frage nach der Möglichkeit und Angemessenheit von Narration im Museum.
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Dr. Michaela Reichel studierte Vor- und Frühgeschichte sowie Publizistik und Kommunikationswissenschaften an den Universitäten Wien und Innsbruck. Nach ihrer Tätigkeit für das Bundesdenkmalamt Wien, das Germanische Nationalmuseum Nürnberg und das Kunsthistorische Museum Wien arbeitete sie von 2008 bis 2011 am Vorarlberger Landesmuseum als Projektleiterin für das neue Museum. Seit Februar 2012 ist sie Direktorin des Textilmuseums St. Gallen.
Schriften zum Kultur- und Museumsmanagement Barbara Alder, Barbara den Brok Die perfekte Ausstellung Ein Praxisleitfaden zum Projektmanagement von Ausstellungen März 2012, ca. 200 Seiten, kart., ca. 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1489-3
Patrick S. Föhl, Patrick Glogner Kulturmanagement als Wissenschaft Überblick – Methoden – Arbeitsweisen. Einführung für Studium und Praxis September 2012, ca. 150 Seiten, kart., ca. 13,80 €, ISBN 978-3-8376-1164-9
Carl Christian Müller, Michael Truckenbrodt Handbuch Urheberrecht im Museum Praxiswissen für Museen, Ausstellungen, Sammlungen und Archive Mai 2012, ca. 200 Seiten, kart., ca. 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1291-2
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Schriften zum Kultur- und Museumsmanagement Andrea Rohrberg, Alexander Schug Die Ideenmacher Lustvolles Gründen in der Kultur- und Kreativwirtschaft. Ein Praxis-Guide 2010, 256 Seiten, kart., zahlr. Abb., 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1390-2
Gernot Wolfram (Hg.) Kulturmanagement und Europäische Kulturarbeit Tendenzen – Förderungen – Innovationen. Leitfaden für ein neues Praxisfeld April 2012, ca. 280 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1781-8
Jochen Zulauf Aktivierendes Kulturmanagement Handbuch Organisationsentwicklung und Qualitätsmanagement für Kulturbetriebe Oktober 2012, ca. 200 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1790-0
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Schriften zum Kultur- und Museumsmanagement Joachim Baur (Hg.) Museumsanalyse Methoden und Konturen eines neuen Forschungsfeldes 2010, 292 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN 978-3-89942-814-8
Hartmut John, Hans-Helmut Schild, Katrin Hieke (Hg.) Museen und Tourismus Wie man Tourismusmarketing wirkungsvoll in die Museumsarbeit integriert. Ein Handbuch
Claudia Gemmeke, Franziska Nentwig (Hg.) Die Stadt und ihr Gedächtnis Zur Zukunft der Stadtmuseen
2010, 238 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1126-7
2011, 172 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 20,80 €, ISBN 978-3-8376-1597-5
Peter Leimgruber, Hartmut John Museumsshop-Management Einnahmen, Marketing und kulturelle Vermittlung wirkungsvoll steuern. Ein Praxis-Guide
Susanne Gesser, Martin Handschin, Angela Jannelli, Sibylle Lichtensteiger (Hg.) Das partizipative Museum Zwischen Teilhabe und User Generated Content. Neue Anforderungen an kulturhistorische Ausstellungen Mai 2012, ca. 300 Seiten, kart., ca. 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1726-9
Doris Harrasser, Karin Harrasser, Stephanie Kiessling, Karin Schneider, Sabine Sölkner, Veronika Wöhrer Wissen Spielen Untersuchungen zur Wissensaneignung von Kindern im Museum (2., überarbeitete Auflage) Mai 2012, 304 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1926-3
2011, 348 Seiten, kart., Prof. Begleit-CD-ROM, 35,80 €, ISBN 978-3-8376-1296-7
Tobias G. Natter, Michael Fehr, Bettina Habsburg-Lothringen (Hg.) Das Schaudepot Zwischen offenem Magazin und Inszenierung 2010, 174 Seiten, kart., zahlr. Abb., 18,80 €, ISBN 978-3-8376-1616-3
Martina Padberg, Martin Schmidt (Hg.) Die Magie der Geschichte Geschichtskultur und Museum (Schriften des Bundesverbands freiberuflicher Kulturwissenschaftler, Band 3) 2010, 208 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 23,80 €, ISBN 978-3-8376-1101-4
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