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German Pages 160 Year 2004
Sozialwissenschaftliche Schriften Heft 41
Die postmoderne Gesellschaft und der religiöse Pluralismus Eine sozialethische Analyse und Beurteilung
Von
Rolf Kramer
asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin
ROLF KRAMER
Die postmoderne Gesellschaft und der religiöse Pluralismus
Sozialwissenschaftliche Schriften Heft 41
Die postmoderne Gesellschaft und der religiöse Pluralismus Eine sozialethische Analyse und Beurteilung
Von
Rolf Kramer
asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
Alle Rechte vorbehalten # 2004 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: Klaus-Dieter Voigt, Berlin Druck: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten (Allgäu) Printed in Germany ISSN 0935-4808 ISBN 3-428-11653-4 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *
Internet: http://www.duncker-humblot.de
Vorwort Die Verstaatlichung von Kirchengütern in Europa hat in den letzten zwei Jahrhunderten stark zugenommen. Außerdem ist in den vergangenen Jahrzehnten eine Verweltlichung religiöser Vorstellungen und Glaubensinhalte gewachsen. Es stellt sich deshalb die Frage: Was sind die Gründe für die schnelle und nachhaltige Veränderung des humanistisch-christlichen Abendlands? Viele Menschen geben entweder ihren Glauben auf oder wenden sich, statt der eigenen religiösen Herkunft zu trauen, unterschiedlichen religiösen Betätigungen oder fernöstlichen Lebensweisheiten zu und glauben, dort ihr Glück zu finden. Kirche, Theologie und gesellschaftliche Kräfte haben sich solcher Entwicklung zu stellen, auch wenn sie sich weiterhin überlieferten ethischen Werten verpflichtet fühlen. Glauben und Ethik gehören zusammen. Der christliche Glaube will die Menschen zur Umkehr bringen und die Welt verändern. Das kann nur in Verbindung mit einer am Glauben ausgerichteten ethischen Orientierung geschehen. So war es seit Anfang der christlichen Religion und so ist es heute noch. Ethik versteht sich als wissenschaftliche Reflexion. Sie setzt sich mit der Wertorientierung des Menschen auseinander. Die Frage danach stellt sich allerdings ständig neu. Gegenwärtig scheint die Zeit der großen Entwürfe überholt zu sein. Weder wird sich zukünftig die Welt allein nach den Zehn Geboten oder nach dem Liebesgebot des Neuen Testaments noch nach dem kategorischen Imperativ Kants oder nach irgendeiner anderen Ordnung richten. Die Ethik darf nicht das einzige sein, was Kirche und Theologie anzubieten haben. Immerhin bleiben sie in dem gesellschaftlichen Diskurs als entscheidende Instanzen gefragt. In der Vergangenheit galt im Christentum durchweg, dass der Gläubige das Böse, das über ihn kam, bewältigt, indem er es als eine von Gott geschickte Heimsuchung annahm. Im Blick auf das Kreuz Christi war er bereit, sein Leiden im Einklang mit Christi Leiden zu sehen und zu akzeptieren. Heute stehen wir in einer Krise des Vertrauens gegenüber der biblischen Überlieferung, speziell gegenüber dem Glauben an den Schöpfergott. Unserem Denken widerspricht es, von unserem Schicksal als einem gottgewirkten zu reden. Noch Dietrich Bonhoeffer konnte das ihm bevorstehende Urteil als eines aus Gottes Hand akzeptieren. Er dichtete im Gefängnis an der Jahreswende von 1944 auf 1945: „Von guten Mächten treu und still umgeben, behütet und getröstet wunderbar, so will ich diese Tage mit euch leben und mit euch gehen in ein neues Jahr.“
6
Vorwort
Etwas später heißt es dann: „Und reichst Du uns den schweren Kelch, den bittern des Leids, gefüllt bis an den höchsten Rand. so nehmen wir ihn dankbar ohne Zittern aus Deiner guten und geliebten Hand1“.
Heute existiert in der Bevölkerung immer seltener die Vorstellung, dass selbst beim Auftreten des Bösen die gütige Hand Gottes die entscheidende Rolle spielt. Das Vertrauen in eine solche Fügung schwindet immer mehr und mehr. Man ist viel eher bereit, aufzumucken und die Unbarmherzigkeit des Schicksals anzuklagen. Auf die industrielle Entwicklung, die in der Industriegesellschaft der Moderne ihren Höhepunkt gefunden hat, folgte die postmoderne Informations- und Kommunikations-Gesellschaft. Nebenher bildete sich aus der familiär geprägten oder durch Gruppeninteressen bestimmten Gesellschaft eine starke Individualisierung. Beide Entwicklungen lassen sich nicht isolieren, sondern prägen sich gegenseitig. Sie sind für die postindustrielle Gesellschaft maßgeblich. Der allgemeine Begriff der Postmoderne hat sich allerdings aus anderen Bereichen entwickelt. Er ist aus der Diskussion über die Literatur und Architektur hervorgegangen2. Aber zu Beginn des 21. Jahrhunderts ist das Wort Postmoderne eine beliebte Vokabel zur Deutung der gesellschaftlichen Wirklichkeit geworden. Je stärker sich die kulturelle Vielfalt in einer Gesellschaft entwickelt, um so mehr entfaltet sich die Einstellung zur Religion. Viele Erscheinungen werden religiös interpretiert. Andererseits nimmt im modernen Wohlfahrtsstaat die traditionell-religiöse Betätigung der Bevölkerung ab. Je stärker die sozialstaatliche Ausprägung der Gesellschaft ist, umso geringer gestaltet sich das religiöse Engagement. Aber zugleich entwickelt sich die Gesellschaft durch den Einfluss von Einwanderern und Flüchtlingen multikulturell. Auch daraus resultiert die religiöse Mannigfaltigkeit der Gesellschaft. Zu danken habe ich dem Verlag, besonders seinem Geschäftsführer (Gesellschafter), Herrn Prof. Dr. iur. h.c. Norbert Simon, für die Aufnahme auch dieses Buches in seinem Verlagsprogramm. Beim Korrekturlesen haben mir die langjährigen Freunde Günther Kastenmeyer und Gerd Pogoda vielfältig zur Seite gestanden. Sollten sich dennoch Fehler eingeschlichen haben, gehen diese selbstverständlich zu Lasten des Autors. Berlin, zu Pfingsten 2004
Rolf Kramer
Bonhoeffer, Dietrich, Widerstand und Ergebung, Hamburg 81974, S. 204. Marramao, Giacomo, Die Säkularisierung der westlichen Welt, Frankfurt/M. u. Leipzig 1996, S. 129. 1 2
Inhaltsverzeichnis Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
11
1. Kapitel
Das gegenwärtige Verhältnis von Gesellschaft und Ethik
17
1. Moderne und postmoderne Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
17
2. Die Postmoderne und der Kommunitarismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
21
3. Ethik in der Postmoderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
24
4. Theologie und Kirche in der Postmoderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
27
2. Kapitel
Schutz des Lebens
31
1. Das christliche Menschenbild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
31
2. Menschenwürde und Menschenschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
32
3. Gentechnik und Biomedizin als Probleme der Bioethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
33
4. Ethische Fragen in der Embryonenforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
35
5. Schwangerschaftsabbruch, Pränataldiagnostik und Präimplantationsdiagnostik
39
3. Kapitel
Säkularisierung, Entreligionisierung, Entchristlichung und Entkirchlichung
42
1. Die Entwicklung der Säkularisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
42
2. Religiöser Pluralismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
46
3. Das Verhältnis der Säkularisierung zu unterschiedlichen religiösen Begriffen
52
4. Wiederbelebung der Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
62
5. Fundamentalistische Strömungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
67
8
Inhaltsverzeichnis 4. Kapitel
Die mündige Gesellschaft
73
1. Der Religionsbegriff in der Theologie Paul Tillichs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
73
2. Karl Barths Lehre von der wahren Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
76
3. Gotteswirklichkeit und Weltwirklichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
78
5. Kapitel
Wertewandel im Zusammenleben der Menschen
81
1. Wertekonstanz und Wertewandel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
81
2. Der Normbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
87
3. Veränderungen im Verständnis von Ehe und Familie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Die Würde der Ehe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Die Familie aus der Sicht der Kirchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Die Stellung der Familie in der Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4 Gefahren und Schutz für Ehe und Familie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
88 88 90 93 96
6. Kapitel
Ökonomisches Handeln in der Gesellschaft
99
1. Das Wesen der Sozialen Marktwirtschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 1.1 Geschichtliche Entwicklung der Sozialen Marktwirtschaft . . . . . . . . . . . . . . 102 1.2 Gestaltung der Sozialen Marktwirtschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 2. Soziale Gerechtigkeit in der Sozialen Marktwirtschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 3. Christliche Elemente in der Sozialen Marktwirtschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 4. Ethik in der Sozialen Marktwirtschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 5. Die Gesellschaft unter Globalisierungsaspekten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 6. Die Wirkung der neuen Technologien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 7. Entfremdung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 7. Kapitel
Demokratische Staatsform
124
1. Die Demokratie-Vorstellung in der katholischen Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 2. Evangelisches Verständnis der Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 3. Das Verhältnis von Staat und Kirche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131
Inhaltsverzeichnis
9
8. Kapitel
Rückblick und Ausblick
135
1. Strukturen der postmodernen Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 2. Der Handlungsrahmen in der Postmoderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 3. Die Suche des Menschen nach Lebensorientierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 4. Alternative Bestattungskultur – eine neue religiöse Antwort . . . . . . . . . . . . . . . . 144 5. Zeitknappheit und Ewigkeitserfahrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 Personen- und Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155
Einleitung Wir leben in einer pluralistischen Gesellschaft. Mit diesem Begriff bezeichnet man die Existenz einer Vielzahl von Gruppen in einem Gemeinwesen. Zu ihrem Bestehen ist Toleranz und Kompromissfähigkeit erforderlich. Unterschiedliche religiöse oder weltanschauliche Verhaltensweisen können in einer pluralistischen Gesellschaft Konflikte heraufbeschwören. Letztlich ist eine Lösung dieser Auseinandersetzungen nur durch die Anerkennung des Menschen als Person möglich. Die Würde der menschlichen Person ist die Grundlage friedlicher Koexistenz in einer pluralistischen Gesellschaft. Zusammen mit anderen Institutionen suchen auch die beiden Großkirchen in der Gegenwart, den Bezug zur Gesellschaft herzustellen. Sie haben freilich daneben auch die eigene Selbständigkeit bewahrt. Als soziale Institutionen streben sie danach, Rechte und Ansprüche der Menschen hervorzuheben, obwohl es ihre eigentliche und vordringliche Aufgabe ist, den Menschen ihr ewiges Heil zu verkündigen. Heute ist es ihnen oft wichtiger, im Konsens mit den Ansprüchen und Wünschen anderer Gesellschaftsmitglieder zu leben, als Forderungen nach den individuellen Heilserwartungen zu erheben. Die Weltvorstellung aus dem überlieferten christlichen Schöpfungs-Glauben ist in die Krise geraten. Denn die kirchliche Lebensausrichtung ist geschwunden. Für den Philosophen Hans Blumenberg versteht sich der Mensch der Neuzeit als ein Individuum, das sich selbst behauptet. Der Mensch sieht sich in seiner Selbsterhaltung nicht auf ein ganz bestimmtes Ziel hin ausgerichtet. Die christliche Vorstellung von einer Schöpfung Gottes, wie sie im ersten Artikel des Apostolischen Glaubensbekenntnis verkündet wird, wird ersetzt. Dort heißt es: „Ich glaube an Gott den Vater, den Allmächtigen, Schöpfer Himmels und der Erden“. Die Erklärung Martin Luthers weist besonders auf den Erhalt der Schöpfung hin: „Ich glaube, dass mich Gott geschaffen hat samt allen Kreaturen . . . und noch erhält“. Stattdessen bürdet sich der Mensch in der Gegenwart die Verantwortung gegenüber der Welt selbst auf und lehnt damit gleichzeitig Gottes Verantwortung für die Welt ab. Viele Menschen stemmen sich gegen eine solche Verantwortung Gottes für die Welt. Aber die Entkirchlichung hat nicht nur solche – gleichsam – religiöse Gründe. Die moderne Gesellschaft hat die Tendenz entwickelt, vorhandene Institutionen und Einrichtungen nicht zu stützen oder in ihnen mitzuwirken, als sie vielmehr hinzunehmen. Man macht von ihnen Gebrauch. Aber man trägt im Wesentlichen nichts oder nur wenig zu ihrem Erhalt bei1. Das gilt auch gegenüber der Institution Kirche.
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Einleitung
Zugleich hat mit dem Ende der sechziger Jahre in der Bundesrepublik Deutschland ein Prozess der Säkularisierung eingesetzt, der mit einem internationalen Wertewandel in der Gesellschaft einherging und vor allem Institutionen wie Ehe und Familie betrifft. Ihre kirchlichen Bezüge sind in diesen Werteverlust mit einbezogen. Änderungen in der abendländischen Gesellschaft sind während der letzten zwei bzw. drei Jahrzehnte in ganz auffälliger Weise festzustellen. Die in Theologie und Kirche überlieferten Vorstellungen haben ihre Stellung eingebüßt. Stattdessen nimmt das Streben nach einer individuellen Selbstverwirklichung und Erfüllung im Glücklich-Sein zu. Nichts anderes wird zum Beispiel auch in den Love- oder Christopher-Street-Paraden angestrebt. Die Teilnehmer suchen nach einer individuellen Erlösung oder nach einem meditativen Abheben von der Wirklichkeit in eine „andere“ Welt. Die junge Generation wird von einem Streben nach einer Reality, die sonst in dieser Welt nicht erreicht wird, beherrscht. Während man die Kirche und ihre Institutionen in der westlichen Welt ablehnt, haben die Religionen insgesamt eine hohe Konjunktur. Der Atheismus ist so alt wie die Geschichte selbst. Seit den Anfängen der Geschichte haben Menschen behauptet, dass die Welt ohne Gott existiere, und dass es ihn nie gegeben habe. Auch in den zweitausend Jahren Christentum ist diese Frage immer noch nicht gelöst. Aber es ist ein neues Interesse an Spiritualität und Religiosität aufgekommen. Neue Formen von Religion und Frömmigkeit haben sich etabliert. Inmitten säkularer Entwicklung bilden sich neue Zentren von Spiritualität und Religiosität. Viele Formen sind in und neben der Kirche und der Theologie und an ihnen vorbei entstanden. Hinzugekommen sind Entwicklungen, die sich gleichsam auf freien Bahnen als multireligiöse Kultur ergaben. Aber es lässt sich trotz eines Erstarkens religiöser Strömungen und Kulte wie der Theosophie, der Esoterik oder des Hedonismus nicht von einer Wiederkehr des Göttlichen sprechen. Schwarze Magie, Satanskult oder andere Formen des Totenkultes bilden nicht nur die Verherrlichung des Todes ab, sondern sind gleichzeitig Lebensinhalt für viele junge Menschen. Religiöse Fragen finden immer mehr Anhänger, auch wenn sie nicht christlich-konfessionell geprägt sind. Man kann geradezu von der westlichen Welt behaupten, dass auf dem Markt religiöser Angebote eine rege Nachfrage herrscht. Die neuen religiösen Subkulturen entstehen oft nicht aus einer Absetzbewegung vom christlichen Glauben, als vielmehr durch eine Parallelentwicklung neben der Kirche oder außerhalb ihrer und an dieser vorbei. Es leeren sich die Kirchen, während gleichzeitig viele Arten neuerer Religiosität oder religiöser Subkultur auftauchen. Man behauptet sogar: „Die Zivilisation des Jahres 2000 ist atheistisch. Dass man noch immer von Gott, Allah, Jehova oder anderen spricht, ändert daran nicht das geringste. Denn der Inhalt der Rede ist nicht mehr religiös, 1
Vgl. Huber, Wolfgang, Kirche in der Zeitenwende, Gütersloh 1998, S. 62 f.
Einleitung
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sondern politisch, soziologisch, psychologisch“2. Was den Menschen von heute bewegt, liegt vielmehr in ihm selbst. Ein Denken über sich hinaus findet nicht statt. Man fragt: Wo sind die Hoffnungen oder die Sinngehalte geblieben, die über die Existenz des Menschen hinausgehen? Der Mensch von heute existiert in einer extremen Eindimensionalität. Darum schließt das Buch von Georges Minois über den Atheismus damit, dass der Verfasser darauf hinweist, es werde zukünftig nicht mehr die Frage lauten, „ob das 21. Jahrhundert gläubig oder atheistisch, religiös oder ungläubig“ sein werde, „sondern ob der Ameisenhaufen noch den Willen oder die Mittel haben“ werde, „sich eine Zukunft zu erfinden“3. Das kann kaum das letzte Wort sein! Die gegenwärtige Gesellschaft wird durch zwei Grundströmungen, die scheinbar einander entgegenlaufen, gekennzeichnet: Durch eine fortschreitende Säkularisierung und durch das Aufkommen neuer religiöser Strömungen. Beide Entwicklungen lassen sich in einem Akt zunehmender Verdiesseitigung bündeln. Im Kern dieses Prozesses steht der Glaube des gegenwärtigen Menschen, scheinbar Eigen-Verursacher seines Schicksals zu sein. Denn er glaubt, dass er sich selbst das Heil oder das Glück schenkt bzw. das Unglück bringt. Der Drang zum Leben wird als das Streben vom Menschen mehr oder weniger im Diesseits verankert gesehen. Das Weltbild des modernen Menschen ist das seiner Selbstvergottung. Eine transzendente Orientierung mit dem Charakter einer Erlösung spielt keine entscheidende Rolle. Stattdessen stellt er sich unter die Selbsterlösung. Eine Eschatologie, also eine Lehre von den letzten Dingen, die dem Menschen Hoffnung bringt, ist ihm fremd geworden. Sie enthält nur noch diesseitige Erwartungen, aber keine jenseitigen Hoffnungen mehr. In der Gegenwart geht es der jüngeren Generation nicht primär um das Suchen und Finden eines endgültigen Lebenssinns als vielmehr um das Genießen des Lebens. Aus der Verantwortungsgesellschaft ist eine Lust-Gesellschaft geworden. Maßstab ist nicht das Erhalten tradierter Werte, sondern das Streben nach Lust und Genuss. Gesucht wird eine irdische Selbstverwirklichung des Menschen und ein individuelles Glücklichsein. Aber alle diese Zielsetzungen stellen kein direktes Handlungsziel mit konkreten Angaben dar. Denn was bedeutet schon eine individuelle Verwirklichung des Lebens? Und auch das Glück lässt sich nicht verallgemeinern. Diese Ziele sind und bleiben vielmehr unbestimmt oder gar inhaltslos. Eine Selbstverwirklichung stellt als solche keinen Wert an sich dar. Es wird darum schwer, sie anzustreben. Es sei denn, sie fände ihren Abschluss in einer bestimmten Zielsetzung. Sie müsste dann auf ein ganz bestimmtes Ziel ausgerichtet sein. 2 3
Minois, Georges, Geschichte des Atheismus, Weimar 2000, S. 657. Minois, Georges, (2000), S. 658.
14
Einleitung
Glücklichsein als Ziel setzt ebenfalls eine bestimmte – von außen gegebene – Größe voraus. Erst wenn diese gegeben ist, kann ihre Erfüllung als Ziel wirklich ins Auge gefasst werden. Aber von vielen – besonders von jungen – Menschen wird „bezugloses Glück auf Zeit“ gesucht4. Immerhin haben die Ziele Selbstverwirklichung und Glücksstreben etwas mit dem Leben in einer Gemeinschaft zu tun. Nach ihr erst lassen sich die Werte bestimmen, von denen die Menschen getragen werden. Zur Kennzeichnung der gegenwärtigen Gesellschaft in kultureller und soziologischer Zusammensetzung gebraucht man gern den Begriff der Postmoderne. Mit der Vorsilbe „Post“ soll ausgedrückt werden, dass die Zeit der Moderne zu Ende geht bzw. bereits gegangen ist. Mehr noch, die Postmoderne setzt sich von der geschichtlichen Epoche der Neuzeit ab und hält stattdessen noch eine gewisse Beziehung zur Moderne, wie der Ausdruck bereits belegt. Indessen, die neue Zeit ist in der Postmoderne noch nicht direkt sichtbar geworden. Alles steht noch im Bereich des Möglichen. Es ist sogar eine gewisse Orientierungslosigkeit geblieben. Denn man kann zum einen die alten Traditionen bewahren und auf ihnen beharren, ohne dass eine Weiterentwicklung der Gesellschaft gefördert wird. Die Bindungen sind zum Teil erstarrt und bleiben in reinem Formalismus stecken. Dadurch lässt sich dann der formale Rahmen auch anderweitig füllen. An die Stelle der Universalität der Moderne tritt die Partikularität in der Postmoderne, an die Stelle des Einheitspostulats tritt die differenzierte Vielfalt5. Aber man kann sich auch der modernen Gesellschaft anpassen, so dass auf diese Art die unterscheidenden Konturen verwischt werden. Die Kritiklosigkeit führt zu angepassten und nicht mehr abgrenzbaren Formen. Der Begriff der „Postmoderne“ wird erst nach dem Zweiten Weltkrieg von Arnold Toynbee als ein kulturgeschichtlicher Epochenbegriff verwandt6. Andere Bezeichnungen dafür lauten „hochmodern“ (A. Giddens), „übermodern“ (G. Balandier) oder „spätmodern“ (H.-J. Busch)7. Amitai Etzioni war es, der den Begriff der Postmoderne auf die Gesellschaft übertragen hat. Die Postmoderne will in diesem Bereich allerdings nicht die Moderne ablösen, sondern ist eher ein Protest gegen sie, sie setzt sich von der Neuzeit ab. Der Begriff der Postmoderne ist im Gesellschaftsbereich mehr auf die Vergangenheit als auf die Zukunft ausgerichtet. Er sagt nichts darüber aus, was die Gesellschaft erwartet als vielmehr über das, was sie aus der Vergangen4 Neuhold, Leopold, Religion und katholische Soziallehre im Wandel vor allem der Werte, Münster, Hamburg, London 1999, S. 416. 5 Vgl. Schwöbel, Christoph, Christlicher Glaube im Pluralismus, Tübingen 2003, S. 426. 6 Vgl. Bucher, Alexius J., Verantwortlich handeln, Ethik in Zeiten der Postmoderne, Regensburg 2000, S. 19. 7 Vgl. Bauman, Zygmunt, Unbehagen in der Postmoderne, Hamburg 1999, S. 276.
Einleitung
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heit mit in die Gegenwart hineinnimmt. Darum wird der Begriff der Postmoderne denjenigen Gesellschaftswissenschaftler nicht überzeugen, der mehr auf die Gesellschaft der Zukunft hin ausgerichtet ist. Für die Gegenwart gilt: War die moderne Gesellschaft durch das Stichwort „no future“ gekennzeichnet, ist die postmoderne Gemeinschaft durch die Zuordnung: „no risk, no fun“ geprägt. Vielfach wird die ganze Postmoderne nämlich nur als eine Fun- oder Spaßgesellschaft verstanden. Die postmoderne Gesellschaft setzt sich durch diese Merkmale von der Moderne ab. Die Christen – insbesondere sie – müssen eines erkennen: Die Postmoderne hat sich ihrerseits von den Vorstellungen der biblischen Welt entfernt. Aber die Theologie beteiligt sich ihrerseits an der Aufstellung, Veränderung bzw. Aneignung der Werte. Sie hat zwar ihre originäre Aufgabe auch in dieser Mitarbeit. Aber von ihrem Ursprung und ihrer Aufgabe her ist sie eine Theologie des Reiches Gottes. Die Werte für ihr Denken sind aus der biblischen Botschaft – speziell aus der Botschaft Jesu und gleichfalls aus der Botschaft der Propheten des Alten Testamentes – zu entnehmen. In den letzten Jahrzehnten haben die Menschen überall in der Welt, vorzugsweise im Westen, lernen müssen, dass sie weniger durch Naturkatastrophen oder durch Hunger – hervorgerufen durch Klimaveränderungen oder Schicksalsschläge – in ihrer Existenz bedroht werden als vielmehr durch politische Mächte. Treten die genannten Katastrophen ein, suchen viele Menschen die Schuldigen im Staat, in der Regierung oder in übergeordneten Behörden. Besonders die Deutschen leben in Angst und Schrecken – vor Anschlägen, Naturkatastrophen, Schicksalsschläge. Nicht von ungefähr gibt es den englischen Ausdruck dafür: German Angst! Selbstverständlich haben Menschen auch in anderen Teilen der Welt Angst vor der Zukunft. Aber man nimmt es gelassen hin. Selbst wenn der Mangel hervorgerufen wird durch politische oder ökonomische Fehlplanung. Überall in der Welt – in der industriellen Welt allerdings ganz besonders – weiß man, dass nicht nur die Produkte für die Lebensgestaltung schnell veralten. Schneller noch werden heute in der Informations- und Kommunikationstechnik die Kenntnisse und Erfahrungen der Menschen und ihr angeeignetes Wissen unbrauchbar, da sie neueren Erkenntnissen weichen müssen. Die christliche Theologie und in Verbindung mit ihr die beiden Großkirchen haben in der Gegenwart die ihnen in der Vergangenheit zugewachsene Deutungs- und Handlungskompetenz für eine moderne Lebensführung vielfach eingebüßt. Sie haben ihren Anspruch auf eine Schlüsselfunktion zur Gestaltung der Gesellschaft aus christlicher Sicht aufgegeben. Der damit verbundene Verlust des Glaubens ist ein Grund für eine zunehmende Säkularisierung der Welt. Diese Entwicklung hat, das ist bereits hier festzustellen, ihren Ursprung nicht im Religiösen, sondern in der Tendenz zur Selbstverwirklichung und zur Selbstvergot-
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Einleitung
tung des Menschen. Beide Entwicklungsbereiche beziehen sich nicht allein auf die religiöse Dimension des Menschen, sondern umfassen alle Bereiche der Gesellschaft. Sie verstärken sich noch durch den Verlust der Transzendenz bzw. durch ihre Bereitschaft, diese zu Gunsten einer Diesseitigkeit und Verweltlichung aufzugeben. Der Mensch wird damit auf die Welt insgesamt und zugleich auf sich selbst zurückgeworfen.
1. Kapitel
Das gegenwärtige Verhältnis von Gesellschaft und Ethik Fast alle Zeitdiagnostiker sind sich in der Analyse der Gegenwart einig, dass sich heute die Gesellschaft in einem Übergang zu einer neuen Phase nach der Modernen befindet.
1. Moderne und postmoderne Gesellschaft Der Begriff „postmodern“ erfasst alle kulturellen Ebenen: die Literaturwissenschaften, die Architektur ebenso wie die Literaturkritik oder die Gesellschafts- oder Kommunikationswissenschaft. Verwendet wurde er wohl zuerst im Rahmen der amerikanischen Literaturwissenschaft und wurde dann in die Architektur und deren Theorie übernommen1. Hier weist er auf den Bruch mit der Moderne hin. Denn nunmehr folgt ein Aufbruch von der Eindeutigkeit der Funktion in der Moderne hin zu einer Mehrdeutigkeit in den Baustilen. Alles ist möglich und einbeziehbar – auch aus mehreren Baustilen. Man spricht von der Postmoderne und deutet die gesellschaftliche Wirklichkeit unterschiedlich. Von der Risiko- oder Spaßgesellschaft war bereits die Rede. Hinzukommen Interpretationen, die sich auf den Konsum, die Information, die Kommunikation oder auf die Übernahme von Verantwortung beziehen. Wer diese Deutungsversuche aufgreift, kann die Postmoderne auch eine Interpretationsgesellschaft nennen2. „Postmoderne: Das ist sozusagen das Vorzeichen vor der Klammer der vielen Selbstdeutungsversuche der Interpretationsgesellschaft“3. Man spricht deshalb heute vielfach von der Postmoderne als von einer Dienstleistungs- oder Informations- oder von der postindustriellen Gesellschaft (Daniel Bell). Auch der Begriff der zweiten Moderne (Ulrich Beck, Anthony Giddens) wird als Epochenbezeichnung genannt. Für die gesellschaftliche Entwicklung werden vielfältige Ursachen verantwortlich gemacht. Von der Moderne zur Postmoderne treten sowohl institutionelle als auch organisatorische Unterschiede auf. Dazu gehören neue formale 1 2 3
Vgl. Schwöbel, Christoph, (2003), S. 425. Vgl. Schwöbel, Christoph, (2003), S. 422. Schwöbel, Christoph, (2003), S. 423.
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1. Kap.: Das gegenwärtige Verhältnis von Gesellschaft und Ethik
Organisationsformen. George Ritzer nennt als Beispiel dafür die McDonaldisierung des Angebots. Sie bedeutet eine Angebotsstandardisierung und damit dessen Verflachung4. Dieser Entwicklung gilt es, sich zu widersetzen, damit der Konsument nicht frustriert „auf der Strecke“ bleibt. Das tut Zygmund Bauman, der Theoretiker der Postmoderne, mit seiner Darstellung einer postmodernen Individualisierung in der Gesellschaft. Er hatte bereits zum Ausgang des Jahres 1987 in seinem Buch „Legislators and Interpreters“ das Ende der Moderne festgestellt und das Auftreten der Postmoderne signalisiert, nachdem er in den Jahren 1987, 1989 und 1991 eine Art Trilogie der Moderne dargelegt hatte5. Bauman selbst ist von seiner Existenz im kommunistischen Polen bis hin zu den postmodernen Lebensinhalten im Westen einen weiten Weg gegangen. Die heimatliche kommunistische Marx-Orientierung erklärt seine Kapitalismus-Kritik. Aus dieser ist die Skepsis gegenüber dem Gemeinschaftsdenken und sein „Widerwillen gegen das Abgleiten in Gemeinschaftssehnsucht auf Seiten der kommunitaristischen Sozialtheorie“ zu deuten6. Heute erkennt er einen immer stärker werdenden Globalisierungsanspruch an und meint, in diesem Begriff eher das wahrnehmen zu müssen, „was mit uns geschieht“ als das, was wir – im Fall einer Universalisierung – „tun müssen, sollen oder wollen“7. Auch Roland Ingleharts Darstellung der Postmoderne beruht wie die von Bauman auf Werten der Moderne. Die Entwicklung in den westlichen Ländern weist in der Zeit wirtschaftlicher Stagnation auf die Symptome hin, die beim Wechsel von der Moderne zur Postmoderne auftreten. Die Einschätzung bestimmter Werte ändert sich stark. Zu denken ist etwa bei der Arbeitslosigkeit an eine individuelle und gesellschaftliche Höherbewertung des Arbeitsplatzes gegenüber der eines Umweltschutzes8. Die Einzelinteressen haben als partikulare und als gruppenspezifische Interessen an Bedeutung gewonnen. Auch ist der Gegenwartsbezug in der Politik stärker verankert als eine etwaige Zukunftsorientierung. Das bedeutet in der Sozialpolitik mit ihren Aspekten der Solidarität und Gerechtigkeit eine besondere Zentrierung und eine starke Herausforderung für die Gesellschaft. Der Prozess der Säkularisierung und Entchristlichung der Gesellschaft setzt sich weiter und immer rascher fort. 4 Schimank, Uwe, Gesellschaftliche Teilsysteme und Strukturdynamiken, in: Ute Volkmann, Uwe Schimank (Hrsg.), (2002), S. 20. 5 Kellner, Douglas, Zygmunt Baumans postmoderne Wende, in: Matthias Junge und Thomas Kron, Zygmunt Bauman, Opladen 2002, S. 304. 316. 6 Matthias Junge und Thomas Kron, (2002), S. 9. 7 Zitat von Zygmunt Bauman aus: Kastner, Jens, Existenzgeld statt Unsicherheit, in: Matthias Junge und Thomas Kron, ( 2002), S. 244. 8 Vgl. Reese-Schäfer, Walter, in: Matthias Junge, Thomas Kron (Hrsg.), (2002), S. 342 und Kramer, Rolf, das Unternehmen zwischen Globalisierung und Nachhaltigkeit, Berlin 2002, S. 57 Anm. 2.
1. Moderne und postmoderne Gesellschaft
19
Stellt man die ökonomischen und sozialen Wert-Unterschiede der Postmoderne gegenüber der Moderne mit Hilfe von Trends zusammen, die Roland Inglehart erarbeitet hat, ergibt sich etwa folgendes Schema, das auch in der späten Postmoderne nicht an Bedeutung verloren hat9: Moderne
Postmoderne
Hierarchische bürokratische Organisation
Schlanke Organisation
Fließbandproduktion
Just-in-time-Produktion Suche nach sinnvoller Arbeit
Herkömmliche Gewerkschaften
Rückgang der Bedeutung von Massen-Tarifverträgen
Hierarchischer Korporatismus
Netzwerkartige Korporation
Auf Dauer angelegte Kleinfamilie
Partnerschaften auf Zeit
Soziales Miteiander
Subjektives Wohlbefinden
Instrumentelle Rationalität
Rückgang des Glaubens an die Wissenschaft
Technologie
Rationalität
Industriegesellschaft
Dienstleistungs- und Informationsgesellschaft
Die Epochen vor der Moderne waren besonders vom religiösen Denken getragen10. Alle gesellschaftlichen Teilsysteme, von der Wirtschaft bis zur Familiengestaltung, hatten in der Vormoderne eine ausgesprochen christliche Prägung. In der modernen Gesellschaft ereignete sich in allen Bereichen eine Säkularisierung, die das religiöse Fundament überlagerte. Bis in die zweite Hälfte des zwanzigsten Jahrhundert – also bis in die Postmoderne – dominierte in der Gesellschaft die Familie und in ihr die Intimbeziehung. Heute herrscht stattdessen eine starke Diversifizierung der früheren institutionalisierten familiären Bindungen. Es existieren nicht-eheliche Lebensgemeinschaften mit und ohne Kinder, gleichgeschlechtliche Partnerschaften, ebenso Partnerschaften mit unterschiedlichen zeitlichen Bindungen und verschiedenen Graden des Zusammenlebens sowie schließlich Singles mit allen lockeren Kurzfristbindungen11. Gleichzeitig werden die unterschiedlichen Geschlechterrollen und gleichgeschlechtlichen Be9 Vgl. Reese-Schäfer, Walter, in: Matthias Junge, Thomas Kron (Hrsg.), (2002), S. 341. 10 Schimank, Uwe, Gesellschaftliche Teilsysteme und Strukturdynamiken, in: Ute Volkmann, Uwe Schimank (Hrsg.), (2002), S. 29 f. 11 Vgl. Schimank, Uwe, (2002), S. 42.
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1. Kap.: Das gegenwärtige Verhältnis von Gesellschaft und Ethik
ziehungen hervorgehoben. Die traditionelle Kirchlichkeit nimmt zu Gunsten neuer Formen von Religiosität ab12. Die Religion wurde zur großen Verliererin in der Gesellschaft. Nach Zygmunt Baumann hat die postmoderne Ordnung ihren Charakter durch den Einzug des Menschen in die ehemals göttliche Ordnung erfahren. Es entstand eine neue menschliche Ordnung, die allerdings verletzlich und instabil blieb. Man glaubte, Gott habe sich zurückgezogen und der Mensch die Herrschaft angetreten. Die postmoderne Gesellschaft sieht sich darum in der Situation, in einer Freiheit zu leben, die vorher allein Gott selbst zuerkannt war. Die Ziele werden mehr und mehr durch den Begriff der Freiheit gekennzeichnet. Die Postmoderne hatte, nachdem sie sich gegen die religiöse und andere Bevormundung gewehrt hat, zu einer Vorstellung geführt, die durch Unabhängigkeit von der Vernunft geprägt ist. Während in der Moderne noch das kollektive Wohlbefinden dem individuellen und dem selbstgewählten Glück vorgezogen wurde, ist es jetzt gerade umgekehrt. In der Postmoderne wird die individuelle Seite groß geschrieben13. Die Postmoderne steht für den kulturellen Wandel. In den neunziger Jahren bekennt sich Zygmunt Bauman kritisch zur Postmoderne: „Mir geht es jetzt viel mehr um die Gegenkultur der Moderne, nachdem ich den traditionellen Kapitalismus des neunzehnten Jahrhunderts und den Sozialismus in die gleiche Kategorie gesteckt habe. Das war ein Streit innerhalb der Moderne“14. Die Gesellschaft des zwanzigsten Jahrhunderts wird geprägt durch verschiedene Triebkräfte. Dazu gehören politische und wirtschaftliche Macht und ökonomisches Denken. Speziell der Geist der Wirtschaft kann als der entscheidende Träger gesellschaftlicher Rationalität und Säkularisierung gelten. Wachstum und Globalisierung der Wirtschafts- und Finanzmärkte werden zu maßgeblichen Kräften. Rationalisierung und Säkularisierung spielen in der dadurch hervorgerufenen Entwicklung der Gesellschaft eine entscheidende Rolle. Die Gegenwartsdiagnose weiß zwar um die prägende Kraft der Wissenschaft. Aber mehr noch ist das Zusammenleben der Menschen von der Erkenntnis gekennzeichnet, dass ihre Sozialisation bestimmt wird durch die Wahrnehmung der Lebenschancen des Individuums. Dennoch treten für das autonome Subjekt Schwierigkeiten auf. Denn in dieser späten postmodernen Gesellschaft bleibt zwar der einzelne das Subjekt des Handelns. Aber die Gesellschaft begrenzt die Subjektivität des Individuums. Massenproduktion und Standardisierung schränkten die Nachfrage nach individuellen Gütern und Diensten ein. Für ein Wirtschaftswachstum muss gerade die Massennachfrage gesteigert werden. Der Konsument sieht sich dabei einer doppelten Strategie, nämlich einerseits einer Erweiterung der Kaufoption 12 Vgl. Reese-Schäfer, Walter, in: Matthias Junge, Thomas Kron (Hrsg.), (2002), S. 339 ff. 13 Vgl. Reese-Schäfer, Walter, in: Matthias Junge, Thomas Kron (Hrsg.), (2002), S. 316. 14 Bauman, Zygmunt, (1995), S. 258.
2. Die Postmoderne und der Kommunitarismus
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und andererseits einer Standardisierung des Angebots, also der „McDonaldisierung“ (Ritzer 1993) gegenüber. Diese engt allerdings die Kaufoptionen ein15. Für George Ritzer ist in der „McDonaldisierung“ eine Verbreitungs- und eine Vereinheitlichungstendenz zu erkennen, die in Verbindung mit lokalen Einflüssen zu sehen ist. Denn in der Globalisierung kommt es zu einer Heterogenisierung der kulturellen Entwicklung. Es setzen sich zwar immer mehr lokale Kultureinflüsse durch. Aber gleichzeitig zeigt sich in der McDonaldisierung eine Homogenisierung und damit eine Vereinheitlichung16. Würde die Homogenisierung die Oberhand gewinnen, würde letztlich alles Lokale zerstört. Aber bei einer McDonaldisierung tritt trotz gegensätzlicher Tendenzen zugleich eine Heterogenisierung auf, die den lokalen Charakter wahrnimmt. Als Gegenstück zur Globalisierung mit weltweiter Kommunikation und breitem Wettbewerb gilt es, die Regionalisierung bzw. Lokalisierung mit ihrer Verengung der ökonomischen Beziehungen zu erkennen. Im lokalen Bereich kann sich die nationale Vielfalt zeigen. Bei der Notwendigkeit zur generellen Nutzung der Rohstoffmärkte muss die Globalisierung mit ihrem weltweiten Abbau von Marktsegmentierung auf den Güter- und Faktormärkten zum Tragen kommen17. Es sollte allerdings auch eine Verzahnung zwischen den beiden Prozessen der Globalisierung und der McDonaldisierung gesehen werden18. Die Globalisierung liefert die unterschiedlichen Rohstoffe für die Produktion und sorgt zugleich im lokalen Bereich für eine Vereinheitlichung der Produkte. Andererseits aber kann die McDonaldisierung durchaus die kulturellen Einflüsse aufgreifen19.
2. Die Postmoderne und der Kommunitarismus Die Postmoderne ist zwar Ausdruck einer kulturellen Entwicklung, die in den dreißiger und vierziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts begann. Sie ist aber 15 Schimank, Uwe, Gesellschaftliche Teilsysteme und Strukturdynamiken, in: Ute Volkmann, Uwe Schimank (Hrsg.), (2002), S. 20. 16 Vgl. dazu: Brüsemeister, Thomas, Zwischen Welt und Dorf, in: Ute Volkmann, Uwe Schimank (Hrsg.), ( 2002), S. 330. Er gibt ein gutes Beispiel für Ritzers These: „In Norwegen wird der McLaks angeboten, ein Vollkornsandwich mit gegrilltem Lachs und Dillsauce . . . Die Uruguayaner lockt McDonalds mit Mc Huevo (Hamburger mit pochierten Eiern) und mit McQuesos (überbackenen Käsesandwichs). In Thailand bietet McDonalds seinen Kunden in Teriyakisauce mariniertes Schweinefleisch als Samurai-Burger an . . . Auf den Philippinen ist ein McSpaghetti im Angebot, sowohl mit Tomatensauce als auch mit Fleischsauce aus kleingeschnittenen Frankfurter Würstchen.“ 17 Vgl. Merk, Gerhard: Regionalisierung (1. Juni 2003). 18 Vgl. Brüsemeister, Thomas, (2002), S. 330. 19 Diese Entwicklung lässt sich noch verallgemeinern, indem man von einem Verhältnis von „Globaler Dynamik – lokalen Lebenswelten“ (Richard Münch, 1998) spricht. Vgl. Brüsemeister, Thomas, (2002), S. 331.
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1. Kap.: Das gegenwärtige Verhältnis von Gesellschaft und Ethik
vor allem kennzeichnend für die Zeit nach den sechziger Jahren und die Wandlung in den kulturellen Bewegungen. Für diese Zeit stellt sie eine Bezeichnung für die ganze Gesellschaft dar. Die Postmoderne bezieht sich also keineswegs allein auf die Kunst, die Architektur oder auf intellektuelle Phänomene. Mit dem Ausdruck des postmodernen Geisteszustands soll signalisiert werden, dass die moderne kritische Kultur über die moderne Gesellschaft gesiegt hat. Die Postmoderne hat die Moderne gleichsam beerbt. Sie ist die „entwickelte Moderne“20. „Die Postmoderne sieht die menschliche Welt als irreduzibel und unwiderruflich pluralistisch, zersplittert in eine Vielzahl souveräner Einheiten und Autoritäten, ohne eine aktuelle oder potentielle horizontale oder vertikale Ordnung“21. Sie kann einerseits Moderne sein, „die sich vom falschem Bewusstsein emanzipiert hat“ und zum anderen ein neuer Typus „gesellschaftlicher Verhältnisse“, der durch die „offene Institutionalisierung“ von bestimmten Merkmalen gekennzeichnet wird22. Die Postmoderne kann darum zwar als nachneuzeitlich, aber kaum als nachmodern verstanden werden. Sie will die Moderne nicht ablösen, wohl eher radikal verstehen. Amitai Etzioni hatte 1968 in seinem Hauptwerk „Die aktive Gesellschaft“ den Begriff der „Postmoderne“ in die sozialwissenschaftliche Diskussion eingeführt23. Er ist gleichzeitig der Wortführer des Kommunitarismus, den er zu Beginn der neunziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts in den Vereinigten Staaten ins Leben gerufen hat24. Mit dieser Bewegung sollte der Gemeinsinn und die Verantwortung des einzelnen für das Gemeinwohl gefördert werden. Aber Etzioni setzte den Beginn des Kommunitarismus in das Jahr 1945 und sah in ihm die Wiederherstellung der „Bürgertugenden“ und damit ein neues „Verantwortungsbewusstsein der Menschen“. Dadurch wollte er schließlich eine Stärkung der moralischen Grundlagen der Gesellschaft erreichen25. Denn Kommunitarismus ist eine Bewegung, die eine bessere moralische, soziale und politische Umwelt erstrebt. Um dieses Ziel zu erreichen, ist bei der Familie anzusetzen26. 20
Bauman, Zygmunt, Ansichten der Postmoderne, Hamburg 1995, S. 222. Bauman, Zygmunt, (1995), S. 64. 22 Bauman, Zygmunt, (1995), S. 222 f. 23 Vgl. Reese-Schäfer, Walter, Zur vergleichenden Analyse aktueller und älterer Zeitdiagnosen, in: Ute Volkmann, Uwe Schimank (Hrsg.), Soziologische Gegenwartsdiagnosen II, Opladen 2002, S. 425 Anm. 5. Nach A. Etzioni will der Kommunitarismus als eine politische Bewegung den Gemeinsinn und die Verantwortung des einzelnen für die Gemeinschaft fördern und die übermäßigen Rechts-Ansprüche des Individuums gegenüber dem Staat reduzieren. 24 Er selbst schreibt, dass er sich 1990 mit einer Gruppe von fünfzehn Ethikern, Sozialphilosophen und Sozialwissenschaftlern in Washington, D.C. getroffen hat. Diese hielten die Zeit für gekommen, „unsere Verantwortung gegenüber der Community (Gemeinschaft) gerecht zu werden, und nannten uns Communitarians, um das deutlich zu machen“. Vgl. Etzioni, Amitai, Die Entdeckung des Gemeinwesens, Stuttgart 1995, S. 17 ff. 25 Etzioni, Amitai, (1995), S. IX. 21
2. Die Postmoderne und der Kommunitarismus
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Die Schulen und Universitäten bilden dann die weiteren Ansprechpartner. Die dritte Stelle nehmen die sozialen Netzwerke ein. Schließlich sind als vierte Ebene die Einstellungen zu nennen, die Werte wie Demokratie, Verfassung, Grundrechte, Toleranz und Achtung vor dem Mitmenschen betonen. Es kommt auf eine Stärkung der moralischen wie der politischen Werte und Ordnungen an27. Der Kommunitarismus ist letztlich immer auf die zukünftige Gestaltung der Gemeinschaft ausgerichtet. Zwar will er eine Verbesserung des moralischen, sozialen und politischen Umfeldes erreichen. Aber er sucht, vor allem im Politischen die Zukunft der Gesellschaft zu sichern und ihr soziales Gefüge zu stärken. Es geht ihm, da man seit den sechziger Jahren viele moralische Traditionen und gesellschaftliche Werte infrage gestellt hat, letztlich um eine Kräftigung der Gesellschaft, der Community, und in ihr dann besonders um die soziale Verantwortung des Individuums. Die individuelle Freiheit ist nur durch die zivilgesellschaftliche Orientierung zu bewahren. Es muss deshalb nach einem ausgewogenen Verhältnis von Rechten und Pflichten des Individuum und der Gesellschaft und darum auch nach einem ausgewogenen Verhältnis zwischen den Individualrechten und den sozialen Rechten und Pflichten gestrebt werden. Für Etzioni existiert zwar gegenwärtig der Mensch in der postmodernen Gesellschaft. Mit dieser Bezeichnung sollte gegenüber der Moderne eine Richtungsänderung auf politischem, ökonomischen, sozialem, kulturellem und geisteswissenschaftlichem Gebiet angezeigt werden. Aber in der Postmoderne sollen die großen politisch-ethischen Ziele wie Verwirklichung der Menschenrechte, Durchsetzung der sozialen Gerechtigkeit, die Synchronisierung von individuellem Verhalten und kollektivem Wohl in gleicher Weise vorhanden bleiben wie in der Moderne. Schließlich ist die Gegenwartsgesellschaft durch einen „Verfall der gesellschaftlichen Ordnung gekennzeichnet“. Amitai Etzioni ist der Meinung, dass die Instanzen, die früher im Leben der Gesellschaft „die Stimme der Moral“ darstellten, diese Funktion weitgehend eingebüßt haben. Insbesondere sind Familie, Schule und Gemeinde in dieser Hinsicht entmachtet worden28. Nach ihm ist Ursache für diese Entwicklung nicht die Globalisierung, sondern die ins extreme gesteigerte Individualisierung der Gesellschaft. Der Kommunitarismus ergänzt die postmoderne Gesellschaft oder füllt sie in besonderer Weise aus. Die Postmoderne bewegt sich zwischen den beiden in gleicher Weise unattraktiven Extremen, nämlich dem liberalen Individualismus und dem Kommunitarismus. Der individuelle Liberalismus ist ebenso von Mängeln gekennzeichnet 26
Etzioni, Amitai, (1995), S. 298. Etzioni, Amitai, Die Entdeckung des Gemeinwesens, Stuttgart 1965, S. 278 f. 28 Volkmann, Ute, Ursache, Opfer und Chance, in: Ute Volkmann, Uwe Schimank (Hrsg.), (2002), S. 359. 27
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1. Kap.: Das gegenwärtige Verhältnis von Gesellschaft und Ethik
wie die kommunitaristische Denkweise. Die individuelle Freiheitserfahrung durch die Selbstverwirklichungsvorstellung steht nämlich in einer Spannung zur politischen Freiheit, die nur als eine gemeinsame Freiheit erhalten werden kann. Der Kommunitarismus fußt auf dem Anspruch eines engen Individualismus, und zugleich drängt er auf die Integration des einzelnen in die Gemeinschaft.
3. Ethik in der Postmoderne Der postmoderne Geist stellt zwar auch in seiner späten Ausformung nichts anderes als die in der Moderne entwickelte Dynamik dar. Aber er hat doch letztlich den modernen Geist besiegt29, indem er die Verhältnisse der durch das europäische Denken beeinflussten Regionen reflektierte und gegenüber der Moderne analysierte. Darin gründet dann das Handeln des Menschen in der Postmoderne. Ethik kann und will keine Rezepte für das Leben liefern. Sie will vielmehr einen Rahmen für verantwortliches Handeln setzen. Die Ethik versteht sich eben nicht als Handlungsanweisung, sondern als eine wissenschaftliche Reflexion, die sich der Wirklichkeit annimmt. Ihr Gegenstand ist die Beziehung zwischen der Wirklichkeit selbst und den handelnden Menschen. Besonders ihr Erkennen und ihre Veränderungen gehören zum Inhalt der Ethik30. Gegenwärtig hat ethisches Denken hohe Konjunktur. Es tritt besonders als Bindestrich- oder Genitiv-Ethik hervor. Dabei geht es um die Erfassung von Problemen aus der Wirtschafts-, Medizin-, Bio-, Umwelt- oder Technik-Ethik. Außerdem verlangen auch die anderen Wissenschaften nach einer ethischen Orientierung. Dabei werden besonders die Bereiche Arbeit, Unternehmen, Verbraucherverhalten und die Fragen erfasst, die sich mit den ökologischen Problemen beschäftigen oder mit der Globalisierung zusammenhängen. Allerdings glaubt man gegenwärtig, dass ethisches Reflektieren besser durch die Bildung von Ethik-Kommissionen oder Ethik-Räte geschieht als durch Individual-, Gruppen- oder Gesellschaftsentscheidungen. Die Postmoderne hat ein erhöhtes Interesse an ethischen Debatten und an Auseinandersetzungen über moralische Werte. Da ethische Maßstäbe unsicher geworden sind, herrscht eine allgemeine Orientierungskrise vor31. Darum sucht man von vielen Seiten nach geeigneten Maßstäben des Urteilens. Obwohl man diese gefunden zu haben glaubt, bleiben dennoch weitere Fragen offen. Dafür
29 Vgl. dazu ausführlich: Bauman, Zygmunt, Ansichten der Postmoderne, Hamburg, Berlin 1995, S. 222 ff. 30 Bucher, Alexius J, (2000), S. 34 f. 31 Vgl. Neuenschwander, Ulrich, Zwischen Gott und dem Nichts, Bern und Stuttgart 1981, S. 215.
3. Ethik in der Postmoderne
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existieren zu viele Maßstäbe, die als gleichberechtigt einen Anspruch auf Ordnung und Einhaltung einfordern. Auch wenn in der Postmoderne keine generellen Prinzipien anerkennt werden, wird sie geprägt durch die ethische Fragestellung. Die Gesellschaft ist einfach in dieser Zeit ohne sie nicht vorstellbar. Ethik wird zu einem unverzichtbaren Bestandteil der soziologischen Theorie in der Postmoderne. Der ethische Diskurs ist sogar einer ihrer organischen Bestandteile. Zygmund Bauman will als strenger Kritiker der Moderne in der Postmoderne keine Moral vertreten sehen, die einer Gesetzmäßigkeit des kategorischen Imperativs Kants zugrunde liegt, sondern eine Ethik entwickeln, die den gesellschaftlichen Transformationen standhält. Die heutige Gesellschaft bedarf angesichts der Kluft zwischen arm und reich und der damit verbundenen sozialen Ungerechtigkeit einer moralischen Orientierung. Die einzelnen ethischen Probleme sind keinesfalls neu und entspringen auch nicht der Postmoderne, sondern sind vielmehr zeitlos. Für Bauman hat die Moderne aufgrund ihrer imperialistischen Welteroberungen, ihrer Genozide und ihrer Massenkriege im ethischen Bereich völlig versagt32. Für ihn ist sie, die ja außer den genannten Grausamkeiten immerhin auch Demokratie, Selbstbestimmung, Gerechtigkeit und die Verwirklichung der Menschenrechte hervorgebracht hat, nicht anders als „in jeder Hinsicht desaströs“ zu bezeichnen33. Die Tendenz, die Gesellschaft zu entwickeln und zu verbessern, hat zu einer immer größeren Barbarei und Grausamkeit geführt. Zu diesem Schluss kommt er, weil er die Moderne vom Holocaust her sieht. Die Postmoderne stellt sich eindimensional dar. An die Stelle von Zwängen und Pflicht ist die Morallosigkeit getreten. „Er (scil. Bauman) spricht in dem Zusammenhang von einem Verschwinden des Ethischen und von einer Substitution der Ethik durch die Ästhetik. Nun, da es keine Ideale, Utopien und Zwänge mehr gäbe, strebe ein jeder nur noch nach einem guten Leben, nach Lust und immer neuen und aufregenden Erfahrungen“34. Insbesondere die neoliberale Theorie unterstützt nach Baumans Meinung diese Entwicklung durch ihren Einsatz für die Globalisierung und die Verstärkung des Individualismus. Für Moral bleibt dann nur ein individueller Platz, allein in der Begegnung mit anderen Menschen! Sie hat damit für ihn zunächst einmal keine gesellschaftliche Ausrichtung mehr. Das gilt bei Bauman für beide Zeiten, für die Moderne und die Postmoderne35. Es entsteht der Wunsch nach einem erhöhten Maß an ethischer Debatte. In diesem Zusammenhang will er zwischen der „Moral der 32 Vgl. Rommelspacher, Birgit, Ethik in der Postmoderne, in: Matthias Junge, Thomas Kron (Hrsg.), (2002), S. 394. 33 Rommelsbacher, Birgit, (2002), S. 395. 34 Rommelsbacher, Birgit, (2002), S. 395. 35 Vgl. Rommelsbacher, Birgit, (2002), S. 407.
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1. Kap.: Das gegenwärtige Verhältnis von Gesellschaft und Ethik
Nähe“, also der Intimität, und einer „Moral der Gerechtigkeit“ unterschieden wissen und hinter eine Polarisierung zwischen der „Moral der Fürsorge“ und der „Moral der Gerechtigkeit“ zurückgehen. Denn die Moral der Fürsorge bedarf der „Ergänzung und der Korrektur durch die Moral der Gerechtigkeit“36. Schließlich ist die Moral der Fürsorge ergänzungsbedürftig. Sie ist der Moral der Gerechtigkeit keinesfalls überlegen. Nach Anthony Giddens wird die Ethik der Postmoderne durch die Globalisierung geprägt, durch ihre weltweite Verantwortung für menschliches und nichtmenschliches Leben und besonders durch die „Anerkennung der Unantastbarkeit des Menschlichen Lebens und das allgemeine Recht auf Glück und Selbstverwirklichung“37. Der Diskurs über die ethischen Fragen ist nicht von irgendeiner Institution vorgegeben. Er entwickelt sich aus der Situation heraus. „Die Moderne hat insgesamt wenig oder gar nichts zur Bereicherung der moralischen Problematik beigetragen. Ihre Rolle reduzierte sich darauf, moralische Regulierungen durch gesetzliche zu ersetzen und einen immer größeren Teil moralischer Handlungen von der moralischen Bewertung auszunehmen“38. Die Postmoderne unternimmt auf ethischem Gebiet den fortwährenden Versuch, quasi als nach-moderner Geisteszustand, den Subjekten „die Vollständigkeit moralischer Entscheidung und Verantwortung zurückzugeben und ihnen gleichzeitig die Sicherheit der universellen Orientierung zu rauben, die ihnen das moderne Selbstbewusstsein einst versprach“39. Die Ethik wird also individualisiert. Im Vordergrund steht der einzelne und nicht die Gemeinschaft. Die postmoderne Gesellschaft steht darum auch der Ethik aus evangelischer Sicht keineswegs fremd gegenüber. Zu ihr gehört besonders die Berücksichtigung der Situation, die für das Individuum maßgeblich ist. Ihr geht es weniger um eine Ethik, die prinzipientreu allgemeine Regeln erfüllt, sondern eher um die aus Liebe zum Nächsten heraus gewachsene ethische Einzelfall-Entscheidung. Ohne Regeln und Normen können selbstverständlich auch in einer evangelischen Ethik keine Entscheidungen getroffen werden. Insofern wird die Lösung der Einzelfälle den etwaigen allgemeinen Fällen, also den Regelfällen, entsprechen müssen40. Es ist ein Kennzeichen der modernen Gesellschaft und damit auch der Sozialethik in der evangelischen und katholischen Theologie, dass sie sich bevorzugt den Partikularinteressen widmet. Obwohl die katholi36
Rommelsbacher, Birgit, (2002), S. 396 f. Zitat aus: Matthias Junge, Religiöser Wandel und Wertewandel, in: Ute Volkmann, Uwe Schimank (Hrsg.), (2002), S. 189. 38 Bauman, Zygmunt, (1995), S. 237. 39 Bauman, Zygmunt, (1995), S. 23. 40 Vgl. dazu Evangelische Kirche in Deutschland, Im Geist der Liebe mit dem Leben umgehen, EKD-Text 71, 2002, 1.4. Vgl. dazu: Die deutschen Bischöfe – Kommission für gesellschaftliche und soziale Fragen Nr. 28, Das Soziale neu denken, Bonn 12. 12. 2003, S. 8. 37
4. Theologie und Kirche in der Postmoderne
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sche Soziallehre sehr viel stärker durch eine Prinzipienethik, in der Regeln und Normen eine entscheidende Rolle spielen, geprägt ist als die evangelische Sozialethik, hat auch sie sich natürlich nicht der individuellen Situation des Menschen verschlossen. Man wird sich in jedem Fall dem einzelnen Menschen und seiner Gerechtigkeit zuwenden. Die Postmoderne wird dadurch charakterisiert, dass sie die Gesellschaft in einen Zustand der Selbstreflexion und des Nachdenkens über den sozialen Bezug vorantreibt41. Die Menschen in der Postmoderne denken über ihre soziale Zugehörigkeit und Kommunikation nach. An vorderster Stelle steht der Wunsch der Menschen, in der Gesellschaft statt fremdbestimmt selbstbestimmend zu leben. Zur Reflexion des Subjekts treten die Selbstbewertung und die Selbstkontrolle hinzu. Nach Bauman besteht in der Postmoderne entweder ein Pluralismus von Autoritäten oder aber sie fehlen ganz. Weil man die Autonomie der Subjekte sucht, will man sich an moralischen Autoritäten orientieren, die davon mehr als die Gesellschaft verstehen. Dadurch herrscht keine Allgemeinverbindlichkeit von Normen. Die Subjekte lassen sich mehr von ihren eigenen Zielen, Vorstellungen und Zwecken leiten. Die heutige Gesellschaft weiß, dass es ohne einen Minimalkonsens von Werten und Normen nicht geht. Dazu gehört auch die Akzeptanz eines Sittengesetzes, ohne dass die Pflichterfüllung in der Wirtschaft, im sozialen Bereich oder in der Politik als zentrales Ziel erkannt wird. Vielmehr wird statt zur Pflichterfüllung zur Erlebnis- und Spaßgesellschaft aufgerufen. Eine deontologische Ethik ist weniger gefragt als etwa eine utilitaristische. Insofern geht es auch nur noch um scheinbare Pflichten, die jeder für sich und weniger für die Allgemeinheit hat, obwohl die ständigen Aufrufe zu mehr Dienst an der Gemeinschaft nicht zu überhören sind.
4. Theologie und Kirche in der Postmoderne Die Veröffentlichungen der Theologie und der beiden Großkirchen zählen im Großen und Ganzen zum Komplex der Geistes- und Kulturwissenschaften. Diese Verbindung mit den Geisteswissenschaften und den kulturellen Fragen lassen sie ebenfalls unter den radikalen Anspruch der postmodernen Kultur fallen. Theologische Erörterungen gehören zwar auch in den Bereich der Gesellschaftswissenschaften. Aber ihre Aufgabe ist es, einen eigenständigen Bereich wahrzunehmen und nicht konsensorientiert das auszusagen, was aus anderer Perspektive bereits vorgetragen wurde. Man muss heute der Theologie vorhalten, dass sie sich weniger in einer kritischen Distanz zur herrschenden Meinung 41
Bauman, Zygmunt, (1995), S. 5 ff. 237 ff.
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1. Kap.: Das gegenwärtige Verhältnis von Gesellschaft und Ethik
befindet als vielmehr in einem Konsens mit dieser. Darum liefert sie sich vielfach der ökonomischen Macht aus und unterwirft sich dem Markt und dem Konsum. Je stärker sich Theologie und Kirche in die Wirtschaft einbinden lassen, umso mehr verlieren sie an Eigenständigkeit. Das zeigt sich besonders an den kirchlichen Stellungnahmen über gesellschaftsethische Entscheidungen etwa zur Abtreibung, Ehe oder Einsegnung von gleichgeschlechtlichen Paaren. Man fragt unwillkürlich, müsste nicht – insbesondere von den reformatorischen Kirchen – präziser und dezidierter Stellung bezogen werden gegenüber etwaigen Aufweichungstendenzen beim Schutz des Lebens oder der Erhaltung überkommener Ehevorstellung? Die verfassten Kirchen laufen Gefahr, sich gerade ihrem eigentlichen Auftrag zu entziehen, das Wort von der Frohen Botschaft der frei machenden Gnade Gottes zu verkünden. Sie sind heute vielfach eher bereit, allgemeine Vorstellungen über den Staat oder politische Meinungen zu vertreten, als ihren ureigensten Auftrag zu erfüllen. Selbstverständlich gibt es keine Verkündigung des Heils, ohne dass nicht zugleich gegenüber den Kranken, Schwachen und Armen Liebe geübt wird. Eine Verkündigung der Gnadenbotschaft ohne Liebe ist nach dem Evangelium nicht vorstellbar. Indessen betreiben die Kirchen oft das „Geschäft“ der anders Denkenden, indem sie z. B. für dezidierte politische Meinungen von Parteien oder Gewerkschaften eintreten oder sich für die Interessen der Wirtschaft oder der Tarifparteien einsetzen. Oft ist bei kirchlichen Veröffentlichungen zu fragen, wo und wann in ihnen eine eigenständige theologische oder ethische Antwort zum Vorschein kommt? Stattdessen besteht vielmehr die Gefahr, dass sich Theologie und Kirchen mehr und mehr den Bedürfnissen der Allgemeinheit anpassen, als dass sie eigene Vorstellungen vertreten. Außerdem interessieren gegenwartsbezogene Ereignisse mehr als grundsätzliche und zukunftsorientierte Aussagen. Solche Stellungnahmen sind Kurzläufer im Fragenkanon und werden leicht von anderen Augenblicksproblemen abgelöst. Sie bringen keine letzten Fragen hervor. Darum läuft alles auf eine kurzfristige individualisierte Ethik und auf ganz begrenzte Maßstäbe zu. Nach Bauman ist Moralität eine funktionale Grundvoraussetzung in einer Welt mit Endgültigkeit und unumkehrbaren Entscheidungen. Aber für die postmoderne Kultur gibt es eine solche Welt nicht42. Heute treffen Theologie und Kirchen mit einer kulturellen Entwicklung zusammen, die eine sich selbst erzeugende und selbst antreibende Dynamik darstellt. Sie muss als ein Prozess verstanden werden, „der keinem übergreifenden Plan unterworfen ist, nach der Art der Bewegung zur ,zweiten Wiederkunft des Herrn‘“43. Die Postmoderne sieht bekanntlich „die menschliche Welt als irredu-
42 43
Vgl. Bauman, Zygmunt, (1995), S. 61. Bauman, Zygmunt, (1995), S. 64.
4. Theologie und Kirche in der Postmoderne
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zibel und unwiderruflich pluralistisch“ an44. Die Herstellung einer perfekten Ordnung scheint nicht mehr möglich zu sein. Dieses Scheitern führt dazu, dass „die Imperfektion von Ordnungen zum definierenden Kernbestandteil einer nun hochindividualisierten, privatisierten und existentialisierten Kultur wird“ 45. Im Wandel von der Moderne zur postmodernen Gesellschaft wird Kultur nicht mehr interpretiert von einem kollektiven, sondern von einem individuellen Sinn-Streben. Zwar hat die Religion auch in der postmodernen Gesellschaft immer noch ihren Platz. Aber von ihr wird nunmehr als von einem „Fluchtraum“ gesprochen, der den Gemeinschaften zur Verfügung steht angesichts der vorhandenen Sinnkrise46. Religion diente in modernen Gesellschaften nicht mehr der Schaffung einer gesellschaftlichen Einheit (nach Niklas Luhmann). Sie wird zu einem System, das die Vorstellung einer gesellschaftsübergreifenden Einheit nicht mehr verbindlich zur Verfügung stellen kann47. Nur als Glied der Gesellschaft nimmt der Mensch die Welt wahr. Zwar erfährt er sie immer nur in der Weise, dass er sie nicht nur erkennt, sondern sie zugleich mit Hilfe der Natur fortentwickelt. Er versteht sie theologisch nicht nur als Gottes Schöpfung, sondern macht sie zugleich zu vestigia hominis (Spuren des Menschen). Indem er in dieser Weise seine Welt wahrnimmt, baut er die Gesellschaft. Aufgrund der christlichen Botschaft weiß der Mensch auch in der Gegenwart, dass er immer schon vor dem Antlitz seines Schöpfers steht. Damit wird freilich die Welt nicht vergöttlicht. Sie bleibt als Heimplatz für den Menschen dessen Welt, allerdings geschaffen von dem transzendenten Gott. In der heidnischen Antike war die Götter-Welt ein Teil der irdischen Welt selbst. Ihr war die Vorstellung eines transzendenten Schöpfergottes fremd. Für den Christen aber ist dieser Schöpfergott nicht ein Weltgesetz, eine Weltvernunft oder Weltprinzip, sondern der Gott, der der Schöpfer (creator) des Kosmos und des Menschen ist. Darum gibt es für den christlichen Glauben dort, wo es diesen Schöpferglauben gibt, auch eine bestimmte Art der Entweltlichung. Dementsprechend entsteht ohne Glauben an den transzendenten Schöpfergott keine echte Verweltlichung der Welt48. In der Welt-Sein und zugleich aus ihr herausstehen, ist die Dialektik des christlichen Lebens. Kennzeichen des Christseins ist nach dem Apostel Paulus die Tatsache, dass Christen aus der Hoffnung leben. Wer nämlich ohne Christus ist, der ist auch ohne Hoffnung49. 44
Bauman, Zygmunt, (1995), S. 64, vgl. oben S. 21. Matthias Junge, Religiöser Wandel und Wertewandel, in: Ute Volkmann, Uwe Schimank (Hrsg.), (2002), S. 190. 46 Vgl. Mattias Junge, (2002), S. 191. 47 Vgl. Mattias Junge, (2002), S. 193. 48 Vgl. Johann Baptist Metz, Zur Theologie der Welt, München 21969, S. 59 ff. 49 Vgl. Eph. 2,12 und 1. Thess. 4,13. 45
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1. Kap.: Das gegenwärtige Verhältnis von Gesellschaft und Ethik
Die Welt der Christen ist ohne eine Hoffnung nicht zu denken. Darum verliert auch die Theologie ohne Eschatologie – also ohne Zukunftshoffnung – ihren Bezug zur Geschichte. Der Glaube lebt von dieser Hoffnung, die in der Zusage Gottes zu dieser Welt in Jesus Christus gipfelt. Die christliche Religion lebt allein aus dieser Hoffnung auf die göttliche Zusage. Sie ist freilich nicht allein individuell geprägt, sondern hat zugleich immer einen gesellschaftlichen Bezug. Der Mensch lebt als Gemeinschaftswesen immer als ein Glied der Gesellschaft. Die Kirche ist ein Teil der Gesellschaft. Sie tritt öffentlich in Erscheinung als eine eigenständige Körperschaft. Ihre Verkündigung geschieht nicht im Verborgenen. Im Gegenteil. Im Augsburgischen Bekenntnis, in der Confessio Augustana (CA.XIV), heißt es, dass ein öffentliches Lehren oder Verkündigen (publice docere) nur mit einer ordentlichen Berufung (rite vocatus) erfolgen darf. Die Lehre oder Verkündigung wendet sich an jedermann in der Gesellschaft, auch wenn nicht alle Menschen zu dieser Gemeinschaft gehören. Die Kirche steht in einer Ambivalenz zwischen einer Eigenständigkeit und ihrem Öffentlichkeitsauftrag. Die Religion ist darum auch keine Privatsache. Aber es darf die Verständigung zwischen Kirche und Gesellschaft, wie sie etwa in den evangelischen Denkschriften zu sozialen oder politischen Fragen angestrebt wird, nicht zu Lasten der Kirche und ihres Bekenntnisses bzw. ihres Verkündigungauftrages gehen. Zwar muss es eine Verständigung zwischen den öffentlichen Worten der Kirche und der Gesellschaft geben. Aber die Kirche hat ihr eigenes Anliegen und die ihr eigene Wahrheit, zu Gehör zu bringen. Allerdings wird sie in ihrem ethischen Handeln nicht von einem bekenntnishaften Absolutheitsanspruch geprägt sein, sondern von einer Toleranz gegenüber anderen ethischen Entwürfen.
2. Kapitel
Schutz des Lebens Die biblische Überlieferung erkennt das menschliche Leben als heilig. Es bleibt in allen Entwicklungsphasen schutzwürdig. Der Mensch ist Person. Als solcher steht er in Bezug zu seinem Schöpfer und Erlöser. Aber er existiert auch immer in Bezug auf seinen Mitmenschen. Dieses Sein verdankt er der Liebe Gottes.
1. Das christliche Menschenbild Mit biologischer Erkenntnis lässt sich nicht erfassen, was das Personsein bedeutet. Alle theologischen Aussagen über den Menschen, seine Gottesebenbildlichkeit, sein Sündersein, seine Rechtfertigung, beziehen sich auf das PersonSein des Menschen1. Man kann dem Menschen sein Personsein nicht nehmen. Denn seine Ebenbildlichkeit beruht allein auf der Anerkennung Gottes. Sie kann ihm nicht vorenthalten und verweigert werden. Nach der jüdisch-christlichen Überlieferung hat Gott den Menschen sich zum Bilde geschaffen. Das Leben des Menschen ist also keineswegs eine biologische Tatsache. Aber es ist der Verfügbarkeit des Menschen entzogen. Als Mensch bleibt er zwar homo creator (Menschlicher Schöpfer), der seine Welt baut und dies nach der Schöpfungsordnung (gemäß Gen. 1,28) tun darf. Darin gründet selbstverständlich einerseits das Streben nach einem Herrschen über die Erde, das er oft bis in die Gegenwart hinein als Möglichkeit zur Ausbeutung missbraucht hat. Andererseits gründet in seiner Herrschaft auch die eigene Selbstverwirklichung. Da die Würde des Menschen in seiner Ebenbildlichkeit mit seinem Schöpfer wurzelt, ist sie unantastbar. Sie kommt allen Menschen – gleich welcher Hautfrage, welchen Geschlechts, welcher Rasse, welchen Alters – zu, den Geborenen wie den noch Ungeborenen. Auch Kranke oder Sterbende leben aus dieser Ebenbildlichkeit. Die Schwere von Leid und Tod werden dem Menschen durch die Hoffnung auf seine Auferstehung genommen. Diese wurzelt in der Auferstehung Christi, der das Urbild jeder Gottesebenbildlichkeit ist. Nur von dieser Person her ist die Ebenbildlichkeit des Menschen auszulegen. Der Apostel Paulus schreibt im 1. Brief an die Korinther: „Denn da durch einen Menschen der 1 Evangelische Kirche in Deutschland, Im Geist der Liebe mit dem Leben umgehen, EKD-Texte 71, (2002), Nr. 2.
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2. Kap.: Schutz des Lebens
Tod gekommen ist, so kommt auch durch einen Menschen die Auferstehung der Toten. Denn wie sie in Adam alle sterben, so werden sie in Christus alle lebendig gemacht werden“ (15, 21 f.). Wie also durch den einen Menschen Adam die Sünde in die Welt kam, bringt dieser eine Mensch Christus die Erlösung für die Menschen. Gott hat sich in diesem neuen Menschen in die Geschichte mit den Menschen eingelassen. Er hat sich an ihn durch seinen Willen gebunden. Damit hat er sich selbst zwar einer Beschränkung anheim gegeben, aber andererseits auch dem Menschen die Selbstbestimmung entzogen. Der Mensch kann seine ethische Verantwortung für die Schöpfung zwar als Aufgabe seines Lebens erkennen, aber er muss zugleich wahrnehmen, dass sich in ihr für ihn auch eine Selbstbegrenzung zeigt.
2. Menschenwürde und Menschenschutz Dieses Menschenbild bildet zusammen mit der Menschenwürde die Grundlage für christliches Handeln. Beide Kennzeichen stehen als Grundwerte nicht zur Disposition Auf ihnen basieren fast alle westlich-demokratischen Verfassungen. Allein die Würde des Menschen rechtfertigt seinen Schutz, erzwingt ihn sogar. Die Kammer für Öffentliche Verantwortung der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) weist darauf hin, dass die Menschenwürde und der Lebensschutz dem einzelnen Menschen vom Anfang seines Menschseins als Embryo bis zum seinem Ende zukommt2. In ihren Beratungen bestand allein in der Frage Uneinigkeit, ob die Embryonen von den ersten Anfängen an als Menschen zu verstehen seien. Denn es wird unterschiedlich beurteilt, ob man jedem menschlichen Embryo zuerkennt, in ihm schon einen werdenden Menschen zu sehen. Es hängt nämlich vom Menschen selbst ab, ob er die Voraussetzungen für eine Entwicklung des Embryos schafft oder nicht. Allerdings, so sagt man, stehen sich zwei verschiedene Auffassungen gegenüber. Die einen sagen, jeder Embryo ist der menschlichen Verfügungsgewalt entzogen. Denn es handelt sich bei der Verschmelzung von Samen- und Eizelle in jedem Fall um einen sich entwickelnden Menschen. Im anderen Fall will man von einem sich entwickelnden Menschen nur dann sprechen, wenn auch die Umstände für die Entwicklung des Menschseins bzw. des Menschwerdens gegeben sind. Aber bei vielen natürlichen oder auf künstlichem Wege entstehenden Embryonen kann von einer konstitutiven Beziehung zwischen dem Embryo und seiner entwicklungsnotwendigen Umgebung keine Rede sein. Es ist darum nicht von einem sich entwickelnden Menschen zu sprechen3. Die EKD versucht also, Antworten auf die vorgeburtliche Situation für den Lebensschutz und die Zuerkennung der Menschenwürde zu geben. 2 3
EKD-Texte 71, (2002), N. 3,1. EKD-Texte 71, (2002), N. 3,1.
3. Gentechnik und Biomedizin als Probleme der Bioethik
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Im ersten Fall meint sie, fragen zu müssen, ob wirklich alle Embryonen als sich entwickelnde Menschen mit Gottesebenbildlichkeit und Menschenwürde anzuerkennen sind. Zwar beginnt mit dem Zeitpunkt der Verschmelzung von Samen– und Eizelle die Entwicklung des Menschen. Aber sind wirklich alle Embryonen, auch wenn es nicht zur Einnistung kommt, als Menschen mit Gottesebenbildlichkeit und Menschenwürde zu betrachten? Ist jeder menschliche Embryo darum wirklich der menschlichen Verfügung zu entziehen? Die zweite Auffassung will – wie gesagt – von einem sich entwickelnden Menschen nur sprechen, wenn auch die dazu notwendigen Entwicklungsmöglichkeiten gegeben sind. Das vorgeburtliche Stadium ist keineswegs schon ein vorgeburtliches Menschsein. Aber es ist zu fragen, ob man nicht gerade mit dieser Auffassung einer technisch unbegrenzten „Verdinglichung“ und „Verfügbarmachung“ menschlichen Lebens das Wort redet. Was spricht dann noch gegen die bewusste Erzeugung solcher Embryonen zu Forschungszwecken? Die Kammer bedauert, dass sie sich nicht zwischen den beiden Antworten habe entscheiden können. Dieses Dilemma entspricht der Situation, der die ganze evangelische Kirche in dieser Fragestellung ausgesetzt ist.
3. Gentechnik und Biomedizin als Probleme der Bioethik In den Biowissenschaften, der Biomedizin und der Pharmazie, also in den so genannten Lebenswissenschaften, werden in der letzten Zeit viele Erwartungen, Hoffnungen aber auch Befürchtungen geweckt. Das Wissen über den Menschen wurde erweitert. Hoffnungen entstehen, bösartige Krankheiten heilen oder mindestens ihre Auswirkungen mildern zu können. Doch werden viele Menschen von Befürchtungen der Genmanipulation geplagt. Fragen nach dem Nutzen der neuen Erfindungen werden gestellt. Seit dem 26. Juni 2000 ist das menschliche Genom entschlüsselt. Damit ist der Mensch hinsichtlich aller in einer Zelle vorhandenen Erbanlagen erkannt. Aber er ist damit noch nicht eindeutig bestimmt. Denn der Mensch ist mehr als die Summe seiner Gene. Wer ihn allein auf seine genetische Ausstattung reduziert, erkennt nicht, dass er zugleich eine soziale Verantwortung besitzt und in emotionalen Beziehungen lebt. Immerhin sind Genforschung und Gentechnik die Grundlagen für die Erforschung des Lebens. Mit ihnen werden viele Frage in der modernen Bioethik, speziell der Embryonenforschung, aufgeworfen. Der Beginn des neuen Jahrhunderts ist dadurch geprägt, dass die Zellbiologie, speziell die Stammzellforschung, eine zentrale Stellung in der Grundlagenforschung eingenommen hat. Durch die modernen Erkenntnisse in der Humangenetik und der Biomedizin wird nicht nur das werdende, sondern das ganze Leben des Menschen aus neuer
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2. Kap.: Schutz des Lebens
Sicht betrachtet. Man sucht, das Problem des Lebensbeginns und Lebensendes neu zu bestimmen. Immer muss menschliches Leben vom Anfang bis zu seinem Ende und damit in allen seinen Entwicklungen schutzwürdig bleiben. Die Gesellschaft erwartet, dass durch den Fortschritt in der Biotechnik und Medizin neue Therapiemöglichkeiten geschaffen werden. Gleichzeitig werden auch Befürchtungen gegenüber diesen Forschungen laut. Antworten auf viele Fragen harren noch der Lösung: Was ist durch die moderne Medizin oder Biotechnik machbar? Was ist erlaubt? Was soll oder darf der Mensch tun? Die politische und gesellschaftliche Auseinandersetzung darüber wird in den nächsten Jahren zunehmen. Die „Kammer für Öffentliche Verantwortung“ der Evangelischen Kirche in Deutschland hat dieses Dilemma erfasst und die Ambivalenz der gesellschaftlichen Erwartungen, die an den Fortschritt in der Medizin oder Biotechnik geknüpft werden, dargestellt. Gleichzeitig haben auch die katholischen Bischöfe sich zu diesen Fragen geäußert4. Einerseits ergeben sich Hoffnungen für eine Therapie von bisher unheilbaren Krankheiten. Andererseits stellen sich Befürchtungen ein, dass das Geheimnis des Lebens verletzt „oder das menschliche Dasein durch Übergriffe manipuliert und verfügbar gemacht werden“ könnte5. Die moderne Biotechnik steht also unter einem unterschiedlichen Erwartungsdruck. In der Genforschung und Gentechnik geht es um mehrere Ziele. Die Genforschung will zunächst einmal eine „Analyse der Sequenzen“ des Genoms, und das heißt der Gesamtheit aller in einer Zelle vorhandenen Erbanlagen, vornehmen. Durch sie wird die Reihenfolge der Bestandteile der Chromosomen, die so genannte DNA, ermittelt. Die Erforschung des Gens will also die Grundlagen des Lebens erfassen. In einem zweiten Schritt will die Genforschung – auch „Post-Genomics“ genannt – dann die „Analyse der Funktionen“ des Genoms erfassen. Sie will die Funktionen wahrnehmen, die in den einzelnen Elementen und verschiedenen Sequenzen des Genoms stecken6. Der dritte Schritt betrifft die „Veränderung des Genoms“ zu Gunsten einer Nutzung in der Medizin, Pharmazie, Tierhaltung und der Landwirtschaft. Um das zu erreichen, ist es nötig, entsprechende gentechnische Verfahren und Methoden zu erfinden, unter denen die notwendigen Prozesse ablaufen und verändert werden können7.
4
Die deutschen Bischöfe Nr. 69, Der Mensch sein eigener Schöpfer, Bonn 2001. Evangelische Kirche in Deutschland, EKD-Text 71, (2002), N. 1.2. 6 Vgl. Molinski, Waldemar, Den Menschen neu erschaffen? In: Katholische Sozialwissenschaftliche Zentralstelle Mönchengladbach, Kirche und Gesellschaft, Köln 2001 Nr. 277, S. 3. 7 Vgl. Molinski, Waldemar, (2001), S. 4. 5
4. Ethische Fragen in der Embryonenforschung
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4. Ethische Fragen in der Embryonenforschung Die Frage nach der ethischen Verantwortung in der Embryonen-Nutzung ist weltweit aufgebrochen. Die Erforschung embryonaler Stammzellen und die daraus gewonnenen Nutzeffekte zur Hilfe für erkrankte Menschen eröffnen ein weites Feld in der Medizin und Pharmakologie. Für die Heilung oder Linderung von Krankheiten wie Alzheimer, Parkinson, juveniler Diabetes oder Rückenmarkverletzungen hoffen die Wissenschaften, zukünftig Grundlagenforschung betreiben zu können. Zwar räumt man ein, dass es keine Gewissheit für einen Erfolg gibt. Aber man sieht in der Forschung an den embryonalen Stammzellen große Chancen. Mittlerweile weiß die Wissenschaft jedoch, dass solche Forschungen nicht nur mit embryonalen Stammzellen, sondern auch mit erwachsenen Stammzellen aus der Nabelschnur von Neugeborenen oder aus der Plazenta, die nach der Geburt üblicherweise vernichtet wird, betrieben werden können. Viele Wissenschaftler sind der Meinung, dass hier ein großer Spielraum für die Forschung besteht. Bisher hat nämlich noch kein Forscher, der für eine weitgehende Embryonennutzung streitet, nachgewiesen, dass sich die Heilmittel nicht auch aus anderen Quellen, z. B. aus adulten Stammzellen entwickeln lassen. Andererseits wird die Behauptung aufgestellt, dass die embryonalen Stammzellen die besten Möglichkeiten bieten, weil sie das Potential für alle Gewebearten des Menschen besitzen. Nun existieren bereits viele Embryonen solcher Art. Sie stammen aus den überzähligen Embryonen, die sich als Ergebnis aus der Invitro-Fertilisation ergeben haben, durch die vielen Ehepaaren zu einem Kind verholfen werden konnte. Die überzähligen Embryonen werden nämlich eingefroren, bis die Schwangerschaft erfolgreich beendet wird. Die Gesellschaft muss sich aus ethischer Verantwortung der Frage stellen, ob die überzähligen „überlebenden“ Embryonen, die nicht aufgrund des Einfrierens gestorben sind oder vernichtet wurden, der Wissenschaft zu Forschungszwecken zur Verfügung gestellt werden dürfen. Als ein ethisches Problem stellt sich schließlich die Tatsache, dass seit November 2003 werdendes menschliches Leben patentiert werden kann. Dieses Patent bezieht sich auf das Tiefkühlen menschlicher Eizellen, Spermien und Embryonen, die für künstliche Befruchtung Verwendung finden sollen. Von verschiedenen Seiten wird eingewandt, dass es letztlich menschliches Leben ist, das eingefroren wird. Damit kann der Weg zu einer (industriellen) „Produktion“ von Menschen eröffnet werden. Wer will eine solche Entwicklung ethisch verantworten? Allerdings ist es infolge der In-vitro-Fertilisation durchaus notwendig, Eizellen einzufrieren. Weil bei der Nutzung der Stammzellen der Embryo zerstört und dadurch Leben vernichtet wird, ist die Frage zu stellen, ob es überhaupt erlaubt ist, an diesen Stammzellen zu forschen? Sie wird von verschiedenen Seiten unterschiedlich beantwortet. Wer in jedem Embryo unabhängig von seiner Entwicklungsmöglichkeit bereits einen Menschen mit Gottebenbildlichkeit und Men-
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2. Kap.: Schutz des Lebens
schenwürde sieht, muss eine Nutzung von Embryonen für die Forschung an Stammzellen ablehnen. Jeder dieser so vernichteten Embryonen besitzt die ganze Potentialität zu einem singulären individuellen menschlichen Wesen. Die Kammer der EKD äußert sich auch zu der Frage, ob der Embryo nur ein Zellhaufen oder eine Person ist. Sie bezeichnet das als eine falsche Alternative. Denn jeder Mensch ist eben je nach Gesichtspunkt beides: Zellhaufen und auch zugleich und vor allem Mensch8. Wer dagegen nur bei einer entsprechenden Entwicklungsmöglichkeit bei einem Embryo von einem Menschen spricht, gelangt zu einem anderen Urteil. Bei einer solchen Meinung stehen keine Hindernisse im Wege, Stammzellen für Forschungsgesichtspunkte zu gewinnen9. Die Nutzung der überzähligen Stammzellen setzt in jedem Fall voraus, dass in ihnen eine Rohstoffressource für die Arzneimittelforschung und für Therapiezwecke gesehen wird10. Die Folge ist, dass man aufgrund der Unterscheidung zwischen den Embryonen in vitro und in utero glaubt, dem Embryo in vitro wegen seines minderen Status das Personsein und den Schutz der Menschenwürde absprechen zu können, während man das im anderen Fall eines Embryos in utero nicht kann. Die größte ethische Gefahr bei der Forschung mit embryonalen Stammzellen besteht darin, dass mit ihnen das Klonen von Menschen ermöglicht wird, wie es heute bereits bei Tierversuchen mit mehr oder weniger großem Erfolg durchgeführt wird. In diesem Verfahren wird der Kern einer körpereigenen Zelle in eine entkernte Eizelle eingeführt. Aber jede Form eines Gentransfers zur Reproduktion von Menschen verbietet sich aufgrund der Würde, die jedem einzelnen Menschen zukommt. Eine komplette Herstellung einer genetischen Kopie eines schon bestehenden Menschen greift in die Schöpfungsordnung Gottes ein. Menschsein bedeutet, ein personales und Gott bejahtes Leben führen zu dürfen. Dieser ,gezüchtete‘ Mensch wird aber nicht um seiner selbst willen geschaffen, sondern aus einer bestimmten Absicht. Er wird entweder als Kopie eines ganz bestimmten Menschen oder als Ersatzteillager für Organspenden geschaffen. Außerdem muss man begreifen lernen, dass der so entstehende Abkömmling sowohl Kind als auch „genetischer Zwilling eines seiner beiden Elternteile“ ist, „während er mit dem anderen Elternteil biologisch nicht verwandt ist“11. Ein solches Reproduktionsverfahren wird – mit wenigen Ausnahmen – weltweit abgelehnt. Als Gefahr beim Klonen steht die Züchtung von Menschen im Vordergrund. Aber die genetische Einmaligkeit darf nicht vervielfältigt werden. Sie 8
Vgl. EKD-Texte 71, (2002), N. 5.2.4. EKD-Texte 71, (2002), N. 3.1.2.1. 10 Vgl. Spieker, Manfred, Die universelle Bestimmung der Güter, in: Die Neue Ordnung, Institut für Gesellschaftswissenschaften, Walberberg Juni 2004, S. 199 f. 11 EKD-Texte 71, (2002), N. 3.1.2.2. 9
4. Ethische Fragen in der Embryonenforschung
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würde die aus der Sicht christlichen Glaubens geschenkte schöpferische Einmaligkeit der Person auslöschen. Von dem reproduktiven Klonen ist das „therapeutische Klonen“ zu unterscheiden. Dabei wird ebenfalls ein Zellkern in eine Eizelle eingegeben. Aber die aus solchem menschlichen Genmaterial hergestellten Embryonen dienen als Rohstoff zur Entnahme von Stammzellen, um bestimmte gewünschte Organe und Gewebe zu züchten. Menschliches Leben wird so zum Ersatzteillager (s. o.). Das therapeutische Klonen ist zwar nach deutschem Recht verboten. Strittig aber ist die Frage geblieben, ob die Gründe dafür ausreichen12. Mittlerweile hat bereits ein solcher Klonvorgang stattgefunden. Im Februar des Jahres 2004 hat eine südkoreanische Arbeitsgruppe das Erbgut von Erwachsenen in gespendete Eizellen eingeführt und gelangte dadurch zu so genannten Blastozysten, also zu fortgeschrittenen Embryonen – bestehend aus etwa 200 Zellen –, die aus sieben bis acht Teilungen (1, 2, 4, 8, 16, 32, 64, 128) entstanden sind. Aus deren Stammzellen konnten verschiedene Gewebetypen des menschlichen Körpers gezüchtet werden. Mit dem therapeutischen Klonen will man – wie oben bereits gesagt – Ersatzgewebe züchten, das nicht von dem Immunsystem abgestoßen wird. Obwohl in Korea und Amerika die Klonforscher diese Experimente als Durchbruch in der Wissenschaft bezeichneten, kann man wohl vorerst wegen des noch nicht therapiereifen Stadiums nur von einem Forschungsklonen sprechen. Noch kann nämlich mit dieser Form des Experimentierens keine therapeutische Entwicklung begonnen werden. Ob es überhaupt auf dieser Basis zum Klonen kommt, weiß die Wissenschaft selbst noch nicht. Schließlich hat man um der Einfachheit willen das Experiment nicht an fremden Patienten vorgenommen, sondern die Frauen als Spenderinnen für den zu übertragenden Zellkern genutzt. Sechzehn Frauen spendeten, so ist aus den Nachrichten über den Tag der Veröffentlichung am 12.02.04 zu lesen, 242 Eizellen und dazu das eigene Erbgut. Mit der so genannten Dolly-Technik, die am ersten geklonten schottischen Schaf 1996 angewandt und 1997 veröffentlicht worden ist, erhielt man dreißig geklonte menschliche Embryonen, aus denen sich dann stabile Kulturen embryonaler Stammzellen gewinnen ließen. Die Öffentlichkeit weiß seit „Dolly“, dass es möglich ist, einen Zellkern aus einer ausgewachsenen Zelle in eine von ihrem eigenen Zellkern befreite Eizelle einzubringen und dieses neue schimäre Gebilde zu einem Tier auswachsen zu lassen. Immerhin hat es bei Dolly 277 Embryonen bedurft, um ein einziges Schaf entstehen zu lassen. Außerdem waren an die fünfzig Tiere mit Fehlbildungen hinzunehmen. Immerhin klont man heute mehr oder weniger erfolgreich Mäuse, Rinder, Kaninchen, Katzen, Pferde oder andere Tiere.
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Vgl. EKD-Texte 71, (2002), N. 3.1.2.2.
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2. Kap.: Schutz des Lebens
Trotzdem gilt auch weiterhin in Deutschland: Das therapeutische Klonen am Menschen bleibt verboten13. Dennoch hofft man, dass sich mit der Forschung an embryonalen Stammzellen große Möglichkeiten für die Heilung von Krankheiten und gesundheitlichen Defekten ergeben, die von der gegenwärtigen Medizin nicht zu bekämpfen sind. Ist man aber der Meinung, dass jeder Embryo ein sich entwickelnder Mensch ist, dürfen die erzeugten Embryonen keineswegs als Mittel zum Zweck eingesetzt werden. Wird von einem vorgeburtlichen Menschsein nur dann gesprochen, wenn auch die äußeren Umstände für eine Entwicklung gegeben sind, stellt sich die Problematik anders dar. Bei dieser Deutung ist ein „Gebrauch“ der Embryonen leichter zu vertreten. Heute gibt es ca. sechzig verschiedene Stammzellenlinien. Sie wurden aus Stammzellen gezüchtet, die bereits der Vernichtung zugeführt waren. Diese sollten ausreichen, um die Entwicklung für die vorgesehenen Heilverfahren durchzuführen. Mit diesen Kulturen bestehen Aussichten, die Forschung an den embryonalen Stammzellen zu intensivieren, ohne eine bereits gesetzte ethische Grenze zu überschreiten. Damit ist eine Grenzlinie gezogen. Zwar möchten die biotechnische Forschung, die Wissenschaft und auch die pharmazeutischen Unternehmen, dass weitere embryonale Stammzellen zur uneingeschränkten Nutzung freigegeben werden. Die bestehenden Stammzellenlinien aber müssten ausreichen. Bei ihnen ist die Entscheidung über Leben und Tod bereits gefallen. Es darf nicht zur Tötung weiterer embryonaler Stammzellen kommen. Schon 1990 hatte in Deutschland der Bundestag diesen Gedanken des Schutzes von Embryonen in eine gesetzliche Form durch das Embryonenschutzgesetz gegossen. Danach wird in der öffentlichen Meinung der Import von bereits bestehenden Zelllinien aus dem Ausland (z. B. Amerika oder Israel) unterschiedlich beurteilt. Die eine Gruppe, die viele Stimmen aus der evangelischen Kirche und ethische Vorstellungen aus der katholischen Kirche einschließt, ist der Meinung, ein solcher Import sei zu verbieten. Anderenfalls müsse man mit einer Doppelmoral leben. Denn Embryonen aus Deutschland und dem Ausland dürften nicht unterschiedlich behandelt werden. Strikt verbietet es sich, die Embryonen zu Forschungszwecken zu töten. Die andere Gruppe möchte zwar den fortgesetzten Embryonenverbrauch in Deutschland wie auch im Ausland verhindern. Aber das sollte kein ausdrück-
13 Dagegen wurde am 11. August 2004 in Großbritannien Stammzellenforschern die erste Genehmigung in Europa zum therapeutischen Klonen am Menschen erteilt. Ziel der Forscher der Universität Newcastle ist es, Grundlagenforschung über das Klonen mit menschlichen Zellen zu betreiben, um einer späteren Zucht von Ersatzgewebe den Weg zu bereiten. Diese Genehmigung macht die Uneinigkeit in Europa in Fragen der Embryonenforschung deutlich. Denn in Großbritannien ist nur das Klonen zur Erzeugung von Kindern verboten, nicht jedoch die medizinische Anwendung der Klontechnik.
5. Schwangerschaftsabbruch, Pränatal- und Präimplantationsdiagnostik
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liches Nein zum Import von embryonalen Stammzellen bedeuten. Es muss bei den bereits vorhandenen Stammzellen bleiben. Eine dritte Gruppe geht davon aus, dass Embryonen in ihrer frühesten Phase noch nicht ein umfassender Schutz der Menschenwürde und der Lebensrechtsgarantien zukommt. Man geht von einem graduell zunehmenden Schutzrecht aus. Denn viele Embryonen sind aufgrund der In-vitro-Fertilisation dem Tode geweiht. Da es um das Heilen von Schwerkranken geht, würde der Nutzen eine Tötung von letztlich ohnehin „todgeweihten“ Embryonen zu Forschungszwecken aufwiegen. Diese Gruppe von Politikern setzt sich für eine Ethik des Heilens ein. In der genetischen Diagnostik kommt es auch zu genetischen Tests an Neugeborenen. Ihnen ist nur dann zuzustimmen, wenn durch sie frühzeitig Krankheiten erkannt und geheilt werden können. Gentests dürfen bei Erwachsenen weder für die Eignungsuntersuchung zum Abschluss eines Arbeitsvertrages noch für die Aufnahme in eine Kranken- oder Lebensversicherung vorgenommen werden14.
5. Schwangerschaftsabbruch, Pränataldiagnostik und Präimplantationsdiagnostik Die Abtreibung wird in der Bundesrepublik Deutschland seit der letzten Reform im Jahr 1995 als Gegensatz zum Schutz des Lebens, der schließlich die vornehmste Aufgabe des Staates ist, gesehen. Denn die Unantastbarkeit der Menschenwürde muss im Zusammenhang mit dem Recht auf Leben und körperlicher Unversehrtheit gesehen werden. In Deutschland ist letztmalig im Jahre 1995 der § 218 StGB, der die Abtreibung regelt, reformiert worden. Zwar kann sich danach eine Schwangere heute in den ersten zwölf Wochen straflos für eine Abtreibung entscheiden, wenn sie dem – die Abtreibung vornehmenden – Arzt einen Beratungsschein vorlegt, der von einer gesetzlich anerkannten Beratungsstelle ausgestellte wurde. Aber auch nach der zwölften Woche ist seit der Reform von 1995 im zweiten und vor allem im letzten Drittel der Schwangerschaft eine Abtreibung möglich. Vor 1995 war nach dem § 218a Abs. 3 StGB die Abtreibung bei einer Schädigung des Gesundheitszustands des Embryos bis zur 22. Woche möglich. Seit der neuen Gesetzgebung mit ihrer Integration der eugenischen (oder embryopathischen) Indikation in die medizinische ist die alte zweiundzwanzig Wochen Frist für solche Abtreibungen entfallen. Die Abtreibung (Spätabtreibung) wird heute zusätzlich gefördert durch die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes, der behinderte Kinder als Schaden einschätzt und sogar Ärzte zu Unterhaltszahlungen 14 Vgl. dazu insgesamt: Die deutschen Bischöfe 69, Der Mensch sein eigener Schöpfer, Bonn 7. März 2001, S. 8 f.
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2. Kap.: Schutz des Lebens
bzw. Schmerzensgeldzahlungen verurteilt, wenn sie den Schwangeren nach der Diagnose einer Behinderung nicht den Gang zur Abtreibung eröffnen. In der Verurteilung der Abtreibungen bestehen zwischen der katholischen und Teilen der evangelischen Kirche Uneinigkeit, ob bzw. bis wann die an sich rechtswidrige Tötung des Embryos vorgenommen werden darf. Die katholische Kirche ist als eine Verteidigerin des Lebens in der Gesellschaft strikter aufgetreten. In den reformatorischen Kirchen wird die Entscheidung in das Gewissen der Schwangeren gestellt. Ihr allein soll letztlich der Entscheidungsspielraum zuerkannt werden. In der Gesellschaft dagegen geht es im Allgemeinen nicht um den Lebensschutz des Ungeborenen, sondern um das Selbstbestimmungsrecht der Schwangeren. Der Individualismus des einzelnen Menschen hat auch hier seine Ausprägung gefunden. Die Beliebigkeit und der Relativismus im postmodernen Denken kommen hier zum Tragen. Aber dennoch gilt im Allgemeinen: Die Kirchen sehen es mit Nachdruck als ihre Aufgaben an, sich für das Recht auf Leben einzusetzen. Dabei gründet sich ihre Stellungnahme auf der Unantastbarkeit der Menschenwürde. Sie gehört zu den unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten. Diese bilden nach Art I Abs. 2 GG die „Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt“. Mit der pränatalen Diagnostik (PND) wird der im Mutterleib heranwachsende Embryo mit verschiedenen Techniken untersucht. Man möchte frühzeitig erkennen, ob das ungeborene Leben durch eine mögliche Krankheit oder Behinderung geprägt ist. Dadurch können mögliche und eventuell nötige Therapien eingeleitet werden. Oft kann heute in Deutschland unter bestimmten Voraussetzungen nach der gültigen Gesetzgebung der Foetus straffrei abgetrieben werden, wenn bei ihm eine Krankheit oder Behinderung festgestellt wird. Allerdings gilt als Voraussetzung, dass die Möglichkeit zum Schwangerschaftsabbruch bei einer schweren Behinderung des Ungeborenen nur dann vom Gesetzgeber eingeräumt wird, wenn die Schwangerschaft für die Schwangere eine schwere Beeinträchtigung des körperlichen oder seelischen Zustandes bedeutet. Dass werdende Eltern sich nicht imstande sehen, ein behindertes Kind anzunehmen, rechtfertigt also einen Schwangerschaftsabbruch nicht. Die Kirchen sind sich weitgehend darin einig, dass ein solcher straffreier Abbruch ethisch nicht zu rechtfertigen ist, auch wenn es in der evangelischen Theologie viele Stimmen gibt, die einem Abbruch unter bestimmten Bedingungen zustimmen. Die pränatale Diagnostik wird zwar im klinischen Alltag durchaus sinnvoll eingesetzt. Aber durch sie entstehen für die Beteiligten auch Probleme. Aufgrund ihrer Ergebnisse kann immerhin ein Schwangerschaftsabbruch ins Auge gefasst werden. Die genetische Diagnostik hat in der Präimplantationsdiagnostik (PID) eine neue Anwendungsform gefunden. Der im Reagenzglas durch die Verschmel-
5. Schwangerschaftsabbruch, Pränatal- und Präimplantationsdiagnostik
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zung von Ei- und Samenzelle erzeugte Embryo bildet die Grundlage und den Keim für menschliches Leben. Dieser wird auf eventuelle Krankheiten oder Behinderungen hin untersucht. Nur wenn er unbelastet ist, wird er in die Gebärmutter eingepflanzt. Im Falle einer Belastung jedoch wird er vernichtet. Damit dient die PID letztlich der Selektion menschlichen Lebens. Die beiden Kirchen haben sich aus ethischen Gründen ausdrücklich gegen diese Form der Diagnose ausgesprochen. Denn der Mensch darf nicht „zwischen Leben und Leben“ unterscheiden, wie Johannes Paul II. wegen der jedem Menschen zukommenden eigenen Würde in einem Rundschreiben ausdrücklich betont hat15. Wer die PID ablehnt, kann selbstverständlich auch nicht einer Abtreibung aus eugenischen Gründen zustimmen. Denn es ist unlogisch, einer Tötung eines Embryos im Mutterleib in einem bestimmten Zeitrahmen zuzustimmen, aber einer PID im Reagenzglas nicht. Würde man diese zulassen, gestattete man, eine Vielzahl von Embryonen zu erzeugen, die über die heutige Regelung hinausgehen. Zusätzlich würde man, um allein gesunde Embryonen in den Mutterleib einzupflanzen, die Möglichkeit einräumen, eine Selektion unter ihnen vorzunehmen. Damit erhöht sich die Gefahr einer eugenischen Selektion menschlichen Lebens. Sodann entsteht die Gefahr, dass überzählige Stammzellen als Mittel für bestimmte Zwecke benutzt werden. Wer jedoch zu einem anderen Urteil kommt und nur bei tatsächlich gegebener Entwicklung von einem sich entwickelnden Menschen sprechen will, ist in der Lage, solche Embryonen für die Gewinnung von Stammzellen freizugeben. Für ihn sind die Gottesebenbildlichkeit und die Menschenwürde auf solche Embryonen nicht übertragbar. In der Frage, eine Nutzung von ,überzähligen‘ Embryonen aus der In-vitro-Fertilisation freizugeben, konnte in der Kammer der EKD – wie gesagt – keine gemeinsame Position erreicht werden16. Verständigen konnte man sich allerdings darauf, dass die Herstellung von Embryonen für Forschung und Therapien strikt abzulehnen ist. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sich die EKD mit der katholischen Kirche in Deutschland in ihrer Kritik am Klonen von Menschen, an der embryonalen Stammzellenforschung und auch an der PID einig weiß. Auch den Überlegungen, dem Embryo in vitro die Menschenwürde abzusprechen, um ihn dadurch für die Stammzellenforschung zu öffnen, wie es im Jahr 2003 von der Politik ins Gespräch gebracht wurde, haben sich beide Kirchen entgegengestellt. Die Menschenwürde kommt allen Menschen zu jeder Zeit zu, also bereits ab ihrer embryonalen Gestalt. Darum weisen die Kirchen darauf hin, dass das Stammzellengesetz, das die Forschung mit bestimmten importierten Stammzellen ermöglicht, nicht erweitert werden darf. Denn der Schutzstandard darf nicht gesenkt werden. 15 Johannes Paul II., Novo Millenio Ineunte, vom 6. Januar 2001, Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 150, Nr. 51. 16 Vgl. EKD-Texte 71, (2002), N. 3.1.2.1.
3. Kapitel
Säkularisierung, Entreligionisierung, Entchristlichung und Entkirchlichung Die Begriffe der Säkularisierung und Säkularisation haben mit den Vorstellungen der Entreligionisierung, Ent-Christlichung und der Ent-Kirchlichung zu tun. Sie charakterisieren die religiöse Seite der Postmoderne. Dazu gehören vor allem auch die Prozesse der Säkularisierung. Diese kann zunächst einfach als „die Auflösung der Eigenständigkeit der Religion“ verstanden werden1.
1. Die Entwicklung der Säkularisierung Die Begriffe Säkularisation, Säkularisierung oder Säkularismus werden abgeleitet von den lateinischen Wörtern saeculum (Wort, Zeitalter) und saecularis (dauernd, von längerer zeitlicher Wirkung)2. Bis in die jüngste Zeit hinein war es gängige Meinung, „dass das Wort séculariser zum erstenmal am 8. Mai 1646 in Münster vom französischen Gesandten Longueville bei den Verhandlungen über den Westfälischen Frieden zur Bezeichnung des Übergangs kirchlicher Güter in weltliche Hände verwendet worden sei. Das neugebildete Wort bezeichnete demgemäß die Enteignung von Kirchengütern zugunsten der Fürsten oder nationalen Kirchen“3. Allerdings ist diese Ableitung wohl nicht ganz richtig; denn von der saecularisatio hatte man schon in den letzten Jahrzehnten des sechzehnten Jahrhunderts unter den französischen Kirchenrechtlern gesprochen. Das Wort bedeutete damals „den transitus von regularis zu canonicus“ und damit den „Übergang eines ,regulären‘ Ordensgeistlichen in den ,weltlichen‘ Stand“4. Die Säkularisation (saecularisatio) galt also als terminus technicus des kanonischen Rechtes.
1
Vgl. Bayer, Oswald, Theologie, Gütersloh 1994, S. 455. Vgl. Zabel, Hermann und Conze, Werner, Säkularisation, Säkulierung, in: Geschichtliche Grundbegriffe, Hrsg. Otto Brunner, Werner Conze, Reinhart Koselleck, Bd. 5, Stuttgart 1984, S. 789 ff. 3 Marramao, Giacomo, Die Säkularisierung der westlichen Welt, Frankfurt/M. u. Leipzig 1996, S. 20. 4 Marramao, Giacomo, (1996), S. 21. 2
1. Die Entwicklung der Säkularisierung
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Nach katholischem Kirchenrecht (Corpus Iuris Canonici) wird dieser Begriff auch dann benutzt, wenn etwa ein Ordensgeistlicher aus dem Klosterverband zu entlassen war, nachdem er die Profess abgelegt hatte5. Seit dem ersten Auftauchen sind die Begriffe der Säkularisation und Säkularisierung geprägt von einem antithetischen Schema: „von jenem Dualismus von regularis und säkular, der, wenngleich erst virtuell, schon die moderne Metamorphose der ,Paulinischen Paare‘ himmlisch/irdisch, kontemplativ/aktiv, spirituell/weltlich enthält“6. Die Deutung der Begriff der Säkularisierung und Säkularisation sind im Sinn des kanonischen Rechts danach aus dem Gegensatz von geistlich und weltlich her zu bestimmen. Ihr Verständnis nach staatlichem Recht ist ebenfalls daraus abzuleiten. Den geschichtlichen Hintergrund für diese Lehre bildet Augustins Unterscheidung von den beiden Staaten, der civitas dei (Gottesstaat) und der civitas terrena (Weltstaat). Darin zeigt sich zugleich der Unterschied zwischen der göttlichen Ewigkeit und der menschlichen Zeit. Allein die Ewigkeit Gottes ist die reale Wirklichkeit. Die Zeit des Menschen als Grundstruktur des menschlichen Seins gilt dagegen als „Ausdehnung der Seele“ (distentio animae). Sie ist der unsterbliche Bestandteil der Ewigkeit Gottes7. Der Einzug des kirchlichen Vermögens und der Güter der Kirche durch den Staat zu nichtkirchlichen Zwecken werden kirchengeschichtlich mit den Begriffen der Säkularisierung und vor allem mit dem der Säkularisation bezeichnet. Der Begriff der Säkularisierung wird häufig sogar synonym mit dem der Säkularisation gebraucht. Eine besondere Wichtigkeit erfuhr der Begriff der Säkularisation zu Beginn des 19. Jahrhunderts in Verbindung mit den napoleonischen Kriegen8. Damals ging es darum, die Reichsstände für den Verlust linksrheinischer Gebiete zu entschädigen. Durch den Reichsdeputationshauptschluss wurde der Vorgang besiegelt, der die zwangsweise Übertragung bestimmter kirchlicher Besitzungen auf die weltliche Macht bezeichnete. Der Reichsdeputationshauptschluss hat am 25.3.1803 die in geistlichen Händen befindlichen (rechtsrheinischen) Güter in weltliche (staatliche) Hände überführt. „In diesem Sinn bedeutet sie (scil. die Säkularisierung!) einen Prozess des allmählichen Verdrängens der kirchlichen Autorität aus dem Bereich der weltlichen Herrschaft, auf den der moderne – 1648 im Westfälischen Frieden geborene – Staat einen Monopolanspruch erhob“9. Die SäkuMarramao, Giacomo, (1996), S. 21. Vgl. Reicke, S. in: RGG, 31961, Bd. V. Sp. 1287. 6 Marramao, Giacomo, (1996), S. 21. 7 Vgl. Marramao, Giacomo, (1996), S. 28. Vgl. auch: Schallenberg, Peter, Säkularisation und Säkularisierung, 1803–2003, in: Wolfgang Ockenfels (Hrsg.), Die Neue Ordnung, H. 4/2003, S. 295 ff. 8 Reicke, S. in: RGG, 31961, Bd. V. Sp. 1280 ff. 5
44 3. Kap.: Säkularisierung, Entreligionisierung, Entchristlichung, Entkirchlichung
larisierung erfuhr dadurch eine gesetzliche Ausdeutung im politisch-juristischen Sinn. In der Vergangenheit entstand aufgrund der Säkularisierung ein religiöskonfessioneller Konflikt. In der Gegenwart entfaltet sich stattdessen eine neue nicht mehr konfessionelle, sondern rein politische Ordnung10. Die Triebfeder der Säkularisation ist in allen Religionen als Aufklärung zu bezeichnen. „Die Aufklärung ist akute Säkularisation, insofern sie den eigenständigen Bereich von Denken der Religion gegenüberstellt und ihrem Einfluss theoretisch wie praktisch entzieht. Mit dieser Eigenständigkeit von Denken ist die Erkenntnis der Eigenständigkeit von Staat, Wirtschaft, Kultur – ja Welt gegeben“11. In allen Aufklärungen sucht der Mensch durch die Erkenntnis der aus sich heraus zu begründende Lebenszusammenhänge zu sich selbst zu kommen. Seit dem 18., besonders aber im 19. Jahrhundert, ist dann die Säkularisierung – als Verweltlichung verstanden – zu einem Schlüsselbegriff geworden. Bereits Georg Friedrich Wilhelm Hegel (1770–1831) verwandte den Begriff der Säkularisierung in seinen „Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie“ im Sinne der Verweltlichung. Er benutzte sie als „Kennzeichnung des Fortgangs der Geschichte von der Reformation zur Revolution“12. Für ihn ist die „Verweltlichung“ ein geschichtsphilosophischer Begriff, der den Prozess einer Trennung von Göttlichem und Weltlichen zum Inhalt hat. „Hegels Vollendung der Geschichte, die chiliastische Verwirklichung des zur Vollendung gelangten ,Zeitgeistes‘, findet so ihre säkularisierende Übersetzung in einem irdischen Reich der Freiheit und sozialen Gerechtigkeit“13. Der protestantische Theologe Richard Rothe hat dann auf dem Boden Hegelscher Gedanken die Verweltlichung, also die Säkularisierung – losgelöst von einer kirchenrechtlichen Bedeutung –, aufgegriffen14. Für ihn hat sich das christliche Leben durch die Reformation von der Kirche emanzipiert und ist in die „weltliche oder sittliche“ Form hineingeführt worden. Er meinte sogar: „In demselben Verhältnis, in dem der Staat sich entsäkularisiert, säkularisiert sich die Kirche“15. Während die Säkularisierung ein irreversibler Prozess ist, lässt sich das aber vom Säkularismus nicht sagen. Er ist ein politisch und ideologisch gestaltetes Deutungsprinzip. In ihm erkennen sich die Menschen und ihre Welt, ohne dass 9 Marramao, Giacomo, Die Säkularisierung der westlichen Welt, Frankfurt/M. und Leipzig 1996, S. 22 f. 10 Vgl. Schallenberg, Peter, (2003), S. 207. 11 Ratschow, Carl-Heinz, Säkularismus, in: Die Religion in Geschichte und Gegenwart (RGG) 1961 Bd. V, S. 1291. 12 Conze, Werner, (1984), Sp. 791. 13 Marramao, Giacomo, (1996), S. 38. 14 Vgl. Zabel, Hermann, (1984), Sp. 813. 15 Zabel, Hermann, (1984), Sp. 813.
1. Die Entwicklung der Säkularisierung
45
Religionen, Kirche oder Theologie eine Richtung vorgeben. Die Sicht der Religion wird darin also von der kulturellen, wirtschaftlichen, staatlichen oder wissenschaftlichen Sicht getrennt. Der Säkularismus bezeichnet auch den Endzustand der Trennung, während der Vorgang selbst Säkularisierung oder auch Säkularisation genannt wird. Die beiden letzten Begriffe verhalten sich zum Säkularismus wie der Akt zum Sein. Geht es um die Verweltlichung von theologischen oder kirchlichen Gedanken, gebraucht man allerdings gern den Ausdruck des Säkularismus und nicht den der Säkularisierung. Das Wort Säkularisierung wird deshalb dort angewandt, „wo Menschen sich und ihre Welt aus sich selbst heraus verstehen und dabei sich nicht mehr von der religiösen Überlieferung bestimmen lassen“16. Dort hat sich die Gesellschaft säkularisiert. Die Menschen lösen sich aus ihrer religiösen Bindung. Man kann dann von einer Autonomie des Menschen oder von seiner Mündigkeit sprechen. Das entspricht dem Begriff der Verweltlichung, der im ganzen 19. Jahrhundert vielfach – wie gesagt – für den Begriff der Säkularisierung stand. Max Weber (1864–1920) und Ernst Troeltsch (1865–1923) leiteten die Entwicklung zur profanen Kultur weitgehend aus der Geschichte der Säkularisierung des christlichen Glaubens her17. Die neue Kraft entstand nicht gegen die Religion, sondern kam vielmehr aus ihr. Anders freilich hatte Friedrich Gogarten (1887–1967) gedacht und geschrieben. Für ihn stellte der Säkularismus eine „Entartung der Säkularisierung“ dar18. Das Verhältnis von Glaube und Säkularisierung war für ihn bestimmend. Darum wollte er die Säkularisierung von dem Säkularismus unterschieden wissen. Gogarten hatte nach 1945 große Anstrengungen darauf verwandt, für die Kirchen und die Theologie den Prozess des Verlustes an Einfluss neu zu deuten. Die Säkularisierung sollte „nicht mehr als Feind, sondern als Folge des christlichen Glaubens“ begriffen werden19. Säkularisierung stellte für ihn die „notwendige und legitime Konsequenz des christlichen Glaubens“ dar20. Sie ist bereits im Evangelium selbst begründet. Der Sohn Gottes kommt in diese Welt und damit in sein Erbe, und mit ihm sind auch wir Menschen zu Erben Christi geworden (Röm. 8,17). Indem dieser sein Erbe antritt, handelt er im Auftrage Gottes. Er wird zum mündigen Sachverwalter Gottes.
Bayer, Oswald, Säkularisierung, in: Ev. Soziallexikon, Berlin 71980, Sp. 1101. Vgl. Meyer, Heinz, Religionskritik, Religionssoziologie und Säkularisation, Frankfurt/M. u. a. 1988, S. 189 ff., 202 ff. 18 Zitat von Gogarten nach Marramao, Giacomo, (1996), S. 87. 19 Schwöbel, Christoph, (2003), S. 281. 20 Zitat aus: Marramao, Giacomo, (1996), S. 87. 16 17
46 3. Kap.: Säkularisierung, Entreligionisierung, Entchristlichung, Entkirchlichung
Die Säkularisierung hat danach ihre Grundlage im Glauben. Sie ist allein von ihm abhängig21. Als ihr Kennzeichen gilt ein Verständnis, das zum einen die Abkehr von der religiösen Bevormundung besagt und zum anderen gleichsam eine Anerkennung von neuen religiösen Autoritäten bringt. Von dieser Abkehr wie von der Anerkenntnis erwartet man eine Unterwerfung, wie man sie ehedem vom religiösen Herrschaftsanspruch kannte, der man sich gläubig hingab. Der christliche Glaube denkt danach gegenüber der Säkularisierung positiv; denn er hält sich gegenüber dem Eingriff der Vernunft zurück. Gegenüber dem Säkularismus denkt der Glaube dagegen ausgesprochen negativ. Denn der Säkularismus ist jene Einstellung, die „das, was der Glaube ist, für sich in Anspruch nimmt“22. Gogarten wendet sich also gegen den Säkularismus und steht für eine rechte Weltlichkeit23. Er erhebt die Welt in die Würde des Absoluten. Er führt damit seinerseits die Auseinandersetzung der Moderne über Säkularisierung und Säkularismus zu einem gezielten Abschluss24.
2. Religiöser Pluralismus Definitionsversuche von Religion gehen in die Hunderte. Es kann nicht darum gehen, einen neuen Religionsbegriff zu erstellen. Da ein eigenständige Definition nicht neue Erkenntnisse bringt, soll zu den vorhandenen Bestimmungen kein eigener Versuch hinzugefügt werden25. Weder die Griechen der Antike noch viele andere Kulturen besaßen im Altertum ein Wort für ,Religion‘26. Die Römer immerhin benutzten außer Wörtern wie pietas, fides, sanctitas, cultus das Wort ,religio‘. Sie konnten unter dieser Bezeichnung dann alle anderen entsprechenden Begriffe zusammenfassen und ganz allgemein von religio reden. „Das Wort stand ursprünglich summarisch für den herkömmlichen Respekt, den man den eigenen Göttern, weil sie über den Geschicken walteten, durch öffentliche und private Kulte erwies“27. Der lateinische Begriff der ,religio‘ drückte also, nachdem er zunächst eine Zusammenfassung von Kultusbegriffen wiedergab, eine Verehrung der Götter aus. Später, als es um die Vorherrschaft der Religionen im Imperium Romanum ging, gewann dieser Begriff an Bedeutung.
21 22 23 24 25 26 27
Vgl. Bartl, Klaus, Theologie und Säkularität, Frankfurt u. a. 1990, S. 70 f. Zitat aus: Marramao, Giacomo, (1996), S. 87. s. oben S. 45. Vgl. Zabel, Hermann, (1984), Sp. 825. Vgl. Pollack, Detlef, (2003), S. 28 ff. Vgl. Tenbruck, Friedrich H., (1993), S. 37. Tenbruck, Friedrich H., (1993), S. 38.
2. Religiöser Pluralismus
47
In der Analyse der Bedeutung von Religion kann zwar zwischen einer Wortund einer Begriffsgeschichte unterschieden werden28. Das lateinische Wort der ,religio‘ gehört mehr in die Wortgeschichte, weil es „anfangs nur ein Wort für das eigene Herkommen war“29. Der Begriff Religion liegt dann vor, wenn es sich um Allgemeines und um zwei oder mehrere Religionen handelt. Mit ihm haben wir dann im Wesentlichen zu tun. Wenn die eigene Religion zu einer allgemeinen Reflexion heranreift, lässt sich nämlich von dem Begriff ,Religion‘ sprechen. Erst langsam hat sich dann das lateinische Wort ,religio‘, das speziell einzelne Handlungen oder Denkstrukturen – z. B. den Vollzug des Kultus im antiken Rom – meinte, mit dem Begriff ,religio‘, vermischt. Dabei steht dann der Begriff z. B. für die Gottes- oder Götterverehrung. Im antiken Rom wurden zunehmend immer mehr fremde Völker und auch deren Götterverehrung aufgenommen30. So kam es schrittweise zu einer Verehrung irgendwelcher (fremder) Götter und damit zu einem Bedeutungswandel des Begriffs ,religio‘, der eben zunächst nur der Verehrung der eigenen Götter, dann aber immer mehr auch der fremder Götter diente. In der Sprache der Kirche zog der Begriff auch in die verschiedenen Bereiche der Politik und Gesellschaft und in die Volkssprache ein31. Der Katholizismus übernahm diesen späten römischen Begriff und erhob den Anspruch, die religio vera zu sein, nachdem das Christentum sich siegreich durchgesetzt hatte. Diese Religion wurde dann vom Christentum verwirklicht. Der Begriff ,Religion‘ zeigt sich als der „ausschließliche Besitz der europäischen Zivilisation“32. Er erweist sich als ein Produkt der europäischen Kultur 28 Tenbruck, Friedrich H., Die Religion im Maelstrom der Reflexion, in: Religion und Kultur, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie (Hrsg. Jörg Bermann, Alois Hahn, Thomas Luckmann), Sonderheft 33/1993, S. 41. 29 Tenbruck, Friedrich H., (1993), S. 40. 30 Das Entstehen von Universalreligionen muss deutlich von dem der Stammesoder Volksreligionen unterschieden werden. Solche Universalreligionen traten in Europa und Asien auf. Nach Friedrich Tenbruck ist ihre Entstehung an zwei Voraussetzungen gebunden: 1. Aus den National- oder Stammesreligionen konnten Universalreligionen nur dort entstehen, wo es bei einer Vielzahl von Völkern oder Stämmen zu einer Verkehrsgemeinschaft kommen konnte. 2. Es konnten sich solche Universalreligionen erst dort bilden, wo die Kenntnisse über Himmel und Erde dazu ausreichten. Vgl. Tenbruck, Friedrich, (1993), S.43 Anm. 11. 31 Zum Verständnis des Begriffs in der Moderne ist die Differenz zwischen dem antiken und mittelalterlich verstandenen Begriff der religio bei Ernst Feil und der modernen Deutung bei Falk Wagner heranzuziehen. Wagner ist der Meinung, dass die Substanz des modernen Religionsbegriffs durch das Allgemeine, das den Religionen zugrunde liegt, bestimmt wird. Feil dagegen kommt zu den Schluss, dass der Religionsbegriff im Christentum noch nicht seine moderne Bedeutung besaß und gegenüber der fides oder pietas keine wichtige Rolle spielte. Das lateinische Wort religio diente im Römischen Reich der „apologetischen Selbstdarstellung“. Vgl. Tenbruck, Friedrich H., (1993), S. 39. Anm 7.
48 3. Kap.: Säkularisierung, Entreligionisierung, Entchristlichung, Entkirchlichung
und speziell der europäischen Religionsgeschichte33. Aber selbstverständlich hatten alle Völker ihre Vorstellungen von Göttern und überirdischen Mächten und auch sie haben über deren Verhältnis zu den Menschen nachgedacht. Das Wort ,religio‘ war den urchristlichen Gemeinden fremd. Es wurde erst wichtig, als das Christentum um seine Anerkennung im Streit mit den Religionen und Philosophien zu kämpfen hatte. In dieser Bedeutung verbreitete sich das Wort Religion mit der Christianisierung über ganz Europa. In Verbindung mit seiner Akzeptanz und Ausbreitung über ganz Europa wechselte das Wort religio seine Bedeutung, bis sich das Christentum als religio vera von der Vernunft bestätigt fand34. Damit übernahm es das Wort Religion in einer pluralen Bedeutung und grenzte sich gleichzeitig von den andern ab. Das Christentum hob sich so – mindestens in Europa – aus den anderen Religionen heraus. Zwar ereignete sich im Laufe der Geschichte von der Aufklärung zur Neuzeit eine Entwicklung von der religio vera über die vernünftige Religion zur Universalreligion. Aber das Christentum erkannte trotz des eigenen universalen Anspruchs mit dem Wort ,religio‘ auch die anderen Religionen als Religionen (religiones) an. Europa wurde – geprägt durch das Christentum – zum einzigen Kontinent, der mit einer gemeinsamen Religion aufwuchs. In der Gegenwart findet man das Wort Religion in allen europäischen Sprachen. Allerdings sucht man es vergebens in den nichteuropäischen Staaten. Deshalb kann man zwar in Asien über den Buddhismus, Hinduismus, Konfuzianismus oder andere Lehren sprechen. Aber diese Bezeichnungen dienen nur als Eigenname, stellen jedoch keine generelle Definition der Religion dar. Die Vielfalt religiöser Meinungen ist theologisch schon im Neuen Testament gegeben. Schon die unterschiedlichen theologischen Aussagen des Apostels Paulus gegenüber der Theologie des Jakobus oder Johannes weisen auf solche Unterschiede hin. Ferner gibt es in Korinth – nach dem 1. Korintherbrief des Apostel Paulus – Parteien (1. K. 1,13). Die paulinische Frage: „Wie? Ist Christus etwa zerteilt?“ zielt ausdrücklich darauf ab. Auch gab es bereits unterschiedliche Meinungen über den rechten Weg bzw. die rechte Theologie. Der Apostel führt aus, dass er seine Verkündigung den politischen bzw. religiösen Gegebenheiten angepasst hat (1. K. 9,19 ff.). Ebenso gibt es den Pluralismus auch heute in der Kirche, ja selbst in den Konfessionen mit ihren unterschiedlichen Frömmigkeitsstilen, mannigfachen politischen Auffassungen oder Differenzierungen im Glaubensleben. 32
Tenbruck, Friedrich H., (1993), S. 37. Vgl. Tenbruck, Friedrich H., (1993), S. 36 ff. 34 Zur geschichtlichen Entwicklung des Begriffs vgl. Tenbruck, Friedrich, (1993), S. 47 ff. 33
2. Religiöser Pluralismus
49
Im Christentum setzt sich ein religiöser Pluralismus durch, der allerdings nicht zu einer ,Verchristlichung‘ der Gesellschaft in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts, sondern ,nur‘ zu einer Wiederbelebung des Religiösen führte. Aber das Evangelium muss vor einer Mannigfaltigkeit geschützt werden. Denn der theologische oder religiöse Pluralismus darf nicht in eine unverbindliche Vielfältigkeit führen. Er muss vielmehr in der religiösen Lebensführung im Einklang mit der Wahrheit des Glaubens und damit also mit der Grundaussage stehen, dass Jesus Christus der Sohn Gottes, Herr und Erlöser dieser Welt ist. Dabei stehen Pluralismus und die Aussage der Einheit nicht in Konkurrenz zu einander, sondern ergänzen sich. Zur Pluralität auf religiösem Gebiet gehört eine mannigfache säkulare Vielfalt. Die postmoderne Gesellschaft ist allgemein gekennzeichnet durch diese Vielfältigkeit. Sie wird charakterisiert durch eine Fülle von Interessen, Einzelund Gruppeninteressen, Werten und Meinungen. Bedingt durch die Akzeptanz von Meinungs-, Glaubens und Gewissensfreiheit ist es zu einer vielfältigen gesellschaftlichen Struktur gekommen. Gesellschaftlicher Pluralismus in der Demokratie wird hervorgerufen durch die Parteienlandschaft, die Herrschaft der Verbände, der Gewerkschaften und Arbeitgeberorganisationen. Die religiöse Pluralität steht mit allen anderen Verbänden in Konkurrenz. In der modernen und postmodernen Zeit ist aufgrund der wirtschaftlichen Interaktionen und der Ausdehnung der Informations- und Kommunikationssysteme die Beziehung der Religionen untereinander in eine neue Phase getreten. Man begegnet sich auf kulturellem und religiösem Gebiet intensiver als je zuvor. Die Welt der Religionen zu vernachlässigen oder sie allein der Missionstheologie zu überlassen, gehört wohl endgültig der Vergangenheit an. Aus der Einzigartigkeit des Glaubens an die Schöpfertätigkeit und der Erlösungsbotschaft des Evangeliums für den Menschen gewannen die Christen das sichere Vertrauen für ihr Heil. Die Auferstehung und die Wiederkunft ihres Herrn bildeten die Grundlage für den Glauben an die Überlegenheit des Christentums als Universalreligion. Daraus leitete es seinen Absolutheitsanspruch ab, der sich im Laufe der lateinischen Kirche durchsetzte und dann den Gedanken der Ausschließlichkeit begründete. Während in der Zeit der Reformation mit ihren konfessionellen Spaltungen die Frage gestellt wurde, was die wahre christliche Religion sei, diente in der Moderne das Wort Religion den Völkern und den Konfessionen dazu, sich gegenüber den anderen Religionen und Kulturen zu verständigen. Leszek Kolakowski bezeichnet Religion als „das Bewusstsein menschlicher Unzulänglichkeit, sie wird in dem Eingeständnis der Schwäche gelebt“. Er wendet sich damit gegen eine Definition, die Religion als eine „Ansammlung von Feststellungen über Gott, die Vorsehung, Himmel und Hölle“ bezeichnet35. 35
Zitat aus: Bauman, Zygmunt, Unbehagen in der Postmoderne, Hamburg 1999, S. 297.
50 3. Kap.: Säkularisierung, Entreligionisierung, Entchristlichung, Entkirchlichung
In der Gegenwart wird die Religion stattdessen immer mehr zu einer Sache des Einzelnen. Das lässt sich an der abnehmenden Zahl von Kirchenmitgliedern ablesen und umgekehrt an der Zunahme der Aktivitäten religiöser Betätigung außerhalb der institutionalisierten Kirche. Einerseits hat in der Religion ein Privatisierungsprozess eingesetzt, und andererseits bleibt die Kirche sich selber nur treu, wenn sie ihren gesellschaftspolitischen Auftrag wahrnimmt und sich auch weiterhin gefordert sieht, zu sozialen Fragen Stellung zu beziehen. In den Gesellschaftsdiagnosen unserer Zeit geht man unterschiedlich mit dem Phänomen der Religion um. Man gewinnt ihr (a) entweder keinerlei Bedeutung ab oder berücksichtigt sie (b) nur noch indirekt, ohne ihr eine zentrale Stellung zuzuerkennen. Selbstverständlich ist auch noch die dritte Möglichkeit (c) gegeben, ihr einen tragenden Bestandteil in der Gegenwart zuzubilligen36. Im ersten Fall (a) wird eine markante Abnahme der Bedeutung von Religion in der Gesellschaft konstatiert. Im zweiten Fall (b) wird das Religiöse entsakralisiert zu Gunsten einer „Sakralisierung des Ich“37. Individuelle Sinnfrage und existentielle Fragen zur Lebensbewältigung und Handlungsorientierung werden nicht nur religiös beantwortet, sondern z. B. auch aufgrund politischen Handelns. Es werden in der Postmoderne immer noch die durch die Religion eröffneten Möglichkeiten zur Gestaltung der Gesellschaft hinreichend wahrgenommen. Aber sie liefern nicht mehr wie in früheren Jahrhunderten das Fundament für die gesellschaftliche Einheit. Stattdessen wird die religiöse Kommunikation in ein gesellschaftliches Abseits gedrängt. Indessen kann die Religion durchaus weiterhin das Verbindende zwischen den einzelnen Gesellschaftsmitgliedern herstellen und „somit dauerhafte Stabilität im gesellschaftlichen Verkehrt erzeugen“38. Diese bürgerlichen (Dahrendorf) oder zivilgesellschaftlichen (Etzioni) Elemente müssen gestärkt werden. Sie sind „unverzichtbare Bestandteile gesellschaftlichen Lebens“39. Durch sie könnte das Scheitern gesellschaftlicher Integrationsbemühungen verhindert werden. In der dritten Zeitdiagnose (c) hat das religiöse Phänomen eine direkte Bedeutung. Es findet eine religiöse Sinnstiftung und eine religiös-soziale Einbindung des einzelnen in die Gemeinschaft statt. Damit geben Endlichkeit und Sterblichkeit des Menschen die Grundlage für die individuelle Sinnfrage ab. Die gesellschaftliche, politische oder kulturelle Existenz ist davon betroffen. Während in den früheren Gesellschaften und auch im Leben des einzelnen Mitgliedes das ganze Leben unter einer religiösen Deutung stand, sind in der 36 37 38 39
Vgl. dazu Junge, Matthias, Religiöser Wandel und Wertewandel, (2002), S. 185 ff. Junge, Matthias, (2002), S. 184, 188. Junge, Matthias, (2002), S. 191. Junge, Matthias, (2002), S. 191.
2. Religiöser Pluralismus
51
Gegenwart Religion und Kirche nur noch begrenzt relevant und für viele – die Zahl steigt rapide an – ganz entbehrlich. Während auf Religion und Kirche für die Mehrheit der Gesellschaft verzichtet werden kann, werden sie weiterhin für viele Menschen durchaus noch als sinnvoll, hilfreich und notwendig empfunden. Das ewige Heil wird in den westlichen Ländern Europas durch das Wort verkündet, vor allem in der Kirche und durch sie. Die Bibel fordert zu einem verbalen Bekenntnis auf. Schon im Alten Testament heißt es: „Diese Worte, die ich dir heute gebiete, sollst du dir zu Herzen nehmen und sollst sie deinen Kindern einschärfen und davon reden, wenn du in diesem Hause sitzt oder unterwegs bist, wenn du dich niederlegst oder aufstehst“ (5. Mos. 6,6 ff.). In der Apostelgeschichte wird von Petrus und Johannes vor dem Hohen Rat erklärt: „Wir können’s ja nicht lassen, von dem zu reden, was wir gesehen und gehört haben“ (Acta 4,20). Schließlich hat Jesus selbst das Heil, das ihnen von Gott geschenkt wird, in seinen Predigten verkündet. Der Apostel Paulus rät im Römerbrief den Gläubigen, sich nicht der Welt anzupassen. Er umschreibt das mit den Worten: „Stellt euch nicht dieser Welt gleich (mè syschematídsesthe to aioni toúto: Röm. 12,2). Das kann nach Paulus nur bedeuten, gegen alle Widrigkeit an der Verkündigung der Auferstehung Christi und an deren Bedeutung für den einzelnen festzuhalten. In dem 1. Korintherbrief heißt es, dass die Menschen durch die Annahme des Evangeliums, das Paulus den Korinthern verkündigt hat, gerettet werden. „Denn als erstes habe ich euch weiter gegeben, was auch ich empfangen habe: Dass Christus gestorben ist für unsere Sünden nach der Schrift . . . Gibt es keine Auferstehung der Toten, so ist auch Christus nicht auferstanden. Ist aber Christus nicht auferstanden, ist unsere Predigt vergeblich, so ist auch euer Glaube vergeblich“ (1. Kor. 15,3.4.13 f.). Mit der Verkündigung der Auferstehung Jesu und der Hoffnung des Menschen auf die eigene Auferstehung steht und fällt der christliche Glaube und die Verkündigung der Kirche. Das humanistisch-christliche Europa lebt nicht mehr als eine Gesellschaft, die geprägt wird von der überkommenen Kultur, sondern eher aus einer Infragestellung des christlichen Glauben. Es geht weniger um die Gemeinschaft (communio) als um das Ausleben und Ausgestalten eines Individualismus. Dieser herrscht in Form eines ausgeprägten radikalen Subjektivismus und setzt gleichzeitig auf neue religiöse Erfahrungen, die durch eine Säkularisierung ohne Kirche geprägt sind. Denn Kirche ist in der Vorstellung vieler nicht kirchlich geprägter katholischer und protestantischer Christen zu einer sozialen oder gesellschaftlichen Institution geworden. Von der Mehrheit der Gesellschaft wird eine religiöse Betätigung gesucht, die eine Rückbesinnung auf heidnische Bräuche und fremde Religiosität fordert. Gesucht wird in der Lebenseinstellung eine möglichst weitgehende religiöse Indifferenz. Denn es geht um eine Säkularisierung der Kirche, allerdings in Verbindung mit einem religiösen Pluralismus. Ge-
52 3. Kap.: Säkularisierung, Entreligionisierung, Entchristlichung, Entkirchlichung
wünscht werden neue religiöse Erfahrungen und Emotionen. Am Ende des zwanzigsten und zu Beginn des einundzwanzigsten Jahrhunderts scheint der Begriff des Pluralismus den der „,Säkularisierung‘ als Leitbegriff theologischer Gegenwartsdeutung“ abzulösen40. Es lässt sich also sagen: Die Menschen des neubeginnenden Jahrhunderts werden ausdrücklich bei gleichzeitiger Säkularisierung mit dem Phänomen des Religiösen – und zwar mit seiner Vielfalt – konfrontiert. Aber „die Renaissance des Religiösen vollzieht sich als religiöser Pluralismus“ 41.
3. Das Verhältnis der Säkularisierung zu unterschiedlichen religiösen Begriffen Eine Typologie des Säkularisierungsbegriffs wurde bereits 1967 erstellt. Sie hat in ihrer Umfänglichkeit viel für sich. Nach ihr unterschied man: Die Säkularisierung als 1. Untergang der Religion, 2. Konformität mit der Welt, 3. Desakralisierung der Welt, 4. Gleichgültigkeit der Gesellschaft, 5. Übertragung von religiösen Glaubensformen und Verhaltensmustern aus diesem religiösen Bereich in den säkularen42. Diese Typen von Säkularisierung werden von vielen Autoren in unterschiedlicher Ausprägung gebraucht. Mit ihnen versuchte man, die wesentlichen Bedeutungen von Säkularisierung zu berücksichtigen. Sie alle werden mehr oder weniger in der Aufnahme dieses Begriffes gewürdigt und sind – zeitgeschichtlich gebraucht – in den Geist der Neuzeit eingegangen. Mit dem Begriff der Säkularisierung ist danach immer die Vorstellung der Befreiung verbunden. Darum ist es hilfreich, den Begriff der Freiheit mit seinen Deutungen bei der Klärung der Säkularisierung zu berücksichtigen. Säkularisierung meint die Freiheit des Staates von der kirchlichen Bevormundung, die Freiheit der Kirche von der staatlichen Bevormundung und die Freiheit des Bürgers gegenüber einem religiösen Bekenntnis. Schließlich ist unter Säkularisierung auch der Glaubens- und Transzendenzverlust zu verstehen.
40
Schwöbel, Christoph, (2003), S. 28. Schwöbel, Christoph, (2003), S. 6. 42 Vgl. Marramao, Giacomo, (1996), S. 118 f. Vgl. Marramao, Giacomo, Macht und Säkularisierung, Frankfurt 1989, S. 46 Anm. 8. Die Typologie stammt von Larry Shiner, The Meaning of Secularization, in: International Yearbook for Sociology of Religion III, 1967 S. 51 ff. Er verweist für 1. auf die Analyse in Lynd, Middletown, für 2. auf die These von Adolf Harnack „über die Beziehung zwischen ,Verweltlichung‘ und Erweiterung der hierarchischen Kirchenstruktur“, für 3. auf Max Weber und dessen Begriff der ,Entzauberung‘, für 4. auf die These von Roger Mehl über die Privatisierung der Religion, für 5. auf die Erörterung, die im Anschluss an E. Troeltsch und Max Weber über die „unsichtbare Religion“ stattgefunden hat. 41
3. Verhältnis der Säkularisierung zu unterschiedlichen religiösen Begriffen
53
Die Säkularisierung hat eine dreifache Auswirkung. Sie bedeutet eine Ethisierung, eine Theoretisierung und schließlich noch eine Existentialisierung. Jede dieser Formen kann man in einer Philosophie widergespiegelt sehen. In diesem Sinn haben Kant, Hegel und Schleiermacher Umformungen der Säkularisierung vorgenommen und so das jeweils Ethische, Theoretische oder Existentielle verabsolutiert43. Die Gefahr einer Ethisierung der Theologie ist am stärksten in der Philosophie Kants, die einer Theoretisierung in der Theologie Hegels und die einer Existentialisierung in der Theologie Schleiermachers angesprochen worden44. Gerade die letzte bedeutet die Umformung der Säkularisierung in das Existentielle. In ihr geschieht die Wandlung der Theo-Logie in die Anthropo-Logie und damit direkt im Herrschaftsgebiet der Theologie, im Bereich des Glaubens als Gefühl schlechthiniger Abhängigkeit45. Das bedeutet eine Umformung der Lehre vom Wort Gottes in die Lehre vom Glauben des Menschen. Die Anhänger der so genannten Säkularisierungsthese (Friedrich Fürstenberg) gehen von der für die Vergangenheit vorausgesetzten Einheit von Religion bzw. Kirche und Gesellschaft aus. Sie konstatieren, dass mit dem Prozess der Modernisierung und der Industrialisierung die Bedeutung der Religion weiter zurückgeht. In der Gegenwart stellt sich das Verhältnis von Kirche (Religion) und Gesellschaft so dar, dass die moderne Gesellschaft ihrer Herkunft nach durch die christliche Religion bestimmt war, die gegenwärtige Gesellschaft aber durch eine rückläufige Beziehung gegenüber der Kirche bzw. der Religion geprägt ist46. Heute hält nur noch eine kleine Zahl von Wissenschaftlern an der Säkularisierungsthese fest. Zu Beginn der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts hatten dagegen ihre Vertreter eine Einheit von Religion und Gesellschaft diagnostizieren können. In der Gegenwart herrscht eher die Meinung vor, dass die Menschen sich einem sehr weit gefassten Religionsbegriff zugewandt haben. Indessen konnte schon in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts festgestellt werden, dass die Säkularisierungsthese für die Religionssoziologie nicht mehr interessant sei. Sie wird ohnedies nur als eine Momentaufnahme der gegenwärtigen Gesellschaft gesehen. Die Dechristiansierung ist kein deutscher Begriff, sondern vielmehr wie die Säkularisation der französischen Sprache entnommen und eine Übersetzung des Wortes décristianisation47. Aber im Französischen wurde seit 1792 nur das Ver-
43
Vgl. Bayer, Oswald, (1994), S. 456. Vgl. Bayer, Oswald, (1994), S. 458 ff. 45 Bayer, Oswald, (1994), S. 463. 46 Vgl. Matthes, Joachim, Religion und Gesellschaft Bd. I, Reinbek bei Hamburg 1967, S. 74. 44
54 3. Kap.: Säkularisierung, Entreligionisierung, Entchristlichung, Entkirchlichung
bum déchristianiser, dagegen das Substantiv déchristianisation erst im 19. Jahrhundert gebraucht. In die deutsche Sprache fand déchristianisation Eingang in Verbindung mit „heftigen literarischen Debatten über die Französische Revolution“48. Als Verhältnis von Säkularisierung und Dechristianisierung gilt: „Versteht man unter Säkularisierung ein Nachlassen der Orientierung von Einzelnen, von Gruppen und der ganzen Gesellschaft an übernatürlichen Instanzen und Kräften, wobei das Christentum nur eine Variante dieser Grundeinstellung darstellen würde, fasst der Begriff Dechristianisierung sehr viel präziser das Nachlassen eines spezifisch christlichen Einflusses, sei es in der Politik und bei der Begründung der politischen Ordnung, bei der Aufrechterhaltung von öffentlicher Moral, im Erziehungswesen oder beim Umgang mit Krankheit und Tod, um nur einige von vielen Formen christlicher Prägung des Lebens zu nennen“49. Darum sollte die Vorstellung der Säkularisierung durch den Begriff einer Dechristianisierung ergänzt werden, auch wenn jene vor allem durch den Zusammenhang mit den religionspolitischen Kämpfen während der Französischen Revolution geprägt worden ist. Über eine Entchristlichung und den Verfall der christlichen Religion wird nicht erst seit kurzem gesprochen. Solche Klagen über den Niedergang des Christentums sind schon seit zweihundert Jahren zu hören. Kein Geringerer als der Jurist und konservative Staatsmann Friedrich Julius Stahl (1802–1861) hat im 19. Jahrhundert, wie Friedrich Wilhelm Graf betonte, bei der „politischen Popularisierung“ der Dechristiansierung eine besondere Rolle gespielt50. Stahl machte die Entchristlichung zu einem Kampfbegriff, der sich gegen eine Modernisierung der politischen Institutionen ebenso wie gegen die Individualrechte der Bürger richtete. Außer der Abkehr von der Kirche kam es in der Moderne, speziell im letzten Jahrhundert, zu einem Bruch mit der christlichen Überzeugung und den christlichen Lebensformen. Der entwickelten Unkirchlichkeit und modernen Entchristlichung liegen mehrere Ursachen zugrunde. Zu ihr gehören: Der Begriff der Säkularisierung wird als Begründung und Erklärung auch für alle möglichen Prozesse der Entreligionisierung und damit als Kennzeichnung 47 Graf, Friedrich Wilhelm, „Dechristianisierung“, in: Säkularisation, Dechristianisierung, Rechristianisierung im neuzeitlichen Europa, Hrsg. Hartmut Lehmann, Göttingen 1997, S. 35. 48 Graf, Friedrich Wilhelm, (1997), S. 36. 49 Lehmann, Hartmut, von der Erforschung der Säkularisierung zur Erforschung von Prozessen der Dechristianisierung und der Rechristianisierung im neuzeitlichen Europa, in: Säkularisierung, Dechristianisierung, Rechristianisierung im neuzeitlichen Europa, Göttingen 1997, S. 13. 50 Graf, Friedrich Wilhelm, (1997), S. 45 f.
3. Verhältnis der Säkularisierung zu unterschiedlichen religiösen Begriffen
55
einer Abwendung von der Religion benutzt. „Säkularisierung heißt nicht Hinwendung zu mehr Rationalität, also zu mehr Vernunft, sondern eher eine gegen die Formen und Fragen des Transzendenten gerichtete Skepsis, die häufig zu einer entsprechenden Lebenspraxis führt“51. Eine allgemeine Verweltlichung und Entreligionisierung bzw. Verdiesseitigung der Religion, speziell des Christentums und eine mündig gewordene Welt. Auch eine falsche Anpassung der Theologen an den Zeitgeist ist eine ihrer bedeutsamen Ursachen52. Dagegen wird für die Anhänger eines breiten Religionsbegriffs jede Form religiöser Betätigung als Religion eingestuft. Es geht nicht etwa um eine Rückkehr zum überlieferten christlichen Glauben. Denn der neue Religionsbegriff will vielmehr Astrologie, Esoterik, Okkultismus, Psychokulturen und Spiritismus berücksichtigen. Diese Differenzierung hat in ihrem Kern mit der Unterscheidung zwischen einer institutionellen, also kirchlich verwalteten Religion, und einem religiösen Selbstbewusstsein des Individuums zu tun. Bei einer institutionell gefassten Religion jedoch wird der Begriff der Religion zu sehr eingeengt53. Die Säkularisierung erstreckt sich auf einen größeren Teil der Gesellschaft, sie zeigt sich in der Gegenwart als ein schleichender Prozess durch Abbau von Religiosität und Glauben. Die Ablösung der Religion aus dem Leben der Bevölkerung in den christlichen Staaten geht einher mit der Ablösung der Kultur von ihren religiösen Fundamenten. Diese Entwicklung ist verbunden mit einer Tendenz von Autonomie in den Institutionen wie Ehe, Familie, Schule, Staat, Politik, Recht oder Wirtschaft. Die Autonomie der Kultur ist ebenfalls weit vorangeschritten. Diese hat sich in verschiedenen Staaten bereits durchgesetzt. Die Bereiche entfalten sich ohne religiöse Rechtfertigung bzw. Grundlegung. Die frühere Säkularisationsdebatte, die sich als Verlust an Christlichkeit und als Abfall von der Kirche gezeigt hat, darf nicht als ein kontinuierlicher Prozess verstanden werden. Denn die Säkularisierung ist nicht abgeschlossen, obwohl sie im Kern als Emanzipation von der christlichen Dogmatik zu sehen ist. Zwar ist diese Entwicklung stark vorangeschritten, aber sie hat keine große Zukunftsperspektive54. Vielmehr ist die Säkularisation in der gegenwärtigen Gesellschaft
51 Lehmann, Hartmut, Säkularisierung, Dechristianisierung, Rechristianisierung im neuzeitlichen Europa, Göttingen 1997, S. 317. 52 Es bleibt selbstverständlich nicht ohne Folgen, wenn selbst Glieder der Kirchenleitung mit Behauptungen an die Öffentlichkeiten treten, wie z. B. die Bischöfin von Hannover, die nach ihrer Einführung gesagt hat: dass Gegner der Frauenordination keinen Platz mehr in der evangelischen Kirchen hätten. Außerdem formulierte sie: „Eine Frau, die abgetrieben hat, soll erhobenen Hauptes in die Kirche kommen können“. Von Pluralität ist da nicht mehr die Rede und von einer Leben bewahrenden Haltung der Kirchen ebenfalls nicht. Zitiert aus: Erwin K. Scheuch, in: Die neue Ordnung, 4/2003, S. 287 f. 53 Vgl. Pollack, Detlef, (2003), S. 7.
56 3. Kap.: Säkularisierung, Entreligionisierung, Entchristlichung, Entkirchlichung
soweit gediehen, dass sie sich im Vergleich zur früheren Zeit durchaus mit einer kirchlichen Mitgliedschaft und einem orthodoxen Glauben verbinden lässt. Immerhin existiert auch heute noch ein gewisses Verhältnis und eine Wechselbeziehung zwischen Säkularisierung und Sakralisierung. Man kann sogar, wie bereits erwähnt, von einer „Wellenbewegung von Säkularisierung und religiösem Aufschwung“ sprechen55. In der Vergangenheit hat die Säkularisierung durchaus zu einem Bruch mit der Kirche geführt. Trotz eines fortschreitenden Prozesses der Säkularisierung ist in der Gesellschaft ein Gottesglaube weiterhin erhalten geblieben. Er steht in einem Gegensatz zu einer allgemeinen Tendenz, die durch eine wachsende Toleranz gegenüber einer gesellschaftlichen Religiosität geprägt ist. Diese will einen Weg ohne Kirche beschreiten. Indes ist nicht zu erwarten, dass es zu einer exzessiven Wiederbelebung religiöser Entwicklung kommt. Vielmehr ist eine Entkirchlichung und Entchristlichung der Gesellschaft eingetreten. Sie ist, obwohl der Anteil der Menschen, die sich in der westlichen Gesellschaft zu einer Existenz Gottes bekennen, recht hoch geblieben. Viele Kritiker des Christentums äußern die Meinung, dass sich zwar die Kirchen leeren werden, aber die Religionsausübung weiter zunehmen wird. Freilich wird auch dieser These widersprochen56. Denn: „Es ist einfach nicht wahr, dass die Kirchen sich leeren, aber Religion boomt“57. Dann müsste man nämlich den Religionsbegriff in einer Weise auslegen, dass man letztlich fast alle menschlichen Abhängigkeiten und Transzendierungen darunter subsumiert. Schließlich fallen alle nichtchristlichen religiösen Bewegungen darunter wie die New-AgeBewegung, die Hinwendung zu nichtchristlichen Formen der Spiritualität, die Meditationen (z. B. des Buddhismus), die Astrologie oder Reinkarnationsvorstellungen (Die Wiederkehr nach dem Tode). Nur „bei einem derart breiten Religionsbegriff kann Religion gar nicht untergehen, es sei denn der Mensch verlöre seine sinnhafte Orientierung in der Welt“58. Ob jemand, der die Kirche verlässt, als a-religiös oder immer noch als religiös – nur mit einer anderen religiösen Überzeugung ausgestattet – einzustufen ist, müsste in mancher Hinsicht genauer untersucht werden. Denn viele Menschern verlassen aus Verärgerung die Kirche oder kehren ihr aus unterschiedlichen Gründen, die nicht allein mit der gesparten Kirchensteuer zu tun haben, den Rücken. Selbstverständlich wächst heute auch die Zahl derer, die angeben, sie bräuchten keine Kirche. Die Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland im beginnenden Jahrtausend ist in diesem Sinn also nicht mehr wie etwa noch zu Beginn des vergange54 Vgl. Meyer, Heinz, (1988), S. 279, mit einem Zitat aus: Trutz Rendtorff, Christentum außerhalb der Kirche, Hamburg 1969, S. 92. 55 Schieder, Wolfgang, Säkularisierung und Sakralisierung der religiösen Kultur, in: Hartmut Lehmann (Hrsg.), 1997, S. 311. 56 Vgl. Pollack, Detlef, (2003), S. 137. 57 Pollack, Detlef, (2003), S. 137. 58 Pollack, Detlef, (2003), S. 134.
3. Verhältnis der Säkularisierung zu unterschiedlichen religiösen Begriffen
57
nen Jahrhunderts christlich, sondern diesseitig geprägt. Die Gesellschaft beschäftigt sich mit Problemen, die aus der Freizeit, der Unterhaltung oder der Spaßgesellschaft herrühren. Die Veröffentlichungen der Kirchen werden zwar immer noch als hilfreich und weiterführend gesehen. Aber die Kirchen selbst werden sich als gesellschaftliche Institution verstehen müssen, die mehr und mehr sich selbst kritisch zu hinterfragen haben. Bis in die sechziger Jahre hinein waren die katholische und die protestantische Kirche voll in die Gesellschaft integriert und stellten sogar einen Stabilitätsfaktor für sie dar. Die gesellschaftlichen Tugenden wie Ordnung, Fleiß, Pünktlichkeit, die allgemein besonders in der Wirtschaft von Wichtigkeit waren, wurden auch von der Kirche vermittelt59. Beide Kirchen nahmen also politische, kulturelle und soziale Ersatzfunktionen wahr. Sie genossen ein hohes moralisches Ansehen. Denn „die Kirchengemeinde war politisch, wirtschaftlich und sozial integriert“60. In der Bundesrepublik erwies sich nach 1945 die katholische Kirche deutlich konservativer als die reformatorischen Kirchen. Der Katholizismus war stärker institutionell geprägt und nahm die ihm im neuen Staat gebotenen Mittel pragmatisch an. Er war bereit, sich der politischen Ausrichtung nach Westen anzupassen. Als mit zunehmender Bedeutung der Massenmedien und mit aufkommendem Wohlstand die politische und soziale Bedeutung der Kirche zerfiel, vollzog sich nicht nur in der Gesellschaft ein Wertewandel, sondern es begann auch Mitte der siebziger Jahre eine Kirchenaustrittswelle. Diese erfuhr trotz einer starken Präsenz der Christen während des Umbruchs in den Jahren 1989 und 1990 nach der Vereinigung beider deutscher Staaten eine mehr oder weniger dramatische Wiederholung. Die katholische Kirche war während der vierzigjährigen SED-Herrschaft weniger als die reformatorischen Kirchen auf das DDR-System fixiert „und konnte sich daher nach 1989 auch problemloser auf das neu entstehende westliche politische und wirtschaftliche System einlassen“61. Ohne große Berührungsängste traten viele Katholiken in die neu entstandenen demokratischen Institutionen und sahen in ihnen Möglichkeiten zur Gestaltung der Gesellschaft und zur Vertretung ihrer Interessen. Im Protestantismus hingegen überwog zunächst die Kritik. „Vorbehalte gegenüber dem westlichen Institutionensystem wurden immer wieder vorgebracht. Manch einer dachte sogar über Möglichkeiten eines dritten Weges zwischen Sozialismus und Kapitalismus nach“62. Die Deutsche Einheit rangierte in den reformatorischen Kirchen zeitweilig wertgleich mit den Begriffen Freiheit und Demokratie. Allerdings konnte ein Konflikt zwischen ihnen nicht ausgeschlossen werden. Denn der Wert der Frei59 60 61 62
s. u. S. 82 ff. Pollack, Detlef, Säkularisierung – ein moderner Mythos?, Tübingen 2003, S. 252. Pollack, Detlef, (2003), S. 264. Pollack, Detlef, (2003), S. 264.
58 3. Kap.: Säkularisierung, Entreligionisierung, Entchristlichung, Entkirchlichung
heit rangierte in der Skala über dem der deutschen Einheit63. Schließlich sind die Würde des Menschen und seine Freiheit unantastbar. Auf dem Weg zur deutschen Einheit wird dem Protestantismus in der Gesellschaft ein vorderer Platz eingeräumt. Die evangelische Kirche war mit ihren Amtsträgern eine Wortführerin der deutschen Einheit. Dann aber musste man erkennen, dass in den Kernländern der Reformation ihr Geist nicht mehr für Veränderungen sorgte. Im Gegenteil, der Einfluss des Protestantismus ging zunehmend zurück. Diese geschichtliche Entwicklung setzt sich in den Kirchen bis zum heutigen Tag weiter fort. Sowohl der Säkularisierungs- als auch der Entkirchlichungsprozess schreitet voran. Und statt zu einem inneren Aufbruch zu kommen, nimmt die Bürokratisierung und Institutionalisierung der Kirchen zu. In den reformatorischen Kirchen ist allerdings eine doppelte Entwicklung zu beobachten: Einerseits ist von einer Suche nach einem institutionellen Konsens zwischen Kirche und Gesellschaft zu sprechen. Die Kirche strebt nach einer säkularen Übereinstimmung mit den politischen, ökonomischen oder ethischen Ansätzen in der Gesellschaft. Andererseits will man den Menschen in seiner Verantwortung durchaus ernst nehmen. Aber der einzelne Gläubige ist in seinem Gewissen allein der Schrift und nicht einer übergeordneten Instanz oder Institution ausgeliefert. Dieser Individualismus, der sich auch in dem Kirchenbegriff, der die Kirche als Gemeinschaft der Heiligen (communio sanctorum) oder als Schar der wahrhaft Gläubigen (congregatio vere credentium) umschreibt, findet heute sein Gegengewicht in dem Streben nach einer alle Kirchen umfassenden Ökumene, die sogar als eine Weltgemeinschaft mit einem Weltethos angestrebt wird. Letztlich sind bis in die Gegenwart hinein weder Kirche noch Religion imstande, für die Gesellschaft einen umfassenden Wertekanon zu liefern. Damit werden Religion und Kirche zu Teilbereichen in der Gesellschaft. Christliches und religiöses Denken haben lange Zeit eine unterschiedliche Entwicklung durchgemacht. Aber beide sind aufeinander bezogen. Im Christentum und Judentum herrscht eine lineare Zeitvorstellung – anders als in der Antike mit ihrem zyklischen Denken. Darum gibt es in beiden Religionen Säkularisierung und im Christentum auch eine Entkirchlichung. Aber eine Säkularisation ist nicht auf die Entkirchlichung allein zu reduzieren. Entkirchlichung und Säkularisierung sind nicht deckungsgleich, obwohl im Christentum die Religiosität ständig in der Gefahr einer säkularisierten Entkirchlichung steht.
63
Vgl. Pollack, Detlef, (2003), S. 254.
3. Verhältnis der Säkularisierung zu unterschiedlichen religiösen Begriffen
59
Bekannt ist in Ost- und West-Deutschland die Tatsache, dass es zu einer ,säkularen‘ Revitalisierung der Religion bei gleichzeitiger Entkirchlichung gekommen ist. Die Kirchen leeren sich, und der Gottesdienstbesuch ist zurückgegangen. Für Ostdeutschland ist als Begründung für die Entkirchlichung sowohl in der evangelischen als auch in der katholischen Kirche sicher zunächst der Druck des SED-Staates auf die Kirchen und die kirchlich gebundene Bevölkerung zu nennen. Dieser hatte in der Zeit der fünfziger und sechziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts seinen Höhepunkt. Die Entkirchlichung zu bestimmen, kann mit Hilfe der Häufigkeit des Gottesdienstbesuches erfolgen. Aber eine bessere Indikation und damit auch eine weitergehende Feststellung einer Religionszugehörigkeit ist eher mit Hilfe einer Aussage möglich, wie es mit dem Glauben an Gott bestellt ist. Wird dieses Bekenntnis interpretiert als ein Glaube an ein höheres Wesen, ist diese Form von Religiosität kaum mehr vom Aberglauben oder Unglauben abgrenzbar. Solches konfessionslose Bekenntnis gegenüber einer unbestimmten Allmacht eines höheren Wesens hat im Osten wie im Westen zugenommen. Hinter dem Begriffswechsel von der Säkularisierung zu der Entkirchlichung oder Entchristlichung steht die Erkenntnis, dass einer Säkularisierung oftmals eine Re-Christianisierung folgte. Schließlich bedeuten Ent-Kirchlichung oder Ent-Christlichung nicht den Verlust jeglicher religiösen Orientierung. Aber der Zulauf zu den neuen religiösen Bewegungen erreicht zahlenmäßig nur einen Bruchteil des Ausmaßes der Ent-Kirchlichung. In der Geschichte tritt die Entkirchlichung erst relativ spät auf, zu einer Zeit, in der die Abkehr von der Kirche nicht mehr sanktioniert wird64. Der Grund für diese Entwicklung liegt in der Tatsache, dass sich Menschen nicht mehr an eine transzendente Religion gebunden sehen, sondern gerade einer ,verdiesseitigten‘ religiösen Tendenz erliegen (,Diesseitsreligion‘). Sie stecken in Abhängigkeiten von Ideologien, die zu einem Ersatz für die Religion geworden sind. So haben profane Weltanschauungen und Ideologien die Position der alten Religion eingenommen. Der Glaube an den technischen und humanen Fortschritt oder die Vorstellung, Wohlstand bzw. individuelles Glück für alle zu schaffen, die soziale Gerechtigkeit, weltweiten Frieden oder die Rückkehr des Menschen zu naturhaften Lebensbedingungen zu erreichen, sind solche Glaubensaussagen, die zur Religion erhoben werden65. Diese Weltanschauungen oder Ideologien dienen gar dem Ersatz von Religion. Die Weltanschauungen erzielen eine weitreichende Anerkennung und werden gleichsam zu einem Gesamtsystem ausgeweitet. Wer in ihnen das Numinose als einen integralen Bestandteil des Religiösen erkennt, wird sie eher als solchen Religionsersatz und weniger als eine Er64
Vgl. Schieder, Wolfgang, in: Hartmut Lehrmann (Hrsg.), (1997), S. 311. Vgl. Meyer, Heinz, Religionskritik, Religionssoziologie und Säkularisation, Frankfurt am Main u. a. 1988, S. 425. 65
60 3. Kap.: Säkularisierung, Entreligionisierung, Entchristlichung, Entkirchlichung
satzreligion wahrnehmen66. Denn „nicht der Glaube an die Götter, sondern die Begegnung mit dem Numinosen ist das ausschlaggebende Kriterium für die Religion. Der ursprüngliche Hinayana-Buddhismus ist zum Beispiel eine atheistische Religion, die das Nirwana – richtiger das ,All‘ denn als Nichts übersetzt – als eine numinose Größe verstand“67. Im religiösen Denken geht es bei der Verwirklichung des humanen oder technischen Fortschritts, der sozialen Gerechtigkeit oder der heilen Natur um einen „heiligen“ und nicht um irgendeinen weltlich-geprägten Kosmos. Aber die Abwendung der Menschen von der Kirche ist nicht gleichbedeutend mit einer Abkehr von Religion oder religiösen Werten. Aus dem Rückgang der kirchlichen Bindung lässt sich nicht ableiten, dass Religion oder Kirche als Kulturmacht einflusslos geworden ist. Doch mit sinkendem Einfluss der Kirchen für die individuelle Lebensgestaltung und Wertorientierung ist durchaus keine öffentliche Gegnerschaft einhergegangen68, wie es noch im 19. Jahrhundert der Fall war. Immerhin gehört die Bevölkerung in ihrer Mehrheit mindestens formal noch einer christlichen Konfession an. Außerdem haben die Kirchen weiterhin eine gewisse Bedeutung für zentrale Ereignisse im Leben des einzelnen Bürgers. Andererseits muss man auch sehen, dass sich die Kirchen selbst in einem inneren Anpassungsprozess an die Gesellschaft und ihre veränderten Werte befinden. Sie verlieren zwar stark an Einfluss und Mitgliederzahlen. Aber sie bleiben in vielen Bereichen der privaten und individuellen Lebensgestaltung – weniger vielleicht in den neuen als in den alten Ländern der Bundesrepublik Deutschland – maßgeblich und besitzen auch weiterhin einen gewichtigen Einfluss. Das gilt besonders auf den Feldern der Höhepunkte im Leben des einzelnen wie Geburt, Konfirmation, Heirat und Tod. Ferner behaupten sie sich zusammen mit anderen Institutionen auf dem so genannten „Sinngebungsmarkt“, wo es um die Grundlegung des individuellen Lebens geht69. Außerdem ist wahrzunehmen, dass die Kirchen in der Gesellschaft umso mehr anerkannt werden, je weiter sie sich von ihrem eigentlichen Auftrag der Verkündigung des Evangeliums und der daraus erwachsenen ethischen Entscheidung entfernen und sich der in der Allgemeinheit diskutierten sozialen und politischen Fragen annehmen. Zu den eigentlichen Aufgaben der kirchlichen Lehre gehört nun einmal vordringlich die Verkündigung des in Jesus Christus jedermann geoffenbarten Heils. Diese Weitergabe des ewigen Heils an die Menschen und die daraus gewonnene Ethik ist die vornehmste Aufgabe. Daraus entspringt der Dienst an den Menschen ebenso wie die Gestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse. 66
Vgl. Meyer, Heinz, (1988), S. 411. Meyer, Heinz, (1988), S. 411. 68 Hahn, Alois, Religion, Säkularisierung und Kultur, in: Lehmann, Hartmut, Säkularisierung, Dechristianisierung, Rechristianisierung im neuzeitlichen Europa, Göttingen 1997, S. 26. 69 Vgl. Hahn, Alois, (1997), S. 26. 67
3. Verhältnis der Säkularisierung zu unterschiedlichen religiösen Begriffen
61
Das bedeutet zugleich ein Eintreten für die Rechte der Armen, Schwachen und Benachteiligten. Diakonie und Caritas gegenüber dem einzelnen und der Gesellschaft ist gefordert. Und das nicht nur im eigenen Land, sondern auch in fremden Ländern. Darum können sich die Kirchen nicht einer Gestaltung der Weltgesellschaft entziehen. Aber es zeigt sich, dass – mindestens in der westlichen Welt – religiöses Verhalten, vor allem kirchliches Denken in der traditionellen Weise gefragt ist. Viele Menschen suchen in der Kirche nicht mehr ihr ewiges Heil, sondern möchten eher in der Kirche den sozialen und diesseitigen Partner treffen, der sich der Nöte dieser Welt annimmt. Kirche wird darum vielfach zu einer Vermittler-Instanz, die der Lösung diesseitiger Probleme dient. Aber je mehr sie den Menschen das transzendente Heil des Evangeliums verkündet, umso mehr macht sie sich verdächtig, eine weltabgewandte Religion zu vertreten. Religion soll dagegen mehr ein innerweltliches Wohlgefühl vermitteln. Doch Religion und Kirche sind keine Glücksbringer oder Lustvermittler. Das gilt für gute wie für schlechte Tage. Sie sind darum auch nicht als eine Institution zu verstehen, die für ein allgemeines Wellness-Gefühl gerade steht. Schließlich darf eine moderne Religiosität nicht mit einem säkularen religiösen Glücks-Empfinden verwechselt werden. Je mehr die Kirchen Themen mit ausgeprägter Transzendenz meiden, und je mehr sie jenseitige Themen aussparen und einer mehr oder weniger diesseitigen Lustvermehrung dienen, umso mehr werden sie freilich um Rat gefragt und gehört. Je stärker sich die Kirchen an die Unterhaltungsindustrie und an die Unverbindlichkeiten der Medienwelt anpassen, umso stärker werden sie „nachgesucht“. Aber damit verlieren sie ihr Proprium. Eine pure Beliebigkeit der Themen tritt ein. Aufgrund ihres Defizits an Verbindlichkeit werden dann viele ihrer Mitglieder in die Abhängigkeit von extrem fundamentalistischen Gruppen mit ihren engen Verbindlichkeiten und Bekehrungsabsichten getrieben. Alle Termini, die man gegenwärtig zur Beschreibung des Sachverhaltes der Gesellschaft hinsichtlich ihrer Säkularisierung – wie z. B. Entchristlichung, Dechristianisierung, Entreligionisierung – gebraucht, weisen einen Mangel an Eindeutigkeit auf. Gemeint ist jeweils die Umschreibung des Zustandes, in dem eine Gesellschaft ohne Gott existiert, sich selbst als mündig und emanzipiert versteht. Denn einerseits ist die Bindung des einzelnen Mitgliedes der Kirche, wie sie noch in den ersten Zweidritteln des letzten Jahrhundert fast gängig gegeben war, verloren gegangen. Viele Menschen gestalten heute ihr Leben, in dem sie sich gut auch ohne eine transzendente Bindung einrichten. Die Menschen fühlen sich befreit von religiöser Vormundschaft. Andererseits bedeutet die Säkularisierung sowohl einen Rückgang organisierter bzw. institutionalisierter Gläubigkeit als auch eine Privatisierung des Reli-
62 3. Kap.: Säkularisierung, Entreligionisierung, Entchristlichung, Entkirchlichung
giösen. Das führt letztlich zu einem „Selbstverlust“ und damit dann auch zu einem „Selbstgewinn des Christlichen“70. Diese doppelte Begrifflichkeit hat zum Inhalt: a) Den Verlust des Christlichen und damit die Auflösung der Eigenständigkeit der Religion, speziell der christlichen Theologie, an die von der Sünde geprägten Welt. Andere Lebensbereiche haben diese Art von religiösen Funktionen mit dem gleichen Anspruch übernommen. Institutionalisierte Gläubigkeit ist nicht mehr gefragt. b) Freilich kann Säkularisierung auch als Gewinn angesehen werden. Denn Säkularisierung bedeutet auch eine Verwirklichung des Christlichen in der Gestaltung der Welt. Religion wird einerseits zur reinen Privatsache. Andererseits wird der Verlust durch einen Gewinn wieder reingeholt. Im christlichen Glauben geht Gottes Heil in die Welt ein. Damit verwirklicht sich das Christliche in der Welt. Durch diesen Selbstverlust einer Entäußerung kommt es zu einem Selbstgewinn. In diesem Fall ist die Säkularisierung dann als „Entäußerung“ des Christlichen an die Welt zu verstehen71. Christus „entäußert“ sich (ekénosen, Phil. 2,7); er verzichtet auf seine Gottesgestalt und nahm Knechtsgestalt an, ohne die Gottesgestalt aufzugeben.
4. Wiederbelebung der Religion Das Reden von einer „säkularen Religion“ ist nicht neu. In der Theologie, in den Sozialwissenschaften oder in der politischen Philosophie hat man diesen Begriff wie auch den der „nichtkirchlichen autonomen“ Religion schon früher benutzt72. Schon Max Weber stand vor der Frage, wie eine Kultur zu beschreiben sein wird, „aus der der Geist, der sie erbaute, entwichen ist? Es sind dies die berühmten Sätze am Ende der ,Protestantischen Ethik‘, in denen Weber vom ,stahlharten Gehäuse‘ spricht, in das der Mensch der modernen Kulturentwicklung unentrinnbar gebannt ist, ohne doch von der sinnstiftenden Rationalität, die dies Gehäuse mitschuf, noch zu wissen“73. Der individuelle Lebenssinn wird zunehmend in einem innerweltlichen Wohlbefinden gesehen. Der Mensch strebt nach Lebensgenuss und Selbstverwirklichung und nicht nach Ewigkeitswerten oder Erfüllung des Lebenswerten. Das 70
Bayer, Oswald, Theologie, Gütersloh 1994, S. 455. Vgl. Bayer, Oswald, (1994), S. 455. 72 Vgl. Küenzlen, Gottfried, Der neue Mensch, München 21994, S. 13, vgl. auch Tillich, Paul, Die Frage nach dem Unbedingten, Ges. W. Bd. V, Stuttgart 1964, S. 22 ff. 73 Küenzlen, Gottfried, 21994, S. 228. 71
4. Wiederbelebung der Religion
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zeigt sich auch in der Teilnahme an unterschiedlichen Demonstrationen, Paraden oder Veranstaltungen, in denen sich die Spaßgesellschaft verselbständigt. Ein individuelles Glück wird in der Masse gesucht – und wohl zum Teil auch dort gefunden. Die musikalischen Rhythmen – also eine Musik fast ganz ohne Text – bestimmen in ihren Bässen das Glücklichsein der Tanzenden. Dabei ist die Bewegung alles. Die Musik wird als eine Art Religion oder Religiosität empfunden. Wer sich dem Tanz hingibt, gerät in eine andere Dimension, in einen Trancezustand. Nicht mehr nur ein individuelles Glücklichsein ist gefragt, die Menschen sehen sich gleichsam als eine Einheit, eine Familie. Spaß zu haben, ist letztlich das Ziel. Eine Spaßgesellschaft aufzubauen, ist der Wunsch und der Lebensinhalt. Oft bleibt es aber dabei nicht. Viele Menschen glauben, ihre herausgehoben Lage zu erkennen und meinen, sie könnten sich in dieser Situation selbst von Schuld und Sinnlosigkeit erlösen74. Es ist kaum zu verkennen, die Kirchen haben in den neuen wie in den alten Ländern Deutschlands ihre integrierende und Orientierungsfunktion verloren75. Heute herrschen andere Organe, die diese Funktionen übernommen haben. Dazu gehören die politischen oder Rechtsorgane, die Massenmedien u. a. Der Prozess der Entchristlichung zieht eine Privatisierung der Religion und speziell des christlichen Glaubens nach sich. Allerdings bedeutet eine religiöse Individualisierung nicht notwendig Privatisierung des Glaubens. Eine individuelle Frömmigkeit und Gotteserfahrung bedarf einer Ergänzung durch den öffentlich-politischen Aspekt. Aber aufgrund des in der postmodernen Gesellschaft erfahrenen Abbruchs traditioneller Bindungen des Glaubens erfolgt notwendigerweise eine verstärkte religiöse Privatisierung. Erst die Ergänzung durch die politisch-religiöse Betätigung hebt dann die Religion wieder aus einer reinen Privatisierung heraus. Andererseits kam es bereits in den siebziger Jahren zu einer Art säkularer Wiederbelebung der Religion in Form eines gläubigen Fundamentalismus, in Gestalt von Esoterik, Astrologie, synkretistischen Bewegungen oder durch moderne Jugendsekten. Man spricht von einer „postsäkularen Religiosität“76. Sie trägt den Charakter einer „religiösen Gegenkultur zur säkularisierten Mehrheitskultur. Solche gegenkulturellen Züge lassen sich auch im Zusammenhang der New Age Bewegung und der unterschiedlichen Einflussbereiche der Esoterik nachweisen“77. Das Christentum ist durch die angesprochene ,säkulare‘ religiöse Entwicklung ebenso betroffen wie durch die Migrationsbewegung. Sie, die in den letz74 Vgl. Neuhold, Leopold, Religion und katholische Soziallehre im Wandel vor allem der Werte, Münster, Hamburg, London 1999, S. 117 ff. 75 Vgl. Pollack, Detlef, (2003), S. 84. 76 Schwöbel, Christoph, Christlicher Glaube im Pluralismus, Tübingen 2003, S. 4. 77 Schwöbel, Christoph, (2003), S. 5.
64 3. Kap.: Säkularisierung, Entreligionisierung, Entchristlichung, Entkirchlichung
ten Jahrzehnten des vergangenen Jahrhunderts besonders verstärkt auftrat, weist darauf hin, dass Menschen aus Gründen der politischen bzw. wirtschaftlichen Not, der ethnischen Verfolgung oder der sexuellen Diskriminierung in Länder auswanderten bzw. flohen, in denen sie sich Freiheit und Überlebenschancen versprachen. Das führte in diesen Ländern zu einem religiösen Pluralismus. Darum lernen wir auf der einen Seite „durch die Migrationsbewegungen Formen christlichen Glaubens und kirchlicher Gemeinschaft kennen, die wir bisher nur im Kontext fremder Gesellschaften kannten. Auf der anderen Seite partizipiert auch das Christentum, vor allem in Gestalt der charismatischen Bewegungen, an dem Phänomen postsäkularer Religiosität“78. Es zeigen sich christliche Ausdrucksformen, die nicht in die üblichen Schemata der Kirchen und ihrer Gestaltungen passen. Parallel zur fortschreitenden Entkirchlichung kann man gar, wie schon oft betont, von einer zunehmenden Religionisierung des Alltags sprechen. Hinzukommen so genannte ersatzreligiöse Bestrebungen. „In seiner Funktion als ersatzreligiöse Sinnstiftung hat der Sport an Bedeutung gewonnen. Der Körper wird zur Quelle von Grenzerfahrungen, das Stadion zur Kultstätte, und die Fangemeinde erlebt sich in tiefer Kommunion“79. Die religiöse Landschaft ist in den letzten Jahrzehnten von unterschiedlicher Religiosität und synkretistischen Alltagserfahrungen geprägt. Heute erkennt die Sozialwissenschaft eine Säkularisierung christlicher Überzeugung und zugleich eine Revitalisierung der Religion. Die Bedeutung der Religion wird also in einer gegensätzlichen Position gesehen. Zum einen wird die Säkularisierung der Welt als Beschreibung der religiösen Gegenwart benutzt, zum anderen aber spricht man gleichzeitig von der Zukunft der Religion als einer Re-Spiritualisierung oder von einer Wiederkehr der Religion80. Mit vollem Recht weist man heute darauf hin, dass man trotz des erheblichen Bedeutungs- und Substanzverlustes der Kirchen von einer Wiederbelebung der Religion oder Religiosität in der Gegenwart sprechen könne81. Generell lässt sich sogar sagen: In der Gesellschaft zeichnet sich heute so etwas wie eine ,säkulare‘ Religionisierung der Bevölkerung ab. Nur, was ist das für ein Religionsbegriff? Ist mit dieser Entwicklung eine wirkliche Re-Religionisierung der Bevölkerung im traditionellen Sinn verbunden? Denn mit dem Bedeutungsrück-
78 Schwöbel, Christoph, (2003), S. 5. Für Schwöbel handelt es sich um neue religiöse Aufbrüche, „die nicht aus der Kontinuität einer religiösen Tradition erwachsen, sondern einen religiösen Traditionsbruch, wie wir ihn unter dem Stichwort der Säkularisierung zu beschreiben pflegen, voraussetzen“ (S. 4). Er spricht von „postsäkularer Religiosität“. 79 Vereinigung Ev. Freikirchen (VEF), Kirchenamt der Ev. Kirche in Deutschland (EKD), Gestaltung und Kritik, Zum Verhältnis von Protestantismus und Kultur im neuen Jahrhundert, Frankfurt und Hannover 1999, S. 24. 80 Vgl. Pollack, Detlef, (2003), S. 1 f. 81 Vgl. Pollack, Detlef, (2003), S. 12.
4. Wiederbelebung der Religion
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gang der Kirchen geht nicht gleichzeitig ein Erstarken traditioneller Religiosität einher. Vielmehr steht hinter dieser Behauptung ein völlig unbestimmter Religionsbegriff. Beispielsweise wird dann unter Religion ein Prozess verstanden, „in welchem der Mensch seinen biologischen Organismus transzendiert“ (Thomas Luckmann)82. Solche außerkirchliche Religiosität wird in Deutschland – im Osten wie im Westen – mehr von der jüngeren Generation praktiziert, ältere Menschen neigen eher der traditionellen Kirchlichkeit zu83. Allerdings muss festgestellt werden, dass außerkirchliche religiöse Gegenbewegungen marginal bleiben. Eine Tendenz zur traditionellen Kirchlichkeit ist wohl eher auf dem Lande als in der Stadt zu beobachten, während außerkirchliche Religiosität stärker in den Städten zu erkennen ist. Auch eine unverbindliche Anerkennung der Existenz Gottes ist als Wiederbelebung der Religion wahrzunehmen. Seine Existenz wird nicht geleugnet, sondern ihr wird vielmehr eine prinzipielle Anerkennung zuerkannt. Diese erlaubt es, ihn zu bestimmten Zeiten oder Stellen zu erwähnen und seiner zu gedenken, aber ihn ansonsten aus dem Bewusstsein zu verdrängen. Aber seine Existenz wird nicht mehr zur Grundlage des menschlichen Handelns gemacht, sondern sie wird stillschweigend hingenommen bzw. einfach vorausgesetzt84. Im Alltag hat sich also eine Wiederkehr des Religiösen bemerkbar gemacht. Allerdings ist diese nicht hervorgegangen aus einer Abkehr von der Säkularisierung in den westlichen Gesellschaften, sondern aus einer revolutionären Entwicklung des Islam, zunächst im Iran, sodann auch in anderen Ländern mit starkem muslimischen Einschlag. Die Säkularisierung der Gesellschaft wurde bekanntlich in diesen Staaten durch eine „Re-Religionisierung“ kontakariert85. Auch in der Öffentlichkeit des jeweiligen westlichen Landes ist aufgrund der Migrationsbewegung aus den muslimischen Ländern eine Form der Wiederbelebung der Religionen festzustellen. Für viele Menschen wird die Pflege ihrer religiösen Überzeugung zu einem wichtigen Faktor der Bestimmung und Bewahrung ihrer kulturellen und damit vor allem auch ihrer personalen und sozialen Identität86. Freilich kann auch der christliche Fundamentalismus als eine Art Gegenbewegung zur modernen Gesellschaft angesehen werden. Er ist als anti-aufklärerisch und anti-modernistisch anzusehen. Freilich soll dabei nicht alles, was „Halt und Geborgenheit bietet“ auch gleich als Fundamentalismus betrachtet werden87. 82 Pollack, Detlef, (2003), S. 150, Anm. 2. So lautet die Religions-Definition von Thomas Luckmann. Das Zitat setzt sich fort: dass der Mensch „durch Einfügung in ein das Einzeldasein transzendierendes Sinngefüge zu einem sozialen Wesen wird“. 83 Vgl. Pollack, Detlef, (2003), S. 173. 84 Vgl. Meyer, Heinz, (1988), S. 414. 85 Schwöbel, Christoph, (2003), S. 2. 86 Vgl. Schwöbel, Christoph, (2003), S. 4.
66 3. Kap.: Säkularisierung, Entreligionisierung, Entchristlichung, Entkirchlichung
Heute werden etwaige persönliche Schicksalsschläge aufgrund von Unglücken, Krankheiten oder anderen Widerfahrnissen nicht einfach mehr als Schicksalsschläge hingenommen, sondern rufen nach einer Begründung. Es wird nicht auf eine Fügung Gottes oder eine Prüfung des Menschen verwiesen. Dabei helfen auch bestimmte Antworten auf die Frage nicht weiter: „Warum musste dies gerade mir zustoßen“? Sie werden vielmehr aus einem säkularisierten Kulturbezug gegeben und verweisen auf den Zufall, das Risiko oder das anonyme Schicksal. Meistens reicht eine solche Erklärung allerdings den betroffenen Menschen nicht aus. Sie suchen und fragen weiter! Hier hatte in der Vergangenheit die Religion und vor allem der Glaube die entscheidende Antwort parat. Er hat sie heute noch. Allerdings muss sie abgerufen werden. Auch säkularisierte Menschen fragen nicht selten nach einer überirdischen Instanz, um zu einer Antwort zu gelangen. Denn Säkularität allein sagt noch nichts über Glaubenslosigkeit bzw. Gottlosigkeit aus. Nun zeigt sich, dass die Zuneigung zu alternativen Glaubensformen mit magischen oder okkultistischen Vorstellungen sowohl im stärker säkularisierten Osten als auch im traditionell religiöseren Westen Deutschlands relativ stark ist. Der Anteil derer, die solcher Orientierung zustimmen, ist bei Konfessionsangehörigen deutlich größer als bei Konfessionslosen88. Ob das mit einem „mächtigen geistesgeschichtlichen Unterstrom“ zu tun hat, „der sich von der durch das Christentum besetzten religiösen Hochkultur“ abgesetzt hat oder, ob die Erklärung darin zu suchen ist, dass man im Alltag auf irgendeine Weise versucht, Halt zu finden, müsste noch eindeutig untersucht werden89. Man wird heute trotzdem sagen dürfen, dass zwischen einer gegebenen Kirchlichkeit und einer wie auch immer gearteten Religiosität ein enger Zusammenhang besteht. Das bedeutet, dass die Kirchen in Deutschland der zentrale Ort sind für die religiöse Betätigung und der eigentliche Repräsentant für Religion und deren Ausübung in der Gesellschaft. Allerdings sagt diese Darlegung noch nichts aus über das Proprium der Kirche selbst. Religion und Kirche sind eng an die Gesellschaft gebunden. Darum machen sie den Veränderungsprozess mit, der die Gesamtgesellschaft umfasst. Solche Veränderungen in der Gesellschaft spiegeln sich auch im religiösen Bereich wider. Als Beispiele für diesen Prozess kann die Bedeutung der Begriffe wie Friede, Gerechtigkeit, Ökologie, Solidarität oder Kultur genannt werden. Sie erfahren mancherorts religiöse Weihe.
87 88 89
Vgl. Neuhold, Leopold, (1999), S. 34. Vgl. Pollack, Detlef, (2003), S. 88 ff. Pollack, Detlef, (2003), S. 90.
5. Fundamentalistische Strömungen
67
5. Fundamentalistische Strömungen Viele religiöse Begriffe und Themen haben ihren besonderen religiösen Charakter verloren. Das lässt sich etwa an den Begriffen wie Gott, ewiges Heil oder Sünde ablesen. Insbesondere erfährt der Gottesbegriff eine allgemeine weltliche Deutung. Der Gottesbegriff wird zwar als Wort in verschiedenen staatlichen Verfassungen genannt. Aber ihm werden doch unterschiedliche Deutungen zugeordnet. Es ist keineswegs eindeutig sicher, ob der christliche Gottesbegriff damit gemeint ist. Heute lassen sich unter ihm selbst in der Verfassung der Bundesrepublik Deutschland verschiedene Interpretationen herauslesen, auch wenn die Mütter und Väter der Verfassung bei ihrer ersten Abfassung an eine durch und durch christliche Vorstellung gedacht haben. Unter ihm werden auch andere Gottesvorstellungen subsumiert, während eine Aussage über den biblischen Gott, der als der schaffende, liebende und versöhnende Gott zu interpretieren ist, vermieden wird. Gott der Schöpfer und Erlöser kommt in der Gesellschaft nicht mehr zur Sprache90. Gott als Richter ist sogar in der allgemein-christlichen Vorstellung kaum noch wahrzunehmen. Ebenso hat der in der Sprache der Bibel zentral gebrauchte Begriff des Heils in der Öffentlichkeit stark innerweltliche Züge erhalten. Jesus Christus, an den nach dem Neuen Testament das Heilsgeschehen gebunden ist, wird stattdessen als Prophet oder irdischer Wunderheiler, der ethische Verhaltensweisen predigt, gesehen. Das durch ihn verkündigte Heil betrifft nicht mehr das Verhältnis des Menschen zu seinem Gott, sondern eher die unmittelbare Existenz der Menschen auf dieser Erde, die durch Unfriede, Leiden, Krankheiten bedroht ist. Die Menschen begegnen einander und werden durch ihn auf ihre Grenzen aufmerksam gemacht. Hinter dem Begriff des Heils steht mehr das In-Ordnung-Bringen des zwischenmenschlichen Lebens. Es geht dabei sowohl um die eigene Existenz als auch um die, die sich aus dem Zusammenleben mit anderen Menschen ergibt. Schließlich wird der Begriff der Sünde vielfach in eine reine moralische Kategorie umgedeutet. Man kann in diesem Zusammenhang mit Recht auf die inflationäre und verniedlichende Sprache der Sünde in den Begriffen wie Verkehrssünder oder Umweltsünder hinweisen91. Die Sünde betrifft nicht mehr das Verhalten des Menschen zu seinem Gott, sondern vielmehr seinen sozialen Umgang. Man kann in der Gegenwart von einer Lebensabschnitt-Religiosität sprechen. Die einzelnen Lebensabschnitte haben im Vergleich zu früheren Generationen in 90 91
Vgl. Huber, Wolfgang, (1998), S. 72. Vgl. Huber, Wolfgang, (1998), S. 73.
68 3. Kap.: Säkularisierung, Entreligionisierung, Entchristlichung, Entkirchlichung
dem Ablauf des menschlichen Lebens als Taufe, Konfirmation/Firmung, Trauung und am Ende des Lebens als Krankensalbung und Beerdigung eine gewisse Bedeutung beibehalten. Jedenfalls werden einzelne Ereignisse als Höhepunkte wahrgenommen und in einen bestimmten kirchlichen Bezug gestellt. Zusätzlich zu diesen mehr oder weniger biographischen und familiären Zügen stellt sich während des Lebens eine Jahresabschnitt-Religiosität ein. Denn an den so genannten „höchsten“ Feiertagen im Jahr suchen viele Menschen die Kirche auf. Die Zahlen der Gottesdienstbesucher zu Weihnachten, am Karfreitag oder am Totensonntag sind gegenüber den Besucherzahlen an den anderen Sonntagen deutlich höher. Es herrscht nicht mehr wie in der Vergangenheit ein Gegensatz zwischen dem christlichen Glauben und den Religionen. Die Lehre von der alleinigen Offenbarung Gottes im Gegenüber zu den Religionen als Unternehmungen der Menschen wird abgelehnt. Die Menschen erfahren in einer neuen vielfältigen Gestalt neues religiöses Denken. Diese Entwicklung ist am leichtesten an der religiösen Revolution zu erkennen, die der Islam durchmacht. Aber es ist nicht nur dort von einem Fundamentalismus zu reden. Auch in den Vereinigten Staates von Amerika lässt sich im religiösen Denken von einem Bestreben aus dem Privaten in die Öffentlichkeit sprechen. Dabei stellt der Fundamentalismus immer „eine Reaktion auf eine befürchtete Identitätsbedrohung der Menschen – zumeist in der Gestalt des Säkularismus“ – dar92. Oft tritt diese Identitätsbedrohung auch in Verbindung mit seiner „Zerstörung der religiösen Kultur“ auf 93. Denn es zeigt sich selbst im ökonomischen Bereich: „Die fundamentalistische Reaktion auf die als Identitätsbedrohung erfahrene Globalisierung macht sich darum gerade an den Punkten fest, die einen maximalen Kontrast zur Überfremdung mit westlichen Kulturwerten darstellen“94. Andererseits hat der moderne Fundamentalismus, auch wenn er seine „Karriere als Selbstbezeichnung christlicher Gruppen, die sich im Übergang vom 19. zum 20. Jh. gegen die Infragestellung christlicher Glaubenswahrheiten durch die historische Kritik und die darwinistische Evolutionstheorie begann“, heute ein besonderes Charakteristikum durch die terroristische Gewalt erhalten. Man hat deshalb mit gutem Recht formulieren können: „Der durch die Revolution im Iran in das Blickfeld der weltweiten Politik gelangte Prozess der Prägung des öffentlichen Lebens durch den Islam, in dem die Trennung von Religion und Politik in breiten Strömungen programmatisch abgelehnt wird, erweist sich – keineswegs nur in den islamischen Ländern – als wichtiger Faktor in den neuen Konstellationen von Religion und Öffentlichkeit – und das nicht nur in den fundamentalistischen Strömungen des Islams“95. Das hat zu einer doppelten Entwicklung geführt: einer92 93 94
Schwöbel, Christoph, (2003), S. 225. Vgl. Schwöbel, Christoph, (2003), S. 225. Schwöbel, Christoph, (2003), S. 226.
5. Fundamentalistische Strömungen
69
seits zu einer Säkularisierung und andererseits zu einer ,säkularen‘ Re-Religionisierung und zu radikal-fundamentalistischen Strömungen mit terroristischen Strukturen. Aber die Terroranschläge vom 11. September 2001 in New York auf das World Trade Centre, vom 11. März 2004 in Madrid, die anderen Anschläge in Casablanka (2003) und Istanbul (2003) – alle im Namen von radikal-fundamentalistischen islamischen Gruppen ausgeführt – haben unmittelbar mit der Religion des Islams selbst und seinem Glauben nichts zu tun, sondern sind aus einer Verblendung und Ideologisierung von Menschen im Kampf gegen die Globalisierung und die westliche Wertegesellschaft erwachsen. Sie wollen eine neue Weltherrschaft mit Hilfe des Terrors aufbauen. Dahinter steht eine Verblendung bestimmter fundamentalistischer muslimischen Gruppen, die im Namen der Religion des Islams gegen die Säkularisierung und für die Bewahrung der Identität des muslimischen Glaubens kämpfen. In den westlichen Gesellschaften zeichnet sich ein intensiver Dialog zwischen den Religionen und den Weltanschauungen ab, der den christlichen Glauben einschließt. Das Christusbekenntnis liefert dem Glauben die Grundlage für den interreligiösen Dialog96. Heute kann man in diesem Bekenntnis zu Jesus von Nazareth den christlichen Standpunkt im Dialog mit den anderen Religionen festmachen und damit sowohl den eigenen Glauben darlegen als auch die Einstellung markieren, aus der heraus die anderen Religionen in den Blick genommen werden müssen. Das Bekenntnis zu Christus hat zum Inhalt, dass in Christus Jesus das Heil Gottes des Schöpfers, Versöhners und Vollenders in die Welt gekommen ist. Das Heilswerk Christi umfasst die ganze Welt von Anbeginn bis zu ihrer Vollendung. In einer neueren Darstellung zur religiösen Lage der Gegenwart kommt der Leiter des Ökumenischen Instituts der Universität Heidelberg, Christoph Schwöbel, zu dem Schluss: Zwar zielt die Versöhnung auf die ganze Welt und dient so der „Vollendung der Gemeinschaft Gottes mit seiner ganzen Schöpfung, die vom Anbeginn der Welt das Ziel des schöpferischen Willens Gottes ist“. Darum muss „alles Sein der Welt und alles Geschehen in der Welt im Horizont des Handelns Gottes verstanden werden“97. Für die Deutung der Religion hat diese Aussage ihre Bedeutung. „Wenn Gott allmächtig, allgegenwärtig und ewig ist, wie der christliche Glaube aufgrund des Christusgeschehens bekennt, dann kann Gott in den Religionen nicht abwesend sein“98. Als Folge ist festzustellen: „Auf der Grundlage des Christusbekenntnisses begegnen Christen den Religionen in der Erwartung der Anwesenheit Gottes in ihnen“99. Denn aus der 95 96 97 98
Schwöbel, Christoph, (2003), S. 186. Vgl. Schwöbel, Christoph, (2003), S. 193. Schwöbel, Christoph, (2003), S. 202. Schwöbel, Christoph, (2003), S. 202.
70 3. Kap.: Säkularisierung, Entreligionisierung, Entchristlichung, Entkirchlichung
Perspektive des christlichen Glaubens kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass der Mensch in den Religionen dem Wirken des unsichtbaren Gottes begegnet. Als Theologe meint Schwöbel, dass es gerade „die Wahrheitsgewissheit des christlichen Glaubens , die zum Dialog mit den anderen Religionen nötigt“100. Da ein interreligiöser Dialog immer dann unmöglich wird, wenn die Ansprüche der Dialogpartner auf Wahrheit ausgeklammert werden, muss der christliche Glaube als Dialogpartner auch den anderen Religionen die Chance einer Selbstdefinition ihrer Position gewähren101. Zwar treten den Christen in den anderen Religionen fremde Götter entgegen, aber diese Begegnung mit der Andersheit der Götter ist nicht so zu verstehen, „dass sie für den christlichen Glauben nichtssagend ist, weil der christliche Glaube die Überzeugung von der Universalität Gottes beinhaltet“102. Hier kann von einer alleinigen Offenbarung Gottes im christlichen Glauben aufgrund seines Kommens in Christus Jesus nicht mehr die Rede sein. In der Säkularisierungsdiskussion von heute stecken zusätzliche noch zwei Probleme: Zum einen sieht man in ihr die Chance, sich von einem Fundamentalismus abzuwenden und sich einem aufgeklärten religiösen Denken zuzuwenden. Die Säkularisierung ist der Garant dafür, dass nicht eine einzige Religion über die alleinige Wahrheit verfügt. Zum anderen gewährt die Säkularisierung die Chance, den eigenen Glauben leichter preiszugeben, obwohl viele mit der nunmehr gewonnnen Freiheit nichts Rechtes anzufangen wissen. Aber man braucht sich heute in der Gesellschaft nicht mehr für seinen Unglauben zu rechtfertigen. Schon seit langem steht der Begriff der Säkularisierung für einen Verdrängungsprozess der Kirche aus der Gesellschaft. Kirche und Gesellschaft bezeichnen immer noch einen dichotomischen Zustand, in dem sich die Kirchen und die säkularisierte Gesellschaft gegenüberstehen103. Diese Situation führt in der Gegenwart zur Entchristlichung und Entkirchlichung der Gesellschaft. Gerade im Blick auf die Säkularisierungsprozesse in den so genannten Ostblockstaaten hat sich gezeigt, dass sich zwar eine politisch orientierte säkulare Weltanschauung abzeichnete und gleichzeitig in der postsäkularen Zeit eine Wiederkehr der Religion, gleichsam eine – wenn auch begrenzte – Re-Religionisierung, einsetzte. „Die Wiederkehr des Religiösem vollzieht sich in Gestalt des religiösen und weltanschaulichen Pluralismus, in dem die Hinwendung zum in der eigenen Kultur Fremden und in die Struktur der Gesellschaft nur lose Eingebundenen ein wichtiger Faktor zu sein scheint. Abkehr von den institutio99
Schwöbel, Christoph, (2003), S. 202. Schwöbel, Christoph, (2003), S. 211. 101 Vgl. Schwöbel, Christoph, (2003), S. 213. 102 Schwöbel, Christoph, (2003), S. 211. 103 Vgl. Matthes, Joachim, Religion und Gesellschaft, Reinbek bei Hamburg 1967, S. 212. 100
5. Fundamentalistische Strömungen
71
nalisierten Kirchen und Hinwendung zu in freiwilligen Assoziationen existierenden Gemeinschaften erweisen sich als zusammenhängende Aspekte der religiösen Situation der Zeit“104. Der Zeitgeist der Gesellschaft steht gegen Kirche und gegen die herrschende Religion. Gefordert wird eine Anpassung der Kirche an diese und ähnliche Strömungen der Zeit. Die Äußerungen beider Kirchen propagieren den Auf- und Umbau der Gesellschaft; aber sie vernaschlässigen dabei den Verkündigungsauftrag. Sie sollen sich zwar zum Grundsätzlichen äußern, aber doch gleichzeitig vom politischen Tagesgeschehen fernhalten. Es geht dabei um das Wort der Kirche; nicht um das Wort einzelner Christen, auch nicht um das ihrer Leiter. Wie viele Menschen verwechseln das? Ethische oder moralische Entwicklungen haben die beiden Großkirchen herausgefordert. Sie müssen zum Lebensrecht, zur Friedenpolitik, zu Fragen der Bioethik, der Menschenrechte oder der Wirtschaftsethik Stellung beziehen. Aber wenn es um tagespolitische Stellungnahmen geht, haben sie zu schweigen. Christen haben für das Handhaben dieser Dinge kein besseres Wissen als andere Menschen. Aber sie sollten in vielen Fällen anders an die Probleme herangehen! Die Kirchen schwimmen vielfach mit dem Strom des Zeitgeistes. Oft treten sie auch gegen ihn auf. Die beiden Großkirchen sind sehr unterschiedlich davon betroffen. In der römisch-katholischen Kirche stehen für die Gläubigen die Probleme, die sie mit ethischen, besonders mit sexualethischen Fragen haben, im Vordergrund. Hinzukommen dogmatische Fragen wie die nach der Aufrechterhaltung des Zölibats und der Einführung des Priestertums von Frauen. In den protestantischen Kirchen ist die Anpassung der kirchlichen Verkündigung an die politische Problematik, ihre Stellungsnahme zu Gerechtigkeitsfragen und zu den Problembereichen Wirtschaft und Umwelt häufig umstritten. Man wirft den reformatorischen Kirchen – oft mit Recht – vor, sie kümmerten sich mehr um die Behandlung des sozialen Ausgleiches, speziell der Arbeitslosen- und Armutsproblematik, als um die Verkündigung des Evangeliums. Freilich gibt es keine Verkündigung des Heils ohne Nächstenliebe! Darüber hinaus herrschen in beiden Großkirchen zwischen dem Christentum und der Welt Widersprüchlichkeiten. Es existiert in gesellschaftspolitischen Fragen eine Spannung zwischen einer mehrheitsfähigen Kirchlichkeit und einer gläubigen Minderheit. Die letzte wird meistens getragen von den konservativen Kräften in beiden Kirchen. Die Bedeutung der Kirchen in der Gesellschaft schwindet. Die Austritte aus beiden Kirchen – etwa in Deutschland – sind Besorgnis erregend. So traten 104
Schwöbel, Christoph, (2003), S. 30. Siehe oben S. 70 ff.
72 3. Kap.: Säkularisierung, Entreligionisierung, Entchristlichung, Entkirchlichung
etwa im Jahr 1992 aus der evangelischen Kirche über 361 000 Menschen aus. Im selben Jahr waren es 193 000 Katholiken, die ihrer Kirche den Rücken kehrten. Im Jahr 2000 verließen noch 189 000 die evangelische und 129 000 die katholische Kirche105. Diese Tendenz ist trotz zunehmender Eintritte keineswegs gestoppt. Ist dieser Entwicklung beizukommen? Es sind wohl zwei Ansatzpunkte zu nennen. Der eine ist individuell geprägt und der andere hat einen ekklesiologischen Aspekt. Vom individuellen Aspekt her ist festzustellen, dass es in der biblischen Verkündigung um den einzelnen geht: „Denn als erstes habe ich euch weitergegeben, was ich auch empfangen habe“ (1. Kor. 15,3) Es wird also zum Bekenntnis und zur Verkündigung des in Christus Jesus erfahrenen Heils aufgefordert. Schließlich war bereits im Alten Testament zum Gehorsam gegenüber dem Wort Gottes und zur Weitergabe ermahnt worden (5. Mos. 6,6 ff.). Das Heil wird verkündet durch das Zeugnis der Glaubenden. Wer andere gewinnen will, muss sie mit seinem Glauben anstecken und ihnen Hoffnungen und Vertrauen auf den eigenen Weg geben. Die Verkündigung des Heils und die Ethik der Liebe gehören zusammen. Jesus hat durch Wort und Tat seine Lehre vom Heil des Menschen verkündet. Ein reiner sozialer Aktionismus hilft nicht weiter. Der zweite Aspekt ist geprägt von der Frage, ob sich Kirche noch als eine solche versteht, die nicht mehr wesentliche Teile des Volkes, sondern nur noch eine Minderheit umfasst. Heute wird fast schon gängig die Volkskirche als überholte Erscheinung abgeschrieben. Viele meinen, man solle zukünftig nur noch von einer Minderheiten-Kirche ausgehen. Aber Gottes Heilshandeln ist nicht von vornherein auf eine Minderheit hin ausgerichtet. Darum wäre es in der Zielrichtung verkehrt, eine Minderheitenkirche zu fordern. Das Handeln der Kirche und der Gläubigen in ihr darf sich nicht auf den Dienst an den einzelnen beschränken, sondern muss einen Dienst für alle im Auge haben. Nur wenn die Kirche sich als Gemeinschaft der Heiligen (communio sanctorum) und nach dem Augsburger Bekenntnis Art. VIII. als congregatio sanctorum et vere credentium (Die Versammlung der Heiligen und wahrhaft Glaubenden) versteht, bleibt sie als solche die sichtbare Kirche, die sich um alle Menschen in der Gesellschaft zu kümmern hat und sich ihnen nicht verweigern darf.
105 Vgl. Püttmann, Andreas, Geistlicher Flurschaden, in: Die Neue Ordnung, 57. Jhrg. H. 5, Oktober 2003, S. 347.
4. Kapitel
Die mündige Gesellschaft Für Martin Luther ergab sich die Mündigkeit der Welt aus dem christlichen Glauben. Dieser stellt die Grundlage für die Säkularisation der Welt dar. Der Mensch versteht sich aus sich selbst heraus als Träger der Verantwortung für die Welt. Er ist darum auch für ihre Säkularisation verantwortlich. Schließlich ist die Welt mündig geworden. In ihrer Mündigkeit hat sich zwar der Mensch nicht an die Stelle Gottes gesetzt, aber er unterwirft sich die Welt. Aus diesem Grund ist er auch bereit, für sie Verantwortung zu übernehmen. Letztlich legt die Säkularisation den Grund für das Aufkommen des Atheismus. Aber ob die Wirklichkeit als eine religionslose Autonomie des Menschen bestimmt wird, und die Welt sich zu einer weniger religiös geprägten Wirklichkeit entwickelt, so dass die Religion an den Rand der Gesellschaft verdrängt wird, ist letztlich eine Frage des Religionsbegriffs und seiner Deutung.
1. Der Religionsbegriff in der Theologie Paul Tillichs Es sind im letzten Jahrhundert ganz besonders Karl Barth und Paul Tillich in Westeuropa bzw. in den USA gewesen, die sich mit dem Begriff der Religion und ihres Verhältnisses zum Christentum auseinandergesetzt haben. Dabei stand die Beziehung der christlichen Offenbarung zu den Religionen im Mittelpunkt. Tillich hatte bereits in den zwanziger Jahren von der „nichtkirchlichen autonomen Religion“ gesprochen1. Das Religiöse ist für ihn das, was jeden Menschen unbedingt angeht. Dieses wiederum ist ein Problem des modernen Menschen, der fremd der eigenen Kirche und auch den anderen Kirchen oder Sekten gegenübersteht. Die Religion ist deshalb nichtkirchlich oder autonom; denn sie ist ohne gegenständlichen Gottesbegriff2. Für Paul Tillich kann die Religion nur deshalb säkularisiert werden, „weil in ihrem Wesen selbst die Spannung zwischen dem Transzendenten und Profanen liegt“3.
1 2 3
Tillich, Paul, Ges. W. Bd. V, Stuttgart 1929: „Nichtkirchliche Religionen“, S. 22 ff. Tillich, Paul, G.W. Bd. V, (1929), S. 27. Tillich, Paul, Systematische Theologie, Bd. III, Stuttgart 1966, S. 124.
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4. Kap.: Die mündige Gesellschaft
Tillich hat sich immer wieder mit dem Problem der Religion beschäftigt. Man kann mehrere – mindestens wohl vier – Religionsbegriffe unterscheiden: 1. Religion als eine Funktion des menschlichen Geistes, 2. Religion als ein Ergriffensein von einem Letzten, das uns unbedingt angeht, 3. Religion als Manifestation des Heiligen, also „des Grundes des Seins“, 4. Religion als Manifestation des Neuen Seins4. Der 1. Religionsbegriff greift die polytheistischen und monotheistischen Götter auf. Die Religion als Selbst-Transzendierung bedarf der geschichtlichen Religionen, obwohl sie diese zugleich verneinen muss5. Diese sind a) durch Zweideutigkeiten der profanisierenden Elemente und b) durch Zweideutigkeiten des Göttlichen und Dämonischen geprägt. Immerhin wird in den Religionen das Neue Sein antizipiert. Denn der göttliche Geist ist bereits in den Religionen gegenwärtig6. Der 2. Religionsbegriff weist darauf hin, dass mit dem Ergriffensein von einem letzten Anliegen alle anderen zu vorläufigen gemacht werden. Tillich sieht in ihm die Grundlagen der eigenen Religionsphilosophie. Die beiden Religionsbegriffe als Selbst-Transzendierung des Lebens in der Dimension des Geistes und als Manifestation des Seinsgrundes sind in ihrer Art zwar Gegensätze, aber sie überlagern einander auch7. In den Definitionen drei und vier steckt je ein sehr viel weiter gefasster Religionsbegriff als in den Begrifflichkeiten von eins und zwei. Bei ihren Deutungen wird trotzdem ausführlich auf die Definitionen der beiden ersten zurückgegriffen. In der Religion hat es der Mensch nämlich allgemein mit der Dimension des Geistes zu tun. In der dreibändigen Systematischen Theologie wird Religion als die „Selbst-Transzendierung des Lebens in der Dimension des Geistes“ bezeichnet. Damit wird sie nicht als eine selbständige Funktion angesehen, sondern als „eine Qualität der beiden anderen Funktionen des Geistes“, nämlich der Moral und der Kultur8. Diese beiden Funktionen gehören mit der Funktion der Religion unmittelbar und essentiell zusammen. In der Moralität und in der Kultur stecken also zwei der drei Funktionen der Dimension des Geistes. Die dritte liegt, wie gesagt, in der Religion und damit in der Möglichkeit des menschlichen Lebens, sich unablässig selbst zu transzendieren. Religion ist als eine
4 Vgl. anders: Ratschow, Carl Heinz, Die Religionen, Gütersloh 1979, S. 46 ff., vgl. Tillich, Paul, Gesammelte Werke Bd. V, Stuttgart 1964, S. 51 ff. Systematische Theologie Bd. III, Stuttgart 1966, S. 118 ff., 169. 5 Vgl. Tillich, Paul, Systematische Theologie Bd. III, Stuttgart 1966, S. 119. 6 Tillich, Paul, S. Th. Bd. III, Stuttgart 1966, S. 167. 7 Vgl. Ratschow, Carl Heinz, (1979), S. 56, und Tillich, Paul, S. Th. Bd. III, (1966), S. 120. 8 Tillich, Paul, S. Th. Bd. III, Stuttgart (1966), S. 118.
1. Der Religionsbegriff in der Theologie Paul Tillichs
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Qualität der anderen beiden anzusehen. Die Religion ist damit keine Funktion des menschlichen Geistes, sondern sie antizipiert die Gegenwart des Geistes. Zum 4. Religionsbegriff: Tillich subsumiert die mit den Religionsbegriffen verbundene Kritik an der Kirche und den Religionen unter der Vorstellung vom „Protestantischen Prinzip“. Dieses steht hinter allen Ausprägungen protestantischer, ja sogar hinter jeder christlichen Kirchlichkeit. Das Protestantische Prinzip überwindet die Religion; denn es „enthält den göttlichen und menschlichen Protest gegen jeden absoluten Anspruch, der für eine bestimmte Wirklichkeit erhoben wird“9. Der Begriff steht für die „wahre Beziehung zwischen dem Unbedingten und dem Bedingten“ und damit zwischen Gott und dem Menschen. Hierin zeigt sich die Rechtfertigungswirklichkeit und damit die Kraft des Neuen Seins. In ihm wird die „Gestalt der Gnade“ offenbar, in der das Neue Sein wirksam ist. Das Protestantische Prinzip versucht, die Religion in ihrer geschichtlichen Gestalt, das Christentum eingeschlossen, im Gegenüber zum Neuen Sein zu überwinden. Für den christlichen Glauben ist dieses in Jesus als dem Christus anschaubar geworden10. Im Christentum widerspricht Jesus Christus als Träger des Neuen Seins damit der Entfremdung. Nach Paul Tillich beruht jede Religion auf Offenbarung. Wenn der Mensch versucht, von sich aus Gott zu erreichen, kann er sich nur auf eine dämonische Religion berufen. Die Vertreter der Offenbarungsreligionen können den Religionsbegriff als Dimension des Geistes nicht mittragen. Sie, die den Offenbarungsgedanken in den Religionen verwirklicht sehen wollen, lehnen den ersten Religionsbegriff ab. Dabei aber wird übersehen, wie anfangs gesagt, dass schließlich jede Religion für Tillich auf Offenbarung beruht. Umgekehrt muss sich jede Offenbarung in der Form der Religion ausdrücken11. Damit bleibt zwischen dem weiten und dem engen Religionsbegriff ein Gegensatz bestehen. Der engere Religionsbegriff geht von der Heiligkeit der Religionen aus und scheidet sich von dem aus der Qualität der Moral und Kultur gewonnnen. Tillich verweist auf den Vorgang, in dem die Selbst-Transzendierung zu einer „Eigengestalt“ wird12. Die Religionen können nämlich auch eine „Sondersphäre“ (z. B. in Form der Kirche) des Geistes sein13. Darin kann sich sogar der ,christologische‘ Religionsbegriff zeigen. Für ihn sind nämlich die Religionen und damit auch das Christentum Manifestationen des Neuen Seins.
9 Tillich, Paul, Protestantisches Prinzip und proletarische Situation, in Gesammelte Werke, Bd. VII, Stuttgart 1962, S. 86. 10 Tillich, Paul, Gesammelte Werke Bd. VII, Stuttgart 1962, S. 82, vgl. Ratschow, Carl Heinz, Die Religionen, Gütersloh 1979, S. 80. 11 Vgl. Tillich, Paul, S. Th. Bd. III, (1966), S. 127. 12 Vgl. Ratschow, Carl Heinz, Die Religionen, Gütersloh 1979, S. 58, vgl. Tillich, Paul, S. Th. Bd. III, S. 118. 13 Tillich, Paul, Systematische Theologie Bd. III, Stuttgart 1966, S. 118.
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4. Kap.: Die mündige Gesellschaft
Das Verlangen nach dem Neuen Sein als einer Tat Gottes ist in allen Religionen zu finden. Aber zwischen den Religionen (einschließlich des Christentums) und dem Neuen Sein existiert eine Trennungslinie14. Im Christentum ist Christus der Träger des Neuen Seins. Der christologische Bezug ist also für alle Religionen umfassend ausgebaut. Aber es geht Tillich in seiner rein theoretischen theologischen Überlegung um die Überwindung der Religion als einer geschichtlichen Gestalt. Kirche und Religion werden also aufgrund seines Ansatzes negiert.
2. Karl Barths Lehre von der wahren Religion Karl Barth versteht die Offenbarung als die Aufhebung der Religion. Nach ihm ist die Offenbarung die richtende und versöhnende Gegenwart Gottes. In ihr wird der Versuch des Menschen deutlich, „sich vor einem eigensinnig und eigenmächtig entworfenen Bilde Gottes selber zu rechtfertigen“15. Mit der Übernahme der Lehre von der assumptio carnis (der Einheit von Gott und Mensch in Jesus Christus) aus der Christologie und der sinngemäßen Anwendung will er von einer Aufhebung der Religion sprechen16. Die Offenbarung wird danach die Religion so annehmen, wie die Gottheit Christi die Menschheit angenommen hat. Als Zentrum der Barth’schen Überlegungen gilt, dass Gottes Offenbarung die Aufhebung der Religion ist17. Wenn die Menschen Gottes Offenbarung als Offenbarung erkennen, stoßen sie auf einen besonderen Bereich „menschlicher Zuständlichkeit, Erfahrung und Tätigkeit und damit auf das „Problem der menschlichen Religion“18. Gottes Offenbarung kann zwar von ihm aus als eine „Religion unter „Religionen“ beschrieben werden19. Aber es geht dabei nicht um die Beantwortung der Frage, ob Gottes Offenbarung auch als menschliche Religion zu verstehen ist. Würde man das leugnen, würde das zugleich eine Leugnung der Offenbarung bedeuten. Er steht vor der Frage, ob das, „was wir über Wesen und Erscheinung der Religion zu wissen meinen, zum Maßstab und Erklärungsprinzip für Gottes Offenbarung zu dienen hat“ oder aber, ob die Religionen (auch die christliche!) von dem her zu interpretieren ist, was von Gottes Offenbarung her gesagt wird20. Jedwede Religion ist von der Offenbarung her zu interpretieren21. Die Religion ist „die Angelegenheit des gottlosen Menschen“22. Darum ist nach Barth Religion Unglaube. 14 15 16 17 18 19 20
Vgl. Ratschow, Carl Heinz, Die Religionen, Gütersloh 1979, S. 53. Barth, Karl, Die Kirchliche Dogmatik Bd. I, 2 Zürich 41948, S. 304. Barth, Karl, K.D. Bd. I, 2, (41948), S. 324. Vgl. Barth, Karl, K.D. Bd. I, 2 (41948), S. 304. Barth, Karl, K.D. Bd. I, 2, S. 305 f. Barth, Karl, K.D. Bd. I, 2, S. 308. Barth, Karl, K.D. Bd. I, 2, S. 309.
2. Karl Barths Lehre von der wahren Religion
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Diese Aussage ist nur von der Offenbarung her zu verstehen, die Gottes Selbstdarbietung und Selbstdarstellung ist. Als solche ist sie die Tat, durch die Gott „den Menschen aus Gnade und durch Gnade mit sich selbst versöhnt“23. Im Gegensatz zur göttlichen Offenbarung, in der Gott der Herr sein will und darum auf den Menschen zugeht, versucht der Mensch von sich aus in der Religion Gott zu erkennen. Würde der Mensch glauben, würde er sich etwas schenken lassen24. In der Religion nimmt sich der Mensch „etwas“. Für Barth ist die christliche Religion die „wahre Religion“, und die Kirche ist die Stätte dieser „wahren Religion“25. Sie lebt durch Gnade und von der Gnade. Aber die Kirche ist nicht qua Kirche der Ort der wahren Religion, sondern weil die Kirche von der Gnade der Offenbarung lebt26. Man kann nämlich theologisch nur von Jesu Christi her über die Religion reden. Bei dem Verhältnis zwischen dem Namen Jesus Christus und der christlichen Religion handelt es sich um einen Akt göttlicher Schöpfung, Erwählung, Rechtfertigung und Heiligung27. Zwar kann man nach Barth auch anders von den Religionen sprechen. Aber das geschieht dann nicht mehr unter ernsthaften offenbarungstheologischen Gesichtspunkten. In der Theologie ist allein von der Offenbarung her über die Religion zu reden28. Daher ist nur von ihr aus über sie zu urteilen. Die Offenbarung ist dabei als das souveräne Handeln Gottes am Menschen zu verstehen – oder sie ist keine Offenbarung. Als Religion ist das Christentum eine Form der Selbstrechtfertigung. Indessen versucht sie, diese mit Hilfe der Offenbarung zu überwinden. Nur weil und soweit die christliche Religion in Beziehung zur Gnade der Offenbarung gesetzt werden muss, kann sie als wahre Religion bezeichnet werden. Und nur darum gilt die Aussage, dass Religion Unglaube ist29. Tillich und Barth kommen in der Behandlung der Frage nach den Religionen zu einem vergleichbaren Ergebnis30. „Das Christentum ist als Religion wie alle Religion ein Versuch von Selbsttranszendierung (Tillich) oder Selbstrechtfertigung (Barth) und als solcher vom Geist oder vom Neuen Sein oder von der Offenbarung her zu überwinden“31. Beide Theologen weisen also eine religions21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31
Ebenda. Barth, Karl, K.D. Bd. I, 2, S. 327. Barth, Karl, K.D. Bd. I, 2, S. 335, vgl. S. 328. Barth, Karl, K.D. Bd. I, 2, S. 329 f. Barth, Karl, K.D. Bd. I, 2, S. 325 in Verbindung mit S. 356 f. Barth, Karl, K.D. Bd. I, 2, S. 325. Barth, Karl, K.D. Bd. I, 2, S. 379 ff. Vgl. Barth, Karl, K.D. Bd. I, 2, S. 321 f. Vgl. Barth, Karl, K.D. Bd. I, 2, S. 324 f. Vgl. Ratschow, Carl Heinz, (1979), S. 79 f. Ratschow, Carl Heinz, (1979), S. 79.
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4. Kap.: Die mündige Gesellschaft
kritische Haltung auf. Die christliche Kirche ist Religion unter den Religionen. Was für Tillich etwa das Denken in Gestalt des „Protestantischen Prinzips“ darstellt, tritt bei Barth in den Überlegungen zur „wahren Religion“ auf. Tillich unterscheidet das Neue Sein oder den göttlichen Geist von der religiösen Wirklichkeit. Für Barth ist zwar die Offenbarungsreligion an die Offenbarung, aber Gottes Offenbarung keineswegs an die Offenbarungsreligion gebunden32. Trotz eines grundverschiedenen Modells theologischen Denkens kommen beide Theologen zu einer deutlichen Konvergenz in der theologischen Behandlung der Religionen.
3. Gotteswirklichkeit und Weltwirklichkeit Karl Barth hat 1948 in der ersten Auflage des 2. Bandes seiner „Kirchlichen Dogmatik“, aus dem seine Ansichten über die Religion gewonnen wurden, auch von der abendländischen Menschheit gesprochen, die mündig gewordenen ist. Er stellt fest, dass der moderne Mensch sich selber als Universum fühlt. Davon scheint nach der tausendjährigen Herrschaft des Christentums nicht viel mehr als ein bisschen „Monotheismus, Moral und Mysterium“ übrig geblieben zu sein33. Die Säkularisierung der Kultur hatte bereits stark zugenommen. Aber dem stand damals das neue Christentum gegenüber. Dieses bringt „die Gnade Jesu Christi in ihrer radikalen, kritischen Kraft wieder zum Sprechen“34. Nur in dieser Form, meint Barth, könnte es für die nichtchristlichen Religionen und den Säkularismus gefährlich werden. Um die Mündigkeit der Welt hat sich im vergangenen Jahrhundert am stärksten wohl Dietrich Bonhoeffer bemüht. Er verstand die mündig gewordene Welt vom Evangelium und damit von Jesus Christus her. Dieser ist das Ende der Religion, formuliert er wie sein Lehrer Karl Barth. Denn die Christen leben in der Welt unter dem Vorbehalt des von Hugo Grotius formulierten Gedankens „etsi deus non daretur“ (auch wenn es Gott nicht gäbe)35. Die Menschen haben also zu lernen, mit einem Leben ohne Gott auszukommen. Dieser lässt sich in Jesus Christus aus der Welt herausdrängen. Allein der am Kreuz leidende und sterbende Gott kann dem Menschen helfen. Denn schließlich gilt: „Der Gott, der mit uns ist, ist der Gott, der uns verlässt (Markus 15,34)“36. Gott ist „ohnmächtig und schwach in der Welt und gerade und nur so ist er bei uns und hilft uns“37. 32 33 34 35 36 37
Vgl. Barth, Karl, K.D. Bd. I, 2 Zürich 41948, S. 360. Barth, Karl, K.D. Bd. I, 2, S. 367. Barth, Karl, K.D. Bd. I, 2, S. 367. Bonhoeffer, Dietrich, Widerstand und Ergebung, Hamburg 1974, S. 177. Bonhoeffer, Dietrich, (1974), S. 178. Ebenda.
3. Gotteswirklichkeit und Weltwirklichkeit
79
Bonhoeffer bewegt die moderne Frage, was das Christentum für den gegenwärtigen Menschen bedeutet, und wer Christus für die Welt ist. Das führt konsequent auch zu der Frage, wer Christus für die Religionslosen ist, zumal Bonhoeffer glaubt, dass die Welt einer Religionslosigkeit entgegen geht38. Die Zeit der Religion ist vorüber. In diesem Zusammenhang versucht er, die Frage nach einem religionslosen Christentum neu zu stellen. Um zu einer Lösung zu kommen, deutet er den Terminus einer „nicht-religiösen Interpretation biblischer Begriffe“ aus der Präsenz Christi in der Welt39. Dahinter steht für ihn die Deutung aus einer religionslosen oder weltlichen Perspektive. Hinter der nicht-religiösen Interpretation biblischer Begriffe sieht er also eine weltliche Interpretation40. Wir sprechen schließlich auch weltlich von Gott. Aber die nicht-religiöse Interpretation will vor allem Ernst mit der Menschwerdung Gottes in Jesus Christus machen. Sie ist der Schlüssel für eine weltliche Interpretation. Denn das Christliche gibt es nur im Weltlichen. Darum kann die Menschwerdung letztlich für eine christologische Interpretation biblischer Begriffe stehen. Sie basiert einzig und allein auf dem Ereignis des Mensch gewordenen und gekreuzigten Gottes in Jesus Christus. So löst sich der scheinbare Widerspruch der nicht-religiösen Interpretation biblischer Begriff zwischen einer weltlichen und einer christlichen Interpretation auf. Allein in Christus versteht der Glaube die mündig gewordene Welt erst richtig. Aber andererseits hat sie mit den falschen Gottesvorstellungen der Religion aufgeräumt und den Blick für den Gott der Bibel frei gemacht. Die Menschwerdung Gottes in Jesus Christus hat dafür die Grundlage geliefert. Die Forderung nach einer weltlichen Interpretation ist bei Bonhoeffer alles andere als eine Anpassung an eine mündig gewordene Welt. Vielmehr hat der Gott am Kreuz die Gottlosigkeit erlitten. Nur als der leidende Gott kann er dieser Welt weiterhelfen. Letztlich liefert die Kreuzestheologie die Begründung dafür, dass die nicht-religiöse Interpretation biblischer Begriffe in einem christologischen (und nicht in einem rein weltlichen) Sinn zu verstehen ist. In seiner „Ethik“ führt er aus, dass es nur darum gehe, „an der Wirklichkeit Gottes und der Welt in Jesus Christus heute teilzuhaben, und das so, dass ich die Wirklichkeit Gottes nie ohne die Wirklichkeit der Welt und die Wirklichkeit der Welt nie ohne die Wirklichkeit Gottes erfahre“41. Solange man aber Christus und die Welt als zwei zu unterscheidende Räume erkennt, bleibt dem Menschen nur übrig, sich jeweils dem einen Raum zuzuerkennen. Dann ist sein Ziel entweder „Christus
38 39 40 41
Bonhoeffer, Bonhoeffer, Bonhoeffer, Bonhoeffer,
Dietrich, Dietrich, Dietrich, Dietrich,
(1974), S. 132 f. (1974), S. 172. (1974), S. 174. Ethik, München 71949, S. 208.
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4. Kap.: Die mündige Gesellschaft
ohne die Welt oder die Welt ohne Christus“42. Oder aber es ist Absicht des Menschen, in den beiden Räumen zu stehen. Für Bonhoeffer bleibt nur die eine Wirklichkeit übrig, und das ist die in Christus geoffenbarte Wirklichkeit, also „die Gotteswirklichkeit in der Weltwirklichkeit“43. Es geht nicht um zwei Räume, sondern nur um den einen, der in Christus geoffenbart ist. Aus diesem Grunde versteht solches Raumdenken „die Begriffspaare weltlich-christlich, natürlich-übernatürlich, profan-sakral, vernünftig-offenbarungsgemäß als letzte statische Gegensätze“ und „verkennt die ursprüngliche Einheit dieser Gegensätze in der Christuswirklichkeit“44. In der Gottes- oder Christuswirklichkeit ist die Welt das Natürliche, das Profane oder die Vernunft „von vornherein in Gott hineingenommen“, und all das „existiert nicht ,an und für sich‘, sondern es hat seine Wirklichkeit nirgends als in der Gotteswirklichkeit, in Christus“45. Das Christliche gibt es nur im Weltlichen. Schließlich ging die Gotteswirklichkeit in Christus in die Weltwirklichkeit ein. Und es gibt nach Bonhoeffer nichts Weltliches, das nicht in Jesus Christus von Gott angenommen wurde. In der gegenwärtigen Welt ist – ähnlich wie bei Barth – die christliche Religion die (wahre) Form der Religion. Die Vorstellungen der Menschen sind nach Bonhoeffer radikal religionslos, denn sie beten nichts mehr an. Aber heute – also in der späten postmodernen Zeit – hat sich die Religionslosigkeit geändert. Ein Ende der Religionen ist nicht gekommen, und die Menschen gehen auch keiner Religionslosigkeit entgegen. Im Gegenteil, allgemeines religiöses Denken findet sogar in säkularen Glaubenszeugnissen seinen Niederschlag. Heute stellen die Religionen – in welcher Art auch immer – wieder eine die Wirklichkeit des menschlichen Lebens bestimmende Macht dar. Die grundsätzliche Abwertung der Religionen gegenüber der Offenbarung des Wortes Gottes oder des Neuen Seins, wie sie uns bei Barth oder Tillich begegnete, sind dennoch nicht mehr zeitgemäß. Die Gesellschaft ist in einer mannigfachen Weise wieder religiös geworden, oder sie wird neu religiös gedeutet. Manche Theologen zeigen immer noch eine religionskritische Haltung.
42 43 44 45
Bonhoeffer, Bonhoeffer, Bonhoeffer, Bonhoeffer,
Dietrich, Dietrich, Dietrich, Dietrich,
(71949), (71949), (71949), (71949),
S. S. S. S.
210. 210. 211. 211.
5. Kapitel
Wertewandel im Zusammenleben der Menschen Die Werte-Diskussion ist historisch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts aus der Ökonomie in die Moralphilosophie gelangt. In der Ökonomie weist ,Wert‘ auf die Einschätzung von Gütern hin, die speziell auf dem Markt angeboten werden. In diesem zeigen sich die Werte als Nachfrage. In der Bewertung spiegelt sich also der Wert eines Gutes wider1, aus dem sich der Preis ergibt. Wert ist also zunächst einmal ein ökonomischer Begriff, in dem sich eine Werte-Hierarchie darstellt. Man spricht von unterschiedlichen Werten, etwa vom Boden-, Gebrauchs-, Tausch- und Mehrwert. In der protestantischen Theologie wird im allgemein nicht in Wertbegriffen gedacht. Denn in ihr geht es nicht um die Anerkennung von Werten, sondern um die Verkündigung des im Evangelium verkündeten Heils. Und dieses befreit den Menschen aus der Versklavung durch andere Werte und deren Systeme. Aber auf allen Lebensgebieten geht es um Werte und um den Umgang mit ihnen. Dabei hat die Unklarheit über den Wertbegriff immer stärker zugenommen. Ein Wandel der Werte setzte spätestens in der Mitte der sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts ein. Er wurde freilich von der Öffentlichkeit als ein Prozess der gesamten Gesellschaft erst Jahrzehnte später erkannt. Heute steht die Diskussion um den Wandel der Werte in der ethischen Diskussion keineswegs allein. Viele Kulturgüter, Handlungsweisen und Normen sind davon betroffen.
1. Wertekonstanz und Wertewandel Zwar beruft sich die Allgemeinheit auf objektive Werte. Aber der Begriff bleibt trotzdem ungenau, weil die Werte von der geschichtlichen Entwicklung abhängig und darum auslegbar sind. Werte sind nicht für alle Zeiten fixiert. Sie unterliegen vielmehr der geschichtlichen Entwicklung und müssen – wie die Normen – dieser angepasst werden. Es ist deshalb nur von Werten zu reden, die sich in der Geschichte als veränderbar erweisen. Werte und Normen zeigen sich zwiespältig. Sie stellen keine objektiven oder zeitlosen Größen dar. Darum sollte in der Ethik eher von einer Güterlehre als von einer Wertordnung ausgegangen werden2. 1
Vgl. Kramer, Rolf, (2002), S. 18 f.
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5. Kap.: Wertewandel im Zusammenleben der Menschen
Die Lehre von den Gütern hat bei Aristoteles (384–322 v. Chr.), dem Schüler Platons, einzusetzen. Für ihn ist ein Gut etwas, wonach alles strebt (ou pánt’ ephíetai)3. Als oberstes Gut gilt das Gut, das um seiner selbst willen erstrebt wird. Glück oder die Glückseligkeit (eudaimonía) gilt als das höchste Gut. Über dieses Ziel hinaus gibt es kein anderes. Es ist die vollständige Erfüllung menschlichen Strebens dar und besitzt den Charakter der Selbstgenügsamkeit. Darum ist es das Endziel allen Handelns und stellt sich als „Vollendetes und sich selbst Genügendes“ (autárkeia) dar4. Der christliche Glaube oder seine Theologie hat dieses höchste Gut mit dem Reich Gottes oder dem ewigen Leben gleichgesetzt. Erst in der Neuzeit wurde der Gedanke des Glücks aus der Antike wiederhergestellt. Schon Thomas Hobbes (1588–1679) hatte eine Güter- oder Wertlehre aufgestellt. Werte sind subjektiv auf das Subjekt hin – zu beurteilen. Es gibt darum für ihn keine absoluten Werte, aber trotz dieser Relativität der Werte konnte Hobbes von einem allgemeinen Wert sprechen. Diesen erkannte er in der Selbsterhaltung. Sie galt ihm als das oberste Prinzip. Denn jedes Individuum strebt nach der Erhaltung seiner selbst. Aber Hobbes kam gemäß vernünftiger Erwägungen nicht allein zu einem individuellen Erhaltungsstreben, sondern stellte einen Krieg aller gegen alle fest, der zwangsläufig entsteht, weil den Menschen ein unersättliches Machtstreben zueigen ist. Erst nach Verzicht dieses individuellen Machtstrebens und der Übertragung der souveränen Macht auf die gesellschaftliche Instanz, also auf den Staat, kann letztlich Sicherheit und Frieden gewährt werden. Im Utilitarismus sollte als höchstes Gut das Wohl der Menschheit (Jeremy Bentham, 1748–1832) oder das Glück des einzelnen Gliedes (John Stewart Mill, 1806–1873) verwirklicht werden. Bei beiden Utilitaristen geht es um Ethik, also um das Realisieren mitmenschlicher Beziehung5. Der Utilitarismus wurde zu einer ethischen Grundforderung. Dagegen wäre ein reines Nutzenkalkül nichts anderes als eine Verneinung der Ethik. Allerdings können Egoismus oder Hedonismus ebenso wie Altruismus oder Nicht-Hedonismus Kennzeichen des Utilitarismus sein, ohne dass der Hedonismus als Oberbegriff für den Utilitarismus gilt. Denn der Utilitarismus ist eine Ethik des Wohlwollens und des Altruismus, indem das Höchstmass an Glück für die ganze Menschheit oder für jedes einzelne Glied der Gesellschaft erstrebt wird. Damit muss aber beispielsweise der Dienst am Nächsten oder die besondere Verantwortung des einzelnen für sein Handeln außer Betracht bleiben. Den Fehlstrukturen des Utilitarismus versuchte die Wertethik mit Hilfe von objektiven Werten zu entgehen. 2 Vgl. Lange, Dietz, Ethik in evangelischer Perspektive, Göttingen 1992, S. 270, vgl. 266 ff. 3 Aristoteles, Nikomachische Ethik, übers. Günther Bien, Hamburg 1985, 1094a, 3 u. ö. 4 Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1097b, 21 ff. 5 Vgl. Miskotte, Kornelius Heiko, Hedonismus, in: Die Religion in Geschichte und Gegenwart Bd. 3, Tübingen 31959, Sp. 112.
1. Wertekonstanz und Wertewandel
83
Nach einer Wertekonstanz in den fünfziger Jahren kann man etwa seit den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts von einem Wandel der Werte-Hierarchie sprechen6. Dieser hat nicht etwas mit einer neuen Bewertung zu tun. Eine solche Veränderung darf nicht allein unter moralischen oder ethischen Gesichtspunkten gesehen werden. Zwar sind auch solche Überlegungen anzustellen. Aber die Entwicklung ist vielmehr ein Bestandteil eines vielschichtigen und differenzierten Prozesses in der gesellschaftlichen Entfaltung. In der Gegenwart geht es bei der Diskussion über die Wertorientierung der Menschen auch um den Begriff der Tugend. Es werden besonders die Primärtugenden wie Weisheit, Mäßigung, Klugheit, Tapferkeit oder Gerechtigkeit, die alle anderen Tugenden vereinen, ins Auge gefasst. Komplementär dazu werden Güter wie Gesundheit, Wohlfahrt oder Sicherheit genannt. Die Tugend ist nichts anderes als ein Gut. Die Tugenden lassen sich mit unterschiedlichen Zielsetzungen verbinden. Das wird sichtbar bei den Sekundärtugenden wie Fleiß, Pünktlichkeit, Pflichterfüllung oder Aufrichtigkeit, deren Einhaltung etwa in der Wirtschaft von besonderer Bedeutung ist. Die Einschätzungen von Tugenden und damit von Werten ändern sich im Laufe der Zeit. Die Werteskala von Tugenden muss gemäß der gesellschaftlichen Entwicklungen ständig neu aufgestellt werden. So schreibt man den Wert der Tapferkeit groß, wenn sich der Staat ihrer zum Überleben bedient. In ruhiger Zeit hat sie allemal in bestimmten Gruppen, z. B. bei der Feuerwehr oder Polizei ihren Platz. Die Tugend der Mäßigung bzw. der Mäßigkeit hat in so genannten Überflussgesellschaften einen anderen Stellenwert als zur Zeit eines Mangels. Im einen Fall ist die Beschränkung eine Frage, die für die Gesundheit wichtig ist, im anderen stellt sie eine zwingende allgemeine Notwendigkeit dar. Die abendländisch-europäische Gesellschaft hat also im Laufe ihrer Geschichte festgestellt, dass die Werte sich aufgrund ihrer Entwicklung als Tugenden oder Güter ändern, auch wenn ihnen eine gewisse Beständigkeit eigen ist. Die jüngere Vergangenheit hat eine Entwicklung aufgezeigt, die Gütern und Tugenden ein schnelleres Verfallsdatum zuerkannt hat. Das bringt zugleich eine Veränderung in der Werte-Hierarchie mit sich. Aber geblieben ist die Notwendigkeit, auch manche Zeit hindurch als altmodisch und überholt geltenden Werte, wieder hoch zuschätzen. Als Beispiele für die in der Diskussion feststehenden Werte können Begriffe wie Friede, Gerechtigkeit, Ökologie, Solidarität oder Kultur genannt werden. Sicher werden einzelne Fakten und Entwicklungen im Bereich der Werte unterschiedlich eingeschätzt. Aber auch der Grundwert in diesem Kanon steht keinesfalls unumstritten fest. Das lässt sich an der Frage erkennen, in wieweit etwa der Umweltschutz eingeschränkt werden muss, wenn dieses die ökonomischen Fakten zur Erhaltung von Arbeitsplätzen fordern7. 6 Vgl. Klages, Helmut, Traditionsbruch als Herausforderung, Frankfurt/M., New York 1993, S. 45.
84
5. Kap.: Wertewandel im Zusammenleben der Menschen
Der Säkularisierungsprozess hat in der Gesellschaft zu einem tiefgreifenden Wandel der einzelnen Werte und Wertvorstellungen geführt. Für diese Entwicklung hat entscheidend die Forschung des Sozialwissenschaftlers Ronald Inglehart beigetragen. Er hat auf der Grundlage der von Abraham Maslow aufgestellten berühmten Bedürfnispyramide einen Wertewandel in den ökonomisch bedingten Bereichen festgestellt. Nach Maslow ist die Bedürfnishierarchie wie eine Pyramide strukturiert, an deren Basis sich die physiologischen Bedürfnisse, also die physische Sicherheit und Absicherung, befinden. Ihr schließen sich aufsteigend die Bedürfnisse nach Zugehörigkeit und Liebe und die nach sozialer Achtung an, bis sie endlich in den Bedürfnissen der Selbstverwirklichung endet. Im Zusammenhang mit dieser Bedürfnispyramide hat Maslow eine zweite These, die Sättigungsthese, aufgestellt. Nach dieser Überlegung taucht das jeweils nächst höhere Bedürfnis immer dann auf, wenn das untere gestillt ist. Inglehart zieht die Bedürfnishierarchie von Maslow zu Gruppen zusammen und nennt die einen die „materialistischen Bedürfnisse“. Zu ihr zählt er wirtschaftliches Wachstum, Förderung des technischen Fortschritts, Steigerung des Gewinns oder die Stabilisierung der Gesellschaftsstruktur. Die anderen Bedürfnisse bilden die zweite Gruppe. Zu ihr sind Zuneigung, Liebe, soziale Achtung und Selbstverwirklichung, die Erhaltung der Umwelt, die Entwicklung der Dritten Welt, die Sicherung des Arbeitsplatzes oder die Förderung der Mitarbeiter zu rechnen. Er sind das die „post-materialistischen Werte“. In seiner Analyse hat Inglehart für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg gezeigt, dass in dem Maße, in dem die materiellen Bedürfnisse weitgehend befriedigt wurden, ein Streben nach den post-materialistischen Werten, also nach der individuellen Selbstverwirklichung, zugenommen hat. Die Werte ändern sich in der Rangfolge, je weiter z. B. die materialistischen Grundbedürfnisse befriedigt werden. An die Stelle der Sättigungsthese von Maslow, nach der das nächst „höhere“ Bedürfnis, das vorher nur begrenzt aufgetaucht war, erst befriedigt wird, wenn das nächste „untere“ befriedigt ist, tritt nun nach Inglehart die Knappheitsthese. Diese besagt, dass der Übergang von den materialistischen zu den post-materialistischen Werten dann eintritt, „wenn das Niveau der von den Menschen erlebten ökonomischen und physischen Sicherheit das Wohlstandsniveau erreicht und überschreitet“8. Natürlich verschwinden die Werte nicht dadurch, dass ihre Stelle in der Hierarchie verändert wird. Aber sie verschieben sich im Laufe der Entwicklung einer Gesellschaft. Nach Helmut Klages zeichnete sich in den fünfziger Jahren in 7
Vgl. Kramer, Rolf, (2002), S. 57 Anm. 2. Klages, Helmut, Die gegenwärtige Situation der Wert- und Wertewandelforschung – Probleme und Perspektiven, in: Helmut Klages u. a., Werte und Wandel, Frankfurt/M., New York 1992, S. 14. 8
1. Wertekonstanz und Wertewandel
85
Deutschland die Werte-Entwicklung mit „Erziehungswerten“ ab. Es bildete sich besonders „Selbständigkeit und freier Wille“ heraus. Daran schloss sich in der Hierarchie „Ordnungsliebe und Fleiß“ an. Dann folgte „Gehorsam und Unterordnung“. In den achtziger Jahren haben sich in dem Wertekomplex die so genannten „Selbstentfaltungswerte“ gegenüber den „Pflicht- und Akzeptanzwerten“ – also Gehorsam und Unterordnung – durchgesetzt und damit Selbständigkeit gegenüber Ordnungsliebe und Gehorsam betont9. Die Pflicht- und Akzeptanzwerte sind mit einer hohen Vertrauensbereitschaft verbunden. Mit der Entwicklung der Selbstentfaltung trat ein Vertrauensverlust ein, der sich bis zu einer Misstrauensneigung steigerte. In ihr herrschten dann Selbstentfaltungswerte10. Ihr Vordringen hat die Akzeptanz der Amts-Autoritäten von Personen und Institutionen stark reduziert. Das zeigt sich zum Beispiel an dem Vertrauensverlust gegenüber Regierungsstellen, der Bundeswehr und anderen Institutionen und auch gegenüber den Kirchen. Andererseits aber hat sich neues Vertrauen aufgebaut, besonders gegenüber den Gerichten, etwa gegenüber dem Bundesverfassungsgericht. Man strebt also nach einer Emanzipation gegenüber Autoritäten und sucht gleichzeitig nach einer Selbstverwirklichung. Diese Veränderungen haben die westlichen Demokratien stark beeinflusst. Sie sind nicht mehr rückgängig zu machen, sondern markieren vielmehr eine fortgeschrittene Gesellschaft11. In der traditionellen Gesellschaft war das Leben des einzelnen Mitgliedes vom Anfang bis zum Ende – also von der ,Wiege bis zur Bahre‘ – geregelt. Die Familie oder andere soziale Größen (Kasten, Organisationen oder Institutionen) bestimmten den Ablauf des Lebens. Für eigenwillige individuelle Lebensentscheidungen war wenig Platz. Die „gute“ Familie bedeutete alles. In der Gegenwart aber werden in unseren Gesellschaften stattdessen die persönlichen Freiheiten höher bewertet als die Zugehörigkeit zu einem „guten Haus“. Man ist „Wer“, weil man den Beruf, den Partner, die Schule frei wählen und über sich bzw. sein Leben entscheiden kann. Aber diese Entwicklung hat in der Gesellschaft eine Vereinzelung zur Folge. Die Großfamilien werden auseinandergerissen. Singles machen bereits fünfzig Prozent aller Haushalte in den Großstädten aus. Das bedeutet Vereinsamung und gleichzeitig neue Lebens- und Wohngemeinschaften. Es entstehen neue Einheiten, ,Patschworkfamilien‘, „in denen niemand mehr weiß oder Wert darauf legt, wer von wem abstammt und wer mit wem verwandt ist, sondern nur darauf, wer mit wem zusammenlebt oder wer bei wem wohnt“12. 9 Vgl. Klages, Helmut, Traditionsbruch als Herausforderung, Frankfurt/M., New York 1993, S. 25 ff., vgl. Huber, Wolfgang, (1998), S. 78. 10 Vgl. Klages, Helmut, (1993), S. 130. 11 Vgl. Klages, Helmut, (1993), S. 132. 12 Moltmann, Jürgen, Gott im Projekt der modernen Welt, Gütersloh 1997, S. 83.
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5. Kap.: Wertewandel im Zusammenleben der Menschen
Aus christlicher Sicht stellt sich die Frage, ob nicht trotz allem von einer prinzipiellen Wertbeständigkeit zu sprechen ist13. Für den so denkenden ist die christliche Ethik dann allerdings keine diskursive Ethik. Denn die biblische Überlieferung enthält einen begrenzten, aber doch fixierten Wertekanon, der allgemein feststeht. Nach den biblischen Aussagen sind die den Menschen kennzeichnenden Werte in seiner Gottesebenbildlichkeit, die allen Menschen zukommt, begründet. Zwar gibt es danach nicht eine Gleichheit aller Menschen, wohl aber eine Gleichheit vor dem Gesetz. Die Unterschiede zwischen den Menschen müssen durch- und ausgehalten werden. Aufgrund der Ebenbildlichkeit aller Menschen sind ihnen Menschenwürde, Freiheit und Unantastbarkeit eigen. Deshalb ist es richtig, eher einer Wertevielfalt als einem statischen Wertekanon Rechnung zu tragen. Aber dann ist es angebracht, in der menschlichen Werte-Hierarchie statt von einem Relativismus von einem Relationismus zu sprechen14. In der Ethik gilt es, nicht zwischen gut und schlecht zu unterscheiden. Vielmehr muss innerhalb des Guten oder des Schlechten differenziert werden. Oft kann nur unter den guten Wegen der relativ beste oder richtige herausgesucht werden. Oder es muss der Weg gefunden werden, der am wenigsten schlecht ist. Auch im Blick auf die christliche Ethik ist zu fragen, ob die Auswahl durch Nächstenliebe, also quasi im Dienste der Liebe geschehen kann. Kann Liebe in einer durch und durch vernunftbezogenen Frage – wie etwa der Bioethik – zum Maßstab des Handelns werden? Die Zeitdiagnostik will die Wertekrise oder den Werteverfall aufzeigen. Sie muss wahrnehmen, dass sich gegenüber den überlieferten Werten neue ergeben und/oder sich die alten verändern. Die Ökologie wird heute anders wahrgenommen als früher. Ehe und Familie haben einen gegenüber den früheren Jahrhunderten anderen Stellenwert erhalten. Mit Recht wird darauf verwiesen, dass Wertekrisen zugleich Vertrauenskrisen sind15. Gefährlich ist es immer, wenn Werte verabsolutiert und als letzte Werte „verkauft“ werden. Sie sollen dem Leben dienen und es schützen und nicht einen Anspruch auf Heilserwartung aufbauen. Auch die christliche Botschaft kann nicht auf überkommenen Werten ihre Heilsverkündigung aufbauen. Sie würde sonst dem Gesetz und nicht dem Evangelium die Heils-Vermittlung zuschreiben. Bereits 1979 haben die „Evangelische Kirche in Deutschland und die Deutsche Bischofskonferenz“ der katholischen Kirche eine „gemeinsame Erklärung“ 13 Vgl. Kramer, Rolf, Das Unternehmen zwischen Globalisierung und Nachhaltigkeit, Berlin 2002, S. 18 ff. 14 Honecker, Martin, Einführung in die Theologische Ethik, Berlin u. a. 1990, S. 23. 15 Vgl. Honecker, Martin, (1990), S. 231.
2. Der Normbegriff
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über „Die Grundwerte und Gottes Gebot“ veröffentlicht16. In dieser Veröffentlichung ging es um die gegenwartsbezogene Auslegung des Dekalogs. Der Dekalog soll die Christen an die Begründung und Verwirklichung der darin ausgedrückten Werte und an das Versagen der Menschen bei der Erfüllung erinnern. Das Wort der beiden Kirchen „wendet sich zuerst an die Christen. Es will ihnen Gottes Anspruch und Gottes Zuspruch vermitteln. Aber es richtet sich zugleich an die ganze Gesellschaft, weil der Anruf und die Verheißung der Zehn Gebote allen Menschen gelten“17. Selbstverständlich ergeht ihre Mahnung auch an die politischen Parteien. Das Wort der Kirchen will also die ganze Öffentlichkeit erreichen. Sie möchten zu einer Vertiefung der Diskussion über die Werte beitragen. Ihnen geht es um die Erkenntnis und vor allem um die Verwirklichung der unverzichtbaren Werte. Die Kirchen sehen im Dekalog die „Maßstäbe einer menschenwürdigen Gesellschaft“18. Die Zehn Gebote enthalten somit den Zuspruch der Liebe Gottes und gleichzeitig die Aufforderung an den Menschen zur Gottes- und Nächstenliebe19. Der Glaube erst ermöglicht die Wahl der richtigen Entscheidung und das Tun des Richtigen bzw. des Guten.
2. Der Normbegriff Unter Norm versteht man in der Umgangssprache – abgeleitet von dem lateinischen Wort norma (Maß) – Regel, Richtschnur, Maßstab, Vorschrift oder einen leitenden Grundsatz. Normen sind rechtlich nicht einklagbar, können aber den einzelnen vor einen Gewissensentscheid stellen. Sie sind abhängig zu sehen von der Geschichte, vor allem von der Sitte und Konvention und resultieren besonders aus der ökonomischen Entwicklung20. Neue Normen verändern und gestalten die alten. Die Normen können zwar im rechtlichen oder moralischen Sprachgebrauch als Gesetz oder als allgemeiner Imperativ verstanden werden. Sie stellen als praktische Normen rechtliche oder moralische Grundsätze dar. Dazu gehören auch die Maxime des Lebens. Ein Beispiel dafür ist die „Goldene Regel“ (Mat. 7,12): „Alles, was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tut ihnen auch“. Aber Normen sind keine Gesetze und objektiv-zeitlose Größen. Sie zwingen den Handelnden nicht zum Tun oder Unterlassen. Im Gegenteil, Normen lassen sich übertreten. Man kann sie missachten oder auch unberücksichtigt lassen, 16 Gemeinsame Erklärung des Rates der Evangelische Kirche in Deutschland und der Deutschen Bischofskonferenz der katholischen Kirche, Die Grundwerte und Gottes Gebot, Gütersloh 1979. 17 Gemeinsame Erklärung (1979), S. 20. 18 Gemeinsame Erklärung (1979), S. 37. 19 Vgl. Gemeinsame Erklärung (1979), S. 39. 20 Vgl. Kramer, Rolf, (2002), S. 21.
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5. Kap.: Wertewandel im Zusammenleben der Menschen
ohne dass das direkt Folgerungen nach sich zieht. Im Gegensatz zum Gesetz, das ein bestimmtes Sein oder Sollen (Verhalten) konkret erfasst, gibt eine Norm an, was sein sollte oder zu geschehen hat. Indessen ersetzt heute oft der Normbegriff den des Gesetzes. Im technischen oder auch pragmatischen Sinn kann sich die Norm von Regeln unterscheiden, aber sie kann auch mit diesen übereinstimmen. Als Beispiele ist auf die so genannten DIN-Normen oder die Spielregeln – etwa beim Sport – zu verweisen. Letztere werden sogar von Schiedsrichtern überwacht.
3. Veränderungen im Verständnis von Ehe und Familie Nicht nur die religiösen Werte haben sich durch die Säkularisation verändert. Auch die allgemeinen gesellschaftlichen Inhalte und Werte, wie Ehe und Familie, haben eine tiefgreifende Wandlung erfahren. Der Norm- und Wertewandel ist deutlich am Verständnis von Ehe und Familie zu erkennen. Der Wechsel im gesellschaftlichen Bewusstsein und im Verständnis der Institution Ehe haben das Bild nach außen neu gestaltet. Ehe und Familie sind im gesellschaftlichen Kontext nicht mehr aufeinander bezogen wie in der traditionellen Überlieferung. Gegenwärtig existieren – letztlich unabhängig von ihnen – stattdessen zufällig zustande gekommene Lebensformen. 3.1 Die Würde der Ehe In der evangelischen Theologie wird von einer gegebenen Ordnung oder Institution der Ehe und Familie gesprochen. Zwar haben sich die Formen der Ehe und Eheschließung im Laufe der Jahrhunderte gewandelt, von dem polygamen und patriarchalischen Eheverständnis des Alten Testaments über die monogame Einstellung des Neuen Testaments, die bereits durch den Bund Gottes mit dem Volk Israel angezeigt war, bis zur Ablehnung der Ehescheidung durch Jesus von Nazareth. Die Ehe hat durch Jesu Wort über die Ehescheidung zu einem von Gott gestifteten Bund zwischen Mann und Frau eine besondere Krönung erfahren. Sie ist in der jüdisch-abendländischen Geschichte eine Bindung von zwei Personen unterschiedlichen Geschlechts, die den Grund als Eheleute zu einer unauflöslichen Gemeinschaft in Treue und Hingabe und als Eltern den Schutz für die nachfolgende Generation legen. Die Ehe versteht sich nach der evangelischen Ethik als eine Partnerschaft zwischen Mann und Frau, die auch darauf angelegt ist, Kindern das Leben zu schenken. Das wurde in der katholischen Theologie noch bis 1968 als wesentlicher Zweck herausgestrichen. Nach evangelischem Verständnis kommt der Ehe gegenüber der Familie eine eigene Bedeutung zu. Die Ehe ist keineswegs allein auf die Familie hin ausgerichtet, sondern hat ihren Sinn in sich selbst. Es geht in ihr um das partnerschaftliche Zu-
3. Veränderungen im Verständnis von Ehe und Familie
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sammenleben von Mann und Frau. Heute gibt es freilich nicht nur diese überkommene Gestalt der ehelichen Partnerschaft, sondern darüber hinaus sind ganz unterschiedliche – oft zeitlich begrenzte – Lebensgemeinschaften entstanden. Diese erfahren freilich in der protestantischen Theologie durchaus nicht die gleiche Bewertung wie die ehelichen Gemeinschaften. In der westlichen Gesellschaft haben Ehe und Familie in den letzten Jahrzehnten erhebliche Veränderungen durchgemacht. Der durch die Gegenkultur der 68-Bewegung ausgelöste Wertewandel war geprägt durch einen egoistischen Individualismus, der als „Tanz um das goldenen Selbst“ bezeichnet werden kann21. Dieser Individualismus, der als Kennzeichen der modernen Entwicklung freier Menschen gilt, hat mit seiner strengen Selbstbezogenheit einen kulturellen und einen Wandel im Denken herbeigeführt. In der katholischen Kirche ist es seit der Enzyklika Humanae Vitae vom Papst Paul VI. im Jahr 1968 zu einer Veränderung über den Zweck der Ehe gekommen. Die eheliche Liebe dient zum einen der liebenden Vereinigung der beiden Eheleute, aber auch der Fruchtbarkeit. So geben die Eheleute das menschliche Leben weiter und sind damit an dem Schöpfertum Gottes beteiligt. Sie sind zugleich durch die Regelung der Empfängnis zu einer „verantwortlichen Elternschaft“ berufen. Die Eheleute sollen die Geburt ihrer Kinder aus dieser verantwortlichen Elternschaft durch die Anwendung der Fruchtbarkeitszyklen – nicht durch eine Empfängnisverhütung – regeln22. Aufgrund liberaler Individualisierung ist in der Gesellschaft an die Stelle des Verständnisses der Ehe als Gemeinschaft von Mann und Frau, die sich zur verantwortungs-bewussten Bindung, zur gegenseitigen Treue und lebenslanger Partnerschaft verpflichten, die Sehnsucht nach Erfüllung des eigenen Selbst und des individuellen Glück getreten. Gegenwärtig wird die Ehe nicht mehr als alleiniger Ort verstanden, an dem allein die beiderseitige Sexualität gelebt werden darf und soll. In der traditionellen Ehe-Partnerschaft will man nicht nur miteinander auskommen, sondern sucht die Erfüllung des höchsten Glücks und einen dauerhaften Bestand. Die Erwartungen an die Ehe werden hier hoch gehalten. Und je höher sie sind, umso unbefriedigender wird der Zustand der eigenen – gelebten – Partnerschaft empfunden. Das hat entgegen der allgemeinen Meinung zur Folge: „Die Ehe ist eben nicht wegen ihrer nachlassenden Bedeutung, sondern umgekehrt gerade wegen ihrer überragenden subjektiven Relevanz für den Einzelnen instabiler geworden“23. Die gestiegenen Ansprüche führen zu immer neuen Spannungen. Diese haben ihre Auswirkungen auf die lebenslange
21 Zitat aus: Meyer, Thomas, Das „Ende der Familie“ – Szenarien zwischen Mythos und Wirklichkeit, in: Ute Volkmann, Uwe Schimank (Hrsg.), (2002), S. 201 Anm. 2. 22 Vgl. Paul VI., Humanae Vitae, Enzyklika vom 25. Juli 1968, n. 12.14. 16. 23 Meyer, Thomas, (2002), S. 212.
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5. Kap.: Wertewandel im Zusammenleben der Menschen
Bindung und damit auf die Scheidungspraxis. Die Ehen bleiben nicht mehr solange bestehen, „bis dass der Tod euch scheidet“, sondern nur solange die Liebe verbindet oder die sexuelle Begehrlichkeit vorherrscht. Die Menschen bleiben zusammen, solange wie ihre Beziehung emotional noch intakt ist. Sind ihre Gefühle abgestorben, sind sie auch bereit, die Ehe aufzukündigen. Amitai Etzioni hat die Ehe als eine „Wegwerfbeziehung“ bezeichnet. Denn sie wird eingegangen wie man einen Mietvertrag eingeht. Man kann sie beenden, und „sich nach einem anderen Objekt umsehen“, wenn man nicht mehr zufrieden ist24. Ehe und Familie wurden in der protestantischen Theologiegeschichte als Ordnung gesehen. Beide galten als Institutionen und damit als von Schöpfer eingesetzte Ordnungen. Man sprach in der Vergangenheit von Schöpfungsordnungen (Helmut Thielicke). Das bedeutet, sie haben als Institution nicht wie der Staat als Notordnung dem Bösen zu wehren (arcere malum, Luther), sondern sie sind Urstandsordnungen, in denen Mann und Frau einander zugewandt sind (Gen. 1,26 ff.). Sie sind zwar einerseits eine zeitlose Institution, aber andererseits eine zeitliche Gestalt, die von gesellschaftlichen, politischen, ökonomischen und sozialen Veränderungen abhängig ist. In der Familie wird die Gemeinschaft zwischen den Eheleuten im Sinne des ganzen Hauses (oíkos) durch die Gemeinschaft mit den Kindern ergänzt. Ehe und Familie haben im Laufe der letzten Jahrzehnte ihren religiös-ethischen Charakter verloren. Mit der Aufgabe dieser Grundlage wurde zugleich ihr Ordnungscharakter infrage gestellt. Sie wurden aus der staatlichen Ordnungsstruktur herausgenommen und als eine Angelegenheit einer privaten Lebensentscheidung betrachtet, bei der das Recht des Staates immer weniger ordnend eingreifen sollte. 3.2 Die Familie aus der Sicht der Kirchen In der Vergangenheit war es kaum erforderlich, zusammen mit der Ehe auch noch von der Familie zu sprechen, heute dagegen ist es geradezu zwingend notwendig. Denn viele Ehen bleiben kinderlos. Die letzten Jahrzehnte haben die Familienstruktur tiefgreifend verwandelt. Bis in die fünfziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts war die Familie noch intakt. Mittlerweile hat sich das Familienbild in seinen unterschiedlichen Strukturen verändert. Zeitliche begrenzte Lebensgemeinschaften zwischen heterogeschlechtlichen und gleichgeschlechtlichen Partnern mit und ohne Kinder haben zugenommen. Die lebenslange Dauer der Ehe ist einer differenzierten Zeitvorstellung gewichen. Der Familienbegriff leitet sich ab von dem lateinischen Wort famulus, Diener. In der Familie dient einer dem anderen. Das christliche Familienverständnis hat sich diesem Gedanken unterworfen. Danach ist Familie überall dort ge24
Etzioni, Amitai, Die Entdeckung des Gemeinwesens, Stuttgart 1995, S. 51.
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geben, wo Eltern für ihre Kinder Verantwortung zu übernehmen bereit sind und Kinder in Liebe und Geborgenheit aufwachsen können. Freilich ist die Familie auch umgekehrt der Ort, wo die Kinder bereit sind, Verantwortung für ihre Eltern zu tragen25. Das christliche Leitbild von Familie kann nur in dem von Liebe geprägten Zusammenleben von Mann und Frau, das den Kindern ein liebevolles Zuhause bietet, gesehen werden. Letztlich kann nur das der Grundpfeiler eines modernen Familienverständnisses sein. Insofern ist für die evangelischen Christen die lutherische Erklärung des vierten Gebotes heute noch zu übernehmen. Das Gebot selbst lautet: „Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren, auf dass dir’s wohlgehe und du lange lebest auf Erden“. In der Erklärung Luthers wird dieser Auftrag so gedeutet: „Wir sollen Gott fürchten und lieben, dass wir unsere Eltern und Herren nicht verachten und erzürnen, sondern sie in Ehren halten, ihnen dienen, gehorchen, sie lieb und wert haben“. Die Kinder haben also eine Verantwortung für die Eltern und gegenüber denjenigen, die etwa generationsübergreifend zur elterlichen Gemeinschaft gehören. Die christliche Gestalt der Familie wird am sichtbarsten dort verwirklicht, wo noch Mann und Frau in einem geordneten Zusammenleben den Kindern ein gemeinsames Heim in Liebe und Geborgenheit gewähren. Die katholischen Deutschen Bischöfe haben 1999 in ihrer Darstellung des Grundverständnisses von Ehe und Familie darauf hingewiesen, dass die Familie auf der Ehe aufbaue. Nach dieser Eheauffassung gehören Kinder ganz wesentlich zur ehelichen Lebensgemeinschaft von Mann und Frau dazu26. Denn die wahre Liebe will nicht allein bleiben. Die Familie ist für die katholische Kirche die „,Grund- und Lebenszelle der Gesellschaft‘ geworden“, so heißt es in einer Verlautbarung des Apostolischen Stuhls an die Familien27. Im unmittelbaren Zusammenhang mit dem Ehekonsens steht in der katholischen Kirche der Wunsch nach Kindern. Die Familie ist die „kleinste soziale Zelle und als solche eine für das Leben jeder Gesellschaft fundamentale Institution28. Ihr liegt die Ehe als lebenslanger Bund zwischen Mann und Frau zugrunde. „Die menschliche Elternschaft hat, obwohl sie jener anderer Lebewesen in der Natur biologisch ähnlich ist, an sich wesenhaft und ausschließlich eine ,Ähnlichkeit‘ mit Gott, auf die sich die Familie gründet, die als menschliche Lebensgemeinschaft, als Gemeinschaft von Personen, die in der Liebe vereint sind (communio personarum), verstanden wird“29. Für die Familie ist also die 25 Vgl. die Äußerung der Landessynode der Ev.-Luth. Kirche in Bayern, in: HansGünter Krüsselberg, Heinz Reichmann (Hrsg.), Zukunftsperspektive Familie und Wirtschaft, Grafschaft 2002, S. 330. 26 Die Deutschen Bischöfe, Bonn 17. Juni 1999, Nr. 61, S. 10. 27 Zitat aus dem Vaticanum II, in: Johannes Paul II.aus dem Jahr 1981, Familiaris Consortio, Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls aus dem Jahr 1981, Nr. 33, n. 42. 28 Johannes Paul II. Brief Papst Johannes Paul II an die Familien vom 2. Februar 1994, in: Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls Nr. 112, S. 45.
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5. Kap.: Wertewandel im Zusammenleben der Menschen
göttliche Trinität das Urmodell. Denn im „Wir“ der göttlichen Personen steckt das Vorbild und der Urgrund der Familie30. Nach der katholischen und protestantischen Trauungsliturgie definiert der Konsens der Eheleute das Wohl von Ehe und Familie. Die Annahme des anderen und das Versprechen der Treue und der Zusammengehörigkeit in gesunden und bösen Tagen legen die Gemeinsamkeit der beiden Eheleute fest. Die Eheleute bestimmen damit die Basis für das Wohl der Familie. Das ist zwar auch das Grundverständnis der reformatorischen Eheauffassung. Aber viele Lebensgemeinschaften spüren eine solche Zusammengehörigkeit nicht, da die Ehe für sie keine dauerhafte Erfüllung mehr darstellt. Die Familie ist nach katholischer Auffassung eine in der natürlichen Ordnung begründete Institution und damit ein Naturrecht. Aber die mittelalterliche Kirche hatte sich von den als „profan wahrgenommenen häuslichen und Familienbeziehungen“ distanziert31. Sie ist später von der „Reserviertheit gegen das Familiale“ abgerückt32. Erst seit dem 19. Jahrhundert hat sich die katholische Kirche der durch den Liberalismus und Sozialismus gravierend „bedrohten Familie“ angenommen und ein „Sonderverhältnis“ begründet, das sie vorher nicht besessen hat33. Seit dieser Zeit trat die Kirche gegenüber der Politik als Anwalt von Ehe und Familie auf und versuchte so, die Position der Familie zu stärken. Im Protestantismus gab es dafür – wenigstens in Deutschland – keine Entsprechung. Zwar existiert auch dort eine Affinität zur Familie, aber keine so dezidierte. Man spricht deshalb in der Kirche nicht von einer „Rückgewinnung“ der Familie, sondern eher von einer „Neueroberung“34. In der Gegenwart ist es nicht nur zu einem Bedeutungswandel der Familie gekommen. Es ist vielmehr ein Bedeutungsrückgang der Familie „als Sozialisationsinstanz“ in der Gesellschaft zu verzeichnen. Darum wird auch von einer Deinstitutionalisierung der Familie gesprochen35. Diese ist erstens in dem Individualisierungsprozess in der Gesellschaft begründet, der in der beruflichen Selbstverwirklichung des Einzelnen seinen Ausdruck findet. Zweitens ist zu be29
Johannes Paul II., Brief (1994), S. 11. Vgl. Johannes Paul II., Brief (1994), S. 11. 31 Tyrell, Hartmann, Katholizismus und Familie – Institutionalisierung und Deinstitutionalisierung, in: Jörg Bergman, Alois Hahn, Thomas Luckmann (Hrsg.), Religion und Kultur, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 33, Opladen 1993, S. 137. 32 Tyrell, Hartmann, (1993), S. 137 f. 33 Tyrell, Hartmann, (1993), S. 128 u.136. 34 Hahn, Alois, Religion, Säkularisierung und Kultur, in: Hartmut Lehmann (Hrsg.), Säkularisierung, Dechristianisierung, Rechristianisierung im neuzeitlichen Europa, Göttingen 1997, S. 24. 35 Vgl. Tyrell, Hartmann, (1993), S. 140. 30
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rücksichtigen, dass sich die überlieferten institutionalisierten Normen wie Heirat, Ehe und Familie auf dem Rückzug befinden. Drittens wird aufgrund der Auflösungserscheinung der Ehe durch die Ehescheidungen eine Entwicklung in Gang gesetzt, die die Familie in ihre Bestandteile auflöst. Viertens meinen viele Menschen, dass sich die Familie sogar auflöst, weil das über Jahrtausende gültige Schema einer Über- und Unterordnung an Einfluss verloren hat36. Heute wechseln zwar oft in der Familie die Partner, aber die Kinder bleiben. Sie sind das letzte noch verbliebene unaufkündbare und unaustauschbare Glied der Primärbeziehung. 3.3 Die Stellung der Familie in der Gesellschaft Heute möchte man anders als in der Mitte des vergangenen Jahrhunderts in Deutschland unter dem Begriff der Familie eine Vielzahl von Formen des menschlichen Zusammenlebens verstehen. Denn die Existenz einer Familie wird nach dem gegenwärtigen Sprachgebrauch auch dort angenommen, wo alleinerziehende Mütter und Väter oder irgendwie anders zusammengesetzte Elternbzw. Partnerschaften ihre Kinder großziehen. Kinder leben zugleich mit mehreren „Müttern“ oder „Vätern“, mit ihren Großeltern oder anderen Anverwandten zusammen. Es ist darum wohl richtig, von einem Bedeutungsverlust von Ehe und Familie in unserer Gesellschaft zu sprechen37. Andererseits ist zu bedenken, dass besonders zwei – häufig geäußerte – Prognosen soziologisch nicht nachgewiesen werden können, die besagen: 1. dass man nicht mehr von der Familie sprechen könne, sondern nur noch von einer Pluralität von Familienformen und 2. dass sich immer mehr Menschen von der Ehe und Familie abwenden. Man behauptet: Zwar mögen in Deutschland die so genannten Ein-Eltern-Familien mit alleinerziehenden Müttern oder Vätern ebenso wie die Zahl der nichtehelichen Lebensgemeinschaften zugenommen haben. Aber trotz dieser Zunahme beträgt immer noch „der Anteil der Zwei-Eltern-Familien mit formaler Eheschließung an allen Familien 85 Prozent“38. Es wird erkannt, dass die so genannte „,Familienphase‘, also das Zusammenleben von Eltern mit ihren unmündigen Kindern, im Lebenslauf des Einzelnen zeitlich geschrumpft ist“ 39. Damit wird zwar die formale Bedeutung dieser Familienform erhalten bleiben. Aber über die inhaltliche Struktur einer unauflöslichen Ehe- bzw. Familienbeziehung wird nichts gesagt. Immerhin kann von einer allgemeinen Familien-Struktur mit einem Unauflöslichkeits-Charakter bzw. einer 36
Vgl. Tyrell, Hartmann, (1993), S. 142 f. Gegen Nave-Herz, Rosemarie, Über die Gegenwart prägende Prozesse familialer Veränderungen: Thesen und Antithesen, in: Hans-Günter Krüsselberg, Heinz Reichmann (Hrsg.), (2002), S. 133 ff. 38 Nave-Herz, Rosemarie, (2002), S. 135. 39 Nave-Herz, Rosemarie, (2002), S. 137. 37
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5. Kap.: Wertewandel im Zusammenleben der Menschen
lebenslangen Dauer der Zusammengehörigkeit nicht mehr die Rede sein. Es klafft in der jungen Generation zwischen einer verbalen Wertvorstellung von Ehe und Familie und der gelebten Wirklichkeit eine erhebliche Differenz. Die Ehe wird als eine zeitbezogene und wieder auflösbare Institution angesehen. Heute wird jede dritte Ehe geschieden40. Dass andererseits Ehe und Familie immer noch einen hohen Stellenwert einnehmen, ist bei der christlich-humanistischen Grundlegung der Gesellschaft keineswegs überraschend. Eine Familie zu gründen, ist zwar eine individuelle Entscheidung. Aber sie ist zugleich ein Beitrag zum Bau und zur Erhaltung des jeweiligen Gemeinwesens. Durch die Familiengründung wird nicht nur Verantwortung für die nächste Generationen wahrgenommen, sondern auch die Zukunft des Landes und des Sozialstaates bestimmt. Andererseits müssen Politik und Gesetzgebung die ideellen und die materiellen Voraussetzungen schaffen, die es den Menschen ermöglicht, die Verantwortung für die nachwachsenden Generationen zu übernehmen. Die soziokulturellen Veränderungen in der Mitte des vergangenen Jahrhunderts haben zu unterschiedlichen Veränderungen in den familialen Verhältnissen geführt: – Die Kinder tragen nicht mehr wie in früheren Generationen zum Lebensunterhalt bei. – Sie brauchen nicht mehr im elterlichen Betrieb zu arbeiten. – Die Familien und ihre Kinder leben in der Regel materiell in besseren Verhältnissen als in der Vergangenheit. – Kinder werden, obwohl sie erwünscht sind, trotzdem oft als „Störquelle aus der Umwelt der Erwachsenen“ ausgeschaltet41. Aber es bleibt weiterhin die Aufgabe und damit die soziale Verpflichtung der Eltern, für die Erziehung der Kinder zu sorgen und dabei eventuell auch Abstriche beim Einkommen und in der eigenen Karriere in Kauf zu nehmen42. Der Begründer des Kommunitarismus, Amitai Etzioni, empfiehlt den Eltern, mehr für die Gemeinschaft zu tun, indem sie sich intensiv um ihre Kinder und weniger um deren soziale Möglichkeiten und Berufsweg kümmern. Sie werden dann zufriedener sein. „Nach zwei Jahrzehnten der Verherrlichung des wirtschaftlichen Erfolgs und angesichts einer Generation von vernachlässigten Kindern müssen wir nun wieder erkennen, wie wichtig es ist, dass wir unsere Kinder erziehen“, stellt er bereits 1993 fest43. Er beklagt eine „Abkehr von gemein40 41 42 43
Nave-Herz, Rosemarie, (2002), S. 136. Zitat aus: Klages, Helmut, (1993), S. 61. Vgl. Meyer, Thomas, (2002), S. 203. Etzioni, Amitai, Die Entdeckung des Gemeinwesens, Stuttgart 1995, S. 78.
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schaftlichen Ritualen in Familie, Schule und Gemeinde“44. Für ihn liegt zwar das besondere Interesse bei der Familie, aber er zielt auf die ganze Gemeinschaft. Der Lebensbereich Familie kann unter sehr vielen Aspekten bedacht werden, unter politischen, erzieherischen, psychologischen, ökonomischen, strukturellen, wertorientierten, emotionalen oder ganz allgemein unter gesellschaftlichen Gesichtspunkten. Im politischen Bereich etwa geht es um die Sozialpolitik oder wegen der Alterssicherung um die Rentenpolitik. Im gesellschaftspolitischen Zusammenhang liegt der Schwerpunkt auf den Auseinandersetzungen mit der strukturellen und theologisch-wertorientierten Gestalt der Familie. Dabei ist zu bedenken, dass die Familie eine Institution ist, „die in ihren Handlungen und Strukturen in mannigfacher Weise mit den gesellschaftlichen Produktions- und Reproduktionsprozess verknüpft ist“45. Für die Familienpolitik in Deutschland gilt, dass bei aller ökonomischer Berechtigung von Reformvorhaben, die in der Sozialpolitik und speziell der Rentenpolitik einzuschlagen sind, kaum eine Diskussion über den emotionalen und den psychologischen Wert von Kindern in der Familie geäußert wird. Kinder sind im Privatleben schließlich keine Reproduktionsmittel. Diesen Platz nehmen sie unter volkswirtschaftlicher Betrachtung ein. Als Familienmitglieder sind sie ein Geschenk und eine Gabe, über die die Eltern sich freuen dürfen. Trotzdem ist es natürlich nicht möglich, die Familie allein in den privaten Bereich abzuschieben. Vielmehr haben der Staat und die Gesellschaft für ihr fundiertes Weiterbestehen zu sorgen. Die heutigen Familien sind im Vergleich zur früheren Großfamilie kleiner geworden. In der Familientradition ist der Wechsel von der Mehrgenerationsfamilie zur Kernfamilie, die durchweg als Ein-Kind-Familie existiert, unverkennbar. Aber auch in dieser Entwicklung ist die Veränderung nicht stehen geblieben, sondern diese Definition hat sich noch erweitert. Von einer Familie wird gegenwärtig immer dort gesprochen, wo Kinder in einem Haushalt vorhanden sind. Dabei ist es gleichgültig, ob sich in diesem nur ein Erwachsener oder zwei befinden. Allerdings hat man in den USA feststellen müssen, dass etwa „30 Prozent der Grundschüler aus Zwei-Eltern-Familien als ,leistungsstark‘ eingestuft“ werden konnten, während das nur bei 17 Prozent der Kinder aus einer „Ein-ElternFamilie“ möglich war46. ,Leistungsschwach‘ dagegen waren nach dieser Statistik aus der Zwei-Eltern-Familie nur 23%, dafür aber immerhin 38% aus der EinEltern-Familie. Die Gemeinschaft muss darum den Eltern und Kindern zur Aus44 Volkmann, Ute, Ursache, Opfer oder Chance, in: Ute Volkmann, Uwe Schimank (Hrsg.), (2002), S. 359. 45 Krüsselberg, Hans-Günter, Ökonomische Analyse der werteschaffenden Leistungen von Familie im Kontext von Wirtschaft und Gesellschaft – mit Schlussfolgerung und Überleitung, in: Hans-Günter Krüsselberg, Heinz Reichmann (Hrsg.), Zukunftsperspektive Familie und Wirtschaft, Grafschaft 2002, S. 89. 46 Etzioni, Amitai, Die Entdeckung des Gemeinwesens, Stuttgart 1995, S. 89.
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5. Kap.: Wertewandel im Zusammenleben der Menschen
bildung und Gestaltung der moralischen, schulischen und beruflichen Entwicklung helfen, damit sie die richtigen Prioritäten in ihrem Leben setzen. 3.4 Gefahren und Schutz für Ehe und Familie Nach dem Grundgesetz Artikel 6 stehen „Ehe und Familie unter dem besonderen Schutze der staatlichen Ordnung“. Dieser Schutz richtet sich auf die Sicherung der als Ehe herausgehobenen Lebensform vor allen anderen möglichen Ordnungen. Dies geschieht nicht nur zum Schutz individueller Rechte, sondern auch im Interesse der ganzen Gesellschaft und des Gemeinwohls. Schließlich wachsen in ihr etwa 80% der Kinder auf. Der Schutz umfasst drei Aspekte: a) Der Staat schützt die Ehe und Familie. Sie gilt als eine vorstaatliche Organisation. b) Die Eheschließung ist ein Individualrecht. Jede einzelne Person hat die Freiheit, eine Ehe zu schließen oder sie abzulehnen. c) Nach Meinung der Väter der Verfassung kommt der Ehe und Familie ein Vorrecht gegenüber anderen Rechten zu. Die konzeptionelle Fundierung der Ehe ist immer mehr ins Schwanken geraten. Aber viele Politiker und Bürger meinen, dass mit dem Schutz der Ehe etwas Falsches in die Verfassung geraten ist, das nach Möglichkeit wieder herausgestrichen werden müsste. Ein besonderer Angriff gegen die Ehe fand durch die Forderung nach einer Neugestaltung der Ehegattenbesteuerung statt. Es wird nämlich diskutiert, das Ehegattensplitting zugunsten einer besseren Versorgung der Kindertagesstätten einzuschränken bzw. abzuschaffen. Das Splitting war in den fünfziger Jahren nur deshalb auf Empfehlung des Bundesverfassungsgerichts durch den Gesetzgeber eingeführt worden, weil man dadurch eine Diskriminierung des Alleinverdienenden gegenüber den doppelverdienenden steuerpflichtigen Partnern in der Ehe beseitigen wollte. Schließlich würde ja bei gleichem Einkommen aufgrund der Progression ein Alleinverdienender mehr an Steuern zahlen als die beiden Eheleute zusammen. Man wollte also die Diskriminierung einer „VersorgerEhe“ gegenüber einem doppelverdienenden Paar beseitigen. Wer dagegen heute dieses Splitting wieder abschaffen will, sucht nach einer fiskalischen Einnahmequelle und ist nicht an dem Schutz der Ehe interessiert. Die zweite Gefahr, die der Institution Ehe heute droht, ist noch gewichtiger. Denn durch sie wird der Bestand der Ehe generell infrage gestellt. Die Ehe wird nämlich allein als ein Ausdruck eines liberalen Individualismus begründet. Sie hat dann mit einer grundsätzlichen und staatstragenden Ordnung nichts mehr zu tun. In der traditionell verstandenen Ehe dagegen übernehmen die Partner füreinander wechselseitige Verantwortung. Das hat eine entsprechende Rückwir-
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kung auf die Gesellschaft. Die Ehe kann darum als eine tragende und gesellschaftliche Institution bezeichnet werden, deren Wert neu gesehen oder wiederentdeckt werden sollte. Ein weiterer Angriff auf die Tradition der Ehe in Deutschland ereignete sich im Jahr 2002. Das Bundesverfassungsgericht hat am 22. Juli dem neuen Lebenspartnerschaftsgesetz, das homosexuelle Lebensgemeinschaften einer Ehe zwischen Mann und Frau gleichgestellt, für bestimmte Bereiche nicht widersprochen. Der bisherige Abstand zwischen der Ehe und anderen Lebenspartnerschaften hat sich dadurch verringert. Die Ehe wird zu einer Lebensform unter anderen. Seit mehr als fünfundzwanzig Jahren ist gegenüber der Ehe eine Veränderung in Lebens- und Familienformen zu verzeichnen. „Die ,gängige Pluralitätsthese‘ unterstellt eine quantitative Zunahme der verschiedenen Familienformen in den letzten Jahren auf Kosten der Eltern-Familien mit formaler Eheschließung, also der ,normalen‘ Zwei-Eltern-Familie mit standesamtlicher Trauung“47. Bei Umfragen nehmen zwar Ehe und Familie in der Rangliste der Wertschätzungen einen oberen Platz ein. Aber mit der Nennung der Familie als wichtigsten Lebensbereich ist immer nur die jeweilige gegenwärtige Familie gemeint. Dazwischen können mehre gescheiterte Ehe und Familien liegen. Freilich stellen diese Aussagen keinen Widerspruch zu der Tatsache dar, dass die Zwei-Eltern-Familie unter der Pluralität der familialen Lebensformen die dominante geblieben ist48. Die steigende Zahl von Mehr-Generations-Familien, die nicht unbedingt zusammenwohnen, wohl aber einander im Nahraum begegnen, könnte weiter für einen hohen Bedeutungswert der Familie sprechen. Die Zahl der Drei-Generations-Familien nimmt zu. Es ist keine Seltenheit mehr, dass viele Großeltern mit ihren Kindern und Enkeln eine familiäre Beziehung unterhalten. Die Enkel werden außer dem Kontakt zu ihren leiblichen Eltern viel häufiger die Beziehung zu ihren Großeltern beider Elternteile oder zu so genannten „sozialen“ Großeltern pflegen. Aber mit den letzteren wird nur der formale Familienbegriff ohne leibliche Beziehung erfüllt49. Generell ist in der postmodernen Gesellschaft der Stellenwert der Familie nach neueren soziologischen Erkenntnissen durchaus nicht als niedrig einzuschätzen. Gerade weil die staatlichen sozialen Sicherungssysteme versagt haben oder nicht mehr in der Lage sind, den Menschen in seinem Alter aufzufangen, erfährt die traditionelle Familie in einer unsicher gewordenen Welt eine neue Bedeutung und Wertschätzung. Ohne Frage ist das Bedürfnis nach intakten Familien und einer verlässlichen Lebenspartnerschaft wieder deutlich gestiegen. 47
Nave-Herz, Rosemarie, (2002), S. 135. Nave-Herz, Rosemarie, (2002), S. 139. 49 Vgl. Schweitzer, Rosemarie von, Wandel der Familienstrukturen und des familialen Alltagslebens, in: Hans-Günter Krüsselberg, Heinz Reichmann (Hrsg.), (2002), S. 178. 48
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5. Kap.: Wertewandel im Zusammenleben der Menschen
Diese Bewertung durch die junge Generation hat generell gegenüber der früheren Einstellung – etwa zur Zeit der achtundsechziger Generation – zugenommen. Ohne Familien wird es in der Gesellschaft keine Entwicklung geben. Denn eine atomisierte in Single-Existenzen aufgelöste Gesellschaft wird keine Zukunft haben. Weder demographisch noch finanziell wird sie Bestand haben. Aber es wird noch wichtiger sein, dass sie ihre Existenz wieder aus einer ethischen Verantwortung heraus versteht.
6. Kapitel
Ökonomisches Handeln in der Gesellschaft Wirtschaften ist die Deckung des Bedarfs an Waren, Gütern und Dienstleistungen. Max Weber hat in der Veröffentlichung „Wirtschaft und Gesellschaft“ den Inhalt des Wirtschaftens soziologisch definiert und die wirtschaftliche Orientierung des Handelns traditional oder zweckrational gekennzeichnet. Die Rationalität schließt den Traditionalismus im wirklichen Leben nicht aus. Rationalität gründet auf dem planvollen Handeln. Das eigentliche wirtschaftliche Tun wird dann mit einem rationalen und damit planvollen Handeln gleichgesetzt. Er formulierte: „,Wirtschaftlich orientiert‘ soll ein Handeln insoweit heißen, als es seinem gemeinten Sinne nach an der Fürsorge für einen Begehr nach Nutzleistungen orientiert ist“1. Unter Nutzleistungen wiederum sind Güter und Leistungen zu verstehen. Heute hat die Wirtschaft die in sich geschlossene Welt der vormodernen Zeit gesprengt. Die Wirtschaft ist im Laufe der letzten beiden Jahrhunderte zur stärksten Antriebskraft in der Gesellschaft geworden. Sie kann als Dynamik der gesellschaftlichen und ökonomischen Entwicklung – z. B. im IT-Bereich – angesehen werden. Rationales Handeln bestimmt ihren Grundduktus. Nunmehr gibt es keine letzten Begründungen für das Handeln, sondern nur noch „grenzenlosen ,Fortschritt‘“2. Aber die Wirtschaft ist auf bestimmte Grundlagen angewiesen, wenn sie als gesellschaftliches Phänomen funktionieren soll. Es muss eine Rechtsordnung vorhanden sein. Rahmenbedingungen sind für wirtschaftliches Handeln vom Staat zu entwickeln und müssen überwacht werden. Schließlich ist zwischen den einzelnen Wirtschaftssubjekten eine Vertrauensbasis zu schaffen. Der einzelne Mensch hat zu lernen, dass er als Mitglied der Gesellschaft – als homo soziologicus – unter dem dreifachen Anspruch eines homo politicus, eines homo oeconomicus und eines homo socialis steht. Auf allen drei Gebieten, der Politik, der Wirtschaft und des Sozialwesens, hat er nicht nur Rechte, sondern auch Pflichten, denen er in einer Marktwirtschaft nachzukommen hat. Dabei ist der Markt, wie Franz Böhm es formulierte, das Koordinierungsmittel, durch das Millionen von Einzelbürgern ihre Pläne aufeinander abstimmen3. Aber: „EntWeber, Max, Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen 51972, S. 31. Vgl. Schimank, Uwe, Gesellschaftliche Teilsysteme und Strukturdynamiken, in: Ute Volkmann, Uwe Schimank (Hrsg.), (2002), S. 19. 1 2
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6. Kap.: Ökonomisches Handeln in der Gesellschaft
scheidend für die Marktwirtschaft ist die strenge Hinordnung aller Wirtschaftsvorgänge auf den Konsum, der über seine in Preisen ausgedrückten Wertschätzungen der Produktionsbewegung die bestimmenden Signale erteilt“4.
1. Das Wesen der Sozialen Marktwirtschaft Der Begriff der Sozialen Marktwirtschaft setzt sich aus den beiden Teilen ,Sozial‘ und ,Marktwirtschaft‘ zusammen. Unter dem Begriff des „Sozialen“ in der Marktwirtschaft werden verschiedene Vorstellungen subsumiert: von der Aussage „,dem Gemeinwohl dienend‘ bis zu der einer ,Hilfe für den schwachen Nächsten‘“5. Den Begriff der Marktwirtschaft gilt es, gegenüber dem einer dirigistischen und einer kapitalistischen Wirtschaftsordnung abzugrenzen. Die erste der beiden steht im Gegensatz zu einer von Markt her geprägten Wirtschaftsordnung. Die andere – ebenfalls vom Markt gesteuert – wird vom Privatkapital geprägt; aber in ihm sind Kapitalbesitz und Arbeit getrennt. Das Wesen der Sozialen Marktwirtschaft kann in einigen wesentlichen Punkten so zusammengefasst werden: 1. Zur Marktwirtschaft gehören bestimmte soziale Komponenten. Der Markt erfüllt gesellschaftliche – und damit vor allem soziale – Funktionen. Er eröffnet den Freiraum für ökonomisches Handeln und damit für Investitionen, Konsum, in der Nutzung des Eigentums oder bei der Suche nach einem Arbeitsplatz. Der Markt sorgt für den effektiven Einsatz der Produktionsmittel, für ihre Anpassung an veränderte Produktionsverhältnisse. Er ist in der Lage, auftretende Reibungsverluste zu minimieren. Wilhelm Röpke erkannte diesen Zusammenhang zwischen Ökonomie und Gesellschaft, als er formulierte: „Marktwirtschaft, Preismechanismus und Wettbewerb in allen Ehren, aber sie sind nicht genug. Sie können so gut mit einer gesunden wie mit einer ungesunden Struktur der Gesellschaft verbunden sein“6. In der Marktwirtschaft wird über das Schicksal 3 Müller-Armack, Alfred, Genealogie der Sozialen Marktwirtschaft, Bern und Stuttgart 21981, S. 170. 4 Müller-Armack, Wirtschaftsordnung und Wirtschaftspolitik, Bern und Stuttgart 2 1976, S. 90 f. 5 Schmitz, Wolfgang, 21982, S. 10. Das „Soziale“ wird als Attribut der Marktwirtschaft hier ,groß‘ geschrieben. Das liegt an der vertretenen Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft, die hinter dem Sozialen ein prägnantes Menschenbild sieht. Das große „S“ wird infolgedessen nicht deshalb gebraucht, weil diese Wirtschaftsordnung bestimmte Rahmenbedingungen voraussetzt und die zweite Einkommensverteilung aufnimmt. Die Soziale Marktwirtschaft wird nicht als das Kennzeichen eines abgeänderten eigenständigen Systems gegenüber der reinen Marktwirtschaft verstanden, sondern greift das Verständnis des Menschseins auf, das auch in dem Bedürftigen eine zu schützende und zu unterstützende Person sieht. Etwas anders: Vgl. Schmitz, Wolfgang, Was macht den Markt sozial?, Quartalszeitschrift des Instituts für Sozialpolitik und Sozialreform, Wien 21982, S. 12.
1. Das Wesen der Sozialen Marktwirtschaft
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des Einzelnen und der Gesellschaft entschieden. Ihr Funktionieren hängt von der richtigen Struktur der Gesellschaft ab. Einer Gesellschaft mit strengem individuellen Charakter gibt die Marktwirtschaft eine andere Gestalt, als wenn in ihr festgefügte größere Gemeinschaften existieren. 2. Zur Sozialen Marktwirtschaft gehört eine staatliche Sozialpolitik. Die jeweilige Form von Marktwirtschaft muss durch staatliche Eingriffe oder Vorschriften gleichsam sozial „abgefedert“ werden, so dass sie als ein ordnungspolitisches Mischsystem verstanden werden kann, das die Elemente des Marktes mit denen staatlicher Lenkung verbindet. Es gehört also zu einer sozialen Ausrichtung des Marktes eine sekundäre Umverteilung zugunsten sozial schwacher Menschen. Nur bei einer Anwendung des sozialen Elementes wird die Marktwirtschaft als wirklich sozial verstanden. Die zweite Einkommensverteilung wird entsprechend der sozialen Verantwortung der Gesellschaft gefordert. Im Laufe der Jahre hat die zweite Einkommensverteilung einen immer größeren Anteil am Bruttoinlandsprodukt eingenommen. 3. Zur Sozialen Marktwirtschaft gehört eine staatliche Ordnungspolitik. Unter dem deutschen Modell der Sozialen Marktwirtschaft wird verstanden, dass die Elemente des Wettbewerbs auf dem Markt mit staatlicher Ordnungspolitik verbunden sind. Das deutsche Modell wird heute als ein eigenständiges Wirtschaftssystem angesehen, dessen Ziel in der bestmöglichen Versorgung der Menschen mit Gütern besteht. Die Wirtschaft wird als eine Dienstfunktion zu Gunsten des menschlichen Lebens erkannt. Jeder Mensch soll die Chance erhalten, seine Persönlichkeit gemäß seinen Gaben und Anlagen entfalten zu können. Zur Sozialen Marktwirtschaft gehören also staatliche Rahmenbedingungen, damit keine Machtstrukturen und Verzerrungen auf den Märkten entstehen. Die Soziale Marktwirtschaft ist eine bewusst gestaltete Ordnung und damit eine ordnungspolitische Idee. 4. Die Soziale Marktwirtschaft ist eine reale Wirtschaftsordnung. Müller-Armack, der Schöpfer des Begriffs der Sozialen Marktwirtschaft, bezeichnete diese als eine Friedensordnung und nennt sie eine „irenische Formel“, die versucht, „die Ideale der Gerechtigkeit, der Freiheit und des wirtschaftlichen Wachstums in ein vernünftiges Gleichgewicht zu bringen“. Sie soll helfen, den einzelnen zur freien Entfaltung seiner Kräfte zu bringen7. Aber er sah dieses Wirtschaftssystem nie als eine Utopie an, sondern immer als reale Wirtschaftsordnung. 5. Die Soziale Marktwirtschaft wird durch materielle und auch durch immaterielle Güter geprägt. Im sozialen Bereich geht es in der Sozialen Marktwirtschaft nicht allein um materielle Güter. Werte wie Freiheit, Gerechtigkeit, Gleichheit, Wohlstand und Sicherheit sind in ihr zusammen mit dem materiellen 6 7
Schmitz, Wolfgang, (21982) Zitat aus S. 48. Müller-Armack, Alfred, (21981), S. 131; 173.
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6. Kap.: Ökonomisches Handeln in der Gesellschaft
Wohlstand enthalten. Sie sind, wie Müller-Armack einmal betonte, „wesensnotwendige Ausprägungen des Sozialen“8. 6. Die Soziale Marktwirtschaft muss ständig weiter entwickelt werden. Sie ist von Beginn an gemäß ihrer Konzeption kein fertiges System, das als einmal geschaffen in der gleichen Weise auch in der Zukunft so bleiben kann. Sie ist für Müller-Armack „eine evolutive Ordnung, in der es neben dem festen Grundprinzip, dass sich alles in Rahmen einer freien Ordnung zu vollziehen hat, immer wieder nötig ist, Akzente neu zu setzen gemäß den Anforderungen einer sich wandelnden Zeit“9. Sie ist eine wirtschaftliche, aber auch eine gesellschaftliche Ordnung und muss sich darum dem geschichtlichen Wandel anpassen. Freilich wird sie die von ihr vertretenen Werte nicht selbst setzen, sondern diese von außen – z. B. von den unterschiedlichen Gruppen – empfangen. Es wird dabei immer die Aufgabe der Gesellschaftspolitik sein, die verschiedenen Gruppen zu integrieren, um Konflikte und Gegensätze zu überwinden. Dabei geht es um die Verwirklichung einer größtmöglichen Gemeinsamkeit. Die Soziale Marktwirtschaft will auf das Ganze der Gesellschaft wirken10. 1.1 Geschichtliche Entwicklung der Sozialen Marktwirtschaft 1. Der Erfolg der Sozialen Marktwirtschaft trat nach der Währungsreform, also ab 1948 in der alten Bundesrepublik Deutschland dadurch ein, dass ein Wettbewerbssystem bei relativ stabilen Preisen und einer hohen Wachstumsrate geschaffen wurde. Diese Phase dauerte etwa zwanzig Jahre. 2. In einer zweiten Phase hatte der Schöpfer der Sozialen Marktwirtschaft schon früh gewisse Zukunfts-Entwicklungen berücksichtigt und zum Beispiel Umweltbedingungen, den Wohnungsbau, die Vermögensbildung, den Sparerschutz oder auch Bildungsinvestitionen miteinbezogen11. Dazu kam die Politik einer begrenzten Globalisierung. Die zweite Phase begann mit dem Ende der sechziger und dem Anfang der siebziger Jahre. Man gibt in der Literatur die genaue Zeit mit den Jahren 1967 bis 1978 an. 3. Eine dritte Phase umfasst die Jahre von 1979 bis 1990. In dieser Zeit scheiterte die Globalisierung, und die Ordnungspolitik stagnierte. Müller-Armack, (21976), S. 189. Müller-Armack, Alfred, (21981), S. 15. 10 Wegen dieser gesellschaftlichen Fundierung lässt sich auf die Soziale Marktwirtschaft nicht nur der Begriff der Wirtschaftsordnung oder des Wirtschaftssystems, sondern auch der altüberlieferte Begriff des Wirtschaftsstils anwenden. So jedenfalls ist auch Müller-Armack zu interpretieren. Vgl. dazu Quaas, Friedrun, Gesellschaftliche Grundlagen von Wirtschaftsordnungen, in: Rolf H. Hasse u. a., Lexikon Soziale Marktwirtschaft, Paderborn u. a. 2002, S. 239. 11 Müller-Armack, Alfred, (21981), S. 174, 310. 8 9
1. Das Wesen der Sozialen Marktwirtschaft
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4. Die vierte Phase beginnt mit der Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten im Jahr 1990 und hat mindestens bis Ende der neunziger Jahre gedauert. Spätestens mit dem Jahr 1998 begann die Diskussion über eine neue Konzeption der sozialen Marktwirtschaft. Es wurden unterschiedliche wirtschaftspolitische Zielsetzungen in dem Bereich des Arbeitsmarkts, in der Umgestaltung der Sozialsysteme laut. Dazu kam die Forderung nach einer grundsätzlichen Erneuerung der Sozialen Marktwirtschaft12. Wie groß die Reformbedürftigkeit des sozialen Netzes im Laufe der letzten Jahrzehnte geworden ist, erlebten viele europäische Länder gerade zu Ende des letzten und zu Beginn des neuen Jahrhunderts. Gefährlich wird diese Entwicklung, wenn die Leistungen in der Einkommensverteilung nicht zu Gunsten der Zeitgenossen der Gesellschaft erfolgt, sondern mittels einer steigenden Staatsverschuldung auf die nachfolgenden Generationen verschoben wird. In der Verteilung ist die öffentliche Hand nicht der Almosen-Geber oder die Geschenke verteilende Instanz. Die zweite Einkommensverteilung ist vielmehr ein Ausdruck von Solidarität. Der Staat darf sich dabei nur als eine Art Clearingstelle der Verteilung verstehen13. Da immer wieder Menschen verschuldet oder unverschuldet durch das soziale Netz fallen, bedarf es zur gesetzlichen Verteilung auch der privaten Hilfeleistung. Die Soziale Marktwirtschaft ist nicht nur ein ökonomisches System, das in der Zeit nach dem zweiten Weltkrieg Deutschland zu einem prosperierenden Land gemacht hat. Hinter ihr steht eine Philosophie, die sich in besonderer Weise um den Menschen kümmert. Ludwig Erhard, der dieser Wirtschaftsordnung politisch zum Erfolg verhalf, ging es keineswegs allein um eine politische Ordnung, sondern um den Menschen. Für ihn lag der ökonomischen Ordnung ein humanistisches Leitbild zugrunde. Er vertraute dem sozial verantworteten Modell der freien Marktwirtschaft. Allerdings wurde der soziale Charakter in der Marktwirtschaft – anders als bei Müller-Armack – stärker vertreten. Er setzte sich für eine eingeständig ausgestaltete Sozialpolitik ein. Sein Ziel war es, mit diesem Wirtschaftssystem den Menschen zu dienen. Er machte sich stark für eine Berücksichtigung der Freiheit des einzelnen Bürgers, aber er wollte diese zugleich gebunden wissen an eine Verantwortung für die Gemeinschaft. Hinter der Sozialen Marktwirtschaft wird also eine Gesellschaftsordnung erkannt, die über das Wirtschaftssystem hinaus ein gesellschaftliches Zielsystem verwirklichen will. Dieses sucht, die Freiheit des Individuum mit der Freiheit des Marktes und der Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel zu verbinden, umso eine bestmögliche Versorgung der Menschen mit Gütern und Diensten zu erreichen. Dazu bedarf es einer Politik des Vertrauens, die auf einem allgemeinen ethischen und gesellschaftlichen Konsens beruht. 12 13
Vgl. Quaas, Friedrun, (2002), S. 362 f. Vgl. Wolfgang Schmitz (Hrsg.), Was macht den Markt sozial?, (21982), S. 43.
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6. Kap.: Ökonomisches Handeln in der Gesellschaft
1.2 Gestaltung der Sozialen Marktwirtschaft Die Marktwirtschaft bedarf einer Verknüpfung von Markt, Kultur, wirtschaftlicher Entwicklung und Politik. Grundlage für ökonomisches Handeln ist ein verantwortlicher Umgang mit den Grundwerten des Menschen, mit seiner Menschenwürde, Freiheit, Solidarität, mit seiner subsidiären Hilfsbedürftigkeit. Es muss Gerechtigkeit und die für die Durchführung der marktwirtschaftlichen Ordnung notwendige Rechtstaatlichkeit gewährleistet sein. Für das optimale Funktionieren der Sozialen Marktwirtschaft sind gewisse Zielsetzungen hilfreich. Dazu gehören, wie in einem harmonischen Vieleck vorgesehen, Eckpunkte wie: – stabiler Geldwert in einer funktionierenden Währungsordnung, – das Bemühen auf dem Arbeitsmarkt nach einer hohen Beschäftigung (eine Vollbeschäftigung ist gegenwärtig kaum noch erreichbar), – Ausgleich der Zahlungsbilanz, – das Streben nach stetigem Wirtschaftswachstum. Ob diese einzelnen Eckpunkte freilich in der Gegenwart nach der Aufgabe vieler nationaler Politiken auf europäischer und internationaler Ebene durchsetzbar sind, bleibt zweifelhaft. Eine staatliche Konjunkturpolitik gehört zur staatlichen Wirtschaftspolitik. Weiter sind Rahmenbedingungen, wie bereits ausgeführt, notwendig, damit der Wettbewerb auf dem Markt reibungslos verlaufen kann. Technische Entwicklungen sind im Rahmen der Umweltverträglichkeit zu berücksichtigen. Eine ökonomische Strukturpolitik muss ebenso nachvollziehbar sein wie andere Politiken, z. B. die Kommunal- oder Regionalpolitiken. Es obliegt in der Sozialen Marktwirtschaft den einzelnen Wirtschaftssubjekten, den an sie gestellten Anforderungen, soweit das ihren Wünschen und ihrer Freiheit entspricht, nachzukommen. Dass Menschen auf dem Markt zwischen unterschiedlichen Angeboten wählen können, ist der Kern der Freiheit der Märkte überhaupt. Diese wird zwar heute von manchem Glied der westlichen Gesellschaft angeprangert, aber sie ist ein wesentlicher Bestandteil der Freiheit überhaupt. Der Mensch trägt Verantwortung für sich selbst, die Gesellschaft und die Umwelt. Andere Faktoren für die Gestaltung der Marktwirtschaft sind zu berücksichtigen bzw. einzuführen: – – – –
eine demokratische Verfassung, die Anerkenntnis der Menschenrechte, die Wahrnehmung der Rechtsstaatlichkeit, der Erhalt der Freiheit für das menschliche Sein und Handeln.
Das einzelne Wirtschaftssubjekt ist an dem ökonomischen Geschehen nicht nur als ein Individuum beteiligt, sondern handelt gleichzeitig als homo socialis
2. Soziale Gerechtigkeit in der Sozialen Marktwirtschaft
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(gesellschaftlich tätiger Mensch) und damit aus seiner sozialen Natur heraus. Darum sind Kooperation und Solidarität gefordert. Sie sind kollektive Güter, die ihre Begründung auch in der Natur des Menschen haben.
2. Soziale Gerechtigkeit in der Sozialen Marktwirtschaft Aristoteles (384–322 v. Chr.) unterscheidet in seinem Gerechtigkeitsbegriff eine kommunikative, also eine Tauschgerechtigkeit (iustitia communicativa), eine zuteilende oder verteilende Gerechtigkeit (iustitia distributiva) und schließlich eine legale Gerechtigkeit (iustitia legalis), in der der einzelne seinen Beitrag zum Ganzen des Gemeinwohls leistet14. Die Verteilungsgerechtigkeit, die iustitia distributiva, wurde nachdrücklich bei Aristoteles postuliert. Es ist nach ihm die partikulare (besondere) Gerechtigkeit, die als Zuteilungs-Gerechtigkeit den einzelnen Gliedern vom staatlichen Ganzen abgibt, was ihm im Verhältnis seiner Bedürfnisse oder seines Anspruch zusteht, oder, wie Thomas von Aquin später formulierte, vom Gemeinwohl zuzubilligen ist15. In der Antike war die ausgleichende Gerechtigkeit, wie sie heute in einem Wohlfahrtsstaat moderner Prägung praktiziert wird, nicht bekannt. Aber die Verteilungsgerechtigkeit wird seit der Antike immer wieder in der Formel des römischen Juristen Ulpian (170–228 n. Chr.) zitiert: iustitia est constans et perpetua voluntas ius suum cuique tribuendi (Die Gerechtigkeit ist der feste und dauerhafte Wille, jedem das Seine (jedem sein Recht) zuzuteilen)16. Dieses suum cuique ist später nicht nur in das katholische Naturrecht eingegangen, sondern spielt in gleicher Bedeutung auch als Gerechtigkeitsprinzip bei den Reformatoren (Luther, Zwingli und Calvin) eine Rolle. Die Gerechtigkeit wurde bis in das 19. Jahrhundert als Tugend aufgefasst und als ein individuelles Handeln verstanden. Mit der Einhaltung der legalen Gerechtigkeit erfüllt der Mensch nach Aristoteles die ganze Tugend der Gerechtigkeit. Die Tugend wiederum ist der Inhalt des Nomos. Wer nach dem Gesetz handelt, handelt gerecht17. Die gesetzliche Gerechtigkeit ist nicht ein Anteil an der Tugend, sondern die ganze. Die Gerechtigkeit kennzeichnet bei Aristoteles den vollkommenen Menschen und den vollkommenen Bürger in der Gesellschaft. Diese Art der Gerechtigkeit ist die ganze oder allgemeine Gerechtigkeit, die von den beiden anderen, den besonderen oder partikularen Gerechtigkeiten, der iustitia commutativa und distributiva, unterschieden werden muss18. Die soziale Gerechtigkeit ist von ihrer Form und ihrem Inhalt her nicht von vornherein definiert. Es handelt sich bei ihr um einen Verhältnisbegriff. Der 14 15 16 17 18
Kramer, Rolf, Soziale Gerechtigkeit – Inhalt und Grenzen, Berlin 1992, S. 29 ff. Vgl. Kramer, Rolf, (1992), S. 31, 42, 110. Digesten, 1,1,10. Kramer, Rolf, (1992), S. 110. Kramer, Rolf, (1992), S. 31.
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6. Kap.: Ökonomisches Handeln in der Gesellschaft
Maßstab ist verschieden. Er ist je nach regionalen, kulturellen, ökonomischen und gesellschaftlichen Maßstäben zu differenzieren19. Die soziale Gerechtigkeit wird in den einzelnen Ländern und Kontinenten, etwa in den USA, Europa oder in Afrika unterschiedlich gesehen. Im Allgemeinen hat man bei ihr einen Zielbegriff vor Augen. Denn mit der sozialen Gerechtigkeit wird etwa angestrebt, was man bisher noch nicht erreicht hat. Gerechtigkeit ist also ein Relationsbegriff. Denn sie bedarf des Maßstabes, nach dem sie zu beurteilen ist. Zum Wesen der Gerechtigkeit gehört, dass man sich in den entsprechenden Lebensbereichen für gerechte und geordnete Lebensverhältnisse und Lebensbedingungen einsetzt. Die Menschen treten für solche Beziehungen ein, die man als gerechtfertigt empfindet. Sie wollen sich aus eigener Gesinnung heraus für die Gerechtigkeit stark machen. Darum steht zwangsläufig hinter der Vorstellung einer zu verwirklichenden Gerechtigkeit ein subjektives Prinzip. Ihr Ziel ist eine chancengleiche Verteilung von Gütern, Rechten, Pflichten und Lasten. In einer marktwirtschaftlichen Ordnung ist die Tauschgerechtigkeit die Norm, die entsprechend den Preisen die Verteilung der Güter vornimmt. Freilich lässt sich die Tauschgerechtigkeit nicht immer über die Preise herstellen. Der Begriff einer sozialen Gerechtigkeit wurde erst im 19. Jahrhundert als eine Verknüpfung des Attributs sozial und des Substantivs Gerechtigkeit vorgenommen. Früher war der Begriff der Gerechtigkeit immer schon als sozial verstanden worden. Erst die beiden Italiener Luigi Taparelli, der Lehrer des Papstes Leo XIII., und der Theologe und Philosoph Antonio Rosmini, haben diesen Ausdruck im 19. Jahrhundert aufgebracht20. Damit wird nicht mehr allein das Handeln des einzelnen Menschen, das er für den anderen erbrachte, gemeint, sondern man hat mit diesem Begriff ein Regelsystem erdacht, nach dem die Handlungen erfolgen sollen. In der Sozialen Marktwirtschaft soll die soziale Gerechtigkeit das entstandene ökonomische Ungleichgewicht glätten. Die Gesellschaft will über den Staat mit Hilfe der iustitia distributiva soziale Korrekturen erreichen. Denn die Marktwirtschaft strebt nicht von sich aus nach einer sozialen Gerechtigkeit. Sie kann weder diese Art von Gerechtigkeit noch soziale Sicherheit erreichen. Ein sozialer Ausgleich kann darum nur über die staatliche Umverteilungspolitik bewirkt werden. Indessen gibt es nicht nur die eine soziale Gerechtigkeit, sondern deren viele. Die eigenen Interessen müssen sich auf dem Markt behaupten. Deshalb gehört zur Marktwirtschaft nicht von vornherein die iustitia distributiva. Eine Tauschwirtschaft kennt ein solches Instrument nicht aus sich selbst. Erst ein in der Gesellschaft gewünschter Schutz der sozial Schwachen führt zum staatlichen Handeln und zur Einbringung von Sozialpolitik21. Ob dadurch immer die 19 20
Vgl. Kramer, Rolf, (1992), S. 102 ff. Kramer, Rolf, (1992), S. 5.
2. Soziale Gerechtigkeit in der Sozialen Marktwirtschaft
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soziale Gerechtigkeit erzielt werden kann, bleibt letztlich eine politische Entscheidung. Der Staat kann schließlich nicht einen Wohlstand für alle schaffen. Es kann nicht seine Aufgabe sein, die Entwicklung auf sozialen, kulturellen, wirtschaftlichen oder gesellschaftlichen Gebieten zu optimieren. Aber er sollte eine solche Entwicklung auch nicht behindern. Die deutschen katholischen Bischöfe haben sich in jüngster Zeit mit der sozialen Komponente der Marktwirtschaft auseinandergesetzt und zu einem neuen Bedenken des Sozialen aufgefordert22. Denn es sind Reformen wegen des demographischen Wandels, der Erosion alter Solidaritätsformen (Familie etc.) und der strukturellen Arbeitslosigkeit notwendig. Aber nach ihrer Meinung gibt es keine Reformen des Sozialstaates, weil bestimmte Hindernisse existieren. Denn: – Die Partikularinteressen bestimmter Bevölkerungsgruppen und Verbände dominieren. Das Zuteilen von sozialen Vergünstigungen geschieht an solche organisierten Gruppen sehr viel leichter als gegenüber unorganisierten Gruppen. – Die Sozialpolitik besteht vielfach in der Befriedigung von Ansprüchen und Geldzuwendungen. Aber Sozialpolitik ist mehr als Verteilungspolitik. Sie sollte die Beteiligungsgerechtigkeit für alle stärken. Dazu gehören Alterssicherung und Nachwuchsförderung. Sozialpolitik muss darum die „Dienstleistungen, Qualifizierung und Gestaltung der sozialen Umwelt“ im Auge haben23. Dazu gehören auch Familien- und Bildungspolitik! – Die Sozialpolitik muss sowohl den Kräften der einzelnen als auch denen der Gesellschaft Rechnung tragen. – Die föderale Ordnung in der Bundesrepublik bildet eine besondere Barriere. Diese ist es nämlich, die mehr und mehr Reformen verhindert. Für alle Reformen in der Sozialpolitik gilt der Grundsatz, den Papst Johannes XXIII. in seiner Enzyklika Mater et Magistra (n. 219) für die katholische Soziallehre aufstellte. Dieser hat in gleicher Weise für das politische ebenso wie für das gesellschaftliche Handeln Gültigkeit: Der Mensch ist „der Träger, Schöpfer und das Ziel aller gesellschaftlicher Einrichtungen“. Deshalb sind alle Wirkungen des sozialen und ökonomischen Handelns daran zu messen, inwieweit sie dem Menschen dienen. Eine Gesellschaft muss also unter dem doppelten Leitbild, dem der Solidarität und der Subsidiarität stehen. Beide sind für die Durchsetzung des Sozialstaates von besonderem Wert. Auch der rechte Umgang mit den multinationalen Unternehmen (Transnationale Konzerne, TNC) ist angezeigt und bedarf einer ethischen Grundlegung. Immerhin haben sich die Mitgliedskirchen der Ökumene dieser Frage angenom21
Vgl. Kramer, Rolf, (1992), S. 110. Die Deutschen Bischöfe – Kommission für gesellschaftliche und soziale Fragen, Nr. 28, Das Soziale neu denken, Bonn 12.12.03. 23 Die Deutschen Bischöfe, (2003), Nr. 28, S. 13. 22
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6. Kap.: Ökonomisches Handeln in der Gesellschaft
men. Mindestens seit 1976 – also seit der 5. Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen in Nairobi – wird darauf verwiesen, dass die multinationalen Unternehmen unter einer dreifachen sozialethischen Zielsetzung stehen: – Sie sollen sich der Forderung einer sozialen Gerechtigkeit unterwerfen, auch wenn man nicht genau sagen kann, was deren Inhalt ist. Es geht den meisten Kirchen um eine gerechte Produktion und Verteilung von Gütern und Diensten. – Sie sollen eine Partizipation der Menschen am Entscheidungsprozeß fördern, auch wenn man nicht sagen kann, wie letztlich eine solche Verbesserung der demokratischen Formen in den Ländern aussieht. – Sie sollen schließlich mithelfen, zu einer Überlebensfähigkeit der Menschheit auf dieser Erde zu kommen, so dass die Überlebensfähigkeit dieser und der nachfolgenden Generationen gesichert ist24. Aber diese Forderungen bleiben im Unverbindlichen stecken. Wer will und kann denn die Einhaltung der Forderungen kontrollieren. Außerdem bleibt zu fragen, ob sie wirklich den erwarteten Nutzen stiften? Aber einen Grundkonsens für die Behandlung von multinationalen Konzernen zu erzielen, ist schon deshalb notwendig, weil es keine übergeordnete Instanz gibt, die solche Richtlinien oder Rahmenordnungen erstellt. Freilich hat sich ein solches Regelwerk den Bedingungen der Marktwirtschaft unterzuordnen.
3. Christliche Elemente in der Sozialen Marktwirtschaft Nach christlicher Lehre gründet die Menschenwürde in der Ebenbildlichkeit des Menschen mit seinem Schöpfer. Der Mensch hat Würde, weil er Abbild Gottes (imago dei) ist. Diese Würde beschreibt das Humanum des Menschen. Damit gehört die Würde zur Natur des Menschen. Sie ist unantastbar (Art. I,1 GG) und bedarf der Anerkennung und des Schutzes. Nach dem Grundgesetz (Art. I,2) bekennt sich das Deutsche Volk „zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt“. Die Menschenwürde ist universal und darf ebenso wenig wie die aus ihr abzuleitenden Menschenrechte eingeschränkt werden. Mit ihr sind Rechte und Pflichten verbunden. Ihre Verletzung oder Zerstörung ist zu verhindern. Zur Abwehr gehören selbstverständlich auch die Verbote von Folter und anderer unmenschlicher und grausamer Behandlung. Freiheit als Grundwert menschlicher Existenz legt die Basis für jedes ethische Handeln. Ihr Wesen wird bereits ausführlich in der Antike erörtert. Später stellt sie das zentrale Thema für die Aufklärung und den Deutschen Idealismus dar. Nach Kant ist sie die Grundlage der Ethik. Sie zerfällt in eine äußere und 24
Vgl. Kramer, Rolf, Sozialer Konflikt und christliche Ethik, Berlin 1988, S. 128 ff.
3. Christliche Elemente in der Sozialen Marktwirtschaft
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eine innere Freiheit. In der christlichen Ethik erfährt der Mensch seine innere Freiheit nicht durch eigenes Handeln, sondern allein aus göttlicher Gnade, also durch dessen Handeln. Der Mensch wird frei von Sünde und den Mächten dieser Welt zum Dienst am Nächsten. Er erhält im christlichen Denken die innere Freiheit allein durch die ihm von Gott gewährte Freiheit. Diese ist das ihm von Gott geschenkte Heil. Aber außer in der von Gott gewährten inneren Freiheit lebt der Mensch auch in der äußeren Freiheit. Beide bedingen einander! Die Freiheit des Handelns, also die äußere Freiheit, äußert sich in der Selbstbestimmung zum Tun oder Unterlassen; sie muss in ihrem Handeln und Ergebnis verantwortet werden. Beide Handlungen sind eine Folge von äußerer Freiheit. Diese äußert sich in bestimmten sozialen Prinzipien: Die Solidarität verlangt Verantwortung gegenüber dem schwachen Einzelglied. Aber kein Individuum existiert allein. Der Mensch steht immer in einer Beziehung und also in einer Gemeinschaft. Darum verlangt echte Solidarität Altruismus. Und das Solidarprinzip besagt: „Wir sitzen alle in einem Boot“25. Damit gilt: Alle für einen und einer für alle. Echte Solidarität schließt den Bezug zum Gemeinwohl ein und stellt sich gegen Egoismus und Kollektivismus. Das Solidaritätsprinzip findet als Kehrseite seine Ergänzung im Subsidiaritätsprinzip. Die Subsidiarität will die Eigenverantwortung stärken und damit die kleinere Einheit gegenüber der größeren fördern. Dieses Prinzip bedeutet, dass jeder Mensch (oder die kleine organische Einheit) selbstständig handeln kann. Andererseits soll die größere Gemeinschaft (oder organisatorische Einheit, z. B. der Staat) nur subsidiär eingreifen, um dem einzelnen oder der kleineren Einheit zu helfen26, wenn die Kräfte des einzelnen Menschen nicht ausreichen. Darum ist also darauf zu achten, dass dem einzelnen nicht abgenommen werden darf, was er seinerseits zu leisten imstande ist. Das heißt: Nur soviel Staat wie nötig und so wenig Staat wie möglich. Alle Prinzipien, besonders das Solidaritäts- und das Subsidiaritätsprinzip sind für die drei Säulen des Gemeinwesens von Bedeutung: für den Staat, für die Wirtschaft und für die Familie. Die dritte Säule, die Familie, ist „durch Selbstorganisation und Selbstverantwortung“ geprägt. Zu ihr gehören noch andere Institutionen, wie die gemeinnützigen Einrichtungen der Kirchen, Gewerkschaften oder Vereine27. Wie die Marktwirtschaft selbst ist auch die Soziale Marktwirtschaft ein offenes System, das sich je nach den gesellschaftlichen Wünschen und Vorstellungen verändern kann. Die Menschen stehen immer wieder vor einer neuen ökonomischen und sozialen Zielsetzung. Aber sie haben natürlich zugleich auch mit einem Scheitern zu rechnen. 25
Kramer, Rolf, (1988), S. 82. Vgl. Pius XI., Quadragesimo Anno, n. 79. 27 Die Deutschen Bischöfe, Kommission für gesellschaftliche und soziale Fragen, Nr. 28, (2003), S. 20 f. 26
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6. Kap.: Ökonomisches Handeln in der Gesellschaft
Immer schon hat sich die Evangelische Kirche in Deutschland – mindestens durch ihre Sozialkammer – über ihr Verhältnis zur Wirtschaft geäußert. Viele Denkschriften der letzten Jahrzehnte zeugen von ihrem Engagement. Darum hat sich die evangelische Kirche gleich nach der Wiedervereinigung der Beziehung von Staat und Wirtschaft gewidmet. Ihr war es immer schon wichtig, dass die demokratische verfasste Gesellschaft auch für die Demokratie in der Wirtschaftsordnung Sorge trug. Darum war für sie die Frage relevant, ob und in wieweit das gegenwärtige Wirtschaften „demokratieverträglich“ ist28. Dazu äußerte sich die Denkschrift „Gemeinwohl und Eigennutz“ aus dem Jahr 1991. Im Untertitel heißt es: „Wirtschaftliches Handeln in Verantwortung für die Zukunft“. In einer demokratischen Gesellschaft wird es immer auch um das Verhältnis von demokratischem und wirtschaftlichem System gehen. Zwischen Demokratie und Marktwirtschaft besteht selbstverständlich keine Unvereinbarkeit. Aber die Frage nach einer staatlichen Einflussnahme stellt sich natürlich auch hier. Umgekehrt können Wirtschaftsunternehmen auf den Staat Macht ausüben. Großunternehmen werden in gewisser Weise als Bedrohung der Demokratie empfunden. Marktbeherrschung und Politikbeeinflussung durch solche Unternehmen können für die Demokratie unverträglich sein29. Die ausgeübte Macht muss mit dem pluralistischen Demokratieverständnis zu vereinbaren sein. Schließlich darf „nicht allein ein gesellschaftliches Interesse“ die Politik dominieren30. Nach der Denkschrift muss die Demokratie auch auf die Wirtschaftsordnung Einfluss ausüben. Der Prozess der deutschen Vereinigung hat es allerdings notwendig gemacht, auf die zwei unterschiedlichen Verhältnisse in der wirtschaftlichen Entwicklung einzugehen und letztlich ein einheitliches Wirtschaftsgebiet zu schaffen. In den neuen deutschen Bundesländern erfordert die Wirtschaftsgestaltung ein höheres Maß an staatlicher Einflussnahme als in Westdeutschland. Es besteht ein unlösbarer Zusammenhang zwischen Demokratie und Wirtschaftsordnung. Denn in einer demokratischen Gesellschaft besteht ein enges Verhältnis zwischen beiden. Die Soziale Marktwirtschaft legt die Zielsetzung der Wirtschaftsordnung und der Wirtschaftshandlungen in der Bundesrepublik Deutschland fest31. Aber die Marktwirtschaft ist kein „stationäres Gebilde und nicht Ausdruck eines abstrakten, unabänderlichen Gesetzes“, sondern ein dynamischer Prozess, in dem Kontinuität und Widerspruch gleichermaßen herrschen, so argumentiert die Denkschrift32. 28 Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland, Gemeinwohl und Eigennutz, Gütersloh 1991, n. 28, S. 29. 29 Gemeinwohl, n. 29, S. 30. 30 Gemeinwohl, n. 29, S. 30. 31 Gemeinwohl, n. 35 ff., S. 33 ff.
3. Christliche Elemente in der Sozialen Marktwirtschaft
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Vier Ebenen müssen nach Meinung der genannten Denkschrift für das Verständnis der Sozialen Marktwirtschaft unterschieden werden: 1. Die marktwirtschaftliche Ausrichtung des ganzen ökonomischen Lebens bildet einen dezentralen Entscheidungsprozess, der von vielen einzelnen Wirtschaftssubjekten vorgenommen wird. Der Markt bildet den Abstimmungsprozess. Der Wettbewerb kann als das dazugehörige Entmachtungsinstrument angesehen werden. Die Preise haben dabei eine Lenkungsfunktion. 2. Die staatlichen Maßnahmen – z. B. auf dem Gebiet des Vertragsrechtes – müssen aufgrund der erlassenen Rahmenordnung für eine entsprechende Ordnung auf den Märkten sorgen. Andere gesellschaftliche Voraussetzungen sind politischer Art. Diese betreffen die Bürger der jeweiligen Volkswirtschaft, ihre Arbeitswilligkeit oder ihre Innovationsbereitschaft. Der Staat muss dabei auch als Garant der Tarifautonomie und als Bürge für die sozialen Schutzbestimmungen dienen. Er hat für die Erhaltung des sozialen Friedens zu sorgen. Gleichzeitig ist er Träger der Geld-, Währungs- und Finanzpolitik. 3. Staatliches Handeln hat beim Versagen der Marktmechanismen einzusetzen. Der Staat muss dort eingreifen, wo es darum geht, öffentliche Güter anzubieten, die keinen privatwirtschaftlichen Preis erzielen. Auch muss er tätig werden, wenn der Markt etwaige ökologische Gefahren nicht erkennt. 4. Das soziale Handeln muss mit dem wirtschaftlichen verknüpft werden. Aber das Handeln darf nicht nur als eine Verknüpfung von Marktwirtschaft und Sozialpolitik gesehen werden33. Die Soziale Marktwirtschaft muss vielmehr zu einer Marktwirtschaft mit einer Wirtschaftspolitik führen, die ihrerseits auf eine „bewusst soziale Steuerung des Marktes“ (Müller-Armack) zielt34. Die Denkschrift weist darauf hin, dass die Wirtschaft kein ethisch „verantwortungsfreier Raum“ ist35. Im Gegenteil: Sie ist ein Ort christlicher Verantwortung. In drei Ebenen wird dieses wirtschaftliche Handeln hinsichtlich der Verantwortung näher geprüft. Es geht dabei – um die bestimmende Weltsicht, die das wirtschaftliche Handeln leitet. Die Weltsicht weist auf den kulturellen Hintergrund hin, auf dem Ökonomie praktiziert wird. – um inhaltliche Ordnungskriterien, aufgrund derer die Wirtschaft nach christlichem Verständnis beurteilt werden muss. Bei den inhaltlichen Ordnungskriterien beklagen die Autoren eine mangelnde Wahrnehmung der gesellschaftlichen Veränderungen durch die Kirchen besonders im Hinblick auf die Aus32 33 34 35
Gemeinwohl, Gemeinwohl, Gemeinwohl, Gemeinwohl,
n. n. n. n.
67, 36, 60, 96,
S. S. S. S.
58. 34 ff. 53. 79.
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6. Kap.: Ökonomisches Handeln in der Gesellschaft
einandersetzung über die soziale Frage. Theologie und Kirchen haben zu lernen, dass die ökonomischen Probleme einer gerechten Sozial- und Wirtschaftsordnung gleichviel Aufmerksamkeit erfordern wie etwa früher die staatliche und die politische Ethik36. – um die persönliche Verantwortung der Christen37. Bei dieser geht es nicht nur um individualethische Appelle und Forderungen an die Lebensführung, sondern auch um eine korporative Verantwortung. Die in der Wirtschaftsordnung gesetzten äußeren Grenzen ermöglichen einen relativ großen Spielraum für eine individuelle und korporative Verantwortung. Diese Freiräume in den Organisationen und Institutionen müssen wahrgenommen und gestaltet werden38. Dazu freilich ist immer auch eine persönliche Verantwortung gefordert. Die Soziale Marktwirtschaft hat sich in Deutschland als System bewährt. Sie erlaubt ein sachgerechtes und zugleich menschengerechtes wirtschaftliches Handeln. Ob jedoch die „marktwirtschaftliche Praxis zukunftsfähig ist“, wird sich an folgenden Faktoren entscheiden39. Sie muss – der Zerstörung der natürlichen Umwelt Einhalt gebieten, – eine gerechtere Gestaltung der Weltwirtschaft erreichen und einer gerechten Globalisierung zum Durchbruch verhelfen, – eine soziale Gerechtigkeit schaffen und – sich mit der Entscheidung für eine demokratische Ordnung als verträglich erweisen40. Die katholische Theologie hat unter der Federführung der Deutschen Bischöfe ein Umdenken auf dem sozialen Gebiet der Marktwirtschaft gefordert und sich für eine Überwindung der Blöcke der Reformpolitik in der Bundesrepublik eingesetzt. Diese Reformvorschläge wurden unterbreitet: – Da sich Deutschland vor einem Kollaps der Sozialsysteme – speziell aufgrund eines starken Bevölkerungsrückganges – befindet, bedarf es einer starken Nachwuchsförderung. Denn ohne Kinder ist das Sozialsystem nicht aufrecht zu erhalten. Ehe und Familie sind schließlich grundlegend für die Entfaltung des einzelnen Menschen und der ganzen Gesellschaft. Die Bischöfe weisen darauf hin, dass die Familien durch finanzielle Leistungen, Beitragsentlastungen, Dienstleistungen und rechtliche Sicherungen unterstützt werden müssen. Die Familie sollte nicht der Arbeitswelt angepasst, „sondern die Ar-
36 37 38 39 40
Gemeinwohl, Gemeinwohl, Gemeinwohl, Gemeinwohl, Gemeinwohl,
n. n. n. n. n.
99 f., S. 81 f. 96, S. 81. 101, S. 82. 172, S. 117. 172, S. 117.
4. Ethik in der Sozialen Marktwirtschaft
113
beitswelt muss familiengerecht werden. Wir brauchen ganz grundlegend und elementar eine familienfreundliche und familienfördernde Gesellschaft“41. – Ähnliches gilt für die Bildungspolitik. Lebens- und Beteiligungschancen werden durch die Bildungsangebote vergrößert. Die internationale Wettbewerbsfähigkeit hängt davon ab, inwieweit eine überdurchschnittliche schulische Allgemeinbildung und eine gute berufliche Aus- und Weiterbildung geschaffen wird. – Für die Bundesrepublik ist es von Bedeutung, den föderalen Status zu stärken, die Grenzen zwischen Bund und Länder klarer zu bestimmen, aber dabei den Gedanken der Subsidiarität zu berücksichtigen. – Die staatlichen Institutionen und Einrichtungen hinsichtlich ihrer sozialen Verantwortung in die Pflicht zu nehmen. – Schließlich fordert man eine Art Sozialstaats-TÜV in Verbindung mit einem entsprechenden Sozialbericht, der etwaige Wissenslücken für Staat und Gesellschaft schließt. Auf einen solchen Sozialbericht könnten sich dann auch die Kirchen mit ihren Stellungnahmen rückbeziehen42. Die persönliche Verantwortung kann in einer freiheitlichen Demokratie nicht von oben verordnet werden. Aber die Soziale Marktwirtschaft kann sich nur entfalten, wenn ihr durch staatliche Rahmenbedingungen und politische Entscheidungen eine langfristige Perspektive geschaffen wird43.
4. Ethik in der Sozialen Marktwirtschaft Müller-Armack hatte bereits im Jahr 1949 erklärt, dass keine Wirtschaftsordnung von sich aus schon sittlich sei. Die Wirtschaftsethik ist für ihn individualistisch geprägt. Er schreibt: „Wir glauben lediglich, dass die Marktwirtschaft einer Versittlichung des Wirtschaftslebens, die immer nur ein Akt der daran beteiligten Personen sein kann, weniger Hemmungen in den Weg legt, und mehr Spielraum bietet, um zu sozial besseren Verhältnissen zu gelangen“44. Für die Soziale Marktwirtschaft lassen sich zwei unterschiedliche wirtschaftsethische Ansätze aufzeigen: Der eine ergibt sich mit seinen Differenzierungen aus mikroökonomischer Sicht und der andere folgt aus der makroökonomischen Betrachtung. Die mikroökonomischen Formen der Ethik stellen die unterschiedlichen Formen der Unternehmensethiken dar und lassen sich in der Wirtschaft und für sie 41 Die Deutschen Bischöfe, – Kommission für gesellschaftliche und soziale Fragen, Nr. 28, Das Soziale Neu denken, Bonn 12.12.2003, S. 23. 42 Die Deutschen Bischöfe, N. 28, (2003), S. 25 ff. 43 Vgl. Gemeinwohl, n. 195, S. 136. 44 Müller-Armack, Alfred, (21976), S. 192.
114
6. Kap.: Ökonomisches Handeln in der Gesellschaft
anwenden45. In der deutschen wirtschaftsethischen Literatur werden mikroökonomisch vor allem die Ansätze von a) Horst Steinmann und b) Peter Ulrich diskutiert. a) Horst Steinmann46 wendet sich den unternehmensethischen Fragen zu. Seine Ethik ist im Kern eine Diskursethik, die aus der Lebenspraxis und ihren Erfahrungen erwächst. Seine Erkenntnis wurde aus dem Konfliktfall des Unternehmens Nestlé gewonnen. Der Konzern hatte bei der Vermarktung von Ersatzprodukten für Muttermilch in Entwicklungsländern Schwierigkeiten. Da das für die Baby-Nahrung notwendige keimfreie Wasser nicht zur Verfügung stand, kam es zu Ernährungsproblemen bei den Kleinkindern. Erst in einem Dialog mit allen Betroffenen, also auch mit der Unternehmensleitung, konnten die Schwierigkeiten gelöst worden. Zwar spielt in der Ethik Steinmanns das Gewinnprinzip als unternehmensentscheidende Leitmaxime eine wichtige Rolle. Aber es muss eine situationsgerechte Anwendung finden. Denn in einer Unternehmenspolitik muss sich die Entwicklung von einer Gewinn maximierenden Entscheidung zu einer ethisch geprägten vollziehen können. Das Lebensrecht und die Lebenspraxis anderer Menschen müssen ihre Berücksichtigung finden. Steinmann will ganz konkret ethische Entscheidungen praktizieren und Verantwortung übernehmen. Nur so lassen sich ethische Konflikte lösen und konkrete Probleme bewältigen. Zur Lösung von ethischen Fragen werden Ethikräte oder Ethikkommissionen vorgeschlagen. Ob diese allerdings, wenn ihre Mitglieder aus dem Unternehmen selbst kommen, objektive Verantwortung übernehmen und Stellung beziehen können, ist mehr als zweifelhaft. Ihre Abhängigkeit vom Unternehmen ist meistens zu groß. b) Peter Ulrich entwickelte eine mikroökonomische integrative Vernunftethik47. Er unterscheidet dabei Grundtypen der Rationalität: die kommunikative Rationalität, in der sich die Beteiligten als Subjekte anerkennen, die strategische Rationalität, in der man sich wechselseitig erfolgsorientiert motiviert, die kalkulatorische Rationalität, in der die Knappheit der Ressourcen bewältigt werden sollen. Zusammen mit der wirtschaftlichen Vernunft will die Wirtschaftsethik ihre Wirksamkeit entfalten und dem Leben dienen. Darum besitzt Ethik den Primat vor der Ökonomie. Man kann von einer Domestizierung der Wirtschaft durch die Ethik sprechen. Ulrich geht es um eine systematische Überwindung des Gewinnprinzips zu Gunsten einer ethischen Orientierung. Außer diesen mikroökonomischen Ansätzen existieren makroökonomische Modelle der Wirtschaftsethik. Dazu gehört das Schema der Ordnungsethik. Die Rahmenbedingungen sind der Ort, an dem die Wirtschaftsethik ansetzt. Solche Ordnungsstrukturen gestalten die Wirtschaft. Zu diesen Ansätzen gehören Karl 45 46 47
Vgl. Kramer, Rolf, (2002), S. 89 ff. und 120 ff. Kramer, Rolf, (2002), S. 91 ff. Kramer, Rolf, (2002), S. 94 ff.
4. Ethik in der Sozialen Marktwirtschaft
115
Homann et alii mit ihren Modellen. Sie unterscheiden u. a. nach der sportlichen Sprachregelung zwischen Spielregeln (Rahmenregeln) und Spielzügen (Präferenzen). Während die Rahmenordnung zu den Spielregeln zählt, wird der Wettbewerb im Einzelnen zu den Spielzügen gerechnet48. Für die Ethik in der Sozialen Marktwirtschaft sind, sofern es um die ökonomischen Bedingungen des Marktes geht, die makroökonomischen Ordnungs-Ansätze wichtiger als die mikroökonomischen Bedingungen. Vielfach wird als Grundlegung für diese Wirtschaftsethik das Gefangenendilemma aus der Spieltheorie benutzt. Darin steckt folgende Situation: Zwei verdächtige Gefangenen werden verhört. Beiden wird die Kronzeugenregelung angeboten, bei einem Schuld-Bekenntnis straflos zu bleiben. Der jeweils andere erhält dann allerdings lebenslänglich. Aber keiner weiß von dem anderen, was dieser tut. Gestehen beide und helfen bei der Aufklärung, wird ihnen eine mittlere Strafe (fünf Jahre) zuerkannt. Leugnen dagegen beide, erhalten beide eine milde Strafe (zwei Jahre); denn man kann ihnen nur Kleinigkeiten nachweisen. Jeder kann davon ausgehen, dass der jeweils andere Gefangene gestehen wird. Folgende Strafmasse sind darum denkbar: 1. Leugnen beide, erhalten beide zwei Jahre. 2. Der Gefangene I. leugnet, während die Nummer II. gesteht. Dann erhält der Gefangene I. lebenslänglich, der Gefangene II. wird frei gesprochen. 3. Die Situation kann sich natürlich auch umgekehrt ergeben. 4. Gestehen beide Gefangenen, könnten sie zwar jeweils als Kronzeuge freigesprochen werden. Aber sie könnten sich auch fünf Jahre einhandeln. Vergleichen die Gefangenen die beiden Höchststrafen, dann liegen diese bei fünf Jahren und bei lebenslänglich. Da beide so denken, ziehen beide wohlmöglich das Strafmaß von fünf Jahren vor – und gestehen. Hätten sich aber beide aufeinander verlassen können und hätten geleugnet, wären sie mit nur zwei Jahren davon gekommen. Es denken aber alle Menschen wie die zwei Gefangenen und handeln aus ihrem Eigennutz und nicht altruistisch. Im Schema sieht diese Überlegung so aus: Gefangener I Leugnet
Gesteht
Leugnet
2
2
Gesteht
0
LL
LL
0
5
5
Gefangener II
48
Vgl. Kramer, Rolf, (2002), S. 98 ff.
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6. Kap.: Ökonomisches Handeln in der Gesellschaft
Da beide Gefangenen in ihren Überlegungen von gleicher Basis ausgehen, werden sie also gestehen. Die Gefangenen hätten von ihrem Dilemma nur dann profitiert, wenn sie wie Pech und Schwefel zusammengehalten hätten. Aus dieser Not kann sich der einzelne Mensch nicht allein befreien. Alle müssen mithelfen. Wenn es in der Gesellschaft um die Lösungen von Entscheidungs- bzw. Wettbewerbsschwierigkeiten geht, müsste ihnen von außen geholfen werden. Im Wettbewerb einer Wirtschaft kann der einzelne wie im Gefangenendilemma versuchen, sich durch eine entsprechende Einstellung unterschiedliche Vorteile zu verschaffen, etwa wenn er die Position des Kronzeugen einnimmt. Aber die Rahmenbedingungen der Wettbewerbsordnung hindern ihn daran. Dann ließen sich die einzelnen Wettbewerbshandlungen als Spielzüge auffassen. Andererseits werden die Wettbewerber durch den Schiedsrichter (z. B. Kartellamt) – wie im Gefangenen-Dilemma der Strafrichter – daran gehindert, Preise abzusprechen (Spielregeln). Der Ort der Homann’schen Ethik liegt danach vornehmlich in der Gestaltung von Rahmenordnungen. Die Unternehmensethik dagegen wird sich mehr an den Spielzügen und damit an der wirtschaftlichen Gewinnerzielung orientieren. Wirtschaft und Ethik grenzen sich nicht voneinander ab, sondern sind gleichwertig; sie sollten sich langfristig aneinander anpassen. Wie Spielregeln und Spielzüge eine Einheit bilden, so tun das auch Ethik und Wirtschaft. In der Sozialen Marktwirtschaft bedarf es auf Dauer keiner ethischen Gesamteinstellung aller Bürger. Aber es muss ein Minimalkonsens gegeben sein, der so ausgestaltet ist, dass die Soziale Marktwirtschaft funktionsfähig erhalten bleibt. Im Zweifel, ob der Ethik oder der Ökonomie die Vorherrschaft gebührt, ist auf die Gleichberechtigung zwischen beiden Orientierungszielen zu verweisen. Zwar ist das Erzielen von hohen Renditen eine wichtige und langfristige Aufgabe der Unternehmertätigkeit. Dazu gehört die Einhaltung von verlässlichen Vertrauensbeziehungen. Nur so lassen sich in einer Marktwirtschaft letztlich die Märkte offen und die für das Wachstum notwenige Prozesse in Gang halten. Die Ethik ist nicht als Norm vorgegeben, sondern sie ist Ausdruck der jeweiligen Kultur. Zwar existiert durch sie ein Einfluss auf das Handlungsfeld Wirtschaft. Aber zugleich besteht auch ein Rückbezug des wirtschaftlichen Verhaltens auf die Ethik und die Kultur. Beide werden durch die Gesellschaft verändert. Umgekehrt kann sich auch die Gesellschaft einer kulturellen Entwicklung nicht verschließen. Je stärker beispielsweise die Diskurskultur in der Gesellschaft verankert ist, umso mehr wird sich diese auch in der Wirtschaft durchsetzen. Solche postmoderne Orientierung fordert eine demokratische und emanzipatorische Entwicklung. Diese wird sich dann in einem kommunikativen Prozess niederschlagen49. Denn es gilt: „Postmodernität fordert und will eine 49
Vgl. Kramer, Rolf, (2002), S. 18 ff., 91 ff.
5. Die Gesellschaft unter Globalisierungsaspekten
117
emanzipatorische Wirtschaftsethik auf dem Kulturniveau einer demokratischen Willensbildung“50.
5. Die Gesellschaft unter Globalisierungsaspekten Zwar ist der Kapitalismus ein globales System. Man denke etwa an die multinationalen Konzerne, an die Entwicklung von Weltmärkten oder an die weltweite Arbeitsteilung51. Während die Politik noch lokal und territorial denkt und handelt, strebt das Kapital – von lokalen Fesseln befreit – danach, die regionalen Grenzen zu überwinden. Das Kapital neigt also dazu, weltweit zu operieren. Die Politik dagegen sucht nach einem engeren geographischen Betätigungsfeld. Da aufgrund internationaler Verflechtung auf vielen Märkten keine Marktbegrenzung mehr besteht, unterscheidet sich die gegenwärtige ökonomische Globalisierung von der aus der geschichtlichen Entwicklung her rührenden wesentlich. Unter Globalisierung wird ein weltweiter Abbau von Marktbeschränkungen auf den Güter- und Faktormärkten bei gleichzeitiger internationaler Verflechtung verstanden52. Globalisierung wird unterstützt durch eine Homogenisierung der Märkte. Unter dieser ist zu verstehen, dass die Gesellschaft auf lokalem oder regionalem Gebiet ihre besonderen länderspezifischen und kulturellen Eigenheiten verliert, speziell im Blick auf ihre Kleidung, ihr Wohnen, ihr Essen und Trinken und generell im kulturelles Bereich. Die modernen Kommunikationsmittel unterstützen die Globalisierung der Gesellschaft im Bereich der Informationstechniken. Ein Abbau von Handelshemmnissen oder die Deregulierung von Märkten begünstigt auch die Globalisierung. Durch die Entwicklung von neuen Techniken werden weltweit ganze Gesellschaften anders strukturiert, gefördert und entwickelt. Aber viele Gesellschaften haben sich dem Globalisierungsprozess verschlossen und beschwören dadurch eine negative Entwicklung herauf. Ob sich manche Entwicklungsländer bewusst ausschließen oder ,nur‘ an der Entwicklung gehindert werden, ist oft schwer zu entscheiden. Vielfach wird behauptet, dass die Völker durch die Globalisierung vom Wohlstand und Fortschritt abgeschnitten werden. Aber manche Entwicklungsländer können nur aufgrund ihrer nicht hinreichend ausgeprägten wirtschaftlichen Rahmenbedingungen an den Chancen der Globalisierung nicht teilnehmen. Da die Globalisierung schnell voranschreitet, breitet sich angeblich die Armuts-Entwicklung rasch aus. Die Auswirkungen der Globalisierung zeigen sich bei den Industrienationen und
50
Bucher, Alexius J., Verantwortlich handeln, Regensburg 2000, S. 160. Vgl. Deutschman, Christoph, Money makes the world go round, in: Ute Volkmann, Uwe Schimank (Hrsg.), (2002), S. 58 f. 52 Vgl. Merk, Gerhard: Globalisierung (1. Juni 2003). 51
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6. Kap.: Ökonomisches Handeln in der Gesellschaft
Entwicklungsländern ganz unterschiedlich. Hervorzuheben sind für die entwickelten Gesellschaften folgende Faktoren: – Aufgrund der Massenproduktion können viele Unternehmen weltweit billiger anbieten; sie sind in der Lage ihre Ressourcen zur Produktion besser auszunutzen. – Andererseits zwingt die weltweite Konkurrenz zur Kostensenkung; die Preispolitik wird eingeengt. – Das Angebot an Gütern- und Diensten aber wird für die Konsumenten rentabler, zumal die Rohstoffmärkte bereits stark globalisiert sind. – Die Finanzmärkte haben einen hohen Globalisierungsgrad erreicht und werden so einem höheren Wettbewerb unterworfen. Aber auch die Entwicklungsländer profitieren von der Globalisierung. Direktinvestitionen und Technologietransfers fördern speziell gerade die Länder, deren Entwicklung noch nicht allzu stark vorangeschritten ist. Außerdem bestimmen die Industriestaaten die ökonomische Entwicklung nicht mehr allein, sondern die Entwicklungsländer reden mit. Als eine Kehrseite der Globalisierung kann man die Regionalisierung und in ihr wiederum die Individualisierung bezeichnen. Beide weisen auf einen scheinbaren Widerpart zur Globalisierung hin. Dabei ist es das Geld, das den Menschen einen fast unbegrenzten zeitlichen, räumlichen und sozialen Handlungsrahmen ermöglicht. Mit Hilfe des Geldes kann er sich einerseits einen Freiraum erkaufen, aber andererseits selbst in einer ihn umgreifenden und fast schon erdrückenden Gesellschaft vereinzeln. Darum hat zu gelten, dass die Globalisierung und Individualisierung „komplementäre Prozesse“ sind53. In der Beziehung zwischen Globalisierung und Individualisierung existiert kein Gegensatz. Vielmehr ergänzen sie sich. Das Individuum lebt nicht allein, sondern immer in einem Beziehungsverhältnis zu anderen Menschen. Freilich steht die Individualisierung in einem mehr oder weniger starken Gegensatz zur Kollektivierung. Aber Individualisierung ist oft nur in Verbindung mit einer Kollektivierung zu haben. Viele kirchliche Kreise – freilich nicht nur diese – sind der Meinung, die Globalisierung habe manche Völker an den Rand des Abgrundes gebracht. Der Vatikan lässt in seinen Veröffentlichungen erkennen, dass er nicht nur die Globalisierung mit großer Sorge betrachtet, sondern auch die mit ihr verbundenen sozialen Veränderungen. „Die Arbeitslosigkeit in den höchstentwickelten Ländern und das Elend in allzu vielen Ländern der Südhalbkugel schließen weiterhin Millionen von Frauen und Männern vom Fortschritt und Wohlstand aus“54. Viele Menschen meinen, auch die Religionen hätten es mit den Auswirkungen 53
Vgl. Deutschman, Christoph, (2002), S. 60.
6. Die Wirkung der neuen Technologien
119
der Globalisierung zu tun. Zahlreiche Religionen besitzen schließlich einen weltweiten Anspruch oder fordern eine globale Ausbreitung. Außerdem besteht in den Religionen „unter dem Druck der Globalisierung“ eine Spannung zwischen Säkularismus und Fundamentalismus55.
6. Die Wirkung der neuen Technologien Die Völker können durch die neue Technologie in der Informations- und Kommunikationsbranche viel voneinander lernen. Johannes Paul II. hat dazu wiederholt Stellung bezogen und den bedrohlichen Aspekt deutlich in einer Ansprache an die Päpstliche Akademie für Sozialwissenschaften am 27. April 2001 hervorgehoben: „Die davon Betroffenen sehen die Globalisierung oft als zerstörerische Flut: Sie bedroht die sozialen Normen, für deren Schutz sie sich eingesetzt hatten, und die kulturellen Bezugspunkte, an denen sie sich im Leben orientierten, hieraus ergibt sich nun, dass die Veränderungen in der Technologie und den Arbeitsverhältnissen sich zu schnell vollziehen, als dass die Kulturen darauf reagieren könnten“56. Darum wünscht sich die Kirche nach Aussagen des Papstes, dass die Globalisierung „im Dienst des ganzen Menschen und aller Menschen“ steht57. Die Menschen wissen es heute besser denn jemals zuvor, dass sie in einer Welt leben und diese sowohl miteinander erhalten als auch zerstören können. Die Solidarität ist nicht mehr nur auf den Nahraum zu beschränken, sondern steht in einer weltweiten Verantwortung. Die Menschen aller Erdteile wissen, dass sie nicht mehr gegeneinander, sondern nur noch miteinander leben können, auch wenn sie nicht danach handeln. Die Kommunikation in der postmodernen Gesellschaft ist stark auf das Fernsehen ausgerichtet. Waren in früheren Jahrhunderten die Intellektuellen daran interessiert, die Ewigkeit zu ergründen, so sind heute zahlreiche Menschen darauf erpicht, Einladungen zu einer Fernsehshow zu erhalten und an Talkshows teilzunehmen. Wer glaubt, „etwas“ zu „sein“, will im Fernsehen wahrgenommen werden. Aber im Fernsehen herrschen Einschaltquoten, und es geht nur um kurzfristige Erfolge. Kurzatmigkeit in der Programmgestaltung und Informationsaufbereitung ist an der Tagesordnung. Das sind Zeichen der Zeit. Aber „Massenpublikum und hohe Geschwindigkeiten“ sind Feinde des Denkens. Darum erzeugt solch praktizierte Kommunikation eher eine Pseudokommunika54 Zitat aus: Johannes Paul II., Ansprache an das beim Heiligen Stuhl akkreditierte Diplomatische Korps am 10. Januar 2000 n. 3. Zitat aus: Päpstlicher Rat für die Soziale Kommunikation, Ethik im Internet vom 22. Februar 2002, n. 4, in: Arbeitshilfen Nr. 163, S. 7. 55 Schwöbel, Christoph, (2003), S. 225. 56 Zitat aus: Päpstlicher Rat für die Soziale Kommunikation, Ethik im Internet vom 22. Februar 2002, n. 4, in: Arbeitshilfen Nr. 163, S. 8. 57 Arbeitshilfen Nr. 163, n. 10, S. 12.
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6. Kap.: Ökonomisches Handeln in der Gesellschaft
tion mit so genannten Schnelldenkern, den „fast-thinkers“, „die geistiges fastfood anbieten“, um es soziologisch salopp auszudrücken58. Die Fülle der angebotenen Informationen, die heute in den Ländern durch die neuen Technologien geliefert werden, stellt ein besonders gravierendes Problem dar. Die neuen Technologien fördern zwar die Globalisierung. Aber können sie auch zur Lösung menschlicher Probleme, zur Schaffung einer sozialen Gerechtigkeit und zur Entfaltung der Persönlichkeit beitragen? Die neuen Technologien der Informations- und Kommunikationstechnik, auch das Internet, bringen für die kirchliche Verkündigung wichtige Vorteile. Das Internet leistet einen wertvollen Beitrag zum Zusammenleben der Menschen in dieser Welt. Auch kann es nach einem Papier des „Päpstlichen Rates für die Soziale Kommunikation“ aus dem Jahr 2002 helfen, Wohlstand und Frieden, Verständnis unter den Völkern und Nationen zu fördern. Heute sind die modernen Massenmedien zu einer mächtigen Institution geworden. Von der bloßen informativen Nachricht bis zur Unterhaltung, von der Verkündigung bis zum Gebet, wird alles angeboten. Mit ihnen können Glück und Macht von Menschen und ganzen Völkern gefördert oder auch vernichtet werden. Ohne die neuen Medien können weder Ökonomie noch Kultur, weder Politik noch Religion, weder soziale noch pädagogische Kommunikation funktionieren. Im Internet ist in der Neuzeit jeder Mensch, gleich welcher Hautfarbe, Rasse oder Nationalität, in der Lage, sich die notwendigen Informationen zu beschaffen. Auf diesem Gebiet können die Menschen leicht zusammenkommen und sich ebenso unproblematisch wieder voneinander trennen. Es steht im eigenen Belieben, sich aktiv oder passiv an dem Austausch von Informationen und Kommunikation zu beteiligen. Die Benutzung des Internets ist doppelbödig: Man kann sich von anderen Menschen isolieren oder mit ihnen kommunizieren. Die Kommunikationsmöglichkeiten werden stark erweitert. Darum wird mit recht gesagt, „das Internet kann den Menschen bei ihrer verantwortlichen Nutzung von Freiheit und Demokratie dienen, den Entscheidungsradius in den verschiedenen Lebensbereichen ausdehnen, Bildungs- und Kulturhorizonte verbreitern, trennende Elemente niederreißen und menschliche Entfaltung auf vielerlei Weise begünstigen“59. Aber die Verarbeitung der Daten stößt auch auf manche Schwierigkeit. Nach Meinung des „Päpstlichen Rates für die Sozialen Kommunikationsmittel“ hat die Kirche eine zweifache Aufgabe gegenüber den Medien: 1. Die „Förderung einer richtigen Entwicklung und des rechten Gebrauchs zum Nutzen der mensch58
Bauman, Zygmunt, Die Krise der Politik, Hamburg 1999, S. 154. Zitat aus: Päpstlicher Rat für die Soziale Kommunikation, Ethik im Internet vom 22. Februar 2002, in: Arbeitshilfen Nr. 163, n. 9, S. 11. (Mit Korrektur eines Schreibfehlers.) 59
6. Die Wirkung der neuen Technologien
121
lichen Entwicklung, von Gerechtigkeit und Frieden für den Aufbau der Gesellschaft auf lokaler, nationaler und staatlicher Ebene im Lichte des Gemeinwohls und im Geist der Solidarität“. 2. Die Kirche richtet ihr Augenmerk bei den Medien zugleich auf „die Kommunikation innerhalb und durch die Kirche selbst“60. Auf eine besondere Kluft zwischen den armen und reichen Menschen innerhalb der Internet-Gesellschaft weist die so genannte „digital divide“ (digitale Kluft) hin. Das Vorhandensein einer ,Kluft‘ besagt, dass einzelne Menschen, Gruppen oder auch Nationen zwingend „Zugang zu den neuen Technologien haben müssen, um Anteil an den verheißenen Vorteilen der Globalisierung und Entwicklung zu haben“61. Ein Abstand dagegen bedeutet eine Art von Diskriminierung. Die Armen, die nicht in der Lage sind, an dem Informationsfluss teilzunehmen, sind auch an der Informationstechnologie im Vergleich zu den Reichen nicht beteiligt und deshalb benachteiligt. Dementsprechend gibt es eine „Kluft zwischen den ,Informationsreichen‘ und den ,Informationsarmen‘“62. Die Globalisierung ist nicht nur ein ökonomischer oder technischer Prozess; sondern auch ein kultureller Vorgang. Ein interkultureller Dialog zwischen den einzelnen Menschen ist ebenso wie zwischen den Völkern wichtig. Ein internationaler Dialog ist also auf kulturellem Gebiet wünschenswert. Ihm darf allerdings nicht die Absicht zugrunde liegen, auf diese Weise Herrschaft auszuüben. Er ist in jedem Fall eine Bereicherung und wegen seiner Bedeutung zwischen den Völkern besonders nötig! „Die Kulturen haben viel voneinander zu lernen“. Würde stattdessen eine Kultur ihre Weltanschauung, ihr Werteschema und sogar ihre Sprache einer anderen aufzwingen, wäre „das nicht Dialog, sondern Kulturimperialismus“63. Das durch die neuen Technologien geschaffene Netzwerk wird von vielen Menschen in allen Völkern der Erde gebraucht. Dieses Netzwerk kann benutzt werden, um die Völker zu einen oder zu trennen. Die Kommunikationsmedien können für gute oder schlechte Zwecke benutzt werden. Aber die Menschen allein treffen die Entscheidung. Ob die Medien dem Gemeinwohl dienen, hängt an der verantwortungsvollen Wahrnehmung der in ihnen angebotenen Möglichkeiten.
60 Zitat aus: Päpstlicher Rat für die Soziale Kommunikation, in: Arbeitshilfen Nr. 163, n. 3, S. 22 f. 61 Arbeitshilfen Nr. 163 n. 10. S. 12. 62 Zitat aus: Päpstlicher Rat für die Soziale Kommunikation, in: Arbeitshilfen Nr. 163, n. 10. S. 12. 63 Päpstlicher Rat für die Soziale Kommunikation, in: Arbeitshilfen Nr. 163, n. 11, S. 13.
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6. Kap.: Ökonomisches Handeln in der Gesellschaft
7. Entfremdung In der Enzyklika Centesimus Annus zum hundertsten Geburtstag der großen Sozialenzyklika Rerum Novarum (1891) Leo XIII. hat Papst Johannes Paul II. am 1. Mai 1991 über die Hindernisse geschrieben, die der Entwicklung der Menschen entgegenstehen. Er weist darauf hin, dass der Geist der Neuerungen, auf den der damalige Papst Bezug nahm, durchaus nicht positiv zu sehen ist. Das Verhältnis der Besitzenden und der Arbeiter hat sich in seinen wesentlichen Bestandteilen umgekehrt. Das Kapital gehört nur wenigen Menschen, die Menge der Arbeitenden dagegen ist verarmt. Inhalt der Enzyklika damals war: die Forderung nach einer Lohngerechtigkeit, das Zugeständnis eines Koalitionsrechts als Menschenrecht und das Recht oder die Pflicht des Staates, zu Gunsten der Arbeiter Schutzgesetze zu erlassen. Johannes Paul II. weist in seiner Enzyklika (Centesimus Annus) darauf hin, dass der Marxismus der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft eine Vermarktung und Entfremdung des menschlichen Daseins vorwarf. Man hat den Begriff der Entfremdung einseitig aus den Produktions- und Eigentumsverhältnissen abgeleitet. Diese Gesellschaft war also materialistisch eingestellt. Darum könnte nur aus einer kollektiven Gesellschaftsordnung heraus die Entfremdung beseitigt werden. Aber gerade die historische Erfahrung hat nach Meinung des Papstes ergeben, „dass der Kollektivismus die Entfremdung nicht beseitigt, sondern noch steigert“64. Denn die Geschichte der sozialistischen Bewegung hat erwiesen, dass der Kollektivismus die Entfremdung eben nicht aufhebt. In den westlichen Ländern ist es, obwohl die Analyse und Begründung des Marxismus nicht stimmte, wie unter sozialistischen Bedingungen ebenfalls zur Entfremdung gekommen. Nach Meinung des Papstes wurde in der westlichen Welt zwar die Ausbeutung, wie sie Karl Marx verstand, überwunden. Aber die Entfremdung ist in den verschiedenen Formen der Ausbeutung nicht aufgehoben, „wenn sich die Menschen gegenseitig als Werkzeug benutzen“65. Zwar ist der Marxismus gescheitert; aber trotzdem existieren weiterhin bis heute Ausbeutung und Ausgrenzung. Der Marxismus ist mit dem „Verlust des Lebenssinn“ zu einer realen Gegebenheit geworden, die sich im reinen Konsumdenken zeigt66. Nach Johannes Paul II. kommt die Entfremdung in den westlichen Gesellschaften ebenfalls vor, weil 1. der Mensch „in ein Netz falscher und oberflächlicher Befriedigung hineingezogen wird“. Sie ereignet sich aber auch 2. in der Arbeit, wenn man diese so organisiert, dass sie möglichst hohe Erträge abwirft, aber unbeachtet lässt, „dass der Arbeiter sich durch seine Arbeit mehr oder weniger als Mensch verwirklicht“67. 64 Johannes Pauls II., Centesimus Annus vom 1. Mai 1991, in: Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls Nr. 101, n. 41. 65 Ebenda. 66 Johannes Paul II., Centesimus Annus, n. 41.
7. Entfremdung
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Im christlichen Denken ist nach Darstellung des Papstes die Entfremdung noch anders zu fassen. „Wenn der Mensch auf die Anerkennung des Wertes und der Größe der Person bei sich selbst und im anderen verzichtet, beraubt er sich in der Tat der Möglichkeit, sich seines Menschseins zu freuen und in jene Beziehung der Solidarität und Gemeinschaft mit den anderen Menschen einzutreten“68. Nicht durch den Verzicht auf den Wert der eigenen Person, sondern erst durch die freie Selbsthingabe wird der Mensch er selbst. Entfremdet ist der Mensch, der es ablehnt, über sich selbst hinauszugehen und „die Erfahrung der Selbsthingabe und der Bildung einer an seiner letzten Bestimmung orientierten echten menschlichen Gemeinschaft zu leben“69. Gott selbst ist die letzte Zielbestimmung des Menschen. Eine Entfremdung ist also dann gegeben, wenn sie „in ihren sozialen Organisationsformen, in Produktion und Konsum die Verwirklichung dieser Hingabe und die Bildung dieser zwischenmenschlichen Solidarität erschwert“70.
67 68 69 70
Johannes Paul II., Centesimus Annus, n. 41. Ebenda. Ebenda. Johannes Paul II., Centesimus Annus, n. 41.
7. Kapitel
Demokratische Staatsform Es geht in der postmodernen Gesellschaft nicht nur um deren Veränderungen, sondern auch um die Frage: Wohin steuert die abendländische Kultur? Denn fast alle überlieferten demokratischen Institutionen und Ordnungssysteme haben an Überzeugungskraft verloren. Die Schaffung einer hohen Beschäftigung als einer der Eckpunkte des wirtschaftspolitischen Dreiecks ist nicht mehr ohne größere Einschnitte in das Lohngefüge möglich. Die bisher gültigen Strukturen müssen zwar weiterhin demokratisch sanktioniert, aber in vielen Fällen inhaltlich neu gefasst werden. Dazu gehören außer der Reform des Gesundheitswesens, eine Verbesserung der Rentenversicherung, eine umfassende Neugestaltung des Bildungswesens und damit einer Veränderung in der Elitebildung. Bisher war weitgehend in Deutschland die Elite aus der Gesellschaft heraus gewachsen. Es herrschte eine gesellschaftliche Elite vor. Zur Zeit des Nationalsozialismus wurde der Elitebegriff über die Rasse und die Parteizugehörigkeit definiert. Nach dieser Zeit wurde die Elite tabuisiert. In der 68er-Bewegung werden Leistung, Führung oder Führungskräfte verunglimpft. Heute ist Elite eher zu einer von außen gemachten und ,angezüchteten‘ Aristokratie geworden. Man spricht von Schau-, Geld- oder Leistungseliten, die kaum etwas mit der traditionellen Struktur gemein haben. Neuerdings macht man sich wieder für die Schaffung einer Elite stark, weil man merkt, man kommt ohne sie nicht aus. Bei allen gesellschaftlichen Veränderungen geht es nicht darum, den demokratischen Ansatz zu verlassen, sondern im Gegenteil neue Ansätze zu finden. Die Gedanken von August Comte (1789–1857) könnten hierbei helfen. Denn die Gesellschaft der späten Postmoderne hat sich einem Gedanken-Gebäude verschrieben, das in seiner Struktur dem Positivismus nahe steht. Nach ihm gilt als Maßstab für die Wahrheit die Übereinstimmung mit den Tatsachen. Für Comte hat die Geschichte menschlicher Erkenntnisse drei Stadien erlebt: 1. das theologische Stadium, in dem der Mensch die Welt aus dem übernatürlichen Wesen erklärte, 2. das metaphysischen Stadium, in dem an die Stelle des Gefühls und der Phantasie die Logik und der Beweis, und an die Stelle der Götter abstrakte Ideen traten, 3. das positive oder wissenschaftliche Stadium. In ihm galt als einziger Maßstab die Übereinstimmung der Wahrheit mit den Tatsachen. Der Positivismus verzichtet auf einen Abschluss der Erkenntnis. Nach dem Absterben der Religion und der Philosophie will er eine Philosophie der Wirklichkeit und des Nutzens sein. Diese Wissenschaften bilden die Grundlage
1. Die Demokratie-Vorstellung in der katholischen Theologie
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des menschlichen Zusammenlebens und der Gesellschaft. Nach Comptes Konzept wurden Ethik, Religion und die philosophische Ethik allmählich zu privaten Einrichtungen. Mittlerweile hat sich diese Tendenz noch verstärkt. Die Gesellschaft hat sich zu einer religionslosen Gesellschaft entwickelt, die ihre Werte in großem Stil aus einem Mehrheitsprinzip ableitet. Religiöse Rituale gelten nicht mehr viel; sie haben an Kraft und Einfluss verloren. Damit wird die Gesellschaft selbst zu einer wertneutralen Instanz. Politisch wird die Gesellschaft heute in Westeuropa zwar von einer demokratischen Regierungsform gesteuert. Aber die Entwicklung zeigt, dass die überlieferten demokratischen Formen allein nicht ausreichen. Sie müssen eine Ergänzung durch eine größere Beteiligung der Menschen finden, die mehr Einfluss und politische Durchsetzungskraft mitbringen. Andererseits sind die Politiker aufgefordert, die politischen Aussagen stärker an die wahren Fakten heranzubringen, ohne dass eine allzu große Divergenz zwischen der Realität und der Wahrheit klafft.
1. Die Demokratie-Vorstellung in der katholischen Theologie Bereits Leo XIII. wusste, was die Staatslehre für eine gesunde Gesellschaftstheorie bedeutete. In seiner Sozialenzyklika Rerum Novarum legte er die Ordnungsprinzipien der Gesellschaft dar. Für ihn waren die drei Gewalten, die gesetzgebende, verwaltende und richterliche, die Strukturelemente der Gesellschaft. Der Staat ist – unabhängig von einer bestimmten Staatsauffassung – für alle Bürger da und nicht nur für einzelne Menschen oder Gruppen. Er hat einen instrumentalen Charakter. Seine Aufgabe sah er darin, die Rechte des einzelnen Mitgliedes in der Familie und in der Gesellschaft zu schützen. Als Grundprinzip muss gelten: Je schutzloser der einzelne ist, umso stärker hängt er von der Anteilnahme anderer in der Gesellschaft ab. Leo XIII. erinnert daran, dass der Staat die Rechte der Armen aufzugreifen und die soziale Lage der Arbeiter zu verbessern hat. Aber der Staat muss erkennen, dass die Familie als häusliche Gesellschaft älter als alle anderen Gemeinwesen, und der einzelne Mensch wiederum älter als der Staat ist1. Später hat sich Papst Pius XII. in seiner Kriegsweihnachts-Botschaft im Rundfunk 1944 speziell für eine bestimmte Staatsauffassung – für die Demokratie – stark gemacht und sich damit von jeder diktatorischen Macht abgesetzt. Seine Ansprache stand unter dem Thema: „Demokratie und Weltfrieden“2. Er selbst wollte prüfen, nach welchen Gesetzen diese Regierungsform sich zu richten hat, „um den Namen einer wahren und gesunden Demokratie“ zu führen. Für ihn stellten sich zwei Fragen, die es hinsichtlich der Demokratie zu prüfen 1
Rerum Novarum, n. 6; 9, u. ö. Pius XII. Weihnachts-Rundfunkbotschaft, in: Bundesverband der ArbeitnehmerBewegung (Hrsg.), Texte zur katholischen Soziallehre, Kevelaer, 41977, S. 167 ff. 2
126
7. Kap.: Demokratische Staatsform
galt: „Welche Eigenschaften müssen die Menschen auszeichnen“, die 1. „in einer Demokratie und unter einer demokratischen Regierung leben“, und 2. welche Eigenschaften müssen die Menschen besitzen, die „Macht in einer Demokratie ausüben“3? Daraus ergaben sich Folgerungen für einen Staat, der „die organische und organisatorische Einheit“ eines Volkes zu sein hat, das sich seinerseits über den Begriff der formlosen Menge oder der Masse erheben muss. Denn Masse ist „der Hauptfeind der wahren Demokratie und ihres Ideals von Freiheit und Gleichheit“4. Die Ordnung der Demokratie hat – zusammen mit anderen Staatsformen – auf der absoluten Seins- und Zielordnung zu beruhen. Sie macht den Menschen zu einer selbständigen Persönlichkeit und gleichzeitig auch zum Ursprung des sozialen Lebens. Der demokratische Staat wird – wie alle anderen Staatsformen – mit der Autorität und Befehlsgewalt ausgestattet, ohne die der Mensch nicht leben kann. Noch steht die Demokratie gleichberechtigt neben anderen Staatsformen. Aber sie existiert im Einklang mit dem Naturgesetz und dem göttlichen Plan. Sie kann am allerwenigsten leugnen, dass die Ordnung ihren Ursprung in dem Schöpfer selbst hat. Die gesunde Demokratie, die auf dem Boden des Naturgesetzes und der geoffenbarten Wahrheit des Evangeliums beruht, befindet sich in Übereinstimmung mit der Ordnung, die durch den Schöpfer aufgestellt und „durch die Offenbarung des Evangeliums in ein neues Licht gerückt“ wurde5. Denn die Würde des Menschen besteht in seiner Gottesebenbildlichkeit, und „die Würde des Staates in der sittlichen, von Gott gewollten Gemeinschaft, die Würde der politischen Autorität in der Teilnahme an der Autorität Gottes“6. Für Pius XII. steht fest: „Nur die klare Einsicht in die Ziele, die Gott einer jeden menschlichen Gesellschaft vorgezeichnet hat, verbunden mit dem tiefen Gefühl für die erhabenen Pflichten der sozialen Tätigkeit kann diejenigen, denen die Gewalt überantwortet ist, in die Lage versetzen“, ihre gesetzgebenden, richterlichen oder verwaltenden Aufgaben zu erfüllen7. Der Papst ist der Meinung, dass eine Demokratie, die der menschlichen Würde entspricht, immer in Übereinstimmung mit dem Naturgesetz und den Plänen Gottes steht. Aber die Demokratie fordert von den Menschen zusätzlich eine moralische Reife, die nur erreicht wird, wenn ihnen das Licht des Evangeliums den richtigen Weg zeigt. Für Pius XII. ist die Kirche die Institution, die übernatürliche Gnadenkräfte austeilt, „um die Ordnung des Seins und Sollens zu verwirklichen, die von Gott aufgestellt ist und letzte Grundlage und Richtschnur jeder Demokratie ist“8. 3 4 5 6 7 8
Pius Pius Pius Pius Pius Pius
XII., XII., XII., XII., XII., XII.,
(41977), (41977), (41977), (41977), (41977), (41977),
S. S. S. S. S. S.
170. 171. 175. 172. 173. 179.
1. Die Demokratie-Vorstellung in der katholischen Theologie
127
Nach Meinung des Papstes Johannes Paul II. ist die „wahre“ Demokratie nur in einem Rechtsstaat möglich9. Dazu gehört freilich auch die richtige Auffassung vom Menschen. Die Kirche weiß, die wahre Demokratie zu schätzen. Aber heute neigt man „zu der Behauptung, der Agnostizismus und der skeptische Relativismus seien die Philosophie und die Grundhaltung, die den demokratischen politischen Formen entsprechen. Und alle, die überzeugt sind, die Wahrheit zu erkennen, und an ihr festhalten, seien vom demokratischen Standpunkt her nicht vertrauenswürdig, weil sie nicht akzeptieren, dass die Wahrheit von der Mehrheit bestimmt werde bzw. je nach dem unterschiedlichen politischen Gleichgewicht schwanke“10. Es besteht allerdings die Gefahr, dass die Mehrheit in einer Demokratie letztlich über die Wahrheit entscheidet, wenn es keine „letzte Wahrheit gibt, die das politische Handeln leitet und ihm Orientierung gibt“11. Geschichtliche Beispiele dafür gibt es viele. In Deutschland ist zur Zeit des Nationalsozialismus das Mehrheitsprinzip dafür benutzt worden, um mit seiner Hilfe die Freiheit abzuschaffen! Johannes Paul II. geht in seiner Enzyklika Centesimus Annus auf die Organisation der Gesellschaft durch die drei Gewalten ein und verweist darauf, dass in der damaligen Zeit diese Ordnung der gesetzgebenden, ausführenden und richterlichen Gewalt für die Lehre der Kirche eine Neuheit darstellte12. Sie spiegelt „eine realistische Sicht der sozialen Natur des Menschen“ wider. Dabei ist es freilich wichtig zu erkennen, dass jede Macht von anderen Gewalten und „Kompetenzbereichen“ wahrgenommen oder ausgeglichen wird. „Das ist das Prinzip des ,Rechtsstaates‘, in dem das Gesetz und nicht die Willkür der Menschen herrscht“13. Aber der Rechtstaat ist weder als ein laizistischer noch als ein christlicher zu verstehen. Als säkularisierte Instanz muss er sich jedoch zur Wehr setzen, wenn ihm eine wie auch immer geartete Wertegemeinschaft unterstellt wird. Seine Bestimmung ist es, Rechtstaat zu sein und die Freiheit seiner Bürger in ihrer individuellen wie in ihrer gemeinschaftlichen Ausformung zu schützen und zu fördern, so äußerte sich Johannes Paul II. in seiner Rede anlässlich der Verleihung des Karlspreise im Jahr 2004. Nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Totalitarismus und anderer totalitärer Systeme hat die Demokratie mehr oder weniger weitgehend unter den Völkern Fuß gefasst, auch wenn keineswegs überall als Staatsform die wahre Demokratie mit Berücksichtigung und Einhaltung der Menschenrechte eingeführt werden konnte. Als Beispiel für solche Menschenrechte unterstützt die Kirche unterschiedliche Rechte, wie das Recht auf Leben, auf Arbeit, auf Grün9
Johannes Paul II., Centesimus Annus, n. 46,2 Johannes Paul II., Centesimus Annus, n. 46,2. 11 Johannes Paul II., Centesimus Annus, n. 46,2. 12 Johannes Paul II., Centesimus Annus, n. 44,1. 13 Johannes Paul II., Centesimus Annus, n. 44,1. 10
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7. Kap.: Demokratische Staatsform
dung einer Familie oder auf freie Religionsausübung. Aber es steht der Kirche nicht zu, „sich zugunsten der einen oder anderen institutionellen oder verfassungsmäßigen Lösung zu äußern“14. Johannes Paul II. hat obendrein vor den Gefahren der Staatsform Demokratie gewarnt. Auch eine Mehrheit kann zu unmoralischen Zwecken benutzt werden, wenn sie nicht durch übergeordnete Werte oder Instanzen gesteuert wird. In diesem Zusammenhang kann einerseits auf bestimmte Anzeichen einer Krise der demokratischen Systeme und andererseits eindrücklich auf das Beispiel des Abtreibungsgesetzes in der Bundesrepublik Deutschland hingewiesen werden15. Dieses wurde mit der Mehrheit der Volksvertreter verabschiedet. Immerhin werden mit ihm über 120.000 Föten jährlich abgetrieben. Gleichzeitig aber klagen dieselben Menschen, dass dringend mehr Kinder für eine Ausbalancierung des Rentensystems benötigt werden. Der Papst weist ferner auf die Gefahren hin, die entstehen, wenn auf eine religiöse Grundlegung verzichtet wird: „Eine Demokratie ohne Werte verwandelt sich, wie die Geschichte beweist, leicht in einen offenen oder hinterhältigen Totalitarismus“16. Dessen Wurzel liegt in der Verneinung der Wahrheit. „Wenn es keine transzendente Wahrheit gibt, der gehorchend der Mensch zu seiner vollen Identität gelangt, gibt es kein sicheres Prinzip, das gerechte Beziehungen zwischen den Menschen gewährleistet. Ihr Klassen-, Gruppen- und nationales Interesse bringt sie unweigerlich in Gegensatz zueinander. Wenn die transzendente Wahrheit nicht anerkannt wird, dann triumphiert die Gewalt der Macht, und jeder trachtet, bis zum Äußersten von den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln Gebrauch zu machen, um ohne Rücksicht auf die Rechte des anderen sein Interesse und seine Meinung durchzusetzen. Der Mensch wird da nur insoweit respektiert, als man ihn als Werkzeug für ein egoistisches Ziel benutzen kann. Die Wurzel des modernen Totalitarismus liegt also in der Verneinung der transzendenten Würde des Menschen, der sichtbares Abbild des unsichtbaren Gottes ist“17. Die sicherste Begründung der Menschenwürde liegt in seiner transzendenten Beziehung. 2. Evangelisches Verständnis der Demokratie Im Jahr 1985 hat der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland eine Denkschrift über das Verhältnis der Evangelischen Kirche zur demokratischen Staatsform veröffentlicht. Die „Kammer für Öffentliche Verantwortung“ war für diesen Denkschrift Feder führend18. Sie wollte in der vorgelegten Veröffentlichung 14 15 16 17
Johannes Paul Vgl. Johannes Johannes Paul Johannes Paul
II., Centesimus Annus, n. 47,3. Paul II., Centesimus Annus, n. 47,2. II., Centesimus Annus, n. 46,2. II., Centesimus Annus, n. 44,2.
2. Evangelisches Verständnis der Demokratie
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– die evangelische Zustimmung zur Demokratie begründen und damit die Grundlinien eines Verständnisses des demokratischen Staates auf evangelischer Basis herausarbeiten, – die Grenzen des Staates als Demokratie sichtbar werden lassen, – die Weiterentwicklung dieser Staatsform in Deutschlands unterstützen und schließlich – die auftretenden Gefahren beim Namen nennen19. Am Anfang der Denkschrift wird grundlegend festgestellt, dass die Kirche in ihrer ganzen Geschichte niemals eine abstrakte Staatstheorie vertreten hat. Trotzdem gilt: „Als evangelische Christen stimmen wir der Demokratie als einer Verfassungsform zu, die die unantastbare Würde der Person als Grundlage anerkennt und achtet“20. In der Unterscheidung zwischen dem geistlichen Auftrag der Kirche und dem weltlichen Handeln des Staates liegt die grundsätzliche und bleibende Voraussetzung für die Bereitschaft zur Demokratie. Die Unterscheidung zwischen kirchlichem und staatlichem Tun wurde die Grundlage für die Demokratie als einer freiheitlichen Staatsform in Jahrhunderten entwickelt. Nur diese Differenzierung erlaubt eine positive Beziehung zwischen beiden Institutionen. Sie kann kein „gleichgültiges Nebeneinander“ bedeuten, sondern führt zu einer Bereitschaft der Christen zu einer „spezifischen Verantwortlichkeit der Christen“.21 Die Freiheit der Christen für den Dienst im Staat beruht auf der theologischen Aussage, dass allein Gott einen Anspruch auf den ganzen Menschen hat. Damit sind natürlich dem Staat Grenzen gesetzt22. Auf die zentrale Bestimmung der Staatstheorie für den Christen weist die zweite Überschrift der Denkschrift „Der Staat des Grundgesetzes als Angebot und Aufgabe“ hin. Sie erläutert ihre Ziele. Die evangelischen Christen haben den ihnen von Gott anvertrauten demokratischen Staat als ein Angebot für politische Verantwortung und als Auftrag anzunehmen und zu gestalten23. Dieser demokratische Staat muss mit seinen Grundgedanken der Menschenwürde und der menschlichen Freiheit eine unmittelbare Nähe zum christlichen Menschenbild aufweisen. Es wird herausgestellt, dass nur die freiheitliche Demokratie der Menschenwürde, wie das Christentum sie versteht, gerecht wird. Die Demokratie setzt die Menschenwürde voraus und geht vom Recht auf Selbstbestimmung der Menschen aus. Aber sie ist selbst keine „christliche Staatsform“. Dennoch 18 Der genaue Titel lautet: Evangelische Kirche und freiheitliche Demokratie, Der Staat des Grundgesetzes als Angebot und Aufgabe, Gütersloh 1985, Abk. Demokratie. 19 Demokratie, S. 11. 20 Demokratie, S. 12. 21 Demokratie, S. 13. 22 Vgl. Demokratie, S. 13. 23 Vgl. Demokratie, S.12.
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7. Kap.: Demokratische Staatsform
sind die Christen aufgerufen, „Leben und Gestaltung dieses Staates“ als Teil ihrer christlichen Verantwortung anzunehmen24. Dem Staat kommt keine absolute Autorität über die Menschen zu. Diese wird allein Gott geschuldet. Aber dem demokratischen Staat eignet eine Ordnungsmacht, die anzuerkennen und mitzugestalten den evangelischen Christen aufgetragen ist. Ähnliches ist bei Papst Johannes Paul II. in Centesimus Annus zu lesen. Die Zustimmung zur Demokratie setzt bei den Christen voraus, dass Recht und Gerechtigkeit herrschen und damit auch die Gleichheit vor dem Gesetz gewährleistet ist. Die Demokratie wird getragen von ihren Bürgern, und die Christen sind ein Teil dieser Bürgerschaft, in der nach der Mehrheit gestrebt werden muss. Darum findet ein ständiger politischer Wettstreit statt, in dem es um das Erringen der Mehrheit geht. Indes unterliegt die Gewinnung von Mehrheiten bestimmten Regeln. Wer für das Gemeinwesen tätig sein will, muss zwar für seine Absichten eine Mehrheit finden. Aber diese muss dann das Recht der Minderheit anerkennen. Indes stößt das Mehrheitsprinzip zunehmend an seine Grenzen. Das ist immer dann der Fall, wenn grundsätzliche Fragen und Wertvorstellungen zur Entscheidung anstehen, also besonders bei Fragen mit besonderem Gewicht, wie Frieden, Ökologie, Rechtssicherheit, Gerechtigkeit. Von der Mehrheit muss erwartet werden, dass sie die Fähigkeit zum Konsens besitzt. Es wird in der Denkschrift auch die Möglichkeit von Volksbefragungen, Volksbegehren und Volksentscheiden in Erwägung gezogen25. In diesem Zusammenhang werden auch föderale Eigenständigkeiten gebilligt. Diese Regeln einzuhalten, ist nach der Denkschrift eine „Form von Nächstenliebe“26. Christen werden dafür Sorge tragen, dass die sachliche Auseinandersetzung in der Demokratie nicht als ein Kampf um die Macht stattfindet, und die Demokratie dadurch Schaden leidet. Vielmehr gehören Demokratie und Rechtstaatlichkeit zusammen. Denn „Freiheit und Gerechtigkeit brauchen zu ihrer Entfaltung das Recht“. Hoffnungen und Erwartungen für die Herstellung beider wachsen in der Demokratie ständig. Da aber sowohl Freiheit als auch Gerechtigkeit immer nur begrenzt verwirklicht werden können, treten auch Enttäuschungen auf 27. Das betrifft besonders die Schaffung von sozialer Gerechtigkeit. Dazu bedarf es des Rechtes. Auch „deshalb ist der demokratische Staat auf Rechtstaatlichkeit angewiesen“28. Als Strukturinstrumente für die Demokratie gelten besonders die Gewaltenteilung und die zeitliche Befristung der Herrschaft. Die Gewaltenteilung ist „ein Element unerlässlichen Misstrauens gegenüber der politischen Herrschaft“29. In 24 25 26 27 28
Demokratie, S.14. Demokratie, S. 32. Demokratie, S. 24. Vgl. Demokratie, S. 39. Demokratie, S. 25.
3. Das Verhältnis von Staat und Kirche
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der Demokratie kann es nur eine Herrschaft auf Zeit geben. Die Herrschaft ist jeweils für eine Wahlperiode bestimmt. Jeder zeitlich unbegrenzten Machtausübung muss in dieser Staatsform widersprochen werden. Mögliche Alternativen dürfen natürlich nicht in einer Abkehr von der freiheitlich-demokratischen Ordnung bestehen. Denn keine der heute bestehenden Staatsformen bietet „eine bessere Gewähr“, die vorhandenen Probleme in der Gesellschaft zu lösen als die „freiheitliche Demokratie“30. Deshalb wird allein in ihr die Chance gesehen, die politische Ordnung zu verbessern und die Staatsform selbst weiterzuentwickeln. Beide sind reformbedürftig. Von der Kirche wird gesagt, sie habe „gegenüber dem Staat und anderen Institutionen die Aufgabe, in Grundfragen des Gemeinwesens ihre Stimme zu erheben, Orientierung zu geben und den politischen Prozess kritisch zu begleiten“31.
3. Das Verhältnis von Staat und Kirche Die Kirche ist für Staat und Gesellschaft unentbehrlich. Die beiden christlichen Kirchen sind theologisch an der philosophischen Grundlegung des Staates und vor allem an der demokratischen Staatsform interessiert. Die von der Kirche in Westeuropa hervorgebrachten und in Vergangenheit und Gegenwart mit getragenen Werte haben ihren Einfluss heute zum Teil eingebüßt. Die Epoche des christlich geprägten Abendlandes und der Durchdringung der Gesellschaft mit christlich überlieferten Werten geht ihrem Ende entgegen. Darum findet ein christlicher Einfluss auf die Gesellschaft nur noch begrenzt statt. Vielmehr wird die christliche Tradition individualisiert. Die Kirche verliert mehr und mehr ihren Kontakt zu einem großen Teil der Bevölkerung. Denn ihre Botschaft erreicht die Mehrheit der Menschen nicht mehr. Stattdessen wird die Kirche heute vielfach nur noch zur Verschönerung der individuellen Feiern zu Beginn, in der Mitte oder am Ende des Lebens, also in der Taufe, Eheschließung oder am Grabe eingesetzt. Ihre Zeremonien gleiten in einen Zierrat des Lebens ab. Der Volkskirche ist gleichsam das Volk abhanden gekommen. Die Frage, inwieweit der Staat die Kirche braucht, stellt sich kaum noch. Würde allerdings der Staat die Kirche für seine Zwecke einsetzen, würde dies einem Missbrauch der Kirche gleichkommen. Wichtiger noch ist die Frage: Inwieweit braucht die Gesellschaft die Kirche? Ebenso wichtig ist die Antwort auf die Frage, welchen Auftrag hat die Kirche gegenüber dem Staat und der Gesellschaft. In jedem Fall gilt, die Kirche darf ihre eigentlichen Aufgaben, das Evangelium zu verkünden und sich um die Armen und Kranken zu kümmern, nicht 29 30 31
Demokratie, S. 28. Demokratie, S. 40. Demokratie, S. 47.
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7. Kap.: Demokratische Staatsform
zugunsten gesellschaftlicher Tätigkeit vernachlässigen. Freilich enthebt diese Orientierung die Kirche nicht der Verpflichtung, sich zugleich um die politische und ethische Ausrichtung der Gesellschaft zu kümmern. Beide Großkirchen verstehen sich als gesellschaftlich relevante Institutionen, die dem Staat die Grundlage bereiten und die Voraussetzung für sein Handeln liefern. Sie glauben, die Voraussetzungen einer Wertebasis für die staatlichen Tätigkeiten zu schaffen. Die Kirchen erheben zu vielen gesellschaftlichen Fragen ihre Stimmen. Denn sie wollen das Gewissen der Gesellschaft oder des Staates sein. Sie sparen keine soziale Frage aus. Gemeinsam oder allein sagen sie ihr Wort. Das ist besonders dann der Fall, wenn es sich um ethische Fragen handelt, etwa bei der Behandlung der Wirtschaftssysteme, der Bioethik, der Embryonenforschung oder der aktiven bzw. passiven Sterbehilfe etc. Hier geben beide Kirchen Antworten, ohne dass der Staat sie dazu auffordert. Das ist das genuine Feld der ethischen Betätigung der Kirchen. Dafür steht auch das Papier der Kirchen aus dem Jahr 1994 „Zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland“32. Zwar werden die kirchlichen Worte, Denkschriften oder Hirtenworte von Seiten der Gesellschaft und des Staates ernsthaft aufgenommen. Aber die Umsetzung lässt zu wünschen übrig. Die Einflussnahme der kirchlichen Stellungnahmen auf die Gesellschaft, Politik und Wirtschaft ist begrenzt. Das zeigt sich etwa an der politischen Wirkung der verschiedenen Ratschläge der Kirchen zu Fragen der Landwirtschaft, der Arbeitslosigkeit, der Renten, der Entwicklungshilfe, der Demokratie oder des gemeinschaftlichen und gesellschaftlichen Handelns. Meistens ist die Politik nur bereit, sich auf die kirchlichen Stellungnahmen zu berufen, wenn sie in ihnen Bundesgenossen für ihre politischen Entscheidungen findet. Dann geht es ihr nicht um Ethik oder den Wertekanon, sondern um die Absicherung ihrer Politik und um eine wirksame Hilfestellung bei ihrer Durchsetzung. Mit Recht fragt man sich deshalb, ob sich darin ein „latentes Bedürfnis der säkularen Welt nach religiöser Letztbegründung, nach festen, unwandelbaren Werten in einem sich radikal beschleunigten Wandel der Verhältnisse“ ausdrückt33? Die Kirchen sollten darin nicht die Möglichkeit erkennen, verlorenes Terrain ihres mangelnden Erfolges in der Verkündigung zurückzuholen. Man darf in der Sorge für das Gemeinwohl nicht eine neue Aufgabe der Kirchen anstelle der Verkündigung sehen wollen. Auch wenn das in einzelnen politischen Äußerungen beider Großkirchen so den Anschein hat, liegt darin nicht das Selbstverständnis der Kirchen von heute. Zwar ist ihr gesellschaftliches Engagement in 32 Heft 3 der Gemeinsamen Texte, Hrsg. Kirchenamt der Ev. Kirche in Deutschland, Hannover, und Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Bonn 1994. 33 Depenheuer, Otto, Religion als ethische Reserve der säkularen Welt, in: Jahresund Tagungsbericht der Görres-Gesellschaft 2001, S. 25.
3. Das Verhältnis von Staat und Kirche
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der Erstellung von Denkschriften, Stellungnahmen und anderen Ratschlägen nicht zu verkennen. Aber darin darf sich langfristig die Verkündigung der Kirche nicht erschöpfen. Ihr Einsatz für die gute Ordnung der Gesellschaft kann nur zweitrangig sein. Ihre Stellungnahme für das Vorletzte und damit für die Gesellschaft ist zwar durchaus richtig und notwendig. Aber nur zweitrangig. Denn sie bleibt Kirche, die dem Individuum die Botschaft von der Gnade Gottes zu verkünden hat. Und damit ist ihr Streben auf das Letzte hin ausgerichtet. Zwischen den Aufgaben der Kirche und der des Staates besteht ein Unterschied. Als Aufgabe des Staates ist es, in der Gegenwart wie in der Vergangenheit, für ein innerweltliches geordnetes Zusammenleben der Menschen zu sorgen. Nach dem Zeugnis des Neuen Testamentes ist es Aufgabe der Kirche, das Kommen des Reiches Gottes zu verkünden. Freilich liegt die erlösende Kraft für die Herbeiführung dieser Zukunft in Jesus Christus selbst. Die Kirche muss sich vom politischen Weg absetzen. Die Differenz zwischen den Aufgaben des Staates und der Kirche greift die lutherische Zwei-Reiche-Lehre auf. Bei ihr geht es – um den Menschen vor Gott (coram deo) und vor der Welt (coram mundo). Da in dieser Lehre nicht eine Trennung der zwei Bereiche oder Räume gemeint ist, spricht Martin Luther von den zwei Regimentern als von den zwei Regierweisen Gottes. Dieser handelt allein in den beiden Regierweisen. In der weltlichen Regierweise herrscht die Vernunft, während er in dem geistlichen Bereich mit dem Glauben regiert. Den beiden Wirkweisen Gottes entspricht das Handeln des Menschen in unterschiedlicher Weise als Weltperson und als Christperson. Im weltlichen Bereich sind die Gebote des Staates und damit seine Ordnungen maßgeblich, im geistlichen Bereich dagegen herrscht Christus und damit die Liebe; – um die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium. Gott schenkt auf die eine Weise mittels seines Wortes den Menschen das Heil. Dieser Weg ist der, den die Kirche zugunsten der Menschen geht. Die andere Weise ist zwar ebenfalls zu Gunsten des Menschen ausgerichtet. Aber in diesem Fall geschieht alles durch das Gesetz; – um die Unterscheidung von Person und Amt in dieser Lehre. In eigener Sache soll der Christ dem Evangelium Folge leisten. Hier regiert das Wort Gottes. Für den anderen, den Nächsten, wird er sich als eine Amtsperson gegen das Unrecht stellen und damit das Schwert gebrauchen. Der Mensch weiß um seine begrenzte Wirklichkeit in der Welt. Aber der Christ weiß erst recht um die vergehende Zeit. Er lebt auf die zukünftige Heilszeit hin. Er wartet auf den neuen Äon. Wenn die Kirche den Menschen der Gegenwart mit ihrer Botschaft ansprechen will, muss sie ihn in seinem Wirklichkeitsverständnis zu erreichen versuchen. Sie muss erkennen, dass er an seinem Selbstverständnis ebenso wie an
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7. Kap.: Demokratische Staatsform
seiner Wirklichkeitswahrnehmung scheitern kann. Der Christ lebt in einer Ambivalenz zwischen einem Streben nach der Vollendung in dieser Welt und einem Scheitern an diesem Streben. Er hofft auf eine Vollendung jenseits dieser Welt. Aber noch muss die Welt gestaltet werden. Das ist nur durch die Vernunft möglich. Die weltliche Herrschaft geschieht allein durch die Vernunft. Der Mensch ist von seiner Natur her ein Zoon politikon (Aristoteles), ein von seiner Anlage her bedingtes Glied in einem Gemeinwesen. Sein Handeln als Bürger des Staates ist zweckorientiert, also durch die Vernunft dirigiert. Die Vernunft richtet sich nach Zielen aus. Zwar ist für den Christen das Reich Gottes das Ziel, das es zu erreichen gilt. Die Einheit von Kirche und Christen bleibt eine Hoffnung. Da die Menschheit in einem Gegensatz von Individuum und Gesellschaft lebt, und dieser nur eschatologisch aufgelöst werden kann, bleibt das Ziel für die Menschheit unerreichbar. Solange bleiben die gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Unterschiede als unauflösbare Gegensätze bestehen.
8. Kapitel
Rückblick und Ausblick Aristoteles fragt in seiner Ethik als eine praktische Philosophie nicht nach dem Guten an sich, sondern nach dem durch menschliches Handeln realisierbaren Guten (agathón praktón). Er setzt bei der Unterscheidung zwischen dem sittlichen Leben der Seele und dem äußeren Wohlergehen, dem sittlichen Verhalten, ein1. Es gibt zwar viele Ziele, die es im menschlichen Leben zu erreichen gilt. Aber die vollständigste Erfüllung menschlichen Streben, das durch kein anderes Ziel mehr übertroffen werden kann, ist das Glück (eudaimonía). Dieses ist kein – wie im hedonistischen oder utilitaristischen Ansatz – dominantes Ziel neben anderen. Glück wird vielmehr als das umfassende Ziel im menschlichen Leben beschrieben. Es hat den Charakter der Selbstverwirklichung (Autarkie). Glück bedeutet „gut leben“ (eu zen) und „Sich-gut-Verhalten“ oder „wohl ergehen“ (eu práttein). Es wird einerseits mit Lust (hedoné), Reichtum (ploutos) oder Ehre (timé) oder schlicht mit dem äußeren Wohlergehen gleichgesetzt2. Glück ist das Beste aller menschlichen Güter. Es ist das Ziel der individuellen und der kollektiven ethischen Orientierung und Aufgabe. Als Endziel gilt das, was um seiner selbst willen erstrebt wird. Und das ist die Glückseligkeit. Sie ist der letzte Grund für das vernünftige Handeln des Menschen und ist darum eine tugendhafte Tätigkeit3. Aristoteles ist der Meinung, wenn irgendetwas ein Geschenk der Götter an die Menschen ist, dann ist es die Glückseligkeit. Das Glück des einzelnen hängt zusammen mit dem Glück der Gemeinschaft. Der Mensch ist das einzige Wesen, das in Freiheit sein Selbst und auch seine Welt gestalten kann. Dieses geschieht aus freien Stücken. Der Mensch will in Verantwortung seine Welt entwickeln und auch verändern. Die postmoderne Gesellschaft jedoch ist gerade wegen ihres utilitaristischen und hedonistischen Ansatzes weit von der praktischen Philosophie des Aristoteles’ entfernt. Der christliche Glaube steht letztlich beiden Glücksrichtungen fremd gegenüber, auch wenn er der aristotelischen Glücksidee mehr abgewinnen kann. Er schöpft seine Kraft aus der Heilstat Gottes in Christus. Die darauf gesetzte Hoffnung ist für ihn die Basis seines Glaubens und Handelns. Nach dem Heils1 2 3
Aristoteles, Nikomachische Ethik, n. 1095a, 19. Aristoteles, Nikomachische Ethik, n. 1095a, 20 ff. Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik, n. 1099b.
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8. Kap.: Rückblick und Ausblick
willen Gottes gilt, dass allen Menschen geholfen werde und sie zur Erkenntnis der Wahrheit kommen (2. Tim 2,4). Der Mensch dieses Glaubens darf sich in der Gegenwart nicht durch die Leugnung des lebendigen Gottes und die Verneinung seiner Heilsbotschaft in seinem Lebensgefüge einengen lassen. Die Hoffnung auf die eigene Auferstehung, die dem Christus-Geschehen entspringt, wird den Menschen begleiten und tragen. Insofern bleibt Christus der Menschen Hoffnung in dieser Welt. Diese Hoffnung lässt ihn nicht zugrunde gehen (vgl. Röm. 5.5). Die ganze Menschheit braucht sie. So wird unter den Menschen Versöhnung, Frieden und Gerechtigkeit verbreiten. Darum kann nur in der Verkündigung dieser Botschaft die Hoffnung auf eine erfüllte und gestaltete Zukunft bestehen. Jürgen Moltmann hatte das 1964 in seiner „Theologie der Hoffnung“ herausgestrichen. Wer auf Christus seine Hoffnung setzt, der kann sich nicht mit der gegebenen Wirklichkeit abfinden, „sondern beginnt an ihr zu leiden, ihr zu widersprechen“4. Deshalb kann der Frieden mit Gott zugleich Unfrieden mit der Welt bedeuten. Allerdings muss es nicht immer dazu kommen. Der Christ kann sich freilich im Frieden mit der Welt arrangieren. Zwar wird die christliche Hoffnung das Individuum und die Gesellschaft in einer gewissen Unruhe erhalten. Man ist zur Verantwortung der Hoffnung verpflichtet, aus der die Gemeinde lebt (1. Petr. 3,15). Das steckt in der christlichen Hoffnung auf die Auferstehung von den Toten. Dabei ist zu berücksichtigen, dass es im Neuen Testament keinen Glauben gibt, der nicht seinen Einsatzpunkt in der Auferstehung Christi hat5. Inhalt christlicher Theologie und Fundament des Glaubens ist diese Hoffnung auf die Auferstehung. Für den christlichen Glauben liegt allein in ihr die Zukunft der Gesellschaft. Darin zeigt sich die wahre Eschatologie. Nur daraufhin kann eine christliche Theologie die Gesellschaft gestalten und verändern.
1. Strukturen der postmodernen Gesellschaft Die moderne Gesellschaft wird beherrscht von gegenwartsbezogenen Zielen. In ihr sollen die bestehenden Interessen zugunsten künftiger Schwerpunkte eingeschränkt werden. Die Präposition „Post“ im Begriff der Postmoderne besagt, dass diese Gesellschaft zeitlich nach der Moderne kommt. Aber sie ist nicht eine Gegenmoderne, Antimoderne oder Transmoderne, also eine über die Moderne hinausgehende Zeit oder Gesellschaft. Allerdings fragt man sich, was gegenüber der Moderne in der Postmoderne vergangen ist? Geht die Moderne noch von einem einheitlichen Fundament des Wissens und Handelns aus, gibt es in der Postmoderne 4 5
Moltmann, Jürgen, Theologie der Hoffnung, München 1964, S. 17. Vgl. Moltmann, Jürgen, (1964), S. 150.
1. Strukturen der postmodernen Gesellschaft
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keinen einheitlichen Grund des Wissens. Was ist das Besondere der Postmoderne? In fünf Stichworten kann die Struktur der postmodernen Gesellschaft zusammenfassend vorgestellt werden6. 1. Individualisierung: Bereits in der Moderne hat zwar der Prozess zur Individualisierung begonnen, er setzte sich in der Postmoderne fort. Die Orientierung des Individuums geschieht nicht mehr aus einem Stück. Stattdessen vollzieht sie sich nur noch stückweise. Deshalb spricht man von einer „Patschwork-Identität“7. Denn die Identität des Individuums setzt sich wie ein Fleckenteppich aus den verschiedenen Wertvorstellungen und Weltorientierungen zusammen. Das wirkt sich selbstverständlich auch auf die religiöse Orientierung in der Gesellschaft aus. Es werden Vorstellungen aus ganz unterschiedlichen religiösen Einstellungen und Überlieferungen miteinander verbunden. Dazu gehören sowohl religiöse Grundüberzeugungen als auch astrologische oder esoterische Glaubensrichtungen. 2. Kollektivierung: Zum Individualismus gehört gleichzeitig eine Zuflucht zum Kollektiv. In der Gegenwart ist das speziell im Konsumverhalten sowohl von Erwachsenen als auch von Jugendlichen zu beobachten. Beispielsweise folgt aus dem Streben nach individueller Bekleidung ein uniformer Kollektivismus. Individualität fordert damit sogar den Kollektivismus heraus. „Die auf sich selbst gestellten Individuen wählen die Zugehörigkeit zu einem Kollektiv als Ausdruck ihrer Individualität“8. Merkwürdigerweise entsteht dort, wo sich ein starker Individualismus durchsetzt, zugleich ein neuer Kollektivismus. Im Marken-Fetischismus vieler Schulkinder und Jugendlicher drückt sich beides aus. Zwar möchte sich fast jeder individuell kleiden, erliegt aber zugleich einem Markendruck, der darin gipfelt, unbedingt solche Kleidungsstücke zu tragen, die von der Mehrheit gewählt worden sind. Und das sind oftmals Kleidungstücke (Jeans, T-Shirts), Schuhe bestimmter Marken etc. Ähnliches vollzieht sich bei den Erwachsenen in bestimmten Altersklassen, Einkommensgruppen oder Bildungsschichten. Im Blick auf andere, Nachbarn, Freunde, Geschäftspartner, werden Autos ausgewählt, die Sehnsucht nach Häusern mit Grünanlagen befriedigt, Ferienreisen oder Freizeitbeschäftigungen gebucht bzw. ausgesucht. Es entsteht wiederum eine Spannung zwischen einem Individualismus und einer freiwilligen Kollektivierung. Besonders Geld fördert den Individualismus. Geld macht das Individuum unabhängig. Mit Geld kann der Mensch in der Gesellschaft auch vereinzeln. Er 6 Nach den oben gemachten Darstellungen erscheinen diese Charakterisierungen sinnvoller als die von Christoph Schwöbel angegebenen Kennzeichen: Pluralisierung, Individualisierung, Merkantilisierung und Ästhetisierung. Allerdings sind einige Ausführungen aus seiner Darlegungen durchaus zu übernehmen. 7 Schwöbel, Christoph, (2003), S. 429. 8 Schwöbel, Christoph, (2003), S. 429.
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8. Kap.: Rückblick und Ausblick
kann sich dadurch den traditionellen Verpflichtungen entziehen, indem er sich aus der Gemeinschaft zurückzieht oder umgekehrt im Strom der Allgemeinheit mitschwimmt. Beide Entwicklungen ergänzen einander. 3. Ethisierung: Heute sind Umtriebigkeit der Menschen und ihr Aktivismus gefragt. Die Gesellschaft lebt in weiten Verantwortungsbereichen. Handeln, Unterlassen und Entscheiden sind Grundlagen der Ethik. Sie will diese als eine Reflexion menschlichen Tuns oder Unterlassens nach richtig und falsch, gut und schlecht, erlaubt oder verboten beurteilen. Diese Vorgehensweise hängt unmittelbar mit dem Wissen und dem Willen des Menschen zusammen. Die Gesellschaft sucht nach Werten und Normen, die das Handeln ermöglichen. Denn man möchte zum einen den überlieferten Werten und Normen genügen, die das Zusammenleben ermöglichen und stellt doch zum anderen diese infrage. Die Entscheidungen gehen von Zielen aus, die sich die Gesellschaft setzt. Diese aber sind ihrerseits von Grundüberzeugungen geprägt, die von repräsentativen Gruppen, wie politische Parteien, Gewerkschaften, Kirchen und Religions- oder Weltanschauungsgemeinschaften etc. propagiert werden. 4. Pluralisierung: Ein besonderes Kennzeichen der postmodernen Gesellschaft ist die Pluralisierung. Lebens- und Weltanschauungen sind ebenso von ihr geprägt wie die Kunst. In der Wissenschaft und Religion begegnet der Mensch der Gegenwart nicht mehr einheitlichen Kriterien des Wissens, Handelns und Glaubens, sondern einem relativierten Monopolanspruch. Die eine Religion oder die allein herrschende Konfession wird aufgelockert zugunsten einer Vielzahl von religiösen Vorstelllungen. 5. Monetarisierung: Alles hat seinen Preis, denn fast alles ist ,käuflich‘. Der Markt lebt von der Pluralität angebotener und nachgefragter Güter und Dienstleistungen. Wirtschaftliche Kriterien entscheiden über die Annahme und Ablehnung. Viele immaterielle Werte der Gesellschaft sind mittels Geld aufgrund von Angebot und Nachfrage käuflich zu erwerben. Karl Marx hat in der Monetarisierung der Gesellschaft den Grund für die Ausbeutung und Entfremdung des Arbeiters gesehen9. Deshalb wollte er eine neue Gesellschaft schaffen, die nicht mehr durch Geld gesteuert wird. Anders liegt es bei Georg Simmel in seiner „Philosophie des Geldes“10. Die Tauschbarkeit der Güter sah er im Geld gegeben. Geld wird dadurch für ihn zu einem Träger der Freiheit. Während sich in diesem nach Simmel das Individuum frei fühlen kann, bedeutet die Monetarisierung nach Marx Entfremdung. Gegenwärtig liegt in der Bewertung der Güter durch Geld so etwas wie eine neue Religion des Geldes oder der Währung. Denn Geld hat in der modernen Werthierarchie fast schon religiösen Charakter erhalten. Geld schenkt Macht und Freiheit. 9 10
Vgl. Kramer, Rolf, Ethik des Geldes, Berlin 1996, S. 127. Berlin 71977, S. 89 ff., vgl. Kramer, Rolf, (1996), S. 106 ff.
2. Der Handlungsrahmen in der Postmoderne
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Geld hat zwar immer schon eine soziale Funktion besessen. Aber mit ihm kann man sich auch von sozialen Verpflichtungen und sozialer Verantwortung freikaufen. Durch Geld wird eine Kommunikation unter den Menschen hergestellt. In den letzten Jahrzehnten des vergangenen Jahrhunderts wurde Geld zu einem der gestaltenden Faktoren in der Gesellschaft. Viele ehedem auf freiwilliger Basis geleisteten Arbeiten oder sportliche Betätigungen wurden zur Geldquelle. Indessen war das Handeln der Menschen nicht immer durch Geld geprägt. Heute hat allerdings die Abhängigkeit vieler Menschen vom Geld und damit ihre Bestechlichkeit und Korruption, auch in den Berufen, die man bisher als fast immun dagegen und ehrenhaft kannte, zugenommen.
2. Der Handlungsrahmen in der Postmoderne Die Verantwortung steht in der rechtlichen Zurechenbarkeit und in der Haftung für die Folgen. Aber der allgemein-sprachliche Begriff ,Verantwortung‘ wird oft aus dem rechtlichen Bereich herausgelöst und auf den der Ethik übertragen. Dabei befreit sich dann die Verantwortung aus ihren religiösen und weltanschaulichen Grundlagen und wird zu einem umfassenden Begriff. Der Begriff der Verantwortung ist durch mehrere Relationen geprägt. Der Verantwortliche trägt Verantwortung, indem er sein Tun und Unterlassen gegenüber einer ,übergeordneten‘ Instanz rechtfertigt. Der Mensch hat in diesem Sinn eine Vor-Verantwortung. Zugleich aber ist dem Menschen auch eine Für-Verantwortung gegeben. Alle Dimensionen sind in einen solchen Verantwortungsbereich einbezogen: Personen, Gegenstände oder Sachbereiche. Menschliches Handeln ist ein verantwortlicher Gestaltungswille der Wirklichkeit. Der Mensch muss für sein Tun Rechenschaft ablegen. Aber nicht jedes menschliche Handeln ist Grundlage für eine ethische Reflexion. Vielmehr liefern anthropologische, soziale, kulturelle und andere Bereiche das Fundament für praktisches und verantwortliches Handeln. Das Gesetz legt fest oder erfasst, was ist oder geschehen muss. Die normative Ethik gibt an, was als richtig erkannt und getan werden, was sein oder geschehen soll. Die Norm stellt einen bestimmen Geltungsanspruch dar. In der Umgangssprache aber wird die Norm oft nicht nur mit ,Gesetz‘ sondern auch mit einer ,Regel‘ gleichgesetzt. Gesetze und Regeln sind einzuhalten. Zwar haben wir es in der Gegenwart sogar vielfältig mit einer utilitaristischen Ethik zu tun, die der Inbegriff einer normativen Ethik ist. In seiner klassischen Form von Jeremy Bentham und John Stuart Mill vertreten, strebt der Utilitarismus das größte Glück der größtmöglichen Zahl von Menschen an. Sein Ziel ist, im Rahmen seines Handelns das Glück der Menschen zu steigern und das Unglück zu vermindern. Diesem Ziel versucht man, heute hier und da zu entsprechen.
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8. Kap.: Rückblick und Ausblick
In der Postmoderne redet man nicht von einer allgemeinen Ethik, um so zu den generellen Ethik-Konzeptionen der Moderne mit ihren Offenbarungs- oder Transzendenzerfahrungen zurückzukehren. Vielmehr spricht man von unterschiedlichen Bereichsethiken. Wirtschafts-, Politik-, Medien-, Medizin-, Bioethik- oder Familienethiken werden ausgebildet. Damit entfaltet sich die Ethik der Postmoderne nicht so sehr als eine normative Ethik, sondern eher als eine Metaethik, die ihr Zentrum in ganz unterschiedlichen Bereichen hat. Aber die Aufstellung solcher Ethiken besagt nicht, dass jeder neue Handlungsbereich einen neuen Ethikansatz haben muss. Unterschiedliche Bereichsethiken führen also keinesfalls zu unterschiedlichen Ethikansätzenen. Eine Bereichsethik ist nämlich nicht eine Sonderethik, die ihrerseits eine eigene Begründung besitzt. Keine Bereichsethik leistet eine neue Begründung zu einer Normen- oder Wertethik. Sie „will jedoch die vorgegebenen ethischen Normen und Wertungen unter den Bedingungen eines abgegrenzten Handlungsbereiches des Menschen untersuchen“11. Unterschiedliche Handlungskonzepte in verschiedenen Bereichen führen nicht zu besonderen Ethikansätzen. Aus ihnen kann nicht generalisiertes Handeln abgeleitet werden, sondern nur Anweisungen für bestimmte Fälle (Kodizes). Eine Ethik für die Wirtschaft will in der postmodernen Gesellschaft das Wirtschaften einem gesellschaftlichen, politischen oder kulturellen Diskurs aussetzen. Freilich wird sie sich einem religiös-ethischen Gespräch nicht versagen können. Sie muss sowohl makroökonomisch dem ordnungspolitischen Rahmen entsprechen als auch mikroökonomisch den individuellen Verantwortungsbereich gestalten. Die Aufstellung von Rahmenbedingungen allein enthält noch keine wirtschaftsethische Entscheidung. Die ethische Gestaltung einer Ordnung der Marktwirtschaft ist ohne eine demokratische und rechtlich abgesicherte Verfassung nicht denkbar. Der Staat kann weder als nachgeordnete Korrekturinstanz noch als vorgeordnete Regelinstanz für das Wirtschaften verstanden werden. Die Gesellschaft gestaltet ihre ökonomische Basis selbst. Darin steckt ihre ureigenste ethische Verantwortung. In der Fähigkeit, die Welt zu verändern und verantwortlich zu gestalten, zeigt sich die Würde des Menschen. In der Bio- und Medizinethik wird immer mehr die Frage nach dem Beginn der Menschenwürde erörtert. Nach dem Embryonenschutzgesetz beginnt menschliches Leben mit der Verschmelzung von Samenund Eizelle. Von diesem Zeitpunkt an gilt es, das menschliche Leben und damit seine Würde zu schützen. Selbst wenn nur eine im Labor befruchtete Eizelle vorgefunden werden sollte und Ausdrücke wie Mensch und Menschenwürde dafür erdacht wurden, sind sie auf diese Zelle anzuwenden, denn in ihr steckt die ganze Möglichkeit für einen sich zu entwickelnden Menschen, wie die beiden 11
Bucher, Alexius J., (2000), S. 115 f.
2. Der Handlungsrahmen in der Postmoderne
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Kirchen betonen. Dennoch findet in der Bundesrepublik eine Erörterung statt, ob den im Reagenzglas erzeugten Embryonen die Menschenwürde zugesprochen werden könne und solle. Aber es darf nicht der Schutz lebender Menschen gegenüber der im Labor befruchteten Eizelle und damit einem in der Entwicklung befindlichen Menschen vorrangig behandelt werden. Schließlich ist die Menschenwürde zu Beginn der menschlichen Entwicklung am stärksten zu schützen! In der Normenfrage kommt man kaum zu einem allgemeinen Kanon. Die Entscheidung ist abhängig vom Individuum, von der Region, der Religion und der Institution. Dennoch bleibt die Forderung nach einer letzten Begründung der Normen. Ihre Grundlegung kann im Glauben an einen Gott, der Schöpfer dieser Welt ist, gefunden werden. In der Gesellschaft kann nicht das Gebot der die Liebe die alles bestimmende Norm sein. Die Liebe zum Nächsten ist viel zu unbestimmt, als dass sie den Menschen sagen könnte, wie er vorzugehen habe. Eine Sozialethik schreibt ohnehin nicht von sich aus dem Menschen vor, was zu tun oder zu unterlassen sei. Sozialethik leitet wie jede andere Ethik zur Reflexion an. Die christliche Sozialethik kann nicht mit Pauschalantworten aufwarten. Selbstverständlich nützen moralische Appelle allein nichts. Alle ethischen Entwürfe müssen in einer Gesellschaft miteinander in Einklang stehen, wenn die gesellschaftlichen Gruppen miteinander kommunizieren und die Gesellschaft ausbauen wollen. Dekretierte ethische Entscheidungen allein bringen noch nichts. Sie müssen von den Teilnehmern angenommen und als allgemeine Regeln akzeptiert werden. Erst wenn sich ein durchgängiges Vertrauen einstellt, wird eine ethische Entscheidung umgesetzt werden können. Einfache Appelle an ein altruistisches oder ethisches Verhalten bringen keine Veränderungen hervor. Es gibt keinen Werteuniversalismus. Man ruft zwar nach einem Wertekonsens. Aber es gibt nicht die allezeit gültigen und feststehenden Werte. Je pluralistischer und multikultureller eine Gesellschaft sich entwickelt, umso schwieriger wird es, einen Konsens zu finden. Nicht einmal ein Minimalkonsens wird sich erstellen lassen. Aber die Bemühungen gehen in der Gesellschaft dahin, einen solchen gemeinsamen Wertkonsens, der kein Kompromiss sein muss, anzustreben. Ein ethischer Konsens ist also zwar erwünscht und wird vielfach angestrebt. Aber die Gesellschaft wird wohl oder übel, weil es nicht anders geht, in einem ethischen Dissens existieren müssen. Eine Durchbrechung des ethischen Standpunktes – aus welchen Gründen auch immer – führt zu anderen Brüchen. Ein Tabubruch ist vorprogrammiert. Wer etwa zulässt, dass befruchtete Eizellen für therapeutische Zwecke in der Medizin freigegeben werden, wird nicht verhindern können, dass sie auch für die Reproduktionsmedizin eingesetzt werden. Kennzeichen der Zeit ist eine zunehmende Unverbindlichkeit der kirchlichen Lehre. Es zeigt sich ein recht hohes Maß an Entchristlichung der humanistisch-
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8. Kap.: Rückblick und Ausblick
christlichen Kultur und damit eine Säkularisierung der Gesellschaft. Schon Nietzsche formulierte: Wenn die Menschen nicht mehr an Gott glauben, glauben sie nicht etwa an nichts, sondern erheben alles zum Glaubensinhalt. Darum wird kaum noch zwischen Glauben und dem Aberglauben unterschieden. Der Einfluss von New-Age-Bewegung, Horoskopen, Esoterik, Astrologie spielt in der Gesellschaft eine immer stärkere Rolle. Zwar verliert die christliche Überzeugung oder die traditionelle religiöse Bindung ihre bindende Kraft. Dafür vervielfältigt sich aber die Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Lebens inflationär. Der Ausgangspunkt für die Entwicklung zur Moderne liegt in der Aufklärung. Deren Grundanliegen war nach Immanuel Kant, dem Menschen mit Hilfe der Vernunft „zum Ausgang aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit“ zu verhelfen. Dazu gehört die Befreiung des Menschen aus der Bevormundung von Kirche und Gesellschaft. Der Vernunft wurde das ihr gemäße Recht zuerkannt. Durch das Selbstdenken (sapere aude!) befreit sich die Vernunft zu einer freien und autonomen Autorität. Man entdeckt die Freiheit der Autonomie. Zugleich gibt der Säkularismus die Begründung für die Entwicklung zu einer Ethik der Vernunft ab. Im 20. Jahrhundert erfuhr dann die Aufklärung einen neuen Bezug. In der kritischen Forschung der Frankfurter Schule kam es zu einer positiven Begrifflichkeit der Aufklärung. Dort wurde ein Programm für eine „Zweite Aufklärung“ entwickelt. Dabei ging es um die Befreiung des einzelnen von fremdbestimmten Zwängen. Beide „Freiheiten“ der Aufklärung, die der selbstverschuldeten Unmündigkeit und die der fremdbestimmten Zwänge, gehen in Zukunft nicht verloren, sondern bleiben erhalten. Andererseits ist vom christlich-abendländischen Standpunkt aus zu fordern, dass diese Freiheiten aus einer Bindung an die Freiheit, die durch das Evangelium geschenkt wird, zu verstehen ist.
3. Die Suche des Menschen nach Lebensorientierung Alle vormodernen Gesellschaften waren in ihrem Kern religiös geprägt. Die gesellschaftlichen Teilsysteme, Familie, Wirtschaft, Kunst und Wissenschaft oder Politik, standen mannigfach unter einer religiösen Deutung, die von der Kirche und ihrer Theologie beherrscht wurden. Die Religion weist auf die Begrenztheit und auf die Unmündigkeit menschlicher Existenz hin. Die Gegenwart ist geprägt durch den Zeitgeist – allerdings nicht im Sinne von Hegel als Emanation der Kultur –, sondern als kurzfristiger und ständiger Wandel der Werte und Normen. Zwischen unterschiedlichen Religionen und ihren Gebräuchen wird eine Gleichberechtigung verkündet und daraus eine für alle gleich gültige Norm oder ethische Weltreligion abgeleitet.
3. Die Suche des Menschen nach Lebensorientierung
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Neuerdings steht dieses Vorhaben unter dem Zeichen eines bestimmten Ökumenismus, der sich für alle Religionen offen zeigt. Aber solches Streben nach einem weltumspannenden Ethos der Religionen wird nicht nur nationale sondern auch internationale Schwierigkeiten bereiten. Es kann nicht die geforderte und auch erwartete Basis für ein gemeinsames Denken und Handeln liefern. Im synkretistischen Denken kann nicht die reine Lehre in der religiösen Welt gefunden werden. Um das Ganze einer zukünftigen Gesellschaft ins Gesichtsfeld zu bringen, ist es nötig, das Soziale in der Gesellschaft neu und anders zu erkennen. Nur mittels eines reformerischen Umdenkens der öffentlichen sozialen Ziele ist hier Abhilfe zu schaffen. Die augenblickliche Vormachtstellung partikularer und gruppenspezifischer Interessen ist zugunsten von allgemeinen Zielen zu durchbrechen. Das religiöse Denken steht unter einem doppelten Aspekt. Einerseits suchen viele Menschen in ihrer Religion ihren Lebenshalt und bauen auf diesem Grund ihr Leben auf. Denn sie sehen in ihm ihre Lebensorientierung. Andererseits haben viele Menschen ihre religiöse Bindung verloren, aber sie sind trotz allem noch bereit, in einer irgendwie gearteten Religiosität zu leben. Sie richten auf dem Boden solcher unbestimmten Bindung ihr Leben ein. Für Menschen mit der Suche nach dem Lebenssinn stehen Kirche und Theologie zur Verfügung. Dass allerdings diese beiden Institutionen auch der zweiten Gruppe, die sich einer innerweltlichen Religiosität verschrieben hat, dienen können, ist kaum zu erwarten. Denn weder Kirche noch Theologie dürfen in der modernen nachindustriellen Welt ihre Aufgabe darin sehen, jede religiöse Betätigung und damit vor allem jedes derartige Bedürfnis zu befriedigen. Schließlich kann es nicht Aufgabe der offiziell anerkannten religiösen Instanzen sein, den Menschen eine allgemeine Wohlfühl-Religiosität zu liefern. Freilich ist es in Mode gekommen, von den Kirchen in Europa eine solche religiöse WellnessBefriedigung zu erwarten. Die Menschen suchen nach einer Religion, die sie als Glücksbringer empfinden können. Sie erwarten, dass sie durch sie von ihren Alltagsproblemen entlastet werden. Aber weder die Kirchen noch die Theologie sind Anwälte solcher religiösen Beliebigkeiten. Vielmehr haben sie die Pflicht, die Botschaft von der Erlösung und damit die frohe Botschaft des ewigen Heils den Menschen zu verkünden. Dazu gehören die gesellschaftliche Solidarität mit den anderen Menschen und die Liebe zum fernsten Nächsten. Es ist eine der wichtigsten Erkenntnisse der Reformation Luthers, dass der christliche Glaube sich nicht auf Moral oder Ethik reduzieren lässt. Dennoch kann der christliche Glaube nicht ohne seine daraus wachsende Ethik auf dem Boden christlicher Erkenntnis stehen. Andererseits kann eine christliche Ethik nicht ohne ihren dogmatischen Hintergrund existieren. Dann stellte sie nämlich nichts weiter als ein humanistisches Ideal dar. Die Person Jesu Christi und sein Werk sind schließlich nicht voneinander zu scheiden. Sein Sein und sein Tun gehören zusammen.
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8. Kap.: Rückblick und Ausblick
Zwar bestimmen auch heute die Schicksalsschläge das Leben der Menschen. Aber man betrachtet sie mehr unter dem Gesichtswinkel eines Lebensrisikos und fragt, wie man sich gegen dieses versichern kann. Aufgrund ihres Widerfahrnischarakters und ihrer Absichtslosigkeit sind sie durchweg nicht mehr – wie in den überlieferten Gesellschaften – Teil der ethischen Reflexion12. Eine Handlung, die aufgrund innerer oder äußerer Zwänge erfolgt, kann – wenn überhaupt – nur sehr begrenzt als ethisch beeinflussbar bezeichnet werden. Ethik will nicht nur das Wissen vorgeben, was gut ist, sondern auch was getan werden muss.
4. Alternative Bestattungskultur – eine neue religiöse Antwort In der Wert-Orientierung spielen zwar auch weiterhin kirchliche Deutungsmuster bei der Beantwortung privater und kollektiver Sinn- und Ethikfragen eine Rolle. Aber die Werte in der Welt werden vielfach nicht mehr von religiösen Antworten getragen. Man streitet in der Gegenwart nicht mehr um die aus kirchlicher oder christlicher Tradition heraus gewachsenen Antworten, sondern eher um die Fragen der Welt, die auf existentielle Antworten warten. Die Kirchen haben zwar nicht ihre Aufgaben verloren, auch wenn sie teilweise allzu arg verwischt werden. Aber mehr noch: Die Gesellschaft will ihre Antworten nicht mehr hören. Die Religion hat sich trotzdem nicht völlig zur Bedeutungslosigkeit entwickelt. Das lässt sich aus der wachsenden kulturellen Bedeutung von Sekten und religiösen Bewegungen ablesen. Die moderne Gesellschaft hat in Westeuropa besonders durch die Migration eine kulturelle Erneuerung erfahren. Diese hat den religiösen und kulturellen Traditionen des alten Europas ganz neue Erfahrungen geschenkt. Allerdings sind sie nicht aus den überlieferten Entwicklungen heraus zu erklären. Religion ist für die alten und neuen Mitglieder eines Volkes von Bedeutung. Zum einen liefert sie den eingewanderten Gruppen weiterhin ihre Sinngebung und bewahrt ihre Transzendenzerfahrung. Zum anderen weist sie den alten Mitgliedern oder den außenstehenden Gruppierungen das Besondere und damit auch die Fremdheit der Einwanderer auf. Für die Insider, die Migranten selbst, zeigt sich darin ihre Identität. Die Säkularisierung hat damit den Religionen keinesfalls ihr Ende beschert13. Allerdings wird die überlieferte kirchliche Tradition zukünftig immer weniger gefragt werden. Das zeigt sich heute in einem ganz besonderen Bereich, nämlich in der ars moriendi (Kunst des Sterbens) und damit in der Bestattungskultur. Das me12 13
Vgl. Alexius J. Bucher, Verantwortlich handeln, (2002), S. 47. Vgl. Alois Hahn, (1997), S. 31.
4. Alternative Bestattungskultur – eine neue religiöse Antwort
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mento mori (Gedenke des Todes), gemäß dem in früheren Zeiten die Hoffnung der Christen auf Auferstehung geäußert wurde, liefert nicht mehr selbstverständlich die Grundlage für die Trauerkultur. Die kirchliche Trauerkultur ist einer säkularisierten Form gewichen. Zu der traditionellen Gestaltung der Beerdigung ist eine alternative Bestattungskultur getreten. Hierin zeigt sich heute eine Individualisierung der Trauerkulturen und zugleich eine Pluralisierung der Bestattungsformen. Denn es kommt ein hohes Maß an Individualisierung der Friedhofskultur und zugleich eine Privatisierung des Todes zum Tragen. Gleichzeitig werden die Bestattungsfeierlichkeiten mannigfach ausgestaltet. Man spricht im Umfeld der Bestattungskultur sogar von einer „tektonischen Verschiebung“14. Die Zahl der Feuerbestattungen ist proportional zur Zahl der Singlehaushalte gewachsen. Die Anzahl der anonymen Beerdigungen mit Beisetzung einer Urne, die später für die Angehörigen nicht mehr zu lokalisieren ist (ebenso wie bei den Aschestreuwiesen), hat weiter zugenommen. Zusätzlich zu der überlieferten humanen und christlichen Bestattungskultur entstehen neue Formen. Insbesondere die Beisetzung in Trauerhainen oder Friedwäldern (freie, unumfriedete Wälder) findet in Deutschland immer mehr Anhänger. Danach wird in einer Friedwaldbestattung die Asche in einer biologisch abbaubaren Urne an den Wurzeln eines Baumes beigesetzt. Solche Formen sind Ausdruck der postmodernen Gesellschaft. Zugleich findet damit ein Niedergang der Bestattungskultur und der Dienstleistung in den Kirchen statt. Allerdings wird die FriedwaldKonzeption von den Großkirchen unterschiedlich beurteilt. Nach evangelischem Verständnis kann sie zwar mit den christlichen Grundüberzeugungen in bestimmten Grenzen in Übereinstimmung gebracht werden15. Nach katholischem Verständnis aber fehlen in dieser Bestattungskonzeption zentrale Elemente einer humanen und christlichen Bestattungskultur16. Diese dem christlichen Glauben widersprechende pantheistischen oder naturreligiösen Vorstellungen lassen eine kirchliche Bestattung nach Meinung der katholischen Kirche nicht zu. Diese Entwicklung weist darauf hin, dass die seit der Aufklärung entstandene individuelle Erinnerungskultur gegenüber den Toten langsam marginalisiert wird. Andererseits entstehen weitere Formen des Gedenkens. Die für eine Beerdigung eines Toten vorgeschriebene Friedhofspflicht ist bereits heute in manchen deutschen Ländern entfallen. Dadurch wird mit überlieferten Traditionen der kirchlichen Beerdigung gebrochen. Zugleich wird einer Tendenz zur Verweltlichung entsprochen, bei der trotzdem einige religiöse Riten (in der Musik, in der Ansprache oder im Gebet) Berücksichtigung finden. 14 Kirchenamt der EKD, Herausforderung evangelischer Bestattungskultur, Hannover 2004, S. 2. 15 Vgl. EKD, Bestattungskultur, S. 17. 16 Vgl. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hrsg.), Christliche Bestattungskultur, Bonn 2004, S. 12.
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8. Kap.: Rückblick und Ausblick
Die am Begräbnis Beteiligten bauen meistens auf Wunsch der Angehörigen einen religiösen Ritus in die Trauerfeier ein. Er soll ihnen einen gewissen Halt in der gefühlsbedingten Situation bringen. Darum werden bestimmte Ritualien aus der kirchlichen Liturgie, zum Beispiel das Abspielen des Ave Maria, das Beten des Vater Unser übernommen. Segensähnliche Handlungen werden vorgenommen, die in der säkularen Zeremonie so etwas wie Trost spenden können, ohne dass dem ganzen religiösen Geschehen Rechnung getragen werden muss. Weil die Grabes-Pflege für die entstehenden Kleinfamilien – auch wegen der von vielen Arbeitnehmern beruflich gewünschten Mobilität – lästig geworden ist, findet der Wunsch nach einem anonymen Erinnerungsplatz zum Gedenken an die Toten immer mehr Anhänger. Ein solcher Platz erfordert keinen Aufwand. Die Anonymität bedeutet eine neue Aufgabe für die kirchliche oder religiöse Ausrichtung während der Trauerfeier. Allerdings stehen die christlichen Kirchen seit eh und je der anonymen Bestattung kritisch gegenüber. Denn ein individuelles Gedenken an den Gestorbenen an einem anonymen Platz ist kaum denkbar. Darum bleibt in unserer Gesellschaft immer noch der Friedhof als der „anerkannte und nach wie vor bevorzugte Ort der Bestattungs-, Trauer- und Erinnerungskultur“17. Hier wird der Mensch als unverwechselbare und einmalige Person von Gott bei seinem Namen gerufen (Jes. 43,1). Schließlich ist er auch nicht als ein anonymer Mensch (homo anonymus) geschaffen worden. In der protestantischen Begräbnisliturgie wird wie in der römisch-katholischen in der Kirche selbst oder am Grabe der Toten in Fürbitte gedacht. Die protestantische Liturgie nimmt das allerdings nur in der Begräbnisfeier selbst wahr. Dagegen ist in der katholischen Seelenmesse die Fürbitte mit Blick auf das Fegefeuer besonders stark ausgebaut. Dort heißt es: Herr gib ihnen den ewigen Frieden und lasse dein ewiges Licht ihnen leuchten (Requiem aeternam dona eis, Domine, et lux perpetuus luceat eis). Insbesondere war es seit der mittelalterlichen Theologie mit ihrer Lehre vom Zwischenzustand, in dem der Gestorbene nach seinem Tod bis zu seiner Auferweckung am Jüngsten Tag gelangt, notwendig und hilfreich, für die Verstorbenen zu beten, um ihre Qualen zu lindern. Die Seelen sind noch nicht in der Hölle oder im Himmel, sondern befinden sich an einem vorläufigen, allerdings an einem für Fromme und Gottlose unterschiedlichen Ort. Mit Luthers reformatorischem Ansatz sind Totenämter und Seelenmessen aus der Liturgie verschwunden. Man brach radikal mit einer Einflussnahme auf das Schicksal der Toten. Das Gebet beschränkte sich auf das Privatgebet. Wer für die Toten betet, begeht zwar nach Luther keine Sünde, möge es aber in seiner
17
Vgl. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, (2004) S. 24.
5. Zeitknappheit und Ewigkeitserfahrung
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Kammer ein- oder zweimal tun, um dann damit aufzuhören. Denn es geht nicht mehr um die Rettung der Seelen aus dem Fegefeuer. Ferner hat sich eine Veränderung der so genannten Grabrede (laudatio funebris) oder Bestattungspredigt durchgesetzt. Luther hatte 1542 davon gesprochen, dass die Kirchen nicht mehr Klaghäuser oder Leidesstätten sein sollten, sondern Schlafstätten und Ruhehäuser. Für ihn ergab sich gegenüber der mittelalterlichen Theologie ein neues – anderes – Bild. Denn für ihn haben die Gestorbenen keine Geschichte mehr. Der Toten lässt sich nur gedenken, indem man sie der Gnade und Barmherzigkeit Gottes empfiehlt. Möge der Tote Erbarmen beim Herrn erfahren. Der Mensch befindet sich nach dem Tod in einem schlafähnlichen Zustand, aus dem er am Tage des Jüngsten Gerichts auferweckt wird. „So ist nun der Tod vor unserm Herrn Gott nicht ein Tod, sondern ein Schlaf“18. Man solle darum auch nicht Lieder von Trauer und Leid singen, sondern von Sündenvergebung und Auferstehung. Luther verwies auf die Auferstehung Christi, in die alle Glaubenden hineingenommen werden. Darum steht sie als erstes in der Verkündigung der evangelischen Bestattungsfeier. Gerade dieser „fröhliche Artikel unseres Glaubens“ von der Auferstehung der Toten, soll im Begräbnis zum Tragen gebracht werden19. Darüber hinaus soll diese Feierstunde dem Gedächtnis des Toten dienen und Trost für die Angehörigen bringen. Für Luther galt nicht mehr: „Mitten wir im Leben sind/mit dem Tod umfangen“, sondern vielmehr „Mitten wir im Tode sind/vom Leben umfangen“ (media morte in vita sumus). Im Tod hat der Menschen keinen anderen Fürsprecher als Christus selbst! Die Gewissheit der kommenden Lebendigkeit gründet in der Auferweckung Christi.
5. Zeitknappheit und Ewigkeitserfahrung Das Wesen der Zeit wird nicht durch die Uhr bestimmt. Diese macht keine Zeit, sondern erkennt nur Zeitabstände20. Zeit ist vergänglich und vorläufig. Die Ewigkeit dagegen ist bleibend und endgültig. Es gibt für den Christen keine Zeit ohne Ewigkeit. Die Einheit beider liegt in Gott selbst. Kennzeichen des postmodernen Menschen ist einerseits seine Zeitknappheit und anderseits die Fülle der Zeit, die ihm zur Verfügung steht. Viele Berufstätige leiden unter ihrer Zeitnot, während andere, vor allem ältere Menschen, Pensionäre und Rentner, neben einer Zeitknappheit ein Zuviel an Zeit beklagen. Manch einer fällt geradezu ins Leere, nachdem ihm die Arbeitszeit weggenom18
Martin Luther, WA 52, 480. Martin Luther, Weimarer Ausgabe Bd. 35, S. 478 f., zitiert aus: RGG Bd. 1, 3 1957, Sp. 965. 20 Kramer, Rolf, Zeit und Ewigkeit als Grunderfahrung menschlichen Lebens, in: Otfried Reinke, Ewigkeit?, Göttingen 2004, S. 121 f. 19
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5. Zeitknappheit und Ewigkeitserfahrung
men ist. Aber für die im Berufsleben Stehenden hat es in den vergangenen Generationen noch nie soviel Zeit gegeben, mit der sie nach ihrer Erwerbsarbeit frei umgehen können. Dennoch wird weiterhin über Zeitnot geklagt. Man wünscht sich, mehr Zeit zu haben. Diese ist den Arbeitnehmern – gerade als Freizeit – vielfach wichtiger als eine höhere Vergütung. Freizeit wird als eine selbstbestimmte Zeit verstanden, die in eigener Verantwortung ausgefüllt und nicht wie im Erwerbsleben fremd bestimmt wird21. Sie gehört zur Lebensqualität des Menschen und ist ein wesentliches Element des menschlichen Daseins. Durch sie wird die Postmoderne mehr und mehr als Erlebnisgesellschaft gestaltet. Die Menschen wollen ihren Spaß haben. Sie wollen ,etwas‘ erleben. Die Fun-Gesellschaft setzt sich gegenüber der beruflichen Erfüllung durch. Die Menschen werden von der Angst befallen, dass ihnen etwas entgeht.. Sie glauben, im Leben zu kurz zu kommen, wenn sie nicht alles, was das Leben bietet, mitnehmen können22. Das Wissen um den Tod als Ende des menschlichen Daseins beschleunigt diese Einstellung. Die Angst vor ihm schränkt ihren Lebensraum zusätzlich ein. Wer stattdessen glaubt, durch angewandte Hektik im Berufs- wie im Privatleben Zeit einzusparen, handelt meistens nicht zeitökonomisch, sondern vergeudet sie eher. Durch Mehrarbeit Zeit zu gewinnen, ist oftmals ein Trugschluss. Man muss dafür teuer bezahlen. Die Konzentration schwindet, die Genauigkeit nimmt ab, die Gesundheit erleidet Schaden. Dennoch ist die Forderung, Zeit einzusparen, durchaus sinnvoll, wenn sie nicht zu einem reinen Selbstzweck wird. Mündet sie allerdings aus in einen Einsatz für eine zweckmäßige Aufgabe, schenkt sie Freiheit in Verantwortung. Danach gerade strebt der moderne Mensch. Unbegrenzte Zeit oder Zeitlosigkeit wird in der Alltagssprache als Ewigkeit verstanden. Die Zeit selbst ist dann so etwas wie Nicht-Ewigkeit. Aber die Ewigkeit ist nicht das Ende der Zeit, sondern zeigt sich bereits in diesem Leben. Wo die Ewigkeit für den Menschen eine Rolle spielt, schwindet auch die Angst vor dem Tod als einer zeitlichen Grenze. Erst die Erfahrung des ewigen Gottes lässt die Angst vor verpassten Chancen überwinden. Wer die Befristetheit seines Daseins bejaht, erfährt nicht nur das Ende seiner Zeit, sondern gerade seine Ewigkeit. Diese tritt nicht erst am Ende der menschlichen Zeit auf. Vielmehr setzt Ewigkeit mitten in der Zeit ein. Denn im Jetzt hat der Mensch Teil an der Ewigkeit. Das ist Teil der christlichen Hoffnung. Denn Christus angehören, heißt, jetzt schon in der Ewigkeit und damit im neuen Äon, zu sein23.
21
Vgl. Kramer, Rolf, Phänomen, Zeit, Berlin 2000, S. 100 ff. Vgl. Moltmann, Jürgen, Gott im Projekt der modernen Welt, Güterloh 1997, S. 86 f. 23 Vgl. Kramer, Rolf, (2000), S. 110 ff. 22
5. Zeitknappheit und Ewigkeitserfahrung
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Das Christ-Sein vollendet sich in dem in Christus-Sein (en christô eînai). Erst in ihm wird die Zeit zu einer erfüllten Zeit. Diese ist vollkommene Zeit. Wer mit der Auferstehung Christi lebt, für den ist der Tod nicht mehr die letzte Wahrheit. Wer der Ewigkeit gewiss ist, hat Zeit. Der Mensch steht in seiner Zeit vor der Ewigkeit Gottes. Er muss sie vor ihm verantworten. Vor Gottes Ewigkeit werden alle Zeiten gleichzeitig. Die Ewigkeit ist in ihnen gegenwärtig.
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Personen- und Sachverzeichnis Abendland 5 Abendmahl 5 Abtreibung 28, 39 Alterssicherung 107 Arbeit 100 Arbeitslosigkeit 18, 107, 118 Aristoteles 82, 105, 134 ff. Astrologie 55 Atheismus 12 f. Auferstehung 31, 51, 136, 147 Aufklärung 142 Augustin 43 Autonomie 142 Ave Maria 146 Balandier, G. 14 Barth, Karl 73, 76 ff., 78 ff. Bauman, Zygmunt 18, 20, 25 f. Beck, Ulrich 17 Bell, Daniel 17 Bentham, Jeremy 82, 139 Bestattungskultur 144 ff. Biomedizin 33 ff. Biotechnik 34 Blumenberg, Hans 11 Böhm, Franz 99 Böse 5 f. Bonhoeffer, Dietrich 5, 79 ff. Brief: 1. Korinther 31, 48, 51, 72 – Römer 45, 51 Buddhismus 56, 60 Bundesrepublik 40, 56, 59, 71, 85, 96, 128 ff. Busch, H.-J. 14
Calvin, Johannes 105 Centesimus Annus 122, 127, 130 Christentum 5, 12, 48, 58, 63, 66, 71 f., 75 f., 79 ff. Christus 15, 29 f., 31, 49, 61, 67, 69, 72, 79 ff., 88, 137, 143, 148 Chromosom 34 Comte, August 124 f. Confessio Augustana 30, 73 DDR 57 Dechristianisierung 53 ff. Dekalog 5, 87 Demokratie 23, 110, 124 ff., 128 Denkschrift 110, 128 ff., 132 DNA 34 Dolly 37 Ebenbildlichkeit 31, 108 Ehe 28, 55, 88 ff., 96 ff. Ehescheidung 88 Einheit 57 f. Einsegnung 28 Eizelle 32 ff., 35 ff., 40 EKD 32 ff., 41 Eltern 91, 93 Embryonen 32 ff., 35 ff., 38 ff., 141 Embryonenschutzgesetz 34 140 Entchristlichung 18, 42 ff., 58 Entfremdung 122 ff., 138 Entkirchlichung 11, 42 ff., 57 f. Entreligionisierung 61 Entwicklung 53 ff., 68, 102 Erhard, Ludwig 103 Erlöser 31 Eschatologie 30
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Personen- und Sachverzeichnis
Esoterik 12, 55, 63 Ethik 5, 17 ff., 24 ff., 39, 60, 72, 79 f., 81 ff., 108, 113 ff., 125, 140 ff. – Bioethik 24, 33 ff., 86 – Diskursethik 86 – Medizinethik 24 – Sexualethik 71 – Sozialethik 26 f., 108 – Technikethik 24 – Umweltethik 24 – Wirtschaftsethik 24, 113 ff. Ethikkommission 24 Ethikrat 24 Etzioni, Amitai 22 f., 50, 94 Evangelium 28, 45, 51, 60, 71, 86, 131, 133 Ewigkeit 62, 147 ff.
88, 93 ff., 97, 99, 117 ff., 124 ff., 136 ff., 140 ff. Giddens, Anthony 14, 17, 26 Glaube 5, 52, 61, 69 Globalisierung 18, 21, 23, 25, 102, 117 ff., 119 ff. Glück 5, 12 f., 26, 63, 135 Gogarten, Friedrich 45 f. Gott 12, 47 f., 61, 67, 69 f., 72 f., 77 f., 91, 108, 141 Gottesebenbildlichkeit 33, 41, 126 Grab 145 ff. Graf, Friedrich Wilhelm 54 Grotius, Hugo 78 Grundrecht 23 Gruppe 24 Güter 82 ff., 99
Familie 19, 22, 55, 85, 88 ff., 93 ff., 96 ff., 107, 112 f., 142, 145 f. Feil, Ernst 47 Fleiß 57 Freiheit 24, 142 Freizeit 57, 148 Frieden 66, 83, 111, 130 Friedwald 145 Fürstenberg, Friedrich 53 Fundamentalismus 65, 67 ff.
Handlungsanweisung 24 Hedonismus 12 Hegel, Friedrich Wilhelm 44, 53 Heil 11, 13, 28, 49, 60 ff., 67, 69, 71 f., 81, 86 f., 99 Hoffnung 13 Homann, Karl 115 ff. Humanae Vitae 89 Humangenetik 33
Geld 118, 124, 137 f. Gemeinwohl 22, 96, 100, 195, 109 f., 121 Gen 34 Generation 13, 94 Genforschung 34 Genom 33 f. Genozid 25 Gentechnik 33 ff. Gerechtigkeit 18, 23, 40, 60, 71, 83, 105 ff., 108, 112, 130 Gericht, Jüngstes 146 Gesellschaft 5 f., 11, 14, 17 ff., 22 ff., 49 f., 53, 55, 66, 70 f., 72, 73 ff., 85,
Identität 68 Imperativ 5, 25 Individualisierung 63, 89, 137 Individualismus 23, 25, 51, 96, 137 Individuum 26, 103, 138 Industrie 19 Information 15, 49, 119 ff., 121 Inglehart, Roland 18 Internet 120 In-vitro-Fertilisation 35 ff., 38 Islam 68 Judentum 58
Personen- und Sachverzeichnis Kant, Immanuel 25, 53, 108 Kapitalismus 18, 100, 117 Karfreitag 68 Katholizismus 57 Kellner, Douglas 18 Kinder 88 ff. Kirche 5, 11 f., 15, 27 f., 30, 38 ff., 51 ff., 54 ff., 57, 58, 60 f., 63, 71 f., 85 f., 90 f., 109 f., 127 ff., 131 ff., 143 ff. Kirchenaustritt 71 Kirchenrecht 43 Klages, Helmut 83 f. Klonen 36 ff., 38 ff. Kolakowski, Leszek 49 Kollektivismus 118 ff., 137 Kommunikation 15, 21, 49, 119 ff. Kommunitarismus 21 ff., 94 Konzern 107 Kultur 27, 55, 66, 68, 83, 104 Lebensorientierung 142 ff. Lebensschutz 31 ff., 38 ff., 99 ff. Liberalismus 23, 25, 92 Luhmann, Niklas 29 Luther, Martin 11, 73, 90, 105, 143, 146 f. Markwirtschaft 99 ff., 102 ff., 104 ff., 106, 108 ff., 113 ff. – Soziale Marktwirtschaft 99 ff., 102 ff., 104 ff., 108 ff., 113 ff. Marx, Karl 122, 138 Marxismus 122 Mäßigung 83 Malow, Abraham 84 Mater et Magistra 107 McDonaldisierung 18, 21 Medizin 38 Menschenbild 31 ff. Menschenwürde 31, 32 ff., 86, 129, 140 Merk, Gerhard 21 Migration 63 f.
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Mill, John Stewart 82, 139 Mitmensch 32 Moderne (modern) 14 f., 17 ff., 22 ff., 54, 136, 140 Moral 25 f., 28, 78 Müller-Armack, Alfred 101 f., 103, 111 Mündigkeit 73 ff., 78 ff. Musik 63, 145 Nachwuchsförderung 107 Nächstenliebe 71, 130 Naturkatastrophe 15 Norm 27, 80, 87 ff., 139 ff. Ökologie 66, 83, 130 Ökonomie 28, 87, 99 ff., 110, 116 Ökumene 107 f. Offenbarung 70, 73, 75 ff., 78, 80, 126 Okkultismus 55 Ordnung 57, 101, 111, 140 Organisation 19, 85 Papst, Johannes Paul II. 41, 91, 119, 122 ff., 127, 130 Papst, Johannes XXIII. 107 Papst, Leo XIII. 106, 122 f. Papst, Paul VI. 89 Papst, Pius XII. 125 f. Partikularismus 26 Partizipation 108 Paulus, Apostel 29, 31, 51 Person 31 Philosophie 48, 103, 124, 135 Pluralismus 27, 48, 64, 70, 138 Politik 55 Postmodern 6, 14 f., 17 ff., 21 ff., 25 f., 28, 49, 80, 97, 116, 123, 136 ff., 139 ff. Präimplantationsdiagnostik 39 ff. Pränatale Diagnostik 39 ff. Protestantismus 56 ff., 75, 92 Psychokultur 55 Pünktlichkeit 57
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Personen- und Sachverzeichnis
Rahmenordnung 99, 140 Rationalisierung 20 Recht 55 Regionalisierung 118 Reichsdeputationshauptschluss 43 Reinkarnation 56 Religion 20, 29, 45, 46 ff., 49 f., 52 ff., 59 ff., 62 ff., 66 ff., 73 ff., 76 ff., 125, 142 ff. Religionisierung 64 ff. Religiosität 11 f., 15, 20, 46, 58, 63 Rerum Novarum 122, 125 Revolution 54, 68 Ritzer, George 18, 21 Rosmini, Antonio 106 Rothe, Richard 44 Säkularisation 42 ff., 58, 73 Säkularisierung 12 f., 15, 18, 20, 42 ff., 45, 51 ff., 54 ff., 59, 65 f., 70, 84, 144 Säkularisierungsthese 53 Säkularismus 42 ff., 68 Samenzelle 32 ff., 38 ff. Satanskult 12 Schicksalsschlag 15, 66 Schleiermacher, Friedrich 53 Schöpfer 29, 31, 69, 126 Schöpfung 11, 32 Schule 55 Schwangerschaftsabbruch 39 ff. Schwöbel, Christoph 69 f. SED 57 Sein, Neues 74 Selbstrechtfertigung 77 Selbsttranszendenz 77 Selbstvergottung 13, 15 Selbstverwirklichung 12 f., 15, 26, 31, 84, 92 Sexualität 89 f. Simmel, Georg 138 Solidarität 18, 66, 107 f., 123 Sozialpolitik 95, 101, 107 Spaß 17, 27
Spiritualität 12 Staat 28, 43, 54 f., 124 ff., 128 ff., 131 ff. Stahl, Friedrich Julius 54 Stammzelle 33 ff., 35 ff., 40 Steinmann, Horst 114 Sterben 144 ff. Subkultur 12 Subsidiarität 107 f. Sünde 32, 51, 62, 67, 146 Taparelli, Luigi 106 Technologie 119 ff. Terror 69 Testament, Altes 15, 72, 88 Testament, Neues 5, 48, 133 Theologie 5, 15, 26 ff., 30, 45, 48, 74, 80, 88, 112, 124, 136 Theosophie 12 Thielicke, Helmut 90 Tillich, Paul 73 ff. Tod 32, 38 Toleranz 23 Toynbee, Arnold 14 Transzendenz 52, 73 f., 75, 77 Trauung 68, 92 Troeltsch, Ernst 45 Tugend 83 ff., 105 Überlebensfähigkeit 108 Ulpian 105 Ulrich, Peter 114 Umweltschutz 18 Utilitarismus 82 f., 139 Verantwortlichkeit 129 Verantwortung 11, 23, 35, 73, 94, 104, 112, 139 Verdiesseitigung 55 Verfassung 23 Verkündigung 29 f. Vernunft 48 Verstaatlichung 5 Verweltlichung 5, 16, 55
Personen- und Sachverzeichnis Wagner, Falk 47 Wandel 81 ff., 86 ff., 107, 141 Weber, Max 45, 62, 99 Wellnessgefühl 143 Weltanschauung 11 Wert 12, 23, 27, 60, 80, 81 ff. Wirklichkeit 43, 78 Wirtschaft 55, 140 Wohlfahrtsstaat 6
Zehn Gebote 5, 87 Zeit 119, 147 ff. Zeitgeist 44, 142 Ziel 13 f., 22 f., 79, 107, 135 Zukunft 30 Zwei-Reiche-Lehre 133 f. Zwilling 36 Zwingli, Ulrich 105
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