Die Politik der Anpassung: Arbeitswelt und Berufsbildung im Ruhrgebiet 1950–1980 [1 ed.] 9783412522513, 9783412522490


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Die Politik der Anpassung: Arbeitswelt und Berufsbildung im Ruhrgebiet 1950–1980 [1 ed.]
 9783412522513, 9783412522490

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Die Politik der Anpassung

Arbeitswelt und Berufsbildung im Ruhrgebiet 1950–1980

Jan Kellershohn

Industrielle Welt Schriftenreihe des Arbeitskreises für moderne Sozialgeschichte Herausgegeben von Ulrike von Hirschhausen und Sebastian Conrad Band 101

Jan Kellershohn Die Politik der Anpassung

Jan Kellershohn

Die Politik der Anpassung Arbeitswelt und Berufsbildung im Ruhrgebiet 1950 –1980

BÖHLAU VERLAG WIEN KÖLN

Gedruckt mit Unterstützung der Stiftung Geschichte des Ruhrgebiets sowie des Vereins zur Förderung des Instituts für soziale Bewegungen e. V.

Von der Fakultät für Geschichtswissenschaften der Ruhr-Universität Bochum als Dissertation angenommen im Jahre 2020.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2022 Böhlau, Lindenstraße 14, D-50674 Köln, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, Verlag Antike und V&R unipress. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Erich vom Endt, Bilderstrecke zum Artikel „Die arbeitslosen Programmierer. Kumpel, Kellner und Konditor lernen um: 2000 Mark zahlen sie für Computer-Schulung. Aber Stellung kriegen sie keine“, in: Capital (1968), 1, S. 18 – 20. Korrektorat: Rainer Landvogt, Hanau Satz: büro mn, Bielefeld Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-412-52251-3

Für Yvonne und Emil

Inhalt

Dank  . . .............................................................................................................................  11 1 Einleitung – „Strukturwandel“, Wissenspolitik und die Anthropologie der Arbeit  .....................................................................  Gegenstand: Wissenspolitik und der Wille zur Umstellung  .................  Fragestellung: Inhalt, Praktiken und Aneignung der Wissenspolitik  ....  Forschungsstand: Deindustrialisierung, ­Arbeitsgeschichte, lebenslanges Lernen  . . ......................................................................................  Methodischer Zugriff: Wissensgeschichte und die Anthropologie der Arbeit  . . .............................................................  Vorgehen und Quellen: Montanregionen, ­Mobilität, Umschulung und Lernbehinderung  . . ..................................................................................  2 Ausbildung als Eingliederung. Moralischer Holismus im deutschen und französischen Bergbau, 1945 – 1953  ..............................................................................................................  Moralischer Verfall und Antikommunismus  ............................................  Totale Erfassung und Milieukontrolle  .......................................................  Hierarchisierung, Schulung, Führung  ....................................................... 

13 15 18 19 27 36

45 48 52 57

Teil I: Von der Eingliederung zur Anpassung  ................................................................  63

3 Zechenschließungen und die Entdeckung der Anpassungsfähigkeit in Nordfrankreich, in Luxemburg und im Ruhrgebiet, 1953 – 1966/67  .....................................  3.1 Von Fluktuation und Stabilität zu Mobilität und Immobilität  . . ..........  Vom moralischen Holismus zur Erfindung der Mobilität  . . ...........  Die Europäisierung der Mobilität  .......................................................  Der Qualifizierungsimperativ im westdeutschen Steinkohlenbergbau und die Sorge um den Verfall der Begabung  ....................  3.2 Die Rationalisierung der Ausbildung als Wissenspolitik der Anpassung, 1960 – 1966/67  .....................................................................  Die Synchronisierung von Arbeit und Begabung in der Stufenausbildung  . . ....................................................................... 

65 65 67 76 87 94 94

8

Inhalt

Den Willen zur Umstellung rationalisieren: kybernetische Pädagogik und programmierte Unterweisung  .......  105 Das Ende der Ausbildung im französischen Bergbau  .....................  116 4 Von der Entdeckung des „älteren Arbeitnehmers“ zur Institutionalisierung der Umschulung (1965 – 1968/69)  . . ..................................................................  129 4.1 Umschulung und die Sorge um die Erosion der Beruflichkeit  ............  129 Von der Fluktuationsprävention zur Mobilitätsförderung  ............  132 Beweglichkeit und Vorstellungswelten der Beruflichkeit  ...............  141 Gestaltungsspielräume im entstehenden Umschulungssystem  . . ...  150 4.2 Anthropologien und Vereindeutigungspraktiken der Mobilität  ..........  161 Von Ruhrvolk, Taubenzüchtern und anderen Immobilen  ............  164 Zirkulationswege der Mobilität in der Bundesrepublik  .................  179 Mobilität und Rehabilitationswissenschaft  .......................................  193 4.3 Die Vermessung der Mobilität  .....................................................................  200 Mobilität quantifizieren  .........................................................................  201 Mobilität interpretieren  .........................................................................  210 Mobilität vermitteln  ...............................................................................  220 Teil II: Von der Anpassung zum Ausschluss  . . ..................................................................  231

5 Die Expansion der Erwachsenenausbildung und die Grenzen der Anpassungsfähigkeit (1968/69 – 1975)  . . ...................  5.1 Experimentalsysteme der Bildbarkeit und der Betrieb als epistemischer Ort  . . ......................................................  Die Gründung der Gesellschaft zur Verbesserung der Beschäftigten­struktur und die Anpassung des „älteren Arbeitnehmers“  .................................................................  Umschulung und industrielle Beziehungen – Das Berufsförderungszentrum Essen  ..................................................  Wissenspolitische Netze – GVB, Bfz Essen und das Anpassungszentrum  . . .......................................................................  5.2 Die Praxis der Anpassung: Männlichkeit, Alter, Behinderung  . . ...........  Mobilität, Männlichkeit, moralische Ökonomie  . . ...........................  Betriebliche Epistemologie der Differenz  ..........................................  Eigen-Sinn, Inkongruenz und Anpassungsfähigkeit  .......................  5.3 Von der Wissenspolitik der Anpassung zur Wissenspolitik des Ausschlusses  .. .............................................................................................  Das Scheitern der GVB  ......................................................................... 

233 233

235 242 250 258 258 267 277 282 282

9

Inhalt

Umschulung ­zwischen Beweis der Bildbarkeit und Bestätigung der Unbildbarkeit  . . ..................................................................................  287 Anpassungsfähigkeit ­zwischen Labor und Th ­ eater  ..........................  296 6 Von der Suche nach „wertvollen Menschen“ zur Institutionalisierung der Lernbehinderung, 1966/67 – 1980  .............................................................  6.1 Die Vermessung der Zukunftsfähigkeit: Lernbehinderung und Strukturwandel  ......................................................  „Strukturwandel“ und die Erfindung der „Minderbegabung“  .....  Begabungsverfall ­zwischen Interessenpolitik, Lernbehinderung und Korporatismus  . . ..............................................  Lernbehinderung vermessen  .................................................................  6.2 Von korporatistischen Versuchsordnungen zur Politisierung der Begabungsfrage  . . .......................................................................................  Die Politisierung der Begabungsfrage durch DGB und IGM  ......  Lernbehinderung ­zwischen Bundes-, Landesund lokaler Ebene  ...................................................................................  Chancengleichheit, Körper und Alterität  ..........................................  6.3 Die Institutionalisierung der Differenz: Hüttenwerker und Berg- und Maschinenmann als Sozialfiguren ausschließender Wissenspolitik  ......  Lernbehinderung und Lernbeeinträchtigung – ­Vereindeutigungsversuche der „Minderbegabung“  .........................  Betrieblicher Pragmatismus und Fürsorgeanspruch: Die Hüttenwerkerausbildung bei Thyssen Niederrhein  . . ...............  Das Milieu des Bergjungarbeiters und die Institutionalisierung der Differenz: Der Berg- und Maschinenmann  ............................... 

308 308 308 317 327 337 337 346 355 364 364 370 378

7 Schluss – Für eine pessimistische Geschichte der Bundesrepublik  .. .........  389 Abkürzungsverzeichnis  ..............................................................................................  414 Quellenverzeichnis  .. ....................................................................................................  417 Archivalien und unveröffentlichte Quellen  ......................................................  417 Veröffentlichte Quellen  .........................................................................................  420 Literaturverzeichnis  . . ..................................................................................................  434 Register  ..........................................................................................................................  460 Personenregister  ......................................................................................................  460 Sachregister  ..............................................................................................................  463

Dank

Dafür, dass die vorliegende Studie im Juni 2020 am Historischen Institut der Ruhr-Universität Bochum als Dissertation angenommen wurde und nun als Buch erscheint, bin ich zahlreichen Personen zu tiefem Dank verpflichtet. Stefan Berger, mein Erstbetreuer, hatte jederzeit ein offenes Ohr und hilfreichen Rat für die im Laufe der Arbeit entstehenden Probleme. Till Kössler, mein Zweitbetreuer, stieß mich beständig darauf, das, was ich erzähle, auf seine übergeordnete Bedeutung hin zu befragen. Hans-Christoph Seidels inhaltliche wie arbeitspragmatische Hinweise hielten das Projekt auf Kurs. Alle drei standen mir nicht nur ohne Einschränkungen zur Seite, sondern nahmen mein Vorhaben in das von der RAG-Stiftung geförderte und von der Stiftung Geschichte des Ruhrgebiets durchgeführte Projekt „Bildungsgeschichte von (ehemaligen) Montanregionen“ auf. Anfangs schwebte mir noch vor, eine Erfolgsgeschichte der Bildungsexpansion im Ruhrgebiet zu schreiben. Dass es dazu glücklicherweise nicht gekommen ist, verdanke ich, neben den bereits Genannten, Marcus Böick, Stefan Braun, Jae-Ho Choi, Michael Farrenkopf, Marion Fontaine, Constantin Goschler, Rüdiger Graf, Karl Lauschke, Stéphane Lembré, Stefan Moitra, Béatrice Touchelay und Jochen Wiesner, die das Promotionsvorhaben in seiner Entstehung und darüber hinaus konstruktiv begleitet und kritisch kommentiert haben. Béatrice Touchelay bin ich für die Einladung zu einem Forschungsaufenthalt in Lille und dessen unbürokratische Organisation zu Dank verpflichtet, ebenso wie dem Deutschen Akademischen Austauschdienst, der die Archivstudien in Nordfrankreich ermöglichte. Stefan Berger und Sebastian Voigt danke ich dafür, dass sie meine Assoziation an das Graduiertenkolleg „Soziale Folgen des Wandels der Arbeitswelt in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts“ der Hans-Böckler-Stiftung angeregt haben. Den Leitern des Kollegs, neben Stefan Berger Frank Bösch, Winfried Süß und Andreas Wirsching, danke ich für die Möglichkeit, mein Projekt in dieser Runde zur Diskussion zu stellen. Von dem intensiven Austausch unter den Kollegiat:innen habe ich sehr profitiert. Zwischenergebnisse sowie auf ­dieses Projekt zurückgehende Erkenntnisse durfte ich zu verschiedenen Gelegenheiten präsentieren und diskutieren, wofür ich Constantin Goschler, Béatrice Touchelay, Till Kössler, Rüdiger Graf, Stefan Berger, Helmut Maier und Dieter Ziegler sowie den Organisator:innen des Historischen Doktorandenkollegs Ruhr danke. Meine Kolleginnen in der Stipendiengruppe, Sara-Marie Demiriz, Anne Otto und Alicia Gorny, wissen, wie viel d ­ ieses Projekt ihnen verdankt – ebenso wie Pia Eiringhaus und Jonas Fischer, mit denen ich das Doktorand:innenbüro im Haus der Geschichte des Ruhrgebiets teilen durfte. Das Schönste am ­(geschichts)wissen-

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Dank

schaftlichen Arbeiten ist, wenn aus fachlichen Interessenkoalitionen Freundschaften werden. Ebenso wäre die Arbeit in dieser Form ohne das produktive intellektuelle Arbeitsklima rund um die Ruhr-Universität Bochum, das Haus der Geschichte des Ruhrgebiets und das Deutsche Bergbau-Museum Bochum nicht denkbar gewesen. Auch dass aus viel Text ein Buch wurde, ist nicht allein mein Verdienst. Kons­truktiv-­ kritische Rückmeldungen zu meinem Text gaben mir Sara-Marie Demiriz, Jule Ehms, Jonas Fischer, Alicia Gorny, Hannah Kellershohn, H ­ elmut Kellershohn, Christopher Kirchberg, Alina Marktanner, Anne Otto, Margareta Schulleri und Ulf Teichmann. Moritz Müller hat das Manuskript in Gänze gelesen und kommentiert. Danke! Den Kolleg:innen aus der Bibliothek des Ruhrgebiets und den vielen Bibliothekar:innen und Archivar:innen in Deutschland und Frankreich danke ich für ihre Geduld und die Bereitschaft, sich auf meine Recherchewünsche einzulassen. Thomas Ricken und Dennis Boss von der Industrie- und Handelskammer Essen sowie Lutz Naudet vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales haben die Einsicht in noch nicht abgegebene Akten umstandslos ermöglicht. Norbert Meyer, ehemaliger Vorstandsvorsitzender des Berufsförderungszentrums Essen, hat sich die Zeit für ein Gespräch über die Gründungsgeschichte dieser Modelleinrichtung genommen. Für diese Aufgeschlossenheit gegenüber der Geschichtswissenschaft gebührt ihnen großer Dank. Für die Aufnahme der Studie in die Schriftenreihe des Arbeitskreises für moderne Sozialgeschichte danke ich Ulrike von Hirschhausen und Sebastian Conrad sowie Lutz Raphael und Thomas Welskopp, die die Studie begutachtet haben. Für die zuvorkommende Betreuung durch den Böhlau Verlag sei Kirsti Doepner und für das Korrektorat Rainer Landvogt gedankt. Ohne die Druckkostenzuschüsse der Stiftung Geschichte des Ruhrgebiets und des Vereins zur Förderung des Instituts für soziale Bewegungen e. V. hätte diese Arbeit in dieser Form nicht erscheinen können, wofür ich beiden Organisationen sehr verbunden bin. Zuletzt danke ich meinen Eltern für die bedingungslose Unterstützung und den intellektuellen Austausch. Das Wichtigste allerdings geschah fernab des Papiers. Während der Überarbeitung des Manuskripts erblickte Emil das Licht der Welt. Ihm und Dir, Yvonne, sei diese Arbeit gewidmet. Jan Kellershohn Halle an der Saale, im Juni 2021

1 Einleitung – „Strukturwandel“, Wissenspolitik und die Anthropologie der Arbeit Vier Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs erschien, zunächst auf Französisch, die Monografie Die große Hoffnung des zwanzigsten Jahrhunderts des Wirtschaftswissenschaftlers Jean Fourastié. Wenige Jahre ­später besorgte der gewerkschaftseigene Bund-Verlag eine Übersetzung. Fourastié diagnostizierte in dieser Studie den viel zitierten Weg in die Dienstleistungsgesellschaft, den „Hunger nach Tertiärem“, nach immer mehr Dienstleistungen, nachdem Landwirtschaft und Industrie durch Mechanisierung, Rationalisierung und Automatisierung enorm an Produktivität gewonnen haben würden. Darüber hinaus hoffte Fourastié, dass mit dem Strukturwandel die „sture Fließbandarbeit namenloser, zur stundenlangen Wiederholung immer gleicher Bewegungen verdammter Ungelernter“ ein Ende fände.1 Diese Aussicht auf ein Verschwinden der „knechtischen Tätigkeiten“ oszillierte allerdings ­zwischen Verheißung und Zwang. Fourastié schloss nämlich von der Befreiung auf den Imperativ der Dienstleistungsgesellschaft: „Die Menschen müssen unbedingt intelligent werden und ihr Denken den wissenschaftlichen Methoden unterwerfen.“ 2 Einige Jahre ­später dominierten die Debatten um den „Strukturwandel“ die westdeutsche Öffentlichkeit. Die Prognose Fourastiés schien zuzutreffen. 1965 widmete sich ein Memorandum des Landesarbeitsamtes Nordrhein-Westfalen (LAA NRW) der Frage, ob und wie aus dem westdeutschen Bergbau entlassene Arbeiter 3 in andere Berufe umgeschult werden könnten. Der Tenor war skeptisch. Gegen eine Umschulung spreche, dass „bei den meisten kaum noch Lern- und Bildungsfähigkeit“ vorhanden sei.4 Darüber hinaus habe der „Wille zur Umstellung“ bei einem Großteil der noch beschäftigten und ehemaligen Bergarbeiter nachgelassen und könne „auch nicht geweckt werden“.5 Im Mai 1972 beschwor der Präsident der Kommission für Kultur und Bildung des Europarats auf einer Tagung im luxemburgischen Kirchberg in seinem Eröffnungs 1 Jean Fourastié: Die große Hoffnung des zwanzigsten Jahrhunderts [1949], Köln 21969, S. 220. 2 Ebd., S. 221. Hervorhebung im Original. 3 In der vorliegenden Arbeit wird grundsätzlich eine differenzsensible Schreibweise gewählt (z. B. „Akteur:in“). In Fällen wie d ­ iesem allerdings, in denen eine historische Gruppenbezeichnung mit einer Subjektivierungsweise, um deren Untersuchung es in dieser Arbeit geht, verbunden ist, wird die Quellensprache genutzt. 4 LAA NRW: Die Umschulung der von Zechenstillegungen betroffenen Bergleute. Memorandum zur Verwaltungsausschusssitzung, 8. 3. 1965, in: Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, Abteilung Rheinland (LAV NRW-R), Duisburg, BR 1134/158, S. 5. 5 Ebd.

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Einleitung – „Strukturwandel“, Wissenspolitik und die Anthropologie der Arbeit

vortrag einen „radikalen Wandel der Haltung gegenüber dem Wissen“, der sich in der Bereitschaft zu Weiterbildung und lebenslangem Lernen niederschlagen müsse: Es geht letztlich darum, einen mehr oder weniger blockierten Zustand durch einen entwicklungsfähigen Zustand zu ersetzen. Wir wollen die Neugier, die Kreativität, den Initiativgeist, das Verantwortungsbewusstsein und die Solidarität entwickeln und eine kalkulierte Unvollkommenheit akzeptieren, damit die Neugier des Bewusstseins der Unvollkommenheit die notwendige Motivation hervorruft, das Bemühen jenseits des normalen Studienaufwandes weiterzuverfolgen, und die Neigung für die autodidaktische Selbstbildung entwickelt.6

Im Jahr 2021 schließlich werden Menschen, die die deutsche Staatsbürgerschaft erwerben möchten, gefragt: „Was man für die Arbeit können muss, ändert sich in der Zukunft sehr schnell. Was kann man tun?“ Von den möglichen Antworten stellt sich das Mantra „Erwachsene müssen auch nach der Ausbildung immer weiter lernen“ als richtig heraus. Die Aussagen „Es ist egal, was man lernt“, „Kinder lernen in der Schule alles, was im Beruf wichtig ist. Nach der Schule muss man nicht weiter lernen“ und „Alle müssen früher aufhören zu arbeiten, weil sich alles ändert“ hingegen verringern die Chancen, die deutsche Staatsbürgerschaft zu erlangen.7 Diese vier Beispiele aus der französischen Arbeitssoziologie der Nachkriegszeit, der westdeutschen Arbeitsmarktpolitik, der Europapolitik der 1970er Jahre und der bundesrepublikanischen Einwanderungspolitik der Gegenwart sind nur scheinbar disparat. Sie zeigen, dass der „Wille zur Umstellung“ in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu einem Grundpfeiler der westdeutschen, französischen und europäischen Selbstdarstellung avancierte. Sie verweisen erstens darauf, dass in ­diesem Zeitraum in Frankreich, Deutschland und Europa Qualifikation, Wissen und Ausbildung als Schlüssel begriffen wurden, der dazu dienen sollte, wirtschaftlichen Wandel zu bewältigen, zu steuern und voranzutreiben.8 Zweitens belegen die Zitate, wie eng die Kategorie des „Strukturwandels“, die hinter diesen 6 Jean Capelle: La formation et le perfectionnement professionnels des adultes dans une politique de formation continue. Einführungsvortrag auf der europäischen Konferenz über die Berufsausbildung Erwachsener vom 15. – 19. Mai 1972 in Luxemburg, Mai 1972, in: Archives Nationales du Monde du Travail (ANMT), Roubaix, 2007 038 037, S. 6 f. Alle Übersetzungen wurden, so nicht anders ausgewiesen, durch den Autor angefertigt. 7 Vgl. Frage 284 des 300 Fragen umfassenden Katalogs, Bundesamt für Migration und Flüchtlinge: Gesamtfragenkatalog zum Test „Leben in Deutschland“ und zum „Einbürgerungstest“, Stand: 19. 3. 2017, https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Integration/Einbuergerung/ gesamtfragenkatalog-lebenindeutschland.html?nn=282388, letzter Zugriff: 10. 2. 2021, S. 151. 8 Alfons Kenkmann: Von der bundesdeutschen „Bildungsmisere“ zur Bildungsreform in den 60er Jahren, in: Axel Schildt/Detlef Siegfried/Karl Christian Lammers (Hg.): Dynamische Zeiten.

Einleitung – „Strukturwandel“, Wissenspolitik und die Anthropologie der Arbeit

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Beispielen steht, mit Fragen der Qualifikations- und Ausbildungspolitik verwoben war. Drittens ergaben sich neue Zugriffsmöglichkeiten auf Individuen: Diese sollten und mussten „intelligent“, „anpassungsfähig“ und „umstellungswillig“ sein. Eine quantitative Steigerung der Qualifikation und des Wissens reichte nicht mehr aus. Der „Wille zur Umstellung“ musste sich auch in Verhalten, Arbeitsverfahren und Lebenshaltung widerspiegeln.9 Den Fürsprechern der „Wissensgesellschaft“ oder des „Strukturwandels“ – s­ eien es Jean Fourastié, Robert E. Lane, Daniel Bell oder zuletzt Nico Stehr 10 – war ein modernisierungstheoretischer Konsens eigen. In dieser Einmütigkeit aber wurde die „Anpassungsfähigkeit“ von Arbeitenden Verhandlungsmasse wirtschafts-, arbeitsmarktund sozialpolitischer Steuerungsansprüche. Dem Begriff des Strukturwandels wohnt als Medium gesellschaftlicher Selbstbeschreibung also ein Herrschaftsanspruch inne, der selbst eine Geschichte hat. Diese ist es wert, erzählt zu werden. Gegenstand: Wissenspolitik und der Wille zur Umstellung

An ­diesem Punkt setzt die vorliegende Arbeit mit Blick auf die Bundesrepublik und Frankreich an. Untersucht werden die Wahrnehmung wirtschaftlichen Wandels und darauf zurückgehende politische Maßnahmen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Anhand der Auseinandersetzung um die „Anpassungsfähigkeit“ von Arbeitenden steht die normative Kraft vermeintlich neutraler Konzepte gesellschaftlicher Selbstbeschreibung im bundesrepublikanisch-französischen Vergleich im Mittelpunkt. Ausgangspunkt ist die Gemeinsamkeit aller Modelle, die sich seit den 1950er Jahren mit der Zukunft der Industriegesellschaft und der Arbeit beschäftigen: Sie alle schreiben Wissen eine herausragende Bedeutung zu, ohne dass Einigkeit darüber herrschte, was unter Wissen zu verstehen sei. Die beständige Beschwörung des Wissens als Transformationsressource schuf, so die Ausgangshypothese, eine Unschärfe. Es handelte sich um den gesellschaftlichen Verständigungsbedarf darüber, was Wissen oder – um im obigen Beispiel zu bleiben – was der „Wille zur Umstellung“ überhaupt ist. Die 60er Jahre in den beiden deutschen Gesellschaften (Hamburger Beiträge zur Sozial- und Zeitgeschichte 37), Hamburg 2000, S. 402 – 423, hier S. 407. 9 Zur Genealogie des häufig auf Friedrich Nietzsches „Willen zur Macht“ zurückgeführten Willensbegriffs vgl. Thomas Steinfeld: Ich will, ich kann. Moderne und Selbstoptimierung, Konstanz 2016. 10 Robert E. Lane: The Decline of Politics and Ideology in a Knowledgeable Society, in: American Sociological Review 31 (1966), S. 649 – 662; Daniel Bell: Die nachindustrielle Gesellschaft [1973], Frankfurt a. M. 1975; Nico Stehr: Wissen und Wirtschaften. Die gesellschaftlichen Grundlagen der modernen Ökonomie, Frankfurt a. M. 2001. Vgl. Christiane Reinecke: Wissensgesellschaft und Informationsgesellschaft, Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 11. 2. 2010, http:// docupedia.de/zg/Wissensgesellschaft, letzter Zugriff: 10. 2. 2021.

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Einleitung – „Strukturwandel“, Wissenspolitik und die Anthropologie der Arbeit

Es soll in dieser Arbeit nicht um die Frage gehen, ob es den Strukturwandel wirklich gegeben hat oder nicht.11 Vielmehr geht diese Arbeit davon aus, dass Mitte des 20. Jahrhunderts, angesichts eines einerseits wachsenden Wohlstands, der Vorstellungen einer Verbürgerlichung breiter Bevölkerungsschichten und der Erfahrung gesellschaftlicher Stabilität, andererseits des Kalten Kriegs und der ersten Absatzschwierigkeiten der europäischen Schwerindustrie, Wissen und Bildung als Lösung und Transformationsressource im Feld der Arbeit begriffen wurden. Damit wurden sie in Form des Willens zur Umstellung aber uneindeutig, thematisierbar, problematisierbar und zum Gegenstand gesellschaftlicher Auseinandersetzung.12 Das Auftreten des Begriffs des Wissens schuf damit in den 1950er Jahren die Voraus­setzung für die Herausbildung eines Feldes, das ich als Feld der Wissenspolitik charakterisieren möchte. Wissenspolitik stellt eine analytische Kategorie dar, um einen Problematisierungsmodus innerhalb der Geschichte der Industriegesellschaften in den Blick zu bekommen. Ziel der vorliegenden Arbeit ist, die enge Verzahnung von Wissen, Arbeit und Zukunft aufzuschlüsseln, deren wechselseitige Abhängigkeit offenzulegen und sie auf ihre Effekte und Aneignungen hin zu befragen. Dabei bezeichnet Wissenspolitik als gesellschaftliches Vereindeutigungsstreben das Ensemble von Maßnahmen, Diskussionen und Praktiken, die sich seit den 1950er Jahren um den „Willen zur Umstellung“ anordneten. Wissen wird so in dieser Untersuchung vom erklärenden Faktor zur erklärungsbedürftigen Variablen gesellschaftlichen Wandels. Wissenspolitik und das damit verbundene Vereindeutigungsstreben rücken in die Position des Erklärenden.13 Wissenspolitik ist ein Begriff jüngeren Datums. Er geht auf den Sozialwissenschaftler Nico Stehr zurück, der damit die Regulierung, Förderung, Überwachung und Steuerung von (wissenschaftlichem) Wissen in der von ihm diagnostizierten „Wissensgesellschaft“ beschrieb.14 Wissenspolitik in d ­ iesem ersten Sinne umfasst alle Maßnahmen, die sich analog zur Wirtschaftspolitik mit dem Verhältnis von 11 So die Perspektive bei Werner Plumpe/André Steiner: Der Mythos von der postindustriellen Welt, in: dies. (Hg.): Der Mythos von der postindustriellen Welt. Wirtschaftlicher Strukturwandel in Deutschland 1960 bis 1990, Göttingen 2016, S. 7 – 15. 12 Eine ähnliche Deutung findet sich bei Stefan Böschen/Matthias Groß/Wolfgang Krohn: Experimentelle Gesellschaft: Das Experiment als wissensgesellschaftliches Dispositiv, in: dies. (Hg.): Experimentelle Gesellschaft: Das Experiment als wissensgesellschaftliches Dispositiv (Gesellschaft – Technik – Umwelt, Neue Folge 19), Baden-Baden 2017, S. 7 – 25, hier S. 7. 13 Insofern kehrt diese Perspektive den Begriff der Verwissenschaftlichung, der den Zuwachs der Autorität wissenschaftlichen Wissens als Explanans für sozialen Wandel fokussiert, um. Vgl. kanonisch Lutz Raphael: Die Verwissenschaftlichung des Sozialen als methodische und konzeptionelle Herausforderung für eine Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts, in: Geschichte und Gesellschaft 22 (1996), S. 165 – 193. 14 Nico Stehr: Wissenspolitik. Die Überwachung des Wissens, Frankfurt a. M. 2003; ders.: Wissen.

Einleitung – „Strukturwandel“, Wissenspolitik und die Anthropologie der Arbeit

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Wirtschaft und Wissen auseinandersetzen.15 Die Maßnahmen erheben Wissen zur Ware, betrachten es als Ressource und suchen seine Charakteristika zu bestimmen.16 Wissen wird hier als wissenschaftliches Wissen verstanden, dessen Verhältnis zu ökonomischen Verwertungsprozessen erklärungsbedürftig erscheint. In einer zweiten, durch Michel Foucault inspirierten Perspektive bezeichnet Wissenspolitik analog zur Biopolitik 17 die Herstellung und die Legitimation von Differenzwissen. Wissenspolitik ist also eine „hegemonialisierend wirkende ‚Wahrheitspolitik‘ als machtvolle institutionelle Durchsetzung von als ‚wahr‘ geltendem Wissen zu sozialen Ungleichheiten.“ 18 Eine ­solche Perspektive ist besonders dann ertragreich, wenn sie den Schwerpunkt auf das Wissen selbst legt: Was war Wissen eigentlich? Wie wurde es definiert? Inwieweit war es umstritten? In einer Zusammenführung dieser soziologischen und ökonomischen Perspektiven benennt Wissenspolitik einen mit den 1950er Jahren auftretenden gesellschaftlichen Selbstbeobachtungsmodus. Dieser Modus beruhte auf der Notwendigkeit, Wissen über Wissen zu schaffen. Es geht in dieser Untersuchung darum, wie Wissen im Feld der Arbeit nutzbar gemacht werden sollte. Dadurch eröffnet der Begriff der Wissenspolitik durch die Einbeziehung der Arbeitswelten neue Perspektiven auf die viel beschworene Bildungsexpansion der 1960er Jahre.19 Während Bildungsund Ausbildungspolitik klar abgrenzbare Bereiche sowie Ressorts von Ministerien und Gegenstand von Verbandsinteressen waren, beschreibt Wissenspolitik, wie verschiedene Akteur:innen die Rolle von Wissen und dessen Verhältnis zu Arbeit und sozialer Differenz verhandelten. Sie stritten also um die Bedeutung, die Wissen und Qualifikation in der Arbeitsgesellschaft einnehmen sollten: Welche Individuen sind unter ­welchen Bedingungen ausbildbar? Warum legen manche Individuen 15 Vgl. Margit Szöllösi-Janze: Wissensgesellschaft in Deutschland. Überlegungen zur Neubestimmung der deutschen Zeitgeschichte über Verwissenschaftlichungsprozesse, in: Geschichte und Gesellschaft 30 (2004), S. 277 – 313. 16 Enzo Rullani: Ökonomie des Wissens. Kreativität und Wertbildung im Netzwerkkapitalismus [2004], Wien 2011, S. 340 – 346. 17 Vgl. kanonisch Michel Foucault: Sexualität und Wahrheit, Bd. 1: Der Wille zum Wissen [1976], Frankfurt a. M. 202014, S. 134 f. 18 Heiner Keupp/Werner Schneider: Individualisierung und soziale Ungleichheit. Zur legitimatorischen Praxis der Inklusion und Exklusion in der Zweiten Moderne, in: Werner Schneider/ Wolfgang Kraus (Hg.): Individualisierung und die Legitimation sozialer Ungleichheit in der reflexiven Moderne, Opladen u. a. 2014, S. 193 – 217, hier S. 197. 19 Zum Hintergrund vgl. Oskar Anweiler: Bildungspolitik, in: Michael Ruck/Marcel Boldorf (Hg.): Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, Bd. 4: Bundesrepublik Deutschland 1957 – 1966. Sozialpolitik im Z ­ eichen des erreichten Wohlstandes, Baden-Baden 2007, S. 612 – 642; Christoph Führ: Zur deutschen Bildungsgeschichte seit 1945, in: ders./Carl-Ludwig Furck (Hg.): Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, Bd. VI: 1945 bis zur Gegenwart. Erster Teilband: Bundesrepublik Deutschland, München 1998, S. 1 – 27.

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Einleitung – „Strukturwandel“, Wissenspolitik und die Anthropologie der Arbeit

den Willen (und die Fähigkeit) zur Umstellung an den Tag? Inwieweit ist „Anpassungsfähigkeit“ gesellschaftlicher Steuerung zugänglich? Wo liegen die Grenzen staatlicher Intervention? Wie könnten Arbeiter, viel seltener Arbeiterinnen, für den „Strukturwandel“ „klüger“ gemacht werden? Wie müsste eine Ausbildung aussehen, die „flexible“ und „mobile“ Arbeiter hervorbringt – und sind überhaupt alle Menschen für eine s­olche Ausbildung geeignet? Im Zentrum stand, kurz gesagt, eine fundamentale Frage: Wo lagen die Grenzen der Perfektibilität und der Machbarkeit des Menschen? Fragestellung: Inhalt, Praktiken und Aneignung der Wissenspolitik

In der vorliegenden Arbeit wird nach der Aushandlung des Willens zur Umstellung im Feld der Wissenspolitik gefragt: Wie veränderte sich das Verhältnis von Arbeit und Wissen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts? Diese Frage lässt sich auf drei Ebenen eingrenzen: Auf inhaltlicher Ebene wird in der Arbeit danach gefragt, wie Arbeitsverwaltung und Ministerialbürokratie, Unternehmens- und Wirtschaftsverbände und Gewerkschaften, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sowie Ausbildungsinstitutionen Qualifikation und Wissen qualitativ begriffen und wie sich ­dieses Verständnis wandelte. Welche Eigenschaften sprachen diese Institutionen Individuen zu? Welche Attribute erhielt der Wille zur Umstellung in der Diskussion über den Wandel der Arbeit? Welche Menschenbilder und Vorstellungen von Begabung traten in ­diesem gesellschaftlichen Selbstverständigungsprozess auf? Welche wurden handlungsleitend? Welche Ideologeme fanden Eingang in die gesellschaftliche Suche nach dem Willen zur Umstellung? Wie veränderte sich das Bild von Arbeitern, insbesondere aus der Schwerindustrie, aber auch von Arbeiterinnen? Inwieweit wurde über die Gegenüberstellung von „manueller“ und „kognitiver“ Arbeit der schwerindustrielle Arbeiterkörper von der Ikone hochindustrialisierter Gesellschaften zum Problem eines „nachindustriellen“ gesellschaftlichen Selbstverständnisses? Auf der Ebene der Praktiken geht es in der Arbeit darum, wie die Eindeutigkeit solcher Bilder und Narrative hergestellt wurde. Welche Methoden nutzten die staatliche Verwaltung, die Tarifparteien, Forschungsprojekte oder auch Ausbildungszentren und -einrichtungen, um das Verhältnis von Arbeit und Begabung zu vereindeutigen? Welchen Techniken und Praktiken sprachen die Verantwortlichen eine hohe Beweiskraft zu, ­welchen nicht? Wie stellten Arbeitsverwaltung, Unternehmen, Gewerkschaften sowie Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler Einigkeit darüber her, ­welche Individuen als „begabbar“ zu gelten hatten? Welche Objektivitätsvorstellungen waren handlungsleitend? Inwieweit schufen Vereindeutigungsversuche einen sich beständig erneuernden Vereindeutigungsbedarf?

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Auf der Ebene der Aneignung wird den Handlungsspielräumen von Auszubildenden, Umschülern, aber auch Beamtinnen und Beamten, Funktionärinnen und Funktionären sowie Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern nachgespürt: Inwieweit stellte Wissenspolitik nicht nur eine Macht- und Herrschaftstechnik dar, sondern schuf ebenso Spielräume der Aneignung und Ambiguitäten? Wie nutzten Individuen auf verschiedenen sozialen Positionen das gesellschaftliche Bedürfnis nach Klärung des „Willens zur Umstellung“, um eigene Interessen durchzusetzen? Wie gingen etwa Industriearbeiter damit um, dass ihre Mobilität und ihre Umstellungsbereitschaft breit diskutiert und angezweifelt wurden? Inwieweit handelt es sich also bei einer Geschichte der Wissenspolitik nicht nur um eine Geschichte der Unterwerfung, sondern auch um eine der Aneignung? Forschungsstand: Deindustrialisierung, ­Arbeitsgeschichte, lebenslanges Lernen

Die Arbeit lässt sich über diese Fragen an der Schnittstelle von drei Forschungsfeldern der Zeitgeschichte verorten, die sich um den Begriff des „Strukturwandels“ anordnen. So wird in dieser Untersuchung beabsichtigt, einen Beitrag zu einer Kultur­geschichte des Strukturwandels als historische Epistemologie zu leisten.20 Ziel ist es, den Begriff des „Strukturwandels“ zu historisieren. Es gilt, ­dieses klassische Objekt der Sozialgeschichte zunächst aufzugeben, um neue Zugänge zu seiner geschichtswissenschaftlichen Betrachtung und seiner Verortung in der Geschichte der Bundesrepublik zu eröffnen. Damit wird in dieser Arbeit vorgeschlagen, wie der von Stefan Grüner geforderte „Brückenschlag ­zwischen sozial- und kultur­ geschichtlichen Herangehensweisen an die Transformation von industrieller Arbeit und die Entstehung neuer Formen von Ungleichheit“ aussehen kann.21 Erstens schließt die Arbeit an die Forschungen zur Geschichte des „Strukturwandels“ und der Deindustrialisierung, sowohl der Sozial- als auch der jüngeren Kulturgeschichte, an.22 Diese Idee eines absehbaren und steuerbaren gesellschaftlichen Wandels, basierend auf den „Prinzipien von Fortschritt, Wachstum und

20 Zur historischen Epistemologie als „Reflexion auf die historischen Bedingungen, unter denen, und die Mittel, mit denen Dinge zu Objekten des Wissens gemacht werden, an denen der Prozess der wissenschaftlichen Erkenntnisgewinnung in Gang gesetzt sowie in Gang gehalten wird“, vgl. Hans-Jörg Rheinberger: Historische Epistemologie zur Einführung (Zur Einführung 336), Hamburg 2007, Zit. S. 11. Hervorhebung im Original. 21 Stefan Grüner: Strukturwandel und (Schwer-)Industrie. Forschungsstand und Perspektiven, in: Uwe Danker u. a. (Hg.): Strukturwandel in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts (Beiträge zur Zeit- und Regionalgeschichte 2), Neumünster 2014, S. 124 – 157, hier S. 148. 22 Vgl. z. B. ebd.

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Zukunftsvertrauen“,23 wurde als Ausdruck einer Planungseuphorie der Nachkriegszeit und der Jahre des „Booms“ charakterisiert.24 Gleichzeitig schrieb die Zeitgeschichte sie mit Narrativen des Wandels von der Industrie- zur Wissensgesellschaft aber fort.25 Wenig überraschend wurde gegen geschichtswissenschaftliche Untersuchungen, die mit dem Begriff arbeiten, der Vorwurf der Teleologie und der Vereinfachung erhoben.26 Dieser Strang schließt auch die Strukturbruchthese ein. Die entsprechende Diagnose, die Rohstoffe „Kohle und Eisen“ ­seien „durch den neuen Grundstoff Wissen ergänzt, wo nicht ersetzt“ worden,27 unterscheidet sich kaum von Narrativen eines Übergangs von der Hand- zur Kopfarbeit in der Dienstleistungs-, Informations-, Netzwerk- oder Wissensgesellschaft. Die Erforschung des „Strukturwandels“ verortete sich in der älteren Forschung in der Wirtschafts- und teilweise in der Sozialgeschichte. „Strukturwandel“ wurde als Großkategorie verwendet, um den wirtschaftlichen und sozialen Wandel in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts beschreibbar zu machen.28 Kern der Untersuchungen waren meist aggregierte statistische Daten

23 Ulrich Herbert: Deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert, Bonn 2014, S. 911. 24 Vgl. Rüdiger Hohls: Über die Werkbank zur tertiären Zivilisation, in: Themenportal Europäische Geschichte, 2006, http://www.europa.clio-online.de/essay/id/artikel-3179, letzter Zugriff: 10. 2. 2021, S. 4; Gabriele Metzler: „Geborgenheit im gesicherten Fortschritt“. Das Jahrzehnt von Planbarkeit und Machbarkeit, in: Matthias Frese u. a. (Hg.): Demokratisierung und gesellschaftlicher Aufbruch. Die sechziger Jahre als Wendezeit der Bundesrepublik (Forschungen zur Regionalgeschichte 44), Paderborn u. a. 2003, S. 777 – 797; Alexander Nützenadel: Stunde der Ökonomen. Wissenschaft, Politik und Expertenkultur in der Bundesrepublik 1949 – 1974 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 166), Göttingen 2005; Michael Ruck: Ein kurzer Sommer der konkreten Utopie. Zur westdeutschen Planungsgeschichte der langen 60er Jahre, in: Schildt/Siegfried/Lammers (Hg.): Dynamische Zeiten, S. 362 – 402. 25 Vgl. z. B. Gerold Ambrosius: Agrarstaat oder Industriestaat – Industriegesellschaft oder Dienstleistungsgesellschaft? Zum sektoralen Strukturwandel im 20. Jahrhundert, in: Reinhard Spree (Hg.): Geschichte der deutschen Wirtschaft im 20. Jahrhundert, München 2001, S. 50 – 69; André Steiner: Die siebziger Jahre als Kristallisationspunkt des wirtschaftlichen Strukturwandels in West und Ost, in: Konrad H. Jarausch (Hg.): Das Ende der Zuversicht? Die siebziger Jahre als Geschichte, Göttingen 2008, S. 29 – 48. 26 Vgl. Rüdiger Graf/Kim Christian Priemel: Zeitgeschichte in der Welt der Sozialwissenschaften. Legitimität und Originalität einer Disziplin, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 59 (2011), S. 479 – 508. 27 Anselm Doering-Manteuffel/Lutz Raphael: Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970, Göttingen ³2012, S. 84. 28 Vgl. hier nur Gerold Ambrosius: Sektoraler Wandel und internationale Verflechtung. Die bundes­ deutsche Wirtschaft im Übergang zu einem neuen Strukturmuster, in: Thomas Raithel u. a. (Hg.): Auf dem Weg in eine neue Moderne? Die Bundesrepublik Deutschland in den siebziger und achtziger Jahren (Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, Sondernummer), München 2009, S. 17 – 30; Toni Pierenkemper: Der Weg zur Industrie-, Dienstleistungs- oder

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nach sektoraler Verteilung, die eine – mehr oder minder abgeschlossene – Verschiebung zum tertiären Sektor und zur Dienstleistungsgesellschaft nahelegten. Die Gegenposition dazu bildeten Untersuchungen, die, allem Wandel zum Trotz, den Fortbestand der Industrie hervorhoben und innere Widersprüche einer reinen Dienstleistungsgesellschaft diagnostizierten.29 Diese seit einigen Jahren schwelende Debatte liest sich vor d ­ iesem Hintergrund lediglich als eine argumentative Zuspitzung und Ausdifferenzierung des Paradigmas des Strukturwandels, nicht als Bruch mit der Übernahme sozialwissenschaftlicher Großkategorien. Erst in jüngerer Zeit, unter anderem durch die Debatte um das Verhältnis von Zeit­ geschichte und Sozialwissenschaften, entwickelten sich Ansätze, die die Kategorie des Strukturwandels in Frage stellten. Aus wirtschaftshistorischer Sicht schlug etwa Jan-Otmar Hesse vor, die Sektorenanalyse zugunsten der Untersuchung von Wertschöpfungsketten zurückzustellen – gerade weil die Tertiarisierungsthese „nicht umfassend dekonstruiert worden“ sei.30 In eine ähnliche Richtung weisend, aber nicht derart weitreichend, bot Tim Schanetzky an, ­zwischen dem faktischen „Strukturwandel“ sowie der „Wahrnehmung der Wandlungsphänomene und […] ihre[r] politische[n] Verarbeitung“ zu unterscheiden. 31 Diese Gegenüberstellung von faktischem und wahrgenommenem „Strukturwandel“ 32 führte zu Abwehrreaktionen aus der Wirtschaftsgeschichte. Unter Rückgriff auf den Begriff des Mythos wurden die Probleme des Strukturwandelbegriffs zwar aufgegriffen, die Drei-Sektoren-Hypothese aber verteidigt.33 Diese Untersuchung geht einen Schritt weiter: Sie versteht „Strukturwandel“ vollständig als sprachliches Phänomen, als ein „semiologisches System“.34 Dadurch wird die Diskursivität ­dieses Schlüsselbegriffs der historischen Analyse zugänglich. Neuere

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Informationsgesellschaft?, in: Hans-Ulrich Thamer (Hg.): WBG Weltgeschichte. Eine globale Geschichte von den Anfängen bis ins 21. Jahrhundert, Bd. VI: Globalisierung. 1880 bis heute, Darmstadt 2010, S. 337 – 370. Vgl. Hartmut Häußermann/Walter Siebel: Theorien der Dienstleistungsgesellschaft, in: Adalbert Evers u. a. (Hg.): Handbuch Soziale Dienste, Wiesbaden 2011, S. 62 – 75; Jonathan I. Gershuny: Die Ökonomie der nachindustriellen Gesellschaft. Produktion und Verbrauch von Dienstleistungen, Frankfurt a. M. 1981. Jan-Otmar Hesse: Ökonomischer Strukturwandel. Zur Wiederbelebung einer wirtschaftshistorischen Leitsemantik, in: Geschichte und Gesellschaft 39 (2013), S. 86 – 115, hier S. 107. Tim Schanetzky: Aporien der Verwissenschaftlichung. Sachverständigenrat und wirtschaftlicher Strukturwandel in der Bundesrepublik 1974 – 1988, in: Archiv für Sozialgeschichte 50 (2010), S. 153 – 167, hier S. 153 f. So auch Graf/Priemel: Zeitgeschichte. Plumpe/Steiner (Hg.): Mythos. Roland Barthes: Mythen des Alltags [1957], Berlin 2012, hier S. 263. Vgl. Jan Kellershohn: Transformationsressource Wissen. Zur Mythologie des „Strukturwandels“ von M ­ ontanregionen, in: Sara-Marie Demiriz/Jan Kellershohn/Anne Otto (Hg.): Transformationsversprechen. Zur

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Ansätze einer Kulturgeschichte des Ökonomischen, die etwa die wirklichkeitskonstituierende Wirkung von Statistik betonten und sich anderen ökonomischen Grundbegriffen widmeten,35 werden so auf die Geschichte des „Strukturwandels“ übertragen. In dieser Arbeit wird also ein Weg zu einer Kulturgeschichte des Strukturwandels vorgeschlagen. Zweitens steht die Untersuchung im Kontext der neuen Geschichte der Arbeit,36 wie sie unter anderem Karsten Uhl und Lars Bluma vorangetrieben haben. Diese Herangehensweise schlug sich bislang zwar in eher heterogenen Resultaten nieder, mit der „alten“ Sozial- und Wirtschaftsgeschichte hat sie jedoch nur noch wenig gemein.37 Der Blick auf das ambivalente Verhältnis von „Rationalisierung“ und „Humanisierung“, von Disziplinierung und Freisetzung in der Industriearbeit bezog sich bislang auf den Arbeitsvollzug an sich. Berufliche Ausbildung und Qualifikation von Arbeiterinnen und Arbeitern spielten nur selten eine Rolle.38 Diese Perspektive schließt an jüngere Forschungen an, die sich um den Begriff des „Fordismus“, des „Fordistischen Jahrhunderts“ und die Frage nach dem „Postfordismus“ gruppieren.39 Schematisch werden dabei zwei Formen von Arbeit gegenübergestellt: Auf

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Geschichte von Bildung und Wissen in Montanregionen (Veröffentlichungen des Instituts für soziale Bewegungen, Schriftenreihe A: Darstellungen 69), Essen 2021. Vgl. z. B. J. Adam Tooze: Die Vermessung der Welt. Ansätze zu einer Kulturgeschichte der Wirtschaftsstatistik, in: Hartmut Berghoff/Jakob Vogel (Hg.): Wirtschaftsgeschichte als Kulturgeschichte. Dimensionen eines Perspektivenwechsels, Frankfurt a. M. 2004, S. 325 – 351; Daniel Speich Chassé: Die Erfindung des Bruttosozialprodukts. Globale Ungleichheit in der Wissensgeschichte der Ökonomie (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 212), Göttingen 2013. Wie sich diese Perspektive auf Arbeit von praxeologischen Ansätzen unterscheidet, ist bislang nicht systematisch ausgelotet worden, vgl. Thomas Welskopp: Produktion als soziale Praxis. Praxeologische Perspektiven auf die Geschichte betrieblicher Arbeitsbeziehungen, in: Knud Andresen u. a. (Hg.): Der Betrieb als sozialer und politischer Ort. Studien zu Praktiken und Diskursen in den Arbeitswelten des 20. Jahrhunderts (Politik und Gesellschaftsgeschichte 98), Bonn 2015, S. 29 – 52, hier S. 30. Vgl. Lars Bluma/Karsten Uhl (Hg.): Kontrollierte Arbeit – Disziplinierte Körper? Zur Sozialund Kulturgeschichte der Industriearbeiter im 19. und 20. Jahrhundert, Bielefeld 2012; Karsten Uhl: Humane Rationalisierung? Die Raumordnung der Fabrik im fordistischen Jahrhundert, Bielefeld 2014; Timo Luks: Der Betrieb als Ort der Moderne. Zur Geschichte von Industriearbeit, Ordnungsdenken und Social Engineering im 20. Jahrhundert, Bielefeld 2010. Vgl. als Überblick Kim Christian Priemel: Heaps of Work. The Ways of Labour History, in: H-Soz-Kult, 23. 1. 2014, https://www.hsozkult.de/literaturereview/id/ forschungsberichte-1223, letzter Zugriff: 10. 2. 2021. Vgl. als Ausnahme Dagmar Kift: „Die schaffende Menschenkraft bewirtschaften“. Zur Schulung und Erziehung von Arbeiter- und Werkskörpern im Ruhrbergbau der 1920er Jahre, in: Bluma/ Uhl (Hg.): Arbeit, S. 73 – 107. Adelheid von Saldern/Rüdiger Hachtmann: Das fordistische Jahrhundert. Eine Einleitung, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 6 (2009), S. 174 – 185; Peter-Paul

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der einen Seite steht der hochgradig normierte, disziplinierte, kontrollierte, verwaltete und mechanisierte Arbeiter der Hochindustrialisierung, der „menschliche Motor“.40 Auf der anderen Seite tummeln sich, als Resultat des „neuen Geists des Kapitalismus“ 41, der „Kreativ-“ oder „Wissensarbeiter“ 42, das „unternehmerische Selbst“ 43, der „flexible Mensch“ 44, der „Arbeitskraftunternehmer“ 45 des Postfordismus und des „kreativen Kapitalismus“ 46 oder jüngst der „Ökonomie des Besonderen“ der „Wissens- und Kulturökonomie“ 47. Räumlich findet sich ­dieses Narrativ etwa in Gegenüberstellungen von „Industriemoloch“ und „Creative City“ oder von „Industrie-“ und „Wissensmetropole“.48 Geschichtswissenschaftliche Fragen an ­dieses Thema sind bislang rar. Karsten Uhl etwa arbeitete heraus, dass sich dem Postfordismus zugeordnete Subjektivierungsformen von Arbeit bereits in den 1920er Jahren nachweisen lassen. Humanisierung und Rationalisierung von Arbeit ­seien

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Bänziger: Fordistische Körper in der Geschichte des 20. Jahrhunderts – eine Skizze, in: Body Politics 1 (2013), S. 11 – 40; Dieter Sauer: Die Zukunft der Arbeitsgesellschaft. Soziologische Deutungen in zeithistorischer Perspektive, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 55 (2007), S. 309 – 328. Anson Rabinbach: The Human Motor. Energy, Fatigue, and the Origins of Modernity, Berkeley u. a. 1992; zur Verwaltung von Arbeitskraft vgl. David Meskill: Optimizing the German Workforce. Labor Administration from Bismarck to the Economic Miracle (Monographs in German History 31), New York u. a. 2010. Luc Boltanski/Ève Chiapello: Der neue Geist des Kapitalismus [2005] (Édition discours 38), Konstanz 2013. Alexandra Manske: Kapitalistische Geister in der Kultur- und Kreativwirtschaft. Kreative z­ wischen wirtschaftlichem Zwang und künstlerischem Drang (Gesellschaft der Unterschiede 7), Bielefeld 2016; Jochen Steinbicker: Peter F. Drucker. Wissensgesellschaft, wissensbasierte Organisation und Wissensarbeiter, in: Anina Engelhardt/Laura Kajetzke (Hg.): Handbuch Wissensgesellschaft. Theorien, ­Themen und Probleme, Bielefeld 2010, S. 21 – 26. Ulrich Bröckling: Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform, Frankfurt a. M. 52013. Richard Sennett: Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus, Berlin ²2000. Hans J. Pongratz/Gerd Günter Voß: Arbeitskraftunternehmer. Erwerbsorientierungen in entgrenzten Arbeitsformen (Forschung aus der Hans-Böckler-Stiftung 47), Berlin ²2004. Andreas Reckwitz: Die Erfindung der Kreativität. Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung, Berlin 42014. Ders.: Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne, Berlin 2017, S. 118 f. Tobias Gerstung: Vom Industriemoloch zur Creative City? Arbeit am Fluss in Glasgow während und nach dem Boom, in: Anselm Doering-Manteuffel/Lutz Raphael/Thomas Schlemmer (Hg.): Vorgeschichte der Gegenwart. Dimensionen des Strukturbruchs nach dem Boom, Göttingen 2016, S. 149 – 172. Andere Beispiele: Franz-Josef Jelich: Von der Industriegesellschaft zur Wissensgesellschaft, in: Karsten Rudolph (Hg.): Reform an Rhein und Ruhr. Nordrhein-Westfalens Weg ins 21. Jahrhundert, Bonn 2000, S. 40 – 48; Klaus Tenfelde: Wandel durch Bildung. Die RuhrUniversität und das Milieu des Reviers, in: Wilhelm Bleek/Wolfhard Weber (Hg.): Schöne neue Hochschulwelt. Idee und Wirklichkeit der Ruhr-Universität Bochum, Essen 2003, S. 43 – 57.

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also als ergänzend, nicht als sich gegenseitig ausschließend oder als zeitliche Abfolge zu betrachten.49 Die vorliegende Arbeit schlägt einen ergänzenden Zugriff vor: Vor dem Hintergrund der „Entgrenzung von Arbeit“ 50 geht es darum, eine historische Perspektive auf den Wandel von Arbeit seit den 1960er Jahren zu entwickeln, ohne sozialwissenschaftliche Diagnosen fortzuschreiben. Wenn sich der Fokus der Forschung, wie Jörg Neuheiser treffend betonte, von der Industrie­arbeiterschaft der Sozialgeschichte hin zur Kreativbranche in den Studien zur Gouvernementalität der Arbeit verschoben hat,51 dann ist dieser Perspektivwechsel inhaltlich schwer begründbar. Ebenso laufen entsprechende Arbeiten Gefahr, zirkulär zu argumentieren.52 Die Stoßrichtung der Studie ist in ­diesem Feld folglich eine doppelte: Einerseits werden Mobilität, Flexibilität und Anpassung nicht als Beschreibungs­ kategorien übernommen, sondern als zeitgenössisches Programm begriffen. Andererseits eröffnet der Blick auf Industriearbeiter und Maßnahmen ihrer Mobilisierung, Flexibilisierung und der Steigerung ihrer Anpassungsfähigkeit die Möglichkeit zu zeigen, dass auch im „Postfordismus“ Disziplinierung und Humanisierung sowie Ermächtigung und Entmachtung keine Gegensätze darstellten. Sie ergänzten sich vielmehr im Sinne einer „rationalisierten Humanisierung“. Diese Lücke beabsichtigt die vorliegende Arbeit zu schließen. Drittens wird in der Untersuchung an jüngere Ansätze der Körpergeschichte des Lernens, der Ausbildung und des „lebenslangen Lernens“ seit den 1960er Jahren sowie die Geschichte des Mensch-Maschinen-Verhältnisses angeknüpft.53 Auch wenn die Überschneidungen mit der Geschichte der Arbeit fließend sind, werden die Geschichte der Berufsausbildung und die der Automatisierung zusammengedacht. Dieser Zuschnitt verweist sowohl auf die gerade in den 1970er Jahren verbreitete Dequalifizierungshypothese 54 als auch auf die Arbeiten von Martina Heßler zur 49 Uhl: Rationalisierung. 50 Jörg Neuheiser: Arbeit z­ wischen Entgrenzung und Konsum. Die Geschichte der Arbeit im 20. Jahrhundert als Gegenstand aktueller zeithistorischer und sozialwissenschaftlicher Studien, in: Neue Politische Literatur 58 (2013), S. 421 – 448, hier S. 425 – 427. 51 Ebd., S. 428. 52 Vgl. z. B. Jeremy F. Lane: Disaffection in the Post-Fordist Workplace: Figurations of ‚Immaterial Labour‘ in Recent French Theory and Literature, in: Modern & Contemporary France 19 (2011), S. 495 – 509. 53 Peter-Paul Bänziger/Simon Graf: Körpergeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Eine „materielle“ Geschichte der Industrie- und Konsumgesellschaften z­ wischen Wissensproduktion und Differenzdiskursen, in: Traverse 19 (2012), S. 101 – 118; Rabinbach: Motor; Themenheft „Technik“ der Zeitschrift Body Politics 6 (2018), 1, hg. v. Karsten Uhl und Christian Zumbrägel. 54 Vgl. beispielhaft Harry Braverman: Labor and Monopoly Capital. The Degradation of Work in the Twentieth Century, New York u. a. 1974; Horst Kern/Michael Schumann: Industriearbeit und Arbeiterbewußtsein. Eine empirische Untersuchung über den Einfluß der aktuellen technischen Entwicklung auf die industrielle Arbeit und das Arbeiterbewußtsein [1970], Frankfurt

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Geschichte der Automation und die Überlegungen zu einer historischen Anthropologie des Mensch-Maschinen-Verhältnisses.55 Nach älteren Arbeiten, die sich auf die Metaphorik von Mensch und Maschine konzentrierten,56 sollen die bislang disparaten Überlegungen zu einer Körpergeschichte der Aus- und Weiterbildung sowie des lebenslangen Lernens mit der Geschichte von Körpern und ihrer Rationalisierung kombiniert werden.57 Fragen danach, wie Körper durch Ausbildung ökonomisch verfügbar gemacht wurden, wie sich Individuen über Bildung und Bildungsfähigkeit ihres Menschseins gegenüber der Maschine versichern sollten, wie Berufsbildungssysteme auf den Wandel der Arbeit reagierten und ihn gleichzeitig formten, verweisen auf geschichtswissenschaftlich wenig erschlossene Felder.58 Gleichzeitig formierte

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a. M. 1985; dies.: Das Ende der Arbeitsteilung? Rationalisierung in der industriellen Produktion. Bestandsaufnahme, Trendbestimmung, München 1984; Frigga Haug u. a.: Automation führt zur Höherqualifikation. Thesen über Hand- und Kopfarbeit, in: Demokratische Erziehung 1 (1975), 4, S. 90 – 96; Fritz Böhle/Norbert Altmann: Industrielle Arbeit und soziale Sicherheit. Eine Studie über Risiken im Arbeitsprozeß und auf dem Arbeitsmarkt, Frankfurt a. M. 1972, S. 26 – 97. Martina Heßler: Die Halle 54 bei Volkswagen und die Grenzen der Automatisierung. Überlegungen zum Mensch-Maschine-Verhältnis in der industriellen Produktion der 1980er-Jahre, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 11 (2014), S. 56 – 76; dies.: Kulturgeschichte der Technik (Historische Einführungen 13), Frankfurt a. M. 2012, S. 142 – 174; dies.: Die Ersetzung des Menschen? Die Debatte um das Mensch-Maschinen-Verhältnis im Automatisierungsdiskurs, in: Technikgeschichte 82 (2015), S. 109 – 136; dies.: Einleitung. Herausforderungen der Automatisierung. Forschungsperspektiven, in: ebd., S. 99 – 108; Johannes Platz: „Revolution der Roboter“ oder „Keine Angst vor Robotern“? Die Verwissenschaftlichung des Automationsdiskurses und die industriellen Beziehungen von den 50ern bis 1968, in: Laurent Commaille (Hg.): Entreprises et crises économiques au XXe siècle, Metz 2009, S. 37 – 59. Barbara Orland: Wo hören Körper auf und fängt Technik an? Historische Anmerkungen zu posthumanistischen Problemen, in: dies. (Hg.): Artifizielle Körper – Lebendige Technik. Technische Modellierungen des Körpers in historischer Perspektive (Interferenzen 8), Zürich 2005, S. 9 – 42. Bänziger/Graf: Körpergeschichte. Zur Weiterbildung vgl. Franziska Rehlinghaus: Ein Experimentierfeld für die Zukunft. Betriebliche Weiterbildung in der Bundesrepublik der 1970er-Jahre, in: dies./Ulf Teichmann (Hg.): Vergangene Zukünfte von Arbeit. Aussichten, Ängste und Aneignungen im 20. Jahrhundert (Politik- und Gesellschaftsgeschichte 108), Bonn 2019, S. 225 – 251. Zum „lebenslangen Lernen“ vgl. Antonius Lipsmeier: Berufsbildung, in: Führ/Furck (Hg.): Handbuch, Bd. VI, erster Teilband, S. 447 – 489, hier S. 470; Rita Casale u. a.: Lebenslanges Lernen in historischer Perspektive – Drei Beispiele für ein altes Konzept, in: Zeitschrift für Pädagogik 50 (2004), S. 21 – 37; auf die Verschränkung von Automationsdiskurs und Berufsbildung weist auch Martin Schwarz: „Zauberschlüssel zu einem Zukunftsparadies der Menschheit“. Automatisierungsdiskurse der 1950er- und 1960er-Jahre im deutsch-deutschen Vergleich, Diss., Dresden 2015, http:// tud.qucosa.de/api/qucosa%3A29139/attachment/ATT-0/, letzter Zugriff: 10. 2. 2021, S. 81 hin. Vgl. Lutz Raphael: Deutsche Arbeitswelten ­zwischen globalen Problemlagen und nationalen Handlungsbezügen. Zeitgeschichtliche Perspektiven, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 69 (2021), S. 1 – 23, insbes. S. 20 – 23. Für die historische Bildungsforschung vgl. Julia Kurig: Bildung für die technische Moderne. Pädagogische Technikdiskurse ­zwischen den 1920er und den

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sich in den letzten Jahren in den Sozialwissenschaften und der Zeitgeschichte ein wirkmächtiges Ökonomisierungsnarrativ zum Verhältnis von Arbeit und Wissen, das sich auf die Begriffe des „Humankapitals“ und des „Neoliberalismus“ stützte.59 Mit dem „lebenslangen Lernen“, der Erosion der Beruflichkeit und dem Ende der Arbeitsgesellschaft habe die „permanente Weiterbildung tendenziell die Schule ab[gelöst]“.60 An die Stelle der Einpassung in Arbeit durch Ausbildung sei der in der ersten Jahrhunderthälfte wurzelnde Zwang zur Selbstoptimierung im flexiblen Kapitalismus getreten.61 Diese auf Foucault zurückgehende Lesart mit dem Fluchtpunkt der „Wissensgesellschaft“ sieht Berufsqualifikationen, Weiterbildung und Kompetenzorientierung als Indikatoren gesellschaftlicher Responsibilisierung, des Abbaus des Wohlfahrtsstaats sowie der Entstehung des „unternehmerischen Selbst“.62 Mit dem „Sputnik-Schock“, dem Kalten Krieg und dem Aufstieg der Humankapitaltheorie als einer Form der quantifizierenden Beschreibung sei Wissen zu der Transformationsressource geworden, die es für unsere Gegenwart darstelle.63 Der Industriearbeiter, so

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1950er Jahren in Deutschland, Würzburg 2015; Marcelo Caruso/Christian Kassung: Maschinen und Mechanisierung in der Bildungsgeschichte: Einführung in den Thementeil, in: Jahrbuch für Historische Bildungsforschung 20 (2015), S. 9 – 20; Martin Karcher: SchülerIn als Trivialmaschine, in: ebd., S. 99 – 122. Für die Hochschulbildung Wendy Brown: Die schleichende Revolution. Wie der Neoliberalismus die Demokratie zerstört, Berlin 2018, S. 209 – 241; für Frankreich ohne gesonderte Aufmerksamkeit für (Aus-)Bildung Grégoire Chamayou: Die unregierbare Gesellschaft. Eine Genealogie des autoritären Liberalismus, Berlin 2019. Historisierungsansätze des Ökonomisierungsnarrativs – ohne Bezug zu Arbeit und Ausbildung – finden sich bei Rüdiger Graf (Hg.): Ökonomisierung. Debatten und Praktiken in der Zeitgeschichte (Geschichte der Gegenwart 21), Göttingen 2019. Eine vergleichbare Perspektive findet sich für das Verhältnis von Emotionen und Arbeit, vgl. Eva Illouz: Die Errettung der modernen Seele. Therapien, Gefühle und die Kultur der Selbsthilfe, Frankfurt a. M. 42015; Sabine Donauer: Faktor Freude. Wie die Wirtschaft Arbeitsgefühle erzeugt, Hamburg 2015. Gilles Deleuze: Postskriptum über die Kontrollgesellschaften [1990], in: ders.: Unterhandlungen 1972 – 1990, Frankfurt a. M. 52014, S. 254 – 262, hier S. 257. Vgl. Steinfeld: Ich will, ich kann; Holger Schatz: Arbeit als Herrschaft. Die Krise des Leistungsprinzips und seine neoliberale Rekonstruktion, Münster 2004, vor allem S. 164 – 168 zum „Mythos der Qualifizierung“. Vgl. Michel Foucault: Die Geburt der Biopolitik. Geschichte der Gouvernementalität, Bd. 2. Vorlesungen am Collège de France (1978 – 1979) [2004], Frankfurt a. M. 42015, S. 300 – 330; Bröckling: Selbst; ders.: Menschenökonomie, Humankapital. Zur Kritik der biopolitischen Ökonomie, in: ders.: Gute Hirten führen sanft. Über Menschenregierungskünste, Berlin 2017, S. 305 – 333; A ­ ndreas Gelhard: Kritik der Kompetenz, Zürich 2011. In eine vergleichbare Richtung geht auch die Analyse der Wissensgesellschaft als „klassisches Phänomen des Überbaus“ bei Andreas ­Wirsching. Vgl. Andreas Wirsching: Der Preis der Freiheit. Geschichte Europas in unserer Zeit, München 2012, S. 247 – 269, Zit. S. 255. Brigitta Bernet/David Gugerli: Sputniks Resonanzen. Der Aufstieg der Humankapitaltheorie im Kalten Krieg – eine Argumentationsskizze, in: Historische Anthropologie 19 (2011), S. 433 – 446;

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Lutz Raphael, sei „in die Welt des Humankapitals eingetreten“.64 Es ist zunächst ein Anliegen dieser Arbeit, zu zeigen, dass die Humankapitaltheorie für die Berufsbildung keine zentrale Rolle spielte. Darüber hinaus greift das Flexibilisierungs- und Neoliberalismusparadigma zu kurz.65 Andere Begriffe wie Mobilität, die in der Bundes­ republik eine längere Tradition aufwiesen, waren wichtiger – und die Eintrittskarte in die „Welt des Humankapitals“ nicht so einfach zu erlangen. Methodischer Zugriff: Wissensgeschichte und die Anthropologie der Arbeit

Parallel zum Siegeszug des Begriffs der Wissensgesellschaft entwickelten sich in den 2000er Jahren geschichtswissenschaftliche Ansätze zu ­diesem Schlagwort. Margrit Szöllösi-Janze konzipierte eine Verwissenschaftlichungsgeschichte im Anschluss an Überlegungen Lutz Raphaels.66 Sie schlug vor, „Diskurse, Vorkehrungen und Maßnahmen“ zu analysieren, „die eine Gesellschaft trifft, um Wissen zu produzieren, zu reproduzieren und zu vermitteln“.67 Dagegen plädierte Jakob Vogel für eine Historisierung des Begriffs der Wissensgesellschaft. Er betonte, dass die Annahme eines Bedeutungszuwachses des Wissens in der postindustriellen Gesellschaft dessen Bedeutung in früheren Epochen abwerte. Sie laufe auch Gefahr, in eine „teleologisch verstandene ‚Verwissenschaftlichung‘“ zurückzufallen.68 Damit zielte er darauf ab, die Rolle von Wissen in der gesamten Neuzeit zu untersuchen, um die ­Neuartigkeit

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Andreas Wirsching: Toward a New Europe? Knowledge as a Transformational Resource since the 1970s, in: Bulletin of the German Historical Institute Washington DC 56 (2015), S. 7 – 22; ders.: Bildung als Wettbewerbsstrategie, in: Bernd Greiner/Tim B. Müller/Claudia Weber (Hg.): Macht und Geist im Kalten Krieg (Studien zum Kalten Krieg 5), Hamburg 2011, S. 223 – 238; Malte Bachem: Beruf und Persönlichkeit. Eine Geschichte von Stabilität und Flexibilität im 20. Jahrhundert, Diss., Zürich 2016, https://doi.org/10.3929/ethz-a-010606103, letzter Zugriff: 10. 2. 2021, S. 44 – 60. Lutz Raphael: Jenseits von Kohle und Stahl. Eine Gesellschaftsgeschichte Westeuropas nach dem Boom, Berlin 2019, S. 294. Als Beispiele für sozial- und erziehungswissenschaftliche Neoliberalisierungserzählungen des lebenslangen Lernens vgl. Niels Spilker: Lebenslanges Lernen als Dispositiv. Bildung, Macht und Staat in der neoliberalen Gesellschaft, Münster 2013; Torsten Junge: Gouvernementalität der Wissensgesellschaft. Politik und Subjektivität unter dem Regime des Wissens, Bielefeld 2008, S. 167 f. Geschichtswissenschaftlich: Annika Wellmann: Alterssex und die Kultur des Lebenslangen Lernens, 1960 – 2000, in: Pascal Eitler/Jens Elberfeld (Hg.): Zeitgeschichte des Selbst. Therapeutisierung – Politisierung – Emotionalisierung, Bielefeld 2015, S. 327 – 342. Vgl. Raphael: Verwissenschaftlichung. Szöllösi-Janze: Wissensgesellschaft, S. 279. Jakob Vogel: Von der Wissenschafts- zur Wissensgeschichte. Für eine Historisierung der ‚Wissens­ gesellschaft‘, in: Geschichte und Gesellschaft 30 (2004), S. 639 – 660, hier S. 660.

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der Wissensgesellschaft zu falsifizieren.69 Beide Ansätze verzichten allerdings auf eine zeithistorische Historisierung der Begriffe der Wissensgesellschaft und des Strukturwandels – also auf die Beantwortung der Frage, wie Gesellschaften nach 1945 darum stritten, was Wissen ist. Vor dem Hintergrund der mittlerweile auslaufenden Debatte um das Verhältnis von zeithistorischer Forschung und Sozialwissenschaften liegt es nahe, die verschiedenen sozialwissenschaftlichen Diagnosen und Prognosen historisierend zu betrachten und auf ihren wirklichkeitskonstituierenden Charakter hin zu befragen.70 Ein solcher Zugriff setzte sich allerdings dem Vorwurf aus, Zeitgeschichte ausschließlich als „eine Geschichte sozialwissenschaftlicher […] Wissensproduktion“, als „Metageschichte“ zu denken.71 Auch die Sekundäranalysen sozialwissenschaftlichen Datenmaterials schließen d ­ ieses Risiko nicht aus. Durch Studien produzierte Quellen nehmen einen Zuschnitt vorweg, der auf die vorangehende Studie bezogen bleibt.72 Der Vorwurf, eine die sozialwissenschaftlichen Deutungskategorien historisierende Zeitgeschichte verkomme zur reinen Wissenschaftsgeschichte, greift allerdings zu kurz. Ihm liegt die fragwürdige Annahme einer rigiden Trennung von „Wissenschaft“, „Politik“ und „Öffentlichkeit“ zugrunde.73 Er verkennt, dass (sozial)wissenschaftliche Deutungen nie im Vakuum entstanden, sondern von 69 Vgl. auch Peter Burke: Papier und Marktgeschrei. Die Geburt der Wissensgesellschaft, Berlin 2001. 70 Graf/Priemel: Zeitgeschichte. 71 Ariane Leendertz/Wencke Meteling: Bezeichnungsrevolutionen, Bedeutungsverschiebungen und Politik: Zur Einleitung, in: dies. (Hg.): Die neue Wirklichkeit. Semantische Neuvermessungen und Politik seit den 1970er-Jahren (Schriften aus dem Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung 86), Frankfurt a. M. 2016, S. 13 – 34, hier S. 17; ähnlich: Bernhard Dietz/Christoph Neumaier: Vom Nutzen der Sozialwissenschaften für die Zeitgeschichte. Werte und Wertewandel als Gegenstand historischer Forschung, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 60 (2012), S. 293 – 304. 72 Jenny Pleinen/Lutz Raphael: Zeithistoriker in den Archiven der Sozialwissenschaften. Erkenntnis­ potentiale und Relevanzgewinne für die Disziplin, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 62 (2014), S. 173 – 196; Kerstin Brückweh: Arbeitssoziologische Fallstudien. Wissensproduktion am Soziologischen Forschungsinstitut Göttingen (SOFI), historisch betrachtet, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 14 (2017), S. 149 – 162. 73 Vgl. als Kritik daran Peter Weingart: Die Macht des Wissens, in: ders.: Die Wissenschaft der Öffentlichkeit. Essays zum Verhältnis von Wissenschaft, Medien und Öffentlichkeit, Weilerswist ³2015, S. 55 – 72, insbes. S. 58; Mitchell G. Ash: Wissenschaft und Politik als Ressourcen füreinander, in: Rüdiger vom Bruch/Brigitte Kanderas (Hg.): Wissenschaften und Wissenschaftspolitik. Bestandsaufnahmen zu Formationen, Brüchen und Kontinuitäten im Deutschland des 20. Jahrhunderts, Stuttgart 2002, S. 32 – 51; Philipp Sarasin/Michael Hagner: Wilhelm Bölsche und der „Geist“. Populärer Darwinismus in Deutschland 1887 – 1934, in: Nach Feierabend. Züricher Jahrbuch für Wissensgeschichte 4 (2008), S. 47 – 68; Philipp Sarasin: Das obszöne Genießen der Wissenschaft. Über Populärwissenschaft und „mad scientists“, in: ders.: Geschichtswissenschaft und Diskursanalyse, Frankfurt a. M. 2003, S. 231 – 258.

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­außerwissenschaftlichen Akteur:innen beeinflusst, rezipiert und diskutiert wurden und von politischen, wirtschaftlichen und weiteren Protagonist:innen in Maßnahmen, Verfahren und Techniken umgesetzt werden mussten – und wurden.74 Eine Geschichte „sozialwissenschaftlicher Wissensproduktion“ kann also nur Ausgangsund nicht Schlusspunkt einer umfassenderen Untersuchung sein. Zur Operationalisierung wird in der Arbeit ein Zugriff verfolgt, der die Geschichte der Wissenspolitik mit Jean-Claude Perrots Vorschlag einer „konkreten Geschichte der Abstraktion“ („histoire concrète de l’abstraction“) als „Sozialgeschichte der wissenschaftlichen und politischen Ideen“ untersucht.75 Perrot schlug vor, die Geschichte von Diskursen oder Problematisierungen nicht anhand der Höhenkammliteratur zu schreiben, sondern Anwendungen, Erprobungen, Rezeptionen, Vermischungen und die Zirkulation von Wissensbeständen zu analysieren.76 Dementsprechend wird in der Arbeit Wissenspolitik nicht als „reiner“ Diskurs verstanden. Es handelte sich um ein Ensemble, ein Ineinandergreifen verschiedener „Diskursstränge“ 77, Maßnahmen und Techniken, die nur in ihrer konkreten Anwendung, Aushandlung und Zirkulation Relevanz erlangten. Es geht nicht um „das Wissen“ an sich, sondern um das „Werk des Wissens“, also um die Praxis des Wissens jenseits von Disziplingrenzen.78 Im Mittelpunkt steht die „gesellschaftliche Produktion und Zirkulation von Wissen“.79 Vor dem Hintergrund der Hinwendungen der Wissenschaftsgeschichte zu den (Labor-)Praktiken der Wissensproduktion 80 widmet sich eine ­solche Perspektive „nicht privilegiert“ Expertenpersonal und Hochschulbeschäftigten,81 sondern dem „verschränkten 74 Roberto Sala sprach von einem „stetigen reziproken Ressourcenaustausch“ z­ wischen Wissenschaft und Politik, vgl. Roberto Sala: Verwissenschaftlichung des Sozialen – Politisierung der Wissenschaft? Zum Verhältnis von Wissenschaft und Politik in der Geschichtsschreibung des 19. und 20. Jahrhunderts, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 40 (2017), S. 333 – 349, hier S. 336. 75 Paul-André Rosental: Destins de l’eugénisme, Paris 2016, S. 24. 76 Jean-Claude Perrot: Histoire des sciences, histoire concrète de l’abstraction, in: Roger Guesnerie/ François Hartog (Hg.): Des sciences et des techniques: un débat (Cahiers des Annales 45), Paris 1998, S. 25 – 37; ders.: Une histoire intellectuelle de l’économie politique, XVIIe-XVIIIe siècles (Civilisations et sociétés 85), Paris 1992; Philipp Sarasin: Was ist Wissensgeschichte?, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 36 (2011), S. 159 – 172. 7 7 Zum Begriff des Diskursstrangs als Formierung von Wissensbeständen um ein Thema vgl. Siegfried Jäger: Kritische Diskursanalyse. Eine Einführung (Edition DISS 3), Münster 72015, S. 130 – 132. 78 Perrot: Histoire des sciences, S. 27. 79 Sarasin: Wissensgeschichte, S. 164. 80 Vgl. als Beispiel für die Psychotechnik und die Anwendung ihrer Laborpraktiken jenseits des Labors Jeremy Blatter: Screening the Psychological Laboratory. Hugo Münsterberg, Psychotechnics, and the Cinema, 1892 – 1916, in: Science in Context 28 (2015), S. 53 – 76. 81 Daniel Speich Chassé/David Gugerli: Wissensgeschichte. Eine Standortbestimmung, in: Traverse 19 (2012), S. 85 – 100, hier S. 94; Simone Lässig: The History of Knowledge and the Expansion

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Wechselspiel“ von wissenschaftlichen und alltäglichen Deutungen.82 Es wird weder der (schwer einzulösende) Anspruch vertreten, einen Diskurs, eine Wissensform und die damit verbundenen Praktiken in ihrer Totalität abzubilden. Noch wird ein Spezifikum beschrieben, das vor allem von empirischer Relevanz wäre. Für eine Analyse, die Wissenspolitik in ihrer Komplexität ausleuchtet, ist das Konkrete als „‚Anschauungsfeld‘ von paradigmatischem Charakter“ notwendig.83 Anhand der weiter unten dargelegten Untersuchungsgegenstände wird also eine Analyse der Wissenspolitik in ihren Effekten angestrebt. Wissenschaftliche Untersuchungen stellen dabei eine Quellengruppe dar. Sie bilden aber keinen privilegierten Fokus der Untersuchung. „Epistemisches Ding“ des wissenspolitischen Experimentalsystems, das sich bildete, um den Charakter von Wissen zu bestimmen, war der „Wille zur Umstellung“. Als Fixstern der Auseinandersetzung um das Verhältnis von Arbeit und Wissen zogen er und verschiedene, hier unter d­ iesem Quellenbegriff subsumierte Nachbarbegriffe wie „Anpassungsfähigkeit“, „Bildungsfähigkeit“, „Bildbarkeit“, „Bildsamkeit“, „Begabung“, „Beweglichkeit“ – allesamt „Signifikanten des Mangels“ 84 – die Aufmerksamkeit der Zeitgenossinnen und Zeitgenossen auf sich. Als epistemisches Ding war der Wille zur Umstellung nicht „Objekt[] im engeren Sinn“, sondern ein Ding, dem „die Anstrengung des Wissens gilt“.85 Der Wille zur Umstellung verkörperte „das, was man noch nicht weiß“.86 Gleichzeitig ließ sich eine letztgültige Wahrheit darüber, was d ­ ieses Ding ausmachte, natürlich nie herstellen. Der Wille zur Umstellung war ein leerer, ein flottierender Signifikant. An sich trug er keine beziehungsweise mannigfache Bedeutungen, war im Symbolsystem der Wissenspolitik aber ein „symbolischer Nullwert“, ein „Zeichen, das die Notwendigkeit eines supplementären symbolischen Inhalts markiert“.87 Der Wille zur Umstellung war das Objekt sozial-,

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of the Historical Research Agenda, in: Bulletin of the German Historical Institute Washington DC 59 (2016), S. 29 – 58, hier S. 33 – 38. Speich Chassé/Gugerli: Wissensgeschichte, S. 94. Wilfried Rudloff: Regionale Bildungs- und Wissenschaftsgeschichte im 20. Jahrhundert, in: Westfälische Forschungen 60 (2010), S. 1 – 17, hier S. 7. Ernesto Laclau: Was haben leere Signifikanten mit Politik zu tun?, in: ders.: Emanzipation und Differenz, Wien 2013, S. 65 – 78, hier S. 76. Zum Begriff des epistemischen Dings vgl. Hans-Jörg Rheinberger: Experimentalsysteme und epistemische Dinge. Eine Geschichte der Proteinsynthese im Reagenzglas, Göttingen 2001; S. 24 – 30, Zit. S. 24. Zum Experimentalsystem als „Anordnung […] zur Materialisierung von Fragen“, in der sich sowohl Vermutung als auch die entsprechende Antwort manifestieren, vgl. ebd., S. 22 f. Zur Anwendung des Begriffs über den physischen Raum des Labors hinaus vgl. Böschen/Groß/Krohn: Gesellschaft. Rheinberger: Experimentalsysteme, S. 25. Claude Lévi-Strauss: Einleitung in das Werk von Marcel Mauss [1950], in: Marcel Mauss: Soziologie und Anthropologie. Bd. 1: ­Theorie der Magie/Soziale Morphologie, Wiesbaden 2010, S. 7 – 41,

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arbeitsmarkt- und berufsbildungspolitischer Begierde. Sämtliche A ­ kteur:innen – Sozialwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler, G ­ ewerkschafterinnen und Gewerkschafter, Unternehmerinnen und Unternehmer, Beamtinnen und Beamte sowie Arbeiterinnen und Arbeiter – versuchten, Einvernehmen über ihn herzustellen – ihn zu vereindeutigen. Ihr Ziel war also, den flottierenden Signi­fikanten der Bildbarkeit des Industriearbeiters zu fixieren.88 In ­diesem zwar hegemonialen, aber unabschließbaren Aushandlungsprozess, in dem nur immer wieder aufs Neue Ambiguität produziert wurde,89 bedienten sich die Akteur:innen unterschiedlicher Techniken und Praktiken der Vereindeuti­ gung, das heißt der Objektivitätserzeugung. Lorraine Daston und Peter Galison fassten Objektivität nicht als normativen Zustand, sondern als Resultat „epistemischer Tugenden“. Diese schreiben vor, wie sich das Wissen produzierende Selbst zum Gegenstand der Erkenntnis verhalten muss, um Evidenz zu erzeugen. Diese Tugenden bewegen sich ­zwischen den Polen des „Willen[s] zur Willenslosigkeit“ des „wissenschaftlichen Selbst“ und des „Willen[s] zur Willkür“ des „künstlerischen Selbst“, also z­ wischen der Ausschaltung von Subjektivität und deren Einbringen.90 Mit Blick auf die Methoden und Aneignungen der Wissenspolitik folgt daraus ein idealtypisches Kontinuum, in dem sich Praktiken, die den Willen zur Umstellung vereindeutigten, z­ wischen den Akteur:innen bewegten: Auf der einen Seite ­standen Versuche der „Vermessung des Sozialen“,91 die durch Quantifizierung, etwa

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hier S. 40; vgl. dazu Jeffrey Mehlman: The „Floating Signifier“. From Lévi-Strauss to Lacan, in: Yale French Studies 48 (1972), S. 10 – 37. Vgl. als Vertreter weiterer Theoriebildung des „flottierenden“ oder „leeren“ Signifikanten Laclau: Signifikanten. Ähnliches beobachten für den Begriff der Leistung Carsten Bünger u. a.: Leistung – Anspruch und Scheitern. Eine Einleitung, in: dies. (Hg.): Leistung – Anspruch und Scheitern (Wittenberger Gespräche 4), Halle a. S. 2017, S. 7 – 20, hier S. 8. Ich danke Anne Otto für diesen Hinweis. Auch Nina Verheyen spricht von Leistung als „Unschärfeformel“, vgl. Nina Verheyen: Die Erfindung der Leistung, München 2018, S. 22. Den Begriff der Vereindeutigung entlehne ich bei Thomas Bauer: Die Vereindeutigung der Welt. Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt, Ditzingen 82018, der damit die „Disposition zur Vernichtung von Vielfalt“ (S. 12), also Mehrdeutigkeit, durch Bedeutungsüberschuss bis ins Unendliche oder durch Reduzierung auf eine Bedeutung charakterisiert. Bauer bezieht sich auf Zygmunt Bauman: Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit, Hamburg 2005, wobei die diachrone Bedrohungsperspektive, die beiden eigen ist, zugunsten einer synchronen Analyseperspektive aufgegeben wird. Der „Krieg gegen Ambivalenz“ beschränkt sich nicht auf „Vernichtung“ (Bauman: Moderne, S. 34). Ähnlich auch die Kritik bei Thomas Etzemüller: Ambivalente Metaphorik. Ein kritischer Rückblick auf Zygmunt Baumans „Dialektik der Ordnung“ (1989), in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 14 (2017), S. 177 – 183. Bauer: Vereindeutigung, S. 15. Lorraine Daston/Peter Galison: Objektivität [2007], Berlin 2017, S. 41. Steffen Mau: Das metrische Wir. Über die Quantifizierung des Sozialen, Berlin 2017, S. 23 – 47; Alain Desrosières: Die Politik der großen Zahlen. Eine Geschichte der statistischen Denkweise

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durch Intelligenztests, Eindeutigkeit erreichen wollten. Über eine „mechanische Objektivität“ strebten sie danach, subjektive Verunreinigungen von Urteilen auszuschließen.92 Auf der anderen Seite standen Ansprüche, den „ganzen Menschen“ in den Blick zu nehmen, ihn zum Sprechen zu bringen, sein Milieu und seine Sozialisation zu berücksichtigen und gesellschaftliche Machtverhältnisse kritisch zu hinter­fragen. Wirksam wurden diese Vereindeutigungsbemühungen aber nur in situ. Sie überlagerten sich und standen in politischen, ökonomischen und sozialen Entscheidungstraditionen. Von diesen Traditionen stehen in dieser Untersuchung die gewerkschaftlich-korporatistische und die kirchlich-fürsorgende im Mittelpunkt. Beide entziehen sich dem Begriff der Verwissenschaftlichung.93 Inhaltlich geht es um die mit der Wissenspolitik verbundenen „Vorstellungen des Sozialen“.94 Die unterschiedlichen Vereindeutigungspraktiken implizierten gesellschaftliche Ordnungs- und Normalitätsvorstellungen.95 Über diese Bilder wurden die Bedeutung von Arbeit und Wissen für die zukünftige Gesellschaft sowie die Rolle, die Industriearbeitern darin zukommen sollte, verhandelt. Um diese Dimension von Wissenspolitik greifbar zu machen, wird in der vorliegenden Arbeit danach gefragt, w ­ elche anthropologischen Vorstellungen und Menschenbilder den Auseinandersetzungen um den Willen zur Umstellung zugrunde lagen.96 Die dahinterstehende Geschichte der Zukünfte im 20. Jahrhundert ist hier also insofern nur mittelbar Objekt der Untersuchung. Der Fokus liegt auf den anthro­ pologischen Prämissen des Zukünftigen und den Schlussfolgerungen aus der historischen Offenheit der Zukunft von Arbeit.97 Es geht um die Konstruktion von Zukunftsfähigkeit, nicht um Zukunft an sich. [1993], Berlin u. a. 2005. 92 Vgl. Daston/Galison: Objektivität, S. 127. 93 Damit schließt die Untersuchung an jüngere Debatten um das Verhältnis von Wissenschaft und Politik an, lenkt den Blick aber von Parteien, Parlamenten und offiziellen Entscheidungsträgern weg. Vgl. etwa Sala: Verwissenschaftlichung. 94 Christiane Reinecke/Thomas Mergel: Das Soziale vorstellen, darstellen, herstellen: Sozialwissen­ schaften und gesellschaftliche Ungleichheit im 20. Jahrhundert, in: dies. (Hg.): Das Soziale ordnen. Sozialwissenschaften und gesellschaftliche Ungleichheit im 20. Jahrhundert (Eigene und fremde Welten 27), Frankfurt a. M. 2012, S. 7 – 30, hier S. 15 – 18. Vgl. als Fallstudie z. B. Christoph Lorke: Armut im geteilten Deutschland. Die Wahrnehmung sozialer Randlagen in der Bundesrepublik und in der DDR, Frankfurt a. M. u. a. 2015. 95 Vgl. mit Fokus auf die intellektuelle Debatte Paul Nolte: Die Ordnung der deutschen Gesellschaft. Selbstentwurf und Selbstbeschreibung im 20. Jahrhundert, München 2000. 96 Vgl. Jakob Tanner: Historische Anthropologie zur Einführung (Zur Einführung 301), Hamburg 2004, S. 21 – 23 und S. 137 – 141. 97 Zur Geschichte der Zukunft vgl. nur Rüdiger Graf/Benjamin Herzog: Von der Geschichte der Zukunftsvorstellung zur Geschichte ihrer Generierung. Probleme und Herausforderungen des Zukunftsbezugs im 20. Jahrhundert, in: Geschichte und Gesellschaft 42 (2016), S. 497 – 515; Lucian

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Diese Perspektive orientiert sich an Subjektivierungsweisen und Sozialfiguren.98 Arbeitssubjekte waren die Zielscheibe von Auseinandersetzungen, die auf die wissenspolitische Vermengung von Arbeit, Zukunft und sozialer Differenz zurückgingen. Die bereits zeitgenössische Annahme, „Produktionsmittel“ s­ eien „nicht länger nur die Maschinen in der Fabrik, sondern die Körper der einzelnen Arbeitenden“,99 erforderte neue Regulierungsmechanismen für ebendiese Körper. Subjektivierung und historische Anthropologie als methodische Zugriffe gehen nicht davon aus, dass Individuen als unhintergehbare Entität existieren und handeln. Sie untersuchen vielmehr, unter ­welchen historischen Bedingungen und wie sich Individuen als Subjekte konstituieren konnten; konkreter die „Repräsentationen des Menschen in der und durch die Arbeit“.100 Über den Begriff der Subjektivierung wird analysiert, wie Arbeiter, auch in Abgrenzung zu Arbeiterinnen, als Subjekte des Strukturwandels „angerufen“ wurden.101 Diese Perspektive beleuchtet zum einen, wie diese Subjekte zum Objekt des Interesses und zugleich der Erkenntnis von Gewerkschaften, Unternehmen, Verwaltung und Wissenschaft wurden. Sie erhellt, wie bestimmte Subjekte „in bestimmten histo­rischen Momenten zum Problem wurde[n] und ­welche Lösungen für ­dieses Problem gefunden wurden“. Sie beobachtet, „welches Wissen zur Beantwortung dieser Frage mobilisiert wurde“.102 Zum anderen beschränkt sie sich nicht auf eine Unterwerfungserzählung, sondern auf die Dialektik des Subjekts, das einerseits „der Herrschaft eines anderen unterworfen ist und in seiner Abhängigkeit steht“, andererseits „durch Bewusstsein und Selbsterkenntnis an seine eigene Identität gebunden ist“.103

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Hölscher: Die Entdeckung der Zukunft, Göttingen ²2016; Elke Seefried: Zukünfte. Aufstieg und Krise der Zukunftsforschung 1945 – 1980 (Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte 102), Berlin u. a. 2015. Vgl. hier nur Wiebke Wiede: Subjekt und Subjektivierung, Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 10. 12. 2014, http://docupedia.de/zg/Subjekt_und_Subjektivierung, letzter Zugriff: 10. 2. 2021; Georg Simmel: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung [1908], Frankfurt a. M.  82016, S. 764 – 771; Stephan Moebius/Markus Schroer (Hg.): Diven, Hacker, Spekulanten. Sozialfiguren der Gegenwart, Berlin 2010. Isabelle Lorey/Klaus Neundlinger: Kognitiver Kapitalismus. Von der Ökonomie zur Ökonomik des Wissens, in: dies. (Hg.): Kognitiver Kapitalismus (Es kommt darauf an 13), Wien 2012, S. 7 – 55, hier S. 24. Brigitta Bernet: Insourcing und Outsourcing. Anthropologien der modernen Arbeit, in: Historische Anthropologie 24 (2016), S. 272 – 293, hier S. 273. Louis Althusser: Ideologie und ideologische Staatsapparate [1969], 1. Halbband, hg. v. Frieder Otto Wolf, Hamburg 2010, S. 83. Bröckling: Selbst, S. 23. Michel Foucault: Subjekt und Macht [1982], in: ders.: Analytik der Macht hg. v. Daniel Defert/ François Ewald, Frankfurt a. M. 82019, S. 240 – 263, hier S. 245.

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In der geschichtswissenschaftlichen Forschung wurde der Begriff der Subjektivierung meist für die Frage nach Selbsttechnologien – hauptsächlich für die Zeit ab den 1970er Jahren – fruchtbar gemacht.104 Diese Ausrichtung folgt implizit der Annahme eines Übergangs vom fordistischen zum postfordistischen Subjekt.105 Ebenso liegt ihr die Erzählung einer „zunehmende[n] Subjektivierung von Arbeit“ zugrunde.106 Allerdings ist jede Form von Arbeit mit Subjektivierungsweisen verbunden. Deren Analyse kann im sozialwissenschaftlichen Kanon bis zu Siegfried Kracauers Studie zu den Angestellten in den 1920er Jahren zurückverfolgt werden.107 Es geht also auf inhaltlicher Ebene darum, zu untersuchen, wie über den Willen zur Umstellung Arbeiter, seltener Arbeiterinnen, thematisiert, untersucht, bestimmt wurden und mithilfe welcher Differenzkategorien und Semantiken auf diese einzuwirken versucht wurde.108 Dabei ist zentral, dass es nie eine dominante Subjektivierungsweise wie die des „unternehmerischen Selbst“ gab. Subjektivierungsweisen koexistierten vielmehr und waren in sich widersprüchlich. Subjektivierungen selbst sind, so eine Kernannahme der Arbeit, soziale Hierarchien inhärent. Der Wille zur Umstellung markierte eine Zone der Uneindeutigkeit, in der vor allem über die Kategorien der Klasse, des Alters, der Behinderung, des Geschlechts und der Alterität die Arbeit der Zukunft verhandelt wurde. Die Priorisierung einer Differenzkategorie, wie sie den Bindestrich-Studies zugrunde liegt, wird in dieser Arbeit vermieden. Es gilt, die Gemengelage der Differenzkategorien und sich überlagernde Wissensbestände in einer konkreten Geschichte der Abstraktion zu untersuchen. In Anlehnung an Anne Waldschmidt zielt diese Perspektive darauf ab, „nicht nur eine Geschichte der Differenz, sondern mit Differenz die allgemeine Geschichte neu zu schreiben“.109 Gleichzeitig ermöglicht ein komplementärer Zugriff von 1 04 Vgl. z. B. Eitler/Elberfeld (Hg.): Zeitgeschichte. 105 Vgl. z. B. Michael Bretschneider-Hagemes: Scientific Management reloaded? Zur Subjektivierung von Erwerbsarbeit durch postfordistisches Management, Wiesbaden 2017. 106 Neuheiser: Arbeit, S. 422. 107 Siegfried Kracauer: Die Angestellten [1929], Frankfurt a. M. 132013; Reiner Keller u. a.: ­Theorie und Empirie der Subjektivierung in der Diskursforschung, in: dies. (Hg.): Diskurs – Macht – Subjekt. ­Theorie und Empirie von Subjektivierung in der Diskursforschung, Wiesbaden 2012, S. 7 – 20, hier S. 12; Andreas Reckwitz: Das hybride Subjekt. Eine ­Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne zur Postmoderne, Weilerswist 2006. 108 Als jüngere Bemühungen der Historisierung von Ungleichheit vgl. etwa Reinecke/Mergel (Hg.): Das Soziale; Thomas Mergel: Gleichheit und Ungleichheit als zeithistorisches und soziologisches Problem, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 10 (2013), S. 307 – 320; Eva Maria Gajek/Christoph Lorke: (An)Ordnungen des Sozialen. „Armut“ und „Reichtum“ in Konstruktion und Imagination seit 1945, in: dies. (Hg.): Soziale Ungleichheit im Visier. Wahrnehmung und Deutung von Armut und Reichtum seit 1945, Frankfurt a. M. 2016, S. 7 – 29. 109 Anne Waldschmidt sprach sich für die Disability Studies dafür aus, „nicht nur eine Geschichte der Behinderung, sondern mit Behinderung die allgemeine Geschichte neu zu schreiben“. Anne

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Wissensgeschichte und historischer Anthropologie, die Frage einzubeziehen, wie Individuen diese Thematisierungen annahmen, sich ihnen verweigerten oder sie verfremdeten – wie sie also Subjekt wurden. Wissenspolitik war somit nicht nur eine dunkle, undefinierbare Macht, die sich „von oben“ über Individuen, Orte und Praktiken stülpte. Diese Dimension fängt der Begriff der Aneignung ein. Diese „Weisen des Umgangs mit und der Aneignung von Anforderungen und normativen Erwartungen“, die „Konflikte und intra­subjektive[n] Spannungen“, gerieten erst in den letzten Jahren in den Fokus der sozialwissenschaftlichen Subjektivierungsforschung.110 Dabei geht es methodisch nicht darum, ein ontologisch vorgängiges Subjekt hinterrücks wieder einzuführen. So wird in der Arbeit zum einen vermieden, dem Eros und der Authentizitätsfiktion des „von unten“ der Alltagsgeschichte anheimzufallen.111 Zum anderen wird so umgangen, „den“ Diskurs zu verabsolutieren, sprich: in den überwundenen Gegensatz von „Diskurs“ und „Erfahrung“ zurückzufallen.112 Das Spannungsverhältnis ­zwischen Anrufung und Aneignung wird vielmehr produktiv gewendet. Im Fall der Wissenspolitik steht dieser Blickwinkel unter dem Motiv der Inkongruenz. Diejenigen Individuen, die mit wissenspolitischen Ansprüchen oder Techniken konfrontiert waren, verhielten sich in den seltensten Fällen widerständig oder eigen-sinnig.113 Auch die von Karsten Uhl vorgeschlagene Perspektive des konvergenten Eigen-Sinns als gezielt eingeräumter

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Waldschmidt: Warum und wozu brauchen die Disability Studies die Disability History? Programmatische Überlegungen, in: Elsbeth Bösl u. a. (Hg.): Disability History. Konstruktionen von Behinderung in der Geschichte. Eine Einführung (Disability Studies 6), Bielefeld 2010, S. 13 – 27, hier S. 23. Hervorhebung im Original. Da für sämtliche Differenzkategorien nicht von einer ontologischen Vorgängigkeit ausgegangen wird, liefe die analytische Priorisierung einer oder mehrerer Kategorien Gefahr, Kategorien auf einer zweiten Ebene zu reifizieren. Es geht also, zugespitzt, nicht um Diskriminierung, sondern um Differenzwissen, seine Inhalte, Produktion und Aneignungen. Thomas Alkemeyer: Subjektivierung in sozialen Praktiken. Umrisse einer praxeologischen Analytik, in: ders./Gunilla Budde/Dagmar Freist (Hg.): Selbst-Bildungen. Soziale und kulturelle Praktiken der Subjektivierung (Praktiken der Subjektivierung 1), Bielefeld 2013, S. 33 – 68, hier S. 38. Zum Begriff der Authentizitätsfiktion als „Annäherung der Authentizitätsvorstellungen von Produzenten und Rezipienten“ vgl. Eva Ulrike Pirker/Mark Rüdiger: Authentizitätsfiktionen in populären Geschichtskulturen: Annäherungen, in: Eva Ulrike Pirker u. a. (Hg.): Echte Geschichte. Authentizitätsfiktionen in populären Geschichtskulturen (Historische Lebenswelten in populären Wissenskulturen 3), Bielefeld 2010, S. 11 – 30, hier S. 21. Vgl. nur Heiko Stoff: Diskurse und Erfahrungen. Ein Rückblick auf die Körpergeschichte der neunziger Jahre, in: 1999 14 (1999), 2, S. 142 – 160; Tanner: Anthropologie, S. 25; Edward P. Thompson: Das Elend der ­Theorie. Zur Produktion geschichtlicher Erfahrung [1978], Frankfurt a. M. u. a. 1980. Vgl. klassisch Alf Lüdtke: Lohn, Pausen, Neckereien: Eigensinn und Politik bei Fabrikarbeitern in Deutschland um 1900, in: ders.: Eigen-Sinn: Fabrikalltag, Arbeitererfahrung und Politik vom Kaiserreich bis in den Faschismus, Münster 2015, S. 109 – 142.

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Freiraum, der so selbst Machttechnik ist, trägt dem in dieser Arbeit Vorgefundenen nur bedingt Rechnung.114 Aus einer wissenshistorischen Perspektive handelte es sich um konkurrierende, heterogene, also inkongruente Wissensbestände. Die Vereindeutigungspraxis der Inkongruenz war die der Bricolage.115 Die Arbeiter, so sich ihre Spur ausmachen ließ, glichen damit dem Bastler, der „jederzeit mit dem, was ihm zur Hand ist“, auskommt, „d. h. mit einer stets begrenzten Auswahl an Werkzeugen und Materialien, die überdies noch heterogen sind, weil ihre Zusammensetzung in keinem Zusammenhang zu dem augenblicklichen Projekt steht“.116 Zugespitzt formuliert: Auf der Seite wissenspolitischer Akteur:innen stand die Metapher des Labors in all ihrer Rigidität und ihrem Objektivitätsanspruch Pate. Die Umschüler und seltener Umschülerinnen, Arbeitslosen, An- und Ungelernten sowie Auszubildenden – ebenso wie die Ministerialbeamtinnen und -beamten, Funktionärinnen und Funktionäre sowie Forscherinnen und Forscher – gehorchten der Logik des Theaters.117 Diese Vieldeutigkeit an Rollen, Habitus und Narrativen widersetzte sich der wissenspolitischen Fixierung konstant. So setzten die Handelnden erst den in dieser Studie verfolgten Vereindeutigungsprozess in Gang. Die Subjekte handeln also weder antagonistisch noch agonistisch. Sie sind Schurken in Anlehnung an Jacques Derrida: „eine Art konkurrierende[] Macht […], eine Herausforderung der Macht, eine kriminelle und überschreitende Souveränität“.118 Von dieser Warte aus wird ein fruchtloser Gegensatz von Subjektaffirmation und -dekonstruktion aufgegeben. Beide Logiken – die des Labors und die des Theaters – bedingten sich wechselseitig. Dieser Perspektive der Aneignung allerdings, das gilt es mitzudenken, sind durch die Quellenlage Grenzen gesetzt. Vorgehen und Quellen: Montanregionen, ­Mobilität, Umschulung und Lernbehinderung

Wissenspolitik ging mit einer doppelten Ausweitung des Wissens einher: Einerseits weitete sie die Vorstellung davon, wer als „bildbar“ angenommen wurde und auf wen sich Ausbildung beziehen konnte, aus. Sie schuf extensional ein neues 1 14 115 116 117

Zum „konvergenten Eigen-Sinn“ vgl. Bluma/Uhl (Hg.): Arbeit, S. 16 sowie Uhl: Rationalisierung. Vgl. Claude Lévi-Strauss: Das wilde Denken [1962], Frankfurt a. M. 162013, S. 29 – 36. Ebd., S. 30. Methodisch lehnt sich diese Perspektive am Habitusbegriff an. Vgl. Pierre Bourdieu: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft [1979], Frankfurt a. M. ³1984, S. 277 – 286; Alexander Lenger u. a.: Pierre Bourdieus Konzeption des Habitus, in: ders. u. a. (Hg.): Pierre ­Bourdieus Konzeption des Habitus. Grundlagen, Zugänge, Forschungsperspektiven, ­Wiesbaden 2013, S. 13 – 41; Erving Goffman: Wir alle spielen ­Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag, M ­ ünchen 18 2019. 1 18 Jacques Derrida: Schurken. Zwei Essays über die Vernunft [2003], Frankfurt a. M. 2006, S. 99.

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­ erständnis der Bildbarkeit.119 Andererseits verschob sie die Struktur der Bildbarkeit. V Wissenspolitik zog somit auch intensional ein neues Bildbarkeitsverständnis nach sich. Im Fokus der Geschichtswissenschaft standen bislang häufig das Regelschulwesen und die höheren Bildungseinrichtungen. So funktioniert die Geschichte der Bildungsexpansion bis heute als Erfolgsgeschichte der höheren Schul- und der Hochschulbildung. Sie bezieht sich damit auf einen Bereich, der sowohl quantitativ als auch qualitativ nur einen Bruchteil der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter (und davor) betraf. Die Bildungsexpansion berührte aber auch (und vielleicht viel zentraler) die berufliche Erst- und Erwachsenenausbildung. Beide fristen aber, abgesehen von den gewerkschaftshistorischen Arbeiten Knud Andresens zur Berufsausbildung, ein historiografisches Schattendasein.120 Die doppelten Konsequenzen für das Bildbarkeitsverständnis geraten dadurch aus dem Blick. Die Subjekte der höheren Bildungseinrichtungen stellen so die Norm dar, die in diesen Institutionen selbst nur selten gefährdet war. Die Antwort auf die Frage nach der Ausweitung der Bildbarkeit lässt sich folglich nur in den Randbereichen, in den selten untersuchten, unteren Schichten des hierarchisierten Bildungswesens finden. An diesen äußeren Grenzen wurde von den 1950er Jahren bis etwa 1980 festgelegt, was zukünftige Bildungs- und Arbeitssubjekte sein sollten, was überhaupt ein- und ausschließbar war sowie, in letzter Konsequenz, wer die Verlierer – und damit auch die Gewinner – des Wandels sein sollten. Diese Aushandlung erfolgte dort, wo die Zukunft durch

119 Zum Begriff und Komplex der Bildbarkeit vgl. Heinz-Elmar Tenorth: Bildsamkeit und Behinderung. Anspruch, Wirksamkeit und Selbstdestruktion einer Idee, in: Lutz Raphael/Heinz-Elmar Tenorth (Hg.): Ideen als gesellschaftliche Gestaltungskraft im Europa der Neuzeit. Beiträge für eine erneuerte Geistesgeschichte (Ordnungssysteme 20), München 2006, S. 497 – 520; Wilfried Rudloff: Ungleiche Bildungschancen, Begabung und Auslese. Die Entdeckung der sozialen Ungleichheit in der bundesdeutschen Bildungspolitik und die Konjunktur des „dynamischen Begabungsbegriffs“ (1950 bis 1980), in: Archiv für Sozialgeschichte 54 (2014), S. 193 – 244; Till Kössler: Auf der Suche nach einem Ende der Dummheit. Begabung und Intelligenz in den deutschen Bildungsdebatten seit 1900, in: Constantin Goschler/Till Kössler (Hg.): Vererbung oder Umwelt? Ungleichheit z­ wischen Biologie und Gesellschaft seit 1945, Göttingen 2016, S. 103 – 133. 120 Vgl. Hanns-Peter Bruchhäuser: Vom Geist der Zeit. Nekrolog auf eine Forschungsrichtung, in: Eveline Wuttke/Klaus Beck (Hg.): Was heißt und zu welchem Ende studieren wir die Geschichte der Berufserziehung? Beiträge zur Ortsbestimmung an der Jahrhundertwende, Opladen u. a. 2010, S. 37 – 48; Knud Andresen: Gebremste Radikalisierung. Die IG Metall und ihre Jugend 1968 bis in die 1980er Jahre (Hamburger Beiträge zur Sozial- und Zeitgeschichte 56), Göttingen 2016; ders.: Strukturbruch in der Berufsausbildung? Wandlungen des Berufseinstiegs von Jugendlichen ­zwischen den 1960er- und den 1980er-Jahren, in: ders. u. a. (Hg.): „Nach dem Strukturbruch“? Kontinuität und Wandel von Arbeitsbeziehungen und Arbeitswelt(en) seit den 1970er-Jahren (Politik und Gesellschaftsgeschichte 89), Bonn 2011, S. 159 – 181; zuletzt Lutz Raphael: Knowledge, Skills, Craft? The Skilled Worker in West German Industry and the Resilience of Vocational Training, 1970 – 2000, in: German History 38 (2019), S. 359 – 373.

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Wissen mit der Zukunft der Arbeit konfrontiert war: in der beruflichen Aus- und Weiterbildung, der Fortbildung und der beruflichen Umschulung. An der äußeren Grenze des Bildungssystems erzeugte die Wissenspolitik mit dem „Strukturwandel“ zwei charakteristische Sozialfiguren. An diesen, so die Überlegung dieser Arbeit, wurden Vereindeutigungspraktiken erprobt und Inhalte des Wissens in einer sich wandelnden Gesellschaft ausgehandelt: Es handelt sich zum einen um den „älteren Arbeitnehmer“, dessen Bildungsfähigkeit anhand der Frage nach seiner Umschulung konstant disputiert wurde, dessen vermeintliche Erstarrung, Inflexibilität und mangelnde Mobilität fortlaufend problematisiert wurden und dessen Arbeitsfähigkeit immerfort (wieder)hergestellt werden sollte. Der „ältere Arbeitnehmer“ erschien als Z ­ eichen der Ausweitung der Bildbarkeit in das Erwachsenenalter hinein gleichzeitig als bereits defizient. Er verweist zum anderen auf die Ausweitung der Bildbarkeit in der Jugend, auf die Figur des „Lernbehinderten“. Dieser warf durch seine Existenz die Frage nach der Ausbildungsfähigkeit von Jugendlichen auf. „Lernbehinderte“ wurden zum einen als Verlierer eines Qualifizierungsimperativs des Wandels gesehen, erschienen zum anderen aber auch als neue Verfügungsgruppe von Förderungs-, Ausbildungs- und Erprobungsmaßnahmen für eine zukünftige Arbeit. Beide Sozialfiguren befanden sich zugleich der industriellen Produktion am nächsten. An ihnen zeigt sich verdichtet der Zusammenhang von Wissen, Arbeit und sozialem Wandel. Das verbindende Glied ­zwischen diesen beiden Sozialfiguren bildete der Schlüsselbegriff der Mobilität (und weniger der des Humankapitals), der seit den 1950er Jahren das Verhältnis von Arbeit und Ausbildung umkehrte und so die Bedingungen für die Suche nach dem Willen zur Umstellung schuf. Diente Ausbildung vormals der Sesshaftmachung und der Verhinderung von Fluktuation, strebte sie ab ­diesem Zeitpunkt Mobilität und Anpassungsfähigkeit an. In der Untersuchung der Vereindeutigungspraktiken und Inhalte der Wissenspolitik folgt die Arbeit der zeitgenössischen Wahrnehmung schwerindustrieller Regionen. Das Ruhrgebiet in der Bundesrepublik und der Nord-Pas-de-Calais in Frankreich wurden Experimentierfelder der beruflichen Ausbildung, Umschulung und Anpassung. Nimmt man diese Metapher ernst, ist die schwerindustrielle Raumkonfiguration als Experimentalsystem der Ort der konkreten Geschichte der Abstraktion. So gelingt es, Wissensproduktion in ihrer räumlichen, sozialen und betrieblichen Breite abzubilden und zu analysieren. Mit der Deindustrialisierung wurden diese Räume als wissenspolitisches Interventionsfeld und als Ernstfall modernisierungstheoretischer Prognostik neu erfunden.121 Darüber hinaus lassen 121 Es handelt sich also um Raumkonfigurationen als „Resultat von Ordnungsbestrebungen beteiligter Akteure“. Vgl. Susanne Rau: Räume. Konzepte, Wahrnehmungen, Nutzungen (Historische Einführungen 14), Frankfurt u. a. ²2017, Zit. S. 141. Die Nähe zum Ordnungsparadigma ist e­ vident.

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sich Wandlungsprozesse im Feld der industriellen Berufsausbildung am ehesten anhand der Schwerindustrie, also des Bergbaus und der Stahlindustrie, zeigen. Diese stellten schon allein quantitativ, gemessen an der Zahl der Auszubildenden, die größten Berufsbildungssysteme der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) mit ausdifferenzierten Bildungsinstitutionen bereit, anders als etwa die ebenso von Wandlungsprozessen betroffene Textilindustrie oder der Schiffbau.122 Gleichzeitig waren diese Berufsbildungssysteme in der Wahrnehmung der Akteur:innen in besonderem Maße den Herausforderungen des Wandels der Wirtschaft ausgesetzt. Dafür stellte berufliche Qualifikation ein zentrales und exponiertes Feld des Krisen- und Präventionshandelns dar. So eröffnet sich ein Untersuchungsfeld, in dem nach Ausprägungen der Wissenspolitik gefragt wird. Aus den methodischen Vorannahmen folgt ein doppelter Zugriff auf die berufliche Erst- und Erwachsenenausbildung in schwerindustriellen Regionen, der hinsichtlich der wissenspolitischen Wahrnehmung aussagekräftig ist. Die Kapitel 2 und 3 zur Vorgeschichte der Wissenspolitik und zur Verbindung von Krise und Qualifikation sind vergleichend-transnational z­ wischen der Bundesrepublik und Frankreich konzipiert. Der Vergleich dient so zum einen einer breiteren Kontextualisierung des Strukturwandeldiskurses auf europäischer Ebene. Zum anderen zeigt er, dass die Verbindung von Krise und Qualifikation über den Begriff der Mobilität seit den frühen 1950er Jahren auf einem intensiven Austauschprozess innerhalb der EGKS basierte.123 In dieser Aushandlung wurden aus einer gemeinsamen Problemdefinition unterschiedliche Konsequenzen gezogen: das Ende der Vgl. Thomas Etzemüller: Social Engineering als Verhaltenslehre des kühlen Kopfes. Eine einleitende Skizze, in: ders. (Hg.): Die Ordnung der Moderne. Social Engineering im 20. Jahrhundert, Bielefeld 2009, S. 11 – 39; Sara-Marie Demiriz/Jan Kellershohn/Anne Otto: Transformation durch Wissen. Montanregionen als Laboratorien der Industriemoderne – eine Einleitung, in: dies. (Hg.): Transformationsversprechen, S. 7 – 26. Ähnlich: René Leboutte: A Space of European De-industrialisation in the Late Twentieth Century. Nord/Pas-de-Calais, Wallonia and the Ruhrgebiet, in: European Review of History 16 (2009), S. 755 – 770. Zum „Strukturwandel“ des Ruhrgebiets vgl. stellvertretend Stefan Goch: Eine Region im Kampf mit dem Strukturwandel. Strukturpolitik und Bewältigung von Strukturwandel im Ruhrgebiet (Schriftenreihe des Instituts für Stadtgeschichte, Beiträge 10), Essen 2002. 122 Roland Treese: Berufsausbildung im Bergbau, in: Dieter Langewiesche/Heinz-Elmar Tenorth (Hg.): Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, Bd. V: 1918 – 1945: Die Weimarer Republik und die nationalsozialistische Diktatur, München 1989, S. 291 – 294, hier S. 292. EGKS. Hohe Behörde. Generaldirektion Arbeitsfragen, Sanierung und Umstellung: Informationen über die Entwicklung der Berufsausbildung in den Industrien der Gemeinschaft im Jahr 1961, o. O. 1962, S. 49. 1 23 René Leboutte: Le rôle de la Communauté Européenne du Charbon et de l’Acier dans le développement des politiques de reconversion industrielle et d’essor économique régional, in: Mitteilungsblatt des Instituts für soziale Bewegungen 30 (2003), S. 33 – 43; Nicolas Verschueren: Fermer

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Ausbildungspolitik im französischen Bergbau Ende der 1960er Jahre; ihre Forcierung in der westdeutschen Schwerindustrie. Daraus resultiert die Asymmetrie des in dieser Studie verfolgten Vergleichs:124 Während die Vorstellung des Ruhrgebiets als wissenspolitisches Interventionsfeld in der Bundesrepublik weite Kreise zog, waren dieser Wahrnehmung für Nordfrankreich zentralstaatliche Grenzen gesetzt. Die Sozialfiguren des „älteren Arbeitnehmers“ und des „lernbehinderten“ Auszubildenden, um die es in den Kapiteln 4, 5 und 6 geht, stellen dementsprechend in dem Vergleich auch ein Spezifikum der Bundesrepublik dar, das sich auf das Ruhrgebiet konzentrierte. Sie machen einen Fokus auf die um diese Figuren angeordneten Inhalte, Praktiken und Aneignungen erforderlich. Eine vergleichbare Diskussion um Umschulung wie in Westdeutschland entwickelte sich in Frankreich nicht; Lernbehinderung spielte in der dortigen schwerindustriellen Berufsausbildung keine Rolle. Das bedeutet nicht, dass es vergleichbare Auseinandersetzungen in Frankreich nicht gegeben hat, sondern nur, dass diese Diskurse in dieser konkreten Geschichte der Abstraktion, die sich dem Wissen über dessen Objekt nähert, nicht auftraten. Der asymmetrische Vergleich dient in dieser Arbeit also zwei Zielen: Erstens feit er die Arbeit gegen übereifrige Verabsolutierungen der Wissenspolitik als uferloser, ephemerer Machttechnik. Zweitens belegt er, dass eine auf europäischer Ebene einhellige (und in d ­ iesem Sinne transnationale) Wahrnehmung national und regional völlig unterschiedliche Konsequenzen zeitigen konnte, die sich aber keineswegs widersprachen: das Ende der schwerindustriellen Ausbildung in Frankreich, ihre Forcierung in Westdeutschland. Der Vergleich sensibilisiert so für die Spannungsfelder und das Ebenenspiel der verschiedenen Orte einer konkreten Geschichte der Abstraktion. Diese Aufteilung hat Konsequenzen für die Quellenauswahl, die sich den drei Gegenständen Mobilität, „ältere Arbeitnehmer“ und „Lernbehinderte“ zuordnen lässt. Die Vorgeschichte und die Geschichte der Verquickung von wirtschaftlicher Krisendiagnose und Qualifikation basieren auf der Überlieferung der Ausbildungsinstitutionen im deutschen und französischen Bergbau. In Frankreich steht die Ausbildungsabteilung der Houillères du Bassin du Nord et du Pas-de-Calais (HBNPC) les mines en construisant l’Europe. Une histoire sociale de l’intégration européenne (Euroclio 74), Brüssel u. a. 2013. 1 24 Zum asymmetrischen Vergleich siehe Jürgen Kocka: Asymmetrical Historical Comparison. The Case of the German Sonderweg, in: History and Theory 38 (1999), S. 40 – 50; Heinz-Gerhard Haupt/Jürgen Kocka: Historischer Vergleich: Methoden, Aufgaben, Probleme. Eine Einleitung, in: dies. (Hg.): Geschichte und Vergleich. Ansätze und Ergebnisse international vergleichender Geschichtsschreibung, Frankfurt a. M. 1996, S. 9 – 45, hier S. 15 f. Die Gefahr, über asymmetrische Vergleiche „Sonderwege“ zu produzieren, indem ein Fall als Norm gesetzt wird, wird hier insofern umgangen, als sich die Asymmetrie auf der Ebene der Raumkonfiguration empirisch ergab – und nicht Ausgangspunkt der Untersuchung war.

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der Charbonnages de France (CdF) im Mittelpunkt.125 Diese Ausbildungsabteilung organisierte die Ausbildung von Arbeitern und mittlerem Aufsichtspersonal in privaten Ausbildungszentren nach dem Abschluss des technischen Schulbildungszweigs. Für das Ruhrgebiet bietet sich mit der Westfälischen Berggewerkschaftskasse (WBK) eine Gemeinschaftsorganisation des Steinkohlenbergbaus an, die das private bergbauliche Ersatzschulwesen in der Bundesrepublik verantwortete.126 Das Beispiel der WBK (aber auch das der HBNPC) steht emblematisch für die weitreichende vertikale Integration der schwerindustriellen Ausbildungswesen, wenn auch im deutschen Fall die Zugriffsmöglichkeiten durch ein eigenes Schulwesen weitreichender waren – und die Quellenüberlieferung dementsprechend dichter ist, was ebenfalls zur Asymmetrie des Vergleichs beiträgt. Zusätzlich wurden publizierte Quellen, etwa der EGKS, herangezogen, ergänzt durch Quellenmaterial aus EGKS-Sitzungen, die über Mitgliedsorganisationen wie die Industriegewerkschaft Bergbau und Energie (IGBE) erschlossen wurden. Darüber hinaus dienten die Archivalien der Friedrich Krupp AG dazu, die Stufenausbildung als erste Reaktion auf die Krisenwahrnehmung der 1960er zu beleuchten. Zur besseren Konturierung des Ausbildungsstopps im französischen Bergbau wurde die Überlieferung der regionalen Ausbildungskommission für den Nord und den Pas-de-Calais herangezogen. Die Geschichte der „älteren Arbeitnehmer“ konzentriert sich stärker auf den staatlichen Blick auf den westdeutschen Bergbau: Mit dem LAA NRW , dem Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung (BMA), der Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung (BAVAV, ab 1969 Bundesanstalt für Arbeit, BA) und kleineren Überlieferungen der Industriegewerkschaft Metall (IGM), des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) sowie der Industrie- und Handelskammern (IHK) Essen und Duisburg wurde die korporatistische Struktur der Entscheidungsfindung z­ wischen den intermediären und staatlichen Akteur:innen in der Bundesrepublik nachvollzogen. Um die Perspektive der „älteren Arbeitnehmer“ – über die vereinzelten Spuren in der Archivüberlieferung hinaus – selbst einzufangen, wurden Interviewprotokolle eines Forschungsprojekts des Soziologischen Forschungsinstituts Göttingen (SOFI) ausgewertet. Die beiden zentralen wissenspolitischen Einrichtungen, die in den 1960er Jahren errichtet wurden – das 125 Vgl. dazu Marie-France Conus: Une analyse de la relation capital/travail dans le cadre de la révolution informationnelle: L’industrie houillère française (1945 – 2004), in: Gilles Rasselet (Hg.): Les transformations du capitalisme contemporain, Paris 2007, S. 413 – 430; dies./Jean-Louis E ­ scudier: Formation, qualifications et compétences dans un processus de conversion professionnelle. Application aux salariés de Charbonnages de France (1950 – 2000), in: Économies et Sociétés, HorsSérie 40 (2005), 9, S. 1663 – 1690. 126 Vgl. Stefan Moitra: Das Wissensrevier. 150 Jahre Bergbauforschung und Ausbildung bei der Westfälischen Berggewerkschaftskasse/DMT-Gesellschaft für Lehre und Bildung. Die Geschichte einer Institution, Bochum 2014.

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Berufsförderungszentrum (Bfz) Essen als erstes Umschulungszentrum der Bundesrepublik und die Gesellschaft zur Verbesserung der Beschäftigtenstruktur (GVB) als erstes staatlich organisiertes Anpassungsunternehmen – wurden durch diese Bestände greifbar. Im Falle der GVB traten noch die kirchlichen Überlieferungen des Bistums Essen und der Evangelischen ­Kirche von Westfalen hinzu. Die Geschichte „lernbehinderter“ Auszubildender beruht auch auf der Überlieferung des Landes NRW , vornehmlich auf der der Abteilung Arbeit, Gesundheit und Soziales der Staatskanzlei sowie auf der gewerkschaftlichen (IGM und DGB ) und der Kammerüberlieferung. Die äußerst heterogene Ausbildungssitua­ tion „Lernbehinderter“ wurde über Beispiele aus den Schulen der WBK und den Betrieben der Thyssen Niederrhein Aktiengesellschaft in Oberhausen (TNO ) erfasst – die Berufsordnungspolitik über das Bundesministerium für Wirtschaft (BMW i). Publizierte Quellen wurden selektiv, aber nicht systematisch herangezogen. Während sich für die Umschulung Zeugnisse und Stimmen von Betroffenen selbst ausmachen ließen, gestaltete sich diese Suche bei der Lernbehinderung schwieriger. Eine zeitgenössisch bereits umstrittene und vage Kategorie macht Selbstzuschreibungen zu dieser Gruppe selten; in den amtlichen und verband­ lichen Überlieferungen tauchen individuelle Auszubildende, die als „lernbehindert“ bezeichnet wurden – anders als Umschüler –, nicht auf. Studienmaterial, das für die Umschulung im SOFI vorliegt, konnte ebenfalls nicht ausgemacht werden.127 So spiegelt das Archiv den Schwellenzustand dieser Personengruppe, die keiner eindeutigen Benennung (und entsprechender Einschließung) unterworfen war und sich auch nicht als Selbstbeschreibungsgruppe – zum Beispiel im Rahmen der Bewegung von Menschen mit Behinderung – konstituierte. Es geht nicht darum, apodiktisch zu behaupten, dass diese Gruppe nicht gesprochen oder geschrieben hat, sondern nur darum, dass sich s­ olche Stimmen über den gewählten Zuschnitt nicht einfangen ließen. Die 1950er Jahre können, so die Kernthese der Arbeit, als Ausgangspunkt und als Katalysator der Entstehung der Wissenspolitik betrachtet werden. In d ­ iesem Feld wurden in den folgenden Jahren die Ein- und Ausschlüsse in die Arbeit der Zukunft über das Medium der Qualifikation verhandelt. Der Wille zur Umstellung avancierte zur verhandelbaren, aber unausweichlichen Demarkationslinie ­zwischen „zukunftsfähigen“ und „zukunftsunfähigen“ Subjekten. „Strukturwandel“ ist dementsprechend nicht als anonyme Großkategorie historischen Wandels zu verstehen, sondern als ein Experimentalsystem, in dem diese Kategorien – die 127 Eine Anfrage an Reinhard Barrabas, der in den 1980er Jahren eine ­solche Befragung durchführte, blieb unbeantwortet. Vgl. Reinhard Barrabas: Zum Selbstbild von Bergjungarbeitern im Steinkohlenbergbau an der Ruhr, Diss., Dortmund 1984 und Nachricht des Verfassers an Reinhard Barrabas vom 13. Juli 2017.

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Gewinner und Verlierer – anhand des Willens zur Umstellung neu bestimmt und geschaffen wurden. Für die Geschichte der Bundesrepublik und der Deindustrialisierung westlicher Gesellschaften bedeutet diese These ebenso eine Abkehr von Erfolgsgeschichten der Liberalisierung und Westernisierung wie von Verfalls- und Ökonomisierungsgeschichten des Neoliberalismus. Im Mittelpunkt steht die Kehrseite der Bonner Republik als Geschichte fortlebender und neu entstehender Ausschlüsse. Eine ­solche Geschichte kennt weder Hell noch Dunkel. Sie sucht Licht in den Limbus der Erfolgsgeschichte zu werfen. Um die These zu belegen, gliedert sich die Arbeit in drei Teile. Der Erzählbogen reicht vom Auftreten des Umstellungsproblems in Südfrankreich im Jahr 1953 bis zur Anerkennung und Institutionalisierung von Sonderausbildungen für „lernbehinderte“ Jugendliche im westdeutschen Bergbau im Jahr 1979. Hinsichtlich des Inhalts der Wissenspolitik folgt das Argument einem Dreischritt: Zunächst erwies sich eine von der Zwischenkriegszeit und dem Zweiten Weltkrieg herrührende moralisch-holistische Ausbildungspolitik als den Bedingungen der 1950er, s­ päter der 1960er Jahre zunehmend unangemessen (Kapitel 2). Als Vereindeutigungspraxis entsprach ihr eine totale Milieuerfassung und -beobachtung, die anstrebte, Auszubildende in sämtlichen Lebenssituationen und -äußerungen zu registrieren. Angesichts einer unsicheren Zukunft der Arbeit entwickelten die Ausbildungsverantwortlichen den Traum einer Wissenspolitik der Anpassung (Teil I). Dieses Ideal ging von einer infinitesimalen Gliederung der Begabung aus, die nur mit den angenommenen Anforderungsstufen zukünftiger Arbeit in Einklang gebracht werden musste. Als Ausdruck hiervon werden etwa die Stufenausbildung oder die kybernetische Päda­gogik, aber auch die umschulungspolitischen Versuche der späten 1960er Jahre untersucht. Als Vereindeutigungspraxis dominierte in d ­ iesem Abschnitt eine mechanische Objektivität, die über quantitative Erhebungen und Vermessungen eine Reinheit der Begabung über die Eliminierung subjektiver Einflüsse herzustellen versuchte. Gleichzeitig war diese Proportionalisierung mit einem hohen Ressourcenaufwand bei geringen Umsetzungsmöglichkeiten verbunden und bedingte eine hohe Komplexität. Sie produzierte also einen neuen Vereindeutigungsbedarf. Als Gegenpol der infinitesimalen Untergliederung verschob sich die anpassende so zu einer Wissenspolitik des Ausschlusses (Teil II). Anhand des Scheiterns des Ideals des Bundesarbeitsministeriums, nach Bildbarkeitsstufen gegliederte Erwachsenenausbildungsinstitutionen zu errichten, sowie am Beispiel der Ausbildung „lernbehinderter“ Jugendlicher geht dieser Teil den graduellen Verschiebungen nach, denen der Wille zur Umstellung in den 1970er Jahren unterworfen war. Vor allem über den Begriff der Lernbehinderung wurde das Verhältnis von Arbeit und Begabung nun binär geordnet und z­ wischen dem Normalen und Anormalen der sozialen Folgen des Wandels der Arbeitswelt verortet. Den „normalen“ Begabungen stand damit der Weg in die automatisierte Arbeit der postindustriellen Gesellschaft offen,

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den „anormalen“ Begabungen nicht. Paradoxerweise korrelierte diese Ordnungsvorstellung mit einer erneuten Konjunktur umfassender Milieubeobachtung unter umgekehrten Vorzeichen. Die involvierten Beobachter verfolgten nunmehr keine moralisch-holistischen, sondern kritisch-engagierte Vereindeutigungspraktiken. Mit der Institutionalisierung des Ausbildungsberufs des Berg- und Maschinenmanns sowie der faktischen Anerkennung der Hüttenwerkerausbildung erkannten die bundesrepublikanischen Ausbildungsverantwortlichen schließlich an, dass die Arbeit der Zukunft nicht durch eine Proportionalität von (mehr oder weniger) Begabung und Arbeit geprägt sein würde, sondern durch einen Gegensatz von Anpassungsfähigkeit und Anpassungsunfähigkeit. Anders formuliert trat an die Stelle der proportionalen Gleichheit der Arbeit eine formale (Un-)Gleichheit, die eines konstitutiven Anderen bedurfte.128 Wissen, Bildung und Qualifikation als Problemlöser für die Herausforderungen des Wandels der Arbeitswelt erzeugten so eigene Widersprüche.

128 Stefan Gosepath: Gleiche Gerechtigkeit. Grundlagen eines liberalen Egalitarismus, Frankfurt a. M. 2004, S. 119 – 128.

2 Ausbildung als Eingliederung. Moralischer Holismus im deutschen und französischen Bergbau, 1945 – 1953

Das Frankreich der Nachkriegszeit wurde im Herbst des Jahres 1948 von einem Generalstreik der Bergarbeiter in Nordfrankreich, Lothringen sowie in Süd- und Westfrankreich (Dauphiné, Loire, Aquitaine) erschüttert, die in der Öffentlichkeit als Helden der Bataille du Charbon gefeiert wurden.1 Neben seiner erinnerungskulturellen Funktion, in der er für die Einführung des Statut Social du Mineur, der sozialrechtlichen Sonderstellung der Bergarbeiter, verantwortlich gemacht wurde, war dieser Streik noch in einer anderen Hinsicht bedeutsam. Im nordfranzösischen Douai, am Hauptsitz der HBNPC , nahm der stellvertretende Ausbildungsinspektor Vanneuville den Streik zum Anlass, Gedanken über die „Bildungsprobleme“ des Bergbaus an den Generaldirektor und den Generalsekretär der HBNPC zu richten.2 Sein Rechenschaftsbericht 3 folgte einer moralisch-holistischen Ausbildungslogik. Er bildet den Ausgangspunkt dieser Vorgeschichte der Wissenspolitik. Diese moralisch-holistische Ausbildungslogik, die bis in die 1950er Jahre sowohl im französischen als auch im deutschen Bergbau dominant blieb, lässt sich anhand dreier zentraler Merkmale charakterisieren: Erstens verfolgte sie im Sinne eines „sozialökologischen Industrialismus“ 4 den Anspruch einer vollständigen Einfassung, Strukturierung und Hierarchisierung der Auszubildenden, ihres Milieus und ihrer Lebenswelt. Zweitens lag ihr ein moralisches Verfallsnarrativ zugrunde. Unter Rückgriff auf verschiedene Sprachregister bedingte diese Vorstellung eine antikommunistische Stoßrichtung der Ausbildungssysteme und setzte Ausbildung daher nur sekundär in Beziehung zur Qualifikation. Drittens hatte die Ausbildung eine Hierarchisierungs- und Selektionsfunktion. Sie zielte darauf ab, Individuen anhand einer auf verschiedene Weise gedachten Eignung für ihre Rolle als Vorgesetzter beziehungsweise anhand ihrer Fähigkeit zur Führung zu hierarchisieren 1 Vgl. Marion Fontaine/Xavier Vigna: La grève des mineurs de l’automne 1948 en France, in: Vingtième Siècle 121 (2014), S. 21 – 34. 2 R. Vanneuville: Schreiben an den Directeur Général und den Sécrétaire Géneral der HBNPC, 29. 11. 1948, in: ANMT 2004 001 522, S. 1. 3 Ders.: Rapport moral sur la situation de „l’éducation“ dans les Houillères du Bassin du NordPas-de-Calais, o. D. [November 1948], in: ebd. 4 Luks: Betrieb, passim.

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und abzustufen. Der moralische Holismus bewegt sich dezidiert im Horizont des „Jahrhunderts der Chefs“.5 Die Wurzeln dieser Vorgeschichte reichen allerdings für den Bereich der Arbeit bis in die Nachkriegszeit des E ­ rsten Weltkriegs zurück. Als abstraktes Problem der Zuordnung von Individuen zu gesellschaftlichen Orten und Rängen und der Begründung und Begründbarkeit sozialer Differenz lässt es sich auch als Problem der Moderne seit dem 18. Jahrhundert begreifen.6 Mit den Verlusten des E ­ rsten Weltkriegs einerseits und dem Aufkommen des Rationalisierungsdiskurses seit der Jahrhundertwende andererseits verbreitete sich in Westeuropa und besonders in der Weimarer Republik die Idee, die Fähigkeiten der Arbeitskräfte zum Ansatzpunkt der Arbeitskräftelenkung zu machen. Verbunden waren damit zunächst – auf institutioneller Ebene – die Gründungen von Arbeitsverwaltungen und -vermittlungen, Arbeitsmarkterfassung und Berufsberatung als Erkennungsinstrumente.7 Darüber hinaus – auf der Ebene der Unternehmen und der Individuen – zog die Psychotechnik in die Betriebe und Verwaltungsbüros ein, in Frankreich etwas zeitversetzt nach der Weltwirtschaftskrise 1929 und nach Schweizer Vorbild.8 Zu diesen vergleichsweise aufsehenerregenden und im Kontext der Amerikanisierungsängste medial weithin rezipierten Methoden gehörte aber ebenso die Entwicklung der Berufsausbildung und des Berufs als soziale Tatsache, deren Charakterisierung, Feststellung und Definition unabdingbar wurde. Neben der Berufsschulausbildung, die sowohl im Frankreich der Zwischenkriegszeit als auch in der Weimarer Repu­ blik erheblich ausgebaut und auf legislative Füße gestellt wurde,9 betraf dies sowohl die Kodifizierung des Prinzips der Beruflichkeit als auch die betriebliche Berufsausbildung. In der Weimarer Republik waren drei Institutionen maßgeblich: Zum einen handelte es sich um das 1925 in Düsseldorf auf Betreiben der Stahlindustrie 5 Yves Cohen: Le siècle des chefs. Une histoire transnationale du commandement et de l’autorité (1890 – 1940), Paris 2013. 6 Vgl. John Carson: The Measure of Merit. Talents, Intelligence, and Inequality in the French and American Republics, 1750 – 1940, Princeton/NJ 2007. 7 Vgl. für die Schweiz Malte Bachem: Beruf und Persönlichkeit. Zuordnungsroutinen der Berufsberatung in der Schweiz um 1920, in: Geschichte und Gesellschaft 39 (2013), S. 69 – 85; für die Weimarer Republik Meskill: Workforce, S. 109 – 133. Zur in Frankreich kommunalen orientation professionnelle vgl. Stéphane Lembré: L’école des producteurs. Aux origines de l’enseignement technique en France (1800 – 1940), Rennes 2013, S. 271 – 278. 8 Vgl. Katja Patzel-Mattern: Ökonomische Effizienz und gesellschaftlicher Ausgleich. Die indus­ trielle Psychotechnik in der Weimarer Republik (Studien zur Geschichte des Alltags 27), ­Stuttgart 2010; Thomas Le Bianic: Des tests pour les chômeurs. La psychotechnique au Ministère du ­Travail, des années 1930 aux années 1950, in: Bulletin de Psychologie 496 (2008), S. 357 – 366. 9 Zur technischen Bildung nach dem E ­ rsten Weltkrieg in Frankreich und dem Loi Astier von 1919, mit dem die Berufsbildung institutionalisiert wurde, vgl. Stéphane Lembré: Histoire de l’enseignement technique, Paris 2016, S. 57 – 60.

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gegründete Deutsche Institut für technische Arbeitsschulung (DINTA), das aber auch im Bergbau seine Tätigkeit entfaltete.10 Zum anderen engagierten sich der seit 1908 bestehende Deutsche Ausschuß für Technisches Schulwesen (DATSCH) des Verbands Deutscher Ingenieure sowie der Arbeitsausschuss für Berufsbildung in der Erarbeitung und Festlegung von Berufsordnungen.11 In Frankreich, wo der Fokus in der Nachkriegszeit des ­Ersten Weltkriegs zunächst auf der rééducation professionnelle von Kriegsversehrten lag, wurde 1919 mit dem Certificat d’Aptitude Professionnelle (CAP) der Facharbeiterabschluss eingeführt. Es dauerte allerdings bis nach den Generalstreiks 1936, bis sich d ­ ieses Zertifikat als Referenz und Ordnungsinstrument für die Entlohnung und Abstufung von Arbeitskräften durchsetzte.12 Für den Bergbau galt sowohl in Frankreich als auch in der Weimarer Republik, dass eine flächendeckende Berufsausbildung jenseits der Pflichtberufsschule bis in die 1930er Jahre vermieden wurde. Stattdessen konzentrierten sich sowohl die École Technique des Mines de Douai und die Ausbildungsabteilungen der Bergbauunternehmen als auch das private Schulwesen des deutschen Bergbaus unter der Ägide der WBK auf die Führungskräfte- und Elitenschulung.13 Für die Beruflichkeit industrieller Arbeit ebenso wie für das Verhältnis von Arbeit und Qualifikation fungierte der Nationalsozialismus im doppelten Sinne als Katalysator: Zum einen wertete die Deutsche Arbeitsfront etwa über die „Reichsberufswettkämpfe“ industrielle Arbeit öffentlich auf und gliederte sie unter dem Schlagwort der „Werks-“ oder „Betriebsgemeinschaft“ in die Inklusions- und Exklusionslogik der „Volksgemeinschaft“ ein. Zum anderen führte sie in den schwerindustriellen Berufszweigen Facharbeiterabschlüsse ein, in der Metallindustrie den Abschluss als Betriebs- und Maschinenschlosser (1937) und im Bergbau den als Knappe (1940).14 10 Vgl. etwa Frank Becker: „Menschenökonomie“ statt „Herrschaft der Technik“. Die industriepädagogischen Konzepte des „Deutschen Instituts für technische Arbeitsschulung“ ( DINTA) 1925 – 1933, in: Body Politics 6 (2018), S. 147 – 173; für den Bergbau Kift: Menschenkraft. 11 Vgl. Meskill: Workforce, S. 124. Meskill (S. 129) betont ebenfalls, dass das DINTA in der Forschung überrepräsentiert ist, der DATSCH und der Arbeitsausschuss allerdings kaum vorkommen, was sich angesichts der langfristigen Wirkung der Berufsbilder nur schwer begründen lässt. Die Aufmerksamkeit der historischen Forschung für das DINTA lässt sich als langer Schatten der vom Institut selbst geschaffenen institutionellen Mythologie lesen, worauf auch Becker: „Menschenökonomie“ hinweist. 12 Lembré: Histoire, S. 58 f. und 70. 13 Dietmar Bleidick: Entwicklung der Montanberufe und des bergbaulichen Bildungswesens seit Ende des 19. Jahrhunderts, in: Dieter Ziegler (Hg.): Geschichte des deutschen Bergbaus, Bd. 4: Rohstoffgewinnung im Strukturwandel, Münster 2013, S. 413 – 443 spricht vom „System der Kosteneinsparung durch Dequalifikation“ (S. 433); Moitra: Wissensrevier, S. 113 – 116; Lembré: L’école, S. 290 – 292. 14 Vgl. John Gillingham: The „Deproletarianization“ of German Society. Vocational Training in the Third Reich, in: Journal of Social History 19 (1986), S. 423 – 432.

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Mit dem Vichy-Regime und der Besetzung des Nord und des Pas-de-Calais galt dies auch für Frankreich. Was diese von widerstreitenden Ansprüchen zerklüfteten institutionellen Architekturen beruflicher Qualifikation zusammenhielt, war, wie im Folgenden für die letzten Kriegsjahre und die frühe Nachkriegszeit gezeigt wird, eine Logik des moralischen Holismus. Moralischer Verfall und Antikommunismus

Die Merkmale des moralisch-holistischen Ausbildungsverständnisses lassen sich exemplarisch an den Auseinandersetzungen um die Ausbildung im nordfranzösischen Steinkohlenbergbau und den CAP für Bergarbeiter illustrieren. Vanneuvilles Bericht, mit dem er ein Urteil über den „Wert der französischen Jugend im Jahr 1948“ fällen wollte, entsprach einer Diagnose des Niedergangs.15 Dieser Niedergang habe den Streik verursacht. Der Krieg und die „Massenmedien“ führten dazu, dass der Jugendliche „an nichts mehr glauben“ könne, „allein zurechtkommen“ müsse und „den vergänglichen Moment genießen“ würde. Diese Erschütterung fördere unter den Auszubildenden den Egoismus, das Bedürfnis, sich gehen zu lassen, und die Unabhängigkeit – was Vanneuville als „Disziplinlosigkeit“ interpretierte.16 Dementsprechend forderte er, diese „armen Wesen, meistens Opfer der Gesellschaft, […] zu retten“ 17. Diese Rettung sollte neben den Arbeitsfähigkeiten den Willen und den Charakter der Jugendlichen umfassen. Auszubildende waren „Rohstoffe“,18 allerdings in einem breiten Verständnis. Die antikommunistische Stoßrichtung dieser Verfallsangst zeigte sich im Juli des folgenden Jahres. In d ­ iesem Sommermonat des Jahres 1949 reiste Vanneuville zu einer Tagung des französischen Verbandes der Sonderpädagogen, um Möglichkeiten der Fortbildung für Ausbilder zu eruieren. Der Streik von 1948 und seine Ursachen wurden dadurch einerseits pädagogisiert, andererseits in eine Sprache der Devianz überführt: Die Teilnahme an der Tagung sei nötig, weil die „defizitären und sozial unangepassten Auszubildenden“ bei Streiks am ehesten der kommunistischen Versuchung erliegen und eine Unfallgefahr darstellen würden.19 Mangelnde Fähigkeiten waren damit eine Frage der politischen Stabilität und Ausbildung Mittel gegen Gewerkschaften und Streiks.

15 Vanneuville: Rapport, S. 1. 16 Ebd. 17 Ebd., S. 6. 18 Ebd., S. 2. 19 R. Vanneuville: Stage National de pédagogie spécialisée (Beaumont/Oise, 27 juin au 12 juillet 1949), o. D. [15. 7. 1949], in: ANMT 2004 001 522, S. 1.

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Die Aufwendungen für eine s­olche Weiterentwicklung der Ausbildungspädagogik rechtfertigte Vanneuville insofern, als ­solche Maßnahmen „jedem Mann, selbst den am wenigsten begabten“, die Integration in die Gesellschaft ermöglichen würden. Ausbildung als soziale Eindämmung sei notwendig, denn „diese Unterprivilegierten werden morgen Verbitterte und Revoltierende sein …“ 20 Dementsprechend zielten die Vorgaben für die Facharbeiterprüfung, die in den folgenden Jahren erarbeitet wurden, neben den technischen Anforderungen auch auf die „Aufgaben mir selbst gegenüber, gegenüber der Familie, gegenüber den anderen und gegenüber dem Land“ ab: „Loyalität“, „Mut“, „Sauberkeit“, „Charakter“, die „Aufgabe, eine Familie zu gründen“, sowie das „Nationalgefühl“ standen im Mittelpunkt ­dieses moralisch-holistischen Ausbildungsimperativs.21 Es wäre allerdings ein Kurzschluss, der Selbstbeschreibung Vanneuvilles zu folgen und die Implementierung eines moralischen Holismus ausschließlich auf das Kriegsende zurückzuführen. Das moralische Verfallsnarrativ lag vielmehr im Kern der Entstehung des beruflichen Ausbildungssystems im Bergbau in Frankreich. Die Einführung des CAP für Bergarbeiter 1946 stellte lediglich den Abschluss einer Entwicklung dar, die zum einen durch die Vichy-Regierung geprägt war.22 So forderte und begründete ein Memorandum im Mai 1944 den Aufbau geregelter Ausbildungsgänge für junge Bergarbeiter über die Diagnose des moralischen Verfalls und mit der Hoffnung auf eine „moralische Aufrichtung“ in einer Welt von „Skeptizismus und Unordnung“.23 Die Einführung des Ausbildungsberufs war zum anderen begleitet von einer eingehenden Beobachtung der Ausbildung im Bergbau des nationalsozialistischen Deutschlands durch Studienreisen. So stellte die Einführung des Berufsbilds des Knappen – neben der Berufsausbildung in den französischen Eisenerzminen – eine wichtige Referenz dar.24 Als übergreifende – sowohl in Deutschland und Frankreich als auch in Belgien anzutreffende – Prinzipien stellten die Verantwortlichen in Frankreich bereits 1942 fest, dass Ausbildung 20 Ebd., S. 3. 21 HBNPC: Modalités applicables aux Houillères du Bassin du Nord & du Pas-de-Calais en ce qui concerne l’organisation générale de l’examen du Certificat d’Aptitude Professionnelle de Mineur des Mines de Houille, November 1951, in: ebd., S. 12. 22 Der Bergbau war damit Teil der Arbeitspolitik Vichys. G. Daniel Cohen: Regeneration through Labor: Vocational Training and the Reintegration of Deportees and Refugees, 1945 – 1950, in: Proceedings of the Western Society for French History 32 (2004), S. 368 – 385 spricht davon, das „Vichy regime had established the foundations of modern French vocational education“ (S. 381). 23 La formation des jeunes ouvriers dans l’industrie houillère, Memorandum, 22. 5. 1944, in: ANMT 2007 044 454, S. 8. 24 Vgl. den Bericht des Comité d’Organisation de l’Industrie des Combustibles Minéraux Solides, der berufsständisch-korporatistischen Organisation des Bergbaus in Vichy-Frankreich: Ploix: L’apprentissage dans les houillères françaises, 1. 7. 1942, in: ANMT 2007 044 454, S. 27 – 29.

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dazu diene, den Jugendlichen an die untertägige Arbeit zu gewöhnen und ihm sowohl eine Grund- als auch eine „moralische Ausbildung“ zuteilwerden zu lassen, „um aus dem jungen Arbeiter einen Franzosen zu machen, der Sinn für Kameradschaft und Disziplin besitzt.“ 25 Diesem Ziel diente auch die physische Ausbildung, die die „harmonische Entwicklung“, die „körperliche Geschmeidigkeit“ sowie den „Gemeinschaftssinn“ fördern sollte.26 Insgesamt führte das Examen zur Berufsausbildung all diese Beobachtungsvorgaben unter der Beurteilung der „Anlagen des jungen Arbeiters“ zusammen.27 Hier offenbarte sich ein transnationaler Konsens darüber, dass berufliche Ausbildung die Eingliederung in eine moralische, holistische, „natürliche“ und „organische“ Ordnung anstrebte. Dementsprechend war auch die Wahl des Ortes, an dem die Ausbildung der Ausbilder stattfinden sollte, durch den Imperativ der moralischen Aufrichtung geprägt. Es handelte sich um die Ausbildungsschule für Führungskräfte der Ausbildungszentren in Bergoïde (École de Formation des Cadres des Centres d’Apprentissage de Bergoïde) im Zentralmassiv, die ab 1943 geplant und am 7. Juli 1945 eingeweiht wurde.28 Die Diagnose des moralischen Verfalls galt also nicht nur für die Auszubildenden, sondern auch für die Ausbilder. In ländlicher, bergiger Umgebung nahmen die Kursteilnehmer dort an Seminaren teil, deren fortbildende Wirkung vor allem in der Praxis des Kurslebens bestand: Holzhütten bauen, Wanderungen durch den Wald, Handarbeit und körperliche Ertüchtigung dienten als symbolisches Gegenbild der verstädterten, scheinbar dem Verfall ausgesetzten alltäglichen Lebensumgebung der Industrieregion.29 Analog zu den Fortbildungsgängen organisierten die HBNPC seit der frühen Nachkriegszeit Ferienlager für jugendliche Ausbildende, was auf einen zweiten Aspekt des moralisch-holistischen Ausbildungsimperativs verweist: den Anspruch des totalen Einschlusses der Lebenswelt und des Milieus der Auszubildenden. Dieses Verfallsnarrativ und eine „Performance anxiety“ bestimmten auch die national­sozialistische Berufsausbildungspolitik. Diese Angst ging zwar auf die Weimarer Republik zurück, erlebte ihre Hochphase jedoch mit den ­„Reichsberufswettkämpfen“ 25 Ebd., S. 30 und 32. 26 Ebd., S. 32. 27 Ebd. 28 Zur Geschichte des späteren Centre National de Perfectionnement des Cadres (CNPC, Nationales Fortbildungszentrum für Führungskräfte) der CdF vgl. Gersende Piernas: Le Centre national de perfectionnement des cadres (CNPC) des Charbonnages de France et la mise en place d’une formation professionnelle du mineur, in: Centre Historique Minier (Hg.): Des machines et des hommes. Émergence et mise en œuvre des innovations techniques dans les mines de charbon. Actes du colloque international organisé par le Centre historique minier du Nord-Pas-de-Calais à Lewarde les 19 et 20 novembre 2012, Lewarde 2013, S. 156 – 161. 29 Ebd.

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in den 1930er Jahren.30 Solche Dekadenzvorstellungen brachen 1945 keineswegs ab, sondern setzten sich in Kulturkritik und Kulturpessimismus fort. So betonte ein Bonner Arbeitsamtspsychologe im Jahr 1956 auf einer Fortbildungstagung für Ausbildungsleiter, dass die Situation der Jugendlichen von „Vermassung“, vom „Zerfall des Beständigen“ geprägt sei. Auf die „Entbehrungen“ der Kriegszeit sei die „Vergnügungs- und Genußsucht“ gefolgt; die „Acceleration [!]“ der Welt sorge für die Entwurzelung der Jugendlichen.31 Mit Blick auf die „Gefährdung des ‚deutschen Rückgrats‘ durch 1918, 1933, 1945“ müssten die Jugendlichen wieder lernen, dass „Unterordnung, Dienst, Gehorsam […] ehrenvoll“ ­seien.32 Der Erziehung maß er keine entscheidende Bedeutung bei. Im Kern ging es ihm um die Unveränderbarkeit des „ganzen Menschen“ und um eine natürliche, überzeitliche und vor allem moralische Ordnung. Vor ­diesem Hintergrund sei die Formbarkeit des Menschen nicht überzubewerten; der Erziehung werde nur immer mehr „zugetraut und zugemutet“.33 Die Verfallsdiagnose beschränkte sich nicht auf die westdeutschen Arbeitsämter, sondern schloss auch das Ausbildungswesen des Bergbaus ein. Dort versuchte die WBK seit Kriegsende die Nachwuchsprobleme zu lösen.34 Insbesondere der Antikommunismus spielte dabei eine wesentliche Rolle. Auf einer Tagung der Berggewerbelehrer berichtete etwa Hans Dütting, Vorstandsvorsitzender und Bergwerksdirektor der Gelsenkirchener Bergwerks-AG , seinen Kollegen von einem Offenbarungserlebnis, das ihn im schweizerischen Caux während einer Tagung der Bewegung Moral Re-Armament (MRA) ereilt hatte.35 Besonders dem ihn begleitenden Betriebsrat sei aufgegangen, dass „marxistische[] Phrasen“ keine „Besserung der Verhältnisse“ brächten.36 Ein Ausbildungsleiter, der an MRA-Schulungen 30 Vgl. Michael Hau: Performance Anxiety: Sport and Work in Germany from the Empire to Nazism (German and European Studies 25), Toronto u. a. 2017. Vgl. auch Gillingham: „Deprole­ tarianization“. 31 Ausbildungs- und Erziehungsprobleme bei den Nachwuchskräften; mit Aussprache, 1. 2. 1956, in: Landesarchiv NRW, Abteilung Westfalen (LAV NRW-W), N 100, Nr. 1561, S. 2 – 3. 32 Ebd., S. 6. 33 Ebd., S. 3. 34 Vgl. allgemein Mark Roseman: Recasting the Ruhr. Manpower, Economic Recovery and Labour Relations, 1945 – 1958, New York u. a. 1992; ders.: The Organic Society and the ‚Massenmenschen‘: Integrating Young Labour in the Ruhr Mines, 1945 – 58, in: German History 8 (1990), S. 163 – 194. 35 Vgl. Gabriele Müller-List: Eine neue Moral für Deutschland? Die Bewegung für Moralische Aufrüstung und ihre Bedeutung beim Wiederaufbau 1947 – 1952, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (1981), 44, S. 11 – 23. 36 Protokoll über die Arbeitstagung der Berggewerbelehrerschaft der Bergberufsschulen der Westfälischen Berggewerkschaftskasse in Bochum vom 4. 2. 1952 bis zum 6. 2. 1952, in: Montanhistorisches Dokumentationszentrum (montan.dok) beim Deutschen Bergbau-Museum Bochum/ Bergbau-Archiv (BBA) 120/874, S. 21.

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teilgenommen hatte, bezeugte: „Wie ich bin, so ist meine Familie und wie meine Familie ist, so ist auch meine Nation.“ 37 Und ein anderer Betriebsrat eröffnete – laut Referent –, dass das MRA ihm gezeigt habe, dass die „Vorstellung von der Feindschaft dieser Menschen [Unternehmer, ­Kirchen und konservative Parteien]“ falsch sei. Den Ausschluss aus der Kommunistischen Partei Deutschlands habe er dann auch bereitwillig hingenommen.38 Aus all diesen Beispielen folgerte der Direktor der Vorzeige-Zeche Zollverein in Essen, der „materielle [recte: materialistische] Westen“ brauche „die Gesundung, um damit dem Osten begegnen zu können“.39 Ganz in d ­ iesem auch in den anderen Vorträgen durchscheinenden Tenor verabschiedete der Bergschuldirektor Franz Leyendecker seine „Lehrerschaft“ mit der Aufforderung, „aus unseren Jungen Persönlichkeiten zu bilden und mitzuhelfen am Aufbau einer neuen Gemeinschaft“.40 Wie im französischen Fall implizierte der angsterfüllte Blick nach Osten auch im westdeutschen Bergbau einen Totalitätsanspruch, der sich in der Berufsausbildung Bahn brach. Totale Erfassung und Milieukontrolle

In Nordfrankreich mündeten die Bemühungen, die Ausrichtung der Ausbildung im Bergbau neu zu bestimmen, im Dezember 1948 in der Erarbeitung einer Studie über das „Verhalten des Jungarbeiters“.41 Die Logik der totalen Erfassung war bereits in der Struktur der Studie angelegt, die sich in konzentrischen Kreisen um den Körper des Auszubildenden anordnete:42 Ausgehend vom Körper am Arbeitsplatz (Körper und Gesundheit, Lohn, Untertagearbeit, Arbeit im Ausbildungszentrum) weitete Vanneuville seinen Blick auf die den Betrieb umgebende Lebenswelt: Das Verhältnis zur Autorität, zu den Kameraden, zu Frauen und zur Sexualität, der Umgang in der Familie, in der Freizeit und der Werthorizont der Jungarbeiter sollten vermessen werden. Die Studie stand deutlich im Kontext einer Biopolitik des Bergarbeiterkörpers, wobei es hier jedoch nicht um eine Vereindeutigung qua mechanischer Objektivität, sondern durch moralisch-holistisches Engagement ging.43 So verband 37 Ebd., S. 22. 38 Ebd. 39 Ebd., S. 24. 40 Ebd., S. 29. 41 HBNPC. Service de Formation Professionnelle: Étude du comportement du galibot, Dezember 1948, in: ANMT 2004 001 522. 42 Die Verwendung des Begriffs der „Totalerfassung“ unterscheidet sich von der Meskills. Er begreift diesen als ein quantitatives Totalitätsstreben nach vollständiger Kontrolle über den Arbeitsmarkt, während hier die qualitative Dimension im Mittelpunkt steht. Vgl. Meskill: Workforce, S. 1 und 5. 43 Lars Bluma: Der Körper des Bergmanns in der Industrialisierung. Biopolitik im Ruhrkohlenbergbau 1890 – 1980, in: ders./Uhl (Hg.): Arbeit, S. 35 – 72; ders.: Funktionen von Repräsentationen

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etwa der Bereich der Sexualität die Verfallsdiagnose mit dem Versuch der Totalerfassung: „Viele Jungen“ pflegten die „Masturbation“. Es handele sich dabei eher um „eine Gewohnheit, die aus dem gemeinschaftlichen Leben erwächst“, als um ein „physiologisches Bedürfnis“.44 Vanneuville habe auch Jungarbeiter getroffen, „die sich rühmen, Homosexualität zu praktizieren“. Es handele sich aber, so versuchte er den ordnenden Blick des lesenden Ausbildungsingenieurs zu beruhigen, nur um „Sonderfälle […], vor allem unter den ‚schwachen‘ Jungen, die alle äußere Degenerationserscheinungen aufweisen: Tuberkulose, die sich zwei Brüder zur selben Zeit eingefangen haben, Neurasthenie etc. …“ 45 Dementsprechend habe sich die Ausbildung daran zu orientieren, die Freizeit der Jugendlichen im Sinne der Betriebe zu beeinflussen. Es gehe darum, dem Jugendlichen eine „gesunde Auffassung ‚seines Körpers‘“ zu geben und gegen Alkoholismus und Tabakkonsum vorzugehen.46 Ausbildung war so keine Frage des Könnens, sondern zunächst eine Frage der richtigen Haltung, des Erkennens und der Körperbehandlung. Diese Totalerfassung verband sich mit einem kolonialen Blick und einer Vorstellung des Eigenen und des Fremden. So gab es für Vanneuville einen Unterschied ­zwischen dem „französischen und dem polnischen Jugendlichen“. Bei „dem Polen“ gebe es eine „noch stärkere Neigung zum Alkohol“.47 In dieser Beobachtungs­logik betonte auch Guy Hasson, der Leiter der CdF-Ausbildungsabteilung, in der Auswertung einer Umfrage unter den Ausbildungsingenieuren, dass neben der Quali­ fikation und der Persönlichkeit der Auszubildenden im Mittelpunkt stehe, „den Jugendlichen an sein Milieu anzupassen.“ 48 Diese Anpassung müsse neben der Leibesertüchtigung vor allem die „persönliche Hygiene des Auszubildenden unter Tage“, „die Ernährungshygiene“ und die „Sexualbildung“ einschließen.49 Diese Einfassung des Individuums, des Milieus und der Lebenswelt bezog sich nicht nur auf den räumlichen Nahbereich des Betriebs. Sie schloss ebenso den Fernbereich der Urlaubsgestaltung ein. So boten die CdF, wie bereits erwähnt, seit den späten 1940er und frühen 1950er Jahren Ferienlager für Auszubildende an, in denen sich die moralisch-holistische Ausbildungslogik der Einfassung und der Hierarchisierung exemplarisch zeigt. Die Lager waren nicht als Sozialleistung des Arbeiterkörpers. Objektivierende und idealisierende Darstellungen im industriellen Steinkohlebergbau, in: Knud Andresen u. a. (Hg.): Repräsentationen der Arbeit. Bilder – Erzählungen – Darstellungen (Politik- und Gesellschaftsgeschichte 104), Bonn 2018, S. 23 – 40. 4 4 HBNPC. Service de Formation Professionnelle: Étude, S. 16. 45 Ebd. 46 Ebd., S. 2. 47 Ebd. 48 Guy D. Hasson: Stage des ingénieurs de formation professionnelle, Marly-le-Roi (8 – 16 décembre 1954). Note importante, o. D. [1954], in: ANMT 2004 001 548, S. 4. 49 Ebd., S. 5.

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gedacht. Sie folgten einer Belohnungslogik: Ab dem Beginn jedes Ausbildungsjahrs fand ein Auswahlverfahren unter allen Auszubildenden statt, bei dem Arbeit und Verhalten über das ganze Jahr beobachtet und beurteilt wurden.50 Die ausgewählten Jugendlichen wurden zu Gruppen zusammengefasst, die einen Gruppenführer wählten. Die Gruppen wiederum mussten dann das Lager aufbauen und wurden während der gesamten Zeit ihres Aufenthalts hinsichtlich ihres Hygieneverhaltens, ihrer Führungseigenschaften und ihres Gemeinschaftssinns observiert.51 Das Ziel sei eine „gesunde Auffassung des Lebens in der freien Natur“, eine „kulturelle und moralische Bereicherung“, ein „Geschmack für die Hygiene“, „Gemeinschaftssinn“ und „Leistungswilligkeit“.52 In der Auseinandersetzung um die Ausrichtung der Lager betonte dementsprechend auch Jean Aurel, Direktor der Abbauabteilung bei den HBNPC, dass die Lager sich nicht an alle Auszubildenden (die „Masse“), sondern nur an „die Elite“ richten sollten.53 Die Logik der totalen Erfassung erstreckte sich über Zeltlager, Kinoclubs und Lesegruppen 54 in den Bereich der Freizeit, um so den Lebensalltag der Jugendlichen dem Anspruch nach vollständig zu bestimmen. Die dritte Funktion der Hierarchisierung und Ordnung der Sozialbeziehungen im Bergbau deutet sich hier ebenfalls an. Dieses Streben nach der Totalerfassung beschränkte sich allerdings nicht auf Frankreich, sondern trat – unter christlichen Vorzeichen – ebenfalls in der Bundes­ republik auf. Im Mai 1966 – andernorts hatten längst der ­Qualifizierungsimperativ und die Sorge um den „Strukturwandel“ Einzug gehalten – begab sich ein Berg­ berufsschullehrer der Zeche Sophia-Jacoba im rheinländischen Hückelhoven mit 18 Bergberufsschülern (Berglehrlinge und -jungarbeiter) auf Exkursion in das südlich gelegene Landschulheim Münstereifel.55 Da zwei Auszubildende während des Ausflugs die Ausbildung abgebrochen hatten, suchte der Lehrer diesen pädagogischen Misserfolg zu begründen. Gegenüber der Schulverwaltung, dem Bergbauunternehmen und der Bergbauverwaltung sinnierte er über „Sauberkeit“, „Ordnung“, „Pünktlichkeit“, „Gehorsam“ und das Unterrichtsverhalten seiner Schüler.56 Morgens und abends habe er „das Zähneputzen und das tägliche 50 Albert Leroy: Fichier central des camps. Camp fixe – Grandpré (Ardennes), 16. 11. 1953, in: ANMT 2004 001 543, S. 4. Vgl. auch die anderen Berichte in der Akte. 51 Vgl. die Beurteilungsbögen, in: ebd. 52 Leroy: Fichier, S. 4 – 5. 53 Jean Aurel: Rapport sur le fonctionnement de la Formation Professionnelle et Modifications proposées, Entwurf, 7. 6. 1950, in: ANMT 2004 001 514, S. 17. 54 Vanneuville: Rapport, S. 4 – 7. 55 Schabik: Erfahrungsbericht über den Aufenthalt im Landschulheim Münstereifel vom 2.5. – 17. 5. 1966, in: BBA 175/298. 56 Ebd., S. 2 – 3.

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­ einigen der Füße“ kontrolliert.57 Auch die Schlafkleidung entging dem wachR samen Pädagogen nicht. Es sei verbreitet gewesen, die „Schlafanzughose über der Straßenhose“ zu tragen.58 Hinter dieser minutiösen Kontrolle stand der Wille zur Gemeinschaft. Denn den Anlass zu seinem Bericht sah der Pädagoge darin, dass „das Einleben in die Gemeinschaft“ dem Großteil der Jugendlichen schwerfiel.59 Erst „[d]auerndes Mahnen“ habe Erfolg und den Jugendlichen die „Tischsitten, ein ‚Bitte‘ und ‚Danke‘ beim Reichen der Speisen, gerades Sitzen, das Essen mit Messer und Gabel und Serviette“ gebracht.60 Das Verdikt, das der Lehrer über seine Zöglinge fällte, war moralisch-holistischer Natur und verschmolz die Verfallsdiagnose mit dem Anspruch, das Verhalten der Jugendlichen in seiner Totalität zu formen. Vergangenheitspolitik verband sich unumwunden mit einem Misstrauen gegenüber dem bergbaulichen Milieu, das es zu korrigieren gelte: Die Jugendlichen wüssten nicht, „wo Königsberg liegt und ob Saarbrücken zu Frankreich oder Deutschland gehört.“ Diese Anzeichen deuteten darauf hin, dass der Bergberufsschüler der Nachkriegszeit „‚ichbezogen‘“ sei und „keine Gemeinschaft“ kenne. Die Auszubildenden s­ eien „erstaunt, Pflichten für die Gemeinschaft zu übernehmen“, „verwöhnt“ oder mit „Gleichgültigkeit“ gestraft. Dazu komme noch eine Unkenntnis der Hierarchien: „Sie erkennen einstimmig den Betriebsratsvorsitzenden als Werkschef an.“ 61 Angesichts solcher für die Schule dramatischen Fehleinschätzungen folgerte der Pädagoge, die beiden Abbrecher verkörperten die Ausbildungsprobleme in ihrer Allgemeinheit: Bei dem einen ließ sich im Landschulheim die „Anlage zum Nichteinordnen-Wollen in jegliche Gemeinschaft“ feststellen. Bei dem anderen sei der „negative[] Einfluß“ der Eltern schuld.62 Einen ähnlichen Geist atmeten die Lehrlingsheime, ebenso wie die Pestalozzidörfer, die in der Nachkriegszeit von 1948 bis 1956 nach Schweizer Vorbild errichtet wurden. Zu ihrer Hochzeit Mitte der 1950er Jahre boten rund 40 Dörfer Platz für ungefähr 4000 Jugendliche.63 In diesen Dörfern lebten Bergjungarbeiter und Berglehrlinge in einer Imitation dörflicher Strukturen zu sechst bei ebenfalls im 57 Ebd., S. 2. 58 Ebd. 59 Ebd., S. 1. 60 Ebd. 61 Ebd. 62 Ebd., Anschreiben. 63 Hans H. Hanke: Eigenheime – bewohnte Bollwerke der Demokratie. Schweizer Pestalozzi-Dörfer für Berglehrlinge und amerikanische MSA-Bergarbeitersiedlungen als Beispiele für die Neuordnung der westdeutschen Wohnkultur, in: Gabriele Clemens (Hg.): Kulturpolitik im besetzten Deutschland, 1945 – 1949 (Historische Mitteilungen der Ranke-Gesellschaft, Beiheft 10), Stuttgart 1994, S. 9 – 38, hier S. 18.

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Bergbau tätigen Pflegeltern.64 Neben der Einfassung durch den Betrieb erfuhren die Auszubildenden und jungen Arbeiter so eine vollständige moralisch-holistische Erfassung. Das Ziel der Unterbringung lag jenseits des Betriebs, in der Freizeit, dem Seelenleben. Das Hauptproblem der Ausbildung war wie in Frankreich keines der Qualifikation, der Bildung oder des Wissens, sondern eines der Moral. Eine Studie zu den Dörfern lobte Mitte der 1950er Jahre, dass sich dort die „Betreuung der Jugendlichen […] nicht nur auf ihr Leben innerhalb des Familienkreises“ erstrecke, sondern auch „außerhalb der Familie“ die Dorfgemeinschaft mit „Rat und Tat“ bereitstehe.65 Für die „körperliche Ertüchtigung“ gebe es den Jugendleiter, während sich der „Dorfleiter“ um die „seelische und geistige Betreuung“ kümmere.66 Der aus Duisburg-Hamborn stammende Verfasser warnte aber: In „geistiger und seelischer Hinsicht“ bedürfe es eines „besonderen Geschicks, um die Jugendseele so zu lenken und zu beraten, daß ihr dabei keine Gefahren erwachsen“.67 Die „psychologischen Probleme“ der Jugendlichen lägen „auf dem sexuellen Gebiet“ oder entsprängen „Familienverhältnissen“, die „als unmoralisch bzw. sittenwidrig“ zu bezeichnen ­seien.68 Um also ein Abgleiten auf die „Bahn der ­Sitten- und Morallosigkeit“ zu verhindern, müsse der Dorfleiter in stetem Kontakt zu den Jungen stehen, etwa bei Fragen, „die das geschlechtliche Gebiete berühren“. Ein erprobter und praktikabler Weg sei das Verwalten der Einkünfte der Jugendlichen, um sie zur „Sparsamkeit“ zu erziehen. Auch kämen sie über die Verteilung des Taschengelds in häufigen Kontakt mit dem Dorfleiter.69 Diese sowohl in Frankreich als auch in Deutschland intensive Beschäftigung mit der Sexualität, der Freizeit, dem Seelenleben und dem Verhalten des Auszubildenden, des Bergarbeiters und seiner Familie – die sich etwa auch in der Einrichtung von „Haushaltungsschulen“ für Bergarbeitertöchter im Saarland und in Nordfrankreich zeigte 70 – diente in beiden Fällen der Einordnung in die „Gemeinschaft“ und dem Schutz vor der unberechenbar erscheinenden Macht der „Masse“.71 6 4 Ebd.; Roseman: Recasting, S. 223 – 227. 65 Otto-Wilhelm Roelen: Die Bedeutung der Pestalozzidörfer für die Gewinnung eines bergbaulichen Nachwuchses, Diss., Köln 1956, S. 72. 66 Ebd. 67 Ebd., S. 73. 68 Ebd. 69 Ebd., S. 74. 70 Thomas: Saar, in: EGKS. Hohe Behörde (Hg.): Die Berufsausbildung im Steinkohlenbergbau der Länder der Gemeinschaft, Luxemburg 1956, S. 353 – 416, hier S. 364. Für Nordfrankreich vgl. Audrey Leleu: Domestiquer le budget ouvrier. Les patrons des mines d’Anzin et de Lens face aux enjeux de l’éducation féminine, in: Les Études Sociales 164 (2016), 2, S. 39 – 62. 71 Roelen: Bedeutung, S. 111 – 113.

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Hierarchisierung, Schulung, Führung

In dieser moralisch-holistischen Vorstellung war diese vergemeinschaftende Funktion aber nie neutral, sondern bedingte eine radikale und grundlegende Hierarchisierung. In Frankreich sorgte der Facharbeiterbrief für Bergarbeiter in den ersten Jahren nach seiner Einführung per Regierungsdekret innerhalb der Ausbildungsabteilungen der CdF und der HBNPC für ausgreifende Diskussionen. Im Mittelpunkt stand die Frage, ob die erheblichen Kosten, die das Bergbauunternehmen in Kauf nehmen musste, als dem Allgemeinwohl dienende Sozialleistung oder als ein dem Unternehmenszweck dienendes Mittel der Hierarchisierung verstanden werden sollten. Entsprechend der Bestehensquote bei der Facharbeiterprüfung für den CAP, die bei etwa 60 Prozent lag,72 betonte Aurel die Dreigliederung der Bevölkerung im Sinne der Gauß’schen Normalverteilung. Unter den Auszubildenden gebe es, „wie in jeder menschlichen Menge“, eine Unterteilung nach drei Kategorien von Menschen 73: „[e]ine Spitze (10 bis 15 %), eine Masse (70 bis 80 %), einen Rest (10 bis 15 %).“ Die Bergbauausbilder und die HBNPC ­seien sich angesichts dieser Aufteilung einig, „alle auszubilden“. Gleichzeitig würden aber alle Ausbilder anerkennen, dass, selbst bei verschiedenen Klassen in den Ausbildungszentren, die „Spitze“ stagniere, während der „Rest“ überfordert sei.74 Der moralische Verfall bedingte für die Ausbilder immer einen Leistungs- und Begabungsverfall. Man sei, so führte Aurel aus, gut beraten, die Auszubildenden nach „Kraft, Bildungsniveau und Intelligenz“ zu unterteilen. Allerdings herrsche eine „qualitative Insuffizienz des Nachwuchses“ 75: Wir finden Schwache, Analphabeten, geistig Zurückgebliebene, deren Ergebnisse am Ende der Ausbildung sich nach dem Verlassen des Ausbildungszentrums verflüchtigen und die eine Sonderpädagogik benötigen. Selbst die mittelmäßigen Schüler können als „oft psychologisch zurückgeblieben“ bezeichnet werden.76

Die letzte Gruppe, der „Rest“, ­seien die „Unfähigen, sei es, weil sie, aus Mangel an Fähigkeiten, keine normale Arbeit leisten, sei es, weil sie eine Gefahr für sich selbst und für die anderen darstellen“. Diese ­seien folglich „vor dem Ende der Ausbildung auszusondern.“ 77 7 2 Conus/Escudier: Formation, S. 1667. 73 Aurel: Rapport, S. 14. 74 Ebd. 75 Ders.: Rapport sur le fonctionnement de la formation professionnelle & modifications proposées, 17. 6. 1950, in: ANMT 2007 038 089, S. 2. Hervorhebung im Original. 76 Ebd. 77 Aurel: Rapport, S. 15.

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Konkret bedeuteten diese Hierarchisierungsvorschläge Aurels für die Ausbildung, dass die Ausbildungsverantwortlichen das gesetzliche Ausbildungsgebot zu umgehen und zu differenzieren versuchten, indem sie der Selektion durch die berufliche Abschlussprüfung bereits andere Ausschlussmechanismen vorschalteten. Die Unternehmensgruppe für Oignies etwa folgte der von Aurel vorgeschlagenen Differenzierung in Masse und Elite und unterteilte die Auszubildenden ab dem Alter von 16 Jahren in zwei Gruppen. Von 202 Schülern s­ eien 121 in die Gruppe A und 71 in die Gruppe B eingeteilt worden. Während die Gruppe A eine reguläre Ausbildung erhielt, beschränkte sich die Ausbildung der Gruppe B „stärker auf das Leben des Bergarbeiters“.78 Legitimation erhielt die Abgrenzung gerade durch die Betonung der formalen Durchlässigkeit: Jugendliche aus Gruppe B konnten auf Wunsch wieder in Gruppe A wechseln.79 Der Impuls der Unterteilung der Belegschaften nach angenommenen Fähigkeits- und Charakterniveaus war aber deutlich. Die Unternehmensleitung der HBNPC befürwortete die „vollständige Abschaffung der Ausbildung für den ‚Rest‘, der als ‚unfähig für jede Form der beruflichen Ausbildung‘“ eingestuft wurde. Das Vorgehen der Abbaugruppe von Oignies entsprach hingegen dem Versuch, „den Unterricht dem Niveau jeder Ausbildungsgruppe anzupassen.“ 80 Gestritten wurde also bereits um die Frage, w ­ elche Jugendlichen eigentlich als ausbildbar zu gelten hätten – der Fluchtpunkt der Ausbildung lag aber in der stabilen Ordnung der „Gemeinschaft“. Entsprach die Hierarchisierung am unteren Ende einer proportional gedachten Führungsordnung einer weitreichenden pädagogischen, psychologischen und medizinischen Pathologisierung, stand an der Spitze der Hierarchie der „Chef“. Diese Fokussierung auf die betriebliche Sozialfigur des „Chefs“ rührte auch daher, dass ein Großteil der Ingenieure der CdF und der HBNPC in den späten 1940er und frühen 1950er Jahren in Lausanne und in Évian in der Méthode Carrard ausgebildet wurde.81 Diese psychotechnische Methode des Direktors des Instituts für angewandte Psychologie in Lausanne, Alfred Carrard, ordnete sich in die Tradition der europäischen Arbeitswissenschaften ein, die sich gegen die als dominant wahrgenommene Tendenz der Zerlegung und Zergliederung von Tätigkeiten im Taylo­rismus und Fordismus richteten. Sie stellte dagegen die Person, ihren Charakter und den „ganzen Menschen“ in den Mittelpunkt und nutzte dazu sowohl 78 Paul Baseilhac: Organisation de la formation professionnelle. Schreiben an M. Nicolas, ­Ingénieur en Chef des Mines de l’Arrondissement Minéralogique de Lille, 27. 6. 1952, in: ANMT 2004 001 514, S. 3. 79 Ebd. 80 Ebd., S. 2 f. 81 Vgl. Guy D. Hasson: La formation professionnelle dans les houillères françaises en 1947, 23. 3. 1949, in: ANMT 2007 044 454.

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­charakterologisch-psychologische als auch psychotechnische Vereindeutigungspraktiken.82 Die entsprechenden Abhandlungen boten in der Hypostasierung der Person und des Chefs einen Ausweg aus dem wahrgenommenen Gegensatz von rationalistischer Zerlegung einerseits und sozialistischen Gleichheitsvorstellungen andererseits.83 Als naturalisierender Ordnungsentwurf stellte die Méthode ­Carrard auch für die CdF eine attraktive Möglichkeit dar. Dementsprechend betonte ein Nachruf der CdF auf Carrard die Dualität „natürlicher“ Hierarchisierung bei gleichzeitiger Notwendigkeit der ständigen Nutzbarmachung. Der „Chef“ müsse über eine „Intelligenz verfügen, die mindestens der der Männer entspricht, die er kommandieren soll“. Er benötige „eine natürliche Gabe für die Organisation, eine Intuition, um seine Untergebenen zu verstehen, eine natürliche Erhebung über sein Umfeld“.84 Der möglichst objektiven Auslese des Chefs über verschiedene Test­ verfahren sollte ein Carrard’scher Ausbildungskurs folgen. Diese Schulung legte Wert auf eine Emphase des Menschlichen, auf die „Persönlichkeit der Chefs“, um den leitenden Beschäftigten „die gesamte Verantwortung vor Augen zu führen, die sie gegenüber den wertvollen Menschen, die ihnen anvertraut sind, haben.“ 85 Dieser hier verfolgten moralisch-holistischen Eindringlichkeit, die Bestrebungen mechanischer Objektivität begleitete, entsprach ebenso der Umstand, dass die HBNPC in ihren psychotechnischen Eignungstests in der Nachkriegszeit auf das von ­Alfred Binet geprägte Konzept des „âge mental“, des Intelligenzalters, zurückgriffen, das die vermeintlich instrumentelle Vernunft von persönlichkeitszer­gliedernden Intelligenztests moralisch auflud.86 Dementsprechend diente auch die erwähnte und in Oignies praktizierte Untergliederung der Auszubildenden keinem Selbstzweck und nicht ausschließlich der Kostenreduktion, sondern der Heranbildung einer Elite, wie Paul Baseilhac, Generaldirektor der HBNPC, auf den Vorwurf der fehlenden gesetzlichen Konformität dieser Maßnahme entgegnete: Eine Ausbildung sollten zwar alle erhalten; die „Elite“ aber sollte rasch isoliert werden, um vertiefend auf ihre Tätigkeit als Vorgesetzte 82 Vgl. z. B. Philipp Sarasin: Die Rationalisierung des Körpers. Über „Scientific Management“ und „biologische Rationalisierung“, in: Michael Jeismann (Hg.): Obsessionen. Beherrschende Gedanken im wissenschaftlichen Zeitalter, Frankfurt a. M. 1995, S. 78 – 115. Zu Carrard vgl. Fabien ­Beltrame: Du ‚psychodiagnostic‘ de Carrard au ‚tenir conseil‘ de Lhotellier, in: L’orientation scolaire et professionnelle 38 (2009), 1, S. 1 – 19, hier S. 5 f. Für Westdeutschland vgl. Ruth Rosenberger: Experten für Humankapital. Die Entdeckung des Personalmanagements in der Bundesrepublik Deutschland (Ordnungssysteme 26), München 2008. 83 Alfred Carrard: Le chef. Sa formation et sa tâche, Paris 1945; ders.: La formation de la personne, Thalwil-Zürich 1944. Vgl. allgemein Cohen: Siècle. 84 Charbonnages de France: Alfred Carrard, 1889 – 1948, o. O. o. J. [ca. 1948], S. 12. 85 Ebd. 86 La Notion d’âge mental. Anonymer Aktenvermerk, o. D. [ca. 1950], in: ANMT 2004 001 522.

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vorbereitet zu werden.87 Ausbildung und Fähigkeit begründeten damit Führung, die auf der Abgrenzung von „Masse“ und „Elite“ beruhte. Diese in den lokalen Ausbildungszentren erprobten Auswahlverfahren erfuhren mit der Einführung der Classes de Complément d’Études (etwa: Zusatzausbildungskurse, CCE ) ab 1953 die Aufwertung zu einem Reformprojekt. Für 14-jährige Schulabgänger stellten die HBNPC vor der eigentlichen Ausbildung, die ab dem 16. Lebensjahr einsetzte, Unterrichtsräume und -personal bereit. Die Ausbildung im Bergbau sollte so für Jugendliche interessant gestaltet werden und zugleich verhindern, dass sie „durch die Straßen streunen“.88 Ihre wesentliche Funktion aber bestand in der Hierarchisierung entsprechend den Unternehmensbedürfnissen. Es gehe um die „Übung der praktischen Intelligenz“,89 die sich an alle Jugendliche richte: an die „am höchsten begabten Schüler, die ­später die Arbeiterelite bilden“,90 ebenso wie an den „Rest“. „Gewiss“, so führte der Autor der Denkschrift aus, „müssten die Zurückgebliebenen, die zu jeder beruflichen Anpassung unfähig sind und die eine Gefahr für den Beruf darstellen, […] ausgesondert werden“.91 Die „weniger Begabten“ sollten sich dennoch nicht als „‚zur Abbauarbeit verdammte Sklaven‘“ betrachten.92 Durch die Vermittlung von Berufsstolz sollten sie an den Platz in der Hierarchie des Bergbauunternehmens gebracht werden, der ihrem Begabungsniveau entspreche. Von der Warte holistischer Gemeinschaftsvorstellungen aus handelte es sich dabei um den gerechten, den „natürlichen“ Ort in einer überzeitlichen Ordnung. Berufsausbildung diente in dieser Logik vornehmlich der Stabilisierung betrieblicher Hierarchien und Sozialbeziehungen. Wie im deutschen Fall auch, handelte es sich weniger um eine „nachholende[] Modernisierung“, in der der „Grubenmilitarismus“ in der Nachkriegszeit durch „modernere“ Personalverwaltungstechniken abgelöst wurde.93 Grubenmilitarismus und moralischer Holismus verhielten sich komplementär zueinander. 87 Paul Baseilhac: Organisation de la formation professionnelle. Schreiben an M. Nicolas, ­Ingénieur en Chef des Mines de l’Arrondissement Minéralogique de Lille, 24. 5. 1952, ANMT 2004 001 514, S. 3. 88 HBNPC: Création de classes primaires de Scolarité prolongée préparatoires aux Centres de Formation Professionnelle des Houillères du Bassin du Nord & du Pas-de-Calais, o. D. [ca. 1953], in: ANMT 2004 001 545, S. 3. 89 Ebd., S. 4. 90 Ebd. 91 Ebd., S. 5. 92 Ebd. 93 Helmuth Trischler: Partielle Modernisierung. Die betrieblichen Sozialbeziehungen im Ruhrbergbau ­zwischen Grubenmilitarismus und Human Relations, in: Matthias Frese/Michael Prinz (Hg.): Politische Zäsuren und gesellschaftlicher Wandel im 20. Jahrhundert. Regionale und

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Ähnliche Sorgen wie in Frankreich beschäftigten auch die westdeutschen Ausbildungsverantwortlichen des Bergbaus. Nachdem die ersten Nachkriegsjahre überstanden waren, beklagte beispielsweise der Bergschuldirektor Franz Leyendecker, der in den 1920er Jahren Mitarbeiter Karl Arnholds am DINTA gewesen war (oder dies von sich behauptete),94 gegenüber seinen Kollegen die Verfallserscheinungen des Bergbaunachwuchses. Arbeiter und Nachwuchskräfte mit Kriegserfahrung hätten ihren Berufsaufstieg noch „mit Energie“ verfolgt und der Bergschule dadurch eine „gute Qualitätsauswahl“ ermöglicht. Nun, durch das Aufrücken jüngerer Jahrgänge, sei der „Höhepunkt“ der Nachwuchsauswahl überschritten.95 Selbst unter den Abiturienten, die sich auf den westdeutschen Zechenanlagen finden ließen, s­ eien häufig Individuen mit „wenig praktischer Veranlagung“ sowie „wenig Energie“.96 Das Problem sei, dass die einzelnen Zechengesellschaften, wenn sie Arbeiter für die Bergschule, etwa angehende Steiger, meldeten, zwar Eignungsprüfungen nach Jakob van den Wyenbergh einsetzten, Beurteilungen aber weiterhin unsystematisch blieben.97 Damit regte Leyendecker die Gründung einer „psychotechnischen Begutachtungsstelle“ des westdeutschen Steinkohlenbergbaus an.98 Obwohl auf diesen Vorstoß keine weiterführenden Bemühungen folgten, verdeutlicht er die Wahrnehmung der „Begabtenauslese“ in der schwerindustriellen Berufsausbildung der 1950er Jahre. Es ging zwar um Begabung und deren Beurteilung, beide waren aber unhintergehbar verwoben mit Problemen der „Menschenführung“ und der betrieblichen Sozialordnung. Vor d ­ iesem Hintergrund wandte sich auch der evangelische Theologe, ehemalige Deutsche Christ und Gründer des Christlichen Jugenddorfwerks (CJD) Arnold Dannenmann an den Ausbildungsausschuss des Unternehmensverbands Ruhrbergbau (UVR). In seiner Sorge um die westliche Gesellschaftsordnung schlug der Pfarrer vor, begabte Auszubildende

v­ ergleichende Perspektiven (Forschungen zur Regionalgeschichte 18), Paderborn 1996, S. 145 – 171, hier S. 168 – 170. 94 So Leyendecker in seinen Memoiren. Vgl. Franz Leyendecker: Bewusst gelebt. Lebenserinnerungen von Franz Leyendecker, niedergeschrieben 1978 bis 1982, in: montan.dok/BBA 120/2208, S. 175 – 178. 95 Franz Leyendecker: Probleme der Bergschulausbildung. Referat von Bergschuldirektor Dipl.Ing. Leyendecker, gehalten in der Vorstandssitzung der Westfälischen Berggewerkschaftskasse am 23. 8. 1955, in: ebd. BBA 120/868, S. 5 f. 96 Ebd., S. 9. 97 Wyenbergh war seit der Zwischenkriegszeit Leiter des Berufsamtes der Stadt Köln und an der Insti­tutionalisierung der bergbaulichen Berufsausbildung beteiligt. Vgl. Jakob van den ­Wyenbergh: Zur Psychologie des Jugendlichen im Lehrlingsalter unter Berücksichtigung des bergbaulichen Nachwuchsproblems, in: Glückauf 76 (1940), S. 433 – 440. 98 Leyendecker: Probleme, S. 13.

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zu fördern.99 In den Berglehrlingsheimen finde sich eine „hohe Zahl geistig aufgeschlossener junger Menschen“, die sich für den Bergbau aufopfern würden.100 Diese jungen Menschen mit ihrer „ungewöhnlichen Begabung“ und „stark ausgeprägte[n] Willenskraft“ solle der Bergbau der Gesellschaft zurückgeben.101 Ihm schwebte vor, dass die ausgewählten Jugendlichen weiter in den Heimen leben sollten. Zusätzlich sollten sie von „wahren Christen“ auf ein Studium ihrer Wahl – nicht notwendig des Bergfachs – vorbereitet werden, indem sie ihre „Wesensform“ sowie ihre „Kräfte und Begabungen“ entfalteten.102 Nach einer ausführlichen Diskussion beschloss der UVR-Ausschuss, ein eigenes Modellheim zu bauen, in dem Knappen, „die tüchtig sind in ihrem Beruf, die sich charakterlich bewähren, und deren geistiges Leistungsvermögen erheblich über dem Durchschnitt liegt“, gefördert werden sollten.103 Wie in Frankreich ging es in Westdeutschland – unter christlichen Vorzeichen – um die gesellschaftliche, betriebliche und soziale Stabilisierung der Gesellschaft durch das Aufspüren „echter“ individueller Begabung. Objekt des Interesses war der Ausnahmearbeiter, der „Chef“. Diese kurze Vorgeschichte der Wissenspolitik zeigt, dass sie ihre Vorläufer unter moralisch-holistischen Vorzeichen zwar in der Vorkriegszeit fand, aber sowohl in Frankreich wie auch in Deutschland der Nationalsozialismus und das VichyRegime als Katalysatoren wirkten. Gleichzeitig stellen weder das Kriegsende in Europa noch die Entflechtung beziehungsweise die Verstaatlichung des Bergbaus in Deutschland und Frankreich einen Bruch dar. Die moralisch-holistische Logik dominierte beide Ausbildungsbereiche unter den drei Perspektiven des mora­lischen Verfalls, der totalen Erfassung und der Hierarchisierung bis in die 1950er Jahre. Gleichzeitig bereitete sie den Grund für die Entstehung und das Ausgreifen des Qualifizierungsimperativs in dem Moment, in dem Berufsausbildung und Struktur­ wandeldiskurs aufeinandertrafen.

99 Arnold Dannemann: Vorschlag zur Förderung besonders befähigter Knappen. Hier: Vorbereitung auf die Reifeprüfung. Anlage zu Punkt 3) der Niederschrift über die Sitzung des Arbeitseinsatzund Ausbildungsausschusses vom 19. 4. 1955 des UVR, 15. 6. 1955, in: montan.dok/BBA 120/4167. 100 Ebd., S. 1. 101 Ebd., S. 2. 102 Ebd., S. 5. 103 Karl-August Ullrich: Niederschrift über die Sitzung des Arbeitseinsatz- und Ausbildungsauschusses am 19. April 1955, 15.30 Uhr, in Essen-Bredeney, Stocksiepen, 15. 6. 1955, in: ebd., S. 2.

Teil I: Von der Eingliederung zur Anpassung

3 Zechenschließungen und die Entdeckung der Anpassungsfähigkeit in Nordfrankreich, in Luxemburg und im Ruhrgebiet, 1953 – 1966/67

3.1 Von Fluktuation und Stabilität zu Mobilität und Immobilität Dass berufliche Bildung – sei es Ausbildung, Fortbildung oder Umschulung – ein Instrument der politischen Steuerung und der Bewältigung gesellschaftlicher und ökonomischer Krisen darstellt, ist eine junge Vorstellung. In der Weimarer Republik und der Nachkriegszeit etwa spielte die Weiterbildung in der Arbeitsmarktpolitik und der Sozialfürsorge besonders in der Rehabilitation Kriegsversehrter eine Rolle.1 Nach der Weltwirtschaftskrise 1929 gab es darüber hinaus erste Umschulungen in neue Berufe. Gleichzeitig fehlen jedoch Anzeichen dafür, dass Ausbildung systematisch dazu dienen sollte, den Menschen an sich für eine Arbeit der Zukunft zu befähigen.2 So forderte eine Denkschrift der Bergarbeitergewerkschaft von 1925 vehement die „Umstellung des Ruhrbergbaues“ auf rationaler und wissenschaftlicher Grundlage. Für die Bergarbeiter verlangte der Verband jedoch lapidar, die „Ueberführung der durch Stillegungen und Einschränkung freiwerdenden Arbeitskräfte in andere Berufe und Wirtschaftsgebiete“. Als entsprechendes Mittel führte der Verband die „Schaffung neuer Verkehrswege“ auf.3 Umstellung wurde zunächst als Infrastrukturaufgabe begriffen. Auch die Überlegungen zu einer Psychologie der Umstellung, die sich Mitte der 1920er Jahre in Würzburg um den Psychologen Karl Marbe entwickelten, beschränkten sich auf den Wechsel z­ wischen manuellen Tätigkeiten. Nichtsdestotrotz war die Problematisierung, die sich unter dem Schlagwort der Umstellung entwickelte, vergleichbar. Axel Franzen versuchte 1925 etwa über Tests, in denen Schrauben alternierend nach verschiedenen Kriterien sortiert werden oder monotone Finger- und Handbewegungen sich abwechseln sollten, die „Umstellbarkeit“ von Individuen zu messen. Darunter verstand er die „Fähigkeit,

1 Vgl. Karin Büchter: Weiterbildung für den Arbeitsmarkt und im Betrieb 1919 – 1933. Hintergründe, Kontexte, Formen und Funktionen, Hamburg 2010, S. 138 – 201; zur Umschulung S. 159 – 163. 2 Vgl. als Beispiel die Umschulung zur Sesshaftmachung wandernder Erwerbsloser für die Arbeit in der Landwirtschaft in den 1920er Jahren: Jan Andreas Kaufhold: Migration und Weltwirtschaftskrise. Wanderungen im Deutschen Reich in den späten 1920er und frühen 1930er Jahren (Studien zur Historischen Migrationsforschung 35), Paderborn 2019, S. 324 – 326. 3 Verband der Bergarbeiter Deutschlands: Denkschrift zur Umstellung des Ruhrbergbaues, Bochum 1925, S. 13. Hervorhebung im Original.

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sich umzustellen“, die „bei einzelnen Individuen verschieden stark ausgeprägt“ sei.4 „Umstellbarkeit“ sei aber keineswegs ausschließlich positiv. Sie könne auch etwas „Krankhaftes oder Abnormes“ sein, etwa bei Menschen, die ein „Doppelleben führen“.5 Der vom Staat aus gedachte Begriff der Umstellung (zum Beispiel von der Kriegs- auf die Friedensproduktion) fand so Mitte der 1920er Jahre sein vom Individuum aus gedachtes Pendant. Im Vergleich zur Nachkriegszeit dominierten in dieser Umstellungspsychologie zwei Merkmale: Zum einen galt es, ein rechtes Maß an „Umstellbarkeit“ herzustellen. Zum anderen handelte es sich um Umstellungen innerhalb einer Tätigkeit, eines Berufs oder eines Betriebs – nicht darüber hinaus: Eine moralisch-holistische Ordnung wurde nicht hinterfragt, die Grundlage dafür allerdings gelegt. Für die Zeit ab den 1950er Jahren lassen sich drei zentrale Merkmale dessen, was im Folgenden als Qualifizierungsimperativ beschrieben werden soll, bestimmen, die moralisch-holistische Eingliederungsvorstellungen zunehmend als aus der Zeit gefallen erscheinen ließen: Erstens bildete sich in den 1950er Jahren die Vorstellung heraus, dass Qualifikation dazu dienen müsse, ökonomischen Wandel zu bewältigen. Dadurch verschob sich das Verhältnis von Arbeit und Qualifikation: In der Tradition der Psychotechnik der Weimarer Republik diente Qualifikation – ihre Feststellung, Vermessung und Steigerung – noch, einem Symmetrieprinzip folgend, der stabilitätsorientierten Herstellung einer Passgenauigkeit ­zwischen den „Dispositionen des Individuums“ und den „Anforderungen des Arbeitsplatzes“.6 Dazu gehörte auch die Anpassung des Arbeitsplatzes an den Körper des Individuums.7 Selbst die Forderung nach Anpassungsfähigkeit, die durchaus auftrat, bewegte sich im Horizont einer zu stabilisierenden Gesellschaftsordnung. Diese Zuordnungslogik änderte sich in den 1950er Jahren: Die Arbeit der Zukunft und die Charakteristika zukünftiger Arbeitsplätze verschwammen durch die „strukturellen Wandlungen“. Es schien nicht einmal deutlich, w ­ elche Branchen, Arbeitsplätze und Berufe überhaupt noch existieren würden. Durch diesen Verlust an Eindeutigkeit setzte sich die Vorstellung durch, dass dem über eine Höherqualifizierung der Individuen für noch unbekannte Arbeitsplätze entgegengewirkt werden müsse.

4 Axel Franzen: Zur Psychologie der Umstellung, Diss., Würzburg 1925, S. 12. 5 Ebd., S. 14. 6 Katja Patzel-Mattern: „Dispositionen des Individuums“ im Produktionsprozess. Die industrielle Psychotechnik in der Weimarer Republik ­zwischen Selbstbehauptung, Unternehmenserwartungen und Arbeiterinteressen, in: Maik Tändler/Uffa Jensen (Hg.): Das Selbst ­zwischen Anpassung und Befreiung. Psychowissen und Politik im 20. Jahrhundert (Veröffentlichungen des Zeitgeschichtlichen Arbeitskreises Niedersachsen 27), Göttingen 2012, S. 60 – 82; Bachem: Geschichte. 7 Kevin Liggieri: „Sinnfälligkeit der Bewegung“. Zur objektpsychotechnischen Anpassung der Arbeitsgeräte an den Menschen, in: Technikgeschichte 84 (2017), S. 29 – 61.

Von Fluktuation und Stabilität zu Mobilität und Immobilität

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Der Wille zur Umstellung wurde dementsprechend zum Ansatzpunkt des Krisenund Präventionshandelns. Die Unklarheit der Arbeit der Zukunft bedingte zweitens, dass über den Begriff der Mobilität das arbeitende Individuum neu gedacht wurde: Zum einen trat die Selbstverantwortung der Arbeitenden, Anpassungsfähigkeit zu beweisen und einer „dividuellen“ Steigerungslogik zu folgen,8 in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Zum anderen wurde damit der Zusammenhang von Bildbarkeit und Arbeit problematisierbar. Die Steigerungs- und Optimierungslogik setzte voraus, dass über die „geistige Mobilität“ des Individuums gesprochen und diese untersucht werden konnte. Die verschiedenen Aspekte des Mobilitätsbegriffs verdichteten sich in der Figur des Bergarbeiters. Drittens stand der Qualifizierungsimperativ in enger Beziehung zur in den 1960er und 1970er Jahren verbreiteten Hoffnung auf eine Rationalisierung der beruflichen Ausbildung. Reformen wie die Stufenausbildung, die Nutzung von Lernmaschinen und die programmierte Unterweisung konzentrierten sich auf die S­ chwerindus­trie. Diese Praktiken versprachen, Menschen zu befähigen, der scheinbar rasanten Beschleunigung des ökonomischen Wandels zu folgen. Ihr Ideal bestand in einer anpassenden Wissenspolitik, die zum einen anstrebte, den Willen zur Umstellung bis zu einem Maximum zu steigern. Zum anderen sollte diese Anpassung nicht mehr konkreten Arbeitsplätzen oder Berufen entsprechen, sondern der Arbeit der Zukunft. Diese Zukunft jedoch zeichnete sich nur noch durch die Anforderung von mehr oder weniger Anpassungsfähigkeit aus. Vom moralischen Holismus zur Erfindung der Mobilität

Der „Strukturwandel“ begann nicht 1958 und auch nicht im westdeutschen Ruhrgebiet.9 Gleichfalls scheinen Überlegungen, die „Deindustrialisierung“ und „Strukturwandel“ als eine Konstante kapitalistischen Wirtschaftens seit dem Spätmittelalter betrachten, für die vorliegende Arbeit wegen des ihnen zugrunde liegenden ökonomischen Determinismus unbefriedigend:10 Natürlich lässt sich ab dem Auftreten einer Protoindustrialisierung auch von (regionalen) Prozessen der 8 Deleuze: Postskriptum. 9 Vgl. bspw. Christoph Nonn: Die Ruhrbergbaukrise. Entindustrialisierung und Politik 1958 – 1969 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 149), Göttingen 2001; Werner Abelshauser: Der Ruhrkohlenbergbau seit 1945. Wiederaufbau, Krise, Anpassung, München 1984, S. 87 – 117; die magische (und germanozentrische) Jahreszahl 1958 nennt auch Franz-Josef Brüggemeier: Gruben­ gold. Das Zeitalter der Kohle von 1750 bis heute, München 2018, S. 14. Für das Jahr 1959 plädiert aus europäischer Perspektive Verschueren: Mines, S. 23 und S. 171 f. 10 Vgl. Christopher H. Johnson: Introduction: De-industrialization and Globalization, in: International Review of Social History 47 (2002), S10, S. 3 – 33; Michel Hau: Introduction, in: J­ ean-Claude

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Zechenschließungen und die Entdeckung der Anpassungsfähigkeit

­Deindustrialisierung ausgehen. Gleichwohl übersieht diese Herangehensweise gesellschaftliche Deutungsstrukturen und Kategoriensysteme wie das der Wissenspolitik. Auch wenn also die ideengeschichtliche Rahmung eines wirtschaftlichen „Strukturwandels“ auf das Großbritannien der 1930er Jahre zurückgeht oder das Konzept der „De-“ oder „Entindustrialisierung“ auf (NS-)Raumordnungspolitiken der ersten Jahrhunderthälfte verweist,11 begann der Strukturwandel, begriffen als Wissenspolitik, zu einem anderen Zeitpunkt und an einem anderen Ort. Der Strukturwandel begann 1953 in Südfrankreich, in den Cevennen, in Aquitanien und in der Provence. Zu d ­ iesem Zeitpunkt geriet die südfranzösische Unternehmensgruppe des staatlichen Kohlebergbauunternehmens CdF, bedingt durch Produktivitätssteigerungen, die Einführung des gemeinsamen Marktes und die Konkurrenz durch das Erdöl, in wirtschaftliche Schwierigkeiten und sah sich gezwungen, unrentable Zechen stillzulegen.12 Um eine zu hohe Arbeits­losigkeit sowohl „ausländischer“ als auch französischer Arbeitskräfte zu vermeiden, beschlossen die CdF – zunächst über Zwangsmaßnahmen, dann über finanzielle Anreize durch die EGKS  – die Umsiedlung von rund 5000 Bergarbeitern in die Reviere im Nordosten Frankreichs, nach Lothringen.13 Im Dezember 1953 fanden die Bergarbeiter in Alès im Département Gard bei Schichtbeginn eine Namensliste mit 125 Namen – vornehmlich von nordafrikanischen und ledigen Arbeitern – vor. Diese Arbeiter waren dazu ausersehen, einige Tage s­ päter ihre Arbeit in Lothringen aufzunehmen. 116 von ihnen fanden sich zur Abreise ein, die restlichen neun, die sich weigerten, wurden entlassen.14 Diese Bevölkerungs- und Arbeitskräfteverschiebung, mit der erstmals die sozialpolitischen Regularien der EGKS wirksam wurden,15 zog eine intensive geografische, psychologische und soziologische Auseinandersetzung um die Gründe für ihr – zeitnah ­erfolgtes – Scheitern nach

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Daumas/Ivan Kharaba/Philippe Mioche (Hg.): La désindustrialisation. Une fatalité? (Les cahiers de la MSHE Ledoux 29), Besançon 2017, S. 7 – 15, hier S. 8. Darauf verweist Johnson: Introduction, S. 7, ohne aber Nachweise beizubringen. Zum Kontext vgl. Diana Cooper-Richet: Le peuple de la nuit. Mines et mineurs en France (XIXe-XXIe siècle), Paris 201, S. 439 – 443; als Quelle: Alain Girard/Pierre Meutey: Développement économique et mobilité des travailleurs. L’individu, la profession, la région, Paris 1956, S. 43 – 69 zu Südfrankreich. Vgl. als deutschsprachigen Exkurs zu Südfrankreich Jens Dither von Bandemer/August Peter Ilgen: Probleme des Steinkohlenbergbaus. Die Arbeiter- und Förderverlagerung in den Revieren der Borinage und Ruhr (Veröffentlichungen der List-Gesellschaft e. V., Reihe A: Studien des ListInstituts 30), Basel u. a. 1963, S. 67 f.; ebenso: Hans Joachim Harloff: Der Einfluss psychischer Faktoren auf die Mobilität der Arbeit (Wirtschaftswissenschaftliche Abhandlungen 27), Berlin 1970, S. 36 f. Girard/Meutey: Développement, S. 44. Vgl. Rainer Fattmann: Von der Idee zur Praxis – Europapolitische Vorstellungen der Gewerkschaften und gewerkschaftliche Europapolitik in der Frühphase des europäischen ­Einigungsprozesses,

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sich. Unter Parolen wie „Wir wollen keine Deportierten des Schumanplans sein“ und „Die Nomaden des Bergbaus“ hatte sich vor allem die französische Gewerkschaft Confédération Générale du Travail (CGT ) mit Streiks gegen die Umsetzungen gestemmt, wofür sie sich sowohl der Kriegserinnerung als auch des Ideals der Sesshaftigkeit bediente.16 Das Problem, das fortan im Raum stand und um das sich die Experten stritten, war die wahre „Kenntnis des Milieus“, das „schwer messbare […] menschliche Element“. Diese Unbekannte in der ­Umstellungsgleichung galt es beherrschbar zu machen.17 Zu dem Schlüsselbegriff dieser zunächst französischsprachigen Debatte avancierte der Begriff der Mobilität. Der junge, aus Rumänien stammende Soziologe und Psychologe Serge Moscovici nahm in dieser Auseinandersetzung eine für die französische Industriesoziologie entscheidende Stellung ein.18 Anhand bisheriger Forschungsergebnisse und eigener Erhebungen bei Arbeitern der Haute Vallée de l’Aude an der französisch-spanischen Grenze richtete sich Moscovici gegen ein in seinen Augen vorherrschendes, trügerisches Verständnis von Mobilität: Er räumte ein, mit der zeitgenössischen Beurteilung übereinzustimmen, dass in einer Gesellschaft, die „sich in einem beschleunigten Rhythmus wandelt, die Mobilität der Arbeiter theoretisch als ein sozialer und ökonomischer Imperativ“ erscheine.19 Die Mobilität sei allerdings keine „spezifische Mentalität“ des französischen Arbeiters oder des „südländischen Temperaments“,20 sondern durch externe Bedingungen vorgegeben. Der „Mythos der Mobilität“ sei vielmehr eine

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in: Willy Buschak (Hg.): Solidarität im Wandel der Zeiten. 150 Jahre Gewerkschaften, Essen 2016, S. 373 – 396, hier S. 393. EGKS: Hindernisse für die Beweglichkeit der Arbeitskräfte und soziale Probleme der Anpassung, o. O. [Luxemburg] 1956, S. 50. Alain Girard: Le climat psychologique dans la région touchée par une opération de reconversion, in: EGKS. Hohe Behörde (Hg.): Le financement des investissements et les aspects sociaux de la reconversion (Collection d’économie et politique régionale: La conversion industrielle en Europe 3), Luxemburg 1963, S. 221 – 230, hier S. 225 und 221. Dazu gehörte auch die Studie EGKS: Hindernisse, die – zurückgehend auf den französischen Fall – mehrere nationale Untersuchungen zusammenfasste. Vgl. zur französischen Arbeitssoziologie der Nachkriegszeit Michael Rose: Servants of Post-Industrial Power? Sociologie du Travail in Modern France, London u. a. 1979. Zu diesen und ähnlichen industriesoziologischen Studien, etwa von Alain Touraine, die den Bergarbeiter als „Paria des neuen professionellen und vielseitigen Technikers“, als „Antithese der ‚neuen Arbeiterklasse‘“, entdeckten, vgl. Marion Fontaine: Fin d’un monde ouvrier. Liévin, 1974 (Cas de figure 36), Paris 2014, S. 52 – 61, Zit. S. 52 und 58. Serge Moscovici: La résistance à la mobilité géographique dans les expériences de reconversion, in: Sociologie du Travail 1 (1959), S. 24 – 36, hier S. 24. Ebd. Das „tempérament méridional“ führten Girard/Meutey: Développement, S. 53 als „psychosoziale Entität“ an, die Mobilität verhindere.

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Fiktion, der die ­Verwaltungselite anhänge, der „Mangel an Mobilität“ ein Vorur­ teil gegenüber den Arbeitern.21 Moscovici ging also davon aus, dass Mobilität nicht objektiv gegeben und eine dementsprechend messbare Eigenschaft sei. Er betonte dagegen, dass vor allem situa­ tive Faktoren – die Einbindung in soziale Gruppen, die Mobilitätserfahrung, die Stabilität der Arbeitsstelle, das Bildungsniveau und der Aufstiegswunsch – Mobilität bestimmen würden.22 Dabei bemerkte er auch, dass Facharbeiter, die „für das Unternehmen wichtigsten und deren Aufbruch man am wenigsten wünscht“,23 am mobilsten s­ eien. Moscovici folgerte aus dieser Milieubeobachtung, dass Mobilität nicht als Charaktereigenschaft, sondern als steuerbares Verhalten begriffen werden müsse. Steuerung dürfe aber nicht über Zwang erfolgen, sondern nur durch Motivation und Mobilisierung des Individuums. Diese Perspektive eröffnete einen breiten Raum für Fragen der Steigerbarkeit und der Vermessung von sowie des Umgangs mit Mobilität. Man müsse, so Moscovici, dem „Faktor Mensch“ 24 mehr Aufmerksamkeit schenken; er sei nicht als „‚Hindernis‘“, sondern als „Motor“ des Wandels zu begreifen.25 Das bedeutete für ihn, Mobilität als gesellschaftliche Aufgabe zu begreifen. Als ein Mittel, um Mobilität zu steigern, verstand er berufliche Bildung und die Schaffung von Aufstiegschancen.26 Auch wenn sich die Rolle, die der beruflichen Qualifikation in den folgenden Jahren zukommen sollte, nur andeutete, markierte die Arbeit Moscovicis eine doppelte Zäsur: Arbeit, Umstellung und die Regulierung der Arbeitskraft wurden fortan im Paradigma der Mobilität verstanden. Es überlagerte und verdrängte den moralischen Holismus. Zunächst überführte Moscovici mit seinen Überlegungen den individuellen und gesellschaftlichen Umgang mit dem scheinbar omnipräsenten „Strukturwandel“ industrieller Arbeit in den Modus der Anlage-Umwelt-Debatte. Diese „diskursive Ressource“ kann dabei „als ein Medium der Popularisierung komplexer wissenschaftlicher Positionen“ begriffen werden, das „zugleich auf die wissenschaftlichen Auseinandersetzungen“ zurückwirkte.27 Wissenschaftliche Ergebnisse in diese Schablone zu pressen diente einem strategischen Kalkül. Die Auseinander­setzung um den Begriff der Mobilität nahm dabei eine Schlüsselposition ein, die frühere, bevölkerungspolitisch inspirierte Entwürfe aufnahm und mit dem ­Wandel der

21 Ebd., S. 25 f. 22 Ebd., S. 26 – 30. 23 Ebd., S. 30. 24 Ebd., S. 36. 25 Ebd. 26 Ebd., S. 31. 27 Constantin Goschler/Till Kössler: Ungleichheit ­zwischen Biologie und Gesellschaft seit 1945. Einleitung, in: dies. (Hg.): Vererbung, S. 7 – 22, hier S.17.

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Arbeit verband. Als ein Analyseinstrument der Stadtsoziologie der Chicago School of Sociology der 1920er Jahre avancierte Mobilität durch die Arbeiten ­Pitirim A. Sorokins zu einem Hauptbegriff soziologischer Untersuchungen, der in der Soziologiegeschichtsschreibung wenig Aufmerksamkeit erfahren und bis in die Gegenwart eine hohe Attraktivität bewahrt hat.28 Die Unterscheidungen, die Sorokin ­zwischen „dem sozialen und dem geometrischem Raum“ 29 sowie z­ wischen einer vertikalhierarchisierten und einer horizontal-gruppenbezogenen Dimension des sozialen Raums traf,30 erwiesen sich schon in seinen Arbeiten als hochgradig anschluss­ fähig für Fragen des biologischen oder sozialen Determinismus. Die Stellung, die Individuen in ­diesem gesellschaftlichen Koordinatensystem einnehmen, und ihr jeweiliges Verhalten gegenüber d ­ iesem System wurden dadurch erklärungsbedürftig. In den Augen Sorokins waren es die „körperlichen und mentalen Unterschiede ­zwischen den oberen und den unteren Klassen“,31 die die Anordnung von Individuen bestimmten. Diese Unterschiede lägen darin begründet, dass „die oberen Klassen sich aus Menschen mit höherer Intelligenz zusammensetzen würden als die unteren“.32 Hierbei ist weniger relevant, ob sich Sorokin und s­ päter Moscovici eher einer Anlage- oder eher einer Umweltposition zuordnen lassen. Die entscheidende Verschiebung lag im Feld der Arbeit selbst – und in der wissenspolitischen Dimension dieser neuen Vereindeutigungsform: Die sich bei Moscovici abzeichnende wichtige Rolle, die der Begriff der Mobilität in den Debatten um den „Strukturwandel“ westlicher Gesellschaften spielen sollte, eröffnete einen Weg neben Begriffen wie „Gesellschaft“, „Gemeinschaft“ oder „Ordnung“.33 Neben die gesellschaftlichen Ordnungsvorstellungen moralisch-holistischer Provenienz trat eine Frage nach der Anthropologie des „Strukturwandels“ und seiner Subjekte. Bevor die üblicherweise als Politikfelder der „Deindustrialisierung“ angeführten Maßnahmenkataloge wie Raumplanung oder Industrieansiedlungen auftraten, wurde – wie 28 Bei Nolte: Ordnung spielt der Begriff der Mobilität nur eine Nebenrolle. Zu Letzterem siehe bspw. jüngst Raphael Emanuel Dorn: Alle in Bewegung. Räumliche Mobilität in der Bundesrepublik Deutschland 1980 – 2010, Göttingen 2018. Die Sozialwissenschaften sind mittlerweile sensibler. Vgl. Irene Götz u. a.: Mobilitäten in gegenwärtigen Arbeitsgesellschaften. Eine Einführung, in: dies. (Hg.): Mobilität und Mobilisierung. Arbeit im sozioökonomischen, politischen und kulturellen Wandel (Arbeit und Alltag 1), Frankfurt a. M. 2010, S. 9 – 26. 29 Pitirim A. Sorokin: Social and Cultural Mobility [1927], Illinois 1959, S. 4. 30 Ebd., S. 7 – 9. 31 Ebd., S. 317. 32 Ebd., S. 311. 33 Nicht ohne Grund enden die Studien zu gesellschaftlichen Ordnungsentwürfen meist in den 1960er Jahren. Vgl. bspw. David Kuchenbuch: Geordnete Gemeinschaft. Architekten als Sozialingenieure – Deutschland und Schweden im 20. Jahrhundert, Bielefeld 2010; Luks: Betrieb.

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in Moscovicis Fall – das von Zechenschließungen betroffene Individuum selbst befragbar und untersuchungswürdig. Politische Handlungsimperative ließen sich dabei sowohl aus voluntaristischen als auch aus deterministischen Anthropologien ableiten.34 Darüber hinaus spannte die Arbeit Moscovicis ein Feld ­zwischen den Polen der externen und der internen Regulierung von Mobilität und Anpassungsfähigkeit auf. Wenn Zwangsmaßnahmen als „Deportation“ verschrien waren, wie ließ sich Mobilität dann steuern? Die französische Antwort darauf lag, wie bei Moscovici vorerst nur angedeutet, in der Verbesserung und dem Ausbau der Berufsausbildung. In Frankreich befasste sich im Mai 1961 der Wirtschafts- und Sozialrat des Präsidenten mit der Frage nach der conversion, der „Umstellung“. Die Lösung, die für den zukünftigen Wandel des Wirtschaftssystems vorgesehen war, bestand in der Éducation permanente, also in dem, was ­später auf europäischer Ebene – durch die EGKS, die Organisation for Economic Co-operation and Development (OECD), aber auch die United Nations Educational, Scientific and Cultural Organization (UNESCO) – als „lebenslanges Lernen“ popularisiert wurde.35 Dieser Forderung lag die Annahme zugrunde, dass „Strukturwandel“ entgrenzt sei und sich nicht auf einzelne Regionen beschränken würde: „Der Strukturwandel ist ein andauerndes Phänomen.“ 36 Neben der regionalen Wirtschaftsförderung, der Neuansiedlung von Industrien und der Raumplanung fokussierte ein Zweig der Auseinandersetzung die Subjekte des „Strukturwandels“. Dadurch bestätigte und verstärkte sich die wissenspolitische Verbindung von wirtschaftlichem Wandel und beruflicher Qualifikation zu dem, was als Qualifizierungsimperativ begriffen werden kann. Im Gegensatz zu der von Sorokin vermuteten strikten Trennung von sozialer und räumlicher Mobilität ging der Rat von der engen „Verbindung von geografischer und beruflicher Mobilität auf der einen Seite und beruflicher Qualifikation auf der anderen Seite“ aus.37 Die Lösung des Problems lag also in bisher nicht gekannten Ausmaßen in der Qualifikation. 34 Christian Geulen: Erziehung als Schicksal. Paradoxien des Determinismus im 20. Jahrhundert, in: Goschler/Kössler (Hg.): Vererbung, S. 83 – 102. 35 Zum institutionellen Hintergrund des lebenslangen Lernens vgl. Michael Geiss: Die Politik des lebenslangen Lernens in Europa nach dem Boom, in: Zeitschrift für Weiterbildungsforschung 40 (2017), S. 211 – 228, S. 213 – 215, der einer Ökonomisierungserzählung folgt. Es ging außerdem nicht erst in den 1990er Jahren um „eine Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit Europas im Z ­ eichen des Strukturwandels“ (ebd., S. 225). 36 Problèmes de la Conversion en France à moyen et à long terme (Question dont le Conseil économique et social s’est saisi en application de l’article 3 de l’ordonnance N° 58 – 1360 du 29 décembre 1958), in: Journal Officiel de la République Française Nr. 11, 3. Mai 1961, S. 448 – 493, hier S. 489. 37 Ebd., S. 470.

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Für die Entwicklung der Weiterbildung, der beruflichen Bildung und des Qualifizierungsimperativs wird die Rolle der Humankapitaltheorie US-amerikanischer Ökonomen wie Gary S. Becker oder Theodore W. Schultz sowie die Rolle des „lebenslangen Lernens“ häufig betont.38 Ein weiterer, für die Schwerindustrie wichtigerer Strang, der sich von Frankreich aus bis in die Bundesrepublik verzweigte, speiste sich aus den französischen Überlegungen zur Éducation permanente, die seit den 1950er Jahren entwickelt wurden. Maßgeblich beteiligte sich daran das 1954 gegründete Centre Universitaire de Coopération Économique et Sociale (CUCES) in Nancy.39 Es beabsichtigte unter der Leitung des Bergbauingenieurs Bertrand Schwartz, in enger Kooperation mit Unternehmen wie den Eisenerzminen in Lothrin­gen, Programme der Weiterbildung und Umschulung zu entwickeln. Orientierte sich ­dieses Institut zunächst an amerikanischen Methoden der Führungskräfteschulung,40 änderte sich dieser Fokus mit den Auseinandersetzungen um die conversion. Angesichts des zu Beginn der 1960er Jahre nur geringen Zuspruchs für eine Umschulung in einem staatlichen Zentrum der Association Française pour la Formation Professionnelle des Adultes (AFPA) organisierte das CUCES ein eigenes Umschulungs- und Weiterbildungsprogramm im lothringischen Briey, das von Informationskampagnen begleitet war.41 Dieses Programm zog seine Legitimität gegenüber Gewerkschaften und Staat aus dem Versprechen, nicht nur einer beruflichen Umschulung, sondern gleich einer „kulturellen Umstellung“ („conversion culturelle“) den Weg zu bereiten.42 Maßgeblich an den Arbeiten des CUCES beteiligte sich auch Guy Hasson, der bereits erwähnte Leiter der Ausbildungsabteilung bei den CdF. Dieser hatte mit seiner Th ­ eorie der „Fonction Formation“ ein Referenzwerk für die Auseinandersetzung um die Rolle und Notwendigkeit beruflicher Qualifikation als zentrale Aufgabe in Unternehmen verfasst.43 In verschiedenen staatlich gestützten Organisationen wie

38 Vgl. Gary S. Becker: Human Capital. A Theoretical and Empirical Analysis, with special Reference to Education [1964], Chicago ²1980; diese Deutung findet sich etwa bei Bernet/Gugerli: ­Resonanzen; Foucault: Geburt, S. 300 – 330; Bröckling: Menschenökonomie, S. 305 – 333; ders.: Selbst. 39 Vgl. zeitgenössisch mit Fokus auf das CUCES Bertrand Schwartz: Réflexions sur le développement de l’éducation permanente, in: Revue française de pédagogie 4 (1968), S. 32 – 44. 40 Vgl. Lucie Tanguy: Reconversion industrielle ou conversion culturelle dans un bassin minier de Lorraine au milieu des années 1960, in: Sociétés contemporaines 35 (1999), S. 43 – 70; Françoise Laot: Le CUCES-INFA ou „Complexe de Nancy“, creuset d’innovations pour l’éducation permanente (1954 – 1973), in: Éducation permanente 198 (2014), S. 199 – 215; dies.: Contribution à l’histoire des institutions d’éducation des adultes. Le Complexe de Nancy (CUCES/ACUCESINFA), 1954 – 1973, 2 Bde., Diss., Paris 1998. 41 Tanguy: Reconversion, S. 61 f. 42 Ebd., S. 65. 43 Vgl. Guy D. Hasson: La formation dans l’entreprise et ses problèmes, Paris 1955.

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dem 1954 gegründeten Groupement Amical des Responsables de Formation, dem seit 1951 tätigen Institut Français pour la Formation Pratique des Chefs dans l’Entreprise oder dem Centre Interentreprises de Formation wirkten er und andere hohe Ausbildungsfunktionäre der französischen Industrie darauf hin, die Éducation permanente als ein Konglomerat christlich-sozialer, antitayloristischer, vichyistischer und amerikanischer Ideenfragmente zu konturieren.44 Diese Institutionen, allen voran das CUCES, begannen, Ausbildung und den Wandel der Arbeit systematisch zusammenzudenken und daraus symbolisches Kapital zu entwickeln. Ein Vehikel, um ihre Forderungen zu kommunizieren, stellte das Motiv der Mobilisierung dar. Es durchzog die Arbeiten und Konzepte des CUCES: Die Éducation permanente verspreche eine „Mobilisierung der Geister wie des Willens“, eine „Generalmobilmachung für das allgemeine Bildungsniveau“.45 Diese von einem militärischen Duktus geprägte Auffassung verstand die „Mobilisierung“ noch als Führungskräfteschulung, die sich um die Harmonie der Betriebsorganisation sorgte. So führte Raymond Vatier, der Leiter des Collège Industriel Européen,46 gegenüber dem CUCES etwa aus, die Éducation permanente tauge nur, wenn sie Auswirkungen auf die Unternehmensorganisation habe, also bestimmte Formen der Organisation wie „gewisse Formen des Taylorismus“, der „militärischen Führung“ und der „autoritären Entscheidung“ beende.47 Gleichzeitig zog er aber eine scharfe Trennlinie: Während es der Ausbildung (formation) darum gehe, „Arbeitnehmer anzupassen“, und diese damit „ein technisches oder ein Verwaltungsproblem“ darstelle, gehe die Éducation permanente darüber hinaus. Sie beabsichtige, sämtliche „Potentiale“ einer Person zu entwickeln. Sie diene als „Geisteshaltung“ dazu, den Ingenieur einem „beständigen Werden“ zuzuführen, das die „Anpassung an die technische, wirtschaftliche und soziale Entwicklung“ sicherstelle.48 Faktisch verfolgte die Éducation permanente also selektive Ziele, wie auch das CUCES betonte: „Wenn wir“, so eine Denkschrift über die Ziele des Instituts, das Unternehmen 4 4 Richard Lick: Les débuts du CESI, in: Claude Dubar/Charles Gadéa (Hg.): La Promotion Sociale en France, Villeneuve d’Ascq 1999, S. 141 – 149, hier S. 145; Antoine Prost: Jalons pour une histoire de la formation des adultes (1920 – 1980), in: Recherche et Formation 53 (2006), S. 11 – 23, insbes. S. 15 f. und 22 f. 45 CUCES : Le Centre Universitaire de Coopération économique et sociale. Denkschrift, März 1960, in: ANMT 2007 038 360, S. 19. 46 Das Collège diente dem deutsch-französischen Austausch in der Ingenieursausbildung und der Förderung eines „europäischen technischen Humanismus“, einer Kenntnis Frankreichs und „soziologischer Methoden“. Vgl. Collège Industriel Européen, Denkschrift, 14. 4. 1963, in: ANMT 2007 038 360, S. 2. 47 Raymond Vatier: Schreiben an J. Bouscarle, Directeur du Département Éducation Permanente am CUCES, 26. 2. 1962, in: ebd., S. 1. 48 Ebd., S. 2 – 3 und 1.

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„wie eine Pyramide betrachteten“, ergäben sich zwei Aufgaben: Zum einen gehe es darum, das Niveau aller Arbeiter zu heben. Zum anderen aber stehe weiterhin im Mittelpunkt, „einzelne ‚Elemente‘ dieser Pyramide zu befördern“.49 Der Begriff der Mobilität verband diese beiden Facetten und verschleierte den Gegensatz, der sich ­zwischen einer allgemeinen und einer individuellen Anhebung des Qualifikationsniveaus ergab. Es gelte, so Bertrand Schwartz, „das generelle Wissensniveau der gesamten aktiven Bevölkerung“ anzuheben, um den „Imperativen […] der Umstellung und der Arbeitermobilität“ zu begegnen.50 Zunächst wurde Mobilität also in Frankreich ein Schlüsselbegriff, um über die Rolle von Subjekten im „Strukturwandel“ zu sprechen. Er entwickelte den moralischen Holismus der Ausbildung der frühen Nachkriegszeit weiter. Wesentlich am Auftreten ­dieses Begriffs ist aber nicht, dass er sich als Übergang von einer Gouvernementalität der Fremd- zu einer der Selbststeuerung lesen lässt. Beide Formen schlossen sich nicht aus, sondern bedingten einander.51 Es zeigt sich vielmehr, dass der Begriff der Mobilität ein Paradoxon schuf: Mobilität als Anrufung richtete sich zwar an das Individuum und war auf dessen Zustimmung und dessen Entscheidung zur Umstellung angewiesen, gleichzeitig wurde Mobilität aber als notwendig dafür erachtet, „die gesellschaftliche Stabilität zu erhalten und soziale Spannungen auszugleichen.“ 52 Insofern fiel die Verantwortung für Mobilität in den Bereich staatlicher Verwaltung, Fürsorge und Regulierung. Dadurch stellte sich unmittelbar die Frage nach den Zugriffsmöglichkeiten des Staates – und deren Legitimität – auf das (Mobilitäts-)Verhalten von Individuen.53 Ein Mangel an Mobilität konnte damit immer beides sein: ein fehlerhaftes, versagendes Individuum, ebenso aber auch die fehlende oder falsche Regulierung und Unterstützung durch staatliche Maßnahmen. An d ­ iesem Spannungsfeld beziehungsweise an dieser Komplementarität ­zwischen externer und interner Regulierung entzündeten sich die in den folgenden Jahren entstehenden Debatten. Die Deutung der wirtschaftlichen Situation als konjunkturelle und strukturelle Krise fand ihr wissenspolitisches Pendant in dem Schlüsselbegriff der Mobilität, der damit eine Bedeutungsverschiebung erfuhr. Mobilität, vormals ­verheißungsvolles 49 50 51 52

CUCES: Ohne Titel [Projektvorstellung]. Denkschrift, o. D. [ca. Oktober 1961], in: ebd., S. 6. Dass.: Compte-Rendu de la Réunion du 4 janvier 1962 à la Jonchère, 15. 1. 1962, in: ebd., S. 2. Vgl. das Argument bei Uhl: Rationalisierung. So eine Broschüre der Bundesanstalt für Arbeit/Bundesministerium für Arbeit und S­ ozialordnung (Hg.): Dynamisch im Beruf, o. O. 1970, S. 11. 53 Dieses Problem rührte von den 1930er und 1940er Jahren her, als etwa eine Untersuchung in den USA angesichts der anscheinend überlegenen Arbeitsmarktpolitik in NS-Deutschland und der Sowjetunion fragte: „Can democratic methods employ our human resources effectively?“ Vgl. Omar Pancoast: Occupational Mobility. Democratic Efficiency through the Use of Human Resources, New York 1941, S. 1. Die Antwort fand Pancoast in der Verbesserung der Ausbildung.

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Programm der individuellen Überwindung der Klassengesellschaft, wurde nun deskriptives Maß und normative Anforderung, über die der wissenspolitische Imperativ wirkte: „Erstarrung“ galt es ebenso zu vermeiden wie „Entwurzelung“ und „Belanglosigkeit“.54 Eine Perspektive, die auf Gleichgewicht und Eingliederung abzielte, wich in den 1960er Jahren einer Perspektive, die Mobilität in einer Steigerungslogik begriff. Diese Verschiebung setzte eine neue Suche nach der Anthropologie des mobilen wie mobilisierbaren Individuums in Gang. Hinter der historiografischen Nutzung der Mobilität im Sinne einer Erfolgsbilanz 55 liegt also die Geschichte ihrer Herrschaftsdimension. In den Jahren, die auf die Debatte um die südfranzösischen Bergarbeiter, auf Moscovicis Studie und die französischen Impulse zur Éducation permanente folgten, erfuhr der Begriff der Mobilität eine doppelte Entwicklung: Einerseits verstärkte sich die Verbindung ­zwischen beruflicher Qualifikation und Mobilität deutlich und ersetzte eine Ausbildungslogik, die sich als Fluktuationsprävention verstand. Andererseits zirkulierte der Begriff über die Plattform der EGKS in Westeuropa und in der Bundesrepublik.56 Die Europäisierung der Mobilität

Weniger der Kalte Krieg, das Humankapital und der „Sputnik-Schock“, sondern vielmehr Vorstellungen der Mobilisierung und Einpassung führten während der 1960er Jahre in den entstehenden Qualifizierungsimperativ. Dieser Schwerpunkt zeigt sich auch an der Popularisierung und der Zirkulation der aus Frankreich stammenden mobilitätsbasierten Betrachtung des „Strukturwandels“. Während der Rolle der OECD in der Bildungs- und Qualifikationspolitik seit den 1960er Jahren einiges an geschichtswissenschaftlicher Aufmerksamkeit zuteilwurde,57 fristen andere Institutionen, Plattformen und Zirkulationswege ein Schattendasein: Die 54 Helmut Schelsky: Wandlungen der deutschen Familie in der Gegenwart. Darstellung und Deutung einer empirisch-soziologischen Tatbestandsaufnahme [1953], Stuttgart ³1955, S. 237. 55 Vgl. bspw. Yong Suk Jung: Strukturwandel im sozialen Feld. Bergarbeiterfamilien im Ruhrgebiet 1974 bis 2000 (Veröffentlichungen des Instituts für soziale Bewegungen, Schriftenreihe A: Darstellungen 54), Essen 2015, insbes. S. 149 – 179. 56 Vgl. zur Rolle der EGKS für den europäischen Umstellungsdiskurs Verschueren: Mines. 57 Vgl. etwa Regula Bürgi: Die OECD und die Bildungsplanung der freien Welt. Denkstile und Netzwerke einer internationalen Bildungsexpertise (promotion 7), Opladen 2017; Bernet/Gugerli: Resonanzen; Raphael: Kohle, S. 256 – 258; ders.: Knowledge, S. 361. Zu den kanonischen Texten der OECD und der UNESCO vgl. Christiane Gerlach: Lebenslanges Lernen: Konzepte und Entwicklungen 1972 bis 1997 (Kölner Studien zur internationalen Erwachsenenbildung 12), Köln u. a. 2000, S. 14 – 25; Sebastian Rausch: Lernen regierbar machen. Eine diskursanalytische Perspektive auf Beiträge der Europäischen Union zum Lebenslangen Lernen, Wiesbaden 2015.

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Übersetzung des Qualifizierungsimperativs der Mobilität und der Verbindung von wirtschaftlichem Wandel und beruflicher Qualifikation erfolgte – nicht nur, aber maßgeblich – über die Gremien der EGKS sowie der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG). Die EGKS befasste sich bereits während der ersten Betriebsstilllegungen in den 1950er Jahren, vornehmlich ausgelöst durch das französische Beispiel, mit Beweglichkeit und Umstellung. Der Verschiebung, die sich am Beispiel Moscovicis andeutete, folgte die europäische Behörde aber zunächst nur bedingt. In ihrem Bericht zu verschiedenen Studien über die Hindernisse der Anpassung zeigte sich eine doppelte Asymmetrie der Wahrnehmung. Zunächst ging es um eine ausschließlich räumliche Bewegung von Menschen und deren jeweilige Anpassung an neue lokale und regionale Bedingungen. Im Geleitwort war etwa von der „Bewegung“ und „Beweglichkeit der Arbeitskräfte“ als „ultima ratio“ der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit die Rede, da sie Menschen zwängen, „die Heimat zu verlassen“.58 Dieses räumliche Verständnis begünstigte aber auch, dass die einzelnen Länderberichte, auf die sich die Studie bezog, disparate Beispiele behandelten, ohne dass es eine Ursachenerklärung gab, die einen gemeinsamen europäischen Deutungsrahmen zuließ. So konzedierte der Autor, dass etwa die Bundesrepublik durch Flucht und Vertreibung eigentlich nicht in die Untersuchung passe. Die Folgen des Zweiten Weltkrieges würden „alle Wanderungsbewegungen“ überdecken. Daher sei es „unmöglich“, „diejenigen zu ermitteln, die aus rein wirtschaftlichen Gründen erfolgt sind“.59 Dementsprechend ging es auch für Belgien unter anderem um die Anwerbung von Arbeitern für eine nach dem Krieg wiedererrichtete Fabrik und für Frankreich sowohl um die Proteste im Midi als auch um die Umsetzungen für die Expansion der Renault-Werke. Für die Niederlande vermerkte der Verfasser, dass Entlassungen und Wanderungen von Arbeitskräften wegen der Vollbeschäftigung, „wenn überhaupt, nur sehr selten vorkommen“.60 Darüber hinaus dominierte – bei allem Insistieren auf Beweglichkeit, Anpassung und Umstellung – bei den Sozialwissenschaftlern und Verantwortlichen in Luxemburg eine von Stabilität und moralisch-holistischen Ganzheitsvorstellungen imprägnierte Perspektive. Bildung, Wissen oder Qualifikation spielten allenfalls als ein Faktor unter vielen eine Rolle. „[M]angelnde Anpassungsfähigkeit“ 61 deuteten die Luxemburger Funktionäre als moralisches Problem. Entweder gliederten sich umgesetzte Arbeiter und ihre Familien in die „Gemeinschaft“ ein, wanderten zurück, oder es folge – im schlimmsten Fall – ein „Absinken der Persönlichkeit, indem sie sich der Trunksucht 58 59 60 61

EGKS: Hindernisse, Geleitwort. Hervorhebung im Original. Ebd., S. 84. Ebd., S. 85, 87 und 92. Ebd., S. 62.

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hingeben, Rauschgift nehmen usw.“ Auch sei es vorgekommen, dass „Personen, die sich nicht anpassen können, unter schweren psychologisch-pathologischen Störungen, unter ‚Milieuneurosen‘, leiden“.62 Das europäische Problem, das sich für erwachsene Arbeiter in den 1950er Jahren stellte, war also, ebenso wie in der Berufsausbildung, moralisch-holistischer Natur: Wie kann sich ein Arbeiter bewegen, ohne zu fluktuieren? Seit Beginn der 1960er Jahre folgten die in der EGKS versammelten Ausbildungsexperten der Schwerindustrie einer Problemwahrnehmung, die sich mit dem Phänomen der Umstellung auseinandersetzte. Wirkmächtig (und international verständlich) schrieben sie diese einheitliche Erklärung und Ursachenzuschreibung einerseits durch Studien fest, die ab 1962 von einem Sachverständigenausschuss für die industrielle Umstellung in den Heften für die industrielle Umstellung und in der Regional- und Wirtschaftspolitischen Studienreihe publiziert wurden. Andererseits schuf die EGKS mit dem Paragrafen 2 des Artikel 56 des Montanunionvertrages 1960 die Möglichkeit, durch Umstellungsbeihilfen finanzielle Unterstützung für die Umschulung oder Neueinstellung arbeitsloser Berg- und Stahlarbeiter zu leisten. Umstellung – der deutsche Fachterminus für Begriffe wie conversion und Strukturwandel – wurde so sowohl wissenschaftlich als auch juristisch kodifiziert. Dies verweist auf einen doppelten Zugriff auf die „industrielle Umstellung“, der den Maßnahmen der EGKS inhärent war: Einerseits schufen die Hefte für die industrielle Umstellung eine Problematisierung des schwerindustriellen Raumes, die nach Subventionsmöglichkeiten, Strategien der Industrieansiedlung, der regionalen Infrastrukturpolitik und der Raumplanung suchte. Diese Sichtweise begriff den schwerindustriellen Raum als Abweichung von einer als Norm vorgestellten Entwicklung.63 So verstand sich zum Beispiel das erste Heft eher als Werbeanzeige, die für Wirtschaftsansiedlung relevante Daten aufführte, denn als Studie, die neue Wege der „Umstellungspolitik“ erproben sollte. Als „Verzeichnis der aufgegebenen Bergbaugebiete, die für die Niederlassung neuer Industriebetriebe verfügbar sind“ 64, zielte es darauf ab, „etwaige Investoren über die Möglichkeiten einer Industrie­ ansiedlung“ ins Bild zu setzen.65 Andererseits bereitete die Möglichkeit der individuellen Förderung den Weg für eine Problematisierung des von der „Umstellung“ betroffenen Individuums, 6 2 Ebd. 63 Vgl. Ariane Leendertz: Ordnung schaffen. Deutsche Raumplanung im 20. Jahrhundert (Beiträge zur Geschichte des 20. Jahrhunderts 7), Göttingen 2008, S. 336 – 362. 6 4 EGKS. Hohe Behörde. Generaldirektion Arbeitsfragen, Sanierung und Umstellung: Industriegelände in Belgien (Hefte für die industrielle Umstellung 1), Luxemburg 1963, S. 6. 65 Ebd., S. 4. Zum Borinage als „principale zone test“ vgl. Verschueren: Mines, S. 171 – 232 zur Auseinandersetzung ab 1959; Zit. S. 23.

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das dementsprechend auf seine Fähigkeit, Bereitschaft und Kapazität zur „Umstellung“ befragt werden konnte. Zu Beginn der 1960er Jahre und mit dem Einsetzen der Debatte um die „Umstellung“ wurde die Verbindungslinie z­ wischen beruflicher Qualifikation und dem Willen zur Umstellung gezogen. Sie folgte zu ­diesem Zeitpunkt allerdings einer infrastrukturellen Logik, die berufliche Quali­ fikation als einen Faktor der Begünstigung von Industrieansiedlungen begriff. So riet eine der ersten Studien über die Umstellung in Europa, Industrieansiedlungen durch „eine hinreichend vielseitige Berufsausbildung“ der Bergarbeiterschaft zu begünstigen.66 Diese Perspektive ging mit der auf den Qualifizierungsimperativ verweisenden Prämisse einher, dass eine „vielseitige Ausbildung der Arbeiter ihre Mobilität erhöht“.67 Ausbildung wurde aber nur als Teil von Interventionsmöglichkeiten wahrgenommen, wie das Inhaltsverzeichnis ­dieses Berichts belegt. Es rubrizierte die „berufliche Ausbildung der Arbeiter“ unter die Kategorie „­ Interventionsmöglichkeiten für die Schaffung neuer Aktivitäten“ und verortete sie damit neben Steuererleichterungen und dem Bau von Infrastrukturen.68 Diese Betrachtung beruflicher Qualifizierung als ein Teil infrastruktureller Interventionen verschob sich in den folgenden Jahren signifikant. Verantwortlich für diesen Wandel waren Studien über das Verhältnis von technischem Fortschritt und Berufsausbildung im Steinkohlenbergbau der europäischen Mitgliedstaaten. So widmete sich ab dem Jahr 1961 eine Untersuchungsgruppe aus den Berufsbildungsorganisationen der europäischen Bergbauindustrie der „Anpassung der Berufsausbildung der Bergarbeiter an den technischen Fortschritt im Steinkohlenbergbau“ und der „Anpassung der Berufsausbildung an den technischen Fortschritt“.69 Ausgehend von der Diagnose, dass die Konkurrenz für die Kohle durch Erdgas und Erdöl, also die „Kohlenkrise“, mit den Jahren 1956/57 in ein „akutes Stadium“ eingetreten sei, konstatierte der Bericht, dass „die Rationalisierung der Zechen“ unerlässlich werde.70 In d­ iesem „scharfen Wettbewerb“ 71 der Energieproduktion gebe es allerdings Zukunftsaussichten für die Kohle. Mechanisierung, ­Elektrifizierung, 6 6 Maurice Byé: Rapport Général sur la conversion des mines de charbon dans la CECA, in: ­Giuseppe Di Nardi/Maurice Byé (Hg.): Voies et moyens de la conversion industrielle (Collection d’économie et politique régionale: La conversion industrielle en Europe 2), Luxemburg 1961, S. 95 – 136, hier S. 131. 67 Giuseppe Di Nardi: Moyens d’intervention destinés à faciliter la création d’activités nouvelles, in: ebd., S. 33 – 68, hier S. 54. 68 Ebd., S. 34. 69 EGKS. Hohe Behörde. Generaldirektion Arbeitsfragen, Sanierung und Umstellung: Technischer Fortschritt und Berufsausbildung im Steinkohlenbergbau, o. O. [Luxemburg] 1963, S. 3. 70 Ebd., S. 7. 71 Ebd., S. 8.

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Fernsteuerungs- und Fernsignalisierungssysteme – die ­„Automatisierung“ 72 – würden Produktivität steigern.73 Der Bericht erbrachte, indem er die technologisch gewährleistete Sicherheit der zukünftigen Produktion um 180 Grad verkehrte, vor allem eine Übersetzungsleistung: Die Technisierung benötige eine hochqualifizierte Arbeitskraft. Da der Bergbau aber nur Arbeiter beschäftige, „die nur schwer auf neue Berufe umgeschult werden können“, sei deren „Anpassung […] und Ausbildung“ die vordringlichste Aufgabe.74 Die technologisch und ökonomisch kalkulierbare „Gestaltungszukunft“, die die mechanische Perfektibilität der Produktion als gegeben voraussetzte und durch wachsende Kennziffern plausibilisiert wurde, übersetzte der Bericht in eine „Risiko­ zukunft“, „um sie vermeiden oder zumindest gegen sie vorsorgen zu können.“ 75 Diese Übersetzung einer planbaren Produktionstechnik in Begriffe der Ausbildung und Qualifikation zur (Arbeitslosigkeits-)Prävention verstand Ausbildung nicht mehr als einen Interventionsbereich neben anderen, sondern strukturierte sie nach dem Grad der Plan- und Kalkulierbarkeit. Darin offenbarte sich ein Paradox: Ließen sich Ausbildungsmaßnahmen und entsprechende Aufwendungen planen und kalkulieren, galt diese Gewissheit nicht für die zu erwartenden Resultate – ebenso wenig wie für die Inhalte. Als künftiges Ziel der Ausbildung unterstrich der Bericht „die entscheidende Bedeutung von bestimmten neuen Kriterien, wie die Selbständigkeit, die Anpassungsfähigkeit, die Vielfältigkeit“.76 Ausbildung wurde damit als ein Aktionsfeld zur Bewältigung von „Strukturwandel“ identifiziert – obwohl, oder gerade weil, Inhalte immer uneindeutiger wurden. Nichtsdestotrotz wurde die der beruflichen Qualifikation zugesprochene Verheißung noch eingeschränkt, behauptete der Bericht doch nicht, „dass die Aussicht auf eine gute Ausbildung allein alle Probleme lösen kann“.77 Bei diesen Diskussionen innerhalb der Gremien der europäischen Wirtschaftsverwaltung handelte es sich um einen Aushandlungsprozess, der die Koordinaten des Verhältnisses von Arbeit und Qualifikation neu bestimmte. Über den Begriff der Mobilität kehrte sich ­dieses Verhältnis um, wie sich an den Debatten um eine Studie zur Fluktuation von Bergarbeitern in den Industrien der EGKS zeigen lässt, die seit 1962 durchgeführt und 1967 abgeschlossen wurde.78 Der Begriff der M ­ obilität

7 2 Ebd., S. 11. 73 Ebd., S. 9 – 11. 74 Ebd., S. 9. 75 Graf/Herzog: Geschichte, hier S. 508 – 512 und 510. 76 EGKS: Fortschritt, S. 48. 77 Ebd. 78 J. J. F. van Kaam: Zusammenfassende Studie über die Fluktuation der Arbeitskräfte im Steinkohlenbergbau in Belgien, Deutschland (B. R.), Frankreich und den Niederlanden. Studie des

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verdrängte den älteren Begriff der Fluktuation. In der Studie wurden Mobilität und Fluktuation in moralisch-holistischer Tradition zunächst als zu beseitigendes Problem definiert. Diese Perspektive traf Ende der 1960er Jahre auf eine geänderte Situation und auf eine vollständig verschobene Wahrnehmung der Verantwortlichen aus den Mitgliedstaaten. Die Studie griff auf Einzeluntersuchungen aus den Jahren 1962 und 1963 aus den jeweiligen Revieren zurück. Die beauftragten Institute hatten jeweils eine quantitative Erhebung zur Ermittlung von Abkehrzahlen und -gruppen durchgeführt und daran jeweils Befragungen von Teilgruppen angeschlossen. Insgesamt wurden die Daten von rund 50.000 Bergarbeitern erhoben und etwa 1500 Befragungen durchgeführt.79 Das Vorgehen – so auch im abschließenden Bericht – bestand darin, abkehranfällige und „mobile“ Gruppen zu definieren, um dann im Gegensatz dazu eine stabile Gruppe zu bilden. Daraus konnten dann „Mobilitätsindizes für verschiedene Berufsgruppen“ und „weitere Mobilitätsfaktoren“ sowie die „Anziehungskraft der bergmännischen Tätigkeit“ ebenso wie die „Abkehrneigung“ ermittelt werden.80 Ursprünglich folgte die Studie einer moralisch-holistischen Logik der 1950er Jahre. So sorgte sich der Verfasser in der Problemdefinition der Jahre 1962 und 1963 um das „Einstellungsproblem“, das die „Belegschaftszahlen unter den optimalen Stand sinken“ lasse. Ebenso beklagte er, dass der Bergbau „keine Bewerber“ für die Abbautätigkeit finde und daher gezwungen sei, auf die Anwerbung von Arbeitskräften aus dem Ausland zurückzugreifen.81 Der Arbeitskräftemangel der Nachkriegszeit stellte die Stichworte bereit. In dieser Perspektive argumentierte die Studie kausal und definierte Faktoren, die entweder Mobilität oder Stabilität begünstigen. Zentraler Stellenwert, so das Ergebnis, komme dabei dem „wichtigste[n] Mobilitätsfaktor“ zu: der „Dauer der Betriebszugehörigkeit“. Je kürzer die Zeitspanne, in der der Arbeiter in einem Betrieb arbeite, desto höher sei die „Fluktuation“.82 Mobilität verstand der Verantwortliche als etwas Unerwünschtes, also als synonym mit dem in der Studie ebenfalls auftretenden Begriff der Fluktuation. Eindrücklich zeigte sich d ­ ieses Verständnis am Antonym zu Mobilität: der Stabilität.83 So hielt der Bericht für Belgien fest, dass bei Bergarbeitern aus dem belgischen Norden „eine sehr schwache

7 9 80 81 82 83

Instituut voor Arbeidsvraagstukken in Tilburg. Anlage zur Sitzung des Gemischten Ausschusses für die Harmonisierung der Arbeitsbedingungen im Steinkohlenbergbau vom 8. Juli 1969 in Luxemburg, Juni 1967, in: Archiv im Haus der Geschichte des Ruhrgebiets (AHGR), Bochum, IGBE-Archiv, 2120 A. Ebd., S. 8 f. Ebd., S. 3. Ebd., S. 2. Ebd., S. 57. Zu ­diesem Leitbegriff der Zwischenkriegszeit vgl. auch Bachem: Zuordnungsroutinen.

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Abkehrtendenz“ festzustellen sei. Dagegen wiesen „die im Revier Lüttich geborenen Arbeitnehmer die stärkste Mobilität auf, aber immer noch eine größere Stabilität als die Ausländer.“ 84 Dieser Gegensatz von Mobilität und Stabilität und eine Hierarchisierung von Gruppen anhand ihrer Stabilitätspotentiale waren von der Gefahr der Destabilisierung durch Unübersichtlichkeit inspiriert, die durch das Fremde befördert würde. So erhöhe „die Anwerbung von Arbeitskräften außerhalb des Bergbaugebiets und besonders außerhalb Westeuropas die Mobilität.“ 85 Diese Perspektive auf Mobilität reihte sich in eine Tradition der Arbeitsverwaltung und -problematisierung ein, die Mobilität als Gegensatz von Stabilität, Ordnung und Sesshaftigkeit begriff. Dementsprechend strebte sie eine Regulierung, Verringerung und Kanalisierung von Fluktuation und Bewegung an. Diese Strategie war insbesondere im Bergbau seit dem 19. Jahrhundert und bis in die Nachkriegszeit verfolgt worden.86 Im nordfranzösischen Bergbau etwa standen die Unternehmen technischer Bildung bis nach dem Zweiten Weltkrieg skeptisch gegenüber, weil aus ihrer Perspektive die Gefahr bestand, dass Ausbildung „soziale Mobilität, die als destabilisierend und folglich inopportun bewertet wurde“, befeuern würde.87 Dieses bevölkerungspolitische Paradigma der 1950er Jahre erntete in den späten 1960er Jahren nur noch Unverständnis. Nach der Vorstellung der ­Fluktuationsstudie durch einen niederländischen Sozialwissenschaftler im Gemischten Ausschuss für die Harmonisierung der Arbeitsbedingungen im Steinkohlenbergbau im Januar 1969, führte der Vorsitzende aus, dass „sich das Problem der Fluktuation heute nicht mehr unter den gleichen Voraussetzungen stellt wie im Jahr 1963.“ 88 Dem schlossen sich belgische, französische und deutsche Gewerkschaftsvertreter an. Sie verwiesen darauf, dass „gewisse Schlußfolgerungen […] durch die Ereignisse überholt ­seien“.89 Ein Vertreter der Steinkohlenminen der niederländischen Provinz 84 Kaam: Studie, S. 15. 85 Ebd., S. 58. 86 Vgl. für Belgien und Asien Mazyar Khoojinian: Fixer la main-d’œuvre turque. La tâche d’un mensuel officiel (1964 – 1970), in: Belgisch Tijdschrift voor Nieuwste Geschiedenis/Revue Belge d’Histoire Contemporaine 37 (2007), S. 517 – 556; Limin Teh: Labor Control and Mobility in Japanese-Controlled Fushun Coalmine (China), 1907 – 1932, in: International Review for Social History 60 (2015), Special Issue, S. 95 – 119; für das Ruhrgebiet Roseman: Recasting, S. 188 f. 87 Stéphane Lembré: Le savoir et le changement. Une résilience par la formation technique dans les territoires miniers du Nord et du Pas-de-Calais (du milieu du XIXe siècle aux années 1930), in: Sylvie Aprile u. a. (Hg.): Les houillères entre l’état, le marché et la société. Les territoires de la résilience. XVIIIe–XXIe siècles, Villeneuve d’Ascq 2015, S. 69 – 80, hier S. 80. 88 Kommission der Europäischen Gemeinschaften. Generaldirektion Soziale Angelegenheiten: Gemischter Ausschuss für die Harmonisierung der Arbeitsbedingungen im Steinkohlenbergbau. Protokoll der Sitzung vom 21. Januar 1969 in Brüssel, Januar 1969, in: AHGR, IGBE-Archiv, 2120 B, S. 3. 89 Ebd., S. 4.

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Limburg insistierte darauf, dass „augenblicklich andere dringendere Probleme“ wie „die Berufsumschulung und die Wiedereingliederung“ auf der Tagesordnung ­stünden.90 Bereits ein Jahr zuvor, nach der Fertigstellung der einzelnen Länder­ berichte, waren die Beteiligten übereingekommen, dass die ursprünglichen Motive für die Studie „durch die Konjunkturentwicklung im Kohlenbergbau überholt ­seien.“  91 Offenbar erwies sich die moralisch-holistische Dichotomie von Fluktuation und Stabilität in den späten 1960er Jahren als unvereinbar mit einer wissenspolitischen Problematisierung von Arbeit. Parallel zu d ­ iesem Ausbleichen des moralisch-holistischen Imperativs etablierte sich der wissenspolitische Konnex ­zwischen „Strukturwandel“, Mobilität und Qualifikation gegen Ende der 1960er Jahre nach einem weiteren, an die Studie von 1963 anknüpfenden Projekt über das Verhältnis von „Kohlen-“ und „Qualifikationskrise“. In dessen Verlauf wurden beide Diagnosen letztlich kongruent und damit austauschbar: Zunächst wurde auf verschiedenen Zechen der EGKS die Rolle der Qualifikation der Belegschaften erhoben,92 in Frankreich durch Guy Hasson und in der Bundesrepublik unter anderem durch den Arbeitsdirektor der Zeche Haus Aden, Herbert Buttchereit.93 Im Anschluss daran versuchte sich die Generaldirektion Arbeitsfragen, Sanierung und Umstellung, die diese Studien koordinierte, an einer „Vorausschau in die Zukunft“ über das Verhältnis von Wirtschaftsstruktur und Qualifikation.94 Kern des Berichts war der Wille zur Umstellung als eindeutiges und letztes Instrument der Krisenbewältigung. Die Lösung der Wirtschaftskrise habe „über den Weg der Personalleitung und der Ausbildung der Belegschaft zu erfolgen“.95 Mit d ­ iesem Qualifizierungsimperativ ging eine Semantik einher, die mit Begriffen wie „Elastizität“, „Dynamik“ und „Mobilität“ operierte. Herbeizuführen sei eine Situation der „Dynamik“, die die Statik der Vergangenheit hinter sich lasse. „Dynamik“ aktualisiere den Begriff des Berufs selbst und führe zur

90 Ebd., S. 5. 91 Kommission der Europäischen Gemeinschaften. Generaldirektion Soziale Angelegenheiten: Gemischter Ausschuss für die Harmonisierung der Arbeitsbedingungen im Steinkohlenbergbau. Protokoll der Sitzung vom 9. Januar 1968 in Luxemburg, o. D. [Januar 1968], AHGR, IGBEArchiv, 2120 A, S. 9. 92 Vgl. hier nur stellvertretend EGKS (Hg.): Untersuchung. Struktur und Ausbildung des Personals in vollmechanisierten Abbaubetrieben. F. Zentralschachtanlage 1 – 7 der „Ewald Kohle AG“, Bundesrepublik Deutschland, o. O. [Luxemburg] 1967. 93 Vgl. zu Buttchereit Norbert Ranft: Vom Objekt zum Subjekt. Montanmitbestimmung, Sozialklima und Strukturwandel im Bergbau seit 1945, Köln 1988, S. 457. 94 EGKS. Hohe Behörde. Generaldirektion Arbeitsfragen, Sanierung und Umstellung: Struktur und Ausbildung der Belegschaft in mechanisierten Abbaubetrieben, zweiter Teil. Entwurf, ca. 1968, in: AHGR, IGBE-Archiv, 4198, S. 49. 95 Ebd., S. 66.

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Mobilität der Zukunft. Erforderlich werde eine „Ausbildung zur Anpassung“, die zur Mobilität befähige.96 Eine Abgrenzung verschiedener Bereiche beruflicher Qualifikation, etwa Weiterbildung, Fortbildung, Ausbildung und Umschulung, war dabei nicht möglich. Sämtliche Bereiche wurden als „den Gesetzen der Dynamik“ unterworfen gedacht.97 Ausbildung sei „‚Qualifikationsreserve‘“, die – entsprechend den „geringeren körperlichen Anforderungen“ – neben einer Anpassung der Arbeitenden an die Zukunft auch noch Sozialbeziehungen verbessern und das „Arbeitsteam“ als Produktionsmethode stärken sollte.98 Andererseits zeigt die Studie auch das strategische Element der Beschwörung des Qualifizierungsimperativs: Gerade durch die Durchführung an verschiedenen Standorten in Westeuropa bedingten sich „Europäisierung“ und „Strukturwandel“ wechselseitig als strategische Ressource, aus der sich Handlungsimperative ableiten ließen.99 Der Bergbau stand dabei sinnbildlich für die „Entwicklung der Industriegesellschaft in Europa“.100 „Strukturwandel“ sei kein nationales Phänomen und auf nationaler Ebene nicht lösbar, sondern benötige Europa, die EGKS und eine „europäische Konzeption der Berufsausbildung“ 101, wie ein weiterer EGKS-Funktionär formulierte. Ebenso legitimierte der Bergbau seine fragwürdig gewordene hervorgehobene Rolle, die mit nicht unerheblichen Subventionen und Maßnahmen auf nationaler und europäischer Ebene verbunden war, durch seine exponierte Position im „Strukturwandel“. In ­diesem Zuge entwickelte sich ein neues Antonym zum Begriff der Mobilität. Nachdem die Gegenüberstellung von Fluktuation und Stabilität über die 1960er Jahre ihre Überzeugungskraft verloren hatte, wurde sie durch eine Dichotomie ersetzt, die sich aus dem Mobilitätswissen der Bundesrepublik ergab. Dort wurde der Begriff der Mobilität, der die Thematisierung der Individuen des „Strukturwandels“ 96 Ebd., S. 59. 97 Ebd. 98 Ebd., S. 55. 99 Vgl. zum Begriff der Europäisierung als „all jene politischen, sozialen, ökonomischen und kulturellen Prozesse […], die eine nachhaltige Stärkung innereuropäischer Verbindungen und Ähnlichkeit gefördert oder verändert haben; sei es durch Formen der Anverwandlung, des Austauschs oder der Vernetzung. Damit einher gehen stets Formen der Abgrenzung und des othering sowie Fragmentierung und Konflikt.“ Klaus Kiran Patel: Transnationale Geschichte, in: Europäische Geschichte Online (EGO), 3. 12. 2010, http://www.ieg-ego.eu/patelk-2010-de, letzter Zugriff: 10. 2. 2021, Abs. 22. Hervorhebung im Original. 100 EGKS. Hohe Behörde. Generaldirektion Arbeitsfragen, Sanierung und Umstellung: Struktur, S. 50. 101 Karl Heinz Massoth: Die Anpassung der Berufsausbildung an den technischen Fortschritt in den Industrien der EGKS , in: Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (Hg.): Dokumente des Kolloquiums über die Berufsausbildung. Brüssel, 16. – 20. November 1964, o. O. [Brüssel] 1964, S. 305 – 315, hier S. 306.

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seit den 1950er Jahren bestimmte, aufgegriffen und umgedeutet. Exemplarisch zeigt sich diese Umdeutung parallel zur Fluktuationsstudie der EGKS ­beziehungsweise der EWG. Als diese Studie anscheinend nicht mehr den Anforderungen und relevanten Problemen genügte, beschloss der Harmonisierungsausschuss, Länderberichte zur Situation der Umschulung ehemaliger Bergarbeiter auszuarbeiten. Diese wurden 1970 für Belgien, Frankreich, die Niederlande und Deutschland vorgelegt. Für die Bundesrepublik fertigte den Bericht Bernhard Brinkert an, der seit 1965 in der Abteilung Bildungswesen beim Vorstand der IGBE tätig war.102 Er ging von der vormals undenkbaren Prämisse aus, dass Mobilität ein Ideal darstelle. Politische Maßnahmen zur Verbesserung der wirtschaftlichen und sozialen Situation im „Strukturwandel“ etwa hätten nicht den gewünschten Erfolg gezeigt, denn es ­seien in der Vergangenheit „vielfältige Barrieren errichtet worden, um die plötzlich so hoch gepriesene und von allen Bergarbeitern gewünschte Mobilität zu verhindern“.103 Hindernisse wie die Honorierung der 50-jährigen Betriebszugehörigkeit durch das Bundesverdienstkreuz trügen dazu bei, dass die „so geförderte Immobilität“ nun „hemmend im Wege“ stehe und ausgeräumt werden müsse.104 Der Versuch, diese „Immobilität“ durch Werbung und Information zu reduzieren, sei aber wenig erfolgreich gewesen. Nur circa 5 Prozent der zur Entlassung anstehenden Bergleute hätten sich für eine Umschulung gemeldet. Diese politisch induzierte Sesshaftigkeit habe zu dem Urteil geführt, dass der Bergarbeiter „weder umschulungsfähig noch umschulungswillig (also immobil) sei.“ 105 Dieses Beispiel verweist auf zwei für die ausgehenden 1960er Jahre essentielle Punkte: Erstens wurde die ordnungsbezogene Polarität von Mobilität und Stabilität durch eine subjektbezogene Dichotomie von Mobilität und Immobilität ersetzt. Das Antonym zu Mobilität war fortan nicht mehr Stabilität, sondern Immobilität. Auch konnten Fluktuation und Mobilität nicht mehr synonym verwendet werden. Zweitens erfuhr der Begriff der Mobilität durch seine Adaption in der Bundesrepublik eine starke Aufladung und ragte in dieser Form in das Berichts- und Konferenzwesen der EGKS hinein. Die Bildungs- oder Umschulungsfähigkeit von Industriearbeitern hatte dort bis zu d­ iesem Zeitpunkt keine Rolle gespielt. Aus einem lokalen Problem Südfrankreichs war über den Umweg über Westdeutschland ein Ideologem entstanden, das seinerseits Aneignungen und Umdeutungen erfuhr. 102 Vgl. Bernhard Brinkert: Tabellarischer Lebenslauf [ohne Titel], in: AHGR, IGBE-Archiv, Nr. 4278. 103 Ders.: Länderbericht über die berufliche Umschulung der in der Kohleindustrie freiwerdenden Arbeitskräfte in der Bundesrepublik Deutschland. Bericht für die Sitzung des Gemischten Ausschusses für die Harmonisierung der Arbeitsbedingungen im Steinkohlenbergbau der EWG am 7. Juli 1970, o. D. [ca. 1970], in: AHGR, IGBE-Archiv, Nr. 3593, S. 9. 104 Ebd. 105 Ebd., S. 10.

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Das Auftreten des Begriffs der Mobilität, um Anpassungsfähigkeit zu thematisieren, markierte also einen doppelten Übergang: Die Verwendung von Begriffen wie Mobilmachung und Mobilität, die z­ wischen militärischer Vorbereitungslogik und individueller und sozialer Zuschreibung changierten, spiegelt eine zentrale Ambivalenz der Genese der Wissenspolitik in den 1960er Jahren wider. Mobilität oszillierte z­ wischen ihrer Rolle als deskriptives Maß und Vermessungsinstrument – eine Beschreibung, die auf soziale Gleichheit und die Bestimmung von Ungleichheit abzielte – sowie dem normativen Auftrag der Mobilisierung, die gefördert, gefordert und gesteigert werden sollte. Darüber hinaus war dem Begriff der Mobilität eine weitere Ambivalenz inhärent: In Moscovicis Verwendung etwa zielte er auf die soziale Dimension ab, meinte die Mobilisierung des Geistes als Formierung der Persönlichkeit, die Mobilisierung sozial „erstarrter“ Gruppen. Mobilität war aber auch eine Forderung der Infrastruktur, bezog sich auf die Ordnung und Regelung, die „richtige“ Beförderung über Verkehrsmittel und -wege, die räumliche, „gute“ Verschiebung von Menschen. Dabei handelte es sich um eine Uneindeutigkeit, die analytisch nur schwer getrennt werden kann: Räumliche, soziale und individuelle – im Deutschen ­später auch die „geistige“ – Mobilität bedingten sich immer gegenseitig. Vordergründig gehorchte dieser Verschiebungsprozess von der Fluktuation zur Mobilität beziehungsweise von der Stabilität zur Immobilität der „Kultur des Lebenslangen Lernens“, die Annika Wellmann für die Zeit „seit den 1970er Jahren“ als ein „neues politisch-pädagogisches Paradigma“ bestimmt hat. Lernen sei nun als „ein unabschließbarer Prozess“ begriffen worden, in dem der Schwerpunkt auf der „Aneignung von Lernfähigkeiten“ lag: Das Ziel sei gewesen, „eine ständige Anpassung der Einzelnen an eine sich wirtschaftlich und technologisch wandelnde Umwelt zu ermöglichen.“ In d ­ iesem Prozess sei dem „Selbstbezug […] Vorrang vor der Fremdbestimmung“ zugekommen.106 Diese und andere Deutungen des „Humankapitals“ und der „Selbstoptimierung“ greifen allerdings zu kurz. Gewiss trat diese Konstellation der selbstgesteuerten Perfektibilität des „lebenslangen Lernens“ in den 1960er Jahren auf. Der Konnex z­ wischen beruflicher (Selbst-)Qualifizierung und einer unter Schlagwörtern des Neoliberalismus und des Humankapitals gefassten Entwicklung seit etwa den 1970er Jahren verdeckt aber die vielgestaltige Genealogie der Sprache der Umstellung. Die ideengeschichtliche Zuordnung läuft so auf eine lineare Ökonomisierungsgeschichte hinaus.107 Die vermeintlich mit einem Rückgang von staatlichen Fürsorgepflichten und von Wohlfahrtsstaatlichkeit verbundene Beschwörung der Anpassungsfähigkeit kannte wissenshistorisch

1 06 Wellmann: Alterssex, S. 341 f. 107 Vgl. hier stellvertretend Spilker: Lebenslanges Lernen.

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betrachtet genau gegenläufige Tendenzen: Sie entstand aus einer Logik der staatlichen Intervention zur Mobilisierung des Individuellen und erlebte vor allem in inter- oder supranationalen Institutionen wie der EGKS eine deutliche Konjunktur. Damit sind allerdings lediglich die Normalität und der Höhenkamm des „lebenslangen Lernens“ markiert. Unklar bleibt, ­welche Ausschlüsse (das heißt negativen Anthropologien) die wissenspolitische Verquickung von Arbeit, Qualifikation und Zukunft hervorbrachte. Eine ­solche Abweichung produzierte der Mobilitätsbegriff in der Bundesrepublik. Der Qualifizierungsimperativ im westdeutschen Steinkohlenbergbau und die Sorge um den Verfall der Begabung

Mitte und Ende der 1960er Jahre trafen diese Diskussionen aus Frankreich und aus der EGKS in der Bundesrepublik auf ein bildungspolitisches Reformklima, das wiederum auf die europäische Suche nach der Mobilität zurückwirkte. Die westdeutsche Debatte um die Bildungsexpansion, die sich in Universitätsgründungen und Schulreformen niederschlug, wirkte auch in die Arbeitswelt: Mit der aktiven Arbeitsmarktpolitik identifizierte die Bundespolitik ab Mitte der 1960er Jahre Ausbildung als den Weg zur Vollbeschäftigung, mit dem Arbeitsförderungs- sowie dem Berufsbildungsgesetz (AFG und BBiG), die der Bundestag beide 1969 verabschiedete, erhielten vormals kaum regulierte Ausbildungsbereiche eine legislative Form. Gleichzeitig lebten in dieser eindeutigen Reformstimmung ältere Traditionen des Mobilitätsbegriffs fort. Ebenso verabschiedeten sich biologistische Bildungs- und Begabungsvorstellungen nicht von der historischen Bühne. Sowohl im Regelschulwesen 108 als auch in der Ausbildung existierten sie weiterhin. In Rhetorik, Symbolik und Inhalt schien die Geschichte aber eindeutig. Sie schien sich in eine Vergangenheit der Erstarrung und eine Gegenwart der Dynamik scheiden zu lassen. Dieser Gegensatz schuf ein Raster, mit dem Räume und Individuen erfasst und kategorisiert werden konnten. Er begünstigte dadurch den rasanten Siegeszug des Mobilitätsdiskurses in den 1960er Jahren.109 Dabei war dieser Erfolg gar nicht ausgemacht. Denn parallel zu seiner Verwendung im französischen und europäischen Kontext der ersten Umstellungsprobleme hatte der Begriff bereits eine deutschsprachige Anverwandlung erfahren; zum Beispiel in der Untersuchung Helmut Schelskys über die „Wandlungen der deutschen Familie in der Gegenwart“.110 In diesen Untersuchungen und in dieser Betrachtung (ähnlich 1 08 Vgl. Kössler: Suche. 109 Vgl. z. B. mit Bezug auf den Schweizer Wirtschaftswissenschaftler Francesco Kneschaurek und dessen Begriff des „Fähigkeitskapitals“ in den 1960er Jahren Bachem: Geschichte, S. 50 – 53. 110 Schelsky: Wandlungen.

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auch bei Theodor Geiger) war allerdings nicht Mobilität das Kernproblem. Vielmehr ging es um die Frage, ob die Bundesrepublik sich selbst als Klassengesellschaft verstehen könne.111 Mobilität war in diesen Betrachtungen das Regulativ, das zum Ausgleich, zur Mitte strebte und im rechten Maß den Klassengegensatz pazifizieren und Ordnung stabilisieren sollte. Wie in den ersten Arbeiten zur Mobilität in der Zwischenkriegszeit wurde Mobilität in einer Analogie von Raum und Gesellschaft als sozialer Faktor der Zirkulation von Ausnahmeindividuen ­zwischen Klassen, Schichten und Orten begriffen.112 Die Bedeutungsverschiebung des Begriffs der Mobilität, die es ermöglichte, die ökonomische Krisenwahrnehmung in eine Krisendeutung des Individuellen und der Qualifikation zu übersetzen, erfolgte in der Bundesrepublik erst während der 1960er Jahre. Besonders sensibel und frühzeitig reagierten der bundesrepublikanische Ausbildungssektor und vor allem der Steinkohlenbergbau auf diese Entwicklung. Die auf europäischer Ebene geführten Diskussionen um Mobilität und den Willen zur Umstellung stellten argumentative Ressourcen bereit, die seit 1958 diagnostizierte Kohlenkrise als eine Krise der Qualifikation zu deuten und dementsprechend Handlungsspielräume zu eröffnen. Die Ausbildungsfunktionäre des Bergbaus übersetzten so modern klingende Schlagwörter in eine offensive Krisenstrategie. Im technischwissenschaftlichen Vortragsprogramm der WBK in Bochum stellte etwa Herbert Buttchereit im Mai 1965 die Brücke zu den EGKS-Debatten her und forderte eine umfassende Rationalisierung des Bergbaus. Der 1963 gegründete Rationalisierungsverband des Steinkohlenbergbaus, der die Vollmechanisierung des Bergbaus vorantrieb, reichte ihm bei Weitem nicht mehr aus.113 Für Buttchereit genügte es nicht, „die technischen Aspekte der Rationalisierungs-, Mechanisierungs- und Automatisierungsmöglichkeiten zu sehen“.114 Auch die Ausbildung und die Fähigkeiten des Personals müssten rationalisiert und verbessert werden. Rund 60 Prozent der Belegschaften ­seien Hilfskräfte oder angelernte Arbeiter.115 In der Zukunft gelte 111 Vgl. Theodor Geiger: Typologie und Mechanik der gesellschaftlichen Fluktuation, in: Wilhelm Bernsdorf/Gottfried Eisermann (Hg.): Die Einheit der Sozialwissenschaften. Franz Eulenburg zum Gedächtnis, Stuttgart 1955, S. 84 – 116; Schelsky: Wandlungen; dazu: Nolte: Ordnung, S. 318 – 377. 112 Vgl. den Überblick bei Alain Bourdin: Les mobilités et le programme de la sociologie, in: Cahiers internationaux de sociologie 118 (2005), 1, S. 5 – 21, hier S. 7 – 12. 113 Vgl. Dietmar Bleidick: Bergtechnik im 20. Jahrhundert. Mechanisierung in Abbau und Förderung, in: Ziegler (Hg.): Geschichte, S. 355 – 411, hier S. 399; Uwe Burghardt: Mit der Vollmechanisierung gegen den Niedergang. Der Steinkohlenbergbau in Nordfrankreich und Westdeutschland in der Nachkriegsepoche, in: Technikgeschichte 61 (1994), S. 83 – 109. 114 Herbert Buttchereit: Die Bergarbeiter im deutschen Steinkohlenbergbau in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Vortrag im Technisch-Wissenschaftlichen Vortragswesen der WBK am 1. 4. 1965, 26. 5. 1965, in: montan.dok/BBA 120/1793, S. 2. 115 Ebd., S. 11 – 17.

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es, diesen Anteil auf 30 Prozent zurückzufahren, um die Produktivität zu steigern. Neben diesen Angelernten sollten Belegschaften dann zu 70 Prozent aus Facharbeitern bestehen.116 Denn die Richtung der ökonomischen und technischen Entwicklung sei eindeutig: Auf der einen Seite stünden „Tätigkeiten mit hohen Ansprüchen an geistige Beweglichkeit und Vielseitigkeit der Kenntnisse und Fertigkeiten“.117 Auf der anderen Seite bliebe allerdings noch ein Residuum an „leichter erlernbare[n], stark spezialisierte[n] Tätigkeiten“. Die „muskuläre Belastung“ werde sich reduzieren, die „nervlich-geistige[] Anspannung“ erhöhen. Allgemein werde die mechanisierte und rationalisierte Arbeit der Zukunft ein Höchstmaß an „Mobilität“ voraussetzen.118 Zum Ende seines Vortrags spitzte Buttchereit seine Schlussfolgerungen zu: In der Zukunft stellten „die Arbeitsanforderungen […] keine langfristig kalkulierbaren Größen mehr dar“.119 Den Auszubildenden sei daher ein „Standardwissen und -können zu vermitteln, das möglichst hohe Anpassungsfähigkeit an sich ändernde und neuartige Arbeitsbedingungen auf verschiedenen Qualifikationsebenen sichert“.120 Das Ziel der Ausbildung sei fortan nicht mehr ein Kanon fester Inhalte, sondern „die jungen Menschen auf ein Leben ständiger Anpassung vorzubereiten, ihre geistigen Fähigkeiten zu schärfen und ein Verantwortungsgefühl bei ihnen zu entwickeln“. Darüber hinaus müsse das „Lernvermögen“ der Auszubildenden „so gefördert werden, daß sie selbst in der Lage sind, sich immer neues Wissen zu erarbeiten“.121 Angesichts des technischen und wirtschaftlichen Strukturwandels, so die grassierende Rede der Wissenspolitik, und der Verlagerung von körperlichen zu geistigen Arbeitsaufgaben, bleibe nur eine Höherqualifizierung für eine Arbeit und für Berufe, deren inhaltliche Charakteristika nicht bestimmbar ­seien.122 Das neue Ziel der Ausbildung war Anpassungsfähigkeit. Diese unter der Chiffre der Mobilität subsumierte Vorstellungswelt machte auch vor der Stahlindustrie nicht halt. Hermann Giesen etwa, ­Ausbildungsleiter 116 Ebd., S. 21. 117 Ebd., S. 33. 118 Ebd., S. 33 und 35. 119 Ebd., S. 44. 120 Ebd., S. 45. 121 Ebd. 122 Weitere Beispiele bei Karl-Otto Brückendorff: Zahlen über Ausbildung und Nachwuchs bei der Bergbau-AG . Constantin der Große. Studie von Dipl.-Bergbauingenieur Bückendorff, 1959, in: montan.dok/BBA 20/3556; Heinz Gentz: Das Problem der Berufsausbildung im Bergbau unter Berücksichtigung der fortschreitenden Mechanisierung. 1. Bergwirtschaftliche Arbeit des Bergreferendars Heinz Gentz, vorzulegen am Oberbergamt Dortmund, August 1958, in: LAV NRW-W, B 180,1, Nr. 2206; Herbert Hölterhoff: Die Auswirkungen der Mechanisierung auf die künftige Belegschaftszusammensetzung im Steinkohlenbergbau unter Tage, in: Glückauf 96 (1960), S. 626 – 635.

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der Mannesmann AG Hüttenwerke, prophezeite eine Ausbildung, „die den zukünftigen Facharbeiter in den Stand versetzen muß, daß er jederzeit nach kürzester Einarbeit eine neue Berufstätigkeit ausüben kann“.123 Diese Meinung stach aus dem Stimmenkonzert der Ausbildungsreformdebatten der 1960er Jahre nicht sonderlich heraus. Hinsichtlich der Auszubildenden wurde er aber im Folgenden sehr deutlich. Es sei weithin bekannt, „daß die Schulkenntnisse unserer Volksschulabgänger für die meisten unserer heutigen Lehrberufe unzureichend sind“.124 Das „sinkende Niveau unserer Volksschüler“, bedingt durch den Ausbau des weiterführenden Schulwesens, erhöhe die Notwendigkeit der Ausbildungsreform nur noch. In nuce artikulierte Giesen den wissenspolitischen Nexus von Strukturwandel, Begabungsverfall und Höherqualifizierung sowie die dahinterstehende Grammatik der Differenz: Bei einer sehr stark abgebauten Ausbildungszeit und Lehrlingen, die von der Substanz her […] weniger mit in die Lehre bringen und das Wenige dann auch noch schlecht oder nur mangelhaft beherrschen, muß eine Ausbildung mit mehr Inhalten, sowohl bei den Fertigkeiten als auch bei den Kenntnissen, verbunden mit einer Forderung nach fachlich charakterlicher Höher-Qualifizierung, durchgeführt werden und das für eine Zukunft, von der wir nicht wissen, was sie unseren zukünftigen Mitarbeitern abfordert.125

Mit dieser Verknüpfung von „Höher-Qualifizierung“ und der Angst vor einem Begabungsschwund stand Giesen nicht allein. Er griff eine Sorge auf, die von der frühen Auseinandersetzung um die Automation herrührte und in den 1960er Jahren an die Oberfläche drang.126 Sah Moscovici in Frankreich also Staat und Gesellschaft in der Pflicht, das Individuum zu mobilisieren, stellten Buttchereit, Giesen und andere in der Bundesrepublik zunächst die Fähigkeit zur Mobilität, die Umstellungskapazität des Individuums in Frage. Mit ihren Zweifeln sollten sie zumindest für die westdeutsche Schwerindustrie in gewisser Weise recht behalten. Hegte das bergbauliche Lehrpersonal einerseits Qualifikationsfantasien, sah es sich andererseits mit dem Problem der Bergjungarbeiter konfrontiert. Diese Jugendlichen ohne Ausbildungs-, aber mit einem 123 Hermann Giesen: Die Bedeutung der Ausbildung in der Lehrwerkstatt innerhalb der betrieb­ lichen Lehre. Vortrag des Leiters der Hauptabteilung Ausbildung und Weiterbildung der Mannes­ mann AG Hüttenwerke bei der Sitzung des Berufsbildungsausschusses der IHK Duisburg am 7. 12. 1967, in: Rheinisch-Westfälisches Wirtschaftsarchiv (RWWA) Köln, 20 – 1668 – 2, S. 2. 124 Ebd., S. 4. 125 Ebd., S. 5. 126 Siehe zum Hintergrund Heßler: Ersetzung; Platz: Revolution. Vgl. als Quelle z. B. Helmut Schelsky: Die sozialen Folgen der Automatisierung (1957), in: ders.: Die sozialen Folgen der Automatisierung, Düsseldorf u. a. 1957, S. 23 – 46, hier S. 31.

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­Einarbeitungsvertrag beschäftigten unter dem Rubrum der Ungelernten die Berufs- und Ausbildungspädagogik seit der Weimarer Republik.127 In den 1950er und 1960er Jahren befand sich dieser Diskurs und diese Problematisierungsweise von Arbeit und Begabung im Umbruch: Ein vornehmlich moralisch-holistisch verstandenes Fürsorgeproblem der jugendlichen Verwahrlosung wurde in eine Wissenspolitik überführt. Fortan ging es darum, zu eruieren, ob überhaupt und, wenn ja, wie diese Jugendlichen für die Zukunft der Arbeit verfügbar gemacht werden könnten. Im rheinischen Hückelhoven etwa tauchte die Frage bereits 1958 auf: War es durch Eingliederungsmaßnahmen wie die Pestalozzidörfer und Lehrlingsheime gelungen, Jugendliche für den Bergbau zu gewinnen, zu fixieren und zu integrieren, stieß die etablierte Praxis auf Rückfragen. Der Bonner Oberbergamtsdirektor, für die Bergberufsschulvorstandssitzung nach Hückelhoven gereist, warf in der Diskussion über die Klassenstruktur der Berufsschule die Frage auf, „warum Jungbergleute keinen Lehrvertrag hätten“.128 Dazu führte ein Bergberufsschullehrer aus, dass immerhin „25 % der Jungs, die intelligenzmäßig dafür in Frage kämen“, auf einen Lehrvertrag verzichten würden. Die übrigen Jungarbeiter s­eien „auf solch niedriger Intelligenzstufe“, dass ein Ausbildungsvertrag nicht in Frage komme. Er versicherte ebenso, dass sich die Schule, um die „Intelligenzstufe“ herauszufinden, nicht nur auf Schulzeugnisse beschränken würde, sondern auch „eine[] kleine[] Prüfung in Deutsch und Rechnen“ durchführe. Diese bestätige die „Auslese […] zu 95 %“.129 Einige Jahre s­ päter tauchte diese Auffassung unter ähnlichen Vorzeichen wieder auf: In den separaten Bergjungarbeiterklassen sei, so klagte ein Lehrer, der Unterricht „durch das sehr unterschiedliche Intelligenzniveau erschwert“. Einige Jugendliche ­seien gar „als ‚bildungsunfähig‘ zu bezeichnen“.130 Auch deuteten die Volksschulzeugnisse auf ein „weiteres, leichtes Absinken“ des „Intelligenzniveaus“

127 In der Auseinandersetzung um die „ungelernten“, ­später „lernbehinderten“ Auszubildenden zeigte sich in den 1980er Jahren ein historisches Interesse, das d­ ieses Problem als der indus­ triellen Produktionsweise inhärent begriff und dementsprechend traditionsbildendend wirkte. Vgl. Martin Kipp/Horst Biermann (Hg.): Quellen und Dokumente zur Beschulung der männlichen Ungelernten, 1869 – 1969 (Quellen und Dokumente zur Geschichte der Berufsbildung in Deutschland, Reihe C 2), 2 Bde., Köln u. a. 1989. Vgl. zur Vorgeschichte der Fürsorgeerziehung klassisch Detlev J. K. Peukert: Grenzen der Sozialdisziplinierung. Aufstieg und Krise der deutschen Jugendfürsorge 1878 bis 1932, Köln 1986; ders.: Jugend ­zwischen Krieg und Krise. Lebenswelten von Arbeiterjungen in der Weimarer Republik, Köln 1987. 128 Kranefuss: Niederschrift über die Schulvorstandssitzung der Bergberufsschule Hückelhoven am 1. 4. 1958, 26. 4. 1958, in: montan.dok/BBA 175/298, S. 4. 129 Ebd. 130 Niederschrift über die Schulvorstandssitzung der Bergberufsschule Hückelhoven am 3. April 1962, 18. 4. 1962, in: ebd., 175/299, Bd. 2, S. 3.

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hin.131 Die „Feststellung des Intelligenzniveaus“ beschäftigte die rheinländischen Ausbilder und Lehrer auch in den folgenden Jahren, bis hin zu der Frage, ob für die Bergjungarbeiter, von denen „fast die Hälfte […] Hilfsschüler sind“, Unterricht überhaupt noch sinnvoll sei.132 Er sei mittlerweile „kaum noch zumutbar“.133 Die Lösung im Aachener Revier bot sich im „Wolfenbütteler Modell“. In der niedersächsischen Stadt Wolfenbüttel hatte der Berufsschullehrer Günter Wiemann von 1955 bis 1962 einen Schulversuch für Jungarbeiter koordiniert, der deren Integra­ tion in den Arbeitsmarkt durch eine an Handarbeit und Idealen der ständischen Handwerkerausbildung orientierte Schulung ermöglichen sollte.134 Dieser im Kontext der Diskussionen um die Entstehung der Arbeitslehre angesiedelte Versuch stellte den Bezug zum „Strukturwandel“ der Arbeit dezidiert her.135 Das Modell eröffnete die Möglichkeit, moralisch-holistische Eingliederungsvorstellungen mit Prognosen des Auseinanderdriftens von qualifizierter und manueller Arbeit zu vereinen. In der Adaption des Modells durch den Bergbau stand das „Werken“ an erster Stelle.136 Da diese Jugendlichen dem „rein theoretischen Unterricht kaum folgen könnten“, wurden ihre Stunden in den Keller der Bergberufsschule verlegt, wo sie an vier Werkbänken und einer Holzbearbeitungsmaschine ihre manuellen Fähigkeiten erproben sollten.137 Während also auf der einen Seite diskutiert wurde, wie sich Beweglichkeit, Mobilität und Anpassungsfähigkeit der angehenden Bergleute steigern ließen, wirkten auf der anderen Seite Eingliederungsvorstellungen für die Ungelernten fort. So führte etwa der um eine Stellungnahme zu einem Eingliederungsprojekt in Rotterdam gebetene zuständige Lehrer aus, dass es in 131 Ebd., S. 4. 132 Kranefuss: Niederschrift über die Schulvorstandssitzung der Bergberufsschule Hückelhoven am 2. April 1963, Mai 1963, in: ebd., S. 3. 133 Ebd., S. 3. 134 Dirk Plichat: Schule und Berufserziehung unter dem Leitbild einer Kultur der Arbeit. Einführung in frühe Studien von Günter Wiemann, in: Helmut Meschenmoser u. a. (Hg.): Schule unter dem Leitbild einer Kultur der Arbeit. Frühe Schriften von Günter Wiemann zur Arbeitslehre und Berufspädagogik, Berlin 2013, S. 7 – 14, hier S. 9. Zum Wolfenbütteler Modell vgl. Günter Wiemann: Das Wolfenbütteler Modell der Jungarbeiter-Berufsschule (Berufspädagogische Beiträge 16), Braunschweig 1962. 135 Günter Wiemann: Berufserziehung für Jungarbeiter in einer technisch­industriell bestimmten Arbeitswelt, in: Die Gestaltung der Heimerziehung angesichts des Strukturwandels in der gegenwärtigen Arbeitswelt. Bericht über die Tagung des Allgemeinen Fürsorgeerziehungstages in Hamburg vom 5. bis 8. Mai 1958, Allgemeiner Deutscher Fürsorgeerziehungstag, Hannover 1958, S. 88 – 93 forderte ein „Maximum an Umstellungsfähigkeit“ (S. 88). 136 Wabner: Einrichtung des Bergberufsschulunterrichts für die neu aufgenommene Bergjungleute­ klasse nach dem „Wolfenbütteler-Modell“. Bericht, 21. 4. 1964, in: montan.dok/BBA 175/298, S. 1. 137 Ebd., S. 1 f.

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beiden Fällen um die „Stärkung des Berufsstolzes“ und um die „Erziehung der Jugendlichen zu Gehorsam, Pünktlichkeit, Zuverlässigkeit und Härte“ sowie die „Teilung der Begabten und Minderbegabten (Hilfsschüler!)“ gehe.138 Der Qualifizierungsimperativ hatte sich zwar durchgesetzt, Lehrer und Ausbilder konnten jedoch weiterhin auf moralisch-holistische Begründungen zurückgreifen, um ihrer Vision Eindeutigkeit zu verleihen. Es handele sich, so klagten die Lehrer, um ein „besorgniserregendes Ansteigen der Jugendkriminalität“, deren Ursache in „als asozial zu bezeichnende[n] häusliche[n] Verhältnissen“ liege.139 Doch die Situation schien sich nicht zu bessern. 1967 wiederholten sich die Klagen: Nur noch „3 – 4 Jugendliche“, die sich für eine Ausbildung bewerben würden, könnten den „höheren Anforderungen an die Intelligenz und die Volksvorschulkenntnisse genügen“.140 Und selbst in den Klassen für Jugendliche mit Ausbildungsvertrag ­seien nur noch wenige Jugendliche, „die Qualitäten für eine spätere Steigerausbildung mitbringen“.141 Zwar habe der „Landschulheimaufenthalt […] spürbar gewirkt“, dem „Problem versagender Elternhäuser“ sei aber so nicht beizukommen. Kriminalität und Eigentumsdelikte würden unter den Jugendlichen grassieren und der „häusliche Fleiß“ könne nur noch „durch scharfe Überwachung und unter Zuhilfenahme betrieblicher Zwangsmittel erreicht werden“.142 Im Schuljahr 1969/70 kapitulierten die Lehrer des Aachener Reviers schließlich. Sie beschlossen, die „langjährigen Versuche, deutsche Jugendliche mit dem Abschluß des 7. oder 8. Hauptschuljahres“ auszubilden, einzustellen. Die Bemühungen s­ eien „nur in ganz seltenen Fällen“ erfolgreich und die Auszubildenden ebenso selten bereit, den nötigen Arbeitseifer an den Tag zu legen, zumal sich auch die Elternhäuser nicht beteiligen würden.143 Damit stieß eine Lösungsstrategie für eine durch den Eingliederungskonsens begünstigte Problemwahrnehmung an ihre Grenzen. Gewiss rührten die Gruppenunterscheidung und die Begründung von Differenz im Aachener Revier von der Diagnose der sich wandelnden beruflichen Anforderungen her. Eine Lösungsstrategie, die sich an moralisch-holistischen Vereindeutigungsstrategien von Milieukontrolle, 138 Wabner: Stellungnahme zur Schrift „Die Hafenfachschule Rotterdam“, 1. 6. 1965, in: montan.dok/­ BBA 175/299, Bd. 2, S. 1. 139 Kranefuss: Niederschrift über die Schulvorstandssitzung der Bergberufsschule der Gewerkschaft Sophia-Jacoba in Hückelhoven am 29. März 1966, 14. 4. 1966, in: montan.dok/BBA 175/298, S. 6 – 7. 140 Kranefuss: Niederschrift über die Schulvorstandssitzung der Bergberufsschule der Gewerkschaft Sophia-Jacoba in Hückelhoven am 4. Juli 1967, 28. 6. 1967, in: ebd., S. 6. 141 Ebd., S. 9. 142 Ebd., S. 9 f. 143 Bergberufsschule Hückelhoven: Bericht über das Schuljahr 1969/70, Oktober 1970, in: montan.dok/​ ­ BA 175/298, S. 5. B

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Verfallsdiagnosen und totaler Erfassung orientierte, wirkte aber offenkundig nicht mehr überzeugend. Die Zukunft schien anderen Strategien der Vereindeutigung von Begabung, Wissen und Intelligenz bei identischer Problemwahrnehmung zu gehören: Die Eingliederung wich einer Wissenspolitik der Anpassung.

3.2 Die Rationalisierung der Ausbildung als Wissenspolitik der Anpassung, 1960 – 1966/67 Der Qualifizierungsimperativ als neuer Problematisierungsmodus industrieller Arbeit beschränkte sich nicht auf den kleinen Kreis von Expertinnen und Experten aus Wissenschaft, Gewerkschaften und Politik. Er wurde bereits in den frühen 1960er Jahren im Ausbildungsalltag umgesetzt und verdrängte so peu à peu an Ausbildung geknüpfte moralische Ganzheits- und Eingliederungsvorstellungen. Darüber zog er im Laufe der 1960er Jahre weitreichende Popularisierungskampagnen nach sich. Die Stufenausbildung und die kybernetische Pädagogik stehen im Folgenden im Mittelpunkt, um diese Reformversuche im industriellen Ausbildungswesen zu untersuchen. Die Synchronisierung von Arbeit und Begabung in der Stufenausbildung

Eine der frühesten und weitreichendsten Maßnahmen – sowohl was die Ausgestaltung als auch was die öffentliche Wahrnehmung betrifft – stellten die Versuche zur Einführung der Stufenausbildung in Westdeutschland dar.144 Während der gesamten 1960er Jahre und bis zur Verabschiedung des Berufsbildungsgesetzes im Jahr 1969 fungierte die Stufenausbildung als ein breit diskutiertes Modell, das den „Strukturwandel“ beherrschbar machen sollte.145 Aus den verschiedenen Ausgestaltungen, die während der 1960er Jahre diskutiert wurden, dient im Folgenden die Stufenausbildung bei der Friedrich Krupp AG in Essen als Beispiel, um diese Reformbestrebungen als frühe wissenspolitische Praxis zu charakterisieren.146 144 Vgl. als Quelle zu den in der Nachkriegszeit einsetzenden Modellen Heinz Pütt: Stufenausbildung. Anspruch und Wirklichkeit einer beruflichen Ausbildungsform. Eine historisch-systematische und empirische Untersuchung über Stufenpläne und Stufenmodelle, Essen 1976. 145 Vgl. aus der zeitgenössischen Kritik Helga Deppe-Wolfinger: Arbeiterjugend – Bewußtsein und politische Bildung, Frankfurt a. M. 1972, S. 115 – 130 zum Plan der Arbeitsstelle für Betriebliche Berufsausbildung (ABB) sowie zum Krupp- und IGM-Stufenplan mit weiteren Nachweisen. 146 Zur Geschichte Krupps in der Nachkriegszeit vgl. Lothar Gall: Von der Entlassung Alfried Krupp von Bohlen und Halbachs bis zur Errichtung seiner Stiftung 1951 bis 1967/68, in: ders. (Hg.): Krupp im 20. Jahrhundert: Die Geschichte des Unternehmens vom ­Ersten Weltkrieg bis zur Gründung der Stiftung, Berlin 2002, S. 473 – 590.

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Unabhängig davon, w ­ elche Streitpunkte es ­zwischen den Plänen – etwa dem der IGM oder der IHK Braunschweig – gab: Sämtliche Modelle gingen davon aus, dass über Berufsbildung eine neue Hierarchie in der Arbeit eingeführt werden könnte und sollte. Darin sollte eine Symmetrie z­ wischen dem Begabungsniveau der Auszubildenden, den erlernbaren und erlernten Fähigkeiten, und der Stellung im Produktionsprozess herrschen. Stufenausbildungen – so die These – abstrahierten zwar von konkreten Arbeitsanforderungen, gingen aber davon aus, dass die Ökonomie der Zukunft für jede objektiv ermittelbare und fixe Begabungsstufe eine adäquate Beschäftigungsmöglichkeit bieten und lediglich eine Anpassung beider Elemente nötig würde. In ­diesem Sinne waren sie Ausprägungen einer Wissenspolitik der Anpassung. Die ersten Überlegungen zu einer Reform der Berufsausbildung in der Eisenund Stahlindustrie setzten Anfang der 1960er Jahre ein. Solche Modelle erfreuten sich bis zum Beginn der 1970er Jahre großer Beliebtheit. Nach der offiziellen Einführung der Stufenausbildung bei der Friedrich Krupp AG im Jahr 1965 fand diese – zumindest in der Selbstwahrnehmung der Ausbildungsexperten bei Krupp – sogar Eingang ins Berufsbildungsgesetz. Zu Beginn der 1970er Jahre, als die institutionellen Rahmenbedingungen für eine flächendeckende Einführung gegeben waren, verlor die Stufenausbildung aber wieder an Popularität. Dieser Bedeutungsverlust ist einerseits auf ihre starke Politisierung während der Lehrlingsproteste zurückzuführen. Andererseits stieß die Stufenausbildung angesichts einer Restrukturierung der Begabungsfrage im Feld der Arbeit an Grenzen. Die Stufenausbildung schuf eine neue Möglichkeit, auf die Subjekte des Strukturwandels zuzugreifen. Bereits in den Vorüberlegungen, die bei Krupp 1962 einsetzten, spielte das Verhältnis von „Strukturwandel“ und Qualifikation eine zentrale Rolle. Die herkömmliche gewerbliche Ausbildung entspreche nicht mehr der „Berufswirklichkeit“, da sie bis zu d ­ iesem Zeitpunkt durch die „Standes- und Berufsauffassung des Handwerks“ geprägt sei. Dieser fachliche Rahmen sei aber „für den Strukturwandel in der Fertigung zu eng geworden“.147 Dementsprechend, darin lag der Ausgangspunkt des Reformprojekts und darin waren sich die Beteiligten um den Krupp-Psychologen Karl Otto Breustedt einig, stellten Arbeit und Beruf „keine langfristig kalkulierbaren Größen mehr dar“.148 An die Stelle eines genauen Anforderungsprofils und eines konkreten Inhalts, der in einer Ausbildung erworben werden sollte, trat nun ein „Standard an Wissen und Können“, der eine „möglichst hohe Anpassungsfähigkeit“ sichern sollte. Gleichzeitig führe 147 Karl Otto Breustedt: Auszug aus der Berichterstattung des Arbeitsausschusses im Arbeitskreis „Ausbildungswesen“ über die Ausarbeitung eines Rahmenplanes zur Änderung der betrieblichen Berufsausbildung, 13. 11. 1962, in: Historisches Archiv Krupp, Essen, WA 119/v 537, S. 1. 148 Ebd., S. 2.

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die Expansion des höheren Schulwesens dazu, dass für die Berufsausbildung nur Volksschüler zur Verfügung stünden, die über „ein derart niedriges Vorbildungsniveau“ verfügen würden. Daher sei für diese Gruppe im „heutigen Berufsausbildungssystem[] kein Platz“.149 Dieses Beispiel aus der Frühphase der Entwicklung der Stufenausbildung verweist darauf, dass Überlegungen zur Erosion der Beruflichkeit, die als typisch für die 1970er Jahre gelten,150 auf die späten 1950er und frühen 1960er Jahre zurückgehen. Darüber hinaus können die Maßnahmen und Reformen, die bei Krupp im Laufe der 1960er Jahre durchgeführt wurden, als emblematisch gelten: weniger im Sinne ihrer breiten und von Krupp geförderten wohlwollenden öffentlichen Aufnahme als vielmehr im Sinne einer möglichen Ausprägung wissenspolitischer Qualifikationsansätze. Diese Form wird im Weiteren analytisch als Wissenspolitik der Anpassung gefasst. Die Stufenausbildung und die sie umgebenden Debatten können als anpassend im dreifachen Sinne verstanden werden: Erstens verfolgte sie eine Anpassung des Verhältnisses von Arbeit und Begabung, zweitens die Vereindeutigung des Willens zur Umstellung und drittens die Vereinbarkeit von Mobilität und Beruflichkeit. Zunächst sah die Stufenausbildung eine doppelte Vereindeutigung im Ausbildungssystem vor. An die Stelle verschiedener Spezialberufe sollten Schwerpunktgruppen – Schlosser, Elektriker, Metallarbeiter – treten. Auszubildende sollten zunächst eine einjährige Grundausbildung erhalten, um sich danach zu spezialisieren.151 Die Dauer der Ausbildung beziehungsweise die Spezialisierungsrichtung und das zu erreichende Niveau verschoben sich dann stufenweise: Ein erfolgreiches Abschneiden im ersten Jahr führte zum Abschluss des Betriebswerkers, ein Abschluss nach zwei beziehungsweise zweieinhalb Jahren zum Beruf des Facharbeiters in der entsprechenden Berufsgruppe. Nach drei Jahren wurde der Titel des qualifizierten Facharbeiters verliehen und auf eine weitere Ausbildung nach einiger Berufspraxis folgte eine Aufbaustufe, die als Techniker beendet werden konnte.152 1 49 Ebd. 150 Vgl. etwa Wiebke Wiede: Prekäre Beruflichkeiten. Die Subjektivierung von Arbeitslosen in Berufsbildung und -beratung in Deutschland und Großbritannien (1964 – 1990), in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 24 (2013), 1, S. 109 – 130, hier S. 122. 151 Vgl. etwa Manfred Leiss: Durch Stufenausbildung zu einer leistungsorientierten Berufsausbildung, in: DGB (Hg.): Stufenausbildung in der Diskussion, o. O. [Düsseldorf ] o. J. [1965], S. 2 – 12. Aus der Perspektive Krupps Hans Georg Bärsch: Betriebliche Ausbildung bei Krupp. Umfeld und Gehalt einer Reformbemühung, in: August Marx (Hg.): Personalführung, Bd. 4: Lernen und Ausbilden in ihrer Bedeutung für die Betriebswirtschaften, Wiesbaden 1972, S. 143 – 167; ­Breustedt: Auszug, S. 3. 152 „Krupp-Stufenausbildung“ – Ein neuer Weg der gewerblichen Berufsausbildung. Anonyme Darstellung, o. D. [ca. 1967], in: Historisches Archiv Krupp, WA 131/9679, S. 3.

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Die Einführung der Stufenausbildung wurde medial breit flankiert. Die ersten Jugendlichen, die nach dem Stufenausbildungsplan ihr Berufsleben bei Krupp begannen, wurden am 1. April 1965 in einem Festakt in der Villa Hügel – dem Stammsitz der Familie Krupp im Süden der Stadt Essen – der Öffentlichkeit präsentiert. Unter Verweis auf die „Anpassungsfähigkeit des ausgebildeten jungen Menschen“, die durch die Stufenausbildung langfristig sichergestellt werde,153 inszenierte sich das Unternehmen den anwesenden Vertreterinnen und Vertretern der Medienöffentlichkeit – geladen waren unter anderem Agence France-Press und die Deutsche Presseagentur 154 – als seit rund 100 Jahren um den Nachwuchs bemühter „Pionier im Ausbildungswesen“.155 Die gewünschte Aufmerksamkeit wurde Krupp zuteil. Selbst im spanischen Pamplona konnten interessierte Leserinnen und Leser sich darüber informieren, wie Krupp die Berufsausbildung „revolutionierte“.156 Ebenso galt die Stufenausbildung in der Debatte um die Reform des beruflichen Bildungswesens in der Bundesrepublik als Paradebeispiel dafür, wie „Mobilität und Elastizität“ gefördert und der Facharbeiter der Zukunft ­geschaffen werden könnte: Wir brauchen mehr Vielseitigkeit, Fähigkeit zur Umstellung, Ausweichen in benachbarte Berufsbereiche oder in andere Betätigungen. Gefragt ist künftig in erster Linie der breiter ausgebildete, anpassungsfähige, mit einem guten Grundwissen ausgestattete Arbeitnehmer, der im Laufe seines Lebens, wenn es nottut, auch wechselnde Funktionen auszuüben vermag, und der bereit ist, ständig dazuzulernen.157

Diese Euphorie schrieb sich auch in der Geschichtswissenschaft fort.158 Jüngst verwies Knud Andresen auf die „Gefahr der Selektion“, die „mit dem Kriterium der ‚Eignung‘“ in der Stufenausbildung gegeben sei.159 Die der Stufenausbildung zugrunde liegende Logik der Anpassung von Arbeit und Begabung folgte allerdings einem Anspruch, für den Selektion keine Gefahr, sondern konstitutiv war. 153 Krupp-Rahmenplan zur Stufenausbildung. Technik schafft ständig neue Realitäten/Ausbildung für Heute und Morgen. Pressemitteilung, April 1965, in: ebd., WA 119/v 537. 154 Lehrlingseinstellungsfeier am Donnerstag, dem 1. April 1965 in der Villa Hügel. Aktenvermerk der Stabsabteilung Information/Besuchswesen an Graf Zedtwitz-Arnim, 16. 3. 1965, in: ebd. 155 So eine Firmenchronologie: KRUPP – Pionier im Ausbildungswesen. Dokumentation, April 1965, in: ebd., WA 131/9679. 156 Werner Lehmann: Krupp revoluciona la formación profesional. Dos anos de aprendizaje, menos especiandades y mas adaptación a la realidad industrial, in: Diario de Navarra, 11. Juni 1965, enthalten in: Historisches Archiv Krupp, WA 55/v 1220. 157 Valentin Siebrecht: Lernen für 1980. Die Berufsausbildung hängt an überholten Traditionen, in: Die Zeit, 25. September 1965. 158 Vgl. z. B. Lipsmeier: Berufsbildung, S. 456. 159 Andresen: Radikalisierung, S. 106.

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Diese Perspektive legte Karl Otto Breustedt ausführlich in einem Vortrag am 19. Mai 1965 im Düsseldorfer Industrie-Club vor dem Studienkreis für betrieb­liche Personal- und Sozialpolitik dar. Neben der sich verändernden „Berufswirklichkeit“, dem „Strukturwandel in der Fertigung“ und der Uneindeutigkeit künftiger Arbeitsanforderungen 160 machte er vor allem Verschiebungen im Bildungswesen für die Reformbemühungen verantwortlich. Diejenigen Schüler, die auf der Volksschule verblieben, verfügten über ein „derartig niedriges Vorbildungsniveau“, dass sie nicht mehr ausgebildet werden könnten.161 Entsprechend dieser Vorstellung eines Begabungsverfalls sei es nicht Aufgabe der Stufenausbildung, „eine breitere Grundausbildung zu vermitteln und schrittweise höher zu qualifizieren“, sondern benötige jede Stufe „eigenständige Berufsinhalte“.162 Das Ziel sei dementsprechend eine „Auflockerung und Differenzierung der Ordnungsvorstellungen und Normen“, also ein strukturiertes und hierarchisiertes „Qualifikationsgefüge“.163 Dieses im Betrieb notwendige Qualifikationsgefüge entspreche nicht nur der „Vorbildung“ der Auszubildenden, sondern auch der „natürlichen“ Begabungsstruktur.164 Breustedt richtete sich damit gegen eine Bildungspolitik, die sich für ihn zu sehr auf den Besuch einer höheren Schule fixierte. Die Schüler, die „auf Grund ihrer nicht sonderlich ausgeprägten oder mäßigen theoretischen Begabung auf den weiterführenden Schulen scheitern und die früher die guten Volksschüler gewesen wären“,165 folgten aber weiterhin der „Ideologie der ordentlichen Lehre“. Sie wünschten sich also anerkannte Berufe und einen weiteren Rückgang der Anlernausbildungen.166 Diese Vorstellung sei aber ein „Luxus“, den sich die hochindustrialisierte und sich verändernde Industriegesellschaft nicht mehr leisten könne: Der Beruf der Zukunft werde, so Breustedt, der Anlernberuf für die breite Masse der Auszubildenden sein, während die dreijährige Ausbildung den Spezialarbeitern vorbehalten sein sollte. Dieser Wunsch basierte auf der Annahme eines Begabungsverfalls,167 der es erfordere, betriebliche 160 Karl Otto Breustedt: Neue Tendenzen in der innerbetrieblichen Aus- und Fortbildung. Vortrag, gehalten am 19. Mai 1965 im Industrie-Club, Düsseldorf, anläßlich der Mitgliederversammlung des Studienkreises für betriebliche Personal- und Sozialpolitik e. V. „Der neue Betrieb“, Düsseldorf, 11. 5. 1965, in: Historisches Archiv Krupp, WA 119/v 537, S. 15 f. 161 Ebd., S. 16. 162 Ebd., S. 19. 163 Ebd., S. 21. 164 Ebd., S. 22. 165 Ebd., S. 25. 166 Ebd., S. 26. 167 Frank Biess spricht von „Qualifikationsniedergang“ – bezieht sich aber auf die Angst vor niedrig­ qualifizierter Arbeit, nicht vor unqualifizierbaren Individuen. Vgl. Frank Biess: Republik der Angst. Eine andere Geschichte der Bundesrepublik, Reinbek bei Hamburg 2019, S. 155 und 177.

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und Qualifikationshierarchien neu auszurichten. Die dreijährige Lehre könne aufgrund fehlender Begabungen gar nicht mehr die Norm darstellen.168 Breustedt forderte dementsprechend, die zweijährige Berufsausbildung als neuen Standard festzulegen. Angesichts des Arbeitskräftemangels müsse die gewerbliche Ausbildung bisher unentdeckte Gruppen erschließen und an die fein graduierte Qualifikationshierarchie im Betrieb anpassen. Die „Sorgenkinder der Berufsberatung“, die „Grenzfälle der Berufseignung in der 6. und 7. Klasse der Volksschule sowie in der Sonderschule“, sollten ebenfalls als „Nachwuchsreservoir für den Industriebetrieb“ verstanden werden.169 Die Anpassung der Berufsausbildung an ein angenommenes Qualifikations­ bedürfnis der Arbeit der Zukunft artikulierte Breustedt unter Gesichtspunkten der betrieblichen Rentabilität. Gleichzeitig vermied die Krupp’sche Ausbildungsabteilung ­solche Rentabilitäts- und Nutzbarkeitsargumente in einer weiteren Öffentlichkeit dezidiert. Dort bemühte sie stattdessen ein Register der sozialen Fürsorge, das im latenten – und s­ päter offen zu Tage tretenden – Widerspruch zu Breustedts Nützlichkeitserwägungen stand. Ein Artikel in den VDI-Nachrichten etwa hob die soziale Leistung des Stufenplans hervor: „Den ungelernten jugendlichen Arbeiter wird es bei Krupp nicht mehr geben.“ 170 Die Ausbildungsverantwortlichen bei Krupp zeigten sich überzeugt, dass eine schwerindustrielle Arbeit der Zukunft unter den Bedingungen des Strukturwandels eine Proportionalisierung von Arbeit und Begabung nötig mache, also ein Fortschreiten des Auszubildenden in den verschiedenen Stufen, „bis er die Grenzen seiner Bildungsfähigkeit erreicht hat“.171 Neben dieser ersten Proportionalisierung bedingte die Stufenausbildung aber ebenso eine Proportionalisierung der Sichtbarkeit von Begabung und Arbeit, die in ein Vereindeutigungsparadox mündete. Dieses Paradox war bereits in einer 1960 begonnenen Studie des Duisburger Arbeitsamts um Hans-Georg Greve – der 1966 als Leiter in die eigens für die Stufenausbildung gegründete Ausbildungsabteilung bei Krupp wechselte – angelegt.172 Die Landesvereinigung der Industriellen Arbeitgeberverbände Nordrhein-Westfalens gab ­dieses Projekt in Auftrag. Sie arbeitete eng mit der Ausbildungsabteilung der 168 Breustedt: Tendenzen. 169 Ebd., S. 27. 170 Der ungelernte Arbeiter tritt ab. „Rahmenplan zur Stufenausbildung“ in der metallbearbeitenden Industrie, in: VDI-Nachrichten, 14. April 1965. 171 Hans Georg Bärsch: Die Stufenausbildung für den Metallbereich. Vortrag bei der Tagung der Berufsrichter des Bundessozialgerichts, Kassel 28. Oktober 1970, 28. 10. 1970, in: Historisches Archiv Krupp, WA 119/v 455, S. 1. 172 Ders.: Niederschrift über eine Besprechung aller Mitarbeiter der neugegründeten Fachabteilung Personal- und Sozialarbeit am Freitag, dem 15. Juli 1966, 15 Uhr, in Raum 408 HVG, in: Historisches Archiv Krupp, WA 168/658, S. 1.

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­Krupp-Konzernleitung zusammen, um die Stufenausbildung vorzubereiten.173 Greve und sein Mitarbeiter Oskar Meseck bewegten sich mit ihrer Studie an der Schnittstelle einer moralisch-holistischen Ausbildungslogik und einer anpassenden Wissenspolitik. Ausgangspunkt der Studie war die Diagnose, dass „die Zahl der Berufe und ihre Eignungsanforderungen für den einzelnen unüberschaubar geworden“ s­eien. Folglich sei dem „Wunsch nach einer möglichst exakten Eignungsfeststellung bei den Berufsanwärtern“ nachzukommen.174 Das Projekt diente also als Vorarbeit für eine allumfassende und in Zukunft zu perfektionierende „Berufseignungskunde“.175 Da die Friedrich Krupp AG für die quantitative Auswertung der Eignungstests ihren IBM-7070-Rechner zur Verfügung gestellt hatte, stellte die Massendatenauswertung für die beiden Arbeitsamtspsychologen kein Problem dar. So konnten sie die Datenerhebungen bei verschiedenen Unternehmen der Stahlindustrie im Ruhrgebiet – vom Bochumer Verein über die Gutehoffnungshütte bis hin zur Hoesch AG – durchführen.176 Insgesamt 297 Dreher, Maschinenschlosser und Starkstromelektriker in Ausbildung befragten die Duisburger Psychologen.177 Einer ganztägigen psychologischen Untersuchung folgte eine ein- bis zweitägige praktische Prüfung, bei der die Übereinstimmung mit eingangs definierten Berufsprofilen ermittelt werden sollte. Die Untersuchung umfasste 19 verschiedene Testverfahren, die sich vom Bourdon-Test über den Charkow-Test bis zu zwei Drahtbiegeproben erstreckten.178 Wichtig war den beiden Verfassern, dass, während ein Teil der Prüfungen nur „reine Leistungsdaten“ lieferte, auch Proben aufzunehmen, die „arbeitscharakterologische Schlüsse“ zuließen.179 Dementsprechend las sich die Studie als Versuch, jede erdenkliche Beobachtung an den Auszubildenden vorzunehmen: „charakterologische“, die vor 1945 als Standard galten, ebenso wie „objektivierte“, die nach 1945 den Maßstab setzten. Offenkundig führten diese Vereindeutigungsbemühungen zu einem Schwall von Daten, Korrelationen, Regressionsanalysen – und damit zu neuen Interpretationsspielräumen. Allein der Anhang mit den verwendeten Testfragebögen und Ergebnissen umfasste 90 Seiten. Die für die drei Berufe jeweils empfohlenen Eignungstestserien stellten Kombinationen aus sieben beziehungsweise acht (Starkstromelektriker) teils seit der Weimarer Republik bekannten Testverfahren dar.180

173 Hans-Georg Greve/Oskar Meseck: Klärung des diagnostischen Wertes von Verfahren der psychologischen Eignungsuntersuchung, Köln u. a. 1966. 174 Ebd., S. 7. 175 Ebd. 176 Ebd., S. 8 f. 177 Zu den Zahlen vgl. die Tabelle in ebd., S. 71. 178 Ebd., S. 48. 179 Ebd., S. 49. 180 Ebd., S. 193 – 284 (Anhang) und S. 177 f.

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Das Ergebnis, mit dem die Psychologen die Arbeitgeber der Stahlindustrie für sich gewinnen wollten, war paradox. Einerseits verkündeten sie, alle erprobten Verfahren hätten ihre „diagnostische Gültigkeit und praktische Brauchbarkeit erwiesen“.181 Andererseits sei aber keinesfalls von einem mathematischen Objektivismus und Automatismus auszugehen: Der „Grad der Eignungsvorhersage“ steige, wenn sich die Beurteilung nicht nur auf die „Testleistung gründet“, sondern stattdessen „arbeitscharakterologische Qualitäten und wesensmäßige Züge“ einschließe.182 Dementsprechend könne nur der „erfahrene Psychologe […] das Zustandekommen der einzelnen Testleistungen“ erhellen. Auch brauche es einen geübten Blick, um „Leistungsunfähigkeiten und Wesensäußerungen als Ausdruck der Gesamtperson“ zu erkennen und zu verarbeiten.183 Die „bloße Verrechnung und nur summarische Zusammenfassung einfacher Testleistungswerte“ führe also zu „diagnostischen Irrtümern“.184 Diese Ablehnung quantitativer Eindeutigkeit und mechanischer Objektivität stellte nicht nur den Versuch der Sicherung des eigenen Expertenstatus dar, sondern ebenso eine Absage an eindeutige Eignungsprognosen: Es habe sich erwiesen, dass es keine „typischen Dreher, Maschinenschlosser oder Starkstromelektriker“ gebe. Vielmehr könnten „verschiedengeartete Menschen“ diese Berufe ausüben.185 Die untersuchten Berufe entsprächen einem „Anstieg des Intelligenzniveaus“ und einem „Grad der Intelligenzausrüstung“, in der die Dreher das nie­ drigste, die Starkstromelektriker über das höchste „Intelligenzpotential (G-Faktor)“ verfügten.186 Die „geistige Substanz“ stelle also die „vereinheitlichende Kraft dar“, die sich als roter Faden durch die disparaten Ergebnisse ziehe.187 Diese Deutung griff ältere Vorstellungen auf, wonach die Berufsstruktur der unveränderlichen „Begabungsschichtung“ der deutschen Jugend symmetrisch gegenüberstehe, die als „erbmäßig gegebene Tatsache“ zu erkennen und auf deren Grundlage Jugendliche entsprechend zu vermitteln ­seien.188 Der charakterologische Einschlag eröffnete jedoch wiederum einen immensen Vereindeutigungsspielraum, denn die objektive Messung sei nur dann hypothetisch gültig, „wenn arbeits­charakterliche und wesensmäßige Züge die Eignung nicht beeinträchtigen“.189 Der massierte Einsatz von Testinstrumentarien führte zu einer weiteren 181 Ebd., S. 176. 182 Ebd., S. 177. 183 Ebd. 184 Ebd., S. 181. 185 Ebd., S. 183. 186 Ebd., S. 179. 187 Ebd., S. 180. 188 Vgl. Albert Huth: Begabungs-Struktur und Wirtschafts-Struktur, in: Wirtschaft und Berufserziehung 9 (1957), S. 48 – 50, Zit. S. 49 und 50. 189 Greve/Meseck: Klärung, S. 179.

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Ausweitung des Testens. Für die künftige Ausbildung, so folgerten die Duisburger Psychologen und fanden damit in der Stufenausbildung Gehör, sollten Auszubildende „nicht auf einen Beruf festgelegt werden“, sondern eine „breiter angelegte[] Grundausbildung“ nach „Berufsrichtung“ erhalten, auf die dann eine Spezialisierung aufbauen müsse.190 Der Versuch, Arbeit und Begabung vor der Ausbildung abzugleichen, mündete also in die Forderung, über die gesamte Ausbildung hinweg Eindeutigkeit als ideales Ziel zu verfolgen und die Ausbildung selbst als gigantischen Testapparat zu installieren, der die echte Entsprechung von Arbeit und Begabung feststellen sollte. In der Stufenausbildung selbst bedeutete diese auf Dauer gestellte Prüfung, deren Ziel es war, „Eignungsvoraussetzungen und berufliches Interesse“ mit den „Anforderungen des jeweiligen Ausbildungsziels und der Ausbildungsrichtung“ in Einklang zu bringen,191 einen umfassenden Beobachtungs- und Verwaltungsaufwand. Die Stufenausbildung erforderte „eine neuartige Form der Verhaltens- und Leistungsbeurteilung“.192 Diese Beobachtung sollte konstant Stufe und „Eignung und Leistungsfähigkeit“ abgleichen. Dementsprechend waren die Ausbilder angehalten, zur idealen Herausfilterung der begabungsadäquaten Stufe, jeden Auszubildenden während seiner Zeit in der Lehrwerkstatt hinsichtlich 20 „bewährungsbedeutsame[r] Eigenschaften“ zu beobachten, die auf 13 Beurteilungsbögen mit sieben kombinierten Beurteilungsstationen auf sieben Beurteilungsgrade hin eingestuft werden sollten.193 Dazu kamen noch praktische Zwischenprüfungen, eine kontinuierliche betriebliche Beobachtung mit einem reduzierten Beobachtungsbogen und – neben den Berufsschulnoten – betriebliche schriftliche Zwischenprüfungen.194 Diese „umfassende Leistungs- und Verhaltensbeurteilung“ 195 musste dann dezimalskaliert in die „Begleitkarte für Auszubildende“ eingetragen werden, um eine „mathematisch-statistische Verrechnung mit Hilfe der elektronischen Datenverarbeitung vorzunehmen“.196 Diese eine Begleitkarte, die sämtliche Beobachtungen, „Bewertungsblätter, Zettel und Zwischenkarteien“ ersetzte, stellte die Quintessenz der objektiven Zuordnung von Arbeit und Begabung dar 190 Ebd., S. 183 f. 191 Fried. Krupp GmbH. Stabsabteilung Personalarbeit: Ausbildungsplan. Krupp-Stufenausbildung für Metall- und Elektroberufe, Bd. 1: Ausbildungsordnung, o. D. [ca. 1973], in: Historisches Archiv Krupp, WA 60/264, S. 10. 192 Fried. Krupp GmbH. Stabsabteilung Personalarbeit: Ausbildungsplan. Krupp-Stufenausbildung für Metall- und Elektroberufe, Bd. 3: Anleitung für die Verhaltens- und Leistungsbeurteilung, o. D. [ca. 1973], in: ebd., WA 60/266, S. 2. 193 Ebd., S. 3 – 15. 194 Ebd., passim, Zit. S. 30. 195 Fried. Krupp GmbH. Stabsabteilung Personalarbeit: Ausbildungsplan, Bd. 1, S. 89. 196 Ebd., S. 95.

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und versprach „ein Höchstmaß an Rationalisierung“.197 Die vermeintliche Eindeutigkeit von Begabungsstufe und Arbeit benötigte also einen immensen Apparat zur Herstellung und Authentifizierung dieser Symmetrie. In dem Maße, in dem Mobilität hergestellt werden sollte, musste sie kontrollier- und beobachtbarer gemacht werden. In dem Maße, in dem der Begriff vereindeutigen sollte, schuf er neue Ambivalenz. Zuletzt war auch das Verhältnis von Stufenausbildung und Mobilität keineswegs eindeutig. Die Krupp’schen Ausbildungsexperten vermieden bei der Einführung der Stufenausbildung das Begriffsarsenal der Mobilität. Sie bedienten sich der semantischen Felder des Strukturwandels, der Anpassung und des technischen Fortschritts. Mobilität stellte für sie eine Gefahr dar. So führte Breustedt in einem Beitrag zu einem Band des Deutschen Industrie-Instituts aus, dass der enorme Bedarf an Arbeitskräften die „Hereinnahme und Umschulung“ von „berufsfremden, mobilen Kräften“ bedinge.198 Die Personen, die er darunter fasste, nahmen sich als Wimmelbild der Problemgruppen der Ausbildungsexperten des moralisch-holistischen Eingliederungsimperativs aus: „Frauen, Gastarbeiter, Berufslose und Berufswechsler.“ 199 Diesen „breite[n], unkontrollierbare[n] Strom“ gelte es zu beherrschen. Insbesondere die Stufenausbildung müsse folglich zur „Stabilisierung der negativen Folgeerscheinungen einer überhöhten Mobilität“ beitragen.200 Wie auf der europäischen Ebene war Mobilität für die betriebliche Ausbildung in der Essener Stahlindustrie zunächst ein Phänomen, das der Betrieb nur erlauben konnte, wenn es kanalisierbar, kontrollierbar und überschaubar war. Diese Wahrnehmung änderte sich allerdings in den folgenden Jahren und mit dem Siegeszug der Mobilität in der Bundesrepublik. Dabei ging es vor allem darum, die Anschlussfähigkeit und Aktualität der Stufenausbildung zu gewährleisten. So warb Krupp nur drei Jahre s­päter damit, dass die Stufenausbildung auch einen „menschlichen Gewinn“ berge: „Die Anpassungsfähigkeit des einzelnen wird gesteigert und durch diese Mobilität sein Selbstvertrauen gefestigt. Im Ringen um seine berufliche Existenz fühlt sich der einzelne der schnellen Entwicklung der Technik nicht mehr hilflos preisgegeben.“ 201 197 Fried. Krupp GmbH. Stabsabteilung Personalarbeit: Ausbildungsplan, Bd. 3, S. 21. 198 Karl Otto Breustedt: Neue Tendenzen in der innerbetrieblichen Aus- und Fortbildung, in: Volker Marko/Siegfried W. Zimmerbeutel (Hg.): Rationalisierung betrieblicher Bildungsarbeit. Zweiter Beitrag. Ökonomische Aspekte, Ausbildungszeitanalysen, Stufenausbildung, Sprachlabors, Fernunterricht, o. O. 1965, S. 71 – 95, hier S. 83 f. 199 Ebd., S. 84. 200 Ebd. 201 Fried. Krupp GmbH: Die pädagogischen Maßnahmen der Krupp-Stufenausbildung. Information. Personalwesen. Pressemitteilung, 5. 9. 1968, in: Historisches Archiv Krupp, WA 131/9679, S. 4.

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1970 formulierte eine Pressemitteilung den Nexus von „Strukturwandel“, Mobilität und der Anpassung von Arbeit und Begabung noch expliziter: „Strukturwandel verlangt vom Menschen soziale Mobilität; der einzelne muß bereit und fähig sein, seine Tätigkeit, seinen Arbeitsplatz, seinen Wohnort zu wechseln“.202 Auf der Ebene der Aneignung war das Problem, mit dem sich die anpassende Wissenspolitik in Form der Stufenausbildung konfrontiert sah, in dem hehren Anspruch und in daraus generierten Pfadabhängigkeiten bereits angelegt. Der enorme Vereindeutigungsaufwand, den die Krupp’sche Ausbildungsabteilung betrieb, sowie das Versprechen einer Ausbildung der Zukunft, die gerecht, demokratisch und offen sein sollte, schufen inhärente Möglichkeiten der Kritik an der Stufenausbildung. Als die Bundesrepublik und besonders das Ruhrgebiet um das Jahr 1968 und in den Folgejahren von Lehrlingsprotesten, die sich auch gegen die Bedingungen der Berufsausbildung richteten, erschüttert wurden,203 avancierte die Krupp’sche Stufenausbildung zu einer beliebten Zielscheibe der Auszubildenden: „Ihr Schwachsinnigen, Idioten, Scheißkerle, Wichser, Hurensöhne …“, titelte ein Flugblatt gegen die Krupp AG und erklärte: „So werden bei Krupp Lehrlinge beschimpft!“ 204 Neben allgemeinen Protesten gegen die Ausbildungsbedingungen in der Bundesrepublik – gegen Ausbeutung und autoritäre Arbeitsbeziehungen, für eine Übernahme der betrieblichen Ausbildung in staatliche Verantwortung – richteten sich die Auszubildenden bei Krupp gegen die Stufenausbildung: Sie würden „oft nicht den Beruf“ erlernen, „zu dem sie sich eignen und zu dem sie Lust haben. Krupp denkt den Beruf nach seinen Interessen“. Folgerichtig verlangten die Auszubildenden eine „[ö]ffentliche Kontrolle der Stufenausbildung“.205 Ihre Kritik nutzte dabei die Maßstäbe, die die Krupp’schen Ausbildungsverantwort­ lichen selbst an die Stufenausbildung angelegt und für die sie sich gerühmt hatten. So beabsichtigten die Beobachter der Proteste in Essen, die Stufenausbildung als „Schwindel“ zu entlarven, durch den Auszubildende „für das Unternehmen Krupp verfügbar gemacht“ werden sollten.206 Die Versprechen und Hoffnungen der Firma Krupp würden sich als haltlos erweisen. Es habe immer schon festgestanden, wie viele Auszubildende die jeweils höhere Ausbildungsstufe würden antreten dürfen.

202 Fried. Krupp GmbH: Strukturwandel verlangt vom Menschen soziale Mobilität. Information. Kurznachrichten. Pressemitteilung, 28. 10. 1970, in: Historisches Archiv Krupp, WA 119/v 455, S. 1. 203 Vgl. zur Lehrlingsbewegung Andresen: Radikalisierung, S. 114 – 216, zum Essener Fall: ebd., S. 141 – 144. 204 Abgedruckt in: Joachim Weiler/Rolf Freitag: Ausbildung statt Ausbeutung. Der Kampf der Essener Lehrlinge, Reinbek bei Hamburg 1971, S. 105. 205 Ebd. 206 Ebd., S. 106.

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Prüfungen s­ eien „‚manipuliert‘“ und Lehrlinge „durch Überredung“ und „Zwang“ in eine Ausbildungsrichtung gedrängt worden.207 Die Kritik und der Protest waren also zweischneidig: Das Krupp’sche Ideal einer abgestuften Anpassung von Arbeit und Begabung eröffnete umfassende Kritikmöglichkeiten. Das propagierte Bild konnte an seinem eigenen Anspruch gemessen werden. Diese Aneignung war insofern anschlussfähig, als sie das Ideal durch die Gegenüberstellung mit der Ausbildungsrealität unterminierte. Gleichzeitig akzeptierten die protestierenden Auszubildenden und die Kritik am Krupp’schen Stufenplan dessen Prämissen einer Wissenspolitik der Anpassung, in der verschiedenen Begabungsstufen entsprechende Arbeitsmöglichkeiten erhalten sollten. Die Stufenausbildung war kein Problem wegen der ihr innewohnenden Selektionslogik, sondern nur, weil die Selektion nicht richtig funktionierte. Diese Akzeptanz schloss die gewerkschaftliche Position der 1960er Jahre ein, die ihre Kritik auf Details beschränkte und die Stufenausbildung als zukunftsweisende Innovation begrüßte.208 Den Willen zur Umstellung rationalisieren: kybernetische Pädagogik und programmierte Unterweisung

Während die Friedrich Krupp AG einen wuchernden Beobachtungsapparat installierte, um den Nachwuchs optimal an die angenommene Anforderungshierarchie der Arbeit anzupassen, sah die Konkurrenz keineswegs tatenlos zu. Die Stahlindustrie kämpfte wie der Bergbau Ende der 1960er Jahre mit Absatzschwierigkeiten, Betriebskonzentrationen, Entlassungen und Rationalisierungsmaßnahmen.209 Stellte der Versuch Krupps einen der folgenreichsten und umfassendsten Vorschläge dar, die Arbeitswelt der Zukunft über die Ausbildung nach Begabung zu hierarchisieren, verfolgten andere Unternehmen in der Stahlindustrie nicht so weitreichende, aber vergleichbare Strategien. Auch diese Pläne zielten darauf ab, alte Hierarchien zu überwinden und neue festzuschreiben. Neben die Stufenausbildung als große Reformhoffnung der 1960er Jahre trat die kybernetische Pädagogik. Im Juli 1968, zwei Jahre bevor sie in die Hände des Mannesmann-Konzerns wechselte, versuchte sich die Duisburger Konzernzentrale der Thyssen Röhrenwerke Aktiengesellschaft (TRA) an einer Deutung des „Strukturwandels“. Diesen Prozess verstanden die Stahlexperten nicht als „Wissensexplosion“. Das Problem, vor dem die Stahlindustrie und insbesondere ihre betriebliche Berufsausbildung 2 07 Ebd., S. 107. 208 Siehe die Beiträge in DGB (Hg.): Stufenausbildung. 209 Vgl. zur Situation der westdeutschen Stahlindustrie Kornelia Rennert: Wettbewerber in einer reifen Branche. Die Unternehmensstrategien von Thyssen, Hoesch und Mannesmann 1955 bis 1975, Essen 2015.

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stehe, ergebe sich „aus einem rapiden Anwachsen des Wissens“.210 Schließlich sei das „Wissensvolumen“ seit 1800 exponentiell gewachsen: „Setzt man das Wissensvolumen vor 1800=1, so erfolgte die erste Verdoppelung im Verlauf von 100 Jahren, die zweite nach 50 und die letzte (bis etwa 1966) in nur 5 Jahren, d. h. ein Zuwachs auf das 16-fache Wissensvolumen im Vergleich zum Stand vor 1800.“ 211 Diese quantifizierende, aber anschlussfähige 212 Abstraktion fand sich im Anhang noch einmal in simplifizierter, tabellarischer Form 213 – unter Verweis auf den Aachener Pädagogen Johannes Zielinski, der ­solche Rechnungen seit den 1950er Jahren verbreitete.214 Diese Aufstellungen suggerierten eine eindeutige Entwicklung und implizierten damit auch eine Lösung. Dieser Weg wich von den üblichen Antworten, das „Lernen zu lernen“, ab: Wenn es immer mehr Wissen aufzunehmen und zu vermitteln gebe, wenn also die „bisherigen Methoden und Mittel“ nicht mehr ausreichten, müssten sie optimiert und „eine rationellere berufliche Bildungsarbeit“ geboten werden.215 Sowohl für den Inhalt als auch für die Lehr- und Lernmittel ergäben sich „Ansatzpunkte zur Intensivierung und Rationalisierung durch moderne Unterrichtsmethoden“.216 Die großen Hoffnungsträger, die die Stahl-, aber auch Bergbauausbilder identifizierten, waren Lernmaschinen, Lerncomputer, die kybernetische Pädagogik sowie der programmierte Unterricht beziehungsweise die programmierte Unterweisung.217 Das Ziel, so frohlockte der Autor des Memorandums, das durch die programmierte Unterweisung in greifbare Nähe rücke, sei es, „beim Lernprozeß eine Leistungssteigerung zu erreichen, d. h. in der gleichen Zeit mehr zu lernen oder den gleichen Stoff in kürzerer Zeit zu erlernen“.218 Es 210 TRA: Das berufliche Bildungswesen im Unternehmen. Denkschrift, Juli 1968, in: thyssenkrupp Konzernarchiv, Duisburg, A/32782, S. 20. 211 Ebd. 212 Dieses Bild fand sich auch in anderen Ratgebern. Vgl. Klaus Kulkies/Crista van Bracht: Morgen wissen wir mehr. Fortschrittliches Lehren und Lernen, dargestellt für Lehrer, Eltern und Schüler sowie Führungskräfte der Wirtschaft, Düsseldorf u. a. 1967, S. 58 f. 213 TRA: Bildungswesen, Anlage 16, Bl 1. 214 Vgl. Johannes Zielinski/Walter Schöler: Methodik des programmierten Unterrichts. Zum Problem der Mikrostrukturen von Lehren und Lernen, Ratingen 1965, S. 206, Anm. 60. Vgl. zu Zielinski Jan Kellershohn: Aporien der Anpassung. Zur Humanisierung durch Bildung im „Strukturwandel“ der Arbeit, in: Nina Kleinöder/Stefan Müller/Karsten Uhl (Hg.): „Humanisierung der Arbeit“. Aufbrüche und Konflikte in der Arbeitswelt des 20. Jahrhunderts, Bielefeld 2019, S. 137 – 160. 215 TRA: Bildungswesen, S. 13. 216 Ebd. 217 Vgl. zum Bergbau Jan Kellershohn: „Automatisierungsverlierer“. Kybernetische Pädagogik, „Lernbehinderung“ und der Körper des Bergberufsschülers in den 1960er Jahren, in: Body Politics 6 (2018), S. 175 – 199. 218 TRA: Bildungswesen, S. 20.

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ging also nicht nur darum, das Lernen zu lernen, sondern auch schlicht und einfach mehr zu lernen. Der Komplex der „Rationalisierung betrieblicher Bildungsarbeit“ 219 beruhte auf einer bunten Gemengelage verschiedener Interpretamente der kybernetischen Pädagogik und der programmierten Unterweisung. Eingang darin fanden Konditionierungstheorien, aber auch Fantasien umfassender kybernetischer Bildungsplanung mit Stichwortgebern wie Werner Correll oder Helmar Frank. Damit bewegte sich die Rationalisierung des Unterrichts durch die Kybernetik im Deutungshorizont des (Kalten) Krieges.220 Gleichzeitig wurde sie meist als marginale und dysfunktionale Modeerscheinung abgetan.221 Daneben war sie als technokratisches Disziplinarinstrument des Bildungstaylorismus verschrien.222 In der Berufsausbildung Jugendlicher und Erwachsener erfreute sich der Traum einer Rationalisierung der Bildung allerdings von Beginn der 1960er Jahre bis in die Mitte der 1970er Jahre einer regen Aufmerksamkeit und europaweiten E ­ uphorie. Diese Aufbruchsstimmung wirkte von Unternehmen über Regierungen bis in die Gewerkschaften.223 219 Vgl. den Titel bei Marko/Zimmerbeutel (Hg.): Rationalisierung. 220 Vgl. Peter Galison: The Ontology of the Enemy. Norbert Wiener and the Cybernetic Vision, in: Critical Inquiry 21 (1994), S. 228 – 266; Nicole Zabel: Die Lehrmaschine und der Programmierte Unterricht. Chancen und Grenzen im Bildungswesen der DDR in den 1960er und 1970er Jahren, in: Jahrbuch für Historische Bildungsforschung 20 (2015), S. 123 – 152; Anne Rohstock: Antikörper zur Atombombe. Verwissenschaftlichung und Programmierung des Klassenzimmers im Kalten Krieg, in: Patrick Bernhard/Holger Nehring (Hg.): Den Kalten Krieg denken. Beiträge zur sozialen Ideengeschichte seit 1945 (Frieden und Krieg 19), Essen 2014, S. 257 – 282, etwa S. 276. 221 Philipp Aumann: Mode und Methode. Die Kybernetik in der Bundesrepublik Deutschland (Deutsches Museum. Abhandlungen und Berichte, Neue Folge 24), Göttingen 2009, S. 354. Ähnlich: Jürgen Oelkers: Kybernetische Pädagogik. Eine Episode oder ein Versuch zur falschen Zeit?, in: Michael Hagner/Erich Hörl (Hg.): Die Transformation des Humanen. Beiträge zur Kulturgeschichte der Kybernetik, Frankfurt a. M. 2008, S. 196 – 229; Frank Bösch: Euphorie und Ängste. Westliche Vorstellungen einer computerisierten Welt, 1945 – 1990, in: Lucian Hölscher (Hg.): Die Zukunft des 20. Jahrhunderts. Dimensionen einer historischen Zukunftsforschung, Frankfurt a. M. u. a. 2017, S. 221 – 252, hier S. 239. 222 Karcher: SchülerIn; Daniel Tröhler: The Technocratic Momentum after 1945, the Development of Teaching Machines, and Sobering Results, in: Journal of Educational Media, Memory, and Society 5 (2013), 2, S. 1 – 19. Abgeschwächter bei Andreas Hoffmann-Ocon/Rebekka Horlacher: Technologie als Bedrohung oder Gewinn? Das Beispiel des programmierten Unterrichts, in: Jahrbuch für Historische Bildungsforschung 20 (2015), S. 153 – 175, die von einer „Industrialisierung des Lehr-Lern-Prozesses“ sprechen (S. 170 f.). 223 Vgl. etwa Gerhard Schröter: Programmierter Unterricht (IGM-Arbeitsheft 883), o. O. 1967 oder Europäisches Institut für Berufsbildung: Die Lage der programmierten Unterweisung in der Gemeinschaft, Brüssel 1971. Allgemein dazu Kellershohn: Aporien.

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Als Vereindeutigungspraxis der anpassenden Wissenspolitik kann die Rationalisierung des Unterrichts wie die Stufenausbildung als ein Versuch gelesen werden, eine ideale Entsprechung von Begabungsniveau und Arbeit herzustellen. Während die Stufenausbildung diese Symmetrie allerdings über die Strukturierung von Ausbildungskohorten anstrebte, basierte die Rationalisierung der Ausbildung auf einer Vereindeutigung des Individuellen. Diese Strategie diente nicht dessen Unterdrückung, sondern sollte, so die zeitgenössische Zuschreibung, dessen Entfaltung befördern. Anders als bei der Stufenausbildung, die einen umfassenden Beobachtungsapparat um den Auszubildendenkörper in allen erdenklichen Situationen installierte, zog die kybernetische Pädagogik ihre Legitimität aus ihrem Fokus auf das Wesentliche: Wenn in der Arbeit der Zukunft der tätige Körper keine Rolle mehr spielen würde, sondern nur noch das Wissen, galt es, diesen Bereich der Rationalisierung zugänglich zu machen. Insofern verortet sich die Rationalisierung der Anpassungsfähigkeit am Übergang von der Körpermetapher des „Human Motor“ zu dem Prozess, den Sabine Donauer für die Arbeitsgefühle treffend als „Desomatisierung“ von Arbeit bezeichnet hat.224 Diese „Desomatisierung“ war aber auf manifeste Körperpraktiken in den Ausbildungsinstitutionen angewiesen. Zunächst strebte die Rationalisierung der Ausbildung an, Unterricht zu individualisieren und zu quantifizieren. Besonders weit gediehen die Experimente mit Lern- und Lehrcomputern im westdeutschen Steinkohlenbergbau. Gleich bei zwei Tagungen in den 1960er Jahren beschäftigten sich die Ausbilder und Bergberufsschullehrer – auch auf Wunsch der Bergbaugewerkschaft 225 – mit der „Information im Bildungsvorgang“ und der „Rationalisierung, Intensivierung und Ökonomisierung des Unterrichts“.226 Diese demonstrative Aufmerksamkeit diente zunächst der Außendarstellung des Bergbaus. Der zweite Vorsitzende der IGBE , Heinz Oskar Vetter, verband die Rationalisierung des Unterrichts mit der wirtschaft­ lichen Situation der Schwerindustrie. Angesichts der Zechenschließungen scheine es angebracht, „den Lehrern eine gewisse Zuversicht zu vermitteln, die dann an die Schüler weitergegeben werden müsse“.227 Diese intensive Auseinandersetzung 224 Rabinbach: Motor, S. 299; Donauer: Faktor Freude, S. 99 – 117; dies.: Emotions at Work – Working on Emotions. The Production of Economic Selves in Twentieth-Century Germany, Diss., Berlin 2013, https://d-nb.info/1078261660/34, letzter Zugriff: 10. 2. 2021, S. 36 f. 225 Vgl. Schliephorst: Niederschrift über die 23. Sitzung des Bergberufsschulvorstandes vom 17. ­Februar 1966 in der Bergberufsschule Auguste Victoria in Marl, 17. 2. 1966, in: montan.dok/BBA 120/6014. 226 WBK (Hg.): Die Information im Bildungsvorgang. Ferientagung der Lehrer an Bergberufsschulen Bad Driburg 1966, Hagen 1966; WBK (Hg.): Rationalisierung, Intensivierung und Ökonomisierung des Unterrichts. Fortbildungstagung der Lehrer an Bergberufsschulen. Bochum 1967, Hagen o. J. [1967]. 227 Schliephorst: Niederschrift über die 24. Sitzung des Bergberufsschulvorstandes vom 25. Mai 1966 im Sitzungszimmer der Westf. Berggewerkschaftskasse Bochum, 25. 5. 1966, in: montan.dok/​BBA

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resultierte aber auch aus einer Enttäuschung. Die Funktionäre hatten hoffnungsvoll auf die Bemühungen in Luxemburg geschaut und Anfang August 1966 endlich die deutsch-französischen „Lehrgänge der Hohen Behörde für ‚Programmierte Unterweisung‘“ erhalten.228 Da die Unterrichtsmaterialien „bergmännische Fragen“ nur selten tangierten, hatten sie allerdings „keinen Eingang“ in die Berufsausbildungsgänge des Bergbaus gefunden. Die Rationalisierungsbemühungen wurden aber nicht aufgegeben. In Zukunft sei der Schwerpunkt auf die „Entwicklung von Tonbildschauen“ zu legen.229 Der Verdruss hielt dementsprechend nicht lang an. Ende der 1960er Jahre gründeten die mittlerweile ins Leben gerufene Ruhrkohle Aktiengesellschaft (RAG), der Zusammenschluss fast aller westdeutscher Steinkohleproduzenten, und die WBK eine Arbeitsgemeinschaft für Rationalisierung und Objektivierung der Lehrerfunktionen (AROL). Sie traf sich zunächst unregelmäßig, entwickelte aber ab etwa 1973 eine rege Aktivität.230 Der Bergberufsschullehrer Fritz Barrabas, der schon im November 1965 an einer Tagung in Luxemburg zur programmierten Unterweisung in der EGKS teilgenommen hatte,231 arbeitete mit einigen Kollegen und dem Stuttgarter Cotta-Verlag das Bochumer Testverfahren aus.232 Im Jahr 1978 berichtete der Bergberufsschulvorstand stolz, das AROL-Testverfahren komme in rund 150 Klassen und im Unterricht von rund 75 Lehrern zum Einsatz.233 Da das Projekt im Jahr rund 450.000 Mark koste – darin eingeschlossen die Miete für einen Siemens-Zentralcomputer,234 der die Ergebnisse erfasste und Zeugnisse automatisch erstellte –, sei eine stetige Verwendung angeraten.235 Kern des Bochumer 120/6014, S. 12. 228 Paul Schulte-Borberg/Rauch: Niederschrift über die Sitzung des Arbeitseinsatz- und Ausbildungsausschusses am 13. 4. 1967, 15.00 Uhr, im Ausbildungszentrum der Schachtanlage Lohberg der Hamborner Bergbau AG in Dinslaken-Lohberg, 25. 4. 1967, in: montan.dok/BBA 120/4172, S. 8. 229 Ebd. 230 Hagenkötter: Stand der Entwicklung des Ausbildungs- und Schulwesens im Bergbau nach der Fortbildungstagung 1970, in: WBK (Hg.): Fortbildungstagung der Lehrer an bergbaulichen Schulen und der Ausbilder in bergbaulichen Betrieben Bad Driburg 1971, Herne 1971, S. 23 – 31, hier S. 30. 231 EGKS (Hg.): Die Anwendung der programmierten Unterweisung in den Industrien der EGKS. Bericht über die Studientagung am 9. und 10. November 1965 in Luxemburg, o. O. [Luxemburg] 1966, S. 145. 232 Fritz Barrabas: Das Bochumer Testverfahren für Schule und Ausbildung. Lehren, Lernen, ­Prüfen, Stuttgart 1974. 233 Schliephorst: Niederschrift über die 78. Sitzung des Bergberufsschulvorstandes vom 25. Januar 1978 im Hause der Westfälischen Berggewerkschaftskasse, Bochum, 25. 1. 1978, montan.dok/BBA 120/6020, Anlage. 234 Auszug aus der Niederschrift über die Vorstandssitzung am 24. 1. 1974, 24. 1. 1974, in ebd. 120/1107. 235 Schliephorst: Niederschrift über die 78. Sitzung, S. 4.

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­Testverfahrens war eine Reihe von Praktiken und Apparaten, denen die Berg­ berufsschullehrer die Wirkung zuschrieben, zu „individualisieren“ und die „Selbsttätigkeit“ der Schüler zu fördern. Das von Barrabas entwickelte System steigere dadurch die „Leistungsbereitschaft“, begünstige die „Selbstkontrolle“ von Lehrern und Schülern ebenso wie „demokratische Verhaltensweisen“, insbesondere durch die „Selbstzensur“. Es entspreche gar einem „antiautoritären Unterricht[]“.236 Was stellte sich also ein durch die kybernetische Pädagogik inspirierter Lehrer einer bergbaueigenen Berufsschule in den 1970er Jahren unter einem „antiautoritären Unterricht“ vor? Barrabas schwebte vor, zu Beginn jeder Unterrichtsstunde einen „Wiederholungstest“ durchzuführen, bei dem jeder Auszubildende einen Bogen mit „Mehrfachwahlaufgaben“ ausfüllen musste.237 Diese Bögen sammelte der Lehrer dann ein und lochte sie mithilfe des „Sollwertübertragungsgeräts“, einer mit einem Hebelarm ausgestatteten Stanzmaschine. Darauf folgte unmittelbar und in der Klassengemeinschaft die Rückmeldung, bei der den Schülern die Ergebnisse „laut verlesen“ wurden: „‚Schüler A, Aufgabe 2, 3, 4 u. 5 fehlerhaft‘“. Dann wurden die Lösungsblätter nach Fehlerzahl abgelegt, sodass direkt deutlich werde, wie viele Schüler wenige und wie viele zahlreiche Fehler gemacht hatten. Auch war die Möglichkeit gegeben, dass die Schüler „ihre Fehler selbst“ suchen „und benoten“, falls die Zeit nicht ausreichte, die Fehler jedes einzelnen Auszubildenden zu besprechen.238 In dieser periodischen Prüfung sollte die Kritik der Schüler an den Aufgaben herausgefordert werden, um zu einer beständigen Verbesserung der Fragen zu gelangen. In der Besprechung ­dieses Unterrichtssystems wurde besonders die Relevanz der Tests als „Berechtigungstests“ hervorgehoben, die der „Differenzierung und Individualisierung des Unterrichts“ dienten.239 Unabhängig davon, ob diese Objektivierungspraktiken „wirklich“ s­ olche Effekte hatten und dass Quellen zur Umsetzung fehlen – ausschlaggebend ist, w ­ elche Bedeutung ihnen zeitgenössisch zugewiesen wurde. Allein die Rationalisierung des Unterrichts schien angemessen, sämtliche als subjektiv angesehenen Bewertungsverfahren auszuschalten, um auf die Quintessenz des Fähigkeits- und Begabungspotentials zuzugreifen. Dem lag eine zweischneidige Perspektive auf den Menschen zugrunde: Das Menschliche in Prüfungen auszuschalten diente dazu, das Humane im Alltag und im Unterricht freizusetzen. Deutlich brachte diese Janusköpfigkeit ein Informationsfilm der Landeszentrale für politische Bildung Nordrhein-Westfalen zur „Zukunft des Lernens“ zum Ausdruck. Nachdem er über 40 Minuten 2 36 Barrabas: Testverfahren, S. 17. 237 Ebd., S. 19. 238 Ebd., S. 22. 239 Werner Kramer/Wilhelm Ringelsiep: Lernen, Lehren und Prüfen mit dem Bochumer Testverfahren, in: Glückauf 113 (1977), S. 551 – 554, hier S. 552.

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Anwendungsfelder des rationalisierten Unterrichts, etwa bei der Lufthansa und im Berufsförderungswerk (BFW) Heidelberg, vorgestellt hatte, schloss der Sprecher mit dem Hinweis darauf, wo das wahre Potential der Rationalisierung liege. Mit Bildern eines grünen, von brutalistischen Bauten geprägten Campus, auf dem sich eine Vielzahl von Menschengruppen tummelte, pries der filmische Blick die Heterogenität des Menschlichen. Erst die Programme könnten Vielfalt und Individualität hervorbringen. Alle könnten lernen und erst die programmierte Unterweisung ermögliche, den nicht mehr genormten, nicht mehr standardisierten, sondern in seiner Menschlichkeit entgrenzten Menschen zu fördern. Programme würden nicht „dressieren“, ­seien „keine Zwangsjacken des Lernens“, sondern ermöglichten erst „schöpferisches Denken“.240 Darüber hinaus basierte die Rationalisierung des Unterrichts auf inhaltlicher Ebene auf einer infinitesimalen und entgrenzten Skalierung der Differenz. Ausgangspunkt der Bemühungen um die programmierte Unterweisung sei, so erläuterte Wolfgang Schneider vom Münchner Institut Mensch und Arbeit den 1964 in Luxemburg versammelten europäischen Ausbildungsfunktionären, ein altbekanntes Problem jeglichen Unterrichts: Immer müsse sich die Lehrperson entscheiden, wen sie zum „Massstab für das Lerntempo nimmt“.241 Da sie sich aus den Gruppen der „‚Besten‘“, der „‚Nachzügler‘“ und der „‚Durchschnittsschüler‘“ immer an Letzterem orientieren werde, neigten auch „Schüler mit hoher Lernfähigkeit“ dazu, zu versagen.242 Darüber hinaus tendiere der konventionelle Unterricht zu einer falschen „Auslese“, die sich erst am Ende eines Kurses in der Prüfung zeige: „Auslese“ müsse früher erfolgen.243 Den von der Sorge um den Willen zur Umstellung geplagten europäischen Ausbildungsfunktionären machte Schröder große Versprechen. Die Ergebnisse bei bisherigen Versuchen s­ eien so aussichtsreich, dass sie die „bisher gültigen Vorstellungen über die ‚Eignung‘ fragwürdig“ erscheinen ließen.244 Abgesehen von Fällen „krankhafter Defekte“ sei „‚mangelnde Eignung‘“ nichts anderes als ein abweichender „Lernrhythmus“. Folglich könnten nicht nur „mit ‚Intelligenztests‘ besonders ausgelesene Ausbildungskandidaten“ ausgebildet werden, sondern gleich „breitere Gruppen von Mitarbeitern“.245 240 Dieter Storp Filmproduktion, Düsseldorf: Zukunft des Lernens, 1971, 42:37 Min., im Auftrag des WDR und der Landeszentrale für politische Bildung NRW, in: LAV NRW-R, RWF Nr. 414, Min. 42:10:00 – 42:37:00. 241 Wolfgang Schneider: Die Methode der Programmierten Unterweisung, in: EGKS (Hg.): Die Berufsausbildung in den Industrien der EGKS. Bericht über die Studientagung am 2. und 3. Juni 1964 in Luxemburg, o. O. [Luxemburg] 1965, S. 75 – 84, hier S. 78. 242 Ebd. 243 Ebd., S. 79. 244 Ebd., S. 83. 245 Ebd.

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Diesen Verheißungen konnten sich sowohl der UVR, der Schneider bereits im Januar 1964 eingeladen hatte,246 als auch die EGKS nicht verschließen. Letztere beauftragte das Münchner Institut damit, im Stahlwerk Rheinhausen und in einem Italsider-Werk in Genua ein Lernprogramm zur Aus- und Weiterbildung von Stahlarbeitern auszuarbeiten. Das Programm wurde bereits ein Jahr nach Schneiders Vortrag auf einer eigenen Konferenz zur programmierten Unterweisung vorgestellt.247 Während die Stufenausbildung ihre Legitimität daraus bezog, die Normalverteilung der Begabung zu perfektionieren und an die Zukunft der Arbeit anzupassen, versprach die kybernetische Pädagogik das Diktat der Begabungsverteilung gleich ganz auszuhebeln:248 ein attraktives Angebot für eine Schwerindustrie, die sich als Opfer eines allgemeinen Begabungsverfalls sah. Zuletzt und auf der Ebene der Aneignung mündete der Objektivierungsversuch durch Lehr- und Lernprogramme in eine Vereindeutigungsspirale: Je mehr Unterricht rationalisiert wurde und je häufiger Lernprogramme und -maschinen zum Einsatz kamen, desto intensiver machte sich der Bedarf bemerkbar, die Effizienz dieser Methode möglichst exakt zu evaluieren. Der Erfolg der programmierten Unterweisung beschränkte sich nicht auf die bergbauliche oder ­schwerindustrielle Berufsausbildung. Auch das Landesarbeitsamt NRW konnte sich der Hoffnung in Anbetracht der Umschulungsaufgaben, mit denen es sich seit Mitte der 1960er Jahre konfrontiert sah, nicht verschließen. In den Informationen für die Arbeitsvermittlung wies die Düsseldorfer Hauptstelle darauf hin, dass angesichts der Herausforderung, in knapper Zeit viel zu lernen, neue Wege zu erschließen s­ eien. Besonders schwierig in der beruflichen Erwachsenenbildung zu vermitteln ­seien bislang die „Elementarfächer“ und die „fachtheoretischen Fächer“. Die programmierte Unterweisung biete die Möglichkeit, diese Schwierigkeiten zu meistern. Ihren Befürwortern zufolge ermögliche sie eine „bessere und dauerhaftere Aneignung des Lehrstoffes“ und einen „Zeitgewinn“.249 Insbesondere dass sie „individuell“ sei, verhelfe der programmierten Unterweisung zu ihrem Potential: Da jeder Mensch 246 Vgl. Paul Schulte-Borberg/Karl-August Ullrich: Niederschrift über die Sitzung des Arbeitseinsatz- und Ausbildungsausschusses am 24. April 1964, 9.30 Uhr, Essen, Glückaufhaus, 27. 8. 1964, in: montan.dok/BBA 120/4171, Anlage 1. In Essen hielt Schneider einen Vortrag, der fast wortgleich mit dem in Luxemburg war. 247 Aldo Canonici: Die logischen Verknüpfungselemente in elektronischen Steueranlagen, in: EGKS (Hg.): Die Anwendung der programmierten Unterweisung in den Industrien der EGKS. Bericht über die Studientagung am 9. und 10. November 1965 in Luxemburg, o. O. [Luxemburg 1966], S. 79 – 87; Wolfgang Schneider: Die logischen Verknüpfungselemente in elektronischen Schaltanlagen, in: ebd., S. 60 – 78. 248 So auch bei Kulkies/van Bracht: Morgen, S. 325 f. 249 LAA NRW: Programmierte Unterweisung bei beruflichen Bildungsmaßnahmen? Informationen für die Arbeitsvermittlung, Nr. 5/68, 12. 3. 1968, in: LAV NRW-R, BR 1134/684, S. 1.

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eine „besondere Lerngeschwindigkeit“ habe und die „persönliche Leistungskurve im Tagesablauf“ schwanke, befreie die neue Technik den Unterricht vom Diktat der Uhr.250 Um die Nutzung der Unterweisung in der beruflichen Erwachsenenbildung zu stärken, arbeitete das LAA mit dem ­Aachener Pädagogen Johannes Zielinski zusammen, der bereits bei der EGKS für diese Methode geworben hatte.251 Die Hauptstelle schlug den einzelnen Arbeitsämtern vor, Z ­ ielinskis zusammen mit der IHK Düsseldorf entwickeltes Lernprogramm „Deutsche Rechtschreibung und Rechnen (Grundkursus)“ systematisch in der Facharbeiterumschulung einzusetzen.252 Ein Jahr s­ päter verordnete Alois Degen, der Präsident des LAA NRW, den ihm unterstehenden Arbeitsämtern, einen Versuch in der Erwachsenenausbildung mit verschiedenen Programmen des Düsseldorfer Vereins für Berufs­pädagogik durchzuführen. Diese Unterrichtseinheiten ­seien mit „sehr gutem Erfolg“ im Berufsförderungswerk Graf Bismarck in Gelsenkirchen bei der Umschulung von Bergleuten erprobt worden.253 Bei den Antworten, die die Düsseldorfer Hauptstelle erhielt,254 taten sich die Arbeitsämter hervor, die sich mit der Umstellung konfrontiert sahen.255 Es ergab sich aber kein eindeutiges Bild. Die Meldungen reichten von großer Euphorie bis zu weitgehender Ablehnung. Das Arbeitsamt Bochum teilte etwa mit, dass es erst im September 1970 mit einem programmierten Lehrgang für Bürokaufleute beginnen könne.256 Das Arbeitsamt Duisburg hingegen setzte die vom LAA vorgeschlagenen Programme in der amtseigenen Umschulungswerkstatt seit April 1969 ein.257 Es habe sich gezeigt, dass „jeder Teilnehmer zur selbständigen und konzentrierten Arbeit angeregt“ werde und auch die „ständige Konkurrenz zur Gruppe“ entfalle.258 Die Teilnehmer s­ eien „gelöster“, ihr „Lernwille verstärkt“.259 2 50 Ebd., S. 2. 251 Vgl. Johannes Zielinski: Perspektiven der modernen Methoden der Unterweisung, in: EGKS (Hg.): Anwendung, S. 113 – 125. 252 LAA NRW: Unterweisung, S. 3 f. 253 Alois Degen: Berufliche Bildungsmaßnahmen, hier: Programmierter Unterricht. Schreiben an die Direktoren der Arbeitsämter im Bezirk des LAA NRW , 9. 9. 1969, in: LAV NRW -R, BR 1134/200, S. 1. Hervorhebung im Original. 254 Ders.: Individuelle Förderung der beruflichen Fortbildung und Umschulung; Programmierter Unterricht. Schreiben an die Direktoren der Arbeitsämter im Bezirk des LAA NRW, 23. 6. 1970, in: ebd. 255 So meldeten etwa die Arbeitsämter Hagen (11. 9. 1970) und Münster (14. 9. 1970) Fehlanzeige (vgl. die Schreiben in ebd.). 256 Arbeitsamt Bochum: Individuelle Förderung der beruflichen Fortbildung und Umschulung; Programmierter Unterricht. Schreiben an das LAA NRW, 3. 8. 1970, in: ebd. 257 Arbeitsamt Duisburg: Individuelle Förderung der beruflichen Fortbildung und Umschulung; hier: Programmierter Unterricht. Schreiben an das LAA NRW, 9. 9. 1970, in: ebd. 258 Ebd., S. 1. 259 Ebd.

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Aus Coesfeld dagegen erhielt die Düsseldorfer Arbeitsverwaltung eine skeptische Antwort. Der Ausbildungsleiter des Bocholter Betriebs der Siemens AG beurteile die Programme als „brauchbar“, allerdings „nur als Ergänzung des Unterrichts“.260 Außerdem zeigte er sich erzürnt über die Behauptungen des Landesarbeitsamts. Er könne sich der Meinung, dass in Gelsenkirchen „mit sehr gutem Erfolg“ programmierter Unterricht eingesetzt werde, nicht anschließen. Als Vorsitzender des Prüfungsausschusses der zuständigen Kammer wisse er, dass „die Kenntnisse im Rechnen als außerordentlich mäßig bezeichnet werden müßten“.261 Aus diesen und ähnlichen Bemerkungen ließ sich trotz der rhetorischen Euphorie in den Anfragen kein eindeutiges Stimmungsbild ziehen. So vermerkte der Bearbeiter auf die wiederholte Antwort aus Aachen, Versuche müssten aus logistischen Gründen immer wieder verschoben werden, die „Erfahrungen“ s­ eien „recht unterschiedlich“, der Vorgang sei „nicht mehr weiterzuverfolgen“.262 Das hinderte die Düsseldorfer Beamten aber nicht daran, weitere Programme beim Düsseldorfer Verein für Berufspädagogik zu ordern,263 gegenüber den Arbeitsämtern auf die „gute[n] Erfahrungen“ zu pochen und um weitere Berichte zu bitten.264 Auf diese letzte, eher abwiegelnde Mitteilung reagierte nur noch das Arbeitsamt Essen. Unter Verweis auf erste Erfahrungen am Berufsförderungszentrum Essen,265 dem ersten staatlichen Umschulungszentrum der Bundesrepublik, hielt es eine „weitere aufmerksame Beobachtung für angebracht“. 266 Vier Jahre nachdem das Landesarbeitsamt erstmals die Nutzung von programmiertem Unterricht in Erwägung gezogen hatte, stand es also immer noch am Anfang. Eindeutigkeit, ob sich der Wille zur Umstellung dadurch nun erkennen und steigern ließe oder nicht, konnte die nordrhein-westfälische Arbeitsverwaltung nicht erzielen.

260 Berufliche Bildungsmaßnahmen (programmierter Unterricht). Schreiben des Betriebs Bocholt der Siemens AG an das AA Coesfeld, 11. 12. 1969, in: ebd., S. 1. 261 Ebd. 262 Arbeitsamt Aachen: Individuelle Förderung der beruflichen Fortbildung und Umschulung; Programmierter Unterricht, Schreiben auf die Rundverfügung 295/70, 4. 1. 1971, in: ebd., Rückseite, handschriftlicher Vermerk. 263 LAA NRW: Individuelle Förderung der beruflichen Fortbildung und Umschulung. Schreiben an das Seminar für Berufspädagogik in Düsseldorf, 13. 6. 1972, in: ebd. 264 LAA NRW, Referat Ib4: Individuelle Förderung der beruflichen Fortbildung und Umschulung; Programmierter Unterricht. Rundverfügung 272/72 nach 295/70, 12. 7. 1972, in: ebd. 265 Bfz Essen: Individuelle Förderung der beruflichen Fortbildung und Umschulung; programmierter Unterricht. Erfahrungen des Berufsförderungszentrums bei der Verwendung der Düsseldorfer Programme, Schreiben an das Arbeitsamt Essen, 17. 8. 1972, in: ebd. 266 Arbeitsamt Essen: Individuelle Förderung der beruflichen Fortbildung und Umschulung; programmierter Unterricht, Bericht auf die Rundverfügung Nr. 272/72, 11. 10. 1972, in: ebd.

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In einer vergleichbaren Vereindeutigungsnotlage gelangte auch in Frankreich bei den CdF das Rationalisierungsversprechen durch den programmierten Unterricht an seine Grenzen – bezeichnenderweise durch ein Argument der Arbeits­ rationalisierung. In den Kursunterlagen, die das CNPC bereitstellte, tauchte auch die programmierte Unterweisung auf.267 Ebenso organisierte es Informationsveranstaltungen für Ausbilder zum Einsatz der Methode in der Weiterbildung des Abbaupersonals.268 Nach einigen Jahren der Erprobung auf europäischer Ebene war aber auch in Frankreich die Stimmung eher verhalten. Ein maßgebliches Problem der Unterweisung sei schlicht, dass sie „sehr teuer“ sei: Eine Unterrichtsstunde benötige „etwa 100 Stunden Vorbereitung“. Sie rechne sich folglich nur, wenn „mehr als 200 Schüler[]“ das Programm ­nutzen würden.269 Gleichzeitig stieß auch das objektive Steigerungs- und Proportionalisierungs­ versprechen an Grenzen. Das Berufsfortbildungswerk (Bfw) des DGB etwa diskutierte zu Beginn der 1970er Jahre eine Erneuerung des gewerkschaftlichen Fernschulwesens. Der Geschäftsführer Hans Krommes setzte sich dafür ein, mit dem Institut für Programmierten Unterricht (IPU) im schweizerischen Luzern zu kooperieren.270 Das Institut bewarb sowohl Ausbildungsprogramme als auch den dazugehörigen „Korrektomaten“, eine Korrekturmaschine. Das IPU versprach „konstante[] Bildung für jeden, der sich auf seinem Arbeitsplatz behaupten will“.271 Erst die Kontaktaufnahme mit dem Schweizerischen Gewerkschaftsbund schuf Gewissheit: Hinter dem IPU stand Eduard Ritter, dessen beide Unternehmen, die Computer-Programmierer-Ausbildung GmbH und die Natürliche Sprachtechnik E. Ritter GmbH, in der Bundesrepublik bereits für Aufsehen gesorgt hatten.272 Deren Verträge waren durch verschiedene Gerichte annulliert und für sittenwidrig erklärt worden, weil sie allen Interessierten eine Umschulung zum Programmierer versprochen hatten.273 Als problematisch erachteten die Gerichte daran weniger 267 CNPC: Généralités sur l’enseignement programmé, Februar 1972, in: ANMT 2007 038 034. 268 Dass.: Journée d’étude sur l’utilisation de l’enseignement programmé dans le perfectionnement technique du personnel du fond, 10 juin 1971 à Blanzy, Protokoll, 16. 6. 1971, in: ebd. 269 CNPC: Généralités, S. 6. 270 Kurt W. Schönherr: Aktennotiz zu einer Besprechung mit Hans Krommes am 28. 6. 1971, 30. 6. 1971, in: AdsD 5/DGAV001657. 271 Ebd.; Müller-Marzohl: Zum 1. IPUGRAMM. Artikel in „IPUGRAMM“, Schüler-Zeitung des IPU/NOVODIDACT, Institut für Programmierten Unterricht, Hirschengraben 13, 6002 Luzern, Anfang 1971, in: ebd. 272 Aktion Bildungsinformation e. V.: Gutachten über die Beteiligungen des Eduard Ritter in Zürich an Fernschulunternehmungen in Deutschland, in Österreich, in der Schweiz und im Fürstentum Lichtenstein. An Bernhard Tacke am 14. 8. 1971 übersandtes Gutachten, 30. 7. 1971, in: ebd. 273 Vgl. Programmierer-Lehrgänge. Beschränkter Kreis, in: Der Spiegel Nr. 34, 17. 8. 1970, S. 65 – 66.

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­ angelhafte Inhalte oder unzureichende Vermittlungsmethoden, sondern vielmehr m den Verzicht auf ­Eignungstests und die überzogenen Versprechen. Es sei schließlich bekannt, dass „für Volksschüler eine Erfolgschance von nur 15 Prozent bestehe“.274 Das hier tätige baden-württembergische Gericht erteilte also allen Perfektibilitätsverheißungen eine deutliche Absage. Anfang der 1970er Jahre hatte das Proportionalisierungs- und Individualisierungsversprechen, sowohl was seine Praktiken und Methoden als auch was seine Inhalte anging, einiges an Selbstverständlichkeit eingebüßt. Auch wenn sich die Versuche im westdeutschen Bergbau bis Ende der 1980er Jahre hinzogen, drehte sich der Wind und schlug der Rationalisierung der Ausbildung nun öffentlich entgegen. Dieser Verlust der Rationalisierungshoffnung ging so weit, dass die Grenzen einer anpassenden Wissenspolitik durch die Autorität der 20. Zivilkammer des Stuttgarter Landgerichts qua Urteilsspruch festgeschrieben werden konnten. Oder, wie es ein Zeitungsartikel bereits 1966 festhielt: Bergarbeiter ­seien zwar „Pioniere der ‚Mobilität des Könnens‘“, ein „Hilfsschüler“ ließe sich jedoch „nicht zum Ingenieur machen“: „Menschen lassen sich nicht umprogrammieren wie Computer.“ 275 Das Ende der Ausbildung im französischen Bergbau

Während sowohl im Falle Krupps als auch in der Euphorie für die Rationalisierung des Unterrichts eine Problemwahrnehmung vorherrschte, die sämtliche Bereiche der Berufsausbildung tangierte, wich die Interpretation in Nordfrankreich – trotz identischer Ausgangsdeutung – von der in Westdeutschland ab. Im Sommer des Jahres 1962 wandte sich Jean Aurel im Namen der HBNPC sorgenvoll an den Leiter der zuständigen regionalen Schulverwaltung, den Inspecteur d’Académie, in Lille. Die Führungskräfteausbildung leide unter „wachsenden Schwierigkeiten“. Die „Auslese“ müsse sich auf eine sinkende Anzahl von Kandidaten beschränken. Der Bergbau sei für Nachwuchskräfte nicht mehr interessant. Jugendliche „mit angemessenen intellektuellen und charakterlichen Qualitäten“ mieden seit 1956 die Untertagearbeit.276 Wie die Ausbildungsfunktionäre im Aachener Revier sah sich auch Aurel mit einem Begabungsverfall konfrontiert: Angesichts der Spezialisierung und Rationalisierung der Produktion verfügten die HBNPC nur „über eine beständig verkümmernde Masse Jugendlicher, sowohl zahlenmäßig als auch 2 74 Ebd., S. 65. 275 Hans-Joachim Lagner: Arbeitsmarkt 1966: Opas Betrieb ist tot, in: Neue Ruhr Zeitung, 26. November 1966, enthalten in: Historisches Archiv Krupp, WA 55/v 1221. 276 Jean Aurel: Schreiben an Monsieur Duma, Inspecteur d’Académie, 26. 7. 1962, in: ANMT 2004 001 544, S. 1.

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vor allem qualitativ“.277 Neben der wirtschaftlichen Entwicklung machte Aurel für diesen Begabungsschwund auch die Verlängerung und Verbesserung der Schulzeit verantwortlich. Die Bildungsreform insgesamt laufe darauf hinaus, dass „qualitativ hochwertige“ Jugendliche sich für Lebenswege entschieden, die sie „ohne Umkehrmöglichkeit von der Zeche entfernen“.278 Die Lösung lag für die Ausbildungsabteilung der HBNPC darin, über eigene Klassen am Produktionsstandort Douai eine verlängerte Schulzeit mit begleitender Ausbildung und Praktika anzubieten: die Cours Techniques Miniers (CTM ), die Technische Bergbauschulung.279 Über das Auswahlverfahren des Concours rekrutierten die HBNPC 14-jährige Jugendliche, um ihnen für zwei weitere Jahre eine bezahlte Vollzeitschulung anzubieten. An deren Ende wurden sie in die Führungskräfteausbildung des Bergbaus aufgenommen. Unter der die kanonische Trennung in Hand- und Kopfarbeit ebenso wie Topoi des Automatisierungsdiskurses aufgreifenden Phrase „Das Gehirn überholt den Muskel“ warb das staatliche Bergbauunternehmen in der Lokalzeitung um neue Jugendliche für eine rationalisierte Produktion, da die Schulreformen bislang nur die „am wenigsten Begabten“ für den Bergbau übrig ließen.280 Im Gegensatz zu den Classes de Complément d’Études, die sich in Kooperation mit dem französischen Bildungsministerium auf eine allgemeine Bildungsversorgung mit dem Anspruch der Milieuerfassung konzentrierten,281 dienten die CTM ausschließlich der Gewinnung potentieller Führungskräfte für die HBNPC . Im Jahr 1966 stellte ein Bericht fest, dass zwar die Auszubildendenzahlen des nordfranzösischen Bergbaus von rund 6500 im Jahr 1953 auf rund 3000 im Jahr 1961 gesunken ­seien, die CTM sich aber großen Zuspruchs erfreuten und derzeit etwa 600 Schüler an das Unternehmen bänden.282 Gleichzeitig läuteten die CTM das Ende der bergbaulichen Berufsausbildung in Nordfrankreich ein. Im Mai 1969 kündigte Luc Pointurier, der Leiter der Ausbildungsabteilung der HBNPC, die Kooperation mit der Bildungsverwaltung für die CCE. Als Gründe führte er die 2 77 Ebd. 278 Ebd., S. 2. 279 Ebd., S. 2 – 4. 280 Pour assurer l’avenir d’une exploitation en constante modernisation: Les Houillères créent des cours techniques destinés à la formation de leurs cadres, in: La Voix du Nord, 16./17. September 1962, enthalten in: ebd. 281 Vgl. Groupe de Béthune. Service de Formation Professionnelle: Possibilités de formation offertes par l’Éducation Nationale, susceptibles d’intéresser le Groupe de Béthune. Mémorandum préparatoire à la visite de Monsieur Marie, Inspecteur d’Académie, 29. 4. 1958, in: Centre Historique Minier de Lewarde, B399, S. 1. 282 Formation de la future maîtrise (les Cours Techniques Miniers). Anonymer Vermerk, 7. 1. 1966, in: ANMT 2004 001 544.

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Rezession und die Produktionsauflagen im französischen Bergbau an. Ebenso wies er darauf hin, dass die Bergbauausbildung sich ab Oktober 1969 nur noch auf die CTM, also die Führungskräfteausbildung, beschränken würde.283 Damit schlugen die Ausbildungsverantwortlichen im französischen Staatsbergbau einen anderen Weg als ihre westdeutschen Kollegen im de facto halbstaatlichen Bergbau ein: Während der französische Staat – im Anschluss an den Plan Jeanneney, der 1960 die staatliche gelenkte Umstellung vorschrieb – die Beteiligung des Unternehmens an Umschulungsmaßnahmen im August 1967 dekretierte und dabei auf das in ganz Frankreich etablierte System der Association Française pour la Formation Professionnelle des Adultes zurückgreifen konnte,284 vermieden die beteiligten Parteien in der Bundesrepublik einen solchen Weg. Vornehmlich über die Arbeitslosenversicherung finanzierte Umschulungsmaßnahmen stießen auf die Abwesenheit einer umschulungsbezogenen Infrastruktur. Während also die westdeutschen Bergbauunternehmen Umschulung nicht als ihre Aufgabe ansahen, konzentrierten sie sich auf die Berufsausbildung und setzten diese bis in die 1990er Jahre fort. In Frankreich dagegen beschränkten sich die Aufgaben der Ausbildungsabteilungen – von einer ­kurzen relance in den 1970er Jahren abgesehen – auf die Weiterbildung und die Unterstützung von Umschulungsmaßnahmen zur Strukturwandelbewältigung. Im November 1970 hatten alle Abbaugruppen der CdF (neben den HBNPC die Houillères du Bassin de Lorraine [HBL] und die Houillères du Bassin du Centre et du Midi) die Berufsausbildung eingestellt. Nur noch in Nordfrankreich befanden sich 192 Jugendliche in einem Ausbildungsverhältnis – eine Zahl, die „schnell sinken dürfte“, wie in der Pariser Hauptstelle der CdF notiert wurde.285 Zwar nahmen die CdF im Zuge der relance, also der partiellen Wiederaufnahme und erneuten Steigerung des Kohleabbaus nach der Ölkrise 1973, erneut Einstellungen vor – sie nutzten ­dieses Mittel aber zurückhaltend und ohne den Anspruch, den bis in die 1960er Jahre vertikal integrierten Ausbildungsapparat wiederaufzubauen.286 283 Luc Pointurier: Classes de Complément d’Études. Schreiben an Yves Delaporte, Inspecteur d’Académie du Pas-de-Calais, 28. 5. 1969, in: ebd. 2004 001 545. 284 Vgl. Jean-Louis Escudier: Du statut de 1946 aux conversions. Embauche, formation et qualification du mineur de fond, in: Entre relance et fermeture. Mémoires de mines, mémoires des luttes, 1945 – 1985. Actes du colloque, les 3 et 4 décembre 2010 à Saint-Étienne, o. O. 2011, S. 23 – 37, hier S. 33; Pierre Fournier: Schreiben an den Président Directeur Général der CdF, 8. 8. 1967, in: ANMT 2002 056 4051. Zur AFPA vgl. Bernard Bonnet: La formation professionnelle des adultes. Une institution et ses formateurs, Paris 1999. 285 CdF. Service de Formation: Accord national interprofessionnel du 9 juillet 1970 sur la formation et le perfectionnement professionnels, Aktenvermerk, 20. 1. 1971, in: ANMT 2002 056 1297, S. 2. 286 Vgl. etwa die Lesart von Gilbert Bayle, dem Vorsitzenden der Personalabteilung der HBNPC, in den 1970er Jahren, der den erneuten Zustrom zum Bergbau als Resultat der ökonomischen Krise deutete und von den HBNPC als „‚Schutzdach gegen das Unwetter‘“ sprach. Gilbert Bayle: Les

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Dieses Ende der Berufsausbildung im (nord)französischen Steinkohlenbergbau bedeutete aber nicht, dass die französischen Behörden, Gewerkschaften und Unternehmen nicht versucht hätten, „Strukturwandel“ mithilfe von Qualifikationsmaßnahmen und Berufsbildung zu bewältigen.287 Dieses Bestreben ordnete sich allerdings von Anfang an stärker in zentralstaatliche und statistisch unterfütterte Ausgleichsambitionen ein. Während sich die Bundesrepublik durch einen extensiven Fokus auf den schwerindustriellen Problemraum auszeichnete, der durch umfassende Initiativen der Unternehmen, der Verbände sowie der K ­ irchen begleitet war, folgten die Départements des Nord und des Pas-de-Calais einer sehr viel stärker an Paris orientierten Wahrnehmung. Darin war der Nord-Pas-de-Calais nur ein Handlungsfeld neben anderen. So widmete sich beispielsweise die im Zuge erster Regionalisierungsversuche entstandene Mission Économique Régionale für Nordfrankreich ab Januar 1968 im Comité Régional de la Formation Professionnelle et de la Promotion Sociale et de l’Emploi dem Verhältnis von Umstellung und Berufsausbildung.288 In einer Perspektive der Arbeitsmarktbeobachtung widmete sich auch die Direction Régionale du Travail et de la Main d’œuvre de la Région du Nord den Möglichkeiten einer „Verbesserung der Ausbildung der Menschen“ und der „Entwicklung der Dienstleistungsaktivitäten“. Deren unzureichender Zustand sei auf eine „Entwicklung der Strukturen der regionalen Arbeitskräftequalifikation“ zurückzuführen, „die einen großen Rückstand im französischen Vergleich“ aufwiesen.289 Ziel sei es also, „ein regionales Gleichgewicht der Beschäftigung“ zu erreichen, das dem „anderer, ebenfalls industrialisierter Regionen (Rhône-Alpes)“ entspreche.290 Dieses Verständnis des regionalen Ausgleichs auf der Ebene der beruflichen Bildung wich von der in der Bundesrepublik gepflegten Perspektive des Ruhrgebiets als Authentifizierungsinstanz und Interventionsraum ab. Gleichzeitig kanalisierte das Ausgleichsverständnis aber lokale Initiativen, die sich seit Beginn der 1960er Jahre gebildet hatten und die auch in Nordfrankreich den schwerindustriellen nouveaux embauchés aux HBNPC. Vortrag auf der Journée annuelle des ingénieurs de formation de bassins in Verneuil-en-Halatte am 9. und 10. 3. 1976, Annexe 3-A, o. D. [März 1976], in: ANMT 2002 056 0453, S. 3. 287 Vgl. als Überblick Stéphane Lembré: Berufsbildung und Deindustrialisierung in Nordfrankreich (1950er bis 1980er Jahre), in: Demiriz/Kellershohn/Otto (Hg.): Transformationsversprechen, S. 279 – 294. 288 Das Comité ersetzte das ältere Organ der Arbeitsverwaltung, den Service de la Main-d’Œuvre, vgl. Comité Régional de la Formation Professionnelle et de la Promotion Sociale et de l’Emploi: Séance du 10 Janvier 1968, Protokoll der ersten Sitzung, 10. 1. 1968, in: Archives Départementales du Nord (ADN), Lille, 11 W 825. 289 Direction Régionale du Travail et de la Main d’Œuvre de la Région du Nord: Présentation des problèmes de l’emploi régional. Bericht, 2. 2. 1968, in: ebd., S. 12 f. 290 Ebd., S. 13.

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­ allungsraum als Experimentalsystem begriffen. So formierte sich beispielsweise B bereits 1961 in der Bergbaustadt Béthune ein Unternehmensübergreifender Verband der Region Béthune für die Lehre und Ausbildung Erwachsener (Groupement Inter-Entreprises de la Région de Béthune pour l’Apprentissage et la Formation des Adultes). Die Initiative forderte als „Imperativ Nr. 1“ die Umschulung Erwachsener und die verbesserte Ausbildung der örtlichen Jugend von der regionalen Schulverwaltung.291 Um diesen Anspruch zu untermauern, hatte die Interessengruppe aus lokalen Politik- und Wirtschaftsfunktionären ab 1959 nach eigenen Angaben 100.000 Fragebögen an sämtliche Haushalte in Béthune und Umgebung geschickt, um die „Bildungsaspirationen dieser bevölkerungsreichen Agglomeration zu inventarisieren“.292 Ihren Abschluss und ihre Anerkennung fanden diese lokalen Initiativen in der Berufsbildungs- und Fortbildungspolitik der Regierung von Georges ­Pompidou unter dem Berufs- und Weiterbildungssekretär Jacques Delors.293 Ähnlich wie das Ruhrgebiet für das 1969 verabschiedete Arbeitsförderungsgesetz diente auch der Nord-Pas-de-Calais für das in Frankreich 1971 verabschiedete Weiterbildungsgesetz als Experimentierfeld. Jacques Delors reiste im März 1969 dorthin, um das zuständige Comité Régional für die Zukunft der Berufsbildung zu sensibilisieren. Auch wenn seine Rhetorik von Strukturwandel, Anpassungsfähigkeit und Chancengleichheit derjenigen in der Bundesrepublik ähnelte, führte Delors diese verschiedenen Aspekte nicht mehr unter dem Begriff der Mobilität zusammen. „Das Ziel“, so erläuterte er den anwesenden Bildungsfunktionären, sei, „von der Vollbeschäftigung zur besten Beschäftigung“ zu gelangen, also zu einer „bestmöglichen, rationalen Verwaltung des Humankapitals [capital humain]“ zu kommen.294 Mit ­diesem in der westdeutschen Diskussion zu d ­ iesem Zeitpunkt abwesenden Begriff verband Delors die Sorge vor dem Begabungsverfall. Diesen verortete er allerdings nicht in der Bevölkerung, sondern in der Natur des Humankapitals selbst. Dieses drohe beständig zu veralten. Als Antwort darauf verstand er eine Politik des Humankapitals als eine Politik gegen die „Obsoleszenz des Wissens und der Fähigkeiten“.295 Er verzichtete allerdings auf eine Rhetorik der Mobilisierung des Selbst und des Willens zur 291 La formation professionnelle, problème n° 1 de la zone européenne de conversion de Béthune, in: Informations SIDA 94 von Mai 1961, S. 31 – 35, hier S. 32, enthalten in: ANMT 2002 056 4052. 292 Ebd., S. 34. 293 Vgl. dazu Antoine Prost: Histoire générale de l’enseignement et de l’éducation en France, Bd. IV: L’école et la Famille dans une société en mutation (depuis 1930), Paris 2004, S. 690 – 700. 294 Jacques Delors: La politique de formation professionnelle et de promotion sociale (ses finalités, ses voies et moyens, sa mise en œuvre à l’échelon régional). Exposé fait par M. J. Delors devant le Comité Régional de la Formation Professionnelle, de l’Emploi et de la Promotion Sociale de la Région du Nord, le jeudi 6 mars 1969, 6. 3. 1969, in: ADN, 11 W 825, S. 4. 295 Ebd.

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Umstellung. Dass Individuen sich weiterbilden und umschulen würden, erschien gar nicht als Problem. Den Willen zur Umstellung kleidete Delors explizit in eine Semantik des Keynesianismus und der Planification.296 Zentral sei die „antizyklische Rolle der Ausbildungspolitik“.297 In Momenten schwächeren Wachstums müsse „den Arbeitern eine Ergänzungs- oder Substitutionsschulung gegeben werden“.298 Wenn die verfügbare Gesamtarbeitszeit zurückgehe, ermögliche dies gleichzeitig eine entsprechende Steigerung der Ausbildungszeit. Für eine s­olche – nicht sonderlich „neoliberale“ – Politik,299 so schloss Delors, sei nun der Nord-Pas-de-Calais als „größeres Experiment der Dezentralisierung“ auserkoren worden.300 Um eine Anpassung der Ausbildungsmöglichkeiten an den Konjunkturverlauf zu gewährleisten, erhielt der Präfekt der Region die Möglichkeit, ohne Rücksprache mit der Pariser Zentralregierung Maßnahmen und Zentren der Erwachsenenausbildung einzurichten. Schließlich sei Ausbildung eine „Wette auf die Strukturen der regionalen Zukunft“, um die „Legende“ Lügen zu strafen, „nach der ‚die Region nur Bergleute und Stahlarbeiter habe‘.“ 301 In (Nord-)Frankreich spielte also das Humankapital eine wichtigere Rolle als in der Bundesrepublik. Angesichts des sich aus der Berufsbildung zurückziehenden Bergbaus erfolgte eine organisatorische Verschiebung hin zum öffentlichen (Berufs-) Schulwesen.302 Diese eindeutige institutionelle Zuordnung verhinderte – für den Bereich der Berufsbildung – jedoch zugleich, dass sich die Auseinandersetzung um die Bildbarkeit von jugendlichen Auszubildenden dynamisierte: Ein Lernbehinderungs- und Berufsbildungsdiskurs wie in der Bundesrepublik e­ ntwickelte sich in Frankreich nicht. Mit Blick auf die Umschulungen zeigten sich die zuständigen Angestellten ebenso wie die regionale und nationale Öffentlichkeit aber zunächst skeptisch. Als im Oktober 1968 feststand, dass sich eine Motorenfabrik von Renault-Peugeot in 296 Vgl. Pierre Rosanvallon: Histoire des idées keynésiennes en France, in: Revue française d’économie 2 (1987), 4, S. 22 – 56; Dieter Gosewinkel: Zwischen Diktatur und Demokratie. Wirtschaftliches Planungsdenken in Deutschland und Frankreich bis zur Mitte der 1970er Jahre, in: Geschichte und Gesellschaft 34 (2008), S. 327 – 359. 297 Delors: Politique, S. 10. 298 Ebd. 299 Aus den hier referierten Quellen ergibt sich eine in der deutschsprachigen Forschung ignorierte Lesart der Foucault’schen Auseinandersetzung mit der Humankapitaltheorie in den Jahren 1978/79 (Foucault: Geburt, S. 300 – 330): der zeitgenössischen Politik entgegenzuhalten, was Humankapital „wirklich“ bedeute. Foucaults Kritik der Humankapitaltheorie nimmt sich so nur als Kritik an ihrer „keynesianischen“ Rezeption aus. 300 Delors: Politique, S. 21. 301 Ebd., S. 23. 302 Vgl. Raphael: Kohle, S. 247 – 294.

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Douvrin-La Bassée niederlassen würde – vielversprechende Zahlen von 8000 bis 10.000 Arbeitsplätzen standen im Raum –, beruhigte ein Lokalredakteur seine Leserinnen und Leser. Es sei nicht das erste Mal, „dass ein solches Experiment menschlicher Umstellung realisiert wurde“.303 In den Niederlanden etwa habe ein Automobilbetrieb in Born seit 1965 2000 Personen, davon 1500 ehemalige Bergleute, angestellt. Dieses Beispiel lasse nur einen Schluss zu: „Entgegen allen Annahmen haben sich die Bergleute sehr gut angepasst, waren sehr beweglich im Erlernen eines neuen Berufes.“ 304 Eine vergleichbare Sorge trieb etwa eineinhalb Jahre früher den HBNPC-Ausbildungsleiter Pointurier um, als er sich erstmals mit der Frage der Qualifikation zur Umstellung beschäftigte.305 Räsonierte er zunächst darüber, ob für Arbeiter das aus dem Zweiten Weltkrieg stammende Training-­WithinIndustry-Programm, ein ursprünglich US -amerikanisches Anlernprogramm mit starkem Fokus auf innerbetriebliche Sozialbeziehungen, ausreichen würde,306 endete er schlussendlich bei der Forderung nach einem HBNPC-eigenen Umschulungszentrum. Grund für diese Forderung war ein strukturelles Misstrauen gegenüber der eigenen Belegschaft. Die Auswahl für die staatlichen AFPA-Zentren erfolge „durch psychotechnische Untersuchungen“.307 Damit laufe das Unternehmen aber Gefahr, dass das Niveau „für einige unserer Kandidaten zu hoch“ sei.308 Dementsprechend gründeten die HBNPC noch im selben Jahr das Centre d’Embauchage du Bassin, ein Anstellungszentrum, in Hénin-Liétard, das die psychotechnischen Untersuchungen, sowohl bei Einstellungen als auch vor der Zuweisung in eine AFPA-Umschulung, durchführen sollte.309 Parallel zur Einrichtung von drei FPAZentren (in Auchel-Bruay, Oignies und Hénin-Liétard) in Nordfrankreich stellte der Bergbau also die Infrastruktur zur Auswahl der „bildbaren“ Bergarbeiter bereit.310 303 Michel Didry: L’installation de Renault-Peugeot à Douvrin-La Bassée, in: Nord-Éclair, 24. Oktober 1968, enthalten in: ADN, 11 W 325. 304 Ebd. 305 Luc Pointurier: Formations pour conversions. Aktenvermerk, 3. 2. 1967, in: ANMT 2002 056 4051. 306 Vgl. dazu William J. Breen: Social Science and State Policy in World War II: Human ­Relations, Pedagogy, and Industrial Training, 1940 – 1945, in: The Business History Review 76 (2002), S. 233 – 266. 307 Pointurier: Formation, S. 3. 308 Ebd. 309 F. Caplain: Aide de la F. P. A. pour la reconversion des Houillères du Bassin du Nord et du Pasde-Calais. Schreiben des Directeur Régional du Travail et de la Main-d’œuvre de la Région du Nord, Lille, an den Ministre des Affaires Sociales, Direction Générale du Travail et de l’Emploi, Service de l’Emploi, Paris, 31. 7. 1967, in: ADN 11 W 445; Claude Amoudru: Rapport annuel d’activité, Année 1967. Jahresbericht der Organisation Médicale der HBNPC , 10. 4. 1968, in: ANMT 2002 056 4954. 310 Luc Pointurier: Schreiben an F. Caplain, 20. 7. 1967, in: ADN 11 W 445.

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Im Vergleich zum bundesrepublikanischen Konflikt um den Willen zur Umstellung von Industriearbeitern entwickelte sich in Nordfrankreich aber keine ausgreifende Kontroverse um die Bildbarkeit des „älteren Arbeitnehmers“. In ihrer Begründung für die Einrichtung von Umschulungsmaßnahmen anthropologisierten die HBNPC die Bergarbeit. So entstamme der Bergarbeiter einem „sehr speziellen Milieu“, zeichne sich durch eine „schwache Schulbildung“ aus und fühle sich, nachdem er seit der Nachkriegszeit für die „wirtschaftliche Erneuerung der Nation“ verantwortlich gewesen sei, in seiner Nützlichkeit angegriffen.311 Die Vereindeutigungsleistung der Testpsychologie und der in Frankreich auch nach 1945 unter der Bezeichnung Psychotechnik bekannten Vermessungskultur behielt jedoch, anders als in der Bundesrepublik, in der sie die prominente Rolle der 1920er Jahre nicht mehr erreichen sollte,312 die Oberhand. Auf einer Konferenz im Oktober 1968 etwa widmete sich eine Arbeitsgruppe der „adaptabilité“ der Bergleute und kam zu profanen und in der Logik statistischer Vergleichbarkeit nachvollziehbaren Ergebnissen: Die AFPA-Psychologen erklären, keine wesentlichen Unterschiede ­zwischen derjenigen Bevölkerung, die sie normalerweise untersuchen, und derjenigen des Bergbauunternehmens festgestellt zu haben. Ein Anteil von 10 % einer Bevölkerungsgruppe […] scheint in beiden Fällen in der Lage zu komplexen Arbeiten anspruchsvoller Berufe […]. 313

Die Idee der vollständigen Erfassung des „Anpassungspotentials“ („potentiel d’adaptabilité“) des Personals hatte wissenspolitische Züge.314 Es reiche nicht aus, „die Idee der notwendigen Umstellung in den Köpfen keimen zu lassen“, um den „Strukturwandel“ zu bewältigen: „Wir müssen darüber hinaus überprüfen, ob jeder anpassungsfähig ist und, wenn ja, inwieweit.“ 315 Dieser Anspruch der Erfassung und Vermessung des Willens zur Umstellung fand sich auch in der Bundesrepublik – mit dem Unterschied jedoch, dass sich darüber im französischen Bergbau kein Konflikt 311 HBNPC: Projet de création d’un centre conventionné de formation professionnelle d’adultes à Nœux-les-Mines. Entwurf an den Ministre des Affaires Sociales, 22. 9. 1967, in: ANMT 2002 056 4051, S. 2. 312 Vgl. Ruth Rosenberger/Lutz Raphael/Johannes Platz: Psychologische Eignungsdiagnostik in westdeutschen Großunternehmen. Wirkung von Ideen als Neufiguration wissenschaftlicher Konzepte in professionellen Verwendungsfelder, in: Raphael/Tenorth (Hg.): Ideen, S. 479 – 496. 313 Rapport Commission N° 6. Annexe 7 zum Konferenzbericht der Kommission zur „Sélection“. Conclusions des Houillères du Bassin du Nord et du Pas-de-Calais résultant des travaux des journées des 22 et 23 octobre 1968, o. D. [ca. November 1968], in: ANMT 2002 056 4051, S. 1. 314 So die Forderung bei Gilbert Bayle: Réflexions au sujet du problème de la conversion. Anhang zum Schreiben an P. Verrier, 26. 8. 1968, in: ANMT 2004 001 254, S. 6. 315 Ebd.

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von gesamtgesellschaftlicher Relevanz entwickelte, an dem das staatliche Selbstverständnis und die Zukunft der Arbeit hätten verhandelt werden können. Diese unterschiedliche Wahrnehmung zeigt sich auch an den Studien, die die HBNPC ab Mitte der 1960er Jahre und bis 1973 anfertigen ließ: Mit einer „Untersuchung über die Informationen zur Umstellung“ oder einer Studie über das Motivationspotential der Bergarbeiterbevölkerung ging es weniger um die Umstellungsfähigkeit und ihre Bestimmung als vielmehr um die Erreichbarkeit des Arbeitermilieus.316 Der Wille zur Umstellung war von dieser Warte aus kein Problem der Vereindeutigung, sondern eines der Kommunikation. Dementsprechend waren die bundesrepublikanischen Debatten den französischen Funktionären fremd. Als französische Ausbildungsingenieure im Mai 1972 auf einer Luxemburger Tagung einen Vortrag von Alfons Gummersbach, dem pädagogischen Leiter des Bfz Essen, hörten, notierten sie, dass es sich um ein „Experimentierzentrum“ und „Feld empirischer Forschung“ handele. Mit viel mehr „Erstaunen“ nahmen sie jedoch das „Ausmaß der Maßnahmen der deutschen Gewerkschaften“, also des Bfw des DGB, wahr.317 Die Umstellung der französischen Bergleute verstanden sie nicht als Beweis für den Eintritt der gefürchteten sozialen Folgen des Wandels der Arbeit – sondern schlicht als eine weitere Aufgabe, für die die AFPA tätig werden musste. Unzureichende Aufnahmezahlen von Bergarbeitern in Umschulungskurse kompensierten die HBNPC durch die Einrichtung von Vorkursen, die das Unternehmen selbst bezahlte,318 um den „Fortbildungswillen zu wecken“.319 Gleichzeitig legten sie – ohne ­dieses Ausschlusskriterium offen zu kommunizieren – fest, dass über eine „Bestenauslese“ als hochwertig eingestuftes Personal von Umstellungsmaßnahmen ausgenommen wurde, damit es dem Bergbau erhalten bliebe.320 Ebenso währten diese Umschulungs- und Umstellungsbemühungen der CdF und der HBNPC nur kurz: Nach 1974, im Kontext der relance, stellten die HBNPC die Maßnahmen nach nur 2925 Umschulungen bis 316 Vgl. Enquête sur l’information conversion, in: Centre Historique Minier de Lewarde, 55W309; Ernest Richter: Rapport définitif d’une étude motivationnelle concernant le recrutement dans le bassin du Nord et du Pas de Calais, Mai 1965, in: ebd., 55W312, Bd. 1. 317 Raymond Thomas/Montagnier: Conférence Européenne sur la formation et le perfectionnement professionnels des adultes, Centre Européen de Kirchberg – Luxemburg, 15 – 19 mai 1972, 31. 5. 1972, in: ANMT 2007 038 037, S. 19 und 2. 318 Luc Pointurier: Préformation en vue de conversion. Aktenvermerk, 5. 11. 1970, in: ANMT 2004 001 254. 319 HBNPC . Formation du Personnel: Préformation à la conversion. Programmes pour le court terme, Februar 1971, in: ebd. 2002 056 4051, S. 1. 320 Commentaire annexe au projet de note de service concernant la conversion des „T. A. M.-Fond“ et les „A. D.“. Anhang an das Schreiben des Personaldirektors der HBNPC an den Direktor der CdF, 31. 12. 1969, in: ebd. 2004 001 254, S. 1 f.

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zum Beginn der 1980er Jahre wieder ein.321 Der Wille zur Umstellung war damit kein Problem mehr. Max Hecquet, der Generaldirektor der HBNPC, resümierte 1973: „Wir mussten eine Mentalität der Umstellung im Revier schaffen. Das ist nun geschehen.“ 322 In den 1980er Jahren, als die Umschulung von Industriearbeitern als Problem in der Bundesrepublik von der Bildfläche verschwunden war, nahmen die Umstellungsmaßnahmen mit dem Ziel der Beendigung des nordfranzösischen Bergbaus im Jahr 1990 wieder an Fahrt auf.323 Aber auch in dieser zweiten, intensivierten Welle der Umstellung stand weniger der Wille zur Umstellung der Arbeiterpopulation im Vordergrund. Vielmehr entzündete sich an der Umschulung – anders als in der Bundesrepublik – der Protest der Gewerkschaften, vor allem der Force Ouvrière (FO) und der CGT. So protestierte etwa ein CGT-Funktionär im Jahr 1984, als es um die Umschulungsherausforderungen der nächsten Jahre ging: „[D]ie Ausbildung ist nicht dazu da, das Unternehmen abzuwickeln.“ 324 Anders als die IGBE, die, wie unten zu zeigen sein wird, den Willen zur Umstellung der Bergarbeiter als Verhandlungsmasse nutzte, um Umschulungen überhaupt einzuführen, widersetzte sich die kommunistische CGT allen Umschulungs- und Umstellungsplänen und verlangte die staat­ liche Weiterförderung des Bergbaus.325 Der Konfliktgegenstand war also ein anderer – begünstigt dadurch, dass die Methoden zur Vereindeutigung der Umstellung auch in ­diesem Fall nicht vom Bergbau selbst, sondern von der AFPA bereitgestellt wurden.326 Doch in d ­ iesem Moment, als im westdeutschen Bergbau die Anerkennung der „Minderbegabung“ qua Institutionalisierung in neuen Ausbildungsberufen längst Realität war, begannen auch die HBNPC – und mit Abstrichen die HBL – mit der Bildbarkeit des Industriearbeiters zu experimentieren. 1987 hielt ein Bericht die 321 Olivier Mazade: La reconversion des mineurs des Houillères du Bassin du Nord-Pas de Calais. Aspects historiques et statistiques (Anthropologie du bassin minier 8), o. O. 1999, S. 4; Bayle: Les nouveaux embauchés. Die Zahl nach Olivier Mazade: Reconversions et socialisations ­professionnelles. Le cas des agents des Houillères du Bassin du Nord – Pas-de-Calais (HBNPC), Villeneuve-d’Ascq 2000, S. 74. 322 Paul Mudry: Réunion du 10 octobre 1973 entre la Direction Générale et les organisations syndicales, Protokoll, 23. 10. 1973, in: ANMT 2004 001 254, S. 5. 323 Mazade: Reconversions, S. 74 – 76. 324 CdF. Service de Formation: Réunion du 4 juillet 1984, 9h–12h, Protokoll, 31. 7. 1984, in: ANMT 2002 056 0452, S. 3. 325 Vgl. auch B. Prat: Formation professionnelle. Veut-on en faire un outil de liquidation?, in: Le travailleur du sous-sol, 15. November 1984, enthalten in: ebd. Die FO und die Confédération Française des Travailleurs Chrétiens stimmten den Umschulungen schließlich verhalten zu. Vgl. CdF. Service de Formation: Conclusions de la réunion du 27 juin 1985 sur la formation professionnelle, 30. 9. 1985, in: ebd. 326 Siehe bspw. Convention de formation N° 62 – 85/46. Abkommen z­ wischen dem Préfet du Pasde-Calais, der AFPA Lille und den HBNPC, 18. 6. 1985, in: ebd. 2004 001 525.

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­geänderte Wahrnehmung fest: Die bisher eingesetzten Umstellungsmaßnahmen ­seien „den aktuellen Bedingungen nicht mehr angemessen“:327 Die Arbeiter ­seien „keine ‚Freiwilligen‘“ mehr. Die Umstellung in einem „harten“ und „selektiven“ Arbeitsmarkt habe nun um jeden Preis zu erfolgen.328 Die Methode, auf die die HBNPC zur Steigerung des Willens zur Umstellung ihres überzähligen Personals zurückgriffen, fanden die französischen Bergbaufunktionäre in den Ateliers de Raisonnement Logique (ARL). Die ARL stellten eine auf die Arbeiten des CUCES und Bertrand Schwartz’ zurückgehende Fortbildungsform dar, über die die „kognitive Bildbarkeit“ eines „Publikums mit ‚schwachem Qualifikationsniveau‘“ langfristig gesteigert werden sollte.329 Vereindeutigungswert erlangte ­dieses Modell, das aus ­kurzen, 90-minütigen Unterrichtseinheiten mit logikbasierten Denk- und Rechenaufgaben bestand, für die HBNPC-Funktionäre durch eine intuitive Parallelisierung von ökonomischer und individueller Entwicklung. Die ARL-Pädagogen folgten der Piaget’schen Vorstellung einer interaktiven Wandelbarkeit der Intelligenz. Der Schweizer Pädagoge Jean ­Piaget war von einer Entwicklung vom sensomotorischen über das präoperationale und das konkret-operationale bis zum formal-operationalen Stadium ausgegangen, also von einem Wachstum hin zu einem steigenden Abstraktionsgrad von praktischen zu theoretischen Aufgaben und Handlungen.330 Bei ehemaligen Industriearbeitern liege jedoch eine „abweichende“ und unabgeschlossene Entwicklung vor.331 Ziel der ARL sei es, diese „‚schwachen‘“ und „im Kognitiven ‚wenig mobilen‘“ Arbeiter zu einem „Verhalten der Selbstbildung“ („autoformation“) zu führen.332 Diese Vorstellung einer Evolution vom Konkret-Manuellen zum Abstrakt-Kognitiven entsprach für die CdF-Ausbilder exakt den Erfordernissen des Wandels der Arbeit, der „mehr und mehr Abstraktionsfähigkeiten“ erforderlich mache.333 Der Bergmann müsse auf eine Tätigkeit in der „Informationsverarbeitung“ vorbereitet werden.334 Es habe

327 Guy Labitte: La reconversion aux HBNPC. Rapport de mission, Novembre 1987, in: ANMT 2007 044 730, S. 2. 328 Ebd. 329 Zu Ersterem und der durch den Strukturwandel geforderten „steigenden Anpassungsfähigkeit“ vgl. Marvoyonne Sorel: L’éducabilité de l’appareil cognitif: de quoi parle-t-on? Pourquoi?, in: Éducation permanente 88/89 (1987), S. 7 – 19, hier S. 7; Pierre Higelé/Gérard Hommage/Elisabeth Perry: Ateliers de raisonnement logique. Exercices progressifs pour l’apprentissage des opérations intellectuelles, o. O. [Nancy] 1988, S. 3. 330 Higelé/Hommage/Perry: Ateliers, S. 8. 331 Ebd., S. 12. 332 Gérard Hommage/Elisabeth Perry: Les ateliers de raisonnement logique ARL. Mise en œuvre, diagnostic, évaluation, in: Éducation permanente 88/89 (1987), S. 129 – 140, hier S. 134 und 138. 333 Mussano: Les ateliers de raisonnement logique, Vortragstyposkript. Anhang zur Sitzung mit den Gewerkschaften am 6. 3. 1989, 19. 6. 1989, in: ANMT 2002 056 0452, S. 2. 334 Ebd.

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sich aber gezeigt, dass einige von ihnen „Lernschwierigkeiten“ hätten.335 Oder, wie ein Gewerkschaftsfunktionär klagte: „[B]islang verlangte man von den Leuten, ‚mit den Armen zu denken‘, heute müssen sie diese Arbeit ‚mit ihrem Kopf‘ leisten.“ 336 Dieser Qualifizierungsimperativ führte zugleich zu einer neuen, wissenspolitischen Vereindeutigungsform, in der die Grenze der Bildbarkeit für Industriearbeiter denkbar wurde. So führte ein Bericht über die ARL aus, dass der französische Bergbau habe eingestehen müssen, dass einige Umschüler an „Lernschwierigkeiten“ leiden würden – bedingt durch „Motivations-“, „Eignungs-“ und „Fähigkeitsprobleme“.337 Ebenso hielt ein weiterer CdF-Ausbildungsfunktionär als wichtigstes Resultat der ARL fest, dass „es möglich ist, Personen zur Entwicklung anzuleiten, für die man zuvor nur eine negative Prognose hat abgeben können“.338 Und wenn ein Artikel ein Jahr ­später notierte, die ARL ­seien die ideale Möglichkeit, „intellektuelle Fähigkeiten zu wecken, die durch Jahre der Taylorisierung in den Schlaf versetzt wurden“,339 entsprach diese Rhetorik vordergründig der Ökonomisierung der Ausbildung und zunehmenden Selbstoptimierungszwängen. Auf den zweiten Blick wird aber deutlich, dass es weniger darum ging, Industriearbeiter zu „unternehmerischen Selbsten“ umzuformen, sondern darum, die Grenzen der Anpassungsfähigkeit zu ermitteln. Denn, wie der CdF-Bericht ebenso bemerkte, der Qualifizierungsimperativ beinhaltete auch seine Grenzen: Personen, „die Leseschwierigkeiten haben“, kämen für die ARL nicht in Frage.340 Die Vereindeutigung des Willens zur Umstellung bedingte also zugleich dessen Einschränkung. Stufenausbildung und kybernetische Pädagogik können als Wissenspolitiken der Anpassung gelesen werden, bei denen es darum ging, das zukünftige Anforderungsniveau der Arbeit und das herauszupräparierende Begabungsniveau proportional aneinander anzugleichen. Die wenigen Umstellungsexperimente im französischen Bergbau hingegen deuteten auf eine Verschiebung im Mobilitäts- und Umstellungsdiskurs hin. Diesem wird im Folgenden am Beispiel der Bundesrepublik detaillierter nachgegangen. Ab dem Moment, in dem der Wille zur Umstellung nicht mehr 3 35 Ebd., S. 3. 336 CdF. Département Développement des Ressources Humaines et Formation: Réunion sur la Formation Professionnelle Continue, Ruel – 6 Mars 1989, 14h00 – 16h45, Protokoll, 19. 6. 1989, in: ANMT 2002 056 0452, S. 8. 337 Jean-Charles Larnould: L’utilisation des ateliers de raisonnement logique à Charbonnages de France. Journée d’étude sur les outils de développement cognitif organisée par l’université de Paris-Dauphine et l’Association Développement et Emploi, Bericht, 1. 6. 1988, in: ANMT 2007 038 250, S. 1. 338 Ebd., S. 5. 339 Jean-Michel Petraru: Les méthodes pour apprendre à apprendre, in: L’usine nouvelle Nr. 2231, 22. August 1989, S. 36 – 37, hier S. 36, enthalten in: ANMT 2007 038 250. 340 Larnould: L’utilisation des ateliers, S. 5.

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als erforschbares Fixum betrachtet, sondern dessen Steigerbarkeit angenommen wurde, warf er die Frage nach den Bedingungen der Steigerbarkeit auf: Welche Individuen wären dazu in der Lage? Welche nicht? In Frankreich beschränkten der Berufsschulschwerpunkt und die Institutionen der Erwachsenenausbildung Handlungsspielräume für einzelne Branchen. Auch Maßnahmen für und die Definition von spezielle(n) Personengruppen waren nur bedingt möglich. In der Bundesrepublik avancierte der Wille zur Umstellung des Industriearbeiters dagegen zu dem epistemischen Ding, anhand dessen die Zukunft der Arbeit, gesellschaftliche Gleichheit und Differenz sowie die Methoden ihrer Vereindeutigung verhandelt wurden. Dies gilt vor allem für die Entdeckung der Umschulung.

4 Von der Entdeckung des „älteren Arbeitnehmers“ zur Institutionalisierung der Umschulung (1965 – 1968/69)

4.1 Umschulung und die Sorge um die Erosion der Beruflichkeit Umschulungen und Berufswechsel gehörten lange Zeit nicht zum Arsenal der bundesrepublikanischen Sozial- und Arbeitsmarktpolitik. Die Begriffe der Umschulung und des Umschülers tauchten erst spät auf. Wenn Umschulung eine Rolle spielte, dann war sie eng verbunden mit Kriegs- und Verlusterfahrungen, Invalidität oder politisch bedingtem Berufsverlust.1 Noch im Jahr 1968, als die Auseinandersetzungen um Umschulungen eine breite Öffentlichkeit erreicht hatten, fühlte sich der zuständige Regierungsdirektor des Bundesarbeitsministeriums, Klaus Zekorn, bemüßigt, diesen Begriff gegen Vorbehalte zu verteidigen. Dabei bezog er sich auf die doppelte Belastung durch die „NS-Schulung“ sowie durch das „ReeducationProgramm“ der Alliierten.2 Berufswechsel über Umschulung stellte ein durch vielfache Referenzen aufgeladenes Phänomen dar. Grundsätzlich bezeichnete Umschulung die Idee, dass Arbeiter und Angestellte durch berufliche (Aus-)Bildung einen neuen Beruf und Arbeitsplatz erlangen. Die mit dem Begriff operierenden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler bezogen Umschulung auf ein kohärentes, erfassbares und zu ordnendes Berufssystem von „Wesensberufen“ und Berufsfamilien, ­zwischen denen Individuen wechseln konnten. In der Tradition der Charakterologie hatten Arbeitsverwaltung, Psychologie und Sozialwissenschaften seit den 1930er Jahren versucht, umfassende und komplexe Berufssystematiken und -bestimmungen zu erarbeiten, die sie mit vermeintlichen Persönlichkeitsmerkmalen Jugendlicher und Arbeitssuchender abglichen.3 Dieses Vorgehen richtete sich in antiamerikanischer und moralisch-holistischer Stoßrichtung gegen die „zergliedernden“ Methoden des „Taylorismus“.4 1 Vgl. literarisch Josef W. Janker: Der Umschuler [1971], Frankfurt a. M. 2001. 2 Klaus Zekorn: Zur beruflichen Umschulung, in: Bundesarbeitsblatt (1969), 2, S. 75 – 79, hier S. 76. 3 Zu ­diesem wenig beleuchteten Gebiet vgl. David Meskill: Psychological Testing and the German Labor Market, 1925 to 1965, in: History of Psychology 18 (2015), S. 353 – 366; Bachem: Zuordnungsroutinen; Daniela Saxer: Persönlichkeiten auf dem Prüfstand. Die Produktion von Arbeitssubjekten in der frühen Berufsberatung, in: Historische Anthropologie 19 (2011), S. 354 – 371. 4 Vgl. David Meskill: Characterological Psychology and the German Political Economy in the Weimar Period (1919 – 1933), in: History of Psychology 7 (2004), S. 3 – 19.

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Institutionalisierung der Umschulung

Vor d ­ iesem Hintergrund verstanden auch erste Analysen, die sich in der frühen Bundesrepublik mit dem Berufswechsel in der industriellen Gesellschaft beschäftigten, Umschulung als Teil eines Problems. Ihr Fokus lag vielmehr darauf, Berufswechsel statistisch zu erfassen und ihn auf seine schädliche Wirkung auf gesellschaftliche Stabilität und Ordnung zu untersuchen. So konzentrierte sich eine von Helmut Klages im Auftrag des Bundesarbeitsministeriums durchgeführte Studie auf „Berufswahl und Berufsschicksal“.5 Mit empirischen Erhebungen, die auf das Jahr 1954 zurückgingen,6 setzte sich Klages, der ­später durch seine Arbeiten zum „Wertewandel“ Bekanntheit erlangen sollte, mit Strukturwandeltheoretikern wie Jean Fourastié und Colin Clark auseinander. Den Hintergrund bildeten für K ­ lages aber weniger modernisierungstheoretische Planungshoffnungen französischer und amerikanischer Provenienz als vielmehr Verlusterfahrungen: Die Gegenwart sei „weder von familiärer noch von individueller Stabilität“ geprägt.7 Durch die wirtschaftliche, aber auch politische Entwicklung sei das einst geordnete „Berufsgefüge“ erodiert. Klages sah sich sogar gezwungen, von einer „beruflich mobilen Gesellschaft“ zu sprechen.8 Er verstand, dem Fluktuationsparadigma folgend, die „mobile Gesellschaft“ nicht als erstrebenswertes Ziel. Er beabsichtigte hingegen, die problematischen „Begleit- oder Folgeerscheinungen der Berufsumschichtung“ für den „Gesellschaftskörper“ zu untersuchen.9 Dieser organizistische Holismus ließ Klages nach umfassenden empirischen Erhebungen und der Diagnose einiger „pathologische[r] Erscheinungen“ 10 zu folgendem Schluss kommen: Die Beschleunigung und Dynamisierung der Arbeitswelt erfordere, die „individuelle Fähigkeit zur Beweglichkeit“ zu fördern.11 Diese Förderung beschränke sich nicht lediglich darauf, Ausbildungsmöglichkeiten – etwa in Form von Schulen – zu schaffen, sondern ziele auf die „Bewußtseinskonstellation des Arbeitnehmers“: Arbeiter müssten entweder freiwillig ein „dynamisches Bewußtsein“ entwickeln oder den staatlichen Zwang zur beruflichen Umorientierung hinnehmen.12 Gesellschaftliche Stabilität sah Klages dadurch gegeben, dass hinter dem oberflächlichen Berufswechsel quasihandwerkliche „‚Grundberufe‘“ lägen, die durch die Lehrlingsausbildung zu fördern s­eien.13

5 Helmut Klages: Berufswahl und Berufsschicksal. Empirische Untersuchungen zur Frage der Berufsumschichtung (Schriftenreihe des Instituts für empirische Soziologie 3), Köln u. a. 1959. 6 Ebd., Vorwort von Karl Valentin Müller. 7 Ebd., S. 5. Hervorhebung im Original. 8 Ebd. 9 Ebd., S. 7. Hervorhebung im Original. 10 Ebd., S. 148. 11 Ebd., S. 149. 12 Ebd. Hervorhebung im Original. 13 Ebd., S. 147. Hervorhebung im Original.

Umschulung und die Sorge um die Erosion der Beruflichkeit

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Nur auf d ­ iesem Wege ließen sich die Dynamik und die Bedrohung zukünftiger Berufsverschiebungen einhegen. Welche Variante der Politik nun auch angestrebt würde – das Objekt des Interesses war der Wille zur Umstellung. Es ging um die Regierung des Bewusstseins des Arbeiters, das sich jedoch durch einen freien Willen auszeichne. Die fundamentalen gesellschaftlichen Fragen nach der Steuerbarkeit von Mobilitätsverhalten, der Bedeutung des freien Willens einerseits und sozialer beziehungsweise anderer Determinismen andererseits, die in den folgenden Jahren dringlicher werden sollten, deuteten sich hier bereits an. Auch wenn das Gesetz über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung (AVAVG) seit 1927 Fortbildungen und Umschulungen vorsah und bereits 1962 eine Verordnung erlassen wurde, die die Finanzierung von Umschulungsmaßnahmen für durch Rationalisierung und Automation freigesetzte Arbeiter gewährleisten sollte,14 blieben die Auswirkungen zunächst gering. Die Rezession der Jahre 1966 und 1967 wirkte wie ein Katalysator für die Institutionalisierung des Bildungsbereichs der Umschulung und Erwachsenenausbildung.15 Damit wurden diese Ausbildungsformen zum „Herzstück“ der aktiven Arbeitsmarktpolitik und des Arbeitsförderungsgesetzes von 1969.16 Die bisherige Forschung zum AFG konzentrierte sich auf die parlamentarischen und ministerialen Entscheidungsprozesse als Teil einer (Sozial-)Politikgeschichte unter den Auspizien der Verwissenschaftlichung. Politikhistorisch stellte Umschulung eine sozialpolitische Aktivität neben anderen dar.17 Die Geschichte der Erwachsenenbildung und Weiterbildung wiederum überging die Erwachsenenausbildung bislang.18 Nach Vereindeutigungspraktiken des 14 Vgl. Achtzehnte Verordnung zur Durchführung des Gesetzes über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung (Beihilfen zur beruflichen Fortbildung), in: Bundesgesetzblatt Nr. 24, 12. Juli 1962, S. 444. 15 Günther Schmid/Frank Oschmiansky: Arbeitsmarktpolitik und Arbeitslosenversicherung, in: Hans Günter Hockerts (Hg.): Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, Bd. 5: 1966 – 1974. Bundesrepublik Deutschland. Eine Zeit vielfältigen Aufbruchs, Baden-Baden 2006, S. 331 – 379, hier S. 354. 16 Ebd., S. 353. Vgl. auch Georg Altmann: Aktive Arbeitsmarktpolitik. Entstehung und Wirkung eines Reformkonzeptes in der Bundesrepublik Deutschland (Vierteljahrsschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Beihefte 176), Wiesbaden 2004. 17 So Altmann: Arbeitsmarktpolitik, S. 113 – 191; Wolfgang Gödde: Anpassung an Trends oder Einleitung des Wandels? Reformbegriff und Reformpolitik der großen Koalition (Politik und Geschichte 7), Berlin 2010, S. 387 – 398. 18 Josef Olbrich: Geschichte der Erwachsenenbildung in Deutschland, Opladen 2001, S. 249 versteht Umschulung lediglich als Instrument der nationalsozialistischen Kriegsvorbereitung; für die Bundesrepublik steht die Bildung an Volkshochschulen – trotz Betonung des lebenslangen Lernens (ebd., S. 364 – 367) – im Mittelpunkt. Historiografisch spiegelt sich hier der Dualismus von Bildung und Ausbildung.

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Institutionalisierung der Umschulung

Willens zur Umstellung, der das Objekt der aktiven Arbeitsmarktpolitik darstellte, wurde bisher ebenso wenig gefragt wie nach der Anthropologie des AFG oder den Aneignungsspielräumen unterhalb der Bundesebene. Im Weiteren stehen zwei Perspektiven und Argumente im Mittelpunkt: Zunächst geht es darum, die Umschulung aus dem Schatten der Geschichtsschreibung zum AFG zu holen. Umschulungsmaßnahmen folgten in ihrer Umsetzung einer lokalen und regionalen Logik, für die internationale Organisationen oder nationale Stellen nur von mittelbarer Relevanz waren. Darüber hinaus kreisten die Verhandlungen über die Umsetzung der aktiven Arbeitsmarktpolitik um die Bildungsfähigkeit des Arbeiters und die Rolle der Beruflichkeit. Wählt man die Problematisierung der Bildungsfähigkeit als Sonde, enthüllen sich, so die Kernüberlegung d ­ ieses Kapitels, Grenzen der Verwissenschaftlichung, der Planung und des Planungsoptimismus sowie der Steuerungsfantasien. Das, was Beamtinnen und Beamte, Verwaltungs­ angestellte, Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter, Unternehmer, Wirtschaftsfunktionäre und Journalisten in diesen Jahren anhand der Bildungsfähigkeit des Arbeiters ausloteten, war die Grenze des Steuerungsoptimismus: Diese lag dort, wo die Bildungsfähigkeit des Arbeiters endete. Von der Fluktuationsprävention zur Mobilitätsförderung

Auseinandersetzungen um Umschulung und Bildungsmaßnahmen als arbeitsmarktpolitische Instrumente zeigten sich bereits vor den Debatten um das Arbeitsförderungsgesetz – international und in Nordrhein-Westfalen. Motiviert waren sie auch in NRW durch das moralisch-holistische Ziel, Fluktuation zu verhindern. Zu Beginn des Jahres 1965 verfasste Landeswirtschaftsminister Gerhard Kienbaum einen sorgenvollen Brief an seinen Kollegen, den Arbeits- und Sozialminister Konrad Grundmann. Bisher sei es gelungen, sämtliche durch Rationalisierung freigesetzte Arbeitskräfte mit neuen Arbeitsplätzen zu versorgen. Dem Land könne hier aber „ein Gefahrenherd erwachsen“.19 Insbesondere „‚Berufsfremde‘“ und „‚Ungelernte‘“ könnten die „Keimzelle einer strukturellen Arbeitslosigkeit“ bilden, wenn sich das Land und die Arbeitsverwaltung nicht darum bemühten, diese Gruppen rechtzeitig umzuschulen.20 Eine Situation wie in den USA – was damit gemeint war, führte er nicht aus – gelte es zu vermeiden.21 Kienbaum bat schließlich darum, unterrichtet 19 Gerhard Kienbaum: Schreiben an den Arbeits- und Sozialminister des Landes NRW, Konrad Grundmann. Entwurf, Januar 1965, in: LAV NRW-R, NW 502 Nr. 268, S. 1. 20 Ebd. 21 Vermutlich bezog sich Kienbaum auf den Manpower Development and Training Act von 1962, über den in den USA erstmals Umschulungskurse gegen technologische Arbeitslosigkeit finanziert wurden. In der Bundesrepublik galt er als Vorbild und Indikator für die sozialen Folgen der

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zu werden, wie es um die Umschulung zur Bekämpfung von Rationalisierungsfolgen bestellt sei.22 Die zuständige Abteilung stellte jedoch fest, nicht das Arbeits- und Sozialministerium sei für Umschulungen zuständig, sondern das Landesarbeitsamt.23 Als Kienbaum wenige Monate ­später insistierte, sein Haus müsse eruieren, „ob genügend Vorsorge für eine Umschulung von Arbeitnehmern, die infolge struktureller Umwandlungen oder wegen Rationalisierungsmaßnahmen entlassen werden mußten, getroffen worden ist“,24 antwortete der Präsident des Landesarbeitsamtes NRW, Alois Degen. Dieser versicherte, eine Anpassung an geänderte Arbeitsanforderungen stelle derzeit kein Problem dar. Für Arbeiter aber, die ihren Beruf verlören, sei die „volle berufliche Rehabilitation“ gegenwärtig nicht gesichert.25 Der Zeitraum von 13 bis 26 Wochen, für den Anlernzuschüsse gezahlt werden könnten, und eine Umschulung und Fortbildung über die g­ leiche Dauer s­ eien zu kurz, um eine „gleichwertige Tätigkeit“ für Arbeitnehmer zu gewährleisten, deren Arbeitsplatz bedroht sei.26 Auch wenn das nicht die Antwort war, die Kienbaum zu hören wünschte, gab sich der zuständige Beamte damit zufrieden und legte den Vorgang auf Geheiß des Staatssekretärs zu den Akten.27 Es herrschte in Teilen des NRW-Kabinetts also vor den Katastrophenmeldungen der Jahre 1966/67 ein Problembewusstsein für Umschulung. Ausgeprägt war

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Automation. Vgl. Ursula Engelen-Kefer: Umschulung in einer wachsenden Wirtschaft (Dargestellt am Beispiel der USA). Ein Beitrag zur wissenschaftlichen Beratung der Politik, Essen 1971, S. 96 – 159. Die USA stellt eine klassische Projektionsfläche in der Geschichte der Arbeit dar. Vgl. Mary Nolan: Visions of Modernity. American Business and the Modernization of Germany, New York u. a. 1994. Kienbaum: Schreiben an Konrad Grundmann, Januar 1965, S. 2. Paschke: Anfrage an den Arbeits- und Sozialminister NW über Maßnahmen zur Wiedereingliederung von Arbeitnehmern, die infolge struktureller Umwandlungen oder Rationalisierungsmaßnahmen ihren Arbeitsplatz verloren haben. Schreiben von Herrn AR. Thiel vom 23. Dezember 1964. Schreiben an Minister Kienbaum, Staatssekretär Carl Ewers und Ministerialdirigent Jacobs, 15. 1. 1965, in: ebd. Paschke: Anfrage an den Arbeits- und Sozialminister NW über Maßnahmen zur Wiedereingliederung von Arbeitnehmern, die infolge struktureller Umwandlungen oder Rationalisierungsmaßnahmen ihren Arbeitsplatz verloren haben. Verfügung des Herrn Staatssekretärs vom 1. 4. 1965. Schreiben an Ministerialrat Wefers, 8. 4. 1965, in: ebd. Alois Degen: Maßnahmen zur Wiedereingliederung von Arbeitnehmern, die infolge struktureller Umwandlungen oder Rationalisierungsmaßnahmen ihren Arbeitsplatz verloren haben. Schreiben an das Ministerium für Wirtschaft, Mittelstand und Verkehr (MWMV) NRW, 26. 5. 1965, in: ebd., S. 1. Ebd., S. 2. Wefers: Maßnahmen zur Wiedereingliederung von Arbeitnehmern, die infolge struktureller Umwandlungen oder Rationalisierungsmaßnahmen ihren Arbeitsplatz verloren haben. Schreiben an Carl Ewers, 10. 6. 1965, in: ebd.

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Institutionalisierung der Umschulung

es jedoch nicht. Umschulung war ein Mittel neben anderen, das, reaktiv eingesetzt, ein reibungsloses Funktionieren des Arbeitsmarkts gewährleisten sollte. Auch für die Arbeitsverwaltung stellte Umschulung ein arbeitsmarktpolitisches Instrument neben anderen dar. Es wurde pragmatisch umgesetzt und verweigert, wie der Blick auf die frühen Maßnahmen der Arbeitsverwaltung zeigt. In den ersten Jahren nachdem die Zechenleitungen im westdeutschen Steinkohlenbergbau 1958 die ersten Feierschichten angeordnet hatten, merkte das LAA NRW auf. Im Januar 1960 schickte es einige Beamte in die in der Nachkriegszeit eigens für Belange der Schwerindustrie eingerichtete Außenstelle Bergbau in Recklinghausen. Die Außenstelle verzeichnete zu ­diesem Zeitpunkt, auch bedingt durch Zechenschließungen, rund 80 arbeitslose technische Angestellte und Grubeningenieure.28 Arbeitslosigkeit, Vermittlung oder das Verhältnis von Strukturwandel und Beruf tauchten in dem Bericht der Inspektoren aus Düsseldorf allerdings nicht als strukturelle Fragen auf. Die Ursache für die Zahlen lag in ihren Augen in einem Versagen der Außenstelle. Der Berichterstatter zeichnete ein desolates Bild der dortigen Zustände. Fehlende Vermittlungen s­eien darauf zurückzuführen, dass sich die Dienststelle „nicht intensiv genug“ bemühe. Die Außenstelle sehe sich für die Umstellung als unzuständig an. Die Mitarbeiter betrachteten es als ihre Aufgabe, dem Bergbau Arbeitskräfte zuzuführen und nicht zu entziehen.29 Ähnlich wie auf europäischer Ebene dominierte bei der Arbeitsverwaltung eine stabilitätsorientierte Wahrnehmung. Diese zielte in moralisch-holistischer Tradition darauf ab, Fluktuation zu vermindern und die Produktion zu gewährleisten. Mit den Schließungen stelle sich eine große Abwanderung von den Zechen ein, die nicht nur – wie in der Vergangenheit – ältere, sondern „wertvolle produktive Arbeitskräfte“ betreffe, wie ein Bericht des Landesarbeitsamts festhielt.30 Die dadurch bedingte Überalterung werde der Bergbau aller Voraussicht nach durch die Anwerbung von ausländischen Arbeitskräften ausgleichen.31 Größere Sorgen bereitete der Arbeitsmarktbeobachtung die Ausbildung Jugendlicher.32 Der ­Bergbau 28 LAA NRW: Bericht über die am 13. Januar 1960 durchgeführte Dienstreise zur Aussenstelle Bergbau in Recklinghausen, 14. 1. 1960, in: ebd., BR 1134/158, S. 4. 29 Ebd., S. 5. 30 LAA NRW: Die Lage im Steinkohlenbergbau. Memorandum, 20. 5. 1960, in: ebd., S. 6. 31 Ebd. Zur Anwerbung und Ausbildung sogenannter Gastarbeiter vgl. Sara-Marie Demiriz: Vom „Gastarbeiter“ zum Mitbürger. Integration durch Bildung in Nordrhein-Westfalen am Beispiel der Revierarbeitsgemeinschaft für kulturelle Bergmannsbetreuung im Ruhrgebiet, in: Geschichte im Westen 33 (2018), S. 227 – 255; Hans-Christoph Seidel: Die Bergbaugewerkschaft und die „Gastarbeiter“. Ausländerpolitik im Ruhrbergbau vom Ende der 1950er bis in die 1980er Jahre, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 62 (2014), S. 35 – 68. 32 Außenstelle Bergbau des LAA NRW: Jahresbericht über die Lage im Steinkohlenbergbau (Ruhr, Aachen, Niedersachsen) im Jahre 1961, 20. 2. 1962, in: LAV NRW-W, N 100, Nr. 440.

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benötigte – wie es in dem Jahresbericht der Außenstelle Bergbau für das Jahr 1963 hieß – für die Mechanisierung „intelligente und geistig regsame Jungen“.33 In ­diesem auf Nachwuchsbeschaffung, Arbeitskräfteanwerbung und Sesshaftigkeit ausgerichteten System war für Umschulung kaum Platz. So reagierte das Landesarbeitsamt irritiert, als die Hohe Behörde der EGKS Einzelangaben forderte, wie viele Bergleute Unterstützung in welcher Höhe und mit welchem Zweck erhielten. Unter knappem Verweis darauf, dass es keine Beschäftigtenkartei mehr gebe,34 beschwerten sich die Düsseldorfer Zuständigen in Nürnberg über den Luxemburger Kontrolleifer. Die Hohe Behörde hege offenbar den Verdacht, „daß man ältere und erwerbsgeminderte Arbeitnehmer einfach ‚auslaufen‘ läßt und sich nicht genügend um sie bemüht“.35 Als das Landesarbeitsministerium einige Wochen ­später eine Aufstellung darüber forderte, wie schnell entlassene Bergleute mit welchem Alter Stellen in anderen Industrien und Betrieben erhielten,36 handelte das LAA ähnlich. Das Alter entlassener Bergleute sei nicht entscheidend, vielmehr erfordere eine Wiederbeschäftigung „Leistungsvermögen“, aber auch „Berufskenntnisse und -fertigkeiten, die auch in anderen Wirtschaftszweigen verwendbar sind“.37 Ebenso komme es auf „körperliche[] oder geistigseelische[] Behinderungen“ an. Bei Bergleuten im Alter von über 55 Jahren sei das „körperliche Leistungsvermögen“ so eingeschränkt, dass eine Vermittlung kompliziert bis „unmöglich“ sei. Schließlich s­eien die ehemaligen Arbeiter der Schwerindustrie nur für „leichte, vorwiegend im Sitzen zu verrichtende Tätigkeiten“ geeignet. Solche Arbeitsplätze stünden im Ruhrgebiet aber nicht in hinreichender Anzahl zur Verfügung. Außerdem würden die über 55-Jährigen über „kaum ausreichende Bildungsfähigkeit“ verfügen. Daher müsse die Arbeitsverwaltung auf Umschulungen verzichten.38

33 Jahresbericht 1963 der Außenstelle Bergbau des Landesarbeitsamtes Nordrhein-Westfalen, 17. 4. 1964, in: ebd., Nr. 467, S. 25. 34 Gemeint war ein in der Nachkriegszeit eingerichtetes Karteisystem, das den Beschäftigungsnachweis an die Lebensmittelkarten knüpfte und das 1956 aus Kostengründen aufgelöst worden war. Vgl. Stefan Frank: Anpassungen der deutschen Arbeitsverwaltungen und Arbeitsmarktpolitik 1927 – 2005. Pfadabhängigkeit und Reformen (Schriften aus der Fakultät Sozial- und Wirtschaftswissenschaften der Otto-Friedrich-Universität Bamberg 1), Bamberg 2008, S. 100. 35 LAA NRW: Sondererhebung über die sozialen Auswirkungen der Maßnahmen im Sinne des Artikels 56, § 2 des Montan-Union-Vertrages. Aktenvermerk, 26. 11. 1964, in: LAV NRW-R, BR 1134/158. 36 Ministerium für Arbeit und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen: Situation im Steinkohlenbergbau, hier: Landtagssitzung am 1. 12. 1964, Schreiben an das LAA NRW, 6. 1. 1965, in: ebd. 37 LAA NRW: Lage im Steinkohlenbergbau. Schreiben des Arbeits- und Sozialministers vom 6. 1. 1965, Schreiben des Referats Ic 1 an das Referat III i, 11. 1. 1965, in: ebd. 38 Alle Zitate ebd.

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In der Strategie, zusätzliche Aufgaben zu vermeiden, avancierte die mangelnde Bildungs- und Umschulungsfähigkeit des Arbeiters zum Argument der einzelnen Arbeitsämter, um einen Aufgabenzuwachs zu verhindern. Als im Januar 1965 die Zeche König Ludwig in der im nördlichen Ruhrgebiet gelegenen Stadt Recklinghausen schloss, sah sich die Ewald Kohle AG gezwungen, 190 Arbeiter zu entlassen. Von diesen, so berichtete der Direktor des Recklinghäuser Arbeitsamts nach Düsseldorf, hatten sich 102 arbeitslos gemeldet. 77 Personen dieser Gruppe erhielten allerdings bereits entweder eine Berufsunfähigkeits- oder eine Bergmannsrente. Nur ein geringer Teil beziehe Arbeitslosengeld.39 Diese Bergleute, die sich im Alter ­zwischen 50 und 63 Jahren befänden, hätten sich lediglich arbeitslos gemeldet, um ihre Renten aufzubessern. Einen Vermittlungswunsch hätten sie nicht geäußert. Eine Umschulung komme nicht in Frage, denn „dieser Personenkreis“ sei „aus gesundheitlichen Gründen“ dafür „nicht geeignet“. Darüber hinaus ­seien die Bergleute „völlig desinteressiert“ an beruflicher Bildung.40 Auch andere Ruhrgebietsstädte bereiteten dem Landesarbeitsamt Sorgen. Einige Wochen nach den Vorkommissen in Recklinghausen reisten Paul Wollek und ein Kollege vom LAA nach Bochum und Dortmund, um mit den zuständigen Arbeitsämtern das Problem der arbeitslosen Techniker, Steiger und Stahlarbeiter zu eruieren. In Bochum wiesen zwei Vermittler darauf hin, dass die 52 ehemaligen technischen Angestellten für Vermittlungen oder Umschulungen nicht in Frage kämen. Die Ursache liege in der Person der Steiger selbst: Sie interessierten sich nicht dafür, eine neue Arbeit aufzunehmen.41 Es fehlten „ausgesprochene[] Leistungsbereitschaft“ und „echte[r] Leistungswille“, sodass auch die „eifrig[en] Vermittlungsversuche“, die das Arbeitsamt Bochum natürlich unternommen habe, zum Scheitern verurteilt gewesen s­ eien. Zudem würden Unternehmen die Arbeitslosen mit der Begründung zurückweisen, ältere Steiger ­seien „‚zu alt‘“ oder „‚nicht mehr umstellungsfähig‘“.42 Diese Ansicht teilte das Arbeitsamt Bochum. Es fehle an den Voraussetzungen, unter die die Bochumer Vermittler neben dem Alter auch die „Umstellungs- und Bildungsfähigkeit“ fassten.43 Auch die Dortmunder Vermittler und die Düsseldorfer Expedition waren sich einig: Es handele sich bei arbeitslosen Stahlarbeitern um

39 Arbeitsamt Recklinghausen: Stillegung der Zeche König-Ludwig der Ewald-Kohle AG in Recklinghausen. Fernmündliche Unterredung am 12. 5. 1965. Schreiben an das LAA NRW, 13. 5. 1965, in: ebd., BR 1134/158, S. 1. 40 Ebd., S. 2. 41 Paul Wollek: Arbeitsvermittlung von technischen Angestellten. Aktenvermerk, 19. 7. 1965, in: ebd., S. 1. 42 Ebd. 43 Ebd., S. 2.

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eine „negative Auslese“ der Belegschaft.44 Ihre „Anpassungsfähigkeit“ und „Auffassungsgabe“ ­seien in „langjähriger Routine erstarrt“, „Unbeweglichkeit“ dominiere. Diese anthropologischen Bestimmungsversuche des älteren Arbeitnehmers aus der Schwerindustrie beruhten insgesamt weniger auf einem kohärenten Konzept als auf einer Pragmatik lokaler Umstände. So forderten Wollek und sein Kollege, dass das Dortmunder Amt so schnell wie möglich von dem „‚Ballast‘“, ältere Arbeitnehmer vermitteln zu müssen, erlöst werden solle, damit es sich auf die „eigentlichen Arbeitssuchenden“ konzentrieren könne.45 Alle drei Beispiele, aus Recklinghausen, Bochum und Dortmund, belegen zunächst, dass sich das Landesarbeitsamt bereits vor der Skandalisierung der Arbeitslosigkeit in der Rezession 1966 und 1967 mit Umschulung beschäftigte. Arbeitslose der Schwerindustrie – so die Perspektive der drei Arbeitsämter – wollten aber gar keine Umschulung, s­ eien dazu auch nicht in der Lage und bereits gut versorgt. Beglaubigt wurde diese Deutung durch die unmittelbare Anschauung durch den zuständigen Vermittler. Darüber hinaus wurden der transnationale und nationale Mobilitätskonsens und die Euphorie für Umschulung und andere Bildungsmaßnahmen als arbeitsmarkt- und sozialpolitische Instrumente unter Verweis auf die mangelnde Bildungsfähigkeit zunächst nur bedingt geteilt. Dem Qualifizierungsimperativ, der in Unternehmen, in Gewerkschaften, in Frankreich und in der EGKS beschworen wurde, stand in der Bundesrepublik die Behörde, die die Umstellung bezahlen musste, skeptisch gegenüber. Während die Arbeitsämter also unter Verweis auf die fehlende Bildungsfähigkeit der älteren und eine körperlich gegebene Wiederverwendbarkeit der jüngeren Bergarbeiter Umschulungen praktisch ausschlossen, wusste auch das Landeswirtschaftsministerium nicht recht mit der Lage umzugehen. Nachdem sich Minister Kienbaum im Jahr 1965 noch durch den Hinweis auf die Zuständigkeit des Landesarbeitsamtes hatte besänftigen lassen, sah dies im Sommer 1966 anders aus. Die Rezessionsmeldungen der ersten Hälfte des Jahres 1966 scheuchten auch die zuständigen Beamten und den Wirtschaftsminister auf. Der Staatssekretär wandte sich an das zuständige Referat mit dem Hinweis, es ­seien nicht die Facharbeiter, die durch den technischen und wirtschaftlichen Wandel freigesetzt würden, sondern angelernte Arbeiter. Deren Umschulung sei nun in Angriff zu nehmen, besonders weil er für die nächsten Jahre mit einem Stellenschwund im Bergbau, in der Stahl- und der Textilindustrie rechnete.46 Kienbaum verlangte also die Prüfung des Umschulungsbedarfs: Wie viele Arbeiter verlören 4 4 Ebd., S. 3. 45 Ebd. 46 Carl Ewers: Umschulung von entlassenen Arbeitskräften. Schreiben des Staatssekretärs des MWMT an den Abteilungsleiter III oder Vertreter, 15. 7. 1966, in: ebd., NW 502 Nr. 268.

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Institutionalisierung der Umschulung

ihre Arbeitsplätze? Wie viele Personen arbeiteten in den besagten Bereichen? Der zuständige Referent holte umgehend Informationen beim Arbeits- und Sozialministerium sowie beim Landesarbeitsamt ein und berichtete von einem Strauß an Maßnahmen, die sich von Anlernzuschüssen bis zu vollständigen Umschulungen erstreckten. In der darauffolgenden Diskussion einigten sich die zuständigen Beamten beim Landeswirtschaftsministerium darauf, dass der Bedarf an Umschulungsplätzen ebenso wie der Inhalt dieser Kurse uneindeutig sei. Nach Kienbaum brauchte die Industrie angelernte, keine Facharbeiter.47 Betriebe sollten bei Kurzumschulungen unterstützt werden, sobald der Umschulungsbedarf eruiert worden sei. In den anschließenden Sondierungen ­zwischen Arbeitsministerium, Wirtschaftsministerium und Landesarbeitsamt nahm wiederum die nachgeordnete Behörde eine defensive Haltung ein. Der zuständige Beamte verwies auf die verschiedenen Förderungsrichtlinien der BAVAV und betonte, „dass bisher alle entlassenen Bergleute untergebracht werden konnten.“ 48 Auch hier beklagte das LAA die unkalkulierbare Lage. Dem Amt fehle „eine genaue Übersicht über die Beschäftigtenzahl“, da die „früher vorhandene Beschäftigtenkartei“ nicht mehr geführt werde.49 Auch eine Fragebogenaktion der Bundesarbeitsverwaltung unter den einzelnen Arbeitsämtern „über die Auswirkungen der technischen Entwicklung“ habe keine Klarheit gebracht. Zwar habe die Bundesanstalt mittlerweile das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) gegründet, die Situation beurteilte der zuständige Beamte trotzdem als opak. Den zukünftigen Arbeitskräftebedarf zu ermitteln sei nicht möglich. Selbst Schätzungen s­eien von „Unwägbarkeiten“ geprägt. Nur auf der Ebene der Entlassungen liefere der Bergbau wegen der Anzeige­pflicht Ansatzpunkte.50 Die Fäden der Problemwahrnehmung liefen also beim Landesarbeitsamt NRW zusammen. Dort deutete sich parallel zur pragmatischen, fluktuationsorientierten und durch den lokalen Bedarf bestimmten Herangehensweise in den einzelnen Ämtern ein Umdenken an.51 Dieser Richtungswechsel rührte weniger von 47 Werner: Umschulung von angelernten Arbeitnehmern, die durch strukturpolitische Maßnahmen freigesetzt werden. Gespräch mit Staatssekretär Dr. Ewers vom 15. 7. 1966. Aktenvermerk, 20. 7. 1966, in: ebd., S. 1. 48 Werner: Umschulung von entlassenen Arbeitskräften. Schreiben S2 vom 15.8[7].1966, Schreiben an Staatssekretär Dr. Ewers, 5. 8. 1966, in: ebd., S. 2. 49 Ebd., 5. 8. 1966, S. 3. 50 Ebd. 51 Eine ähnliche Verschiebung zeigte sich zeitgleich auch in der bundesrepublikanischen Debatte, etwa bei Burkart Lutz/Friedrich Weltz: Der zwischenbetriebliche Arbeitsplatzwechsel. Zur Soziologie und Sozioökonomie der Berufsmobilität, Frankfurt a. M. 1966. Die Studie entstand mit dem Ziel, die „Sorgen“ (S. 7), die die Fluktuation verursache, zu lindern. Der Verschiebung trugen

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­prinzipiellen, humanistischen oder arbeitspädagogischen Beweggründen her als von einer Selbstreflexion des Arbeitsamtes und einer Sorge um die Männlichkeit des Industriearbeiters. Im Februar 1965, einige Wochen vor den Besuchen in den Ruhrgebietsarbeitsämtern, lud Alois Degen die Mitarbeiter der durch die Entlassungen im Bergbau betroffenen Arbeitsämter zu einer Konferenz nach Duisburg ein.52 Die Tagesordnung sah unter anderem Diskussionen über Umschulungsmaßnahmen und Vermittlungsschwierigkeiten bei „älteren“ und „behinderte[n] Bergarbeiter[n]“ vor. Bei dieser Tagung offenbarten sich zwei Verschiebungen. Zum einen ergingen sich die Beamten in einem Alarmismus und reflektierten anhand der Bergbaubezirke ihre eigene Legitimation. Die Zechenstilllegungen und daraus resultierende „soziale Härten“ sprächen die Arbeitsvermittlung „unmittelbar an“. Sie fielen nicht nur auf die Unternehmen, sondern insbesondere auf „die Arbeitsvermittlung zurück.“ 53 Damit nicht genug: Angesichts des Stellenrückgangs in der Schwerindustrie müsse die Arbeitsverwaltung ihre „Daseinsberechtigung“ beweisen.54 Die Kohlenkrise galt der Arbeitsverwaltung als Feuerprobe. Die Ämter hätten sich auf die Entlassungen aus dem Bergbau vorzubereiten. Organisatorische Regelungen müssten bekannt sein. Die Arbeiter müssten frühzeitig informiert werden. Die örtliche Presse, die Gewerkschaften und die Betriebsräte s­ eien in die Vermittlungsbemühungen einzubeziehen. Die Bergleute müssten ihre Alternativen kennen: Im Bergbau bleiben und Hilfen empfangen oder den Beruf wechseln.55 Die Arbeitsverwaltung pflegte in d ­ iesem Kontext eine Selbstwahrnehmung als Bastion vor den unbändigen Gefahren der Arbeitslosigkeit, der Unordnung, der Krise und des Protests. Die Nähe zu den Betroffenen und die Vermittlungen nach Schließungen ­seien der „Prüfstein, an dem die Arbeitsvermittlung von der Öffentlichkeit gemessen werde“.56 Zum anderen prägte die Sorge um die industriearbeitsbezogene Männlichkeit die Veranstaltung. Angesichts drohender Massenentlassungen, die das Landesarbeitsamt auf rund 40.000 Bergarbeiter bezifferte, sorgte sich die Arbeitsverwaltung zunächst um eine massive Abwanderung, also um die unkontrollierbare

52

53 54 55 56

die Autoren Rechnung, indem sie z­ wischen „disfunktionalen [!] Mobilitätsvorgängen“ (S. 178) und „funktionale[r] Mobilität“ (S. 180) unterschieden. LAA NRW: Erfahrungsaustausch über die Arbeitsvermittlung von Bergleuten. Schreiben an die Arbeitsämter Aachen, Ahlen, Bochum, Dortmund, Duisburg, Essen, Gelsenkirchen, Hagen, Hamm, Oberhausen, Recklinghausen, Wesel, 30. 1. 1965, in: LAV NRW-R, BR 1134/158. LAA NRW: Erfahrungsaustausch über die Arbeitsvermittlung von Bergleuten am 19. 2. 1965 in Duisburg. Ergebnisniederschrift, 22. 2. 1965, in: ebd., S. 1. Ebd. In dieser Ausfertigung ist „Daseinsberechtigung“ gestrichen und handschriftlich durch „Leistungsfähigkeit“ ersetzt worden. Ebd., S. 2. Ebd., S. 2 und 4.

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Bewegung von Arbeitskräften.57 Aus dieser Perspektive kamen Umschulungen kaum in Frage, da sie wie Anlernmaßnahmen „nur in sehr wenigen Fällen Erfolg“ versprächen.58 Das Argument war bekannt: Die Vermittlung von Arbeitslosen unter 58 Jahren stelle kein Problem dar. Bei den über 58-Jährigen wiederum fehle die Anpassungsfähigkeit. Hinzu trat nun, dass die Vermittlung in „Frauenarbeit, z. B. in der Elektroindustrie“, diskutiert und explizit ausgeschlossen wurde, da es den Bergleuten an „Fingerfertigkeit“ fehle. Als „echte Arbeitssuchende“ könnten die Bergarbeiter nicht gelten. Die Gewährung von Geldern knüpfte der Berichterstatter des Arbeitsamtes also an Bedingungen, die Umschulung auf ­solche Fälle beschränkten, deren „Echtheit“ überprüft worden sei.59 Das Argument mangelnder Anpassungsfähigkeit diente dazu, die Männlichkeit der Bergleute vor einer doppelten Zumutung zu bewahren: einerseits vor der Anstrengung des Bildungsaufwands, andererseits mussten die ehemaligen Ikonen des Wirtschaftswunders vor der symbolischen Degradierung zur „Frauenarbeit“ gerettet werden. Angesichts dieser Sorge um die eigene Legitimation und die Männlichkeit der Bergarbeiter deutete sich unter der Fluktuations- eine Anpassungslogik an: Veranschlage man die doppelte Lehrgangsdauer, könne diese Verlängerung „das verringerte Erinnerungsvermögen, die geringere Fähigkeit, neue Informationen zu verarbeiten, das langsamere erlernen [!] neuer Methoden“ ausgleichen.60 Daraus leitete der Bericht die Forderung ab, Umschulung und Anlernung bei künftigen Entlassungen in Erwägung zu ziehen. In Zukunft würden auch Arbeiter entlassen, die Umschulungen benötigten und dazu auch fähig s­ eien.61 Im Kern der Wende hin zur Umschulung stand also die Frage nach der Fähigkeit zur Umschulung, die sich mit dem Ziel der Mobilitätsförderung stellte. Wenn die Alternative „Frauenarbeit“ hieß, kamen ältere Bergleute doch für Bildungsmaßnahmen in Frage; war Umschulung das ideale Mittel der sozialen wie symbolischen Statuswahrung. Die Anpassungsfähigkeit des Industriearbeiters musste also neu bewertet und ergründet werden. Für David Meskill zeichnet sich die Entwicklung der Arbeitsverwaltung in den 1960er Jahren durch ihre Liberalisierung aus. Diese sowie die Liberalisierung der Bundesrepublik insgesamt hätten zum Ende der Totalerfassung und des „age of organization“ geführt und s­eien mit einem „more open style“ der Arbeitsmarkterfassung einhergegangen.62 Im Zuge dessen sowie der Entproletarisierung und 57 Ebd., S. 2. 58 Ebd. 59 Beide Zitate ebd., S. 3. 60 Ebd., S. 3 f. 61 Ebd., S. 4. 62 Meskill: Workforce, S. 208 f., Zit. S. 209.

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der Vollbeschäftigung habe die Arbeitsverwaltung arbeitslose Industriearbeiter, Kriegsversehrte und Menschen mit Behinderung entdeckt, die es zu vermitteln gelte, um die eigene Existenz zu begründen.63 Dieses Bild einer chamäleonartigen Organisation, die sich geschickt den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Notwendigkeiten anpasst, trägt aber nur bedingt. Die Arbeitsverwaltung in Nordrhein-Westfalen riss sich anfangs keineswegs um diejenigen, die sie als Strukturwandelverlierer betrachtete. Sie sah diese eher als Gefahr denn als Chance. Erst die Sorge um die symbolische Grenze z­ wischen „Frauen-“ und „Männerarbeit“, die wahrscheinlich auch in den anderen, von Meskill angeführten Fällen wesentlich war, eröffnete mit der Umschulung ein neues Tätigkeitsfeld. Die beginnende Auseinandersetzung mit der Umschulung war durch eine komplexe Gemengelage geprägt: In einer Logik der Fluktuationsprävention kam Umschulung zunächst nur in Sonderfällen in Frage. Die Verantwortlichen begegneten ihr mit einer Proportionalisierung, die Umschulung für als nicht geeignet erachtete Personen – praktisch die meisten – unter Verweis auf die mangelnde Bildungsfähigkeit ausschloss. Denn diejenigen, so die paradoxe Vorstellung, die vermittelt würden, bräuchten keine Umschulung. Diejenigen aber, die einer Umschulung bedürften, ­seien dazu nicht in der Lage. Gleichzeitig handelte es sich dabei nicht um eine starre, unverrückbare Norm, sondern um ein situativ und lokal genutztes Argument in einer neuartigen Konstellation, für die Erfahrungen und Vorgehensweisen noch nicht vorlagen und erst erprobt werden mussten. Eine Sorge um die eigene Existenz sowie die Männlichkeit des Industriearbeiters bedingte, dass die Arbeitsmarktspezialisten des Landesarbeitsamtes Umschulungen unter bestimmten – noch zu klärenden – Bedingungen in Betracht zogen. So hielt das in der Einleitung erwähnte und kurz nach dem Erfahrungsaustausch verfasste Memorandum fest, dass neben einer Veränderung der Wirtschaftsstruktur und einer Stärkung der Teilzeitarbeit „auch die Umschulung älterer Arbeitnehmer betrieben werden“ könne.64 Nur die Bedingungen hierfür ­seien unklar. Die Arbeitsverwaltung schuf ein Bedürfnis nach Information und Wissen über die Umstellungsfähigkeit. Damit öffnete sich ein Raum, in dem Umschulung durchgeführt werden konnte. Beweglichkeit und Vorstellungswelten der Beruflichkeit

Befeuert wurde das Bedürfnis nach einem Wissen um die Umstellungsfähigkeit dadurch, dass die genaue Zahl der Umschüler und der Maßnahmen in der Anfangszeit der Auseinandersetzung unklar war. Die Arbeitsämter begannen mit

63 Ebd., S. 210. 6 4 LAA NRW: Umschulung, 8. 3. 1965, in: ebd., S. 6.

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der ­statistischen Erfassung und Kategorisierung von Umschulungsmaßnahmen erst im Jahr 1966. Am 1. Januar 1966 befanden sich in Nordrhein-Westfalen etwa 1000 Personen in Umschulung. Diese Zahl stieg in den folgenden Jahren stark an: Ging es ein Jahr ­später noch um rund 1600 Personen, betrug ihre Zahl am 1. April 1968 bereits 5195 und stieg bis März 1969 auf 5408 Personen.65 Bei diesen Umschulungen handelte es sich vorwiegend um Einzelmaßnahmen. Diese wurden in den jeweiligen Arbeitsamtsbezirken nach Bedarf, also in Abhängigkeit von Arbeitslosenzahlen und anstehenden Entlassungen, angeordnet und finanziert. So führte das Landesarbeitsamt zum August 1967 60 verschiedene Umschulungsberufe in öffentlichen und privaten Maßnahmen auf.66 Dieser Wildwuchs, vom Landesarbeitsamt in der Rückschau als erste Phase des „Improvisierens und raschen Handelns“ stilisiert,67 erklärt sich unter anderem durch die Stabilisierungsfunktion, die Umschulung in dieser Frühphase zugesprochen wurde. In den Automationsdebatten der späten 1950er und 1960er Jahre kam der Beruflichkeit, als vergeschlechtlichtem Strukturprinzip des Lebenslaufs in modernen Industriegesellschaften,68 eine Referenzfunktion zu: Selbst wenn Automation und Rationalisierung Berufe verschwinden ließen, das Prinzip des Berufs wurde nicht in Frage gestellt. In dem Moment, als es fragwürdig wurde, bemühten sich besonders die Berufsberater der Arbeitsämter um seine Stärkung. So distanzierte sich bereits 1960 ein Aachener Berufsberater von der Auffassung, nach der „ein Berufswechsel immer mit einem Makel behaftet“ sei.69 Fast jeder zweite Mensch wechsle seinen Beruf, die „traditionelle[] Berufsauffassung“ schwinde zusehends, die Ausbildung 65 LAA NRW : Umschulungsmaßnahmen der Arbeitsämter (Stand 1. März 1969), 3. 3. 1969, in: Westfälisches Wirtschaftsarchiv Dortmund (WWA), K2 Nr. 2262. Identische Zahlen finden sich in den Publikationen des LAA NRW, etwa bei Christian Beermann: Umschulung in NordrheinWestfalen, in: Berufliche Bildung 18 (1968), 4, S. 93 – 97, hier S. 93. 66 Dass.: Umschulungsmaßnahmen der Arbeitsämter (Stand 15. August 1967), 17. 8. 1967, in: AHGR, IGBE-Archiv, Nr. 3139, S. 9, 6 und 5. 67 Dass.: Auszug aus der Niederschrift über die Tagung der Direktoren der Arbeitsämter im Bezirk des Landesarbeitsamtes N[R]W am 28. 3. 1968 in Viersen, o. D. [März 1968], in: LAV NRW-R, BR 1134/684, S. 2. 68 Zur sozialwissenschaftlichen und berufspädagogischen Debatte um Beruflichkeit vgl. Thomas Deissinger: Beruflichkeit als Zusammenhang. Ein Vergleich mit England, in: Klaus Harney/ Heinz-Elmar Tenorth (Hg.): Beruf und Berufsbildung. Situation, Reformperspektiven, Gestaltungsmöglichkeiten (Zeitschrift für Pädagogik, Beiheft 40), Weinheim u. a. 1999, S. 189 – 207; Gerald Sailmann: Der Beruf. Eine Begriffsgeschichte, Bielefeld 2018, Zit. S. 10; Karl Ulrich Mayer: Arbeit und Wissen. Die Zukunft von Bildung und Beruf, in: Jürgen Kocka/Claus Offe (Hg.): Geschichte und Zukunft der Arbeit, Frankfurt a. M. 2000, S. 383 – 409, insbes. S. 383 – 390. 69 LAA NRW: Niederschrift über den Lehrgang für Fachkräfte der Berufsberatung in der Verwaltungsschule Münster-Mecklenbeck in der Zeit vom 19. – 22. 5. 1959, 15. 9. 1960, in: LAV NRW-W, N 100, Nr. 777, S. 26.

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von Spezialisten und eine „Schulung auf breiter Basis“ verdrängten die traditionelle Ausbildung. Die moderne Wirtschaft und die „hektische Entwicklung im Berufsleben“ verbunden mit der Automation drohten allerdings, die „kulturellen Errungenschaften“ zugunsten der Zumutungen der „Zivilisation“ zurückzudrängen. Der Gedanke des Berufs müsse also gestärkt werden.70 Diese kulturkritische und aus antiamerikanischen Diskursen bekannte Argumentationsfigur ging in den folgenden Jahren und insbesondere mit Blick auf den Bergbau einher mit einer nahezu obsessiven Beschäftigung mit Berufen, ihren Zukunftsaussichten, Chancen, ihrem Veralterungsgrad und der Anpassungsfähigkeit. Die Betrachtung der Beruflichkeit durch die Linse der Umschulung erlaubt eine neue Perspektive auf die seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts auf- und abschwellenden Diskussionen um eine Krise des Berufs.71 Dabei wird deutlich, dass sich diese Diskussionen nicht nur in den Kontext einer Entstandardisierung des fordistischen Normallebenslaufes einfügten, sondern auch auf das bereits zeitgenössisch gepflegte Narrativ der inzwischen „akzeptierte[n] Vorstellung eines ‚lebenslangen Lernens‘ und einer gesteigerten beruflichen und räumlichen Mobilität“ rekurrierten, die zwangsläufig eine „geringere Arbeitsplatzsicherheit“ bedingten.72 Das Phänomen der Umschulung passt nicht in d ­ ieses – je nach Sichtweise – Fortschritts- beziehungsweise Verfallsnarrativ, sondern nimmt sich komplexer aus: Umschulung bedeutete die Stabilisierung eines Systems und einer Ordnung mit Mitteln, die diese gleichzeitig unterminierten. So konnten die Zuschauerinnen und Zuschauer der UFA -Dabei-Sendung am 26. November 1968 lernen, ­welche Berufe dazu verdammt waren, auszusterben.73 Kennzeichnendes Merkmal dieser Berufsschau unter dem Titel „Ein Leben, 3 Jobs“ (nicht Berufe!) war das Verhältnis ­zwischen Maschinen und Männern. Nähme in Branchen wie Chemie und Fahrzeugbau die Zahl der Stellen zu, ­verlören

70 Ebd. Zum Gegensatz von („deutscher“) Kultur und („westlicher“) Zivilisation vgl. klassisch Fritz K. Ringer: Die Gelehrten. Der Niedergang der deutschen Mandarine 1890 – 1933, München 1987, S. 79 – 86. 71 Vgl. als Überblick Anna Rosendahl/Manfred Wahle: Debatten zur Krise von Beruf und Beruflichkeit: A Never Ending Story?, in: bwp@ Berufs- und Wirtschaftspädagogik – online 29 (2016), S. 1 – 23, http://www.bwpat.de/ausgabe29/rosendahl_wahle_bwpat29.pdf, letzter Zugriff: 10. 2. 2021; Sailmann: Beruf. 72 Andreas Wirsching: Erwerbsbiographien und Privatheitsformen: Die Entstandardisierung von Lebensläufen, in: Raithel u. a. (Hg.): Weg, S. 83 – 97, hier S. 95. Dem Erosionsnarrativ kritisch gegenüber steht Lutz Raphael: Arbeitsbiografien und Strukturwandel „nach dem Boom“. Lebensläufe und Berufserfahrungen britischer, französischer und westdeutscher Industriearbeiter und -arbeiterinnen von 1970 bis 2000, in: Geschichte und Gesellschaft 43 (2017), S. 32 – 67. 73 UFA -Dabei 644/1968, 26.  November 1968, https://www.filmothek.bundesarchiv.de/ video/584834?set_lang=de, letzter Zugriff: 10. 2. 2021, 0:02:22.10 – 0:04:30.21.

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­Textilindustrie und Kohlenbergbau an Arbeitsplätzen. Konnten hier Chemie-, Automobil- und Textilindustrie als mechanisierte und technisierte Arbeitsfelder einiger gut ausgebildeter Spezialisten gezeigt werden, griff die Darstellung des Bergbaus auf das klassische Bild schwerindustrieller Arbeit zurück: Behelmte und verdreckte, aber in die Kamera lächelnde Männer, die sich über einen schlachtfeldähnlichen, mit Schutthügeln übersäten Hof in ein Backsteingebäude bewegten.74 Auch die folgende Berufstypologie zeichnete sich durch die unterschiedliche Gewichtung der Körperlichkeit aus: Sogenannte klassische Berufe wie Schmied, Schneider, Schuhmacher und Buchhalter verloren an Bedeutung. Heute beginnen junge Berufe wie Automateneinrichter, Messund Regelmechaniker das Feld zu erobern. Von immer mehr Arbeitnehmern werden Verantwortung, selbstständiges Denken und Spezialkenntnisse gefordert. Die Zukunft verlangt, bis ins Alter beweglich zu bleiben.75

Die „klassischen Berufe“ wurden über konventionelle Standbilder von Mann und Werkzeug dargestellt, die diese auf einen wiedererkennbaren und standesgemäßen Berufstyp reduzierten. Im deutlichen Kontrast dazu statteten die Filmemacher die jungen Berufe mit Bewegtbildern von leuchtenden und blinkenden Maschinen aus, deren Funktion darin bestand, Modernität und Technisierung zu illustrieren. Es konnte aber nicht vermittelt werden, worin der Beruf eigentlich bestehen sollte – außer darin, dass Männer auf rechteckige Großcomputer schauten. Damit entsprach diese Prognose, in der ­zwischen zukunftsträchtigen und veralteten Berufen unterschieden wurde, der optimistischen Politik der BAVAV, neue Berufe zu definieren, um so dem öffentlich gefürchteten Zusammenbruch des Berufssystems und damit der Geschlechterordnung entgegenzuwirken.76 Umschulung als Sozial- und Ordnungspolitik einzusetzen war vor ­diesem Hintergrund folgerichtig, befeuerte aber gleichzeitig Erosionsängste. Dieses Schreckensszenario des „großen Berufssterbens“ entwarf – neben anderen 77 – im selben Jahr der Schriftsteller Kurt Walter Roecken unter dem ­Pseudonym 74 Ebd., 0:03:29.00 – 0:03:41.00. 75 Ebd., 0:03:41.00 – 0:04:04.18. 76 Weitere Berufsschauen und Kampagnen waren BA/BMA (Hg.): Beruf, oder auch Filme, die das Presse- und Informationsamt der Bundesregierung Ende der 1960er Jahre unter Titeln wie „Im Rennen bleiben“, „Vielseitigkeit – Beweglichkeit“, „Berufliche Mobilität“, „Die Freisetzung von Arbeitskräften“ oder auch „Vorsorge statt Fürsorge“ in Auftrag gab. Vgl. die Manuskripte in: BArch B 145/4623, 4624, 4625, 4626. 77 Vgl. etwa Michael Jungblut: Rebellion der Überflüssigen? Die ungeplante Zukunft der Berufe, Bergisch Gladbach 1967. Das Krisenszenario konnte auch die positive Form der Beratungsliteratur annehmen wie z. B. Anthony Burton: Das C & A & E Programm: clever sein, anpassen,

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C. V. Rock.78 Im Umfang einer Monografie erörterte er eine Entscheidung von existentiellem Ausmaß. In seiner Vorstellung war Arbeit nicht mehr selbstverständlich, sondern musste „mit Blut erkauft werden“.79 In der zweiten technologischen Revolution – unter die er verschiedene Dinge wie Automation, Wandel der Energieträger, Mechanisierung, Rationalisierung und Strukturwandel subsumierte – drohe der Verfall des Westens, ein „zivilisatorische[r] Abstieg schlimmster Art“.80 Ausgangspunkt und erstes Symptom dieser als „Risikozukunft“ entworfenen Krisendiagnose, in deren Mittelpunkt Rock die Berufsbildung und den Beruf sah, sei der westdeutsche Steinkohlenbergbau. Dort werde offenbar, dass Regierungshandeln und Sozialstaatlichkeit an ihre Grenzen gelangten. Arbeitnehmer würden durch „Gewohnheit“, durch „geistige Trägheit“, durch „sentimentales Kleben“ daran gehindert, sich auf den Wechsel des Berufs und damit auf eine nahende Zukunft einzustellen.81 Arbeitnehmer in ganz Europa würden dadurch von der Zukunft überrumpelt, „wie die Ruhrkumpel in der BRD Ende 1966 scheinbar überrascht wurden.“ 82 Der Bergbau aber, anstatt ihn einfach sterben zu lassen, würde seit den 1950er Jahren gefördert und subventioniert: Die Bundesregierung vergeude „kostbares Menschenblut, um einem Todeskandidaten noch einige weitere Sterbestunden zu ‚schenken‘.“ 83 Rock – und das verweist auf eine wesentliche Ambivalenz der wissenspolitischen Auseinandersetzung um Umschulung und Qualifikation zur Strukturwandelbewältigung – zog daraus eine eindeutige Schlussfolgerung: die Absage an den Staat. Der Einzelne dürfe „niemals mit einer ‚Regelung von oben her‘ rechnen. […] Jeder muß auf eigene Faust handeln.“ 84 In ­diesem von Rock in sozialdarwinistischen Kategorien gedachten Überlebenskampf habe der (männliche) Einzelkämpfer die besten „‚ÜberlebensChancen‘“,85 der sich unkonventionell zeige und mit tradierten Überzeugungen breche. Lediglich individuelle Vorsorge, vorausschauendes Handeln und Eigenverantwortlichkeit böten eine Rettung: „Also ist es an der Zeit, einen Selbstschutz ‚gegen‘ die Zukunft zu organisieren. Da dies sehr schwer auf Gemeinschaftsbasis Erfolg im Beruf, Oldenburg u. a. 1970; Dieter Menninger/Gottfried Gülicher: Wechseljahre im Beruf. Chancen nach 40. Wegweiser in eine sichere Zukunft, Düsseldorf u. a. 1972. 78 C. V. Rock: Berufe von Morgen. Das große Berufssterben. Berufe mit Überlebenschancen. Neue Berufe. Umschulung und Fernunterricht. Zukunftsforschung. Berufe und Kybernetik. Freizeit. Berufe von übermorgen, Düsseldorf u. a. 1968. 79 Ebd., S. 5. 80 Ebd., S. 8. 81 Ebd., S. 10. 82 Ebd. 83 Ebd., S. 11. 84 Ebd. 85 Ebd., S. 10.

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möglich ist, sollte der einzelne für sich die Waffen schmieden, mit denen er morgen um sein nacktes Leben kämpfen kann.“ 86 Aus welchem Erz aber sollte der Schmied seines eigenen Glückes in dieser martialischen Metaphorik seine Waffen schmieden? Die Antwort, die Rock gebetsmühlenartig wiederholte, war eindeutig: Das „einzige Rüstzeug im Kampf ums Überleben“ liege in „berufliche[m] Können in bisher nie geahnter Potenz“.87 Damit war er einer der wenigen, die in der westdeutschen Auseinandersetzung explizit auf humankapitaltheoretische Ansätze verwiesen, stellten für ihn doch „Können und Wissen“ jene „Kapitalien der Völker“ dar, die „unabhängig von Börsen bewertet werden“. Im weiteren Verlauf seiner Abhandlung sprach er auch von „Wissen-undKönnen-Kapital“ oder „Wissens-Kapital“.88 Die Umstellungsforderung oszillierte ­zwischen individueller Pflicht und nationaler Aufgabe. Rock beschwor ein nationales Katastrophenszenario, indem er Redewendungen mit einer diffusen Angst vor dem Osten amalgamierte: „Wenn Deutschlands Jugend nicht im Jahr 2000 als Gastarbeiter an chinesischen Fließbändern fronen will, muß sie gewaltig umstellen; denn: ‚Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr!‘“ 89 Bei aller Krisensemantik aber, bei allen Beschwörungen von Beschleunigung, technischem Fortschritt und Unübersichtlichkeit, bewegte sich Rock in einem Horizont, der darauf ausgelegt war, Beruflichkeit als soziale Ordnungskategorie fest- und fortzuschreiben. So verwandte er die Hälfte seines Buches auf extensive Berufssystematiken. Die „Berufe mit Überlebenschancen“ gliederte er nach anthro­ pologisch und überhistorisch gedachten Grundtätigkeiten wie „Züchten und Hegen“ oder „Bearbeitung von Stoffen“. Diesen Wesenstätigkeiten ordnete er verschiedene Berufe zu, die er mit einem Punktesystem versah, das die geschätzten „Aussichten im Jahr 2000“ symbolisierte und Alltagsnähe suggerierte.90 So erhielt etwa der Gefrierverfahren-Techniker (Tiefkühlketten-Experte) drei Pluszeichen, während der Bootsbauer, trotz gewisser Überlebenschancen, leer ausging.91 Rock sah keine Notwendigkeit, seine Prognosen und Klassifikationen zu begründen. Lediglich die Furcht davor, dass das „Supermammutgigantenelektronengehirn“ die Zukunft bestimmen und der „Geistesarbeiter den Handarbeiter“ endgültig verdrängen werde, stellte ein rekurrentes Motiv seiner Beratungsschrift dar.92 Paradoxerweise führte die ständige Beschwörung des Wandels, der Beweglichkeit und der „Vernichtung 8 6 Ebd. 87 Ebd., S. 9. 88 Ebd., S. 8 und bspw. S. 259. 89 Ebd., S. 51. 90 Ebd., S. 24 f. 91 Ebd., S. 62 und 30. 92 Ebd., S. 60 und 62.

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des Berufsideals“,93 von der er ausging, auch bei den „Berufe[n] von Morgen“ dazu, dass die fragwürdige Berufsordnung in die Zukunft extrapoliert wurde. Damit setzte er ein Wesen des Berufs voraus, der sich in Zukunft zwar oberflächlich wandeln könne, aber zu einem bestimmten Typus Mensch passe. So empfahl er beispielsweise den 60.000 „Umschulern“ aus dem Ruhrgebiet, eine Tätigkeit in der sich entwickelnden submarinen Industrie aufzunehmen. Im unterseeischen Erzbergbau, Fischfang oder in der Erdölgewinnung könne ­dieses Personal Beschäftigung finden. Nur so könne das „geistige Kapital, das in diesen Automations-Arbeitslosen-Heeren investiert war“,94 gerettet und reinvestiert werden. Bergbau war für Rock kein „Job“, sondern ein Wesensberuf. Gewiss markierte Rock einen Extrempunkt in dem Kontinuum der Debatte der 1960er und frühen 1970er Jahre. So dramatisch sich seine Formulierungen ausnahmen: Die Arbeitsverwaltung und die nordrhein-westfälische Ministerialbürokratie waren – bei aller in Werbefilmen gezeigten Klarheit – mit der Frage, in ­welche Berufe umgeschult werden sollte, überfordert und besaßen kein Instrumentarium, um Einigkeit herzustellen. Zwar stellten das 1967 in Vorgriff auf das Arbeitsförderungsgesetz gegründete IAB in Erlangen und das 1970 gegründete Berliner Bundes­institut für Berufsbildungsforschung (BBF) Verwissenschaftlichungsversuche im Sinne des Planungsoptimismus dar – bis Mitte der 1970er Jahre die ersten Ergebnisse vorlagen, waren die meisten Entscheidungen aber bereits gefallen. Die Arbeitsverwaltung verließ sich also auf Erfahrungen. Diese Situation begünstigte ein unkoordiniertes Wachstum an Maßnahmen und Kursen, bei dem Zuständigkeiten nicht eindeutig geregelt und persönliche Einschätzungen ausschlaggebend waren, um nicht die Deutungshoheit über das eigene Tätigkeitsfeld zu verlieren. Als beispielsweise das Landeswirtschaftsministerium in Reaktion auf die unübersichtliche Lage gemeinsam mit der BAVAV Umschulungen zu den Berufen Betonbauer und Maurer entwickelte,95 rebellierte die IG Bau-Steine-Erden (IGBSE) dagegen. Sie ging von einer schlechteren Bedarfsprognose aus und wollte ihren Einfluss auf den Berufszugang nicht verlieren. Unter Verweis darauf, dass die Bundesregierung die Bauindustrie als „Schlüsselindustrie“ betrachte, ließ Anton Sabel, der Präsident der BAVAV, die Umschulungen in Nordrhein-Westfalen für Arbeitnehmer aus anderen Berufen, „etwa Bergbau“, dennoch durchführen.96

93 Ebd., S. 115. 94 Ebd., S. 259. 95 Groeger: Umschulung von entlassenen Arbeitskräften, Aktenvermerk, 2. 9. 1966, in: LAV NRWR, NW 502 Nr. 268. 96 Alois Degen: Berufliche Bildungsmaßnahmen. Hier: Umschulung in Berufe des Baugewerbes. Rundverfügung Nr. 27/65, 21. 6. 1967, in: LAV NRW-R, BR 1134/686, S. 2 und 3.

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Unklarheit darüber, w ­ elche Berufe zukunftsträchtig s­ eien, trieb nach dem Regierungswechsel zur sozialliberalen Koalition in Nordrhein-Westfalen 1966 auch den neuen Minister für Arbeit, Gesundheit und Soziales, Werner Figgen, um. Bereits kurz nach seinem Amtsantritt suchte er Hilfe bei seinem Kollegen Bruno Gleitze im Wirtschaftsministerium in einer einfachen und doch anscheinend unlösbaren Frage: „Zu ­welchen Berufen soll ungeschult werden?“ 97 Das Dilemma, vor das sich Figgen gestellt sah, bestand darin, dass Umschulung eine der teuersten und aufwändigsten Formen der Sozial- und Arbeitsmarktpolitik war. Fehlinvestitionen sollten vermieden werden. Dazu gehörte insbesondere, in Berufe umzuschulen, die in Zukunft verschwänden. Figgen formulierte diesen Anspruch mit Blick auf das Ruhrgebiet, plante aber gleichzeitig, die Umschulung generell auszubauen. Gleitze und seine Mitarbeiter sollten prüfen, ob die Berufe, in die derzeit umgeschult werde, noch „zeitgemäß“ ­seien, ­welche als „überholt“ gelten könnten und ­welche Berufe neu aufgenommen werden sollten.98 Seine Ratlosigkeit rechtfertigte Figgen damit, dass das zweite Gutachten des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung 99 eine „Verbesserung der Mobilität der Arbeitnehmer im beruflichen Bereich“ gefordert hatte.100 Die Reaktion des Wirtschaftsministeriums war symptomatisch für die Vereindeutigungspraktiken, die die frühe Umschulungsskepsis hervorbrachte und die beständig auf die Umstellungsfähigkeit des Individuums verwiesen. Die zuständigen Referenten wandten sich an die mit einzelnen Wirtschaftszweigen befassten Abteilungen und baten um Stellungnahme zu der von Figgen vorgelegten Liste mit Umschulungsberufen.101 Die Antworten fielen erwartungsgemäß disparat aus. So wies beispielsweise eine Arbeitsgruppe darauf hin, dass Umschulungen „auch zu Kräften des graphischen Gewerbes“ sinnvoll erschienen, während der Beruf des Kürschners aufgegeben werden sollte.102 Ein anderes Referat stufte alle aufgeführten Berufe als „aussichtsreich“ ein und fügte noch die des Formers und des Elektromechanikers hinzu.103 Der Bericht an Bruno Gleitze versicherte, dass – abgesehen von 97 Werner Figgen: Umschulungsmaßnahmen der Arbeitsämter. Schreiben an Bruno Gleitze, 9. 1. 1967, in: ebd., NW 502 Nr. 268, S. 2. 98 Ebd., S. 3. 99 Vgl. Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung: Stabilisierung ohne Stagnation, Jahresgutachten 1965/66, Stuttgart 1965. 100 Figgen: Umschulungsmaßnahmen, S. 4. 101 Ruby: Umschulungsmaßnahmen der Arbeitsämter. Rundschreiben an die Herren Abteilungsleiter I, II, IV und V, 25. 1. 1967, in: LAV NRW-R, NW 502 Nr. 268; Groeger: Umschulungsmaßnahmen der Arbeitsämter. Rundschreiben an die Gruppe III/A und die Referate III/2, III/2, III/3, III/4, 23. 1. 1967, in: ebd. 102 Busse: Umschulung der Arbeitsämter. Antwort der Gruppe III/A, 31. 1. 1967, in: ebd. 103 Schüten: Umschulungsmaßnahmen der Arbeitsämter, Antwort des Referats III/1, 22. 2. 1967, in: ebd.

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den Berufen des Kürschners und des Hüttenfacharbeiters – alle Berufe „zukunftssicher“ ­seien, vielleicht sei aber bei den Bauberufen „Zurückhaltung geboten“.104 Als Gleitze schlussendlich antwortete, war das Ergebnis eine noch längere Berufsliste, aus der die erwähnten Berufe gestrichen waren. Eher ratlos konstatierte Gleitze eine Unübersichtlichkeit. „Der Kreis der aussichtsreichen Berufe“ sei „sehr weit gespannt“ und werde sich durch den „technischen Fortschritt eher vergrößern als verkleinern“.105 Insgesamt werde der „qualifizierte Facharbeiter“ einfacher eine neue Arbeit finden als die „ungelernte Hilfskraft“. Umschulungen s­ eien trotzdem nicht grundsätzlich sinnvoll, sondern müssten sich immer nach der „Eignung und Begabung der Betroffenen“ richten.106 Diese auf Erfahrung und Zuständigkeit beruhende Vereindeutigungspraxis, um die Zukunft des Berufs zu ermitteln, ähnelte den Argumenten Rocks zum „großen Berufssterben“. Eine Höherqualifizierungshypothese und die Annahme, dass körperliche Arbeit ab- und geistige Arbeit zunehmen würde, bestimmten diese intuitive Prognostik. Auch das Landesarbeitsamt konnte sich aus dieser Unübersichtlichkeit nicht befreien. Es versuchte aber, durch Berufs- und Berufsfeld­analysen Übersichtlichkeit zu schaffen. So wurde ungefähr zeitgleich zu den Diskussionen im Sozial- und Wirtschaftsministerium in einem Bericht des LAA moniert, es gebe „kein geeignetes Instrument“, um den zukünftigen Arbeitskräftebedarf zu ermitteln.107 Ein solches Instrument müsse „konjunkturelle Schwankungen“ unberücksichtigt lassen, aber „strukturelle Entwicklungen wirtschaftlicher Art“ und den „technischen Fortschritt“ einbeziehen. In Ermangelung eines besseren Werkzeugs sahen sich die Beamten des LAA gezwungen, für die Berufsprognose auf die Zahl unbesetzter Lehrstellen zurückzugreifen. Lakonisch räumten sie zugleich ein, dass die Bedeutung dieser Zahlen „nicht überschätzt werden“ dürfe.108 Wie in den Ministerien und bei Rock stellte das Landesarbeitsamt schließlich eine umfassende Liste auf, in der ein Referat die Zukunftschancen einzelner Berufe abwog. Der Entwurfscharakter mit Streichungen und Ergänzungen dieser und anderer Fassungen des Dokuments verdeutlicht, wie unkoordiniert und tentativ die Beamten vorgingen: Den Beruf des Formers beispielsweise, den das Landeswirtschaftsministerium für Umschulungen empfahl, nahm das LAA zunächst auf,

104 Werner: Umschulungsmaßnahmen der Arbeitsämter. Schreiben des Herrn Arbeits- und Sozialministers N[R]W vom 9. Januar 1967, Bericht an Bruno Gleitze, 20. 3. 1967, in: ebd. 105 Bruno Gleitze: Umschulungsmaßnahmen der Arbeitsämter. Schreiben an Werner Figgen vom 9. 1. 1967, 4. 4. 1967, in: ebd., S. 2. 106 Ebd., S. 1. 107 LAA NRW. Referat Ib3: Berufliche Bildungsmaßnahmen für Männer. Vorlage für den Arbeitskreis für allgemeine Fragen (Entwurf ), 15. 3. 1967, in: LAV NRW-R, BR 1134/683, S. 3. 108 Ebd.

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strich ihn dann aber wieder.109 Bei Maurern und Betonbauern sei ein Facharbeiterbedarf möglich, während in den pflegerischen Berufen ein „empfindlicher Kräftemangel“ zu konstatieren sei. Ob sich für Pflegeberufe jedoch umschulungsbereite Arbeiter finden ließen, sei nicht ausgemacht. Immerhin hätten sich aber einige „Bergleute für eine Umschulung zum Masseur“ gemeldet.110 Die Liste setzte sich so auf insgesamt zehn Seiten fort. Diese Beispiele offenbaren, dass jede Beamtin und jeder Beamte Berufe hinzufügen und streichen konnte, je nachdem, wie es in ihrem und seinem Urteil und Ermessensspielraum lag. Einig waren sich die Beamtinnen und Beamten nur in den allgemeinen Tendenzen der Arbeitsmarktentwicklung, die, „abgesehen von den älteren Kräften, die Ungelernten“ – damit gemeint waren Jugendliche – betreffen würde. Die „Vermittlungsschwierigkeiten“ bei diesen Gruppen führte das zuständige Referat auf die nationale Wirtschaftslage und auf die „strukturellen Schwierigkeiten des Ruhrgebiets“ zurück.111 Dieser „Strukturwandel“ erfordere als Antwort nun „Facharbeiter mit breiter Grundausbildung, die vielseitig verwendbar sind“.112 Dementsprechend sei es erforderlich, Erwerbslose zu qualifizieren und insgesamt „eine möglichst hohe Qualifizierung der Arbeitnehmer“ anzustreben.113 Höherqualifizierung und Mobilität, darin waren sich alle Beteiligten einig, stellten unbedingt zu erreichende Ziele dar. Wie diese Ziele aber genau aussahen oder zu erreichen ­seien, war – jenseits der Beschwörung des Qualifizierungsimperativs – umstritten. Genau diese Unklarheit begünstigte zum einen, dass immer wieder auf die Umstellungsfähigkeit des Individuums rekurriert werden konnte und musste. Zum anderen schuf sie Gestaltungsspielräume. Gestaltungsspielräume im entstehenden Umschulungssystem

Die Unsicherheit auf der Verwaltungsseite schuf einen weitreichenden Handlungsspielraum, den einzelne Verwaltungsbeamte oder Organisationen, aber auch Arbeiter, weniger Arbeiterinnen, die die Sprache der Umstellung beherrschten, n ­ utzen konnten. Er eröffnete damit Einflussmöglichkeiten auf ein im Entstehen begriffenes System, in dem noch nicht ausgemacht war, w ­ elche Vereindeutigungsstrategien sich durchsetzen würden. Als die Gelsenkirchener Bergwerks-AG im Frühjahr des Jahres 1966 ankündigte, die kürzlich modernisierte und rentable Zeche Graf Bismarck zu schließen, wirkte 1 09 Ebd., S. 5. 110 Ebd., S. 4 und 9. 111 Ebd., S. 1. 112 Ebd. 113 Ebd., S. 2.

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das auf die zuständigen Behörden wie der Startschuss dafür, ein sozialpolitisches Exempel zu statuieren. Das Landesarbeitsamt beschloss, von den Richtlinien der Montanunion abzuweichen und Umschulungen und andere Bildungsmaßnahmen auch dann zu finanzieren, wenn anderweitig Arbeitsplätze im Bergbau verfügbar waren.114 Hierzu sahen sich die Verantwortlichen in Düsseldorf weniger aus Gründen der sozialen Fürsorge genötigt. Sie nutzten vielmehr die im Bundestag gemachten Versprechen, um gegenüber der Bundesanstalt die Lernfähigkeit der Bergarbeiter zu betonen, die Finanzierung von Maßnahmen durchzusetzen und den eigenen Handlungsspielraum zu erweitern – so wie er durch den Verweis auf mangelnde Bildungsfähigkeit bewahrt werden sollte.115 Darüber hinaus erhöhte sich auch der Druck durch die Landesregierung Nordrhein-Westfalen: Sie verabschiedete einen „100 Millionen Mark Fonds“, um bis zu zweijährige Umschulungen zu finanzieren.116 Gegenüber der Bundesanstalt in Nürnberg betonte der zuständige Beamte, wie dringlich es sei, eine Lösung für die 5600 am 30. September 1966 zu entlassenden Bergarbeiter zu finden. Das Arbeitsamt rate ihnen, dem Bergbau treu zu bleiben. Allerdings interessierten sich 109 von ihnen für eine Umschulung. Es gebe im Bergbau zwar genug Stellen, deren Zukunft sei aber unsicher. Daher s­ eien Umschulungen zu favorisieren. Die Begründung, warum die Arbeitsverwaltung Umschulungen über die Montanunionrichtlinien hinaus finanzieren sollte, zielte auf mehrere Ebenen: Zunächst sollte die Umschulung „jüngerer Kräfte“ verhindern, dass die Zechengesellschaften „ältere Arbeitnehmer“ entließen, um diese durch jüngere zu ersetzen. Darüber hinaus s­ eien die „jüngeren Kräfte, die sich jetzt zu einer Umschulung entschließen, […] zur Zeit noch lern- und bildungsfähig“.117 Warte man dagegen zehn Jahre und weitere Zechenschließungen ab, schwinde diese Bildungsfähigkeit. Damit s­ eien die dann „älteren Arbeitnehmer“ zu Hilfsarbeitertätigkeiten gezwungen. Zuletzt verweist die Initiative auf die sozial stabilisierende Funktion der Umschulung: Da Hauer im Bergbau Facharbeiter ­seien, rechtfertige sich eine Umschulung auf Facharbeiterniveau, um eine Destabilisierung der Berufsordnung zu verhindern. Noch komplizierter und dynamischer wurde die Situation dadurch, dass bereits Gerüchte über das Arbeitsförderungsgesetz kursierten. Die Beamten antizipierten eine Novelle des AVAVG , verwiesen aber immer darauf, dass es bis zur Verabschiedung des Gesetzes noch dauern würde. Die Lage 114 Stillegungen im Steinkohlenbergbau in Nordrhein-Westfalen. Bericht des LAA NRW an die BAVAV, 9. 3. 1966, in: LAV NRW-R, BR 1134/158. 115 LAA NRW: Aktenvermerk, 13. 4. 1966, in: ebd., BR 1134/682. 116 MWMV NRW: Sozialfonds in Höhe von 100 Millionen DM für die von Stillegung betroffenen Bergleute. Material zur Pressekonferenz am 9. 3. 1966, 9. 3. 1966, in: ebd., BR 1134/158. 117 Beihilfen nach Art. 56 § 2 des Montanunionvertrags; hier: Zweifelsfragen. Schreiben des LAA NRW an die Hauptstelle, 13. 4. 1966, in: LAV NRW-R, BR 1134/682, S. 4 und 5, Zit. S. 5.

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sei akut.118 Dementsprechend stimmte die Hauptstelle in Nürnberg Umschulungen unter dem Gesichtspunkt „etwaiger strukturverbessernder Maßnahmen“ zu. Bergarbeiter könnten „im angemessene[n] Umfang“ auch jenseits unmittelbar drohender Arbeitslosigkeit an Umschulungen teilnehmen.119 Auch ein Jahr s­ päter, als die Bundesanstalt nach der Novelle des AVAVG vom 10. März 1967 die seit längerer Zeit geforderten Richtlinien für berufliche Bildungsmaßnahmen erließ, die Umschulungen im größeren Umfang von bis zu drei Jahren Dauer ermöglichten,120 drängte das Landesarbeitsamt NRW auf eine noch weitere Auslegung der Richtlinien. So forderte der in Düsseldorf zuständige Verwaltungsoberrat von der Hauptstelle in Nürnberg, wegen der „allgemeinen konjunkturellen Lage und der besonderen strukturellen Schwierigkeiten im Ruhrgebiet“ die Bildungsaktivitäten der Arbeitsämter „wesentlich“ auszuweiten. 121 Diesem Ziel könne allerdings die Richtlinie im Weg stehen, die Umschulung auf Maßnahmen beschränke, die nicht „zum Bereich der üblichen Berufsausbildung gehören“. Der Beamte verlangte von der Hauptstelle die Bestätigung, dass sich diese Norm auf die „geregelte Ausbildung Jugendlicher“ beziehe.122 Bei „älteren Arbeitnehmern“, die dagegen einen Berufswechsel anstrebten, handele es sich um eine Umschulung, auch wenn sie ähnlich einer Berufsausbildung erfolge. Das Problem stelle sich insbesondere im Fall der entlassenen Steiger, die kaum noch zu vermitteln ­seien. Sie könnten aber in Recklinghausen, an der Staatlichen Ingenieurschule für Bauwesen, zu Bauingenieuren ausgebildet werden. Diese Steiger fielen aber teilweise nicht unter die Landesrichtlinien. Sie würden nicht als Umschüler anerkannt, wenn sie nicht bei Stilllegungen, sondern im Rahmen von Rationalisierungen entlassen wurden oder bei Bergbauspezialfirmen angestellt waren.123 Der in der Hauptstelle zuständige Beamte stimmte der Düsseldorfer Auffassung eifrig zu und forderte das LAA NRW auf, s­ olche Kurse für Steiger einzuführen. Grundsätzlich könne in Zweifelsfällen mit unklarem Zielberuf „in nicht kleinlicher Auslegung der Richtlinien“ eine Umschulung 118 LAA NRW. Referat Ib3: Berufliche Bildungsmaßnahmen, hier: Änderung der Richtlinien. Aktenvermerk für die Präsidententagung, 29. 3. 1966, in: ebd. 119 BA: Beihilfen für Arbeitnehmer, die von Maßnahmen im Sinne des Art. 56 § 2 des Montanunionvertrages betroffen werden. hier: Zweifelsfragen. Als Rundverfügung 34/66 am 4. 7. 1966 versandt, 6. 5. 1966, in: ebd., BR 1134/682. 120 Richtlinien für berufliche Bildungsmaßnahmen vom 22. März 1967. Umschulungsrichtlinien des Verwaltungsausschusses der BAVAV, 22. 3. 1967, in: ebd., BR 1134/685. Zur Novelle vgl. A ­ ltmann: Arbeitsmarktpolitik, S. 151 – 157. 121 LAA NRW: Berufliche Bildungsmaßnahmen. Hier: Richtlinien vom 22. März 1967. Schreiben an den Präsidenten der BAVAV, 25. 4. 1967, in: LAV NRW-R, BR 1134/685, S. 1. 122 Ebd. 123 Ebd., S. 2.

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gefördert werden.124 Die Umschulungsskepsis war damit also einer Umschulungseuphorie gewichen. In dieser Konstellation entfalteten die Uneindeutigkeit und die Offenheit der Umschulungsmaßnahmen ihre Dynamik: Die Einrichtung von Maßnahmen gehorchte keiner Systematik – ausschlaggebend war lediglich, der anscheinend dringenden sozialpolitischen Krise Einhalt zu gebieten. Dadurch überlagerten sich verschiedene Begründungsfiguren – die Bildungsfähigkeit avancierte zur flexibel einsetzbaren argumentativen Ressource. Zunächst griff das Landesarbeitsamt auf charakterologische Legitimationsfiguren der Wesensverwandtschaft von Individuum, altem und neuem Beruf zurück. Als im April 1967 beispielsweise ein Umschulungsprogramm von Steigern zu Sozialarbeitern eingeführt wurde, stimmte das Arbeitsund Sozialministerium sogar der Handhabung zu, dass Steiger ohne Mittlere Reife oder den Besuch einer Berufsaufbauschule daran teilnehmen konnten. Lediglich die „Bildungsreife“ sei festzustellen. Die Steiger, die ihr Studium am sozialpädagogischen Seminar in Dortmund aufnehmen würden, ­seien für diese Laufbahn wegen ihrer „Befähigung zur Menschenführung geeignet“ und hätten ihre Reife durch die „Erfahrungen im Umgang mit Jugendlichen“ bewiesen.125 Allerdings musste in den Augen der Arbeitsverwaltung eine s­olche Wesensverwandtschaft nicht zwingend gegeben sein – was wiederum einigen Spielraum eröffnete. Als im Dezember 1967 Umschulungen zum Krankenpfleger eingeführt wurden, begründete der zuständige Düsseldorfer Arbeitsamtsbeamte die Anerkennung über die Arbeitsbelastung in ­diesem Beruf. Um „die Krankenschwestern von schwerer körperlicher Arbeit zu entbinden“, sollten Umschulungen zu Krankenpflegern durchgeführt werden.126 Es sei geplant, für ­solche Maßnahmen „im Ruhrgebiet in größerem Umfang […] zu werben.“ 127 Jenseits der offensichtlich vergeschlechtlichten Vorstellungen von Arbeit integrierte das Landesarbeitsamt damit unter den Auspizien einer vorausschauenden Beschäftigungspolitik lokale und pragmatische Umschulungslösungen, die nicht von Verwaltung oder Politik ausgegangen waren: Die Umschulung von Bergleuten zu Krankenpflegern ging zurück auf die Initiative von fünf Bergleuten der Schachtanlage Möller-Rheinbaben in Bottrop und

124 Berufliche Bildungsmaßnahmen. Hier: Richtlinien vom 22. März 1967. Antwort an das LAA NRW, 20. 6. 1967, in: ebd., S. 1. 125 Otto Schlate: Berufliche Bildungsmaßnahmen; hier: Umschulung von Steigern zu Sozialarbeitern. Schreiben an die Arbeitsämter des LAA NRW, 3. 4. 1967, in: ebd., S. 1. 126 LAA NRW: Berufliche Bildungsmaßnahmen. Hier: Umschulung zum Krankenpfleger und Krankenpflegehelfer. Vorgang: RdVfg. Nr. 36/67 vom 13. 7. 1967. Schreiben an die Direktoren der Arbeitsämter im Bereich des LAA NRW, 22. 12. 1967, in: ebd., BR 1134/684, S. 1. 127 Ebd.

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Gladbeck. Diese waren im April 1967, nach der Stilllegung ihrer Zeche, in die Krankenpflegeschule der Ruhrknappschaft eingetreten, um umgeschult zu werden.128 Das Arbeitsamt Gelsenkirchen erkannte zunächst an, dass es sich um eine Umschulung im Sinne des Montanunionvertrags handele, die auf den „Strukturwandel“ zurückzuführen sei.129 Allerdings entschied es dann, da es sich bei dem Knappschaftskrankenhaus in Bottrop um einen Bergbaubetrieb handelte, die fünf Lernwilligen als „Wiederbeschäftigte“ zu betrachten, womit das Umschulungsgeld wegfiel und Unterhaltseinbußen einhergingen.130 Als sich das Landesarbeitsamt NRW bei der Hauptstelle in Nürnberg darüber beschwerte, dass die IGBE eine Anerkennung der Umschulung als normale Ausbildung verhindern wolle, „um die Betroffenen dadurch in den Genuß der Umschulungsbeihilfen zu bringen“,131 wandte sich die IGBE direkt an das Bundesarbeitsministerium. Sie setzte sich mit dieser Strategie durch. Die dortigen Beamten, so notierte die IGBE, zeigten sich „aufgeschlossen“ und hätten versprochen, sich „gegenüber der EGKS und den anderen Ministerien“ für die Gewerkschaft einzusetzen.132 Das Landesarbeitsamt musste in ­diesem Fall also eine Maßnahme, die von einer Dienststelle abgewiesen worden war, in den Kanon „zukunftsträchtiger Berufe“ integrieren – nach einem Konflikt, in dem es eher um die Bewahrung des sozialen Status und verbandspolitischen Einflusses gegangen war als um Berufsprognosen und Wesensverwandtschaften. Zuletzt gingen auch die Individuen ambivalent mit der Rede von der Bildungsfähigkeit um. In der wahrgenommenen sozialpolitischen Gefährdungslage und wegen der sich verbreitenden „Unruhe“ richtete das Landesarbeitsamt bereits im Frühjahr 1966 auf der für die Schließung vorgesehenen Zeche Graf Bismarck in Gelsenkirchen-Buer Beratungsstellen zur Umschulung ein.133 Durch diese Aufbruchsstimmung ermutigt, wandte sich im selben Monat, Ende April 1966, der

128 B. u. a.: Maßnahmen für die von Zechensteillegungen betroffenen Bergarbeiter. Umschulung zum Krankenpfleger, Schreiben an das LAA NRW, 15. 7. 1967, in: AHGR, IGBE-Archiv Nr. 988, S. 1. 129 Arbeitsamt Gelsenkirchen: Maßnahmen für die von Zechenstilllegungen betroffenen B ­ ergarbeiter. Ihre Umschulung zum Krankenpfleger, Schreiben an Herrn B., 21. 3. 1967, in: ebd. 130 B. u. a.: Maßnahmen, S. 1. 131 LAA NRW: Beihilfen für Arbeitnehmer des Steinkohlenbergbaues, die von Maßnahmen im Sinne des Art. 56 § 2 des Montanunionvertrages betroffen werden; hier: Gewährung von Leistungen während eines Lehr- oder Umschulungsverhältnisses, Bericht, 22. 8. 1967, in: LAV NRW-R, BR 1134/685, S. 2 – 3. 132 IGBE: Aktennotiz. Vermerk über eine Besprechung beim Bundesarbeitsministerium über die Anwendung von Art. 56 § 2 MUV am 9. 10. 1967, o. D. [Oktober 1967], in: AHGR, IGBE-Archiv Nr. 988, S. 1. 133 LAA NRW: Lage im nordrhein-westfälischen Steinkohlenbergbau am 28. 3. 1966. Ergänzung zum Bericht vom 9. 3. 1966, 28. 3. 1966, in: ebd., BR 1134/158.

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Abteilungssteiger S. direkt an den nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten Franz Meyers. Mit seinen fast 46 Jahren arbeite er auf der zur Schließung vorgesehenen Zeche. Er habe Abitur und wolle nun eine Pädagogische Hochschule besuchen, um Volksschullehrer zu werden. Im Bergbau sei er „nicht mehr zu vermitteln“. Auch stammten seine Frau und er aus Schlesien, könnten also auch nicht auf die Unterstützung von Angehörigen zählen: „Wovon“, so fragte S. suggestiv, „soll [!] aber meine Familie und ich während des Studiums leben, zumal meine Tochter (16 Jahre alt) noch zur Oberschule geht?“ Als Lösung schlug er dem Ministerpräsidenten eine Finanzierung seiner Umschulung aus Landesmitteln, dem „100 Millionen Mark Fonds“ mit 90 Prozent des letzten Nettoeinkommens vor, die völlig „ausreichend“ ­seien. Lediglich von ihm nicht konkretisierte „Ausführungsbestimmungen“ hinderten ihn daran, Lehrer zu werden. Damit wünschte S. sich vom Ministerpräsidenten eine Sondergenehmigung.134 Das Schreiben ordnet sich in die Geschichte der „Ordnung Montanregion“ ein und steht exemplarisch für das Obrigkeitsvertrauen der Bergleute, das eine bis ins 19. Jahrhundert zurückgreifende Tradition aufwies.135 Darüber hinaus offenbaren der Brief und die Reaktionen darauf die strategische Einsetzbarkeit der Bildbarkeitsbehauptung. Konnten Bildungs- und Lernfähigkeit besonders vom Landesarbeitsamt eingesetzt werden, um sozialpolitische Ansprüche zurückzuweisen (oder gegenüber der Bundesanstalt durchzusetzen), war es ebenso möglich, dass diese keine Rolle spielten, solange ein solches Vorgehen im Interesse der Verantwortlichen lag: Die Landesregierung fand den Weg zu einer Sondergenehmigung nämlich problemlos. Der zuständige Referent der Staatskanzlei sicherte S. zu, eine Lösung zu finden, und verlangte vom Arbeits- und Sozialministerium eine „positive Erledigung ­dieses Einzelfalles.“ 136 Das Arbeits- und Sozialministerium wandte sich wiederum an das Kultusministerium unter Paul Mikat – das sich zu d ­ iesem Zeitpunkt bereits seit einigen Jahren um die Einstellung von Volksschullehrerinnen und -lehrern aus anderen Berufen bemühte.137 Das Kultusministerium erreichte mit dem Finanzministerium eine Sonderregelung, um die Verbeamtung des Herrn S. nach Abschluss des Studiums zu ermöglichen.138 Das Landesarbeitsamt versicherte in Rücksprache 134 S.: Schreiben an Ministerpräsidenten Franz Meyers, 27. 4. 1966, in: ebd., NW 747 Nr. 14. 135 Vgl. zuletzt Arne Hordt: Kumpel, Kohle und Krawall. Miners’ Strike und Rheinhausen als Aufruhr in der Montanregion, Göttingen 2018. Klassisch: Klaus Tenfelde/Helmuth Trischler (Hg.): Bis vor die Stufen des Throns. Bittschriften und Beschwerden von Bergarbeitern, München 1986. 136 Verfügung im Fall S., 1. 6. 1966, in: LAV NRW-R, NW 747 Nr. 14. 137 Vgl. Ingrid Joester: „Mikätzchen“ – Behebung des Lehrermangels, in: Christian Reinicke/Horst Romeyk (Hg.): Nordrhein-Westfalen. Ein Land in seiner Geschichte. Aspekte und Konturen 1946 – 1996 (Veröffentlichungen der staatlichen Archive des Landes Nordrhein-Westfalen, Reihe C: Quellen und Forschungen 36), Münster 1996, S. 395 – 399. 138 Kultusministerium NRW: Umschulung des Herrn S. Schreiben an das MAGS NRW, in: ebd.

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mit der Hohen Behörde der EGKS, die gewünschten 90 Prozent des letzten Nettoverdienstes als Umschulungsbeihilfe zu zahlen, lediglich das dritte Jahr sei durch Landesmittel zu finanzieren.139 Im Oktober 1966 begann der ehemalige Steiger sein Studium an der Pädagogischen Hochschule Ruhr, Abteilung Duisburg.140 Ließ sich in d ­ iesem Fall eine einvernehmliche und in den Augen der Beteiligten sozialverträgliche Lösung finden, lag das insofern nahe, als S. über die Hochschulreife verfügte – nur sein Alter war ein Problem. Die Handlungsspielräume in den Umschulungsmaßnahmen waren aber noch größer. Nur einige Monate s­ päter wandte sich diesmal das Landesarbeitsamt an das Kultusministerium, um weitere und im Folgenden auch erlassene Sonderregelungen für aus dem Bergbau entlassene Steiger durchzusetzen. Wieder ging es um die Frage, ob die Umschulung von Steigern zu Volksschullehrern möglich sei. Denn es fehle derzeit an Möglichkeiten, „jüngere Steiger […] unter Wahrung ihres sozialen Standes in andere Berufe umzuschulen“. Steiger mit Abitur hätten bereits eine s­ olche Umschulung begonnen. Es gebe aber auch Steiger ohne höheren Schulabschluss, die eine s­ olche Laufbahn einschlagen wollten. Das LAA sei sich darüber im Klaren, dass ein solches Studium an den „Umschulungswilligen“ hohe Anforderungen stelle. Wegen ihrer „Befähigung zur Menschenführung“ s­ eien sie aber dazu geeignet. Auch stellten sie als „Absolventen der Oberklasse der Bergschule“ eine „Bestauslese“ dar.141 Diese Begründung ähnelte damit deutlich der bei der Einführung von Umschulungslehrgängen für „begabte Steiger“ an der staatlichen Ingenieurschule für Bauwesen in Recklinghausen.142 Jenseits solcher Erfolgsgeschichten des Initiativhandelns einzelner Umschüler zeigt sich aber, dass die überspannten Erwartungen und Hoffnungen sowie die Aufbruchsstimmung auch das Gegenteil erreichen konnten und Anlass für Skandalisierungen, Kritik und Empörung boten. Besonders eindrücklich belegt das Beispiel des Berufs des Programmierers diese Enttäuschungserfahrung. Dieser stellte einen der Berufe dar, bei dem sich alle Parteien einig waren, dass ihm die automatisierte und computerisierte Zukunft gehören würde. Was genau Programmierer eigentlich tun und vor allem lernen sollten, war aber unklar und höchst umstritten.143 Bereits 139 LAA NRW: Berufliche Bildungsmaßnahmen für entlassene Bergleute; Umschulung des Herrn S. Schreiben an das MAGS NRW, in: ebd. 140 Franz Meyers: Schreiben an Herrn S., 28. 10. 1966, in: ebd. 141 LAA NRW : Berufliche Bildungsmaßnahmen. Schreiben an das Kultusministerium NRW , 22. 2. 1967, in: LAV NRW-R, BR 1134/686, S. 1 f. 142 Vgl. z. B. Alois Degen: Berufliche Bildungsmaßnahmen für die bei Stillegungsmaßnahmen entlassenen Steiger. hier: Studium zum Bauingenieur an der Staatlichen Ingenieurschule für Bauwesen, Recklinghausen. Schreiben an die Direktoren der Arbeitsämter im LAA NRW, 28. 7. 1966, in: ebd., BR 1134/682, S. 1. 143 Vgl. David Gugerli: Wie die Welt in den Computer kam. Zur Entstehung digitaler Wirklichkeit, Frankfurt a. M. 2018, S. 37 – 49. Zum Programmierer als „sperrige[m] Teilnehmer an Umschulungs­

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zu Beginn der 1960er Jahre hatte das Berufsfortbildungswerk des DGB die „maschinelle Datenverarbeitung“ als ein Feld der beruflichen Fortbildung und Umschulung auserkoren. Voller Euphorie hatte Hans Krommes, Geschäftsführer des Bfw, für die Einrichtung einer Bundesfachschule für maschinelle Datenverarbeitung geworben. Diese sollte nicht nur der Automationsprävention dienen, sondern ebenso das Ansehen der Gewerkschaften bei den Angestellten stärken – eine „Hilfe für den kleinen Mann“.144 Die umgehend gegründete Fachschule siedelte das Bfw des DGB in Düsseldorf an, wegen der Nähe zum Bundesvorstand des DGB einerseits sowie zu einem Rechenzentrum der amerikanischen International Business Machines Corporation (IBM) andererseits.145 Die Programmier- und Tabellierlehrgänge, die der DGB in den folgenden Jahren in der Fachschule in Düsseldorf, aber auch in Außenstellen in Dortmund, Bochum, Essen und Hagen einrichtete, erfuhren die Förderung durch das Individuelle Förderungsprogramm zur Beruflichen Fortbildung und Umschulung des Bundesarbeitsministeriums.146 Die Einrichtung war von einem bemerkenswerten Optimismus der Umstellung getragen. So bemerkte Krommes im Oktober 1962, dass der DGB lediglich „einen Tropfen auf den heißen Stein“ leisten könne: Bis 1970 benötigten die USA 200.000 Programmierer und im gleichen Zeitraum werde sich in Europa die Anzahl der „Elektronenrechner“ von 1400 auf 14.000 verzehnfachen.147 Seit Oktober 1961 ­seien 177 Tabellierer und Programmierer ausgebildet worden – „eine gewerkschaftliche Pionierleistung hohen Ranges“, davon zeigte sich das Berufsfortbildungswerk überzeugt.148 Diese Euphorie, Umschulungen und Umstellungen in jedem Beruf durchzuführen, der sich in ein Narrativ gesellschaftlicher Modernisierung und des Übergangs in die postindustrielle Welt hineininterpretieren ließ, stieß Ende der 1960er Jahre aber schnell an Grenzen. Mit der Explosion der Zahl von Umschulungs- und Umstellungsmaßnahmen hatte der Topos des arbeitslosen Programmierers seinen Auftritt in der sozial- und berufspolitischen Diskussion – und damit in der Kritik dieser Maßnahmen, vor allem von Arbeitgeberseite. So bezeichnete etwa 1968 ein Artikel in Capital die DGB-Bundesfachschule für maschinelle Datenverarbeitung kursen“: ebd., S. 46. 144 Hans Krommes: Vorschlag zur Gründung einer Bundesfachschule zur maschinellen Datenverarbeitung durch den Deutschen Gewerkschaftsbund. Denkschrift, 5. 1. 1961, in: AdsD Bonn,​ 5/DGAV 000460, S. 3. 145 Ebd., S. 6. Vgl. auch Bundespressestelle des DGB: Bundesfachschule für maschinelle Datenverarbeitung gegründet, Pressemitteilung, 24. 1. 1961, in: ebd. 146 Hans Krommes: Bericht über die Bundesfachschule für maschinelle Datenverarbeitung. Zur Vorlage in der Sitzung des Verwaltungsrates des [Bfw] am 12. 10. 62, Oktober 1962, in: ebd., S. 6. 147 Ebd. 148 Georg Paucker/Hans Krommes: Geschäftsbericht des Berufsfortbildungswerkes des DGB GmbH für das Geschäftsjahr 1961, 5. 10. 1962, in: ebd., S. 7.

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als bedarfslos. Mit Slogans wie „‚In der Welt von morgen wird alles automatisiert sein. Wir nehmen Sie bei der Hand und führen Sie Schritt für Schritt in diese faszinierende Welt‘“ oder „‚Wer sich rechtzeitig umschulen läßt, sichert sich und seine Familie‘“ und „‚EDV-Mitarbeiter gehören zur Betriebs-Elite‘“ würden verschiedene Anbieter wie Gewerkschaften und Unternehmen für Umschulungen zu Datenverarbeitungsfachleuten werben und eine rosige Zukunft ausmalen.149 Bei genauem Hinsehen zeige sich aber, dass diese Umschüler vor allem eines s­ eien: „Versager“.150 So wusste das Magazin zu berichten, dass sich der Leiter des Henkel-Rechenzentrums in Düsseldorf den Programmiernachwuchs näher angesehen und 57 Absolventen von Gewerkschafts- und Privatschulen zu einem Test eingeladen habe. 45 von ihnen ­seien bei „der primitivsten Programmier-Aufgabe“ bereits durchgefallen.151 Damit des Skandals aber nicht genug: „Einer, dessen Programmier-Leistung den HenkelMännern nicht genügt hatte, wurde als Lehrer bei einer der Gewerkschaftsschulen engagiert.“ Umschulung, so der Tenor des Artikels jenseits dieser Gewerkschaftskritik, sei ein hoffnungsloses Unterfangen, s­ eien die üblichen Umschüler doch entweder ehemalige Zeitsoldaten oder „Arbeiter stillgelegter Zechen“. Und, so zitierte der Redakteur einen „Computer-Berater“, einen „‚vierzigjährigen Bergmann zum Programmierer umzuschulen […] ist Betrug.‘“ 152 Der Aneignungsspielraum der Bildungsfähigkeit konnte in deren Gegenteil umschlagen. Die Bebilderung d ­ ieses Artikels, die auf dem Cover ­dieses Buches reproduziert ist, verweist genau auf diese Fragilität der Umstellungseuphorie: Die scheinbar natürliche Metamorphose vom Bergmann zum Programmierer präsentierten Text und Bild im Zusammenspiel als falsches Versprechen. Die Bilderstrecke zeigte gerade nicht die erfolgreiche Umstellung, sondern kritisierte die überzogene Perfektibilitätshoffnung. Galten die Lernunfähigkeit des älteren Bergmanns und die übersteigerten Hoffnungen auf den Beruf des Programmierers hier als Belege anmaßender und in der Materie ahnungsloser Gewerkschaften, las der bereits erwähnte Rock die Programmierausbildung unter umgekehrten Vorzeichen. Er zeichnete ein Bild von raffgierigen Verführern aus der Privatwirtschaft: Ein Heer an Handelslehrern ziehe durch strukturschwache Gebiete und biete „Arbeitern (!) gegen hohe Unterrichtsgebühren die Umschulung zum Tabellierer und Operator an, wobei sie skrupellos behaupten, ihnen damit ‚Weiße-Hemden-Zukunft-Jobs‘ zu garantieren.“ 153 149 Die arbeitslosen Programmierer. Kumpel, Kellner und Konditor lernen um: 2000 Mark zahlen sie für Computer-Schulung. Aber Stellung kriegen sie keine, in: Capital (1968), 1, S. 18 – 20, hier S. 19. 150 Ebd. 151 Ebd., S. 20. 152 Ebd. 153 Rock: Berufe, S. 70.

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Allerdings, so erzürnte sich Rock, ­seien selbst „hochintelligente Arbeiter“ durch ­solche Umschulungen „überfordert“. Den ruchlosen Verkäufern sei das zwar klar, das Schicksal der Arbeiter sei ihnen aber „gleichgültig“.154 Das Landesarbeitsamt NRW – das 1966 noch darauf gedrängt hatte, die Richtlinien zu lockern, um einen sechsmonatigen Umschulungskurs zum Programmierer in Dortmund zu finanzieren 155 – sah sich dagegen zu einer Warnung veranlasst. Alarmierend wandte es sich Ende Januar 1968 im Fernsehen an Umschulungswillige: Seit 1965 gebe es 3000 elektronische Datenverarbeitungsanlagen in der Bundesrepublik. Die dort entstehenden Arbeitsplätze würden aber „höhere Anforderungen an das Denkvermögen und die Vorbildung der Arbeitnehmer“ stellen.156 Meldungen, dass sich langfristig 100.000 Arbeitsplätze für Datenverarbeitungsfachleute entwickelten, ­seien mit „Skepsis“ zu beurteilen. Einen gedeihenden Arbeitsmarkt gebe es nicht.157 Die Umschulung zu diesen Berufen geschehe meist in den Unternehmen mithilfe der Lieferfirmen. Dass „jeder“ Datenverarbeitungskaufmann werden könne, der über „logisches Denkvermögen“ verfüge, treffe auf betriebliche Arbeitsmärkte zu – auf dem außerbetrieblichen Arbeitsmarkt gelte das nicht. Das LAA warnte vor überhastetem Optimismus.158 Von den Gefahren der Aufbruchsstimmung berichtete Ende 1968 die Westfälische Rundschau. In mitleidsvollem Ton beschrieb sie den Abschluss der Ermittlungen der Kriminalhauptstelle Dortmund gegen den 29-jährigen Ulrich R ­ ittweger. Dieser hatte in Dortmund und Hamburg zwei Ausbildungsgesellschaften für Programmierer gegründet und ein Millionengeschäft gemacht, war aber sieben Monate zuvor wegen Gläubigerforderungen in den Konkurs gegangen.159 Der Redakteur zeichnete ebenfalls das Bild der verführten Berg- und Stahlarbeiter, die den Versprechungen eines krisensicheren Arbeitsplatzes aufgesessen s­eien. Bereits „vor Zechentoren und krisenbedrohten Stahlwerken“ hatten Rittwegers Häscher vom ungelernten bis zum Facharbeiter allen Arbeitern aufgelauert und ihnen für rund 1500 Mark eine Umschulung zum Programmierer in 164 Stunden verkauft. Diese Arbeiter, die „nicht für diesen Beruf geeignet waren“, hätten zuhauf zugegriffen – „[m]angels Eignung zerstob der Traum vom krisenfesten Arbeitsplatz jedoch schon 1 54 Ebd. 155 LAA NRW. Referat Ib3: Berufliche Bildungsmaßnahmen, 29. 3. 1966, S. 1. 156 LAA NRW: Soll man zum Datenverarbeitungsfachmann umschulen? (Zusammenfassung aus dem Typoskript für die 31. Fernsehsendung „Arbeit gesucht – geboten“ am 30. 1. 1968), Informationen für die Arbeitsvermittlung Nr. 1/68, 29. 1. 1968, in: LAV NRW-R, BR 1134/683, S. 1. 157 Ebd. 158 Ebd., S. 3. 159 Gerd Heymann: Geschäfte mit der Angst um den Arbeitsplatz. Dortmunds Ausbildungsgesellschaft trotz Millionengeschäften in Konkurs gegangen, in: Westfälische Rundschau, 6. November 1968.

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nach wenigen Wochen.“ 160 Der Autor wendete die mangelnde Bildbarkeit positiv in ein Register sozialen Mitleids und sozialpolitischer Unterstützung – während das Landesarbeitsamt versuchte, die von ihm selbst heraufbeschworene Umschulungseuphorie wieder loszuwerden. Die wirtschaftsnahe Presse schalt die Gewerkschaften wegen übersteigerter Bildbarkeitsversprechen – und zukunftsoptimistische Journalisten sahen in den gewerkschaftlichen Einrichtungen den Garanten einer eignungsgemäßen und wohlüberlegten Ausbildung. Einig waren sich alle Parteien lediglich darin, dass schnelle Lösungen notwendig waren und auf pragmatischem Wege gefunden werden mussten – Bildungsfähigkeit konnte dabei problemlos als Argument sowohl für als auch gegen Umschulung ins Feld geführt werden. Diese scheinbare Pragmatik, zu schnellen Lösungen unter Aufwendung erheblicher Mittel zu kommen, kannte aber enge Grenzen: Rund drei Wochen bevor Franz Meyers dem angehenden Volksschullehrer S. alles Gute für sein weiteres Studium wünschte, trafen sich in Essen die für die Vermittlung ehemaliger Bergleute zuständigen Beamten, um über die Rolle von Bildungsmaßnahmen zu sprechen. Die Arbeitsverwaltung, so Alois Degen in seiner Einführung, stehe vor nie gekannten Umschulungsaufgaben. Die notwendige Umschichtung des Arbeitsmarktes sei „ein Problem der Mobilität der Arbeitnehmer.“ 161 In dieser Situation komme der „beruflichen Bildungsmaßnahme“ eine „besondere Bedeutung“ zu.162 Insbesondere die Umschulung bringe weitere Bedingungen mit sich, vor allem die „eindeutige Feststellungen der Eignung sowie der Lern- und Bildungsfähigkeit“.163 Grundsätzlich sei der Arbeitsvermittler dafür zuständig, die Umschulungsinteressierten zu beraten und auszuwählen. Im Zweifelsfall s­eien der Berufsberater, der Fachpsychologe und der Arbeitsamtsarzt hinzuzuziehen.164 Bildungsfähigkeit und der Wille zur Umstellung, das belegen diese Beispiele, waren leere Signifikanten und konnten je nach Bedarf eingesetzt werden: nach außen, um neue Aufgaben abzuwehren, nach innen und gegenüber den Antragstellenden selbst, um überbordende Ansprüche oder nicht erfolgversprechende Umschulungen zu verhindern. Sie konnten keine Erwähnung finden – etwa wenn es um Landesmittel ging – oder angeführt werden, um Sonderregelungen für eine arbeitsmarktpolitische Population zu erreichen, die das Arbeitsamt intern – etwa im Fall der Stahlindustrie – als „vorwiegend ältere und behinderte 160 Ebd. 161 LAA NRW : Ergebnisniederschrift über die Dienstbesprechung der mit der Vermittlung von Bergleuten befaßten Führungskräfte der Arbeitsvermittlung am 5. 10. 1966 in Essen, 28. 10. 1966, in: LAV NRW-R, BR 1134/158, S. 4. 162 Ebd., S. 8. 163 Ebd. 164 Ebd., S. 9.

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­Arbeitnehmer“ führte und diskutierte.165 Darüber hinaus aber war das entstehende Umschulungssystem keineswegs rigide und keineswegs von Bonn, Nürnberg oder Luxemburg aus geplant. Es bot durch individuelle Ansprüche und Begehren Gestaltungsmöglichkeiten, die, wie im Fall des Herrn S., langfristige Folgen und Weichenstellungen zeitigten. Umschulung ist also als weit mehr zu verstehen als lediglich eine Vorgeschichte und ein Appendix des Arbeitsförderungsgesetzes. Sie stellte ein politisch offenes Aushandlungsfeld dar, in dem die Interessen verschiedener Akteur:innen auf unterschiedlichen Ebenen austariert werden mussten. Sozialpolitische Träume, ein Planungsoptimismus oder die Idee, Beruflichkeit als Prinzip der Industriegesellschaft zu retten, standen zwar im Vordergrund, zeigten sich im Handeln der Akteur:innen aber lediglich als flexibel einsetzbare Interpretamente. Anstatt das Problem zu verwissenschaftlichen, nutzten sie zunächst Bildungsfähigkeit als Ressource, um die jeweiligen Organisations-, Verwaltungs- und individuellen Interessen durchzusetzen. Vieldeutigkeit war in d ­ iesem Fall kein Hindernis für Sozialpolitik, sondern ihre Voraussetzung. Die Suche nach der Bildungsfähigkeit des „älteren Arbeitnehmers“ setzte eine Vereindeutigungsspirale in Gang.

4.2 Anthropologien und Vereindeutigungspraktiken der Mobilität In dem Deutungskampf um Umschulung stellte der Begriff der Mobilität eine attraktive Klammer dar, um den Erwachsenen, den „älteren Arbeitnehmer“ und seine Anpassungsfähigkeit zu thematisieren – insbesondere in dem Maße, in dem sich das Eingliederungsparadigma erschöpfte. Mobilität suggerierte Wissenschaftlichkeit, eröffnete eine Anschlussfähigkeit der bundesdeutschen Debatten an internationale Entwicklungen und schien den „dynamischen Zeiten“ der „mobilen Gesellschaft“ angemessen, rief sie doch eine Vorstellungswelt von Beschleunigung, Bewegung und Modernität auf.166 Der Begriff war aber keineswegs eindeutig und konnte auch nicht voraussetzungslos auf den deutschen Fall und spezifisch das Ruhrgebiet angewendet werden. Er benötigte, so wird im Folgenden argumentiert, zunächst eine Übersetzungsleistung. Diese Übersetzung verschob die Semantik und Praxis des Mobilitätsbegriffs in der Bundesrepublik: Aus einem Begriff zur Beschreibung von Bewegung wurde – unter Rückgriff auf ältere Traditionen – ein

1 65 Ebd., S. 1. 166 Vgl. Schildt/Siegfried/Lammers (Hg.): Dynamische Zeiten; Anne Barrère/Danilo Martuccelli: La modernité et l’imaginaire de la mobilité: L’inflexion contemporaine, in: Cahiers internationaux de sociologie 118 (2005), 1, S. 55 – 79.

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Begriff zur B ­ estimmung des Wesens des Menschen, konkreter: des Arbeiters.167 Der Übersetzungs- und Aneignungsprozess hatte zwei Dimensionen, die in ­diesem Kapitel dargestellt werden: Zum einen handelte es sich um eine räumlich-transnationale Aneignung, in der die verschiedenen Akteur:innen ins europäische Ausland blickten und reisten, um Lösungen für das „Umstellungsproblem“ zu finden. Zum anderen übersetzten sie Wissensbestände aus der Rehabilitationspädagogik und -wissenschaft, um diese für die Umstellung nutzbar zu machen. Diese Übersetzungsleistung ermöglichte es erst, so das zweite Argument ­dieses Kapitels, den Erwachsenen als defizitäres Subjekt des „Strukturwandels“ zu denken, dessen Fähigkeiten ausgelotet, geschützt, verbessert, kanalisiert und entfaltet werden sollten. Auf europäischer Ebene trat – wie bereits gezeigt – der Begriff der Mobilität früher als in der Bundesrepublik auf. Er bewegte sich noch deutlich im Kontext eines moralischen Holismus: Vom 27. September bis zum 1. Oktober 1960 fand in Luxemburg unter der Ägide der Hohen Behörde der EGKS eine Konferenz statt, die sich der Frage der „Umstellung der von Zechenschließungen betroffenen Gebiete“ widmete.168 Auf dieser Tagung, die sich auch mit den sozialen Aspekten der „Umstellung“ befasste, sprach als letzter Redner der niederländische Soziologe Jan Haveman, der bereits in den 1950er Jahren zur Umschulung von Arbeitern geforscht hatte.169 Er widmete sich der Frage, was mit Bergarbeitern geschehe, die gezwungen s­eien, in andere Industrien zu wechseln. Mit dem Ziel, die „Anpassungsprobleme“ zu untersuchen, ging es Haveman darum, daraus resultierende „rebellische[] Einstellungen“ zu erklären.170 Seine Diagnose folgte dem verbreiteten Verständnis, das dem Bergarbeiter im Sinne eines moralischen Holismus eine beschädigte Männlichkeit zusprach. Der „echte Bergarbeiter“ sei, so Haveman, ein Facharbeiter, ein „Handwerker“, dessen „Berufsstolz“ durch den Wechsel in eine andere Industrie verletzt werde.171 Dies liege am Arbeitsvollzug des Bergarbeiters, der wegen der „ihn ständig bedrohenden Gefahren“ dauernd „unter Spannung“ arbeite.172 Haveman erinnerte die Situation an die „der Frontsoldaten“. Bergarbeiter und Soldat arbeiteten beide an „vorderster Front“ – von außen gesehen sogar in der „Hölle“. Diese Hölle der

167 Auf die Ambivalenz der Mobilität verweist auch Valeska Huber: Multiple Mobilities. Über den Umgang mit verschiedenen Mobilitätsformen um 1900, in: Geschichte und Gesellschaft 36 (2010), S. 317 – 341. 168 EGKS. Hohe Behörde (Hg.): Financement. 169 Jan Haveman: De ongeschoolde arbeider. Een sociologische analyse, Assen 1952. 170 Ders.: Quelques problèmes socio-psychologiques posés par le passage de mineurs à d’autres industries, in: EGKS. Hohe Behörde (Hg.): Financement, S. 251 – 255, hier S. 251. 171 Ebd. 172 Ebd., S. 252.

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S­ tollen und Schützengräben verleihe ihnen „eine Aura der Männlichkeit“. Während also Militär wie Bergbau „Männerarbeit“ s­ eien, könnten die „Routinearbeiten der Industrie auch von Frauen erledigt werden.“ 173 Diese Analogie von Bergarbeiter und Soldat als Bastion gegen sowohl Fordismus als auch Weiblichkeit – eher inspiriert von Ernst Jünger 174 als von Serge ­Moscovici und auf eine Vorstellungswelt der Zwischenkriegszeit zurückgehend 175 – ging bei Haveman noch weiter: Der Soldat verachte die Etappe, die Zugführer und „‚Schreibtischhengste‘“. Ebenso habe der Bergarbeiter nur Mitleid für die Übertagearbeit in den Fabriken oder den Büros übrig: So wie der heimkehrende Soldat sich dem „normale[n] Leben“ nicht anpassen könne, fuhr Haveman fort, „passt sich auch der Bergarbeiter nur mit Schwierigkeiten an das Leben, das ihm die Fabrik aufzwingt, an.“ 176 Dieses Problem betreffe etwa die Sozialbeziehungen in der Produktion. In der Fabrik werde über die Hierarchie und die Stellung kommandiert, während unter Tage – in der Frontgemeinschaft – eine Hierarchie der Tugend und der Fähigkeiten sowie Solidarität und Fürsorge herrschen würden. Die Arbeit in der Fabrik sei für einen Bergmann nicht nachzuvollziehen, weshalb er sich nur schlecht anpassen könne. In der Fabrik lauere die Bürokratisierung, der Fordismus, die Entfremdung, während unter Tage noch der „handwerkliche Charakter“ im Vordergrund stehe.177 Dementsprechend müsse Umschulung die Rolle des Arbeiters verändern und die letzten Enklaven soldatischer Männlichkeit einreißen. Der Bergarbeiter müsse „ein ganz anderer Mensch werden“.178 Es sei herauszufinden, ob eine s­ olche Umstellungsleistung „innerhalb einer Generation“ überhaupt möglich sei. Um Erfolg zu haben, brauche es eine Umschulung, die sowohl das technische als auch das „menschliche Element“ einschließe. Ausbildung könne die „Aversion gegen formale Autorität“ überwinden, könne des Bergarbeiters „Vertrauen gewinnen“ und ihn für moderne Unternehmen einsetzbar machen. Ansonsten drohten „Frustration, Aggressivität und schwere Rebellion.“ 179 Die binäre Ordnung, die Haveman so wort- und bildreich entwarf, war einerseits inspiriert von der Vorstellung einer männlichen Gemeinschaft des Soldatentums und der Bergarbeit. Andererseits folgte sie einer die Vergangenheit romantisierenden Dequalifizierungsvorstellung, die die vormodernen, ständischen Tugenden durch

1 73 Ebd. 174 Ernst Jünger: Der Arbeiter. Herrschaft und Gestalt, Hamburg 1932. 175 Vgl. Nicolas Verschueren: Mineur au front, soldat au fond. La formation d’une icône de la classe ouvrière, in: Revue du Nord 417 (2016), 4, S. 855 – 870. 176 Haveman: Problèmes, S. 253. 177 Ebd., S. 254. 178 Ebd., S. 255. 179 Ebd.

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die Fabrik und die Rationalisierung als gefährdet und im Verschwinden begriffen konzeptionierte. In d ­ iesem Narrativ erschien der Bergarbeiter als Residuum einer geordneten, nach dem Prinzip der Männlichkeit gegliederten Gemeinschaft, die nun, konfrontiert mit dem reinen Rationalismus, ein besonderes Modernisierungsproblem darstellte. Diese Lesart des Umstellungswillens geriet während der 1960er Jahre an Grenzen. Die Charakterisierung der Bergarbeiter als Problem war allerdings Teil der Wissenspolitik im Deutungshorizont des „Strukturwandels“. Im wissenspolitischen Feld, das den empirischen Nachweis der Bildbarkeit des erwachsenen Arbeiters anstrebte, wurden die Arbeiter, die nach Betriebsschließungen und Zechenstilllegungen eine neue Arbeit suchen mussten, auf verschiedene Arten als Verlierer, als verletztes Subjekt charakterisiert und problematisiert. Die Existenz eines solchen in seiner Männlichkeit gefährdeten Subjekts rechtfertigte dementsprechend den Einsatz außergewöhnlicher Mittel. Der Vortrag Jan Havemans verweist exemplarisch auf eine Achse der Verletzlichkeit, die im Folgenden systematisch untersucht wird: eine Charakterisierung von Unbeweglichkeit beziehungsweise Immobilität und eine Alltagsanthropologie des (Berg-)Arbeiters. Diese Aushandlungen bezogen sich auf „den“ erwachsenen Arbeiter an sich, dessen Umstellungsfähigkeit problematisiert werden musste. Sie schlossen aber gleichzeitig den Bergarbeiter als besonderes – und besonders „gefährdetes“ – Kristallisationsobjekt ein. Von Ruhrvolk, Taubenzüchtern und anderen Immobilen

Die Vorstellung Havemans, die sich auf den Beruf und die Rolle des Bergmanns bezog und in Parametern von Treue, Charakter und Sesshaftigkeit operierte, veraltete im Laufe der 1960er Jahre und lebte zugleich fort. Das lässt sich an der nationalen und regionalen Aneignung des Mobilitätsbegriffs im transnationalen Austausch zeigen, der sich durch eine ihm eigene Übersetzungsleistung auszeichnete. Diese Zirkulation offenbart auch, dass der transnationalen Dimension des Arbeitsförderungsgesetzes nicht nur im Bundesarbeitsministerium Grenzen gesetzt waren.180 Im Januar 1969 – die Rezession von 1966/67 schien überwunden, die Probleme der Bergbauregionen Ruhrgebiet und Saarland nicht mehr so dringend – wandte sich die Hauptstelle der BAVAV an die Landesarbeitsämter in Saarbrücken und in Düsseldorf. Das Manpower and Social Affairs Directorate der OECD hatte eine Studie in der Bergbauregion Durham in Großbritannien anfertigen lassen, die die „nationale Wanderung der Arbeitskräfte und deren Vor- und Nachteile“

180 So Altmann: Arbeitsmarktpolitik, S. 109 – 112.

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­betrachtete.181 Die in dem Bericht geschilderten Probleme traten nach Nürnberger ­Auffassung „auch in den deutschen Kohlegebieten an der Ruhr und an der Saar“ auf. Die BAVAV bat also um vergleichende Stellungnahme zum britischen Fall, da das Dokument Anfang März 1969 im OECD -Arbeitskräfteausschuss diskutiert werden sollte.182 Das Dokument legte der zuständige BAVAV -Beamte zunächst im englischen Original bei. Erläuternd führte das zuständige Sekretariat der OECD in einem beiliegenden Schreiben in deutscher und englischer Sprache aus, die Organisation strebe an, das Potential von Mobilität als arbeitsmarkt- und sozialpolitisches Instrument zu diskutieren.183 Das Beispiel von fünf Dörfern im Westen des Kohlebeckens in der Grafschaft Durham biete sich an, denn während der Krise in den 1960er Jahren habe „eine umfangreiche Mobilität der Arbeitskräfte als eines der Mittel zur Lösung von Problemen wie Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung“ gegolten.184 Zunächst zog die Studie – die den Begriff der Mobilität nicht im Titel führte 185 – ein Übersetzungsproblem im wörtlichen Sinne nach sich. Paul Wollek, der in Düsseldorf mit dem Thema befasste Arbeitsamtsbeamte, entschuldigte sich. Wegen der knappen Bearbeitungszeit von rund zwei Wochen habe er die Arbeit „nur flüchtig“ lesen können.186 Die „soziologischen Gesichtspunkte“ beurteile er zwar als interessant, die im Land Nordrhein-Westfalen brennenden Fragen der „beruflichen Umschulung von Bergarbeitern“ würden allerdings „kaum oder nur flüchtig erwähnt“. Die Studie sei aber, so versicherte Wollek, relevant und dürfe auch den Bundesbeauftragten für den Steinkohlenbergbau, Gerhard Woratz, und die entstehende RAG interessieren. Damit empfahl er die Übersetzung der Studie und bat gleich um einige Exemplare zur eigenen Verwendung.187 Diese Antwort war der Hauptstelle in Nürnberg zu unspezifisch. Zwei Wochen s­päter verlangte der dort Zuständige eine ergänzende Stellungnahme aus Nordrhein-Westfalen und 181 BAVAV: OECD-Ausschuß für Arbeitskräfte. Hier: Untersuchung der OECD über die Mobilität der Arbeitskräfte, inländische Wanderung, menschliche Vorteile und Nachteile. Schreiben an die Arbeitsämter in NRW und Rheinland-Pfalz-Saarland (Saarbrücken), 29. 1. 1969, in: LAV NRW-R, BR 1134/872. 182 Ebd. 183 OECD. Manpower and Social Affairs Directorate: Mobilität der Arbeitskräfte. Binnenwanderung. Vor- und Nachteile für die Wanderarbeiter. Anmerkungen des Sekretariats zu dem Bericht, o. D. [Januar 1969], in: ebd. 184 Ebd. 185 R. C. Taylor: Internal Migration. Human Gains and Losses, Paris 1969. 186 Paul Wollek: OECD-Ausschuß für Arbeitskräfte. Hier: Untersuchung der OECD über die Mobilität der Arbeitskräfte, inländische Wanderung, menschliche Vorteile und Nachteile. Erlaß vom 29. 1. 1969, 13. 2. 1968, in: LAV NRW-R, BR 1134/872. 187 Ebd.

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fügte seinem Schreiben die Beurteilung der Studie durch das Landesarbeitsamt Rheinland-Pfalz-Saarland und eine Kurzübersetzung, die Saarbrücken hatte anfertigen lassen, bei.188 Diese Kurzübersetzung, die die Einleitung vollständig und die empirischen Ergebnisse paraphrasierend enthielt, schickte Wollek an die Arbeitsämter in Bochum, Gelsenkirchen und Oberhausen. Gleichzeitig beraumte er eine Besprechung des Berichts in Düsseldorf an, auf der die endgültige Stellungnahme Nordrhein-Westfalens erarbeitet werden sollte.189 Die Rezeption beschränkte sich also auf eine in Saarbrücken angefertigte Übersetzung, die nicht den vollständigen Text der Untersuchung berücksichtigte. Es wäre aber zu kurz gegriffen, die Rezeptionsschwierigkeiten auf deutscher Seite lediglich auf ein Übersetzungsproblem im wörtlichen Sinne zurückzuführen. Übersetzungsprobleme traten auch im analytischen Sinne auf. Die Studie beurteilte Kosten und Nutzen der Binnenwanderung von Bergleuten für diese selbst und für die Gesellschaft. Als Grundlage der Untersuchung dienten 240 Bergarbeiterfamilien, die aus West Durham in den britischen Süden gezogen waren. Deren Umzugsgrund und -erfolg sowie Ein- und Fortleben sollten verfolgt werden. Ziel war also, Rückkehrquoten nach erfolgter Mobilität – im ausschließlich räumlichen Sinne – zu verringern. Paradigmatisch grenzte sich der Autor von älteren Ansätzen ab, die „Wanderung“ als „desorganisierend“ beurteilt hätten.190 Diese Untersuchungen, denen es um die Korrelation ­zwischen Wanderung und „Arbeitslosigkeit, Scheidung, Geisteskrankheit, Selbstmord und Kriminalität“ gegangen sei, lehnte er strikt ab.191 Er stellte ihnen eine vermeintlich neutrale Auffassung von Wanderung als Bewegung z­ wischen zwei Orten mit verschiedenen Möglichkeitsstrukturen entgegen, von der Individuen, Orte und Gesellschaft profieren würden. Dementsprechend legte er auch einen „psychologisch-sozialen Maßstab“ an und beabsichtigte, die „Bedeutung [der Wanderung] für die Werte und Ziele des Lebens der einzelnen Typen von Wanderarbeitern zu beschreiben und zu analysieren“.192 Zu ­diesem Zweck definierte der Soziologe vier Typen von – so die 188 BAVAV: OECD-Ausschuß für Arbeitskräfte; hier: Untersuchung der OECD über die Mobilität der Arbeitskräfte, inländische Wanderung, menschliche Vorteile und Nachteile. Bericht der BAVAV an das BMA, 28. 2. 1969, in: LAV NRW-R, BR 1134/872. Siehe die Übersetzung R. C. Taylor: Binnenwanderung. Vor- und Nachteile für die Wanderarbeiter. Bericht für das „Manpower and Social Affairs Directorate“ der OECD von R. C. Taylor, University of Kent in Canterbury, 4. 4. 1968, in: ebd. 189 Paul Wollek: Untersuchung der OECD über die Mobilität der Arbeitskräfte, inländische Wanderung, menschliche Vorteile und Nachteile. Schreiben an die Arbeitsämter Bochum, Gelsenkirchen, Oberhausen, 12. 3. 1969, in: ebd. 190 Taylor: Binnenwanderung, S. 5. 191 Ebd. 192 Ebd., S. 9.

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Übersetzung aus Saarbrücken – „Wanderarbeitern“: „Andersdenkende, Kontaktarme, situationsbedingt Handelnde und situationsunabhängig Handelnde.“ 193 Von diesen vier Typen neige lediglich der dritte Typ, also der situationsbedingt mobile Arbeiter, zur Rückkehr und somit zum Scheitern. Zentral an dieser Perspektive auf Mobilität war, dass der Autor nicht dem Individuum und seinen Eigenschaften maßgebliche Wirkung zusprach, sondern der das Individuum umgebenden Familie und der „Gemeinschaft“. Gegen die Behauptung, „daß die Abwanderer intelligenter und findiger s­eien und aktiver am Gemeinschaftsleben teilnähmen“, wandte er ein, dass gerade jene Individuen wanderten, die keinen oder wenig Bezug zur „Gemeinschaft“ hätten.194 Bindungen an die Herkunftsgemeinde verringerten nach der Studie die Chancen für erfolgreiche Wanderungsprozesse. Deren Fehlen erhöhten sie wiederum. Die Neigung zum Wandern sei folglich „eher ein Merkmal der Familie als des einzelnen“.195 Vorsorglich wies der Autor darauf hin, dies bedeute nicht, „daß diese Neigung erblich“ sei.196 Vielmehr begünstige ein familiärer „Präzedenzfall“ künftige Wanderung.197 Aus dieser hohen Bedeutung, die Familie und Gemeinschaftsbindungen erhielten, resultierte die Empfehlung für künftige Maßnahmen: Werbung für Mobilität dürfe keine überzogenen Versprechen machen. Sie solle „verantwortungsbewußt“ geschehen, „nicht sensationell aufgemacht sein“ und darauf hinweisen, dass Wanderung überall vorkomme.198 Die „Mobilität der Arbeitskräfte“ sei „ein normales und nicht ein pathologisches Symptom für einen Wandel in der Industriegesellschaft“.199 Der englische Sozialwissenschaftler vertrat eine Auffassung von Mobilität, die diese räumlich dachte und von der Familien- und Gemeinschaftsbindung abhängig machte. Auf w ­ elche Reaktionen trafen diese Annahmen in den bundesrepu­ blikanischen Steinkohlengebieten? Das Saarbrücker Landesarbeitsamt lehnte den Vergleich rundheraus ab – und bediente sich dafür des Vergleichs. Die „allgemein-menschlichen Beobachtungen“ dürften an der Saar gewiss zutreffen.200 Allerdings stelle Deutschland einen Sonderfall dar. Wanderungen ­seien nur im Jahr 1968 und da in nur geringem Umfang aufgetreten. Ebenfalls sei die Siedlungsstruktur an der Saar mit der Durhams nicht vergleichbar. Im Gegensatz zu Großbritannien ­seien auch „keine größeren sozialen Probleme für die Betroffenen

1 93 Ebd., S. 11. 194 Ebd., S. 24. 195 Ebd., S. 33. 196 Ebd. 197 Ebd. 198 Ebd., S. 16. 199 Ebd. 200 BAVAV: OECD-Ausschuss, 28. 2. 1968, S. 2.

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aufgetreten“.201 Jenseits dieser oberflächlichen Gründe gebe es aber noch tiefere Dimensionen, „die einen soziologischen Vergleich ­zwischen dem Saarbergbau und dem Kohlegebiet West Durhams in England kaum zulassen“.202 Der Bergmann an der Saar habe – ganz im Gegensatz zu seinem britischen Gegenüber – eine „sehr alte Tradition“, die „bis etwa ins Jahr 1750“ zurückreiche. Die Belegschaft sei zuverlässig und „dem Saarland sehr eng verbunden“. Auch würden die Saarbergwerke keine „ausländischen Gastarbeitnehmer“ beschäftigen.203 Die herausragende Sozialpolitik der staatseigenen Saarbergwerke AG stütze die „bergmännischen Siedlungsgemeinschaften“ und die „seit Generationen bestehenden engen Bindungen zum Saarland“ ließen es „sehr fragwürdig“ erscheinen, die britischen Ergebnisse, wonach „die sozialen Nachteile der Wanderung für den Wanderarbeiter recht gering erscheinen“, zu transferieren.204 Das für das Saarland zuständige Arbeitsamt lehnte Mobilität im räumlichen Sinne ab und unterstellte den britischen Bergleuten, die mit Unterstützung des National Coal Board (NCB ) Wanderungen angetreten hatten, Unbeständigkeit und Traditionslosigkeit sowie dem NCB eine fehlgeleitete Sozialpolitik. Wanderung und Mobilität verstand der zuständige Saarbrücker Beamte also in Begriffen von Fluktuation und Desorganisation. Dass der Autor der britischen Studie sich gegen eine ­solche Auffassung gewandt hatte, überging das saarländische Gutachten in seiner impliziten Annahme und expliziten Verweigerung des Vergleichs stillschweigend. Demgegenüber überraschte die (zweite) Stellungnahme aus Nordrhein-Westfalen. Zunächst proklamierte auch Düsseldorf die Unvergleichbarkeit des britischen Falls mit dem Ruhrgebiet und dem Aachener Revier. Sie liege zunächst an der diversifizierten Industrie- und der durchmischten Siedlungs- sowie der privaten Unternehmensstruktur.205 Der wesentliche Unterschied liege aber in der Ruhrbevölkerung selbst. Diese bestehe aus „ursprünglich Revierfremden“, aus Zugewanderten aus dem Osten und aus Polen, dann aus Flüchtlingen und Vertriebenen, ­später aus Angeworbenen aus ganz Westdeutschland.206 In dieser Zuwanderungsgeschichte liege eine „Bereitschaft zur Veränderung“, die der Bergbau nur verstärkt habe.207 Modernisierungen und technische Erneuerungen hätten von jeher „eine gewisse

2 01 Ebd., S. 2 f. 202 Ebd., S. 3. 203 Ebd. 204 Ebd., S. 3 f. 205 Paul Wollek: OECD-Ausschuß für Arbeitskräfte. Hier: Untersuchung der OECD über die Mobilität der Arbeitskräfte, inländische Wanderung, menschliche Vorteile und Nachteile. Erlaß vom 27. 2. 1969. Zweiter Bericht des LAA NRW, 22. 5. 1969, in: LAV NRW-R, BR 1134/872. 206 Ebd., S. 1 f. 207 Ebd., S. 2.

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Mobilität“ von den Beschäftigten verlangt. Dementsprechend habe es bis 1966 „keine außergewöhnlichen Schwierigkeiten“ bei der Verlegung und Vermittlung von Bergbaupersonal gegeben.208 Die „voll leistungsfähigen Angehörigen bergmännischer Berufe“ hätten einfach wechseln können, was auch an den Unterstützungsmaßnahmen liege, die „umfangreicher und besser sind als in England“.209 Erst ab 1966 habe es Probleme gegeben. Jüngere Arbeiter s­ eien nach Umschulungen zwar gut untergekommen, „ältere und leistungsgeminderte Arbeitnehmer“ konnten die Arbeitsämter aber nicht mehr vermitteln.210 Es habe sich damit eine Restgruppe herausgebildet aus „einseitig ausgebildete[n], leistungsgeminderte[n] Bergleute[n], die die Voraussetzungen für eine Umschulung nicht mehr besitzen“.211 In dieser Antwort erhoben also die Ruhrgebietsarbeitsämter und das Landesarbeitsamt das Ruhrgebiet und seine Einwohner zum Idealtyp einer mobilen und anpassungsfähigen Bevölkerung. Während es in Nordostengland notwendig sei, Anreizstrukturen sowie Vor- und Nachteile von Mobilität zu untersuchen, um politische Handlungsmöglichkeiten zu eruieren, stellte sich eine s­olche Frage in Nordrhein-Westfalen nicht. Für Wollek war die Bevölkerung des Ruhrgebiets per se mobil; der Wille zur Umstellung Teil ihres Wesens, das die Arbeitsämter nun erkannt hätten. Allerdings konzedierte diese Perspektive gleichzeitig, dass es immer Individuen gebe, die zur Umstellung nicht fähig s­ eien und die dementsprechend ein besonderes Problem für die Sozial- und Umstellungspolitik darstellen würden. Im Vergleich zur saarländischen Antwort, die auf den Berufsstolz des Fluktuationsparadigmas pochte, und zur britischen Studie, die Mobilität als familien- und gemeinschaftsabhängig dachte, wandten sich die nordrhein-westfälischen Arbeitsverwalter also dem Individuum zu. Dessen Wesen zeichnete sich nun durch Mobilität oder Immobilität aus. Diese Antwort zum Ende der 1960er Jahre kann als Produkt einer doppelten Verschiebung im Laufe der vorangehenden Jahre verstanden werden: Einerseits wurde der Begriff der Mobilität in die Bundesrepublik importiert, andererseits anthropologisiert: Mobilität – insbesondere „geistige Mobilität“ – entwickelte sich zu einem bevölkerungsspezifischen Charakteristikum. Hier wurde eine ältere Tradition der Rassen- und Sozialanthropologie mit den Problemen der Arbeitsmarktpolitik zu einem breit ausdeutbaren anthropologischen Argument amalgamiert. Es beruhte gerade auf der Vieldeutigkeit des Mobilitätsbegriffs.212 Die dreifache Wortbedeutung 2 08 Ebd. 209 Ebd., S. 2 f. 210 Ebd., S. 3. 211 Ebd., S. 4. 212 Diese Vieldeutigkeit des Mobilitätsbegriffs schreibt sich bis in die Gegenwart fort. Reiner R ­ uppmann beklagte 2016, der Begriff der Mobilität sei „unscharf“, weil er sowohl eine „individuelle F ­ ähigkeit“

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im Sinne von sozialer, räumlicher und geistiger Mobilität fand dementsprechend 1974 auch Eingang in das Duden-Fremdwörterbuch, nachdem es in den 1960er Jahren lediglich um Wohnsitzwechsel gegangen war.213 Mit der ersten Ausgabe der Zeitschrift Geschichte und Gesellschaft waren der Mobilitätsbegriff und das Ruhrgebiet als Experimentierfeld und Ort der Authentifizierung ebenfalls wesentlich am Siegeszug der Sozialgeschichte beteiligt.214 Die Suche nach der Mobilität der Ruhrbevölkerung war aber älter und Wolleks Stellungnahme eine durch die Darstellung nach außen bedingte Ausnahme. In der durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft geförderten Untersuchung zur anthropologischen Gliederung des Raumes Westfalen, die das Provinzialinstitut für westfälische Landes- und Volkskunde seit den 1940er Jahren plante, in den 1950er Jahren durchführte und deren Ergebnisse es in den 1960er Jahren publizierte,215 befasste sich Hubert Walter für seine Habilitationsschrift mit der „Sozialanthropologie der Ruhrbevölkerung“.216 Abgesehen von einer Herkunftsaufteilung der Ruhrbevölkerung nach „westfälisch“ und „ost-stämmig“ und verschiedenen Körpermessungen hinsichtlich der Pigmentierung, der „Fingerbeerenmuster“, aber auch der Blutgruppen und Blutfaktoren sowie allgemeinen „[r]assentypologische[n] Beobachtungen“ versuchte sich Walter auch an einer Untersuchung der „Begabungsverteilung“. Seine Untersuchungsziele nahmen sich dabei als gar nicht so aus der Zeit gefallen aus, wie eine rassenanthropologische Untersuchung zu Beginn der 1960er Jahre zunächst nahelegt. Die Frage, die sich vor dem Hintergrund der Migrations- und Mobilitätsgeschichte des Ruhrgebiets für ihn stellte, war denkbar zeitgemäß: „In welchem Maß“ hätten also „diese Ostzuwanderer oder Nachkommen im Industriegebiet einen sozialen Aufstieg vollziehen“ können? Inwieweit habe „diese Bevölkerungsgruppe Eingang in die mittleren und gehobenen Sozialschichten des Industriegebietes“ gefunden?217 Gewiss versuchte er, diese Auf- oder

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als auch eine „Bewegung“ bezeichne. Vgl. Reiner Ruppmann: „Transport-, Verkehrs- und Mobilitätsgeschichte“ oder „Mobilität in der Geschichte“. Zur Diskussion über Methoden und Profilierung eines Forschungsfeldes, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 103 (2016), S. 201 – 208, hier S. 203. Dorn: Bewegung, S. 36 f. Vgl. die erste Ausgabe von Geschichte und Gesellschaft 1 (1976), 1 zum Thema „Soziale Schichtung und Mobilität in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert“ sowie den Artikel zur Stadt Bochum David Crew/Inge Beutler: Regionale Mobilität und Arbeiterklasse. Das Beispiel Bochum 1880 – 1901, in: Geschichte und Gesellschaft 1 (1976), S. 99 – 120. Vgl. zu dem Projekt Thomas Etzemüller: Auf der Suche nach dem nordischen Menschen. Die deutsche Rassenanthropologie in der modernen Welt, Bielefeld 2015, S. 211 – 224. Hubert Walter: Untersuchungen zur Sozialanthropologie der Ruhrbevölkerung (Veröffentlichungen des Provinzialinstituts für Westfälische Landes- und Volkskunde, Reihe 1 12), Münster 1962. Ebd., S. 1.

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­ bstiegsprozesse in Korrelation zu körperlichen Merkmalen zu setzen, um zu unterA suchen, „ob sich die (Kinder der) sozial mobilen Gruppen in ihrem somatischen Merkmalsbild von den sozial immobilen absetzen“.218 Er kam zu dem Schluss, dass sich „eine soziale Siebung nach psychischen Fähigkeiten“ deutlich im „intellektuellen Begabungsniveau der Kinder“ offenbaren müsse.219 Daraus leitete er einen „engen Zusammenhang ­zwischen sozialer Mobilität und intellektuellem Begabungsgrad“ ab: „Soziales Aufstiegsstreben und intellektuelles Begabungsniveau“ – das er für die Studie von den Lehrern von 14- und 15-jährigen Schülerinnen und Schülern einschätzen ließ – erwiesen sich so „als deutlich miteinander korreliert“.220 Wenig überraschend kam er zu dem Ergebnis, dass sozial aufwärtsgerichtete Mobilität in der „nordische[n] Typengruppe“ zu finden sei, während in absteigenden Gruppen der „Anteil osteuropider und alpiner Varianten“ augenfällig sei.221 Es griffe jedoch zu kurz, Walter lediglich als „unwissenschaftlichen“ Epigonen der Rassenanthropologie zu charakterisieren.222 Seine Untersuchung war inhaltlich hochgradig anschlussfähig an Problemdiagnosen der 1960er Jahre: Neben dem Begabungsniveau erfordere soziale Mobilität noch „geistige Beweglichkeit“, „eigene Initiative“ sowie „Beharrlichkeit und Zähigkeit“.223 Die Beziehung von Begabung und sozialer Stratifikation konstatierte Walter auch für den Bereich der Arbeit. Seine „Sozialgruppen“, aufgeteilt nach Beruf und Qualifikationsniveau des Vaters, ließen, so sinnierte Walter, eine Beziehung vermuten „zwischen geringerem Begabungsniveau und Herkunft der Vorfahren aus dem Osten“.224 Damit bestätigten seine Untersuchungen ältere Ergebnisse, die einen „beträchtlichen Anteil oststämmiger Kinder in den Hilfsschulen“ bemerkt hätten.225 Folglich balle sich wegen der Zuwanderung aus „dem Osten“ durch „‚subrepräsentative[]‘“ Bevölkerungsgruppen vor dem ­Ersten Weltkrieg – gemeint waren Zuwanderer mit einem als besonders schlecht beurteilten „Begabungsniveau“ – im Ruhrgebiet eine Bevölkerung mit einer „geringe[n] soziale[n] Dynamik“:226 „Die Nachkommen der einst aus dem 218 Ebd., S. 55. 219 Ebd. 220 Ebd., S. 56. 221 Ebd., S. 61. 222 So Benoît Massin: Anthropologie und Humangenetik im Nationalsozialismus oder: Wie schreiben deutsche Wissenschaftler ihre eigene Wissenschaftsgeschichte?, in: Heidrun Kaupen-Haas/ Christian Saller (Hg.): Wissenschaftlicher Rassismus. Analysen einer Kontinuität in den Humanund Naturwissenschaften, Frankfurt a. M. u. a. 1999, S. 12 – 64, hier S. 45 f. 223 Walter: Untersuchungen, S. 56. 224 Ebd., S. 23. 225 Ebd. Walter bezog sich auf Hermann Waterkamp: Die Bevölkerung von Duisburg. Ihr Werdegang und Ihre Zusammensetzung (Volkstum im Ruhrgebiet 2), Essen 1941. 226 Walter: Untersuchungen, S. 24.

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Osten zugewanderten Bergarbeiter stellen danach also einen relativ geringeren Teil gutbegabter, dagegen einen sichtlich höheren Teil schlechtbegabter Kinder.“ 227 Dieses Beispiel eines – ähnlich wie Wilhelm Brepohl – späten Nachfahren der Rassenanthropologie kann gleichzeitig als frühes Beispiel einer Mobilitätsanthropologie der Arbeit und des Ruhrgebiets gelten, die spätestens ab Mitte der 1960er Jahre ausgreifende Blüten trieb. Wenn also der Mobilitätsbegriff eine Anschlussfähigkeit an die ältere „Sozialanthropologie“ herstellte, lebte das Argument einer immobilen Anthropologie der Ruhrbevölkerung auch in der öffentlichen Auseinandersetzung fort. Um über Mobilität zu sprechen, war ein Idiom der Rassenanthropologie wirkmächtiger als das Ideologem des Humankapitals. So beschwerte sich etwa im Februar 1968 – die Umschulungsmaßnahmen insbesondere im Ruhrgebiet breiteten sich aus – der Journalist und Korrespondent des Handelsblatts, Heiner Radzio, darüber, dass umfangreiche soziale Hilfen für Arbeitslose dazu führten, dass „Bergleute und nicht nur sie“ so schwer zu vermitteln ­seien, da Arbeit „nicht als lohnend“ erscheine.228 Während d ­ ieses Problem grundsätzlicher Natur sei und „im Ruhrgebiet“ wegen umfangreicher sozialpolitischer Maßnahmen lediglich „schärfer zum Ausdruck“ komme, sei es aber falsch, soziale Unterstützung als „den wichtigsten Grund für eine Immobilität der Arbeiter im Ruhrgebiet“ zu bezeichnen. Wichtiger sei „das Verhaftetsein der ansässigen Bevölkerung an diesen Raum“. Das „Klischee […] über den mit seinem Taubenverein und seiner Eckkneipe, mit seinem Schrebergarten und seinem Fußballverein ‚verheirateten‘ Bergmann“ treffe zu. So habe die Zeche Sophia-Jacoba bei Aachen vergeblich nach Bergleuten aus dem Ruhrgebiet gesucht. Entweder hätten die Ehefrauen abgelehnt oder die Bergarbeiter hätten sich mit Verweis auf „Taubenverein und ‚Schalke 04‘“ verweigert. Besonders „unwillig“ s­eien die Bergarbeiter geworden, „als man ihnen vorhielt, daß Alemannia Aachen ja schließlich auch ein renommierter Fußballverein sei und in der Bundesligatabelle sogar über Schalke 04 stehe.“ Aus diesen Beispielen folgerte Radzio, die „Mobilität der Arbeiterschaft an der Ruhr“ sei „sehr gering, zu gering“, die „Mobilität der Arbeitskräfte“ müsse also über Umschulung – im räumlichen wie im geistigen Sinne – erhöht werden.229 Dieser Zeitungsartikel könnte zunächst als anekdotischer Randkommentar mit langer Vorgeschichte abgetan werden, erhielt aber von unerwarteter Seite höhere Weihen. Auf der 1968 in Oberhausen stattfindenden dritten Automationstagung der IGM trat Bundeswirtschaftsminister Karl Schiller vor das Plenum, um über „technischen Wandel und Wirtschaftspolitik“ zu referieren. In seinem Vortrag erkannte 2 27 Ebd., S. 23. 228 Heiner Radzio: Der Bergmann hängt an Taubenverein und Schalke 04. Umschulung im Ruhrgebiet wirft Probleme auf, in: Handelsblatt, 2./3. Februar 1968, S. 21. 229 Ebd.

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er an, dass die „Mobilität der Arbeitskraft, Flexibilität und Mobilität von Arbeit und Kapital gesteigert“ werden müssten.230 Dabei verlangte er jedoch, die „soziale Symmetrie“ zu berücksichtigen: „Gerade beim arbeitenden Menschen gibt es auch Grenzen der Mobilität.“ 231 Die Begründung für diese Forderung, das Emblem für Immobilität, fand er im Ruhrgebiet und im Saarland. Es sei bekannt, „daß die Seßhaftigkeit“ dort „besonders groß“ sei.232 Dies belegte Schiller mit dem ­Artikel Radzios. Für Schiller illustrierten Saarland und Ruhrgebiet die Warnung vor einer „gesteigerten Mobilität der Arbeitskraft“. Die Forderung nach mehrmaligem Berufswechsel im Leben wecke auch Widerstand und „Unsicherheit bei den Menschen.“ 233 Der „homo oeconomicus“, so Schiller, sei „eine Abstraktion und dazu nicht immer eine schöne“.234 Den schwerindustriellen Räumen kam im wissenspolitischen Qualifikations- und Mobilisierungsimperativ eine herausragende Rolle zu. Der Anspruch der Mobilisierung und Mobilisierungsfähigkeit brach sich an ebendiesen Raumkonfigurationen. Daraus ließ sich ein besonderer Interventionsbedarf ableiten. Die Schaffung dieser Interventionsräume geschah über die vor allem in den 1960er Jahren verbreitete Mobilitätsanthropologie, in der über eine Romantisierung und Exotisierung Interventions- und Ansatzpunkte politischer Maßnahmen geschaffen wurden – konkret die Mobilisierung des verletzten Strukturwandelsubjekts durch Umschulung. Die anthropologisierende Beschreibung der Population der Bergarbeiter war damit zentraler Übersetzungspunkt der gesellschaftlichen Forderung nach Mobilität auf die regionale und lokale Ebene. Eine ­solche Übersetzungsleistung des abstrakten Mobilitätsimperativs schickte beispielsweise der Westdeutsche Rundfunk (WDR) am 9. Dezember 1967 z­ wischen 12:00 und 12:30 Uhr über den Äther. Er strahlte eine Reportage über die wirtschaftliche Entwicklung des Ruhrgebiets unter dem Titel „Wandern oder Wurzeln schlagen. Mobilität im Ruhrgebiet“ aus.235 Während die beiden Sprecher sowohl geografische Mobilität als auch wirtschaftliche Probleme und Betriebsstilllegungen als überzeitliche, dem Menschen eigene Phänomene definierten, die 230 Karl Schiller: Technischer Wandel und Wirtschaftspolitik, in: Günter Friedrichs (Bearb.): Computer und Angestellte. Beiträge zur dritten internationalen Arbeitstagung der Industriegewerkschaft Metall für die Bundesrepublik Deutschland über Rationalisierung, Automatisierung und technischen Fortschritt 5. bis 8. März 1968 in Oberhausen, Bd. 1, Frankfurt a. M. 1971, S. 178 – 193, hier S. 187. 231 Ebd. 232 Ebd., S. 188. 233 Ebd. 234 Ebd., S. 189. 235 Rudolf Rau: Wandern oder Wurzeln schlagen. Mobilität im Ruhrgebiet. Sendung des Westdeutschen Rundfunks am Samstag den 9. Dezember 1967, 12.00 bis 12.30 Uhr/2. Programm, o. O. [Köln] 1967.

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­ obilität immer erforderlich und wünschenswert gemacht und bislang besonders M im Ruhrgebiet eine „Dynamik“ 236 der Menschen und des wirtschaft­lichen Wachstums erzeugt hätten, sei in jüngerer Zeit ein Umschlagen erfolgt. Zwar hätten einige der nach Stilllegungen entlassenen Arbeiter die „Chance des Neubeginns“ genutzt, jedoch „verharrten andere am angestammten, vertraut gewordenen Platz.“ Sie s­eien „unfähig, sich aus gewohnten Bindungen zu lösen.“ 237 Die einstmals im „‚Taubenschlag Ruhrgebiet‘“ aus- und eingehenden, fluktuierenden Bevölkerungsgruppen hätten sich „eingelebt“, der „Mensch im Ruhrrevier“ ein „eigenes Gepräge“, ein „Eigenbewußtsein erlangt“. Er sei, wie der Erzähler folgerte, „Glied des Ruhr­volkes geworden“, eine, nach der Oberhausener Oberbürgermeisterin Luise Albertz, „‚faszinierende Mischung aus vielerlei Kulturen, Traditionen, Verhaltensweisen und Lebensformen‘.“ 238 Die „Volkwerdung“ des „Ruhrvolks“ beziehungsweise des „Industrievolks“, die hier, unter Rückgriff auf die Arbeiten Wilhelms Brepohls,239 in Begriffe der völkischen Rassenanthropologie und Volkstumsforschung gefasst wurde,240 wurde nun nicht mehr als positiver Referenzpunkt einer gedachten Identitätsbildung verstanden. Sie wurde zum Problem, zur Mobilitätsbarriere, zum Mobilitätshindernis: Das „Gewirr von Zechen und Fabriken, Lärm, Ruß und Rauch ebenso wie der eigene Kotten mit einigen wenigen Quadratmetern an Grün, werkseigenem Konsumgeschäft, Taubensport, Fußball oder Gesangverein“ ­seien zur Umwelt geworden. Die „für das Revier so typische Vermengung von Arbeits- und Lebenswelt“ habe „sich längst zu einem Mythos verdichtet“.241 Für die Ruhrgebietsbevölkerung und die erforderliche Wissenspolitik bedeute dies, dass sich die Bevölkerung „dem, was man hat, verhaftet fühlt – eine Art Traum vom beständigen Glück. Gerade das aber steht einer für die Zukunft notwendigen höheren Mobilität hindernd im Wege.“ 242

2 36 Ebd., S. 5. 237 Ebd., S. 8. 238 Ebd. 239 Vgl. z. B. Wilhelm Brepohl: Vom Industrievolk an der Ruhr (Schriftenreihe Ruhr und Rhein 4), Essen 1957. 240 Zum Kontext vgl. Jens Adamski: Ärzte des sozialen Lebens. Die Sozialforschungsstelle Dortmund 1946 – 1969 (Veröffentlichungen des Instituts für soziale Bewegungen, Schriftenreihe A: Darstellungen 41), Essen 2009, S. 65 – 103; Stefan Goch: Die Forschungsstelle für Volkstum im Ruhrgebiet, in: Michael Fahlbusch/Ingo Haar/Alexander Pinwinkler (Hg.): Handbuch der völkischen Wissenschaften. Akteure, Netzwerke, Forschungsprogramme, 2 Bde., Berlin u. a. ²2017, Bd. 1, S. 182 – 187; ders.: Wilhelm Brepohl, in: ebd., Bd. 2, S. 1391 – 1397; ders.: Wege und Abwege der Sozialwissenschaft. Wilhelm Brepohls industrielle Volkskunde, in: Mitteilungsblatt des Instituts für soziale Bewegungen 26 (2001), S. 139 – 176; Etzemüller: Suche. 241 Rau: Wandern, S. 8. 242 Ebd.

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Vor ­diesem Hintergrund würden einfache Infrastrukturmaßnahmen, die Ansiedlung neuer Industriebetriebe oder die Schaffung neuer Arbeitsplätze – die klassische Strukturpolitik also – nicht mehr ausreichen. Vielmehr würde ein grundsätzlicheres Vorgehen notwendig. Oder, wie es der seit 1965 in Bochum lehrende Geograf Karlheinz Hottes bei einer Jahreshauptversammlung der Duisburger IHK ausführte: Es gehe nicht nur um einen „branchenrelevanten Strukturwandel“, sondern um die „Bereitschaft zur Selbstverantwortlichkeit, [die] Bereitschaft zur Mobilität“, die „in der Ruhrgebietsbevölkerung […] wenig entwickelt“ ­seien.243 Die (Wissens-)Politik müsse also an der Bevölkerung, an den Menschen, am Wesen selbst ansetzen, um die der Mobilität hinderlichen Eigenschaften zu überwinden. Die Lösung stellten – das ist zentral und in der Rückschau vergessen – gerade nicht Universitätsgründungen oder eine höhere Abiturquote dar.244 Es müsse einen politischen Apparat geben, der die „der Ruhrbevölkerung eigene Immobilität, die es verhindert oder zumindest erschwert, die technologisch bedingte Arbeitslosigkeit zu überwinden“, reduzieren könne.245 Rettung biete nur berufliche Bildung, denn der „Arbeitsplatzwechsel“ sei „heute eben unvermeidbarer Bestandteil des Strukturwandels in einer modernen, wachstumsorientierten Gesellschaft.“ Folglich sei es insbesondere diese als defizient begriffene Bevölkerung, die den Imperativ des Strukturwandels internalisieren müsse: „Ständige berufliche Weiterbildung und Berufswechsel sind nicht soziales Unglück, sondern Elemente unserer Leistungsgesellschaft.“ 246 Um den Jahreswechsel 1967/68 war der immobile Bergarbeiter also in aller Munde. Der Kumpel sei „eng […] mit seinem Pütt verwachsen“ 247, das „größte Handikap“ des Ruhrgebiets liege „in dem anhaltenden Widerstand vieler Bergarbeiter gegen ihre berufliche Umschulung“.248 Landesarbeitsminister Figgen bemühte sich auf der ersten Arbeitsmarktkonferenz zum Ruhrgebiet darum, „die noch immer viel zu geringe Einrichtung eines nicht gerade kleinen Teils der Arbeitnehmer in die Notwendigkeit beruflicher Beweglichkeit zu stärken und in 243 Karlheinz Hottes: Der Niederrhein und das westliche Ruhrgebiet als Teil des nordwest-europä­ ischen Ballungsraumes. Rede anlässlich der Jahresvollversammlung der Niederrheinischen IHK, 1971, in: WWA, K1 Nr. 30571, S. 5. 244 Diese Beobachtung stützt die These Hans Stallmanns, dass die Gründung der Ruhr-Universität Bochum kein Projekt der „Strukturwandelbewältigung“ darstellte. Vgl. Hans Stallmann: Euphorische Jahre. Gründung und Aufbau der Ruhr-Universität Bochum (Düsseldorfer Schriften zur neueren Landesgeschichte und zur Geschichte Nordrhein-Westfalens 68), Essen 2004. 245 Rau: Wandern, S. 14. 246 Ebd. 247 Resi Dieckmann: Woche der Kohle – Was folgt nun?, in: Westdeutsche Allgemeine Zeitung (WAZ), 11. November 1967. 248 Lothar Bewerunge: Mahnung mit einem Brocken Kohle. Konsequenzen für die Düsseldorfer Regierung nach der Energiedebatte, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10. November 1967.

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ein nüchternes Fortbildungs- und Umschulungsbewusstsein umzuwandeln“.249 Nur einige Monate ­später konstatierte ein Artikel, dass es ja eigentlich gar keinen Arbeitsplatzmangel gebe, schließlich böten Hessen und Baden-Württemberg ausreichend Arbeitsplätze für alle Arbeitslosen des Ruhrgebiets. Doch „mit der Mobilität“ sei „das so eine Sache“: Umschulung, Umzug, Abschied. „Mag sein, daß wir in einigen Jahrzehnten nicht nur ein automobiles, sondern auch ein mobiles Volk geworden sind – heute ist es noch nicht soweit.“ 250 Auch Alois Degen wetterte, die „Ausländer“, also angeworbene Arbeitskräfte, müssten die „fehlende Mobilität“ der „Arbeitslose[n] aus dem Ruhrgebiet“ wettmachen.251 Er drohte darüber hinaus im Frühjahr 1968 öffentlichkeitswirksam damit, einen Umschulungszwang einzuführen.252 Doch auch kritische Stimmen und differenziertere Zeitdiagnosen ließen sich vernehmen: Wilhelm Jungermann, der Chefredakteur der RuhrNachrichten, monierte, dass kaum eine Tagung oder Besprechung, „besonders im Ruhrgebiet“, ohne eine Beschwörung der Mobilität auskomme.253 Mobilität, ein „Zaubermittel“ für die einen, ein „Schreckgespenst“ für die anderen – ein „Modewort“, das für die Gesellschaft „schillernd und gefährlich“ wie alle Floskeln sei. Diese kritische Distanz vermochte Jungermann aber nicht aufrechtzuerhalten. So beschwichtigte er den wachen Leser aus dem Ruhrgebiet, gegen dessen implizite Überforderung sich der Artikel richtete, dass hinter dieser „Fremdwort-Hülle“ eine „ganz natürliche, verständliche Sache“ stehe. Mobilität bedeute schlicht „Beweglichkeit, Anpassungsfähigkeit“. Diese Anpassungsfähigkeit sei nun „im Prinzip nichts Neues“, sondern – von der prähistorischen „Suche nach neuen ‚Jagdgründen‘“ bis zur „Menschenballung im Ruhrgebiet“ – eine anthropologische Konstante, die durch die „moderne Technik“ lediglich beschleunigt werde. Für die Älteren jedoch, für diejenigen, die im Ruhrgebiet „seßhaft“ wurden und eine „neue Heimat“ fanden, enthülle sich die Mobilität als ein „Alpdruck“, „als eine Frage des praktischen Könnens“.254 All diese Stellungnahmen – ob, wie bei Schiller, positiv oder, Stichwort „Handikap“, negativ – gingen von einer Anthropologie der immobilen Ruhrgebietsbevölkerung aus, die z­ wischen Förderung und Überforderung oszillierte. Medien

249 Ingeborg Meyer-Wrekk: Sorgenkind bekommt wieder Farbe. Belebungsversuche in NRW ­zeitigen erste Erfolge, in: Vorwärts, 21. Dezember 1967. 250 Heinz-Gunter Kemmer: ­Theorie und Praxis, in: WAZ, 7. August 1968. 251 „90 Prozent des Lohns sind auch ganz schön …“ Wir sprachen mit Dr. Alois Degen, in: RuhrNachrichten, 28. März 1968. 252 Alois Degen: Druck auf Arbeitslose. Zwang zur Umschulung, in: WAZ, 16. März 1968. 253 Wilhelm Jungermann: Mobilität. Zaubermittel oder Schreckgespenst?, in: Ruhr-Nachrichten, 18. November 1967. 254 Ebd.

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waren aber nicht einfach nur Tummelplatz einer gebildeten Öffentlichkeit und nicht lediglich Abbild einer fixierten öffentlichen Meinung.255 Diese war einerseits fluide, andererseits Objekt intensiver Beobachtung und Thematisierung durch verschiedene Instanzen, die Mobilität als Kommunikationsproblem konzipierten und durch ein lineares Sender-Empfänger-Modell zu beeinflussen suchten – was schnell zu Problemen führte. Die Verheißungen der Umschulung schufen Raum für Enttäuschungen. Im Herbst des Jahres 1967 traf in der Redaktion der WAZ ein Leserbrief eines Essener Umschülers ein. Der Autor des Leserbriefs, Alfred Diel, reagierte mit seinem Beitrag auf einen Artikel, in dem das Landesarbeitsamt „über mangelnden Besuch bzw. Gebrauch der Umschulungs- bzw. Fortbildungslehrgänge“ geklagt hatte.256 Diese Ignoranz sei, so Diel, „kein Wunder“, da er als Umschüler selbst ein halbes Jahr nach erfolgreichem Abschluss seiner neuen Ausbildung immer noch keine Arbeit habe. Er schilderte seine Leidensgeschichte als kriegsversehrter Spätheimkehrer, der eine Umschulung vom Dreher zum Maschinenbautechniker absolviert hatte – und nun „der Dumme“ sei. Er finde keinen Arbeitsplatz als Techniker und müsse von einer wegen der Umschulungszeit geringen Arbeitslosenhilfe leben.257 Aus d ­ iesem konkreten sozialpolitischen Problem der Arbeitsvermittlung und der Bemessungsgrundlage der Arbeitslosenhilfe, das in der Darstellung auch ohne Hinweis auf den Mobilitätsbegriff auskam, wurde für das Landesarbeitsamt ein grundsätzliches Problem der Arbeitsmarktkommunikation und der Ruhrgebietsbevölkerung. Alois Degen tobte. Der Artikel trage, wie er in einem Pamphlet an die WAZ-Redaktion ausführte, „nicht dazu bei, die Bereitschaft zur beruflichen und geographischen Mobilität der Arbeitnehmer im Ruhrgebiet zu fördern“.258 Einem Schreiben des Arbeitsamts Essen hätte die Redaktion entnehmen können, dass Diels Bericht „unsachlich und sogar böswillig“ sei. Die Zeitung solle bei solchen Artikeln künftig Rücksprache mit Düsseldorf halten und sich der Mission, den Umstellungswillen zu fördern, anschließen. Der „Strukturwandel im Revier und die fortschreitende Automation“ hätten das „Problem der Umschulung“ erst ausgelöst. Diese erfordere „Bereitschaft, Mut und Ausdauer“. Anstatt solch abschreckende Leserbriefe abzudrucken, sollte die WAZ nach Degen der „große[n], soziale[n] Aufgabe der Presse“ nachkommen, „die von Arbeitslosigkeit betroffenen oder bedrohten Menschen immer wieder auf die Notwendigkeit einer 255 Vgl. Frank Bösch: Mediengeschichte. Vom asiatischen Buchdruck zum Fernsehen (Historische Einführungen 10), Frankfurt a. M. 2011, S. 7. 256 Alfred Diel: Mangelndes Interesse an Umschulung ist kein Wunder, in: WAZ, 10. Oktober 1967. 257 Ebd. 258 Alois Degen: Leserzuschrift des Herrn Alfred Diel, Essen. Ihre Ausgabe Nr. 236 vom 10. 10. 1967. Schreiben an die WAZ, 22. 10. 1967, in: LAV NRW-R, BR 1134/684, S. 1.

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beruflichen Umschulung hinzuweisen“.259 Degen nahm also implizit an, es gäbe eine prinzipielle Abneigung gegenüber Umschulung und Mobilität in der passiv beeinflussbaren Ruhrgebietsbevölkerung. Diese dürfe nur in Meinungsäußerungen adressiert werden, die der Mobilität förderlich s­ eien, um deren Ablehnung nicht zu bestärken. Für das Landesarbeitsamt gehörte eine Anthropologie der (Im-)Mobilität und die damit verbundene Mobilisierungshoffnung zu einer wünschenswerten öffentlichen Darstellung. Die Kritik an konkreten Regelungen hingegen wurde durch die Gleichsetzung von Umschulung und Mobilität und den Verweis auf eine allgemeine Mobilitätsschädigung abgewiegelt. Das Transformationsversprechen der Umschulung war zugleich hochgradig attraktiv und fragil. Anthropologien der Mobilität gestalteten sich also keineswegs homogen und unumstritten, sondern schufen Verhandlungsspielräume für alle Akteur:innen. Diese Aneignungen konnten – wie am Beispiel der Beruflichkeit gezeigt – genutzt oder – wie in ­diesem Beispiel – als mobilitätswidriges Verhalten interpretiert werden. Aufgrund der chronischen Unterbestimmtheit, ob Mobilität nun individuelle Eigenschaft, messbare räumliche (oder soziale) Bewegung oder Attribut einer ganzen Population darstellte, war der Winter 1967/68 in der Bundesrepublik der Winter der Mobilität. In d ­ iesem Zeitraum konnte über diesen Begriff mehr oder weniger jede Position begründet oder zurückgewiesen werden. Was jedoch alle Positionen einte, war die Vorstellung, dass das Ruhrgebiet als schwerindustrielle Raumkonfiguration eine exponierte Rolle in der „mobilen Gesellschaft“ einzunehmen hatte.260 Sei es als Experimentierfeld, als Problemraum oder als leuchtendes Beispiel. Die Wahrnehmung der Raumkonfiguration Ruhrgebiet wurde damit um 180 Grad verkehrt: Während die problematische und problematisierte Bevölkerung einstmals hochgradig mobil und durch Migration und Fluktuation geprägt gewesen sei, habe sich nun durch die „Volkwerdung“ des „Ruhrvolks“, die Sesshaftmachung der Arbeiterinnen und Arbeiter eine neue „Gemeinschaft“, ein neues „Ganzes“ gebildet. Durch den wissenspolitischen Deutungsrahmen des „Strukturwandels“ wurde diese Stabilität aber jetzt zum Problem: Es sei zu viel der Bindung, zu viel der Sesshaftigkeit, zu viel Unbeweglichkeit und Immobilität gerade in dieser Bevölkerung zu finden. Dementsprechend müsse Mobilität auf politischem Wege induziert werden, müsse zur Mobilität mobilisiert werden. Der Mobilitätsbegriff löste damit das Entballungsparadigma der konservativen Raumplanung und christsozialen Politik ab.261 Dieses orientierte sich noch, im Deutungsrahmen einer moralisch-holistischen Eingliederungsidee, an der „Vermassung“. Im 2 59 Ebd. 260 Vgl. Stephanie Münke: Die mobile Gesellschaft. Einführung in die Sozialstruktur der BRD, Stuttgart u. a. 1967. 261 Vgl. dazu Nonn: Ruhrbergbaukrise, S. 219 – 258.

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Vordergrund stand zum einen die Gefahr, dass die amorphe, unkontrollierbare und potentiell revolutionäre Masse die Republik stürzen könne. Zum anderen folgte diese Vorstellung der Angst, dass die Großstadt den vereinsamten, entfremdeten und isolierten „Massenmenschen“ erzeuge. In dem Moment, in dem die negative Fluktuation durch die positive Mobilität abgelöst wurde, avancierte diese Perspektive zum Problem: Wenn der Wille zur Umschulung einer besonderen Aufmerksamkeit bedurfte, dann bei dieser Bevölkerung, die seit dem Kaiserreich einer Politik der Sesshaftmachung ausgesetzt gewesen war. Wenn Umschulung also als Resultat von in der Bevölkerung und im Wesen des Individuums angelegten Mobilitätsdispositionen betrachtet wurde, boten sich verschiedene Wege an, die filigrane Grenze z­ wischen beeinflussbarer Mobilitätsdisposition und der staatlichen Verfügungsgewalt nicht offenstehender Immobilität – kurzum die Anpassungsfähigkeit des Industriearbeiters – auszuloten. Diese Vereindeutigungspraktiken umfassten das Reisen, den disziplinären Wissenstransfer und die Studienproduktion. Zirkulationswege der Mobilität in der Bundesrepublik

Die Reisen erfolgten in zwei Richtungen: Einerseits luden verschiedene Gruppen und Verbände internationale Experten dazu ein, Stellung zum Mobilitätsproblem zu nehmen. Andererseits reisten die mit der Ruhrgebietsbevölkerung befassten Verantwortlichen aller Couleur selbst. Einer der viel reisenden internationalen Experten, die aufgrund ihrer Zugehörigkeit zum Verwaltungskörper der EGKS beziehungsweise der EWG als neutraler denn nationale Deutungseliten angesehen wurden, war der Franzose Guido Fotré, Hauptverwaltungsrat in der Generaldirektion soziale Angelegenheiten der Kommission der europäischen Gemeinschaften und früherer Gewerkschaftsfunktionär in der lothringischen Stahlindustrie.262 In der transnationalen Umschulungsdebatte seit den 1950er Jahren und besonders in den 1960er Jahren wurde er zum Stichwortgeber verschiedener, sich gegenseitig belauernder Akteur:innen. Im Mai 1968 lud die Landesgruppe Nordrhein-Westfalen des Rationalisierungskuratoriums der Deutschen Wirtschaft (RKW) in Düsseldorf zum „Arbeitsgespräch Umschulung“.263 Die Organisation der Tagung war verbunden mit L ­ egitimitätsstreitigkeiten 262 Didier Georgakakis: The Institutionalisation of the European Administrative Corps as a Transnational Elite, in: Niilo Kauppi/Mikael Rask Madsen (Hg.): Transnational Power Elites. The New Professionals of Governance, Law and Security, Abingdon u. a. 2013, S. 36 – 64, hier S. 42. 263 RKW . Landesgruppe Nordrhein-Westfalen: Arbeitsgespräch Umschulung am 14. 5. 1968 in Düsseldorf. Zusammenfassung der gekürzten Diskussionsbeiträge, o. D. [Mai 1968], in: WWA , K2 Nr. 2261.

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im ökonomischen Feld. Das RKW, das sich in diesen Jahren als bedeutender wissenspolitischer Akteur etablierte, erlaubte sich den Fauxpas, die Industrie- und Handelskammern beziehungsweise die zuständige Kammervertretung NRW nicht, dafür aber Gewerkschaften, Arbeitsverwaltung und Arbeitgebervertreter einzuladen. ­Helmut Keunecke, der Hauptgeschäftsführer der IHK Dortmund, zeigte sich darüber erbost. Das RKW sei für die „Praxis der Umschulungsarbeit“ nicht zuständig.264 ­Keunecke erwirkte, dass die Handelskammern als Mitorganisatorinnen und er selbst als Konferenzleiter firmierte. In seiner Einführung entwarf er eine Perspektive, die die Bereitschaft zum Wandel und die „Fähigkeit zum Wechsel“ beschwor, die als überzeit­liche Konstanten nun unter dem „Modewort“ der Umschulung wieder aufträten.265 Er führte das Interesse für die Umschulung auf die Rezession zurück, insistierte aber darauf, dass Umschulung als „geräuschlose Umschulung“ in Betrieben immer schon stattgefunden habe.266 Unter dem Diktum der Elastizität verlangte er eine möglichst schnelle, möglichst komplette betriebliche Umschulung. Diese müsse aber immer Begabungshierarchien im Hinterkopf behalten, also im Idealfall dem Prinzip der Stufenausbildung folgen, da man sich im Klaren sein müsse, „daß nicht alle Umschüler die Facharbeiter- oder Kaufmannsgehilfenprüfung erreichen können oder erreichen wollen“.267 In Übereinstimmung mit dieser Demarkation formaler und inhaltlicher Zuständigkeit der Arbeitgeberorganisationen folgerte auch Rolf Weber von der Bundes­vereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA), Mobilität werde nicht dadurch erhöht, dass von der „Masse der Arbeitnehmer eine permanente Umstellungs- und Umschulungsbereitschaft“ verlangt werde.268 Wegen der „relativ geringe[n] Bereitschaft zur beruflichen Anpassung“ der Arbeiter sei Umschulung nur als „ultima ratio“ einzusetzen.269 Die Arbeitgeber- und Wirtschaftsvertreter legten also eine Skepsis an den Tag, fürchteten sie doch im Kontext der Auseinandersetzungen um das Berufsbildungsgesetz, in ihrer alleinigen Zuständigkeit für die Berufsbildung – in die sie Umschulung einschlossen – beschnitten zu werden.270 Demengegenüber nahm sich Otto Semmler, der Vertreter des DGB-Bundesvorstands, euphorisch aus und sah 264 Helmut Keunecke: Arbeitsgespräch der Landesgruppe NRW des RKW zum Thema ­„Aktuelle Fragen der Umschulung“ am 14. Mai 1968. Rundbrief an Kammervertretungen in NRW, 25. 4. 1968, in: ebd. 265 Ders.: Einführung. Arbeitsgespräch Umschulung am 14. 5. 1968 in Düsseldorf, 14. 5. 1968, in: ebd. 266 Ebd., S. 2. 267 Ebd., S. 3. 268 Rolf Weber: Referat. Aktuelle Fragen der beruflichen Anpassung. Arbeitsgespräch Umschulung am 14. 5. 1968 in Düsseldorf, 14. 5. 1968, in: ebd., S. 4. 269 Ebd., S. 4 f. 270 Siehe zu den Konflikten um das Berufsbildungsgesetz Oskar Anweiler: Bildungspolitik, in: Hockerts (Hg.): Geschichte, Bd. 5, S. 711 – 753, hier S. 733; Andresen: Radikalisierung, S. 109.

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die Chance für die Gewerkschaften: „Anpassungsfähigkeit und Mobilität“ ließen sich nur in einem System beruflicher Bildungsmaßnahmen erreichen.271 Dieses müsse durch den Ausbau der Erwachsenenbildung „die Umstellungsfähigkeit“ der Arbeitnehmer erhöhen und die Aufgabe erfüllen, „das ‚Lernen zu lernen‘“.272 Dazu müsse eine „Arbeitsmarktvorausschau“ Berufe ermitteln, die dann in überbetrieblichen Ausbildungsstätten und nach einer noch zu entwickelnden Methodologie der Erwachsenenausbildung vermittelt würden.273 Offenkundig zeichneten sich hier Konfliktlinien ­zwischen Kapital und Arbeit ab: Die Frage nach der Hoheit über die Umschulung, nach ihrer Organisation und ihrer Methode verknüpfte sich mit Fragen des Mobilitätspotentials und der Mobilitätsdisposition der Arbeitnehmer. Beiden Seiten hielt Alois Degen vor, es sei widersprüchlich, eine, wie von den Gewerkschaften gefordert, verkürzte und zugleich „möglichst qualifizierte und krisenfeste Ausbildung“ zu verlangen.274 Ein Bergmann, „der in Vergangenheit mit der Elektrizität vielleicht nur am Lichtschalter in Berührung gekommen ist, kann nicht in 6 Monaten zum qualifizierten Starkstromelektriker umgeschult werden!“ 275 Hier verschmolz also eine machtpolitische Zuständigkeitsfrage mit dem Problem der Grenzen der Machbarkeit. Dementsprechend wirkte Guido Fotré, der zu der Besprechung als internationaler Experte eingeladen worden war, als Vermittler und Katalysator eines Minimalkonsenses. In seinem Vortrag konstatierte er nicht nur, dass der Begriff des „Berufs“ die soziale und ökonomische Wirklichkeit nicht mehr hinreichend beschreibe. Er riet auch dazu, die Berufsbildung in Europa nicht an „futuristischen Berufsbildern“ zu orientieren und sie „nicht mehr auf den Inhalt“ auszurichten, „sondern mehr auf die Strukturierung der Persönlichkeit“.276 Mit Blick auf die Erwachsenenausbildung schlug Fotré ein zweistufiges Modell von Grund- und Spezialausbildung vor, bei dem der Fokus auf der ersten Stufe der allgemeinen Ausbildung liegen müsse: Diese erste Phase fordere „eine intellektuelle und auch ökonomische Mobilmachung auf möglichst breiter Basis“. Die eigentliche Berufsausbildung könne dann kürzer ausfallen, da „bereits die intellektuelle, technische, geistige und psychologische Mobilität“ hergestellt sei.277 Beide Diagnosen Fotrés, die Erosion der Beruflichkeit

271 Otto Semmler: Referat (Kurzfassung). Arbeitsgespräch Umschulung am 14. 5. 1968 in Düsseldorf, 14. 5. 1968, in: ebd., S. 1. 272 Ebd., S. 2. 273 Ebd., S. 3 – 6, Zit. S. 3. 274 Alois Degen: Referat (Kurzfassung). Arbeitsgespräch Umschulung am 14. 5. 1968 in Düsseldorf, 14. 5. 1968, in: ebd., S. 4. 275 Ebd. 276 RKW-NRW: Arbeitsgespräch, S. 9. 277 Ebd.

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und die Notwendigkeit einer die Mobilität fördernden Grundbildung, waren in dieser Formel – und auch in späteren, fast schon floskelhaft kondensierten Äußerungen 278 – weit genug von den kleinteiligen Grabenkämpfen der Tarifparteien entfernt, um auf flügelübergreifende Zustimmung zu treffen. Wer hätte gegen eine „Ausbildung für den Wandel“ etwas einzuwenden gehabt?279 In der Bundesrepublik kristallisierte sich die Auseinandersetzung um die Mobilitätsfähigkeit des Umschülers am wissenspolitischen Prisma des Ruhrgebiets aus. Für die Gewerkschaften war Fotré ebenfalls eine willkommene Referenz. Als die IGM im Mai 1967 ihre „Kommission Umschulung, berufliche Fortbildung und Weiterbildung“ ins Leben rief, um in der Auseinandersetzung um Umschulungsmaßnahmen eine eigene Position zu entwickeln, zeichnete sich die Situation der Kommission durch ein doppeltes Wissensbedürfnis aus: Einerseits bestand ein Bedürfnis nach Information über den Umschüler, andererseits ein Bedürfnis nach Information über Möglichkeiten und Probleme der Umschulung insgesamt. Die Kommission, der mit Horst Lemke und Otto Semmler zwei hochrangige Funktionäre der IGM beziehungsweise des DGB-Bundesvorstands vorsaßen, betonte in ihrer ersten Sitzung, im Bereich der Umschulung solle durch die Arbeitsämter ein Angebot bereitgestellt werden, „welches den individuellen Eignungen und Neigungen der betroffenen Arbeitnehmer entspricht.“ 280 Diese „Eignungen und Neigungen“ sollten nach den Forderungen der IGM durch umfassende Beratungsgespräche ermittelt werden: Festzustellen ­seien die „geographische Mobilität“, das heißt die Lebensumstände des Umschülers, die materiellen Bedingungen für einen Wohnortwechsel, die körperliche Eignung mit „praktischen und theoretischen Fähigkeiten“, das Qualifikationsniveau und „Hobbies“ sowie bisherige Tätigkeiten.281 Darüber hinaus könne auf Nachfrage „ein psychotechnischer Test angewandt werden.“ 282 Dieser Erfassung des Individuums sollten dann keine „starr[en]“ Programme, sondern Maßnahmen „entsprechend den individuellen Voraussetzungen der Umzuschulenden“ folgen, die – in Übereinstimmung mit dem zeitgenössischen Paradigma der rationalisierten beruflichen Qualifikation – einen geringen „Anteil der Fachtheorie“ beinhalten und „moderne[] Methoden der Erwachsenenpädagogik“ wie Gruppenarbeit, „Selbstarbeit“ und programmiertes Lernen anwenden würden.283

278 Guido Fotré: Formation et emploi dans la société industrielle. Un impératif, former au changement, in: Reflets. Perspectives de la vie économique 13 (1974), 1, S. 71 – 81. 279 So der Untertitel „former au changement“ bei Fotré: Formation. 280 Sitzung der Kommission „Umschulung, berufliche Fortbildung und Weiterbildung“ am 30. 10. 1967 in Berlin, Protokoll, in: Archiv der sozialen Demokratie (AdsD), Bonn, 5/IGMA210102, S. 1. 281 Ebd., S. 2. 282 Ebd. 283 Ebd., S. 3.

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Dieser Notwendigkeit, das Individuum zu erkennen, entsprach aber das Gebot, den für die Individuen jeweils relevanten regionalen Arbeitsmarkt mittels „Arbeitsmarktforschung“ zu erschließen.284 Untersuchungen zur Umschulung lagen zu ­diesem Zeitpunkt allerdings nur bei der EGKS vor. So griff die IGM in ihrer Analyse der Umschulungsproblematik auf einen Bericht Guido Fotrés zurück, den dieser im März 1967 für eine Konferenz in Luxemburg angefertigt hatte.285 Diese Studie zirkulierte in den Folgejahren ­zwischen den Kommissionen der EGKS sowie der EWG. Ebenso behalf sich die westdeutsche IGBE mit der Problemdeutung Fotrés.286 In dieser Analyse skizzierte Fotré die Psyche des defizitären Subjekts: Es handele sich bei den Umschülern in Frankreich, Belgien, den Niederlanden, Italien und der Bundesrepublik um ältere Facharbeiter, „deren Qualifikation mehr auf der Berufserfahrung aufbaut, als auf einer abgeschlossenen systematischen Berufsausbildung.“ 287 Das „Niveau ihrer Allgemeinbildung“ gelte „als relativ schwach“, da ihre Schulzeit weit zurückliege und Fachvokabular vergessen worden sei – „was ihnen die Erlernung von theoretischen Kenntnissen besonders erschwert.“ Dieses „‚Handicap‘“ – eine Formulierung, die in der Übersetzung den deutschen Begriff der Behinderung vermied – werde lediglich durch „Ernst, Eifer und […] Willen“ ausgeglichen.288 Insbesondere die „praktische“, das heißt körperliche, Dimension ihrer Arbeitstätigkeit avancierte damit zum großen Problem und zum Ansatzpunkt von Umschulungsmaßnahmen: Aufgrund ihrer Berufserfahrung würden die Umschüler neue Tätigkeiten dann angemessen erlernen können, wenn diese „keine allzugrosse Genauigkeit und Feinheit“ verlangen würden.289 Bei „älteren Umschülern“ ­seien dagegen „erhebliche Bemühungen“ nötig. Dies gelte besonders bei an- und ungelernten Arbeitern, wenn sich die Berufserfahrung „auf ein ­niedriges Qualifikationsniveau“ stütze und „in einem technisch wenig entwickelten Unternehmen gesammelt worden“ sei.290 Dieser Anspielung auf den Bergbau und die Schwerindustrie folgte eine explizite und ausführliche Darstellung der „psycho-soziologischen Faktoren“, die die Besonderheit dieser Arbeitssubjektivität auszeichneten. Fotrés Charakterisierung changierte konstant z­ wischen der Festschreibung von Defizienz einerseits und der Verheißung 284 Ebd., S. 1. 285 Guido Fotré: Die berufliche Umschulung der Arbeitnehmer im Rahmen der Umstellung und der Wiedereinpassung. Bericht der EGKS über eine Studientagung in Luxemburg am 16. und 17. März 1967 über die Veränderungen in der Struktur und Ausbildung der Arbeitskräfte der Eisen- und Stahlindustrie, Typoskript, März 1967, in: ebd. 286 Vgl. die Ausfertigung des Typoskripts in: AHGR, IGBE-Archiv, Nr. 1717. 287 Fotré: Umschulung, S. 9. 288 Ebd. 289 Ebd., S. 9 f. 290 Ebd., S. 10.

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der Veränderbarkeit andererseits. Über die alleinige Betrachtung der Bildbarkeit ging seine Perspektive aber insofern hinaus, als er den erwachsenen Arbeiter in sämtlichen Lebensbereichen problematisierte. Damit verband er moralisch-holistische mit wissenspolitischen Vereindeutigungspraktiken. Erstens waren, so Fotré, die Umschüler Erwachsene „mit einer bereits abgerundeten Persönlichkeit“ und mit weitreichenden Verantwortungen. Der Veränderungsspielraum sei klein.291 Zweitens s­eien sie eine „besondere Lerngruppe“, die sich von Jugendlichen durch „Einstellung“ und „Motive“ unterscheide.292 Drittens sei ihre Ausbildungsfähigkeit unsicher und durch das Alter reduziert. Ausbildung sei dementsprechend aufwändiger. Zuletzt – hier schloss sich Fotré den Mobilitätsanthropologien der Montanregionen an – stelle die schwerindustrielle Lebenswelt ein grundlegendes Problem für die Umschulung und die Mobilisierung der Fähigkeiten dar. Berg- und Hüttenarbeiter ­seien „stark geprägt von einer gewissen Berufstradition, die sie mit ihrem Beruf und ihrem Unternehmen verbindet“. Abhängigkeitsverhältnisse und ein ganzes „gesellschaftlich-berufliche[s] System“ verstärkten diese Verwurzelung, die sich in Facetten wie „Wohnung, Transport, soziale Sicherheit, soziale Dienste, Verbände, usw.“ zeige. Wenn Anpassung über eine kurze Umschulung oder einen Arbeitsplatzwechsel hinausgehe, werde der Widerstand gegen die Veränderung noch verstärkt: Umstellung bedeute ebenfalls „Aenderung des Lebensstandards und der Lebensgewohnheiten, Aenderung des beruflichen und gesellschaftlichen Milieus, Aufgabe der erworbenen Sicherheit“.293 Sie betraf also den Menschen und sein Wesen in Gänze. An d ­ iesem Beispiel zeigt sich exemplarisch, wie der wissenspolitische Qualifizierungs- und Mobilisierungsimperativ über den Gegensatz von Mobilität und Immobilität, von Anpassungsfähigkeit und -unfähigkeit, von körperlicher und nichtkörperlicher Arbeit in der Frage nach der Ausbildungsfähigkeit beziehungsweise der Charakteristika des „älteren Arbeitnehmers“ auf einem transnationalen Austausch beruhte. Dieses so zirkulierende Mobilitätswissen verband sich wiederum mit anderen Bedeutungsschichten und kristallisierte sich so um die Bevölkerung des Ruhrgebiets. Gleichzeitig belegt das Beispiel Fotrés, dass ­dieses Kategoriensystem von seiner Offenheit profitierte: Sowohl für die Arbeitgeberverbände und die Kammern als auch für die Gewerkschaften ließen sich Fotrés Erkenntnisse heranziehen. Doch diese europäische Wahrnehmungsdimension der Umschulung und die Suche nach der Antwort auf die Frage nach der Bildbarkeit des Industriearbeiters beschränkten sich nicht auf die reine Lektüre, wie sich an der weiteren Arbeit der Umschulungskommission der IGM zeigt. Die IGM nutzte den Rückgriff auf den europäischen Vergleich, um ihr Ziel durchzusetzen: Staatliche und überbetriebliche 2 91 Ebd., S. 10 f. 292 Ebd., S. 11. 293 Ebd.

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Umschulungszentren sollten die Umschulungspraxis in disparaten und einzelbetrieblichen Maßnahmen unter Aufsicht der Industrie- und Handelskammern ablösen. Als besonders hilfreich für die Arbeit der IGM erwies sich die europäische Typologie, die Fotré in seinem Vortrag erarbeitet hatte: Auf der einen Seite stünden die „ständige[n] und spezifische[n] Systeme“ beruflicher Umschulung, wie sie sich in Belgien, in Frankreich und in Italien finden ließen und die auf eine „autonome[] Struktur der beruflichen Erwachsenenbildung“ zurückgreifen könnten.294 Auf der anderen Seite verortete Fotré die Bundesrepublik und die Niederlande, die die Umschulung unter „Verwendung der bestehenden Ausbildungsmittel“ organisieren würden. Als ein Merkmal, das in den folgenden Jahren zum zentralen Kritikpunkt am westdeutschen Umschulungssystem avancierte, bestimmte er, dass in der Umschulung „Formeln angewandt werden, die in diesen Ländern für die Ausbildung der Jugendlichen gelten“.295 Darüber hinaus gewann das Paradigma einer Proportionalisierung der Umschulung, also die Ausrichtung von Bildungsmaßnahmen an einer individuell gedachten Leistungsdisposition, seine Legitimation durch die europäische Dimension. Der Blick ins westeuropäische Ausland diente der IGM für strategische Zwecke. Die Wahrnehmung von Mobilität und Umschulung, die sich in der Frankfurter Zentrale ausbreitete, war mit einer Krisensemantik gespickt. Der Strukturwandel erfordere die Umschulung „tausender Arbeitnehmer“. Es herrsche eine „echte[] Notlage“, ein „Umschulungsnotstand“.296 Da die Arbeitsverwaltung Übergangslösungen habe schaffen müssen, profitierten die Betriebe am meisten, ohne dass ein Einfluss des öffentlichen Geldgebers auf die Maßnahmen gewährleistet sei.297 Die Situation nahm sich drastisch aus: Es bestehe die Gefahr, dass „‚die Wirtschaft‘ nun auch das ‚Ausbildungsmonopol für Erwachsene‘“ erhalte.298 Durch die öffentliche Förderung verdrängten die Erwachsenen die Jugendlichen; die betrieblichen Ausbilder ­seien nicht geeignet; Umschulung habe aufgrund der „intellektuellen und manuellen Eignung und Neigung“ zu erfolgen und nicht wegen öffentlicher Gelder – die Maßnahmen könnten also „zur Immobilität“ führen.299 Beispiele und Erfahrungen, so schloss der Bericht, fehlten in der Bundesrepublik. Frankreich dagegen könne als Beispiel und Vorbild dienen.300

2 94 Fotré: Umschulung, S. 12 f. 295 Ebd., S. 13. 296 Anmerkungen zu den Maßnahmen und Einrichtungen für die berufliche Fortbildung, Weiterbildung und Umschulung in der Bundesrepublik. Aktenvermerk der Abteilung Berufsbildung beim IG Metall-Vorstand, ca. 1967, in: AdsD 5/IGMA210102, S. 1 und 1 – 3. 297 Ebd., S. 2. 298 Ebd. 299 Ebd., S. 4. 300 Ebd., S. 5.

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Eine der ersten Handlungen der Umschulungskommission der IGM, um der Arbeitgeberseite die Deutungshoheit über die Berufsausbildung Erwachsener streitig zu machen, bestand darin, Anfang Januar 1968 nicht das französische, sondern das belgische Centre National de Formation des Moniteurs et d’Études Pédagogiques in Brüssel zu besichtigen.301 Die Lehren, die die Kommission aus Brüssel mitbrachte und die ­später in eine Broschüre einflossen,302 bestanden zum einen in einer Begeisterung für die Geschwindigkeit der Umschulung. Das Zentrum – von der IGM schon als „Zentrum für die beschleunigte Ausbildung“ tituliert – biete 25 Berufe an. Darunter ­seien keine Anlernberufe, sondern „Grundberufe“, deren Abschluss innerhalb von sechs Monaten erreicht werden könne.303 Der Unterricht sei einem Schulbesuch von drei Jahren gleichgestellt, wenn auch „theoretisch minderwertig“.304 Darüber hinaus beabsichtige das Zentrum, eine Individualisierung der Zeit während der Umschulung einzuführen. Geplant sei, dass die Teilnehmer eines Kurses zunächst drei Monate gemeinsam unterrichtet und danach in Untergruppen aufgeteilt werden sollten, bei denen „die Gruppe A 6 Monate, Gruppe B 6 1/2 und Gruppe c [!] evtl. 7 Monate Ausbildungszeit“ erhalte.305 Die IGM-Funktionäre konnten sich der Faszination für beschleunigte und individualisierte Ausbildung nicht erwehren. Zum anderen legten die Besucher ein großes Interesse für die Leistungs- und Eignungsbeurteilung an den Tag. Die Teilnehmer stünden während der ersten zwei Wochen in dem Zentrum unter Beobachtung der „Instrukteure“. Diese hätten festzustellen, „ob die Wahl des Umschulungsberufes richtig getroffen ist.“ 306 Daneben führte ein Notizzettel noch weitere Kriterien auf: Medizinische Untersuchungen, eine psychotechnische Prüfung, das Alter sowie der „familiäre Zustand“ gingen der „besondere[n] Beobachtung und Eignungsfeststellung“ voraus.307 Dies lasen die Metallgewerkschafter aber keineswegs als Überwachung und Bedrohung, ebenso wie sie die Beschleunigung der Erwachsenenausbildung nicht als Gängelung interpretierten. Nichtsdestotrotz äußerte auch ein späterer Bericht durchaus (interne) Kritik. Er bezog sich allerdings weniger auf das Brüsseler Zentrum selbst als auf die 301 V. Martin: Abschrift eines Schreibens des Direktors des Centre National de Formation des Moniteurs et d’Etudes Pédagogiques in Brüssel an die IG Metall, Übersetzung, 13. 12. 1967, in: AdsD 5/IGMA210153. 302 Vgl. IGM : Berufliche Bildung Erwachsener. Forderungen und Vorschläge. Broschüre, o. D. [ca. 1968], in: AdsD 5/IGMA210102. 303 Besuch im Nationalen Zentrum für die beschleunigte Ausbildung Erwachsener am 25. 1. 1968 in Brüssel. Anonymer Bericht, o. D. [Januar 1968], in: AdsD 5/IGMA210153, S. 2. 304 Ebd., S. 4. 305 Ebd., S. 5. 306 Ebd., S. 3. 307 Handschriftliche Notizen zum Besuch des Umschulungszentrums in Brüssel am 25. 1. 1968, o. D. [Januar 1968], in: AdsD 5/IGMA210153, S. 2.

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Erwachsenen. In der Darstellung wurde moniert, dass „nur arbeitslose Arbeiter an Umschulungsmaßnahmen“ teilnehmen könnten.308 Da Arbeitslose „nicht immer die besten Fachkräfte“ ­seien, ziehe das die unliebsame Folge nach sich, dass der belgische Staat „nicht die besten, sondern die schlechtesten Kräfte“ umschule.309 Auch die IGM konnte sich also dem Traum einer anpassenden Wissenspolitik nicht entziehen. Umschulung sollte der Eignung und Neigung entsprechen sowie rasch und rational(isiert) erfolgen – auch wenn die Metallgewerkschaft diese Auffassungen derart unverhohlen nicht öffentlich äußerte. Die Eindrücke, die die IGM-Kommission in Brüssel sammelte, verraten selbstredend wenig über den Aufbau und die Struktur der Umschulung in Belgien.310 Sie zeigen vielmehr, wie der internationale Vergleich zur argumentativen Munition im Streit um die Deutungshoheit über Umschulung, Mobilität und Erwachsenenausbildung heranreifte. Die Metallgewerkschafter lasen das belgische und französische System durch die Brille ihrer eigenen Interessen, um das Gesehene in den Deutungskämpfen um die Berufsbildung zu verwenden. Die Broschüre, die nach einer rund sechsmonatigen Diskussion erschien, machte diese Anverwandlung deutlich. Ausgehend von einer ausgreifenden Beschleunigungs- und Wandelrhetorik verlangte die Druckschrift – wie alle zeitgenössischen Akteur:innen in der Berufsbildung – eine Reform der Berufsausbildung: die „Beseitigung aller Bildungsvorrechte“.311 Die „jüngsten Ereignisse“ – gemeint war wohl die Entwicklung im Ruhrgebiet, die IGM -Funktionäre in diesen Jahren wie eine Monstranz vor sich hertrugen, um den Mobilitäts- und Qualifizierungsimperativ zu authentifizieren 312 – hätten die „Einseitigkeit und Unzulänglichkeit“ des Berufsausbildungssystems und das Versagen der Kammern bewiesen.313 Den Wirtschaftsverbänden schrieb die Industriegewerkschaft Vorstellungen der „informale[n] Weiterbildung“ im betrieblichen Rahmen zu.314 308 Anonymer Bericht über den Besuch im Ausbildungszentrum in Brüssel am 25. 1. 1968, 22. 1. 1969, in: AdsD 5/IGMA210102, S. 2. 309 Ebd. 310 Vgl. zu dieser Prämisse der Transfer- und Verflechtungsgeschichte hier nur Angelika Epple/Walter Erhart: Die Welt beobachten – Praktiken des Vergleichens, in: dies. (Hg.): Die Welt b­ eobachten – Praktiken des Vergleichens, Frankfurt a. M. u. a. 2015, S. 7 – 33. 311 IGM: Bildung, S. 3. 312 Das IGM-Vorstandsmitglied Georg Benz sprach z. B. auf einer Tagung im Mai 1968 davon, dass die „Strukturveränderungen“ im Ruhrgebiet den „Zwang zur ‚beruflichen Umstellung‘ besonders deutlich hervortreten lassen.“ Vgl. Georg Benz: Forderungen und Vorschläge der IG Metall für die „Berufliche Bildung Erwachsener“. Vortrag auf der Tagung der IGM im Mai 1968 in Worms, Mai 1968, in: AdsD 5/IGMA210102, S. 2. 313 IGM: Bildung, S. 3. 314 Ebd., S. 13.

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Fortbildung trage zwar zur „Mobilität und Flexibilität“ bei, müsse aber die Form „organisierte[r] Lernprozesse“ annehmen.315 Ausführliche Tabellen zur Situation in Frankreich, Belgien und den Niederlanden sollten demgegenüber die Möglichkeit einer zentralstaatlich organisierten und beschleunigten Umschulung belegen. Frankreich schaffe es schließlich, in 180 Zentren innerhalb von fünf bis zwölf Monaten jährlich 40.000 Erwachsene umzuschulen.316 Das Beschleunigungsargument teilten auch Wirtschaftsvertreter, verbanden damit aber keine Forderung nach anerkannten Abschlüssen, die laut IGM erst noch zu schaffen waren. Darüber hinaus hob die Gewerkschaft die Besonderheit des Erwachsenen hervor. Dieser leide zwar unter einem veralteten Wissen, verfüge aber über „[i]nformale Bildung“ sowie „Arbeitserfahrungen, Arbeitstugenden usw.“ Diese Eigenschaften verböten es, ihn gemeinsam mit Jugendlichen auszubilden.317 Den internationalen Vergleich und die Besonderung des Erwachsenen für eine Umschulung „‚in kürzester Frist‘“ 318 nutzte die IGM also keineswegs als Selbstzweck: Reisen diente zunächst dazu, über das Argument des Vergleichs und der reduktionistischen Vereindeutigung qua Machbarkeit, Deutungsansprüche über die Erwachsenenausbildung gegenüber Kammern und Wirtschaftsvertretern durchzusetzen. Die Anerkennung der Andersartigkeit Erwachsener, die beschleunigte Ausbildung und eine forcierte Eignungsdiagnostik sollten Mobilität und Flexibilität herbeiführen und das veraltete System einer als willkürlich und ineffizient geltenden Ausbildung unter betrieblichen Auspizien ablösen. Allerdings machten sich nicht nur Gewerkschaftsfunktionäre auf Reisen. Auch die evangelische und die katholische K ­ irche – insbesondere der Bischof des 1958 ins Leben gerufenen Ruhrbistums, Franz Hengsbach, und das Sozialamt der Evangelischen K ­ irche von Westfalen – beteiligten sich an dem Streit um die Anthropologie und die Mobilität des Industriearbeiters. Besonders Hengsbach nutzte die offene Situation, um die ­Kirche im sozialpolitischen Vakuum der Mobilitätsfrage als prominenten Akteur zu positionieren.319 Mit ­diesem Fall sind zwei maßgebliche Argumente verbunden: Zunächst geht es darum, bislang marginale Akteurinnen wie die ­Kirchen in eine Wissensgeschichte des Strukturwandels einzubeziehen.320 Dieser Fall ist darüber hinaus auch

3 15 Ebd. 316 Ebd., S. 19 – 22, zu Frankreich S. 20. 317 Ebd., S. 9 und 8. 318 Ebd., S. 8. 319 Vgl. zu Hengsbach und dem Ruhrbistum, insbesondere zur Sozialpolitik Franziskus Siepmann: Mythos Ruhrbistum: Identitätsfindung, Innovation und Erstarrung in der Diözese Essen von 1958 – 1970, Essen 2017, S. 450 – 503. 320 Vgl. die ähnliche Intention bei Hordt: Kumpel, S. 251 – 262.

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auf ­inhaltlicher Seite hochgradig aussagekräftig: Die beiden ­Kirchen setzten maßgebliche Impulse, die die Kehrseite des Mobilitäts- und Umschulungsdiskurses akzentuierten. Hengsbach sowie Peter Heyde und Dina Wermes von der Evangelischen ­Kirche von Westfalen – sprich: die K ­ irchen als wissenspolitische Akteurinnen – schufen mit dem älteren, anpassungsunfähigen Arbeitnehmer eine Sozialfigur, die in den folgenden Jahren zu einem wissenspolitischen Interventionsfeld avancierte. Dieser Kristallisationsprozess begann in der niederländischen Stadt Arnheim, rund 100 Kilometer nordwestlich des Ruhrgebiets. Im Winter des Jahres 1967 machte sich ein Tross, bestehend aus dem Bischof und einigen Mitarbeitern, Beamten des LAA NRW und Dina Wermes, auf, den Werkplaats Presikhaaf zu besichtigen.321 Es handelte sich bei ­diesem Arnheimer Betrieb, wie Hengsbach in seiner Einladung ausführte, um eine der „vorbildlichen Einrichtungen in Holland“, die als Muster für die „Einrichtung von beschützenden Werkstätten für ältere Arbeitslose“ dienen könne.322 Mit ­diesem Vorbild bezog sich Hengsbach auf eine von rund 200 Werkstätten in den Niederlanden, die über die Gemeentelijke Sociale Werksvoorzieningsregeling voor Handarbeiders, die „gemeindliche [recte: kommunale] soziale Arbeitsbeschaffungsregelung für Handarbeiter“, kurz „GSW-Regelung“, des niederländischen Sozialministeriums finanziert wurde, wie eine Informationsbroschüre für Interessierte aus dem deutschsprachigen Nachbarland erklärte.323 Die sozialen Werkstätten gingen auf das Jahr 1949 zurück.324 Den Impetus, ­solche Werkstätten einzurichten, sah das niederländische Ministerium in der Erfahrung, dass nicht alle Personen am Arbeitsprozess teilhaben könnten. Diese Unzulänglichkeit könne, so die Informationsbroschüre, an der regionalen wirtschaftlichen Situation liegen. Bei genauerem Hinsehen entdecke der aufmerksame Beobachter allerdings, dass in Wirklichkeit „Behinderungen persönlicher Art“ vorlägen. Die GSW -Regelung ziele also darauf ab, „handarbeitsfähig[e]“ Personen zu beschäftigen, „die aber durch hauptsächlich körperliche oder geistige Behinderungen nicht oder vorläufig nicht in den normalen Arbeitsprozess eingegliedert werden können“. Über eine „angepasste Arbeit“ sollten die beschäftigten Handarbeiter ihre „Arbeitsfähigkeit“ entwickeln, um im Idealfall wieder in privatwirtschaftliche Arbeitsverhältnisse einzutreten.325 Minutiös regelte die niederländische

321 Franz Hengsbach: Schreiben des Bischöflichen Seelsorgeamts Essen an Peter Heyde, Sozialamt der Evangelischen K ­ irche von Westfalen, Villigst, 17. 11. 1967, in: Bistumsarchiv Essen, GVB, Bd. 1. 322 Ebd. 323 Ministerie van sociale zaken en volksgezondheid: Die gemeindliche soziale Arbeitsbeschaffungsregelung für Handarbeiter (=G. S. W.-Regelung), o. D. [ca. 1965], in: ebd. 324 Ebd., S. 1. 325 Ebd.

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Arbeitsverwaltung die Zulassung zur Arbeitsförderung durch die GSW-Richt­linie: Es müsse sich um arbeitssuchende, aber für eine Vermittlung nicht geeignete Arbeitnehmer – s­olche adressierte die Maßnahme vornehmlich – handeln, die zwar „behindert“ ­seien, aber gleichzeitig „geistig und körperlich imstande […], wertschaffende Arbeit zu leisten.“ 326 Damit einher ging eine Definition der „wertschaffenden Arbeit“: Bei einer Arbeitsleistung, „die mindestens ein Drittel einer billigen Mindestleistung im normalen Arbeitsprozeß“ betrage, sei der Arbeitnehmer der Kategorie A zuzuteilen. Erreiche er ­dieses Niveau nicht, ließe aber erwarten, „dass er durch Übung diese Leistung wird erreichen können“, komme er für die Kategorie B in Frage.327 Auf diesen beiden Einteilungen basierte eine verästelte körper- und wissenspolitische Hierarchie zur Systematisierung und Proportionalisierung von Arbeit und Behinderung. Kategorie A unterteilte sich wiederum in vier Gruppen. Das niederländische Arbeitsministerium teilte diese Gruppen leistungsabhängig und nach einem Grundstundenlohn mit einem zusätzlichen Leistungslohn auf, worin Gruppe A (I) den niedrigsten tarifvertraglichen Lohn erhielt, Gruppe A (II ) einen 5 Prozent höheren Grundstundenlohn etc.328 Gruppe B wurde prinzipiell nur ein Grundstundenlohn in Höhe von 75 bis 90 Prozent des Lohns von Gruppe A (I) zugesprochen, wobei der Lohn aber individuell und anhand von fünf Kategorien festgelegt wurde: der „Quantität“ und „Qualität“ der Arbeit, der „Hingebung“, „Haltung“ und „Sorge“ bei der Arbeit.329 Diese individuelle und die Arbeitsmotivation vermeintlich fördernde Lohnfestsetzung benötige einen umfassenden, „ununterbrochen[en] und systematisch[en]“ Beobachtungsund Observierungsapparat. Es war vorgesehen, dass zwei Personen jeden Arbeiter in der Gruppe B beobachteten, um „die Möglichkeit einer Subjektivität in der Wertung auszuschließen“.330 Diese Normalisierungsträume verquickten Rehabilitations- und Bildbarkeitsvorstellungen entsprechend dem abgestuften Kategorisierungssystem: Jüngere Arbeitnehmer sollten in den Stand versetzt werden, „Bildungs- und Fachunterricht zu genießen“, ebenso wie die „Förderung der Arbeitsfähigkeit der Arbeitnehmer“ und die „Förderung ihrer Anpassung an die Arbeitssituation“ grundsätzlich „Aufklärungs- und/oder Bildungsaktivitäten“ benötige.331 Diese ­seien während der Arbeitszeit vorgesehen. 3 26 Ebd., S. 2 f. 327 Ebd., S. 3. 328 Siehe die Beschreibung des Einteilungssystems, in: ebd., S. 3 f. 329 Ebd. 330 Ministerie van sociale zaken en volksgezondheid: Die G. S. W.-Lohnregelung, o. D. [ca. 1965], in: Bistumsarchiv Essen, GVB, Bd. 1, S. 2 f. 331 Ministerie van sociale zaken en volksgezondheid: Arbeitsbeschaffungsregelung, S. 4.

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Dem Besuch der deutschen Delegation ging ein Gutachten des LAA NRW voran, in dem überprüft wurde, inwieweit das niederländische Werkstattsystem für die Bundesrepublik sowie das Land ein Vorbild darstellen könnte. Das Gutachten stellte das Landesarbeitsamt dem Essener Bistum im Vorfeld der Reise zur Verfügung.332 Der Bericht erstattende Beamte beschränkte sich allerdings darauf, die Broschüren aus den Niederlanden zu paraphrasieren – mit einer Ausnahme: Er überführte die Darstellung des niederländischen Werkstattsystems in den neuen Kontext des „Strukturwandels“. So veränderte er den Nachkriegskonnex aus Kriegsversehrtheit und Rehabilitationswissenschaft, der die Sprache der niederländischen Broschüren prägte.333 In der zweiten Hälfte der 1960er Jahre ­seien es die „Rationalisierung der Arbeitsabläufe“, die „mechanische[n] Fertigungsmethoden“ und die „Automatisierung ganzer Fertigungszweige“, die zum „Wegfall vieler Arbeitsplätze“ führten.334 „Hart“ treffe diese Entwicklung Arbeitnehmer, „die sich nicht schnell genug und überhaupt nicht umstellen und anpassen können“. Hinsichtlich der Mobilitätsfähigkeit unterstrich der Autor, dass es sich um Arbeitnehmer handele, „die für eine berufliche Umschulung zu alt und für die Altersrente zu jung sind“. Diese würden einen blinden Fleck in der Arbeitsverwaltung darstellen. Weder ökonomisch noch sozial sei Dauerarbeitslosigkeit zu verantworten. Das niederländische Werkstättensystem biete hier „ein Muster“ dafür, wie die deutsche Arbeitsverwaltung „ergänzende Lösungen“ für diese aus einer von „Rationalisierung, Automatisierung und scharfem Kostendenken“ geprägten Wirtschaft herausfallenden Individuen finden könne.335 Die vom Krieg herrührende Vorstellung einer defizitären männlichen Körperlichkeit, der Verletzung und des Makels 336 erwies sich als hochgradig anschlussfähig an Vorstellungen einer begrenzten Bildungsfähigkeit von Industriearbeitern, die das LAA NRW durch das Alter gegeben sah. Die Kategorien Alter und Behinderung interferierten.

332 LAA NRW: Soziale Arbeitsbeschaffung in den Niederlanden (verkürzte zusammenfassende Darstellung der niederländischen gemeindlichen sozialen Arbeitsbeschaffungsregelungen). Aktenvermerk des Referat Ic, Mai 1967, in: Bistumsarchiv Essen, GVB, Bd. 1. 333 Vgl. Elsbeth Bösl: Politiken der Normalisierung. Zur Geschichte der Behindertenpolitik in der Bundesrepublik Deutschland (Disability Studies 4), Bielefeld 2009, S. 243 – 263; Sabine Schleiermacher: Restauration von Männlichkeit? Zum Umgang mit Kriegsbeschädigten in der frühen Bundesrepublik, in: Bernhard Gotto/Elke Seefried (Hg.): Männer mit „Makel“. Männlichkeiten und gesellschaftlicher Wandel in der frühen Bundesrepublik (Zeitgeschichte im Gespräch 25), Berlin 2017, S. 24 – 36; Noyan Dinçkal: Remaskulinisierung durch Technik? Rehabilitation und Kriegsbeschädigung in der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft, in: ebd., S. 37 – 48. 334 LAA NRW: Arbeitsbeschaffung, S. 4. Hervorhebung im Original. 335 Ebd. Hervorhebung im Original. 336 Vgl. Gotto/Seefried (Hg.): Männer.

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In die Niederlande reisten aber nicht nur K ­ irchen- und Arbeitsamtsvertreter. Auch die Bergbaugewerkschaft sah sich nur einen Monat nach der ersten ArnheimReise genötigt, ihren Berufsbildungsreferenten Bernhard Brinkert gemeinsam mit einem Vertreter des UVR in das westliche Nachbarland zu entsenden. Um sich vorzubereiten, ­nutzen auch sie den bereits erwähnten Bericht des Landesarbeitsamts.337 Das Subjekt, an dem sich die Interferenz von Alter, Klasse und Behinderung in den Augen der Zeitgenossen auskristallisierte, war der alternde Bergarbeiter. Die Problematisierung, die sich durch den Blick nach Westen bot, erwies sich als besonders wirkmächtig. Die dahinterliegende Problematik subsumierte der zuständige Arbeitsamtsbeamte Paul Wollek mit Blick auf das Ruhrgebiet in einem publizierten Reisebericht: „Wie kann man umschulen und sich in einem zweiten Beruf ausbilden, wenn es an der dazu notwendigen Bildungsfähigkeit fehlt, wenn die Aufnahmefähigkeit dazu nicht mehr ausreicht?“ 338 Doch das Interesse an den Niederlanden beschränkte sich nicht allein auf die Bundesrepublik. Als das nordfranzösische Bergbaupersonal im November 1969 im Pariser Arbeitsministerium Pläne für die anstehenden Umschulungsaufgaben präsentieren sollte, berichtete der Personalchef der HBNPC ausführlich von seiner jüngsten Reise zu „Sozialwerkstätten“ für „behinderte Bergarbeiter im Zuge der Umstellung des niederländischen Bergbaus“. Einstimmigkeit herrschte bei den Beamten und Funktionären, dass diese Einrichtungen als Vorbild für die Maßnahmen in den französischen Bergbauregionen gelten sollten.339 Die Zirkulation von Mobilitätswissen war einerseits durch Begriffstraditionen der Rassenanthropologie, andererseits durch die jeweiligen Strategien der handelnden Akteur:innen bestimmt. Der Begriff der Mobilität erwies sich also als zugleich sperrig und flexibel. Anstatt aber das Vereindeutigungsproblem, vor das sich alle Beteiligten gestellt sahen, zu lösen, setzte dieser Klammerbegriff neue Vereindeutigungsbedürfnisse in Gang. In diesen Beispielen der Reisen in die Niederlande deutet sich bereits an, dass ein transnationaler Wissenstransfer über Immobilität zu weiten Teilen auch als ein disziplinärer Wissenstransfer verstanden werden kann, der dazu diente, tradierte Fürsorgestrukturen nationalstaatlicher Provenienz zu umgehen. Der Strategie des disziplinären Wissenstransfers aus der Rehabilitationswissenschaft zur Behebung des vermeintlichen Mobilitätsproblems bediente sich das Bundesarbeitsministerium. 337 Karl-August Ullrich: Schreiben an Bernhard Brinkert, IGBE, 9. 1. 1968, in: AHGR, IGBE-Archiv, 4278. 338 Paul Wollek: Arbeitsbeschaffung für arbeitslose ältere Männer, in: Arbeit, Beruf und Arbeitslosen­ hilfe – Das Arbeitsamt 19 (1968), 1, S. 10 – 11, hier S. 10. 339 CdF. Service de Formation: Réunion au Ministère du travail le 18 novembre 1969. Protokoll, 28. 11. 1969, in: ANMT 2002 056 4051, S. 3.

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Mobilität und Rehabilitationswissenschaft

Im Juni 1967 erreichte eine Denkschrift aus Essen das Bundesarbeitsministerium in Bonn. Ein Berufsschullehrer schlug darin vor, ein „Institut[] für berufliche (Aufstiegs-?) Leistungsförderung und Umschulung“ zu gründen.340 In den krisengeplagten „Ballungsräumen“ müsse die Bundesregierung „der beruflichen Leistungs- bzw. Aufstiegsförderung und insbesondere der Umschulung“ eine „verstärkte Aufmerksamkeit“ widmen.341 Ihm schwebte eine Schule vor, die der „Weckung der Einsicht“ in die Notwendigkeit, „seine Kenntnisse und Fertigkeiten der techn.[ischen] u.[nd] sonstigen Entwicklung u.[nd] Erfordernisse[n] anzupassen bzw. sich umschulen zu lassen“, dienen sollte.342 Diese volkspädagogische Intention, den „Leistungswillen[]“ und die „Leistungskraft“ zu erhöhen, richtete sich sowohl an Arbeitnehmer als auch an Arbeitgeber,343 die über diese Schule gemeinsam nach einem gesteigerten Wirtschaftswachstum streben sollten. Der Verfasser beschwor damit die Kulisse der „Bergbaukrise“ und des stetig überhandnehmenden unkontrollierten Berufswechsels,344 bot der Arbeitsverwaltung aber anscheinend kein attraktives Konzept: Der zuständige Referent im BMA, Gerhard Filla, wiegelte ab. Die Idee sorgte immerhin für Aufsehen. Bundesarbeitsminister Hans Katzer ließ sich in einem persönlichen Gespräch davon unterrichten, verwies dann aber darauf, dass das BMA über keine Mittel verfüge. Der Essener Lehrer solle sich lieber an das zuständige Landesarbeitsamt wenden.345 Damit endete die Geschichte eines möglichen Zentrums zur Umschulung allerdings nicht. Die Ministerialverwaltung teilte die Wahrnehmung des Essener Lehrers, es gebe ein besonderes Umschulungs- und Qualifikationsbedürfnis im Ruhrgebiet. Die vornehmlich in einer Schul- und Verwaltungssprache formulierte Petition vermochte aber keine argumentative Durchschlagskraft zu entfalten. Die Abteilung Arbeitsmarktpolitik im Bundesarbeitsministerium verfolgte den Plan weiter, nutzte aber externes Wissen, um dem Projekt des Umschulungszentrums gegenüber dem Minister, dem Land und den eigenen Förderungs- und Zuständigkeitslogiken Evidenz zu verleihen. So traf sich der Staatssekretär Ludwig K ­ attenstroth im August 1967 mit Adalbert Seifriz, dem baden-württembergischen Minister

3 40 Schlierkamp: Entwurf. Institut für berufliche (Aufstiegs-?) Leistungsförderung und Umschulung. Denkschrift, 19. 6. 1967, in: BArch B 138/115376. 341 Ebd., S. 1. 342 Ebd., S. 3. 343 Ebd., S. 5. 344 Ebd., S. 10. 345 Gerhard Filla: Berufliche Fortbildung und Umschulung. Besprechung beim Herrn Minister am 19. Juni 1967. Aktenvermerk, 26. 6. 1967, in: BArch B 138/115376.

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für ­Bundesangelegenheiten. In ­diesem Gespräch interessierte sich Kattenstroth dafür, Werner Boll, den Direktor des Berufsförderungswerks Heidelberg, trotz verschiedener bereits laufender Studien für ein Gutachten über die „Mobilität von Arbeitskräften aufgrund der bei der Rehabilitation in Heidelberg gewonnenen ­Erfahrungen“ zu gewinnen.346 Das Anfang der 1960er Jahre vom Landesarbeitsamt Baden-Württemberg und dem Adolf-Stoecker-Werk gegründete BFW Heidelberg verdankte seine Legitimation in erster Linie der Automationseuphorie der späten 1950er und frühen 1960er Jahre, für die sich insbesondere sein Gründungsdirektor Boll begeisterte. In den Berufen in der elektronischen Datenverarbeitung und der Elektronik sah er vielfältige Beschäftigungsmöglichkeiten für Menschen mit Behinderung.347 Über die Finanzierung durch die Rentenversicherungsträger inszenierte und etablierte sich Boll, Mitglied der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD ), langfristig als zentraler Akteur und als „Pionier des Rehabilitationssystems“.348 Er schuf sich so eine Machtposition im Erwachsenenbildungssystem. In seiner Person verschränkten sich Erwachsenenbildung und Rehabilitation ebenso wie die fließende Grenze ­zwischen Behinderung und Normalität des Alters und des umzuschulenden Industriearbeiters. Umschulung und Umschulbarkeit von älteren Industriearbeitern im Ruhrgebiet beschäftigten das BMA . Fand die Initiative aus Essen noch kein Gehör, ließ der Rehabilitationsoptimismus Bolls die Ministerialverwaltung aufhorchen. Nach einem weiteren Treffen mit Seifriz und Boll sprach sich auch der Leiter der für berufliche Bildung zuständigen Abteilung II des BMA für ein Gutachten über die Nutzbarmachung des Rehabilitationswissens für die Umschulung aus.349 Das Bundesarbeitsministerium bediente sich des disziplinären Transfers aus der Rehabilitationswissenschaft, um über die Umschulung des „älteren Arbeitnehmers“ aus der Schwerindustrie zu sprechen: Stießen die Wissensbestände aus der konventionellen Berufspädagogik auf wenig Widerhall, ordnete die Verwaltung das Thema Umschulung der Rehabilitation zu.

346 Ludwig Kattenstroth: Aktenvermerk über ein Gespräch mit Minister Seifriz, 21. 8. 1967, in: ebd. 347 Bösl: Politiken, S. 257. 348 Vgl. Felix Eisele: Pionier des Rehabilitationssystems, in: Vorwärts, 12. Februar 2007, https:// www.vorwaerts.de/artikel/pionier-rehabilitationssystems, letzter Zugriff: 10. 2. 2021. 349 Jakob Käfferbitz: Besprechung mit Herrn Minister Seifriz und Herrn Direktor Boll. Schreiben an den Staatsekretär, 1. 9. 1967, in: BArch B 138/115376. Vgl. zu Käfferbitz Altmann: Arbeitsmarktpolitik, S. 93; Martin Münzel: Neubeginn und Kontinuitäten. Das Spitzenpersonal der zentralen deutschen Arbeitsbehörden 1945 – 1960, in: Alexander Nützenadel (Hg.): Das Reichsarbeitsministerium im Nationalsozialismus. Verwaltung. Politik. Verbrechen, Göttingen 2017, S. 494 – 550, hier S. 524.

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Auch wenn Werner Boll als Referenzpunkt nicht unumstritten war und insbesondere seine fehlende akademische Qualifikation bemängelt wurde,350 beauftragte das BMA Boll, ein Gutachten über das Verhältnis von Umschulung und Rehabilitation zu verfassen.351 Dieses und weitere Gutachten, die im Anschluss entstanden, dienten im Bonner Arbeitsministerium weniger der Entscheidungsfindung als vielmehr als Ressource dafür, die Argumentation gegenüber der BAVAV eindeutig zu fassen: Bereits einige Tage bevor die erste Stellungnahme Bolls eintraf, wandte sich Katzer mit dem Vorschlag der Errichtung eines bundesweiten Modellzentrums zur Umschulung an Anton Sabel. Er versprach ein Zentrum, das „der Erprobung neuer Methoden der Erwachsenenbildung, der Erarbeitung von Lehrplänen und der Heran­ bildung von Lehrkräften“ dienen sollte.352 Eine dem Schreiben beiliegende interne Notiz des Bundesarbeitsministeriums unterstrich den besonderen Wert dieser Formulierung. Da es nicht einfach um die Erweiterung bestehender Maßnahmen gehe, könne die BAVAV Katzers Vorschlag nicht einfach abtun.353 Zeitgleich begann hinter den Kulissen ein Feilschen um den Standort des Umschulungszentrums.354 In den zwei Berichten, die Boll im Dezember 1967 und im Januar 1968 vorlegte, kam er den Erwartungen in Bonn entgegen. Zunächst verstärkte er die Uneindeutigkeit z­ wischen Rehabilitation und Erwachsenenausbildung, indem er Behinderung und technischen Fortschritt in eine enge Beziehung setzte. Dann offerierte er der Bundesverwaltung eine Problemdeutung, die das Ruhrgebiet zum Interventionsraum der Anpassungsfähigkeit und zur Bewährungsprobe des Arbeitsförderungsgesetzes erhob. Zuletzt eröffnete sein Modell einen Totalitäts- und Beschleunigungsanspruch, der zeitgenössische Ideale einer Individualisierung des Unterrichts integrierte und ­zwischen Ermächtigung und Entmachtung des Individuums oszillierte. Wie zeitgenössisch üblich ging Boll von einer Strukturwandeldiagnose der „rasante[n] und anhaltende[n] Wandlungen“ aus.355 Diese gefährdeten die „berufliche Existenz vieler Erwerbspersonen“ und erforderten „Maßnahmen der beruflichen Anpassung“.356 Boll konzipierte diese Anpassung aber nicht ausschließlich als 350 Gerhard Filla: Berufliche Umschulung. Gutachten von Herrn Boll über die Möglichkeiten, die bei der Rehabilitation gewonnenen Erfahrungen für die Umschulung nutzbar zu machen, Aktenvermerk, 10. 10. 1967, in: ebd. 351 Hubert Brandts: Schreiben an Werner Boll, 13. 12. 1967, in: ebd. 352 Hans Katzer: Schreiben an Anton Sabel, Abschrift, 22. 12. 1967, in: ebd. 353 Ebd. 354 Vgl. Wilhelm Nieswandt/Karl-Heinz Rewoldt: Bewerbung der Stadt Essen um die Errichtung des Umschulungszentrums in Essen. Schreiben an Hans Katzer, 1. 12. 1967, in: ebd. 355 Werner Boll: Vorgutachten zur Frage der Errichtung eines Modellzentrums für die Berufsausbildung Erwachsener im Ruhrgebiet. Schreiben an das BMA, 27. 12. 1967, in: ebd., S. 1. 356 Ebd., S. 1. Die ­gleiche Präambel findet sich im endgültigen Gutachten, Werner Boll: Gutachten im Auftrag des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung zur Frage der beruflichen Anpassung

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­ erbesserung abweichender Individuen, sondern verfolgte einen willensbasierten V Behinderungs- und Bildungsbegriff. Das Zentrum müsse beweisen, dass Umschulung und Weiterbildung erfolgversprechend ­seien. Ohne eine s­ olche Einrichtung bliebe es bei „unrichtigen Vorstellungen von der angeblich geringen Bildungswilligkeit des Arbeiters im allgemeinen und des Ruhrkumpels im besonderen“.357 Die „Bildungswilligkeit“ ließ sich dabei aber nicht idealtypisch dem Pol des Voluntarismus zuordnen, der geistige Behinderung als bloße Willensschwäche definierte.358 Bereits im endgültigen Gutachten, das das Bundesarbeitsministerium einen Monat ­später erhielt, sprach Boll von der „angeblich geringen Bildungsfähigkeit des Arbeiters im allgemeinen und des Bergmannes im besonderen“.359 Wille und Fähigkeit nutzte der Direktor des größten bundesrepublikanischen Rehabilitationszentrums also keineswegs trennscharf, sondern synonym. Dementsprechend versicherte Boll in beiden Gutachten, die „irrige Auffassung, daß der ältere Arbeitnehmer an der Ruhr im wesentlichen nicht mehr umstellungs- und eingliederungsfähig sei“, ließe sich problemlos widerlegen.360 Dieses Zusammenfallen von Wille und Fähigkeit verwob Boll im endgültigen Gutachten mit einer Gegenüberstellung von Körper und Geist. Ausgehend von der Annahme, die Arbeit der Zukunft würde automatisiert und Kopfarbeit sein, plausibilisierte Boll seinen Rehabilitationsoptimismus. So versprach er dem BMA, nicht nur Jüngere würden „ihre Bildungswilligkeit geltend machen“ und sich fortbilden wollen, sondern auch „ältere Menschen“ – in Bolls Perspektive Menschen ab dem 45. Lebensjahr – hätten „gleich gute Erfolgschancen“.361 Ab dem 40. Lebensjahr handele es sich, so gestand Boll zu, gewiss um „‚Probanden mit erhöhtem Risiko‘“. Das Risiko liege aber keineswegs „im Bereich der Bildungsfähigkeit“ – also in der Kopfarbeit –, sondern im „möglicherweise eingeschränkten körperlichen Leistungsvermögen.“ 362 Diese „Hierarchisierung von Leistungsarten“ in Hand- und Kopfarbeit, die auf die Jahrhundertwende zurückging,363 tradierte sich so und bedeutete ein weitreichendes Versprechen: Wenn der von Arbeitnehmern an die veränderten Verhältnisse in Wirtschaft und Technik (allgemein und im Ruhrgebiet) im Rahmen des kommenden Arbeitsförderungsgesetzes, 24. 1. 1968, in: ebd., S. 1 f. 357 Boll: Vorgutachten, S. 2. 358 Vgl. die idealtypische Gegenüberstellung bei Thomas Hoffmann: Wille und Entwicklung. Geistige Behinderung und das Dispositiv des Willens im 19. und 20. Jahrhundert, in: Oliver M ­ usenberg (Hg.): Kultur – Geschichte – Behinderung. Die kulturwissenschaftliche Historisierung von Behinderung, Oberhausen 2013, S. 207 – 233. 359 Boll: Gutachten, S. 2 f. 360 Ders.: Vorgutachten, S. 2; ders.: Gutachten, S. 3. 361 Ders.: Gutachten, S. 10. 362 Ebd. 363 Vgl. Till Kössler: Leistung, Begabung und Nation nach 1900, in: Sabine Reh/Norbert Ricken (Hg.): Leistung als Paradigma. Zur Entstehung und Transformation eines pädagogischen K ­ onzepts,

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Körper nicht mehr gelehrig und die Arbeit der Zukunft Kopfarbeit war, sollte Umschulung direkt am Geist ansetzen. Vor dem Hintergrund der Kontroversen um Anthropologien der Mobilität bot Werner Boll eine annehmbare Lösung: Indem er Behinderung ausschließlich dem Körper und einem mit dem Alter einhergehenden Verfall zusprach und die Bildungsfähigkeit davon abkoppelte, versprach er nicht, Behinderung zu heilen oder rückgängig zu machen. Er griff vielmehr die Vorstellung auf, dass in der Arbeitswelt der Zukunft lediglich das Wissen und der Geist entscheidend für Beschäftigung und Arbeitsplätze sein würden. Der Körper würde also keine oder nur eine marginale Rolle spielen: Bergleute zu Programmierern umzuschulen war ausgehend von diesen Annahmen nicht skurril und anmaßend, sondern folgerichtig. Gleichzeitig ging aber auch Boll in seinem Rehabilitationsoptimismus nicht von einer unbegrenzten Bildbarkeit aus. Die in dem Zentrum angebotenen Berufe sollten zum einen – wie zeitgenössisch üblich – auf einer Beobachtung der Wirtschaftsentwicklung und einer quantifizierenden Bedarfs- und Berufsprognose beruhen. Zum anderen aber müssten sie auch der „Begabungsstruktur“ entsprechen. Sein Entwurf, so versicherte Boll, beruhe auf „dem Ergebnis langjähriger Untersuchungen der Begabungsstrukturen Erwachsener“.364 Ein Zentrum Boll’scher Prägung biete „Menschen aller Begabungs- und Eignungskategorien“ – „ältere[] und intellektuell einfach strukturierte[] Umschüler“ schloss er explizit ein – „maximale Entfaltungsmöglichkeiten“.365 Seine Expertise und das Umschulungszentrum legitimierte Boll darüber hinaus durch die Raumkonfiguration Ruhrgebiet. Über die bereits erwähnten Anspielungen auf die Anthropologien der Mobilität hinaus versprach Boll den „erhoffte[n] Erfolg“ der berufsbildungspolitischen Komponente des Arbeitsförderungsgesetzes. Das Ruhrgebiet avancierte so zum Ernstfall des Gesetzes sowie umgekehrt das AFG zur Lex Ruhrgebiet.366 Die „Einsichten in die Notwendigkeit dieser weitgehenden Umstellung“ verbänden sich „im Ruhrgebiet“ mit einer „akuten Notsituation“, mahnte Boll.367 Das Ruhrgebiet brauche ­dieses Modellzentrum, das seine Tätigkeit zunächst vollständig auf diesen Raum konzentrieren sollte.368 Daneben solle es neue Methoden der Erwachsenenbildung entwickeln und der Ausbildung der Ausbilder dienen. Damit entwarf Boll das Bild eines Wiesbaden 2018, S. 193 – 210, hier S. 199. 364 Boll: Gutachten, S. 4. 365 Ebd.; die ­gleiche Formulierung verwendete ders.: Vorgutachten, S. 3. 366 Altmann: Arbeitsmarktpolitik, S. 188 betont zwar, dass sich das AFG nicht an das Ruhrgebiet richtete, bezieht sich aber auf quantitative Auswirkungen, nicht auf die Deutungen des Gesetzes. 367 Boll: Vorgutachten, S. 2. 368 Ders.: Gutachten, S. 7.

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­Modellzentrums als Speerspitze neben „ein oder zwei weitere[n]“ Zentren, die er „in anderen Industriebereichen der Bundesrepublik“ gegründet sehen wollte.369 Ihm schwebte ein Netz aus Einrichtungen vor, die, ausgehend vom Impuls des Ruhrgebiets, auch für Fortbildungen und Weiterbildungen zuständig sein sollten, um eine „neue Ära der Arbeitsmarktpolitik“ einzuläuten.370 An ­diesem „Modell für alle Umschulungsbemühungen in der Bundesrepublik“ werde schließlich der „angestrebte[] Erfolg“ des AFG gemessen. Die pro Jahr im Zentrum umzuschulenden rund 450 Personen ­seien gar von „entscheidender Bedeutung“ für seine „Breitenwirkung“.371 In d ­ iesem Ensemble erschien „das Ruhrgebiet“ als kohärentes Ganzes und als Krisenfigur, die den Einsatz erheblicher Mittel – Boll veranschlagte allein für die Einrichtung des Zentrums rund 17 Millionen Mark – rechtfertigte. Einerseits griff er die Anthropologie der Immobilität der Ruhrgebietsbevölkerung, ihren vermeintlichen Mangel an Bildungswillen und -fähigkeit auf. Andererseits präsentierte er sich als Schlüsselfigur für die Lösung des Problems: Indem die Rehabilitation Boll’scher Prägung den Körper des Umzuschulenden auf eine zweitranginge Position herabstufte, hob sie die Grenze ­zwischen Umschulung etwa nach Arbeitsunfällen und Umschulung zur Strukturwandelbewältigung auf. Diese Aufhebung plausibilisierte Bolls Blick auf die Ruhrgebietsbevölkerung: Nur er konnte die Bildungswilligkeit und -fähigkeit erkennen, auswählen, qualifizieren und steigern. Zuletzt ging diese Negation des Körpers einher mit einer ausgreifenden Körperund Wissenspolitik. Kern von Bolls Konzeption war eine Wette: Er versicherte der Ministerialbürokratie, mithilfe seines Ansatzes einer „erwachsenengerechten“ Umschulung könne auch bei „geistig wenig Differenzierten und bei Älteren“ die Ausbildungszeit halbiert werden.372 Um ­dieses Versprechen einzulösen, forderte Boll die „Internatsunterbringung“ der Umschüler im Ausbildungszentrum. Diese Erfassungsform begründete er keineswegs logistisch, sondern ausbildungspolitisch. Bei dem „in Frage kommenden Personenkreis“ bleibe die „Ausbildung sehr unbefriedigend“, was auch eine „überflüssige Zeitdauer von zwei Jahren oder länger“ nicht ausgleichen könne.373 Auswärtig wohnende Umschüler oder „Pendler“ wollte Boll nur in Ausnahmefällen annehmen und ausschließlich dann, wenn „ihre hohe Begabung in Verbindung mit besonders günstigen persönlichen und häuslichen Voraussetzungen eine Erfolgsgewähr“ biete.374 Familienbesuche sah er 3 69 Ebd. 370 Ebd., S. 11. 371 Ebd. 372 Ders.: Vorgutachten, S. 2. 373 Ebd., S. 3. 374 Ebd.

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dementsprechend – wohl reguliert – nur am Wochenende vor.375 Diese sorgfältige Herauslösung des Umschülers aus seinem Umfeld zur Schaffung eines neuen Schwellenzustandes der Statusunsicherheit – einer Liminalität des Mobilitätsimperativs 376 – forcierte Boll noch in seinem Schlussgutachten. Um Missbrauch vorzubeugen und die Erfolgsquoten der Umschulung zu erhöhen, also Bildbarkeit zu beweisen, plädierte er dafür, die Kompetenzen des Zentrums und der Arbeitsämter in der Auswahl der „Umschulungswilligen“ auszubauen: Die „Eignung des Bildungswilligen“ müsse mit dem „Bildungswunsch oder -vorschlag“ übereinstimmen, ebenso wie das Umschulungsziel dem „Gemeinwohl“ dienen müsse.377 Er forderte eine verbesserte Ausbildung der Arbeitsberater des Arbeitsamtes, die „Umschulungswillige“ in Kooperation mit Psychologen, Ingenieuren und Ärzten auswählen sollten. Das wissenspolitische Netz, das Boll entwarf, sah nicht nur vor, den Umschüler einzufassen, sondern auch, den Arbeitsberater zu einem Experten für Umschulungswillen auszubilden: Er müsse die „Grundsätze der angewandten Psychologie“ beherrschen, der „Wirtschaftskunde“, der „Arbeitsplatzkunde“ sowie der „Berufskunde“ mächtig sein und – wie die Umschüler selbst – nach „strengen Regeln der Eignung ausgelesen“ werden.378 Dies erfordere den Ausbau technischer, psychologischer und medizinischer Dienste der Arbeitsämter in Zusammenarbeit mit dem geplanten Umschulungszentrum. Ebenfalls sprach Boll der Bildungstechnik eine maßgebliche Rolle für die Steigerung der Mobilität zu: „[D]as Lernkabinett, das Sprachlabor, die Bildmitschau, die programmierte Unterweisung und viele technische Hilfsmittel“ sollten den Umschüler ermächtigen, seine „Bildungswilligkeit“ unter Beweis zu stellen und dem Mobilitätsimperativ nachzukommen.379 Bolls Konzeption folgte also einem Paradox: Um die Eigenständigkeit, die Bildbarkeit und den Willen zur Umstellung der Arbeiter zu beweisen, benötigte er ein engmaschiges Netz von Experten, Techniken und Praktiken, die darauf abzielten, den rechten Gebrauch der Eigenständigkeit, der Bildbarkeit und des Willens zur Umstellung anzuleiten. In dem Maße, wie ­dieses vorgestellte Ensemble den Umschüler ermächtigte, entmachtete es ihn. Der Transfer aus der Rehabilitationswissenschaft kanalisierte den Umstellungswillen.

3 75 Ders.: Gutachten, S. 4. 376 Vgl. Victor Turner: Das Ritual. Struktur und Antistruktur [1969], Frankfurt a. M. 2005; Pierre Bourdieu: Épreuve scolaire et consécration sociale. Les classes préparatoires aux Grandes écoles, in: Actes de la recherche en sciences sociales 39 (1981), S. 3 – 70. 377 Boll: Gutachten, S. 8. 378 Ebd., S. 8 f. 379 Ebd., S. 9. Deutlich wird der Rückgriff auf die kybernetische Pädagogik auch bei Werner Boll: Erwachsenenspezifische Methoden der Berufsausbildung, in: Joachim Münch (Hg.): Berufsbildung Erwachsener. Aufgaben und Lösungen, Braunschweig 1970, S. 117 – 140, insbes. S. 129 – 134.

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Boll gab dem Bundesarbeitsministerium eine konkrete Handlungsanweisung. Bevor es aber zu deren Umsetzung kommen sollte, galt es zunächst, Eindeutigkeit darüber herzustellen, wie Mobilität zu messen sei. Neben der räumlichen und disziplinären Wissenszirkulation stellte die Quantifizierung die dritte Strategie zur Vereindeutigung der Mobilität bereit.

4.3 Die Vermessung der Mobilität Obgleich sich alle Akteur:innen einig waren, dass die Arbeit der Zukunft uneindeutig sei und die Arbeiter (weniger die Arbeiterinnen, wie weiter unten gezeigt wird) daher flexibel, mobil und anpassungsfähig sein sollten, divergierten die Umsetzungen erheblich. Während die ersten Umschulungen in der Bundesrepublik noch von Ad-hoc-Maßnahmen in den Arbeitsamtsbezirken in Zusammenarbeit mit ansässigen Betrieben, den Kammern oder dem Berufsfortbildungswerk des DGB ausgingen und damit dem Ideal entsprachen, das den Wirtschaftsvertretern, aber auch dem Landesarbeitsamt NRW , vorschwebte, änderte sich d ­ ieses Vorgehen Ende der 1960er Jahre. Eine verstärkte Problematisierung des „älteren Arbeitnehmers“ als Verlierer der Rationalisierung und des „Strukturwandels“ brach sich mit der aktiven Arbeitsmarktpolitik Bahn. Vor d ­ iesem Hintergrund strebten Gewerkschaften, Arbeitsverwaltung und Bundesarbeitsministerium über die transnationale und disziplinäre Aneignung des Mobilitätsbegriffs eine Institutionalisierung und Erweiterung beruflicher Bildungsmaßnahmen für Arbeiter an, die von Stilllegungen und Arbeitslosigkeit bedroht waren. Begleitet wurde diese Suchbewegung von einer Verwissenschaftlichung und Vermessung der Mobilität, die in ­diesem Kapitel im Mittelpunkt steht. Diese war zwar Teil der säkularen Verwissenschaftlichung, die sich in der Konjunktur der empirischen Sozialforschung niederschlug,380 scheiterte aber als Strategie. Dieses Scheitern trug dazu bei, dass eine experimentelle Lösung des Problems anhand des Berufsförderungszentrums Essen und der Gesellschaft zur Verbesserung der Beschäftigtenstruktur in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit rückte. Nachdem die Vermessung der Mobilität keine eindeutigen Ergebnisse lieferte, sollten diese Einrichtungen den empirischen Beweis für die Anpassungsfähigkeit der „älteren Arbeitnehmer“ erbringen. In d ­ iesem Aushandlungsprozess verschoben sich, so das Kernargument des Kapitels, die Differenzkoordinaten der Zukunft der Arbeit: Der praktische Beweis der Bildbarkeit der einen Erwachsenen einerseits bedingte andererseits, dass Politiker, Gewerkschafter und „ältere 380 Vgl. bspw. Wilfried Rudloff: Verwissenschaftlichung der Politik? Wissenschaftliche Politikberatung in den sechziger Jahren, in: Peter Collin/Thomas Horstmann (Hg.): Das Wissen des Staates. Geschichte, ­Theorie und Praxis (Rechtspolitologie 17), Baden-Baden 2004, S. 216 – 257.

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Arbeitnehmer“ selbst die Unbildbarkeit der anderen Erwachsenen in Kauf nahmen. Bereits vor dem sprunghaften Anstieg der Arbeitslosigkeit ab 1974 stand also das Kategoriengeflecht aus Alter, beschädigter Männlichkeit, Behinderung und Klasse fest. Es bildet seitdem die – fluide und verhandelbare – Grenze der imaginierten postindustriellen Gesellschaft. Bevor sich das Alter mit der Gründung des Deutschen Zentrums für Altersfragen 1973 als eigene Kategorie durchsetzte,381 stritt die Bundesrepublik darüber, was ein „älterer Arbeitnehmer“ und was ­diesem noch zuzumuten sei. Zwischen Erwerbsfähigkeit und Rentenalter schob sich eine flüchtige und ausdeutbare Schicht. In dem Moment, als das Ruhrgebietsproblem der 1960er Jahre ein bundesdeutsches (beziehungsweise westeuropäisches) wurde, stand die wissenspolitische Gleichung fest: Das „unternehmerische Selbst“ der ­Postindustrie erblickte gemeinsam mit seinem „unbildbaren“ Zwilling das Licht der Welt. Mobilität quantifizieren

Neben der Wissenszirkulation und -aneignung verfolgten die verschiedenen wissenspolitischen Akteur:innen eine eigene Agenda der Verwissenschaftlichung. In der zweiten Hälfte der 1960er Jahre ergoss sich eine Lawine an Studien zu umzustellenden Arbeitern und Umschulung über das Ruhrgebiet – sowohl geografisch als auch thematisch. All diesen Studien war unabhängig vom Ausgangspunkt – dem Arbeitsamt Dortmund 382, dem Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales (MAGS) NRW 383, dem Bundesarbeitsministerium 384 oder den Universitäten 385 – der Versuch gemein, Mobilität und Umstellung in ihrem Wesen zu erfassen. Sie alle 381 Vgl. Nicole Kramer: Die Verwissenschaftlichung des Alters in den grauen Gesellschaften Westdeutschlands und Großbritanniens, in: Reinecke/Mergel (Hg.): Das Soziale, S. 281 – 306, hier S. 297. 382 Arbeitsamt Dortmund/Mathematische Beratungs- und Programmierungsdienst GmbH. Rechenzentrum Rhein-Ruhr: Wie steht es um die Mobilität bei arbeitslosen Arbeitnehmern?, Dortmund o. J. [1968]. 383 Forschungsinstitut für Sozialpolitik der Universität zu Köln: Wiedereingliederung älterer Arbeitsloser in die Wirtschaft Nordrhein-Westfalens. Im Auftrag des Arbeits- und Sozialministers des Landes Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf 1969. 384 WEMA-Institut für Empirische Sozialforschung: Bericht zu einer Soziologischen Analyse der „Sozialen Voraussetzungen Beruflicher Mobilität“, Köln 1968; dass.: Die sozialen Voraussetzungen beruflicher Mobilität. Teil II. Bericht zu einer Umfrage unter meinungsbildenden Gruppen, Köln 1968. Die Studie Walter Tebert/Horst Schmelzer: Die sozialen Voraussetzungen beruflicher Mobilität. Bericht über zwei empirische Untersuchungen zum Mobilitätsverhalten und zum Problem der Einstellungen gegenüber beruflicher Mobilität (Schriftenreihe des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung 18), Stuttgart u. a. 1973 bezieht sich auf die beiden ersten Berichte und eine Anschlussuntersuchung. 385 Engelen-Kefer: Umschulung.

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folgten einer Kausalitätsannahme, die im Folgenden im Mittelpunkt steht: Jenseits der konkret messbaren Ausdrucksformen der Mobilität (wie Berufswechsel, Umzug oder Ähnliches) nahmen sie eine „geistige Mobilität“, eine „geistige Beweglichkeit“ oder auch „Regsamkeit“ an. Diese zu ergründen sei möglich und dringend geboten, um das Strukturwandelproblem der Gegenwart zu erfassen. Aus dieser Perspektive reichte es für Arbeitssubjekte nicht aus, ein als mobil beurteiltes Verhalten an den Tag zu legen. Das Verhalten musste mit einer eigentlichen, inneren Mobilität zusammenfallen. Denn erst diese Haltung würde auch für die Zukunft mobiles Verhalten garantieren. Die Wissensproduktion über das Wesen der Mobilität stellte damit das Gegenstück zur Arbeitsmarkt- und Berufsforschung dar: Konzentrierte sich diese auf den Markt und die Nachfrage, sollten die Mobilitätsstudien Anpassungsfähigkeit und die Grenze staatlichen Handlungsvermögens bestimmen, also die Angebotsseite ausloten. Sie zeigten Parallelen zur Anthropologie der Mobilität, nahmen aber das Individuum und den „Einfluss psychischer Faktoren auf die Mobilität der Arbeit“ ins Visier, keine Bevölkerungsgruppe.386 Verhandelt wurde in dieser intensiven Studienproduktion, w ­ elche Individuen aus welchem Grund die Fähigkeit und den Willen zur Umstellung zeigten. Die Auftraggeber aus der Ministerialverwaltung beabsichtigten, Mobilität – wie viele andere Bereiche politischen Handelns Ende der 1960er Jahre – über externe Expertise und Gremien zu verwissenschaftlichen.387 Die Grenzen der Verwissenschaftlichung lagen allerdings in ­diesem Fall weniger in der „Politisierung der Expertise“.388 Die Erforschung der Mobilität wurde nicht öffentlich angezweifelt und provozierte zunächst auch keine Gegenexpertise. Die Grenzen der Verwissenschaftlichung zeigten sich in den neu entwickelten, quantifizierenden Verfahren selbst. Deren Ergebnisse stellten sich trotz aller Vereindeutigungshoffnungen subjektfreier, mechanischer Objektivität als uneindeutig heraus. Als die im weitesten Sinne linksintellektuelle Kritik am Mobilitätsbegriff Mitte der 1970er Jahre einsetzte, war die Strategie der Verwissenschaftlichung über Erhebungen, Befragungen und Studien damit bereits antiquiert. Es galt nunmehr, Mobilität auch praktisch herzustellen – Wissenspolitik also konkret umzusetzen und zu erproben. Auf die Suche nach der wahren Mobilität machte sich zunächst das Arbeitsamt der Stadt Dortmund. Es kooperierte zu ­diesem Zweck mit der ebenfalls dort ansässigen Mathematischen Beratungs- und Programmierungsdienst GmbH (MBP).389 3 86 Harloff: Einfluss. 387 Vgl. bspw. Rudloff: Verwissenschaftlichung. 388 Tim Schanetzky: Die große Ernüchterung. Wirtschaftspolitik, Expertise und Gesellschaft in der Bundesrepublik 1966 bis 1982 (Wissenskultur und gesellschaftlicher Wandel 17), Berlin 2007, S. 184 – 203. 389 Arbeitsamt Dortmund/MBP. Rechenzentrum Rhein-Ruhr: Wie steht es um die Mobilität bei arbeitslosen Arbeitnehmern?, Dortmund o. J. [1968]. Die Studie wurde veröffentlicht in: ­Gerhard

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Der Begründungszusammenhang der Studie war ein doppelter: Einerseits betonten die beiden Verfasser vom Arbeitsamt Dortmund sowie zwei technische Berater der MPB, Rechenzentrum Rhein-Ruhr, dass die Arbeit der Zukunft „vom Arbeitnehmer ein höheres Maß geistiger, beruflicher und räumlicher Mobilität“ fordern würde.390 Andererseits verwiesen sie darauf, dass, abgesehen von einer Untersuchung der Hohen Behörde zur Umstellungsbereitschaft von Bergarbeitern in den Jahren von 1960 bis 1965,391 keine fundierten Erkenntnisse vorlägen.392 Auf eine konkrete Vermessungsperspektive folgte in der Untersuchung die Suche nach einer Erklärung für mangelnde Mobilität. Sie beanspruchte, nicht nur den Fall Dortmund zu beleuchten, sondern das Ruhrgebiet als solches. Die Verfasser reklamierten für sich, die in ihren Augen idealtypische Ausprägung der Industriegesellschaft zu erfassen, denn „keine deutsche Industrielandschaft“ werde von dem Wandel „so sehr betroffen wie das Ruhrgebiet“.393 Die der Mobilität innewohnende Ambivalenz, die sich aus der Metapher des Raumes sowohl für den sozialen als auch für den territorialen Raum als getrennt gedachte Bereiche ergab, umschiffte das Arbeitsamt Dortmund elegant. Es führte eine Facette ein, die die normative Komponente des Begriffs erst herstellte: die „geistige Mobilität“. Der Begriff der geistigen Mobilität stellte damit die Brücke her ­zwischen den Bereichen des Sozialen und des Territoriums einerseits und den Anforderungen an das Individuum andererseits. Mobilität konnte damit nicht nur beschrieben werden, Mobilität konnte auch von Individuen verlangt werden. Diese Brückenfunktion der „geistigen Mobilität“ zeigte sich in den verschiedenen Mobilitätsstudien, von denen hier die des Bundesarbeitsministeriums und die des Arbeitsamts Dortmund im Mittelpunkt stehen, auf zwei Ebenen: zunächst in der Untersuchungsmethode, dann in der Evidenzerzeugung. Erstens waren die Untersuchungsmethoden mit dem Inhalt eng verwoben.394 Bereits organisatorisch-methodisch zeugte die Dortmunder Studie von den geänderten Rahmenbedingungen der Selbstbeobachtung des städtischen Arbeitsmarkts. Ahl: Die Mobilität der Arbeitslosen. Eine Untersuchung beim Arbeitsamt Dortmund, in: Bundes­ arbeitsblatt (1968), 5/6, S. 129 – 137. 390 Ebd., S. 1. 391 Gemeint ist vermutlich die Stichprobenerhebung der Generaldirektion Arbeitsfragen, Sanierung und Umstellung der EGKS von September bis Dezember 1966, die Fotré: Umschulung zusammenfasst. 392 Arbeitsamt Dortmund/MBP: Mobilität, S. 2. 393 Ebd., S. 1. 394 Signifikant und Signifikat müssen, wie Kerstin Brückweh argumentiert, in der historischen Praxis der Wissensproduktion getrennt gedacht werden. Es ist aber relevant, wie historische Akteur:innen den Spalt ­zwischen beiden zu überbrücken versuchten. Vgl. Kerstin Brückweh: Das Eigenleben der Methoden. Eine Wissensgeschichte britischer Konsumentenklassifikationen im 20. Jahrhundert, in: Geschichte und Gesellschaft 42 (2016), S. 86 – 112, insbes. S. 89.

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Die MBP war als Dortmunder Softwareunternehmen bereits Produkt der Automatisierungs- und Strukturwandeldiskurse der 1950er Jahre. Als in der Eigen- und Fremddarstellung erstes Softwareunternehmen der Bundesrepublik 395 entstand die Firma um den 1927 geborenen Mathematiker Hans Konrad Schuff unter montan­ industrieller Ägide des Hoesch-Konzerns im Jahr 1957.396 Das anwendungsorientierte Programmierunternehmen gab mit Schuff als Schriftführer ab 1958 die Elektronische Datenverarbeitung heraus, eine Zeitschrift für „Fachberichte über programmgesteuerte Maschinen und ihre Anwendung“, wie ihr Untertitel verlautbarte. Die Schwerindustrie schuf damit eine technische Infrastruktur zur Strukturwandel­ bewältigung, die rund zehn Jahre ­später durch die Legitimität der Innovation die Instrumente zur Beobachtung des eigenen Niedergangs bereitstellen sollte. Gleichzeitig ebnete diese technische Infrastruktur den Weg für den Übergang vom Fluktuations- zum Mobilitätsparadigma. Dienten den Fluktuationsmessungen mess- und zählbare Kündigungen und Neueinstellungen zur methodischen Auratisierung, eröffnete die elektronische Datenverarbeitung der MBP neue Wege der Objektivierung.397 Diese neue, elektronische Objektivität legitimierte den Rückgriff auf die vermeintlich subjektiveren Techniken der Befragung und des Interviews. Erst das mathematische Programm schuf aus der Vielzahl von Befragungsergebnissen objektiv messbare „geistige Mobilität“. Dem entsprach eine Befragungstechnik, die ­zwischen Totalerfassung einerseits und der Suche nach dem authentischen Arbeitslosen andererseits oszillierte – und der Computerisierung der Vermittlungspraxis der Arbeitsämter vorausging.398 Im September 1967 lud das Arbeitsamt Dortmund 3000 Arbeitslose zur individuellen Befragung „über die Motive zur beruflichen und räumlichen Mobilität“.399 Die „Befragung“, so versicherte der Dortmunder Arbeitsamtsdirektor Gerhard Ahl, sei eine „fortschrittliche Art der Arbeitsmarktanalyse“.400 Die „Vorgeladenen“ sollten innerhalb von 14 Tagen beim Dortmunder Arbeitsamt erscheinen.401 In 395 So – mit Quellencharakter – Lutz J. Heinrich: Geschichte der Wirtschaftsinformatik. Entstehung und Entwicklung einer Wissenschaftsdisziplin, Berlin u. a. 2011, S. 302 f. 396 Vgl. Dr. Konrad Schuff gestorben, in: it – Information Technology 10 (1968), S. 58; Karl-Peter Ellerbrock: Daueraufgabe Strukturwandel, in: Ruhr Wirtschaft, Dezember 2013, S. 38 – 41, hier S. 39 f. 397 Vgl. Daston/Galison: Objektivität. 398 Vgl. zu den 1970er und 1980er Jahren für die Vermittlungspraxis Wiebke Wiede: Von Zetteln und Apparaten. Subjektivierung in bundesdeutschen und britischen Arbeitsämtern der 1970erund 1980er-Jahre, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 13 (2016), S. 466 – 487. 399 Arbeitsamt Dortmund/MBP: Mobilität, S. 2. 400 Ebd., S. 10. 401 Ebd., S. 11.

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der Befragung im „Einzelzimmer und unter vier Augen“ kamen drei Bereiche zur Sprache: zunächst „rein personenbezogene Fragen“, dann „reine Verhaltensfragen“ über „Milieufragen“ sowie zuletzt die „Selbsteinschätzung“ der eigenen „Berufskenntnisse“.402 1598 Arbeitslose befragte das Dortmunder Arbeitsamt, hatte aber von vorherein darauf verzichtet, „Ausländer“ und Personen der Geburtsjahrgänge 1911 und älter einzuladen.403 Diese Erhebungsmethode trug die Aura des Authentischen in sich, schien man doch nur unter diesen von äußeren Einflüssen gereinigten Bedingungen einen Blick hinter das Offenkundige und auf die wahre Mobilität zu erhaschen. Die Arbeitslosen hätten sich „durch die völlig andere Art der Ansprache und Befragung vielfach persönlich aufgewertet“ gesehen, ­seien „aufgeschlossen“ gewesen, Fragen „frei und offen“ zu beantworten. Sie ­seien gar „froh“ gewesen, zwanglos mit einem Vertreter des Arbeitsamts zu sprechen, ohne Angst vor Konsequenzen haben zu müssen. Ungelernte Arbeitnehmer hätten sich für ihre Situation entschuldigt.404 Auf Seiten des Arbeitsamtes herrschte also ein Misstrauen vor. Es traf Vorkehrungen, um an die Authentizitätsfiktion der geistigen Mobilität glauben zu können: Das durch Sozialdaten beobachtbare Verhalten reichte aus dieser Perspektive insofern nicht aus, als es auch auf eine Verstellung, auf keine „echte“ Mobilitätsbereitschaft verweisen könnte. Die inszenierte Authentizität machte erst glaubwürdig, dass die Dortmunder nicht nur eine oberflächliche, vorgetäuschte Mobilität, sondern eine innere Einstellung vermaßen. Zweitens hing das epistemische Ding der geistigen Mobilität eng mit den Techniken der Evidenzerzeugung und der Einführung der elektronischen Datenverarbeitung in der empirischen Sozialforschung zusammen.405 Über die elektronisch aufbereitete Kreuztabelle konnten die zuständigen Bearbeiter vereindeutigte Korrelationsannahmen ­zwischen räumlicher und beruflicher Mobilität sowie der Umschulungsbereitschaft herstellen. Auf genau diesen Vorteil verwies auch der Geschäftsführer der MBP, Schuff, in einem an die technische Fachöffentlichkeit adressierten Artikel in der Elektronischen Datenverarbeitung.406 Zwar erwähnte er weder das Arbeitsamt Dortmund noch die Mobilitätsfrage, formulierte das Problem jedoch abstrakter und gleichzeitig anwendungsorientierter. Es gehe weniger um technische Statistik und die Berechnung unendlicher Möglichkeiten, ­sondern um eine „möglichst

402 Ebd., S. 9 f. 403 Ebd., S. 11. 404 Ebd. 405 Siehe dazu knapp Christoph Weischer: Das Unternehmen ‚Empirische Sozialforschung‘. Strukturen, Praktiken und Leitbilder der Sozialforschung in der Bundesrepublik Deutschland (Ordnungssysteme 14), München 2004, S. 339 – 341. 406 Hans Konrad Schuff: Eine Sprache für die beschreibende endliche Statistik, in: Elektronische Datenverarbeitung 8 (1966), 3, S. 131 – 136 und 4, S. 180 – 187.

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­zeitsparende[] und geschickte[] Aufstellung von unterschiedlichen Statistiken“ in der „Marktforschung“.407 Da die zu erhebenden möglichen Ergebnisse bei Merkmalen wie dem Alter oder dem Geschlecht klein s­ eien, s­ eien Verfahren der beschreibenden Statistik nötig, um das praktische Problem der „Abhängigkeit zweier Eigenschaften voneinander“ zu lösen.408 Anhand von „Marktuntersuchungen“ – Schuff bezog sich auf die Mobilitätsstudie – explizierte er das Problem. Üblicherweise würden Fragebögen ausgezählt und Antworthäufigkeiten errechnet, womit die Untersuchung mit „konventionellen Mitteln“ wie Lochkarten und Sortiermaschinen an ihre Grenzen stoße – falls nicht Hypothesen darüber vorlägen, „welche Abhängigkeiten z­ wischen weiteren Merkmalen untersucht werden müssen.“ 409 Diese Abhängigkeitsanalysen s­ eien allerdings „beim Arbeiten mit Sortier- und Tabelliermaschinen sehr zeitaufwendig“ und nur mithilfe der elektronischen Datenverarbeitung praktikabel umsetzbar.410 Neben der Geschwindigkeit handelte es sich aber auch, wie ein Mitarbeiter Schuffs in einer Fachzeitschrift für Marketingfragen ausführte, um ein theoretisches Problem: „[M]echanische[] Automaten“ böten im Vergleich zur elektronischen Datenverarbeitung „durchweg zu starre Programme“, die die „Anzahl der Auswahlsteuerung und Gangfunktionen“ begrenzten.411 Das Programm, das Schuff und sein Unternehmen nun für die Studie des Dortmunder Arbeitsamtes einsetzten, leistete mehr: Es konnte mithilfe der elektronischen Datenverarbeitung Gruppen und Merkmale beliebig kombinieren und auf (Un-)Abhängigkeit überprüfen. Die „Überlegenheit des Computers“, so Schuffs Mitarbeiter, enthülle sich, wenn es darum gehe, „Kreuztabellen zu erstellen“.412 Nun könnten endlich „verschiedene Antwortmöglichkeiten einer Frage nach den verschiedenen Antwortmöglichkeiten einer anderen Frage aufgespaltet werden“ und mithilfe des „Chiquadrattests“ auf Abhängigkeiten untersucht werden.413 Für die Mobilitätsstudie bedeutete d ­ ieses Prozedere, dass sich Mobilitätsbereitschaft mit beliebigen anderen Merkmalen wie Alter, Geschlecht, Beschäftigung, Familienstatus oder Gesundheitszustand kombinieren ließ. Damit schuf der Vorschlag Schuffs eine Möglichkeit, das „Paradigma der Tabelle“ 414 weiter auszureizen und anzupassen. Die Rekombinierbarkeit von erhobenen Merkmalen flexibilisierte 4 07 Ebd., S. 131. 408 Ebd. 409 Ebd., S. 132. 410 Ebd. 411 Gerd Auferrodt: Die Auswertung fängt bei der Erhebung an, in: Die Absatzwirtschaft (1967), 20, S. 1191 – 1194, hier S. 1193. 412 Ebd., S. 1192 f. 413 Ebd., S. 1193. 414 Markus Krajewski: In Formation. Aufstieg und Fall der Tabelle als Paradigma der Datenverarbeitung, in: Nach Feierabend. Züricher Jahrbuch für Wissensgeschichte 3 (2007), S. 37 – 55.

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und perfektionierte die Tabelle als Vereindeutigungsinstrument. Die Einmaligkeit der Erstellung und Nutzung einer Tabelle wurde durch die Serialität der Tabelle als Prozess ersetzt. Der Wille zur Umstellung als epistemisches Ding musste von den tabellierbaren, bekannten und zerlegbaren Informationen ausgehen. Schuffs Programm eröffnete die Option, Mobilitätsmerkmale der beliebigen Kombinierbarkeit zuzuführen. So ließen sich beständig und ohne großen Aufwand neue Abhängigkeiten prüfen und Kausalitätsvermutungen herstellen. Mobilität, insbesondere geistige Mobilität, war also an die Bedingung ihrer technischen Produzierbarkeit geknüpft. Schuff und seine Kollegen antworteten so auf ein Vereindeutigungsbedürfnis der Arbeitsverwaltung. Gleichzeitig erzeugten sie dadurch neue Vereindeutigungsnotwendigkeiten. Die verschiedenen Kontingenztafeln – allein die gekürzte Fassung im Bundesarbeitsblatt enthielt 20 Kreuztabellen auf sieben Textseiten 415 – und die verschiedenen damit insinuierten Kausalitäten stellten für die Arbeitsmarktbeobachtung insofern ein Novum dar, als die Kooperation des Arbeitsamts Dortmund mit einem privatwirtschaftlichen Rechenzentrum gesondert hervorgehoben wurde. Die Kooperation erlaube verschiedene „praktische Nutzanwendungen“,416 da die elektronische Datenverarbeitung den „Spielraum der Statistik in geradezu phantastischer Weise erweitert“ habe.417 Durch diese Rationalisierung des verwaltenden Blicks könnten „Zusammenhänge aufgespürt werden“, die bisher und in einer „vergleichbaren Zeit praktisch unzugänglich bleiben müssen“. So verlautbarte auch der ausführliche Bericht stolz, dass von den „vielfältigen Tabellen“ und Kombinationen, die die Erfassung der Befragungen auf Lochkarten ergeben hätten, bereits 435 mögliche Kreuztabellen „nach den Vorstellungen der Fachleute“ abgerufen worden s­ eien. Endlich, so die Vereindeutigungshoffnung, sei es für das Arbeitsamt möglich, „den Zusammenhängen z­ wischen räumlicher Mobilität und Umschulungsbereitschaft unter Beachtung des Alters, der schulischen und beruflichen Vorbildung, der Gesundheit, des Verlangens nach kurzfristiger und langfristiger Umschulung usw. im einzelnen nachzugehen“.418 Die Kreuztabelle transformierte also die bloße Akkumulation von Einzelmeinungen in etwas Höheres, denn ihre „Aussagekraft“ könne erst „richtig eingeschätzt werden“, wenn man sie „in Verbindung mit anderen Fragen“ sehe.419 Genau hier lagen sowohl die Verheißung als auch das drohende Unheil. Die Datenverarbeitung ermöglichte das ubiquitäre Aufscheinen von Verbindungen. Die Arbeitsverwaltung aber hatte das Sehen der 4 15 Ahl: Mobilität. 416 Arbeitsamt Dortmund/MBP: Mobilität, S. 57. 417 Ahl: Mobilität, S. 137. 418 Ebd. 419 Arbeitsamt Dortmund/MBP: Mobilität, S. 10.

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„Gestalten einer bestimmten Art“ noch nicht gelernt.420 Mehr noch: Sie war sich nicht einmal sicher, in welcher „Menge von Elementen“ sie „Gestalten“ würde sehen können.421 Paradoxerweise kam diese Kreuztabellenschwemme zu dem lapidaren Ergebnis, dass „der Anteil der räumlich Mobileren an der Gruppe der Umschulungsbereiten größer ist als der der räumlich Immobileren“,422 dass also Mobilität Mobilität bedingte. Rückbindendes Element und zentrales Erkenntnisinteresse war dabei aber weiterhin, dass diese „objektiv“ messbaren Mobilitätsindikatoren (Wohnortwechsel, Berufswechsel) auf eine Mobilität als anthropologische und individuelle Eigenschaft verwiesen. Diese Prämisse des Mobilitätsdiskurses berücksichtigte die zeitgenössisch virulenten „Warnungen vor der Versuchung, alle Variablen mit allen zu korrelieren“.423 Ging die Studie also von der zweifelhaften Mobilität der Ruhrgebietsbevölkerung aus, führten die Kreuztabellen wieder dorthin zurück: Deutlich wurde nur, dass die Mobilitätsfähigkeit weiterer Bestimmungen bedurfte. Mobilität gab eine historische Zeitlichkeit von der Immobilität zur Mobilität vor, die durch die unmittelbare Anschauung der Ruhrgebietsbevölkerung authentifiziert wurde. Die vermeintliche Eindeutigkeit der Kreuztabelle ersetzte den unter Beschuss geratenen „Jargon der Eigentlichkeit“.424 Bei dem einenden, hinter den Daten stehenden, wesenhaften Element, das gleichzeitig gegen den Vorwurf des Positivismus, der zeitgenössisch im Schwange war, immunisieren sollte,425 handelte es sich um die „geistige Mobilität“. „Geistige Mobilität“ war als epistemisches Ding somit das entscheidende Moment, mit dem in der Arbeitsverwaltung gearbeitet werden konnte. Es hielt die Vielfalt und Varietät der Korrelations- und Kausalbeziehungen zusammen: „Die Bereitschaft zur Mobilität – beruflich und räumlich – ist letztlich Ausdruck einer Beweglichkeit und Regsamkeit in der persönlichen Haltung, einer geistigen Mobilität.“ 426 Im Sinne einer Experimentalordnung ließe eine „längere Arbeits­losigkeit“ ab zwölf Monaten Rückschluss auf die geringe „Regsamkeit“ des Arbeitslosen zu. Dadurch ließen sich sämtliche konjunkturellen und situativen Variablen eliminieren, sodass sich offenbare, dass „längerfristig Arbeitslose[] […] von der Haltung

420 Ludwik Fleck: Schauen, sehen, wissen [1947], in: ders.: Erfahrung und Tatsache. Gesammelte Aufsätze. Mit einer Einleitung hg. v. Lothar Schäfer und Thomas Schnelle, Frankfurt a. M. 1983, S. 147 – 174, hier S. 157. 421 Ebd., S. 149. 422 Arbeitsamt Dortmund/MBP: Mobilität, S. 39. 423 Weischer: Unternehmen, S. 340. 424 Vgl. Theodor W. Adorno: Jargon der Eigentlichkeit. Zur deutschen Ideologie, Frankfurt a. M. 1964. 425 Vgl. dazu Weischer: Unternehmen, S. 85 – 90, bes. S. 86. 426 Arbeitsamt Dortmund/MBP: Mobilität, S. 39.

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her in allen Bereichen weniger mobil“ s­ eien.427 Mobilität war also kein Konjunkturphänomen, sondern eine Wesens- und Haltungsfrage. Hinter ­diesem einen epistemischen Ding stand – bedingt durch Techniken der mechanisierten und elektronischen Auswertung – eine Multiplizierung, Potenzierung und Diversifizierung der beobachtbaren Differenzkategorien. Mobilitätsbereitschaft und damit die „geistige Mobilität“ ließ sich in Beziehung zu einer Vielzahl von Merkmalen setzen, etwa zum Ausbildungsniveau und zur Branche. Daneben konnten Ausbildungsniveau und bisheriger Berufswechsel, die Gliederung nach Ausbildungsbereichen, nach Alter und Qualifikation sowie nach Ausbildungsbereich und Berufswechsel ermittelt werden.428 „Umschulungsbereitschaft“ konnte in Beziehung gesetzt werden zum Ausbildungsstand, zur Berufsgruppe, zum Alter, zur Gesundheit oder zur Schulbildung, zur bisherigen Teilnahme an Schulungen sowie zur Berufszufriedenheit.429 Diese Kontingenzanalysen schufen einen neuen sozialen Tatbestand. Hinter sämtlichen Daten witterten die Dortmunder Arbeitsmarktbeobachter einen „schleichenden Wandel“, der sich in den vorangehenden Jahren „unbemerkt von der Öffentlichkeit“ vollzogen habe: einen „Berufswechsel von beachtlichem Ausmass“.430 Rund jeder zweite Befragte sei „nicht mehr im Ausbildungsberuf tätig“.431 Damit bestätigte die Dortmunder Studie die für die 1960er Jahre typische und ubiquitäre Diagnose der Erosion der Beruflichkeit, die auf eine Sondererhebung zur Berufsausbildung im Mikrozensus des Jahres 1964 zurückging.432 In der Zusammenfassung rangen sich die Autoren eine „intersektionale“ Zusammenschau ab, indem sie mehrere Faktoren sozialer Differenz unter dem Signum der „geistigen Mobilität“ amalgamierten. Vor allem 18- bis 30-jährige Arbeitslose würden eine höhere Mobilitätsbereitschaft aufweisen, ebenso wie „vollausgebildete“ Arbeiter. Gleichzeitig sei der Einfluss der Schulbildung „erheblich“. Insgesamt sei die „Schulungsbereitschaft“ am ausgeprägtesten „bei den sich gesund und im Beruf qualifiziert 4 27 Ebd. 428 Ebd., S. 22 – 25. 429 Ebd., S. 26 – 33. 430 Ebd., S. 40. 431 Ebd. 432 Vgl. Erlernter und ausgeübter Beruf (Ergebnis des Mikrozensus April 1964), in: Wirtschaft und Statistik (1967), 10, S. 577 – 578. Vgl. zum in der Bundesrepublik seit 1957 durchgeführten Mikro­zensus als erste Arbeitskräfteerfassung nach dem Zweiten Weltkrieg Jochen F. Mayer: The State and Spaces of Official Labour Statistics in the Federal Republic of Germany, c.1950 – 1973, Diss., Edinburgh 2012, https://www.era.lib.ed.ac.uk/bitstream/handle/1842/7957/Mayer2012.pdf?​ sequence=1&isAllowed=y, letzter Zugriff: 10. 2. 2021, S. 101 f. Zum Kaiserreich und zur Weimarer Republik Bénédicte Zimmermann: Arbeitslosigkeit in Deutschland. Zur Entstehung einer sozialen Kategorie, Frankfurt a. M. u. a. 2006.

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fühlenden ­Facharbeitern“.433 Im Umkehrschluss führte diese Verschränkung von Wissen, Körper und Alter im „hohe[n] Mobilitätsgrad […] der Jüngeren, schulisch und beruflich Vollausgebildeten“ zur Definition seines Widerparts.434 Methode und Inhalt verschränkten sich zum roten Faden, der sich durch das Dickicht der Kreuztabellen zog: Wegen der „nachlassende[n] geistige[n] Beweglichkeit der Arbeitslosen“ scheine eine Umschulung von Personen über 45 Jahren „wenig sinnvoll“. Ebenso zeigte sich das Arbeitsamt Dortmund in seiner Lesart tabellarischer Evidenz davon überzeugt, dass „die Schulung von Sonderschülern sowie Hilfsarbeitern ohne Volksschulabschluß, zu denen ja früher auch Hilfsschüler gehörten, kaum oder nur in Ausnahmefällen erfolgsversprechend“ sein dürfe. Es würden schlicht „die geistigen Voraussetzungen“ fehlen.435 Damit ließen sich sämtliche Kategorien, Merkmale und Einflussgrößen vereindeutigen: Von 845 Personen, die sich zur Umschulung bereit erklärt hatten, zogen die Arbeitsamtsbeamten Arbeiter über 45 Jahren, Facharbeiter aus zukunftsträchtigen Berufen sowie Sonderschüler und Volksschüler ohne Abschluss ab, um zu bilanzieren: 278 Umschulungswillige lebten in Dortmund, dementsprechend verfüge die Stadt über ein Potential geistiger Mobilität von 17,4 Prozent (278 der 1598 befragten Arbeitslosen).436 Das epistemische Ding der „geistigen Mobilität“ benötigte also eine Multiplikation der Kategorien, Korrelationsannahmen und Abhängigkeiten, die selbst wiederum einer Vereindeutigung bedurften. Mobilität interpretieren

Vor einem ähnlichen Problem der Evidenzerzeugung stand auch das Bonner Arbeitsministerium, nachdem das Kölner WEMA-Institut im März 1968 die Ergebnisse einer Erhebung über die „sozialen Voraussetzungen beruflicher Mobilität“ präsentiert hatte.437 Das BMA hatte das Kölner Institut eines ehemaligen Assistenten von René König, Horst Schmelzer, damit beauftragt, eine Erhebung zu Mobilitätsverhalten und -dispositionen von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern durchzuführen.438 4 33 Arbeitsamt Dortmund/MBP: Mobilität, S. 41. 434 Ebd. 435 Ebd., S. 42. 436 Ebd. 437 Lutz Esser: Wema-Studie über die sozialen Voraussetzungen beruflicher Mobilität. Hier: Auswertung durch das Referat Öffentlichkeitsarbeit. Schreiben an den Minister und den Staatssekretär, 20. 3. 1968, in: BArch B 149/8480, S. 1. Altmann: Arbeitsmarktpolitik, S. 150 geht also fehl in der Annahme, das BMA habe für die Arbeitsmarktpolitik keine Studien in Auftrag gegeben. 438 Das 1966 gegründete WEMA -Institut für Empirische Sozialforschung, Informatik und angewandte Kybernetik kooperierte mit verschiedenen Regierungen. Auch der rheinland-pfälzische Ministerpräsident und spätere Bundeskanzler Helmut Kohl konnte sich den ­kybernetischen

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Ziel war es, herauszufinden, wie und ob sich Mobilitätsverhalten messen, steuern und fördern ließe. Die Studie, die, wie weiter unten ausgeführt, organisatorisch nicht nach den Vorstellungen der Ministerialbürokratie verlief, hinterließ auch in ihrem Ergebnis ratlose Gesichter. Zum einem lieferte das WEMA -Institut zeitversetzt zwei (eigentlich: drei) getrennte Berichte – einen über die Befragung von Arbeiternehmerinnen und Arbeitnehmern und einen über die Stimmung unter den „meinungsbildenden Gruppen“ 439 – im Umfang von insgesamt rund 500 Seiten mit mehreren Hundert Kreuztabellen, die Merkmale und Haltungen zur Mobilität kombinierten. Auch warteten die Berichte nicht mit einer übergreifenden These auf, mit der sich arbeiten und Mobilitätspolitik betreiben ließ. Paradoxerweise hielt in der vermeintlichen Hochphase wissenschaftlicher Politikberatung der Bericht zu der Besprechung der Studie fest, „daß auch bei empirisch-soziologischen Untersuchungen die Diskrepanz z­ wischen Wissenschaft und praktischen Bedürfnissen groß ist.“ 440 Dementsprechend sah sich die versammelte Ministerialexpertise – das Bundesfamilien- und das Bundesministerium für Wirtschaft waren ebenfalls eingeladen – zu der lakonischen Feststellung genötigt, ein „Gesamturteil“ könne „noch nicht abgegeben werden“.441 Ebenso werde die Auswertung der Studie wegen der „zahlreichen Einzelergebnisse“ noch einige Zeit in Anspruch nehmen. Bisher bestätige sie lediglich „die bereits aus der praktischen Arbeit gewonnenen Erfahrungen“ wie die „Abnahme der Mobilitätswilligkeit bei zunehmendem Alter“.442 Zum anderen fand auch die von der Abteilung Öffentlichkeitsarbeit vorgesehene große Pressekonferenz zur Präsentation der Studie nicht statt.443 Die zuerst nur bis Steuerungsversprechen nicht entziehen. Er bestellte 1971 ein „Integriertes Planungs-, Entscheidungs- und Kontrollsystem“, das scheiterte. Die Angelegenheit entwickelte sich zu einer Affäre, die in einem Untersuchungsausschuss und in den 1980er Jahren in einer Haftstrafe für Schmelzer wegen Steuerhinterziehung endete. Bei Weischer: Unternehmen wird es nicht erwähnt. Vgl. mit Hinweisen auf das Institut Jens Gnau: Von „integrierter Planung“ zum Politikmanagement? Eine verwaltungswissenschaftliche Betrachtung zur Entwicklung politischer Planung, dargestellt anhand der Regierungsplanung in Rheinland-Pfalz von 1971 bis 1994, Diss., Speyer 2015, https://dopus.uni-speyer.de/frontdoor/deliver/index/docId/927/file/ GnauJens.pdf, letzter Zugriff: 10. 2. 2021; Fledderhaftes Aufwühlen, in: Der Spiegel Nr. 44, 27. Oktober 1986. 439 WEMA-Institut: Bericht; WEMA-Institut: Voraussetzungen. 440 Eduard Schlipf: WEMA-Projekt über die „Voraussetzungen der beruflichen Mobilität“ (Hauptstudie) – Ergebnisbericht über die Besprechung am 8. 4. 1968, 16. 4. 1968, in: BArch B 149/8480, S. 1. 4 41 Ebd. 4 42 Ebd., S. 2. 4 43 Esser: WEMA-Studie, S. 1; Eduard Schlipf: Wema-Studie. Gesprächs-Notiz über fernmündliche Unterredung am 19.3.68 mit Herrn Lutz Esser (Öffentlichkeitsarbeit), 20. 3. 1968, in: BArch B 149/8480.

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zum 1. Mai 1968 auf die Studie verhängte Sperrfrist 444 verlängerten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer bei der Besprechung auf unbestimmte Zeit, modifizierten sie zu einer Verwendung „‚nur für den Dienstgebrauch‘“ und beschlossen schlussendlich, von einer Publikation in Buchform abzusehen.445 Stattdessen sollten die einzelnen Referate, deren Arbeit die Studie tangiere, nun auch schriftlich mitteilen, wie die „Erkenntnisse in die praktische Arbeit umgesetzt werden können“.446 Die Kreuztabelle als Erkenntnisinstrument schuf keine Eindeutigkeit und Übersichtlichkeit, sondern veruneindeutigte die Situation zusätzlich – Verwissenschaftlichung zog bereits im Nahbereich und bevor die Öffentlichkeit Kenntnis davon hatte, nicht intendierte Folgen nach sich. Doch auch die Reaktionen der anderen Beamten nahmen sich nicht eindeutig aus. Ein Referat monierte lediglich, die Studie beruhe auf „unbestimmten Berufsvorstellungen“.447 Da Arbeitsplatz- und Berufswechsel nicht sauber getrennt würden, ­seien „keine Schlüsse“ möglich.448 Auch die für die Ausarbeitung des Arbeitsförderungsgesetzes zuständige Planungsgruppe um den Volkswirt und ehemaligen Wirtschaftsjournalisten Johann Frank sah sich durch die WEMA -Studie nicht berührt.449 Eine Stellungnahme könne „erst nach Vorlage des umorganisierten Berichts erfolgen“.450 Eduard Schlipf, der federführende Beamte, vermerkte auf dem Schreiben, dass Marianne Dünnwald, die auch Teil der Planungsgruppe war, die „Schwierigkeiten“ in den Verhandlungen mit dem WEMA -Institut „und auch seine Weigerung, den Bericht nochmals umzuorganisieren“, kenne.451 Schlipf insistierte: Es gehe doch um eine „Stellungnahme zu den Ergebnissen und nicht zu [!] einer Stellungnahme der Gliederung“.452 Die Antwort der in der Zwischenzeit in die Grundsatzabteilung I umgewandelten Planungsgruppe war vernichtend. Die Studie bestätige lediglich Bekanntes und liefere dafür Zahlen.453 Dort, wo sich Ergebnisse zeigten, die „allgemeinen Auffassungen zu widersprechen scheinen“, müsse dem Dokument keine 4 44 Eduard Schlipf: Forschungsprojekt (WEMA). „Wertsoziologische Studie über die Voraussetzungen [!] der beruflichen Mobilität“. Hier: Sitzungsbericht vom 18. 3. 1968, 22. 3. 1968, in: ebd. 4 45 Schlipf: WEMA-Projekt, 16. 4. 1968, S. 2. 446 Ebd. 4 47 Dahnen: WEMA-Projekt über die „Voraussetzungen der beruflichen Mobilität“. Schreiben an Referat IIa1, 30. 4. 1968, in: ebd. 4 48 Ebd. 4 49 Zu Frank vgl. Altmann: Arbeitsmarktpolitik, S. 94. 450 Johann Frank: WEMA-Projekt. Schreiben an IIa1, 25. 4. 1968, in: ebd. 451 Ebd., handschriftlicher Vermerk. 452 Ebd. 453 Ders.: WEMA-Studie über Mobilität. Stellungnahme Ib3 an IIa1 zur WEMA-Studie, 24. 6. 1968, in: ebd.

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­Aufmerksamkeit geschenkt werden.454 Diese Irrelevanz liege – hier warf Frank das akademische Kapital des promovierten Volkswirts in die Waagschale – vor allem an Methodenfehlern: Die „Bedingungen einer echten Stichprobe“ s­ eien „nicht gegeben“ und der Begriff der Mobilität vermische mit zählbaren Wechselprozessen einerseits und Wertvorstellungen andererseits „grundverschiedene Elemente“. Auch berücksichtigten die Wertvorstellungen nicht die im Lebensverlauf eingetretenen Einflüsse der „verschiedenen Zeitepochen“ und es sei nicht auszuschließen, dass die Studie auf „Scheinkorrelationen“ beruhe.455 So ließe sich nicht ausschließen, dass „die stärker dogmatische (negative) Einstellung höherer sozialer Schichten zur beruflichen Mobilität“, die die Studie zu messen glaube, schlicht daran liege, dass es sich „bei diesen Schichten vorwiegend um ältere Personen“ handele.456 Mit dieser Methoden- und Evidenzkritik stand Frank keineswegs allein. In den Verhandlungen um die Frage, ob die Studie noch veröffentlicht werden sollte, holte das BMA zwei Gutachten ein, die ihre Qualität bewerten sollten. Insbesondere ein anonymes Gutachten kritisierte ähnliche Punkte wie das Grundsatzreferat. Das Stichprobenverfahren sei nur vage beschrieben, von den willkürlich herausgegriffenen Untersuchungsstädten liege „nur Bochum in einem Gebiet mit nennenswerter Arbeitslosigkeit“.457 Schlimmer noch: Durch ­dieses Verfahren könne „Repräsentativität“ nicht erreicht werden, was auch verhindere, Zusammenhänge zu belegen. Denn, so der Autor spöttisch, „zwischen Mobilität und Bierkonsum – um hier nur einige mögliche Merkmalskombinationen anzuführen – bestehen keinerlei zwingende Abhängigkeiten.“ 458 Rundheraus sprach er dem WEMA-Institut die Wissenschaftlichkeit ab. Die angegebene Erhebungsmethode des „quotenkontrollierten Gebietsauswahlverfahrens“ suggeriere in ihrer „Ausdrucksweise […] eine Exaktheit der Erhebung, die tatsächlich nicht gegeben ist“.459 Darüber hinaus verwende das WEMA-Institut den t-Test, ohne dass dafür die Voraussetzungen der Zufallsauswahl, der Normalverteilung und der Intervalleigenschaft gegeben ­seien. Entweder, folgerte der Kritiker, waren sich die Autoren über die „methodischen Voraussetzungen der Anwendbarkeit d ­ ieses Tests nicht klar und folgten einem wissenschaftlichen Ritual, welches die Verwendung von Tests gebietet“, oder sie waren „sich über die Voraussetzungen dieser Methode im Klaren und wandten 4 54 Ebd. 455 Ebd. 456 Ebd., S. 1 f. 457 Schreiber: Stellungnahme zur Studie des WEMA-Instituts „Soziale Voraussetzungen beruflicher Mobilität“, 14. 8. 1969, in: BArch B 149/8480, S. 1. 458 Ebd., S. 3. 459 Ebd.

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sie dennoch an, um den ungeschulten Beobachter mit der scheinbaren Exaktheit des wissenschaftlichen Apparats zu beeindrucken“.460 Auch ließen sich Mittelwerte bei Meinungsäußerungen, die nach Werten von eins bis fünf geordnet s­ eien, nicht berechnen. Es handele sich damit bei dem Vorgehen des WEMA-Instituts um ein Verfahren „von nur scheinbarer Exaktheit“.461 Zudem habe die Schule um Paul Lazarsfeld gezeigt, wie sinnvoll Prozenttabellen zur Darstellung komplexer Zusammenhänge ­seien.462 Dementsprechend habe das WEMA-Institut versucht, „dem Lazarsfeld’schen Beispiel zu folgen“.463 Leider kämen viele Ungenauigkeiten in den Tabellen vor. Fragen würden nicht präzise angegeben, außerdem fehle die Grundgesamtheit beziehungsweise sei manchmal zu gering. Es liege bei dem Bericht „die Vortäuschung einer Scheingenauigkeit [!]“ vor, denn Genauigkeit sei eigentlich nicht gegeben.464 Das zweite Gutachten des Marburger Instituts für Sozialwissenschaftliche Forschung (ISF) sprach dem WEMA-Institut ebenfalls ab, eine „soziologische Untersuchung“ vorgelegt zu haben.465 Es handele sich vielmehr um eine „teils wirtschaftswissenschaftlich orientierte, überwiegend jedoch sozialpsychologische Untersuchung subjektiver Voraussetzungen potentieller Mobilitätsvorgänge in ausgewählten Personenkreisen“. Anzuerkennen sei aber das „freilich nicht sehr weittragende Bemühen, über die rein wirtschaftstheoretische Definition beruflicher Mobilität hinauszugelangen“. Kurzum: Der „Subjektivismus“ versperre den Blick auf gesellschaftliche Strukturen. Es gehe auch gar nicht um tatsächliche Mobilitätsprozesse, sondern nur um „Dispositionen zu Mobilitätsverhalten“.466 Dieser „subjektivistische ‚bias‘“ führe zu einer Konzentration auf „evaluative und psychische Elemente aktuellen, meist jedoch potentiellen Verhaltens von Individuen“.467 Diese Perspektive reduziere,

460 Ebd., S. 4. 461 Ebd., S. 5. 462 Vgl. zu Lazarsfeld, dem Amerikanisierungsdiskurs in den Nachkriegssozialwissenschaften und zum Übergang von der bi- zur multivariaten Statistik Weischer: Unternehmen, S. 345 und passim; zu Lazarsfeld als Wissenschaftsmanager Peter Wagner: Sozialwissenschaften und Staat. Frankreich, Italien, Deutschland 1870 – 1980 (Theorie und Gesellschaft 17), Frankfurt a. M. u. a. 1990, S. 316 – 320; Hans Braun: Kann ein „wissenschaftlicher Unternehmer“ ein „soziologischer Klassiker“ sein?, in: Soziologische Revue 23 (2000), S. 117 – 122. 463 Schreiber: Stellungnahme, S. 6 f. 464 Ebd. 465 ISF: Stellungnahme zu WEMA-Institut für empirische Sozialforschung GmbH & Co. KG, Köln. Bericht zu einer Soziologischen Analyse der „Sozialen Voraussetzungen beruflicher Mobilität“ (Az. MA/024/SM), Köln im März 1968, 27 [!] S., Method. Anhang, Vervielf. Typoskript, 18. 9. 1968, in: BArch B 149/8480, S. 1. 466 Ebd. 467 Ebd., S. 3.

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so die Hauptkritik des Instituts, Mobilität auf „das durch Verhaltensdispositionen gesteuerte, situativ hervorgerufene potentielle Verhalten der Arbeitsanbieter, das sich an die Struktur der Arbeitsnachfrage anpassen muß“.468 Dieser Vorwurf gegenüber der Studie war zu ­diesem Zeitpunkt nicht neu. Bereits im August 1967 während der Vorstudie und vor Erteilung des endgültigen Auftrags meldete sich das Rationalisierungskuratorium der Deutschen Wirtschaft beim BMA und warf dem WEMA-Institut fehlendes Renommee und mangelnde Wissenschaftlichkeit vor. Ohne mehr als den Titel der Studie zu kennen, beschwerten sich die Rationalisierungsexperten darüber, dieser lasse auf „fragwürdige Vorstellungen von den ‚sozialen Voraussetzungen‘“ schließen.469 „Noch befremdlicher“ schien den beiden Gewerkschaftsvertretern im RKW „der Ausdruck ‚wertsoziologisch‘, da ihm ein merkwürdiges Verständnis von Soziologie zugrundezuliegen scheint“. In dieser Form sei die Studie „wissenschaftlich bedenklich“ und das „bislang unbekannte“ Institut begutachtungswürdig, bevor ein Auftrag zu erteilen sei.470 Dass dieser Einwand auch als nicht sonderlich subtiler Versuch verstanden werden konnte, im Feld der Arbeitsforschung die finanzielle wie inhaltliche Deutungsmacht zu wahren, blieb auch dem Beamten des BMA nicht verborgen. Er notierte, „daß das RKW am liebsten alles selbst machen u.[nd] daran ‚verdienen‘ will“.471 Wenn also mathematische Evidenz offenkundig umstritten war, drängt sich die Frage auf, woraus die WEMA -Studie ihre Legitimität und Strahlkraft bezog. Die Kritik sowohl des ISF als auch des RKW ging insofern fehl und blieb wirkungslos, als sie genau diejenige Ausrichtung adressierte, aufgrund deren das BMA das WEMA -Institut ausgewählt hatte. Im ministerialen Interesse stand eben nicht die Kenntnis von Fluktuationszahlen und objektiven Bedingungen, die sich verschieben und anpassen ließen. Der Blick der Beamtinnen und Beamten richtete sich auf das hinter der Mobilität liegende individuelle und nur bedingt veränderbare Wesen des (im)mobilen Subjekts. Das BMA verortete sich über die Studie ebenfalls am Übergang von der Fluktuationsprävention zur Mobilitätsförderung. Dementsprechend war es für Marianne Dünnwald und Eduard Schlipf ein Leichtes, die Studie zusammenzufassen und das für das BMA zentrale Ergebnis herauszustellen. Dabei fiel auch die erste interne Beurteilung durchweg negativ aus und sprach für eine gescheiterte Verwissenschaftlichung. Schlipf beschwerte sich, dass der genutzte Fragebogen „nicht mit dem beschlossenen und vom Hause genehmigten Fragebogen“ 468 Ebd., S. 2. 469 Heckenauer/Welteke: Untersuchungen zu beruflicher Mobilität. Schreiben des RKW an Amtsrat Fragstein, BMA, 24. 8. 1967, in: BArch B 149/8479, S. 1. 470 Ebd. 471 Ebd., S. 3, Rückseite.

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übereinstimme.472 Auf telefonische Nachfrage gab Walter Tebert vom WEMA-Institut sogar zu, dass „einige BMA-Wünsche durch Interviewer-Anweisungen ‚geheilt‘ worden ­seien“, da das Institut „nicht mehr alle Fragebögen neu drucken“ wollte.473 Außerdem monierte Schlipf, der Bericht sei „schlecht und unübersichtlich gegliedert“, seine Auswertung „äußerst erschwert“.474 Als erstrebenswert empfand Schlipf aber keine prägnantere Gliederung sowie klar herausgestellte und gut begründete Thesen, sondern umgekehrt, „daß unter jede[r] gestellte[n] Frage auch die Ergebnisse – gegliedert nach Sachgebieten – zu finden sind.“ 475 In Mobilitätsfragen war das BMA also gar nicht auf die Autorität und das Air wissenschaftlicher Politikberatung aus. Die Beamtinnen und Beamten verstanden das Forschungsinstitut vielmehr als eine technische und organisatorische Erweiterung, um Tätigkeiten, die das BMA aus Kapazitätsgründen nicht ausführen konnte, erledigen zu lassen: Die Erzeugung von Evidenz, die Hoheit über das Wissenschaftliche lag demensprechend beim Ministerium selbst. Unmut erregten folglich die verspätete Abgabe, der bei der Lektüre spürbare „Zeitdruck des Instituts“ sowie das Fehlen eines „vorläufige[n] Berichts“, da „die Aufbau- und Gliederungsfehler kaum revidierbar“ ­seien.476 Die Verwissenschaftlichung war somit nur insofern nicht gescheitert, als der Bericht ob seiner Unübersichtlichkeit großen Spielraum für Interpretationen bot und damit den ministeriellen Erwartungen entgegenkam. Für Dünnwald und Schlipf lag der Ariadnefaden, der durch das Labyrinth der Kreuztabellen führte, in der bestimmenden Rolle des Alters und in einer normativen Lesart des Mobilitätsbegriffs. Die Evidenz der Differenzkategorie der Klasse fand sich auf diese Weise durch die des Alters überlagert. So hielten Dünnwald und Schlipf zunächst fest, höhere soziale Schichten ­seien bereit, „einen größeren Umlernaufwand“ in Kauf zu nehmen.477 Bei den „unteren Schichten“ dagegen sei die Mobilität „nicht so groß, wie die Zahlen über die bloße Häufigkeit nahelegen“. Messe man berufliche Mobilität nämlich am „übernommenen (Um-)Lernaufwand[]“,478 sei die Unterschicht eigentlich immobil. Was als „‚berufliche‘ Mobilität erscheint“, g­ leiche vielmehr „dem, was traditionell als Arbeitsplatzmobilität bezeichnet wird“. Auch Arbeitslose wiesen eine „geringe Bereitschaft auf […], sich 472 Eduard Schlipf: „Wema-Studie“ – Prüfbericht. Handschriftlicher Aktenvermerk, 23. 3. 1968, in: BArch B 149/8480, S. 1. 473 Ebd. Hervorhebung im Original. 474 Ebd. S. 2. 475 Ebd. 476 Ebd., S. 2 f. 477 Marianne Dünnwald/Eduard Schlipf: Zusammenfassung des Ergebnisses der Hauptuntersuchung der WEMA-Studie über die „Sozialen Voraussetzungen beruflicher Mobilität“, 26. 3. 1968, in: BArch B 149/9480, S. 3. 478 Ebd.

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in Mobilitätsprozessen Anforderungen zu stellen, die eine Umstrukturierung und einen Neuerwerb von beruflichen Qualitäten verlangen“.479 Der immobile verdrängte den fluktuierenden Arbeiter damit als Negativfolie. Die Offenheit des Mobilitätsbegriffs erlaubte eine weitere Unterscheidung. Auf der einen Seite stand eine positiv beurteilte Mobilität höherer Schichten für „Prestigeffekte [!]“,480 zu mehr Selbstständigkeit und höheren Positionen, zu persönlich ausfüllenden Tätigkeiten, zur „symbolisch-expressiven Dimension“ der Arbeit.481 Auf der anderen Seite weise Mobilität bei den „unteren Schichten“ einen „instru­ mentelle[n] Aspekt“, also das Streben nach „Einkommen, Sicherheit, kurze[m] Arbeitsweg“, auf.482 Auch was die „[k]ognitiven Voraussetzungen (Wissen)“ für „adaptives Verhalten“ angehe, zeigten sich Differenzen, die auf die soziale Schicht zurückzuführen ­seien.483 Während bei Individuen aus höheren Schichten die „Bereitschaft zur Wissenserweiterung“ ausgeprägter sei, liege ein Bruch ­zwischen un- und angelernten Arbeitern sowie Facharbeitern.484 Diese Unterscheidung schien für die beiden Beamten naheliegend, da für sie die „geringen bildungsmäßigen Voraussetzungen […] die geringe Bereitschaft der UUS [Unteren Unterschicht] zur Wissenserweiterung“ erklärten.485 Lag hinter diesen Deutungen die Unterscheidung ­zwischen negativer Fluktuation und positiver Mobilität, die sich aus der mangelnden Bildbarkeit des Arbeiters ergebe, fanden Dünnwald und Schlipf mit dem Alter eine zweite Differenzkategorie, die sie für maßgeblich befanden. Ein steigendes Alter, folgerten sie aus der Studie, führe zu reduzierter Mobilität.486 Es bestehe, so das vom WEMA-Institut vorgegebene Schlagwort, in den verschiedenen Branchen und über die Schichten hinweg „ein ‚cultural lag‘“.487 Mit ­diesem Begriff hatte der US-amerikanische Soziologe William Ogburn 1922 noch die verlangsamte Anpassung des kulturellen Fortschritts an den technischen bezeichnet und für den „lack of adjustment“ des Menschen – „nervousness and insanity“ – noch ein eigenes Kapitel vorgesehen.488 Dünnwald und Schlipf setzten Mensch und Kultur unumwunden in eins: Die ­„kulturellen 4 79 Ebd. 480 Ebd., S. 2. 481 Ebd., S. 9. 482 Ebd., S. 8. 483 Ebd., S. 14. 484 Ebd., S. 15. 485 Ebd. 486 Ebd., S. 9. 487 Ebd., S. 10. 488 Vgl. William F. Ogburn: Social Change with Respect to Culture and Original Nature, New York 1923, S. 200 – 213 und S. 312 – 331. Nach Nolte: Ordnung, S. 347 war Ogburn einer der Stichwortgeber zur Deutung sozialen Wandels in der Bundesrepublik der 1960er Jahre.

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Vorstellungen der Älteren“ entstammten einer „ökonomischen und technischen Wirklichkeit, die nicht mehr existiert“.489 Die „geringe kognitive Vertrautheit mit den Objekten ‚moderner‘ Wirtschaftszweige‘“ führe auch in den Berufen zu „einer Zurückhaltung“ gegenüber Neuerungen.490 Daraus schlossen Dünnwald und Schlipf auf eine „abnehmende Sensitivität für das Wachsen der beruflichen Anforderungen“. Dieses Abstumpfen bedeutete für sie, dass „ältere Arbeitnehmer ganz plötzlich und unerwartet mit den Konsequenzen einer mangelnden Anpassung ihrer beruflichen Qualitäten konfrontiert werden“.491 Die ministeriale Skepsis gegenüber den Älteren wich bald einer Fassungslosigkeit: Nur rund 20 Prozent der Erwerbstätigen zweifelten daran, ausreichend auf die Arbeit der Zukunft vorbereitet zu sein.492 Diese ­seien zwar in die „Kategorie der Umschulungswilligen einzustufen“, es ergebe sich aber insgesamt ein desolates Bild. Etwa die Hälfte der erwerbstätigen Männer meinte, vor dem Renteneintrittsalter von 65 Jahren „keinen Berufs- oder Arbeitsplatzwechsel notwendig“ zu haben. Auch sei besorgniserregend, dass sich circa acht von zehn Personen noch nicht auf einen Berufswechsel vorbereiteten. Sie verspürten entweder „keine berufliche Gefährdung“ oder hielten ihre Berufe für vor dem technischen Wandel geschützt.493 Auch Klaus Zekorn kommentierte, dass die Studie eine „Unkenntnis dieser Personen über die tatsächlichen Gegebenheiten“ verrate.494 Die Alten und Immobilen, so die ministeriale Furcht, verschliefen ob ihrer Selbstzufriedenheit den Wandel. Und trotzdem: Dünnwald und Schlipf konnten sich nicht zu einer eindeutigen Lesart, die Hans Katzer präsentiert werden sollte, durchringen.495 Am Ende bemerkten sie pflichtschuldig, dass es ihnen nur darum gehe, „schlaglichtartig einige besonders interessierende Ergebnisse zusammenzufassen“.496 Die Kategorien Alter und Klasse dominierten die Diskussion. Eine eindeutige Lesart, welcher Faktor wichtiger sei, wollte der ministeriale Blick aber auch in der weiteren Diskussion nicht ausmachen. Trotzdem stieß der Mobilitätsbegriff auf positiven Widerhall. Er bestätigte durch seine Unbestimmtheit und die dadurch evozierte Andeutung einer anthropologischen, hinter dem Offensichtlichen liegenden Bedeutung die 4 89 Dünnwald/Schlipf: Zusammenfassung, S. 10. 490 Ebd. 491 Ebd., S. 10 f. 492 Ebd., S. 22. 493 Ebd. 494 Klaus Zekorn: WEMA-Projekt über die „Voraussetzungen der beruflichen Mobilität“ (Hauptstudie). Antwort an IIa1, 10. 5. 1968, in: BArch B 149/8480, S. 2. 495 Vgl. Hermann Ernst: Zusammenfassung des Ergebnisses der Hauptuntersuchung der WEMAStudie über die „Sozialen Voraussetzungen beruflicher Mobilität“. Schreiben an Hans Katzer, 28. 3. 1968, in: ebd. 496 Dünnwald/Schlipf: Zusammenfassung, S. 25.

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­ nnahmen, die dem Mobilitätsimperativ zugrunde lagen: Irgendwo verliefe eine A Grenze ­zwischen einer beeinflussbaren und förderbaren Mobilität einerseits und einer dem staatlichen Zugriff nicht zugänglichen Immobilität andererseits. So wussten Dünnwald und Schlipf zu triumphieren: In ihren Augen wies die WEMA-Studie nach, dass „der Neigung zum Berufs- oder Arbeitsplatzwechsel Einstellungsmuster zugrunde liegen, die sich allgemein auf berufliche Mobilität beziehen“.497 In ihren Augen unterminierte diese Erkenntnis die Annahme, „die eine Veranlassung zum Berufs- oder Arbeitsplatzwechsel aus eher zufälligen und marginalen Eigenschaften der beruflichen Situation (Arbeitsbedingungen, Einkommen u. a.)“ erkläre. Der anthropologisierende Blick fand seine Bestätigung auch jenseits empirischer Phänomene: Gehe man von „latente[n] Einstellungsmuster[n]“ aus, die Mobilität „prädisponieren“, dann s­eien Marktfaktoren lediglich „Randbedingungen“. Die Hypothese, die dem Arbeitsmarkt entscheidende Bedeutung zuwies, sei dagegen falsch. Ansonsten würden sich keine „so manifesten Differenzen in fundamentalen Einstellungsmustern“ z­ wischen „Personen, die sich hinsichtlich der – personalen – Notwendigkeit, Beruf oder Arbeitsplatz zu wechseln, unterschieden“, zeigen.498 Diese Stoßrichtung gegen eine „neoklassische“ Arbeitsmarkttheorie ließ nur einen Schluss zu:499 Das WEMA-Institut beweise, „daß die Bereitschaft zu beruflicher Mobilität auf sozial-kulturelle Wertvorstellungen (Einstellungsmuster) zurückzuführen ist“.500 Mobilität lag damit im Wesen, nicht in der bloßen Erscheinung. Der Wille zur Umstellung war aus dieser Perspektive nur bedingt marktabhängig und formalisierbar. Er lag tiefer. Ihn zu berühren, zu formen und zu kanalisieren erforderte adäquate Mittel. Ein einfaches, mobilitätsähnliches Verhalten, das aber keine echte Mobilität (sondern nur Fluktuation) war, reichte nicht aus. So eindeutig die Vielfalt der Kreuztabellen, Korrelationen und Kausalitäten auf die Existenz und die tieferliegende Bedeutung des Willens zur Umstellung hindeuteten, so uneindeutig blieb, wie er zu reizen, zu fördern, zu adressieren sei. Einzelne Korrelations- und Rechenfehler nahmen sich aus dieser Perspektive als lässliche Sünden aus, denn das eigentliche Ziel lag hinter der einfachen Korrelation von Variablen. Eindeutig war nur: Eine homogene Gruppe der Arbeiterbevölkerung gab es nicht. „Der“ Arbeiter löste sich in den Datenmengen auf und erschien nur noch als Kategoriengewebe von Alter, Geschlecht, Klasse, Berufsabschluss, Bildungsniveau und Bildbarkeit, die als Ausdruck einer dahinterliegenden Mobilität galten. Je mehr sich der verwaltende Blick der Klasse beziehungsweise der Schicht näherte, desto 4 97 Ebd., S. 13. Hervorhebung im Original. 498 Ebd. 499 Zur Dogmengeschichte der Arbeitsmarkttheorie vgl. Simon Weingärtner: Soziologische Arbeitsmarkttheorien. Ein Überblick, Wiesbaden 2019, S. 17 – 62. 500 Dünnwald/Schlipf: Zusammenfassung, S. 13.

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mehr zerfaserten diese metonymischen Großkategorien der Selbstthematisierung der deutschen Gesellschaft seit dem 19. Jahrhundert. Dieses zergliederte Subjekt zu erreichen, bedurfte es besonderer Maßnahmen. Mobilität vermitteln

Diese Versuche der Vereindeutigung scheinbar eindeutiger Evidenz trafen aber keineswegs auf Gegenliebe. Weder im Dortmunder Fall noch für die WEMA Erhebung ließ sich Eindeutigkeit herstellen. Was das Ergebnis der Dortmunder Mobilitätsstudie war, blieb umstritten. Für die einen stellte sie einen mobilitätspolitischen Befreiungsschlag dar. Helmut Keunecke, der Geschäftsführer der IHK Dortmund, triumphierte: Es sei in der Diskussion um den Strukturwandel zur „Mode“ geworden, die „Immobilität der freigesetzten Bergleute“ zu beklagen.501 Es wimmele nur so von „mobilitätshemmenden Faktoren“ wie dem „legendäre[n] Taubenverein“ und der „nächsten Eckkneipe“. Die Studie korrigiere nun das „klischierte Bild vom einfältigen Kumpel“. Die „räumliche Mobilität“ der Kumpel werde nur noch von den Angestellten überholt, während ihre „berufliche Mobilität“ unübertroffen sei.502 Dabei gestand Keunecke durchaus ein, dass ein erhöhtes Alter und das Geschlecht – „Frauen“ an sich wiesen „natürlicherweise […] weitaus geringer[e]“ Mobilitätsquoten auf – Mobilität einschränkten.503 Nichtsdestotrotz sei die Analyse „einmalig“ und erschließe das „neue[] Terrain der sozial-ökonomischen Verhaltensforschung“ für die Strukturpolitik.504 Damit verwies Keunecke darauf, dass die (Im-)Mobilität der Ruhrgebietsbevölkerung die Frage aufwarf, wie volkswirtschaftlich und individuell irrationales ökonomisches Verhalten – das Verweilen trotz wirtschaftlicher Nachteile – erklärt und bekämpft werden könne. Auch Harald Koch, Vorstandsmitglied der Hoesch AG und Mitglied im Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, sah die Studie als Bestätigung seiner Überlegungen zur Mobilität von Arbeitern der Schwerindustrie. Er lobte die Untersuchung ausführlich und verstand sie „als repräsentativ“ für die gesamte Bundesrepublik.505 501 Helmut Keunecke: Stellungnahme des Hauptgeschäftsführers der Industrie- und Handelskammer zu Dortmund, Dr. Keunecke, zur Untersuchung des Arbeitsamtes Dortmund über die Mobilität der Arbeitslosen (auszugsweise), o. D. [Januar 1968], in: LAV NRW-R, NW 65 Nr. 130, S. 1. 502 Ebd. 503 Ebd., S. 2. 504 Ebd. Zur Verhaltensforschung vgl. Rüdiger Graf: „Heuristics and Biases“ als Quelle und Vorstellung. Verhaltensökonomische Forschung in der Zeitgeschichte, in: Zeithistorische Forschungen/ Studies in Contemporary History 12 (2015), S. 511 – 519. 505 Harald Koch: Untersuchung: „Wie steht es um die Mobilität bei arbeitslosen Arbeitnehmern?“. Schreiben an Gerhard Ahl, Direktor des AA Dortmund, 18. 1. 1968, in: LAV NRW-R, NW 65

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Für andere (und in anderen Situationen) wiederum bedeutete die Dortmunder Studie das genaue Gegenteil. Auch auf der Umschulungskonferenz des RKW im Mai 1968 in Düsseldorf stellte sie einen Referenzpunkt dar. Durch die Gründung eines nationalen Umschulungszentrums bedroht, drehte Keunecke seine Position um 180 Grad. Er fürchte, das geplante Zentrum könne „nicht zu der notwendigen Elastizität“ beitragen.506 Die Arbeitsverwaltung zeige sich vielmehr ideenlos im Umgang mit der „Unbeweglichkeit unserer Arbeitskräfte“.507 Der nordrhein-westfälische Landesbildungssekretär der Deutschen Angestelltengewerkschaft spitzte die Deutung der Studie zu. Sie belege eindeutig, „daß die Bereitschaft, sich umschulen zu lassen, an einem anderen Ort zu arbeiten bzw. an einen anderen Ort umzuziehen, außerordentlich gering ist“.508 Die „Schwerpunkte der Einstellung der Arbeitslosen“ – Immobilität und Widerwillen – offenbarten sich durch die Untersuchung. Dementsprechend erklärte er – das Damoklesschwert des Umschulungszwangs beschwörend –, dass „jeder, der nicht bereit ist, die Umstände einer Umschulung auf sich zu nehmen, auch die Konsequenzen zu ziehen habe“.509 Die Lösung der Probleme des Strukturwandels lag also in der individuellen Verantwortung für die Steigerung des Willens zur Umstellung. Die Essenz der Mobilität war staatlichem Handeln unzugänglich. Im Vergleich dazu traf die WEMA-Studie auf ein einhelligeres Echo. Intern konnten die Bonner Beamtinnen und Beamten kein eindeutiges Argument heraus­ filtern und sahen sich mit widersprüchlichen Gutachten konfrontiert. Nach außen schufen die Zirkulationswege Eindeutigkeit. Die Auswertung zog sich über die erste Jahreshälfte des Jahres 1968 hin und war begleitet von Anfragen nach Studieneinsicht.510 Es hagelte ebenso ungeduldige Nachfragen aus dem Arbeitsministerium selbst, da das Interesse an der Studie groß sei und diese „täglich an Aktualität“ verliere.511 Als dann auch noch das Referat Öffentlichkeitsarbeit von einer Pressekonferenz abrückte und stattdessen einen Artikel in den Sozialpolitischen Informationen – dem Pressemitteilungsblatt des BMA – anregte,512 war der ö­ ffentlichkeitswirksame Nr. 130, S. 1. 5 06 RKW NRW: Zusammenfassung, S. 5. 507 Ebd. 508 Ebd., S. 6. 509 Ebd. 510 Vgl. etwa das Schreiben des Bundesverbands der Deutschen Industrie Karl Josef Uthmann/­ Körber: Berufliche Mobilität. Schreiben an das BMA, 16. 5. 1968, in: BArch B 149/8480. 511 Hermann Ernst: WEMA-Forschungsbericht über die „Sozialen Voraussetzungen beruflicher Mobilität“. Hier: Aufhebung der Sperrfrist. Schreiben an das Referat Öffentlichkeitsarbeit, 24. 6. 1968, in: ebd. 512 Eduard Schlipf: Wema. Bezug: Schreiben v. Herrn L. Esser. Gesprächs-Notiz über persönliche Unterredung am 5.7.68 mit Dr. Hillebrand, BMA Pressestelle, 5. 7. 1968, in: ebd.

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Coup gescheitert. Dazu kam noch ein praktisches Problem. Zwar sollte die Sperrfrist für den ersten Teil der Studie zum 12. Juli 1968 aufgehoben werden, wegen der „beschränkten Anzahl der Studie“ konnten aber nur sechs Exemplare verschickt werden.513 Mobilität schillerte also nicht nur inhaltlich in verschiedenen Farben – auch materiell ließ sie sich nicht dingfest machen. Einen Fixierungsversuch stellte die Publikation in den Sozialpolitischen Informationen dar, dem eigentlichen Rezeptionskanal, da die Studie, abgesehen von einer eigenständigen Monografie des WEMA-Instituts einige Jahre ­später,514 sonst nur bei Institutionen und Verbänden landete. Angefertigt durch Walter Tebert, der auch für das WEMA-Institut an der Untersuchung beteiligt war, griff die Zusammenfassung einzelne Ergebnisse heraus, um am Ende zu folgern, eine „negative Einstellung zum Berufswechsel“ zeige sich bei: 1. älteren Personen 2. höher qualifizierten Berufen 3. Beamten und Selbständigen 4. Personen mit langjähriger Unternehmenszugehörigkeit 5. Personen mit positiver Einschätzung der eigenen Ausbildung.515

Diese Liste zeichnete sich durch ihre kompakte Form aus – und stellte das Kondensat dar, in dem die WEMA-Ergebnisse zirkulierten. Lag ihr noch eine Grammatik der Differenz zugrunde, die ­zwischen Alter, Qualifikation und Klasse unterschied, ohne eine eindeutige Gewichtung vorzunehmen, fiel der Tenor der Diskussion – verfolgt durch den Pressedienst des BMA – einhellig aus: „An Weiterbildung denken nur wenige“, hieß es etwa im General-Anzeiger.516 Die Bonner Rundschau folgerte – im Widerspruch zu den in der Studie identifizierten Defizitgruppen –, dass „steigende berufliche Qualifikation […] mobiler“ mache.517 Die nicht Quali­ fizierten ­seien dagegen umso schlechter vorbereitet, denn, so lernte die oder der Hauptstadtredakteurin oder -redakteur, ihre Immobilität liege nicht nur „in ihrem 513 Ders.: WEMA-Forschungsprojekt. hier: Forschungsbericht zu einer soziologischen Analyse der „Sozialen Voraussetzungen beruflicher Mobilität“, Aktenvermerk, 9. 7. 1968, in: ebd. 514 Tebert/Schmelzer: Voraussetzungen. 515 Walter Tebert: Die sozialen Voraussetzungen beruflicher Mobilität. Kurzfassung der Studie für die Sozialpolitischen Informationen, 10. 7. 1968, in: BA rch B 149/8489. Der Bericht fand sich abgedruckt in: Sozialpolitische Informationen, Jahrgang II /9, 15. Juli 1968, S. 5 – 7, enthalten in: ebd. 516 An Weiterbildung denken nur wenige. Eine neue Studie über die berufliche Anpassung, in: General-Anzeiger, 17. Juli 1968, enthalten in: ebd. 517 Viele wechseln oft den Beruf, in: Bonner Rundschau, 18. Juli 1968, abgedruckt in: BMA, Pressestelle: Schnelldienst, Jahrgang XIII/131, 18. 7. 1968, in: ebd., S. 1.

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Verhalten, sondern auch in ihrem Willen und in ihren Wünschen begründet“.518 Der Spiegel sprach davon, dass die Ergebnisse der WEMA-Studie für Beschäftigte und Bildungseinrichtungen „wenig schmeichelhaft“ ­seien – die „Industriebürger“ wähnten sich „in der Geborgenheit vorindustrieller Gesellschaftsordnungen“.519 „[Z]ünftlerische Wertvorstellungen“, ein negatives Bild des Arbeitsamtsbesuchers und ein Hängen an der „vertraut-gemütliche[n] Umgebung“ verhinderten Mobilität. Die beschworene Vorstellungswelt des Strukturwandels beglaubigte die dröge Evidenz der bereits zur Identifikation von Menschengruppen geronnenen Kreuztabellen und Zahlenwüsten. Neben dem Bild einer Umschulungswerkstatt in ­Gelsenkirchen hieß es, dass die Mehrzahl der Umschulungsunwilligen und Mobilitätsverweigerer sich, statt umzuschulen, „lieber mit den Annehmlichkeiten der gewohnten Umwelt, der Eckkneipe, dem Fußball und Taubenzüchter-­Verein über die Tatsache sozialer Unterprivilegierung“ hinwegtrösten würden. Das Hamburger Nachrichtenmagazin spekulierte gar, die Ergebnisse torpedierten die „Pläne des Katzer-Ministeriums“ für das Arbeitsförderungsgesetz.520 Immobilität manifestierte sich für die Republik im Ruhrgebiet, das als Bewährungsprobe und Wasserscheide für das AFG gesehen wurde. Die Stimmung war also eindeutig. Sie stellte den Arbeiter ins Rampenlicht, der sich nun endlich „der Entwicklung anpassen“ müsse.521 In ­diesem Crescendo waren leisere und beschwichtigende Töne leicht zu überhören. Nachdem sich der erste, durch Agenturmeldungen und die Sozialpolitischen Informationen aufgewirbelte Staub gelegt hatte, wies Roswin Finkenzeller darauf hin, dass die Notwendigkeit zur Umstellungswilligkeit zwar gegeben sei, der Wandel aber nicht „so rasch, wie einige Stimmen suggerieren“, vonstattengehe.522 Die WEMA-Ergebnisse würden „nicht den Eindruck vermitteln, als würden sich die Dinge überstürzen“. Nur 50 Prozent der Befragten hätten bereits den Beruf gewechselt und an der „Spitze dieser vom Schicksal der Modernität geprägten Gruppe“ stünden die Arbeits­ losen und Ungelernten, während Hochqualifizierte das Schlusslicht bilden würden. Eigentlich s­ eien die Ergebnisse „sehr konventionell“. Beschwichtigen wollte er aber nicht. Die „Kunst des Umsattelns“ zu beherrschen sei unumgänglich, besonders weil „die Psychologie der Massen auf künftige Berufsuntergänge noch nicht richtig eingestimmt ist“.523

5 18 Ebd. 519 Ernsthafte Sperre, in: Der Spiegel Nr. 31, 29. Juli 1968, enthalten in: ebd. 520 Ebd. 521 Vgl. etwa Katzer: Arbeitnehmer müssen sich der Entwicklung anpassen, in: Süddeutsche Zeitung, 20. Juli 1968, enthalten in: ebd. 522 Roswin Finkenzeller: Die Unlust, umzusatteln. Zu einer Untersuchung über Häufigkeit und Beliebtheit des Berufswechsels, in: Süddeutsche Zeitung, 6. August 1968, enthalten in: ebd. 523 Ebd.

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Auch in d­ iesem wie im Fall des Arbeitsamts Dortmund galt: Die Beschwörung der Mobilität und die Anrufung des Arbeiters als immobiles Subjekt basierten darauf, dass für die Akteur:innen das innere, hinter den Erscheinungen liegende Wesen der Mobilität chronisch unbestimmt war. Gleichzeitig und histo­riografisch bedeutet die Darstellung solcher illustrativer Quellen nicht, ihre Anrufung zirkulär zu wiederholen. Die Struktur der ewigen Wiederholung der Diagnose mangelnder Mobilität gepaart mit der Forderung nach höherer Beweglichkeit und Anpassungsfähigkeit war selbst Ergebnis eines historischen Prozesses, der sich für das BMA aus der WEMA -Studie ergab. Es wäre also verkürzt, die WEMA Studie und ihre Zirkulation als Missverständnis oder als effekthascherisch zu lesen – dieser Modus des Sprechens war Teil der Strategie, die im Zuge der Studie entwickelt wurde. Bereits in den Vorbereitungen zum Arbeitsförderungsgesetz hatten sich auch die Bonner Beamtinnen und Beamten des BMA – sowohl das Fachreferat als auch die Planungsgruppe sowie das Referat Öffentlichkeitsarbeit – gerührt. Im Juli des Jahres 1967 sondierten die Referentinnen und Referenten die Möglichkeiten und Grenzen der politischen Steuerung von Mobilitätsverhalten. Geladen waren Vertreter der Robert Pfützner GmbH aus München. Es handelte sich dabei um das Unternehmen, das hinter dem Institut Mensch und Arbeit stand. Dieses Institut beriet in den 1960er Jahren vor allem den bundesdeutschen Bergbau bei Führungskräfteproblemen und die europäische Montanindustrie in Fragen der Ausbildungsrationalisierung.524 Das Problem des BMA beschrieb der zuständige Referent Hermann Ernst als ein Regierungsproblem: Die Anpassung an „den technischen Fortschritt und Umstrukturierungen in der Wirtschaft“ erforderten, „die Mobilität der Arbeitskräfte“ zu erhöhen. Das geplante AFG sehe dazu mit Umschulung und Fortbildung Hilfestellungen vor. Wie, so die Frage des Ministerialbeamten, „kann der einzelne nun dazu bewegt werden, an d­ iesem Anpassungsprozess aus eigenem Antrieb teilzunehmen?“ Es sei schließlich hinlänglich bekannt, dass ein „Appell mit wirtschaftspolitischen Argumenten […] fruchtlos“ bleibe. Die Herren aus München schienen sich mit dem Problem auszukennen. Sie illustrierten in einer „Demonstrationsschau“, wie sie ähnliche Probleme in Industriebetrieben durch Broschüren, Lernprogramme und Tonbildschauen gelöst hatten.525 Diese

524 Vgl. bspw. Institut Mensch und Arbeit/Robert Pfützner GmbH (Hg,): Richtig führen im Bergbau, 4 Bde., München 1964. Vgl. dazu Martha Poplawski: Humanisierung unter Tage? Das HdA-Programm und seine Umsetzung im westdeutschen Steinkohlenbergbau, in: Kleinöder/ Müller/Uhl (Hg.): Humanisierung, S. 215 – 232. 525 Marianne Dünnwald: Probleme beruflicher und regionaler Mobilität; hier: Hausbesprechung am 18. Juli 1967 mit den Herren der Robert Pfützner GmbH, München. Vermerk, 9. 7. 1967, in: BArch B 149/8479, S. 1.

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Methoden versprächen, „den Einzelnen in seiner Motivation dahingehend [zu] beeinflussen, daß er von sich aus an der Erreichung des gesteckten Zieles mitarbeitet“.526 Gegen die Umschulung gebe es noch „starke Widerstände“, die „einer Erhöhung der beruflichen und regionalen Mobilität hemmend entgegenstehen“. Aber, d ­ ieses Eindrucks konnte sich Marianne Dünnwald nicht erwehren, das Insti­ tut Mensch und Arbeit verfüge über die „geeigneten Methoden für die Bewältigung der Mobilitätshemmnisse“. Über diese Hemmnisse sollte jedoch zunächst eine Studie angefertigt werden.527 Die WEMA-Studie fand sich also von Beginn an nicht nur in einem theoretischen, sondern auch in einem praktischen Kontext der Regierung von Mobilität und der Beeinflussung von Mobilitätsverhalten. Nach dem Abschluss der Mobilitäts-Hauptstudie einigten sich das BMA, das WEMA-Institut und das Institut Mensch und Arbeit (beziehungsweise die Robert Pfützner GmbH) auf drei Hauptziele für die Öffentlichkeitsarbeit zur Mobilitätsförderung: die „Einwirkung auf Jugend­liche wegen Erstausbildung“, das „werbende[] Einwirken auf Erwachsene“ für mehr Weiterbildung und Umschulung sowie zuletzt die „Förderung der regionalen Mobilität“.528 Auf diesen Prinzipien baute die Kampagne „Dynamisch im Beruf“ auf, die aus einer Wanderausstellung, einem Film, aus verschiedenen Tonbildschauen und einer Broschüre zur Entscheidungshilfe in Mobilitätsfragen bestand.529 Im Dezember 1968 reflektierte der Arbeitskreis Öffentlichkeitsarbeit des Bundesarbeitsministeriums diese nach den Methoden der „großräumigen Wirtschaftswerbung“ abgelaufene Aktion.530 Ziel war es, „bei den Arbeitnehmern das Verständnis und die Einsicht in die Notwendigkeit einer beruflichen Anpassung an die sich ständig ändernde Arbeitswelt zu fördern“. Damit sollte die Öffentlichkeitsarbeit „zu einem neuen Berufsdenken und einem neuen Berufsverhalten“ führen.531 Für die weitere Arbeit hatte das WEMA-Institut eine „Marketingkonzeption“ entwickelt. Die Berufs­dynamik hatte es dazu in 320 Einzelthemen zergliedert, um daraus eine „81 Th ­ emen umfassende, in 13 Stufen gegliederte Argumentationskette“ aufzubauen, die „einen Lernprozeß ergebe“.532 In d ­ iesem dreistufigen Prozess gehe es nicht nur um „eine sachliche Information“, sondern darum, ein ­„Verhaltensmuster“ zu

5 26 Ebd., S. 2. 527 Ebd. 528 Eduard Schlipf: Langfristiges Konzept der Öffentlichkeitsarbeit aufgrund der WEMA-Ergebnisse. Hier: Sitzungsniederschrift vom 10. 5. 1968, 21. 5. 1968, in: BArch B 149/8480, S. 2. 529 BA/BMA: Beruf. 530 BMA. Referat Öffentlichkeitsarbeit: Vermerk über die Sitzung des Arbeitskreises Öffentlichkeitsarbeit am 17. Dezember 1968, 7. 1. 1969, in: BArch B 149/8480, S. 1. 531 Ebd. 532 Ebd., S. 2.

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­vermitteln. In der ersten Lernphase würden „alle Ereignisse“ beschrieben, „die die Wahrnehmung der Problemsituation ermöglichen“. In der zweiten Phase gehe es um ihre „Bewertung“. Zuletzt bereite die Struktur die „Entscheidung zur Umorientierung auf die Muster modernen Berufsdenkens und Berufsverhaltens“ vor.533 Diese Schrittfolge gab auch die Broschüre des BMA vor.534 Diese Perspektive des Arbeitsministeriums lässt sich als Teil kybernetischer Regierungsvorstellungen begreifen.535 Sie zeigte sich als Maschine zur Produktion von Krisendiskursen.536 Das BMA kaufte vom WEMA-Institut eine Anleitung, die dazu diente, Diskurse der krisenhaften Mobilität zu generieren. Die medialen Formen und Darstellungen der Mobilität spiegelten die Deutung, die das BMA produzierte. Die inszenierte Krise der Mobilität bescheinigte kein Versagen der Arbeitsmarktpolitik – sie stellte erst die Bedingungen ihres Gelingens her. Diese Vorstellung und diese Rede von der defizitären Mobilität waren aber keineswegs so eindeutig und so festgeschrieben wie medial präsentiert. Das BMA misstraute seinen eigenen Ergebnissen. Als Schlipf beispielsweise die WEMA-Studie für den Gesprächskreis Berufliche Bildung beim Bundesarbeitsminister zusammenfasste,537 merkte er selbstkritisch an, die Studie lasse auch den Schluss zu, „daß der Fortbildungswille sehr hoch ist“.538 Auch könne bei einer Bereitschaft zur Wissenserweiterung in Höhe von 67,6 Prozent – was immer dies konkret heißen mochte – „nicht allgemein von einer geringen Bereitschaft zu beruflicher Fortbildung gesprochen werden“.539 Darüber hinaus setze die Kurzfassung des Berichts, die das Institut vorgelegt hatte, die „Bereitschaft zur beruflichen Fortbildung“ zu den „rasch sich verändernden beruflichen Anforderungen“ in Bezug. Diese Geschwindigkeit sei aber „ebenso wenig meßbar“ wie der technische Fortschritt, folglich sei „diese Korrelation […] falsch“.540 In dem Moment, in dem Mobilität und Anpassungsfähigkeit endlich eindeutig schienen, entglitten sie wieder, verflüssigten sich 5 33 Ebd. 534 BA/BMA: Beruf. 535 Vgl. Benjamin Seibel: Cybernetic Government. Informationstechnologie und Regierungsrationalität von 1943 – 1970 (Frankfurter Beiträge zur Soziologie und Sozialpsychologie), Wiesbaden 2016, insbes. S. 75 – 82 zu einer Rationalität, der es weniger um den Inhalt der Botschaft als um die „Ökonomie ihres Transports“ (S. 76) ging. 536 Vgl. nur Rüdiger Graf: Die Krise als epochemachender Begriff im 20. Jahrhundert, in: Martin Sabrow (Hg.): Das 20. Jahrhundert vermessen. Signaturen eines vergangenen Zeitalters (Geschichte der Gegenwart 13), Göttingen 2016, S. 149 – 166. 537 Vgl. dazu etwa Schwarz: „Zauberschlüssel“, S. 109 – 111. 538 Eduard Schlipf: Gesprächskreis für Fragen der beruflichen Bildung. Schreiben an Unterabteilung IIc4, 5. 3. 1969, in: BArch B 149/8480, S. 4. 539 Ebd., S. 5. 540 Ebd.

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und vagabundierten. In dem Maße, in dem die Quantifizierung Mobilität vereindeutigen sollte, trug sie zu ihrer Veruneindeutigung bei. Tatsächlich eindeutig war hingegen Folgendes: Mobilität deutete über sich selbst hinaus und evozierte das Eigentliche, das Wahre, ihr letztgültig beweisbares Wesen. Dafür musste sich nur die richtige Methode finden lassen. Die Vermessung der Mobilität war also bereits erfolgt und gescheitert,541 lange bevor Kritik, Gegenexpertise und alternative Verwissenschaftlichung des Mobilitätsbegriffs Mitte der 1970er Jahre einsetzten. Diese bewegten sich ideengeschichtlich betrachtet in den Bahnen einerseits konservativer Kultur-,542 andererseits linker Ideologiekritik des Berufsbildungssystems.543 Zunächst handelte es sich um eine Kritik an der Überforderung des Individuums durch Selbstoptimierungsimperative, vor allem in ideologiekritischer Stoßrichtung: Der US-amerikanische Historiker James A. Henretta verwies etwa auf die der „Ideologie der Mobilität“ immanente Annahme des „Primat[s] individualistischer Werte“ bei politischer Gleichheit und ökonomischer Ungleichheit.544 Mobilitätsstudien würden immer untersuchen, inwieweit das Versprechen der amerikanischen Revolution eingelöst worden sei. Der Begriff der Mobilität kaschiere damit eine Ideologie des Marktes der weißen, protestantischen Mittelschicht.545 Er eröffne also neue Möglichkeiten zur (Selbst-) Ökonomisierung. Diese Kritik am „Imperativ der Mobilität ohne mögliches Außen“ als „Flucht ohne Ende“ reicht bis in die Gegenwart, findet ihre Wurzeln aber in den 1970er Jahren.546 In ähnlichem Duktus entlarvte Brunhilde Sauer in ihrer im Jahr 1973 verteidigten sozialwissenschaftlichen Dissertation den Mobilitätsbegriff als Herrschaftsinstrument des Kapitals.547 An sich sei Mobilität positiv zu b­ ewerten, 541 Zu den drei Lesarten des Begriffs des Vermessens z­ wischen erstens der Zuordnung eines Maßes, zweitens dem falschen Messen und drittens der Überheblichkeit vgl. Mau: Das metrische Wir, S. 23. 542 Vgl. etwa Vance Packard: Die ruhelose Gesellschaft. Ursachen und Folgen der heutigen Mobilität [1972], München 1975. 543 Bspw. Axel Deeke: Lohnarbeit und Beruf. Überlegungen zum Verhältnis von Mobilität und beruflicher Bildung (Untersuchungen der Sozialforschungsstelle Dortmund 1), Köln 1974; Dirk Axmacher: Erwachsenenbildung im Kapitalismus. Ein Beitrag zur politischen Ökonomie des Ausbildungssektors in der BRD, Frankfurt a. M. 1974; Michael Masuch: Politische Ökonomie der Ausbildung. Lernarbeit und Lohnarbeit im Kapitalismus, Reinbek bei Hamburg 1972. Für einen vergleichbaren Prozess beim Begriff der Leistung vgl. Verheyen: Erfindung, S. 191 – 195. 544 James A. Henretta: The Study of Social Mobility: Ideological Assumptions and Conceptual Bias, in: Labor History 18 (1977), S. 165 – 178, hier S. 165 und 168. 545 Ebd., S. 172 f. 546 Barrère/Martuccelli: Modernité, S. 69. 547 Vgl. Brunhilde Sauer: Regionale Mobilität der Arbeiter. Theoretischer Ansatz zur Untersuchung von Mobilitätsbarrieren bei vorwiegend beruflich wenig qualifizierten Arbeitern, Diss., Göttingen 1976.

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erklärte sie und beanspruchte, eine allgemeine, ideologiekritische Th ­ eorie der Mobilität zu präsentieren. Mit Ideologie bezeichnete sie, dass eine Aussage „falsch“ sei, es gehe um „Täuschung“ und Verschleierung; die Ideologie sei „Ausdruck gesellschaftlicher Interessen […] der herrschenden Gruppen“.548 Damit konnte sie zwei Typen der Mobilität beziehungsweise der Anpassung gegenüberstellen: Auf der einen Seite stand eine negative Anpassungsmobilität, die ohne Rücksicht auf die Wünsche der Arbeiterinnen und Arbeiter deren unfreiwillige „Disponibilität“ zu erhöhen suche – eine „Disponibilität“, die als „allseitige Verwendbarkeit, Verfügbarkeit oder Umsetzungsmöglichkeit“ dem Grundgesetz widerspreche.549 Dem stellte sie Selbstverwirklichung und Emanzipation durch Mobilität entgegen. Mobilität müsse dem Menschen „als einer selbstbestimmten Persönlichkeit und als Subjekt“ in seiner Entfaltung dienen.550 Damit kritisierte sie volkswirtschaftliche und verhaltensökonomische Studien zur Mobilität, in denen „die ‚Arbeitskraft‘“ entgegen dem Emanzipationsanspruch „nicht eine eigene Aktivität zum long-life-learning [!] und zur selbstbestimmten Mobilität entwickeln“ solle, „sondern die Eignung besitzen“ müsse, „je nach Bedarf ‚weiter qualifiziert zu werden‘“.551 Immobilität war in dieser Perspektive weder anthropologische Eigenschaft einer Bevölkerungsgruppe noch individuelle psychische Disposition, sondern eine durch betriebliche und ökonomische Herrschaft induzierte Unterwerfung. Nur die Befähigung zur freiwilligen regionalen Mobilität durch Bildung und Ausbildung ermögliche die „psychische Loslösung von Gegebenheiten, die einem Immobilen [bei wirtschaftlichen Krisen] als die einzige Möglichkeit erscheinen“.552 Diese positive räumliche Mobilität benötige eine Erziehung zur Selbstbestimmung. Da s­ olche Arbeiter aber „ein unbequemer, kostenreicher Faktor in der Kalkulation der Arbeitgeber“ ­seien, verhindere das Kapital diese positive Mobilität systematisch.553 In der Perspektive Sauers fächerte sich der Mobilitätsbegriff weiter auf: Der Gegensatz von (negativer) anthropologischer Immobilität und (positiver) Anpassungsfähigkeit und Mobilität akzentuierte sich. Zwar stimmte sie den Diagnosen der 1960er Jahre implizit in der negativen Beurteilung von Immobilität und der positiven Beurteilung von Mobilität zu, fügte aber noch eine Facette hinzu: Mobilität sei nur dann positiv, wenn sie im Eigeninteresse des Arbeiters liege und seiner Emanzipation diene. Mobilität und Anpassung, die von Betrieben und Unternehmen verlangt und gesteuert würden, lehnte sie dagegen als illegitime Herrschaft ab. 548 Ebd., S. 20 – 22. 549 Ebd., S. 49. 550 Ebd. 551 Ebd., S. 32. 552 Ebd., S. 57. 553 Ebd., S. 58.

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Damit übernahm sie unter umgekehrten Vorzeichen die Kritik der Wirtschaftsverbände an den staatlichen Bemühungen um die Steigerung von Mobilität- und Anpassungswilligkeit. Der Verwaltung und den Gewerkschaften dagegen war es von vornherein um die Regierung des Willens zur Umstellung und nicht der Umstellung selbst gegangen. Sauer kleidete also das Problem des BMA, das Eigeninteresse an Mobilität ohne Zwang zu wecken, in neue Begriffe. Ihre Perspektive deutet weniger auf eine inhaltliche Verschiebung des Mobilitätsdiskurses in den 1970er Jahren hin als vielmehr auf seine erneute Politisierung. Die Vereindeutigung der Mobilität und die in ­diesem Sinne gescheiterte Verwissenschaftlichung auf der Ebene der Politikberatung ließ aber noch einen anderen Ausweg zu: Wenn Mobilität eine Disposition war, deren Veränderbarkeit zwar nahelag, aber nicht genau feststand, Studien keine befriedigende Antwort und Erfahrungen im Ausland bereits entsprechende Andeutungen lieferten, dann mussten eigene Einrichtungen geschaffen werden, die die Prämissen des AFG und die Anthropologie der Mobilität beweisen sollten. Einer war mit den Ergebnissen der WEMA-Studie nämlich zufrieden: Gerhard Filla stellte fest, das WEMA-Institut bestätige „die Erkenntnisse, die das BMA bisher bei seinen Bemühungen, die Mobilität der Arbeitnehmer zu fördern, gewonnen hat“.554 Die Lehre, die sich aus der Abstufung der Mobilität nach Gruppen ergab, war für ihn eindeutig: Die Mobilitätshindernisse führten ihn zu der Forderung, Umschulungen „besser auf die besonderen Verhältnisse dieser Gruppen abzustellen.“ Filla maß den WEMAErgebnissen eine unmittelbare Relevanz bei, die das Projekt eines Umschulungszentrums im Ruhrgebiet zur gesonderten Erwachsenenausbildung als richtigen Weg erscheinen ließ.555 Die bundesrepublikanische Mobilitätsbereitschaft sollte also dort hergestellt werden, wo sie am umstrittensten war: Das immobile Ruhrvolk authentifizierte Mobilitätsdiskurse nicht nur, es musste selbst mobil werden. Es müsse, so verkündete das Entwicklungsprogramm Ruhr der NRW-Landesregierung im Frühjahr 1968, „die berufliche ‚Mobilität‘ der Arbeitnehmer des Ruhrgebietes durch Maßnahmen der Umschulung und Weiterbildung gefördert werden“.556 Strukturwandel verlangte nicht nur nach Strukturpolitik und Industrieansiedlungen. Strukturwandel erforderte die geistige Mobilmachung des Ruhrvolks. Mit dem Qualifizierungsimperativ und der Frage nach der Umstellungsfähigkeit sowohl des Auszubildenden als auch des „älteren Arbeitnehmers“ Mitte der 554 Gerhard Filla: WEMA-Projekt über die „Voraussetzungen der beruflichen Mobilität“ (Hauptstudie). Schreiben an IIa1, 26. 4. 1968, in: BArch B 149/8480, S. 1. 555 Ebd. 556 Landesregierung Nordrhein-Westfalen: Entwicklungsprogramm Ruhr 1968 – 1973, Düsseldorf 1968, S. 20.

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1960er Jahre entdeckten die Arbeits- und Ministerialverwaltung, aber auch die Gewerkschaften, die schwerindustriellen Bildungseinrichtungen und die Öffentlichkeit den Erwachsenen als Bildungssubjekt, das mobil, anpassungswillig und flexibel zu sein hatte, also einer Wissenspolitik der Anpassung unterworfen werden sollte. Sowohl in Deutschland als auch in Frankreich ersetzten Stufenausbildung und Lerncomputer Jugendlager, Führungsschulung und Milieukontrolle. Ebenso ersetzte die Problemfigur des immobilen Arbeiters die des fluktuierenden Arbeiters. Stichwortgeber und wissensgeschichtlicher Referenzpunkt war in der Bundesrepublik keineswegs die Humankapitaltheorie US-amerikanischer Provenienz, sondern ein sozialwissenschaftlicher Mobilitätsbegriff. Dieser rührte zum einen von früheren Umstellungserfahrungen in Südfrankreich her, zum anderen knüpfte er an ältere rassenanthropologische Forschungen an. Hörte mit dem Ende der Berufsausbildung in französischen Bergbau der schwerindustrielle Raum dort auf, als wissenspolitisches Interventionsfeld zu dienen, war die Rolle in der Bundesrepublik umgekehrt. Der Wille zur Umstellung der Ruhrgebietspopulation entwickelte sich zum Fixstern der Debatte: einerseits, um sozialpolitische Ansprüche durchzusetzen und Industriearbeiter einzupassen, andererseits, um sich diesen Ansprüchen zu verweigern oder eigene Ziele zu verfolgen. Auch die daraufhin einsetzenden Vereindeutigungsversuche mittels mechanischer Objektivität schufen nur neue Vereindeutigungsbedürfnisse: Sowohl der Wille der Auszubildenden zur Umstellung als auch der entsprechende Wille der Erwachsenen bedurfte praktischer Erprobung, in deren Zuge sich eine Wissenspolitik der Anpassung zu einer Wissenspolitik des Ausschlusses wandelte. Dadurch änderte sich die Perspektive auf den Willen zur Umstellung graduell: Eine uneindeutige Grenze wurde eindeutiger, klarer, rigider. Diese Zuspitzung erfolgte aber nicht in den Büros und Fluren des Bonner Arbeitsministeriums, sondern in den Umschulungs- und Anpassungsinsti­ tutionen im Ruhrgebiet.

Teil II: Von der Anpassung zum Ausschluss

5 Die Expansion der Erwachsenenausbildung und die Grenzen der Anpassungsfähigkeit (1968/69 – 1975)

5.1 Experimentalsysteme der Bildbarkeit und der Betrieb als epistemischer Ort Die verschiedenen Studien ergaben keine eindeutige Antwort auf die Frage nach dem Umstellungswillen und der Umstellungsfähigkeit arbeitsloser und älterer Arbeitnehmer. Diese Mehrdeutigkeit mündete jedoch nicht in ein Patt, sondern eröffnete einen Raum für Experimente. Die Versuche liefen um das Jahr 1968 an und dauerten bis in die 1970er Jahre, teils länger. Sie versprachen, das Problem der Umstellungsfähigkeit am Ruhrgebiet zu lösen, um daraus Schlüsse für die gesamte Bundesrepublik zu ziehen. Für das Bundesarbeitsministerium und die Gewerkschaften handelte es sich bei diesen Institutionen, die im Folgenden im Mittelpunkt stehen – dem Berufsförderungszentrum Essen, der Gesellschaft zur Verbesserung der Beschäftigtenstruktur und dem nicht realisierten Modellzentrum für die berufliche Eingliederung schwer vermittelbarer, insbesondere älterer Arbeitnehmer –, um Laborsysteme. Darin sollten die neue wissenspolitische Ordnung belegt und Wege der Umstellung aufgezeigt werden. Für die Arbeitsverwaltung stellten sie aber vor allem einen Kostenfaktor dar, während die Wirtschaftsverbände sie als weitreichenden Eingriff in ihre Autonomie brandmarkten. Für die Arbeiter – fast ausschließlich Männer –, die in ­dieses neuartige institutionelle Ensemble gerieten, zeichnete sich diese Experimentalordnung durch ihre wahrgenommene Vieldeutigkeit aus, die ­zwischen den Funktionen des Theaters und des Labors changierte: Beispielhaft zeigt sich hieran, wie die Wissenspolitik seit dem 19. Jahrhundert einstudierte Modi des Arbeiter-Seins insofern obsolet machte, als diese im Experimentalsystem Strukturwandel kein Gehör mehr fanden – und auch nicht finden konnten. Das 1968 als Verein gegründete Berufsförderungszentrum Essen, das Bfz, war das erste staatliche Umschulungszentrum der Bundesrepublik. In der Zusammenarbeit von Bundesarbeitsministerium, BAVAV, Land NRW und Gewerkschaften entstand ein Zentrum, in dem zunächst ehemalige Industriearbeiter, aber auch Personen aus der gesamten Bundesrepublik, zukunftsweisende Berufe erlernen sollten.1 Als 1 Vgl. Bfz Essen: Geschichte. Gegenwart. Vision. 35 Jahre Bfz-Essen e. V. Berufsförderungszen­ trum, Essen 2006.

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Modellinstitution sollte es Ausgangspunkt für ein bundesweites Netz von Ausbildungseinrichtungen sein und gleichzeitig empirische Forschung zur Ausbildung der Erwachsenenausbilderinnen und -ausbilder ebenso wie zur Methodik und Didaktik der Erwachsenenausbildung leisten. In der 1968 gewählten Form existierte es bis 2003. Als die Bundesregierung mit dem E ­ rsten Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt („Hartz I“) die Finanzierungsgrundlage von Umschulungen durch die BA reduzierte, sah sich das Bfz vermeintlich in die Insolvenz gezwungen und in eine Weiterbildungseinrichtung umstrukturiert.2 Bei der ebenfalls 1968 ins Leben gerufenen Gesellschaft zur Verbesserung der Beschäftigtenstruktur, der GVB, handelte es sich um ein von den ­Kirchen (Bistum Essen, die Evangelischen ­Kirchen von Westfalen und im Rheinland) gefordertes und von BMA , Land NRW und BA gefördertes Unternehmen. Seine Aufgabe bestand in der Beschäftigung „älterer Arbeitnehmer“. Anders als im Fall des Bfz sollte Anpassungsfähigkeit bei der GVB durch praktische Arbeit, ­später begleitet durch sozialpädagogische und arbeitspsychologische Betreuung, bewiesen und gesteigert werden. Mit Betrieben in Essen, Dortmund und Gelsenkirchen wurde 1975 die stille Liquidierung der GVB beschlossen. Gemein ist beiden Einrichtungen, dass sie unter der Ägide des BMA entstanden, den Geist des AFG atmeten und Experimentalsysteme der Bildbarkeit darstellten. Nicht zufällig spielte Werner Boll in beiden Fällen eine wesentliche Rolle. Diese „Sozialexperiment[e]“ 3 stellten eine institutionelle Lesart des Strukturwandels dar. Sie rekonfigurierten das zeitgenössische Koordinatensystem arbeitsbezogener Differenz. In ­diesem Prozess und an diesen Institutionen zeigt sich verdichtet, so die Kernüberlegung des Kapitels, wie eine vom BMA zunächst unter Zuhilfenahme der Rehabilitationspädagogik entworfene Wissenspolitik der Anpassung an ihre – durch eine sehr hohe Kontingenz geprägten – Grenzen stieß. Damit setzte sich die Überzeugung durch, der Erwachsene besitze zwar eine Bildbarkeit, die aber ein Limit haben müsse, das es nun zu definieren gelte. In der wechselseitigen Beobachtung der Akteur:innen setzte sich also die Vorstellung einer Grenze der Umstellungsfähigkeit durch – ohne dass sich sagen ließ, wo diese eigentlich verlief. Hierin errang das junge Umschulungssystem der Bundesrepublik einen Pyrrhussieg: Je ambitionierter die Beteiligten die Umschulbarkeit des Erwachsenen beweisen wollten, desto enger mussten sie die Grenzen der Umschulbarkeit ziehen, um den selbst gesteckten Zielen gerecht zu werden.

2 So das ob der Quellenlage schwer prüfbare Narrativ. Ebd., S. 74. 3 Ursula Engelen-Kefer: Arbeitsmarktpolitische Strategien zur Verbesserung der Beschäftigungssituation älterer Arbeitnehmer, in: WSI-Mitteilungen 10 (1972), S. 305 – 312, hier S. 311.

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Die Gründung der Gesellschaft zur Verbesserung der Beschäftigtenstruktur und die Anpassung des „älteren Arbeitnehmers“

In dem Netz, das sich über dem Labor der postindustriellen Gesellschaft des Ruhrgebiets ausbreitete, tummelten sich nicht nur Ausbildungsexpertinnen und -­ experten, die den Choral des Qualifizierungsimperativs, der Mobilität und der Anpassungsfähigkeit sangen. Auch die K ­ irchen hatten ihren Auftritt. Franz Hengsbach begleitete die Fahrt durch eine Selbstinszenierung als guter Hirte, der in Sorge um seine Kirchgängerinnen und -gänger die Probleme der ihm Anvertrauten kommuniziert. Er richtete sich direkt an Anton Sabel, den Präsidenten der BAVAV, aus „Sorge um unsere Menschen und ihre Familien hier im Ruhrgebiet“.4 Die Arbeitslosigkeit in Nordrhein-Westfalen sei ein Problem des Ruhrgebiets und hier der „älteren, nicht mehr genügend anpassungsfähigen Menschen“.5 Diese ­seien zur Hälfte über 55 Jahre alt, aber auch von den 45- bis 55-jährigen Arbeitslosen kämen viele „infolge mangelnder Anpassungs- und Bildungsfähigkeit auch für Umschulungsmaßnahmen nicht mehr in Frage“.6 Dementsprechend schlug er für das Ruhrgebiet eine wertschaffende Arbeitslosenhilfe vor, die sich am Vorbild der niederländischen Werkstätten orientieren sollte.7 Sabel stimmte der Hengsbach’schen Wahrnehmung uneingeschränkt zu. Seine Schlussfolgerungen widersprachen denen des Essener Geistlichen aber: Leitete Hengsbach aus der vermeintlich mangelnden Bildungsfähigkeit die Notwendigkeit der Hilfe ab, begriff Sabel Umstellung als ein Problem des Willens. Es gehe zunächst darum, die Arbeitnehmer in den Betrieben zu halten.8 Er gestand durchaus zu, dass Qualifizierung wichtig sei und eine „größere fachliche Mobilität“ individuelle Beschäftigungsmöglichkeiten eröffne. Äußerst beunruhigt zeigte er sich jedoch darüber „daß auch jüngere Arbeitnehmer nicht in genügendem Maße bereit sind, etwas zu ihrer beruflichen Fortentwicklung zu tun“. Schlimmer noch: „[Ü]ber­​­spitzte Hilfsmaßnahmen“, zum Beispiel für entlassene Bergarbeiter, könnten „hinderlich“ sein.9 Nicht nur aufgrund fehlender Finanzierungsmöglichkeiten riet Sabel nach einem Besuch in den niederländischen Werkstätten von der Nachahmung ab. So eigne sich die Werkstatt in Arnheim keineswegs für die wertschaffende Arbeitslosenhilfe. Es handele sich vielmehr um „eine Einrichtung der Fürsorge für 4 Franz Hengsbach: Schreiben an Anton Sabel, 17. 11. 1967, in: Bistumsarchiv Essen, GVB, Bd. 1, S. 1. 5 Ebd. 6 Ebd., S. 1. 7 Ebd., S. 3. 8 Anton Sabel: Schreiben an Franz Hengsbach, 28. 11. 1967, in: ebd., S. 2. 9 Ebd.

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­Behinderte“.10 Offenkundig stimmte Sabel mit Hengsbachs Diagnose einer altersbedingten Bildungsunfähigkeit insofern nicht überein, als er die implizite Gleichsetzung von mangelnder Umstellungsfähigkeit, Alter und Behinderung nicht teilte. In den Niederlanden dagegen handelte es sich um „keine normalen Arbeitskräfte“ wie in Hengsbachs Fall: Solchen „normalen Arbeitskräften“ sei es „nicht zuzumuten, in solchen Betrieben zu arbeiten“.11 Sabel unterschied also kategorisch z­ wischen Behinderung und Alter, um den Vorstoß aus Essen abzublocken. Damit ließ sich der fürsorgliche Bischof jedoch nicht abspeisen. Er wurde noch deutlicher. In Rücksprache mit Alois Degen, dem Präsidenten des Landesarbeitsamts NRW, machte sich Hengsbach die Position des Amts zu eigen, um von der Bundesanstalt Gelder für den Umgang mit einer neuen Art der Behinderung zu erhalten. Die Antwort, die Hengsbach an Sabel schickte, stammte aus der Feder Degens,12 der wiederum auf einem Gutachten des Landesarbeitsamts zu den Werkstätten in den Niederlanden aufbaute.13 Die pastorale Sprache der Fürsorge harmonierte darin mit dem kategorisierenden und um Differenziertheit bemühten Blick der Düsseldorfer Beamtinnen und Beamten. Dementsprechend konnte Hengsbach seine „bildungsunfähigen“ Arbeitnehmer nun auch sehr präzise in der Zuständigkeitslogik der wohlfahrtsstaatlichen Institutionenlandschaft verorten: Seine „Sorge“ rühre in „besonderem Maße“ von den Arbeitern her, die „für eine Rente noch zu jung, aber für eine berufliche Umschulung leider schon zu alt sind“.14 Dieses Problem sozialstaatlicher Zuständigkeit stelle sich vor allem im Ruhrgebiet, wo die meisten der „älteren Arbeitslosen“ aus der Schwerindustrie stammen würden.15 Über die Denkfiguren der beschädigten Männlichkeit und des deformierten Körpers, der Dankbarkeit zu erwarten habe, enthüllte Hengsbachs von Alois Degen geleitete Beobachtung die Blindstellen der Strukturförderungspolitik. Ihre „[s]chwere Arbeit“ habe die „körperliche Leistungsfähigkeit“ dieser Arbeiter „vorzeitig herabgesetzt“, sie so geprägt und durchdrungen, dass „eine Umschulungsfähigkeit oft nur in unzureichendem Maße gegeben ist.“ Mehr noch: Aus der übermächtigen Schwerindustrie resultierten die „so oft beklagten Anpassungsschwierigkeiten dieser Männer an andere Arbeitsmethoden und andere Arbeitsbedingungen“. Betriebe, die für ­solche Arbeitnehmer in Frage kämen, würden sich im Ruhrgebiet nicht ansiedeln – „moderne Betriebe“ könnten auf „ältere Menschen, denen die Anpassung 10 Ebd., S. 3 f. 11 Ebd. 12 Alois Degen: Schreiben an Franz Hengsbach, 5. 12. 1967, in: ebd. 13 LAA NRW: Arbeitsbeschaffung für ältere Männer. Typoskript des Referats Ic des LAA NRW, Dezember 1967, in: ebd. 14 Franz Hengsbach: Schreiben an Anton Sabel, 6. 12. 1967, in: ebd., S. 2. 15 Ebd.

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schwerfällt, kaum noch Rücksicht nehmen“. Als „Preis des technischen Fortschritts“ müsse dies, so Hengsbach lakonisch, „in Kauf genommen werden“.16 Genau für diese nun in Erscheinung tretende Gruppe der „älteren Arbeitnehmer“ eigne sich jedoch das niederländische Beispiel. Dieses Modell sei allerdings, so pflichtete er Sabel bei, nicht eins zu eins übertragbar, denn vollkommen der Kategorie der Behinderung zuschlagen wollte (und konnte) Hengsbach die Älteren nicht. Es komme „für uns sicherlich nicht in Frage“, bekräftigte er, „körperlich oder geistig-seelisch Behinderte[] mit älteren gesunden Arbeitnehmer[n]“ gemeinsam zu beschäftigen.17 Während es bereits Einrichtungen zur Beschäftigung von „Behinderten“ gebe, mangele es in der Bundesrepublik noch an „Altenwerkstätten“ für „nicht mehr genügend anpassungsfähige“ Arbeitnehmer.18 Nichtsdestotrotz war Hengsbachs Kategorisierung inkonsistent. Sie ließ einigen Spielraum für Interpretationen. In der Arnheimer Werkstatt s­eien rund 50 Prozent der 1200 Beschäftigten als „ältere Arbeitnehmer“ anzusehen, was er darauf zurückführte, dass „[n]ach niederländischer Auffassung“ auch das „‚Alter‘ neben der körperlichen und geistig-seelischen Behinderung“ als „ein ‚Handicap‘ (um den niederländischen Ausdruck zu gebrauchen)“ anzusehen sei.19 Die Konstruktion eines sozialpolitischen Problems bediente sich also des Behinde­ rungsbegriffs zur Vereindeutigung von Differenz. Sie konnte sich diese Kategorie aber nicht bedingungslos einverleiben. Dass sich Sabel noch im Dezember des Jahres 1967 dazu bereit erklärte, die Gründung von Schwerpunktwerkstätten für 100 bis 200 Arbeitnehmer im Ruhrgebiet zu unterstützen,20 rührte nicht nur von der von Hengsbach hergestellten Kategorieunsicherheit her, sondern auch von seiner Kommunikationsstrategie. Zeitgleich wandte sich Hengsbach an Werner Figgen, den Arbeitsminister Nordrhein-Westfalens,21 der die Werkstätten vor der versammelten sozialpolitischen Elite der Bundesrepublik auf der Düsseldorfer Arbeitsmarktkonferenz am 11. Dezember 1967 anpries.22 Ebenso schrieb er an Hans Katzer, der direkt davon sprach, ob man „nicht 2.000.000 DM “ in das Projekt der schützenden Werkstätten investieren 16 Ebd. 17 Ebd., S. 3. 18 Ebd. 19 Ebd. Adolf Müller sprach bewundernd von der Anerkennung des Alters als „Behinderungsgrund“, vgl. Adolf Müller: Arbeitsbeschaffung für ältere Arbeitnehmer. Schreiben des Verwaltungsausschussvorsitzenden des LAA NRW an den Vorstandsvorsitzenden der BAVAV, 12. 2. 1968, in: BArch B 149/12603, S. 2. 20 Anton Sabel: Schreiben an Franz Hengsbach, 22. 12. 1967, in: Bistumsarchiv Essen, GVB, Bd. 1. 21 Franz Hengsbach: Schreiben an Werner Figgen, 7. 12. 1967, in: ebd. 22 Ergebnisprotokoll über Fragen des Arbeitsmarktes und der Strukturpolitik für die Steinkohlengebiete des Landes Nordrhein-Westfalen am 11. Dezember 1967 in der Staatskanzlei in Düsseldorf um 10 Uhr bis 13.30 Uhr, 19. 12. 1967, in: LAV NRW-R, NW 442, Nr. 28, S. 3.

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k­ önne.23 In seiner Zustimmung zur Errichtung des zunächst als „Arbeitsförderungsbetriebe“ (Afö), dann als „Gesellschaft zur Verbesserung der Beschäftigtenstruktur“ bezeichneten Unternehmens 24 hob Sabel allerdings weniger auf dessen fürsorgende Funktion ab. Für die Arbeitsverwaltung standen die „Erhaltung des körperlichen und geistigen Leistungsvermögens älterer Arbeitnehmer“ sowie die Erhöhung der „Vermittlungsfähigkeit“ zur Arbeitsaufnahme im Mittelpunkt.25 Dahinter stand eine ausdifferenzierte Vorstellung über das Verhältnis von Arbeit, Qualifikation und Alter. Unter dem Schlagwort der Anpassungsfähigkeit dachten die zeitgenössischen Expertinnen und Experten den „älteren Arbeitnehmer“ als neue Kategorie, dessen Position ­zwischen dem Ideal des umschulungsfähigen und -willigen Erwachsenen einerseits und des umschulungsunfähigen, immobilen und auf Fürsorge angewiesenen „Behinderten“ andererseits näherer Bestimmung bedurfte. Die GVB hob in den 1960er Jahren den Gegensatz von einer Moralisierung des Alters und einem produktivistischen Altersverständnis, der die 1950er Jahre dominiert hatte,26 auf und führte beide Traditionen zusammen. In Form eines Memorandums versuchte sich die zuständige Referentin des Sozialamtes der Evangelischen K ­ irche von Westfalen, Dina Wermes, an einer arbeitsbezogenen Altersdefinition.27 Sie erhob die Fähigkeit und den Willen zur Anpassung zum Selektionskriterium der zukünftigen Arbeitswelt, blieb aber gleichzeitig vage, was deren Veränderbarkeit betraf. Die Zechenstilllegungen und den Produktionsrückgang in der Eisen- und Stahlindustrie nahm Wermes zum Ausgangspunkt für Reflexionen darüber, wie eine „hochentwickelte Industriegesellschaft“ mit den immer zahlreicher werdenden „alte[n] und leistungsgeminderte[n] Menschen“ umgehen könne.28 Diesem „Problem“ lagen nach Wermes drei Faktoren zugrunde, in denen Bio- und Wissenspolitik exemplarisch verschmolzen. Erstens führte Wermes die „‚biologische Revolution‘“ einer steigenden Lebenserwartung an. Zweitens bezog sie sich auf die Verschiebungen in der Berufsstruktur, durch die „ältere[] und ­leistungsgeminderte[] Menschen“ ihre Arbeit 23 Aktenvermerk über ein Gespräch mit Hans Katzer, 8. 12. 1967, in: Bistumsarchiv Essen, GVB, Bd. 1, S. 1. 24 Vgl. zur GVB den Erinnerungsbericht des Domvikars und Leiter des Seelsorgeamtes Wilhelm Sternemann: „Gesellschaft zur Förderung [!] der Beschäftigtenstruktur m. b. H.“ (GVB ), in: Traugott Jähnichen u. a. (Hg.): Den Wandel gestalten. 50 Jahren Gemeinsame Sozialarbeit der Konfessionen im Bergbau, Essen 2000, S. 105 – 106. 25 Sabel: Schreiben an Franz Hengsbach, 22. 12. 1967, S. 2. 26 So für die 1950er Jahre James Chappel: Old Volk. Aging in 1950s Germany, East and West, in: The Journal of Modern History 90 (2018), S. 792 – 833. 27 Dina Wermes: Zur Situation leistungsgeminderter Arbeitnehmer auf dem Arbeitsmarkt. Memorandum, 15. 12. 1967, in: Bistumsarchiv Essen, GVB, Bd. 1. 28 Ebd., S. 1.

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verlören,29 da sich diese schlechter „auf die veränderten beruflichen Anforderungen umstellen“ könnten als Jüngere. Hinzu komme ein starres, „manuell orientierte[s]“ Berufsbildungssystem sowie ein „statische[s] Berufsdenken“, das die „geforderte berufliche Mobilität“ als „disqualifizierte Charakterhaltung“ verpöne.30 Außerdem führten Automation und die „sehr bewegliche Anpassung der Wirtschaft“ ebenso wie „Vorurteile“ zur Benachteiligung Älterer.31 Drittens prophezeite sie die Entstehung einer „neuen sozialen Gruppe“: „Arbeitnehmer, die den Anforderungen des technischen Fortschritts nicht mehr gewachsen sind“.32 Hier löste sich Wermes von einer genuin biologischen und biopolitischen Altersauffassung und zielte auf den „mangelhafte[n] Ausbildungsstand“ d ­ ieses neuen Personenkreises ab, der „Umschulungsmaßnahmen kaum“ zulasse.33 Die neue Gruppe schließe aber auch „Abgänger von Sonderschulen“ ein. Man könne bei „‚leistungsgeminderten Arbeitnehmern‘ nicht nur altersgebunden denken“. Die Gruppe der vom Fortschritt überforderten Arbeitnehmer versammelte also nach Wermes diejenigen, die „von ihrem Alter her wenig anpassungsfähig sind“ und „einen mangelhaften Ausbildungsstand haben“. Die vielfach geforderte „[b]eruf­ liche Mobilität“, so schloss Wermes, setze „eben einen gewissen Ausbildungsstand voraus, den weniger begabte Menschen nur schwer erreichen“. Schloss sie sich damit Überlegungen an, die auch Hengsbach und Sabel schon geäußert hatten, verzichtete Wermes hingegen auf den Behinderungsbegriff und die Sprache der Fürsorge. Im Gegenteil: Es ­seien „ethische Normen“, die verlangten, diese neue Gruppe „nicht nur mit karitativen Lösungen zu beglücken“.34 Die protestantische Sozialexpertin wollte das Anpassungsunternehmen also nicht als „‚Sonderwerkstätten‘ […], in denen Menschen arbeiten, die eben etwas anderes nicht tun können“, verstanden wissen.35 Vielmehr sei ihre Funktion ökonomisch und, in letzter Konsequenz, epistemisch. Folglich zeichnete sich das Sprechen über die GVB-Betriebe, wie sie ­später hießen, durch ein Amalgam des Karitativen, des Ökonomischen und des Epistemischen aus. Nach Wermes sei die Aufgabe der Betriebe, dass der Beschäftigte „seine individuelle optimale Leistung erreicht“.36 Dies bedeute, dass die Beschäftigten „praktisch […] auch umgeschult“ würden, wenn diese Betriebe „absolut wirtschaftlich geführt werden“ – es solle „möglichst

29 Ebd., S. 2. 30 Ebd. 31 Ebd., S. 3. 32 Ebd. 33 Ebd., S. 4. 34 Ebd. 35 Ebd., S. 6. 36 Ebd., S. 5.

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sinnvoll und wirtschaftlich“ gearbeitet werden.37 Für das protestantische Sozialamt stand das Ziel im Vordergrund, „den Arbeitnehmer wieder in eine dauerhafte leistungsbetonte Beschäftigung zu bringen“.38 Dazu sollten eine „gute Menschenführung“ auf Seiten des Managements,39 anders als in den Niederlanden einheitl­iche, durch die Arbeitsverwaltung aufgestockte Löhne sowie geregelte Arbeitszeiten mit Beratungsangeboten dienen. „Optimale Leistung – ohne karitative Fürsorge – in einem leistungsorientierten Betriebsablauf“ musste nach Wermes das Ziel sein. „[R]omantische Barmherzigkeit“ wollte sie hingegen vermeiden.40 Insofern war die Funktion des Betriebs dezidiert wissenspolitisch, da das langfristige Ziel sei, „mit Hilfe von Fachleuten den Platz“ zu finden, „auf dem der Mitarbeiter seine Leistung voll einsetzen kann“.41 Diese Maxime kehrte das Ideal der Passgenauigkeit von Mensch und Arbeitsplatz um. Daneben projektierte Wermes noch andere Aufgaben: So sei die „psychologische Situation“ des Erwachsenen aufzufangen, sein „Ausbildungsstand zu verbessern“, die „individuelle Leistung zu erreichen“, auf die „besonderen Vorgegebenheiten der Mitarbeiter einzugehen“ und ein „System der Leistungsabschätzung zu entwickeln“.42 Es ging Wermes also keineswegs um Fürsorge, sondern um den Beweis des Willens zur Umstellung „älterer Arbeitnehmer“, um die Schaffung einer Zwischenkategorie, in der entschieden würde, ob eine Anpassung noch möglich sei oder nicht. Hatte Hengsbach zur Vermittlung seines Vorschlags den Modus des Karitativen gewählt, rückte dieser in den Verhandlungen z­ wischen K ­ irchen, kommunalen Vertretern des Ruhrgebiets, den Gewerkschaften, den Bergbauunternehmen, dem Bundesarbeitsministerium und der Arbeitsverwaltung in den Hintergrund. Es bildete sich aber keineswegs eine kohärente Th ­ eorie des „älteren Arbeitnehmers“ heraus – ebenso wenig wie sich die Verantwortlichen an zeitgenössischen Autoren wie Gary S. Becker 43 oder an dem OECD -Report von Raymond M. ­Belbin 44 orientierten. Die Positionen blieben uneinheitlich und gespalten z­ wischen den drei Polen des Karitativen, des Ökonomischen und des Epistemischen. Das Projekt der ­Kirchen erlangte zwar Prominenz, die Sprache des Sozialen trug dazu allerdings wenig bei. 37 Ebd. 38 Ebd., S. 6. 39 Ebd., S. 7. 40 Ebd. 41 Ebd., S. 6. 42 Ebd. 43 Vgl. Becker: Capital. 4 4 Dieser 1965 publizierte Bericht zu den Training Methods for Older Workers erschien 1967 im Auftrag des RKW in deutscher Sprache. Vgl. Raymond M. Belbin: Methoden der Aus- und Weiterbildung älterer Arbeitskräfte, Berlin u. a. 1967.

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Im Februar 1968 hatten die Pläne Gestalt angenommen. Die IHK Essen hatte den Markt sondiert – es gab einen gewissen Bedarf an „Kleinstwaren“ für Kauf- und Versandhäuser 45 – und im Essener Bischofshaus kamen alle Interessenten zusammen: die Essener und Oberhausener Bürgermeister, Gewerkschafts- und Kammervertreter, der Präsident des Landesarbeitsamtes NRW, das MAGS NRW und das Bundesarbeitsministerium ebenso wie der Unternehmensverband Ruhrbergbau und Pressevertreter.46 In der Diskussion über den Gesellschaftervertrag mahnte der Essener Oberbürgermeister Wilhelm Nieswandt an, das geplante Ziel, „ohne Gewinn zu arbeiten“, widerspreche dem „unternehmerischen Prinzip“.47 Die anderen Teilnehmer sahen darin aber insofern kein Problem, als es für sie weniger um das Soziale ging. Der für den DGB teilnehmende Arbeits- und Sozialrechtsexperte Leonhard Günther Hoppe erblickte hinter der „sozialen Problematik“ vielmehr ein „tieferes Problem“: die „Aversion gegen ältere Arbeitnehmer“.48 Dieser Ablehnung könne ein Sozialbetrieb praktisch entgegenwirken – ohne dass es sich um eine der „schützende[n] Werkstätten“ handele, die nur „das Gefühl einer ‚Art milder Gabe‘ aufkommen ließen“.49 Dementsprechend bilanzierte Alois Degen, es dürfe bei der GVB keinesfalls um eine „Bastelstube für Greise“ gehen.50 Auch nach BMA-Ministerialrat Günter Kranz sollte bei den Werkstätten „nicht das ‚Soziale‘ zum Ausdruck kommen“.51 Dementsprechend setzte sich das BMA im Laufe des Jahres 1968 auch mit dem Vorschlag durch, das Unternehmen nicht „Arbeitsförderungsbetriebe“, sondern „GVB – Gesellschaft zur Verbesserung der Beschäftigtenstruktur“ zu taufen, „um jeden Bezug auf soziale Gesichtspunkte zu vermeiden“.52 In der Pressemitteilung zur Gründung der GVB am 27. Mai 1968 schloss sich auch das Landesarbeitsamt NRW ­diesem Duktus der Mobilisierung und Nutzbarmachung an. Die Gemeinschaftswerkstätten, so Degens Organisation, „sollen beweisen, daß auch die unter dem Handicap ‚Alter‘ leidenden Arbeitnehmer trotz geminderter Anpassungsfähigkeit und geringerer Mobilität mit ihren reichen Arbeitserfahrungen der Volkswirtschaft noch wertvolle Dienste leisten können […].“ 53 45 Paul Flitsch: Werkstätten für Arbeitslose. Aktenvermerk für Dr. Spitznas, IHK Essen/Markt­ lückenuntersuchung der IHK Essen, in: Bistumsarchiv Essen, GVB, Bd. 1. 46 Protokoll über das Gespräch „Werkstätten für ältere Arbeitslose“ am 9. Februar 1968 im Bischofshaus, o. D. [Februar 1968], in: ebd. 47 Ebd., S. 3. 48 Ebd., S. 5. 49 Ebd. 50 Ebd., S. 6. 51 Peter Heyde: Verlauf des Gesprächs über Gemeinschaftswerkstätten am 9. 2. 1968 im Bischofshaus in Essen. Aktenvermerk, o. D. [Februar 1968], in: ebd. 52 Paul Flitsch: Gründung der Gesellschaft. Schreiben der IHK Essen an die Gesellschafter der Afö/ GVB, 5. 7. 1968, in: ebd., S. 1. 53 LAA NRW: Pressemitteilung zur Gründung der Afö. Entwurf, Mai 1968, in: ebd., S. 1.

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Die GVB entstand also im Frühjahr 1968 als Gemeinschaftsunternehmen verschiedener sozial- und arbeitsmarktpolitischer Akteur:innen. An der Gründung beteiligten sich das Bundesarbeitsministerium, das Bistum Essen, die Evangelische ­Kirche im Rheinland und die von Westfalen ebenso wie der UVR, die ­Heinrich Bergbau AG, ­später das Erzbistum Paderborn und das Bistum Münster. Die Bundes­ anstalt für Arbeit förderte das Unternehmen indirekt, während die IGBE und der DGB auf Abstand blieben. Die GVB existierte und arbeitete von Mai 1968 bis Ende 1973, als Aufsichtsrat und Gesellschafterversammlung die Liquidation in Angriff nahmen,54 die sich mit sämtlichen Nachfolgestreitigkeiten bis in die 1990er Jahre hinzog.55 In ihrer Hochphase 1971/72 unterhielt sie Betriebsstätten an ihrem Hauptsitz in Essen sowie in Dortmund und in Gelsenkirchen – und plante weitere Betriebe in Coesfeld und Hagen. In den Auseinandersetzungen um den Willen zur Umstellung erfüllte die GVB eine doppelte Funktion: Einerseits formte sie den Betrieb als epistemischen Ort,56 an dem die Anpassungsfähigkeit des „älteren Arbeitnehmers“ erprobt, beobachtet, gemessen, gefördert und hergestellt werden sollte. Andererseits war sie Teil eines wissenspolitischen Netzes, das das Ruhrgebiet überzog und es als mobilisierbaren Raum konstituierte. Umschulung und industrielle Beziehungen – Das Berufsförderungszentrum Essen

Von Beginn an konzipierten sowohl die Landesregierung Nordrhein-Westfalen als auch das Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung die GVB als einen Baustein in einer Architektur von Mobilisierungsinstitutionen. Die Landesregierung verkündete 1970 in ihrem Nordrhein-Westfalen Programm 1975 die Gründung des Berufsförderungszentrums Essen als „Modelleinrichtung für die berufliche Erwachsenenbildung in der Bundesrepublik“.57 Dieses werde ergänzt durch die 54 Vgl. als Überblick Sternemann: GVB. 55 Siehe die Streitigkeiten um den Verbleib des in die GVB investierten Geldes in LAV NRW-R, Gerichte Rep. 205, Nr. 556 und 557. Dieser Streit scheint auch dafür verantwortlich zu sein, dass Quellen der GVB nicht erhalten sind. Diese landeten zunächst beim vom Vorstand bestellten Liquidator, der sie unter juristischen Gesichtspunkten verwahrte. 1990 gingen die Unterlagen des Unternehmens an den Anwalt des während der Übernahme der GVB in die Insolvenz geratenen Unternehmens Hammer. 56 Diese Konzeption erweitert wissenshistorisch Überlegungen bei Thomas Welskopp: Der Betrieb als soziales Handlungsfeld. Neuere Forschungsansätze in der Industrie- und Arbeitergeschichte [1996], in: ders.: Unternehmen Praxisgeschichte. Historische Perspektiven auf Kapitalismus, Arbeit und Klassengesellschaft, Tübingen 2014, S. 181 – 206; Andresen u. a. (Hg.): Betrieb. 57 Landesregierung Nordrhein-Westfalen: Nordrhein-Westfalen-Programm 1975, Düsseldorf 1970, S. 43.

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GVB für diejenigen Arbeitnehmer, für die durch „Fortbildung und Umschulung

allein“ kein Arbeitsplatz geschaffen werden könne.58 Ebenso verhieß die Landesregierung die Gründung eines „Modellzentrums für die berufliche Anpassung älterer, schwer vermittelbarer Arbeitnehmer“.59 Damit stimmte sie mit der Bundes­ regierung überein, die die GVB in ihrem 1970 erstmals erscheinenden Sozialbericht in der Rubrik „ältere Arbeitnehmer“ als „soziales Demonstrationsobjekt“ für „Grenzfälle[]“ anpries.60 Ebenso stellte die Bundesregierung eine „Modelleinrichtung“ für die Vermittlung von Berufskenntnissen, Hebung der „Leistungsreserven“ und Behebung von „Verhaltensstörungen“ in Aussicht.61 Das Bfz Essen dagegen erschien erst 1971 im Sozialbericht, und das unter der Überschrift „Berufliche Fortbildung“.62 Das hinderte einen Referenten des MAGS nicht daran, diese Insti­ tutionen als Produkt planvollen politischen Handelns zu präsentieren. Er sprach von einem „in sich geschlossenen politischen Konzept zur Sicherung und Entwicklung der Existenzgrundlagen der Arbeitnehmer unseres Landes“. Als wesentliche „Bausteine“ dafür verstand er neben der Arbeitsmarkt- und Berufsforschung das Bfz und die GVB .63 Diese Institutionen entstanden keineswegs, wie gezeigt, als von oben durch die Ministerialbürokratie implementiertes System, sondern gingen auf die Initiativen der ­Kirchen (GVB ) oder eines Essener Berufsschullehrers (Bfz) zurück. Sie verbanden sich aber zunehmend zu einem scheinbar kohärenten Ensemble. Als Bindeglied fungierte der bereits in den Planungen für das Bfz höchst einflussreiche Werner Boll. Dessen Gutachten zur Jahreswende 1967/68 und die Zirkulation von Rehabilitationswissen in der Arbeitsmarktpolitik trugen schnell Früchte: Bereits im Juni 1968 gründeten die BAVAV, das Land NRW, der Bund und die Stadt Essen für 20 Millionen Mark das Berufsförderungszentrum Essen als erstes Umschulungszentrum der Bundesrepublik – mit Josef Stingl als Vorsitzendem und Werner Boll als Geschäftsführer.64 Wie Hans Katzer auf der Gründungsversammlung betonte, hatte das Zentrum die Aufgabe, Ausbilder für die Umschulung auszubilden, Methoden der Erwachsenenbildung zu entwickeln und Umschulungsberufe anzubieten, deren Bedarf durch den Umschulungsmarkt nicht gedeckt wurde. Unter den Methoden 58 Ebd., S. 44. 59 Ebd. 60 Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung (Hg.): Sozialbericht 1970, Stuttgart u. a. 1970, S. 18. 61 Ebd. 62 Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung (Hg.): Sozialbericht 1971, Bonn 1971, S. 28. 63 Reinhard Engelland: Neue Wege in die Zukunft. Arbeitsmarkt und Berufsbildungspolitik in Nordrhein-Westfalen, in: Wegweiser 23 (1970), 6, S. 137 – 140, hier S. 138. 6 4 Georg Sandmann: Umschulungszentrum im Ruhrgebiet. Vereinsgründung. Aktenvermerk, 29. 5. 1968, in: BArch B 138/115376.

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verstand Katzer vornehmlich Mittel, um die Dauer von Umschulungen zu reduzieren, damit „die Klagen über die mangelnde Bildungsbereitschaft der Arbeitnehmer bald verstummen“.65 Der Anspruch, Bildungsbereitschaft und -fähigkeit empirisch und über ein staatlich geführtes Zentrum zu beweisen, rührte zwar vom allgemeinen Bildungsoptimismus her, der die Bundesrepublik Ende der 1960er umtrieb, verfolgte aber noch eine andere, mehr implizite Stoßrichtung: Bereits während der Vorbereitungen zur Gründung des „Katzer-Zentrums“ sah sich ­dieses scharfer Kritik ausgesetzt. In der BDA-Zeitschrift Der Arbeitgeber sprach ein Redakteur von der „Umschulungshysterie“ und hoffte auf die Widerstandskraft der Arbeitnehmer gegen diesen „Bazillus“.66 Ein anderer polemisierte gegen das „institutionelle[] Denken“, das andere Traditionen der Erwachsenenbildung – der Wirtschaft und der Arbeiterbewegung – übersehe.67 Den Beschleunigungshoffnungen der Bundesregierung hielten die Arbeitgeber entgegen, dass es sinnvoller sei, Abstriche bei Prüfungsanforderungen zu machen und die Ausbildungen „elastisch“ zu gestalten.68 Offenkundig unterstellten die Wirtschaftsredakteure dem Arbeitsminister den „durchsichtigen Versuch“ der Verstaatlichung betrieblicher und wirtschaftlicher Prärogativen.69 In ­diesem Konflikt verknüpften sich Annahmen über Bildbarkeit mit der Deutungshoheit über die Organisation der Berufsbildung. Während die Pläne für das Bfz ­zwischen Bonn und Heidelberg im Frühjahr 1968 Konturen annahmen, hatte die IHK Essen allen Grund zum Feiern. Am 28. März überreichte der dortige Präsident, der Bankier Gotthard von Falkenhausen, 47 ehemaligen Bergleuten ihr Facharbeiterzeugnis.70 An sich s­ eien s­ olche Übergaben „kein besonderes Ereignis“. Nur handele es sich hier um einen „anderen Personenkreis“ als üblich.71 Diese Bergleute hätten sich dazu durchgerungen, bei den Unternehmen Krupp in Essen und Thyssen Röhrenwerke AG in Mülheim Umschulungen zum 65 Ders.: Umschulungszentrum im Ruhrgebiet. Gründungsversammlung am 18. 6. 1968. Sprechvermerk für die Begrüßungsansprache des Herrn Ministers auf der Versammlung zur Gründung des Vereins „Berufsförderungszentrum Essen e. V.“ am 18. 6. 1968 in Essen, 12. 6. 1968, in: ebd., S. 4 – 5. 66 Wb: Umschulungshysterie?, in: Der Arbeitgeber (1968), 8, S. 186. 67 Wb: Katzer-Zentrum, in: Der Arbeitgeber (1968), 13/14, S. 393. 68 Ebd. 69 Wilhelm Braun: Problematischer Ehrgeiz, in: Industriekurier, 20. Juni 1968, enthalten in: BArch B 138/115377. 70 Gotthard von Falkenhausen: Ansprache des Präsidenten der Industrie- und Handelskammer für die Stadtkreise Essen, Mülheim (Ruhr) und Oberhausen zu Essen aus Anlaß der Überreichung der Facharbeiterzeugnisse an Umschüler aus dem Bergbau, 28. 3. 1968, in: RWWA Köln, Abt. 28, 955 – 10 (Altsignatur). 71 Ebd., S. 1.

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Hüttenfacharbeiter, Betriebsschlosser, Schmelzschweißer oder Revolverdreher zu absolvieren. Doch damit der Leistung nicht genug: Von vornherein sei die IHK von einer zweijährigen Ausbildungszeit ausgegangen, da ein „erfahrener Bergmann so viel an Lebens- und Berufserfahrung mitbrächte, daß er auch in einer verkürzten Zeit den gleichen Leistungsstand erreichen würde wie ein junger Mensch, der von der Schulbank weg in die Ausbildung geht.“ 72 Die Zeit habe dann sogar auf 18 Monate verkürzt werden können. Dies bestätige, so triumphierte Falkenhausen, „daß Lebens- und Berufserfahrung die geistige Aufnahmefähigkeit, die bei einem jungen Menschen […] größer ist als bei einem älteren, durchaus aufwiegen kann.“ 73 Die Herausforderungen des „Strukturwandels“, die Probleme der postindustriellen Gesellschaft, alles habe die IHK Essen gelöst; bewiesen „die Männer, die heute hier stehen“, doch, dass „ältere Arbeitnehmer“ mit „normaler Begabung“ zur Mobilität fähig s­ eien, wenn sie es nur genug wollten – und betrieblich gefördert würden.74 Der Wille zur Umstellung reiche also aus, argumentierte Falkenhausen in seiner ungewöhnlich expliziten Laudatio auf den umschulungswilligen Bergmann. Bildbarkeit zu beweisen, so der Tenor, sei dabei aber nur möglich, wenn die Hoheit über die Umschulung bei den Kammern und bei den Betrieben verbliebe und somit – wie es zeitgleich ein Artikel Helmut Keuneckes festhielt – die „große[] Elastizität und Praxisnähe“ beibehalten werde.75 Nur ein elastisches, privatwirtschaftliches System werde der „außerordentliche[n] Differenzierung“ der Erwachsenen nach „Berufserfahrungen“, „Begabungsstärke“ und „keineswegs gleichmäßige[r] Lernbereitschaft“ gerecht.76 Die Ansprache Falkenhausens war als Gegenposition zu gewerkschaftlichen und bundesarbeitsministeriellen Ansprüchen gedacht. Der Geschäftsführer der IHK Essen, Heinz Spitznas,77 verarbeitete sie schon am nächsten Tag zu einer Pressemitteilung. Darin betonte er, dass die Positionen Falkenhausens als Gegenentwurf zu den Vorstellungen anzusehen ­seien, die Horst Lemke, der Leiter der IGM -Vorstandsabteilung für 7 2 Ebd., S. 2. 73 Ebd. 74 Ebd., S. 3. 75 Helmut Keunecke: Mehr Elastizität in der Umschulung. Anpassung an die regionalen Bedürfnisse. Sonderdruck, 1967, in: AdsD 5/DGAO000948, S. 1. Der Artikel erschien ursprünglich in: Der Volkswirt, 12. Juli 1968, der Sonderdruck wurde an alle Kammern in NRW verschickt (vgl. WWA, K2 Nr. 2261) und in Ruhrwirtschaft 7 (1968) wieder abgedruckt. 76 Ebd., S. 3. 77 Zu dem Juristen, ehemaligen Essener Stadtdirektor und von 1963 bis 1976 Hauptgeschäftsführer der IHK Essen Heinz Spitznas (1909 – 1989) vgl. In Memoriam Dr. Heinz Spitznas, in: Das Münster am Hellweg. Mitteilungsblatt des Vereins für die Erhaltung des Essener Münsters (Münsterbauverein e. V.) 43 (1990), S. 134.

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Berufsbildung, am selben Tag in Essen geäußert hatte.78 In der folgenden Präsi­ diumssitzung der Kammer rekapitulierte Spitznas, die Kammer habe sich mit dieser Ansprache an die Öffentlichkeit gewandt, um die Zuständigkeit für die Umschulung gegen die Angriffe der Gewerkschaften zu verteidigen.79 Generell sei der Begriff der Umschulung im „eigentlichen Sinne“ nur bei dem „Übergang auf einen artfremden Beruf“ zu verwenden; anzustreben sei vielmehr eine „Steigerung der beruflichen Mobilität“.80 Auf diesen Angriff der Kammern folgte eine Riposte der IGM . Rudi Behrendt, der Vorsitzende des Ortsjugendausschusses Essen,81 monierte in einem Leserbrief an die WAZ , in den Rehabilitationszentren werde den „Körperbehinderten“ der Facharbeiterbrief, den die Bergleute erst nach 18 Monaten erhalten hätten, nach nur einem Jahr ausgehändigt. Auch sei es „nachweislich falsch“, dass die Kammern staatliche Regelungen ablehnen würden, da sie sich erst auf den Impuls der Regierung hin an Umschulungen beteiligt hätten.82 Der IHK Essen wiederum schien es „abwegig“, „Rehabilitationsmaßnahmen für Körperbehinderte der Umschulung von Bergleuten gleichzustellen“.83 Sie lehnte diese Gleichsetzung aber nicht öffentlich ab, sondern bat Behrendt zu einem vertraulichen Gespräch über das „Neuland der Umschulung“.84 Der Konflikt ging aber keineswegs in einem Gegensatz von Arbeit und Kapital auf, wonach sich die Gewerkschaften für eine staatliche Regelung einsetzen, während die Industrie- und Handelskammern für eine betriebsorientierte Lösung plädierten. Wenn alle Seiten für sich reklamierten, den Weg zum Beweis der Bildbarkeit gefunden zu haben, erhoben sie diesen Anspruch situativ und abhängig von den Umständen. Die strukturelle Unschärfe, die die Umschulung zum Zweck des Berufswechsels in die Kategorie der Rehabilitation und in die Nähe der Rehabilitationspädagogik rückte, konnte überaus instrumentell genutzt werden. Die Frage, inwieweit der umzuschulende Mann gleichzeitig als „behinderter“ Mann zu verstehen sei, durchzog die Debatten um die Umschulung wie ein roter Faden. Hielt die IHK Essen diese Gleichsetzung im Konflikt mit ­Behrendt für „abwegig“, widersprach sie damit der Lesart des Deutschen Industrie- und Handelstags (DIHT ). So betonte etwa die IHK Düsseldorf im Mai 1967 ­gegenüber der 78 Heinz Spitznas: Pressemitteilung, 29. 3. 1968, in: RWWA Köln, Abt. 28, 955 – 10 (Altsignatur). 9 IHK Essen: Ausschnitt aus der Niederschrift über die Sitzung des Präsidiums vom 3. 4. 1968, 7 3. 4. 1968, in: ebd. 80 Ebd., S. 3. 81 Vgl. zu Behrendts Biografie Andresen: Radikalisierung, S. 52 f. 82 Rudi Behrendt: Betrieb erhält 8000 DM für jeden Umschüler, in: WAZ, 3. April 1968, enthalten in: RWWA Köln, Abt. 28, 955 – 10 (Altsignatur). 83 Aktenvermerk zum Artikel von Rudi Behrendt in der WAZ Essen vom 3. 4. 1968, o. D. [April 1968], in: ebd. 84 Koch: Schreiben an Rudi Behrendt, 8. 4. 1968, in: ebd.

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für die Stadt Gelsenkirchen zuständigen Kammer in Münster, dass eine körperliche Defizienz mit einer mangelnden Anpassungsfähigkeit nach den Rehabili­ tationsrichtlinien des DIHT von 1964 in struktureller Hinsicht gleichzusetzen sei. „Sollten nicht“, so die Düsseldorfer Wirtschaftsvertreter suggestiv, „diese Richtlinien den Umschulungsmaßnahmen, die aufgrund von Strukturwandelung in der Wirtschaft notwendig werden, zugrundegelegt werden?“ 85 Einigkeit herrsche ja immerhin darin, dass es für eine Umschulung bedeutungslos sei, „ob der Umschüler aus gesundheitlichen Gründen oder wegen struktureller Wandlungen seinen erlernten Beruf nicht mehr ausüben kann.“ 86 Die Hilfen sollten dementsprechend identisch sein, eine Ungleichbehandlung sah die Düsseldorfer Kammer als nicht begründbar an.87 Ähnlich blieben auch Keuneckes Forderung nach Elastizität und sein Widerspruch gegen ein zentrales Umschulungszentrum nicht ohne Widerhall. Zufrieden schickte der BDA-Geschäftsführer Rolf Weber den Artikel an das DGB-Vorstandsmitglied Walter Henkelmann, das zugleich Vorsitzender des Vorstands der BAVAV war. Der Beitrag bezeuge, so Weber, dass „unsere im Vorstand vertretene Auffassung bestätigt wird und es auch richtig war, wenn wir in den letzten Sitzungen erneut Zurückhaltung bei dem Ausbau des Essener Berufsförderungszentrums geübt haben.“ 88 Die Bildbarkeit des Erwachsenen zu beweisen sprengte je nach Bedarf den Rahmen einfacher Homologien des Gegensatzes von Kapital und Arbeit – sei es in einer klassenkämpferischen oder auch in einer Lesart des „Konsenskapitalismus“.89 Die Kammern als Wirtschaftsverbände ebenso wie die BAVAV legten gegenüber der Mobilitätsrhetorik einige Skepsis an den Tag. Die Gewerkschaften hingegen ließen keine Gelegenheit aus, Mobilität, Anpassungsfähigkeit und Flexibilität als Tugenden der Zukunft anzupreisen. Der dahinterstehenden Frontstellung der BAVAV gegen ein mögliches Umschulungszentrum und der daraus resultierenden Interessenkoalitionen waren sich die Katzer’schen Beamtinnen und Beamten bewusst. Gegen die Vorstöße aus dem Arbeitsministerium fand Anton Sabel verschiedene Einwände. Insbesondere die dezentrale Umschulung hielt er für ausreichend und betonte, die Kompetenzen der Kammern nicht schmälern zu wollen. Erst nach klärenden Besprechungen sei

85 Haller: Tätigkeit der Kammern auf dem Gebiete der beruflichen Umschulung. Schreiben der IHK Düsseldorf an die IHK Münster, 5. 5. 1967, in: WWA, K5 Nr. 2847, S. 2. 86 Ebd., S. 2. 87 Ebd., S. 3. 88 Rolf Weber: Umschulung Erwachsener. Schreiben an Walter Henkelmann, 31. 7. 1968, in: AdsD 5/DGAO000948. 89 Vgl. Julia Angster: Konsenskapitalismus und Sozialdemokratie. Die Westernisierung von SPD und DGB (Ordnungssysteme 13), München 2003.

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eine Abstimmung über das Zentrum möglich, wobei noch nicht klar sei, ob es überhaupt in die Zuständigkeit der Bundesanstalt falle.90 Während das Landesarbeitsamt NRW das Programm eines Umschulungszentrums vollkommen unterstütze,91 sträubte sich die Bundesebene dagegen. Neben dem beständigen Verweis auf den experimentellen und „innovativen“ Charakter des Zentrums diente der Verweis auf das Ruhrgebiet als Legitimationsstrategie für die Umschulungsstätte. So warnte Katzer (beziehungsweise sein Referent Hermann Ernst), „die Situation im Ruhrgebiet“ erfordere „schnelles Handeln“. Sie mache neben den betriebsnahen Maßnahmen langfristig die Einrichtung eines Zentrums erforderlich.92 Konnte sich Sabel dieser Appelativstruktur, die Allgemeinplätze des Mobilitätsdiskurses mit der Evidenz des Ruhrgebiets vermengte, nicht entziehen, richteten sich seine Einwände gegen das vorgesehene Internat. Mit 400 Betten sei das Haus über­ dimensioniert, es genügten 200, „da ein großer Teil der Umschüler die Möglichkeit hat, in ihrer Familie zu verbleiben und nach den gemachten Erfahrungen diese Möglichkeit gerne nützt“.93 Die Internatsfrage entwickelte sich zum Erisapfel ­zwischen BMA und BAVAV. Hinter ­diesem scheinbar banalen Streit stand ein Gegensatz ­zwischen einer wissenspolitischen und einer moralisch-holistischen Deutung des Willens zur Umstellung – gerade weil Werner Boll darauf bestand, dass sein Modell „aus einem Guß“ und „nicht beliebig“ zu manipulieren sei.94 Nur sein „sorgfältig erarbeitete[r] Vorschlag“ berücksichtige „die Begabungsstrukturen der bildungswilligen Menschen ebenso wie die Entwicklung der Berufe und die Wirtschafts- und Arbeitsmarktlage und zwar für die Zeit der Berufserwartungen der Bildungswilligen“.95 Erst diese Autorität der Kenntnis des Erwachsenen ermögliche ein System, das – analog zu den Anforderungen an die Bildungssubjekte – von einer „weitgehende[n] Beweglichkeit und Anpassungsfähigkeit“ geprägt sei.96 Sabels Einwand gegen das Internat, in 90 Anton Sabel: Schreiben an Hans Katzer, 28. 12. 1967, in: BArch B 138/115376, S. 2. 91 Georg Sandmann: Errichtung einer Modelleinrichtung zur beruflichen Umschulung im Ruhrgebiet. Aktenvermerk zu zwei Gesprächen am 20. 12. 1967 im LAA NRW und am 21. 12. 1967 bei der Stadt Essen, 29. 12. 1967, in: ebd. 92 Hans Katzer: Umschulungszentrum im Ruhrgebiet. Schreiben an Anton Sabel, 2. 2. 1968, in: ebd. 93 Anton Sabel: Umschulungszentrum im Ruhrgebiet. Schreiben an Hans Katzer, 13. 2. 1968, in: ebd., S. 2. 94 Werner Boll: Errichtung einer Modelleinrichtung für die Berufsausbildung Erwachsener in Essen. Aktenvermerk und Stellungnahme zum Schreiben von Anton Sabel vom 13. 2. 1968, 27. 2. 1968, in: ebd., S. 2. 95 Ebd., S. 3. 96 Ebd., S. 5. Boll richtete sich etwa dagegen, das Lehrpersonal des Zentrums zu verbeamten, da dieser Beschäftigungsstatus die „Anpassungsfähigkeit“ hemme.

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dem es vorrangig darum ging, die Kosten des Zentrums auf vier Millionen Mark zu reduzieren, überführten die Bonner Beamten damit in eine Frage der Bildbarkeit an sich. In den Vorbereitungen zu einem klärenden Gespräch mit den Zuständigen der BAVAV hielt der BMA-Referent Georg Sandmann fest, dass eine Aufteilung in 200 Internats- und 200 Pendlerplätze, wie sie Sabel vorschwebte, nicht in Frage komme. Einem solchen Konzept widersprächen die „im Berufsförderungswerk Heidelberg gewonnenen Erfahrungen“.97 Demnach könnten „Pendler das Ausbildungsziel nur […] erreichen […], wenn ihre Begabung erheblich über dem Durchschnitt liegt und sie außerberuflich keinen Belastungen ausgesetzt sind“.98 Dementsprechend bestand Sandmann zumindest auf 300 Betten. Auf der anderen Seite vermerkte Walter Henkelmann nur wenige Tage s­ päter in einer Notiz, zentrale Umschulungsstätten s­ eien „problematisch, weil hier Erwachsene sich getrennt von ihren Familien einer Ausbildung unterziehen sollen“.99 Anstatt Internate zu bauen, biete es sich an, auf Wohnheime, Hotels und Gaststätten zurückzugreifen.100 Henkelmann ging es um eine moralisch-holistisch inspirierte Bewahrung der männlich dominierten Integrität der Familie – gegen die Herauslösung und Anpassung des Individuums setzte er die fortwährende Eingliederung. Die Bonner Beamten hingegen meinten, die BAVAV durch den Hinweis, von „Internatsbesuchern“ könne „eine weit größere örtliche Mobilität erwartet werden“, von ihrer Verweigerungshaltung abbringen zu können.101 Dies gelang zwar nicht vollkommen, überzeugte die Sozialpartner aber. Als die Bundesanstalt der Einrichtung im Mai 1968 zustimmte, betonte sie den „Modellcharakter“ des Zentrums sowie den Grundsatz, dass Umschulung weiterhin „betriebsnah und dezentral“ geschehen sollte.102 Auch sollte es vorerst bei 200 Internatsplätzen bleiben. Eine spätere Erweiterung wurde aber offengehalten und trug dem Experimentalsystem Bfz Rechnung: Nach ersten Ergebnissen sei die Frage erneut zu diskutieren, da die Internatsunterbringung „eine Steigerung der Lernfähigkeit, besonders der älteren Arbeitnehmer“ verheiße. Damit könne die Dauer der Umschulung bis auf ein Jahr verkürzt werden. Dieses Interesse überwiege gegenüber der „Trennung ­Verheirateter von ihren 97 Georg Sandmann: Umschulungszentrum im Ruhrgebiet. Vorbereitung des Gesprächs mit Präsident Sabel am 29. 3. 1968. Aktenvermerk, 26. 3. 1968, in: ebd., S. 5. 98 Ebd. 99 Walter Henkelmann: Notiz betreffend Umschulungszentrum. Aktenvermerk der Abteilung Sozialpolitik des DGB-Bundesvorstands, 9. 4. 1968, in: AdsD 5/DGAO000948, S. 2. 100 Ebd. 101 Manfred Baden: Sitzung des Verwaltungsausschusses für Rechts- und Verwaltungsfragen der Bundes­anstalt am 2. und 3. April in Essen und Arnheim. Aktenvermerk zur Vorlage beim Minister, 5. 4. 1968, in: BArch B 138/115376, S. 1. 102 Auszug aus dem Ergebnisprotokoll über die 3. Sitzung des Vorstands der Bundesanstalt am 21. Mai 1968, in: AdsD 5/DGAO000948, S. 16.

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Familien“.103 In d ­ iesem Konflikt ging es also nur vordergründig um eine Anzahl von Betten: Tatsächlich hatte sich die Familie des Umschülers von einem Garanten gesellschaftlicher Stabilität in ein Mobilitätshindernis verwandelt. Auch wenn sich die Bundesanstalt zunächst renitent zeigte, konnte sie sich gegen das Bildbarkeitsversprechen nicht zur Wehr setzen: Eine prinzipielle Zurückweisung, wie sie in der Mitte der 1960er Jahre noch möglich war, tauchte nicht mehr auf. Sachlogische Einwände konnten unter Rekurs auf das Schlagwort der Mobilität abgewiesen werden. Das Zentrum, für das in der Essener Innenstadt ein neues Internatsgebäude errichtet wurde, nahm Anfang des Jahres 1971 seinen Betrieb auf. Gleichzeitig änderte die Bundesanstalt ihre Strategie von einer Position der Widerspenstigkeit zu einer Position der Vereinnahmung: Josef Stingl wurde der erste Vorsitzende des Trägervereins des Bfz. Die BA erhielt im Vorstand ein Vetorecht und den Posten des Geschäftsführers. Letzteren nahm – nachdem er in der Anfangszeit von Werner Boll persönlich bekleidet worden war – Walter Brückers ein, ehemaliger Mitarbeiter der Nürnberger Hauptstelle, dann Abteilungsleiter des Arbeitsamts Essen und gewerkschaftsnaher Vertrauter Walter Henkelmanns.104 Wissenspolitische Netze – GVB, Bfz Essen und das Anpassungszentrum

Wo lag das Bindeglied z­ wischen der GVB und dem Bfz und ­welche Form wissenspolitischer Vereindeutigung lag diesen Einrichtungen zugrunde? Eine Verbindung stellte das Bundesarbeitsministerium in der Person Werner Bolls her. In der Frage, wie die GVB auszurichten und zu gestalten sei, vertrauten die Bonner Beamtinnen und Beamten auf das Urteil des Heidelberger Rehabilitationsexperten. Sie gaben mehrere Gutachten bei der – inzwischen gegründeten – Beratungsstelle für Rehabilitationseinrichtungen Heidelberg in Auftrag.105 Der GVB stand Boll

1 03 Ebd. 104 Vgl. Walter Brückers: Schreiben an Walter Henkelmann, DGB -Bundesvorstand, 19. 9. 1967, AdsD 5/DGAW000755, der ausführte, er würde „gern in Euren Arbeitskreisen oder Ausschüssen mitarbeiten“. 105 Vgl. Werner Boll: Vorschlag für das Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung zur Arbeitsbeschaffung und Arbeitsvermittlung für den Personenkreis der schwervermittelbaren, insbesondere älteren Arbeitnehmer im Ruhrgebiet. Gutachten der Beratungsstelle für Rehabilitationseinrichtungen in Heidelberg, 30. 1. 1969, in: Bistumsarchiv Essen, GVB, Bd. 2; auch enthalten in: BA rch B 149/12603; ders.: Gutachten zur Arbeitsbeschaffung und Arbeitsvermittlung für den Personenkreis der schwervermittelbaren, insbesondere älteren Arbeitnehmer im Ruhrgebiet (Erstellt im Auftrag des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung). Gutachten der Beratungsstelle für Rehabilitationseinrichtungen Heidelberg, 16. 6. 1969, in: Bistumsarchiv Essen, GVB, Bd. 2; auch enthalten in: BArch B 149/63546. Ein letztes Gutachten zirkuliert als graue Literatur: Beratungsstelle für Rehabilitationseinrichtungen Heidelberg: Die berufliche

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zwiespältig gegenüber. Einerseits teilte er die Ansicht, bei „älteren Arbeitnehmern“ könne „Bildungsfähigkeit“ durch „gezielte Maßnahmen“ geschaffen werden.106 Dieses Versprechen gelte auch für „ältere Arbeitnehmer“ mit „Anpassungsmängeln“. Auch könne das „verminderte Anpassungs- und Verarbeitungstempo beim 45- bis 65-jährigen Schwervermittelbaren u. a. durch sorgfältiges und verläßliches Arbeiten und durch das volle Verfügbarmachen der ‚Erfahrung‘ ausgeglichen werden“. Andererseits, wandte Boll ein, sei es vergeblich, diese Stärkung ausschließlich über eine „Beschäftigungswerkstätte“ erreichen zu wollen. „In Wirklichkeit“ finde keine „Aktivierung der Leistungskräfte“ statt. Der „ältere Mensch“ empfinde dadurch „sein fortgeschrittenes Alter erst richtig“ und werde „bald resignieren“.107 Eine Anpassung durch Arbeit genügte Boll also nicht. Sein Gegenvorschlag bestand darin, die Beschäftigungswerkstatt in eine ihr übergeordnete „Bildungs- und Anpassungsstätte“ zu integrieren, die – bundesweit geplant – als erstes Modellzentrum im Ruhrgebiet eröffnet werden sollte.108 In ­diesem Zentrum sollten Arbeitsberater, Fachpsychologen, der Arbeitsamtsarzt und ein technischer Berater den „Schwervermittelbaren“ einer eingehenden Untersuchung, „Sozial­anamnese“ und Arbeitserprobung unterziehen, um „Begabungsschwerpunkte“ herauszuarbeiten und „verwertbare Begabungsreserven“ offenzulegen.109 Daraufhin werde entschieden, ob sich diese Person für eine Arbeitsvermittlung, eine Anlernung in der Beschäftigungswerkstätte oder für eine Umschulung im Berufsförderungszentrum eigne.110 Evidenz verlieh Boll seinem Plan durch eine hinter dem Gutachten liegende Gliederung der Gesellschaft nach Bildungs- und Anpassungswille. Weil die „Arbeitsbeschaffung und Arbeitsvermittlung für schwervermittelbare und ältere Arbeitnehmer“ zukünftig eine der Hauptaufgaben sein werde, sei es „unerläßlich“, neben dem „für bildungswillige Arbeitnehmer“ gedachten Berufsförderungszen­ trum in Essen auch eine „Modelleinrichtung für die Anpassung, Arbeitsbeschaffung und Arbeitsvermittlung älterer und schwervermittelbarer Arbeitsloser“ zu schaffen.111 Im Bundesarbeitsministerium rief der Vorschlag Bolls ein gemischtes Echo hervor. Er stieß an die Grenzen der problemgruppenorientierten Zuständigkeit der Behörde. Der für die GVB zuständige Referent Günter Kranz wiegelte den

Eingliederung arbeitsloser und von Arbeitslosigkeit bedrohter älterer Arbeitnehmer im Rahmen einer beruflichen Fortbildung und Anpassung an zeitgerechte berufliche Kenntnisse und Fertigkeiten, Heidelberg 1972. 106 Boll: Vorschlag, S. 1. 107 Ebd. 108 Ebd., S. 2. 109 Ebd., S. 3. 110 Ebd.; Boll: Gutachten, 16. 6. 1969, S. 3. 111 Boll: Vorschlag, S. 5.

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Vorschlag insofern ab, als die GVB den Willen zur Anpassung durch die Arbeit „wie ein gewinnstrebendes Unternehmen“ belegen und keinerlei Kompetenzen an die BA abgeben wolle.112 Ebenso beweise die GVB, dass auch eine Werkstatt innerhalb von vier Wochen die Arbeitsleistung von 10 auf „30 bis 60 % einer normalen Arbeitsleistung“ steigern könne.113 Nichtsdestotrotz bestand der zunächst mit der Angelegenheit befasste und für Arbeitsvermittlung und Frauenerwerbstätigkeit zuständige Beamte Georg Sandmann darauf, dass der für Arbeitsbeschaffung zuständige Referent Kranz die Federführung übernehme.114 Dieser wiederum erklärte sich für nicht zuständig: Es handele sich bei dem „Boll’schen Modell“ um keine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme nach den Paragrafen 97 bis 99 des AFG. Eine Kooperation mit der GVB stellte er aber in Aussicht.115 Nachdem im Ministerium daran gezweifelt wurde, dass ein eigenes Anpassungszentrum nötig sei, bestellten die Beamten Werner Boll nach Bonn. Dieser versicherte, eine eigene Einrichtung sei unumgänglich, da der „Anpassungsvorgang“ zum Teil „schwere[] Verhaltensstörungen“ berücksichtigen müsse, die zudem „therapeutisch zu behandeln ­seien“. Im Gegensatz zum Bfz Essen kämen für diese älteren Arbeitnehmer „keine Gruppenmaßnahme und keine Vollausbildung“ in Betracht.116 Die Lösung, die sich in der Zuständigkeitsfrage ergab, war naheliegend. Die Causa Anpassungszentrum wurde weder dem Referat für Arbeitsvermittlung noch dem für Arbeitsbeschaffung zugeteilt, sondern dem für Rehabilitation und die Beschäftigung „Schwerbeschädigter“. So führte Sandmann gegenüber dem zuständigen Ministerialrat Karl Jung aus, dass die „Modelleinrichtung aus den […] Mitteln zur institutionellen Förderung im Rahmen der GVB zu finanzieren“ sei. Das BMA gehe davon aus, „daß die älteren Arbeitnehmer, die in die Modelleinrichtung aufgenommen werden sollen, als Behinderte anzusehen sind“.117 Die von ­Hengsbach 112 Günter Kranz: Ältere Arbeitnehmer. Hier: Gutachten der Beratungsstelle für Rehabilitationseinrichtungen Heidelberg vom 16. Juni 1969. Schreiben an Georg Sandmann, 4. 7. 1969, in: BArch B 149/63546, S. 1. 113 Ebd., S. 2. 114 Georg Sandmann: Ältere Arbeitnehmer. Hier: Gutachten der Beratungsstelle für Rehabilitationseinrichtungen Heidelberg vom 16. Juni 1969. Schreiben an Günter Kranz, 12. 7. 1969, in: ebd. 115 Günter Kranz: Gutachten der Beratungsstelle für Rehabilitationseinrichtungen Heidelberg vom 16. Juni 1969/Einrichtung von Bildungs- und Anpassungswerkstätten für ältere Arbeitnehmer. Ergebnisprotokoll über die Aussprache vom 22. Juli 1969 z­ wischen den Abteilungen Z, B und II , 24. 7. 1969, in: ebd. 116 Georg Sandmann: Vermerk über das Ergebnis der Besprechung am 4. September 1969 im BMA über das Gutachten der Beratungsstelle für Rehabilitationseinrichtungen Heidelberg vom 16. Juni 1969, 9. 9. 1969, in: ebd. 117 Georg Sandmann: Ältere Arbeitnehmer. Hier: Gutachten der Beratungsstelle Heidelberg für Rehabilitationseinrichtungen vom 16. Juni 1969. Vermerk und Schreiben an Referat IIa3, 15. 9. 1969, in: ebd., S. 1.

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insinuierte Verwischung der Grenze machte so eine eindeutige sozialpolitische Zuordnung notwendig. An dem Anpassungszentrum wurde verhandelt, ob der „ältere Arbeitnehmer“ als Mensch mit Behinderung betrachtet werden sollte. Das Kompetenzgerangel zeigt einen Konflikt darum, als was Behinderung im Wandel der Arbeit zu verstehen war. Der Plan des Anpassungszentrums wurde nie umgesetzt. Die in dem Vorgang sich offenbarende kategorielle Unsicherheit belegt aber zum einen emblematisch die Grenzen der Wissenspolitik der Anpassung: Ein auf immer feineren Stufen der Anpassungswilligkeit und -fähigkeit gegliedertes System von Institutionen stieß an die Grenzen der Darstellbarkeit. Es ließ sich nicht mehr weiter vereindeutigen. Diese Grenze spiegelt sich in der Quellenüberlieferung wider: Während die Unterlagen des ursprünglich federführenden Sandmann (Referat IIa4) überliefert sind, fehlt der Vorgang in den Unterlagen von Karl Jung (Referat IIa3). Die von Boll gedachte und konzipierte Stufe z­ wischen Umschulung, Rehabilitation und reiner Beschäftigung lag inkongruent zu damaligen Verwaltungs- und aus der Vergangenheit in die Gegenwart ragenden Überlieferungslogiken. Zum anderen zeigt ­dieses Beispiel aber auch die Grenzen des Boll’schen Versprechens der Anpassbarkeit des Menschen: Sobald eine Wissenspolitik der Anpassung die Aufgliederung des Willens zur Umstellung zu weit trieb, nahmen tradierte Zuständigkeiten einerseits und sozialpartnerschaftliche Gleichgewichtsimperative andererseits überhand. Boll traf bei dem für Rehabilitation zuständigen Jung auf wenig Gegenliebe. Als sich Sandmann ein halbes Jahr, nachdem er die Federführung abgegeben hatte, nach dem Projekt erkundigte, erklärte Jung, „noch nichts unternommen“ zu haben.118 Nach ihm war der Plan Bolls noch „ziemlich theoretisch“ und herrschte in den „entscheidenden Finanzierungsfragen“ desolate Planlosigkeit.119 Selbst eine Initiative Werner Figgens zur Einrichtung des Anpassungszentrums durch den Bund und das Land NRW im Juni 1970 führte nur zu schleppenden Bemühungen, Gespräche einzuleiten.120 In diesen sich über fast zwei Jahre hinziehenden Debatten ­zwischen Land, Bund, K ­ irchen und Bundesanstalt stieß wiederum die aus Gründen der Haushaltsplanung vorgenommene Zuständigkeitseinteilung beim Referat Rehabilitation an Grenzen: Die Bundesanstalt erteilte nach B ­ esprechungen 118 Ders.: Ältere Arbeitnehmer; hier: Gutachten von Direktor Boll zur Arbeitsbeschaffung und Arbeitsvermittlung für ältere Arbeitnehmer. Aktenvermerk, 20. 2. 1970, in: BArch B 149/63546, S. 1. 119 Ebd. 120 Werner Figgen: Förderung der beruflichen Wiedereingliederung älterer, schwer vermittelbarer Arbeitsloser. Schreiben an Walter Arendt, 30. 6. 1970, in: ebd.; Walter Arendt: Berufliche Rehabilitation; hier: Ältere Arbeitnehmer. Schreiben an Werner Figgen: Förderung der beruflichen Wiedereingliederung älterer, schwer vermittelbarer Arbeitsloser, 14. 7. 1970, in: ebd. Das Antwortschreiben Arendts verfasste Karl Jung.

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mit dem Land NRW den Plänen eine Absage. Eine Förderung nach den Arbeitsbeschaffungsparagrafen 97 und 98 des AFG , über die ausschließlich die GVB gefördert wurde, sei nicht möglich, weil es sich bei dem Anpassungszentrum um keinen Arbeitgeber handele.121 Ebenso wenig sei eine Förderung über die Rehabilitation möglich, „da es sich bei dem vorgesehenen personenkreis nicht um behinderte im sinne des afg und der genannten anordnung handelt“.122 Karl Jung gab daraufhin den Vorgang an Sandmann mit der Bemerkung zurück, das Land NRW und die Bundesanstalt wollten „offenbar das Zentrum auf nicht­ behinderte Arbeitnehmer beschränken“.123 Sandmann übernahm die Zuständigkeit zwar, war von der Kategorisierungsstrategie des BMA und den Ambitionen des Landes und Nürnbergs aber keineswegs überzeugt. Zu Rate zog er eine Broschüre der schwedischen Arbeitsverwaltung über die Rehabilitation in Schweden.124 Sein hilfesuchender Blick blieb am Definitionsteil hängen. Die schwedische Arbeitsverwaltung notierte, unter „Erwerbsbehindert“ jede Person zu rubrizieren, „die auf Grund eines körperlichen, psychischen, geistigen oder sozialen Arbeitshindernisses voraussichtlich Schwierigkeiten haben wird[,] eine Arbeit zu finden oder zu behalten“.125 Diese Definition schien Sandmann zu überzeugen. Er vermerkte handschriftlich: „also auch der ‚ältere Arbeitnehmer‘“.126 Doch auch dieser Seitenblick ins Ausland vereindeutigte die Situation nicht. Während Jung und die Rehabilitationsabteilung zur Zeit ihrer Zuständigkeit für das Anpassungszentrum eine Kooperation mit der GVB – und damit außerhalb ihrer Zuständigkeit – gesucht hatten, drehte sich nun der Wind. Sandmann lud Werner Boll erneut zu einer Besprechung ein.127 Es handele sich, so der BMA-Volkswirt Franz Coester in seiner von Boll inspirierten Zusammenfassung, um Arbeitnehmer, „die nicht Behinderte sind“ und auch „nicht bereits ein derart gemindertes

121 Spiegl: foerderung der beruflichen Bildung. [p]lanung eines modellzentrums fuer die berufliche eingliederung schwervermittelbarer, insbesondere aelterer arbeitnehmer in nordrhein-westfalen. Schreiben der BA an das BMA, 16. 9. 1971, in: ebd., S. 2. Kleinschreibung im Original. 122 Ebd. 123 Karl Jung: Errichtung eines Modellzentrums für die berufliche Eingliederung schwer vermittelbarer insbesondere älterer Arbeitnehmer in Nordrhein-Westfalen. Schreiben an IIa3, 1. 10. 1971, in: ebd. 124 Arbetsmarknadsstyrelsen: Organisation und Mittel der beruflichen Rehabilitation in Schweden. Bericht der Abteilung für die Rehabilitation Erwerbsbehinderter, Stockholm im Dezember 1969. Bericht für ausländische Leser der schwedischen Arbeitsmarktdirektion, 9. 11. 1971, in: ebd. 125 Ebd., S. 1. 126 Ebd. 127 Franz Coester: Errichtung eines Modellzentrums zur beruflichen Wiedereingliederung schwervermittelbarer, insbesondere älterer Arbeitnehmer. Vermerk zur Hausbesprechung am 9. 11. 1971, 18. 11. 1971, in: ebd.

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Leistungsvermögen haben“, dass sie bei der GVB arbeiten könnten.128 Die erste Fassung des Protokolls zur Verhandlung der in Heidelberg und Bonn erdachten Zwischengruppe sprach noch davon, es gehe um Arbeitnehmer, „die – ohne echt behindert zu sein – aus physischen oder/und psychischen Gründen nicht in der Lage sind, den an sie gestellten beruflichen Anforderungen in der heutigen Arbeitswelt zu entsprechen“. Mit d ­ iesem Passus s­eien „in der Regel […] ältere Arbeit129 nehmer“ gemeint. Sandmann brachte durch seine Korrekturen explizit Werner Boll ins Spiel. Laut Boll sei davon auszugehen, „dass von rd. 6 Mio. Arbeitnehmern über 45 Jahren etwa 2 Mio. Beschäftigte in berufliche Schwierigkeiten geraten“ würden. Darüber hinaus fügte Sandmann einen in der endgültigen Fassung nicht enthaltenen Satz ein, der deutlich macht, dass die Bonner Ministerialbürokratie einem relativistischen Behinderungsbegriff folgte. In dieser Vorstellung war „Strukturwandel“ selbst als eine Behinderung verursachende Kraft anzusehen. Für diese zwei Millionen „älteren Arbeitnehmer“ schwante Sandmann nichts Gutes. Sollten diese „mit den Anpassungsproblemen nicht fertig werden“, drohten aus „anfänglichen Schwierigkeiten“ mit der wirtschaftlichen Entwicklung „objektive organische und körperliche Behinderungen“ zu entstehen.130 Die Frage, die mit Verve diskutiert wurde, war also nur scheinbar banal, dafür aber umso drängender: Führt der mangelnde Wille zur Umstellung, führt Strukturwandel zu einer Behinderung? Die Beamten des BMA gingen zwar davon aus, mussten aber einen Weg an der Definition der BA vorbei finden. Damit wurden die Kategorien immer schwerer zu vereindeutigen. Gleichzeitig mit Coesters Zusammenfassung lud Sandmann die beteiligten Stellen ein, den Plan des Anpassungszentrums erneut zu diskutieren. Es handele sich, so stellte er klar, um ein Anpassungszentrum für Arbeitnehmer, „für die weder eine berufliche Rehabilitation noch eine Maßnahme der Arbeitsbeschaffung (z. B. Beschäftigung in einem GVB -Betrieb) noch eine berufliche Neuorientierung (z. B. im Berufsförderungszentrum Essen) in Frage kommt.“ Ziel sei, „Arbeitnehmer mit eingeschränkter Wettbewerbsfähigkeit auf dem Arbeitsmarkt – in erster Linie also Ältere, die bereits arbeitslos sind oder denen Arbeitslosigkeit droht – Hilfe für eine erfolgreiche Wiedereingliederung in das Erwerbsleben zu geben“.131 Die einzige

1 28 Ebd. 129 Georg Sandmann/Albach: Errichtung eines Modellzentrums zur beruflichen Wiedereingliederung schwervermittelbarer, insbesondere älterer Arbeitnehmer; hier: Hausbesprechung am 9. 11. 1971 (Entwurf ). Aktenvermerk, 18. 11. 1971, in: ebd., S. 1. 130 Ebd. 131 Georg Sandmann: Modellzentrum zur beruflichen Wiedereingliederung schwervermittelbarer, insbesondere älterer Arbeitnehmer. Schreiben an das MAGS, die BA und die Beratungsstelle für Rehabilitationseinrichtungen Heidelberg sowie intern, 18. 11. 1971, in: ebd.

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Vorgehensweise, auf die sich die Teilnehmer – mit Ludwig Quadt war auch der Geschäftsführer der GVB beteiligt – einigen konnten, war, Boll ein neues Gutachten verfassen zu lassen.132 Dieses Gutachten wurde Gegenstand der Verhandlungen im Arbeitskreis Arbeitsmarktpolitik beim BMA. Dort machten besonders die Gewerkschaftsvertreter „finanzielle Bedenken“ geltend.133 Die Finanzlage der Bundesanstalt verbiete es, s­olche Modellzentren umzusetzen. Ein Probekurs am Bfz Essen sei zu bevorzugen. Prinzipielle Einwände fanden sich nicht. In den folgenden Gesprächen mit Land und Bundesanstalt empfahl Sandmann, das BMA solle das Modellzentrum als „ein[en] ‚Baustein‘ in der Gesamtpolitik des Hauses“ kommunizieren und den „Versuchscharakter“ deutlich machen.134 Entscheidend sei die „tatsächliche Realisierbarkeit“, also: „‚Boll‘ oder ‚Jung‘“.135 Entscheiden mussten sich die Beteiligten ­zwischen der Schaffung einer neuen Zwischengruppe und der Fortschreibung bestehender Problemgruppen. Diese „Gesamtpolitik“ lieferte im selben Moment die Mittel, gegen die Experimentierbestrebungen des BMA zu argumentieren. Die BA-Vertreter wandten ein, „die GVB-Betriebe hätten sich nicht bewährt“.136 Während sich das BMA in der Frage eines Probelaufs diskussionsbereit zeigte,137 gab sich Boll erzürnt, räumte aber seine Niederlage ein. Ein Probelauf führe zu „irreführenden Ergebnissen“ und zu einer „Verfälschung der Situation“; gleichzeitig würde er nur den Vorwand für eine „berühmte[] ‚Beerdigung erster Klasse‘“ liefern.138 Diese Perspektive machte

132 Franz Coester: Vermerk über das Ergebnis der Besprechung am 15. Dezember 1971 im Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung betr. Modellzentrum zur beruflichen Wiedereingliederung schwervermittelbarer, insbesondere älterer Arbeitnehmer. Aktenvermerk, 22. 12. 1971, in: ebd. Bei dem neuen Gutachten handelte es sich um Beratungsstelle für Rehabilitationseinrichtungen Heidelberg: Eingliederung, das sich kaum von den vorangehenden Stellungnahmen unterschied. 133 Georg Sandmann: Modellzentrum zur beruflichen Eingliederung älterer Arbeitnehmer; hier: Erörterung mit den Sozialpartnern im Arbeitskreis „Arbeitsmarktpolitik“ am 28. März [recte: April] 1972. Aktenvermerk, 2. 5. 1972, in: BArch B 149/63547, S. 1. 134 Ebd., S. 2. 135 Ebd. 136 Franz Coester: Arbeitskreis „Arbeitsmarktpolitik“ – Sitzung am 28. April 1972 im BMA. Aktenvermerk zum Tagesordnungspunkt Geplantes Modellzentrum zur beruflichen Eingliederung Arbeitsloser und von Arbeitslosigkeit bedrohter älterer Arbeitnehmer im Rahmen einer beruflichen Fortbildung und Anpassung an zeitgerechte berufliche Kenntnisse und Fertigkeiten, 8. 5. 1972, in: ebd., S. 3. 137 Ders.: Ältere Arbeitnehmer; hier: Modellzentrum zur beruflichen Wiedereingliederung. Schreiben an Werner Boll, 9. 5. 1972, in: ebd. 138 Werner Boll: Vorgesehenes Modellzentrum zur beruflichen Wiedereingliederung älterer Arbeitnehmer; hier: Gutachten der Beratungsstelle vom 10. März 1972. Schreiben an Franz Coester, 13. 6. 1972, in: ebd.

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sich das BMA zu eigen: Sandmann und Coester legten den Probelauf ad acta.139 Ähnliches gelte auch für das Anpassungszentrum an sich, weil sie davon ausgingen, dass sich die Bundesanstalt angesichts schrumpfender finanzieller Spielräume nicht beteiligten werde.140 Damit war das Projekt Anpassungszentrum aber noch nicht beendet. Wegen des „Brennpunkt[s] Ruhrgebiet“ verfolgte das BMA das „Konzept Boll weiter“. Es stimmte allerdings im Januar 1973 dem von den Sozialpartnern geforderten Probelauf am Bfz Essen zu.141 Dementsprechend fiel das Anpassungszentrum mit der dritten Ausbaustufe des Berufsförderungszentrums Essen mit der Begründung in eins, „daß die Sorge um die älteren Arbeitnehmer überhaupt eine der ursprüng­ lichen Zielsetzungen für das Bfz Essen war“.142 Der Versuch des BMA, als Wissenspolitik der Anpassung eine Differenzkategorie ­zwischen den als bildbar anzusehenden Arbeiterinnen und Arbeitern des Bfz und den als unbildbar und nur noch körperlich-praktisch einzupassenden Arbeitern der GVB zu etablieren, war damit gescheitert. Die sozialpartnerschaftlich gewollte und über die BA vorangebrachte Wissenspolitik des Ausschlusses setzte sich durch. Verfolgten also das BMA und die Landesregierung Nordrhein-Westfalen die Vorstellung eines wissenspolitischen Netzes, das sich über das Ruhrgebiet zu legen habe, um jeder Stufe der Anpassungsfähigkeit ihre jeweilige Mobilitätsförderung zukommen zu lassen, stieß dieser von dem Transfer aus der Rehabiliationswissenschaft herrührende Versuch sowohl auf interne als auch auf externe Grenzen der Kommunizierbarkeit. Diese Grenzen betrafen aber nicht nur die Landes- und Bundesverwaltungen sowie Interessensverbände, sondern auch die Aneignung in den und um die wissenspolitischen Institutionen des Bfz und der GVB selbst. Hier zeitigte die Mobilisierungspolitik ihre unintendierten Konsequenzen: In dem Maße, in dem die Steigerbarkeit der Anpassungsfähigkeit von Arbeitenden bewiesen werden sollte, griffen Akteur:innen auf die Begründungsfigur der Grenzen der Anpassungfähigkeit zurück. Eine intensionale Ausweitung der Bildbarkeit bedingte eine extensionale Einschränkung der Menge der als bildbar gedachten Subjekte.

139 Georg Sandmann: Modellzentrum zur beruflichen Wiedereingliederung älterer Arbeitnehmer. Aktenvermerk, 10. 7. 1972, in: ebd., S. 1. 140 Ebd. 141 Georg Sandmann: Ältere Arbeitnehmer. Merkpunkte für die Vorbesprechung am 11. Januar 1973, 8. 1. 1973, in: ebd., S. 1.; ders.: Ältere Arbeitnehmer. Hausbesprechung am 11. Januar 1973. Schreiben an die Abteilung B, Unterabteilung IIb 2 und 3 und die Referate IIa 1, IIa 2, 12. 1. 1973, in: ebd. 142 Ders.: Ältere Arbeitnehmer. Hier: Berufliche Anpassungsmaßnahmen – Modellzentrum. Aktenvermerk, 12. 9. 1973, in: ebd.

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5.2 Die Praxis der Anpassung: Männlichkeit, Alter, Behinderung Das heterogene und situativ ausgestaltete Umschulungssystem der Bundesrepublik bot in seiner Entstehung nicht nur formale Gestaltungsmöglichkeiten für potentielle Umschüler, weniger für Umschülerinnen. Auch hinsichtlich der Kategorisierungen des Erwachsenen beziehungsweise des „älteren Arbeitnehmers“ als Subjekte des Strukturwandels wurden die verschiedenen Differenzsysteme nicht einfach in Bonn erdacht und übergestülpt. Es handelte sich um Kategorien, die angeeignet, umgedeutet und verweigert werden konnten. Dieser Aneignungsspielraum existierte sowohl auf der Ebene der Differenzkategorien in betrieblichen Umschulungsmaßnahmen als auch in den Experimentalsystemen GVB und Bfz: Diejenigen, deren Anpassungsfähigkeit gesteigert werden sollte, verhielten sich nicht unbedingt widerständig oder (konvergent) eigen-sinnig im klassischen Sinne, sondern: inkongruent. Mobilität, Männlichkeit, moralische Ökonomie

Zunächst bestand ein zentraler Punkt der Auseinandersetzung um Umschulungen für arbeitslose Arbeiter – und nicht für Arbeiterinnen – darin, dass diese Maßnahmen das normative Modell des männlichen Alleinverdieners und Ernährers stabilisieren und affirmieren sollten.143 Wenig überraschend lässt sich das wissenspolitische Netz, das sich über dem Ruhrgebiet ausbreitete, als ein großer Apparat zur Rettung und Bewahrung einer schwerindustriellen Männlichkeit interpretieren. Dieses Bemühen spiegelte sich selbst in der Aufmerksamkeitsökonomie des Landesarbeitsamts NRW wider: Die Auseinandersetzung mit der Textil- und Bekleidungsindustrie Nordrhein-Westfalens,144 die zeitgleich mit dem Bergbau unter wirtschaftlichen Problemen litt und vornehmlich weibliche Arbeitskräfte beschäftigte, fand nur sporadisch Niederschlag in den Unterlagen der Referate, die sich mit Umschulung und beruflicher Weiterbildung befassten. Der Blick auf den Willen zur Umstellung war ein vergeschlechtlichter Blick. Er offenbart gleichzeitig eine weitere Logik des Mobilitätsimperativs: Die Beschwörung der Mobilität

1 43 Aus lebensverlaufsanalytischer Perspektive vgl. Wirsching: Erwerbsbiographien. 144 Zur Geschichte der Textilindustrie vgl. Stephan Lindner: Den Faden verloren. Die westdeutsche und die französische Textilindustrie auf dem Rückzug (1930/45 – 1990) (Schriftenreihe zur Zeitschrift für Unternehmensgeschichte 7), München 2001; Alex Gertschen: Klassenfeinde – Branchenpartner? Unternehmer und Gewerkschaft der westdeutschen Textilindustrie vor der Herausforderung der Internationalisierung, 1949 – 1979 (Historische Grundlagen der Moderne 9), Baden-Baden 2013, der eine Arbeiterinnenquote von 50 bis 60 Prozent anführt (S. 116).

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diente ebenso der Abwendung struktur- und sozialpolitischer Ansprüche, wie sie ihrer Beförderung dienen konnte. Als beispielsweise im August 1967 im westlich von Münster gelegenen Bocholt verschiedene Arbeitsexperten zusammenkamen, um die Krise der Textilindustrie zu diskutieren, zeigte sich Alois Degen zurückhaltender als üblich.145 Als Ausgangspunkt sah er den Verlust von 200.000 Arbeitsplätzen in der Industrie Nordrhein-Westfalens von März 1966 bis März 1967 – also 7,5 Prozent der Industriebeschäftigten überhaupt –, davon 46.000 im Bergbau und 27.000 in Textil und Bekleidung. Zwar ­seien erste Maßnahmen der Strukturverbesserung durch Kredite der BAVAV in Angriff genommen worden, eine „Strukturverbesserung“ sei aber „nicht von heute auf morgen zu erreichen“.146 Arbeit sei im Landeschnitt allerdings genug vorhanden. Als „Gebot der Stunde“ gelte: Mobilität. Weiterbildung, Umschulung und Arbeitsplatzwechsel ­seien die vordringlichen Mittel, um die Krise der Textilindustrie zu überwinden. Während das Ruhrgebiet aber erhebliche Mittel zur Mobilitätsförderung auf sich zog, empfahl sich für die Beschäftigen der Bekleidungsindustrie im Münsterland, jeden Donnerstag von 18:30 bis 19:00 Uhr im WDR der Sendung „Arbeit – gesucht, gefunden“ zu folgen und damit am „televisuelle[n] Arbeitsmarkt“ teilzuhaben.147 Diente im ersten Fall Mobilität zur Legitimierung teurer Einrichtungen, erlaubte sie im zweiten Fall, ­solche Ansprüche abzuschmettern. Dabei war Mobilität als Anforderung und Beschreibungskategorie ebenso männlich konnotiert. Als im Ruhrgebiet beispielsweise die ersten betrieblich organisierten Umschulungsmaßnahmen anliefen, etwa bei Krupp in Essen,148 verfolgte die dortige IHK diesen Prozess minutiös. Sie bat im Dezember 1968 Umschüler zum Gespräch über deren Vorstellungen einer zeitgemäßen Umschulung. Die Umschüler artikulierten in dieser Diskussion den Wunsch, „ihre ‚Hausaufgaben‘ im Betrieb unter Aufsicht anzufertigen.“ Diese Forderung begründeten sie damit, dass „in der Familie eine Konzentration auf die Arbeit nicht möglich sei“ und andere Ablenkungen eine Erfüllung der Aufgaben verhindern würden. Außerdem würden es die Umschüler begrüßen, „wenn Lehrpersonal bei der Anfertigung der Hausaufgaben als ‚Aufsicht‘ zur Verfügung stünde“.149 145 Alois Degen: Berufliche Mobilität – das Gebot der Stunde. Ansprache Degens bei einer Versammlung am 30. August 1967 in Bocholt zur Krise der Textilindustrie im Westmünsterland, 30. 8. 1967, in: LAV NRW-R, BR 1134/566. 146 Ebd., S. 3. 147 Ebd., S. 5. 148 Vgl. etwa Alte Bergleute gehen noch einmal mit den 15jährigen in die Lehre. 94 Umschüler in der Krupp-Lehrwerkstatt – Berufswahl nach 4 Monaten, in: WAZ, 11. Mai 1967, enthalten in: LAV NRW-R, NW 158, Nr. 295, Bl. 18. 149 Alle Zitate aus Aktenvermerk über die Besprechung mit Umschülern aus dem Kammerbezirk [IHK Essen] am Montag, dem 2. Dezember 1968, 11. 12. 1968, in: RWWA Köln, Abt. 28, 955 – 10

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Bemerkenswert an d ­ iesem Beispiel ist weniger der Wunsch nach Aufsicht. Auch die Arbeiter in Umschulung forderten eine strikte Aufrechterhaltung der Trennung von privatem und öffentlichem Raum, von männlich kodiertem Betrieb und weiblich kodiertem Haushalt. Die durch die Umschulung herbeigeführte Verunsicherung des Erwerbsstatus beantworteten sie mit der Forderung, auch die Hausaufgaben im Betrieb zu bearbeiten. Umschulung ordneten sie so der Sphäre der Arbeit und nicht der Privatsphäre zu. Auch die Umschüler selbst bemühten sich mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln um eine Aufrechterhaltung der Sphärentrennung und die Inszenierung einer industriearbeitsbezogenen Männlichkeit.150 Dass es bei ­diesem Problem um das Verhältnis von Männlichkeit und Familie ging, belegen ebenso die Aufzeichnungen, die Theo Breitkopf, Lehrgangssprecher der Starkstromelektriker in Umschulung bei der Siemens AG in Essen, zu d ­ iesem Gespräch anfertigte. Einerseits zerstöre der Versuch, „gute Umschüler“ Abschlussprüfungen früher absolvieren zu lassen, den „Zusammenhalt der Umschulungsgruppe“. Ebenso wecke ­dieses Vorgehen nicht den „Ehrgeiz der anderen Kollegen“, sondern rufe „Minderwertigkeitsgefühle gegenüber dem Ausbildungspersonal“ hervor.151 Andererseits sei die Umschulung von allen anderen Formen der Weiter- und Fortbildung sowie der Anlernung abzugrenzen. Nach Abschluss der Umschulung sei ein Umschüler „dem Gesellen im gleichen Beruf gleichzustellen“.152 Der „echte Umschüler“ absolviere „seine Lehrzeit, wenn auch in kürzerer Zeit als ein Lehrling, doch dafür ist er erwachsen, reifer und mit Teilerfahrung dem jungen Menschen voraus“.153 Nicht nur die Geschlechtlichkeit musste stabilisiert werden. Auch der Altersunterschied und die Binnendifferenzierung der Männlichkeit durften keinesfalls verwischen. Hier zeigt sich der Habitus des Umschülers: eine symbolische Abgrenzung von Bildung, die nicht durch institutionelles kulturelles Kapital honoriert war, und ein arbeitsbezogenes Männlichkeitsverständnis, das sowohl die Gleichheit innerhalb der Umschülergruppe als auch die gegenüber „Lehrlingen“ größere Erfahrung hervorhob.154 Diese reichere Erfahrung solle sich nach der „­ ‚Rationalisierung (Altsignatur), S. 1. 150 Vgl. zur Entstehung ­dieses Gegensatzes kanonisch Karin Hausen: Die Polarisierung der „Geschlechtscharaktere“. Eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben, in: Werner Conze (Hg.): Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas (Industrielle Welt 21), Stuttgart 1976, S. 363 – 393. 151 Theo Breitkopf: Umschulung, Fragen und Probleme. Bericht über die Unterredung am 2. Dezember 1968, in: ebd., S. 1. 152 Ebd., S. 2. 153 Ebd. 154 Zum Kapitalbegriff vgl. Pierre Bourdieu: Ökonomisches Kapital – Kulturelles Kapital – Soziales Kapital, in: Margareta Steinrücke (Hg.): Die verborgenen Mechanismen der Macht (Schriften

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auf die Straße‘“, der erfolgten Umschulung und der Wiederanstellung in einem höheren Lohn niederschlagen.155 Darüber hinaus insistierte auch Breitkopf auf der Notwendigkeit, die Umschulung von der familiären Sphäre fernzuhalten. Ein „leidiges Problem“ stelle die „Ausarbeitung zuhause“ dar.156 „[A]uf das Äußerste beschränken!“ sollte man ­solche Aufgaben, so Breitkopf. Es handele sich schließlich um „erwachsene Männer, meist Familienväter“, auf die noch „Belange der Familien“ in den Abendstunden warteten. Diese verhinderten „echte Konzentration“.157 Den Status des „Lehrlings“, als Sinnbild unvollendeter Männlichkeit, galt es ebenso zu vermeiden, wie die Umschulung – die Breitkopf und seine Kollegen offenkundig als „Arbeit“ verstanden und entsprechend dem Betrieb zuordneten – nicht in die Privatsphäre übergreifen zu lassen. In der Darstellung der IHK erschien dieser Punkt eher als zeitökonomisches Problem, während es bei dem Umschüler zu einem Hierar­chieproblem wurde. Verstand die in Düssel­dorf, Bonn und Nürnberg erdachte Sozialpolitik Umschulung als Mittel zur Arbeitsaufnahme und ordnete sie so dem Bereich der Arbeitslosigkeit zu, verstanden die Umschüler sie trotz des Berufswechsels als Fortschreibung ihrer Industriearbeit – wodurch der Umschulung eine alltägliche, normalisierte Bedeutung zukam. Hier offenbart sich die Wahrnehmung einer gefährdeten Männlichkeit, die durch die uneindeutige Zukunft industrieller Arbeit in Frage gestellt wurde. Auch in der Umschulung und der beruflichen Neuqualifikation galt es, den Status des Industrie­arbeiters zu bewahren und zu affirmieren. Dieser Anspruch beschränkte sich allerdings nicht auf die Umschulungssubjekte. Die Sorge um eine vermeintlich gefährdete und beschädigte Männlichkeit trieb alle Akteur:innen um. Auch die Umschulungssubjekte bedienten sich des gleichen Registers, um ihre Interessen zu artikulieren: Sie lernten die Sprache des Mobilitätsimperativs sprechen – und konnten diesen im Zweifelsfall auch gegen dessen ursprüngliche Intention in Stellung bringen. Ähnlich konturierte Alois Degen auf der Umschulungstagung des RKW im Mai 1968 das Problem, „was […] mit den rd. 100.000 Männern geschehen“ könne, die in NRW, vor allem im Ruhrgebiet, arbeitslos s­ eien.158 Könne „schon heute“, so Degen, „auch ein 50- oder 55-jähriger noch einer neuen beruflichen Funktion zugeführt werden?“ 159 Umschulung war für Degen ein Problem der „Begabungsstruktur“ älterer Arbeitnehmer. Diese s­ eien zwar für praktische Umschulungsarbeiten geeignet, könnten ­Theorie aber nicht mehr erlernen. Das Versagen in der Umschulung verstand er zu Politik & Kultur 1), Hamburg 1997, S. 49 – 81. 1 55 Breitkopf: Umschulung, S. 4 f. 156 Ebd., S. 2. 157 Ebd. 158 RKW-NRW: Arbeitsgespräch, S. 1. 159 Ebd.

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allerdings als ein Problem der Männlichkeit und damit der auf männlicher Arbeit basierenden Industriegesellschaft. Wie stehe „ein Familienvater vor seiner Familie“ da, „wenn er bei einer Facharbeiterprüfung durchgefallen ist, nur weil ihm zu viel ­Theorie abverlangt wurde“?160 Auf ­Theorie sollte also verzichtet werden, um diese Infragestellung eines vergeschlechtlichten Arbeitsregimes nicht aufkommen zu lassen. In Übereinstimmung mit der schon von Jan Haveman beschworenen Gefahr der Rebellion stellte auch für Degen die Gefahr des Aufruhrs und der Revolution als Resultat der von den Gewerkschaften in der Kohlenkrise gepflegten „demonstrativen Militanz“ beziehungsweise des „demonstrativen Radikalismus“ 161 die Legitimation für Umschulungsmaßnahmen bereit. Diese Begründung rührte in d ­ iesem Fall aber nicht von vermeintlichen Traditionen des Kommunismus und des Syndikalismus her, sondern war das Produkt der Wahrnehmung einer gefährdeten Männlichkeit. So erinnerte Degen in seinem Abschlussreferat an „die politischen Gefahren“, „die sich aus einer längeren Nichtbeschäftigung – insbesondere von Familienvätern – ergeben könnten.“ 162 Auch die Berufsbildungsreferenten der Industrie- und Handelskammern in Nordrhein-Westfalen stellten im selben Jahr fest, „daß, je mehr Leute man ausbilde, umso mehr möglichen Ursachen des politischen Radikalismus entgegengewirkt werde.“ 163 Auch wenn die Funktion der beruflichen Qualifikation zur Rebellionsprävention keineswegs neu war und im Zusammenhang mit Arbeitslosigkeit ein traditionelles Motiv darstellte,164 ist der Konnex von Umschulung und der Aufrechterhaltung einer arbeitsbezogenen Männlichkeit zur Begründung dieser Prävention wesentlich: Unter ­diesem Gesichtspunkt diente Umschulung, in ihrer Funktion, einen neuen, aber fixierten Beruf zu erlernen, der Stabilisierung eines Lebenslaufs- und Erwerbsmodells, das sich an dem Ideal männlicher (Industriearbeiter-)Biografien orientierte. Diese Funktion wird bei der Betrachtung der spärlichen Quellen, die sich mit der Umschulung von Frauen auseinandersetzen, noch deutlicher: Die Umschulung von Frauen wurde in den 1960er Jahren als abhängig von der Erwerbstätigkeit beziehungsweise der Umschulung des Mannes betrachtet, in vollkommener Übereinstimmung mit der Funktion der Umschulung als männlichkeitsbewahrende Grenzziehung. 160 Ebd., S. 2. 161 Vgl. Nonn: Ruhrbergbaukrise, S. 96 – 139; Klaus Tenfelde: Radikal, militant? Forschungen über Bergarbeiterstreiks im 20. Jahrhundert, in: Angelika Westermann/Ekkehard Westermann (Hg.): Streik im Revier. Unruhe, Protest und Ausstand vom 8. bis 20. Jahrhundert, St. Katharinen 2007, S. 381 – 404. 162 RKW-NRW: Arbeitsgespräch, S. 10. 163 Wefers: Protokoll über das Gespräch des Federführungskreises der Berufsbildungsreferenten der Industrie- und Handelskammern des Landes Nordrhein-Westfalen mit dem Präsidenten des Landesarbeitsamtes, Herrn Dr. Degen, 2. 5. 1968, in: WWA, K5 Nr. 2848, S. 4. 164 Büchter: Weiterbildung, S. 200 spricht von „Krisenintervention und Sozialintegration“ als wesentliche Funktion arbeitsmarktbezogener Weiterbildung in den 1920er Jahren.

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Zielte die Umschulung auf die Mobilität ab, wurde „die Frau“ als Mobilitätshindernis begriffen. So hielt die Studie des Arbeitsamtes Dortmund über die Mobilität von Arbeitskräften aus der Schwerindustrie fest, dass diese besonders bei verheirateten Männern reduziert sei. Diese Immobilität liege aber nicht an der Person des potentiellen Umschülers, denn „Ehe und Kinder“ setzten die „an sich vorhandene Mobilität der Männer“ herab – „nicht zuletzt durch die starke Raumgebundenheit der Frau“.165 Die „Raumgebundenheit der Frau“ bedeutete, dass „die“ (Arbeiter-)Frau prinzipiell nur zu einer geringeren Mobilität als der Mann in der Lage sei. Im Umkehrschluss avancierte Mobilität zu einem Distinktionskriterium, das die männliche (flexible und mobile) Arbeit von der weiblichen (raumgebundenen und immobilen) Arbeit unterschied. Gleichzeitig bedeutete hiernach der Verlust an Mobilität (beziehungsweise die nicht erfolgte Herstellung von Mobilität) auch einen symbolischen Verlust an Männlichkeit. Dementsprechend visierte beispielsweise auch der nordrhein-westfälische Kabinettsbeschluss, der zur Gründung des Bfz Essen führte, „die Anpassung der Arbeitnehmer an wirtschaftliche Strukturwandlungen über die Umschulung“ an.166 Umschulung bewahre das „geeignete[] Kräftepotential“, das nötig sei, um das Ziel der Landesregierung, „den männlichen Arbeitnehmern einen Arbeitsplatz zu sichern“,167 zu erreichen. Ähnlich verhallte auch eine Intervention der Bundesfamilienministerin Aenne Brauksiepe bei der Einrichtung des Bfz. Sie erkundigte sich im Oktober 1968 bei Hans Katzer, inwieweit das Zentrum eine Abteilung einplane, „die der Frau die Wiedereingliederung in die Arbeit, die Beratung dieser Frauen und vieles mehr anbietet“.168 Eine Antwort erhielt sie nicht. Das Bfz begann erst unter den veränderten Arbeitsmarktbedingungen des Jahres 1977 mit dem Modellversuch „Frauen in gewerblich-technischen Berufen“.169 Zuletzt fand die enge Verknüpfung von Mobilitäts- und Männlichkeitswissen Eingang in das Handbuchwissen zur Umstellung. In dem mehrbändigen Überblickswerk Personalführung führte Bernhard Brinkert, der Berufsbildungsreferent der IGBE, aus, was es über Erwachsene und Umschulung im Strukturwandel zu wissen gab.170 In seiner Erzählung trat die Umschulung erst allmählich aus dem Schatten der ­Rehabilitation und „‚Sozialfürsorge‘“ heraus, um einen sozialpolitischen Tätigkeitszweig eigenen 165 Arbeitsamt Dortmund/MBP: Mobilität, S. 35. 1 66 Werner Figgen: Kabinettvorlage des Arbeits- und Sozialministers, 23. 2. 1968, enthalten in: ­Christoph Nonn/Wilfried Reininghaus/Wolf-Rüdiger Schleidgen (Hg.): Die Kabinettsprotokolle der Landesregierung von Nordrhein-Westfalen, 1966 – 1970, Siegburg 2006, S. 616 – 618, hier S. 617. 167 Ebd., S. 618. 168 Aenne Brauksiepe: Schreiben an Hans Katzer, 30. 10. 1968, in: BArch B 138/115377. 169 Bfz Essen: Geschichte, S. 22. 170 Bernhard Brinkert: Praktische Erfahrungen bei der Umschulung Erwachsener infolge wirtschaftlichen Strukturwandels, in: Marx (Hg.): Personalführung, Bd. 4, S. 183 – 193.

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Rechts zu bilden.171 Die Probanden ­seien die Bergleute gewesen, denen über Jahrzehnte eine „berufliche Unbeweglichkeit“ auferlegt worden sei.172 Aus verschiedenen Erfahrungen, etwa der Schließung der Zeche Graf Bismarck in Gelsenkirchen, sei gefolgert worden, „daß der Bergarbeiter schlechthin beruflich immobil sei“.173 Selbstverständlich habe sich das als Irrtum herausgestellt. Ein wenig Verständnis für die „Immobilität“ legte Brinkert aber doch an den Tag: Wer wolle es „einem verantwortlichen Familienvater verübeln“, wenn er nicht danach strebe, „sich noch einmal auf die ‚Schulbank‘ zu setzen, den ‚Lehrling‘ zu spielen und schließlich nach einer sogenannten ‚Ochsentour‘ (sprich Lehre) einen neuen Berufsbildungsabschluß zu machen!“ 174 Umschulung und Mobilität sah auch die Bergarbeitergewerkschaft als Gefahr für die Männlichkeit ihrer (erwachsenen) Mitglieder. Dieser Einhelligkeit aller Akteur:innen, was die Rettung einer auf die Erwerbsarbeit bezogenen Männlichkeit anging, waren aber Grenzen gesetzt. Der Mobilitätsimperativ zeitigte ambivalente Folgen, die die Verwobenheit der in Luxemburg und Bonn getroffenen Entscheidungen mit der Wissenspolitik im lokalen Raum offenbarten. Am 1. März 1969 versammelten sich im östlich der Bochumer Innenstadt gelegenen Stadtteil Werne einige Umschüler unter den Auspizien des Pastors und SPD-Mitglieds Gert Leipski. Die Frage, die die anwesenden 50 bis 60 ehemaligen Bergleute und angehenden Krankenpfleger, Studenten, Erwerbslosen und Bademeister aufwarfen,175 war keineswegs so marginal wie ­dieses Ereignis, das es gerade in eine Notiz der Lokalpresse schaffte.176 Im Mittelpunkt stand das Problem, w ­ elche Berufe zur Umschulung angemessen waren, ­welche zumutbar und ­welche diese Attribute nicht verdienten. Denn von einigen Punkten waren sowohl die Anwesenden als auch der zuständige Lokalredakteur überzeugt: Ein „ehemaliger Koksarbeiter“ dürfe „kein Hilfsarbeiter werden“, wenn er arbeitslos sei. Darüber, was „zumutbar ist und was nicht“, gebe es allerdings klaren Bestimmungen.177 Diese Anekdote – die es bis zu einer Fragestunde im Bundestag brachte 178 – illustriert die Aneignung der Anpassungsunfähigkeit mit dem Ziel der Statuswahrung. 171 172 173 174 175

Ebd., S. 183. Ebd., S. 187. Ebd., S. 192. Ebd., S. 187. So der Bericht der IGBE, die die Versammlung beobachtete: Wolfgang Wieder: Versammlung der Umschüler in Bochum-Werne mit Pastor Leipski und Manfred Stahl. Aktennotiz, 3. 3. 1969, in: AHGR, IGBE-Archiv, Nr. 988. 176 Vgl. Umschüler trugen ihre Sorgen vor. Pastor Leipski gab mit Bergbausachverständigen auf viele Fragen Rat, in: Westfälische Rundschau Nr. 52, 3. März 1969, enthalten in: ebd. 177 Ebd. 178 Vgl. Frage Nr. 22 des Recklinghäuser SPD-Abgeordneten und Direktor der Ewald-Kohle AG, Erich Wolfram, in: Plenarprotokoll des Deutschen Bundestags, 6. Wahlperiode, 22. Sitzung am

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Leipski beließ es nicht bei einem Treffen, sondern wandte sich im September desselben Jahres an den Landesarbeitsminister Werner Figgen.179 Er ging von einem Paradox aus: Die Schließung der lokalen Zeche Robert Müser sei 1968 in der Rezession erfolgt, dementsprechend sei die Überlegung gewesen, ältere Bergleute sollten den jüngeren Platz machen, während der Sozialplan die Älteren absichern sollte.180 Nun aber sei „die Situation von 66/67 ins genaue Gegenteil verkehrt“ und die Arbeitsämter bemühten sich, „jeden verfügbaren Mann für den Arbeitsmarkt zu mobilisieren“.181 Die Arbeitslosigkeit im Ruhrgebiet sei vielen „ein Dorn im Auge“. Dabei werde aber übersehen, dass ein Großteil der Arbeitslosen „während der Bergbaukrise entlassene Bergleute sind“. Er sehe es nicht ein, ereiferte sich Leipski, warum diese Personen, „die in der Krise den Kopf hinhalten mußten“, nun „wie Arbeitsscheue behandelt“ würden. Eine Vermittlung beraube diese Gruppe ihrer „erworbenen Rechte“.182 Als Authentifizierung dienten Leipski drei Schicksale ehemaliger Bergarbeiter, bei denen das Arbeitsamt Bochum eine Vermittlung anstrebe – wodurch die Arbeiter ihre Sozialplan- und Montanunion-Unterstützungen aber verlieren würden.183 So wurde – so Leipski unter Aufgebot sämtlicher Register der Arbeitsamtskritik – einem 1911 geborenen ehemaligen Kokereiarbeiter vorgeworfen, er wolle ewig ein „‚Stempelbruder‘“ bleiben.184 Wenn er wieder Arbeit aufnehme, „macht sich das gut in der Statistik“ und, so gab Leipski den Arbeitsamtsbeamten wieder: „Der Sozialplan interessiert uns nicht!“ 185 Die Wahrnehmung des Sozialplans als Mobilitätshindernis stellte einen rekurrenten Topos dar,186 beschränkte sich aber nicht nur auf Fragen der Anwendung sozialpolitischer Richtlinien. Die zu vermittelnden ehemaligen Bergleute eigneten sich die Perspektive Leipskis an, die mangelnde Anpassungsfähigkeit als Ausweis eines ebenso entbehrungsreichen wie moralisch gerechten, redlichen Lebens ­verstand.

14. 1. 1970, Bonn 1970, S. 834 – 835. 179 Gert Leipski: Schreiben an Werner Figgen. In Anlage eine „Konkretion an drei Beispielen“, 29. 9. 1969, in: LAV NRW-R, BR 1134/577. 180 Ebd., S. 1 f. 181 Ebd., S. 2. 182 Ebd. 183 Ebd., Anlage. 184 Ebd., S. 1. 185 Ebd. 186 So in: Dieter Menninger/Gottfried Gülicher: Ein Gespräch mit dem Präsidenten des Landesarbeitsamtes Nordrhein-Westfalen und seinem Fachreferenten Paul Wollek in Düsseldorf am 28. 2. 1968. Sendevorhaben: Zum Alten Eisen, Aktennotiz Nr. 17. Protokoll, 28. 2. 1968, in: LAV NRW-R, BR 1134/578, S. 5 oder: BA: Ältere Arbeitnehmer. Hier: Arbeitslosigkeit und Bezug von Leistungen nach Sozialplan. Schreiben an die Landesarbeitsämter und Arbeitsämter, 24. 10. 1972, in: BArch B 149/63527.

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So monierte das Arbeitsamt Bochum noch im März 1971 in einem Bericht an die Hauptstelle in Nürnberg, die „Gespräche mit den älteren ehemaligen Arbeitnehmern des Bergbaues“ s­ eien „zunehmend schwierig“.187 In den Gesprächen in den Bochumer Amtsstuben würden diese „älteren Arbeitnehmer“ immer wieder erklären, so die Paraphrase: „‚Was wollen Sie überhaupt! Sie dürfen mich nicht vermitteln. Herr Pfarrer Leipski hat ein Schreiben des BMA erhalten, in dem ihm mitgeteilt wurde, daß das Arbeitsamt entsprechende Weisung erhält.‘“ 188 Ebenso beschwerte sich zeitgleich der ehemalige Kokereisteiger H. bei dem Bundestagsabgeordneten Erich Wolfram, das Arbeitsamt Bochum wolle ihn trotz Sozialplan vermitteln.189 In diesen Arbeitsstellen würde er allerdings weniger verdienen als ihm durch den Sozialplan zustehe. Dafür habe der zuständige Beamte zwar „Verständnis“ gezeigt, allerdings darauf hingewiesen, „er könne die Gesetze nicht ändern“.190 Als sich H. dementsprechend gegen Vermittlungen gesträubt habe, sei der Beamte „zornig“ geworden und habe angekündigt, H. müsse „mit weiteren Vermittlungen rechnen“.191 Aus einer vergleichbaren Logik hatten sich zudem sowohl der DGB als auch die IGBE gegen eine Teilnahme an dem Experiment der GVB verwahrt: Der Versuch, die Anpassungsbereitschaft und -fähigkeit des „älteren arbeitslosen Arbeitnehmer[s]“ zu steigern, bringe diesen „nur um sein ‚wohlverdientes‘ vorgezogenes Altersruhegeld“.192 Eine Ökonomie der Verdienste limitierte also die Ansprüche des Mobilitätsimperativs. Dieses auf erworbene wohlfahrtsstaatliche Rechte pochende, auf eine moralische Ökonomie schwerindustrieller Arbeit zurückgreifende Versorgungsethos stand nicht notwendig in Opposition zu staatlichen Intentionen.193 Er vertrug sich sehr gut mit wissenspolitischen Kategorisierungen der unzureichenden Anpassungsfähigkeit. In einem Gespräch in Bochum, bei dem Leipski, der Vizepräsident des Landesarbeitsamts, Otto Schlate, Vertreter des BMA ebenso wie Kokereisteiger H. anwesend waren, argumentierte Schlate, „ältere[] Arbeitslose[]“ könnten nicht einfach von der Vermittlung ausgenommen werden, „wie es vielfach gewünscht 187 Arbeitsamt Bochum: Arbeitsvermittlung von älteren Arbeitnehmern des Bergbaues. Antwort auf die Rundverfügung 509/70, 31. 3. 1971, in: LAV NRW-R, BR 1134/578. 188 Ebd., S. 2. 189 H.: Schreiben an Erich Wolfram, 9. 3. 1970, in: ebd., BR 1134/576, S. 1. 190 Ebd. 191 Ebd., S. 2. 192 Dietrich Koher: Aktenvermerk über die Sitzung des Initiativausschusses betreffend Gemeinschaftswerkstätten für ältere, leistungsgeminderte Arbeitslose am 7. 2. 1968 in Haus Villigst, 9. 2. 1968, in: Bistumsarchiv Essen, GVB, Bd. 1, S. 3. 193 Zur „moral economy“ als „consistent traditional view of social norms and obligations“ vgl. Edward P. Thompson: The Moral Economy of the English Crowd in the Eighteenth Century, in: Past & Present 50 (1971), S. 76 – 136, Zit. S. 79.

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­werde“.194 Darin stimmten alle Teilnehmer überein. Gewerkschaft und Arbeitnehmer argumentierten aber, ein geringerer Lohn als der Unterhalt durch den Sozialplan dürfe nicht als zumutbare Arbeit gelten – eine Auffassung, die das Bundesarbeitsministerium teilte und entsprechend in einen Erlass zu fassen beabsichtigte: Solche Arbeitsstellen ­seien „nicht als angemessen bzw. zumutbar“ zu bezeichnen.195 Konfligierten hier moralische Versorgungsansprüche, für die mangelnde Anpassungsfähigkeit keine Komplikation, sondern einen Beleg für ein arbeitsreiches Leben darstellte, mit juristischen Gleichbehandlungsgrundsätzen, erzeugte ­dieses Spannungsfeld eine eigene Ambivalenz: Das Problem stellte sich nämlich nur in Bochum – ob dies, wie das dortige Amt ausführte, daran lag, dass der zuständige Vermittler „stark zuckerkrank und deshalb leicht erregbar“ war, sei dahingestellt.196 Das Arbeitsamt Duisburg hingegen hatte, wie es auf Nachfrage berichtete, eine Lösung gefunden: Probleme wie in Bochum s­ eien nicht aufgetreten. Die Arbeitslosen aus dem Bergbau ­seien alle alt und „leistungsgeminderte Personen, für die bei der einseitigen Struktur des hiesigen Bezirks geeignete Arbeitsplätze nicht zur Verfügung stehen“. Auch bei den ehemaligen kaufmännischen Angestellten sei eine Vermittlung „in Klein- und Mittelbetriebe nahezu unmöglich“. Wegen des „fortgeschrittenen Lebensalters und der damit verbundenen geringen Umstellungs- und Lernfähigkeit mit Hilfen zur Wiedereingliederung“ ließen sich „kaum Erfolge erzielen“.197 Diese Konstellation belegt den Spielraum innerhalb der sozialstaatlichen Regeln genauso wie die verschiedenen Register, in denen der Wille zur Umstellung eine Rolle spielen konnte: im sozialmoralischen, im juristischen und im wissenspolitischen. Einig waren sich aber alle Seiten: Die Anpassungsfähigkeit „älterer Arbeitnehmer“ sei gemindert, ihre Männlichkeit beschädigt. Ableiten ließen sich daraus verschiedene Forderungen: eine vordringliche Umschulung ebenso wie ein ungestörter Genuss von Versorgungsleistungen. Betriebliche Epistemologie der Differenz

Diese Annahme geminderter Anpassungsfähigkeit durch praktische Arbeit zu widerlegen machte sich die GVB zur Aufgabe. Die Erwartungen waren groß: In Nürnberg notierte etwa eine BA -Mitarbeiterin bereits 1970, dass die „auch 194 LAA NRW: Aktenvermerk über eine Besprechung am 20. 3. 1970 im Pfarrhaus Bochum-Werne, 26. 3. 1970, in: LAV NRW-R, BR 1134/577, S. 2. 195 Ebd., S. 2. 196 Arbeitsamt Bochum: Vermittlung älterer Arbeitnehmer; Eingabe des Herrn Pfarrer Gerd Leipski, Bochum-Werne. Schreiben an das LAA NRW, 26. 11. 1969, in: ebd., S. 2. 197 Arbeitsamt Duisburg: Arbeitsvermittlung von älteren Arbeitnehmern des Bergbaues. Schreiben an das LAA NRW nach Rundverfügung 509/70, 26. 3. 1971, in: ebd., BR 1134/578, S. 1.

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­innerhalb der BA noch zu hörende Meinung, der ältere Mensch sei nicht mehr bildungswillig und bildungsfähig“, durch „Untersuchungen“ und „die praktischen Erfahrungen“ nicht gestützt werde. Dieser Vorbehalt sei von amtlicher Seite vollständig zu unterbinden, da er „die Einsicht in die Notwendigkeit des ‚lebenslangen Lernens‘ in Frage“ stelle.198 Der wissenspolitische Apparat, der sich über die „älteren Arbeitnehmer“ des Ruhrgebiets stülpte, sollte diese Einsicht in die Notwendigkeit vermitteln – und deren Prämissen bestätigen. Doch auch für die GVB erwiesen sich Anpassungswille und -fähigkeit als zweischneidiges Schwert. Sie erwiesen sich einerseits als anschlussfähig an verschiedene Differenzkategorien. Diese Anschlussfähigkeit mündete andererseits in teils unvereinbare Aneignungen und Praktiken. Nachdem die verschiedenen sozialpolitischen Akteur:innen das Unternehmen im Frühjahr 1968 gegründet hatten, verhandelten sie mit dem Bergbauingenieur Fred Quecke, um ihn zum ersten Geschäftsführer zu berufen.199 Die ersten Monate des Unternehmens verliefen allerdings schleppend, die Verhandlungen mit ­Quecke nahmen Zeit in Anspruch.200 Die Gesellschafter und der Aufsichtsrat stritten d­ arüber, wo der erste Betrieb zu gründen sei, ­welche Arbeitnehmer dafür in Frage kämen und ­welche Produktion zur Steigerung der Anpassungsfähigkeit geeignet sei. Bevor sie also einen ersten Betrieb gründeten, schickten sie Quecke aus, den Arbeits­ willen zu erkunden.201 Er sollte – neben Aufträgen und Mieten – eruieren, ob „im Arbeitsamtsbezirk Essen eine so hinreichende große Zahl von arbeitsfähigen und arbeitswilligen Arbeitslosen über 45 Jahren zur Verfügung“ stehe, dass es sinnvoll und „möglich“ sei, einen Anpassungsbetrieb der GVB zu eröffnen.202 Quecke widmete sich dieser Aufgabe akribisch: Nachdem er sich vom Arbeitsamt Essen Anfang Oktober 1968 eine Liste mit „arbeitslosen Unterstützungsempfängern“ in den Stadtbezirken im „Südosten von Essen“ hatte aushändigen lassen, begab er sich zu einer Ortsbegehung.203 198 BA: Niederschrift über die Dienstbesprechung über Fragen der Intensivierung der Arbeitsvermittlung für ältere Arbeitnehmer vom 10. – 12. Juni 1970 in Nürnberg, 14. 8. 1970, in: LAV NRWR, BR 1134/576, S. 3. 199 Vgl. Paul Flitsch: Gründung der Gesellschaft. Schreiben der IHK Essen an die Gesellschafter der Afö, 5. 7. 1968, in: Bistumsarchiv Essen, GVB, Bd. 1, S. 3 f. 200 Vgl. Fred Quecke: Aktennotiz zu dem am Freitag, dem 21. Juni 1968, im Büro von Domvikar Sternemann stattgefundenen Gespräch, 26. 6. 1968, in: ebd. 201 GVB: Aufsichtsratsbeschluß durch Rundfrage. Rundschreiben an die Aufsichtsratsmitglieder, 4. 10. 1968, in: BArch B 149/12603. 202 Ebd., S. 1. 203 Fred Quecke: Notiz zur Untersuchung über die Notwendigkeit und Möglichkeiten der Errichtung von Arbeitsstätten für ältere Erwerbslose im Sinne der GVB in den Räumen Südosten und Stadtkern Dortmund, 25. 10. 1968, in: BArch B 149/12603, S. 1.

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Quecke suchte die Erwerbslosen auf und befragte sie anhand eines Fragebogens zu den für seine Zwecke interessanten Merkmalen „über Arbeitsfähigkeit, Arbeitswilligkeit, Rentensituation und Spezialkenntnisse“. Im Süden der Stadt Essen beispielsweise, so stellte Quecke tabellarisch dar, hatte er 109 Personen aufgestöbert, von denen „nach eigenen Angaben“ 98, davon 91 aus dem Bergbau, „als arbeitsfähig (z. T. mit Einschränkungen) und arbeitswillig anzusehen s­eien“.204 Daraus ermittelte Quecke einen „Prozentsatz von 79 % der insgesamt benannten älteren Erwerbslosen“, die für eine Verwendung in der GVB in Frage kämen.205 Diese Prozentzahl extrapolierte er auf andere Wohnbezirke in Essen und die Dortmunder Innenstadt, um den Schluss zu ziehen, dass die Schaffung von GVB-Werkstätten „in dem untersuchten Raum vordringlicher ist[,] als bisher angenommen wurde“.206 In ­diesem Tenor erstattete Quecke auch dem Essener Domvikar und mit der GVB betrauten Geistlichen Wilhelm Sternemann Bericht: Besonders in dem untersuchten Raum um die stillgelegte Zeche Theodor sei die Lage kritisch. Einer Realisierung des Vorhabens stehe nichts im Weg, denn in seinen Fragebögen „liegt über jeden Mann fest, über ­welche Spezialkenntnisse (Schweißer, Schlosser, Schreiner usw.) er verfügt und mit ­welchen Einschränkungen seiner Arbeitsfähigkeit zu rechnen ist“.207 Damit amalgamierte Quecke verschiedene Formen der Vereindeutigungspraxis zu einer für die GVB spezifischen Logik: Die Erkenntnis des Willens und der Fähigkeit zur Umstellung war nicht durch medizinische oder arbeitsamtliche Expertise herzustellen, zu quantifizieren und zu beurteilen. Ebenso beanspruchte Quecke nicht, ein objektives Urteil über „Arbeitsfähigkeit“ und „Arbeitswilligkeit“ zu fällen. Er bediente sich zwar evidenzerzeugender Techniken wie der Tabelle, der Extrapolation oder des Fragebogens – sein Vorgehen beruhte aber auf einer Erkenntnistheorie in Hemdsärmeln.208 Bei Quecke verband sich das Ethos des paternalistischen Betriebsführers mit einer Ethnologie der Arbeitsfähigkeit. Er isolierte einen Prozentsatz der Arbeitswillig- und -fähigkeit. Wie er diese Zahl ermittelte, konnte aber nicht intersubjektiv nachvollziehbar sein. Überprüfbarkeit war auch gar nicht intendiert. „Arbeitsfähigkeit“ und „-willigkeit“ ergaben sich in dieser Logik erst in situ, im Gespräch von potentiellem Vorgesetzten und potentiellem Beschäftigten – ein Urteil, das eine höhere Autorität beanspruchen konnte als das Urteil des Arbeitsamts, das Queckes Auswahl zugrunde lag. „Arbeitsfähigkeit“ und 2 04 Ebd. Hervorhebung im Original. 205 Ebd., S. 1 f. Hervorhebung im Original. 206 Ebd., S. 2. Hervorhebung im Original. 207 Fred Quecke: Schreiben an Domvikar Sternemann. Bericht über bisher ergriffene Maßnahmen, 21. 10. 1968, in: Bistumsarchiv Essen, GVB, Bd. 2, S. 2. 208 Dieser Ausdruck spielt auf Daston/Galison: Objektivität, S. 55 – 58 an, die ihn aber ­nutzen, um sämtliche Praktiken der Evidenzerzeugung zu bezeichnen.

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„-willigkeit“ waren also für ihn und seine Zeitgenossen immer situiert, relativ und nur in Abhängigkeit von Führung bestimmbar: Die paternalistisch inspirierte und betriebliche orientierte Vasallenbeziehung schwerindustrieller Prägung konnte für die Erzeugung von Evidenz über Arbeitsfähigkeit und -willen eine weit höhere Relevanz entstehen lassen als etwa die international zirkulierenden Gutachten der OECD und andere Produkte der Höhenkammliteratur. Diese Spannung durchzog die fünf Jahre von 1968 bis 1973, in denen die GVB tätig war. Auf der einen Seite sinnierte die Arbeitsverwaltung über die mangelnde Anpassungsfähigkeit „älterer Arbeitnehmer“, die je nach Kontext älter als 59 oder auch als 45 Jahre sein konnten. Diese wurden aber als verbesserbar gedacht. Die Arbeitsämter beschworen eine Vorstellungswelt des Verfalls, der Erstarrung durch den „Strukturwandel“, der zu einer ökonomischen Schrumpfstufe führe. Paul ­Wollek etwa führte in einem Gutachten über die zukünftige Tätigkeit der GVB aus, der beschleunigte technische Fortschritt werde „immer höhere Anforderungen an das körperliche und geistige Leistungsvermögen, an Anpassungsfähigkeit und -bereitschaft, an Umstellungs- und Bildungsfähigkeit, an Wahrnehmungs-, Auffassungsund Verarbeitungstempo sowie an geistige Aktivität und Regsamkeit“ stellen.209 Diese Überforderung betreffe vor allem Bergarbeiter und Stahlarbeiter im Ruhrgebiet, aber auch „manchen arbeitslosen alten Bauarbeiter“.210 Deren „körperliche[s] Leistungsvermögen“ sei herabgesetzt, die Industriearbeit habe sie in „einseitiger Routine“ erstarren lassen. Daher sei „eine Bildungsfähigkeit […] nur noch in unzureichendem Maße vorhanden“; es träten gar „körperliche und manchmal auch geistige Behinderungen“ auf.211 Der Kreis der betroffenen Personen, so die Wahrnehmung, nehme immer weiter zu. Auch eine sich bessernde Konjunkturlage führe nur dazu, den Verfall umso deutlicher zu Tage treten zu lassen. Es blieben in dieser Situation nur „Restarbeitslose übrig“, deren „Anpassungs- und Bildungsfähigkeit so erheblich gemindert“ sei, dass die „Eingliederung in das Arbeits- und Berufsleben so ohne weiteres nicht mehr gelingt“.212 Die Lösung sei also eine doppelte: Einerseits eine „Verbesserung des Anpassungsvermögens“, die „alle nur irgendwie denkbaren Möglichkeiten“ ausschöpfe, um „die letzten verbliebenen Reste von Anpassungsbereitschaft und Anpassungsvermögen beim o. g. Personenkreis zu erfassen, zu verbessern und zu steigern, um damit eine Arbeitsvermittlung zu erreichen“.213 209 Paul Wollek: Arbeitsbeschaffung für schwer vermittelbare, insbesondere ältere Arbeitnehmer im Ruhrgebiet. Gutachten des LAA NRW zum GVB-Projekt, 5. 12. 1968, in: BArch B 149/12603, S. 4. 210 Ebd., S. 3. Hervorhebung im Original. 211 Ebd., S. 4. 212 Ebd., S. 5. 213 Ebd., S. 7.

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Andererseits schlug Wollek eine „dem Leistungsvermögen angepaßte Beschäftigung“ vor, ob der „geographischen Immobilität“, die durch „körperliche, geistig-seelische Behinderungen“ verstärkt werde und „kein tägliches Pendeln“ erlaube.214 Die GVB mache den „Arbeitsvorrat“ selbst „beweglich“, um ihn „zum Menschen zu bringen“.215 Damit stand die GVB konstant unter dem Druck, sich gegen den Verdacht zur Wehr zu setzen, „karitative Motive“ zu verfolgen, wie der DGB argwöhnte, als er eine Beteiligung an der GVB ablehnte.216 Auch die IHK Dortmund beobachtete bei einer Besichtigung des Dortmunder Betriebs auf dem Gelände der Hoesch AG , die GVB „gebe sich alle Mühe, diese Werkstatt nicht als Bastelstube oder Rentnerfabrik zu bezeichnen“.217 Dementsprechend waren sich alle Aufsichtsratsmitglieder einig: Eine „Umschulung dieser Arbeitslosen“ sei wegen der „nicht zu überbrückende[n] Anpassungsmängel bei den älteren Personen“ nicht möglich.218 Nichtsdestotrotz aber beabsichtigte die GVB , „das Anpassungsvermögen der bei ihr beschäftigten älteren Arbeitnehmer durch ihnen angepaßte Arbeit zu verbessern“.219 Angesichts ­dieses paradoxen Anspruchs sah sich die GVB in den Jahren ihrer Aktivität einem beständigen Zwang ausgesetzt, Steigerung von Anpassungsfähigkeit auszuweisen, um die erheblichen Fördersummen, die sie durch Bund, Land und Bundesanstalt erhielt, zu rechtfertigen.220 So betonten beispielsweise die vierteljährlichen Geschäftsberichte der GVB konstant, wie stark die Anpassungsfähigkeit der beschäftigten „älteren Arbeitnehmer“ durch die Beschäftigung bei der GVB gestiegen sei. Heinrich Heitbaum, ein ehemaliger Wehrmachtspsychologe, Mitarbeiter des Wirtschaftswissenschaftlichen Instituts der Gewerkschaften und Arbeitsdirektor der Niederrheinischen Hütte AG, der als Geschäftsführer auf Fred Quecke gefolgt

214 Ebd. 215 Ebd., S. 8. Hervorhebung im Original. 216 Hermann Beermann: Aufnahme des DGB-Landesbezirks Nordrhein-Westfalen in den Beirat der „GVB – Gesellschaft zur Verbesserung der Beschäftigtenstruktur mbH“. Schreiben der Abt. Sozialpolitik an den Gesamtbetriebsratsvorsitzenden der GVB, 16. 10. 1968, in: AdsD 5/DGAI000876, S. 1. 217 Dr. D./Schw: Aktenvermerk über eine Besichtigung der Dortmunder Werkstatt für leistungsgeminderte Arbeitnehmer am 18. 11. 1969, 3. 12. 1969, in: WWA, K1 Nr. 30131, Bd. 2, S. 1. 218 Günter Kranz/Robert Schmidt: Niederschrift über die 2. Aufsichtsratssitzung der Gesellschaft zur Verbesserung der Beschäftigtenstruktur mbH am Donnerstag, den 9. Januar 1969 in der IHK zu Essen, 14. 1. 1969, in: BArch B 119/3936, S. 5. 219 Ebd. 220 So errechnete die Bundesanstalt zum Stichtag des 31. Dezembers 1971 Fördersummen von rund 7 Millionen Mark, davon rund 5,5 Millionen durch die BA. Vgl. Karl Maibaum: Maßnahmen zur Arbeitsbeschaffung für ältere Arbeitnehmer. hier: Gesellschaft zur Verbesserung der Beschäftigtenstruktur m. b. H. (GVB), Essen. Sprechunterlage, 9. 2. 1972, in: BArch B 119/3936, S. 2. Die beiden letzten finanzintensiven Jahre der GVB fehlten darin.

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war,221 stellte zu Beginn des Jahres 1970 etwa die Akribie der GVB heraus. „Über jeden älteren Mitarbeiter“, so Heitbaum, „führen wir einen Leistungsnachweis“ über die Tätigkeit seit Eintritt in die GVB.222 In manchen Fällen habe er in Essen eine „Leistungssteigerung um 20 bis 40 % über die Anfangsleistung“ beobachtet, die „in der Regel ­zwischen 20 und 30 % der arbeitswissenschaftlich definierten Normalleistung liegt“. Zur Authentifizierung beschrieb Heitbaum die Geschichten und Individualschicksale, die in Bonn und Nürnberg gerne gehört wurden: Ein älterer Bergmann habe seine Tätigkeit in der GVB im September als Hilfsdreher begonnen mit „einem Leistungsgrad von 20 % der Normalleistung“, die dann im Oktober auf 30, im November auf 50 Prozent angestiegen sei. Er arbeite im Dezember „gewissenhaft, sauber und fleißig mit einem Leistungsgrad von 60 %“.223 Aus ­diesem und anderen Beispielen folgerte Heitbaum, dass „ohne Zweifel“ für „einen beschränkten Kreis die Möglichkeit“ bestehe, über die GVB an dem „normale[n] Wirtschaftsleben“ teilzuhaben.224 Solche und ähnliche Nachrichten fanden Gehör in Bonn. Der zuständige Referent des BMA, Günter Kranz, generalisierte unumwunden: Die Erfahrungen zeigten, dass die „älteren Arbeitnehmer“ zunächst „eine Arbeitsleistung, die nur 10 % derjenigen eines jüngeren vergleichbaren Arbeitnehmers“ entspricht, erbrächten.225 Im Laufe der „Wochen der Anpassung“ steigere sich aber ihre „Leistungskraft“ – „im Höchstfalle bis zu 70 %“.226 Diese Sprache der Leistungssteigerung sprachen auch die Geldgeber in der Außendarstellung der GVB. Wilhelm Sternemann beispielsweise hob in einer Ansprache, die er bei der Eröffnung des Gelsenkirchener Betriebs und bei einem Besuch des Bundespräsidenten Gustav Heinemann hielt,227 darauf ab. Es gehe der GVB weder um „Mitleid“ und „soziale[s] Erbarmen“ noch um „Zeitvertreib[]“ und ­„Müßiggang[]“.228

221 Zu Heitbaum vgl. Heinrich Heitbaum: Kurzdarstellung des beruflichen Werdegangs. Kurz­ lebenslauf, 25. 3. 1968, in: Bistumsarchiv Essen, GVB, Bd. 5; außerdem: Rosenberger: Experten, S. 224, wonach Heitbaum in den 1950er Jahren erfolglos eine Annäherung der Gewerkschaften an die Betriebspsychologie anstrebte. 222 GVB. Geschäftsführung: Vierteljahresbericht IV/1969, 2. 2. 1970, in: BArch B 149/12603, S. 2. 223 Ebd. 224 Ebd., S. 5 f. 225 Günter Kranz: Maßnahmen zur Arbeitsbeschaffung für ältere Arbeitnehmer. Hier: Gesellschaft zur Verbesserung der Beschäftigtenstruktur (GVB), Aktenvermerk, 11. 11. 1969, in: ebd., S. 2. 226 Ebd. 227 Wilhelm Sternemann: Ansprache des AR-Vorsitzenden, Prälat Wilhelm Sternemann, gehalten anläßlich der Eröffnung des Betriebes Gelsenkirchen-Buer am 26. August 1971, o. D. [August 1971], in: Bistumsarchiv Essen, GVB, Bd. 3; ders.: Ansprache des AR-Vorsitzenden, Prälat Wilhelm Sternemann, gehalten anläßlich des Besuchs des Herrn Bundespräsidenten Gustav Heinemann des Essener Betriebes der GVB am 12. Mai 1972, 12. 5. 1972, in: BArch B 119/3936. 228 Sternemann: Ansprache, o. D. [August 1971], S. 2.

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Die GVB sei ein „von der Wettbewerbssituation in den gleichen scharfen Windzug gestelltes Unternehmen“ wie jedes andere. Und doch nehme es sich des „älteren Arbeitnehmer[s]“ an, denn dieser dürfe in einer „Betriebsgemeinschaft“ erwarten, „daß seine Fähigkeiten und Leistungen stufenweise derart angehoben werden, daß seine baldige Rückvermittlung erfolgen kann“.229 Also, so eine Pressemitteilung der GVB, die Sternemanns Ansprache in Gelsenkirchen begleitete, beweise die GVB, „daß auch ältere Menschen in der Lage sind, bei richtigem Einsatz einem Unternehmen ein betriebswirtschaftlich befriedigendes Ergebnis zu verschaffen“.230 Auf der anderen Seite motivierte der Druck, die Steigerung von Anpassungsfähigkeit versprechen und belegen zu müssen, zu einer Aktualisierung von Denkfiguren der Anpassungsunfähigkeit. Ebenso zog er eine Verschmelzung verschiedener Differenzkategorien zur Rechtfertigung ausbleibender Ergebnisse nach sich. Dabei bediente sich die GVB systematisch der verschwommenen Grenzen z­ wischen den Kategorien Alter und Behinderung. So versprach Heitbaum einerseits immer Leistungssteigerung, deutete aber andererseits wiederholt an, „daß von den älteren Erwerbslosen nur ein Teil wieder in den Arbeitsprozeß zurückgeführt werden kann.“ 231 Für diejenigen, „die ihre Arbeitswilligkeit bekunden“, lohne sich die „Mühe“. Für eine „industrielle Produktion“ s­ eien aber „schärfere Maßstäbe“ anzulegen. Erst wenn die Produktion rentabel sei, „können zusätzliche Arbeitsplätze geschaffen werden, um auch körperlich stärker Behinderten noch eine Betätigung zu geben“. Derzeit beschäftigte die GVB „schon einige Mitarbeiter, die körperlich so behindert sind, daß sie nur für eine sitzende Tätigkeit einsetzbar sind“.232 Damit vereinte Heitbaum die Ambivalenz der wissenspolitischen Aushandlung der Subjektivierung des „älteren Arbeitnehmers“: Einerseits standen unter der Betonung der „Willigkeit“ die Machbarkeit und die individuelle Verantwortung zur Überwindung von Behinderung vollkommen im Einklang mit den zeitgenössischen Besonderungen. Diese idealisierten den Willen eines Menschen mit Behinderung als letztgültiges Mittel und strebten eine Überwindung des „Erziehungspessimismus“ nach der Erweiterung des Bildbarkeitsbegriffs in den 1960er Jahren an.233 Diese Strategie zielte auf die „(Wieder-)Herstellung von Erwerbsfähigkeit und Eingliederung in den Arbeitsmarkt“.234

2 29 Ebd. 230 GVB: Gesellschaft zur Verbesserung der Beschäftigtenstruktur mbH – GVB. Pressemitteilung, August 1971, in: Bistumsarchiv Essen, GVB, Bd. 3, S. 2. 231 GVB. Geschäftsführung: Vierteljahresbericht II/1969, 15. 6. 1969, in: WWA, K1 Nr. 30131, Bd. 2, S. 3 f. 232 Ebd., S. 4. 233 Bösl: Politiken, S. 39. 234 Ebd., S. 40.

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Andererseits musste die vermeintliche Unfähigkeit der „älteren Arbeitnehmer“, ihre Anpassungsfähigkeit zu steigern, beständig als Begründung für das finanzielle Defizit der GVB herhalten. So machte der Geschäftsbericht für das Jahr 1969 den Spagat ­zwischen dem Versprechen der Anpassungsfähigkeit und der Begründung von Verlusten über Minderleistung. Das „Leistungsvermögen“ der zugeteilten Arbeitnehmer „war ganz erheblich gemindert, mehr[,] als wir zunächst erwartet hatten“.235 Im Dortmunder Betrieb s­ eien etwa von den 47 beschäftigten „älteren Arbeitnehmern“ 15 „körperlich und zum Teil auch geistig so behindert, daß sie nur beschränkt verwendungsfähig sind“.236 Auch die gute Konjunkturlage führe dazu, dass die Arbeitsämter nur vollständig anpassungsunfähige Arbeitnehmer zu vermitteln hätten. Die GVB habe erkannt, dass „sich das in langjähriger Arbeitslosigkeit stark gesunkene Leistungsvermögen auch erheblich einschränkend auf Leistungsbereitschaft und Leistungswillen der älteren Arbeitnehmer“ auswirke.237 Auch das „lange Jahre fehlende ‚training on the job‘“ verursache „eine relativ häufige Krankheitsanfälligkeit“.238 Aufgrund dieser Minderleistung forderte Heitbaum dann neue und höhere Bundeszuschüsse. Dieses Paradox des Anpassungsversprechens griff auch im Bundesarbeitsministerium. Bereits nach der verlustreichen Bilanz des Geschäftsjahrs 1969 wuchsen in Bonn Zweifel, ob ein vom Bund getragenes Unternehmen zum Beweis der Anpassungsfähigkeit der richtige Weg sei. Die Beamten diskutierten, ob die GVB nicht wegen der „Minderleistung der Arbeitnehmer“ in eine „beschützende Werkstatt“ umgewandelt werden sollte.239 Der zuständige Beamte lehnte diesen Vorschlag ab, da „minderleistungsfähige dauerkranke Arbeitnehmer“, die für den Krankenstand verantwortlich waren, entlassen würden; ebenso werde ein neuer Geschäftsführer für die GVB -Betriebe bestellt. Die Rentabilität werde also steigen. Außerdem sollten der GVB zukünftig nur noch Arbeitnehmer zugewiesen werden, die „nach einer gewissen Zeit der Anpassung eine volle oder nahezu volle Arbeitsleistung erbringen können“.240 Zusammen mit der Perspektive auf die Einrichtung eines Anpassungszentrums stellte das Bundesarbeitsministerium das Ende der GVB zurück. Es setzte darauf, dass die Bundesanstalt die Verluste der GVB für die ersten drei Quartale des Jahres 1970 übernehmen werde. Der

2 35 GVB: Geschäftsbericht 1969, 30. 6. 1970, in: BArch B 149/12604, S. 15. 236 Ebd., S. 12. 237 Ebd., S. 15. 238 Ebd. 239 Robert Schmidt: Gesellschaft zur Verbesserung der Beschäftigtenstruktur mbH (GVB), Essen; Umwandlung in eine „Beschützende Werkstatt“, Veräußerung der Stammeinlage des Bundes. Aktenvermerk, 30. 11. 1970, in: Bistumsarchiv Essen, GVB, Bd. 2, S. 1. 240 Ebd., S. 2.

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Aufsichtsratsvorsitzende und Beamte des BMA Günter Kranz wandte sich dazu hilfesuchend an Josef Stingl.241 Auch seine Bitte begründete er über die Fehlleistungen und den Leistungsverfall der „älteren Arbeitnehmer“: Deren „Leistungsvermögen“ liege „weit unter dem Grad, mit dem wir bei Planung und ­Errichtung unserer Betriebe rechneten“.242 Dieses „mangelhafte[] Leistungsvermögen“ habe zu einem hohen Krankenstand geführt und sich auch „nur unvorhersehbar langsam“ steigern lassen.243 Auch Heitbaums Nachfolger Ludwig Quadt nutzte eine Sprache des Leistungsverfalls, um gegenüber dem Bundesrechnungshof die weitere Förderungswürdigkeit der GVB zu begründen.244 Mangelnde Erfahrung habe dazu geführt, dass die GVB eine schwere Anlaufphase hinter sich habe. Von Beginn an sei eine „schärfere Auslese“ nötig gewesen, die die „unmögliche Leistung der einzelnen Mitarbeiter“ hätte verhindern können.245 Der Betrieb Dortmund leide außerdem unter der „unterdurchschnittliche[n] körperliche[n] Qualität der Mitarbeiter“. Gleichzeitig betonte Quadt – auch um nicht die Existenzberechtigung der GVB in Frage zu stellen –, eher die „mangelhafte Motivierung“ sei für die Bilanzverluste verantwortlich als die „leistungsschwache[n] Mitarbeiter“.246 Nichtsdestotrotz verbesserte sich die Finanzsituation der GVB auch in den Jahren 1972 und 1973 nicht. Diese Entwicklung führte die GVB zwar bereits frühzeitig auf die wirtschaftlichen Probleme der Stahlindustrie zurück,247 Einigkeit ­zwischen sämtlichen beteiligten Interessengruppen ließ sich aber über die Diagnose der mangelnden Anpassungsfähigkeit herstellen. Damit reproduzierte die GVB intern die wissenspolitische Untergliederung des BMA : Teilte Letzteres die Anpassungsfähigen der Umschulung und dem Bfz Essen sowie die Anpassungsunfähigen (beziehungsweise nur zur praktischen Anpassung Fähigen) der GVB zu, unterschied die GVB wiederum ­zwischen anpassungsfähigen und anpassungsunfähigen „älteren Arbeitnehmern“. Dazu diente im ersten Halbjahr 1973 die Aufteilung des Unternehmens in eine „Anpassungsabteilung“ und eine 241 Günter Kranz: Arbeitsplätze für leistungsgeminderte ältere Arbeitnehmer in den GVB-Betrieben; finanzielle Hilfen hierzu durch die Bundesanstalt für Arbeit. Schreiben an Josef Stingl, 9. 10. 1970, in: ebd. 242 Ebd., S. 1. 243 Ebd., S. 2. 244 Ludwig Quadt: Die wirtschaftliche und finanzielle Entwicklung der GVB-Betriebe Essen und Dortmund. Bericht für den Bundesrechnungshof, 5. 7. 1971, in: BArch B 149/12604. 245 Ebd., S. 4. 246 Ebd. 247 Vgl. Ludwig Quadt: Maßnahmen zur Förderung älterer, schwer vermittelbarer Arbeitnehmer gemäß § 98 AFG. Antrag vom 18. 5. 1972 auf Erhöhung der Zuschüsse zu den „laufenden Kosten“ um 563 TDM auf 1663 TDM. Schreiben an das LAA-NRW, 24. 7. 1972, in: BArch B 119/3937.

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„Leistungsabteilung“.248 Um die Anpassungsabteilung einzurichten, führte das Landesarbeitsamt NRW gemeinsam mit dem Bfw des DGB in Gelsenkirchen einen Versuch durch, bei dem es darum ging, Arbeitnehmer für den Einsatz in der GVB auszuwählen. Die bisher von der GVB angewandte „Arbeitstherapie“ reiche nicht mehr aus.249 Daher solle bei dem Test durch „Arbeitserprobung“ ermittelt werden, was die „älteren Arbeitnehmer“ eigentlich noch zu leisten im Stande ­seien: „Am Ende soll für jeden Einzelnen feststehen, w ­ elche Fähigkeiten durch ein intensives Training noch aktiviert und zu Fertigkeiten an bestimmten Arbeitsplätzen entwickelt werden können.“ 250 Von 33 Teilnehmern hätten 15 die Erprobung beendet, die anderen „schieden wegen Krankheit, manchmal auch wegen fehlender Motivation zur Arbeit aus“. Bei diesen sei „das Drängen auf Rente wegen Berufsunfähigkeit oder Erwerbsunfähigkeit stärker als der Wille zur Arbeit“ gewesen.251 Dementsprechend sollte dieser Versuch in Gelsenkirchen nun in der Anpassungsabteilung verstetigt werden. Bevor ein Arbeitnehmer in die Leistungsabteilung überführt wurde, diente der Aufenthalt in der Anpassungsabteilung der „eindeutigen Beurteilung der körperliche[n] Eignung“, der Untersuchung der „psychische[n] Belastbarkeit“ und der „soziale[n] Anpassungsfähigkeit“, also dem Test auf „aktivierbare Fähigkeiten und Leistungsbereitschaft“.252 Die Bundesanstalt bemerkte zu d ­ iesem Vorschlag der GVB , der „dargestellte Sachverhalt“ der fehlenden Leistungsfähigkeit „älterer Arbeitnehmer“ treffe zu. Wenn das Unternehmen aber beklage, die Arbeitsämter teilten ihm nur „ältere[] Arbeitnehmer mit erheblichen Leistungsminderungen und teilweise auch mit fehlendem Leistungswillen“ zu, gehe es fehl. Die Beschäftigung dieser Personen zähle schließlich zu seinen Aufgaben.253 Gerade aus ­diesem Grund sei die Initiative der GVB aber zu unterstützen.

248 GVB: Beschäftigung und Anleitung von älteren, leistungsgeminderten Arbeitnehmern. Memorandum, o. D. [ca. Juni 1973], in: ebd.; Dina Wermes: Aktennotiz über die 23. Aufsichtsratssitzung und die 12. Gesellschafterversammlung der GVB in Essen am 13. Juni 1973 vom [!] 14.00 – 18.30, 14. 6. 1973, in: Landeskirchliches Archiv der Evangelischen K ­ irche von Westfalen (LKA EKvW), Bielefeld, 13.40/141. 249 Auszug aus dem Entwurf der Niederschrift über die 44. Sitzung des Verwaltungsausschusses des Landesarbeitsamtes N[R]W am 15. Juni 1973, Juni 1973, in: BArch B 119/3937, S. 5. 250 Ebd., S. 6. 251 Ebd. 252 Paul Wollek: Beschäftigung älterer Arbeitnehmer in den Betrieben der Gesellschaft zur Verbesserung der Beschäftigtenstruktur mbH. GVB, Essen. Vermerk zur Gesellschafterversammlung am 13. 6. 1973, 14. 6. 1973, in: BArch B 119/3937, S. 2 f. 253 BA. Unterabteilung Ia: Maßnahmen zur Arbeitsbeschaffung für ältere Arbeitnehmer; Gesellschaft zur Verbesserung der Beschäftigtenstruktur mbH., Essen – GVB. Aktenvermerk, 15. 6. 1973, in: ebd., S. 2.

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Die GVB befand sich also in einem Dilemma, das in ihrer Architektur angelegt war: Auf der einen Seite musste sie zur Legitimation ihrer Existenz den Beleg erbringen, dass „ältere Arbeitnehmer“ fähig und willig zur Umstellung s­ eien und diese auch selbstständig verfolgten. Auf der anderen Seite erhob dieser Zwang die Annahme einer mangelnden Anpassungsfähigkeit zur conditio sine qua non ihrer Politik. Diese Bedingung drohte ihr gleichzeitig die Grundlage zu entziehen. In ­diesem ausdeutbaren Spannungsfeld verengten die Anteilseigner, die Bundesanstalt und die GVB selbst die Gruppe der als anpassungsfähig gedachten „älteren Arbeitnehmer“: Reichte zu Beginn des Vorhabens noch der geschulte Blick des Geschäftsführers aus, den Willen zur Umstellung zu erkennen, wurde d­ ieses Instru­ ment zunehmend durch eine Auswahl ersetzt. Es komme weniger auf die richtige „Menschenführung“ und Motivation an, sondern auf eine verbesserte Auswahl über eine Arbeitserprobung. Der Beweis der Anpassungsfähigkeit erforderte – tautologisch – die Auswahl der Anpassungsfähigen: Die GVB sollte beweisen, dass „ältere Arbeitnehmer“ anpassungsfähig an die Erfordernisse der sich wandelnden Arbeitswelt s­ eien, wählte dazu aber vorab diejenigen aus, die für den Beweis in Frage kamen. Sozialwissenschaftlich wie zeithistorisch wurde festgestellt, dass „die Gestaltung des Strukturwandels […] ein besonderes Augenmerk für Allgemeinbildung, berufliche Bildung, Weiterqualifizierung und Umschulung“ benötige. Dieses „Humankapital-Paradigma“ werde aber nicht dazu führen, „dass 100 Prozent der Arbeitnehmerschaft für High-Tech-Berufe mit hohen Qualifikationsanforderungen geeignet sind“.254 Eine ­solche Diagnose bewegt sich immer noch im Rahmen der Wissenspolitik: Die GVB war der konkrete Ort, an dem diese heute scheinbar unumstößliche Wahrheit produziert wurde. Scheint die Anpassung der Anpassungsfähigen zirkulär, verstanden die Handelnden in der GVB ­dieses Paradox keinesfalls als widersprüchlich. Denn eine Einigkeit darüber, was Anpassungsfähigkeit oder der Wille zur Umstellung sein könnten, herrschte zu keinem Zeitpunkt. Nirgends wird ­dieses inkongruente Aneignungspotential deutlicher als in den spärlichen Schlaglichtern auf die betriebsinternen Abläufe der GVB. Eigen-Sinn, Inkongruenz und Anpassungsfähigkeit

Diesem Blick auf die GVB , der einer Logik des Modellversuchs und der Experimentalordnung folgte und versuchte, eine möglichst reine Situation (etwa: das Sozial-Karitative gegen das Ökonomische) beständig herzustellen und aufrechtzuerhalten, standen uneindeutigere Perspektiven innerhalb der GVB gegenüber. Denn 254 Richard Münch: Das Regime des liberalen Kapitalismus. Inklusion und Exklusion im neuen Wohlfahrtsstaat, Frankfurt a. M. 2009, S. 327 f. Hervorhebung im Original.

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die Vorstellung davon, was unternehmerisches Handeln oder Anpassungsfähigkeit waren oder wie deren Verbesserung erreicht werden konnte, wich deutlich von den Plänen aus Bonn, Düsseldorf und Nürnberg ab. Gleiches galt für christlich geprägte Konzepte und Begriffe. Es dauerte nicht lange, bis die Frage, wie „die Älteren“ eigentlich zu führen ­seien, für Probleme sorgte. Im August 1970 sahen sich Paul Wollek (LAA NRW ) und Günter Kranz (BMA ) gezwungen einzugreifen. Zunächst bestellten sie B., den technischen Assistenten der GVB , nach Düsseldorf. Nur wenige Tage ­später, am 14. August, fuhren sie selbst nach Essen, um den Geschäftsführer Heitbaum zur Rede zu stellen. B., der wie Heitbaum von der Niederrheinischen Hütte zur GVB gewechselt war,255 präsentierte sich in Düsseldorf als stellvertretender Geschäftsführer und technischer Leiter der GVB . Auch wenn Kranz monierte, er sei lediglich technischer Assistent, brachte B. schwere Vorwürfe gegen Heitbaum vor: Dieser kümmere sich nicht um die Betriebe, nehme willkürliche und nicht mit den Arbeitsämtern abgesprochene Entlassungen vor und nutze diese als Druckmittel. Darüber hinaus lasse er die „älteren Arbeitnehmer“ Renovierungen an seinem Haus in Bad Godesberg durchführen.256 Für B. gingen die Vorwürfe noch weiter. Es herrschten „Unzufriedenheit und Unruhe in der Belegschaft“:257 In seiner Darstellung weigerten sich die Beschäftigten, für einen Stundenlohn von vier Mark Arbeiten auszuführen, die im „Akkord- oder Antriebssystem stehen“.258 Diese Widerspenstigkeit liege vor allem daran, dass die „Massenmedien“ ausführlich über den „sozialen Charakter der GVB und die dortigen guten Arbeitsbedingungen berichtet“ hatten. Der Leistungsdruck habe die Belegschaft dazu veranlasst, Unterschriften zu sammeln, um ihn, B. ihr Anliegen in Düsseldorf zur Sprache bringen zu lassen. Auch sei das „rigorose Zurückgeben von Menschen an das Arbeitsamt, die sich in der k­ urzen Zeit ihrer Beschäftigung weder einarbeiten noch an irgendeinem Arbeitsplatz zurechtfinden konnten, nicht gerechtfertigt“.259 Sollte sich die Situation nicht ändern, so B., drohte die Belegschaft, der Öffentlichkeit die Wahrheit über die GVB zu enthüllen. Besonders die „autoritäre

255 Vgl. B.: Schreiben an Wilhelm Sternemann, 3. 10. 1971, in: Bistumsarchiv Essen, GVB, Bd. 3, S. 6. 256 Paul Wollek: Geschäftsführung der GVB. Aktenvermerk über ein Gespräch mit Günter Kranz und B. am 10. 8. 1970 in Düsseldorf und über ein Gespräch am 14. 8. 1970 in Essen mit Kranz und Heitbaum, 10. 8. 1970 – 14. 8. 1970, in: ebd., Bd. 2, S. 1 f. 257 B.: Besuch von Herrn B. bei Herrn Ministerialrat Kranz und Herrn Regierungsrat Wollek am 10. 8. 1970 in Düsseldorf. Aktenvermerk über ein Gespräch mit Paul Wollek und Günter Kranz, 13. 8. 1970, in: ebd., S. 1. 258 Ebd., S. 3. 259 Ebd.

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Behandlung“ und Privatarbeiten „unter schlechtesten Witterungsverhältnissen“ sorgten für Unmut.260 Aus ­diesem vielschichtigen Konflikt ließ sich kein Ausweg finden. Zur Rede gestellt räumte Heitbaum ein, es sei um Aufräumarbeiten an seinem Wohnhaus gegangen; auch sei „sein Wagen gewaschen worden“.261 Darüber hinaus sei einerseits ein „patriarchalischer Führungsstil“ für die GVB nicht tragbar, andererseits dürfe sich B. jedoch nicht anmaßen, als zweiter Geschäftsführer zu handeln.262 Die festgefahrene Situation konnte nur durch einen Rücktritt Heitbaums Ende 1970 gelöst werden.263 Doch damit war der Konflikt keineswegs beigelegt. Es fanden sich weitere Ungereimtheiten in der Abrechnung der GVB und Belege für die „autoritäre Betriebsführung“, weswegen sich das Landesarbeitsamt „außerordentlich böse“ zeigte.264 Nur vordergründig ging es bei d ­ iesem Konflikt aber um persönliche Animositäten. Im Hintergrund stand die Frage, wer legitim beanspruchen konnte, den Weg zur Steigerung der Anpassungsfähigkeit zu kennen. Durch die Beschwörung des Autoritarismus gelang es B., den Belegschaftsprotest – der sich an Lohnforderungen entzündet hatte und damit aus Belegschaftsperspektive jenseits von Fragen der Anpassungsfähigkeit gelegen hatte – in eine Sprache zu übersetzen, die mit der experimentellen Wahrnehmung der Genossenschafter kommensurabel zu sein schien – denn Lohnforderungen waren es offenkundig nicht. Diese sprachliche Anpassung erwies sich aber als ein zweischneidiges Schwert. Nicht einmal einen Monat s­ päter wandte sich der Werkstattleiter des Essener GVB -Betriebs, L., an Wilhelm Sternemann, um B.s missbräuchlichen Umgang mit der GVB anzuzeigen.265 Dieser spreche in den höchsten Tönen von „seiner sozialen Einstellung und von seiner Kompetenz“, erkläre die GVB zu seiner eigenen Idee und prahle damit, „im Auftrage der Bundesregierung in ganz Deutschland von Münster bis München (auch über den Schwarzwald hinaus) Werkstätten errichten“ zu müssen.266 Seinem Schreiben legte L. einen sechsseitigen, mit Vorwürfen gespickten Bericht über die Vorgänge in der GVB bei. Er berichtete, wie B. die GVB hinterlistig in seine Gewalt gebracht und den redlichen Geschäftsführer Heinrich Heitbaum gestürzt habe.267 Dazu warf er B. technische Unfähigkeit,

260 Ebd., S. 4. 261 Wollek: Geschäftsführung, S. 3. 262 Ebd. 263 Ebd. 264 Paul Wollek: Schreiben an Günter Kranz, 29. 8. 1970, in: Bistumsarchiv Essen, GVB, Bd. 2, S. 1. 265 L.: Schreiben an Wilhelm Sternemann, 21. 9. 1970, in: ebd. 266 Ebd. 267 L.: Bericht über die GVB [ohne Titel]. Anlage zum Schreiben an Wilhelm ­Sternemann, 21. 9. 1970, in: ebd.

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Paranoia und einen fehlgeleiteten Führungsstil vor. Sein „überzeugendes Lächeln“ und seine „geschwollenen Redensarten“ würden alle blenden.268 Gleichzeitig habe er seine Inkompetenz immer auf den Geschäftsführer geschoben und „schlecht über Herrn Dr. Heitbaum“ gesprochen.269 Schlimmer noch: Ständig gebe er „Bier und Schnaps“ aus, um Beschäftigte willfährig zu machen, und er habe seine Frau als „‚Küchenchefin‘“ eingesetzt – eine „Frau, die sich mit keinem vernünftigen Menschen vertragen kann“.270 Die Küchenhilfe leide darunter besonders und verbringe „von acht Arbeitsstunden sieben“ damit zu „weinen“. Auch betrachteten B. und seine Frau jeden, der sich dem Aufenthalt in der Kantine verweigere, als „Spitzel“, sähen in dem „Angstgefühl“ der Beschäftigten gar ein „Spitzelsystem“ und stritten tagelang über das „Abhören von Telefongesprächen“.271 Daneben zweige der Beschuldigte regelmäßig Geld über fingierte Beraterverträge von der GVB an einen „gute[n] Freund“ ab.272 Bemerkenswert ist diese Angelegenheit nicht, weil es etwa darum ginge, sie nachträglich aufzulösen oder darin Gründe für das Scheitern der GVB zu suchen, wie es Heitbaums Nachfolger – recht naheliegend – tat. Sie zeigt zunächst, dass die für Nürnberg und Bonn wesentliche Tragweite der GVB den Arbeitsalltag und die Vorstellungen der Beschäftigten nur wenig tangierte. Die GVB war ein Arbeitgeber wie jeder andere, vielleicht noch etwas sozialer als üblich. Eine bemerkenswerte Anpassungsfähigkeit an den Tag legen zu müssen tauchte weder im Blick der Vorgesetzten auf die Beschäftigten noch bei den Vorgesetzten selbst auf. Die fehlende Gestaltung des Betriebs als epistemischer Ort erwies sich damit als größte Reibungsfläche. Darüber hinaus speisten sich die Vorwürfe z­ wischen ­Heitbaum, B. und L. aus dem Anspruch, Geschäftsführung zu imitieren. Sowohl Heitbaum als auch B. – und implizit auch L. – verfolgten Vorstellungen, was ein Geschäftsführer zu tun und zu lassen, wie also eine gelungene Mimesis des Ökonomischen auszusehen habe. In dieser mimetischen Logik galt der dehnbare Vorwurf des Autoritarismus und der Willkür des Vorgesetzten als Todesurteil, weswegen alle Beteiligten darauf zurückgriffen. Galt falsche Führung als hinderlich für die Ziele der GVB , war sie doch gleichzeitig die Erfüllung ihres Unternehmenszwecks. Die mimetische Praxis der GVB kopierte auch sämtliche Aspekte betrieblichen Alltags, die in der epistemischen Praxis ausgeklammert worden waren: Lohn- und Gehaltsfragen, Zuständigkeitsfragen, Arbeitsprozesse, kleine Gefallen, informelle Netzwerke. 268 Ebd., S. 1. 269 Ebd., S. 2. 270 Ebd., S. 3. 271 Ebd. 272 Ebd., S. 5.

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Der Vorwurfskatalog las sich dementsprechend wie eine Aufstellung stereotypen betrieblichen Fehlverhaltens, das die industrielle Arbeit seit dem 19. Jahrhundert begleitet hatte: Vetternwirtschaft, Willkür, Paternalismus, Inkompetenz. Indem sowohl Heitbaum als auch B. so handelten, verhielten sie sich in der mimetischen Logik weder unökonomisch noch nicht genügend unternehmerisch, sondern besonders unternehmerisch – wie ein stereotypes Abziehbild eines Unternehmers. Sie erfüllten von ihrer Warte aus den Unternehmenszweck der GVB vortrefflicher als in den Planungen erwartet – handelten damit aber auf einer Ebene, die in Bonn, Düsseldorf und Nürnberg nur auf Unverständnis stoßen konnte. Wenig erstaunlich hatte B. auch eine andere Perspektive auf sein Vorgehen, das er gegenüber dem Bistum Essen – ­später auch juristisch – in eine Sprache der Mildtätigkeit und der Fürsorge kleidete: Seine Frau habe in der Küche „auf ideeller Ebene kostenlose Essen ausgegeben, Bedürftigen und Kranken geholfen“; er selbst „mit geldlichen Mitteln, wo die Not am größten war“.273 Im Falle des Petenten L. führte die Forderung nach unternehmerischem Handeln zu ebenso paradoxen Konsequenzen. Nachdem der Aufsichtsrat B. und dessen Berater aus der GVB entfernt hatte, fand er in Ludwig Quadt einen Ersatz. Dieser setzte auf „Rationalisierungseffekte“ 274 – und entließ Ende 1971 seinen ­Gelsenkirchener Betriebsleiter L., der dazu lakonisch bemerkte, er gehöre mit seinen 48 Jahren nun auch zu den „schwer Vermittelbaren“.275 Als er noch über die IGM um Weihnachtsund Urlaubsgeld bat, erzürnte sich Quadt, die GVB habe im Jahr 1971 vor allem „von Zuwendungen Dritter gelebt“, wofür L. „mitverantwortlich“ gewesen sei. Es stehe einem Unternehmen wie der GVB schlecht zu Gesicht, „an eine Person Geschenke zu verteilen, deren schlechte Leistungen letztlich zu der Kündigung geführt haben“.276 Jenseits ihres vermeintlich anekdotischen Charakters ermöglichen diese Beispiele einen Blick auf die Aneignung wissenspolitischer Herrschaft. Das Lachen, das diese Konflikte innerhalb der GVB in der Gegenwart hervorrufen mögen, ist hochgradig instruktiv: Es verweist weder auf das Moment des Kathartischen, das Erzählungen widerständigen Verhaltens zugrunde liegt, noch auf den Verfremdungseffekt des Eigen-Sinns. Es zeigt vielmehr, dass sich die Beobachtungslogiken der Ministerialverwaltung vollkommen inkongruent zur Wahrnehmung der ­Handelnden verhielten. B., L. und Heitbaum untergruben die wissenspolitischen 2 73 B.: Schreiben an Wilhelm Sternemann, 3. 10. 1971, in: Bistumsarchiv Essen, GVB, Bd. 3, S. 1. 274 Quadt: Entwicklung, S. 11. 275 L.: Schreiben an Günter Kranz, 3. 3. 1972, in: Bistumsarchiv Essen, GVB, Bd. 3, S. 1. 276 Ludwig Quadt: [L.] – Schreiben der IG Metall, Gelsenkirchen. Schreiben an ­Wilhelm Sternemann, 3. 3. 1972, in: ebd., Bd. 4, S. 1.

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Erwartungen im Bestreben, sie zu erfüllen. Mimetische Aneignung als Bricolage setzte der Wissenspolitik Grenzen.

5.3 Von der Wissenspolitik der Anpassung zur Wissenspolitik des Ausschlusses Das Scheitern der GVB

Die Rationalisierungsbemühungen Quadts und die Umstrukturierung halfen nicht. Im August 1973 beschlossen die Gesellschafter eine „Beerdigung erster Klasse“, wie Dina Wermes notierte, nämlich den Geschäftsbetrieb der GVB zum 31. Oktober 1973 einzustellen und die Gesellschaft zu liquidieren.277 Dafür stellten die Anteilseigner fünf Millionen Mark bereit, wovon das BMA dreieinhalb beisteuerte, offenkundig, um den Skandal eines Konkurses oder einer Insolvenz zu vermeiden.278 Um den Untergang der GVB rankten sich zwei Lesarten, die sich auf die Frage konzentrierten, ob das Scheitern nun bewies, dass „ältere Arbeitnehmer“ zur Anpassung unfähig waren. Die erste Lesart versuchte diese Schlussfolgerung um jeden Preis zu vermeiden. Das Gegenteil konnte sie aber nicht behaupten. Folglich, so vor allem die Gewerkschaften, die Belegschaft und die ­Kirchen, sei das Scheitern der GVB auf ein Führungsproblem zurückzuführen. Das DGB -Organ Welt der Arbeit fand in dem Betriebsratsvorsitzenden der GVB einen dankbaren Zeugen. Er beschwor im Interview die Bildwelt des Experiments: Unter „großen Versprechungen“ habe man die „älteren Arbeitnehmer“ zu „Versuchskaninchen“ gemacht, nur um sie, als die „Operation nicht gelang“, wieder in „ihre frühere Not“ zu entlassen.279 Die Schuld verteilte sich in dieser Perspektive eindeutig: Für den Betriebsratsvorsitzenden lag es „nicht an den Leuten, daß der Versuch gescheitert ist, sondern an der Führung der GVB .“ Und die IGM bezeugte, „die Leute“ ­seien „in unverschämter Weise verschaukelt worden“, während ein Schweißer der GVB mit den Worten „Wenn oben die richtigen Köpfe gewesen wären, brauchten die unteren nicht zu fallen“, zitiert wurde.280 Dieser Wahrnehmung entsprach, dass die K ­ irchen vehement dafür ­plädierten, gegen den Geschäftsführer Ludwig Quadt Strafanzeige 2 77 Dina Wermes: Schreiben an Dr. Walter Sohn, 9. 10. 1973, in: LkA EKvW, Best. 13.40/141, S. 1. 278 GVB. Gesellschafterversammlung: Liquidationsbeschluss, 10. 9. 1973. 279 Gerd-Ulrich Brandenburg: Sechs Millionen sinnlos verbraten. Modellversuch, ältere Arbeitnehmer beruflich einzugliedern, scheiterte, in: Welt der Arbeit Nr. 43, 26. Oktober 1973, enthalten in: BArch B 119/3937, S. 1. 280 Ebd.

Von der Wissenspolitik der Anpassung zur Wissenspolitik des Ausschlusses

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zu stellen, um ihn für das Scheitern der GVB persönlich zur Verantwortung zu ziehen.281 Ebenso wandte sich der Leiter des Sozialamts der Evangelischen ­Kirche von Westfalen, ­Eduard Wörmann, hilfesuchend an den parlamentarischen Staatssekretär des BMA und späteren Bundeswissenschaftsminister Helmut Rohde sowie an Werner F ­ iggen.282 Der „Umfang der gegenwärtigen Misere“ der GVB habe zwar „verschiedene Gründe“, deutlich sei aber: „das Management [hat] versagt“.283 Damit plädierte er zum einen dafür, noch „Erfahrungsdaten“ aus der GVB zusammenzutragen.284 Zum anderen wünschte er sich eine Fortführung des Versuchs, da ansonsten Vorurteile gegenüber „älteren Arbeitnehmern“ weiter zunehmen würden.285 In seiner Antwort an Wörmann lieferte Rohde eine zweite Lesart des GVBDesasters. Die „Ursache für das Scheitern des Modellversuchs“ sei mitnichten „bei den Führungskräften des Unternehmens zu suchen“.286 Grundsätzlich hielt er fest, die „Eingliederung älterer, schwer vermittelbarer Arbeitnehmer“ sei „nicht in einem erwerbswirtschaftlich ausgerichteten Betrieb zu erreichen“.287 Diese Position begründete er mit der Untersuchung der GVB durch das Institut für Stadt- und Regionalentwicklung der Bochumer Universität.288 In ­diesem Gutachten, das unter anderem auf einer teilnehmenden Beobachtung in einem GVB -Betrieb beruhte, argumentierten die Sozialwissenschaftler, dem Modell liege ein unauflösbares Dilemma zugrunde: In dem ewigen und unversöhnlichen Widerspruch ­zwischen dem Sozialen und dem Ökonomischen müsse sich 281 Karl-Gustav Werner/Heinz Reichel: Niederschrift über die zweiunddreißigste Aufsichtsratssitzung und die neunzehnte Gesellschafterversammlung der Gesellschaft zur Verbesserung der Beschäftigtenstruktur mbH – GVB – am 13. Januar 1975, 14.30 Uhr, in den Räumen des Ministeriums für Arbeit, Gesundheit und Soziales in Düsseldorf, o. D. [Januar 1975], in: Bistumsarchiv Essen, GVB, Bd. 5, S. 4. 282 Eduard Wörmann: Schreiben an Helmut Rohde, BMA; wortgleich an Werner Figgen, MAGS NRW, 22. 8. 1973, in: LkA EKvW Best. 13.40/141. 283 Ebd. 284 Ebd., S. 2. 285 Ebd. 286 Helmut Rohde: Schreiben an Eduard Wörmann, 13. 9. 1973, in: LkA EKvW 13.40/141, S. 1. 287 Ebd. 288 Eine Zusammenfassung wurde publiziert in Friedrich Landwehrmann/Friedrich Wallner: Analyse der Zielsetzung und Struktur der Gesellschaft zur Verbesserung der Beschäftigtenstruktur mbH, Bochum 1973, in: MAGS NRW (Hg.): Arbeitsmarktkonferenz 1973. 4. Sitzung des Arbeitskreises 2 Arbeitsmarktfragen in Gelsenkirchen am 28. November 1973. Zur Situation der älteren Arbeitnehmer im Lande Nordrhein-Westfalen, Essen 1974, S. 57 – 76; der Forschungsbericht, Institut für Stadt- und Regionalentwicklung Bochum: Analyse der Zielsetzung und Struktur der GVB, o. O. o. J. [Bochum 1972], findet sich in: Landeskirchliches Archiv der Evangelischen ­Kirche im Rheinland, Düsseldorf, 1 OB 017 II, Nr. 4796.

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die GVB notwendig aufreiben. Das „erwerbswirtschaftliche Prinzip“ sei „eindeutig quantifizierbar“ und einer objektiven Erfolgsmessung zugänglich. Für das Soziale entfalle diese Möglichkeit. Dementsprechend sei es „bereits in der Konstruktion der GVB angelegt“, dass sie ihrer sozialen Dimension nicht gerecht werden könne. Es handele sich also um ein „Strukturproblem“.289 Davon ausgehend habe sich in dem Unternehmen eine „polare betriebliche Hierarchie“ herauskristallisiert, in der eine Oligarchie von qualifizierten Facharbeitern über die isolierte Masse der „älteren Arbeitnehmer“ herrsche. Letztere fänden sich in ihren Augen in einer „‚Sammelstelle der Kaputten‘“ wieder.290 Die einzige Lösung für einen derartigen Zielkonflikt sahen die Wissenschaftler darin, „die sozialpolitischen Aufgaben konkreter zu definieren und teilweise quantifizierbar zu machen“.291 Der Forschungsbericht ließ aber verschiedene Lesarten der Polarität von Sozialem und Ökonomischem zu. Nachdem sich der Betriebsrat der GVB hilfesuchend an den Bundespräsidenten gewandt hatte, antwortete dieser mit einem durch das BMA erstellten Bericht. In ­diesem wurde die Studie dazu genutzt, die Schuld an dem Misserfolg den „älteren Arbeitnehmern“ zuzuweisen.292 „Die Ursachen für die wirtschaftliche Entwicklung der GVB“, so der Verfasser, lägen „in einem zu geringen Leistungsvermögen und Leistungswillen eines Teils der […] älteren Arbeitnehmer“.293 Der GVB-Versuch und die Studie bewiesen exemplarisch, dass „die Beschäftigung älterer Arbeitnehmer, die derart leistungsgemindert sind, nach erwerbswirtschaftlichen Grundsätzen selbst mit so erheblichen finanziellen Hilfen der öffentlichen Hand […] nicht zu verwirklichen sei“.294 Folglich existierte für das Bundesarbeitsministerium ein Residuum von nicht mehr anpassungsfähigen Arbeitnehmern. Bereits nach ihrem Erscheinen konnte die Studie wahlweise als ausschlaggebender Grund für das Scheitern oder als Bestätigung des eingeschlagenen Weges gelesen werden. Wilhelm Sternemann etwa betonte gegenüber dem Erzbistum Paderborn, dass es nicht die Studie gewesen sei, die zum Liquidationsbeschluss geführt habe. Nach der Diskussion des Gutachtens s­ eien sich alle Beteiligten einig gewesen, „das Experiment GVB weiterzuführen und empfohlene Änderungen einzuleiten“.295 2 89 Landwehrmann/Wallner: Analyse, S. 59. 290 Ebd., S. 75 und 65. 291 Ebd., S. 75. 292 BMA: Bericht über die Gesellschaft zur Verbesserung der Beschäftigtenstruktur mbH (GVB). Von Dr. Köble, Bundespräsidialamt, an den BR-Vorsitzenden Anton Esser verschickter Bericht, September 1973, in: Bistumsarchiv Essen, GVB, Bd. 4. 293 Ebd., S. 2. 294 Ebd., S. 2 f. 295 Wilhelm Sternemann: 13. Gesellschafterversammlung der GVB am 15. August 1973. Schreiben an den Kapitularvikar Dr. Droste, Erzbistum Paderborn, 24. 8. 1973, in: Bistumsarchiv Essen, GVB, Bd. 5, S. 1.

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­ ediglich die „katastrophale[n] Fehler“ der Geschäftsführung ­seien für den MissL erfolg verantwortlich.296 Nichtsdestotrotz schlossen sich beide Deutungen – Führungsversagen und Anpassungsschwäche – nicht aus. Als sich am Vorabend der vierten Arbeitsmarktkonferenz des Landes NRW in Gelsenkirchen im Berufsfortbildungswerk Graf Bismarck am 27. November 1973 die verschiedenen Gruppen trafen, um „Folgerungen aus dem abgeschlossenen Modellversuch ‚GVB ‘ zu ziehen“, war eine „völlige Übereinstimmung nicht zu erzielen“.297 Auch hier standen sich zum einen Struktur- und zum anderen Führungs- und Informationsargumente gegenüber. Eine konsensfähige Lehre ließ sich jedoch aus der Geschichte der GVB ziehen: Der „Personenkreis der älteren Arbeitnehmer“ im Ruhrgebiet lasse sich in fünf Gruppen einteilen.298 Es gebe Arbeitnehmer, „die lediglich älter sind“, ­solche, die „älter sind und leichte, altersbedingte Leiden haben“, diejenigen, die „älter sind und altersbedingte Gebrechen haben“, darüber hinaus jene, „die älter sind und schwere gesundheitliche Schäden haben“, und zuletzt „Arbeitnehmer, die älter und arbeitsunfähig sind“.299 Diese Systematik sei bei der Planung von Anpassungsmaßnahmen zu berücksichtigen, wenn eine Zuordnung auch nicht immer eindeutig möglich sei. Darüber hinaus entsprach dieser Systematik aber auch eine Grammatik der Differenz: Die erste und die zweite Gruppe könnten „bei guter Konjunkturlage regelmäßig ohne Schwierigkeiten vermittelt werden“ und ­seien auf dem Arbeitsmarkt des Ruhrgebiets kaum vorhanden. Während für die dritte Gruppe in Betracht gezogen wurde, eine der GVB ähnliche Maßnahme im Bfw Graf Bismarck in Gelsenkirchen einzurichten, sollte die vierte „in Behindertenwerkstätten beschäftigt werden“. Die Gruppe fünf dagegen sollte „in den Rentenbezug überführt werden“.300 Dieser in der Logik der GVB, des Bfz und des nicht realisierten Anpassungszentrums liegende, nach Leistungsstufen untergliedernde Vorschlag stieß allerdings kaum mehr auf Gegenliebe. Bei der Durchsicht des Vermerks im Bundesarbeitsministerium empfahl Karl Jung, „von einer Vorlage an den Herrn Minister abzusehen“.301 Bei genauem Hinsehen sei das Ergebnis der Arbeitsgruppe „gleich Null [!]“. Nur die „Systematisierung der Banalitäten“ täusche darüber hinweg: Niemand würde bestreiten, dass „voll leistungsfähig[e]“ Arbeitnehmer vermittelt und andere 2 96 Ebd., S. 2. 297 BMA, IIb 3: Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen für ältere Arbeitnehmer. Hier: Folgerungen aus dem beendeten Modellversuch „GVB“. Aktenvermerk, 4. 12. 1973, in: BArch B 149/63527, S. 1. 298 Ebd. 299 Ebd., S. 2. 300 Ebd. 301 BMA, IIb 3: Aktenvermerk an Herrn Abteilungsleiter II, 12. 12. 1973, in: BArch B 149/63527, S. 1.

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mit „noch höhere[n] Zuschüssen“ beschäftigt werden könnten. Behindertenwerkstätten verurteilte er mit einer militärischen Metapher als „reines Sandkastenspiel“. Der „erwerbsunfähige ältere Arbeitnehmer“ gehe in Rente und wer „erwerbsunfähig ist, ist erwerbsunfähig“ – für diese Feststellung brauche es „keine Arbeitsgruppe“.302 Diese Schlussfolgerungen aus der Abwicklung der GVB  – ähnlich wie das gescheiterte Projekt des Anpassungszentrums – stellten den Schlusspunkt der Bemühungen des Bundesarbeitsministeriums und anderer sozialpolitischer Akteur:innen um eine Wissenspolitik der Anpassung dar. Der Versuch, ein abgestuftes System verschiedener Institutionen zu schaffen, die jeweils einem Grad an Anpassungsfähigkeit entsprechen sollten und jeweils zur höchstmöglichen Steigerung ­dieses Grades beitragen sollten, ließ sich nicht durchsetzen. Wissenspolitik spitzte sich damit zu einer anderen Vereindeutigungsform zu: der Wissenspolitik des Ausschlusses, in der lediglich ­zwischen Anpassungs- und Bildungsfähigen einerseits und Erwerbsunfähigen andererseits unterschieden wurde. Diese Form stellte nicht nur eine Zuspitzung der Anpassung dar, sondern ebenso eine Verschiebung in der Gleichung von Arbeit und Begabung: Galt in der anpassenden Wissenspolitik noch die Maxime „jeder Begabung ihre Arbeit“, lautete die Maxime des Ausschlusses „Arbeit für normale Begabung“ – und warf dementsprechend die Frage nach der „anormalen“ Begabung auf. Abstrakter formuliert: Entgegen dem üblichen Liberalisierungs- und Gouvernementalitätsnarrativ ersetzte hier ein Protonormalismus einen flexiblen Normalismus.303 Während also verschiedene Befunde der historischen Ungleichheits- und Differenzforschung auf eine Individualisierung der Ungleichheit hindeuten,304 lässt sich hier ein gegenläufiger Trend beobachten: Begünstigte eine Wissenspolitik der Anpassung das Verschwimmen der Grenzen z­ wischen den Kategorien der Behinderung, des Alters und der Normalität, verschob sich die Perspektive dieser Vereindeutigungsform. Der Zergliederung der Anpassungsfähigkeit konnte fortan die Suche nach dem Anderen des gesellschaftlichen Wandels entgegenstellt werden. An die Stelle der flexiblen Grenze der anpassenden trat eine starre Grenze der ausschließenden Wissenspolitik. Gleichzeitig lässt sich diese Entwicklung nicht nur als Disziplinierung begreifen. Wissenspolitik schuf, wie gezeigt, Spielräume der Aneignung und Umdeutung.

302 Ebd. Der Abteilungsleiter II, Manfred Baden, zeichnete mit „einverstanden“. 303 Mit d ­ iesem Gegensatz fasst Jürgen Link zwei aufeinander folgende Normalisierungsstrategien. Der (ältere, „moderne“) Protonormalismus operierte anhand einer „fixe[n] und stabile[n] Grenze“ mit einer „Taktik ‚reiner‘ Exklusion“, während der (neuere, „postmoderne“) flexible Normalismus sich einer „Passage[n]-Grenze“ weicher, „hochaufgelöst[er], fein graduiert[er]“ Unterscheidungen bediene. Vgl. Jürgen Link: Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird, Göttingen 42009, S. 51 – 59, Zit. S. 57 f. 304 Vgl. etwa Lorke: Armut, S. 120 – 235; ähnlich: Münch: Regime.

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Diese Inkongruenz resultierte daraus, dass sich Anpassungsfähigkeit als epistemisches Ding einer letztgültigen Vereindeutigung entzog. Damit waren sie flottierende Signifikanten, die die konkrete Geschichte des Abstraktums Strukturwandel strukturierten. Umschulung ­zwischen Beweis der Bildbarkeit und Bestätigung der Unbildbarkeit

Ein vergleichbarer Übergang wissenspolitischer Ordnungsvorstellungen in diese „Aporien der Anpassung“ 305 zeigt sich am Beispiel des Bfz Essen. Als das Modellzentrum 1971 die Arbeit aufnahm, standen die ersten Konflikte ins Haus. ­Walter Brückers drängte gegenüber der für die Abschlussprüfungen zuständigen IHK Essen auf eigene Prüfungen für Umschüler, die getrennt von Jugendlichen und mit flexibleren Zeitvorgaben stattfinden sollten.306 Die Kammer interpretierte diese Forderung – wie die Errichtung des Bfz insgesamt 307 – als Eingriff in ihre Zuständigkeit und wandte sich direkt an den DIHT. Die Forderungen des Bfz entsprachen der üblichen Praxis der Rehabilitation in den Kammerbezirken Ludwigshafen und Heidelberg.308 Der Anspruch des Zentrums war in den Augen der Kammer aber absurd: Es handele sich in Essen „nicht um Rehabilitanten [!], sondern um Umschüler“, die dasselbe leisten müssten wie alle anderen, um „nicht als ‚Sonderschüler‘ abgestempelt“ zu werden.309 Von Auszubildenden und Umschülern, so die Position der Essener Kammer – die damit ihren Forderungen Mitte der 1960er Jahre entgegenstand –, ­seien identische Leistungen zu erwarten. Darauf werde, so zeigte sich Spitznas überzeugt, eine „harte Kontroverse“ mit der Arbeitsverwaltung folgen, die dem Einfluss des „nicht unbekannte[n] Herr[n] Boll“ unterliege.310 Diese Drohkulisse baute Spitznas noch weiter aus: Boll sei „ein Mann, dessen

305 Kellershohn: Aporien. 306 Walter Brückers: Umschulungen und Prüfungstermine. Schreiben des Bfz Essen an die IHK Essen, 13. 11. 1970, in: RWWA Köln, Abt. 28, 955-10 (Altsignatur). 307 Heinz Spitznas beurteilte z. B. die Einrichtung eines staatlichen Umschulungszentrums im Juni 1968 als „mit sehr vielen Risiken belastet“. Da die „Gründung ein Politikum“ sei, riet er aber von öffentlichen Widersprüchen ab. Vgl. Heinz Spitznas: Umschulungszentrum. Schreiben der IHK Essen an Helmut Rehker, IHK Köln, 19. 6. 1968, in: WWA, K5 Nr. 2848, S. 1 f. 308 Heinz Spitznas: Schreiben an Herbert Wölker, DIHT, 7. 4. 1971, in: Registratur der IHK Essen, 955 – 10, S. 1. Da die Überlieferung der IHK Essen bislang nur bis Ende der 1960er Jahre ans RWWA abgegeben und dort für die Zeit von 1960 bis 1970 auch noch nicht verzeichnet wurde, erfolgt die Zitation nach dem Aktenplan der Kammer. Akten aus den 1970er Jahren wurden in der Registratur der IHK Essen eingesehen. 309 Ebd. 310 Ebd., S. 2.

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­ ktivitäten keine Grenzen“ kennten und der mit dem Bfz ein Modell schaffe, das A als „richtungsweisender Motor für das gesamte Bildungswesen“ fungieren solle.311 Das Bfz gefährde das Berufsbildungssystem, „wenn sich hier ein von der Bundesanstalt finanzierter und mit ihren unbegrenzten Finanzmittel[n] geförderter Wildwuchs entwickeln sollte“.312 Diese rhetorische Frontstellung bei faktisch unumgänglicher Kooperation mit dem Bfz fand unerwartete Verbündete in einem Konflikt, in dem es zunehmend darum ging, Scheitern zu plausibilisieren. Wenn also, so die Prämisse des Bfz, alle Erwachsenen umstellungsfähig und -willig ­seien, wie war es dann zu erklären, dass nicht alle Umschüler erfolgreich ihre Ausbildung abschlossen? Schützenhilfe erhielt die Essener Kammer durch einen Umschüler. Günther Classen, der von Dezember 1972 bis März 1974 am Bfz umgeschult worden war, verstand sich als kritischer Umschüler. Er lieferte der Kammer nach dem Ende seines Kurses eine 17-seitige „Ausbildungsanalyse“.313 Classen, der die kaufmännische Abteilung besucht hatte, betonte gegenüber dem Geschäftsführer der IHK Essen, Rolf Speckmann, ihm sei das Problem „insbesondere nach unserem Gespräch bewußt geworden“.314 Dementsprechend erstaunt es nicht, dass seine Deutungen vornehmlich spiegelten, was er glaubte, das die Kammer von einem Umschüler erwarte – also eine Erwartungserwartung. Im Bfz werde die IHK „als der große ‚Buhmann‘ dargestellt, sozusagen hinter dem Mond zurück“.315 Die Kritik der Umzuschulenden werde mit „undemokratischen“ und „unfairen Mitteln“ abqualifiziert.316 In Classens Perspektive arbeitete das Bfz systematisch daran, das Scheitern von Umschülern bei Abschlussprüfungen auf den Prüfungsausschuss der Kammer abzuwälzen, um „Fehler im Ausbildungsbereich oder im Verwaltungsbereich“ zu kaschieren.317 Gleichzeitig trug die Erwartungserwartung eine Sollbruchstelle in sich: Um die Probleme der Umschulung dem Zentrum zuzuschreiben, aktualisierte Classen Vorstellungen von mangelnder Lern- und Anpassungsfähigkeit. So wies er darauf hin, dass die Umschüler und Umschülerinnen „über sehr unterschiedliche […] Berufserfahrungen“ verfügten, ihre „sozialen Hintergründe […] different“ s­ eien und ihre

311 Heinz Spitznas: Schreiben an Herbert Wölker, DIHT, 20. 4. 1971, in: ebd., S. 1. 312 Ebd., S. 2. 313 Günther Classen: Ausbildungsanalyse in der Anlage und Anfrage der CDU im Landtag NRW, WAZ-Artikel diesbezüglich. Schreiben an den Geschäftsführer der IHK Essen, Rolf Speckmann, in: Registratur der IHK Essen, 955 – 40, S. 2. 314 Ebd., S. 2. 315 Ebd., S. 1. 316 Ebd. 317 Ebd., S. 2.

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„Belastungsfähigkeit“ Grenzen aufwiese, ebenso wie das „Abstraktionsvermögen“ und das daraus resultierende „Lernverhalten“.318 Diese Defizite sah Classen aber nicht als ein Hindernis in der Umschulung an, sondern leitete daraus eine besondere Verantwortung des Zentrums und der Arbeitsämter ab. Dazu griff er auf eine Motivationssemantik zurück. Bereits die Beratung im Arbeitsamt führe dazu, „daß Teilnehmer gegen die Umschulung motiviert werden“,319 denn der Umschüler sei „‚von sich‘ und seinem Leistungsvermögen ‚überzeugt‘“.320 Motivation ergebe sich nur durch „Kooperation“ und „Teamgeist“. In Essen stünden aber „Kreideunterricht“ und „‚wissensdrill‘ [!]“ an erster Stelle.321 Die Situation in der Bildungseinrichtung sei damit dafür verantwortlich, wenn der Umschüler „sein Leistungsversagen mit seinem Leistungsvermögen“ identifiziere, „obzwar sein Leistungsversagen andere Ursachen hat, als er sie glaubt in seiner Person suchen zu müssen“.322 Nutzte Classen also die Vorstellung einer abweichenden Lern- und Anpassungsfähigkeit sowie ein Sprachregister der Psychologie und der Motivation, um seine Kritik am Bfz verständlich zu machen, konnte sich dieser Protest auch mit sozialmoralischen Versorgungsansprüchen vermengen. Zwei Jahre s­ päter, im Jahr 1976, protestierten und streikten die Essener Umschüler gegen die Auswirkungen der Novelle des Arbeitsförderungsgesetzes zum 1. Januar 1976, die Unterhaltsleistungen für Umschüler reduziert hatte.323 Bei einem Protestumzug durch die Essener Innenstadt trugen zwei Umschüler zwei Schilder, die zusammen die Phrase „Wir Versuchskaninchen wollen nicht unsere Schlachtung selbst bezahlen“ ergaben.324 Damit bedienten sie zwar die Wahrnehmung des Experimentalsystems, ihre Forderungen wie ein höherer Unterhalt, höhere Unterstützungsleistungen zur Unterkunft sowie eine bessere Zugänglichkeit von Umschulungsmaßnahmen bewegten sich aber in einer moralischen Ökonomie der Versorgung und des Ausgleichs.325

318 Günter Classen: Ausbildungsanalyse am Berufsförderungszentrum Essen e. V. Anhang an das Schreiben an die IHK Essen vom 25. 3. 1974, März 1974, in: Registratur der IHK Essen, 955 – 40, S. 2. 319 Ebd., S. 1. 320 Ebd., S. 2. 321 Ebd., S. 3 f. 322 Ebd., S. 9. 323 Umschülergruppe des Bfz Essen: Situation alleinstehender Umschüler im Bfz Essen. Schreiben an die WAZ, den WDR, die NRZ und den DGB Essen, November 1976, in: Registratur der IHK Essen, 955 – 40. 324 Vgl. die Abbildung zu dem Artikel: Einen Streik von einem Tag Dauer zogen die Umschüler des Berufsförderungszentrums am gestrigen Donnerstag auf, in: WAZ, 3. Dezember 1976, enthalten in: ebd. 325 Vgl. Präsidium des Parlaments der Umschüler des Bfz Essen: Einladung zur Podiumsdiskussion. Schreiben an die Geschäftsleitung des Bfz, das Arbeitsamt Essen, die IHK Essen, die Stadt Essen,

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Ein Rekurrieren auf die Fähigkeit oder den Willen zur Anpassung war also strategisch möglich und situationsabhängig. Dementsprechend handelten auch die Leitung des Bfz und ihr Ausbildungspersonal. Nachdem der Plan des Bundesarbeitsministeriums, neben Bfz und GVB noch ein Anpassungszentrum zu gründen, gescheitert war, führte das Bfz Essen den von der BA geforderten Erprobungslehrgang durch. Unter Verweis auf internationale Experimente, wie die „discovery Method“ von Belbin,326 versprachen die Essener Umschulungsexpertinnen und -experten, die richtigen Lehren aus dem Scheitern der GVB gezogen zu haben: Durch „leichte[] Arbeiten“ habe die GVB versucht, die „Hand- und Fingergeschicklichkeit“ der Arbeiter zu verbessern, um so „das verbliebene Leistungsvermögen zu verbessern und vorhandene Leistungsreserven zu aktivieren“.327 Die „Überbetonung der Produktion gegenüber der Qualifizierung“ und die „fehlenden Maßnahmen zur sozialen Wiedereingliederung“ ­seien dafür verantwortlich, dass dieser „hoffnungsvolle[] Ansatz[]“ gescheitert sei.328 Wie versuchte also das Bfz die Deutungshoheit über die Anpassungsfähigkeit zu erlangen? Die Bildungsfähigkeit von 109 „älteren Arbeitnehmern“ ­zwischen 45 und 55 Jahren aus den Bezirken der Ruhrgebietsarbeitsämter sollte bis September 1975 in verschiedenen Lehrgängen im kaufmännischen und im Metallbereich bewiesen werden.329 Allerdings: 12 Prozent der Teilnehmer brachen wegen nicht bestandener medizinischer Eignungsuntersuchung den Lehrgang ab. Diesen Misserfolg führte das Bfz auf ihre schlechte Gesundheit, Alkoholprobleme und das geringe Interesse zurück.330 Damit nutzte auch das Bfz eine Sprache der Sozialpädagogik und der humanistischen Psychologie. Es gehe um die „persönlich-soziale Stabilisierung“ der „älteren Arbeitnehmer“;331 darum, Resignation zu verhindern und „Selbstvorurteile bezüglich der eigenen Lernfähigkeit“ abzubauen.332 Über eine umfangreiche soziale den DGB-Kreis Essen, SPD, CDU, FDP, 24. 11. 1976, in: ebd., S. 1. 326 Vgl. dazu die vom RKW ins Deutsche übersetzte OECD -Studie Raymond M. Belbin: Die Experimentier-Methode. Ein wirksames Verfahren für die Ausbildung älterer Arbeitnehmer (mit Praxisbeispiel), in: RKW (Hg.): Möglichkeiten und Probleme bei der Ausbildung und Umschulung älterer Arbeitnehmer (RKW-Schriftenreihe „Ältere Arbeitnehmer“ 4), Frankfurt a. M. 1972, S. 23 – 69. 327 Bfz Essen: Qualifizierung älterer Arbeitnehmer in der spanenden Metallverarbeitung und in kaufmännischen Funktionen. Erfahrungsbericht über Modellehrgänge im Berufsförderungszentrum Essen e. V., o. J. [1975], in: Registratur der IHK Essen, 955 – 40/2, Bd. 1, S. 3. 328 Ebd. 329 Ebd., Bl. 3 und S. 3. 330 Ebd., Bl. 3. 331 Ebd., S. 4. 332 Ebd., S. 5.

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Betreuung würde die Maßnahme der „Hilfe zur Selbsthilfe als emanzipatorisches Ziel“ dienen.333 Damit fanden sich in den Schriften des Bfz gegenüber den 1960er Jahren neue Töne in der Thematisierung des Willens und der Fähigkeit zur Umstellung: Einem vermeintlich menschenfremden und starren System der Umschulung und Eingliederung „älterer Arbeitnehmer“ der 1960er Jahre setzte das Zentrum in der Selbstreflexion „einen Übergang von der bisherigen tayloristischen zu einer mehr ganzheitlichen Didaktik“ entgegen.334 Damit kehrte eine moralisch-holistische Deutung des Alter(n)s – nun nicht mehr unter antikommunistischen und kulturkritischen Auspizien – zurück in die Auseinandersetzung um den Willen zur Umstellung.335 Der häufig beschworene Umschwung einer Gouvernementalität von mehr Fremd- zu mehr Selbststeuerung erweist sich damit bereits zeitgenössisch als Legitimationsmuster, das paradoxe Folgen zeitigte.336 Während des Lehrgangs, so der Bericht, habe sich nämlich gezeigt, dass „leistungsschwache und lernungewohnte Personen einen höheren Zeitaufwand benötigen, um einen bestimmten Kenntnis- und Fertigkeitsstand zu erreichen“.337 Insgesamt, so das Fazit des Modellzentrums, habe der Lehrgang bewiesen, dass bei hinreichendem Zeitaufwand „auch Arbeitnehmer im vorgeschrittenen Alter selbst bei ungünstigen persönlichen und sozialen Ausgangssituationen mit geeigneten Lern- und Arbeitsmethoden beruflich qualifiziert werden können“.338 Dieses Versprechen, ältere Erwachsene irgendwie qualifizieren zu können, stieß auf wenig Gegenliebe. Die IHK Essen deutete die Ergebnisse als Beleg dafür, dass „ältere Arbeiternehmer“ nur „sehr schwer auszubilden“ s­eien.339 Es falle ihnen offenkundig „besonders schwer […], gänzlich Neues zu erlernen“, weswegen von einer vollständigen Umschulung abzuraten sei und die „älteren Arbeitnehmer“ in „artverwandten Berufen auszubilden“ ­seien.340 Der Eindruck der Opposition eines „bildungsoptimistischen“ Bfz und einer „bildungspessimistischen“ Kammer trügt allerdings. Bereits gegen Ende des Jahres 1974 hatte sich der Geschäftsführer der IHK Essen an Josef Stingl gewandt, um dessen Bitte, die Effektivität des 333 Ebd. Zu den Paradoxien der „Hilfe zur Selbsthilfe“ als Reimport aus der Entwicklungspolitik vgl. Hubertus Büschel: Hilfe zur Selbsthilfe. Deutsche Entwicklungsarbeit in Afrika 1960 – 1975, Frankfurt a. M. 2014. 334 Bfz Essen: Geschichte, S. 17. 335 Zur moralischen Aufladung des Alters in den 1950er Jahren vgl. Chappel: Volk, S. 802 – 815. 336 Klassisch etwa Deleuze: Postskriptum; ähnlich Fabian Kessel: Der Gebrauch der eigenen Kräfte. Eine Gouvernementalität sozialer Arbeit, Weinheim u. a. ²2020. 337 Bfz Essen: Qualifizierung, S. 11. 338 Ebd., S. 4. 339 IHK Essen: Bfz-Berichte, Heft 1: ‚Qualifizierungslehrgänge für ältere Arbeitnehmer‘. Interne Stellungnahme zu dem Bericht, 11. 2. 1976, in: Registratur der IHK Essen, 955 – 40/2, Bd. 1. 340 Ebd., S. 1.

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Bfz zu evaluieren, nachzukommen.341 Das Bfz hatte 1972 eine Erfolgsquote von 87,7 Prozent aufgewiesen. Es lag damit weit hinter der betrieblichen Umschulung, die eine Quote von 99,2 Prozent erreicht hatte.342 Durch diese Zahlen unter Rechtfertigungsdruck gesetzt, begründete das Bfz den Misserfolg mit der Abbrecherquote, die sich aus Gründen ergebe, die jeweils in der Person selbst lägen. 17 von 69 Abbrechern hätten beispielsweise die Umschulung wegen ihrer „fehlende[n] Lernfähigkeit“, zehn wiederum wegen ihrer „mangelnde[n] Lernbereitschaft“ vorzeitig beendet.343 Dieses Vorgehen des Bfz belegt weniger seine Doppelzüngigkeit, sondern vielmehr, dass Bildbarkeitsversprechen keineswegs die Feststellung von Lernunfähigkeit ausschlossen. Es galt, die Bildbarkeit des Erwachsenen zu belegen – dieser Anspruch vertrug sich aber vorzüglich damit, die Unbildbarkeit anderer Erwachsener vorauszusetzen und festzustellen. Dem entsprach, dass die Bundesanstalt ihre Politik änderte. Seit 1969 war aus Gründen der Arbeitsauslastung der Psychologischen Dienste auf Eignungsuntersuchungen bei Umschulungen, „die höhere Anforderungen stellen“, verzichtet worden.344 Ab 1973 erarbeitete die Zentralstelle in Nürnberg im Anschluss an den „Allgemeinen Berufsund Lernfähigkeits-Test“ eine „Erwachsenen-Test-Serie“. Diese nahm sich als „Test ohne Normen“ des Problems an, Normabweichungen zu ermitteln, wenn eine repräsentative Stichprobenerhebung unter der erwachsenen Erwerbs­ bevölkerung nicht in Frage kam.345 Natürlich haben Eignungstests und ähnliche Unter­suchungsverfahren nicht nur eine im wörtlichen Sinne diskriminierende, standardisierende und disziplinierende, sondern auch eine individualisierende Funktion.346 Offenkundig herrschte aber ein im Vergleich zu den 1960er Jahren erneut erhöhter Klärungsbedarf über die Eignung von Erwachsenen zu beruflichen Bildungsmaßnahmen.

341 Heinz Spitznas: Schreiben an Josef Stingl, 9. 10. 1974, in: Registratur der IHK Essen, 955 – 40, S. 1. 342 Ebd., S. 2. 343 Bfz Essen: Dokumentation über den Bericht der IHK Essen an Herrn Präsident Josef Stingl, Vorsitzender des Vereins Berufsförderungszentrum Essen, 25. 10. 1974, in: Registratur der IHK Essen, 955 – 40, S. 2. 3 44 Otto Schlate: Berufliche Bildungsmaßnahmen. Hier: Einschaltung des psychologischen D ­ ienstes. Rundverfügung 591/1969, 28. 11. 1969, in: LAV NRW-R, BR 1134/693, S. 1. 345 Risto Griesang/Edeltraud Hoffmann: ETS. Erwachsenen-Test-Serie. Projektbeschreibung. Information Nr. 16, 14. 12. 1973, o. O. [Nürnberg] 1973, S. 1 f. Das Bfz begrüßte die Bemühungen der BA . Vgl. Alfons Gummersbach: Die berufliche Umschulung. Berufsausbildung Erwachsener (Ausbildung und Fortbildung 5), Berlin 1976, S. 42. 346 Vgl. Patzel-Mattern: Effizienz, S. 27 f.

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Eine vergleichbare Strategie, die z­ wischen Bildbarkeitsverheißung und Unbildbarkeitsannahme oszillierte, verfolgte das Personal des Bfz in seinen Publikationen. Alfons Gummersbach etwa, der pädagogische Leiter des Zentrums, beklagte in seiner Einführung in die Umschulungspädagogik die „erheblichen Vorurteile“, denen die Erwachsenen in der Ausbildung ausgesetzt ­seien.347 Der Ausspruch „‚Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr!‘“ sei bis heute ein unter Arbeitnehmern verbreitetes Vorurteil.348 Die daraus resultierende „Bildungsabstinenz“ unterer Schichten, die sozialen Aufstieg „nur durch die Qualifizierung des einzigen Kapitals, das sie besitzen“ – ihrer Arbeitskraft –, erreichen könnten, sei aber keinesfalls irreversibel.349 Jüngere lernpsychologische Forschungen hatten, nach Gummersbach, herausgearbeitet, „daß Erwachsene durchaus lernfähig sind“. Sie ­seien zunächst „Opfer gesellschaftlicher Vorurteile“; darüber hinaus hänge „Lernfähigkeit“ nicht nur vom Alter, sondern auch von der „Lernerfahrung“ oder der „Sprache“ ab.350 Unter Verweis auf andere Studien insistiere Gummersbach, „‚Neigung und Eignung‘“ s­eien „‚wie die Begabung weniger als naturwüchsige und angeborene Anlage‘“ zu verstehen, sondern als „‚gesellschaftlich vermittelte und von der Umwelt angetragene und abgeforderte Potentiale‘“.351 Bereits einige Jahre früher hatte Gummersbach davon gesprochen, „Lernfähigkeit und Lernleistung“ ­seien „Funktionen der Umwelt“, die „weniger von der Güte genetisch bestimmter Anlagen“ abhingen als von der „Art und Qualität des früher gelernten“, von der „geistige[n] Beweglichkeit“.352 Es gelte also „als erwiesen“, so die Schlussfolgerung, „daß das Spektrum der menschlichen Leistungsfähigkeiten und -möglichkeiten nicht eng begrenzt ist“.353 Solche und ähnliche Rückgriffe auf den Höhenkammdiskurs der Anlage-Umwelt-Debatte kamen allerdings ohne Referenz auf populäre Autoren wie Arthur Jensen aus.354

3 47 Gummersbach: Umschulung, S. 17. Hervorhebung im Original. 348 Ebd. 349 Ebd., S. 18. 350 Ebd. 351 Ebd. Er zitierte dabei Helmut Nölker: Berufsausbildung und Beschäftigungssystem, Qualifikationsstruktur und Erwerbschancen, in: Gewerkschaftliche Bildungspolitik 25 (1975), 4, S. 90 – 102, hier S. 91. 352 Alfons Gummersbach: Gedanken zur Organisation der berufsbezogenen Erwachsenenbildung, in: Die berufsbildende Schule 23 (1971), S. 506 – 513, hier S. 510. 353 Ders.: Umschulung, S. 18. 354 So der Fokus bei Michael Lenz: Anlage – Umwelt – Diskurs. Systematik und erziehungswissenschaftliche Relevanz, Bad Heilbrunn 2012, S. 216 – 246. Jensen hatte 1969 argumentiert, der Förderung schulischer Chancengleichheit ­seien biologische Grenzen gesetzt. Vgl. Arthur R. Jensen: How Much Can We Boost IQ and Scholastic Achievement?, in: Harvard Educational Review 39 (1969), 1, S. 1 – 123.

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Außerdem, und d ­ ieses Argument wiegt schwerer, formulierten die Mitarbeiter des Bfz keine einheitliche ­Theorie und folgten keiner kohärenten Position, die sich einem „Umwelt“-Pol zuordnen ließe. Der Wille zur Umstellung, seine Ermittlung und Steuerung, stellte zwar immer den Fluchtpunkt der Reflexionen dar – der Weg dahin blieb aber verschlungen und konnte unter Verweis auf die kybernetische Pädagogik einen Bezug auf den Modus von Anlage und Umwelt auch vermeiden.355 Darüber hinaus erwies sich der Anlage-Umwelt-Diskurs auch als eine flexibel einsetzbare Ressource. In einer „Bestandsaufnahme“ zur beruflichen Erwachsenenbildung, die das Bfz im Auftrag des Bundesinstituts für Berufsbildungsforschung durchführte, zeigte sich diese Mehrdeutigkeit deutlich.356 Mit Aufnahme des Betriebs im Jahr 1971 hatte das Bfz die einzelnen Kurse durch eine Befragung der Umschülerinnen und Umschüler begleitet. Ziel war es, das „‚Self Image‘“ von Umschülern zu untersuchen, wie Robert Blum, ein Psychologe des Bfz, zusammenfasste.357 Eine ­solche Erhebung verspreche Hinweise darauf, wann und unter ­welchen Bedingungen sich Erwachsene „eigeninitiativ“ beruflich anpassen und sich „von dem Warten auf Fremdinitiative“ emanzipieren würden.358 Damit gehe es – im Sinne der humanistischen Psychologie und in Rückgriff auf die Arbeiten Abraham Maslows 359 – um die Motivation zur Umschulung, die allgemein als gering einzuschätzen sei. Dieser Mangel ließe sich darauf zurückführen, dass – unter anderem wegen „biologistischer Auffassungen über das Erwachsenenalter“ – die Meinung verbreitet sei, „daß die Lernfähigkeit Erwachsener sehr stark mit steigendem Alter abnehme“.360 Wenig überraschend ergab die Auswertung der Befragung für eine Diplomarbeit, dass sich die „biologistische Auffassung, das Alter determiniere den Lernerfolg“, als „unhaltbar erwiesen“ habe. Die Annahme einer „monokausalen Abhängigkeit der Lernfähigkeit vom Alter“ ignoriere „die

355 So etwa bei Alfons Gummersbach: Lehrmethoden und Medien in der praktischen Erprobung der beruflichen Erwachsenenbildung, in: Zeitschrift für Berufsbildungsforschung 1 (1972), 2, S. 24 – 30. 356 Alfons Gummersbach u. a.: Einführung und Entwicklung neuer Lern- und Lehrmethoden im Bereich der beruflichen Fortbildung und Umschulung unter besonderer Berücksichtigung der Motivation von Teilnehmern. Vorstudie im Auftrag des Bundesinstituts für Berufsbildungsforschung, Berlin, Essen 1973. 357 Ebd., S. E2. 358 Ebd. 359 Ebd., S. A35. Zu arbeitsweltbezogenen Motivationsdiskursen vgl. Lukas Held: Waste or Motivation? The Productivity Discourse between Past and Future in the Second Half of the Twentieth Century, in: Peter-Paul Bänziger/Mischa Suter (Hg.): Histories of Productivity. Genealogical Perspectives on the Body and Modern Economy (Routledge Studies in Modern History 21), London 2016, S. 174 – 189. 360 Gummersbach u. a.: Einführung, S. E3.

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S­ ozialdeterminanten der Lernfähigkeit“.361 Blum und seine Mitautoren negierten damit einen Zusammenhang ­zwischen biologischem und psychischem Alter, indem sie auf die Denkfigur der Anlage-Umwelt Debatte zurückgriffen. Aber auch hier musste Versagen plausibilisiert werden. Wenn der Erwachsene dann doch einmal in der Umschulung scheitere, liege das nicht an einer biologischen „Lernfähigkeit“, sondern an Schichtdifferenzen, am „Bildungsniveau[]“.362 Während die „gebildetere Gruppe“ ein „Widerstandsverhalten gegen Stimmungseinflüsse bei geistiger Tätigkeit“ aufweise, legten die „Unterprivilegierte[n] (ältere Frauen, Ausländer, Angehörige der Unterschicht, Sozialgeschädigte, Neurotiker u. a.)“ eine höhere „Irritierbarkeit“ und „Umweltresonanz“ an den Tag.363 Für die Gruppe der „Neurotiker“ – hier sprach Blum von einer „angeborenen Disposition ‚Neurotizismus‘ im Sinne von Eysenck“ – gebe es aber noch Hoffnung, denn die Ergebnisse des Bfz deuteten an, dass „durch Bildungsmaßnahmen die Auswirkung dieser Disposition entscheidend vermindert werden kann“.364 Diese Zirkularität der Argumentation – „Lernfähigkeit“ sei nicht biologisch, sondern sozial, das Soziale aber biologisch – verdeutlicht zunächst die Uneinheitlichkeit und Widersprüchlichkeit der Auseinandersetzung um den Willen zur Umstellung. Gleichzeitig bedeutet diese Beobachtung aber nicht, die Zeitgenossen hätten (wissentlich oder unwissentlich) Fehler begangen.365 Es handelte sich bei der Zirkulation dieser Denkfiguren vielmehr um ein Symbol und einen Ausweis des Wissenschaftlichen, um einen kulturellen Code wissenschaftlicher Sprache, der in den lokalen und politischen Auseinandersetzungen um Bfz und GVB abwesend war. Damit stützte und perpetuierte diese Sprache aber die Vereindeutigungs­spirale von Bildbarkeitsversprechen einerseits und der Feststellung von Unbildbarkeit andererseits. Auch hier unterminierte der Erfolg des Bfz beziehungsweise des AFG und der Umschulung die Prämissen d ­ ieses vermeintlichen Siegeszugs. Anstatt die Differenzkategorie des Alters zu delegitimieren, aktualisierte die Umschulung die Unterscheidung in „anpassungsfähige“ und „anpassungsunfähige“ Erwachsene. In den 1970er Jahren verengten sich die finanziellen Spielräume für den Erwachsenenbildungssektor. Daraus resultierten zwei Entwicklungen: Zum einen verlagerte sich das finanzielle Risiko, etwa für Weiterbildung, von Staat und Gesellschaft auf

361 Ebd., S. E18 f. 362 Ebd., S. A65. 363 Ebd., S. A65 f. 364 Ebd., S. A65. Er bezog sich auf Hans Jürgen Eysenck: Die Experimentiergesellschaft. Soziale Innovationen durch angewandte Psychologie, Reinbek bei Hamburg 1973, S. 49 – 51. Dieser vertrat in der internationalen Psychologie ähnlichen Positionen wie Jensen. Vgl. ebd., S. 178 – 181. 365 So der (klassische) Vorwurf, etwa bei Stephen Jay Gould: Der falsch vermessene Mensch, Frankfurt a. M. ²1994.

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die bildungswilligen Individuen.366 Zum anderen verkehrte sich die Sprache der Anpassungsfähigkeit in ihr Gegenteil. Hatte sie die Expansion der Umschulung ermöglicht, diente sie nun dazu, Individuen davon auszuschließen. Anpassungsfähigkeit ­zwischen Labor und ­Theater

In einem engeren Sinne setzte sich diese Problematisierung aber nie durch, sondern existierte subkutan neben anderen Deutungen – wissenschaftlichen und nichtwissenschaftlichen. Die Diagnose der eingeschränkten Bildbarkeit ließ sich auch anhand anderer Beobachtungen und Methoden ebenso wie mit anderen Schlussfolgerungen als denjenigen, zu denen das Bfz kam, stellen. Seit seiner Gründung im Jahr 1968 beschäftigte sich auch das Soziologische Forschungs­ institut Göttingen mit der Umschulung. Das Projekt „Probleme der Umschulung von Arbeitskräften in Wirtschaftszweigen und Regionen mit besonderen Strukturproblemen“, das bis zu seinem endgültigen Abschluss im Jahr 1976 mehrfach den Fokus, die Datenbasis und den Gegenstand wechselte, illustriert exemplarisch, dass die wissenspolitische Dialektik der (Un-)Bildbarkeit des erwachsenen Arbeiters und in ­diesem Sinne das Scheitern der Umschulung kein Sonderfall, sondern in der Experimentallogik der Umschulung angelegt war. Die vom RKW beauftragte Studie entstand unter der Leitung Martin Baethges, der sich durch seine Dissertation Ausbildung und Herrschaft als industriesoziologischer Spezialist für das Verhältnis von Ökonomie und Qualifikation profiliert hatte.367 Auf Anregung des Bundeswirtschaftsministeriums war es dem RKW zunächst um die Antwort auf eine simple Frage gegangen: ­„[W]arum sind die Bergleute so immobil[?]“ 368 Da sich die Vorbereitung aber hinzog und das Problem der Bergleute gelöst schien, einigten sich die Beteiligten darauf, den ursprünglich für das Ruhrgebiet gedachten problematisierenden Blick auf „andere von Krisen bedrohte Wirtschaftszweige und Regionen“ zu richten.369 Die Studie widmete sich also dem Saarland und der Oberpfalz und damit nicht nur der Schwerindustrie, sondern auch der Landwirtschaft. Insgesamt erschienen in dem Projekt fünf P ­ ublikationen.

366 Vgl. Franziska Rehlinghaus: „Den Erfolg sicher machen“. Zur Eliminierung von Kontingenz als Weiterbildungsziel, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 71 (2020), S. 555 – 572. 367 Martin Baethge: Ausbildung und Herrschaft. Unternehmerinteressen in der Bildungspolitik, Frankfurt a. M. 1970. Vgl. zur Geschichte des SOFI Brückweh: Fallstudien. 368 Protokoll der Sitzung des Projekt-Beirats für A 64 (Umschulung) im RKW Frankfurt am 4. März 1969. Protokoll, o. D. [März 1969], in: SOFI-Göttingen, e-Labour, Probleme der Umschulung von Arbeitskräften in Wirtschaftszweigen und Regionen mit besonderen Strukturproblemen, durchgeführt von Martin Baethge am SOFI 1969 – 1972, US01_001_004, S. 1. 369 Ebd.

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Neben einer auf Expertengesprächen beruhenden Vorstudie 370 publizierte das SOFI die Studienergebnisse in drei Bänden grauer Literatur,371 die es 1976 wiederum in einer klassischen Monografie zusammenfasste.372 Auch wenn es ebenso um die Umschulungspolitik und die Expertenmeinungen zum AFG ging, stand das „Bewußtsein“ des Umschülers im Mittelpunkt der Bemühungen des SOFI. Das Problem sei, so erläuterte Otto Semmler in der entscheidenden Sitzung im RKW, „daß man nichts über die Einschätzung konkreter Umschulungsmaßnahmen […] von Seiten der betroffenen Arbeitnehmer wisse“.373 Diese Perspektive ermögliche es dem RKW und dem SOFI, „politisch progressiv zu sein“.374 Aufgabe der Studie, so der Vertreter der BAVAV, sei es, „daß wir die potentiellen Umschüler besser kennenlernen müssen als bisher“, also das „Sockelwissen“ – worunter er die Studien des WEMA-Instituts und des Arbeitsamts Dortmund subsumierte – zu erweitern.375 Der SOFI -Gründer Hans Paul Bahrdt versuchte noch, den überzogenen Erkenntnisoptimismus zu dämpfen. Sein Hinweis, es ließe sich in einem Interview „nicht die volle Wirklichkeit“ herstellen, ging jedoch angesichts seines Versprechens, mehr über „die wirklichen Motive und Einstellungen“ herauszufinden als bei den „allgemeinen Mobilitätsstudien“, in der allgemeinen Euphorie unter.376 Im Gegensatz zu den Mobilitätsstudien der 1960er Jahre, die noch versucht hatten, Mobilitätsfähigkeit und -bereitschaft durch Korrelationen und Tabellen mechanisch-objektiv und quantitativ zu ermitteln, nutzten die Wissenschaftlerin­nen und Wissenschaftler um Baethge einen anderen Zugriff. Anders als die „unkritische“ empirische Meinungsforschung verwendeten die Göttinger Sozialwissenschaft­ lerinnen und -wissenschaftler die durch das Frankfurter Institut für Sozialforschung 370 RKW: Analyse der Probleme gegenwärtiger Umschulungs-Praxis. Eine Untersuchung des Soziologischen Forschungsinstitutes Göttingen (SOFI), Bd. 1: Probleme der Umschulung, o. O. [Frankfurt a. M.] 1971. Weitere Bände publizierte das RKW zu dieser Studie nicht. 371 Martin Baethge u. a.: Probleme der Umschulung von Arbeitskräften in Wirtschaftszweigen und Regionen mit besonderen Strukturproblemen, Bd. 1: Umschulungspolitik, Göttingen 1974; dies.: Probleme der Umschulung von Arbeitskräften in Wirtschaftszweigen und Regionen mit besonderen Strukturproblemen, Bd. 2: Die Ausbildungssituation in der Umschulung, Göttingen 1974; dies.: Probleme der Umschulung von Arbeitskräften in Wirtschaftszweigen und Regionen mit besonderen Strukturproblemen, Bd. 3: Die Umschüler: Ausgangssituationen, Motivationen und Erfahrungen, Göttingen 1974. 372 Martin Baethge u. a.: Sozialpolitik und Arbeiterinteresse. Eine empirische Untersuchung der Bedingungen und Grenzen staatlicher Arbeitsförderungspolitik und ihrer Verarbeitung durch die betroffenen Arbeitskräfte am Beispiel Umschulung, Frankfurt a. M. 1976. 373 Protokoll der Sitzung des Projekt-Beirats für A 64 (Umschulung), o. D. [März 1969], S. 2. 374 Ebd. 375 Ebd., S. 3. 376 Ebd., S. 4.

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(IfS) seit den 1950er Jahren eingesetzte Methode der Gruppendiskussion.377 Diese stammte aus den psychologischen Kleingruppenexperimenten Kurt Lewins in den USA der 1930er Jahre, mit denen dieser für sich beanspruchte, die „Dynamik kollektiver Prozesse“ beobachtbar zu machen.378 Die Gruppendiskussion zielte ideologiekritisch auf die sich jeweils konstituierende (öffentliche) Gruppenmeinung ab, die sich, so die Annahme, hinter den jeweils akzeptierten Meinungen befindet: Ein Motiv der Entschleierung „falschen Bewußtseins“ stand also im Mittelpunkt. Das IfS strebte etwa in Plänen der Untersuchung des Autoritarismus in der Bundes­wehr an, das Ressentiment, das Undemokratische, das sich unter der demokratischen Oberfläche verberge, offenzulegen.379 Es sei nicht um die irreführende Annahme einer „festen, fixierten Meinung der Individuen“ gegangen,380 sondern darum, Individuen durch einen „Diskussionsanreiz“ dazu zu bringen, die latente Gruppenmeinung zu offenbaren.381 Was dieser Ansatz für die Umschulung und die Untersuchung ihrer Subjekte in den 1970er Jahren bedeutete, machten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des SOFI unverhohlen deutlich. Die Untersuchung strebe an, die „vorfind­ liche Bewußtseinsverfassung“ zu beleuchten und die „bewußtseinsstrukturierenden Auswirkungen solcher Politik“ aufzudecken.382 Die Arbeitsförderungspolitik wirke über den Begriff der Mobilität, mit dessen Hilfe „neue Verhaltens- und Bewußtseinsstrukturen bei den Arbeitern“ hervorgerufen werden sollten. Diese Strukturen stünden „konträr zu den herkömmlichen Verhaltensmustern“ der „Arbeiter“.383 Zugespitzter noch: Die „Sozialpolitik in der gegenwärtigen kapitalistischen Gesellschaft“ setze „Verhaltens und Bewußtseinsstrukturen“ voraus, die als „genuin bürgerlich“ bezeichnet werden könnten.384 Für die Göttinger Forschenden war damit die Stoßrichtung des AFG eindeutig: Umschulung ziele auf den „Abbau kollektiver Erfahrungen und Identitätsbildungsmuster“ und begünstige „individualisierende[] Perzeptionsweisen von Arbeits- und Berufserfahrungen“. In diesen Mustern könne „berufliches Versagen“ nur noch als „Resultat individuellen Leistungsdefizits, 377 Vgl. allgemein Johannes Platz: Die Praxis der kritischen ­Theorie. Angewandte Sozialwissenschaft und Demokratie in der frühen Bundesrepublik 1950 – 1960, Diss., Trier 2012, http://ubt. opus.hbz-nrw.de/volltexte/2012/780/pdf/Die_Praxis_der_kritischen_Theorie.pdf, letzter Zugriff: 10. 2. 2021. 378 Sebastian Ziegaus: Die Abhängigkeit der Sozialwissenschaften von ihren Medien. Grundlagen einer kommunikativen Sozialforschung, Bielefeld 2009, S. 206. 379 Vgl. Platz: Praxis, S. 132 – 235. 380 Ebd., S. 123. 381 Ebd., S. 119. 382 Baethge u. a.: Probleme, Bd. 1, S. 19. 383 Ebd. 384 Ebd., S. 20.

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­ nzureichender Lebenstüchtigkeit und mangelnder Fähigkeit, sein eigenes Berufsu schicksal zu meistern“, verstanden werden.385 Kurz: Umschulung und Mobilität ­seien eine Ideologie zur Unterdrückung von Klassenbewusstsein. Die SOFI -Gruppe warf also einen entschleiernden Blick auf die Umschulung, die an ihren Entsolidarisierungseffekten gemessen werden sollte. Nicht mehr Werte, wie bei der WEMA -Studie, sondern das Bewusstsein stellte den Maßstab dar, in dem sich die Widersprüche der kapitalistischen Produktionsweise ungebrochen und trotz Umschulung ausdrücken würden. Damit sahen die Soziologinnen und Soziologen die Prämissen der Studie nach rund sechs Jahren Arbeit bestätigt. Das Urteil, „daß die Arbeiter ‚unten‘ sind in der Gesellschaft“, ändere das AFG nicht. Auch gelte die Umschulung nicht als Weg zu einer „grundlegenden Verbesserung der Situation der Arbeiter in dieser Gesellschaft“.386 Schlimmer noch: Umschulung verfestige als Ideologie das falsche Bewusstsein, „das Verbleiben im Status des Arbeiters“ sei „als ein persönlich verschuldetes Schicksal, als Nachweis für mangelnde Fähigkeiten und Initiativlosigkeit“ zu verstehen. Als einzige Reaktion blieben den Arbeitern daher „kollektive[] Minderwertigkeitsgefühle[]“.387 Insofern bestätigte das SOFI implizit die Annahmen des Bfz über eine mangelnde Bildungsfähigkeit des erwachsenen Arbeitnehmers, führte diese Vorstellung aber auf das AFG und die Ideologie der Mobilität zurück. In den Augen der Autorinnen und Autoren mussten die Schlussfolgerungen aus d ­ iesem Urteil auf eine Verbesserung der Umschulung hinauslaufen. Sie ließen aber auch gegenteilige Interpretationen zu: In der monografischen Publikation der Ergebnisse 1976 – also nach der Verabschiedung des Haushaltsstrukturgesetzes, das die Leistungen nach dem AFG reduziert hatte – wiesen die Autorinnen und Autoren darauf hin, die Studie könne nicht „zum Argument für einen Abbau jener sozialen Ansprüche gemacht werden, die das Arbeitsförderungsgesetz den Arbeitnehmern einräumt“.388 Mit diesen eindeutigen Ergebnissen lag der Studie eine umfassende Syntheseund Abstraktionsleistung zugrunde. Sowohl die Ergebnisse der Gruppendiskussionen als auch die Resultate leitfadengestützter Einzelinterviews mit Umschülern und Ausbildern zerlegten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler während des Forschungsprozesses in einzelne Satzfragmente, die sie in einem Karteikastensystem nach einzelnen Fragen und verschiedenen Aspekten ordneten und

3 85 Ebd., S. 21. 386 Baethge u. a.: Probleme, Bd. 3, S. 657. 387 Ebd. 388 Baethge u. a.: Sozialpolitik, S. 2.

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­gruppierten.389 Mit d ­ iesem „Inskriptionsgerät“ verfolgten die Bearbeiterinnen und Bearbeiter einen doppelten Zweck:390 Einerseits abstrahierte diese Verfremdung die Äußerungen von der Situation der jeweiligen Interviews, an denen mit ­Martin Baethge teilweise auch ein Verfasser teilgenommen hatte. Sie diente damit der Anonymisierung und der Objektivierung: Der individuelle, einen Namen tragende Umschüler mit einer persönlichen Geschichte erschien so als zerlegbare Summe von Meinungen zu einer durch Klasseninteressen geleiteten Sozialpolitik. Die Gruppendiskussion, die dazu diente, Komplexität zu erhalten, stellte eine idiografische Evidenz bereit. Durch die Objektivierungstechniken wurde diese dem Einzelfall enthoben und der nomothetischen Analyse zugänglich. Andererseits eliminierte d­ ieses Vorgehen jede Störvariable und verringerte die Möglichkeit, Antworten auszudeuten. Beispielsweise wurden die Ausbilder danach gefragt, wie sie „überhaupt die Lernfähigkeit und Lernwilligkeit der Umschüler“ beurteilen würden.391 Zu dieser Frage gruppierten sich die Antworten der Ausbilder, wie die folgende: „Lernfähigkeit ist nicht so groß. Die Leute sind abgekämpft und müde im Unterricht, auch Hausarbeit, zum anderen ist das intellektuelle Niveau z. T. auch recht niedrig für Psychologie. Aufgrund des Alters ist […] die Umstellungsfähigkeit geringer, und wenn man irgendwie eine Einstellungsänderung erreichen will, ist das besonders schwierig.“ 392 Die Vielzahl solcher Antworten skalierten die Autorinnen und Autoren dann tabellarisch von „beurteilt Lernfähigkeit und -willigkeit im großen und ganzen positiv“ bis zu „beurteilt Lernfähigkeit und -willigkeit negativ“.393 Diese Darstellung erleichterte eine Deutung, die das Ausbildungspersonal konsequent der Kritik an der Umschulung unterwarf und ihm eine mangelnde pädagogische Qualifikation vorhielt. Dass Ausbilder Lernprobleme des Erwachsenen sahen, sei an sich nicht problematisch. Ihnen fehlten aber „pädagogisches Problembewußtsein und Beurteilungskategorien“, sodass sie nicht in der Lage s­ eien, „die strukturellen Probleme der von ihnen betreuten Erwachsenenausbildung als ­solche zu erkennen und sich ihre eigene Situation als Ausbilder klarzumachen“.394 Diese Lesart 389 Siehe einen solchen Karteikasten in: SOFI-Göttingen, e-Labour, Probleme der Umschulung, Bd. 6. 390 In den Science and Technology Studies bezeichnet dieser Ausdruck „all jene Apparate beziehungsweise Konfigurationen von ihnen, die eine materielle Substanz in eine Zahl oder eine grafische Darstellung transformieren können“. Vgl. Bruno Latour/Steve Woolgar: Ein Anthropologe besucht das Labor [Auszug], in: Susanne Bauer u. a. (Hg.): Science and Technology Studies. Klassische Positionen und aktuelle Perspektiven, Berlin 2017, S. 198 – 268, hier S. 208 f. 391 Baethge u. a.: Probleme, Bd. 2, Anhang, S. 19, Item 17. 392 SOFI-Göttingen, e-Labour, Probleme der Umschulung, Bd. 6, Zettel 17) 042 F /84. 393 Baethge u. a.: Probleme, Bd. 2, Anhang, S. 19. 394 Ebd., S. 288.

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setzte voraus, idiosynkratische Äußerungen herauszufiltern. Die durch Komplexität generierende Methoden gewonnenen Daten überführten die Göttinger Umschulungsforscherinnen und -forscher so in eine Deutung, die jegliche Äußerung als Ausdruck einer Position in einem durch kapitalistische Verwertungslogiken vorstrukturierten Raum ideologiekritisch las. Verdankte diese Deutung ihre Vereindeutigungswirkung der (linken) Theorieeuphorie in den 1970er Jahren,395 veränderte sie die Perspektive auf Mobilität und Umschulung der 1960er Jahre nur unwesentlich. Die Annahme, es gebe eine „Lernfähigkeit“ des Erwachsenen, die diskutierbar, feststellbar und messbar sei, teilten auch die kritischen Sozialwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler aus Göttingen. Sie lasen sie nur nicht als Ausdruck individueller Dispositionen, sondern als Produkt gesellschaftlicher Widersprüche und ausbeuterischer Unterdrückung. Über diese Praktiken der Inskription nutzte das SOFI die untersuchten Umschulungsmaßnahmen im erkenntnistheoretischen Sinne als Labor sozialer Differenz, die damit auf die Widersprüche kapitalistischer Ökonomien reduzibel wurde. Gleichzeitig verbarg diese Lesart systematisch die andere Seite der Interview­ situation: die des Theaters. In den Interviews und Gruppendiskussionen inszenierten die Befragten Umschulung, indem sie die an sich gerichteten Erwartungen austarierten und Differenz diskutierten. Im Gegensatz zu der Komplexität reduzierenden Lesart des SOFI schufen die Interviewten so einen Überschuss der Differenz, über dessen Analyse deutlich wird, wie Umschüler (auch das SOFI interviewte Frauen lediglich als Sondergruppe) sich wissenspolitische Kategorien aneigneten und sie unterliefen. Im Jahr 1972 führte Martin Baethge zwei Gruppendiskussionen am Bfz Essen durch, eine in Begleitung eines Mitarbeiters.396 Neben Gesprächen am Berufsförderungswerk Heidelberg, unter anderem mit Werner Boll,397 und Experten­ gesprächen mit dem Leitungspersonal des Bfz stellten diese Interviews die einzigen Datenerhebungen außerhalb des Saarlands und der Oberpfalz dar.398 In den 395 Vgl. nur Philipp Felsch: Der lange Sommer der ­Theorie. Geschichte einer Revolte 1960 – 1990, München 2015 sowie das Themenheft „Zauber der ­Theorie. Ideengeschichte der Neuen Linken in Westdeutschland“ von Arbeit – Bewegung – Geschichte 17 (2018), 2, hg. v. David B ­ ebnowski. 396 Martin Baethge: Gruppendiskussion Essen I. Mitschrift einer Gruppendiskussion am Berufsförderungszentrum Essen, o. D. [ca. 1972], in: SOFI-Göttingen, e-Labour, Probleme der Umschulung, US01_011_002; Martin Baethge/Vogel: Gruppendiskussion I, Essen. Gesprächsleitung: Baethge/Vogel/Berufsförderungszentrum. Protokoll der Gruppendiskussion, 9. 3. 1972, in: ebd. 397 Vgl. ebd., US01_011_003. 398 Neben den beiden Gruppendiskussionen am Bfz sind nur noch vier weitere am BFW Heidelberg und ein kurzes Protokoll einer Gruppendiskussion in der Oberpfalz überliefert. Beide weisen jeweilige Themenschwerpunkte (Rehabilitation und Landwirtschaft) auf und stehen daher nicht im Mittelpunkt.

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Diskussionen arbeitete Baethge mit Suggestivfragen. Diese sollten Widerspruch ­hervorrufen und stellten implizit eine Suche nach dem „wahren“ Klassenbewusstsein dar. In beiden Impulsfragen ging es um „ein[en] Arbeiter, der bereits seinen Beruf gewechselt hatte“ und dem SOFI versichert habe, es sei „sehr schwer, einen neuen Beruf zu erlernen“. „Der“ Arbeiter verliere also, so die auf Widerspruch abzielende Behauptung, „seine Autorität und sein Selbstbewußtsein“ durch Umschulung und Weiterbildung. Darüber hinaus sei „der Arbeiter“ früher „stolz darauf“ gewesen, „Arbeiter zu sein“. Heute hingegen wolle „keiner mehr gern Arbeiter werden“.399 Zu beiden Aussagen verlangte Baethge eine Diskussion, die er hin und wieder durch Einschübe und Wiederholung der Impulsfragen strukturierte. Die Äußerungen der Umschüler, die im Folgenden in Originalschreibweise und ohne redaktionelle Hinweise wiedergegeben werden, oszillierten z­ wischen einer – vom SOFI erwarteten – Aneignung der „Bildungsunfähigkeit“ einerseits und einer Inszenierung von Klassenbewusstsein andererseits. Die Aneignung der „Bildungsunfähigkeit“ geschah aber keineswegs – wie das SOFI in der Darstellung der Ergebnisse nahelegte – als Unterwerfung unter die vereinzelnden Logiken einer Sozialpolitik im Klasseninteresse. Sie diente – paradoxerweise – als Beweis der Beherrschung einer bildungspolitischen Sprache und von Wissensbeständen sowie als Ausweis der eigenen Bildbarkeit: Die Umschüler wurden zu Experten ihrer selbst. Auf die Frage, ob ein erwachsener Arbeiter noch in der Lage sei zu lernen, entgegnete ein Umschüler etwa mit dem Verweis auf die Normalverteilung von Begabung. „Bei uns in der Gruppe“, so der kurz vor der Abschlussprüfung stehende Umschüler, sei es „wie in jeder Schule“.400 Es gebe „gute“, „mittlere“ und „schlechte“ Umschüler, was „genau der Schnitt von Bundesgebiet“ entspreche. Die Gruppe tendiere nun, nachdem drei Abbrüche zu verzeichnen gewesen s­ eien, „zu einem Schnitt von 2,5 notenmäßig“, ein „guter Schnitt[,] der normal ist im Bundesgebiet. Es sind gute und es sind schlechtere dabei“.401 Ein anderer Beiträger verband seine Antwort mit einem Plädoyer für verbesserte Leistungstests. Derzeit sei der Test für den Zugang zur Umschulung und zur Umschulungsberufswahl „für ­manche zu leicht“ und müsse „etwas schräfer sein“.402 Derzeit befänden sich 399 Vorgaben für die Gruppendiskussion mit Umschüler [!]. Aufstellung von Impulsfragen für Gruppendiskussionen, o. D. [ca. 1972], in: ebd., US01_011_002. 400 Gruppendiskussion Essen I. Mitschrift einer Gruppendiskussion am Berufsförderungszentrum Essen, o. D. [ca. 1972], in: ebd., S. 13. Da die Protokolle, wie ihre Ausfertigungen vermuten lassen, auf oberflächlich transkribierten Tonbandaufnahmen beruhen, sind die Namen der Beiträger nur gelegentlich aufgenommen und Beiträge meist ohne Sprecherzuordnung verzeichnet. Auch diese Protokolltechnik reiht sich in die oben aufgeführten Inskriptionsgeräte ein. 401 Ebd. 402 Gruppendiskussion Essen I, o. D. [ca. 1972], S. 15.

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Arbeiter in Umschulung, „die praktisch überhaupt nicht in der Lage sind, das ganze Stoffgebiet aufzunehmen“.403 In der anderen Diskussion monierte ein Arbeiter, die „Berufsbilder bei dem Arbeitsamt“ ­seien „sehr veraltet und nicht mitgelaufen“.404 Daraufhin wandte sich ein anderer Arbeiter ebenfalls gegen die Eignungstests der Arbeitsämter, ebenso, um deren Ausbau und Perfektion zu fordern. Er wies darauf hin, dass bei ihm „2 verschiedene Veranlagungen“ festgestellt worden ­seien, „eine kaufmännische und zum andern eine praktische“. Weil aber „halt eben Werkzeugmacher gebraucht werden“, habe er sich für diese Umschulung entscheiden müssen.405 In diesen Beispielen bemühten die Umschüler durchweg Interpretamente des öffentlichen Sprechens über Umschulung, Strukturwandel, Begabung und Beruf, die sie zum Ausweis der Expertise ihrer eigenen Situation fragmentarisch wiedergaben. Paradoxerweise stellte also die Sprache der Mobilisierung und „Bildungsunfähigkeit“ so auch die Möglichkeiten bereit, sich selbst die Fähigkeit des Sprechens anzueignen. Ähnliches galt für den Wandel der Arbeit und das Verhältnis von Arbeit und Qualifikation. Auf die Frage nach dem Arbeiterstolz erwiesen sich die Trennung von Hand- und Kopfarbeit und der Sieg der Kopfarbeit als dominantes Narrativ, vermengt mit Interpretamenten aus den Automationsdiskursen der 1950er und 1960er Jahre: Heute sitzt du vor sonem Scheißpult, hast 8x verschiedene Schalter und 50 Lampen, und wenn das da anfängt, dann dreht sich das so. Nimm einen Lokführer, früher hat der hier seine Bremse, seine Dampfwalz gehabt, prima, jetzt sind die umgeschult worden auf elektrisch, nach einem Vierteljahr, sind die ganzen, die über 40 waren vom Wagen gegangen und haben gesagt, gebt uns lieber eine DAmpflok, oder gebt uns einen Roller, aber nicht auf die Elektrische.406

Es handele sich um den „Zeitabschnitt der Automation“, wie ein anderer U ­ mschüler den Berichterstatter aufklärte.407 In dieser Epoche, fügte ein weiterer Umschüler hinzu, werde „der Arbeiter […] ja abqualifiziert“. In „unserer Wohlstandsgesellschaft“ stellten sich die meisten unter einem Arbeiter „doch einen vor, der im Schweiße seines Angesichts die Brötchen verdient, Schaufel und Hacke, regelrecht mit Händen arbeitet, dreckverschmiert rauskommt, das ist der Arbeiter“.408 Dabei 403 Ebd. 404 Gruppendiskussion Essen I, 9. 3. 1972, S. 3. 405 Ebd. 406 Ebd., S. 47. 407 Ebd. 408 Ebd., S. 49.

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­seien doch auch „Techniker“ und „jeder, der einen Beruf hat […] ein Arbeiter“. Wenn aber alle arbeitenden Menschen Arbeiter s­ eien, so führte er weiter aus, sei es doch nur eine „Privilegierung“, dass manche Arbeitende als „Beamte[] und Angestellte[] bezeichnet werden“.409 In seiner Lesart ging der Befragte aber noch weiter und vermengte die Fragmente der Automation mit dem Heroischen: „und das ist der sogenannte Klassenkampf, der sich bei uns jetzt noch im kleinen weiter austrägt, aber nicht mehr so kraß bzw. so wie es vor Jahren war, also vor dem Krieg noch, da sind sie auf die Barrikaden die Arbeiter, hier organisiert und das waren die stolzen Arbeiter, die waren stolz, daß sie Arbeiter waren, das war eine Gemeinsamkeit bei denen.“ 410 Diese Verlusterzählung des Kampfes der Weimarer Republik in einer Zeit der Automation und der „weißen Kittel“ 411 entsprach Erwartungen, die die Göttinger Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler an ihre Untersuchungsobjekte anlegten. Die Erzählung von Hand- und Kopfarbeit verband sich im Folgenden mit einer anthropologisierenden Gesellschaftsvorstellung, in der die individuelle Begabung an die Stelle des Klassengegensatzes trat, wie ein Umschüler als Antwort auf die Frage nach gesellschaftlicher Durchlässigkeit ausführte: […] aber die sich aus der ARbeiterschaft herausarbeiten können, daß sind nur vereinzelte, man muß immer davon ausgehen, also ich gehe davon aus, daß es Leute gibt, die sind praktisch, die haben das praktische mitbekommen, die anderen haben das theoretische mitbekommen. Und einer der sich hocharbeiten kann, der muß das theoretische mitbekommen haben. Und hocharbeiten kann er sich nur durch Wissen und das kann man ja nur durch lesen, Schule besuchen usw. Einer, der die theoretische Begabung nicht hat, der kann das nicht, der kann das Buch 10x durchlesen, und hat das imme noch nicht mitgekriegt.412

Darüber hinaus aber wollten sich die Beobachtenden nicht ganz in das Narrativ der Vereinzelung und der Entsolidarisierung durch eine Klassenpolitik der Umschulung und Weiterbildung einfügen. Sie griffen auf eine von Motiven und Topoi der Arbeiterbewegung gespickte Sprache in ihrer ganzen Breite zurück. Denn gleich nach den anthropologisierenden Gesellschaftsvorstellungen, die den Hypothesen des SOFI entsprachen und als „falsches Bewusstsein“ par excellence verstanden werden konnten, wandte ein anderer Umschüler ein:

409 Ebd., S. 50. 410 Ebd. 411 So der Einwurf eines anderen Diskutanten, ebd. 412 Ebd., S. 55.

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Ja, da kommen wir wieder auf das Schulsystem, die Gesellschaft muß natürlich sich so wandeln, daß eben jeder wirklich die gleichen Voraussetzungen von Grund auf hat und das war bisher nicht so. Es wandelt sich allmählich durch die Schulreform und das geht jetzt immer wieter und so wird sich die Gesellschaft halt ein bischen wandeln und dann steht das Problem vielleicht gar nicht mehr so groß da, daß es heißt, ja, ich bin Arbeiter, ich schäme mich oder, dann tut halt jeder seine Pflicht. Wahrschienlich kommen wir dann mehr in den Bereich des Sozialismus.413

Peu à peu entwickelte sich über das Schlagwort des Sozialismus die Gruppen­ diskussion in ein Gespräch über die Systemfrage: Ein anderer Umschüler hieß zwar die Idee des Sozialismus gut, wandte aber ein, dass es „für uns noch lange dauern“ werde, „weil es bei uns eine Kapitalgesellschaft ist“.414 Als das Gespräch zur Studienfinanzierung in den USA und in der Bundesrepublik mäanderte, widersetzte sich die Situation jeder Kategorisierung eines wie auch immer gearteten Arbeiterbewusstseins: Ja, das stimmt und die [Studierenden in den USA] haben auch eine ganz andere Einstellung zum Kapitalismus, da ist nämlich der Student schon ein Kapitalist, in dem Moment, wo er nämlich sich sein eigenes Studium finanzieren muß, muß der ja unheimlich rechnen und dann wird er zum Rechner und dann wird er nämlich auch zum Kapitalist und somit auch zum Ausbeuter, das ist doch klar. Ausbeuter, Ausbeuter Jetzt reg dich doch nicht über das Wort auf über das Wort rege ich mich ja gar nicht auf, aber Ausbeuter, was versteht du unter Ausbeuter, wenn ich jetzt mit der ausgehe und du bezahlst mich, gut, ich beute dich aus. Nein, das würde ich nicht sagen. Gelächter 415

Das Lachen wirkt doppelt entlarvend: Zum einen entzog es der Diskussion den Ernst der Systemfrage, indem es die sich aufbauende Dichotomie brach. Zum anderen wies es über die Experimentalordnung der Gruppendiskussion hinaus auf das Artifizielle unter dem Schein der natürlich gewachsenen Debatte. In dieser 413 Ebd., S. 57. 414 Ebd. 415 Ebd., S. 62.

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Die Expansion der Erwachsenenausbildung

Hinsicht zeigten sich die Untersuchungsobjekte ihrer Situation nach den Maßstäben des SOFI zu bewusst. In der anderen Diskussion etwa flochten sich Spuren der Kapitalismuskritik ein: Wir leben heute schon in einer Strebergesellschaft, in einer Leistungsgesellschaft, die Gesellschaft würde noch mehr leisten wollen wofür würde sie mehr leisten. Sie würde ich totproduzieren, das ist meine Ansicht. Der Kapitalismus leitet heute sowieso schon an Überproduktion. Ohne jetzt zu sagen, daß ich jetzt für ein System wie die DDR war, bin ich auch nicht, sag ich ganz ehrlich.416

Die Umschüler unterliefen also die Erwartungen der Interviewenden dadurch, dass sie sich der erhofften Enttäuschung entzogen, indem sie die Erwartungen übererfüllten. Diese Beispiele belegen nicht, dass die Umschulung für eine Hausse des Klassen­ bewusstseins verantwortlich war, sondern lediglich, dass die Umschüler die Diskussionssituation durchschauten und in der Lage waren, mit den Regeln und Konventionen des Gesprächs zu spielen. Sie spielten ein ­Theater der Umschulung, das sich seiner Theatralik bewusst war. Diese Bricolage, die sich in der Studie des SOFI, aber auch in den Ergebnissen des Bfz offenbart, kann als Schluss der Sondierungen gelesen werden, die Mitte der 1960er Jahre eingesetzt hatten. Bis Mitte der 1970er Jahre brachte diese Suche nach dem Willen zur Umstellung des Erwachsenen eine Formation hervor, in der sich die Bildungsunfähigkeit des Erwachsenen in eine breite Spanne von Argumentationen einbauen ließ, die von einer biologistisch-erbhygienischen bis zu einer kritischen, mit marxistischen Interpretamenten durchwirkten Deutung reichten. Gemein war diesen Positionen, dass sie den Willen zur Umstellung als epistemisches Ding voraussetzten und zur Tatsache gerinnen ließen. Zusammenfassen lässt sich diese Entwicklung als eine dreifache Verschiebung: Zunächst und inhaltlich reagierte die Entdeckung der Bildungsfähigkeit des Erwachsenen auf die Diagnose der Berufserosion. Ausgehend von dieser Sackgasse basierte sie auf der Amalgamierung dreier Wissensbestände: zunächst der Rehabilitationswissenschaft, dann der verschiedenen Formen des Mobilitätswissens und zuletzt der christlichen Sozialfürsorge. Zugespitzt formuliert wurzelte die Wissenspolitik damit eher in der Rassenanthropologie als in der Humankapitaltheorie. Dann bedienten sich die Akteur:innen der Vereindeutigungspraktiken des Imports von Wissensbeständen, der quantifizierenden Erhebungstechniken sowie des Sozialexperiments, um Antworten auf die Frage nach dem Willen zur Umstellung zu erhalten.

416 Gruppendiskussion Essen I, o. D. [ca. 1972], S. 47.

Von der Wissenspolitik der Anpassung zur Wissenspolitik des Ausschlusses

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Der Traum einer Wissenspolitik der Anpassung, die den Willen zur Umstellung so fein wie möglich abstufen sollte, scheiterte allerding an ihrem Transfer in den Betrieb. Dieses Scheitern ermöglichte die Verschiebung zu einer Wissenspolitik des Ausschlusses, in der nur die Bejahung oder Verneinung von Bildungsfähigkeit als argumentative Ressource genutzt wurde. Zuletzt waren Umschüler nicht nur Objekt d­ ieses Wandels, sondern ebenso Subjekte der Aneignung von Wissenspolitik. Dabei konnten sie auf ein breites Repertoire an Handlungsweisen zurückgreifen, die von Widerständen gegen Unbildbarkeitsannahmen bis zu deren Vereinnahmung reichten. Es lässt sich ein Lernprozess beobachten, an dessen Ende Umschüler in der Lage waren, mit den aus wissenschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Traditionen gefällten Verdikten zu jonglieren. Ebenso wie die Wissenspolitik eine Technik der Herrschaft und der Macht war, öffnete sie für ihre Subjekte auch die Möglichkeit der Diskursbricolage. Hinter dieser Geschichte des Willens zur Umstellung „älterer Arbeitnehmer“ stehen zwei historiografische Argumente: Die Sprache der Anpassungsfähigkeit und Selbstoptimierung war erstens kein Ausdruck der Humankapitaltheorie und des Neoliberalismus, sondern ein Projekt des klassischen Wohlfahrtsstaats. Gleichzeitig verband das Ideologem der Mobilität die Thematisierung des Wandels der Arbeit mit rassenanthropologischen Vermessungen der Mobilitätsfähigkeit. D ­ arüber hinaus richteten sich Wirtschaftsvertreter in dieser Konstellation gegen die Sprache der Anpassungsfähigkeit, Eigenverantwortung und Optimierung, weil sie diese als Einmischung des Staates in Betrieb und Verbandsangelegenheiten sowie als Projekt der Gewerkschaften betrachteten. Zweitens greift auch eine Aufstiegserzählung der Selbstoptimierung und der Entgrenzung von Arbeit zu kurz. Von Beginn an zeichnete sich die Auseinandersetzung um den Willen zur Umstellung dadurch aus, dass sämtliche Akteur:innen zunächst herausfinden wollten, ­welche Subjekte überhaupt für eine ­solche Selbstoptimierung in Frage kämen, wo also die Grenzen der Optimierbarkeit lägen. In dem Maße, in dem der Wille zur Umstellung befördert werden sollte, brachte der umstellungswillige und -fähige Arbeiter sein bildungsunfähiges Spiegelbild hervor. Ein ähnlicher Prozess zeigte sich auch in der Berufsausbildung.

6 Von der Suche nach „wertvollen Menschen“ zur Institutionalisierung der Lernbehinderung, 1966/67 – 1980

6.1 Die Vermessung der Zukunftsfähigkeit: Lernbehinderung und Strukturwandel Strukturwandel und die Erfindung der „Minderbegabung“

Im Jahr 1970 wähnte sich die Krupp AG als Siegerin. Erhard Reusch und Hans Georg Bärsch, die in den 1960er Jahren die Stufenausbildung in Essen eingeführt hatten, wandten sich an die metallverarbeitenden Unternehmen des Konzerns. Nach Versuchen in der Lehrwerkstatt Essen, in Rheinhausen und in Bremen liege nun ein Plan entsprechend dem 1969 verabschiedeten Berufsbildungsgesetz vor. Damit sei die Stufenausbildung ausgereift und könne nun in sämtlichen Betrieben umgesetzt werden, der Gesamtbetriebsrat habe bereits zugestimmt. Die Einzelbetriebe sollten, wie in Essen, bei den jeweils zuständigen Kammern eine Zustimmung einholen.1 Gleichzeitig ersuchte die Krupp’sche Ausbildungsabteilung das Bundeswirtschaftsministerium, die Stufenausbildung als Ausbildungsversuch zuzulassen.2 Ein solcher Versuch zur „Entwicklung und Erprobung neuer Ausbildungsformen und Ausbildungsberufe“ erlaubte, den Ausschließlichkeitsgrundsatz, der Berufsausbildungen nur in anerkannten Berufen zuließ, auszusetzen.3 Der Vorstoß fand beim DIHT 4, der BA 5, beim Gesamtverband der Metallindustriellen Arbeitgeberverbände ­(Gesamtmetall)6,

1 Erhard Reusch/Hans Georg Bärsch: Krupp-Stufenausbildung für Metall- und Elektroberufe. Schreiben an die Geschäftsleitungen der metallverarbeitenden Konzernunternehmen, 16. 12. 1970, in: Historisches Archiv Krupp, WA 230/v 560, S. 1. 2 Dies.: Antrag auf Zulassung einer Ausbildungsordnung nach § 28, Absatz 3 Berufsbildungsgesetz (BBG). Schreiben an das BMWi, 17. 12. 1970, in: ebd. 3 Berufsbildungsgesetz vom 14.  August 1969, in: Bundesgesetzblatt Nr.  75, 16.  August 1969, S. 1112 – 1137, hier S. 1116. 4 Herbert Wölker: Antrag auf Zulassung einer Ausbildungsordnung nach § 28, Abs. 3 BerBiG beim Bundesminister für Wirtschaft. Schreiben des DIHT hat die Firma Fried. Krupp GmbH, 28. 12. 1970, in: Historisches Archiv Krupp WA 230/v 560. 5 Josef Stingl: Krupp-Stufenausbildung. Schreiben an die Fried. Krupp GmbH, 8. 1. 1971, in: ebd. 6 Gesamtverband der Metallindustriellen Arbeitgeberverbände. Geschäftsführung: Antrag der Fa. Friedrich Krupp GmbH auf Zulassung einer Ausbildungsordnung nach § 28, Absatz 3

Die Vermessung der Zukunftsfähigkeit: Lernbehinderung und Strukturwandel

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dem DGB 7 und der IGM 8 Zuspruch. Das BMWi hielt sich allerdings zurück, verwies die Angelegenheit in den Bundesausschuss für Berufsbildung und forderte die Prüfung durch das im Vorjahr gegründete Bundesinstitut für Berufsbildungsforschung.9 Dessen Präsident Hans-Joachim Rosenthal hatte sogar seine Ablehnung signalisiert und sich gegen den Wildwuchs betrieblicher Einzel- und Sonderregelungen ausgesprochen.10 Während Ernst Cech, der Geschäftsführer der Duisburger Kammer, ein Jahr s­ päter den Krupp’schen Ausbildungsverantwortlichen sarkastisch zu „[i]hrer Geduld“ gratulierte, „auf die Entscheidung des Ministers zu warten“,11 waren die Essener Ausbildungsfunktionäre keineswegs untätig. Sie suchten andere Wege, um der Stufenausbildung im Wettbewerb um die Ausbildung der Zukunft zu ihrem Triumph zu verhelfen. Um die Jahreswende 1970/71 trafen sich in der IHK Essen Hans-Georg Greve und Referenten des Kultusministeriums NRW, um zu sondieren, inwieweit die Stufenausbildung für das geplante Berufsgrundbildungsjahr als 10. Schuljahr im Anschluss an die Hauptschule in Frage komme.12 Diese Zulassung als Sonderausbildung auf Landesebene erfolgte problemlos drei Monate nach dem Treffen.13 Mit dieser Option hatte Greve nicht gerechnet, hoffte aber, eine durch das Land finanzierte Ausbildungsmaßnahme durchzuführen, die „dem Inhalt der ersten Stufe der Krupp-Stufenausbildung“ entspreche.14 Während sich die Diskussion

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­ erufsbildungsgesetz (BBG) beim Herrn Bundesminister für Wirtschaft. Schreiben an das BMWi, B 26. 1. 1971, in: ebd. Nach erneuter Antragstellung 1972 etwa Felix Kempf: Antrag auf Zulassung einer Ausbildungsordnung nach § 28 Abs. 3 BB iG beim Herrn Bundesminister für Wirtschaft und Finanzen v. 17. 12. 1970. Schreiben des DGB an die Fried. Krupp GmbH, 11. 1. 1972, in: ebd. Georg Benz: Schreiben an die Fried. Krupp GmbH, 2. 3. 1971, in: ebd. Schwedes: Antrag auf Zulassung einer Ausbildungsordnung nach § 28 Abs. 3 Berufsbildungsgesetz (BBiG) beim Herrn Bundesminister für Wirtschaft, 11. 5. 1971, in: ebd. Vgl. zum Institut Hermann Schmidt: 30 Jahre Bundesinstitut für Berufsbildung, in: Berufsbildung in Wissenschaft und Praxis 29 (2000), 3, S. 3 – 6. Die Umbenennung in Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB) erfolgte 1976. Hans-Joachim Rosenthal: Antrag auf Zulassung einer Ausbildungsordnung nach § 28 Absatz 3 Berufsbildungsgesetz (BBG) beim Herrn Bundesminister für Wirtschaft vom 15. 1. 1971. S­ chreiben an die Fried. Krupp GmbH, 9. 2. 1971, in: Historisches Archiv Krupp WA 230/v 560. Ernst Cech: Ihre Anträge auf Zulassung einer Ausbildungsordnung nach § 28 Abs. 3 BBiG an den Bundesminister für Wirtschaft und Finanzen. Schreiben an Hans Georg Bärsch, 3. 1. 1972, in: ebd. Hans-Georg Greve: Niederschrift über eine Besprechung zu Fragen der Stufenausbildung und des Berufsgrundbildungsjahres. Treffen in der IHK Essen am 29. 12. 1970, 10 – 13:30 Uhr, 5. 1. 1971, in: ebd. Seiler/Hünermann: Berufsgrundbildungsjahr. Schreiben an den Kultusminister des Landes NRW, 5. 3. 1971, in: ebd. Hans-Georg Greve: Berufsgrundbildungsjahr. Aktenvermerk für Hans Georg Bärsch, 29. 4. 1971, in: ebd., S. 1 f., Zit. S. 1.

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Institutionalisierung der Lernbehinderung

auf Bundesebene noch bis 1975 hinzog und dann am aufkeimenden Widerstand der IGM und anderer Gewerkschaften scheiterte, gelang die Durchsetzung auf Landesebene.15 Was hatte sich also verschoben? Entscheidend waren keineswegs der Bildungsföderalismus und unterschiedliche Zuständigkeiten. Auch das Interesse an der Stufenausbildung riss nicht ab. Im November 1972 wandte sich Lotte Herkommer vom Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft an Krupp. Begeistert bedankten sich Greve und Bärsch danach in einem Schreiben für ihr Interesse „an unseren Ausbildungsmaßnahmen für lern- und leistungsbehinderte Jugendliche“.16 Hier stellten die beiden Experten der Stufenausbildung ihre Bemühungen in ein ganz neues Licht. Seit einem Jahr wolle Krupp die Stufenausbildung für die Neuordnung der „elektrotechnischen, der feinschlosserischen und Werkzeugmaschinenberufe“ durchsetzen, da sich die geplanten Ausbildungen auf „Eliten“ beschränken würden. Die Stufenausbildung dagegen sei „maßgeschneidert“ für eine Auszubildendenpopulation, die sich „in der Spitze aus Hauptschulabgängern mittlerer Leistungen zusammensetzt“.17 Folglich stehe die Essener Hauptstelle einem Versuch mit „lern- und leistungsbehinderten Jugendlichen“ offen gegenüber.18 Dementsprechend änderten Greve und Bärsch ihre Kommunikation vollkommen. Es handelte sich bei der Stufenausbildung von dieser Warte aus nicht mehr um eine optimierte Abstimmung von Arbeit und Begabung. Die Stärke lag nun in einem Verfahren, das – jetzt unter dem Namen „Ruhrmodell“ – sich „insbesondere zur Förderung der Lernbehinderten“ eigne.19 Die Kompetenz Krupps wiesen die Essener Ausbilder dadurch aus, dass sie den publizierten Handbuchartikel von Bärsch zur Stufenausbildung beilegten und unterstrichen, er behandele die Frage der „lern- und leistungsbehinderten Jugendlichen“.20 Auf den empfohlenen Seiten beschrieb Bärsch die erste Stufe der Stufenausbildung, die zum Abschluss des Betriebswerkers führte – einem Abschluss, den er selbst als „Notausgang für Auszubildende“ bezeichnete, die „bei der Eignungsuntersuchung zu hoch eingeschätzt wurden“.21 Nichtsdestotrotz sprach er auch schon davon, dass diese Stufe „lern- und leistungsbehinderten Jugendlichen“ eine 15 Vgl. die Unterlagen der vom Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft (BMBW) berufenen Vermittlerin, einer Mitarbeiterin des BIBB, Giesela Axt: Verlauf der Bemühungen um das Krupp-Modell (nach dem Aktenstand des Referates III B 4 BMBW), 30. 4. 1975, in: ebd. 16 Hans-Georg Greve/Hans Georg Bärsch: Schreiben an Frau Regierungsrätin Dr. Lotte ­Herkommer, BMBW, 28. 11. 1972, in: Historisches Archiv Krupp, WA 230/v 560, S. 1. 17 Ebd. Hervorhebung im Original. 18 Ebd., S. 2. 19 Erhard Reusch/Hans Georg Bärsch: Schreiben an Regierungsdirektor Dr. Richter, BMBW. Einladung, 29. 3. 1973, in: ebd., S. 1. 20 Ebd. Gemeint war Bärsch: Ausbildung. 21 Bärsch: Ausbildung, S. 153.

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Ausbildung ermögliche. Gleichzeitig verwahrte er sich gegen die „Vorstellung des Hinuntermanipulierens von intelligenten Auszubildenden auf den Betrieblichen Bedarf“ und versprach, die Stufenausbildung wecke „bei den Besten“ der „Lernund Leistungsbehinderten“ einen „Weiterbildungswille[n]“.22 Doch auch diese Strategie scheiterte am BMWi, das nicht bereit war, für einen Modellversuch eine neue Ausbildungsordnung zu erlassen.23 Zwar setzte sich die Diskussion z­ wischen Bundeswissenschaftsministerium und Krupp noch etwas fort, doch auch Hans-Georg Greve kamen Zweifel am „Ruhr-/Montanmodell“. Er störte sich daran, dass die zur Besichtigung der Ausbildungsstätte anreisenden Beamten „vor allem die Unterrichts- und Unterweisungsmethoden bei Lernbehinderten in unserem Ausbildungssystem näher in Augenschein“ nehmen wollten.24 Die Krupp’sche Personalabteilung müsse sich entscheiden, „ob wir an einem Stufenausbildungsmodell mitarbeiten wollen, das sich vom Personenkreis her fast ausschließlich auf die Gruppe der Sonderschüler und Hauptschüler ohne Abschluß beschränkt“ 25 – ein Weg, der seiner ursprünglichen Ambition, ein Modell mit bundesweiter und internationaler Strahlkraft zu entwickeln, zuwiderlief. Ähnlich wie fast zeitgleich die Bemühungen des Bundesarbeitsministeriums um eine wechselseitige Anpassung von Alter, Begabung und Arbeitsfähigkeit an Grenzen stießen und keine Vereindeutigung mehr erreichten, erlebten auch die Ausbildungsverantwortlichen bei Krupp die Grenzen der Stufenausbildung. Der auf drei Bände und insgesamt rund 600 Seiten angewachsene Beobachtungsapparat, auf dem die Stufenausbildung zu Beginn der 1970er Jahre basierte, war nicht mehr vermittelbar. Kommunikative Erfolge konnte die Krupp’sche Ausbildungsabteilung nur noch erzielen, wenn sie sich zunutze machte, dass sich die Stufenausbildung auch für die Ausbildung „Lernbehinderter“ eigne. Mit dem Begriff der Lernbehinderung fand sich, ähnlich wie in der Erwachsenenausbildung, ein neuer Signifikant, der eine höhere – da einfachere – Evidenz versprach: Die exklusive Frage nach der Bildbarkeit „lernbehinderter“ Auszubildender ersetzte die Klarheit wissenschaftlich und objektiv vermessener und abgestufter Begabung in der Stufenausbildung. Eine Wissenspolitik des Ausschlusses trat an die Stelle der Wissenspolitik der Anpassung. Das Problem der Ausbildung von Jungarbeitern und Hilfsschülern, s­ päter Sonderschülern, oder Jugendlichen, die die Volksschule, s­ päter die Hauptschule, nicht 2 2 Ebd., S. 153 f. 23 Lotte Herkommer: Modellversuch zur Förderung von Lernbehinderten. Schreiben des BMBW an Dr. Bärsch, Fried. Krupp GmbH, 9. 4. 1973, in: Historisches Archiv Krupp, WA 230/v 560. 24 Hans-Georg Greve: Besuch der Herren Dr. Richter und Maslankowski vom Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft. Aktennotiz für Herrn Dr. Bärsch, 8. 5. 1973 in: ebd., S. 1. 25 Ebd.

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abgeschlossen hatten, reichte bis in die Zeit nach dem E ­ rsten Weltkrieg zurück.26 Bereits in den 1930er Jahren klagten Bergbau und Arbeitsverwaltung über die „Qualität des Nachwuchses“ und das Bevölkerungsproblem im Ruhrgebiet.27 Wie am Beispiel der Berufsschulen des Eschweiler Bergwerksvereins (EBV) im rheinischen Hückelhoven oben gezeigt, griff dieser Diskurs zwar auf Denkfiguren von Automation und Rationalisierung zurück, konnte aber auch in Begriffen des moralischen Holismus, die Ausbildung als Problem von Sitte und Moral konzipierten, verbleiben. Ähnliches galt für die Arbeitsverwaltung in der frühen Bundesrepublik, in der die Probleme der Jugendlichenvermittlung diskutiert wurden. So berichtete das Arbeitsamt Bochum 1953 nach Düsseldorf, dass die Vermittlung Jugendlicher „kein Problem“ sei.28 Diejenigen Jugendlichen, bei denen es nichtsdestotrotz Pro­ble­me gebe, ­seien entweder „geistig zurückgeblieben“, „körperlich schwach“ (Jungen) oder „geistig beschränkt“ und schwer vermittelbar durch „Gründe, die in der Person der Betreffenden liegen (Unehrlichkeit, Fürsorgeerziehung, schlechter Leumund)“, wobei sich Letzteres nur auf weibliche Arbeitssuchende bezog.29 Die Marschroute der Arbeitsämter hatte der damalige Präsident des LAA NRW auf einer Tagung im Dezember 1952 vorgegeben: Es gehe darum, den „Kreis der Jugendlichen bis zu 18 Jahren dahingehend aufzugliedern, ob die Gründe der Nichtvermittlung in der Person des Jugendlichen selbst liegen (kriminelle Vorbelastung durch Eltern usw.).“ 30 26 Zur Entwicklung der Hilfsschulen und des Hilfsschulkindes als zu normalisierende „Schwellenfigur“, die die Grenze z­ wischen dem Normalen und Anormalen des staatlichen Schulwesens im 19. Jahrhundert markierte vgl. Vera Moser: Die Konstruktion des Hilfsschulkindes – ein modernes Symbol zur Regulation des Sozialen?, in: Carola Groppe/Gerhard Kluchert/Eva Matthes (Hg.): Bildung und Differenz. Historische Analysen zu einem aktuellen Problem, Wiesbaden 2016, S. 255 – 276, Zit. S. 256; für das Rheinland vgl. Michael Jankowski: „Arbeitseinsatz und Berufsberatung werden somit zugleich zu einem rassischen Ausleseproblem.“ Aspekte öffentlicher Berufsberatung und Berufslenkung der Jugend in der Rheinprovinz, in: Erika Welkerling/Falk Wiesemann (Hg.): Unerwünschte Jugend im Nationalsozialismus. „Jugendpflege“ und Hilfsschule im Rheinland 1933 – 1945 (Düsseldorfer Schriften zur neueren Landesgeschichte und zur Geschichte Nordrhein-Westfalens 75), Essen 2005, S. 81 – 118. 27 Hans-Christoph Seidel: Der Ruhrbergbau im Zweiten Weltkrieg. Zechen, Bergarbeiter, Zwangsarbeiter (Veröffentlichungen des Instituts für soziale Bewegungen, Schriftenreihe C: Arbeitseinsatz und Zwangsarbeit im Bergbau 7), Essen 2010, S. 91. Vgl. als Beispiel etwa Alfred Wömperer: Die planmäßige Ausbildung des bergmännischen Nachwuchses im Steinkohlenbergbau, Diss., Clausthal 1933, der darüber klagte, dass der Bergbau sich „mit weniger geeignetem Material [Jugendliche] begnügen muss“ (S. 40). 28 Arbeitsamt Bochum: Jugendliche. Tagung der Leiter der Arbeitsgemeinschaften am 17. 12. 1952 in Düsseldorf. Schreiben des Direktors des Arbeitsamts Bochum an den Präsidenten des LAA NRW, 9. 1. 1953, in: LAV NRW-W, N 100, Nr. 2911, S. 2. 29 Ebd., S. 1. 30 Arbeitsamt Bochum: Jugendlichenvermittlung. Aktenvermerk des Arbeitsamts Bochum über eine Besprechung der Direktoren der Arbeitsgemeinschaft 5 am 19. 12. 1952, 3. 1. 1953, in: ebd., S. 1.

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Nur die „wirklich“ nicht mehr vermittelbaren Jugendlichen sollten in die Zuständigkeit der kommunalen Fürsorgeämter entlassen werden. Neben dieser von der Fürsorgeerziehung herrührenden Problematisierung bemühten sich die Akteur:innen des Ruhrgebiets in den 1960er Jahren, das ­Problem des Begabungsverfalls neu zu denken. Die Amalgamierung von Vorstellungen des Strukturwandels, der fortschreitenden Automatisierung und Rationalisierung einerseits mit Traditionen der Jugendfürsorge, die sich um Verwahrlosung, Begabungsverfall und Lernbehinderung sorgte, andererseits stellte eine sich im Ruhrgebiet der 1960er Jahre verbreitende Form der Problematisierung des technischen und ökonomischen Wandels dar. Sie erstreckte sich über Unternehmen, K ­ irchen, die Gewerkschaften und die Arbeitsverwaltung. Auf inhaltlicher Ebene zeichnete sich diese Diskussion zunächst dadurch aus, dass das Ausbildungspersonal des Bergbaus die „Kohlenkrise“ nicht als Bestandskrise des Bergbaus, sondern als eine Qualifikationskrise verstand. Die Gleichung und die ableitbare Handlungsmöglichkeit waren einfach: Die Zukunft des Bergbaus werde durch Rationalisierung und Mechanisierung gesichert. Dieser Modernisierungsprozess wiederum erfordere hochqualifizierte, mobile und anpassungsfähige Mitarbeiter auf sämtlichen Hierarchiestufen. Anders als beim EBV und in der Jugendfürsorge war diese neuerliche Beschäftigung mit dem Begabungsniveau der Bergarbeiter nur noch bedingt ein Problem moralischer Verwahrlosung und der Lebenshaltung, das Einpassung und Milieukontrolle erforderlich machte. Das Intelligenzniveau der Auszubildenden selbst wurde ein Erkenntnisproblem.31 Bereits ab 1962 sahen die Ausbildungsverantwortlichen das Omen eines Begabungsschwunds. Der Ausbildungsausschuss des UVR teilte den Mitgliedsgesellschaften mit, dass 1962 die Zahl der „jugendlichen, vielfach nicht lehrvertrags­ fähigen Arbeiter“ die „der Berglehrlinge übersteigen“ werde.32 Diese Verschiebung weise auf ein „Absinken des Bildungsniveaus des bergmännischen Nachwuchses“ hin: „34,1 v. H. kamen aus der Sonderschule und den unteren Klassen der Volksschule.“ 33 Auch für die Berufsaufbauschule des Bergbaus stellte der Schulvorstand der WBK im Winter 1964 fest, dass sich der Anteil der Bergleute an den nachrückenden Führungskräften von 50,4 Prozent auf 30 Prozent reduzieren werde,

31 Die Verfallsdiagnose schreibt sich bei David Skrabania: Ausländerbeschäftigung und -ausbildung im Ruhrbergbau. Maßnahmen der zuständigen Institutionen als Reaktion auf sich verändernde Bedingungen der Nachwuchswerbung 1956 – 1989, in: Der Anschnitt 67 (2015), S. 93 – 104, hier S. 95 und Ranft: Objekt, S. 273 fort. 32 Ausbildungsausschuss des Unternehmensverbandes Ruhrbergbau: Informationen über die Entwicklung der Berufsausbildung im westdeutschen Steinkohlenbergbau in den Jahren 1962 und 1963, o. D. [ca. 1962], in: montan.dok/BBA 120/4171, S. 6. Hervorhebung im Original. 33 Ebd.

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eine Entwicklung, die „offensichtlich daran“ liege, „daß der Intelligenzstand der Bergleute gegenüber dem der Handwerker immer mehr absinkt“.34 Der Direktor der Bochumer Ingenieurschule für Bergwesen brachte den Problemhorizont 1966 auf den Punkt: „Das Nachwuchsproblem ist für den Bergbau ein Existenzpro­ blem“.35 Um auf die wirtschaftlichen Schwierigkeiten, die Personalknappheit und die Rationalisierungserfordernisse zu reagieren, müsse der Bergbau alles daransetzen, die „stillen Reserven“ in der Belegschaft zu orten und „wertvolle Menschen“ zu finden.36 Die „Begabtenauslese und Begabtenförderung“ sei zu forcieren, es gehe darum, „bildungsfähige junge Menschen im Betrieb aufzuspüren, auszulesen und zu fördern“.37 Bereits ein Jahr vorher hatte der Bergberufsschulleiter Wilhelm Schnier einen alarmierenden Bericht an das Dortmunder Oberbergamt gesandt. Der Bergbau werde angesichts einer „katastrophal[en]“ Nachwuchslage in Schwierigkeiten geraten, „wenn es ihm nicht bald gelingt, intelligente deutsche Jugendliche […] heranzuziehen“.38 Anders als bei Krupp, wo eine vergleichbare Rationalisierungsdiagnose über die Stufenausbildung in eine Wissenspolitik der Anpassung mündete, folgten die Bergberufsschullehrer zwar einer ähnlichen Wahrnehmung, zogen aber andere Schlüsse. Die Krisendiagnose eines Begabungsverfalls des Bergbaunachwuchses begünstigte auch die Euphorie der Bergberufsschulen für die programmierte Unterweisung. So deutete Fritz Barrabas an, ein „Einsatz von Programmen in gemischten Klassen mit vielen ehemaligen Sonderschülern könnte zur Lösung vieler bisher ungelöster Probleme führen“.39 Doch zeigte sich der Lehrkörper des Bergbaus gespalten. Auf der gleichen Tagung, auf der Barrabas eine Lösung des „Sonderschülerproblems“ durch die kybernetische Pädagogik versprach, wandte sich ein Bergberufsschulleiter gegen überzogene Hoffnungen. Das Lernen als kybernetischer „Regelkreis“ erfordere die Perfektion der „Arbeitstechnik des Beobachtens“.40 Deren ­Vermittlung sei 34 Schliephorst: Niederschrift über die 18. Sitzung des Bergberufsschulvorstandes vom 9. Dezember 1964 im Sitzungssaal der Westfälischen Berggewerkschaftskasse in Bochum, 9. 12. 1964, in: ebd. 120/6014, S. 4. 35 Walter Seegelken: Die Ausbildung von Ingenieuren an der Ingenieurschule für Bergwesen, Bochum. Ein Beitrag zur Neuordnung des Führungsaufbaus im Bergbau, in: Glückauf 102 (1966), S. 137 – 149, hier S. 144. 36 Ebd., S. 148. 37 Ebd. 38 Wilhelm Schnier: Die Entwicklung des bergmännischen Nachwuchses im Bezirk der Westfälischen Berggewerkschaftskasse, 1. 2. 1965, in: LAV NRW-W, B 180,1, Nr. 2839, S. 8. 39 Fritz Barrabas: Möglichkeiten für den Unterricht nach Programmen in der Bergberufsschule, in: WBK (Hg.): Lernen, S. 70 – 99, hier S. 81. Vgl. auch Kellershohn: „Automatisierungsverlierer“. 40 Boßert: Die Aneignung geistiger Arbeitstechniken als Voraussetzung für das exemplarische ­Lehren und Lernen, in: ebd., S. 100 – 111, hier S. 103 und 108.

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aber bei einer „heterogenen Schülerschaft, sowohl was ihren Intelligenzgrad, ihre seelischen Verhaltensweisen als auch ihre körperliche Entwicklungsstufe angeht“, unmöglich.41 „Intelligenz“, als „angeborenes und bleibendes Qualitätsmerkmal des Menschen“, und die „angeborene Neigung zum komplexen Sehen“, die in solchen Fällen fehle, erschwerten die Fokussierung, Konzentration und die „Einschulung auf das Beobachten“. Anders als bei Krupp, wo die Ausbilder die Integration und Nutzung sämtlicher Begabungsstufen vorsahen, nahm sich die Wahrnehmung im Bergbau kontrastreicher aus: Den „Sonderschülern“ mangele es „auf Grund der verminderten Intelligenz und der daraus sich ergebenden verminderten Beobachtungsgabe“ an der „Gabe zur Abstraktion“ und zur „begrifflichen Fixierung“. Dementsprechend sei es „völlig unmöglich, Sonderschülern Definitionen, definierende Lehrsätze oder gar mathematische Formeln nahezubringen“, ausschließlich eine „anschaulich-verbale[] Form“ komme in Frage.42 Von einer vergleichbaren Wahrnehmung berichtete auch ein anderer Bergberufsschullehrer, Otto Dembski. Die Berufsschulen des Bergbaus sähen sich mit zwei Sorten Auszubildenden konfrontiert: „die ständig kleiner werdende und im Niveau der schulischen Vorbildung stetig sinkende Gruppe der Berglehrlinge“ einerseits und die „ständig größer werdende Zahl der Bergjungleute, die sich […] aus den unteren Jahrgängen der Volksschule und denen der Sonderschule rekrutieren“, andererseits.43 Bildeten erstere als Facharbeiter eine Gruppe, die auf ihre „vielseitige Ausbildung“ aufbauen könne und Anpassungsfähigkeit zeige, würden letztere zwar „treueste und zuverlässigste Belegschaftsmitglieder“, um die sich die Schule aber „kümmern“ müsse.44 Auch Bergwerkoberlehrer Arthur Reek, der für programmierte Unterweisung und kybernetische Pädagogik warb, sah die Grenzen der Rationalisierbarkeit der Bergberufsschule in der „echte[n] Entwicklungshemmung“, die sich bei „herabgesetzte[r] Intelligenz“ zeige.45 Dieser Schwäche könne nur durch „sonderpädagogische Maßnahmen“ und auch nur „bis zu einer Grenze, die durch die Gegebenheit der Anlage“ definiert sei, abgeholfen werden. Erkennbar würden die aus dem „niedrige[n] Intelligenzalter“ resultierenden Probleme bei den Bergjungleuten.46 Daraus folgte für Reek ein Inventar devianten Verhaltens, das von „fehlende[r] S­ pontaneität“ über 41 Ebd., S. 110. 42 Ebd. 43 Otto Dembski: Die Weiterentwicklung der Bergberufsschule durch eine berufsschuleigene Didaktik und ihre Auswirkungen auf die Gestaltung neuer Werkkunde-Lehrpläne, in: WBK (Hg.): Lernen, S. 25 – 52, hier S. 37. 4 4 Ebd. 45 Arthur Reek: Das Problem des Lernens und Lehrens aus Sicht der Pädagogischen Psychologie, in: WBK (Hg.): Das Lernen im Bildungsvorgang. Ferientagung der Lehrer an Bergberufsschulen Bad Driburg 1965, Hagen 1965, S. 7 – 24, hier S. 16. Hervorhebung im Original. 46 Ebd., S. 17.

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„Verspieltheit“ bis hin zu „Regression“, „Quälen von Mitschülern“ und „Eßgier“ reichte.47 Der Bergbau hatte so betrachtet kein Produktions- oder Marktproblem, sondern nur ein Begabungsproblem. Inhaltlich basierte die Wahrnehmung des Begabungsverfalls in der Ausbildung darüber hinaus auf der Annahme einer zukünftigen Verschiebung des Verhältnisses von Arbeit und Körper. Automation und Rationalisierung würden die Bedeutung physischer, körperlicher Arbeit reduzieren und die Rolle intellektueller und planerischer Arbeit stärken – Arbeiten, denen einerseits „praktische“, andererseits „theoretische“ Begabungen entsprächen.48 Dieser in den 1960er Jahren im Bergbau, aber auch in anderen Industrien virulente Topos in der Tradition der Kontrastierung von Hand- und Kopfarbeit 49 leitete die Reflexionen der Ausbildungsexpertinnen und -experten der westeuropäischen (Schwer-)Industrie. Heinz Gentz, ein Bergbau- und Ausbildungsfunktionär, prophezeite etwa 1967, dass „[d]er Rhythmus und die Differenzierung der Arbeitsabläufe“ dazu führen würden, „daß neben hochqualifizierter, vielseitiger Tätigkeit ein hoher Anteil an ständig wiederkehrenden Arbeitsverrichtungen, also Routinearbeiten, anfällt, die von angelernten Arbeitern ausgeführt werden können“.50 Die Bedeutung der Muskelkraft schwinde, es entwickelten sich auf der einen Seite „Tätigkeiten mit hohen Ansprüchen an geistige Beweglichkeit und Vielseitigkeit der Kenntnisse und Fertigkeiten“. Auf der anderen Seite stünden „leichter erlernbare, stark spezialisierte Tätigkeiten“.51 Die Angst vor dem Begabungsverfall des bergbaulichen Nachwuchses korrelierte dementsprechend mit einer Vision des Bergmanns als Kopfarbeiter, die der Vizepräsident des Landesarbeitsamts NRW, Otto Schlate, vor den Bergberufsschullehrern entwarf: 47 Ebd. 48 Vgl. etwa die Zurückweisung eines dritten „Begabungstyps“ mit explizitem Verweis auf Jean Fourastié, Peter F. Drucker und den durch den „Strukturwandel“ „zunehmenden Bedarf an Arbeitskräften intellektueller Art“ Wilhelm Arnold: Begabung und Bildungswilligkeit, München 1968, S. 163. 49 Eine systematische Untersuchung dieser auf den Leib-Seele-Dualismus zurückgreifenden Denkfigur in allen ihren Ausprägungen fehlt bislang. Hinweise finden sich bei Axel Nath/Alexander Griebel: Zur Deutung von ‚Bildsamkeit‘ im Prozess der ‚Kommunikationsspirale‘ des ‚Ideen­ profils‘, in: Detlef Gaus/Elmar Drieschner (Hg.): ‚Bildung‘ jenseits pädagogischer Theoriebildung? Fragen zu Sinn, Zweck und Funktion der Allgemeinen Pädagogik, Wiesbaden 2010, S. 401 – 434, insbes. S. 407 – 421. 50 Heinz Gentz: Notwendige Reformen in der Aus- und Fortbildung des Ruhrbergbaus. Die Aspekte der Aus- und Fortbildung des Personals unter Berücksichtigung der heutigen und zukünftigen Anforderungen der Betriebe und ihrer technisch-organisatorischen Entwicklung. Vortrag im Rahmen des Technisch-Wissenschaftlichen Vortragswesens, Bochum, am 16. November 1967, 17 Uhr, 16. 11. 1967, in: montan.dok/BBA 120/6409, S. 8. 51 Ebd. Ähnlich: Heinz Gentz: Ausbildung, Fortbildung, Umschulung im Ruhrbergbau. Vortragstyposkript, 18. 12. 1968, in: AHGR, IGBE-Archiv, 1269.

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Der Beruf des Bergmanns wird sicher dadurch attraktiver, daß infolge der zunehmenden Mechanisierung und Automatisierung die Muskelkraft immer mehr verdrängt wird durch Intelligenzleistung und Zuverlässigkeit. Der Bergmann wird immer mehr zum Bergmaschinenmann. Er braucht Kenntnisse in Elektrotechnik und Elektronik. Mutige, kluge und technisch begabte junge Männer dürften sich angesprochen fühlen.52

Deutlich wurde in den Bildungsinstitutionen des Bergbaus, ebenso wie bei Krupp, eine Suchbewegung, die parallel zu der omnipräsenten Rede von Mobilität und Mobilisierung auftrat und damit verwoben war: Wenn der Facharbeiter der Zukunft mobil, polyvalent und anpassungsfähig sein sollte – wie und mit ­welchen Individuen war ein solches Ideal zu erreichen? Anstatt sich in einer Qualifizierungseuphorie zu ergehen, galt es zunächst herauszufinden, wer zu einer solchen Qualifizierung überhaupt in der Lage sei – also den nötigen Willen und die Fähigkeit zur Umstellung an den Tag legte. Dem Krupp’schen Versuch der Proportionalisierung war bereits eine Grenze inhärent: Je stärker die Stufenausbildung differenzierte, desto geringer war ihr Vereindeutigungspotential – und desto mehr erforderte sie neue Vereindeutigungsbemühungen in Form neuer Ausschlüsse und Leitdifferenzen. Begabungsverfall ­zwischen Interessenpolitik, Lernbehinderung und Korporatismus

Im Mittelpunkt der Bemühungen stand der Versuch einer objektiven und quantitativen Bestimmung des vermeintlich umfassenden Begabungsverfalls der Ruhrgebietsjugendlichen. Neben der Wissenspolitik der Anpassung wie bei Krupp bildete sich in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre eine Wissenspolitik des Ausschlusses heraus, die Bildungsfähigkeit nicht als Abstufung, sondern als Kriterium der Inklusion in die oder der Exklusion von der Arbeit der Zukunft dachte. Die Stoßrichtungen der Diagnosen zum Bildungsstand von Auszubildenden differierten dabei je nach der Institution, die das Urteil fällte, und je nach eingesetzter Methode. Diese Unterschiede lassen sich auf drei Ebenen zeigen: für die Kammern, die Arbeitsverwaltung und die Wirtschaftszweige. Der Deutsche Industrie- und Handelstag klinkte sich in den Jahren 1966 und 1967 in die Debatte ein: zum einen mit dem Ziel, die Positionen der Arbeitgeber in den Debatten um die Berufsbildungsreform zu stärken. Zum anderen wollte er die grassierende Mobilitätswut eindämmen. In einem „Test über den Leistungsstand in Rechtschreibung und Rechnen“ bei 2000 Lehrlingen, geleitet vom ­Gründungsrektor der 52 Otto Schlate: Strukturwandel in Wirtschaft und Gesellschaft, in: WBK (Hg.): Berufsbildung in einer sich wandelnden Welt. Fortbildungstagung der Lehrer an den bergbaulichen Schulen der Bundesrepublik, Hagen 1969, S. 9 – 36, hier S. 22.

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Ruhr-Universität Bochum und zu ­diesem Zeitpunkt in Hamburg tätigen Päda­gogen Hans Wenke, wollte der Wirtschaftsverband die Verfallsdiagnose versach­lichen.53 „Um unbedingte Objektivität“ zu wahren, wählte eine Kommission unter Wenke einen Diktattext und Rechenaufgaben aus, die von den Auszubildenden auszuführen waren.54 Die Ergebnisse schienen eindeutig: Die „Kenntnisse in Rechtschreibung“ ­seien „mangelhaft“ und „fast jeder zweite“ Auszubildende weise „erhebliche Lücken im Rechnen auf“.55 In der Debatte um die Berufs­bildungsreform sollten folglich „ehrgeizige Pläne“ zurückgestellt und der Unterricht in der Volksschule verbessert werden.56 Den Wirtschaftsvertretern ging es also um die Wahrung betrieblicher und wirtschaftlicher Prärogativen. Um ihre Perspektive zu u ­ ntermauern, fügten sie der Broschüre Zeitungsartikel bei. Ein Auszug wandte sich gegen die Notwendigkeit „‚wachsender Mobilität‘“, denn „[b]erufliche Beweglichkeit“ brauche ein „festes Fundament von Wissen“. Stattdessen zeige der DIHT in seiner Erhebung, dass schon die Grundschule die „geistig-­seelischen Voraussetzungen“ der Mobilität „zerrütten“ würde und Kinder „Unrast und Instabilität“ statt „Ruhe, Ordnung und Stetigkeit“ vorfänden.57 Mobilität war für den DIHT eine Gefahr für die Stammbelegschaften. Die hinter dieser Fluktuationsangst stehende Vorstellung des Begabungsverfalls lediglich als Instrument für andere Zwecke zu interpretieren griffe zu kurz: Die Sorge folgte ihrer eigenen Logik. In der Kammer Essen zeigte sich der Berufsbildungsausschuss interessiert. Die Ergebnisse der Lehrabschlussprüfung im Frühjahr 1967 ­seien „noch weiter abgesunken“.58 Da diese Resultate an der „schlechte[n] schulische[n] Vorbildung“ lägen, beschloss die Essener Kammer mit den im September einzustellenden Auszubildenden einen Test nach dem Vorbild des DIHT durchzuführen, um zu überprüfen, ob die für die Bundesebene geltenden Ergebnisse auch auf den eigenen Kammerbezirk anzuwenden ­seien.59 Dieser Test konfrontierte 5020 Auszubildende in Essen, Mülheim an der Ruhr und Oberhausen mit einem neuen Diktat und verschiedenen Rechenaufgaben.60 Die Auswertung wiederrum 53 DIHT: Salzpräzeln, Luftbalons und Ohrgelmusik. Was Volksschüler in die Lehre mitbringen. Der DIHT-Test und sein Echo in der Presse, Januar 1967, in: WWA, K3, Nr. 2373, S. 3. 54 Ebd., S. 6. 55 Ebd., S. 5. 56 Ebd., S. 15. 57 Ebd. 58 F. W. Koch: Aktenvermerk über die Besprechung des Arbeitskreises „Berufsausbildung“ am Freitag, dem 14. April 1967 in der Kammer, 18. 4. 1967, in: RWWA Köln, Abt. 28, 910-40/20 (Altsignatur), S. 1. 59 Ebd. 60 IHK Essen: Leistungsstand der Lehranfänger im Kammerbezirk Essen, Anlage zu einem Schreiben an Fritz Holthoff, Kultusminister des Landes NRW, 16. 2. 1968, in: WWA, K3 Nr. 2373, S. 1 f.

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zeugte von einer Akribie des Fehlerzählens. Tabellen, aufgeschlüsselt nach Fehlerzahl, Geschlecht, Schulabschluss, Herkunftsstadt und Ausbildungsberuf – jeweils für Diktat und Rechenaufgaben 61 –, sollten bezeugen, „daß der Bildungsstand unserer Jugendlichen besorgniserregend ist“.62 Die „bittere[] Notwendigkeit“ der „‚Mobilität der Arbeitskräfte‘“ erfordere dringend „ein ausreichendes Grundwissen in den Elementarfächern“, das ob der Indizien für das geringe „geistige Niveau und den Bildungsstand“ fehle.63 Diese beiden Beispiele zeigen, dass das Narrativ des Begabungsverfalls von den Kammern gut in die Debatten um die Betriebshoheit in der Berufsbildung eingebaut werden konnte. Denn da der mangelhafte Bildungsstand auf die Schulen zurückzuführen war, waren die Betriebe und ihre Ausbildung nur Opfer eines Missstands, für den sie nicht verantwortlich zeichneten. Auch verweisen beide Fälle auf die Vereindeutigungspraktiken, die den Diagnosen des Begabungsverfalls in den 1960er Jahren zugrunde lagen. An der Schnittstelle von Wirtschaftsund Schulverwaltung bedienten sich die Kammerorganisationen schulischer Prüfungsformen – einerseits um, im Essener Fall, Druck auf das Kultusministerium auszuüben, andererseits um sich selbst zu versichern, „daß der Bildungsstand der Schulabgänger sich seit Jahren gleichmäßig verschlechtert hat“.64 In ­diesem Fall diente die Methode dazu, die Diagnose des Bildungsverfalls zu kanalisieren. Die Kammern transformierten das Verfallsnarrativ in einen Einsatz in der Diskussion um die Berufsbildungsreform. Gleichzeitig zeigt die Initiative der IHK Essen, den Test – wenn auch in abgewandelter Form – zu wiederholen, dass die Beschwörung des Verfalls auch einen Vereindeutigungsbedarf beim Impulsgeber selbst schuf. Die Wirtschaftsverbände nutzten die Verfallsdiagnose nicht nur instrumentell, sondern waren ebenfalls gezwungen, ihrer Eigendynamik zu folgen. Diese und ähnliche Deutungen beschränkten sich nicht auf die Wirtschaftsverbände, sondern betrafen auch die Arbeitsverwaltung. Diese grenzte sich allerdings von der Schulverwaltung ab und bediente sich anderer Mittel. Im April 1967 wandte sich eine Berufsberaterin des Arbeitsamts Dortmund an ihre Bochumer Kolleginnen und Kollegen. Die Situation sei desolat. An Ostern 1967 würden in Dortmund 5585 Schülerinnen und Schüler die Volksschulen und Sonderschulen für Lernbehinderte verlassen, davon 1051 ohne Abschluss der Volksschule. Damit s­ eien 61 Ebd., S. 2 – 5. 62 Ebd., S. 5. 63 Ebd. 6 4 Hans Hartwig/Hans Licht: Leistungsstand der Lehranfänger im Bezirk der Industrie- und Handels­ kammer für die Stadtkreise Essen, Mülheim (Ruhr) und Oberhausen zu Essen. Rundschreiben der Vereinigung der Industrie- und Handelskammern des Landes NRW, 11. 4. 1968, in: WWA K3 Nr. 2373, S. 2.

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rund 20 Prozent aller Absolventinnen und Absolventen der öffentlichen Schulen entweder „Lernbehinderte“ oder ohne Volksschulabschluss – was die Arbeitsverwaltung gleichsetzte.65 Der Diagnose des Bildungsverfalls – die Zahl der „Lernbehinderten“ übersteige die der „Schulentlassenen mit der sogenannten Mittleren Reife oder dem Abitur“ – verlieh die Dortmunder Beamtin über ihre Verräumlichung Evidenz: „In den Großstädten des Ruhrgebiets sind die Zahlenverhältnisse ähnlich.“ 66 Auf diese Weise verband sie das Qualifikationsproblem mit der Krisenwahrnehmung der Rezession 1966/67 und dem „Strukturwandel“: Hätten den „lernbehinderten Sonderschülern und Volksschulabgängern ohne Abschluß“ bislang Hilfsarbeitertätigkeiten offengestanden, fehlten diese nun.67 Gleichzeitig beweise die Arbeitsmarktentwicklung die „Krisenanfälligkeit der Hilfsarbeiter“.68 Um den Handlungsbedarf der Arbeitsämter zu begründen, griff die Beamtin auf die Kategorie der Lernbehinderung zurück. Diese Bezeichnung war zu ­diesem Zeitpunkt jung und erstmals im Hessischen Bildungsplan der Sonderschule 1962 erschienen.69 Die Denkfigur basierte auf älteren, mit der Geschichte der Psychologie und des Intelligenzbegriffs verwobenen Vorstellungen von „geistiger Behinderung“ und „Imbezillität“.70 Sie stellte aber eine wissenspolitische Abstufung dar, die im Berufsbildungssystem die Grenze der Ausbildbarkeit über den Topos der „praktischen Begabung“ ausdifferenzieren sollte.71 Anders als in den ­Niederlanden 65 Arbeitsamt Dortmund: Überlegungen zur Einrichtung eines Berufsvorbereitungslehrgangs für lernbehinderte Sonderschüler und Abgänger aus 6. 7. 8. Klassen [!] der Volksschule, 2. 4. 1967, in: LAV NRW-W, N 100, Nr. 513, S. 1. 66 Ebd. 67 Ebd., S. 2. 68 Ebd. 69 Vgl. Sieglind Ellger-Rüttgardt: Entwicklung des Sonderschulwesens, in: Führ/Furck (Hg.): Handbuch, Bd. VI, erster Teilband, S. 356 – 377, hier S. 364; Lisa Pfahl: Techniken der Behinderung. Der deutsche Lernbehinderungsdiskurs, die Sonderschule und ihre Auswirkungen auf Bildungsbiografien (Disability Studies 7), Bielefeld 2011, S. 79 – 121; Bösl: Politiken, S. 28. 70 Deren Erforschung findet vor allem im englischen Sprachraum statt. Vgl. Murray K. Simpson: Modernity and the Appearance of Idiocy: Intellectual Disability as a Regime of Truth, Lewiston u. a. 2014; für Großbritannien: Anne Digby: Contexts and Perspectives, in: David Wright/Anne Digby (Hg.): From Idiocy to Mental Deficiency. Historical Perspectives on People with Learning Disabilities (Studies in the Social History of Medicine 3), London u. a. 1996, S. 1 – 21; Patrick McDonagh/C. F. Goodey/Tim Stainton (Hg.): Intellectual Disability: A Conceptual History, 1200 – 1900, Manchester 2018; André Turmel: A Historical Sociology of Childhood. Developmental Thinking, Categorization and Graphic Visualization, Cambridge 2008. Der Fokus liegt auf dem 19. und frühen 20. Jahrhundert, zeithistorische Perspektiven sind rar. 7 1 Vgl. Bösl: Politiken, S. 200. Dieses Argument gilt auch für die Niederlande. Vgl. Nelleke Bakker: Identifying the ‚Subnormal‘ Child in an Age of Expansion of Special Education and Child Science in the Netherlands (c. 1945 – 1965), in: History of Education 44 (2015), S. 460 – 479.

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beispielsweise lässt sich diese Ausdifferenzierung intelligenzbezogener Kriterien der Devianz allerdings – zumindest für die Berufsbildung – nicht als Korrelat wuchernder Test- und Prüfungsapparate beschreiben.72 Im Fall des Arbeitsamts Dortmund basierte die Evidenz der Minderbegabung nicht auf der mechanischen Objektivität des Intelligenztests, sondern einerseits auf den Schulabschlusszahlen, andererseits auf der Selbstverständlichkeit des Automationsdiskurses. Als „Gründe für die Behinderung des infrage stehenden Personenkreises, einen angemessenen Platz im Berufs- und Arbeitsleben zu finden und zu halten“,73 identifizierte das Dortmunder Arbeitsamt drei Komplexe: die Jugendlichen selbst, das Berufsbildungssystem und den Strukturwandel.74 Bei den Jugendlichen sprach die Beamtin von „Intelligenzschwäche“, „Konzentrationsschwäche“, „Anpassungsschwäche“ und „Antriebsschwäche“, die entweder „krankhaft“ oder „Folge einer Vernachlässigung, eines erzieherischen Versäumnisses“ ­seien.75 Die „Intelligenzschwäche im sprachlich-logischen Bereich“ gehe aber häufig mit einer „durchschnittliche[n] oder auch überdurchschnittliche[n] Intelligenz im manuellen und visuellen Bereich“ einher.76 Im Berufsbildungssystem handele es sich um die anspruchsvollen Inhalte, die die „Lernbehinderten“ nicht mehr erwerben könnten. Zuletzt war es für die Beamtin der Strukturwandel, der Hilfsarbeitertätigkeiten zurückdränge und „bestimmte Qualifikationen“ erforderlich mache, wie „Fähigkeiten im Umgang mit Maschinen“, „Konzentration“, „Anpassungsfähigkeit“ und „Umstellungsfähigkeit“.77 Aus dieser Matrix z­ wischen Differenz und Arbeit der Zukunft – die Aufteilung in Hand- und Kopfarbeit und die Annahme einer durch einen entsprechenden Leistungskatalog bestimmten Anthropologie zukünftiger Arbeit – folgte für sie, dass die Industriegesellschaft über die „Begabungs- und Leistungsschwachen“ nachdenken müsse, wie es in Besprechungen in Dortmund seit 1964 geschehe.78 Damit schlug die Berufsberaterin ihren Bochumer Kolleginnen und Kollegen vor, ein „Berufsvorbereitungsjahr“ einzurichten, in dem nicht „berufsfähige“ Jugendliche zu „seelischer und leistungsmäßiger Stabilität“ geführt werden sollten.79 Ziel des im Dortmunder Stadtteil Oespel in der Folge unter der Ägide des Christlichen Jugenddorfwerks eingerichteten Lehrgangs für 60 bis 80 Jugendliche war die Verminderung der „Krisenanfälligkeit“

7 2 So das Argument bei Bakker. Ebd., S. 470. 73 Arbeitsamt Dortmund: Überlegungen, S. 2. Hervorhebung im Original. 74 Ebd., S. 2 f. 75 Ebd. 76 Ebd., S. 3. 77 Ebd. 78 Ebd., S. 4. 79 Ebd.

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von ­Jugendlichen aller „Ruhrarbeitsämter“.80 Das CJD , dessen Präsident Arnold Dannenmann sich bereits in den 1950er Jahren unter moralisch-holistischen Auspizien für die Förderung „begabter“ junger Bergarbeiter eingesetzt hatte, schuf sich so ein wissenspolitisches Tätigkeitsfeld, für das sich bald auch das Arbeitsamt Bochum interessierte.81 In der Selbstwahrnehmung des CJD knüpfte das Berufsvorbereitungsjahr an dessen Engagement in den „Jugenddörfern im Ruhrgebiet“ an, in denen es sich mit dem Ruhrbergbau den „Berufsfindungsprobleme[n] von Hauptschulabgängern‘“ gewidmet habe.82 Ohne Unstimmigkeiten lief die Einrichtung ­dieses ersten Berufsvorbereitungsjahres in der Bundesrepublik 83 – auf Seiten der Arbeitsämter begünstigt durch den Handlungsspielraum gegenüber der Nürnberger Zentrale 84 – jedoch nicht ab. Streitpunkt war die Grenze der Bildungsfähigkeit. Auf der Besprechung Ende April 1967 wurde bezweifelt, dass es „pädagogisch richtig sei, Abgänger aus Sonderschulen für Lernbehinderte mit den Abgängern aus unteren Klassen der Volksschule in einer Maßnahme zusammenzufassen“.85 Diese Verirrung der Kategorien widerspreche den „Erfahrungen der Heilpädagogik“ und auch den „Erfahrungen der [Dortmunder] Mädchenberufsschule“, nach denen „diese Personenkreise erhebliche Unterschiede in ihrem Leistungswillen und Arbeitsverhalten zeigten“.86 Dem hielt Dannenmann entgegen, dass „diese Unterschiede sich in einem internatsmäßig durchgeführten Lehrgang“ schnell ausgleichen würden. Es müssten aber „Leistungsgruppen“ gebildet werden, um „den sehr differenzierten Behinderungsarten gerecht zu werden“.87 Auch würden „nur Jugendliche aufgenommen […], 8 0 Ebd., S. 5. 81 Arbeitsamt Bochum: Berufsvorbereitungsjahr für lernbehinderte Sonderschüler und Volksschulabgänger aus unteren Klassen. Schreiben an das Arbeitsamt Dortmund, 20. 4. 1967, in: LAV NRW-W, N 100, Nr. 513. 82 Christopher Dannenmann: Probleme beruflicher Qualifikationen junger Menschen. 10 Jahre Berufsvorbereitungsjahr im CJD. Rückblick und Ausblick, in: Hirsauer Blätter. Zeitschrift für Mitarbeiter im Christlichen Jugenddorfwerk Deutschlands 26 (1977), S. 7 – 28, hier S. 7 f. Vgl. als Überblick Rüdiger Maskus: Christliches Jugenddorfwerk Deutschlands. Orientierungspunkte, Konzeption und Einrichtungen, Diss., Gießen 1987, S. 150 – 159. 83 Vgl. Joachim Schroeder/Marc Thielen: Das Berufsvorbereitungsjahr. Eine Einführung, Stuttgart 2009, S. 58. 84 BAVAV: Arbeitsvermittlung von Jugendlichen. Rundschreiben an die Landesarbeitsämter, 1. 3. 1967, in: LAV NRW-R, BR 1134/683. 85 Arbeitsamt Dortmund: Ergebnisprotokoll der Arbeitsbesprechung im Arbeitsamt Dortmund am 26. 4. 1967. Protokoll zur Besprechung über die Einrichtung eines Berufsvorbereitungsjahrs für lernbehinderte Sonderschüler und Abgänger aus unteren Klassen der Volksschule im Jugenddorf Dortmund-Oespel, 27. 4. 1967, in: LAV NRW-W, N 100, Nr. 513, S. 1. 86 Ebd. 87 Ebd., S. 2.

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die bildungsfähig sind“ und deren „Leistungs- und Arbeitsverhalten“ sowie deren „soziale Anpassung positiv beeinflusst werden“ könnten.88 Dementsprechend setzten die Arbeitsämter neben dem Schulurteil medizinische und psychologische Gutachten ein. Hier offenbarte sich ein Misstrauen gegenüber der Einschätzung der Schule, ­welche „Lernbehinderten“ „noch nicht berufs- oder ausbildungsreif, aber bildungs- und entwicklungsfähig sind“.89 Neben dieser verdoppelten Begutachtung lehnte sich die Maßnahme an die Pestalozzidörfer an: Unterbringung in Gruppen bei „einem pädagogisch geschulten Ehepaar“, Gemeinschaftsräume und „musische Betätigung“.90 Die Methoden blieben ähnlich – nun sollte allerdings nicht mehr die Moral des Abendlands im Kampf gegen den Bolschewismus gestärkt, sondern der Wille zur Umstellung geweckt werden. Damit einher gingen erste Versuche, ­zwischen bildungsfähigen und bildungsunfähigen Jugendlichen zu unterscheiden. Dieser Punkt bewegte auch die IHK Bochum, die sich im Zuge d ­ ieses Lehrgangs – und das verweist auf die Homologie der Problematisierung der Bildbarkeit von jugendlichen und erwachsenen Arbeitern – mit der „Umschulung von Jugendlichen ohne abgeschlossene Volksschulbildung“ beschäftigte.91 Der Berufsbildungsausschuss kam zu dem Ergebnis, dass die „hohen finanziellen Aufwendungen“ für s­ olche Kurse nur zu verantworten ­seien, wenn sichergestellt sei, „daß der betreffende Jugendliche für den gewählten Beruf hinreichend begabt ist“.92 In dem Maße, in dem Jugendliche ohne Arbeit und Ausbildung als „praktisch bildbare“ Auszubildende entdeckt wurden, wurde ihre Unbildbarkeit festgeschrieben. Dieser vom CJD durchgeführte Lehrgang und vergleichbare Maßnahmen – wie ein zur gleichen Zeit anlaufender Förderlehrgang in der Lehrwerkstatt der Schachtanlage Consolidation 1/6 in Gelsenkirchen 93 –

88 Ebd. 89 Arbeitsamt Dortmund: Merkblatt zur Durchführung eines Berufsvorbereitungsjahres, Mai 1965, in: ebd., S. 1. 90 Ebd. 91 IHK Bochum: Auszug aus der Niederschrift über die Sitzung des Berufsbildungsausschusses der Industrie- und Handelskammer zu Bochum am Dienstag, 25. Juli 1967, 25. 7. 1967, in: WWA K2 Nr. 2261, S. 9. 92 Ebd. 93 Der vom Arbeitsamt Gelsenkirchen finanzierte Lehrgang wurde von der Inneren Mission, einem Vorläufer der Diakonie, und der Caritas bei der Essener Steinkohlenbergwerke AG durchgeführt. Vgl. Weindorf: Förderlehrgang für arbeitslose Jugendliche. Schreiben der Zechengruppe Consolidation der Essener Steinkohlenbergwerke AG an das Bergamt Bochum, 2. 11. 1967, in: LAV NRW-W, M 550, Nr. 8603. Im folgenden Schreiben änderte sich der Betreff: ders.: Förderlehrgang für lernbehinderte Jugendliche. Schreiben an das Bergamt Bochum, 28. 11. 1967, in: ebd. Ab 1971 kooperierte die Werksdirektion ebenfalls mit dem CJD. Vgl. ders.: Förderungslehrgang für Jugendliche. Schreiben an das Bergamt Bochum, 26. 8. 1971, in: ebd., Nr. 8605.

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aktualisierten also ältere Traditionen des moralischen Holismus mit einer binären Kategorisierung von Lernbehinderung und Bildbarkeit. Zu ­diesem Zeitpunkt trugen die Gewerkschaften diese wissenspolitischen Reformen unter den Auspizien der Fürsorge insofern, als sie kein Problem wahrnahmen. Als sich im Dezember 1967 der Pädagoge Wolfgang Klafki bei der IGBE erkundigte, ob die Gewerkschaft Stellung zu „Schulversuchen auf Förderstufe und Gesamtschule“ bezogen hatte,94 wiegelte IGBE-Berufsbildungsreferent Brinkert ab. Die Gewerkschaft hatte keine Meinung zu diesen Versuchen. Einschätzungen ­seien – wenn überhaupt – beim DGB oder bei der für Bildung zuständigen Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) zu finden.95 Arbeitete die Arbeitsverwaltung noch mit dem Verdikt der Schule und vertraute der moralisch-holistischen Sprache von christlicher Fürsorge und Verantwortung, gingen die Verantwortlichen der Duisburger Stahlindustrie einen von der Schulverwaltung entfernten Weg. Lernbehinderung beziehungsweise eine Wissenspolitik des Ausschlusses erhielten ihre Eindeutigkeit durch Praktiken des Korporatismus und der konzertierten Steuerung. Ähnlich wie Tarifverhandlungen oder Probleme der Arbeitssicherheit, so die Annahme, ließe sich auch die Begabungsfrage durch korporative Entscheidungsfindung klären. Elemente dieser Praktiken durchzogen auch die anderen Beispiele, prägten sich im Fall des „Duisburger Modells“ aber besonders aus.96 Der am Ursprung d ­ ieses Modells stehende Duisburger Arbeitskreis „Berufe für Behinderte“ gründete sich im Mai 1969 auf Anregung der Duisburger Industrie bei der IHK Duisburg. Er setzte sich zunächst aus allen Ausbildungsleitern im Kammerbezirk zusammen. Hinzu kamen Lehrpersonal an Berufs- und Sonderschulen und Vertreter der Arbeitsverwaltung.97 Als Mitglieder firmierten mit Günter Schrul ebenso ein Vertreter des örtlichen DGB-Berufsfortbildungswerks und mit Hermann

94 Wolfgang Klafki: Schreiben an die IGBE, 12. 12. 1967, in: AHGR, IGBE-Archiv, 4278. 95 Bernhard Brinkert: Schreiben an Prof. Dr. Wolfgang Klafki, 12. 1. 1968, in: ebd. 96 Bereits zeitgenössisch war das Duisburger Modell Gegenstand sozialwissenschaftlicher Studien. So bspw. Ingrid Drexel/Christoph Nuber/Marhild von Behr: Zwischen Anlernung und Ausbildung. Qualifizierung von Jungarbeitern z­ wischen Betriebs- und Arbeitnehmerinteressen, Frankfurt a. M. 1976, die beabsichtigten zu zeigen, dass das „D..er [!] Modell“ zu „Immobilität, Fügsamkeit gegenüber dem Betrieb, Betriebsloyalität und -treue“ führe (ebd., S. 280, Hervorhebung im Original), also das Mobilitätsparadigma immanent kritisierten. 97 Duisburger Arbeitskreis „Berufe für Behinderte“: Studie. Untersuchungen und Vorschläge für die Erweiterung und Verbesserung der Ausbildungsmöglichkeiten für Behinderte, o. O. [Duisburg] 1971, S. 1 – 3. Vgl. zum Modell und seinem für einen Zeitgenossen hohen „ethischen Gehalt“ Manfred Wagenknecht: 150 Jahre berufsbildende Schulen in Duisburg (1832 – 1982). Ein Beitrag zur Schul- und Berufsbildungsgeschichte Duisburgs, in: Duisburger Forschungen 30 (1981), S. 3 – 286, hier S. 217.

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Himmelberg ein Beigeordneter der Stadt Duisburg.98 Den Vorsitz übernahm der Hauptabteilungsleiter Betriebliches Bildungswesen der Mannesmann AG Hüttenwerke, Hermann Giesen, der sich bereits in den Vorjahren für das Verhältnis von Strukturwandel und Begabung interessiert hatte.99 Ab September 1971 erprobten die beteiligten Duisburger Eisen- und Stahlunternehmen, die Deutsche Maschinenbau-Aktiengesellschaft (DEMAG), die Mannesmann AG Hüttenwerke und die zum Thyssen-Konzern gehörende Niederrheinische Hütte – vorerst mit „ca. 100 Behinderten“ 100 – ein Ausbildungsmodell, das zunächst ein Grundbildungsjahr vorsah. An dessen Ende wurde eine Berufsrichtung gewählt (Schweißer, Schlosser, Werkzeugmaschinenbau), in der die Teilnehmer so ausgebildet wurden, dass sie „Einfacharbeitsplätze[]“ ausfüllen könnten.101 Die „Studie“, die der Arbeitskreis anfertigte, imitierte einen wissenschaftlichen Bericht auf lokaler Ebene ohne die Hinzuziehung externer Experten mit dem Ziel der „Abgrenzung des Kreises der Behinderten“.102 Diesem Zweck diente ein korporatistisches Arrangement, das den Geist der zeitgleich populären Konzertierten Aktion atmete,103 indem es sämtliche relevanten Akteur:innen zusammenbrachte. Das Herzstück des Bandes machte ein vierteiliges Kapitel aus, das eine „Begründung für die Ausbildung Behinderter“ führte, jeweils „aus der Sicht“ von Sonderschule, Arbeitsverwaltung, Industrie und Berufsschule – in der Ausgabe von 1978 auch aus Sicht der IHK.104 Die jeweiligen Problembeschreibungen wichen stark voneinander ab. Sie trafen sich aber in der Annahme, es gebe ­zwischen der Gruppe der „echten (Lern-)Behinderten“ und den normalen Auszubildenden eine Zwischengruppe, die durch richtige Beobachtung und angemessene Methoden im Duisburger Modell ausgebildet werden könne. Aus der Perspektive der Sonder- und Berufsschule handelte es sich um ein Problem moralischer Natur. Es müsse darum gehen, „den Behinderten“ „‚seßhaft‘ zu 98 99 100 101 102 103

Siehe die Mitgliederliste in ebd., S. 39 f. Ebd., S. 39 und die Ausführungen oben. Ebd., S. 38. Ebd., S. 20. Ebd., S. 2. Vgl. dazu hier nur Andrea Rehling: Die konzertierte Aktion im Spannungsfeld der 1970er-Jahre: Geburtsstunde des Modells Deutschland und Ende des modernen Korporatismus, in: Andresen u. a. (Hg.): Kontinuität, S. 65 – 86. Dort auch weitere Hinweise. 1 04 Duisburger Arbeitskreis „Berufe für Behinderte“: Studie 1971, S. 8 – 13. Ders.: Studie. Untersuchungen und Vorschläge für die Erweiterung und Verbesserung der Ausbildungsmöglichkeiten für Behinderte, o. O. [Duisburg] 1978, S. 19 f. Die Studie wurde verschiedentlich neu aufgelegt, vgl. ders.: Studie. Untersuchungen und Vorschläge für die Erweiterung und Verbesserung der Ausbildungsmöglichkeiten für Behinderte, o. O. [Duisburg] 1975, die nur archivalisch überliefert ist in: Salzgitter AG (SZAG)-Konzernarchiv Mülheim an der Ruhr, M 21.092.27.

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machen“ und ihm „Geborgenheit“ zukommen zulassen.105 Die Duisburger Arbeitsverwaltung dagegen konzentrierte sich auf eine Kultur des Beobachtens, denn es gehe um „Entlaßschüler mit leichter Intelligenzschwäche“.106 Dem „unbefangenen Beobachter“ falle auf den ersten Blick „kaum ein Unterschied gegenüber Entlaßschülern der Hauptschule auf“. Leistungen ­seien sogar vergleichbar – nur die „genauere Beobachtung“ zeige eine „Unsicherheit im abstrakten Denken“, eine fehlende „geistige Wendigkeit“.107 Ähnlich lautete auch die Diagnose der Industrie, die einen Personenkreis aus Sonder- und Hauptschule identifizierte, dessen „Schwierigkeiten“ vornehmlich „in den Kulturtechniken“ lägen, während sich „die Behinderung auf manuellem Gebiet“ nicht auswirke.108 Inhaltlich bedeuten diese Perspektiven, dass sich alle Beteiligten auf die Prinzipien von „Wirklichkeitsnähe“ und „Anschaulichkeit“ einigen konnten, über die den Jugendlichen die „Chance zur Bewährung und Selbstbestätigung […] mit angemessener manueller Tätigkeit“ geboten werden solle.109 Der Begriff der Lernbehinderung vereindeutigte dabei nicht ausschließlich medizinisch oder pädagogisch, sondern schuf eine Gruppe ­zwischen Sonder- und Hauptschule und damit z­ wischen „echter“ Behinderung und Normalität. Die Evidenz der Differenz beruhte in d ­ iesem Fall weniger auf verwissenschaftlichten oder objektivierenden Praktiken als vielmehr auf einer von unterschiedlichen Traditionen herrührenden Diagnose, für die ein korporatives Arrangement gefunden wurde. Der Korporatismus selbst stiftete Eindeutigkeit. Der Bericht von 1971 versprach zwar eine Kooperation mit Anton Reinartz vom Heilpädagogischen Institut der Pädagogischen Hochschule Ruhr in Dortmund,110 dieser Aspekt tauchte ­später allerdings nicht mehr auf. Hinweise auf eine ­solche Zusammenarbeit lassen sich nicht finden. Auch verzichtete die Duisburger Studie auf Bezüge zu sonder- oder sozialpädagogischen Forschungen, die seit Ende der 1960er Jahre durchgeführt wurden und die das Duisburger Projekt durchaus zur Kenntnis nahmen. So nobilitierte eine Mannheimer Studie zu den „Ungelernten“ in der Bundesrepublik den korporatistischen Pragmatismus des Duisburger Modells als einen „erfolgreichen Versuch“, „selbst lernbehinderte Sonderschüler zu einem qualifizierten Berufsabschluß zu führen“.111 Diese fehlenden Insignien der Wissenschaft stellten kein ­Versäumnis dar, sondern 1 05 Duisburger Arbeitskreis „Berufe für Behinderte“: Studie 1971, S. 8. 106 Ebd., S. 9. 107 Ebd. 108 Ebd., S. 10. 109 Ebd., S. 13. 110 Ebd., S. 2 f. 111 Bernd-Joachim Ertelt: Überblick über die bisherige Forschung und Ableitung der eigenen Frage­ stellung, in: Elfriede Höhn (Hg.): Ungelernte in der Bundesrepublik. Soziale Situation, Begabungsstruktur und Bildungsmotivation (Schriftenreihe der Georg-Michael-Pfaff-Gedächtnisstiftung 13), Kaiserslautern 1974, S. 45 – 74, hier S. 68.

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zeigen, dass lokal bei der Einrichtung von Sonderausbildungen zwar eine Melange von Ideologemen und wissenschaftlich anmutenden Begriffen gebraucht wurde, ausschlaggebend aber die pragmatische Kooperation war. Auch tripartistische Konstellationen lassen sich somit als Vereindeutigungspraktiken verstehen, die inhaltliche Differenzen widerspruchsfrei zu überbrücken vermochten. Die Diagnose des Begabungsverfalls bewegte sich also an der Schnittstelle ökonomischer, fürsorgerischer, korporatistischer Vereindeutigungspraktiken, die sich aus der Deutung des „Strukturwandels“ als Krise der Qualifikation ergaben. Die Suche nach der Lernbehinderung schuf wiederum Spielräume der Aneignung, besonders auf Seiten des Ausbildungspersonals. Lernbehinderung vermessen

Mitte und Ende der 1960er Jahre breitete sich in den Ausbildungsinstitutionen der westdeutschen Industrie also eine neue Problemwahrnehmung aus. Wenn die „anormalen“ „Hilfsschüler“ das Produkt des 19. Jahrhunderts und der Industriegesellschaft waren,112 konstruierten die Akteur:innen der westdeutschen Industrie den „Lernbehinderten“ als Korrelat der postindustriellen Gesellschaft. Nachdem der umfassend gebildete, polyvalente und mobile Facharbeiter der Zukunft das Licht der Welt erblickt hatte, gebar der „Strukturwandel“ – wie im Fall der „älteren Arbeitnehmer“ – dessen bildungsunfähigen Doppelgänger. Dahinter stand eine tiefgreifende Verschiebung der Kategorisierung sozialer Differenz. Lernbehinderung wurde als Abweichung von einer als Normalität definierten Anpassungsfähigkeit in engstem Bezug zum Wandel der Arbeit entdeckt.113 In kaum einer Branche gingen die Vereindeutigungsbemühungen in der Frage von Qualifizierungsimperativ und Begabungsverfall so weit wie im Bergbau.114 Die Berufsschullehrer der WBK orientierten sich zunächst an der Sonderpädagogik und luden – parallel zu ihren Diskussionen über kybernetische Pädagogik – Karl Josef Klauer zu ihrer Tagung 1967 ein. Dieser empfahl, die Ausbildung der „Lernbehinderten“ keineswegs als „humanitäres Anliegen“ zu betrachten.115 Die Ausgliederung der „Lernbehinderten“ diene der Effizienzsteigerung des Unterrichts „normaler“

112 Moser: Konstruktion; ebenso Michel Foucault: Die Anormalen. Vorlesungen am Collège de France (1974 – 1975) [1999], Frankfurt a. M. ³2013, der die Funktion der Norm nicht darin sieht, „auszuschließen oder zurückzuweisen“, sondern in einer positiven „Intervention und Transformation“ (S. 72). 113 Darauf weist Bösl: Politiken, S. 28 hin, ohne auf Lernbehinderung gesondert einzugehen. 114 Das Folgende basiert in Teilen auf Kellershohn: „Automatisierungsverlierer“. 115 Karl Josef Klauer: Probleme im Unterricht für Lernbehinderte, in: WBK (Hg.): Rationalisierung, S. 33 – 44, hier S. 33.

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Auszubildender. Allerdings stelle „die bloße Sonderung“ keine Leistung dar, sondern müsse mit einer weiteren Untergliederung von „Gleichheitsgruppen“ einhergehen.116 Dazu schlug Klauer den Bergbauausbildern und -lehrern vier Gruppen vor: die Jungarbeiter mit der „durchschnittlich höchste[n] Intelligenz“, die Volksschulabsolventen, die „etwas schwächer“ und „charakterlich schwierig[]“ s­ eien, aber „charakterlich, sozial oder intellektuell unauffällig[]“, die „verhinderte[n] Sonderschüler“, die wegen ihrer „intellektuellen Minderbegabung“ und der falschen Schulform doppelt geschädigt s­ eien, und zuletzt die Sonderschüler selbst, die „intellektuell und schulleistungsmäßig am schwächsten“ s­ eien.117 Während sich die Rationalisierung des Unterrichts zeitgleich auf die Fahnen schrieb, den Auszubildenden individuell zu betrachten, knüpfte Klauer an ältere Milieu- und Sozialhygienetheorien an und deutete Lernbehinderung als Sozialpathologie. Denn „Sonderschulkinder“ kämen aus „sozial niedrigeren Schichten“, aus „kinderreiche[n] Familien“ und hätten meist „arbeitslos[e], arbeitsscheu[e] oder kriminell[e]“ Väter.118 Diese Typologie beruhte für den Alltag der Berufsausbildung keineswegs auf einer sophistischen Unterscheidung – und dass Klauer diesen Vortrag hielt, war die Reaktion auf eine konkrete Frage der Berufsschulverwaltung im Bergbau. Nur drei Tage nach Klauers Vortrag und nach einer Lehrerkonferenz über den „Unterricht in Klassen für Lernbehinderte in den Bergberufsschulen“ stellte sich im Bergberufsschulvorstand das Problem der Klassenfrequenz in der Berufsschule.119 Bergjungarbeiterklassen wiesen bis zu ­diesem Zeitpunkt 20,3 Auszubildende pro Klasse auf. Die Lehrer schlugen dagegen vor, eine Frequenz „von 14 für lernbehinderte Schüler zu erreichen“.120 Zeitgleich ließen sich die Auszubildendenzahlen in Lehrlingsklassen erhöhen. Folglich verlangte der Bergberufsschulvorstand von der Geschäftsführung der Schulen, herauszufinden, w ­ elche Bergjungarbeiter „als echte Lernbehinderte anzusehen sind“. Für die „echten Lernbehinderten“ sei „eine Klassenfrequenz von 14 vorzusehen“, während die „anderen Bergjungarbeiter“ in die gewöhnlichen Auszubildendenklassen zu übernehmen ­seien.121 Diese Frage nach der „echten Lernbehinderung“ beschäftigte die WBK während der folgenden Jahre. Die zunächst zufriedenstellende Antwort begnügte sich pragmatisch – ähnlich wie im Fall der Kammern und des Jugenddorfwerks – damit, das

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Ebd., S. 34. Ebd., S. 35 f. Ebd., S. 37. Schliephorst: Niederschrift über die 30. Sitzung des Bergberufsschulvorstandes vom 19. Dezember 1967 im Sitzungszimmer der Westf. Berggewerkschaftskasse Bochum, 19. 12. 1967, in: montan.dok/ BBA 120/6015, S. 11. 120 Ebd., S. 8. 121 Ebd.

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schulische Abschlussniveau zu spiegeln. Die Evidenz der Lernbehinderung beruhte hier auf einer Übersetzung des institutionellen kulturellen Kapitals.122 „Inzwischen“, so berichtete die Geschäftsführung, „sind die Zahlen der echten Lernbehinderten bei den Bergjungarbeitern ermittelt worden“.123 Als „echte Lernbehinderte“ betrachtete sie „Schüler aus der Sonderschule (Hilfsschule) und die Abgänger aus der 5. Klasse der Volksschule“. Nach dieser Definition gab es „unter den 2612 Bergjungarbeitern 1637 Lernbehinderte“.124 Bis Ostern 1968 sollte eine darauf beruhende Umorganisation der Klassen (80 Klassen mit jeweils 14 „Lernbehinderten“ und 161 Klassen à 28 Auszubildende und Bergjungarbeiter) abgeschlossen sein. Darüber hinaus beschlossen die Vorstandsmitglieder – darauf wird unten zurückzukommen sein –, in den Berichten zur Entwicklung der Schülerzahlen „künftig die Zahl der Ausländer besonders anzugeben“.125 Offenkundig stellten diese Reform und diese Kategorisierungspraxis das bergbauliche Ausbildungs- und Schulpersonal nicht zufrieden. Auf einer Tagung im selben Jahr wandte sich der Geschäftsführer der WBK mit deutlichen Worten an das Lehrpersonal: Die „Nachwuchskrise“ sei dramatisch und auf die negative Wahrnehmung des Bergbaus zurückzuführen, in der dieser nur „als letzte Zufluchtsmöglichkeit für minderbemittelte Sonderschüler“ erscheine.126 „Mit Sonderschülern“ aber, so führte Franz-Rudolf Limper aus, sei auf Dauer kein Bergbau zu machen.127 Damit die Attribute des Bergarbeiters als „‚dumm, aber stark‘“ endlich in Vergessenheit gerieten,128 empfahl er, wissenspolitische Selektionsinstrumente einzuführen. Die Ausbildung könne verbessert und ihre Kosten reduziert werden, „wenn bereits in einem sehr frühen Stadium eine Auswahl derjenigen vorgenommen werden kann, die wirklich förderungswürdig sind“.129 Der Bergbau müsse weiter überlegen, wie in die „Ausbildungsstufen Filter eingeschaltet werden können“ und wie sich „rechtzeitig die Spreu vom Weizen scheiden“ lasse.130 Vor dem Hintergrund dieser Forderung erteilte auch Paul Schulte-Borberg, Vorstandsvorsitzender der WBK, der gerade 1 22 Vgl. Bourdieu: Kapital. 123 Appelbaum: Niederschrift über die 31. Sitzung des Bergberufsschulvorstandes vom 26. März 1968 in der Bergberufsschule Consolidation, Gelsenkirchen-Bismarck, 26. 3. 1968, in: montan.dok/ BBA 120/6015, S. 5. 124 Ebd. 125 Ebd., S. 10. 126 Franz-Rudolf Limper: Grußworte zur Eröffnung der Tagung, in: WBK (Hg.): Die Entwicklung des Menschen als Voraussetzung für das Lernen und Lehren. Fortbildungstagung der Lehrer an den bergbaulichen Schulen der Bundesrepublik. Bad Driburg 1968, Hagen o. J. [1968], S. 11 – 22. 127 Ebd., S. 20. 128 Ebd. 129 Ebd., S. 21. 130 Ebd.

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eingeführten Unterteilung eine Absage: Es zeige sich, „daß nicht das Schulentlassungszeugnis allein ein sicheres Bild über die Begabung des einzelnen gibt“.131 Die WBK stand also vor der Herausforderung, „objektive[] Maßstäbe zur Beurteilung der Leistung des einzelnen“ einzuführen.132 Das bedeutete in seinen Augen, „der Eignungsuntersuchung mehr Aufmerksamkeit zu widmen, als dies in der Vergangenheit allgemein üblich gewesen ist“.133 Was Schulte-Borberg in einem Moment vermeintlicher Flexibilitäts-, Deregulierungs- und Selbststeuerungsentwürfe vorschwebte, war eine bergbauliche Berufsausbildung als Panoptikum mechanisch vereindeutigter Begabung:134 „Im Mittelpunkt all’ dieser Bemühungen muß der junge Mensch stehen […]. Man sollte versuchen, ihn genau zu erkennen und zu beobachten, um ihn in gemeinsamer Beurteilung durch den Betrieb und die Schule auf einen ihm gemäßen Weg führen zu können.“ 135 Nach dieser Tagung – auf der auch Werner Boll ein Umschulungsprogramm vorstellte 136 – widmeten sich die Bergberufsschulen noch intensiver der Lernbehinderung. Die Lehrer besichtigten im Juli 1969 das BFW Heidelberg und hielten dort eine Vorstandssitzung ab, um sich – wie die Akteur:innen der Umschulungspolitik – bei den rehabilitationspädagogischen Wissensbeständen zu bedienen.137 Die Diskussion setzte sich fort: Zeitweise erörterten die Bergbauausbildungsverantwortlichen eine Stufenausbildung im Bergbau,138 sahen dann aber gesonderte Lehrpläne für „die große Zahl der Lernbehinderten […] als besonders wichtig“ an.139 Arthur Reek erhielt Ende 1968 den Auftrag, sich mit d ­ iesem „Problem“ zu beschäftigten. Zeitgleich bekam Lernbehinderung in der Schulstatistik eine neue Relevanz. Teilte die Monatsstatistik der Bergberufsschulen im November 1968 die Auszubildenden noch in Berglehrlinge und Bergjungleute auf, wurde sie im Januar 131 Paul Schulte-Borberg: Stand und notwendige Entwicklungen der Berufsausbildung im Ruhrbergbau, in: WBK (Hg.): Entwicklung, S. 103 – 114, hier S. 107. 132 Ebd., S. 113. 133 Ebd. 134 Vgl. klassisch Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses [1975], Frankfurt a. M. 152015, S. 251 – 288. 135 Schulte-Borberg: Stand, S. 114. 136 Werner Boll: Die überbetriebliche Bildungsarbeit im modernen Betrieb. Zeitgemäße Berufsausbildung unter Berücksichtigung des ökonomischen Strukturwandels, in: WBK (Hg.): Entwicklung, S. 91 – 102. 137 Vgl. Schliephorst: Niederschrift über die 37. Sitzung des Bergberufsschulvorstandes vom 2. Juli 1969 im Hause des Berufsförderungswerks in Heidelberg, 2. 7. 1969, in: montan.dok/BBA 120/6015. 138 Schliephorst: Niederschrift über die 33. Sitzung des Bergberufsschulvorstandes vom 7. Oktober 1968 im Gräflichen Kurhotel Bad Driburg/Westfalen, 7. 10. 1968, in: ebd. 139 Schliephorst: Niederschrift über die 34. Sitzung des Bergberufsschulvorstandes vom 3. Dezember 1968 im Sitzungszimmer der Westf. Berggewerkschaftskasse Bochum, in: ebd.

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1969 um die Kategorie „Bj-S (Lernbehinderte)“, also Bergjungleute mit Sonderschulabschluss, ergänzt.140 Gleichzeitig wurde auch in der Jahresstatistik der WBK für die Jahre 1969 bis 1974 die Kategorie der „Bergjungarbeiter“ in „­ Bergjungarbeiter“ und „Lernbehinderte Bergjungarbeiter“ geteilt.141 Neben einem Fortbildungsprogramm für Lehrer und Ausbilder in „Lernbehindertenklassen“ 142 präsentierte Reek im Februar 1969 einen Vorschlag, der sich zwar an ein „Stufenmodell“ anlehnte, allerdings einer binären Logik folgte.143 Um seinen Vorschlag durchzusetzen, verband Reek die Diagnose des Begabungsverfalls – wie es Schulte-Borberg gefordert hatte – mit einer Sprache der Sonderpädagogik und Intelligenzmessung. Rund 1500 Sonder- und 500 Volksschüler im Bergbau hätten eine „angeborene oder erworbene Intelligenzschwäche“ und ­seien damit „normalschulunfähig“.144 Die „Streubreite der Intelligenzminderung“ reiche von „‚fast normal‘“ bis „an die Grenze zur ‚Geistigen Behinderung‘ bei Jugendlichen, die nur noch ‚praktisch bildbar‘“ s­ eien. Neben die „große Gruppe der intelligenzschwachen Jugendlichen“ trete noch eine kleinere mit „Verhaltensstörungen“. Trotzdem s­ eien diese Jugendlichen „allgemeinbildungs- und bildungsfähig“ bis knapp unter die „‚Normallage‘“. Diese auch in der Stufenausbildung anzutreffende Proportionalisierung übersetzte er aber in die binär strukturierte Frage, „wie behinderte Jugendliche in ihrer Entwicklung zum Erwachsenen mit dem Ziel der Lebens- und Berufs­ bewältigung gefördert werden können“.145 Sein Modell folgte dem Ziel, „lernbehinderte“ von nicht „lernbehinderten“ Jugendlichen zu unterscheiden. Nach einem Berufsgrundschuljahr sollte Reek zufolge „unter dem Gesichtspunkt der Auslese“ eine binäre Klassenstruktur verfolgt werden:146 Während die „leistungsstärkere A-Klasse“ zu Betriebswerkern und Schlosserwerkern ausgebildet werden sollte, sah Reek für die „leistungsschwächere B-Klasse“ lediglich Helfertätigkeiten über Tage – also die am schlechtesten bezahlten und unpopulärsten Tätigkeiten – vor.147 140 Wilhelm Schnier: Monatsstatistik der Bergberufsschulen, 1968/69, in: montan.dok/BBA 120/6024. 141 WBK: Jahresbericht 1969, Herne o. J. [1970], S. 14. Ab 1975 erfolgte die Unterteilung in „Bergjungarbeiter (mit Hauptschulabschluß)“ und „Bergjungarbeiter (ohne Hauptschulabschluß)“. Vgl. dies.: Jahresbericht 1975, o. O. o. J. [1976], S. 166. Mit der unten erläuterten Reform von 1978 setzte sich die Bezeichnung Jungbergleute durch. Dies.: Jahresbericht 1978, o. O. o. J. [1979], S. 203. 142 Arthur Reek: Themenvorschläge „Ausgewählte Kapitel der Sonderpädagogik“ für ein Seminar im Rahmen einer Lehrerfortbildung für Lehrer in Lernbehindertenklassen der Bergberufsschule. Anlage zur 35. Vorstandssitzung, 15. 2. 1969, in: montan.dok/BBA 120/6024. 143 Ders.: Probleme zur Beschulung von Bergberufsschülern mit schlechtem Allgemeinbildungs­ abschluß. Anlage zur 25. Vorstandssitzung, 22. 3. 1969, in: ebd. 120/6015. 144 Ebd., S. 1. 145 Ebd., S. 1 f. 146 Ebd., S. 3. 147 Ebd., S. 4 f. Hervorhebung im Original.

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Die Frage der Zuteilung zu diesen Klassen stieß bei der Konferenz der Ausbildungsverantwortlichen im Herbst 1969 auf besondere Aufmerksamkeit. Wie könne die Schule, so Heinrich Schoene, Leiter der Planungsabteilung beim rheinland-pfälzischen Kultusministerium und ehemaliger Delegierter der Kultusministerkonferenz bei der OECD , in seinem Vortrag, ihrer Aufgabe gerecht werden, „jene Begabungen ‚herauszumendeln‘, die an dem einen oder anderen Arbeitsplatz gebraucht werden“?148 Auch hier bediente sich die wissenspolitische Suche nach dem Willen zur Umstellung eher der Sprache der Erbhygiene als der des Humankapitals. Die Antwort auf diese Frage kam aus Frankfurt. Rudolf Amthauer, Chefpsycho­ loge der Hoechst-Werke, bot den Bergberufsschulen die Instrumente, die sie brauchten, um sich von der in ihren Augen zu grobschlächtigen Unterscheidung von Lernbehinderung nach Schulzeugnissen zu befreien. In seinem Vortrag verknüpfte er seine Lesart des Strukturwandels mit weitreichenden bio- und wissenspolitischen Folgerungen. Zunächst wandte sich Amthauer gegen die Rede von der „Wissensexplosion“. Er habe sich mit den älteren Manuskripten, Berichten und Tagungen der Bergbauschulen auseinandergesetzt, in denen immer wieder die Namen „[Jean] Fourastier [!], [Colin] Clark, [Fritz] Kahn, [Norbert] Wiener […] strapaziert“ worden ­seien, ebenso wie die „Mitteilungen über den Wissenszuwachs in der Welt durch die Universität von Kalifornien“.149 Damit richtete sich Amthauer gegen die Annahme, ein niedriger Anteil an Vollzeitschülern im Alter von 15 bis 19 Jahren entspreche dem Zustand eines „Entwicklungslands“. Es sei vielmehr umgekehrt. Durch „mehr Vollzeitschüler ­dieses Alters“ würden westliche Gesellschaften immer mehr gefährdet sein, „Entwicklungsland“ zu werden. Ganze Länder litten an der „Überschulung“, sodass sie nicht mehr wüssten, was sie „mit den Überbildeten machen“ könnten.150 Gegen alle mit diesen Überbildungstendenzen verbundenen Versuche, die Pyramide als gesellschaftliches Ordnungsmodell zu ersetzen – sei es durch einen „Kreis“ oder eine „Zwiebel“ –, bestand Amthauer darauf, „daß die Pyramide doch ein ganz gutes Bild ist“.151 Da sich „alle Fähigkeiten“ nach der „Gauß’schen Kurve“ verteilen würden – und wenn man diese Kurve in die Vertikale stelle –, zeige sich eine gesellschaftliche Wahrheit: „Oben sind ganz wenige“, so Amthauer, „in der Mitte ist die breite Schicht“ und „unten sind wieder ganz wenige“, wobei er die „Ärmsten der Armen in die sogenannte breite Schicht“ aufgenommen wissen wollte.152 Natürlich 148 Heinrich Schoene: Die Schule der Zukunft, in: WBK (Hg.): Berufsbildung, S. 112 – 123, hier S. 115. 149 Rudolf Amthauer: Anforderungen an den Menschen in einer sich wandelnden Welt, in: ebd., S. 37 – 56, hier S. 38. 150 Ebd., S. 53. 151 Ebd., S. 42. 152 Ebd., S. 42.

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müssten die Menschen „mehr lernen und länger lernen“ – das Lernen dürfe die Hierarchie der Pyramide aber nicht gefährden. Die Normalverteilung nutzte Amthauer aber nicht nur als Argument, um seiner Meinung nach überzogene Bildungs- und Aufstiegsaspirationen zu unterbinden, sondern auch um zu begründen, „daß es nicht nur Altruismus ist, wenn wir uns um die Hilfsschüler besonders kümmern“.153 Bei Hoechst habe sich gezeigt, „daß diejenigen, die eine Lehre als scheinbar Dumme beginnen, sie als die Intelligenteren beenden“. Analog zum „zweite[n] Längenwachstumsschub“ der Körpergröße in der Pubertät entwickelten sich diese „retardierten Kinder“ auch „geistig[]“ verspätet. Hoechst suche also gezielt nach „retardierten Kindern von Sonderschulen und solchen, die die Volksschule oder das Gymnasium nicht geschafft haben“, und könne sich so sicher sein, „gute Mitarbeiter für die Zukunft zu gewinnen“.154 Eine gewisse Bildungsfähigkeit sei gegeben, so Amthauers für das ­Bergbaupersonal vielversprechende Botschaft, aber eben nicht so viel, dass gesellschaftliche und betriebliche Hierarchien dadurch gefährdet oder verändert würden. Amthauers Ausführungen blieben nicht ohne Widerhall. Einerseits lieferte er eine umfassende Deutung von Gesellschaft, Arbeit und „Strukturwandel“. Andererseits bot er ein Instrument, diese Ordnung der Ausbildung der Zukunft zu schaffen: den Intelligenz-Struktur-Test.155 Mit ­diesem Test versprach Amthauer nicht nur, ein globales Intelligenzniveau in einer Zahl zu kondensieren, sondern auch, „einen Einblick in die ‚Struktur‘ der Intelligenz“ zu gewinnen.156 Zu ­diesem Zweck hatte er neun verschiedene Aufgaben zusammengestellt – von der Satzergänzung bis zu Würfelaufgaben –, die Rückschlüsse etwa auf die „Beweglichkeit und Umstellungsfähigkeit im Denken“ (so für die Analogieaufgaben), die „geistige Bildungsfähigkeit“ (so bei Aufgaben, in denen es darum ging, taxonomische Gemeinsamkeiten ­zwischen zwei Substantiven herzustellen) oder auch den „Akzent im ‚Konkret-Praktischen‘“ (bei Satzergänzungsaufgaben) zulassen sollten.157 Diese neun Aufgabenbereiche – deren Deutung er, „weil die empirischen Daten fehlen“, nur als „grobe Richtung“ verstanden wissen wollte 158 – standen laut Amthauer in einem „gefügehaften Zusammenhang“, in dem „die Glieder hierarchisch geordnet sind“.159 Über

1 53 Ebd., S. 40. 154 Ebd. 155 Rudolf Amthauer: Intelligenz-Struktur-Test. I-S-T. Handanweisung für die Durchführung und Auswertung, Göttingen ²1953. 1970 veröffentliche Amthauer eine dritte, veränderte Auflage Vgl. Rudolf Amthauer: Intelligenz-Struktur-Test. IST 70, Göttingen ³1970. 156 Amthauer: I-S-T, ²1953, S. 5. 157 Ebd., S. 25 f. 158 Ebd. 159 Ebd., S. 5.

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diese Verbindung verband er sein System auratischer Wissenschaftlichkeit mit der Eindeutigkeit von Alltagswissen. Denn ordnete man die einzelnen Werte zu den neun Aufgaben in einem Graphen, der die Ausschlaghöhe nach Testteil zeigte, offenbarte sich die Alltagsrelevanz: Wenn die ersten vier Punkte (SE, WA, AN, GE) eines Profils wie die Strichführung eines M beginnen (also Tal-Gipfel, Tal-Gipfel), dann handelt es sich […] um eine mehr theoretische Begabung […]. Wenn dagegen die Strichführung der eines W entspricht (Gipfel-Tal, Gipfel-Tal), so haben wir eine mehr praktische Begabung vor uns […].160

Damit übersetzte Amthauer abstrakte Zahlen in das Alltagsverständnis der Lehrer und Ausbilder, was die Rezeption begünstigte – entsprach doch die Unterscheidung in „theoretische“ und „praktische“ Begabung dem Gegensatz, den sämtliche Ausbildungsexperten für die Zukunft der Arbeit in Automatisierung und Strukturwandel prognostizierten. Diese Möglichkeit, die Unterscheidung der Begabungen nach Schulzeugnissen hinter sich zu lassen, ergriffen die Bergbaulehrer sofort. Ab April 1969 und systematisch ab dem Schuljahr 1969/70 führte die WBK an verschiedenen Schulen, schwerpunktmäßig an der Schulstelle König Ludwig in Recklinghausen, einen Schulversuch für „lernbehinderte“ Auszubildende durch.161 Ab 1972 unterstützte das nordrhein-westfälische Kultusministerium den Versuch finanziell als ­Erprobung des Berufsgrundbildungsjahrs.162 Auf der Ebene der Vereindeutigungspraktiken imitierte der Versuch ein naturwissenschaftliches Labor, in dem Begabung und Bildbarkeit mechanisch-objektiv ohne Einfluss des Beobachtenden gemessen werden sollten. In einem Gestus der Pioniertat berichteten die Bergberufsschullehrer Otto Dembski und Rolf Wessel 1971, dass sich ab Februar 1969 endlich „eine kleine Gruppe“ des seit 1965 bekannten „Problems ‚lernbehinderte Schüler an der Bergberufsschule‘“ angenommen habe.163 Dazu richteten sie „einige Räume im Kellergeschoss des Schulhauses König 160 Ebd., S. 19. Die vier Punkte waren Satzergänzung (SE), Wortauswahl (WA), Analogien (AN) und Gemeinsamkeiten (GE). 161 Rolf Wessel: Berufliche Förderung von Jugendlichen, die das Ziel der Hauptschule nicht erreicht haben, durch Schule und Betrieb, in: WBK (Hg.): Fortbildungstagung der Lehrer an bergbaulichen Schulen und der Ausbilder in bergbaulichen Betrieben. Bad Driburg 1970, Hagen 1970, S. 52 – 54. 162 Franz-Rudolf Limper: Grußworte zur Eröffnung der Tagung, in: WBK (Hg.): Fortbildungstagung der Lehrer an bergbaulichen Schulen und der Ausbilder in bergbaulichen Betrieben. Bad Driburg 1972, Herne 1972, S. 5 – 9, hier S. 7. 163 Otto Dembski/Rolf Wessel: Bericht über den Schulversuch mit lernbehinderten Schülern an der Schulstelle König Ludwig der Bergberufsschule Mitte in Recklinghausen, 30. 4. 1971, in: montan.dok/​

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Ludwig zu einer Art Schulwerkstatt mit Werkplätzen für 16 Schüler“ her. Dieses improvisierte Labor erhielt von den Bergwerksgesellschaften Material und Werkzeuge. Hier experimentierten die Lehrer mit der Zusammenstellung von Leistungsgruppen – bei der Einrichtung nach Abschlussklassen. Allerdings habe sich „nach einem halben Jahr“ gezeigt, dass die „Zusammensetzung der Leistungsgruppen noch immer zu unterschiedlich war“.164 Der Schulversuch erweiterte folglich sein Einzugsgebiet und die Lehrer bildeten mithilfe des Intelligenz-Struktur-Tests „5 Leistungsgruppen“. Von diesen fünf Gruppen erhielt die „leistungsstärkste“ die Möglichkeit, sich auf die nachholende Volksschulabschlussprüfung vorzubereiten.165 Diese Gruppen schrieben die Verantwortlichen aber nicht fest, sondern verstanden die Werkstatt selbst von vornherein als Beobachtungsinstrument: „[N]ach kurzer Zeit“ stelle sich heraus, „ob neben der durch Test ermittelten Intelligenz auch das Wissen, das Wollen, der Ehrgeiz und die ethischen Qualitäten das Verbleiben des Schülers in der jeweiligen Gruppe rechtfertigen“.166 Die Kategorisierungspraktiken, die dem institutionellen kulturellen Kapital folgten, gaben die Ausbildungsverantwortlichen also zugunsten einer Vermessung des Auszubildendenkörpers auf. Trotz aller Inskriptionsgeräte und Begabungspurismen verzichteten sie aber nie auf den erfahrenen Blick des Ausbildenden auf nur scheinbar willkürliches Verhalten in der Werkstatt. Inhaltlich folgt der Schulversuch einer von der Körperlichkeit der Auszubildenden abgeleiteten Differenz ­zwischen manueller und kognitiver Begabung. Die „persönliche Veranlagung dieser Jugendlichen zu der manuellen Tätigkeit und Durchdringung“,167 wie der Antrag an das Land NRW verlautbarte, benötige kurze Unterrichtsstunden und einen „nahtlose[n] Übergang aus dem anscheinend spielerischen Tun zu der Wirklichkeit bergmännischer Arbeit“.168 Als Beispiel für diese Wirklichkeitsnähe und handwerklich-manuelle Tätigkeit diente der WBK ein Vogelhäuschen, das bereits im Wolfenbütteler Modell Günter Wiemanns in den 1950er Jahren dazu verwendet worden war, Jungarbeiter an „die industrielle Massenproduktion mit ihren technischen, wirtschaftlichen und menschlichen Problemen“ heranzuführen.169 Die schon dem Amthauer’schen Intelligenztest zugrunde liegende

BBA 120/6024, S. 1. 164 Ebd., S. 3. 165 Ebd. 166 Erfahrungsbericht über einen Schulversuch mit lernbehinderten Schülern an der Bergberufsschule Mitte, 18. 12. 1971, in: ebd., S. 4. 167 Antrag auf Genehmigung eines Schulversuchs mit lernbehinderten Schülern der Bergberufsschule. Schreiben an den Kultusminister des Landes NRW, 23. 5. 1972, in: ebd., Anhang 1, S. 3. 168 Dembski/Wessel: Bericht, S. 2. 169 Wiemann: Modell, S. 27.

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Differenz von kognitiver und praktischer Begabung lieferte auch die Richtschnur für die weitere Gestaltung des Unterrichts für die „Lernbehinderten“. Durch die „persönliche Veranlagung dieser Jugendlichen als motische [!] Typen“ sei etwa der Mathematikunterricht auf das Schärfste zu beschränken. Ein „systematischer Lehrgang des bürgerlichen Rechnens“, also die Behandlung mathematischer Probleme aus der bürgerlichen Haushaltsführung und dem Berufsleben, sei ausgeschlossen. Wegen der „geringen Rechenfertigkeiten“ könne der Unterricht auch „keinesfalls über das Prozentrechnen hinausgehen“.170 Folgte diese Unterscheidung noch einem strengen Korsett klassenbezogener Begabung, benötigte Lernbehinderung, um als Differenzkategorie eindeutig zu sein, auch eine verkörperte Zuschreibungspraxis.171 Neben der beständigen Beobachtung in der Werkstatt empfahlen die Bergschullehrer „Leibeserziehung […] mit Wettkämpfen und Spielen“, da diese „selbsterzieherisch und gemeinschaftsfördernd“ wirke.172 Darüber hinaus experimentierten sie mit Orff’schen Musikinstrumenten – Rasseln, Xylofonen, Trommeln –, die der Komponist Carl Orff als „Schulwerk“ seit den 1930er Jahren für die Erziehung in der Hitlerjugend und dem Bund Deutscher Mädel zu popularisieren versucht hatte und die sich nach 1945 in der Sonderpädagogik einiger Beliebtheit erfreuten.173 Die Verwendung solcher Instrumente stelle einen „neue[n], erfolgversprechende[n] Weg“ dar, „denn die rhythmischen und musikalischen Übungen […] sind ein Mittel, Verkrampfungen zu lösen und die Schüler in spielerischer Form zu exakter Konzentration zu führen.“ 174 In dem Maße also, in dem die Bergberufsschulen die institutionelle Kategorisierung zurückwiesen und zur Vereindeutigung auf quantitative Vermessungspraktiken zurückgriffen, lösten sie zwar Lernbehinderung als institutionelle Zuweisung auf, schrieben sie aber umso mehr fest. Desgleichen schuf die Vereindeutigung des Willens zur Umstellung wiederum einen neuen Vereindeutigungsbedarf: Die vermeintliche Abstraktion vom Körper des Auszubildenden zog eine neue, intensivere Aufmerksamkeit für diesen nach sich. Gleichzeitig zeigt ­dieses Kapitel, dass Wissenspolitik und der Versuch, Eindeutigkeit über den Willen zur Umstellung herzustellen, mit einer Vielzahl von Praktiken einhergehen konnten, die der schulischen Klassifikation folgen, die christlich-fürsorglich motiviert oder ebenso korporatistisch wie objektivistisch inspiriert sein konnten. Einig waren sich sämtliche Akteur:innen nur in dem Bestreben, Eindeutigkeit über den scheinbaren 1 70 171 172 173

Erfahrungsbericht über einen Schulversuch, S. 6. Vgl. Waldschmidt: Disability Studies, S. 15. Erfahrungsbericht über einen Schulversuch, S. 6. Michael H. Kater: Carl Orff im Dritten Reich, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 43 (1995), S. 1 – 35, zum Schulwerk S. 14 – 18. 1 74 Antrag auf Genehmigung eines Schulversuchs, Anlage, S. 3.

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Begabungsverfall herzustellen, in dem sich die Auszubildenden in zwei Gruppen schieden: die Ausbildungsfähigen und die „Lernbehinderten“. Diese Einhelligkeit war aber nicht von langer Dauer.

6.2 Von korporatistischen Versuchsordnungen zur Politisierung der Begabungsfrage Die Politisierung der Begabungsfrage durch DGB und IGM

Auffällig an der Auseinandersetzung um den Willen zur Umstellung Auszubildender in den 1960er Jahren bis in die frühen 1970er Jahre ist, dass die Gewerkschaften keine Rolle spielten – weder die IGM noch die IGBE, der DGB oder die GEW . Das oben geschilderte abwiegelnde Verhalten Brinkerts gegenüber dem bekannten Sonderpädagogen Klafki ist hochgradig aussagekräftig und kein Einzelfall. Erst im Oktober 1974 befasste sich die Abteilung Berufliche Bildung beim DGB -Bundesvorstand mit dem Phänomen Lernbehinderung. In einem Rundschreiben an alle mit der Ausbildung von Menschen mit Behinderung befassten Funktionärinnen und Funktionäre verlautbarte die höchste Gewerkschaftsinstanz für Bildungsfragen: „Der DGB verneint Sonderregelungen für Lernbehinderte nicht“. Er forderte nur „sorgfältige Prüfungen“, bevor die Gewerkschaften in den Kammern Sonderausbildungen zustimmten.175 Bis 1973/74 sahen die Arbeiterinnenund Arbeitervertretungen in der Frage der „Lernbehinderten“ beziehungsweise der Jungarbeiter keinen Handlungsbedarf. Als an sämtlichen Gremien beteiligte Akteurinnen – durch die Montanmitbestimmung war beispielsweise die IGBE in den Vorständen der Berufsschulen des Bergbaus paritätisch vertreten und auch die IGM befürwortete die Stufenausbildung – trugen sie in der Berufsausbildung, trotz allen Streits um deren Betriebsanbindung, sowohl anpassende als auch ausschließende wissenspolitische Praktiken und damit verbundene körperbezogene Bestimmungen von Differenz mit. Diese Haltung änderte sich mit dem Anstieg der Jugendarbeitslosigkeit ab 1973/74. In den Jahren 1974/75 kletterte diese erstmals über 5 Prozent und folgte damit dem Trend der „Rückkehr der Arbeitslosigkeit“.176 Für das Verhältnis von 175 DGB-Bundesvorstand. Abteilung Berufliche Bildung: Zur Information. Regelungen für Behinderte. Rundschreiben an die Vertrauensleute, die DGB-Vertreter in den Berufsbildungsausschüssen der IHKn, die DGB-Landesbezirke (Abt. Berufl. Bildung), die Berufsbildungsabteilungen der Gewerkschaften, 2. 10. 1974, in: AdsD 5/DGAW000450, S. 2. 176 Vgl. für die quantitative Entwicklung Thomas Raithel: Jugendarbeitslosigkeit in der Bundesrepu­ blik. Entwicklungen und Auseinandersetzung während der 1970er und 1980er Jahre ­(Schriftenreihe

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Arbeit, Differenz und Zukunft induzierte diese Arbeitslosigkeit, die zeitgenössisch als dramatisch wahrgenommen wurde, mehrere Entwicklungen. Zunächst hob sie wissenspolitische Aushandlungen und Bestimmungen des Verhältnisses von Arbeit und Begabung von der regionalen, lokalen und betrieblichen auf die Bundesebene. Wie schon für Krupp und das Gewerkschaftshandeln angedeutet, dominierten dabei Problematisierungen, die aus der ersten Rezession 1966/67 beziehungsweise aus noch früheren Strukturwandeldiskursen stammten. Die Jugendarbeitslosigkeit wirkte wie ein Katalysator für Debatten um, Versuche zu und Untersuchungen von Lernbehinderung. Zu Beginn der 1980er Jahre erschienen die ersten Bibliografien, die den wuchernden Lernbehinderungsdiskurs anhand der Beiträge über Sonderausbildungen und Ungelernte systematisieren sowie überschau- und handhabbar machen sollten.177 Die Ursache schien zu Anfang der 1980er Jahre – wenig erstaunlich – in der Explosion der Arbeitslosigkeitsziffern zu liegen.178 Darüber hinaus verschob sich in der westdeutschen Debatte um die Jugendarbeitslosigkeit, den Ausbildungsplatzmangel und die Reform des Berufsbildungsgesetzes beziehungsweise die Einführung des Ausbildungsplatzförderungsgesetzes (1976) auch der Modus der Evidenzherstellung und Objektivitätserzeugung.179 An die Stelle der Vermessung der Zukunftsfähigkeit trat eine Politisierung des Verhältnisses von Arbeit und Begabung. Sie ging mit einer Aufkündigung des tripartistischen Konsenses der Minderbegabung einher, der seit den späten 1950er Jahren im Bereich der Montanmitbestimmung geherrscht hatte. Zuletzt zog diese methodische Verschiebung auch eine inhaltliche Justierung der Vorstellungen von Differenz nach sich. Nach den moralisch-holistischen Eingliederungsidealen der 1940er und 1950er Jahre sowie den Versuchen, Begabung einem quantifizierenden Verständnis der Objektivität folgend zu vermessen, drängte einerseits eine neue sozialpädagogisch-

der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 105), München 2012, S. 12 – 22, insbes. S. 14 f. sowie insgesamt ders./Thomas Schlemmer (Hg.): Die Rückkehr der Arbeitslosigkeit. Die Bundesrepublik Deutschland im europäischen Kontext 1973 bis 1989 (Zeitgeschichte im Gespräch 5), München 2009. 177 Frank Braun: Die Diskussion um die Berufsausbildung der „Lernbehinderten“. Eine Bibliographie, München 1981; ders./Brigitte Gravalas: Die Ausbildung der jungen Ungelernten. Eine Bibliographie, München 1981. 1 78 Braun: Diskussion, S. 7. 179 Vgl. als Überblick zu den bildungspolitischen Debatten Raithel: Jugendarbeitslosigkeit, S. 117 – 124; zu den Debatten um das Berufsbildungsgesetz und den Spannungen z­ wischen SPD und Freier Demokratischer Partei (FDP ) um die Betrieblichkeit der Berufsbildung Marius Busemeyer: Wandel trotz Reformstau. Die Politik der beruflichen Bildung seit 1970 (Schriften aus dem MaxPlanck-Institut für Gesellschaftsforschung Köln 65), Frankfurt a. M. 2009, S. 79 – 106. ­Busemeyer erwähnt die Sonderausbildungen – geht aber von der Präexistenz der „Behinderte[n] und Benachteiligte[n]“ (S. 105) aus.

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kritische Milieubeobachtung in die Diskussion über Ausbildung und den Wandel der Arbeit. Während die IGM und ihre Jugendabteilung um die Abschaffung von persönlichen Beurteilungen in Ausbildungsbetrieben kämpften,180 bestand diese „subjektive“ Beobachtung unter umgekehrten Vorzeichen fort. Andererseits verloren als deutsch und männlich angesehene Arbeiterjugendliche damit ihr Aufmerksamkeitsmonopol. Zunehmend richtete sich der wissenspolitische Blick nun auf als nichtdeutsch und weiblich gelesene Jugendliche, deren Willen und Fähigkeit zur Umstellung ebenfalls zu bestimmen und zu steigern ­seien – allerdings weit davon entfernt, diesen Gruppen eine Gleichrangigkeit oder arbeitsbezogene Normalität zuzugestehen. Die Politisierung der Lernbehinderung und der Sonderausbildungen hatte zunächst wenig mit Gerechtigkeits-, Gleichheits- oder Demokratievorstellungen zu tun. Mit den Paragrafen 48 des BBiG und 42 b der Handwerksordnung hatte die große Koalition Ende der 1960er Jahre Möglichkeiten geschaffen, den Ausschließlichkeitsgrundsatz der Berufsausbildung zu umgehen. Dieser sah vor, dass Ausbildungen nur in vom BMWi anerkannten Berufen erfolgen durften. Es handelte sich dabei um eine Bestimmung, die sich ursprünglich gegen „Anlernberufe“ richtete. Beide Paragrafen sahen vor, dass die Kammern in ihren Bezirken Sonderausbildungsordnungen für „Behinderte“ erlassen konnten. Bei der Grenze, um die in den darauffolgenden Jahren gerungen wurde, ging es dementsprechend darum, ­welche Menschen unter den in diesen Paragrafen festgelegten Behinderungsbegriff fallen sollten.181 Blieben Menschen, bei denen die Zuschreibung anhand körperlich-medizinischer Kriterien vermeintlich objektiv hergestellt wurde, in der Auseinandersetzung außen vor, bildete die Lernbehinderung ein Politikum, da über die Techniken, die zu ihrer Hervorbringung nötig waren, keine Einigkeit erzielt werden konnte. Die Kammern beschäftigten sich bereits im Jahr 1973 eingehender mit dem Paragrafen 48 des BB iG. Der DIHT empfahl seinen Mitgliedern, da „Lernbehinderung“ nicht „eindeutig abgegrenzt“ sei, die „angesprochenen körperlich, geistig und seelisch behinderten Jugendlichen“ als „grossenteils mit den Entlassenen aus Sonderschulen identisch“ zu betrachten.182 Aufgrund der Kammerhoheit über die Sonderausbildungsreglungen entwickelte sich das Problem nach anfänglicher

180 Vgl. Andresen: Radikalisierung, S. 414 – 429. 181 Zur Geschichte des Behinderungsbegriffs, der sich in den 1960er Jahren gegenüber Begriffen wie „Krüppel“ oder „Schwachsinnige“ durchsetzte, vgl. Hans-Walter Schmuhl: Exklusion und Inklusion durch Sprache. Zur Geschichte des Begriffs Behinderung (IMEW Expertise 11), Berlin 2010, insbes. S. 82 – 91. 182 DIHT: Ausbildung von Lernbehinderten (§ 48 BBiG). Schreiben an die Industrie- und Handels­ kammern, 2. 5. 1973, in: Registratur der IHK Essen, 911 – 00/2, Bd. 1, S. 1.

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Zustimmung der Gewerkschaften schleichend. Im April 1975 meldete die Verwaltungsstelle Kiel der IGM in die Frankfurter Zentrale, dass sie sich angesichts der Arbeitslosigkeit der Jugendlichen „ohne Schulabschluß bzw. aus Sonderschulen“ angenommen habe.183 Die dortigen Mitglieder im Berufsbildungsausschuss der Kammer hätten eine Ausbildung zum Werkzeugmaschinenwerker durchgesetzt. Der Beruf basierte auf einem reduzierten Anforderungsprofil der Werkzeug­ macherausbildung. In Kiel hielten die Gewerkschaften diesen Weg für sinnvoll und hofften, dass das Modell auch auf andere Stellen und Kammerbezirke übertragen werden könne.184 Etwa zeitgleich, im August 1975, legitimierte die IGM im Bezirk Rheinland-Pfalz Sonderausbildungen in einem Tarifvertrag. Dieser sah eine gesonderte Bezahlung vor für „körperlich, geistig, seelisch behinderte oder aus anderen Gründen gehinderte Jugendliche, die für einen anerkannten Ausbildungsberuf nicht oder noch nicht ausgebildet werden können“.185 Während die IGM in Rheinland-Pfalz Behinderung zunächst als ein tarifpolitisches Problem der Bezahlung und Einstufung begriff und es so zu lösen versuchte, erließ das Ministerium für Wirtschaft, Mittelstand und Verkehr Baden-Württemberg 1975 mit dem Berufsbild des Fachwerkers im Maler- und Lackiererhandwerk erstmals eine Ausbildungsordnung, die sich dezidiert an Menschen mit Behinderung richtete.186 Im Februar 1976 führte der Berufsbildungsausschuss der IHK Düsseldorf auf Antrag der Gewerkschaftsseite die Berufsbilder Werkzeug­maschinenwerker, Bekleidungsteile-Näherin und Verkaufshilfe ein. In Düsseldorf wuchsen aber bereits die Zweifel. So erkundigte sich der örtliche DGB -Vertreter nach der „Auffassung des DGB Bundesvorstands“, weil verhindert werden müsse, „daß Arbeitgeber[,] um Kosten zu sparen, anstelle einer regulären Ausbildung die vorgenannten Ausbildungsgänge betreiben“ und so eine Bezahlung nach Tarif vermieden.187 Sonderausbildung und Behinderung waren damit auch in d ­ iesem Fall vornehmlich Gegenstand der Tarifpolitik. Ähnlich wie die Umschulung in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre zeichneten sich die Sonderausbildungen Mitte der 1970er Jahre also durch einen ­Wildwuchs 183 IGM. Verwaltungsstelle Kiel: Schreiben an die Abt. Berufsbildung des Vorstandes der IGM, 24. 4. 1975, in: AdsD 5/IGMA210150, S. 1. 184 Ebd. 185 IGM. Bezirksleitung Frankfurt a. M.: Erläuterungen zu dem vorliegenden Tarifvertrag. Tarifvertrag ­zwischen IGM und dem Verband der Pfälzischen Metallindustrie vom 28. 8. 1975, 2. 9. 1975, in: AdsD 5/DGAW000450. 186 Ministerium für Wirtschaft, Mittelstand und Verkehr Baden-Württemberg: Empfehlung für eine Regelung der Berufsausbildung Behinderter zum Fachwerker im Maler- und Lackiererhandwerk sowie zum Maler- und Lackiererfachwerker (Industrie). Erlass, o. D. [ca. 1975], in: ebd. 187 Hans Reymann: Schreiben des DGB-Vertreters im Berufsbildungsausschuss der IHK Düsseldorf an die Abt. BB des DGB-Bundesvorstands, 3. 2. 1976, in: ebd. 5/DGAW000452, S. 1 f.

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an Maßnahmen unterschiedlichster Provenienz aus.188 Eine Erhebung des DGB bei allen 73 Kammern der Bundesrepublik kam 1978 zu dem Ergebnis, dass es bundesweit 94 verschiedene Sonderausbildungen gebe, in denen im Juni 1978 1130 Personen ausgebildet würden, davon 350 in Berufsbildungswerken. Alle Zahlen müssten zwar „mit großem Vorbehalt versehen werden“,189 insgesamt zeige sich jedoch eine Konzentration auf Großbetriebe und die Metallindustrie. Führend war Stuttgart mit 186 Auszubildenden, davon 148 Metallwerker, gefolgt von Duisburg mit 160 Verträgen, davon 71 Betriebs- und 60 Metallwerker.190 Auch wenn diese relativen und absoluten Zahlen auf ein marginales Phänomen hindeuten, entsprach dies keineswegs der zeitgenössischen Wahrnehmung. Das vom Bundesausschuss für Berufsbildung mit einer Klarstellung der Situation beauftragte Zentralinstitut für Rehabilitationsförderung in Heidelberg kam etwa zu dramatischen Ergebnissen.191 Mit dem Fokus auf die Handwerkskammern stellte das Boll-Institut fest, dass die „meisten Handwerkskammern“ Sonderausbildungen anstreben würden, die Situation aber „über alle Handwerkskammerbereiche betrachtet[] sehr unterschiedlich“ sei.192 Hauptsächlich gehe es um Ausbildungsordnungen für „lernschwache Schüler“, worunter die meisten Kammern „Abgänger von Sonderschulen bzw. Abgänger der Grundschule ohne Schulabschluß“ verstünden. Das Problem bestehe nun darin – ein vor dem Hintergrund der Boll’schen Politik seit den 1960er Jahren naheliegender Schluss –, dass die Maßnahmen von einzelnen Kammern vorangetrieben würden, diese aber „überfordert“ ­seien, „weil der notwendige Erfahrungsbericht [!] fehlt“.193 Die Lösung könne nur in einer bundesweiten Expertenkommission liegen – und damit in einem Gremium, das in Form des Bundesausschusses für Berufsbildung zwar existierte, aus der Perspektive der Heidelberger Rehabilitationsstiftung aber nur unzureichend funktionierte. Mit dem Jahreswechsel 1975/76 übernahm der DGB zwar die Heidelberger Diagnose, kam aber zu einem entgegengesetzten Schluss. Anstatt ein überparteiliches Gremium verdienter Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler gemeinsam mit den Kammern und Wirtschaftsverbänden zu berufen, lud Otto Semmler 1 88 Bösl: Politiken, S. 264 geht von 80 Sonderreglungen in 37 Ausbildungsberufen aus. 189 Traute Pütz: Entwurf der Auswertung. Auswertung einer Befragung, 6. 6. 1978, in: AdsD 5/DGAW000451, S. 1. 190 Ebd., Tabellarischer Anhang. 191 Wolfgang Prill: Auswertung von Materialien zur Berufsausbildung von behinderten Jugendlichen. Rundschreiben an die Handwerksgewerkschaften, DGB Landesberufsbildungssekretäre, Vertrauensleute, Peter Sieben; Richard Zurmöhle, Referenten der Abteilung BB im Hause, Arbeiter-­Handwerk-Abteilung im Hause, 4. 8. 1975, in: ebd. 5/DGAW000450. 192 Zentralinstitut für Rehabilitationsförderung: Auswertungen von Materialien zur Berufsausbildung von behinderten Jugendlichen, o. D. [ca. Juli 1975], in: ebd., S. 2. 193 Ebd., S. 4.

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die für Berufsbildung zuständigen Referentinnen und Referenten der DGB Mitgliedsgewerkschaften – von der IGM über die IG Druck und Papier bis hin zur GEW  – zu einem „Arbeitskreis ‚Sonderausbildung für Behinderte‘“ ein. Als Gäste kamen ein BMA -Referent und eine Wissenschaftlerin aus dem Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB ) dazu.194 Auslöser auf gewerkschaftlicher Seite war die Sorge, überrumpelt zu werden und einem unaufhaltbaren Wachstum von Sonderausbildungen gegenüberzustehen. Diese Sorge war nicht unbegründet: Als im März 1976 das Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft zu einem Gespräch über „Maßnahmen für lernbehinderte Jugendliche“ lud, hatte der DGB -Vertreter Wolfgang Prill den anderen Interessengruppen wenig entgegenzusetzen. Prill empfahl, „dem BMBW unsere Vorstellungen zu den Fragen der Sonderformen der Ausbildung Behinderter in aller Breite“ darzulegen.195 Da zum Zeitpunkt des Gesprächs aber noch keine Position vorlag, sah er sich gezwungen, den geplanten Modellversuchen widerspruchslos zuzustimmen.196 Mahnte Prill noch, angesichts der Jugendarbeitslosigkeit die „normalen“ Jugendlichen nicht zu vergessen, fasste die DGB -Sonderausbildungskommission das Problem umgekehrt. „Entscheidend“ für die Einführung von Sonderausbildungen sei „die Definition des Begriffes ‚Behinderter‘“.197 Damit reagierten die Gewerkschaften auf zwei Modellversuche, die in den 1970er Jahren als Leuchtturmprojekte fungierten und gleichzeitig eine Politi­ sierung der Sonderausbildungsfrage anstießen: das „Düsseldorfer Modell“ und das „Nürnberger Modell“. Wie bereits in den 1960er Jahren im Duisburger Modell stellten beide zunächst korporatistische Sonderausbildungsversuche dar, die auf die Handwerkskammer (HWK ) Düsseldorf beziehungsweise den Deutschen Handwerkskammertag (DHKT ) zurückgingen. Beiden Modellen lag eine Wahrnehmung zugrunde, die derjenigen in den 1960er Jahren ähnelte. Die HWK Düsseldorf beispielsweise begründete ihren Vorschlag angesichts der „alarmierende[n] Ausmaße“ der Jugendarbeitslosigkeit mit einer eindeutigen Diagnose des 194 Otto Semmler: 1. Sitzung des Arbeitskreises „Sonderausbildung für Behinderte“. Einladungsschreibung zur Sitzung am 29. 1. 1976 an Traute Pütz, Wolfgang Prill, Willi Rothweiler, Emil Stolp, Siegfried Oliver Lübke, Heiner Flesch, 25. 11. 1975; in: ebd.; ders.: Ergebnisniederschrift über die Sitzung des Arbeitskreises „Sonderausbildung für Behinderte“ am 29. 1. 1976 in Düsseldorf, 2. 2. 1976, in: ebd. 5/DGAW000453. 195 Wolfgang Prill: Aktenvermerk betr.: Maßnahmen für lernbehinderte Jugendliche. a) Modell des DHKT zur Berufseingliederung und Berufsausbildung „Lernbehinderter“. b) Modellvorhaben der Handwerkskammer Düsseldorf für eine spezielle berufliche Qualifikation lerngestörter Jugendlicher. Hier: Gespräch beim Bundesminister für Bildung und Wissenschaft am 24. 2. 1976 in Bonn, 4. 3. 1976, in: ebd. 5/DGAW000450, S. 2. 196 Ebd. 197 Semmler: Ergebnisniederschrift, 2. 2. 1976, S. 2.

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Begabungsverfalls:198 Es gebe einen „hochsignifikanten Zusammenhang z­ wischen Sozialisationsdefiziten, gestörter Begabungsentfaltung, fehlender Ausbildungsmotivation und Jugendarbeitslosigkeit“.199 In einer Folge von „Berufsförderstufe“, „Berufseinführungsstufe“ und „Berufsfachstufe“ sollten „Lerngestörte“ sukzessiv auf eine Ausbildung nach Paragraf 42 b der Handwerksordnung für die „berufliche Bildung Behinderter“ vorbereitet werden. Jugendliche, die an dieser Stufe scheiterten, sollten direkt und ohne Ausbildung in Arbeitsverhältnisse übernommen werden. Als Ziel des Versuchs führten die Düsseldorfer Wirtschaftsvertreter die Empfehlungen der Bildungskommission des Deutschen Bildungsrats an, also eine Sammlung verschiedener Topoi der (Berufs-)Bildungsdebatten wie „Chancengleichheit“ und „Anpassungsfähigkeit an eine sich wandelnde Wirtschaft und Gesellschaft (Mobilität)“.200 Das „Nürnberger“ oder „DHKT -Modell“ folgte einer vergleichbaren Gliederung. Da die Begriffe „‚lerngestört‘ und ‚lernbehindert‘“ kaum zu trennen s­eien, wandte sich der Handwerksverband explizit nicht an „Jugendliche mit exogen-somatischen Auffälligkeiten“. In Abgrenzung zu einer solchen Vereindeutigung des Körpers ging es dem Verband um Jugendliche mit „Lernstörungen, -schwächen und -irregularitäten“ sowie um „Jugendliche mit (primär) Verhaltensauffälligkeiten und Milieuschädigungen“.201 Gemeint war auch hier eine Zwischengruppe von „unecht Behinderten“. Ein solches, in den 1960er Jahren übliches Vorgehen stieß Mitte der 1970er Jahre auf Widerstand. Hans Preiss, geschäftsführendes Vorstandsmitglied der IGM und verantwortlich für Bildungspolitik, wehrte sich gegen die Behauptungen des DHKT, es handele sich bei dem Nürnberger Modell um einen gemeinsamen Vorschlag von Handwerk, Arbeitsamt und Gewerkschaft. Er unterstellte, „daß durch die Behauptung, die Gewerkschaften hätten das Modell mitentwickelt, mögliche Kritik an d ­ iesem Vorhaben aufgefangen werden soll“.202 Die tarifvertragliche Lösung des Ausbildungs- und Begabungsproblems sei außerdem ausreichend. Auch Maria Weber wandte sich für den DGB-Bundesvorstand empört an den DHKT-­ 198 HWK Düsseldorf: Denkmodell für eine spezielle berufliche Qualifikation lerngestörter Jugendlicher bzw. Jugendlicher ohne Ausbildungsvertrag. Schreiben an Heinz Kühn, o. D. [ca. 1975], in: LAV NRW-R, NW 714 Nr. 228, S. 1. 199 Ebd. 200 Ebd., S. 2; vgl. Deutscher Bildungsrat, Bildungskommission: Zur Verbesserung der Lehrlingsausbildung: verabschiedet auf der 19. Sitzung der Bildungskommission am 30./31. Januar 1969, Bonn 1969. 201 DHKT : Modell zur Berufseingliederung und Berufsausbildung „Lernbehinderter“ (Kurzdarstellung). Kurzmeldung zum Nürnberger Modell, 26. 1. 1976, in: AdsD 5/DGAW000450, S. 1, Anm. 1. 202 IGM Pressedienst: Hans Preiss: Keine gemeinsamen Modellarbeiten ­zwischen IG Metall und Handwerkskammertag. Pressemitteilung XXIII/224, 18. 12. 1975, in: ebd., S. 1.

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Präsidenten Paul Schnitker und an Josef Stingl. Zwar hätten sich die Gewerkschaften an der Ausarbeitung des Modells seit August 1974 beteiligt, hätten den Vorschlag aber als „als ein[en] Versuch zur Lösung der Probleme im Bereich der Behinderten angesehen“.203 Dabei sei der DGB davon ausgegangen, dass sich der Versuch auf „im eigentlichen Sinne Lernbehinderte“ und nicht auf „vorschnelle generelle Regelungen“ beziehe.204 Das gewerkschaftliche Dilemma bestand in der Dialektik von Inklusion und Exklusion sowie der Fluidität der Grenzen von Behinderung: Die Gewerkschaften standen Sonderausbildungen für Menschen mit in ihren Augen echten Behinderungen aufgeschlossen gegenüber und behandelten es im Sinne (und in der Zuständigkeit) der in die Gewerkschaftsstrukturen selbst eingebauten Orientierung an Problemgruppen, die vom Profil des männlichen Industriearbeiters abwichen.205 Dagegen weiteten die Initiativen auf Kammerniveau (ob sie nun von der Gewerkschaft oder den Unternehmen ausgingen) für die Gewerkschaft den Behinderungsbegriff – insbesondere den Lernbehinderungsbegriff – unzulässig aus. In den 1960er Jahren hatten die verschiedenen Gewerkschaften die Versuche zur Lernbehinderung noch mitgetragen. Nun sollte eine DGB-Kommission über die „Abgrenzung der Behinderten-Gruppen“ und deren „Verbindung zu dem Schul- und Bildungssystem“ entscheiden und eine gewerkschaftliche Grammatik der Differenz entwickeln.206 Ab März 1976 nahm auch eine „ad-hoc-Kommission Sonderausbildungsgänge für Behinderte“ der IGM ihre Arbeit auf.207 Die Gewerkschaften rangen sich zunächst zu einem Moratorium durch. Anfang Mai 1976 rief die IGM – „ohne sich zum jetzigen Zeitpunkt inhaltlich mit dem Problem einer Behindertenausbildung auseinanderzusetzen“ – alle Gewerkschaftsvertreterinnen und -vertreter in mitbestimmten Organen des Berufsbildungssystems dazu auf, keinen Sonderausbildungsordnungen mehr zuzustimmen.208 ­Vorangegangen

203 Maria Weber: Modell zur Berufseingliederung und Berufsausbildung Lernbehinderter. Schreiben an Paul Schnitker und Josef Stingl, 22. 12. 1975, in: ebd., S. 1. 204 Ebd., S. 1 f. 205 Eine Wissensgeschichte des Organisierens der Gewerkschaften stellt ein Desiderat dar. Die Partikulargruppenlogik spiegelt sich in den Abteilungen der Gewerkschaftsverwaltungen wider, etwa „Frauen“, „Jugendliche“, „Ältere Arbeitnehmer und Behinderte“, „Ausländer“ – also eine Struktur der Abweichung von der Norm des Facharbeiters. 206 Semmler: Ergebnisniederschrift, 2. 2. 1976. 207 Ulrich Mignon: Einladung. Schreiben an die Mitglieder der ad-hoc-Kommission „Sonderausbildungsgänge für Behinderte“, 25. 3. 1976, in: AdsD 5/IGMA210064. 208 Hans Preiss: Berufsausbildung Behinderter. Rundschreiben an Mitglieder der IGM in Berufsbildungsausschüssen der Industrie- und Handels- sowie der Handwerkskammern, an alle Verwaltungsstellen, Bezirksleitungen und Bildungsstätten sowie Vorstandsabteilungen der IGM, 5. 5. 1976, in: ebd., S. 1.

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war dieser Aufforderung ein – inhaltlich eindeutigerer – Beschluss des DGB-Bundesvorstands, der sich im April 1976 dagegen ausgesprochen hatte, dass „der Begriff ‚Behinderte‘ auch auf Jugendliche ohne Hauptschulabschluß ausgeweitet“ wird.209 In einem Rundschreiben bezeichnete der Dachverband es als „[p]olitisch besonders problematisch“, wenn „bereits Hauptschüler ohne Hauptschulabschluß als ‚Behinderte‘ eingruppiert werden“.210 Gleichzeitig kritisierte der DGB – sowie die IGBSE, die einen ähnlichen Aufruf verfasste 211 – den Begriff der Behinderung keineswegs grundsätzlich. Als Vorbild wies die Gewerkschaft einen Beschluss der IHK Stuttgart aus, laut dem „lernbehinderte Jugendliche in drei Gruppen eingeteilt werden“ könnten:212 „Lernbehinderte Jugendliche“, die eine „übliche Ausbildung“ durchlaufen könnten, ­solche, die neben einer regulären Ausbildung eine „Sonderberufsschule“ benötigen würden, und zuletzt Jugendliche, für die Sonderausbildungen und -abschlüsse nötig ­seien, „die ihrer Lernfähigkeit Rechnung tragen“.213 Darüber hinaus dürfe die Entscheidung darüber, wer als „lernbehindert“ zu gelten habe, nur von „Fachleuten“ gefällt werden – bedürfe also einer wissenschaftlich legitimierten Vereindeutigung.214 Die Gewerkschaften antworteten folglich mit einem eigenen wissenspolitischen Programm der Bestimmung der Anpassungsfähigkeit jugendlicher Auszubildender. Tarifpolitisch bedingt zogen DGB und IGM eine Wissenspolitik der Anpassung aber nicht in Betracht, da eine zu große Differenzierung nach Ausbildungsniveaus drohte, eine einheitliche Tarifpolitik zu unterlaufen. Uneinigkeit über das Verhältnis von Zukunft, Arbeit und Begabung herrschte aber nicht in der Frage, ob es Lernbehinderung gab oder nicht, sondern darin, wie diese festzustellen sei und wie die Berufsbildung angepasst werden sollte. Dass der DGB in seinem Aufruf wissenschaftliche Autorität anrief, steht allerdings weniger für eine Verwissenschaftlichung des Aushandlungsprozesses. Im Gegenteil stand die Aufkündigung des wissenspolitischen Konsenses der 1960er Jahre insofern für eine gegenläufige Tendenz, als sich die Bestimmung der Minderbegabung von einhelligen Experimental- und Interventionssystemen in korporatistische und tripartistische Gremien

2 09 DGB-Bundesvorstand: Beschluß, 8. 4. 1976, in: ebd. 5/DGAW000451. 210 DGB-Bundesvorstand. Abteilung Berufliche Bildung: Sonderregelung für die Berufsausbildung Behinderter. Rundschreiben an die DGB-Vertreter in den Berufsbildungsausschüssen, 30. 3. 1976, in: ebd. 5/DGAW000450, S. 1. 211 Köbele: Beschlußvorlage für die Ausbildungsordnungen für die Berufsausbildung Behinderter. Rundschreiben Nr. 12 des IGBSE Bundesvorstands, Abt. Berufsbildung-Handwerk-Junge Gewerkschafter, 25. 3. 1976, in: ebd. 212 DGB Bundesvorstand. Abteilung Berufliche Bildung: Sonderregelung, S. 1. 213 Ebd., S. 1 f. 214 Ebd., S. 2.

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verlagerte.215 Durch das Ende des experimentellen Konsenses wurde – zumindest auf Bundesebene – die Begabungsfrage eine Frage des politischen Kräftemessens. Lernbehinderung ­zwischen Bundes-, Landes- und lokaler Ebene

In Nordrhein-Westfalen sowie in den Ausbildungsinstitutionen der Schwerindus­ trie verliefen die Konfliktlinien aber nur bedingt deckungsgleich zur Bundesebene. Ebenso zeigte sich auf Seiten der Kammern und der Wirtschaftsorganisationen ein weniger einheitliches Bild, als es die Gewerkschaften in ihrer Wahrnehmung, von Sonderausbildungen überschwemmt zu werden, pflegten. Darüber hinaus folgte die Auseinandersetzung keineswegs homogenen Denkstilen oder festen Ideengebäuden – Wissenspolitik eröffnete vielmehr breite Spielräume der Aneignung und Ausdeutung.216 Sie zeichnete sich nicht durch Über- als vielmehr durch ihre Unterdeterminiertheit aus. Auf politischer Ebene betraf diese Heterogenität zunächst das Land NordrheinWestfalen. Die dortige Landesregierung verabschiedete, ähnlich wie die Landesregierung von Baden-Württemberg und während die Debatten auf Bundesebene und im Bundestag anliefen,217 bereits im Februar 1975 ein erstes Programm gegen Jugendarbeitslosigkeit.218 Als Begründung des Programms diente – einer Logik des regionalen Gleichgewichts folgend – eine Liste der „am stärksten betroffenen“ Arbeitsamtsbezirke „Wesel, Gelsenkirchen, Aachen, Dortmund, Bochum, Krefeld, Duisburg, Essen, Recklinghausen“, also außer Aachen und Krefeld Ruhrgebietsarbeitsämter.219 Details zum Qualifikationsniveau – 69 Prozent der Jugendlichen unter 20 Jahren hätten keine abgeschlossene Berufsausbildung – lagen auch nur für den Arbeitsamtsbezirk Gelsenkirchen vor.220 Während das SPD-geführte MAGS unter Werner Figgen die Gelegenheit nutzte, um über- und außerbetriebliche

215 Damit ergänzen diese Ausführungen die Beobachtung Lisa Pfahls, die für die Sonderpädagogik der 1970er Jahre von einem Verwissenschaftlichungsprozess ausgeht, in dem Lernbehinderung zunehmend „als erkennbar, feststellbar, klassifizierbar und prognostizierbar“ gedacht worden sei. Vgl. Pfahl: Techniken, S. 95. Diese Entwicklung stellte lediglich eine Facette dar. 216 Zum Fleck’schen Begriff des Denkstils als „Denkzwang“ und „Gesamtheit geistiger Bereitschaften, das Bereitsein für solches und nicht anderes Sehen und Handeln“ vgl. Ludwik Fleck: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv [1935]. Mit einer Einleitung hg. v. Lothar Schäfer/Thomas Schnelle, Frankfurt a. M. 102015, S. 85. 217 Raithel: Jugendarbeitslosigkeit, S. 65 – 69. 218 MAGS NRW: Programm gegen Jugendarbeitslosigkeit des Landes Nordrhein-Westfalen, 22. 1. 1975, in: LAV NRW-R, NW 679 Nr. 97. 219 Ebd., S. 2. 220 Ebd.

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Ausbildungseinrichtungen zu fördern, etwa Berufsbildungszentren in Münster, Bad Berleburg und Coesfeld,221 hielt sich das von Horst-Ludwig Riemer (FDP) geleitete Ministerium für Wirtschaft, Mittelstand und Verkehr zurück. MWMVStaatssekretär Adolf Graf wies einen Handlungsbedarf zurück. Es handele sich „überwiegend um Jugendliche […], die entweder kein Ausbildungsverhältnis eingehen wollen oder nicht vermittlungsfähig sind“.222 Die Jugendarbeitslosigkeit sei vielmehr „konjunkturell bedingt“ und kein Problem des Bildungssystems.223 Diente die mangelnde „Vermittlungsfähigkeit“ zum Jahreswechsel 1974/75 noch dazu, finanzielle Ansprüche zurückzuweisen, kehrte sich diese Verweigerungshaltung ein Jahr ­später im Anschlußprogramm zum Programm gegen Jugendarbeitslosigkeit des Landes Nordrhein-Westfalen um.224 Unter dem Rubrum „Zusätzliche Ausbildungsplätze für Schulabgänger ohne Hauptschulabschluß oder gleichwertigen Abschluß“ versprach das Programm auf „Anregungen aus der Wirtschaft“ 3600 Mark pro Ausbildungsplatz und Jahr. Für die Ausbildungsstellen sollten – soweit es sich „um lernbehinderte bzw. lerngestörte Jugendliche handelt[e], die unter den Behindertenbegriff fallen“ 225 – durch die zuständigen Kammern Sonderabschlüsse erlassen werden. Auch wenn das MAGS federführend mit dem Programm betraut war, wies Riemer gesondert auf die Bedeutung ­dieses Passus zur Steigerung der Anzahl betrieblicher Ausbildungsplätze hin, der bald unter dem Schlagwort Riemer-­ Programm Bekanntheit erlangen sollte.226 Eine Ausbildung auf „fachpraktische[m] Niveau“ sei am „besten geeignet“, die „berufliche Mobilität“ der Jugendlichen zu stärken.227 Unter dem „fachpraktischen Bezug“ verstand Riemer eine Ausbildung „für die Lernbehinderten und Lerngestörten auf der Grundlage des § 48 BBiG bzw. des § 42 b Handwerksordnung“ – und fügte hinzu: „Gegen eine extensive Auslegung dieser Bestimmungen werde ich keine Bedenken erheben.“ 228 Auf Seiten der Vereinigung der Industrie- und Handelskammern des Landes Nordrhein-Westfalen zeigte sich Hans Licht darüber allerdings enttäuscht. Auch wenn der Aufruf erwartet worden sei, habe er doch nicht zur Vereindeutigung 221 Ebd., S. 8. 222 Adolf Graf: Programm gegen Jugendarbeitslosigkeit. Schreiben an den Chef der Staatskanzlei, 7. 1. 1975, in: ebd., NW 862 Nr. 22, S. 1. 223 Ebd., S. 3. 224 Vgl. MAGS NRW: Anschlußprogramm zum Programm gegen Jugendarbeitslosigkeit des Landes Nordrhein-Westfalen vom 22. Januar 1975, 17. 2. 1976, in: ebd., NW 670 Nr. 97. 225 Ebd., S. 7. 226 Horst-Ludwig Riemer: Anschlußprogramm der Landesregierung zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit. Schreiben an die Vereinigung der IHKn des Landes NRW, 27. 2. 1976, in: thyssen­ krupp Konzernarchiv TNO/3430. 227 Ebd., S. 2. 228 Ebd.

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der Situation beigetragen, da „die Mitteilung, das Ministerium werde gegen eine extensive Auslegung des § 48 BBiG keine Bedenken erheben, recht schwach gefaßt ist“.229 Anstatt sich also auf die „Ausweitung des Behinderungsbegriffs“ zu stürzen, wie von den Gewerkschaften befürchtet, hielten sich die nordrhein-westfä­ lischen Kammern zurück und klopften das Programm auf interne Widersprüche ab: Die vom MAGS verfassten Abschnitte verlangten, monierte der Geschäftsführer der IHK Köln, Werner Mues, beim MWMV, es müsse sich um „lernbehinderte Jugendliche handeln […], die unter den Behindertenbegriff fallen“. Diese Forderung widersprach aber dem Aufruf Riemers zu einer „extensive[n]“ Auslegung des Lernbehinderungsbegriffs.230 Doch auch auf Rückfrage plädierte das MWMV für eine „extensive Interpretation“ des Behinderungsbegriffs, die sich nicht nach dem Schwerbehindertengesetz, sondern dem Schulabschluss richten solle.231 Die Ausbildungsordnungen, die die Kammern in NRW daraufhin für das Riemer-­Programm entwickelten – Schlosserwerker, Schweißwerker (bei der IHK Duisburg), Hüttenwerker, Büropraktiker, Verkaufshilfe, Lagerfachhelfer – beruhten, wie Ernst Cech (IHK Duisburg) und Rolf Speckmann (IHK Essen) versicherten, „auf den in Duisburg gemachten Erfahrungen bei der Entwicklung der neuen Ordnungsmittel“.232 Dass die Anforderungen zu hoch ­seien, schlossen sie unter Verweis auf die jahrelange Expertise aus Duisburg aus.233 Griffen die Kammern also auf die im Modus korporatistischer Entscheidungsfindung lokal gefundenen Grenzen der Bildbarkeit zurück, blieben sie angesichts der Ausweitung dieser Regelungen auf die Landesebene aber skeptisch. Sie unterbreiteten dem MWMV zwar die entwickelten Berufsbilder, warnten aber nichtsdestotrotz vor einem „Ausbildungsghetto“, das durch die Einführung einer niedrigeren Abschlussund Qualifikationsstufe entstehen könne.234 Ebenso sah Mues für den Arbeitskreis der Kammern „große Schwierigkeiten“, da der „Behindertenbegriff […] den

229 Hans Licht: Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit; hier: Anschlußprogramm der Landesregierung NRW; Bezug: KV-Rundschreiben vom 23. Februar 1976. Schreiben der Vereinigung der IHKn des Landes NRW an die Industrie- und Handelskammern und an den DIHT, 3. 3. 1976, in: ebd. 230 Werner Mues: Anschlußprogramm der Landesregierung zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit vom 17. 2. 1976 – Richtlinien zu Ziff. 4 des Programms. Schreiben der IHK Köln an HellmutDietrich Seiffert, MWMV, 29. 3. 1976, in: Registratur der IHK Essen, 911 – 00/2, Bd. 1, S. 1. 231 Hellmut-Dietrich Seiffert: Anschlußprogramm der Landesregierung zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit vom 17. 2. 1976. Richtlinien zu Ziff. 4 des Programms. Schreiben an Werner Mues, IHK Köln, 31. 3. 1976, in: ebd., S. 1. 232 Berufsbildungsreferentensitzung am 1. April 1976 in Mönchengladbach. Protokoll, 1. 4. 1976, in: Registratur der IHK Essen, 911 – 00/2, Bd. 1, S. 7. 233 Ebd. 234 Werner Mues: Anschlußprogramm der Landesregierung zur Bekämpfung der Jugendarbeits­ losigkeit. Schreiben der IHK Köln an das MWMV, 5. 4. 1976, in: ebd., S. 2.

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unterschiedlichsten Interpretationen offen steht“.235 Es sei „umgehend“ zu klären, ob die im fehlenden Hauptschulabschluss „zum Ausdruck kommende Lernbehinderung mit dem Behindertenbegriff der Richtlinien identisch ist“.236 Um seine Ausführungen zu unterstreichen, verwies Mues auf einen Beitrag des mit dem DGB zusammenarbeitenden BMA -Referatsleiters für Berufliche und Medizinische Rehabilitation, Rudolf Grupp, der zwar den Kammern fehlende „Sachkenntnis“ und eine Beschränkung auf „intellektuell Minderbegabte“ attestierte, allerdings die allgemeine Bildbarkeitsannahme, die zu vertreten er den Gewerkschaften unterstellte, als „Vogel-Strauß-Politik“ zurückwies.237 In d ­ iesem Kompetenzstreit ­zwischen MWMV und MAGS beziehungsweise ­zwischen SPD - und FDP -geführten Ministerien, in dem die Grenze z­ wischen körperlich-geistiger Normalität und Devianz zum Spielball der Interessen wurde, handelten also auch die Kammern nicht als Agenten eines umfassenden Behinderungsbegriffs im Verwertungsinteresse menschlicher Arbeitskraft. Sie drängten vielmehr auf die Vereindeutigung der Begabungsfrage auf Landesebene, was zwar von lokalen Arrangements ablenkte, diese aber gefährden konnte. In den Ministerien fiel die Bilanz dementsprechend ernüchternd aus. Im April 1976 vermerkte die Staatskanzlei, dass das Anschlussprogramm gegen Jugendarbeitslosigkeit zufriedenstellend angelaufen sei – ausgenommen der von Riemer verantwortete Programmpunkt. Anstatt, wie von Riemer erhofft, 10.000 (Sonder-)Ausbildungsplätze zu schaffen, ­seien nur Anträge auf zehn bis 20 Plätze beim Düsseldorfer Regierungspräsidenten eingegangen. Die ebenfalls beantragten Subventionen für 350 Plätze im Rahmen des Düsseldorfer Modells ließen sich nicht unter dem Anschlussprogramm subsumieren. Riemer selbst machte für diese enttäuschende Bilanz die „ablehnende Haltung des DGB“ verantwortlich.238 Die Staatskanzlei sah darin aber eine „Fehleinschätzung des Wirtschaftsministers“. Es sei „politisch nicht vertretbar, die 17 % der Abbrecher von Hauptschulen und die weiteren 15 % der Abbrecher von Realschulen und Gymnasien ohne den dem Hauptschulabschluß gleichwertigen Abschluß als lerngestört und damit behindert zu bezeichnen.“ 239 Offenkundig reichte das Argument politischer Opportunität aus, um den Vorstoß Riemers zu delegitimieren. Die konzertierte Erprobung und Festschreibung der

2 35 Ebd. 236 Ebd., S. 2 f. 237 Rudolf Grupp: Berufliche Bildung Behinderter, in: Bundesarbeitsblatt (1976), 3, S. 89 – 94, hier S. 90 und 93; enthalten in: Registratur der IHK Essen, 911 – 00/2, Bd. 1. 238 Staatskanzlei NRW: Rücksprache bei Herrn Ministerpräsidenten; hier: Schreiben des Wirtschaftsministers an den Minister für Arbeit, Gesundheit und Soziales (Durchschlag an MP). Nachricht an den Staatssekretär, 26. 4. 1976, in: LAV NRW-R, NW 442, Nr. 64, S. 1. 239 Ebd., S. 2.

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Grenzen der Anpassungsfähigkeit fand also ihren Widerspruch in der politischen Sprache. Die Lösung, die das MWMV und das MAGS durch die Vermittlung der NRW-Staatskanzlei erreichten,240 löste das „Problem“ auch nicht, sondern entzog es nur dem Politischen, indem sie eine eindeutige Klärung der Lernbehinderungsfrage vermied. Riemer und Friedhelm Farthmann, seit Juni 1975 der Nachfolger Werner Figgens, einigten sich darauf, im Riemer-Programm ausschließlich „diejenigen Jugendlichen ohne Hauptschulabschluß und mit Eignung für einen anerkannten Ausbildungsberuf“ zu fördern, die „vor dem Jahr 1976 die Hauptschule verlassen haben“.241 Damit blieb die Frage, was ein „anerkannter Ausbildungsberuf“ ist (und wie entsprechende Personengruppen bestimmt werden könnten), unbeantwortet und wurde in die Mitbestimmungs- und Selbstverwaltungsorgane überwiesen. Dort wiederum, beispielsweise bei der IHK Essen, sahen die Mitglieder das Problem nicht so drastisch wie die Organe auf Bundes- oder auf Landesebene. „Es bringe nichts“, so führte der bei Krupp für die Stufenausbildung verantwortliche Hans Georg Bärsch aus, „sich nur an dem Begriff ‚Behinderter‘ zu stoßen“.242 Die Arbeitnehmervertreter monierten, den „Behindertenbegriff“ auf „jeden Hauptschüler ohne Abschluß anzuwenden“ bedeute, „ihm praktisch eine geistige Behinderung zu bestätigen“. Ein solches Vorgehen sei „sehr bedenklich“.243 Unter Verweis auf die „Erfahrungen des Duisburger Kreises“ fanden die Sonderausbildungen im Essener Kammerbezirk aber doch ihre Zustimmung.244 Auch wenn also auf allen drei Ebenen um denselben Gegenstand gestritten wurde – darum, wie die Grenze z­ wischen Bildbarkeit und Unbildbarkeit festzulegen sei –, boten sich jeweils verschiedene Handlungsspielräume. Gemein war allen Ebenen nur, dass alle Parteien von der Existenz einer exakten Grenze ausgingen – wo sie liegen sollte oder wie damit umzugehen sei, blieb Gegenstand strategischer Überlegungen und Aneignungen. Ähnliches galt auch für die Bundesebene. Während die Gewerkschaften öffentlichkeitswirksam ihre Mitarbeit an Modellversuchen abgesagt und die Genehmigung von Sonderausbildungen in den Kammern verweigert hatten, begab sich eine Abordnung des DGB nichtsdestotrotz im Juni 1976 nach Bayern, um das 240 Staatskanzlei NRW: Staatssekretärkonferenz vom 10. Mai 1976. hier: Anschlußprogramm gegen Jugendarbeitslosigkeit, formale Einigung der Minister, Aktenvermerk für den Staatssekretär, 10. 5. 1976, in: ebd., S. 1. 241 Staatskanzlei NRW. III A 5: Kabinettvorlage am 18. 5. 1976, hier: Ergänzung der Tagesordnung für die Kabinettvorlage des MWMV vom 14. 5. 1976; Anschlußprogramm gegen Jugendarbeitslosigkeit Punkt 4, Schreiben an Referat I A 3, 14. 5. 1976, in: ebd., S. 1. 242 IHK Essen: Auszug aus der Niederschrift über die Sitzung des Berufsbildungsausschusses vom 12. Mai 1976, in: Registratur der IHK Essen, 911 – 00/2, Bd. 1, S. 7. 243 Ebd., S. 5. 244 Ebd., S. 3.

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Nürnberger Modell zu begutachten. Das Resultat war verhalten positiv. Der Versuch könne „zur Beseitigung von Milieuschäden und Lernbehinderung beitragen“, wobei trotzdem noch zu klären sei, „nach ­welchen Kriterien ‚Behinderung‘ zu definieren“ sei und „nach w ­ elchen Kriterien die einzelnen Behinderungsarten kategorisiert werden können“.245 Trotz dieser faktischen Kooperation entwickelten sowohl DGB als auch IGM wie angekündigt eine Stellungnahme zu den Sonderausbildungen. Die Wahrnehmung der Gewerkschaften war klar: Unternehmen und Kammern wollten die Qualität der Ausbildung „mit Hinweis auf mangelnde Fähigkeiten der Jugendlichen“ herunterschrauben.246 In NRW habe der DGB den „Einbruch“ in die Berufsbildung durch das Riemer-Programm noch abwenden können.247 Jetzt sei aber eine grundsätzliche Lösung des Konflikts nötig: „Jugendliche ohne Schulabschluß sind keine behinderte [!] Jugendliche.“ 248 Wer sich für Sonderausbildungen einsetze, so die Unterscheidung der Arbeitnehmerinnen- und Arbeitnehmervertretung, „verstößt gegen die Interessen der wirklich Behinderten und schränkt ihre Berufsmöglichkeiten ein“.249 Einen ähnlichen Ton schlug auch die IGM an. Sie verwahrte sich gegen den Abbau „qualitativer Ausbildung“, um „‚Behinderten‘ in dieser Gesellschaft zu helfen“.250 Diese Position behielten die Gewerkschaften auch bis zur Veröffentlichung ihrer Stellungnahmen bei. Den Kern der gewerkschaftlichen Argumentation bildete die Unterscheidung ­zwischen „lernbeeinträchtigten“ einer- und „(lern-)behinderten“ Jugendlichen andererseits.251 Lernbehinderung sei nur ein Mittel des „Qualifikations- und Lohnabbaus“ unter Umgehung rechtlicher Bestimmungen.252 In einer internen Stellungnahme fügte die IGM Lernbehinderung in ein Narrativ des Klassengegensatzes ein, indem sie verkündete: „Noch immer werden die Kinder aus Arbeiterfamilien im Bildungssystem offen benachteiligt“ – sprich: mit dem Etikett der ­Lernbehinderung

245 Ergebnisbericht über das am 10. 6. 1976 in Nürnberg geführte Gespräch mit Vertretern des DGB zum DHKT-Modell zur Berufseingliederung und Berufsausbildung „Lernbehinderter“. Anonymes Protokoll, o. D. [ca. Juli 1976], in: AdsD 5/DGAW000452, S. 1 f. 246 DGB-Konzeption zur Berufsausbildung behinderter Jugendlicher. Anonymer Entwurf, o. D. [Juli 1976], in: ebd., S. 1. 247 Ebd., S. 2. 248 Ebd., S. 4. 249 Ebd., S. 7. 250 IGM. Abteilung Berufsbildung: Erster Entwurf einer Situationsanalyse zur Berufsausbildung ‚Behinderter‘, 14. 6. 1976, in: ebd. 5/DGAW000450, S. 11. 251 Zur Berufsausbildung behinderter und lernbeeinträchtigter Jugendlicher. Stellungnahme der IG Metall, in: Gewerkschaftliche Bildungspolitik 28 (1977), 2, S. 30 – 35; Zur Berufsausbildung lernbeeinträchtigter Jugendlicher und zur Berufsausbildung geistig und/oder körperlich Behinderter, in: ebd., S. 25 – 30. 252 Zur Berufsausbildung behinderter und lernbeeinträchtigter Jugendlicher, S. 33.

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versehen.253 Auch der DGB sprach in seinem Entwurf davon, dass es sich eigentlich um „‚Schulschädigungen‘“ handele, wobei diese scharfe Formulierung in der Veröffentlichung fehlte.254 Damit plädierten beide Gewerkschaften für eine bundes­ einheitliche Regelung, in der Behinderung in der arbeitsbezogenen Normalität praktisch nicht existierte. Gleichwohl waren diese Positionen auch in der Gewerkschaft strittig und auch die korporatistisch-lokalen Modelle der 1960er Jahre standen keineswegs in Verruf. In der IG-Metall-„ad-hoc-Kommission ‚Behindertenausbildung‘“ etwa erinnerte sich ein Mitglied daran, dass die „Werkerberufe“ nicht aus einem „Mangel an Ausbildungsplätzen“ entstanden ­seien.255 Vielmehr habe es in den Hüttenwerken „zu wenig geeignete Bewerber“ und nur „Abgänger[] von Sonderschulen und lernschwache[] Hauptschüler[]“ gegeben, denen durch die vereinfachte Prüfung als Former zumindest ein Abschluss ermöglicht worden sei. Diese Prüfung hätten die Jugendlichen „unter den normalen Bedingungen nicht bestanden“. Damit forderte der Gewerkschafter die IGM auf, auch auf die fürsorgende Dimension hinzuweisen.256 Offenkundig missfiel den lokalen Mitbestimmungsgremien die Vereindeutigung des Problems zu einer prinzipiellen Frage von Demokratie, Klassengegensätzen und Chancengleichheit. Ein GEW-Funktionär und Sonderpädagoge lobte zwar den Idealismus der IGM, wandte aber auch ein, die Gewerkschaften müssten sich angesichts der Unterscheidung in „echte“ und „unechte Lernbehinderte“ fragen, „wer künftig weniger qualifizierte bzw. nicht qualifizierte Berufe, die es immer gegeben hat und immer geben wird, ausüben soll“.257 Diese Unklarheiten in der gewerkschaftlichen Entscheidungsfindung rührten von den unterschiedlichen Logiken der Handlungsebenen her. Im September 1977 wandte sich etwa der Geschäftsführer des Kuratoriums der Deutschen Wirtschaft für Berufsbildung an die Mitglieder des Ausschusses für Fragen Behinderter des Bundesinstituts für Berufsbildung. Der Ausschuss befasse sich derzeit mit der 253 IGM. Abteilung Berufsbildung: Stellungnahme der IG Metall zur Berufsausbildung behinderter und lernbeeinträchtigter Jugendlicher, Oktober 1976, in: AdsD 5/IGMA210064. 254 DGB-Bundesvorstand. Abteilung Berufliche Bildung: DGB-Stellungnahme zur Berufsausbildung lernbeeinträchtigter Jugendlicher und zur Berufsausbildung geistig und/oder körperlich Behinderter. Entwurf einer Stellungnahme inkl. UN-Erklärung über die Rechte Behinderter von 1975, 10. 12. 1976, in: AdsD 5/DGAW000452, S. 1. 255 Helmut Nölling: Schreiben an die Abteilung Berufsbildung der IGM-Vorstandsverwaltung. Stellungnahme zur Ausarbeitung der ad-hoc-Kommission „Behindertenausbildung“, 18. 8. 1976, in: ebd. 5/IGMA210064, S. 2. 256 Ebd. 257 Karl Nolle: Stellungnahme zur Auffassung der IG-Metall zur Berufsbildung behinderter und lernbeeinträchtigter Jugendlicher, 11. 11. 1976, in: ebd., S. 2. Nolle war Direktor des Berufsförderungswerks des Landes Niedersachsen in Bad Pyrmont.

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„­ eindeutigen Klärung“ der Frage, wie sich „Behinderung“ definieren lasse.258 In den Unterhandlungen des Ausschusses sei erwähnt worden, dass in „strukturschwachen Regionen“ Sonderausbildungen zur Behebung der Jugendarbeitslosigkeit dienten, obwohl bei den Auszubildenden „keine Lernbehinderung festzustellen sei“. Da den Arbeitgebern entsprechende Fälle nicht bekannt s­ eien, bat er um Nachricht, falls s­ olche Sonderausbildungen durchgeführt würden.259 Otto Semmler wiegelte aber ab. Der DGB habe keine Möglichkeit, „Einzelfälle nachzuweisen“, und habe lediglich auf die „Gefahren“ des Missbrauchs hingewiesen, wenn „nicht konkrete Begriffsdefinitionen von Behinderung vorliegen“.260 Diese ausweichende Haltung, die Lernbehinderung als demokratietheoretisches Abstraktum behandelte und sie so politisierte, trug den korporatistischen Definitionen der Lernbehinderung auf lokaler Ebene Rechnung. Als sowohl IGM als auch DGB und IGBSE auf nationaler Ebene dazu aufriefen, Sonderausbildungen abzulehnen, traf in der Düsseldorfer DGB-Zentrale ein Brief aus Duisburg ein. Günter Schrul, der Duisburger Vorsitzende des DGB -Berufsfortbildungswerks und Unterstützer des Duisburger Modells, vertraute sich nach einem Gespräch mit „Koll. [Hermann] Kleinwegen“ von der August Thyssen-Hütte der Gewerkschaftsspitze an.261 Angesichts der Politisierung der Sonderausbildungsfrage trieben „große Sorgen um den Bestand der jahrelang mit Erfolg durchgeführten freiwilligen Behindertenausbildung“ die Duisburger Berufsbildungsverantwortlichen um. Als Vorsitzender des Berufsbildungsausschusses der Duisburger Kammer bat Schrul die DGB-Spitze um ein Gespräch, um den Bestand ­dieses lokal-korporatistischen Modells zu gewährleisten. Auch Hermann Kleinwegen klinkte sich in die Diskussion der „ad-hoc-Kommission ‚Behindertenausbildung‘“ der IGM ein und plädierte in einer ausführlichen Darstellung des Duisburger Modells für die „Richtigkeit abweichender Abschlüsse“,262 da „der Betroffene in der Regel weder die Voraussetzung noch die Fähigkeit besitzt, den Ausbildungsberuf von der Kenntnisseite und ggf. auch von der Fertigkeitsseite erfolgreich zu bestreiten“.263

258 Helmut Brumhard: Schreiben des Kuratoriums der Deutschen Wirtschaft für Berufsbildung an die Mitglieder des Ausschusses für Fragen Behinderter (AFB ) des BIBB , 20. 9. 1977, in: AdsD 5/DGAW 000445, S. 1. 259 Ebd. 260 Otto Semmler: Ausschuß für Fragen Behinderter. Schreiben des Kuratoriums der Deutschen Wirtschaft für Berufsbildung. Schreiben an Edmund Duda (im Hause), 5. 10. 1977, in: ebd. 261 Günter Schrul: Ausbildung Behinderter. Schreiben der Hauptverwaltung des bfw des DGB an Traute Pütz, DGB-Bundesvorstand, 18. 5. 1976, in: ebd. 5/DGAW000452, S. 1. 262 Hermann Kleinwegen: Schreiben an Walter Scherb, Abteilung Berufsbildung des IGM-Vorstandes, 6. 5. 1976, in: ebd. 5/IGMA210026, S. 1. 263 Ebd., Anlage, S. 7.

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Institutionalisierung der Lernbehinderung

Auch intern sorgten die Konflikte z­ wischen den Verbandsspitzen in Duisburg für Widersprüche. Denn infolge der Resolutionen und Konflikte auf Bundesebene wurde auch in den Räumen der IHK Duisburg über die Bedeutung des Begriffs der Lernbehinderung diskutiert. Ein Vertreter von Thyssen Niederrhein forderte, die öffentlichen Schulen besser auszustatten, so „daß es zu lernbehinderten bzw. lernbeeinträchtigten Jugendlichen erst gar nicht kommt“.264 Insgesamt könne eine Sonderausbildung „zu einer Diskriminierung der Jugendlichen führen“. In ­diesem Punkt erntete er vehementen Widerspruch von den Duisburger Schulvertretern, die insistierten, dass „es immer und auch in jedem Land der Erde Lernbehinderte bzw. Lernbeeinträchtigte geben werde“ und nun einmal einige „Menschen nichtreparable Schäden“ aufwiesen.265 In Duisburg setzte sich der korporatistische Behinderungsbegriff, der von seiner Unbestimmtheit lebte, schließlich durch. Die Duisburger Ausbilder begannen, für ihre Positionen zu werben, wohingegen das Problem im Bund unlösbar schien.266 Während sich also auf Bundesebene der Konflikt polarisierte, zeigten sich auf Ebene des Landes NRW große Aneignungsspielräume in der Frage nach dem Verhältnis von Arbeit und Differenz. Wurde Lernbehinderung so zum einen ein ministerialer Kompetenzstreit, überlappten zum anderen die lokale und die Landes­ ebene, sowohl auf Seiten der Kammern als auch bei den Gewerkschaften. Die lokalen wissenspolitischen Kompromisse aus den späten 1960er Jahren erwiesen sich dabei als bemerkenswert beständig und – im Falle der Werkerausbildungen im Land NRW, für die das Duisburger Modell als Blaupause fungierte – einflussreich. Die „Entwissenschaftlichung“ der Lernbehinderungsfrage verengte keineswegs die Handlungsspielräume der Akteur:innen, sondern verschob sie lediglich. 264 Hermann Giesen: Sitzung des Arbeitskreises „Berufe für Behinderte“ am 8. 11. 1977, 14.30 Uhr, bei der Niederrh. Industrie- und Handelskammer Duisburg-Wesel-Kleve zu Duisburg, Mercator­ straße 22/24, 4100 Duisburg 1, Besprechungsergebnis, 21. 11. 1977, in: SZAG-Konzernarchiv M 21.092.13, S. 2. 265 Ebd., S. 2. 266 Vgl. etwa die Wiederauflage der Duisburger Studie 1978. Duisburger Arbeitskreis „Berufe für Behinderte“: Studie, Ausgabe 1978; Winfried M. Muders: Ausbildung und Eingliederung von Lernbehinderten. Eine Modellmaßnahme der Duisburger Industrie, in: Merkblätter für Ausbilder in der Eisen- und Metallindustrie 23 (1977), 130, S. 593 – 596; Hermann Giesen/Wilfried Brüggemann: Förderung von Lernschwachen und Lerngestörten als betriebliche Bildungsaufgabe, Arbeitskreis 3, in: Kuratorium der Deutschen Wirtschaft für Berufsbildung (Hg.): 1. Tagung der Arbeitsgemeinschaft der gewerblich-technischen Ausbildungsleiter. 4./5. Oktober 1977 – Ludwigs­ hafen. Veranstaltungsberichte, Bonn 1978, S. 35 – 40; Dieter Postulart: Starthilfen für Benachteiligte. Wirtschaftsnahe Maßnahmen zur beruflichen und gesellschaftlichen Eingliederung von Problemgruppen im Kammerbezirk, in: Berufsbildungsfragen. Informationen für Ausbildungsbetriebe und Ausbilder der IHK Duisburg-Wesel-Kleve 13 (1978), 8, S. 1 – 3, enthalten in: Registratur der IHK Essen, 911 – 00/2, Bd. 1.

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Chancengleichheit, Körper und Alterität

Das letzte Beispiel – die Ablehnung des Lernbehinderungsbegriffs aufgrund seines diskriminierenden Charakters – deutet darauf hin, dass sich neben der Veränderung der Vereindeutigungs- und Evidenzpraktiken der Minderbegabung auch inhaltliche Verschiebungen der Wahrnehmung, Deutung und Herstellung des Verhältnisses von Arbeit, Differenz und Zukunft ergaben. Auf regionaler Ebene begann die WBK ihre wissenspolitische Agenda im bergbaulichen Ausbildungssystem in neue Begriffe zu kleiden. Im Oktober 1976 entbrannte im Vorstand der Bergberufsschulen eine Diskussion über die Nomenklatur der Differenz. In der ständig auftretenden Frage nach der Klassenaufteilung wurde nun „die Bezeichnung ‚Lernbehinderte‘ als abwertend und nicht ganz zutreffend“ eingeschätzt.267 Für die Zukunft sollte deshalb eine „zutreffende und wertfreie“ Benennung gefunden werden.268 Diese Kritik erwuchs aus den seit Ende der 1960er Jahre ablaufenden Schulversuchen zur Ausbildung „Lernbehinderter“ selbst. Diese einem quantifizierenden Objektivitätsverständnis entspringenden Maßnahmen boten angesichts der steigenden Jugendarbeitslosigkeit Mitte der 1970er Jahre eine ideale Verhandlungsmasse, um die WBK in den Reigen der Bemühungen um „Chancengleichheit“ und neue Ausbildungsplätze einzuordnen. Kritik an der „eindimensionale[n] Perspektive der Leistung“ regte sich in den Reihen der Lehrer selbst.269 Es gelte, dem „prozessualen Charakter von Leistung“ mehr Gewicht zu verleihen, argumentierte eine Arbeitsgruppe von Bergberufsschullehrern. Leistung sei nicht einfach „Resultat, als feststellbare Qualifikation“, sondern geprägt durch Faktoren wie die „Leistungsmotivation“ oder den „Sprachmodus“, durch „Begabung als Wechselprodukt ­zwischen genetischem Potential und Umwelteinflüssen“, durch „Lernbedingungen“ und durch „körperliche[] Disposition“. Damit wandten sie sich gegen die „Pseudoexaktheit“ der „Zensur als Ziffer“.270 Ebenso schlugen sie gegenüber den Intelligenztests zur Einstellung bei RAG und EBV leise kritische Töne an. Diese hätten zwar „Vorteile in ihrer Objektivität, Gültig­ keit und Zuverlässigkeit“, gleichzeitig sei aber den „Grenzen der Leistungstests“ Rechnung zu tragen: „Kreativität und Spontaneität“ ließen sich nicht prüfen.271

267 Schliephorst: Niederschrift über die 72. Sitzung des Bergberufsschulvorstandes vom 14. Oktober 1976 in der Schulabteilung Bergkamen/Oberaden der Bergberufsschule Ost, 14. 10. 1976, in: montan.dok/BBA 120/6019, S. 7. 268 Ebd. 269 Schmolke: Beurteilung von Eignung und Leistung in Bildungsgängen, in: WBK (Hg.): Fortbildungstagung der Lehrer an bergbaulichen Schulen und der Ausbilder in bergbaulichen Betrieben. Bad Driburg 1976, Herne o. J. [1976], S. 72 – 76, hier S. 72. 270 Ebd., S. 73. 271 Ebd., S. 75.

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Darin stimmten die Bergbaulehrer mit der in den 1970er Jahren anschwellenden Testkritik überein, in der das Argument, „daß Kreativität nicht getestet werden kann“, ein gängiges Instrument darstellte.272 Zugleich handelte es sich bei diesen Reflexionen mitnichten um eine Fundamentalkritik des Testens unter den Auspizien des „neuen Geist[es] des Kapitalismus“,273 denn apodiktisch hielt die Gruppe fest, dass sie den „Wert von Eignungs- und Leistungstests“ anerkenne.274 Bereits 1973 diskutierte eine Arbeitsgruppe über die Vereindeutigungsleistung von Eignungsuntersuchungen im bergbaulichen Schulwesen. Auch hier stellten die Lehrer „die wenig aussagekräftige Angabe des Intelligenz-Quotienten (IQ)“ fest.275 Die Kritik richtete sich aber weniger gegen Tests und Eignungsuntersuchungen an sich als vielmehr dagegen, dass die bislang in der Bergberufsschule eingesetzten Verfahren wie der Intelligenz-Struktur-Test „in den unteren [Leistungs-]Bereichen“ nicht erlauben, „stark genug zu differenzieren“.276 Damit plädierten die Lehrer dafür, mehr Fachpsychologen einzubeziehen. Die Testkritik lief also nicht auf weniger, sondern auf mehr und bessere Tests hinaus. Zum einen versuchte die WBK angesichts dieser Einwände die technisch hergestellte Evidenz zu stärken. Dazu diente beispielsweise die Teilnahme der WBK am Mehrmedienversuch Elektrotechnik/Elektronik des Bundesinstituts für Berufsbildungsforschung, das über den Einsatz von „Tonbildschauen“ und „Buchprogrammen“ eine Objektivierung der Lernleistung erreichen wollte.277 Um die „Lehr-Lern-Effektivität“ beurteilbar zu machen, wurde eine ganze Reihe an Tests aufgeboten: „Vorkenntnistest, Gedächtnistest, Konzentrationstest, Persönlichkeitstest usw.“ 278 Auch die Bemühungen des AROL um eine Rationalisierung des Unterrichts ordneten sich in diesen Zusammenhang ein. So führte die RAG zu Beginn der 1970er Jahre konzernweite Beurteilungsverfahren für Jugendliche ein, die „Leistungsmerkmale“ wie „geistige Beweglichkeit“ nicht nach Noten 272 So Carl G. Liungman: Der Intelligenzkult. Eine Kritik des Intelligenzbegriffs und der IQ-Messung [1970], Reinbek bei Hamburg 1973, S. 175. Vgl. geschichtswissenschaftlich Kössler: Suche, S. 128 f. 273 So das gängige Narrativ der „Künstlerkritik“ vgl. Boltanski/Chiapello: Geist, S. 79 – 84. 274 Schmolke: Beurteilung, S. 75. 275 Höft: Möglichkeiten und Grenzen der Eignungsuntersuchungen der Nachwuchskräfte für Schule und Betrieb, in: WBK (Hg.): Fortbildungstagung der Lehrer an bergbaulichen Schulen und der Ausbilder in bergbaulichen Betrieben. Bad Driburg 1973, Herne o. J. [1973], S. 87 – 90, hier S. 89. 276 Ebd., S. 90. 277 Schliephorst: Niederschrift über die 70. Sitzung des Bergberufsschulvorstandes vom 23. März 1976 in der Schulabteilung Hamborn der Bergberufsschule West, 23. 3. 1976, in: montan.dok/ BBA 120/6019, Anlage II, S. 2. 278 Gerhard von Kügelgen: Bericht über den bisherigen Stand des Modellversuchs MME-Projekt, Juni 1974, in: ebd. 120/6026, S. 3 und 6.

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oder Skalen, sondern entsprechend ihrem Verhältnis zum (imaginierten) Durchschnitt konzipierten.279 Zum anderen änderte sich die Sprache, mit der die Bergbauverantwortlichen den Willen zur Umstellung beschrieben. Bereits in den Bericht zum Mehrmedienversuch mischten sich skeptische Nuancen, die die „Abhängigkeit der Leistungsfähigkeit des Lehrsystems von psychologischen und sozialen Einflüssen“ feststellten.280 Auch hinsichtlich der Lernbehinderung änderte sich die Vorstellung von Differenz. So formulierte ein Dortmunder Bergberufsschullehrer im Mai 1976, das Ziel der „Unterweisung ‚Lernbehinderter‘“ sei es, „Motivationshilfen zu geben“, um Jugendliche dazu zu bringen, „zielgerichteter, selbstsicherer zu handeln“, und ihnen „‚Chancengleichheit‘ zuteilwerden zu lassen“.281 Ausdruck und Katalysator dieser Verschiebung war die Gründung eines Pädagogischen Dienstes bei der WBK im Jahr 1976.282 Mit Udo Butschkau stellte die WBK einen Pädagogen als Leiter ein, der sich bereits in seiner Dissertation mit kompensatorischer Erziehung und „Randgruppen“ befasst hatte – und besser in das Bild Mitte der 1970er Jahre zu passen schien als Rudolf Amthauer, Intelligenztests und mechanische Objektivität.283 In Butschkaus Duktus widmete sich der Pädagogische Dienst der Aufgabe, „gesellschaftliches Begabungspotential“ besser als bisher zu „entwickeln und auszunutzen“.284 Dazu dienen sollten eine „Gleichheit von Bildungschancen“ und folglich „Anstrengungen auf dem Gebiet der kompensatorischen Erziehung für bildungsmäßig benachteiligte Gruppen […].“ 285 In d ­ iesem Zuge verkehrte sich die Wahrnehmung der Minderbegabung durch die Berufsschullehrer: Bedrohte diese vormals die Zukunft eines ganzen Industriezweigs, kehrte nun ein Narrativ der Fürsorge und der Eingliederung in die Auseinandersetzung um die Auszubildenden zurück. Der moralische Holismus wurde unter umgekehrten Vorzeichen reaktiviert. Mit dem Pädagogischen Dienst stellte die WBK gleichzeitig ihre Versuche zum Unterricht mit „Lernbehinderten“ in einen neuen Kontext. Durch eine ­umfangreiche Förderung durch die Bund-Länder-Kommission für ­Bildungsplanung 279 Wiethölter: Verfahren und Möglichkeiten zur Objektivierung von Leistungskontrollen, in: WBK (Hg.): Bad Driburg 1973, S. 72 – 75. 280 Schliephorst: Niederschrift über 70. Sitzung, Anlage II, S. 2. 281 Dies.: Niederschrift über die 71. Sitzung des Bergberufsschulvorstandes vom 19. Mai 1976 in der Bergberufsschule Ost, Dortmund, 19. 5. 1976, in: montan/dok BBA 120/6019, Anlage II, S. 1. 282 WBK: Pädagogischer Dienst. Stabsabteilung für die bergbaulichen Schulen. Organisation und Schwerpunkte 1976 – 1978. Tätigkeitsbericht. Anlage zur 82. Vorstandssitzung, 29. 1. 1979, in: ebd. 120/6021. 283 Udo Butschkau: Kompensatorische Erziehung in Randgruppenmilieus. Modellentwurf einer pragmatischen Alternative zur institutionellen Erziehung im Primarbereich, Diss., Dortmund 1974. 284 WBK: Dienst, S. 3. 285 Ebd.

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und ­Forschungsförderung lancierte sie ab 1976 einen neuen Modellversuch zur „Entwicklung und Erprobung von Alternativen zum herkömmlichen Berufsschulunterricht für Abgänger aus Hauptschulen ohne Hauptschulabschluß und aus Sonderschulen für Lernbehinderte“.286 Zwar knüpfte d­ ieses Vorhaben rhetorisch an den „Schulversuch König Ludwig“ an, Butschkau verkündete aber demonstrativ, dass der Kreis der in Frage kommenden Schüler „mit dem Terminus ‚Lernbehinderte‘ nur unzureichend und diskriminierend bezeichnet wird“.287 Anstatt auf die Rationalisierung der Bildungsarbeit, die Erschließung von Nachwuchs und die Selektion geeigneter Jugendlicher abzuzielen, wählte Butschkau ein Register des Verhaltens, der Sozialpädagogik und der Eingliederung: Gegen „Motivationsverlust[]“ und „Schulmüdigkeit“, gegen „Verhaltensauffälligkeiten“ und „intellektuelle[] Defizite[]“ sowie angesichts des mangelhaften „Beherrschen[s] von Kulturtechniken“ und der „negativen Selbstkonzeption der Betroffenen“ s­ eien neue Formen des Berufsschulunterrichts und der Ausbildung zu entwickeln.288 Diese inhaltliche Verschiebung in der vereindeutigenden Sprache beruhte auf einer Allianz mit der Sonderpädagogik. Auf der Tagung des bergbaulichen Lehrpersonals im gleichen Jahr bildeten sich mehrere Arbeitskreise, die sich mit „Lernbehinderung“, mit entsprechenden „Ursachen, Diagnosen und pädagogischen Maßnahmen“ oder auch mit dem „Erziehungsverhalten im Umgang mit Lernbehinderten“ auseinandersetzten.289 In der ersten Arbeitsgruppe verabschiedeten sich die Bergberufsschullehrer in der Diskussion mit Anton Reinartz, Inhaber des Lehrstuhls für Heilpädagogik an der Pädagogischen Hochschule Ruhr in Dortmund,290 von einem reinen Intelligenzbegriff und weiteten die Beobachtung des Schülers im Namen kompensatorischer Ansätze auf das Verhalten und das Milieu aus.291 Die „mehr oder weniger eindeutigen, meßbaren Merkmale[] der Behinderung“ und deren Beschreibung s­ eien nicht ausreichend, „um den komplexen Tatbestand der Lernbehinderung“ zu erklären.292 Neben die „­ medizinisch[]-psychische[]“ 286 Udo Butschkau: Vorstellung des Modellversuchs „Entwicklung und Erprobung von Alternativen zum herkömmlichen Berufsschulunterricht für Abgänger aus Hauptschulen ohne Hauptschulabschluß und aus Sonderschulen für Lernbehinderte“. Anlage zur Vorstandssitzung Nr. 72, 14. 10. 1976, in: montan.dok/BBA 120/6019. 287 Ebd., S. 1. 288 Ebd., S. 1 f. 289 Vgl. WBK (Hg.): Bad Driburg 1976. 290 In den 1950er Jahren hatte sich auch Reinartz mit quantitativen Testverfahren beschäftigt, so in seiner Dissertation Anton Reinartz: Die Differenzierung von Hilfsschülern mit psychodiagnostischen Verfahren, Diss., Köln 1956. 291 Katzmann: Arbeitskreis B 1. Lernbehinderungen – Ursachen, Diagnosen und pädagogische Maßnahmen, in: WBK (Hg.): Bad Driburg 1976, S. 37 – 46. 292 Ebd., S. 37.

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Dimension trete die „Lernbehinderung“ im „gesellschaftlichen Sinne“.293 Ein Kind, „das in der Schule, die ihrerseits geprägt ist vom Verhalten und von den Wertvorstellungen der Mittelschicht, als verhaltensgestört auffällt“, könne „in seiner gewohnten häuslichen Umgebung (z. B. in unteren Schichten und Randgruppen) völlig angepaßt und erfolgreich in seinem Verhalten sein“.294 Diese „Relativierung des Begriffes ‚Behinderung‘“ stellte aber keineswegs einen „Fortschritt“ im Sinne eines Übergangs vom Rehabilitationsparadigma zum „social model“ dar.295 Sie bedeutete vielmehr eine Multiplikation der Beobachtungsachsen und Variablen: Neben die Gruppe der „echte[n] Lernbehinderten“ trat diejenige der Jugendlichen mit „generalisierte[n] Lernstörungen“.296 Für erstere ­seien „ungünstige Erbfaktoren“ und „Hirnschädigung“ verantwortlich, ebenso wie sich eine ­solche Lernbehinderung körperlich manifestiere: Sie gehe einher mit „symptomatischen Verhaltensauffälligkeiten“ wie „Bewegungsstörungen“ und „leichte[r] Ablenkbarkeit“.297 Für letztere schrieben die Bergbergberufsschullehrer der „Unfähigkeit der Eltern“ und ihrer Ablehnung „der Schule als bürgerliche Bildungsinstitution“ Ursachencharakter zu.298 Im Sinne der „Stigmatisierungstheorie“ sei „[l]ernbehindert […], wer die Sonderschule besucht bzw. von der Sonderschule kommt“.299 Wenn also die quantitative Vermessung des Auszubildenden nicht mehr ausreichte, w ­ elche Beobachtungsachsen ergaben sich aus dieser Aneignung von Interpretamenten des Goffman’schen Interaktionismus und den Anklängen von Diskriminierungs- und Anstaltskritik?300 Aus dieser Veränderung der Perspektive, die, anstatt eine Anlage- und eine Umwelt-Position zu polarisieren, beide Pole addierte, resultierte eine Kritik, die die mangelnde Vereindeutigungsleistung von Intelligenztests durch noch mehr Tests kompensieren wollte. Die „Entscheidung über das Vorliegen einer Lernbehinderung“ könne praktisch „kaum vom Ergebnis eines Intelligenztests abhängig gemacht werden“.301 Es gebe bereits andere psychologische Instrumente, um auch „Motorik“, „Konzentrationsfähigkeit“ und 2 93 Ebd., S. 38. 294 Ebd. 295 So eine Erfolgserzählung der Disability Studies, etwa bei Monika Baár: De-pathologizing Disability: Politics, Culture and Identity, in: Neue Politische Literatur 62 (2017), S. 281 – 303. 296 Katzmann: Lernbehinderungen, S. 38 – 39. 297 Ebd., S. 40. 298 Ebd., S. 41. 299 Ebd., S. 41 f. 300 Vgl. Erving Goffman: Stigma. Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität [1963], Frankfurt a. M. 1967. Vgl. zur Anstaltskritik und zur „Öffnung der Anstalten“ Cornelia Brink: Grenzen der Anstalt: Psychiatrie und Gesellschaft in Deutschland 1860 – 1980 (Moderne Zeit 20), Göttingen 2010, S. 410 – 493. 301 Katzmann: Lernbehinderung, S. 44.

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„Sozialreife“ zu beobachten. Darüber hinaus s­eien auch „Verfahren der Verhaltensbeobachtung“ zu entwickeln, die es erlaubten, individuelles Verhalten im Unterricht zu beschreiben.302 Eine Folgerung, die die Bergbauausbildungsverantwortlichen daraus zogen, war eine neue Form körperlicher Objektivitätserzeugung. Sinnbildlich dafür war ein aufkeimendes Interesse am Sportunterricht. Stellte dieser in der Berufsbildung von den 1920ern bis in die 1950er Jahre ein beliebtes Instrument zur Inszenierung von Arbeitsfreude dar,303 spielte er in den Auseinandersetzungen um die Rationalisierung der Berufsausbildung oder die Identifizierung von Lernbehinderung keine Rolle, sondern verblieb in einer moralisch-holistischen Stabilisierungsfunktion „in einer Welt, ­welche Abartigkeiten und krankhafte Neigungen wie nie zuvor bei unseren Jugendlichen sichtbar werden läßt“.304 Vor allem die Wissenspolitik der Anpassung folgte einer Strategie der Desomatisierung, die versuchte, den sichtbaren Körper zu überwinden, um auf die reine Begabung, die reine Intelligenz zuzugreifen. Dieser Anspruch änderte sich unter den Auspizien einer Wissenspolitik des Ausschlusses. Bereits 1974 diskutierten die WBK-Lehrer „besonders beifällig“ und „lebhaft“ den Sportunterricht für „Lernbehinderte“.305 Bei diesen Personen s­eien „Individualsportarten, Kampfsportarten und technisch-taktisch komplizierte Sportarten“ ungeeignet. Dafür böten sich aber „Lockerung und Entspannung“ sowie die „Hinführung zu freudvollem Spielen- und Übenwollen in der Gemeinschaft“ an.306 In dieser „Gemeinschaft“ biete Sport, so hielt die Arbeitsgemeinschaft der Sportlehrer 1979 fest, ein Integrationsmittel für die „80 – 85 Prozent“ aller „Lernbehinderungen“, die sich auf nicht auf „krankhafte Ursachen“, sondern auf „Sozialschädigungen, Umweltschädigungen, Milieuschädigungen und soziokulturelle Defizite, auf einen gestörten Lernprozeß, der sich im Zusammenspiel von ererbter Anlage und äußerer Umwelt vollzieht“, zurückführen ließen.307 Dem Sportlehrer komme in

302 Ebd. 303 Vgl. Frank Becker: Vorsorgen oder Ausbrennen. Der Körper des Werktätigen und der „energetische Imperativ“ in der Weimarer Republik, in: Nicolai Hannig/Malte Thießen (Hg.): Vorsorgen in der Moderne. Akteure, Räume und Praktiken (Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 115), Berlin 2017, S. 191 – 212; Hau: Performance Anxiety, S. 49 – 83. 304 Nöll: Schule in Sport und Betrieb. Aufgaben und Möglichkeiten, in: WBK (Hg.): Fortbildungstagung der Lehrer an bergbaulichen Schulen und der Ausbilder in bergbaulichen Betrieben. Bad Driburg 1971, Herne 1971, S. 70 – 71, hier S. 70. 305 E. Böhringer: Lehrmethoden im modernen Schul- und Breitensport, in: WBK (Hg.): Fortbildungstagung der Lehrer an bergbaulichen Schulen und der Ausbilder in bergbaulichen Betrieben. Bad Driburg 1974, Herne o. J. [1974], S. 76 – 80, hier S. 79. 306 Ebd. 307 Ders.: Sport in der beruflichen Bildung, in: WBK (Hg.): Bad Driburg ’79. Fortbildungstagung für Lehrer und Ausbilder des Bergbaus, Bad Driburg 1979, Herne 1980, S. 37 – 44, hier S. 37.

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dieser Konstellation die Aufgabe zu, Differenz am Körper des Auszubildenden zu identifizieren, um für eine ausgeglichene Integration des Mikrokosmos der Auszubildendenklasse zu sorgen. Dazu führten die WBK-Sportlehrer ein Rollenspiel durch, in dem sie die Aufteilung von Schulklassen in Mannschaften übten. Während ein Teilnehmer den „autoritären Lehrer[]“ spielte, übernahmen zehn andere die Rollen der Schüler, bestehend aus: „einem ‚Star‘, einem Kämpfer/Holzer, zwei ‚Flaschen‘ (davon: ein Leichtbehinderter und ein ‚Eierkopf‘), einem Dicken und fünf ‚Mittlere[n]‘.“ 308 Das Rollenspiel diente dazu, Techniken der Gruppeneinteilung zu vermitteln, die verhindern sollten, dass „immer der Behinderte oder die ‚Flasche‘ bis zuletzt sitzen blieben“.309 Gesellschaftliche Differenzen wurden also durch das Lehrpersonal nicht nur körperlich beschrieben, sie wurden ebenso mimetisch nachvollzogen und eingeübt. Dieser Vorstellung einer Normalverteilung gesellschaftlicher Begabung entsprach ebenso ein neues Interesse für die Sprache und die Sprachfähigkeit der Auszubildenden. In ­diesem Bereich erwiesen sich die Berufsschullehrer und Ausbilder als fleißige Adepten des britischen Soziologen Basil Bernstein.310 Denn, so der Bericht über den Sportunterricht, Bewegung und Mannschaftsaktivitäten dienten der Herausbildung eines „gemeinsamen Zeichenvorrat[s]“, der den Gegensatz von „restringiertem“ (Unterschicht) und „elaboriertem“ (Mittelschicht) Code zu überbrücken helfe.311 Damit griff der Autor auf ältere Diskussionen in der Lehrerschaft zurück: Bereits 1974 hatte ein Arbeitskreis diskutiert, inwieweit „Jungarbeiter […] durch ihre Sprachbarriere behindert“ s­eien.312 Bei der Lernbehinderung handele es sich nämlich, so der Tenor d ­ ieses Berichts, um ein Vereindeutigungsproblem: „Man erkennt die Lernbehinderung kaum und vermutet den ‚normalen Menschen‘.“ Da er sich aber nicht artikulieren könne, bleibe er „ein Außenstehender, Namenloser oder […] ein ‚deutscher Neger der Nation‘.“ 313 Dadurch weitete sich das Augenmerk auf das „soziokulturell deprivierende[] Milieu“, das Jugendliche dazu bestimme, „schlechte, verhaltensauffällige Schüler und/oder Schulversager zu sein und/oder zu werden“.314 Die Diskussion 308 Ebd., S. 40. 309 Ebd. 310 Vgl. die auf Ulrich Oevermann zurückgehenden Übersetzungen Bernsteins ab den späten 1960er Jahren. Basil Bernstein: Soziale Struktur, Sozialisation und Sprachverhalten: Aufsätze 1958 – 1970 (Schwarze Reihe 8), Amsterdam 1970. 311 Böhringer: Sport, S. 42. 312 Trispel: Die Ausbildung Jugendlicher ohne Hauptschulabschluß, in: WBK (Hg.): Bad Driburg 1974, S. 39 – 44, hier S. 39. 313 Ebd. 314 Kruska: Arbeitskreis B 2. Erziehungsverhalten im Umgang mit Lernbehinderten, in: WBK (Hg.): Bad Driburg 1976, S. 47 – 54, hier S. 48.

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der Sprachbarrieren führte in einer Arbeitsgruppensitzung mit dem Frankfurter Soziologen Ulrich Oevermann zu einer linken Theorien entlehnten Phraseologie. Ein Lehrer der Bergberufsschule Mitte notierte zum Beispiel, der „elaborierte Sprachcode“ und die „hochsprachliche Norm“ s­eien „ideologiekritisch auf enthaltene Wertvorstellungen, auf Möglichkeiten verbaler Entschleierung, Manipulationstechniken und Herstellung kanalisierten ‚eindimensionalen‘ Denkens zu analysieren“.315 Unabhängig davon, aus welcher universitären und ideengeschichtlichen Richtung das Interesse nun kam: Einen Widerspruch z­ wischen der Rezeption kritischer Ansätze und ihrer umstandslosen Übersetzung in den Alltag einer Bergberufsschule sahen die Lehrer nicht. Gleichzeitig gerieten über ­dieses aufkeimende Interesse am Körper und an der Sprache auch „ausländische“ Jugendliche und die Kinder sogenannter Gastarbeiter in den Fokus. Auch in d ­ iesem Fall zeigt sich, dass der Wille zur Umstellung sowie die Mobilitätsförderung und -forderung in beide Richtungen wirken konnten: einerseits als Abwehr von Ausbildungs- und Aufstiegsansprüchen, andererseits als deren Beförderung. 1972 meldete die Gelsenkirchener Abteilung der RAG an die WBK eine Nachwuchskrise, die unter anderem auf die sich „qualitativ (s. Ausländeranteil und deutscher Nachwuchs)“ verschlechternde Belegschaft zurückzuführen sei.316 Obwohl bereits in verschiedenen anderen bergbaunahen Institutionen wie der Revierarbeitsgemeinschaft für kulturelle Bergmannsbetreuung über Bildungsmaßnahmen für „Gastarbeiter“ und deren Familien diskutiert und verschiedene Modelle erprobt worden waren,317 entdeckte das Lehrpersonal der WBK den „Ausländer“ erst Ende der 1960er Jahre und vor dem Hintergrund der Wahrnehmung des Begabungsverfalls. 1971 forderte etwa ein Arbeitskreis aus Lehrern und Ausbildern, „bei der Endauswahl der fremdsprachigen Mitarbeiter im Heimatland das Lernvermögen der Bewerber, also neben der Kenntnis des Lesens und Schreibens auch den Intelligenzgrad, wenigstens ebenso stark zu berücksichtigen wie etwa das ärztliche Gesundheitszeugnis“.318 Der Entdeckung der „Ausländer“ als Ausbildungssubjekte lag dabei ein Vereindeutigungsproblem zugrunde, in dem sich verschiedene Kategorien überlagerten: Zeitgleich zur Frage nach dem „Intelligenzgrad“ wurde ebenso die Frage aufgeworfen, „ob ausländische Schüler nur deshalb bereits Sonderschüler – also Lernbehinderte – sind, weil sie die deutsche Sprache nicht 315 W. Hardes: Probleme der sprachlichen Verständigung z­ wischen Lehrenden und Lernenden, in: WBK (Hg.): Bad Driburg ’79, S. 63 – 68, hier S. 67. 316 BAG Gelsenkirchen: Situation der Absolventen der Fachhochschule in der BAG Gelsenkirchen, 6. 12. 1972, in: montan.dok/BBA 120/6210, S. 8. 317 Vgl. Demiriz: „Gastarbeiter“. 318 Rudolph: Fremdsprachige Mitarbeiter in Schule und Betrieb, in: WBK (Hg.): Bad Driburg 1971, S. 66 – 69, hier S. 69.

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beherrschen“.319 Zugleich hatte diese Entdeckung der „Ausländer“ als Bedingung, dass die mechanische Objektivität der Begabungsmessung aufgegeben wurde und der Körper sowie das Umfeld der Auszubildenden in den Fokus gerieten. Der Ausbildung der Anderen lag eine orientalistische Beobachtung des Milieus zugrunde, nach der diese nur über „einen unterentwickelte[n] Wortschatz schon im Heimatland (man hat etwa 800 Worte registriert)“ verfügten sowie „ein zum Kollektivismus tendierendes Verhalten“ und so eine „Neigung zur Ghettobildung“ an den Tag legen würden.320 In der Hierarchie der Differenz war der „ausländische“ Auszubildende dem „deutschen Jungarbeiter“ noch nachgeordnet. Diese ambivalente Entdeckung entsprach auch der Wahrnehmung auf der Ebene des Landes NRW . Als sich die Arbeitsmarktkonferenz im Jahr 1975 mit der Jugendarbeitslosigkeit beschäftigte, spielten „ausländische“ Jugendliche eine wichtige Rolle. Ihre Bildungsfähigkeit wurde dabei zur Verhandlungsmasse, aus der verschiedene Folgerungen gezogen werden konnten. So sei der überproportionale Anteil „jugendlicher Ausländer“ an den arbeitslosen Jugendlichen darauf zurückzuführen, „daß viele jugendliche Ausländer berufsbildungsunfähig sind, weil sie in ihrem Heimatland nur lückenhafte Schulausbildung genossen haben […].“ Daher ­seien sie nicht in der Lage, den Hauptschulabschluss zu erreichen.321 Während Lernbehinderung also auf Bundesebene politisierbar war und auf Landes- und Verbandsebene in situative Interessenkonstellationen eingebunden wurde, verschoben sich innerhalb der Institution der WBK sowohl Form als auch Inhalt der Wissenspolitik: An die Stelle mechanischer Objektivität trat eine Evidenzerzeugung durch kritische Milieubeobachtung. Diese Verschiebung bedingte eine neue Aufmerksamkeit für die Körper und die Sprache der Auszubildenden, wodurch die „ausländischen Jugendlichen“ als neue problematisierbare Gruppe erschienen. Die Hinwendung zu einer Wissenspolitik des Ausschlusses wurde auf den verschiedenen Ebenen von Konflikten begleitet. Einer Institutionalisierung dieser Unterteilung standen diese jedoch nicht im Weg. Im Gegenteil: Die Konflikte bedingten lediglich verschiedene Kanäle, in denen eine omnipräsente Proble­ matisierung zu Berufsordnungen gerann.

319 Schröter: Das Zusammenwirken von Schule und Betrieb bei der Ausbildung ausländischer Nachwuchskräfte, in: WBK (Hg.): Bad Driburg 1973, S. 75 – 77, hier S. 76. 320 Ebd. 321 Karl-Gustav Werner: Programm gegen Jugendarbeitslosigkeit des Landes Nordrhein-Westfalen. Redeentwurf und Vermerk für den Herrn Minister für die Sitzung des Arbeitskreises „Arbeitsmarktfragen“ der Arbeitsmarktkonferenz am 20. Februar 1975, 11. 2. 1975, in: LAV NRW-R, NW 670 Nr. 97, S. 1.

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Institutionalisierung der Lernbehinderung

6.3 Die Institutionalisierung der Differenz: Hüttenwerker und Berg- und Maschinenmann als Sozialfiguren ausschließender Wissenspolitik Lernbehinderung und Lernbeeinträchtigung – ­Vereindeutigungsversuche der „Minderbegabung“

So einmütig, wie sich die Diskussionen im Bergbau ausnahmen, gestalteten sie sich in der Eisen- und Stahlindustrie, vor allem auf Bundesebene, keineswegs. Doch auch hier zeigten sich, bei allem Streit um die Umsetzung, geteilte Annahmen sämtlicher Konfliktparteien, die denen im Bergbau ähnelten und die sich durch die Auseinandersetzung zogen. Dabei handelte es sich zum einen um eine identische Perspektive auf die Körperlichkeit von Arbeit und entsprechende Anthropologien. Zum anderen stellte die Akzeptanz der Existenz von Lernbehinderung einen Konsens dar. Im Jahr 1978 ließen sich sowohl der Vorstand der IGM als auch der des DGB ihre Ablehnung der Sonderausbildungen auf ihren jeweiligen Gewerkschaftstagen offiziell sanktionieren.322 Diesen Beschluss nutzten die Gewerkschaftsvertreter im Berufsbildungsausschuss der Düsseldorfer Kammer, um die Zustimmung zu „verkürzte[n] Ausbildungen für Fantasietätigkeiten“ zu verweigern, da diese „den arbeitslosen Behinderten“ nur schaden würden.323 Der Präsident der Düsseldorfer Kammer, Friedrich Conzen, profitierte von dieser Verweigerung als willkommene Gelegenheit, einen Brief an die Vorstände von IGM und DGB zu verfassen, der wiederum eine Reaktion der IGM-Spitze nach sich zog.324 Im Oktober 1978 veröffentliche die IGM den Schriftwechsel, weil sie sich als Siegerin sah. Die nordrhein-westfä­ lischen Kammern hingegen einigten sich darauf, Zurückhaltung zu üben, da sie um ihren Ruf fürchteten.325 Paradoxerweise waren sich Conzen und Eugen Loderer, der 322 Der DGB beschloss auf Antrag des Landesverbands NRW, dass „Bildungsdefizite […] nicht dazu führen“ dürften, „daß Jugendliche als Behinderte eingeordnet werden.“ Vgl. DGB (Hg.): Protokoll. 11. Ordentlicher Bundeskongreß Hamburg, 21. bis 26. Mai 1978, Düsseldorf 1978, S. 400 (Antrag 328) und S. 402 (Protokoll). Für die Metallberufe: IGM (Hg.): Protokoll. Zwölfter ordentlicher Gewerkschaftstag der Industriegewerkschaft Metall für die Bundesrepublik Deutschland, Stadthalle Düsseldorf, 18. September bis 24. September 1977, Bd. 2: Entschließungen, Anträge, Materialen, Frankfurt a. M. 1977, S. 704 – 706 (Antrag 755). 323 Hans Reymann: Beschwerde über die Tätigkeit der Arbeitnehmer im Berufsbildungsausschuß der IHK Düsseldorf. Schreiben an Eugen Loderer, 29. 6. 1978, in: AdsD 5/IGMA210150, S. 2. 324 Siehe die Schreiben von Conzen vom 22. 6. 1978 sowie von Loderer und Hans Preiss vom 17. 7. 1978, in: AdsD 5/IGMZ720142 und in: Registratur der IHK Essen 911 – 00/2, Bd. 1. 325 Sonderausbildungsgänge für jugendliche Problemgruppen, in: Gewerkschaftliche Bildungspolitik 29 (1978), 10, S. 205 – 208; sowie zu Letzterem: Ergebnisniederschrift der Hauptgeschäftsführer-

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IGM-Vorsitzende, bemerkenswert einig. Conzen beschwerte sich, dass die Absicht, „für jugendliche Behinderte eine ihren Fähigkeiten entsprechende Berufsausbildung“ einzurichten, „am Widerstand der Arbeitnehmer“ scheitere.326 Gleichzeitig konzedierte er jedoch, dass es nur um „tatsächliche Behinderte“ gehe und dementsprechend „strenge Maßstäbe“ angelegt würden. Der Streitpunkt lag in der Art der Begabung selbst: Für Conzen stellte Sonderausbildung nach Paragraf 48 des BBiG „die einzige Möglichkeit“ dar, „praktisch begabten jungen Menschen“, die an „hohen theoretischen Anforderungen“ scheiterten, eine Ausbildung zu verschaffen – wobei er „praktische Begabung“ mit „Behinderung“ gleichsetzte. Loderer hingegen zog die Differenzlinie anders.327 „[M]ehr praktisch veranlagte[] Jugendliche[]“ hätten früher ohne Probleme eine Ausbildung in Berufen mit „geringeren theoretischen Anforderungen“ gefunden.328 Sie „zu Behinderten“ zu erklären führe sie aber nur ins „berufliche Abseits“. Loderer berief sich daher auf den Grundsatz „‚Fördern statt Selektieren‘“.329 Das wissenspolitische Differenzkriterium, auf das sich Gewerkschaften und Wirtschaftsvertreter also bei allen Streitpunkten einigen konnten, war die Unterscheidung z­ wischen körperlicher und nichtkörperlicher Arbeit sowie z­ wischen „praktischer“ und „theoretischer“ Begabung.330 Dass es diesen Unterschied gab, bezweifelte auch Loderer nicht. Ebenso fanden sich auch keine Aufrufe mehr, besonders zu skalieren oder auf ausgefeilte Techniken zurückzugreifen, um Arbeit und Begabung wechselseitig anzupassen. Die Unterscheidung in Hand- und Kopfarbeit und entsprechende Bildbarkeitsannahmen formten die Matrix, in der die Verbandsvertreter das Verhältnis von Arbeit, Differenz und Zukunft verhandelten. Diese Teilung stellte den Boden dar, auf dem um Durchführungen gerungen werden konnte. Nichtsdestotrotz versuchten Stimmen, die für andere Differenzlinien als für „behindert/nichtbehindert“ plädierten, Eingang in die Debatte zu finden. Diese stammten aus der universitären Sonderpädagogik, die durch die Position der Gewerkschaften ihre Daseinsberechtigung in Frage gestellt sah. Für die Sonderpädagogin Sieglind Ellger-Rüttgardt etwa stellte das Problem der „Unterqualifikation“ von „leistungsgeminderten und älteren Personen“ eine Universalie dar. Diese dränge lediglich „mit der aktuellen Wirtschaftskrise“ an die Oberfläche.331 In der s­ chwierigen besprechung der IHKn NRW am 15. August 1978 in Krefeld, 15. 8. 1978, in: Registratur der IHK Essen 911 – 00/2, Bd. 1. 326 Sonderausbildungsgänge, S. 205. 327 Ebd., S. 206. 328 Ebd., S. 207. 329 Ebd. 330 So auch Heinz Apel/Horst Biermann/Horst Schildt: Berufsausbildung und Behinderte, in: Gewerkschaftliche Bildungspolitik 29 (1978), 10, S. 208 – 223. 331 Sieglind Ellger-Rüttgardt: Zur aktuellen Problematik der beruflichen Bildung von Lernbehinderten. Kritische Anmerkungen anläßlich der Stellungnahmen des DGB und der IG Metall zur

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Situation, sich gegen die Gewerkschaften richten zu müssen, obwohl sie ihre „bildungs- und gesellschaftspolitische Zielsetzung“ an sich unterstütze,332 plädierte sie für eine stärkere Nuancierung z­ wischen einzelnen Stufen der Differenz. In ihren Augen ignorierten die Gewerkschaften die „Form der schwerwiegenden, umfänglichen und langdauernden Lernbehinderung“ und verfolgten eine Politik, in der es ­zwischen „‚Lernbeeinträchtigung‘ und geistiger Behinderung […] keinerlei Übergänge“ mehr gebe.333 Das von den Gewerkschaften verfolgte Gleichheits- und Demokratisierungsversprechen sei zwar anzuerkennen, gehe aber an der Realität (und der Notwendigkeit) der Sonderschule vorbei: „Es ist nicht damit getan, Lernbehinderte zu Lernbeeinträchtigungen [!] zu erklären und anzunehmen, daß damit die größten Schwierigkeiten behoben s­ eien.“ 334 Der Vorwurf an die Gewerkschaften lautete also, Lernbehinderung schlicht umzuetikettieren und damit zu negieren. Aus der Perspektive der Berufspädagogik stimmte Peter-Werner Kloas im offiziellen Organ des BIBB in diese Kritik ein und sprach vom „Versuch des DGB und der IG Metall, Lernbehinderte wegzudefinieren“.335 Ausschlaggebendes Problem war auch für ihn, dass ­zwischen der „als Nichtbehinderung deklarierten Lernbeeinträchtigung und der geistigen Behinderung einerseits sowie dem Normalzustand andererseits keinerlei Abstufungen möglich sind“.336 Er schlug stattdessen eine umfassende Langzeitbeobachtung mit Intelligenztests unter Einbeziehung aller verantwortlichen Stellen, inklusive der medizinisch-diagnostischen Untersuchung auf „minimale[] cerebrale[] Dysfunktionen“, vor.337 Damit stieß er aber auf wenig Gegenliebe: Verwissenschaft­ lichung war keineswegs das Mittel der Konsensfindung. Eine gemeinsame Verhandlungsbasis und geteilte Annahmen waren vielmehr ihre Voraussetzung. Berufsausbildung Behinderter, in: Zeitschrift für Heilpädagogik 29 (1978), S. 97 – 102, hier S. 97. 3 32 Ebd., S. 100. 333 Ebd. 334 Ebd., S. 101. 335 Peter-Werner Kloas: Wer ist lernbehindert? Zum Problem der Bestimmung des Personenkreises lernbehinderter Jugendlicher, in: Berufsbildung in Wissenschaft und Praxis 8 (1979), 4, S. 11 – 14, hier S. 11, enthalten in: AdsD 5/IGMZ720213. Hervorhebung im Original. 336 Ebd., S. 12. Hervorhebung im Original. 337 Ebd., S. 13. Hervorhebung im Original. Die minimalen cerebralen Dysfunktionen sind Teil der neurobiologischen Vorgeschichte der Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS). Sie dienten seit den Forschungen von Alfred Strauss und Laura Lehtinen in den USA der 1940er Jahre zur Bezeichnung von „children with only minor symptoms and a normal IQ “, denen eine „Schädigung“ des Gehirns im frühen Kindesalter attestiert wurde. In den USA regte sich Ende der 1960er Jahre Kritik an dem Begriff als „overinclusive label“, in den Niederlanden zehn Jahre ­später. Vgl. Nelleke Bakker: Brain Disease and the Study of Learning Disabilities in the ­Netherlands (c. 1950 – 85), in: Paedagogica Historica 51 (2015), S. 350 – 364, hier S. 354 und 360. Für die Bundesrepublik fehlen Forschungen. Angesichts des Triumphs der Sozialpädagogik und der Milieubeobachtung in den 1970er Jahren scheint Bakkers Periodisierung zutreffend.

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Der in der IGM für Bildungswesen und Bildungspolitik zuständige Hans Preiss wandte sich in Reaktion auf diese Vorwürfe direkt an den Präsidenten des BIBB, Hermann Schmidt, und warf Kloas vor, die Position von DGB und IGM „zu verfälschen“ und sie in „ihr Gegenteil zu verkehren“.338 Ohne überhaupt auf die inhaltlichen Punkte einzugehen, verkündete Preiss, zwar keine „‚Ausgewogenheit‘“ zu verlangen, wünschte sich jedoch vor künftigen Stellungnahmen ein Gespräch.339 Schmidt wiederum ließ sich auf die pauschale Abwehr der Kritik nicht ein und wiederholte die Argumentation Kloas’, die er „für berechtigt“ hielt:340 „Lernbeeinträchtigte“ s­eien „in keinem Fall“ „lernbehindert“ und für Sonderausbildungen kämen „allein körperlich, geistig oder seelische Behinderte“ in Frage – wozu eine Lernbeeinträchtigung laut DGB und IGM nicht gehöre. Beide Kriterien ließen für Schmidt nur den Schluss zu, „daß ‚Lernbehinderte‘ aus Eurem Begriffssystem herausfallen“.341 Diesen Vorwurf bestritt Preiss aber vehement: Die Arbeitnehmervertreter stimmten der „Auffassung […] uneingeschränkt“ zu, dass es „Lernbehinderte“ gebe und diese auch Sonderausbildungen benötigten.342 Bereits in der Debatte z­ wischen Conzen und Loderer habe die IGM verdeutlicht, dass sie „Lernbehinderte“ als „existierende Behindertengruppe“ anerkenne und für diese eine „umfassende berufliche Förderung“ wünsche.343 Die Förderung, die sich die Gewerkschaften vorstellten, sollte aber nicht in der Arbeitswelt, sondern in den Berufsförderungswerken geschehen. Während das BIBB Lernbehinderung als eine Abgrenzungsfrage innerhalb der Gruppe der Jugendlichen aus Sonderschulen und ohne Hauptschulabschluss sah, insistierte die IGM darauf, dass „echte“ Lernbehinderte nur außerhalb der regulären Ausbildung zu finden ­seien – der Personenkreis dementsprechend klein und nicht auszuweiten sei. Der Hauptausschuss des BIBB hatte sich in einer Empfehlung zu „Ausbildungsregelungen für behinderte Jugendliche“ hingegen dafür ausgesprochen, Sonderausbildungen auf Jugendliche „mit erheblichen und nicht nur vorübergehenden Minderungen der intellektuellen Leistungsfähigkeit, häufig verbunden mit Verzögerungen und Beeinträchtigungen in der Entwicklung der Persönlichkeit“, zu beschränken.344 Da diese Regelung in den Augen der Gewerkschaft auf 338 Hans Preiss: Berufliche Bildung behinderter Jugendlicher. Schreiben an Hermann Schmidt, 19. 10. 1979, in: AdsD 5/IGMZ720213, S. 1. 339 Ebd., S. 2. 340 Hermann Schmidt: Berufliche Bildung behinderter Jugendlicher. Schreiben an Hans Preiss, 13. 11. 1979, in: ebd., S. 2. 341 Ebd. Hervorhebung im Original. 342 Hans Preiss: Berufliche Bildung behinderter Jugendlicher. Schreiben der IGM an Hermann Schmidt, 7. 12. 1979, in: ebd., S. 1. 343 Ebd., S. 2. 3 44 BIBB: Empfehlungen für Ausbildungsregelungen für behinderte Jugendliche, September 1978, in: Registratur der IHK Essen, 911 – 00/2, Bd. 1. Publiziert in: Empfehlungen des H ­ auptausschusses

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die Lernbeeinträchtigten nicht zutraf, drängten sie auf eine weitere Empfehlung, die sich diesmal auf die Förderung derjenigen Jugendlichen bezog, „die ohne feststellbare Behinderung körperlicher, geistiger oder seelischer Art den Haupt- oder Sonderschulabschluß nicht erreicht haben“.345 Die Empfehlung erließ das BIBB zwar auch, gestand aber gleichzeitig ein, dass „noch keine – auch wissenschaftlich ausreichend abgesicherte – Kriterien“ vorlägen, „die eine praxisgerechte Möglichkeit der Identifizierung einer Gruppe ‚lernbeeinträchtigter‘ Jugendlicher innerhalb der Schulabgänger ohne Ausbildungsplatz eröffnen“.346 Nichtsdestotrotz vermeldete der Hauptausschuss des BIBB auch nach den ersten Empfehlungen 1978, dass weiterhin Sonderausbildungsordnungen erlassen würden.347 Auf Bundesebene und im BIBB setzte sich die Position der Gewerkschaften also durch – ließ dabei jedoch die wesentliche Frage, wie Lernbehinderung und Lernbeeinträchtigung festgestellt werden sollten, offen. Der wahrgenommenen Aufweichung der Grenze ­zwischen normaler und abweichender Ausbildung durch die Kammerbeschlüsse und die Modellversuche setzten die Gewerkschaften eine umso rigidere Abgrenzung entgegen. Die Vereindeutigung einer „subnormalen“ Gruppe der „Lernbeeinträchtigten“, die aber normal ausgebildet werden sollte, erforderte den Schulterschluss mit den Berufsförderungswerken.348 Lernbehinderung, so die Strategie, sollte ausschließlich außerhalb regulärer Arbeitsorte und Betriebe einen Platz finden; Sonderausbildungen beschränkt sein auf Berufsvorbereitungsmaßnahmen, aus denen es – gegebenenfalls – einen Aufstieg in eine reguläre Ausbildung und entsprechende Arbeit geben sollte. Der Selbstvergewisserung des DGB diente eine Reise zu den Rummelsberger Anstalten bei des Bundesinstituts für Berufsbildung für Ausbildungsreglungen für behinderte Jugendliche nach §§ 44, 48 Berufsbildungsgesetz bzw. §§ 41, 42 b Handwerksordnung, in: Berufsbildung in Wissenschaft und Praxis 8 (1979), 2, S. 29 – 32. 345 IGM. Abteilung Berufsbildung: Empfehlung zur Förderung der Berufsreife lernbeeinträchtigter Jugendlicher. Grundsatzpapier der IG Metall und der Arbeitnehmergruppe des Hauptausschusses im BIBB, 13. 2. 1979, in: AdsD 5/IGMA210498, S. 2. 3 46 BIBB : Empfehlung zur Verbesserung der Ausbildungsmöglichkeiten lernbeinträchtiger Jugendlicher, Dezember 1979, in: Registratur der IHK Essen, 911 – 00/2, Bd. 1, S. 2. Publiziert in: Bundesinstitut für Berufsbildung: Empfehlungen zur Verbesserung der Ausbildungsmöglichkeiten lernbeeinträchtigter Jugendlicher. Ein Beschluß des Hauptausschusses des Bundesinsti­ tutes für Berufsbildung vom 6./7. 12. 1979, in: Gewerkschaftliche Bildungspolitik 31 (1980), 4, S. 140 – 141. 347 Felix Kempf: Empfehlungen des Hauptausschusses des BIBB für Ausbildungsregelungen für behinderte Jugendliche. Schreiben an die Vertrauensleute der Arbeitnehmer in den Kammern, 7. 8. 1979, in: AdsD 5/DGAW000452. 348 Vgl. das Schreiben des Vorsitzenden des entsprechenden Arbeitskreises der Arbeitsgemeinschaft der Berufsbildungswerke: Werner Artmann: Berufliche Bildung behinderter Jugendlicher in Berufsbildungswerken. Schreiben an Otto Semmler, 8. 9. 1977, in: ebd. 5/DGAW000445.

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Nürnberg.349 Dort diskutierten die Gewerkschafter den Versuch der Berufsbildungswerke, sich als einzige Instanz zur Bestimmung von Lernbehinderung ins Spiel zu bringen.350 Als sich ein Jahr ­später der Ausbildungsleiter des Berufsbildungswerks Wittekindshof in Bad Oeynhausen beschwerte, er könne ob der gewerkschaftlichen Obstruktionspolitik keine Ausbildungen in Helferberufen mehr durchführen,351 sah sich der DGB gezwungen, Stellung zu beziehen. Die Mitglieder des DGB-Arbeitskreises beurteilten Helferausbildungen in Berufsförderungswerken keineswegs als problematisch, bemängelten aber die Gefahr, dass diese einen „Ersatzausbildungsplatzangebotmarkt“ schaffen würden. Dieser ziehe eine „Gettoisierung“ nach sich und belaste den Jugendlichen „mit dem Stigma der Behinderung in seinem weiteren Leben […].“ 352 In seiner Stellungnahme betonte der DGB dementsprechend, dass „eine klare Trennung ­zwischen Lernbeeinträchtigten und schwer vermittelbaren Jugendlichen zu ziehen“ sei.353 Gleichzeitig setzten die Gewerkschaften sich aber für die Verabschiedung von Sonderausbildungen für „echte“ Behinderte in den Berufsbildungswerken ein, die am 11. November 1980 als Empfehlung zu Ausbildungen als Metallbearbeiter, Metallfeinbearbeiter, Werkzeugmaschinenspaner (Drehen) und Werkzeugmaschinenspaner (Fräsen) auch verabschiedet wurden.354 Der Konflikt war damit allerdings keineswegs „endlich beendet“, wie Hans Preiss zunächst hoffte.355 Die gewerkschaftlichen Bemühungen, über eine ausschließende Wissenspolitik von Behinderung und Nichtbehinderung das Verdikt

349 Otto Semmler: Nächste Sitzung des Arbeitsausschusses für Fragen Behinderter. Schreiben an die Mitglieder des Arbeitsausschusses für Fragen Behinderter, 7. 11. 1977, in: ebd. 350 Arbeitsgemeinschaft der Berufsbildungswerke: Stellungnahme zur Berufsausbildung behinderter Jugendlicher. Hier: Sonderausbildungsgänge für behinderte Jugendliche in B ­ erufsbildungswerken, o. D. [Oktober 1977], in: ebd. 351 W. Husemann: Schreiben des Ausbildungsleiters des Berufsbildungswerks Wittekindshof, Bad Oeynhausen an Siegfried Lübke, DGB, 15. 11. 1979, in: ebd. 5/DGAW000454. Zum Wittekindshof vgl. Hans-Walter Schmuhl/Ulrike Winkler: „Als wären wir zur Strafe hier“. Gewalt gegen Menschen mit geistiger Behinderung. Der Wittekindshof in den 1950er und 1960er Jahren (Schriften des Instituts für Diakonie- und Sozialgeschichte an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal, Bethel 19), Bielefeld 2011. 352 Siegfried Oliver Lübke: Ergebnisniederschrift der Sitzung des Arbeitsausschusses „Aus- und Fortbildung Behinderter“ vom 20. 2. 1980 in Düsseldorf, 5. 2. 1980, in: ebd., S. 1 f. 353 DGB-Bundesvorstand. Abteilung Berufliche Bildung: Zur Berufsbildung lernbeeinträchtigter Jugendlicher und zur Berufsausbildung geistig und/oder körperlich Behinderter in Berufsbildungswerken. 3. Entwurf auf der Grundlage der Beratungen im Arbeitsausschuß „Aus- und Fortbildung Behinderter“ vom 14. Mai 1980, Mai 1980, in: ebd., S. 3. 354 Hans Preiss: Berufliche Bildung behinderter Jugendlicher in industriellen Metallberufen. Rundschreiben an alle Bezirke und Verwaltungsstellen, Bildungsstätten und den Berufsbildungsausschuß der IGM sowie an den geschäftsführenden Vorstand, 17. 12. 1980, in: ebd. 5/IGMZ720142. 355 Ebd., S. 3.

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der ­Lernbehinderung von der eigenen Klientel fernzuhalten und entsprechende Personen in Besonderungsinstitutionen auszulagern, schlug ebenso fehl wie die geforderte Auslagerung der Entscheidung über Behinderung in medizinische oder (sonder)pädagogische Instanzen. Eine gewerkschaftliche Gleichheitsvorstellung, die auf einem einheitlichen Facharbeiterabschluss gleicher, sowohl „praktisch“ als auch „theoretisch“ begabter Individuen als Grundlage der Wirtschaftsordnung beruhte, ließ sich nicht mehr vermitteln und ebenso wenig durchsetzen. Das Ende der 1970er Jahre bedeutete die Anerkennung einer Zweiteilung der Berufsabschlüsse für ungleiche, mehr „praktisch“ oder mehr „theoretisch“ begabte Auszubildende innerhalb der Arbeitswelt.356 Trotz – oder gerade wegen – der institutionellen Konstanz und der Erfolgsgeschichte des dualen Berufsbildungsystems in der Bundesrepublik als Garant des „Produktionswissen[s] von Facharbeitern“ 357 war die Vorstellung der Bedeutung von Wissen einem tiefgreifenden Wandel unterworfen. Der Anspruch der Gewerkschaften basierte auf hochgradig exklusiven Voraussetzungen: Die Behauptung der „Ausbildungsfähigkeit“ von Jugendlichen ohne Schulabschluss beruhte darauf, Behinderung so zu vereindeutigen, dass sie in der Arbeitswelt keine Rolle mehr spielte und in Werkstätten und Berufsförderungswerke ausgelagert wurde. Vorstellungen einer geistigen Arbeit der Zukunft und einer körperlichen Arbeit der Vergangenheit zeitigten also institutionelle Konsequenzen. Paradoxerweise traten diese Konsequenzen in den Branchen ans Licht, die als Embleme der veralteten körperlichen Schwerstarbeit der Vergangenheit galten. In den Ausbildungsberufen des Hüttenwerkers sowie des Berg- und Maschinenmanns zeigen sich zwei Wege der Institutionalisierung der Differenz unterhalb der Gewerkschaftsspitzen, des BIBB und des Kuratoriums der Deutschen Wirtschaft für Berufsbildung: ein betrieblich-konfrontativer einerseits und ein staatlich-korporatistischer andererseits. Betrieblicher Pragmatismus und Fürsorgeanspruch: Die Hüttenwerkerausbildung bei Thyssen Niederrhein

Von der Warte der Verbandsspitzen aus war die Situation der Werkerausbildungen Ende der 1970er Jahre opak. IGM und DGB hatten der Verabschiedung weiterer Sonderausbildungen ab 1976 einen Riegel vorgeschoben. Vorher eingeführte Regelungen bestanden jedoch fort und wurden insbesondere von den Großbetrieben der Eisen- und Stahlindustrie genutzt. Parallel dazu strebten einige Arbeitspsychologen der Schwerindustrie an, die Notwendigkeit von Sonderausbildungen wissenschaftlich zu fundieren, so unter anderem der bei Krupp für die ­Stufenausbildung 356 Vgl. auch Raphael: Knowledge, S. 364, der aber nicht auf die soziale wie symbolische Unterschichtung des Berufsausbildungssystems durch Lernbehinderung eingeht. 357 Ders.: Kohle, S. 265.

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v­ erantwortliche Hans-Georg Greve, Horst Fischer, ein Betriebspsychologe der Mannesmann AG, sowie mit Günter Marschner ein Psychologe des EBV, der auch den Ausbildungsberuf des Berg- und Maschinenmanns mitgestaltete.358 Dazu stellten sie in einer Broschüre die Erfahrungen der Eisen- und Stahlindustrie mit der Ausbildung „Lernbehinderter“ zusammen.359 Bereits in ihrem Begleitschreiben triumphierte die Wirtschaftsvereinigung Eisenund Stahlindustrie: Auch wenn die Anzahl der Jugendlichen, „die Lernbehinderungen aufweisen“, zunehme, hätten Eisen- und Stahlindustrie bewiesen, dass mit den richtigen Methoden bei 75 Prozent der „Lernbehinderten“ die „Bildungsfähigkeit und Bildungsbereitschaft gefördert werden konnten“.360 In ihrer Abhandlung präzisierten sie diese Abstufung: Ein Viertel der „Lernbehinderten“ sei für einen regulären Berufsabschluss geeignet, eins für eine anerkannte Sonderausbildung und ein drittes für eine einjährige Anlernung. Bei dem restlichen Viertel der Jugendlichen ­seien die „anlage- und umweltbedingten Faktoren zur Bildungsfähigkeit und Bildungsbereitschaft […] so schwach oder so gestört“, dass eine reguläre Ausbildung nicht in Frage komme.361 Damit warben sie für Sonderausbildungsordnungen, wie sie in NRW seit 1976 existierten.362 Ebenso pries auch Winfried M. Muders von der Mannesmann AG auf dem zweiten Bayerischen Berufsbildungskongress im April 1980 in Nürnberg Sonderausbildungen an.363 Durch die Verzahnung von Wirtschaftsvereinigung und (an sich gewerkschaftsnahen) Arbeitsdirektoren zeichnete sich hier ein Konflikt ab: Die Großbetriebe der Eisen- und Stahlindustrie zeigten sich wenig geneigt, auf Geheiß der IGM den Lernbehinderungsbegriff und damit ihre Sonderausbildungen aufzugeben. Insbesondere die Duisburger Stahlindustrie setzte die auf das Duisburger Modell zurückgehende Hüttenwerkerausbildung bis in die 1980er Jahre fort. Unbeeindruckt 3 58 Zu Marschner vgl. Rosenberger/Raphael/Platz: Eignungsdiagnostik, S. 486. 359 Hans-Georg Greve/Horst Fischer/Günter Marschner: Psychologische Gesichtspunkte der Bildungsfähigkeit und Bildungsbereitschaft jugendlicher Lernbehinderter. Nr. 7 der „Informationen zur Arbeitspsychologie“ der Wirtschaftsvereinigung Eisen- und Stahlindustrie von Oktober 1977, in: AdsD 5/IGMA210169, S. 6. Bei den Informationen zur Arbeitspsychologie handelte es sich um ein internes Periodikum der psychologischen Dienste der Eisen- und Stahlindustrie, das seit 1974 erschien. Vgl. Karl-Heinz Steinhausen/Horst Becker/Hartmut Grossmann: Arbeitspsychologie in der betrieblichen Praxis, in: Adi Ostertag (Hg.): Arbeitsdirektoren berichten aus der Praxis (Qualifizierte Mitbestimmung in ­Theorie und Praxis 5), Köln 1981, S. 210 – 242, hier S. 222 f. 360 Wirtschaftsvereinigung Eisen- und Stahlindustrie: Informationen zur Arbeitspsychologie. Rundschreiben an die Mitgliedswerke, 20. 10. 1977, in: AdsD 5/IGMA210169, S. 1. 361 Greve/Fischer/Marschner: Gesichtspunkte, S. 7. 362 Ebd., S. 8. 363 Winfried M. Muders: Sind Sonderausbildungsgänge im Betrieb für Lernbehinderte notwendig und sinnvoll? Vortrag zum 2. Bayerischen Berufsbildungskongreß 29. und 30.4.80 in Nürnberg, 23. 4. 1980, in: WWA K5 Nr. 2901.

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von der bundesweiten Politisierung, den Bestrebungen der Sonder- und Rehabilitationspädagogik sowie den internationalen Vereinheitlichungsbemühungen 364 fuhren die Arbeitsdirektoren in den Betrieben mit den Sonderausbildungen fort. Sie schufen so de facto eine umkämpfte Institutionalisierung der Minderbegabung, begünstigt von internen Ungereimtheiten bei der IGM. Dieser Prozess lässt sich am Beispiel von Thyssen Niederrhein Oberhausen, zu der die Niederrheinische Hütte in Duisburg sowie die Gutehoffnungshütte in Oberhausen gehörten, illustrieren. Bei TNO erfolgte seit 1977 die Sonderausbildung von Hüttenwerkern aufgrund eines Beschlusses der für Oberhausen zuständigen IHK Essen.365 Im November 1980 bat die Wirtschaftsvereinigung Eisen- und Stahlindustrie den TNO-Arbeitsdirektor Friedrich Kübel, einen Artikel über die Werkerausbildung zu verfassen. Karl-Heinz Maresch, der verantwortliche Funktionär der Wirtschaftsvereinigung, bezweifelte zwar, die „abweichenden ideologischen Vorstellungen“ der Gewerkschaften über Lernbeeinträchtigungen beeinflussen zu können, hoffte aber, die „Bestrebungen zum Abbau“ der Sonderausbildungen zu bremsen.366 Der Anlass war, dass das BIBB im November 1980 auf Betreiben der IGM vier Berufsordnungen von dreijähriger Ausbildungsdauer – unter anderem den „Metallbearbeiter“ – verabschiedet hatte, die ältere Sonderausbildungen und verkürzte Ausbildungen ersetzen sollten – und in den Augen der IGM nur für Berufsförderungswerke gedacht waren.367 Gleichzeitig war eine gemeinsame Kommission von IGM und Wirtschaftsvereinigung zu den Sonderausbildungen im Oktober 1979 gescheitert, da nicht einmal Einigkeit über ein gemeinsames Ziel geherrscht hatte.368 364 Die 1980 erstmals publizierte International Classification of Impairments, Disabilities, and Handicaps der World Health Organization führte etwa unter „language impairments“ die Kategorie „other specific learning difficulties“ auf, ohne dass diese Rubrik in der bundesrepublikanischen Ausbildungsdebatte erwähnt worden wäre. Vgl. World Health Organization: International Classification of Impairments, Disabilities, and Handicaps. A Manual of Classification Relating to the Consequences of Disease, Genf 1980 [Reprint 1993], S. 70. 365 Horst-Wilhelm Beckers: Hüttenwerkerausbildung. Aktenvermerk, 7. 9. 1981, in: thyssenkrupp Konzernarchiv TNO/3430, S. 1; Helmut Uebbing: Berufliche Bildung bei der Thyssen AG, o. O. [Duisburg] 1979, S. 169 – 171. 366 Karl-Heinz Maresch: Anfrage bzgl. eines Artikels in „Betriebliche Ausbildungspraxis“, 26. 11. 1980, in: thyssenkrupp Konzernarchiv TNO/2148, S. 1 f. 367 Hans Preiss: Berufliche Bildung, 17. 12. 1980; ebenso: Geer/Dartel: Ausbildungsregelungen für Lernbehinderte Jugendliche (nach § 48 BBiG). Rundschreiben von Gesamtmetall an die Mitgliedsverbände, 23. 12. 1980, in: Registratur der IHK Essen 911 – 00/2, Bd. 1, die die Empfehlung als Erfolg für die Arbeitgeber werteten, da es gelungen sei, der Gewerkschaft die „inhaltliche Anpassung an das intellektuelle Leistungsniveau“ der Jugendlichen abzutrotzen. 368 Eva Kuda: Sitzung der Sachverständigen der Ad-hoc-Arbeitsgruppe IG Metall – Wirtschaftsvereinigung „Eingliederung von ‚Problemgruppen‘“ am 25. Oktober 1979 in Düsseldorf. Bericht, 30. 10. 1979, in: AdsD 5/IGMA210498.

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Im Büro des Oberhausener Arbeitsdirektors stieß die Wirtschaftsvereinigung auf offene Ohren. Siegfried Gosny, ein Mitarbeiter Kübels, begrüßte die Publikation; verkürzte Werkerausbildungen ­seien eine „echte Hilfe und Alternative“.369 Gegenüber seinem Vorgesetzten wies er aber darauf hin, dass ein solcher Artikel, den er bereitwillig vorbereite, „im Gegensatz zur Grundauffassung der Indus­ triegewerkschaft Metall steht“ – was Kübel handschriftlich mit „Das ist gut so!“ quittierte. Auch die Warnung, dass sich TNO damit zum Werkzeug mache, „die Grundeinstellung der Industriegewerkschaft Metall aufzuweichen“, kommentierte Kübel trocken mit „gut“.370 Der fertigte Aufsatz, der sich der üblichen Narrative von Strukturwandel, Höherqualifizierung, Fürsorge und Begabungsverfall bediente,371 bezog sich zwar nur auf rund 20 Hüttenwerker, die ihre Ausbildung in den Jahren 1980 und 1982 bei TNO abschließen sollten, beziehungsweise auf rund 500 Ausbildungsverträge in der gesamten Eisen- und Stahlindustrie,372 er reichte aber aus, den Konflikt erneut anzuheizen. Im August 1981 reiste Ulrich Mignon, der Leiter der Abteilung Berufsbildung der IGM, nach Oberhausen, um die Position der Gewerkschaft durchzusetzen. Zwar handele Thyssen aus hehren Zielen, Werkerausbildungen wie die zum Hüttenwerker würden jedoch meist missbraucht, um „billige Arbeitskräfte zu produzieren“. Gerade diese Gruppe falle bei Arbeitsplatzwechseln durch ihre geringe Mobilität auf.373 Außerdem sollten Werkerausbildungen „tatsächlich behinderten Jugendlichen“ vorbehalten bleiben. Die Praxis, die einen fehlenden Schulabschluss als Behinderung auslegte, wollte die IGM nicht mehr dulden.374 Stattdessen schlug Mignon vor, entweder reguläre Ausbildungsverträge auszustellen oder Berufsvorbereitungsmaßnahmen über einen Fördertarifvertrag einzurichten und, bei Feststellung einer Behinderung durch das Arbeitsamt, eine Sonderausbildung durchzuführen. Dieser 369 Siegfried Gosny: Publikation zur Hüttenwerkerausbildung/Schreiben der Wirtschaftsvereinigung vom 26.11.80. Mitteilung an Friedrich Kübel, 4. 12. 1980, in: thyssenkrupp Konzernarchiv TNO/2148, S. 1. 370 Ebd. 371 Vgl. Friedrich Kübel: Ausbildung von Hüttenwerkern in der betrieblichen Praxis, in: Betriebliche Ausbildungspraxis. Merkblätter für Ausbilder in der Eisen- und Metallindustrie 27 (1981), 153, S. 857 – 858, enthalten in: thyssenkrupp Konzernarchiv TNO/2148. 372 Die Zahlen bei TNO nach TNO, Abt. Personalplanung, -entwicklung und Bildung: Einsatz der Hüttenwerker. Statistische Aufstellung, 20. 8. 1981, in: ebd. TNO/3430; sowie die allgemeinen Zahlen nach Aufstellung von Ausbildungsverträgen nach § 48 BBiG bei Unternehmen der Stahlindustrie, Tabelle ohne Titel, o. D. [1982], in: ebd. 373 Siegfried Gosny: Gespräch mit den Kollegen Peters, Zweigbüro der IG Metall und Mignon, Leiter der Abteilung Berufsbildung IG Metall Vorstand, Frankfurt über die Ausbildung von Hüttenwerkern am 21. 8. 1981, 11.00 – 15.30 Uhr, Werksgasthaus, Vermerk, 24. 8. 1981, in: ebd. TNO/3430, S. 2. 374 Ebd., S. 2 f.

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bekannte Lösungsvorschlag allerdings kam bereits für den TNO-Betriebsrat nicht in Frage, da dadurch den Jugendlichen „der Status des Behinderten auf Dauer anhaftet“.375 Die Arbeitsverwaltung als epistemische Schiedsgerichtsbarkeit einzusetzen war also ausgeschlossen: Eine Vereindeutigung der Differenz lehnte Thyssen aufgrund eines paternalistischen Fürsorgeanspruchs ab. Dementsprechend, so die Front aus Personalabteilung und Betriebsrat, handele es sich angesichts der zahlreichen „lernschwachen“ Schulabgänger in Oberhausen um einen probaten Weg, den Auszubildenden unter den Auspizien des Unternehmens über die Hüttenwerkerausbildung bei „entsprechender Eignung“ die Facharbeiterausbildung zu ermöglichen.376 Stellte das von Unternehmensseite angefertigte Protokoll zu ­diesem Treffen die Fürsorge in den Mittelpunkt, las sich ­dieses Motiv im Protokoll der IGM anders: Mignon wies den TNO -Verantwortlichen die Rolle von wohlmeinenden, aber bornierten Ausreißern zu, die, nach der Aufklärung durch die Frankfurter Zen­ trale, zugeben mussten, „daß ihnen die rechtlichen Zusammenhänge nicht bekannt waren“, und Besserung gelobten.377 Es nimmt nicht wunder, dass weder Thyssen noch die IGM das Protokoll des anderen akzeptierten. Mignon warf Kübels Mitarbeitern vor, „die Hüttenwerkerausbildung als eine zu positive Regelung“ darzustellen, „die ideologischen Überlegungen der IG Metall ‚geopfert‘ werden solle“.378 Gosny hingegen beanstandete, dass TNO keineswegs zugesagt habe, die Hüttenwerkerausbildung einzustellen. Sich bei der Rechtsabteilung rückversichernd,379 empfahl er, abzuwarten und die Hüttenwerkerausbildung fortzusetzen.380 Die Wirtschaftsvereinigung Eisen- und Stahlindustrie hingegen gab sich mit dieser De-facto-Anerkennung nicht zufrieden. Mit anderen Ausbildungsverantwortlichen arbeitete Karl-Heinz Maresch ein Positionspapier aus, in dem eine Lösung ähnlich wie im Bergbau – ein eigener Ausbildungsberuf für „Lernbehinderte“ – gefordert wurde.381 Während der 1966 eingeführte Abschluss des Hüttenfacharbeiters auf „mehr theoretische[n] Kenntnissen“ beruhe, sollte der „‚Praktiker der Verfahrenstechnik‘“ Jugendlichen, „die für eine stärker praxisbezogene Ausbildung geeignet sind“, unter anderem Kindern „der ausländischen Arbeitnehmer“, 3 75 Ebd., S. 3. 376 Ebd., S. 1 f. 377 Ulrich Mignon: Ausbildung von Hüttenwerkern bei Thyssen Niederrhein. Bericht über das Treffen am 21. 8. 1981 in Oberhausen, 26. 8. 1981, in: ebd. TNO/3430, S. 2. 378 Siegfried Gosny: Ausbildung von Hüttenwerkern. Gespräch mit den Kollegen Mignon und Peters von der IG Metall. Nachricht an Friedrich Kübel, 7. 9. 1981, in: ebd. TNO/2148, S. 1. 379 Vgl. das Gutachten Beckers: Hüttenwerkerausbildung. 380 Ders.: Hüttenwerkerausbildung/telefonische Information des Kollegen Mignon. Vermerk, 10. 9. 1981, in: thyssenkrupp Konzernarchiv TNO/2148, S. 1. 381 Karl-Heinz Maresch/Funhoff/Hösel/Kranz: Entwurf eines Positionspapiers, 14. 9. 1981, in: ebd., S. 2.

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vorbehalten sein.382 Dieser Vorschlag, der auf einer Verschränkung von Körperlichkeit und Alterität beruhte, entsprach einer Politik, die bereits zeitgenössisch als „Polarisierung der Produktionsbelegschaften“ problematisiert und als unausweichliches Resultat des Wandels der Arbeit etikettiert wurde.383 In Oberhausen stieß dieser Vorschlag aber auf wenig Gegenliebe. Die TNO-Politik entsprach dem Verdikt verwertungsgesteuerter Dequalifizierung nur bedingt. Gosny warnte, durch ein solches Modell schaffe die Stahlindustrie „Facharbeiter[] zweiter Klasse“ sowie eine Gruppe „derjenigen Lernschwachen, deren Leistungsvermögen für eine ­solche Ausbildung nicht ausreicht“.384 Stattdessen gelte es, vor die Werkerausbildung noch eine Förderstufe für ein dreigliedriges Ausbildungssystem zu schalten, das „den individuellen Lernfähigkeiten und Wissensständen der Jugendlichen Rechnung trägt“.385 Dem Versuch von Wirtschaftsvereinigung und Gewerkschaft, eine ausschließende und eine anpassende Vereindeutigung entgegenzusetzen, wollte sich das Oberhausener Unternehmen entziehen. In den darauffolgenden Diskussionen entwickelte sich die Bildbarkeit des jugendlichen Auszubildenden im Konflikt z­ wischen lokalem Arrangement und bundespolitischer Gleichheitspolitik zur zentralen Ressource. An sich befürworte, so notierte die Wirtschaftsvereinigung, die Gewerkschaft die Hüttenwerkerausbildung sogar und lehne d ­ ieses Berufsbild nur deswegen ab, weil es „der bundesweiten Politik der IG Metall widerspreche“.386 Dieses prinzipielle Argument, „‚jeder kann Facharbeiter werden, er muß nur länger ausgebildet werden‘“, sei aber falsch, wie die „Studie des Duisburger Arbeitskreises für Behinderte“ beweise.387 In der endgültigen Stellungnahme setzte sich die Oberhausener Position durch, die darauf hinauslief, eine „Gruppe im Grenzbereich z­ wischen Behinderung und normalbegabten Jugendlichen“ zu konstruieren.388 Die Behauptung der IGM, „jeder Mensch, mit Ausnahme von Schwerbehinderten“, könne „mindestens eine Facharbeiterqualifikation“ erlangen, widerspreche jeder „pädagogischen ­Erfahrung“.389 Es gebe 3 82 Ebd., S. 2 f. 383 Ingrid Drexel: Neue Produktionsstrukturen auf Italienisch? Veränderungen von Qualifikation, Arbeitsorganisation und Entlohnung in der westdeutschen und der italienischen Stahlindus­ trie – Parallelen und Unterschiede, in: Soziale Welt 36 (1985), S. 106 – 127, hier S. 117. 384 Siegfried Gosny: Kurzkommentar zum Schreiben von Herrn Maresch vom 14.09.81. Mitteilung an Friedrich Kübel, 23. 9. 1981, in: thyssenkrupp Konzernarchiv TNO/2148, S. 2. 385 Ebd., S. 3. 386 G. Wink: Vermerk über die Sitzung der Arbeitsgruppe „Werkerausbildung“ am 20. Oktober 1981 in der Wirtschaftsvereinigung, 21. 10. 1981, in: ebd. TNO/3430, S. 2. 387 Ebd., S. 5. 388 Ebd., S. 15. 389 G. Wink: Positionspapier zur Hüttenwerkerausbildung. Endgültige Fassung des Positionspapiers in der Auseinandersetzung mit der IGM, 22. 10. 1981, in: ebd., S. 8 f.

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v­ ielmehr „bestimmte Personen“, die „nur begrenzt bildungsfähig sind und in einer Facharbeiterausbildung entweder körperlich, geistig oder seelisch überfordert werden“.390 Auch in der inhaltlichen Begründung dieser „Schwellenfigur“ 391 griff die Stahlindustrie die in den 1970er Jahren erstarkenden Denkfiguren der kritischen Milieubeobachtung auf.392 Die Schwierigkeiten der Jugendlichen lägen in „der mangelhaften Beherrschung der Kulturtechniken“. Im „motorischen Bereich“ hingegen wiesen sie keine „Behinderung“ auf.393 Die „leichte Intelligenzminderung“, die „körperliche, geistige und seelische Retardierung“ ebenso wie die „unzulänglichen häuslichen bzw. familiären Verhältnisse“ trügen zum „Leistungsversagen“ bei – und erlaubten nur eine „praxisorientierte berufliche Bildungsmaßnahme“.394 Auch in ­diesem Fall ermöglichte die Gegenüberstellung von „praktischen“ und „theoretischen“ Begabungen, dem absoluten Gleichheitsanspruch, den DGB und IGM erhoben, einen relativen Gleichheitsanspruch entgegenzusetzen. In dieser Konstellation sahen sich die Gewerkschaften zu Zugeständnissen gezwungen: Während sie die Neueinführung von Sonderausbildungen blockierten,395 besaßen sie kein Instrument dafür, bestehende Ordnungen abzuschaffen, um eine bundeseinheitliche Regelung zu erlassen, da die Berufsbildungsausschüsse der Kammern paritätisch besetzt waren. Dementsprechend arbeiteten Wirtschaftsvereinigung und IGM im Februar 1982 eine gemeinsame Erklärung aus, nach der die Hüttenwerkerausbildung aufgehoben werden und Jugendliche in den anerkannten Metallberufen ausgebildet werden sollten. Als Kompromiss erreichte die Wirtschaftsvereinigung aber, dass ein neuer Ausbildungsberuf des „Metallbearbeiters/Fachrichtung Verfahrensmechanik“ neben die vom BIBB empfohlenen Musterausbildungsordnungen für „echte Behinderte“ treten sollte.396 Diese Lösung, für die sich auch eine Arbeitsgemeinschaft

3 90 Ebd., S. 9. 391 Moser: Konstruktion, S. 265. 392 Vgl. als kanonischen Vertreter etwa die 1977 auf Englisch und 1979 auf Deutsch veröffentlichte ethnografische Studie von Paul Willis, „Learning to Labour. How Working Class Kids Get Working Class Jobs“. Paul Willis: Spaß am Widerstand. Learning to Labour, Hamburg 2013, S. 5 – 15. 393 Wink: Positionspapier, S. 2. 394 Ebd., S. 2 f. 395 Vgl. etwa die Anfrage des DGB-Vertreters der HWK-Oberbayern, das Berufsbild des MetallFachwerkers zu erlassen, was Wolfgang Prill damit quittierte, dass es „völlig unverständlich“ sei, dass dieser Vorschlag das Antragsstadium erreicht habe. Wolfgang Prill: Regelung der Berufsausbildung Behinderter zum Metallfachwerker. Schreiben an Leo Gutmann, München, 30. 11. 1981, in: AdsD 5/DGAW000444, S. 1. 396 Wirtschaftsvereinigung Eisen- und Stahlindustrie/IGM: Gemeinsame Erklärung. Entwurf einer gemeinsamen Erklärung von IGM und Wirtschaftsvereinigung Eisen- und Stahlindustrie zur

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der Arbeitsdirektoren der Betriebe, die Sonderausbildungen durchführten, aussprach,397 bereitete wiederum „Herr[n] Mignon noch ‚einige Schwierigkeiten‘ im eigenen Hause“.398 Dort entschloss sich die Abteilung Berufsbildung, nicht sofort auf die Abschaffung der Hüttenwerkerausbildung zu drängen, sondern zunächst abzuwarten, wie sich die Erfahrungen mit Fördertarifverträgen zur Eingliederung in anerkannte Ausbildungsberufe gestalten würden.399 Gleichzeitig verschleppte sich wegen der „turbulenten Situation in der Eisen- und Stahlindustrie“ die Terminfindung,400 sodass es nie zu der gemeinsamen Erklärung und einer bundesweiten Vereinheitlichung der Hüttenwerkerausbildung als dreijährigem Ausbildungsberuf kam. Im Gegenteil: Im Mai 1983 beschloss die Duisburger Kammer mit den örtlichen Vertretern von IGM und DGB , dass „in einer Zeit besonders starker Nachfrage an den bewährten und mit dem regionalen Bedarf abgestimmten Ausbildungsgängen (z. B. Hüttenwerker) festgehalten werden“ sollte.401 Die Arbeitnehmervertreter in der Essener Kammer drängten zwar darauf, die 1976 eingeführten Sonderausbildungen wieder abzuschaffen und den BIBB -Empfehlungen für Berufsförderungswerke zu folgen,402 die IHK selbst sperrte sich aber dagegen. Selbst als die Kammer im März 1985 für eine Berufsbildungsmaßnahme des Kolpingwerks die BIBB -Empfehlungen umsetzte, beschloss sie, die alten Regelungen für Metallwerker, Schlosserwerker, Werkzeugmaschinenwerker bis Ende 1988 beizubehalten. Dieses Zugeständnis kam nur zu Stande, weil „der Antrag der Arbeitnehmerseite auf Außerkraftsetzung der Regelungen für Gießereiwerker, Hüttenwerker und ­Schweißwerker Frage der Hüttenwerkerausbildung nach der Besprechung am 3. 2. 1982 in Sprockhövel, 4. 2. 1982, in: thyssenkrupp Konzernarchiv TNO/3430, S. 1 – 2. 397 Friedrich Kübel: Schreiben an Hans Preiss, 29. 6. 1982, in: ebd. TNO/2148. 398 Siegfried Gosny: Stand der Diskussion über die Hüttenwerkerausbildung. Mitteilung an ­Friedrich Kübel, 1. 4. 1982, in: ebd. 399 Eva Kuda: Abteilungsleiterbesprechung  – Berufsbildung. Protokoll, 14. 10. 1982, in: AdsD 5/IGMZ720015, S. 2 f. 400 Friedrich Kübel: Ausbildung behinderter Jugendlicher gemäß § 44 in Verbindung mit § 48 BBiG in der Eisen- und Stahlindustrie. Schreiben an Rudolf Judith, IGM Zweigbüro Düsseldorf und an Hans Preiss, IGM Vorstand, Frankfurt a. M., 16. 12. 1982, in: thyssenkrupp Konzernarchiv TNO/2148, S. 1. Zur Situation der Stahlindustrie zu Beginn der 1980er Jahre vgl. Karl Lauschke: Wandel und neue Krisen. Die alten Industrien der 1970er und 1980er Jahre, in: Stefan Goch (Hg.): Strukturwandel und Strukturpolitik in Nordrhein-Westfalen (Schriften zur politischen Landeskunde Nordrhein-Westfalen 16), Münster 2004, S. 136 – 162. 401 IHK Duisburg: Ausbildung von Behinderten gemäß § 48 BBiG. Auszug aus dem Protokoll der Sitzung des Berufsbildungsausschusses der IHK Duisburg vom 18. Mai 1983, o. D. [Mai 1983], in: Registratur der IHK Essen, 911 – 00/2, Bd. 2, S. 13 f. 402 Johannes Gorlas: Antrag zur Beschlussfassung im Berufsbildungsausschuss der IHK Essen, 27. 9. 1983, in: ebd.

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­zurückgezogen“ wurde.403 Die Werkerausbildung ließ sich auf Kammerebene nur schleppend, wenn auch nicht derart konfliktbehaftet wie auf Ebene der Spitzenverbände abschaffen. Die umfangreiche Diskussion verebbte also ergebnislos, was der faktischen Anerkennung der Sonderausbildungen gleichkam. Das Oberhausener Unternehmen setzte die Hüttenwerkerausbildung auch mit dem Ausbildungsjahr 1983/84 fort.404 Die betrieblich-konfrontative De-facto-Anerkennung der Hüttenwerkerausbildung – und der damit einhergehenden arbeitsbezogenen Differenzordnung – wurde eher durch den frühen Tod Friedrich Kübels im November 1985405 sowie durch das Aufgehen von Thyssen Niederrhein in der Thyssen Stahl AG 1986406 annulliert als durch die Proteste der IGM auf Bundesebene. Denn der Punkt, auf den sich alle Konfliktparteien einigen konnten, bestand in der Annahme, dass der Platz für „praktische“ Begabungen in der Arbeitswelt der Zukunft nur noch kleiner werden würde. Das Milieu des Bergjungarbeiters und die Institutionalisierung der Differenz: Der Berg- und Maschinenmann

Die Geschichte des Verhältnisses von Berufsausbildung, Zukunft der Arbeit und Differenz handelte bisher von IGM und DGB. Die IGBE, die für die Bergbau­ ausbildung zuständige Gewerkschaft, tauchte dagegen in den Debatten auf B ­ undesoder Landesebene nicht auf – obwohl in ihrem Organisationsbereich „Lernbehindertenversuche“ seit Mitte der 1960er Jahre durchgeführt wurden und die Klage über den Begabungsverfall eine lange Tradition hatte. Diese Randständigkeit mag an der in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre bereits marginalen Stellung der IGBE in der Gewerkschaftslandschaft liegen – einer Gewerkschaft, deren größter Triumph die Gründung der RAG Ende der 1960er Jahre darstellte, die danach aber aus dem Fokus der Öffentlichkeit verschwand.407 Als wichtiger erwies sich jedoch der im Bergbau übliche Verhandlungsmodus. 403 IHK Essen: 58. Niederschrift über die Sitzung des Berufsbildungsausschusses am Dienstag, dem 12. März 1985, im Sitzungssaal der IHK zu Essen, Beginn 15.30 Uhr – Ende 17.30 Uhr, o. D. [März 1985], in: ebd., S. 7. 404 Vgl. Ausbildungsbeginn für 181 Jugendliche, in: Echo der Arbeit. Informationen für Mitarbeiter der Thyssen Niederrhein AG (1983), 9, S. 2, in dem die Ausbildung von zehn Hüttenwerkern in Oberhausen verkündet wurde. 405 Vgl. Nachruf auf Friedrich Kübel, in: Echo der Arbeit. Informationen für Mitarbeiter der ­Thyssen Niederrhein AG (1985), 10/11, S. 1. 406 Vgl. Helmut Uebbing: Wege und Wegmarken. 100 Jahre Thyssen, Berlin 1991, S. 336. 407 Vgl. Michael Farrenkopf: Wiederaufstieg und Niedergang des Bergbaus in der Bundesrepublik, in: Ziegler (Hg.): Geschichte, S. 183 – 303, zur RAG insbes. S. 226 – 231.

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Während Sonderausbildungen auf Bundes- und Landesebene vehement diskutiert wurden, überarbeiteten RAG, WBK und IGBE die Berufsordnung im Bergbau. Im Zeitraum von 1974 bis 1979 gaben sie den Facharbeiterberuf des Knappen zugunsten einer dreigliedrigen Abstufung in Bergmechaniker (dreijährige Vollausbildung), Berg- und Maschinenmann (zweijährige Ausbildung) und Bergjungmann (tariflich anerkannter Anlernberuf ) auf.408 Bei dieser Änderung handelt es sich um mehr als eine historische Randnotiz. In dieser Anerkennung fand der bundesrepublikanische und westeuropäische Aushandlungsprozess, der mit den Umstellungsexperimenten im Frankreich der 1950er Jahre seinen Ausgang genommen hatte, qua Ministerialverordnung ein Ende. Mit der „Verordnung über die Berufsausbildung zum Berg- und Maschinenmann“ erkannte das Bundeswirtschaftsministerium ­dieses Berufsbild offiziell an.409 Es sanktionierte damit die Wahrnehmung der Bergbauverantwortlichen, wonach es in der Arbeitswelt der Zukunft einen hochqualifizierten Belegschaftsteil für („kopfbasierte“) Reparatur- und Maschinenarbeiten einerseits und einen für („handbasierte“) einfache und repetitive körperliche Abbauarbeiten andererseits geben würde. Dieser Anerkennung lag eine Mischung aus tradierten und neuen Vereindeutigungsmodi zugrunde: zum einen die Kontinuität korporatistischer Arrangements zur Vereindeutigung von Begabungsfragen, zum anderen eine Objektivierungsund Vereindeutigungslogik, die zu Strategien der 1950er Jahre zurückkehrte, Eindeutigkeit über die Berufsausbildung durch eine umfassende Milieubeobachtung herzustellen. Unter umgekehrten – nun kritischen – Vorzeichen kehrte der moralisch-holistische Eingliederungsimperativ wieder. Der Impuls zur Neuausrichtung der Berufsabschlüsse im Bergbau ging von der Ausbildungsabteilung der RAG aus.410 Anders als etwa die Vertreter der Stahlindustrie, die lokale Arrangements über Sonderausbildungsregelungen durch die jeweiligen Kammern anstrebten und damit die Lernbehinderungsfrage in das Zentrum der 408 Vgl. dazu als Überblick Roland Treese: Vom Knappen zum Bergmechaniker. Zur Berufs- und Bildungsgeschichte des Bergmanns (Dortmunder Arbeiten zur Schulgeschichte und zur historischen Didaktik 16), Bochum 1988, S. 195 – 202; Jean-Luc Malvache: Nouveaux métiers et nouveaux diplômes dans le contexte de la reconversion du secteur minier allemand dans les années 1970, in: Cahiers de la recherche sur l’éducation et les savoirs, Hors-série 4 (2013), S. 133 – 148; als Quelle mit Zahlenangaben zur Schülerentwicklung: Karl Eckart/Wolfgang Koschei/Thorsten David: Zur Geschichte der Bergberufsschulen im Ruhrgebiet. Von der bergmännischen Fortbildungsschule der Westfälischen Berggewerkschaftskasse (WBK) zum Berufskolleg TÜV NORD College, Essen 2018, S. 202 – 214. 409 Vgl. Verordnung über die Berufsausbildung zum Berg- und Maschinenmann vom 22. 6. 1979, in: Bundesgesetzblatt Nr. 33, 4. Juli 1979, S. 837 – 852. 410 RAG: Entwurf einer gestuften Ausbildung für Bergjungarbeiter bei der Ruhrkohle AG, Mai 1975, in: AdsD 5/DGAW000100.

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Aufmerksamkeit rückten, wandte sich die RAG direkt an das Bundeswirtschaftsministerium. Formal ging es lediglich um eine neue Berufsordnung. Im Gespräch verdeutlichten die RAG-Vertreter aber ihr Anliegen, eine Ausbildung „für lernschwache Jugendliche“ zu schaffen.411 Einen „‚Behindertenberuf[]‘“, so versicherten die Essener Funktionäre, wollten sie aber nicht einführen. Damit stießen sie zunächst auf Widerstand. Der Vertreter des BMBW lehnte eine „‚Mini-Ausbildung‘“ ab.412 Als das BMWi eine Kommission zur Vorbereitung der Berufsverordnung einbestellte, zu der auch der DGB eingeladen wurde,413 zeigte sich die Düsseldorfer Gewerkschaftsspitze besorgt. „[G]egen eine gestufte Ausbildung für Bergjungarbeiter“ hege der DGB „große Bedenken“, informierte der DGB-Bildungsfunktionär Heinz-Peter Benetreu die Bochumer Bergbaugewerkschaft und bat um ein Treffen.414 Den sich abzeichnenden Interessenkonflikt umschiffte die IGBE jedoch elegant: Sie akzeptierte, dass bei dem Kommissionstreffen eine Arbeitsgruppe gebildet wurde, die unter Federführung der RAG und ohne den DGB weiterarbeiten sollte.415 Darüber hinaus meldete sich die IGBE erst nach der Kommissionssitzung schriftlich beim DGB und versicherte, vorher telefonisch niemanden erreicht zu haben.416 Diese Verbandsquerele war nicht nur von anekdotischer Relevanz. Da der DGB Sonderausbildungen im Bund zu blockieren versuchte, erkannte er, dass es sich bei der „Werkerausbildung“ im Bergbau um die „Grundsatzfrage“ handelte, „inwieweit wir Sonderausbildungsordnungen befürworten oder sogar fordern“.417 Doch in d ­ iesem Fall war die Lage, verglichen zur Opposition gegen die Kammern, anders: Die Kammern, die Sonderausbildungen forderten, ließen sich 411 Richter: Möglichkeiten zur Regelung einer Berufsausbildung für Werker im Bergbau. Besprechung im BMBW am 30. 5. 1975. Aktenvermerk, 2. 6. 1975, in: BArch B 102/275930, S. 1. 412 Ebd. 413 Rudolf Koop: Möglichkeiten zur Regelung einer Berufsausbildung für Werker im Bergbau. Schreiben an BMBW, BIBB, die Kultusministerkonferenz, das Kuratorium der Deutschen Wirtschaft für Berufsbildung, DGB, DIHT, Gesamtverband Steinkohle, IGBE, RAG, 8. 10. 1975, in: AdsD 5/DGAW000100. 414 Heinz-Peter Benetreu: Möglichkeiten zur Regelung einer Berufsausbildung für Werker im Bergbau. Entwurf einer gestuften Ausbildung für Bergjungarbeiter bei der Ruhrkohle AG. Schreiben an die IGBE, 29. 10. 1975, in: ebd., S. 1. 415 Baumann: Möglichkeiten zur Regelung einer Berufsausbildung für Bergungsarbeiter [!] im Bergbau. Sitzung im Bundesministerium für Wirtschaft am 6. 11. 1975. Protokoll, 10. 11. 1975, in: BArch B 102/275930 (auch AdsD 5/DGAW000100). 416 Heinz-Werner Meyer: Möglichkeiten zur Regelung einer Berufsausbildung für Werker im Bergbau. Schreiben des IGBE-Hauptvorstands an die Abteilung Berufsbildung des DGB Bundesvorstands, 18. 11. 1975, in: AdsD 5/DGAW000100. 417 Heinz-Peter Benetreu: Möglichkeiten zur Regelung einer Berufsausbildung für Werker im Bergbau. Gespräch mit den Kollegen Bendrat und Chruscz der IG Bergbau und Energie am 28. 1. 1976, 14.30 Uhr, Raum 527. Internes Schreiben, 13. 1. 1976, in: ebd.

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gleichheitspolitisch und kapitalismuskritisch beschuldigen, Jugendliche aus Verwertungsinteressen zu stigmatisieren.418 Diese Argumente waren gegenüber einer Mitgliedsgewerkschaft, die sich auf eine sozialmoralische Fürsorgepflicht berief, nicht nutzbar. Als sich DGB und IGBE zu einem Gespräch trafen, war die Lage für die IGBE-Vertreter Paul Chruscz und Diethard Bendrat eindeutig: Jährlich würden 5500 Jugendliche eingestellt, 2000 mit Ausbildungsvertrag, 3500 als Jungarbeiter, vor allem „Jugendliche ohne Hauptschulabschluß“.419 Förderlehrgänge in den vergangenen Jahren hätten aber „sehr guten Erfolg gehabt“, weswegen auch die Gewerkschaftsjugend um ihre offizielle Anerkennung kämpfe. Auch nachdem Otto Semmler darauf hingewiesen hatte, dass für „Lernbehinderten-Berufe […] die Gleichwertigkeit“ nicht gewährleistet sei, es sich also um eine „minderqualifizierte Ausbildung“ handele, sahen die Bochumer Funktionäre kein Problem.420 Die Bergbauausbildung sei „anspruchsvoller geworden“, weswegen ein neuer, „praxisbezogener Beruf“ vonnöten sei,421 denn – so die Implikatur – „Strukturwandel“ und die Zukunft der Arbeit schufen Tätigkeiten und prägten Arbeitsformen, zu denen bestimmte Gruppen Auszubildender nicht mehr fähig ­seien. Einigen konnten sich DGB und IGBE nur darauf, die Bezeichnung „Werker im Bergbau“ abzulehnen, damit nicht der Eindruck entstünde, es handele sich um eine „weniger qualifizierte Ausbildung“.422 Damit gab der DGB der IGBE freie Hand und beschränkte sich auf begriffliche Justierungen. Die Bedenken des DGB waren jedoch keineswegs zerstreut. Da er das Verfahren aber nicht mehr beeinflussen konnte, blieb Heinz-Peter Benetreu nichts anderes übrig, als Stellungnahmen der IGBE einzuholen, etwa als es im berufsbildungspolitischen Ausschuss des DGB zu „Zwischenrufe[n]“ kam, dass die Bergbaugewerkschaft „einen eigenen ‚Behindertenberuf‘ schmiede“.423 Die ­gleichheitstheoretische

418 Kondensiert bei Sigrid Bartholomy: Argumentationshilfen zum Problembereich: „Lernbehinderte“-§ 48-AVO-Modell. Druckfahnen zu einer Solidarität-Sonderausgabe zur Jugendarbeitslosigkeit, 21. 4. 1978, in: ebd. 5/DGAW000452, die skandierte: „Unter dem scheinheiligen Motto ‚Chancen für die Schwächsten‘ versuchen die Unternehmer die Krise auf dem Ausbildungsstellenmarkt zu n ­ utzen, um die Qualifikationsstruktur der Berufsausbildung und der Arbeitnehmer negativ zu verändern“ (S. 1). 419 Heinz-Peter Benetreu: Vermerk über das Gespräch mit den Kollegen der IG Bergbau und Energie am 27. 1. 1976 im Hause über die Möglichkeiten zur Regelung einer Berufsausbildung für Werker im Bergbau. Aktenvermerk, 29. 1. 1976, in: ebd. 5/DGAW000100, S. 1. 420 Ebd., S. 2. 421 Ebd. 422 Ebd., S. 3. 423 Heinz-Peter Benetreu: Verordnung über die Erprobung des Ausbildungsberufs „Berg- und Maschinenmann“ aufgrund § 28 Abs. 3 BBiG (Entwurf vom 12. 5. 1976). Schreiben an Paul Chruscz, IGBE, 28. 5. 1976, in: ebd., S. 1.

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Politisierungsstrategie scheiterte aber angesichts korporativer Konfliktmuster und Vereindeutigungsstrategien. Auf erneute Nachfrage erläuterte Paul Chruscz dem über seine Außenseiterposition in dem Verfahren erzürnten DGB-Vertreter die Strategie der IGBE . Die Gefahr bestehe, „daß seitens der Arbeitgeber Bergbau ein sogenannter Behindertenberuf angestrebt wird“, wenn die Ausbildungsberufe Berg- und Maschinenmann nicht erprobt würden.424 Der EBV habe eine Kammerregelung ausgearbeitet, diese auf Drängen der IGBE aber noch nicht der IHK Aachen vorgelegt. Gleichzeitig versicherte Chruscz, „daß es sich […] nicht um einen ‚Behindertenberuf‘ oder einen ‚Sonderausbildungsgang‘ handelt“.425 Die Zustimmung der IGBE war aber nicht nur strategisch motiviert. Im weiteren Verlauf drängte die Gewerkschaft in einem Register der Fürsorge auf eine positive Stellungnahme des DGB zu der Verordnung „im Interesse der davon betroffenen Jugendlichen“.426 Die Stellungnahme des DGB beschränkte sich schließlich darauf, den Ausdruck „Berg- und Maschinenmann“ zu kritisieren, der nah an der traditionellen Bezeichnung „Bergjungmann“ für ungelernte Arbeiter liege.427 Intern bilanzierte Benetreu im Januar 1977, dass die Einwände des DGB „nur unzureichend beachtet“ wurden: Der Name blieb und das BMWi berief den gewerkschaftlichen Dachverband auch nicht in die Sachverständigenkommission.428 Der konfrontativen Strategie von DGB und IGM waren also auch auf gewerkschaftlicher Seite Grenzen gesetzt. Gegen die Evidenz wissenspolitischer Ordnungen in korporatistischen Arrangements aus Fürsorge und Experimentierwille musste der DGB seine Bedenken zurückstellen, um sich nicht gegebenenfalls eine Doppelmoral vorwerfen lassen zu müssen. Darüber hinaus war die Situation komplexer, als eine Gegenüberstellung von Sonderausbildungen ablehnenden Gewerkschaften einerseits und befürwortenden Unternehmen und Kammern andererseits suggeriert. Auch Gewerkschaften konnten aus einer wissenspolitischen Binärordnung verschiedene Folgerungen und Strategien ableiten. Seine Durchschlagskraft bewies das korporatistische Arrangement von IGBE, RAG und WBK in den Verhandlungen mit dem BMWi und dem BMBW. Auch hier setzte sich eine konsensuale Definition von Differenz gegenüber ­sonderpädagogischer

424 Ders.: Vermerk über die Telefongespräche mit den Kollegen der IGBE, Hauptvorstand, Bochum, am 19. 8. 1976 über den Entwurf der Verordnung über die Erprobung der Ausbildungsberufe Berg- und Maschinenmann, Stand: 13. 8. 1976. Aktenvermerk, 23. 8. 1976, in: ebd., S. 2. 425 Ebd., S. 3. 426 Paul Chruscz: Erprobung neuer Ausbildungsberufe zum Berg- und Maschinenmann. Schreiben an Heinz-Peter Benetreu, 14. 9. 1976, in: ebd. 427 Maria Weber: Erprobung neuer Ausbildungsberufe zum Berg- und Maschinemann. Stellungnahme an das BMWi, 12. 10. 1976, in: ebd., S. 1. 428 Heinz-Peter Benetreu: Schreiben an Felix Kempf, 14. 1. 1977, in: ebd., S. 1.

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­Theorie durch – auch weil die Bergbauverantwortlichen auf einen Verweis auf Paragraf 48 des Berufsbildungsgesetzes verzichteten. Es handele sich, so positionierte sich die RAG, um eine „Zwischenschicht von Jugendlichen“ – zwar „ausbildungsfähig“, aber nicht für bisher anerkannte Ausbildungsberufe.429 Da in der Bundesrepublik etwa 250.000 Jugendliche dieser „Zwischenschicht“ zuzuordnen s­eien, versprach sich der Konzern eine „erhebliche Signalwirkung“.430 Auf eine Sonderausbildungsregelung sollte hingegen verzichtet werden, da „bei der Zielgruppe vorhandene intelligenzmäßige Behinderungen nach den Erfahrungen der RAG weitgehend nicht als notwendig dauerhaft anzusehen sind“.431 Dementsprechend plädierten die Bergbauvertreter für den Erlass einer Erprobungsverordnung, die nach drei Jahren in ein reguläres Berufsbild umgewandelt werden sollte. Ziel war, wie der zuständige RAG-Abteilungsleiter ausführte, die exakte Feststellung einer vermeintlichen Bildbarkeitsgrenze: „Der Modellversuch soll auch Klarheit darüber bringen, ab welcher unteren Leistungsgrenze Auszubildende noch in die BergbauFachwerker-Ausbildung einbezogen werden können.“ 432 Das BMBW drängte in den Verhandlungen darauf, das Berufsbild nicht zu erproben, sondern direkt zu erlassen, um eine präzise inhaltliche Charakterisierung zu erreichen. Angesichts der „eindringlichen Argumentation der Sozialpartner“ sah es sich aber gezwungen, der Erprobungsverordnung zuzustimmen.433 Bei dem Einwand handelte es sich allerdings mitnichten um eine juristische Spitzfindigkeit. Da die Ausbildungsinhalte bei einer Erprobungsverordnung unspezifischer sein konnten, insistierte das Bildungsministerium, dass es sich bei der Verordnung um ein „aliud nicht minus“ im Vergleich zum zeitgleich erlassenen Berufsbild des Bergmechanikers handeln müsse.434 Wegen der „präjudiziellen Wirkung auf andere Ausbildungsgänge“ bezweifelte das BMBW , dass durch exekutive Maßnahmen Sonderausbildungen „für lernschwächere Jugendliche“ anerkannt werden sollten.435 4 29 Baumann: Möglichkeiten, 10. 11. 1975, S. 1. 430 Ebd. 431 Ebd., S. 2. 432 Heinz Weckelmann: Ergebnisprotokoll zu einer Besprechung am 18. 12. 1975 bei der RAG, Essen, zur Berufsbildung des Berg- und Maschinenmanns, 17. 12. 1975, in: BArch B 102/275930, S. 3. 433 Baumann: Ausbildungsberufe niedrigen Abschlußniveaus; hier: Ausbildungsregelung für bisherige Bergjungarbeiter. Bitte um weitere Unterrichtung vom 30. Mai 1976. Aktenvermerk, 21. 6. 1976, in: ebd. B 102/275931. 434 Baumann: Verordnung über die Erprobung der Berufsausbildung zum Berg- und Maschinenmann. Sitzung im BMWi am 15. Juli 1976. Protokollentwurf, „nicht abgeschickt“, 4. 8. 1976, in: ebd., S. 2. 435 Lemke: Entwurf einer Verordnung nach § 28 Abs. 3 BBiG über die Erprobung der Ausbildungsgänge zum Berg- und Maschinenmann – Vortrieb und Gewinnung, Berg- und Maschinenmann – Montage und Wartung sowie Berg- und Maschinenmann – Förderung und Transport.

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Auch wenn das BMBW sich der Verordnung anschloss, setzte es die Aufnahme zusätzlicher Inhalte in das Berufsbild voraus, „damit die Ausbildung zum Bergund Maschinenmann sich gegenüber der Ausbildung zum Bergmechaniker als ein ‚Aliud‘, und nicht lediglich als ein ‚Minus‘[,] darstellt“.436 Das BMWi musste das Bildungsministerium aber enttäuschen. Hinsichtlich der zusätzlichen Inhalte, die nötig waren, um eine Andersartigkeit und keine Minderwertigkeit der Ausbildung zu markieren, s­ eien „keine Vorschläge der Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite [zu] erwarten“.437 Der Kompromiss, der für BMWi und BMBW das Aliud markieren sollte, erkannte schließlich die Hoheit des Bergbaus und dessen Suche nach den Grenzen der Bildbarkeit an: „Während der Erprobung der Ausbildungsberufe sollen aus weiteren Tätigkeitsbereichen zusätzliche Ausbildungsinhalte in die Ausbildung aufgenommen werden.“ 438 In dem Moment, als sich die Aushandlung des Verhältnisses von Arbeit, Begabung und Zukunft auf Bundesebene und in der Metallindustrie politisierte, setzte sich im Bergbau in der Frage, wie der Wille zur Umstellung zu vereindeutigen sei, ein korporatistisches Monopol durch: Sowohl gegenüber dem DGB als auch gegenüber der Ministerialverwaltung setzten IGBE, RAG und WBK ihre Vorstellungen durch. Die damit einhergehende Polarisierung blieb auch der Öffentlichkeit nicht verborgen. So verkündete Die Welt unter Rückgriff auf die Gegenüberstellung von „theoretischen“ und „praktischen“ Begabungen, der Bergbau gehe mit der Zeit und schaffe mit dem Bergmechaniker das Berufsbild für den „vorwärtsstrebenden, geistig beweglichen Jungen“.439 Der Berg- und Maschinenmann hingegen biete sich für die „‚schulmüden‘“ Jugendlichen an, deren „kognitives Leistungsvermögen […] schwach ausgeprägt“ sei.440

­ esprechung im BMWi am 15. 7. 1976; Verordnungsentwurf des BMWi vom 27. 7. 1976. Schreiben B des BMBW an das BMWi, 4. 8. 1976, in: ebd., S. 1 und 3. 436 Ebd., S. 3. 437 Ernst von Beauvais: Entwurf einer Verordnung nach § 28 Abs. 3 BBiG über die Erprobung der Ausbildungsberufe zum Berg- und Maschinenmann – Vortrieb und Gewinnung, Berg- und Maschinenmann – Montage und Wartung sowie Berg- und Maschinenmann – Förderung und Transport. Schreiben an das BMBW, 9. 11. 1976, in: ebd., S. 1. 438 Lemke: Entwurf einer Verordnung nach § 28 Abs. 3 BB iG über die Erprobung der Ausbildungsberufe zum Berg- und Maschinenmann – Vortrieb und Gewinnung, Berg- und Maschinenmann – Montage und Wartung sowie Berg- und Maschinenmann – Förderung und Transport. Schreiben an das BMW i, 21. 12. 1976, in: ebd., S. 1. Vgl. auch die entsprechende Verordnung vom 4. 5. 1977, in: Bundesgesetzblatt Nr. 27, 6. 5. 1977, S. 676 – 687, hier S. 677. 439 Hermann Mischok: Die Berufsausbildung paßt sich der technischen Entwicklung an. Glückauf dem Bergmechaniker, in: Die Welt, 29. April 1977, enthalten in: AdsD 5/DGAW000100. 440 Ebd.

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Der Beobachtungsaufwand, der mit der Erprobung des Ausbildungsberufs einherging, verhielt sich – entsprechend der Bedeutung, die die Beteiligten ihm zuschrieben – umgekehrt proportional zur quantitativen (und auch praktischen) Relevanz für das Berufsbildungssystem der Bundesrepublik. Auf die in den Jahren von 1976 bis 1978 im Ruhrgebiet und im Aachener Revier eingestellten rund 1000 Jugendlichen konzentrierte sich, neben den bei der WBK beschäftigten Wissenschaftlern und Sozialpädagogen des Pädagogischen Diensts, eine achtköpfige Forschungsgruppe.441 Mit einem Methodenarsenal, das von Lehrer- und Ausbildergesprächen über Gespräche und Gruppeninterviews mit den Auszubildenden sowie Beobachtungen in der Ausbildung bis hin zu Intelligenztests und Curriculumanalysen reichte,442 versuchte der Bericht, die Eindeutigkeit herzustellen, die sich RAG und IGBE gewünscht hatten: Die Erfahrungen des Bergbaus belegten, dass Jugendliche ohne Hauptschul- oder mit Sonderschulabschluss „zum größten Teil in der Lage sind, eine Ausbildung in einem anerkannten Beruf zu absolvieren“.443 Was aber ein anerkannter Beruf war, konnte der Bergbau entscheiden. Diese Schlussfolgerungen, die inhaltlich – wie oben ausgeführt – auf einem neuen Beobachtungsverständnis von Körperlichkeit, Sprachlichkeit und Alterität in den Bergberufsschulen beruhten, gingen damit einher, dass sich die bergbaulichen Ausbildungsinstitutionen mit der Einstellung von (ausschließlich männlichen) Sozialarbeitern wie in den 1950er Jahren dem Milieu der Auszubildenden zuwandten. Ihr Ziel sahen diese neuen Akteure darin, zu belegen, „daß auch bislang am Schulsystem gescheiterte Jugendliche mit zusätzlicher Lernunterstützung eine berufliche Qualifikation zu erwerben in der Lage sind“.444 Evidenz und Vereindeutigung von Begabung erreichten die Sozialpädagogen der WBK in diesen Fällen – in Modellversuchen und den Maßnahmen zur beruflichen und sozialen Eingliederung jugendlicher Ausländer (MBSE-Maßnahmen) – nicht über

4 41 Vgl. zu den Zahlen: Ergebnisse der Erprobung der Ausbildungsberufe Berg- und Maschinenmann. Anlage 1 zum Schreiben an den Bundeswirtschaftsminister, o. D. [1978], in: BArch B 102/275932, S. 1. Zur Forschungsgruppe und zur Beobachtung des Versuchs Hans Werner Busch u. a.: Erprobung der Ausbildungsberufe Berg- und Maschinenmann. Vortrieb und Gewinnung. Montage und Wartung. Förderung und Transport. Abschlußbericht der Wissenschaftlichen Begleitung, Berlin 1982. 4 42 Busch u. a.: Erprobung, S. 44 – 49. 4 43 Ebd., S. XXXIII. 4 44 Wolfgang Böttcher/Theo Köster: Sozialpädagogik und berufliche Bildung. Erfahrungen aus der sozialpädagogischen Begleitung benachteiligter Jugendlicher. Das Beispiel der Sonderbildungsmaßnahmen der Westfälischen Berggewerkschaftskasse und des Jugendheimstättenwerks (DJIMaterialien: Materialien zur Schulsozialarbeit 16), München 1986, S. 190.

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­ issenschaftlichkeit und Wahrheit, sondern über Reflexivität und Zweifel.445 Ein W Selbstverständnis als „Handlungsforscher in eigener Sache“ ersetzte mechanischobjektive Quantifizierungen, die den „individualistisch-leistungsorientierten Prinzipien der modernen Gesellschaft“ zugeschrieben wurden, durch eine autoritative Milieukenntnis.446 Mit Emanzipationsemphase forderten die Sozialpädagogen die „Förderung und Entwicklung einer ‚ganzen Person‘“ und damit eine Ausbildung, „die weniger an Leistung, Verwertbarkeit und Ökonomie orientiert ist und an Entfremdung in der modernen Arbeitswelt gewöhnt“.447 Diese Selbstlegitimation der Sozialpädagogik schuf gleichzeitig deren Tätigkeitsfeld, das die Sozialarbeiter der WBK in Betrieb, Schule, Familie und Freizeit, also in „alle[n] Lern- und Sozialisationskontexten“ ausmachten.448 Im Falle des Berg- und Maschinenmanns konnte diese Vereindeutigungsform hohe Geltung beanspruchen. Bereits im November 1978, anderthalb Jahre nach Beginn der Erprobung, beantragten der Gesamtverband des deutschen Steinkohlen­ bergbaus und die IGBE wegen des durchschlagenden Erfolgs des Versuchs den vorzeitigen Erlass eines neuen Ausbildungsberufs.449 Innerhalb eines halben Jahres wurde das Berufsbild erlassen und institutionalisiert – auch weil, wie das BIBB lobte, die Begleituntersuchung die „Betroffenen nicht als bloße Objekte der Beschreibung und Behandlung“ verstehe, sondern einem „Interaktionskonzept“ folge und die Perspektive dementsprechend weite.450 Lösten die Bergbauvertreter so ein P ­ roblem, an dessen Herstellung sie selbst beteiligt gewesen waren, entzog sich die Vereindeutigung der Begabungshierarchie dem einfachen Dekret. Einer der an der Begleitforschung beteiligten Mitarbeiter widmete seine Doktorarbeit den Bergjungarbeitern – also Jugendlichen, die weder eine Ausbildung zum Bergmechaniker noch eine zum Berg- und Maschinenmann erhalten hatten – und der Frage, wie diese sich „wirklich“ selbst verstehen würden.451 Indem er sich d ­ ieser Gruppe durch 4 45 Zu den MBSE-Maßnahmen, aber mit ähnlicher Stoßrichtung vgl. Christa Bröckelmann/Lothar Wentzel: Zum Bergmann wird man gemacht. Zur Legende von der Unmöglichkeit, späteingewanderte türkische Jugendliche beruflich zu qualifizieren, Münster 1985. 4 46 Ebd., S. 36 und 17. Als Überblick zu den Ausbildungsmaßnahmen des Bergbaus vgl. ebd., S. 38 – 55. 4 47 Ebd., S. 191. 4 48 Ebd., S. 113. 4 49 Jakob/Heinrich Gierhardt: Verordnung über die Erprobung der Ausbildungsberufe Berg- und Maschinenmann vom 4. Mai 1977; Bundesgesetzblatt, Jahrgang 1977, Teil I, Seite 676 ff. Schreiben des Gesamtverbands des deutschen Steinkohlenbergbaus an das BMWi, 24. 11. 1978, in: BArch B 102/275932. 450 Vgl. Verordnung über die Berufsausbildung zum Berg- und Maschinenmann vom 22. Juni 1979; BIBB: Information über die Erprobung des neuen Ausbildungsberufes „Berg- und Maschinenmann“ gemäß § 28(3) BBiG. Vermerk, Juni 1979, in: AdsD 5/DGAW000133, S. 4. 451 Barrabas: Selbstbild, S. 1. Hervorhebung im Original.

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quantifizierende Befragungsmethoden näherte, löste Reinhard ­Barrabas eine neue Vereindeutigungsspirale aus: Er legte den Fokus auf diejenigen, die durch die neue hierarchisch-binäre Berufsordnung nicht erfasst wurden. Auf d ­ iesem Weg stellte er Daten über eine neue, potentiell integrierbare „Randgruppe“ bereit. Ausschließende Wissenspolitik einerseits und das Streben nach infinitesimaler Untergliederung andererseits bedingten einander. Die wissenspolitische Vereindeutigungsspirale machte neue Vereindeutigungsversuche erforderlich. Eindeutig war nur: Eine absolute Gleichheit würde es in der Zukunft der Arbeit nicht geben. An die Stelle des mit dem einen Facharbeiterbrief verbundenen absoluten Gleichheitsverständnisses trat ein binäres. War Ersteres faktisch bereits hochgradig exklusiv, verschärften sich diese Ausschlüsse und fanden sich nun auch auf theoretischer Ebene. Kaum dass sich diese Differenz der Arbeit durchgesetzt hatte, machte sie neue Untergliederungen und Vereindeutigungen erforderlich. Anders formuliert: An die Stelle einer universalistischen Auffassung der Zukunft der Arbeit und ihrer Anthropologien trat ein Verständnis der „differentiated inclusion“.452 Entscheidendes Kriterium war die Bildungsfähigkeit der Auszubildenden. Diese Grenze war fluide und uneindeutig, sie wurde verhandelt und verschoben, mal war sie kategorisch, mal osmotisch – dass es das „Minus“ industrieller Arbeit aber gab, bezweifelte mit dem Erlass ­dieses Berufsbilds Ende der 1970er Jahre, anders als zu Beginn der 1960er Jahre, niemand mehr. Zusammenfassend zeigt d ­ ieses sechste Kapitel die Verschiebung von einer Wissenspolitik der Anpassung zu einer des Ausschlusses und ­welche Inhalte, Methoden und Aneignungen in der beruflichen Erstausbildung der Schwerindustrie damit einhergingen. Angesichts des binären Vereindeutigungspotentials des Lernbehinderungsbegriffs wandten sich gegen Ende der 1960er Jahre die Ausbildungsinstitutionen der Schwerindustrie d ­ iesem Schwellenbegriff arbeitsbezogener Bildbarkeit zu. Basierte diese Orientierung auf korporatistischen und lokalen Arrangements, erfuhr diese Binarität angesichts der steigenden Jugendarbeitslosigkeit Mitte der 1970er Jahre auf Bundesebene eine Politisierung. Auf lokaler und Branchenebene behielt sie aber ihre handlungsleitende und konsensstiftende Wirkung. Durch eine inhaltliche Ausweitung der Beobachtungsachsen von einer vermeintlich körperlosen, quantifizierbaren Intelligenz zu einer erneut holistischen, die Körperlichkeit, Sprachlichkeit und Alterität der Auszubildenden einbeziehenden Betrachtung schufen die Bergbauverantwortlichen die Evidenz, die sie benötigten, um eine eigene Sonderausbildung ins Leben zu rufen. Diese trug zwar diesen Namen nicht, bot 452 Vgl. Jean-François Ravaud/Henri-Jacques Stiker: Inclusion/Exclusion. An Analysis of Historical and Cultural Meanings, in: Gary L. Albrecht (Hg.): Handbook of Disability Studies, Thousand Oaks 2003, S. 490 – 512, S. 504 f., die sich damit auf Institutionen der Einschließung beziehen. Hier geht es um eine „differentielle Inklusion“ im wörtlichen Sinne.

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aber eine institutionelle Antwort auf die in den 1950er Jahren auftretende Frage nach dem Willen zur Umstellung: In der Arbeitswelt der Zukunft würde es diejenigen geben, die als „unternehmerisches Selbst“ die erforderliche Anpassungs­ fähigkeit an den Tag legen – und diejenigen, die dazu nicht fähig sein würden. Die Grenze war zwar verhandel- und verschiebbar; dass es sie aber gab, galt spätestens im Jahr 1979 als wahr. Der Strukturwandel als epistemischer Apparat hatte seine generische Funktion entfaltet.

7 Schluss – Für eine pessimistische Geschichte der Bundesrepublik Als sich im Juli 1967 die Jugend der IGBE in Bochum versammelte, gab sie sich in festlicher Stimmung. Verschiedene Bands bespielten „200 Großzelte“. Auf den zweiten Blick allerdings legten sich Schatten auf die sommerliche Euphorie. Die Bergbaujugend wollte von Walter Arendt, ihrem Gewerkschaftsvorsitzenden, wissen, „welche Chancen er ihrem Beruf noch gibt“. Denn, so zeigte sich ein Funktionär im Interview überzeugt, „was als Kohlenkrise begann“, werde „als Personalkrise enden“. Dem Bergbau fehle der qualifizierte und qualifizierbare Nachwuchs, sodass der Redakteur, der über die Feier berichtete, suggestiv fragte: „Sind es nur die Dummen, die zum Bergbau streben?“ 1 Bei dieser Meldung handelte es sich mitnichten um ein lokalhistorisches Kuriosum. Die von dem Reporter gestellte Frage führt in das Herz des Experimentalsystems Strukturwandel hinein, dessen Inhalte, Methoden und Aneignungen in der vorliegenden Arbeit analysiert wurden. Anders als viele Erzählungen – arbeits-, bildungs- sowie geschichtswissenschaftliche – suggerieren,2 lässt sich die Frage, ob Arbeit seit den 1950er Jahren anspruchsvoller oder anspruchsloser geworden sei oder sich Qualifikationsgefüge polarisiert haben, historiografisch nicht beantworten.3 Ebenso wenig lässt sich Humankapital ex post bestimmen, geschweige denn als Analysekategorie ­nutzen.4 Der „Strukturwandel“ zog keine Höherqualifizierung, Dequalifizierung oder Polarisierung der Qualifikation nach sich. Er begründete vielmehr immer neue und intensivere Bestrebungen, Eindeutigkeit darüber zu schaffen, was der Wille zur Umstellung ist. Er warf die Frage danach auf, wie dieser Wille beschaffen sei und ob oder auch wie er sich steigern ließe. Die Geschichte, 1 Fragen nach der Zukunft. Beat-Wettbewerb mit 15 Bands/200 Großzelte, in: Ruhr-Nachrichten, 1. Juli 1968. 2 Vgl. zuletzt Raphael: Knowledge, der ein „general movement towards upskilling“ (ebd., S. 368) diagnostiziert. 3 Zu der Schlussfolgerung, „man kann nicht eins zu eins die Jugendlichen einer Epoche mit jenen der vorangehenden Generation [hinsichtlich ihrer Qualifikation] vergleichen“, kommen auch Laurence Coutrot/Annick Kieffer/Roxane Silberman: Travail non qualifié et changement social, in: Dominique Méda u. a. (Hg.): Le travail non qualifié. Permanences et paradoxes, Paris 2005, S. 95 – 119, hier S. 117. 4 So etwa bei Philipp Ther: Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent. Eine Geschichte des neoliberalen Europa, Berlin 2016, S. 131 – 138, der unter dem Begriff „individuelle und gruppenbezogene Ressourcen und Fähigkeiten, mit den Herausforderungen der Transformation zurechtzukommen“ (S. 131), fasst.

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die sich hinsichtlich des Verhältnisses von Arbeit und Qualifikation erzählen lässt, muss sich also auf die Prämissen dieser Qualifikationserzählungen konzentrieren. In der schwerindustriellen Berufsbildung dominierte in Deutschland und Frankreich, wie in Kapitel 2 argumentiert wurde, mit der Herausbildung eines ökonomischen Interesses für Berufsbildung seit den 1920er Jahren eine Vereindeutigungslogik, die sich als moralisch-holistische Eingliederung charakterisieren lässt. In dieser Logik ging es den Ausbildungsverantwortlichen weniger um Mobilität, Flexibilität und Anpassungsfähigkeit denn um Sesshaftigkeit, Stabilität und Moral. Als dominante Motive d ­ ieses Konsenses z­ wischen Deutschland und Frankreich wurde zunächst die antikommunistische Erzählung des moralischen Verfalls identifiziert. Problem der Ausbildung war es, die bei der Jugend identifizierten Degenerationserscheinungen (durch Freizeit, Medien, Krieg) zu lindern. Als Mittel diente eine Milieukontrolle, die den Auszubildenden in all seinen Lebensäußerungen zu erfassen, zu katalogisieren und zu kategorisieren beabsichtigte. Zuletzt einte sowohl die bundesrepu­ blikanische als auch die französische, aber auch die europäische Ausbildungseuphorie ein Interesse an Führung und Hierarchisierung: unter christlichen Auspizien in der Bundesrepublik, unter den asymmetrischen Gegenbegriffen von Elite und Masse in Frankreich. Die Bemühungen um Ausbildung in der Nachkriegszeit in beiden Ländern gingen gleichzeitig auf eine intensive Zirkulation von Wissen über Ausbildung ­zwischen Vichy-Frankreich, dem besetzten Nordfrankreich und dem Deutschen Reich zurück. Wiederum in vergleichender und transnationaler Perspektive wurde im dritten Kapitel nachgezeichnet, wie sich, ausgehend von Südfrankreich und über die EGKS , in der aufkommenden Strukturwandeldebatte eine neue Perspektive auf Ausbildung herauskristallisierte. Der Umstellungsdiskurs fand im Willen zur Umstellung ein neues epistemisches Ding, an dem das Verhältnis von Arbeit und Begabung verhandelt wurde. Als Ausdruck dieser Suchbewegung fungierte der Begriff der Mobilität als Medium, das einerseits Diskussionen bündelte und scheinbar vereindeutigte, andererseits durch seine notorische Unbestimmtheit weithin anschlussfähig und ausdeutbar war: Sowohl protestierende südfranzösische Bergarbeiter, niederländische EGKS -Funktionäre und Soziologen als auch westdeutsche Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter sowie die Arbeitsverwaltungen konnten mit ­diesem Begriff agieren – gaben ihm aber ein jeweils eigenes Gepräge. Daneben bot der Mobilitätsbegriff den Hintergrund für neue Versuche, das Verhältnis von Arbeit und Begabung zu vereindeutigen, was an den Beispielen der Stufenausbildung bei Krupp in der Bundesrepublik, der Cours Techniques Miniers in Frankreich sowie der europaweiten Euphorie für die kybernetische Pädagogik nachgezeichnet wurde. Hinter diesen Methoden, die dem epistemischen Ideal der mechanischen Objektivität folgten, stand die Vorstellung einer Wissenspolitik der Anpassung. Diese bezeichnet die Annahme, dass die Arbeit

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der Zukunft zwar nicht mehr eindeutig zu bestimmen sei, allerdings verschiedene Anforderungsstufen industrieller Arbeit (etwa Werker, Facharbeiter, Techniker) bestehen bleiben würden, die an die „echte“ Begabung angepasst werden müssten – und an die sich die Auszubildenden anzupassen hätten. Mit der Rezession 1966/67 entwickelten sich der deutsche und der französische Fall der industriellen Wissenspolitik aber auseinander: Während der französische Bergbau Ausbildungsund Umstellungsmaßnahmen zurückfuhr und sich deren Aushandlung auf den Zentralstaat verlagerte, kristallisierte sich in der Bundesrepublik die Raumkonfiguration des Ruhrgebiets als Experimentalsystem und Interventionsfeld heraus. Vor ­diesem Hintergrund und aus den auseinanderstrebenden Vektoren folgte ein Fokus auf zwei Sozialfiguren, die die westdeutsche Debatte um den Willen zur Umstellung seit der Rezession 1966/67 dominierten und die im deutsch-französischen Vergleich ein bundesrepublikanisches Spezifikum darstellten: der „ältere Arbeitnehmer“ und der „lernbehinderte“ Auszubildende. In Kapitel 4 wurde die in Frankreich so gut wie nicht, in der Bundesrepublik jedoch ausgiebig geführte Debatte um die Bildbarkeit des „älteren Arbeitnehmers“ untersucht. Die Frage des Willens zur Umstellung und die Mobilität des Bergarbeiters zeichneten sich inhaltlich durch ihre Anknüpfung an und ihren Rückbezug auf die Rassenanthro­ pologie sowie durch ein Verschwimmen der Grenzen ­zwischen Alter, Männlichkeit und Behinderung aus. Durch einen transnationalen (Frankreich, Belgien, die Niederlande) und einen disziplinären (Rehabilitationswissenschaft) Transfer wie auch durch Quantifizierungspraktiken versuchten die Beteiligten – allen voran das BMA –, Eindeutigkeit über das Mobilitätspotential Umzuschulender herzustellen. Diese Versuche führten allerdings nur zu neuer Uneindeutigkeit. Die mechanische Objektivität der Mobilität schuf durch die vermeintliche Eindeutigkeit der Kreuztabelle neue Deutungsspielräume. In Kapitel 5 wurde den von diesen Vereindeutigungsbemühungen herrührenden Bildbarkeitsexperimenten, die das Bfz, die GVB und das gescheiterte Anpassungszentrum darstellten, nachgespürt. Diese institutionelle Architektur kann als Versuch des Bundesarbeitsministeriums verstanden werden, über dem Ruhrgebiet ein Netz der Mobilitätserfassung und -förderung aufzuspannen, das einer Logik der Anpassung folgte. Gleichzeitig sollte es für die Bundesrepublik beispielhaft sein und als Nukleus eines westdeutschen Umschulungs- und Umstellungssystem fungieren. In dem Scheitern ­dieses institutionellen Netzes angesichts inkongruenter betrieblicher Aneignungslogiken und der offenen Verwendung des Begriffs der Mobilität – der auch dazu dienen konnte, Frauen von Umschulungen fernzuhalten – zeigte sich schließlich die Ambivalenz des Beweises der Bildbarkeit des „älteren Arbeitnehmers“: In dem Maße, in dem der Wille zur Umstellung – im Spannungsfeld von mechanischem und korporatistischem Verständnis der Objektivität – bewiesen werden sollte, diente seine Leugnung gleichzeitig dazu, das Scheitern

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von ­Umschulungsmaßnahmen zu rechtfertigen. Eine Anpassung von Arbeits- und Wissensniveaus scheiterte vor allem daran, dass sie sich in den etablierten sozialstaatlichen Zuständigkeits- und Personengruppenlogiken als nicht kommunizier- und vermittelbar erwies. Die Abstufung der Anpassungsfähigkeit zog sich zusammen und endete in der ausschließenden Wissenspolitik von Anpassungsfähigkeit und -unfähigkeit. Umschulungen und Anpassungsausbildungen setzten sich also langfristig nicht als dominante sozial- und bildungspolitische Instrumente durch, weil sie auf der ambivalenten Frage nach der Umstellungsfähigkeit gegründet waren – und nicht nur, weil „nach dem Boom“ die finanziellen Spielräume des Sozialstaats schrumpften. Die qualitative Ambivalenz stellte die Kehrseite der Medaille scheinbar eindeutiger quantitativer Zwänge dar. Das Scheitern des Arbeitsförderungsgesetzes lag nicht ausschließlich an exogenen Krisen und Erfordernissen. Es war in der Suche nach dem Willen zur Umstellung ebenso endogen begründet. Darüber hinaus zeigen beide Kapitel zur Geschichte der Umschulung, dass Wissenspolitik für die Arbeiter, deren Mobilität fraglich wurde, Aneignungspotentiale eröffnete: Diese Spielräume zeigten sich zum einen in der institutionellen Ausgestaltung des Umschulungssystems, wenn etwa Steigern auf Nachfrage beim nordrheinwestfälischen Ministerpräsidenten der Weg in den Schuldienst eröffnet wurde. Zum anderen konnten Arbeiter sich auch die Annahme einer fehlenden Umstellungsfähigkeit – wie im Fall der vom Bochumer Pastor Leipski vertretenen Bergarbeiter – aneignen, um sich Anpassungsansprüchen zu entziehen. Das Motiv der Bricolage zeigte sich aber nirgends so deutlich wie in den sozialwissenschaftlichen Interviews und Befragungen, die mit der Problematisierung der Ruhrbevölkerung einhergingen. Die Konstellation, die sich ergab, war nicht die des Gegensatzes von Social Engineering und widerständigen Individuen. Es handelte sich vielmehr um die Inkongruenz einer Beobachtungslogik des Labors und einer Subjektlogik des Theaters – die auch im Scheitern der GVB als Umstellungsbetrieb wirkte. Ein vergleichbarer Prozess wurde in Kapitel 6 in der schwerindustriellen Berufsausbildung in der Bundesrepublik identifiziert. Der Qualifizierungsimperativ führte – nach der Euphorie für Stufenausbildung und kybernetische Pädagogik – dazu, dass sich eine binäre, ausschließende Wissenspolitik, die ­zwischen „lernbehinderten“ und „normalen“ Jugendlichen unterschied, durchsetzte. Zunächst folgte diese Ordnung der Minderbegabung einer Mischung aus mechanischem und korporatistischem Objektivitätsverständnis, die auf lokaler Ebene konsensuale Lösungen wie das Duisburger Modell nach sich zog. Dieses einhellige Vorgehen auf Kammerebene erfuhr, vor dem Hintergrund der sich ausbreitenden Jugendarbeitslosigkeit, in den 1970er Jahren eine Politisierung auf Bundesebene. Anhand der Konflikte um Sonderausbildungen nach Paragraf 48 des Berufsbildungsgesetzes wurde eine dreifache Verschiebung nachgewiesen, die in zwei Pfade der Institutionalisierung mündete: Inhaltlich gerieten neue Gruppen wie „ausländische“ Auszubildende sowie der sich

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bewegende Körper des Auszubildenden in den Fokus der Ausbildungsinstitutionen. Bei den Praktiken weitete sich das mechanische Objektivitätsverständnis zu einer kritischen Milieubeobachtung. Auf der Ebene der Aneignung konfligierte ein lokaler Fürsorgeanspruch, der einem proportionalen Gleichheitsverständnis verpflichtet war, mit einem nationalen Gerechtigkeitsanspruch, der sich aus einem formalen Gleichheitsverständnis herleitete. In der Hüttenwerkerausbildung sowie der Ausbildung zum Berg- und Maschinenmann fanden diese Gleichheitsverständnisse ihre Institutionalisierung: lokal-konfliktbehaftet im ersten Fall, national-korporatistisch im zweiten. Die Suche nach dem Willen zur Umstellung seit den 1950er Jahren fand so ihren ersten Schlusspunkt in der institutionellen Anerkennung begabungsbezogener Differenz in der beruflichen Bildung. Mit Blick auf die eingangs aufgeworfenen Fragen nach Inhalt, Praktiken und Aneignungen der Wissenspolitik birgt die vorliegende Arbeit insgesamt drei Erzählbögen: Auf inhaltlicher Ebene wurde der Übergang von einer moralisch-holistischen Eingliederungslogik über eine anpassende hin zu einer ausschließenden Wissenspolitik erzählt. Konstant blieb dabei die Vorstellung eines Gegensatzes von „praktischer“ und „theoretischer“ Begabung. Darüber hinaus war der Begriff der Mobilität viel zentraler für die Bundesrepublik als der des Humankapitals, der kaum eine Rolle spielte. Dann, und auf der Ebene der Praktiken, wurde in der Arbeit unterschieden ­zwischen einer moralisch-holistischen Milieubeobachtung und einer mechanischen Objektivität, die den moralischen Holismus ablöste. Dieses Ideal wiederum ging über in eine kritischen Milieubeobachtung, also eine Umkehrung der moralisch-holistischen Vorzeichen des Umgangs mit Individuen in Ausbildung. Zuletzt und auf der Ebene der Aneignung ist die Erzählung perspektivischer Natur: Anhand der spärlich überlieferten Beispiele wurde argumentiert, dass Wissenspolitik als Herrschafts- und Machttechnik systematisch Widersprüche erzeugte – nicht im Sinne eines heroischen Widerstands von Arbeitern, sondern im Sinne einer Inkongruenz des Bastlers. Die Erfahrungsgeschichte der Umstellung zeichnet sich so als eine Geschichte inkompatibler Kommunikationslogiken des Labors und des Theaters aus. Die Akteur:innen dieser Wissensgeschichte der Ausbildung und Umschulung verfolgten Agenden, die sich als teils erwartbar, teils überraschend herausstellten. Die Gewerkschaften erwiesen sich insbesondere in der Frühphase der Ausbildungseuphorie als Fürsprecherinnen der Mobilität und der Anpassungsfähigkeit. Die Tradition der Arbeiterbildung ließ sich in den Imperativ der Qualifizierung, etwa über gewerkschaftseigene Programmierlehrgänge, integrieren. Dabei hatten die Gewerkschaften auch keine Bedenken, den hierarchisierenden Impetus einer anpassenden Wissenspolitik zu übernehmen, wie sich an gewerkschaftlichen Stufenausbildungsplänen zeigt. Angesichts der Verengung von Vereindeutigungsspielräumen in den 1970er Jahren befanden sie sich in einem Dilemma: Zeigten

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sie sich prinzipiell einem Gleichheitsideal der Arbeit verpflichtet und blockierten Sonderausbildungen, dominierte auf lokaler Ebene und im Bergbau ein Fürsorgeanspruch, der eine Beteiligung an ausschließenden Wissenspolitiken ermöglichte. Die Gleichheit der einen bedingte die Ungleichheit der anderen. Die Unternehmen und Wirtschaftsverbände, vor allem die Kammern, erwiesen sich in den 1960er Jahren als Gegner der Sprache der Anpassungsfähigkeit. Gegen die Mobilität des Individuums, die die Gewerkschaften vorbrachten, setzten sie die Elastizität des beruflichen Bildungssystems. Da sie um Stammbelegschaften und um ihre Hoheit über die Berufsbildung fürchteten, galt es insbesondere, eine Formalisierung und entsprechende Sanktionierung der Jugendlichen- und Erwachsenenausbildung zu verhindern. Auch in den 1970er Jahren dominierte auf Kammerebene ein Fürsorgeanspruch, unter dessen Ägide Sonderausbildungen gedeihen konnten – aber nicht notwendig mussten. Korporatistische Absprachen auf lokaler Ebene wogen schwerer als der Gegensatz von Kapital und Arbeit. In d ­ iesem Sinne agierten auch die Ausbildungsinstitutionen, die nicht einfach als Funktion ökonomischer Sachzwänge verstanden werden können. Unabhängig von der Branche und davon, ob es sich um Jugendlichen- oder Erwachsenenausbildung handelte, profilierten sie sich einerseits als Autoritäten der Vereindeutigung von Begabung. Andererseits vermengte sich dieser Habitus des Experiments mit christlich-sozialen und sozialmoralischen Fürsorgeansprüchen sowie korporatistischen Sachzwängen, die einem Siegeszug der Verwissenschaftlichung enge Grenzen setzten. Das Bundeswirtschaftsministerium verfolgte in d ­ iesem Bild eine Agenda, die es als herausragenden Anwalt einer Wissenspolitik der Anpassung auswies. Die Schaffung eines immer differenzierteren Systems von Anpassungseinrichtungen ging auf den Impuls des AFG zurück, erwies sich in den 1970er Jahren gegenüber der BA aber als immer weniger durchsetzbar. Der Beweis der Anpassungsfähigkeit des Arbeiters, prominent vorangebracht durch das Bfz, stellte sich als Pyrrhussieg heraus: Die Sprache der Anpassungsfähigkeit, einmal in der Welt, konnte sozialpolitische Investitionen ebenso legitimieren wie delegitimieren. Die Betroffenen, die Umschüler und Auszubildenden, nutzten die Möglichkeiten des Qualifizierungsimperativs situativ: Von einer affirmativen Aneignung der Behauptung der Bildungsunfähigkeit, um der empfundenen Zumutung einer Umschulung zu entgehen, bis zum aktiven Einsatz für neue Umschulungsmöglichkeiten waren alle Konstellationen denkbar. Als einendes Band erwies sich die sozialmoralische Sorge um die Erhaltung industriearbeitsbezogener Männlichkeit. In der vorliegenden Arbeit wurde der Anspruch vertreten, eine Wissensgeschichte der Ausbildung und Umschulung im „Strukturwandel“ zu schreiben. „Strukturwandel“, so die Annahme, stellte weniger einen Übergang von einem Produktionssektor zum anderen dar als vielmehr einen Modus der Aushandlung des Verhältnisses von Arbeit, Wissen und Differenz. Das methodisch-theoretische Argument

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der Arbeit liegt in einem Perspektivwechsel: Ausgehend von dem produktiven Zirkelschluss einer Wissensgeschichte des Wissens liegt dieser Arbeit das Plädoyer zugrunde, Wissen selbst zu historisieren, bevor es zur Erklärung von Wandlungsprozessen gebraucht wird. Wissenspolitik bezeichnet diese Sammlung von Wissen über Wissen – einerseits als Regulierungs- und Regierungsprozess, andererseits als Wahrheitspolitik der Herstellung von Differenz. Über den leeren Signifikanten des Willens zur Umstellung und die ihn umgebende Kette von Signifikanten wie Anpassungsfähigkeit oder Bildungsfähigkeit wurde diese Bevölkerungspolitik analysiert. Aus ­diesem Blickwinkel zeichnet sich das 20. Jahrhundert durch Vereindeutigungsspiralen aus, die sich beständig reproduzierten. Je vehementer versucht wurde, Wissen zu bestimmen und seine Bedeutung zu definieren, desto mehr Definitionen und Bestimmungen tauchten auf, desto uneindeutiger wurde es. Braucht es also den Begriff der Wissenspolitik? Sein Vorteil liegt zum einen darin, lineare Geschichten der Zu- und Abnahme von Wissen und Verwissenschaftlichung zugunsten eines spannungsreichen Kontinuums aufzugeben. Zum anderen ermöglicht er, auch nichtwissenschaftlichen Praktiken – wichtige, hier behandelte Beispiele sind korporatistische Aushandlungspraktiken und ein christlicher Fürsorgeanspruch – einen Platz in gesellschaftlichen Vereindeutigungsprozessen einzuräumen. Diese waren nicht „noch nicht“ verwissenschaftlicht, sondern Strategien eigenen Rechts und eigener Logik. Über die Geschichte verschiedener Wissensformen – etwa Migrationswissen, Bevölkerungswissen, Psychowissen oder andere „Bindestrich-Wissen“ – ist viel bekannt. Die Geschichte des Bestrebens hingegen, Eindeutigkeit über das Wesen von Wissen herzustellen, ist noch zu selten Thema – sowohl inhaltlich und praktisch als auch auf der Ebene der Aneignungen. Diese Untersuchung nimmt für sich in Anspruch, diese Geschichte für das Feld der Arbeit, der Deindustrialisierung und der Anthropologie des Arbeiters erzählt zu haben – auf der Ebene des Inhalts, der Praktiken sowie der Aneignung des Wissens. Aus einer solchen Geschichte ergeben sich vier Argumente, die für die zeithistorische Forschung und die Geschichte der Arbeit insgesamt von Relevanz sind. 1. Als konkrete Geschichte der Abstraktion erlaubte der Fokus der vorliegenden Arbeit eine andere Perspektive im Vergleich zu Studien, die um Begriffe wie Humankapital und Neoliberalismus kreisen.5 Die Dynamisierung der 5 Lutz Raphael spricht vom „Humankapital“ als „Chiffre einer kompakten Bildungsideologie“ (Raphael: Kohle, S. 258); Wendy Brown von der Ökonomisierung der Hochschulbildung (Brown: Revolution, S. 209 – 241). Dass sie sich ausschließlich auf die Hochschulen konzentriert, ist bereits hochgradig aussagekräftig und emblematisch für in dieser Arbeit skizzierte Prozesse der Aushandlung der inneren Bedeutung von Wissen. Historisierend mit Blick auf das Regelschulwesen Nordrhein-Westfalens argumentiert Alina Marktanner: Wie viel darf Schule kosten?

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­ irtschaftlichen Entwicklung „nach dem Boom“ habe, so diese Analysen des w Verhältnisses von Arbeit und Qualifikation, zu einer Fokussierung auf Eigenverantwortlichkeit und Selbstoptimierung sowie zu einer („neoliberalen“) Ökonomisierung von Bildung und Ausbildung geführt.6 Verantwortliche Akteur:innen sind in diesen Erzählungen meist internationale Verbände wie die OECD , die UNESCO oder auch Wissenschaftler:innen – also Produzent:innen exponierter Höhenkammliteratur. Für Frankreich entwickelte sich ein vergleichbares Narrativ. Jackie Clarke sprach für den nordfranzösischen Küchengerätehersteller Moulinex davon, dass die Nostalgie in Bezug auf eine industrielle Vergangenheit als „Rebellion“ gegen ein „neoliberales Zeitregime“ betrachtet werden könne, das jede Verweigerung als – die Wortwahl ist aussagekräftig, wird aber nicht weiter thematisiert – „grief-stricken immobilism“ brandmarke.7 ­Grégoire Chamayou argumentierte unter der Überschrift „Das Humankapital“ in konventionellen Erzählmustern, dass die Arbeitsproteste der 1960er Jahre zur Entdeckung der Subjektivität des Arbeiters als Ressource für das Unternehmen geführt hätten – die von Unternehmen in Reaktion eingeräumte Teilhabe also nur der „Selbstdisziplinierung“ gedient habe.8 Auch in diesen Geschichten der Deindustrialisierung stehen atomisierte Individuen einer übermächtigen, anonymen Macht, die von außen kommt und ihnen ihre Kategorien aufzwingt, gegenüber. Bei der Betrachtung von Wissen als Explanandum anstatt als Explanans sowie bei einem Fokus auf alltägliche Ausbildungsinstitutionen und deren Gremien zeigt sich für die Bundesrepublik eine weitgehende Abwesenheit d ­ ieses vermeintlichen Schlüsselkonzepts des Humankapitals – während es in Frankreich durchaus eine Rolle spielte. Die Analyse der Aushandlung der Bildungsfähigkeit von Industriearbeitern in Ausbildung und Umschulung belegt, so das zugespitzte Argument der Arbeit, dass es eher um Traditionen der Rassenanthro­pologie, der Geschichte der Lernbehinderung und der ­(Ver-)Messung von Mobilitätsverhalten ging als um Selbstoptimierung, Selbstkommodifizierung und Flexibilisierung. Natürlich gab es auch die dem „Neoliberalismus“ und dem „unternehmerischen Selbst“ zugeordnete Sprache – durch den sozialwissenschaftlichen Fokus auf ­sol­che

­ nternehmensberater als Erfüllungsgehilfen staatlicher Haushaltssanierung, 1980er und 1990er U Jahre, in: Graf (Hg.): Ökonomisierung, S. 117 – 138. 6 Vgl. stellvertretend Ariane Leendertz: Zeitbögen, Neoliberalismus und das Ende des Westens, oder: Wie kann man die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts schreiben?, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 65 (2017), S. 191 – 217, hier S. 212 – 217. 7 Jackie Clarke: Closing Time. Deindustrialization and Nostalgia in Contemporary France, in: History Workshop Journal 79 (2015), S. 107 – 125, Zit. S. 123 und 119. 8 Chamayou: Gesellschaft, S. 26 – 32, Zit. S. 39.

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Diskurse verschwimmt aber die basale, dem Experimentalsystem Strukturwandel zugrunde liegende Suche nach der Leitdifferenz postindustrieller Arbeit: derjenigen z­ wischen anpassungsfähigen und anpassungsunfähigen Individuen. Diese Grenze der Selbstoptimierung war nicht konstant – und lässt sich auch nicht endgültig feststellen –, sondern selbst historisch.9 Der wissensgeschicht­ liche Fokus auf jene Topoi, Register, Motive und Narrative zeigt darüber hinaus, wie unplausibel deren ideengeschichtliche Zuordnung zu einer bestimmten „Lehre“ oder „Ideologie“ ist. Der größte Gegner der Sprache und der Imperative der Anpassung, Umstellung und Qualifikation im Westdeutschland der 1960er Jahre waren die Kammern und Wirtschaftsverbände, die sowohl um ihre Stammbelegschaften als auch um ihre Hoheit über die Berufsbildung fürchteten. Nationalsozialismus, Keynesianismus, die Gewerkschaften, die Sozialdemokratie und die evangelische wie die katholische K ­ irche – alle suchten sie nach dem Willen zur Umstellung, alle pflegten sie eine Sprache der Mobilität, der Flexibilität und der Anpassungsfähigkeit. Umgekehrt und zugespitzt formuliert: Diese Sprache erweist sich als beliebig und inhaltsleer – und trug auch selbst keine Bedeutung, weder eine „kommodifzierende“ noch eine „befreiende“ oder „disziplinierende“. Eine lineare Entwicklungserzählung von „starren“ Berufskonzepten hin zu Deregulierung und Flexibilisierung – etwa die ebenfalls im Untersuchungszeitraum aufkommende „Schlüsselqualifikation“ oder die „Kompetenz“ – wird der Komplexität und der Verflochtenheit der verschiedenen Aushandlungsebenen nicht gerecht.10 Eine s­ olche Narration trägt der Konflikthaftigkeit der Wissensbegriffe und -verständnisse, ebenso wie deren Kehrseiten und Prämissen, keine Rechnung. Betrachtet man Wissen als Explanans und nicht als Explanandum gesellschaftlichen Wandels, stellt sich heraus, dass die Frage nach der Bildungsfähigkeit des Arbeiters die conditio sine qua non für sämtliche Entgrenzungsdiskurse darstellte. Die Entgrenzung als Leitmotiv der Geschichte der Arbeit und der Ökonomie verliert damit aber wiederum ihre Zwangsläufigkeit und den Fluchtpunkt der infiniten Selbstopti­ mierung. Mit Blick auf die Geschichte der Bundesrepublik beziehungsweise der westeuropäischen Gesellschaften insgesamt zeigen sich hier die Schatten,

9 Auf die Grenzen weist – ohne ihre Historizität zu thematisieren – auch Norbert Ricken: An den Grenzen des Selbst, in: Ralf Mayer/Christiane Thompson/Michael Wimmer (Hg.): Inszenierung und Optimierung des Selbst. Zur Analyse gegenwärtiger Selbsttechnologien, Wiesbaden 2013, S. 239 – 257, insbes. S. 242 hin. 10 Vgl. als kanonische Quelle die Thesen des IAB-Gründungspräsidenten: Dieter Mertens: Schlüssel­ qualifikationen. Thesen zur Schulung für eine moderne Gesellschaft, in: Mitteilungen aus der Arbeitsmarkt- und Berufsforschung 7 (1974), S. 36 – 43; zum Kompetenzbegriff analytisch G ­ elhard: Kritik.

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die die vermeintliche Entwicklung hin zu mehr ­Liberalität warf: Auch mit der „Bildungsreform“ waren Bildungsunfähigkeitsannahmen keineswegs delegitimiert. Im Gegenteil: Unter den Öffnungstendenzen des Schul-, Ausbildungs- und Hochschulwesens gediehen differenzorientierte Immobilitätsdiskurse und entsprechende Praktiken umso unbehelligter. Die hier beleuchteten Aushandlungsprozesse gehen auch über eine „dunkle Seite“ des Neoliberalismus und der Selbstoptimierung im Sinne eines Selbst z­ wischen „Schöpfung und Erschöpfung“ hinaus.11 Die Frage nach der Anpassungsfähigkeit stellte vielmehr die Prämisse dar, auf der die vermeintlich ubiquitären Optimierungspflichten erst aufbauten. Die Frage, ob es einen Abbau des Wohlfahrtsstaats und eine Responsibilisierung des Individuums gab,12 ist also falsch gestellt: Betrachtet man die Entstehungsbedingungen dieser Diskurse, zeigt sich, dass sie auf anthropologischen Annahmen und Aushandlungen über das Verhältnis von Individuum und Arbeit beruhten, die sie selbst nicht beeinflussten. Die Sprache des Willens zur Umstellung gleicht einem Chamäleon, das sowohl die Farben der christlich-sozialen Arbeitsmarktpolitik, der Sozialdemokratie und der Gewerkschaften als auch die der Vertreter der Schwerindustrie und der Funktionäre internationaler Organisationen – sowie nicht zuletzt die der Arbeitenden selbst – annehmen konnte. 2. Als Differenzgeschichte liefert diese Wissensgeschichte der Ausbildung und Umschulung im „Strukturwandel“ auch eine Antwort auf die Frage, was aus „dem Arbeiter“ wurde – beziehungsweise wer, so das beliebte Schlagwort, die Verlierer des Strukturwandels waren. Während in der jüngeren politischen und intellektuellen Auseinandersetzung Arbeiter:innen und ihre Milieus mit ihrer Bildungsferne, Intoleranz, Immobilität, ihrem „Abgehängt-Sein“ – sprich: dem mangelnden Willen oder der mangelnden Fähigkeit zur Umstellung – thematisiert werden,13 beleuchtet diese Studie die Vorgeschichte dieser Problematisierung, anders formuliert: die Geschichte, wie der Arbeiter bildungsunfähig 11 So der Titel eines von der Hans-Böckler-Stiftung geförderten Forschungsprojekts an der Universität Leipzig; vgl. daraus etwa Torsten Erdbrügger/Inga Probst: Arbeit(slosigkeit) als Schelmenerzählung bei Peter-Paul Zahl und Volker Braun, in: Andresen u. a. (Hg.): Repräsentationen, S. 89 – 109. 12 Mit dem Begriff der Responsibilisierung als Abnahme externer Kontrolle und Fürsorge sowie als Zunahme interner Verantwortung argumentiert etwa Chamayou: Gesellschaft, S. 251 – 264. 13 Vgl. stellvertretend aus der französischen Debatte und in der Bundesrepublik viel beachtet Didier Eribon: Rückkehr nach Reims [2009], Berlin 2016; Édouard Louis: Das Ende von Eddy, Frankfurt a. M. 2015; Nicolas Mathieu: Wie s­ päter ihre Kinder, München 2019; ein vergleichbarer Dualismus ­zwischen der mobilen, anpassungsfähigen Elite und den „Abgehängten“ findet sich bei Zygmunt Bauman, der vom „Rachefeldzug des nomadischen Prinzips gegen die Prinzipien der Territorialität und Seßhaftigkeit“ spricht, vgl. ders.: Flüchtige Moderne, Frankfurt a. M. 62015, S. 21.

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wurde. Mögen die Arbeiter in der sozialwissenschaftlichen Forschung zum Ende des 20. Jahrhunderts einen randständigen Platz eingenommen haben, zeigt sich doch eine bemerkenswerte Konstanz, wenn man die inhaltlichen Begründungen von Differenz und Statusunterschieden innerhalb des bundesrepublikanischen Berufsbildungssystems betrachtet. Till Kössler argumentierte für das Regelschulwesen, dass mit den 1960er Jahren der Unterschied z­ wischen „höherwertiger geistiger und minderwertiger technisch-praktischer Leistung“ an Bedeutung verloren habe.14 Für die Anpassungsfähigkeit von Arbeitern – Umzuschulenden oder auch Auszubildenden – stellte diese inhaltliche Unterscheidung auch bis Ende der 1980er Jahre eine Grenze dar, die über das Verdikt der Behinderung entscheiden konnte und die auf einer grundlegenden Unterscheidung ­zwischen Arbeiterinnen und Arbeitern beruhte. Bei aller Politisierung der Debatte wurde sie von keiner Partei angezweifelt. Der Arbeiter verschwand zwar, er lebte aber als sich überlagerndes Geflecht von Kategorien der Körperlichkeit, der Geschlechtlichkeit, der Klasse und der Alterität fort, zusammengehalten durch die Klammer der „praktischen Begabung“. Diese Klammer ist besonders hinsichtlich der Geschlechtlichkeit von Arbeit aussagekräftig. Auch wenn Frauen in dieser Studie vor allem in der Rolle der Beobachtenden auf Seiten der Behörden und Verbände, seltener in der Rolle der Beobachteten vorkamen, war die Wissenspolitik durchzogen von impliziten und expliziten Vorstellungen der Geschlechtlichkeit. Umschulung muss auch als Instrument der Stabilisierung einer industriearbeitsbezogenen Männlichkeit verstanden werden. Ebenso war der Begriff der Mobilität eindeutig männlich konnotiert: „Die“ Frau war nicht mobil, sie wurde, sei es als Textilarbeiterin oder als Ehefrau, als Mobilitätshindernis verstanden, von Mobilitätsförderung ausgeschlossen und damit einer Vergangenheit der Sesshaftigkeit zugeordnet. Zuletzt folgte auch die Ausbildung „Lernbehinderter“ einer subkutanen vergeschlechtlichten Logik: Die Aufteilung industrieller Berufsbilder nach Hand- und Kopfarbeit ging vom Standard des männlichen Industriearbeiters aus und trug weder der Beschäftigungssituation von Frauen noch den ihnen zugeschriebenen Eigenschaften Rechnung. Um es überspitzt zu formulieren: Frauen wurden wissenspolitisch diskriminiert, indem sie (im etymologischen Sinne) nicht diskriminiert wurden. Wissenspolitik war Männlichkeitspolitik, also eine Politik, bei der „die Bedeutung des männlichen Geschlechts zum Thema gemacht wird, und damit gleichzeitig auch die Position der Männer innerhalb des Geschlechterverhältnisses“.15 Wissenspolitik beschäftigte sich immer mit arbeitsbezogener 14 Kössler: Begabung, S. 206 f. 15 Raewyn Connell: Der gemachte Mann. Konstruktion und Krise von Männlichkeiten (Geschlecht und Gesellschaft 8), Wiesbaden 42015, S.  270. Connell bezog den Begriff auf Ansätze, die

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Männlichkeit. Sie zielte darauf ab, ihr ein neues Gesicht zu geben, das nicht mehr die heroisch-verhärmten Züge der Schwerstarbeiter, sondern das süffisante Lächeln der Anpassungsfähigen trug. Männlichkeit, auch defizitäre Männlichkeit und entsprechende kategoriale Abstandsmaße, erfuhr so eine Umwertung. Das dahinterstehende Argument ist perspektivischer, weniger empirischer Natur. In der verbreiteten Rede von den Gewinner:innen und Verlierer:innen ist es als geschichtswissenschaftlicher Beitrag wenig zielführend, eine exhaustive Liste von Gewinner:innen (die Creative Class, Wissensarbeiter:innen, Historiker:innen) und Verlierer:innen (Industriearbeiter oder Geringqualifizierte) aufzustellen. Objekt geschichtswissenschaftlicher Untersuchung sollte, so das methodische Argument, die generische Logik, die kulturelle Grammatik sein, anhand derer ­solche Kategorien verhandelt wurden. Empirisch geht es also nicht darum, dass nach der Lektüre dieser Arbeit „Lernbehinderte“ und „ältere Arbeitnehmer“ in den Kanon des Zerbrochenen aufgenommen werden und zu ihrem Recht kommen sollten. Mit der Wissenspolitik wurde vielmehr eine ­solche generische Logik – ihre Inhalte, Praktiken und Aneignungen – beschrieben und zu bestimmen versucht. Pointiert: Eine Verrechnung historischer Wertigkeit führt nicht weiter; die historische Analyse der entsprechenden gesellschaftlichen und sozialen Arithmetik allerdings schon. 3. Als neue Kulturgeschichte der Arbeit eröffnet die vorliegende Studie einen Zugriff, mit dem das Verhältnis von Arbeit und Qualifikation jenseits von (De-)Qualifizierung oder Polarisierung untersucht werden kann. Eine ­solche Geschichte beurteilt nicht, ob das duale System der Berufsausbildung und das „Produktionswissen von Facharbeitern“ sich bewährten.16 Diese Erzählungen waren selbst Teil der Aushandlung des Verhältnisses von Arbeit und Qualifikation in der postindustriellen Gesellschaft und in Automations- und Rationalisierungsdiskursen. Im Fall der Berufsausbildung lässt sich eher von einer strukturellen Kontinuität unter Verschiebung der Grenzen sprechen, wie das Beispiel der Lernbehinderung gezeigt hat. Während Karsten Uhl argumentierte, dass Industriearbeit nie ausschließlich disziplinierend funktionierte, sondern bereits seit den 1920er Jahren darauf abzielte, die Eigeninitiative und das Selbstoptimierungspotential von Arbeiterinnen und Arbeitern nutzbar zu machen,17 wurde in der vorliegenden Arbeit das zeithistorische Pendant dieser Gleichzeitigkeit erforscht: Bei aller Betonung von Selbstoptimierung, Mobilität und Anpassungsfähigkeit lebten Traditionen der Disziplinierung fort. Eine h ­ istoriografische ­hegemonialen Männlichkeiten kritisch gegenüberstehen. Analytisch muss allerdings auch dem Gegenteil Rechnung getragen werden. 16 Raphael: Kohle, S. 265. 17 Vgl. Uhl: Rationalisierung. Für die Berufsberatung: Bachem: Zuordnungsroutinen.

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Aussage darüber, ob die Arbeit der Gegenwart (oder der Zukunft) mehr, weniger oder anderes Wissen (oder Qualifikationen oder Kompetenzen) erforderlich machte und machen wird, lässt sich dementsprechend nicht treffen. Jeder derartigen Aussage wohnt bereits eine wissenspolitische Unterscheidung inne, die, wie diese Arbeit gezeigt hat, in Betrieben oder Bildungseinrichtungen weitreichende Konsequenzen nach sich ziehen konnte. Dieser empirische Befund verweist ebenso auf die methodischen Implikationen dieser Studie für die Geschichte von Arbeit und Qualifikation. Wissenspolitik, als Art und Weise, wie westliche Gesellschaften seit den 1950er Jahren das Verhältnis von Arbeit und Individuum verhandelten, war keine anonyme dunkle und bedrohliche Macht, die am Horizont schwebte und sich Individuen untertan machte. Zwar teilten sämtliche Akteur:innen die Meinung, der Wille zur Umstellung sei zu vereindeutigen, sie handelten aber keineswegs koordiniert oder systematisch, sondern situativ, kontingent und heterogen. Auf der betrieblichen Ebene der GVB beispielsweise erfüllten die betrieblichen Sozialbeziehungen eine epistemische Funktion. Im Fall der Lernbehinderung wogen lokale korporatistische Arrangements schwerer als sonderpädagogische Evidenz. An diesen Beispielen zeigt sich das Potential, Ansätze der Wissens- und Wissenschaftsgeschichte mit der Geschichte der Arbeit, der industriellen Beziehungen und der Automation zu verschränken, um anhand marginaler Beispiele und vermeintlich „ausgeforschter“ Gegenstände überzählige, nichtidentische Geschichten zu erzählen. Die Probleme der Geschichte der Arbeit, eine Geschichte zu schreiben, deren Akteur:innen „Abschied von der ‚Proletarität‘“ nahmen und deren Hauptschauplatz mit dem Betrieb im Laufe des 20. Jahrhunderts verschwand, können so umgangen werden.18 Ebenso werden Perspektiven, die danach fragen, wo die „Erben der einst so stolzen Partei und der Gewerkschaften“ geblieben sind, ergänzt.19 Wie in dieser Arbeit gezeigt wurde, war ebendiese Frage für wissenspolitische Mobilisierungsansprüche eminent – auch die im Untersuchungszeitraum aufstrebende Sozialgeschichte war eine Mobilitäts- und damit Mobilisierungswissenschaft. Auf dieser zweiten Ebene muss die historiografische Reflexion darüber, was aus „dem Arbeiter“ wurde, einsetzen. Wenn man darüber hinaus Berufsausbildung und Qualifizierung nicht lediglich als ­kurzen biografischen Abschnitt und Initiationsritual, sondern als integrale Perspektive 18 Vgl. klassisch Josef Mooser: Arbeiterleben in Deutschland 1900 – 1970. Klassenlagen, Kultur und Politik, Frankfurt a. M. 1984, Zit. S. 228. 19 Dietmar Süß: A scheene Leich? Stand und Perspektiven der westdeutschen Arbeitergeschichte nach 1945, in: Mitteilungsblatt des Instituts für soziale Bewegungen 34 (2005), S. 54 – 76, hier S. 73. Insgesamt: ders.: Kumpel und Genossen. Arbeiterschaft, Betrieb und Sozialdemokratie in der bayerischen Montanindustrie 1945 bis 1976 (Bayern im Bund 4), München 2003.

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auf den ­Wandel der Arbeit begreift – Lutz Raphael hielt jüngst fest: „Es gibt keine kritische Geschichte moderner Arbeitswelten ohne Wissensgeschichte“ 20 –, eröffnen sich neue Erzählungen für die Geschichte der Arbeit, die die Hypostasierung von Personengruppen (männlichen Industriearbeitern) und ikonischen Orten (Zechen, Stahlwerken) hinter sich lässt. Auch für die so häufig beschriebenen und untersuchten Industriearbeiter schwerindustrieller Ballungsräume lassen sich so Entwicklungen zeigen, die sich jenseits älterer Deutungen von Entproletarisierung und Verbürgerlichung bewegen. Dementsprechend eignet sich der Zugriff auf wissenspolitische Vereindeutigungsprozesse auch für andere Branchen, Sektoren und Personengruppen. 4. Als vergleichende Geschichte bestätigt und akzentuiert die vorliegende Arbeit bestehende Befunde. Zunächst verweist sie auf die (west)europäische Dimension der Sozialpolitik nach 1945. Mit der EGKS bildete sich sowohl eine Aushandlungsplattform für den Begriff der Mobilität als auch ein Weg der Wissenszirkulation ­zwischen den verschiedenen von der Umstellung betroffenen Gebieten. Der Begriff der Umstellung selbst schuf, neben dem der Mobilität, insofern einen Verständigungsrahmen, als er die (EGKS -)offizielle deutsche Übersetzung des französischen Begriffs der conversion darstellte. Beide Begriffe sind symptomatisch für den Untersuchungsgegenstand: Während im Deutschen eine Konstruktion wie „Strukturwandel von Menschen“ nicht möglich ist, sind im Französischen Ausdrücke wie conversion des ouvriers (Umstellung von Arbeitern) möglich. In der Übersetzung von (re)conversion als Strukturwandel oder Deindustrialisierung wird also der subjektzentrierte Blick, der dem heute anachronistisch und technisch anmutenden deutschen Begriff „Umstellung“ inhärent ist, verschleiert. Während d ­ ieses Ergebnis die Überlegung Nicolas Verschuerens bestätigt, es gebe eine Verbindung von Deindustrialisierung, Sozialpolitik und Europäisierung,21 akzentuiert es dessen Vogelperspektive. Da Verschueren sich nur auf das belgische Borinage konzentriert, geraten Varianzen in der regionalen Ausprägung der europäischen Sozialpolitik aus dem Blick. Diese Studie legt nahe, dass das Ruhrgebiet nur deswegen als (aus)bildungspolitischer Interventionsraum, vom Betrieb über die Landesbehörden bis zum Arbeitsförderungsgesetz des Bundesarbeitsministeriums, konstituiert werden konnte, weil es in der Bundesrepublik eben kein einheitliches Bildungs- und erst recht kein einheitliches Berufsbildungssystem gab. Zwar ließen sich Anzeichen einer vergleichbaren Wahrnehmung auch für Nordfrankreich (oder auch für Lothringen) konstatieren, Ende der 1960er Jahre gingen diese ­Wahrnehmungen aber in einer

20 Raphael: Arbeitswelten, S. 22. 21 Verschueren: Mines.

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zentralstaatlichen und an Paris orientierten Wahrnehmung regionalen Gleichgewichts auf. Dass es nichtsdestotrotz immer wieder Impulse gab, ein eigenständiges Experimentalsystem Montanregion zu schaffen, zeigen etwa die ARL Ende der 1980er Jahre. Sie erreichten aber nie das Ausmaß und die Intensität der Problematisierung in Westdeutschland. Die Bedeutung des Ruhrgebiets als Projektionsfläche der Suche nach dem Umstellungswillen erreichte Nordfrankreich nicht. Insofern warnt dieser Befund vor der Annahme eines Automatismus der Europäisierung und einer von europäischen Institutionen oktroyierten Wahrnehmung. Denn ebenso wie der Begriff der Mobilität einen europäisierten Referenzraum schuf, blieb etwa die Problematisierung der Lernbehinderung darin nicht kommunizierbar. So wie es Annäherungen, Verflechtungen und Transferprozesse gab, lassen sich ebenso Momente des wechselseitigen Desinteresses erkennen. Vergleich, Verflechtung und Transfer waren auf regionaler Ebene selektiv einsetzbare Kommunikationsressourcen, die keine lineare Entwicklung kannten. Insofern gilt es auch, Hartmut Kaelbles Diagnose der wachsenden Annäherung der „Nachbarn am Rhein“ bei fortbestehenden Differenzen auf sozialstaatlicher Ebene methodisch zu akzentuieren 22: Zwar näherten sich die Deutungen und Wahrnehmungen des Wandels von Arbeit und Qualifikation an – nicht zuletzt durch die Abstimmungs- und Austauschprozesse auf europäischer Ebene. Gleichzeitig zeigt sich aber auch, wenn man die Region in die Gleichung einbezieht, dass eine vergleichbare Intensivierung der Bemühung um Ausbildung und Qualifikation verschiedene Raumkonfigurationen und -konstruktionen nach sich ziehen konnte: die Konstruktion des schwerindustriellen Raumes als Interventionsraum auf der einen, seine Aufgabe als Problematisierungs- und Projektionsfläche der schwerindustriellen Ausbildung auf der anderen Seite. Zuletzt verweist dieser Befund auf ähnliche Ergebnisse der jüngeren transnationalen und vergleichenden Deindustrialisierungsforschung. Johanna Wolf zeigte in ihrer Studie der Metallarbeitergewerkschaften im Schiffbau auf lokaler, nationaler, europäischer und globaler Ebene, dass trotz Ansätzen zu einer transnationalen oder internationalen Kooperation die Lösungen meist nationaler Natur waren. Letztlich, so Wolf, überwog der Appell an wohlfahrtsstaatliche und wirtschaftspolitische Unterstützungsleistungen und stellte so den letzten nationalen Rückzugsort dar.23 Vergleichbares diagnostizierte Alex Gertschen für die Verbände der Textilindustrie.24 Ebenso zeichnete auch Thomas Fetzer 22 Vgl. Hartmut Kaelble: Nachbarn am Rhein. Entfremdung und Annäherung der französischen und deutschen Gesellschaft seit 1880, München 1991, S. 214 – 230. 23 Vgl. Johanna Wolf: Assurances of Friendship. Transnationale Wege von Metallgewerkschaftern in der Schiffbauindustrie, 1950 – 1980 (Transnationale Geschichte 11), Göttingen 2018. 24 Vgl. Gertschen: Klassenfeinde.

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für die Automobilindustrie nach, dass „Internationalisierung“ auf Gewerkschaftsseite nicht zu einer Abnahme von „banal“ und „economic nationalism“ geführt, sondern diese bestärkt habe.25 Für den Bereich der Berufsbildung und -qualifikation lässt sich diese Perspektive bestätigen und akzentuieren: Es ging weniger um eine explizite Nationalisierung, sondern mehr um verschiedene, von sämtlichen Akteur:innen verfolgte Strategien, die in unterschiedlichem Maße die Nation adressierten – oder über sie hinauswiesen. Zwar bot der Montanunionvertrag einen Rahmen für Umschulungsmaßnahmen, dieser rührte aber ursprünglich vom Bestreben her, die Auswirkungen der Marktvereinigungen, bei denen Zechenschließungen in Frankreich befürchtet wurden, abzufedern. Dass sich diese aus der Verknüpfung von Außenhandels- und Sozialpolitik ergebende Klausel in die Umstellungsbemühungen einbettete, hatte niemand antizipiert. Und schnell verloren die begrenzten Mittel der EGKS im Vergleich zu den Ambitionen des Bundesarbeitsministeriums an Bedeutung. Europa als supranationales Konstrukt wurde also nicht nur wegen der und durch die Zechenschließungen errichtet, sondern auch trotz sozialpolitischer Neuorientierungen in den 1960er Jahren. Für die Geschichte regionalen Strukturwandels, sei es für das Ruhrgebiet oder für „strukturschwache“ Regionen im Allgemeinen, die vor oder in Umstrukturierungsprozessen angesichts einer schrumpfenden Schwerindustrie stehen, mahnen diese Ergebnisse zur Differenzierung. Deutlich wurde, dass die Beschwörung der Anpassungsfähigkeit, die sich unter Schlagwörtern wie „Ruhr-Valley 4.0“ oder „Innovationsregion Mitteldeutsches Revier“ auch in der Gegenwart findet,26 eine ambivalente Geschichte hat, die ­zwischen tagespolitischer Verheißung und wissenspolitischer Vermessung oszilliert. Insbesondere die Heilserzählung einer Bewegung von der Bildungsferne zur Wissensregion schaffte es nur bedingt, die omnipräsenten scheinbaren „Bildungsdefizite“ in der Vergangenheit einzukapseln.27 Die Rede von der Wissensgesellschaft, so legen die hier dargestellten Ergebnisse nahe, ist ohne die Rede von der Bildungs(un)fähigkeit nicht zu haben – und eignet sich 25 Vgl. Thomas Fetzer: Paradoxes of Internationalization: British and German Trade Unions at Ford and General Motors, 1967 – 2000, Manchester u. a. 2012, S. 51 – 105. 26 Ingrid Krau: Verlöschendes Industriezeitalter. Suche nach Aufbruch an Rhein, Ruhr und Emscher, Göttingen 2018, S. 139; Kommission „Wachstum, Strukturwandel und Beschäftigung“: Abschlussbericht, Berlin 2019, S. 95 und passim. 27 Vgl. etwa idealtypisch Erich Staudt: Strukturwandel und berufliche Aus- und Weiterbildung am Beispiel Ruhrgebiet. Der schwierige Übergang von Kohle und Stahl zur Dienstleistung, in: Peter Diepold (Hg.): Lernen im Aufbruch. Strukturwandel und Weiterbildung in Europa (Anstöße 12), Frankfurt a. M. 1995, S. 33 – 59, hier S. 35. Zur narrativ-mythologischen Dimension der Wissens­ erzählungen vgl. Kellershohn: Mythologie.

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nur mit Abstrichen als Meistererzählung. Auch wenn Erzählungen vom konsensualen, tripartistischen, geplanten, also „weichen Strukturwandel“ an Rhein und Ruhr mittlerweile Allgemeinplätze sind,28 die umso deutlicher erscheinen, wenn man sie vor der Folie des britischen Miners’ strike betrachtet,29 akzentuiert diese Arbeit ­dieses Bild insofern, als sie Licht auf seine Ambivalenzen wirft. Zum einen war die soziale Abfederung immer begleitet von einer Politik der Mobilität und Mobilisierung. Zum anderen bedeutete Konsens eben auch Einhelligkeit darüber, ­welche Umschüler als „anpassungsunfähig“, ­welche Auszubildenden als „lernbehindert“ zu gelten hatten. Die Beispiele betroffener Individuen legen darüber hinaus nahe, dass für die Umschüler selbst Narrative des sozialverträglichen und einvernehmlichen Wandels nur bedingt eine Rolle spielten. Besonders der Vergleich mit Frankreich, wo vor allem die CGT Qualifikationsmaßnahmen wie Umschulungen als versteckte Entlassungsprogramme ablehnte, macht deutlich, dass es bei ­diesem Argument nicht darum geht, den Mythos des „radikalen Bergarbeiters“ wiederzubeleben. Erkennbar wird, dass Konsens und Sozialverträglichkeit, die sich in das Bild der Bundesrepublik als „geglückter Demokratie“ einfügen,30 auch nicht die Erfolgsgeschichten waren, als die sie zeitgenössisch propagiert wurden und bis heute erinnert werden. Sie waren gleichzeitig Ausgangspunkt für den Auf- und Ausbau wissenspolitischer Netze und Beobachtungssysteme. Analytisch gesprochen bedeutet diese Perspektive für die Geschichte der Deindustrialisierung, dass diese – ebenso wenig wie eine ubiquitäre Höherqualifizierung – natürlich keine naturwüchsige, von vermeintlich objektiven Sachzwängen herrührende Entwicklung darstellte.31 Eine Geschichte der Politik der Deindustrialisierung, die diese als offenen, kontingenten und ungerichteten Prozess versteht, findet in der Wissens­ politik ein Anschauungsobjekt ersten Ranges. Hinsichtlich der langen Geschichte der Begabungs-, Normalitäts- und Leistungsvorstellungen liegt die Aussagekraft der Befunde auf zwei Ebenen. Zum einen zeigt sich im Rückblick auf die Weimarer Republik eine Ausweitung der Semantiken der Begabung und der Begabbarkeit. Wie unter anderem Anne Otto darlegte, spielte die Diskussion um die Begabung und die Bildungsfähigkeit von jugendlichen Arbeiterinnen und Arbeitern in der Weimarer Republik eine zentrale Rolle

2 8 Vgl. nur Priemel: Heaps of Work, S. 32. 29 Vgl. Hordt: Kumpel. 30 So Edgar Wolfrum: Die geglückte Demokratie. Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von ihren Anfängen bis zur Gegenwart, Bonn 2007, S. 232, wo die Lösung der „Krise im Ruhrbergbau“ exemplarisch für die Stabilität der Bundesrepublik in der ersten Nachkriegsrezession steht. 31 So das Argument bei Jean-Claude Daumas: Une France sans usines. Comment en est-on arrivé là? (1974 – 2012), in: ders./Kharaba/Mioche (Hg.): La désindustrialisation, S. 17 – 42, besonders S. 35.

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in den Auseinandersetzungen um demokratische Schulreformen.32 Damit waren anhand der Leitdifferenz von Anlage und Umwelt diskutierte Vorstellungen von Meritokratie, insbesondere was „biologistische“ Vorstellungen anging, nach 1945 keineswegs diskreditiert – eine These, die durch die Beobachtungen zum Mobilitätsbegriff gestützt wird.33 Was sich allerdings änderte, war das Objekt des Begabungsdiskurses, das sich vom Individuum zur Bevölkerung verschob: In der Begabtenförderung und -forschung insgesamt – bei Francis Galton, bei Sorokin ebenso wie in den Schuldiskussionen der Weimarer Republik und in der Gründung der Studienstiftung des Deutschen Volkes 1925 – ging es darum, einzelnen als talentiert erachteten Ausnahmearbeiterinnen und -arbeitern den sozialen Aufstieg zu ermöglichen. Eine ­solche Förderung wurde auch im westdeutschen Bergbau der 1950er Jahre noch diskutiert und lag der Semantik der Führung zugrunde. Nichtsdestotrotz verschob sich der Ansatzpunkt in den folgenden Jahren und mit dem Einsetzen wissenspolitischer Logiken. Objekt wurden nun Bevölkerungsgruppen und damit verbundene Sozialfiguren, deren Willen und Fähigkeit zur Mobilität, deren Immobilität man jetzt fragwürdig fand. Beide Logiken funktionierten komplementär: Im ersten Fall ging es darum, eine hierarchisierte Gesellschaftsordnung durch den ausgewählten Aufstieg einzelner Individuen zu stabilisieren – und diese Individuen zu finden. Im zweiten Fall war das Ziel, Gesellschaft als Ganzes zu qualifizieren und Individuen zu finden, die dazu nicht fähig s­ eien. Ein negativer ersetzte also einen positiven Begabungsbegriff. Die damit verbundenen Mechanismen der Selektion setzten sich auch nach der Entschleierung der Begabungs- und Leistungsbegriffe in den 1970er Jahren fort.34 Die kritische Milieubeobachtung wurde Teil wissenspolitischer Vereindeutigungsbemühungen und bedeutete keines­ wegs ein Ende des Ausschlusses. Zum anderen ist der Beitrag dieser Arbeit zu d ­ iesem Forschungsbereich methodisch-perspektivisch. Eine konkrete Geschichte der Abstraktion des Willens zur Umstellung lässt ideengeschichtliche Fragen (etwa das Verhältnis von Begabung und Leistung) hinter sich. Ebenso geht sie über eine an der Höhenkammliteratur und Wissenschaftsgeschichte der Intelligenzforschung orientierte Diskursgeschichte,35 die große Paradigmen und Zeitabschnitte identifiziert (etwa die klassische, an Anson Rabinbach orientierte Zäsur der 1950er Jahre, in denen ein an Körper und Maschinen orientiertes Leistungsverständnis durch ein kybernetisches 32 Anne Otto: Neuer Staat – Neue Schüler*innen? Konzepte demokratischen Schüler*innen-­Handelns in der frühen Weimarer Republik, in: Jahrbuch für Historische Bildungsforschung 25 (2019), S. 18 – 39. 33 Vgl. Goschler/Kössler: Ungleichheit; Kössler: Suche. 34 So der Endpunkt bei Verheyen: Erfindung, S. 191 – 208. 35 Vgl. nur die exzellente Studie von Turmel: Sociology.

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Informationsparadigma ersetzt worden sei 36), hinaus. Die lokale und regionale Perspektive zeigt, dass Leitdifferenzen von Anlage und Umwelt sowie säkulare Prozesse wie der der Verwissenschaftlichung für die Aushandlung von Begabung und Begabbarkeit nur bedingt eine Rolle spielten. Sie stellten lediglich eine diskursive Ressource neben anderen dar. Eine mindestens ebenso hohe Bedeutung kam, in ­diesem Fall, korporatistischen Prozessen des Interessenausgleichs und der Entscheidungsfindung zu, die an die Stelle von Vereindeutigungspraktiken universitärer oder arbeitswissenschaftlicher Provenienz treten konnten. Zugespitzt formuliert: Was ein Intelligenztest oder ein Schulabschluss im Betrieb oder in einer Sonderausbildung aussagte, war abhängig von der Abstimmung z­ wischen lokalen Gewerkschaften, Ausbildern und auch Vertretern der Kommunen, der ­Kirchen und anderer Gruppen (etwa im Fall des Duisburger Arbeitskreises „Berufe für Behinderte“). Gerade im Feld der beruflichen Bildung, das bis 1969 kaum und danach auch nur bedingt reguliert war, stellten diese tripartistischen Logiken des Ausgleichs eine so hohe Vereindeutigungsleistung bereit, dass dagegen politische Konflikte auf Bundesebene keine Bedeutung entfalten konnten. Parallel zum Aufstieg des Paradigmas der Kreativität in der Höhenkammliteratur und im öffent­ lichen Schulwesen zeichnete sich das Verhältnis von Arbeit und Wissen eher durch die Konvergenz mit dem Lernbehinderungs- und Altersdiskurs aus. Insofern lässt sich diese Arbeit auch als Plädoyer dafür lesen, eine Geschichtsschreibung, die von den Konzepten (und ­seien sie semantisch noch so ausgebleicht) her gedacht wird, zu ergänzen durch eine Perspektive, die Konzepte und Diskurse in ihrer Situiertheit – ihrer konkreten Geschichte der Abstraktion – begreift. Ein solcher Ansatz ist für die Geschichte von Intelligenz und Begabung kein Glasperlenspiel, nachdem die großen Fragen geklärt wurden, sondern eröffnet neue Einblicke in die generativen Logiken von Differenz und der Vereindeutigung von Wissen – und deren Aneignung und Inkongruenzen. Für die Geschichte der Bundesrepublik verweisen die in dieser Studie vorgebrachten Beispiele und Argumente auf die Grenzen des Narrativs des Strukturwandels beziehungsweise -bruchs. Die Aussagekraft der vorliegenden Arbeit hinsichtlich der Strukturbruchdebatte, die die Dekadologie der Zeitgeschichte verdrängt hat, reicht weiter als eine Verifikation, Falsifikation oder Akzentuierung ­dieses omnivoren Mantelbegriffs. Kernelemente der Strukturbrucherzählungen sind die Aufwertung von Wissen zu einer transformativen Ressource, der Übergang von einer körper- zu einer kopfbasierten Arbeit sowie der Wandel von einer starren Berufsausbildung zu einer Steigerung der Anpassungsfähigkeit. Die vorliegende Studie belegt, dass es nötig und möglich ist, diese Topoi zu historisieren. Insofern ist es

36 Vgl. Rabinbach: Motor, S. 290 – 300.

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unerheblich, ob die Topoi zutreffen oder nicht – als Beschwörungen mit anthropologischen Prämissen haben sie eine eigene Geschichte, die in ihren Konsequenzen erzählt wurde. Das bedeutet keine vollständige Historisierung der Strukturbruchdebatte, die die Arbeit, die Arbeitswelt und das Soziale wieder in die Geschichtswissenschaft eingeführt hat. Nur hinsichtlich ­dieses einen, für die Bestimmung der postindustriellen Gesellschaft erheblichen Elements – Wissen, sprich: ein „Gesellschaftsmodell und Menschenbild, das auf die Entfaltung des Individuums, die schöpferische Kraft seiner Kreativität setzt und in paradoxer Form Authentizität und Flexibilität aufs engste miteinander verbindet“ 37 – ist die Arbeit als Plädoyer für eine umfassende Historisierung zu lesen. Damit schlägt sie einen Weg vor, wie der von Anselm Doering-Manteuffel und Lutz Raphael 2016 als zukunftsweisender Forschungsgegenstand identifizierte „Siegeszug des human capital-Konzepts und der dadurch beflügelten unternehmerischen Nutzung menschlichen Wissens und Erkenntnisvermögens“ 38 wissenshistorisch untersucht werden kann. Vergleichbares gilt für die eng mit dem „Gesellschaftsmodell und Menschenbild“ verbundenen Narrative der (Fundamental-)Liberalisierung beziehungsweise der Westernisierung der Bundesrepublik.39 Beide werden den geschilderten Tatbeständen eines sich zusammenziehenden wissenspolitischen Netzes und seinen immer neu entstehenden Aneignungsspielräumen nur bedingt gerecht. Wenn Frank Biess und Astrid M. Eckert jüngst neue Narrative für die Geschichte der Bundesrepublik forderten, die über das Motiv des Erfolgs hinausgehen, und – mit Philipp Felsch und Frank Witzel – den „underlying abyss“ hinter der Fassade der alten Bundesrepublik suchten, bietet d ­ ieses Motiv einen Anknüpfungspunkt.40 Unter Schlagworten wie Verbürgerlichung, Bildungsexpansion, Demokratisierung oder Liberalisierung lag eine weitere Schicht: Moralischer Holismus, Begabungsverfall, Immobilität und die Suche nach dem anpassungsfähigen Arbeiter reihen sich in eine Geschichte der Ängste der Bundesrepublik ebenso ein wie in die Genealogie des rationalen Subjekts der Modernisierung – indem sie die Grenze des Zukunftsfähigen beständig verhandelten.41 Eine Geschichte des „gradual decline of external constraints“, die durch 37 Doering-Manteuffel/Raphael: Nach dem Boom, S. 9. 38 Dies.: Nach dem Boom. Neue Einsichten und Erklärungsversuche, in: dies./Schlemmer (Hg.): Vorgeschichte, S. 9 – 34, hier S. 29. Hervorhebung im Original. 39 Vgl. zur Liberalisierung kanonisch Ulrich Herbert: Liberalisierung als Lernprozess. Die Bundesrepublik in der deutschen Geschichte, in: ders. (Hg.): Wandlungsprozesse in Westdeutschland: Belastung, Integration, Liberalisierung 1945 – 1980 (Moderne Zeit 1), Göttingen 2002, S. 7 – 52; Anselm Doering-Manteuffel: Wie westlich sind die Deutschen? Amerikanisierung und Westernisierung im 20. Jahrhundert, Göttingen 1999. 40 Frank Biess/Astrid M. Eckert: Introduction. Why Do We Need New Narratives for the History of the Federal Republic?, in: Central European History 52 (2019), S. 1 – 18, hier S. 14. 41 Ebd., S. 14; insgesamt: Biess: Republik.

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„internal discipline and control“ ersetzt worden s­ eien,42 greift aber ebenso zu kurz. Für die Subjekte schwerindustrieller Arbeit verlängerten sich die externen Zwänge jenseits des Betriebs und der Fabrik. Interne und externe Kontrolle stellten kein Nullsummenspiel dar, in dem ein Mehr des einen ein Weniger des anderen bedeutete. Das Ziel dieser Perspektive ist nicht, erkaltete Denkfiguren der Restauration und des staatsmonopolistischen Kapitalismus aufzuwärmen, sondern die Suche nach dem Wissen als einen offenen, bis in die Gegenwart nicht abgeschlossenen Prozess zu begreifen, der ebenso Aneignungsmöglichkeiten schuf wie neue Differenz- und Ausschlusskategorien. Der Begriff der Wissenspolitik ermöglicht einen Zugriff auf die Kehrseite der Bonner Republik als eine Suche nach dem Willen zur Umstellung. So lässt sich die Geschichte der Bundesrepublik als Geschichte fortbestehender und neu auftretender Ausschlüsse lesen. Insofern verhält sich die Erzählung dieser Arbeit zu den Narrativen der bundesrepublikanischen Geschichte so wie die Individuen zur Logik der Wissenspolitik: Es handelt sich um eine schurkische Erzählung, um eine vagabundierende Perspektive, eine „kriminelle und überschreitende Souveränität“.43 Eine s­ olche Erzählung versucht, um ein Bild Geoffroy de Lagasneries aufzugreifen, kein anderes Stück auf die Bühne zu bringen, sondern die Bühne selbst zu betrachten. Fluchtpunkt einer solchen Geschichtsschreibung ist es also, über die schlichte Affirmation des ontologischen Zustandes der „Gemeinschaft“ (oder „Gesellschaft“) hinauszugehen und die Grenzen, die Ein- und Ausschlusslogiken der „Gemeinschaft“ selbst zum Gegenstand historischer Reflexion zu machen.44 Eine der tragenden Säulen dieser Bühne, auf denen sich deindustrialisierende Gesellschaften in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ruhten, war die Wissenspolitik. Wenn die Geschichte der alten aus der Perspektive der neuen Bundesrepublik geschrieben, sprich eine neue Distanz gegenüber einem alten Gegenstand möglich wird, zeigt sich eine dreifache Verschiebung bekannter Topoi der bundesrepublikanischen Geschichte: Aus Erfolg wird Ambivalenz, an die Stelle von Modernisierung, Liberalisierung und Stabilität treten die Ausschlüsse, aus einer Vorgeschichte der Gegenwart wird eine verfremdete Gegenwart in der Vergangenheit. Die Bundesrepublik nicht als „heiles, sondern als versehrtes Land“ zu imaginieren bedeutet, dass die Heils- und Heilungsgeschichte des „Strukturwandels“ in ihr „unheimliches Gegenbild“ kippt.45 Wenn das Bild von ehemaligen Bergleuten, die Mitte der 1960er Jahre Masseure oder Programmierer werden sollten,46 im Jahr 2021 sowohl ein befremdetes Lachen als auch eine 42 Biess/Eckert: Introduction, S. 15. 43 Derrida: Schurken, S. 99. 4 4 Geoffroy de Lagasnerie: Die Kunst der Revolte. Snowden, Assange, Manning, Berlin 2016. 45 Philipp Felsch/Frank Witzel: BRD Noir, Berlin 2016, S. 17. 46 Vgl. UFA-Wochenschau 537/1966, 8. November 1966, https://www.filmothek.bundesarchiv.de/ video/584727?set_lang=de, letzter Zugriff: 10. 2. 2021, 01:16 – 01:24.

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unheimliche Familiarität hervorruft, dann weil diese Mischung aus Ermächtigung und Entmachtung des Individuums auf den ersten Blick so fremd scheint. Durch diese Dissonanz wird erst auf den zweiten Blick ihre ubiquitäre Gegenwärtigkeit augenfällig. Die Geschichte der Bundesrepublik ist also nicht nur eine Geschichte einer beachtlichen Integrations- und Inklusionsleistung, sondern auch eine sich beständig neu formierender Ausschlüsse. Die hier erzählte Geschichte weist Grenzen auf. Zunächst offenbaren sich diese Beschränkungen im Vergleich. Zwar konnte gezeigt werden, dass sich um den Bergarbeiter und seinen Willen zur Umstellung eine vergleichbare Problematisierung und ein ähnlicher Qualifizierungsimperativ entwickelten, allerdings folgten daraus unterschiedliche Konsequenzen: im französischen Zentralstaat ein Ende der Qualifikation im Bergbau, in der föderalen Bundesrepublik ein Schwerpunkt auf Qualifikationsmaßnahmen zur Legitimation und Zukunftssicherung der Schwerindustrie. Das bedeutet nicht, dass es in Frankreich nicht vergleichbare Entwicklungen gegeben hat – sie verliefen aber von der Schwerindustrie abgekoppelt. Insofern eignete sich die Schwerindustrie im französischen Fall nur bedingt als Sonde, um die Wissenspolitik zu ergründen. Auch müssten weitere Untersuchungen zeigen, inwieweit die an der schwerindustriellen Raumkonfiguration orientierte wissenspolitische Interventionslogik ein Spezifikum der Bundesrepublik darstellte. Mit Blick auf Frankreich mag dies der Fall sein. Wie sich das Verhältnis von Arbeit und Wissen in anderen Geschichten der Deindustrialisierung veränderte – sei es in Großbritannien, Italien oder den Vereinigten Staaten ebenso wie in Indien, Lateinamerika, Afrika oder Asien –, bleibt aber offen. Wie etwa der „ältere Arbeitnehmer“ in anderen regionalen, nationalen und transnationalen Kontexten, Wohlfahrtsstaaten und Volkswirtschaften konstruiert wurde, harrt der Erforschung – ebenso wie die soziale Kategorie des Alters in Studien zur Geschichte der Arbeit und der Arbeiter:innenbewegung unterbelichtet ist. Darüber hinaus ließ sich die Periodisierung in moralischen Holismus, anpassende und ausschließende Wissenspolitik auf inhaltlicher Ebene ebenso wie die Periodisierung in moralisch-holistische Milieubeobachtung, mechanische Objektivität und kritisch-engagierte Milieubeobachtung auf der Ebene der Vereindeutigungspraktiken deshalb anhand der Schwerindustrie derart explizieren, weil diese über ausreichende Finanzmittel verfügte, um umfassende Ausbildungssysteme aufzubauen und zu unterhalten. Hinzu kam das politische Gewicht dieser Industriezweige. Stellt diese Erzählung also einen regionalen, bundesdeutschen Sonderfall zweier Branchen dar, die in den letzten Atemzügen versuchen, ihre Belegschaften umstellungsfähig zu machen? Mitnichten – und das zeigt sich an drei Feldern, die anschlussfähig für den Ansatz einer Wissensgeschichte des Strukturwandels sind und in denen Wissenspolitik ebenfalls eine signifikante Bedeutung entfalten sollte: am Ende der Deutschen Demokratischen Republik (DDR), mit den 1990er Jahren

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und in den 2000er Jahren. Zunächst erhielt etwa das Bfz Essen durch die Privatisierung der DDR-Industrie erheblichen Aufwind. Es expandierte nach Chemnitz und leitete dort die Gründung eines weiteren Umschulungszentrums, des Fortbildungszentrums Chemnitz, an, um nun auch den Willen zur Umstellung nach 40 Jahren Staatssozialismus – eine immense Mobilitätsbarriere! – zu evaluieren, zu registrieren und – je nach den Möglichkeiten – zu steigern.47 Doch nicht nur die Essener Umschulungsspezialisten zogen aus, dem Osten die Anpassungsfähigkeit zu bringen, auch die Bundesanstalt für Arbeit sah sich großen Herausforderungen gegenüber. Hatte sie im Konflikt um die Sonderausbildungen in den 1970er und 1980er Jahren höchstens eine Beobachterinnenrolle gespielt, änderte sich das 1989/90 schlagartig: Wenn sich schon die Verbände, Verwaltungen und Parteien in Westdeutschland nicht darauf einigen konnten, was eigentlich Lernbehinderung ist, stellte sich diese Frage in den neuen Bundesländern umso dringender. Es nimmt also nicht wunder, dass Bestände der Bundesanstalt zum Thema Lernbehinderung erst nach 1990 auftreten und sich nur auf die ehemalige DDR beziehen. Auch hier musste der Wille zur Umstellung „praktisch begabter“ Auszubildender gründlich erforscht werden.48 Das zweite Feld, das für eine Untersuchung wissenspolitischer Vereindeutigungspraktiken prädestiniert ist, ergibt sich unmittelbar aus dem ersten und rückt noch näher an die jüngste Zeitgeschichte: die Agenda 2010. Mit der Sozialfigur des Langzeitarbeitslosen betrat eine Figur die sozialpolitische Bühne, die in ihrer Konfiguration von den „älteren Arbeitnehmern“ und den „lernbehinderten Werkern“ abwich: Stellen diese Experimentalfiguren dar, deren Willen zur Umstellung es zu erkennen, zu definieren und – falls möglich – zu steigern galt, die also zu einem explorativen Umgang Anlass gaben, stellte der „Langzeitarbeitslose“ das Resultat der Aberkennung des Willens zur Umstellung dar: höchstens für Beschäftigungsmaßnahmen in Frage kommend, für die Arbeit der Zukunft aber auf keinen Fall mehr zu gebrauchen. Dass diese faktische Anerkennung und Institutionalisierung der Unbildbarkeit von einer Rhetorik der Förderung, Aktivierung, Eigeninitiative und Steigerung begleitet wurde, widerspricht dem keineswegs; sondern liegt, wie diese Arbeit zeigt, in der Suche nach dem Willen zur Umstellung begründet. Dass mit dem Jahr 2002 mehr Schulabsolvent:innen in berufsvorbereitende Maßnahmen als in reguläre Ausbildungsverhältnisse aufgenommen wurden,49 zeugt von der strukturellen Verschiebung. Diese war aber nicht ausschließlich quantitativer, sondern vor allem qualitativer Natur. Es ließe sich auch von der Vollendung der 47 Vgl. FBZ Chemnitz, in: Gewerkschaftliche Bildungspolitik 44 (1993), 2, S. 28. 48 Siehe den Vorgang „Benachteiligtenförderung im Beitrittsgebiet. Berufsausbildung von lernbeeinträchtigten Auszubildenden“ in: BArch B 119/11243, 11245 und 11247, 1990 – 1993. 49 Raphael: Knowledge, S. 365.

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inneren Transformation des bundesrepublikanischen Berufsausbildungssystems bei äußerer Kontinuität sprechen. Zuletzt ist auch die am Eingang dieser Untersuchung liegende Beobachtung noch nicht hinreichend historisiert worden: der mit den 2000er Jahren um sich greifende, mittlerweile abklingende Diskurs der Wissensgesellschaft selbst. Ebenso wie dieser Begriff durch die Politik der Europäischen Union im Rahmen der Lissabon-Strategie ab dem Jahr 2000 Europa in die Zukunft führen sollte und als letzte Fortschrittsformel nach dem Ende des Kalten Krieges erschien, rief er – wenig verwunderlich – Kritik auf den Plan. Das damit verbundene „Primat der Ökonomie“, so die Monita, übertünche mit seinen Selbstoptimierungsansprüchen des „lebenslangen“ oder „selbstgesteuerten“ Lernens systematisch manifeste Ungleichheitsstrukturen.50 Andere Kritiker:innen wiesen auf die „fortschrittsoptimistischen Introjektionen“ hin, die den Wissensbegriff künstlich, eurozentrisch und modernisierungstheoretisch verengten und andere Vorstellungen von Wissen marginalisierten.51 Darüber hinaus muss auch die Ambivalenz des Wissensbegriffs in seinen Konjunkturzeiten beachtet werden. Auch seit den 2000er Jahren löst der Begriff Vereindeutigungsprozesse aus. Wenn ein Neurowissenschaftler einen Verfall der Intelligenz in westlichen Gesellschaften beobachtet und fragt, ob „wir“ „dümmer“ werden,52 oder wenn andere bedauern, dass über das Verhältnis von Intelligenz, sozialer Mobilität und Migration Studien fehlten,53 deuten diese disparaten Beispiele darauf hin, dass Wissen in steten Schüben Vereindeutigungsbedürfnisse produziert. Wenn die Geschichtswissenschaft die Wissensgesellschaft historisiert, gibt es neben den beiden Wegen, die Bedeutung von Wissen vor dem 20. Jahrhundert zu unterstreichen oder unterrepräsentierte Formen des Wissens ins Rampenlicht zu stellen, noch einen dritten: Gegenstand müssen die Suche nach dem Wissen selbst und die verschlungenen Pfade seiner Vereindeutigung sein. Sind die Menschen also intelligenter geworden, wie Jean Fourastié 1949 verlangte? Lisa Herzog sprach sich 2019 für einen „Kulturwandel“ von Arbeit und sozialer Sicherung aus. Ein Sich-Festklammern an linearen Lebensläufen sollte durch Anpassungsfähigkeit und Umstellung überwunden werden: „[V]ielleicht ist man als Jurist in einem Bereich ausgebildet, in dem Algorithmen einen G ­ roßteil 50 Uwe H. Bittlingmayer: „Wissensgesellschaft“ als Wille und Vorstellung (Theorie und Methode 31), Konstanz 2005, S. 323 und 267 – 275. 51 AutorInnenkollektiv: Wissen und soziale Ordnung. Eine Kritik der Wissensgesellschaft, ­Working Papers des Sonderforschungsbereichs 640, Nr.  1/2010, https://edoc.hu-berlin.de/bitstream/ handle/18452/3891/1.pdf?sequence=1, letzter Zugriff: 10. 2. 2021, S. 16. 52 Manfred Spitzer: Werden wir dümmer? Der Flynn-Effekt im Rückwärtsgang, in: Nervenheilkunde 37 (2018), S. 617 – 625. 53 Nicholas Mascie-Taylor/Marta Krzyżanowska: Biological Aspects of Human Migration and Mobility, in: Annals of Human Biology 44 (2017) S. 427 – 440, hier S. 430.

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der Arbeit übernehmen, schult dann um auf Programmierer, um selbst Code zu schreiben […].“ 54 Der Wille zur Umstellung ist jedoch der Kern des Problems. Historiografisch betrachtet reihen sich ­solche Forderungen in die lange Geschichte der Beschwörung der Anpassungsfähigkeit ein. Dass diese Studie in ihrer vorliegenden Form aber überhaupt möglich war, rührt von einer Diskontinuität in dieser Geschichte der Zukunft der Arbeit her. Bildung, Ausbildung und Weiterbildung als gesellschaftliche Problemlösungsmechanismen haben ihre Unhintergehbarkeit und ihre gleißende Strahlkraft verloren. Das Versprechen ist schal geworden. In dem Maße, in dem Ausbildung und Umschulung, wie im Fall der Anpassungsfähigkeit, zu Problemerzeugern wurden, zeigten sie sich der Historisierung zugänglich. Eine ­solche Geschichte des ermattenden Glanzes – die Geschichte der Wissenspolitik ist davon nur eine Facette – lässt die Vergangenheit in neuem und die Gegenwart in altem Licht erscheinen. Sie steht weder auf der Seite des Engels des Fortschritts noch auf der der Trümmer, die der Engel in seinem Marsch hinter sich aufhäuft. Sie ist beides: der Moment vor dem Sonnenaufgang ebenso wie der vor ihrem Untergang. Von einer Geschichte konfligierender Vereindeutigungsbemühungen ein eindeutiges Narrativ zu erwarten würde kurios anmuten. An die Stelle der Eindeutigkeit tritt die Geschichte als Vexierbild.

54 Lisa Herzog: Die Rettung der Arbeit. Ein politischer Aufruf, München 2019, S. 139 und 140.

Abkürzungsverzeichnis

ABB Arbeitsstelle für Betriebliche Berufsausbildung ADN Archives Départementales du Nord ADHS Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung

AdsD Archiv der sozialen Demokratie AFG Arbeitsförderungsgesetz Afö Arbeitsförderungsbetriebe AFPA Association Française pour la Formation Professionnelle des Adultes AHGR Archiv im Haus der Geschichte des Ruhrgebiets ANMT Archives Nationales du Monde du Travail ARL Ateliers de Raisonnement Logique AROL Arbeitsgemeinschaft für Rationalisierung und Objektivierung der Lehrer­funktionen AVAVG Gesetz über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung BA BAVAV

Bundesanstalt für Arbeit (bis 1969: BAVAV) Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung (ab 1969: BA) BBA Bergbau-Archiv BBF Bundesinstitut für Berufsbildungsforschung (ab 1976: BIBB) BBiG Berufsbildungsgesetz BDA Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände BFW Berufsförderungswerk Bfw Berufsfortbildungswerk Bfz Berufsförderungszentrum BIBB Bundesinstitut für Berufsbildung (bis 1976: BBF) BMA Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung BMBW Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft BMWi Bundesministerium für Wirtschaft CAP CCE

CdF

CGT CJD CNPC

Certificat d’Aptitude Professionnelle Classes de Complément d’Études Charbonnages de France Confédération Générale du Travail Christliches Jugenddorfwerk Centre National de Perfectionnement des Cadres

Abkürzungsverzeichnis

CTM CUCES

Cours Techniques Miniers Centre Universitaire de Coopération Économique et Sociale

DAG DATSCH DDR DEMAG DGB DHKT DIHT DINTA

Deutsche Angestelltengewerkschaft Deutscher Ausschuß für Technisches Schulwesen Deutsche Demokratische Republik Deutsche Maschinenbau-Aktiengesellschaft Deutscher Gewerkschaftsbund Deutscher Handwerkskammertag Deutscher Industrie- und Handelstag Deutsches Institut für technische Arbeitsschulung

EBV EGKS EWG

Eschweiler Bergwerksverein Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl Europäische Wirtschaftsgemeinschaft

FDP FO

Freie Demokratische Partei Force Ouvrière

415

Gesamtmetall Gesamtverband der Metallindustriellen Arbeitgeberverbände GEW Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft GSW Gemeentelijke Sociale Werksvoorzieningsregeling voor Handarbeiders GVB Gesellschaft zur Verbesserung der Beschäftigtenstruktur mbH HBL Houillères du Bassin de Lorraine HBNPC Houillères du Bassin du Nord et du Pas-de-Calais HWK Handwerkskammer IAB IBM IGBE IGBSE IGM IHK IPU ISF

Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung International Business Machines Corporation Institut für Sozialforschung Industriegewerkschaft Bergbau und Energie Industriegewerkschaft Bau-Steine-Erden Industriegewerkschaft Metall Industrie- und Handelskammer Institut für Programmierten Unterricht Institut für Sozialwissenschaftliche Forschung

LAA NRW

Landesarbeitsamt Nordrhein-Westfalen

IfS

416

Abkürzungsverzeichnis

LAV NRW-R Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, Abteilung Rheinland LAV NRW-W Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, Abteilung Westfalen MAGS NRW

Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes ­Nordrhein-Westfalen MBP Mathematische Beratungs- und Programmierungsdienst GmbH MBSE Maßnahmen zur beruflichen und sozialen Eingliederung jugendlicher Ausländer MRA Moral Re-Armament MWMV NRW Ministerium für Wirtschaft, Mittelstand und Verkehr des Landes Nordrhein-Westfalen NCB National Coal Board NRW Nordrhein-Westfalen OECD

Organisation for Economic Co-operation and Development

RAG RKW RWWA

Ruhrkohle Aktiengesellschaft Rationalisierungskuratorium der Deutschen Wirtschaft Rheinisch-Westfälisches Wirtschaftsarchiv

SOFI SPD SZAG

Soziologisches Forschungsinstitut Göttingen Sozialdemokratische Partei Deutschlands Salzgitter Aktiengesellschaft

TRA TNO

Thyssen Röhrenwerke Aktiengesellschaft Thyssen Niederrhein Oberhausen/Thyssen Niederrhein Aktien­ gesellschaft

UNESCO UVR

United Nations Educational, Scientific and Cultural Organization Unternehmensverband Ruhrbergbau

VDI

Verband Deutscher Ingenieure

WAZ WBK WDR WWA

Westdeutsche Allgemeine Zeitung Westfälische Berggewerkschaftskasse Westdeutscher Rundfunk Westfälisches Wirtschaftsarchiv

Quellenverzeichnis

Archivalien und unveröffentlichte Quellen Bestandssignatur Bestandstitel Archiv der sozialen Demokratie, Bonn 5/DGAI 5/DGAO 5/DGAV 5/DGAW 5/IGMA07 5/IGMA21 5/IGMZ72

Deutscher Gewerkschaftsbund, Bundesvorstand, Abteilung Vorsitzender Deutscher Gewerkschaftsbund, Bundesvorstand, Abteilung Sozialpolitik Deutscher Gewerkschaftsbund, Bundesvorstand, Abteilung Bildung Deutscher Gewerkschaftsbund, Bundesvorstand, Abteilung Berufliche Bildung Industriegewerkschaft Metall, Bundesvorstand, ehemaliger Bestand 1 – 2 Industriegewerkschaft Metall, Bundesvorstand, Abteilung Berufliche Bildung Industriegewerkschaft Metall Vorstand, Zwischenarchiv, Abteilung Berufsbildung

Archives Départementales du Nord, Lille 11 W

Versement de la Mission régionale (économie, culture, législation)

Archives Nationales du Monde du Travail, Roubaix 2002 056 2004 001

2007 038 2007 044

Charbonnages de France. Archives Centrales Charbonnages de France. Archives Centrales. Houillères de Bassin du Nord et du Pas-de-Calais (HBNPC), Site de Billy-Montigny (Pas-de-Calais) Charbonnages de France. Archives Centrales. CdF Energie, Direction des ressources humaines, Direction juridique Charbonnages de France. Archives Centrales

Archiv im Haus der Geschichte des Ruhrgebiets, Bochum IGBE-Archiv

Industriegewerkschaft Bergbau und Energie

418

Quellenverzeichnis

Bistumsarchiv Essen GVB

Gesellschaft zur Verbesserung der Beschäftigtenstruktur

Bundesarchiv, Koblenz B 102 B 119 B 138 B 145 B 149

Bundesministerium für Wirtschaft Bundesanstalt für Arbeit Bundesministerium für Bildung und Forschung Presse- und Informationsamt der Bundesregierung Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung

Centre Historique Minier de Lewarde 55W B

HBNPC. Service des Relations Publiques Groupe de Béthune (HBNPC)

Historisches Archiv Krupp, Essen WA 55 WA 60 WA 119 WA 131 WA 230

Presseausschnittsammlung zum Thema Krupp Kleinere Zugänge Zentralbereich Kommunikation/Stabsabteilung Information Personalabteilung Zentralbereich Personal- und Sozialpolitik (und Vorläufer)

Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, Abteilung Rheinland, Duisburg BR 1134

Landesarbeitsamt Nordrhein-Westfalen Amtsgericht Essen Landespresse- und Informationsamt NRW, Presseschau Landespressestelle/Zeitungsausschnittsammlung Staatskanzlei Nordrhein-Westfalen, Arbeit, Gesundheit und Soziales NW 502 Ministerium für Wirtschaft, Mittelstand und Technologie des Landes Nordrhein-Westfalen, Handwerk, Handel, Tourismus NW 670 Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen, Ausländerintegration NW 714 Staatskanzlei Nordrhein-Westfalen, Arbeit, Gesundheit und Soziales NW 747 Staatskanzlei Nordrhein-Westfalen, Wirtschaft und Energie NW 862 Ministerium für Wirtschaft und Mittelstand, Energie und Verkehr des Landes Nordrhein-Westfalen, Haushalt RWF Film Gerichte Rep. 205 NW 65 NW 158 NW 442

Archivalien und unveröffentlichte Quellen

419

Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, Abteilung Westfalen, Münster B 180,1 M 550 N 100

Oberbergamt Dortmund, Generalakten Bergämter, Generalakten Arbeitsämter

Landeskirchliches Archiv der Evangelischen ­Kirche im Rheinland, Düsseldorf 1 OB 017 II

Landeskirchenamt (LKA) – Sachakten

Landeskirchliches Archiv der Evangelischen ­Kirche von Westfalen, Bielefeld 13.40

Sozialamt der Evangelischen K ­ irche von Westfalen

Montanhistorisches Dokumentationszentrum (montan.dok) beim Deutschen Bergbau-Museum Bochum/Bergbau-Archiv (BBA) BBA 20 BBA 120 BBA 175

Fried. Krupp Bergwerke AG, Essen Westfälische Berggewerkschaftskasse Sophia-Jacoba GmbH, Hückelhoven (Rheinland)

Registratur der IHK Essen, Essen (auch RWWA, Altsignatur) 911 – 00/2 955 – 10 955 – 40

Förderung der Berufsausbildung von Behinderten. Ausbildungs­ ordnungen nach § 48 BBiG, Werkerausbildung Umschulungsmaßnahmen im Kammerbezirk Berufsförderungszentrum Essen e. V., Allgemeines

Rheinisch-Westfälisches Wirtschaftsarchiv, Köln Abt. 20 Abt. 28

Niederrheinische Industrie- und Handelskammer DuisburgWesel-Kleve zu Duisburg Industrie- und Handelskammer für Essen, Mülheim an der Ruhr, Oberhausen zu Essen

Salzgitter AG-Konzernarchiv, Mülheim an der Ruhr M 21

Mannesmann, Aus- und Weiterbildung

SOFI-Göttingen, e-Labour, Göttingen [ohne Signatur]

Probleme der Umschulung von Arbeitskräften in Wirtschaftszweigen und Regionen mit besonderen Strukturproblemen, durchgeführt von Martin Baethge am SOFI 1969 – 1972

420

Quellenverzeichnis

thyssenkrupp Konzernarchiv, Duisburg A

TNO

August Thyssen-Hütte/ThyssenKrupp AG Thyssen Niederrhein AG Hütten- und Walzwerke

Westfälisches Wirtschaftsarchiv, Dortmund K1 K2 K3 K5

Industrie- und Handelskammer zu Dortmund Industrie- und Handelskammer zu Bochum Industrie- und Handelskammer Ostwestfalen zu Bielefeld Industrie- und Handelskammer zu Münster

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Register Kursive Ziffern verweisen auf Fußnoten.

Personenregister A Ahl, Gerhard  204 Albertz, Luise  174 Amthauer, Rudolf  332 – 334, 357 Andresen, Knud  37, 97 Arendt, Walter  253, 389 Arnhold, Karl  61 Aurel, Jean  54, 57 f., 116 f. B Baden, Manfred  286 Baethge, Martin  296 f., 300 – 302 Bahrdt, Hans Paul  297 Barrabas, Fritz  109 f., 314 Barrabas, Reinhard  42, 387 Bärsch, Hans Georg  308, 310, 350 Baseilhac, Paul  59 Bauer, Thomas  31 Bauman, Zygmunt  398 Bayle, Gilbert  118 Becker, Gary S.  73, 240 Behrendt, Rudi  246 Belbin, Raymond M.  240, 290 Bell, Daniel  15 Bendrat, Diethard  381 Benetreu, Heinz-Peter  380 – 382 Benz, Georg  187 Bernstein, Basil  361 Biess, Frank  98, 408 Binet, Alfred  59 Bluma, Lars  22 Blum, Robert  294 f. Boll, Werner  194 – 200, 234, 243, 248, 250 – 257, 287, 301, 330, 341 Brauksiepe, Aenne  263 Breitkopf, Theo  260 f. Brepohl, Wilhelm  172, 174

Breustedt, Karl Otto  95, 98 f., 103 Brinkert, Bernhard  85, 192, 263 f., 324, 337 Brückers, Walter  250, 287 Butschkau, Udo  357 f. Buttchereit, Herbert  83, 88 – 90 C Carrard, Alfred  58 f. Cech, Ernst  309, 348 Chamayou, Grégoire  396 Chruscz, Paul  381 f. Clark, Colin  130, 332 Clarke, Jackie  396 Classen, Günther  288 f. Coester, Franz  254 f., 257 Conzen, Friedrich  364 f., 367 Correll, Werner  107 D Dannenmann, Arnold  61, 322 Degen, Alois  113, 133, 139, 160, 176 – 178, 181, 236, 241, 259, 261 f. Delors, Jacques  120 f. Dembski, Otto  315, 334 Derrida, Jacques  36 Diel, Alfred  177 Doering-Manteuffel, Anselm  408 Donauer, Sabine  108 Drucker, Peter F.  316 Dünnwald, Marianne  212, 215 – 219, 225 Dütting, Hans  51 E Eckert, Astrid M.  408 Ellger-Rüttgardt, Sieglind  365 Ernst, Hermann  224, 248 Eysenck, Hans Jürgen  295

461

Personenregister

F Falkenhausen, Gotthard von  244 f. Farthmann, Friedhelm  350 Felsch, Philipp  408 Fetzer, Thomas  403 Figgen, Werner  148, 175, 237, 253, 265, 283, 346, 350 Filla, Gerhard  193, 229 Finkenzeller, Roswin  223 Fischer, Horst  371 Fotré, Guido  179, 181 – 185 Foucault, Michel  17, 26, 121 Fourastié, Jean  13, 15, 130, 316, 332, 412 Frank, Helmar  107 Frank, Johann  212 f. Franzen, Axel  65 G Galton, Francis  406 Geiger, Theodor  88 Gentz, Heinz  316 Gertschen, Alex  403 Giesen, Hermann  89 f., 325 Gleitze, Bruno  148 f. Gosny, Siegfried  373 – 375 Graf, Adolf  347 Greve, Hans-Georg  99 f., 309 – 311, 371 Grundmann, Konrad  132 Grupp, Rudolf  349 Gummersbach, Alfons  124, 293 H Hasson, Guy  53, 73, 83 Haveman, Jan  162 – 164, 262 Hecquet, Max  125 Heitbaum, Heinrich  271 – 275, 278 – 281 Hengsbach, Franz  188 f., 235 – 237, 239 f., 252 Henkelmann, Walter  247, 249 f. Henretta, James A.  227 Herkommer, Lotte  310 Hermann, Ernst  224 Herzog, Lisa  412 Hesse, Jan-Otmar  21 Heßler, Martina  24

Heyde, Peter  189 Himmelberg, Hermann  325 Hoppe, Leonhard Günther  241 Hottes, Karlheinz  175 J Jensen, Arthur  293 Jünger, Ernst  163 Jungermann, Wilhelm  176 Jung, Karl  252 – 254, 256, 285 K Kaelble, Hartmut  403 Käfferbitz, Jakob  194 Kahn, Fritz  332 Kattenstroth, Ludwig  193 f. Katzer, Hans  193, 195, 218, 237, 243 f., 248, 263 Keunecke, Helmut  180, 220 f., 245, 247 Kienbaum, Gerhard  132 f., 137 f. Klafki, Wolfgang  324, 337 Klages, Helmut  130 Klauer, Karl Josef  327 f. Kleinwegen, Hermann  353 Kloas, Peter-Werner  366 f. Kneschaurek, Francesco  87 Koch, Harald  220 Kohl, Helmut  210 König, René  210 Kössler, Till  399 Kracauer, Siegfried  34 Kranz, Günter  241, 251 f., 275, 278 Krommes, Hans  115, 157 Kübel, Friedrich  372 – 374, 378 L Lagasnerie, Geoffroy de  409 Lane, Robert E.  15 Lazarsfeld, Paul  214 Lehtinen, Laura  366 Leipski, Gert  264 – 266, 392 Lemke, Horst  182, 245 Lewin, Kurt  298 Leyendecker, Franz  52, 61 Licht, Hans  347

462 Limper, Franz-Rudolf  329 Link, Jürgen  286 Loderer, Eugen  364 f., 367 M Marbe, Karl  65 Maresch, Karl-Heinz  372, 374 Marschner, Günter  371 Maslow, Abraham  294 Meseck, Oskar  100 Meskill, David  47, 52, 140 Meyers, Franz  155, 160 Mignon, Ulrich  373 f., 377 Mikat, Paul  155 Moscovici, Serge  69 – 72, 76 f., 86, 90, 163 Muders, Winfried M.  371 Mues, Werner  348 f. Müller, Adolf  237 N Neuheiser, Jörg  24 Nieswandt, Wilhelm  241 Nietzsche, Friedrich  15 Nolle, Karl  352 O Oevermann, Ulrich  361 f. Ogburn, William  217 Orff, Carl  336 Otto, Anne  405 P Perrot, Jean-Claude  29 Pfahl, Lisa  346 Piaget, Jean  126 Pointurier, Luc  117, 122 Pompidou, Georges  120 Preiss, Hans  343, 367, 369 Prill, Wolfgang  342, 376 Q Quadt, Ludwig  256, 275, 281 – 283 Quecke, Fred  268 f.

Register

R Radzio, Heiner  172 Raphael, Lutz  27, 395, 402, 408 Reek, Arthur  315, 330 f. Reinartz, Anton  326, 358 Reusch, Erhard  308 Riemer, Horst-Ludwig  347, 349 f. Ritter, Eduard  115 Rittweger, Ulrich  159 Rock, C. V.  145 – 147, 149, 158 f. siehe auch Roecken, Kurt Walter Roecken, Kurt Walter  144  siehe auch Rock, C. V. Rohde, Helmut  283 Rosenthal, Hans-Joachim  309 S Sabel, Anton  147, 195, 235 – 239, 247 – 249 Sandmann, Georg  249, 252 – 257 Sauer, Brunhilde  227 – 229 Schanetzky, Tim  21 Schelsky, Helmut  87 Schiller, Karl  172 f., 176 Schlate, Otto  266, 316 Schlipf, Eduard  212, 215 – 219, 226 Schmelzer, Horst  210 f. Schmidt, Hermann  367 Schneider, Wolfgang  111 f. Schnier, Wilhelm  314 Schnitker, Paul  344 Schoene, Heinrich  332 Schrul, Günter  324, 353 Schuff, Hans Konrad  204 – 207 Schulte-Borberg, Paul  329 – 331 Schultz, Theodore W.  73 Schwartz, Bertrand  73, 75, 126 Seifriz, Adalbert  193 f. Semmler, Otto  180, 182, 297, 341, 353, 381 Sorokin, Pitirim A.  71 f., 406 Speckmann, Rolf  288, 348 Spitznas, Heinz  245 f., 287 Stehr, Nico  15 f. Sternemann, Wilhelm  269, 279, 284 Stingl, Josef  243, 250, 275, 291, 344

463

Sachregister

Strauss, Alfred  366 Szöllösi-Janze, Margit  27 T Tebert, Walter  216, 222 U Uhl, Karsten  22 f., 35, 400 V Vanneuville, R.  45, 48 f., 52 f. Vatier, Raymond  74 Verheyen, Nina  31 Verschueren, Nicolas  402 Vetter, Heinz Oskar  108 Vogel, Jakob  27 W Waldschmidt, Anne  34

Walter, Hubert  170 f. Weber, Maria  343 Weber, Rolf  180, 247 Wenke, Hans  318 Wermes, Dina  189, 238 – 240, 282 Wessel, Rolf  334 Wiemann, Günter  92, 335 Wiener, Norbert  332 Witzel, Frank  408 Wolf, Johanna  403 Wolfram, Erich  266 Wollek, Paul  136 f., 165 f., 169, 192, 278 Woratz, Gerhard  165 Wörmann, Eduard  283 Wyenbergh, Jakob van den  61 Z Zekorn, Klaus  129, 218 Zielinski, Johannes  106, 113

Sachregister Auf die Indexierung der sehr häufig auftretenden Begriffe Leistung, Mobilität, Strukturwandel und Wissen wurde verzichtet. A Abendland  323 Adolf-Stoecker-Werk  194 Agence France-Press  97 Agenda 2010  411 Alter  34, 37 f., 58, 135 f., 144, 156, 184, 186, 191 f., 194, 197, 201, 206 f., 209 – 211, 216 – 220, 222, 236 – 239, 241, 251, 260, 267, 285 f., 291, 293 – 295, 300, 311, 332, 391, 410 – -sdiskurs  407 Alterität  34, 375, 385, 387, 399 Angelernter Arbeiter  36, 88 f., 137 f., 183, 217, 316  siehe auch Hilfsarbeiter Anlage-Umwelt-Debatte  70 f., 293 – 295, 359, 406 f. Anpassungsfähigkeit  15, 18, 24, 30, 38, 44, 66 f., 72, 77, 80, 86, 89, 92, 95, 97, 103, 108, 120, 126 f., 137, 140, 143, 161, 176, 179, 181, 184,

195, 200, 202, 224, 226, 228, 234 f., 238, 241 f., 247 f., 257 f., 265 – 268, 270, 274 – 280, 286 – 290, 296, 307, 315, 321, 327, 343, 345, 350, 388, 390, 392 – 395, 397 – 400, 404, 407, 411 – 413 Anrufung  siehe Subjektivierung Anschlußprogramm zum Programm gegen Jugendarbeitslosigkeit des Landes Nordrhein-Westfalen  347, 349  siehe auch Riemer-Programm Anthropologie  71 f., 76, 87, 132, 164, 170, 172 f., 176, 178, 184, 188, 197 f., 202, 229, 321, 364, 387, 395  siehe auch Rassenanthropologie – historische  25, 33, 35 Antikommunismus  45, 48, 51, 291, 390 Arbeitnehmer, älterer  38, 40 f., 123, 135, 137, 141, 151 f., 161, 169, 184, 189, 194, 196, 200 f., 218, 229, 233 f., 237 f., 240 – 243, 245, 249, 251 – 255,

464 257 f., 261, 266 – 268, 270, 274 – 278, 282 – 286, 290 f., 307, 327, 344, 391, 400, 410 f. Arbeitsamt – Aachen  346 – Bochum  113, 136, 166, 265 f., 312, 319, 322, 346 – Bonn  51 – Coesfeld  114 – Dortmund  136 f., 202 – 207, 210, 224, 263, 297, 319, 321, 346 – Duisburg  99, 113, 267, 326, 346 – Essen  114, 177, 250, 268, 346 – Gelsenkirchen  154, 166, 323, 346 – Krefeld  346 – Oberhausen  166 – Recklinghausen  136, 346 – Wesel  346 Arbeitsausschuss für Berufsbildung  47 Arbeitsförderungsbetriebe, Afö  238, 241  siehe auch Gesellschaft zur Verbesserung der Beschäftigtenstruktur, GVB Arbeitsförderungsgesetz, AFG  87, 120, 131 f., 147, 151, 161, 164, 195, 197 f., 212, 223 f., 229, 234, 252, 254, 289, 295, 297 – 299, 392, 394, 402 Arbeitsgemeinschaft für Rationalisierung und Objektivierung der Lehrerfunktionen, AROL  109, 356 Arbeitslosenhilfe  136, 177, 235 Arbeitslosigkeit  68, 77, 80, 132, 134, 137, 139, 152, 165 f., 175, 177, 191, 200 f., 208, 213, 235, 255, 261 f., 265, 274, 337 f., 340 – Jugend-  337 f., 342 f., 347, 353, 355, 363, 387, 392 Arbeitsmarkt  46, 52, 92, 119, 126, 134, 140 f., 150, 159 f., 177, 181, 183, 203, 207, 209, 219, 248, 255, 263, 265, 273, 285, 320 – -forschung  183, 202, 204, 243 – -konferenz  175, 237, 285, 363 – -politik  14 f., 31, 65, 75, 129, 132, 134, 137, 148, 160, 169, 193, 198, 210, 226, 243, 256, 398 – -politik, aktive  87, 131 f., 200 – televisueller  259

Register

Arbeitsplatzwechsel  175, 184, 218 f., 259, 373  siehe auch Berufswechsel Arbeitsstelle für Betriebliche Berufsausbildung, ABB  94 Arbeitsvermittlung  139, 177, 251 f. Association Française pour la Formation Professionnelle des Adultes, AFPA  73, 118, 122 – 125 Ateliers de Raisonnement Logique, ARL  126 f., 403 Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung, ADHS  366 August Thyssen-Hütte  353 Ausländische Arbeitskräfte  68, 82, 134, 168, 176, 205, 295, 329, 339, 344, 362 f., 374, 385, 392  siehe auch Gastarbeiter Außenstelle Bergbau der BAVAV, Recklinghausen  134 f. Authentizität  205, 408 – -sfiktion  35, 205 Automation, Automatisierung  13, 24 f., 43, 80, 88, 117, 131, 133, 142 f., 145, 147, 156 – 158, 172, 177, 191, 194, 196, 204, 239, 303 f., 312 f., 316 f., 321, 334, 400 f. Automobilindustrie  144, 404 B Begabung  18, 30, 43 f., 61 f., 87, 91, 94 – 99, 102, 104 f., 112, 149, 171, 197 f., 245, 248 f., 251, 261, 286, 293, 302 – 304, 310 f., 316, 324 f., 330, 332, 334 – 336, 338, 343, 345 f., 349, 355, 360 f., 363, 365, 379, 384 f., 390 f., 394, 405 – 407 – Minder-  125, 321, 328, 338, 345, 355, 357, 372, 392 – praktische  316, 320, 334 – 336, 365, 376, 378, 384, 393, 399 – -shierarchie  180, 386 – -sniveau  60, 95, 103, 105, 108, 127, 171, 313, 315 – -spotential  110, 357 – -sreserven  251 – -sschichtung  101 – -sschwäche  321

Sachregister

– -sverfall  57, 90, 98, 112, 116 f., 120, 313 f., 316 – 319, 327, 331, 337, 343, 362, 373, 378, 408 – -sverteilung  112, 170 – theoretische  98, 304, 316, 334 – 336, 365, 376, 384, 393 Behinderung  34, 42, 135, 141, 183, 189 – 192, 194 – 197, 201, 236 f., 239, 253, 255, 286, 320 – 322, 326, 331, 337, 339 f., 344 f., 348 – 354, 358 f., 365 f., 368 – 370, 373, 375 f., 383, 391, 399  siehe auch Lernbehinderung Beratungsstelle für Rehabilitationseinrichtungen Heidelberg  250 Bergberufsschule  92, 314 f., 328, 330, 332, 334, 336, 355 f., 362, 385 Bergjungarbeiter, -leute, -mann  siehe Jungarbeiter Berglehrling  54 f., 313, 315, 330 Bergmechaniker  379, 383 f., 386 Bergschule  61, 156  siehe auch Ingenieurschule für Bergwesen, Bochum Berg- und Maschinenmann  44, 370 f., 379, 382, 384, 386, 393 Beruflichkeit  26, 46 f., 96, 132, 142 f., 146, 161, 178, 181, 209 Berufsamt der Stadt Köln  61 Berufsberatung  46, 99, 400 Berufsbildungsgesetz, BBiG  87, 94 f., 180, 308, 338 f., 347 f., 365, 383, 392 Berufsbildungswerk Wittekindshof  369 Berufsförderungswerk des Landes Niedersachsen  352 Berufsförderungswerk Graf Bismarck  113, 285 Berufsförderungswerk Heidelberg, BFW Heidelberg  111, 194, 196, 249, 301, 330 Berufsförderungszentrum Essen, Bfz Essen  42, 114, 124, 200, 233 f., 242 – 244, 247, 249 – 252, 255 – 258, 263, 275, 285, 287 – 296, 299, 301, 306, 391, 394, 411 Berufsfortbildungswerk des DGB, Bfw  115, 124, 157, 200, 276, 324, 353 Berufsgrundbildungsjahr  309, 334 Berufsordnung  47, 147, 151, 363, 372, 379 f., 387 – -spolitik  42

465 Berufspädagogik  142, 194, 366 Berufsvorbereitungsjahr  321 f. Berufswechsel  129 f., 142, 152, 173, 175, 193, 202, 208 f., 212, 218 f., 222, 246, 261  siehe auch Arbeitsplatzwechsel Betriebsrat  52, 55, 282, 284, 308, 374 Beweglichkeit  30, 77, 89, 92, 130, 137, 146, 164, 171, 175 f., 178, 202, 208, 210, 221, 224, 248, 264, 293, 316, 318, 333, 356 Bildbarkeit  30 f., 37 f., 43, 67, 121, 123, 125 – 127, 155, 160, 164, 184, 190, 197, 199 – 201, 217, 219, 234, 244 – 247, 249 f., 257, 292 f., 295 f., 302, 307, 311, 320, 323 f., 334, 348 – 350, 365, 375, 383 f., 387, 391, 411 Bildsamkeit  siehe Bildbarkeit Bildungsexpansion  17, 37, 87, 408 Bildungsfähigkeit  13, 25, 30, 38, 85, 99, 132, 135 – 137, 141, 151, 153 – 155, 158, 160 f., 184, 191 f., 196 – 198, 235, 251, 290, 299, 306 f., 317, 322, 333, 363, 370 f., 387, 394 – 397, 405 Bildungsforschung, historische  25 Bildungskommission des Deutschen Bildungsrats  343 Biopolitik  17, 52, 239 Bistum – Essen  42, 188, 191, 234, 242, 281, 397 – Münster  242 Bochumer Verein für Gußstahlfabrikation AG  100 Bolschewismus  323 Bonner Rundschau  222 Bricolage  36, 282, 306 f., 392 Bund Deutscher Mädel  336 Bundesanstalt für Arbeit, BA  41, 234, 242, 250, 252 – 257, 266 f., 271, 274, 276 – 278, 280 f., 288, 290, 292, 308, 394, 411  siehe auch Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung, BAVAV Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung, BAVAV  41, 135, 138, 144, 147, 151 f., 154 f., 161, 164 f., 195, 233, 235 f., 243, 247 – 250, 259, 261, 297, 322  siehe auch Bundesanstalt für Arbeit, BA Bundesausschuss für Berufsbildung  309, 341

466 Bundesfachschule für maschinelle Datenverarbeitung  157 Bundesinstitut für Berufsbildung, BIBB  309, 342, 352, 366 – 368, 370, 372, 376 f., 386  siehe auch Bundesinstitut für Berufsbildungsforschung, BBF Bundesinstitut für Berufsbildungsforschung, BBF  147, 294, 309, 356  siehe auch Bundesinstitut für Berufsbildung, BIBB Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung, BMA  41, 43, 129 f., 154, 157, 161, 164, 192 – 196, 200 f., 203, 210, 213, 215 f., 221 – 226, 229 f., 233 f., 240 – 242, 247 – 252, 254 – 257, 261, 264, 266 f., 274 f., 278, 281 – 286, 290, 311, 342, 349, 391, 394, 402, 404 Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft, BMBW  310, 342, 380, 382 – 384 Bundesministerium für Familie und Jugend  211, 263 Bundesministerium für Wirtschaft, BMWi  42, 172, 211, 296, 308 f., 311, 339, 379 f., 382, 384 Bundesverband der Deutschen Industrie  221 Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, BDA  180, 244, 247 Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung  358 C Centre d’Embauchage du Bassin  122 Centre Interentreprises de Formation  74 Centre National de Formation des Moniteurs et d’Études Pédagogiques  186 Centre National de Perfectionnement des Cadres, CNPC  50, 115 Centre Universitaire de Coopération Économique et Sociale, CUCES  73 f., 126 Certificat d’Aptitude Professionnelle, CAP  47 – 49, 57 Chancengleichheit  120, 293, 343, 352, 355, 357 Charakterologie  59, 100 f., 129, 153 Charbonnages de France, CdF  41, 50, 53, 57 – 59, 68, 73, 115, 118, 124, 126 f.

Register

Chemieindustrie  144 Chicago School of Sociology  71 Christliches Jugenddorfwerk, CJD  61, 321 – 323, 328 Classes de Complément d’Études, CCE  60, 117 Collège Industriel Européen  74 Comité d’Organisation de l’Industrie des Combustibles Minéraux Solides  49 Comité Régional de la Formation Professionnelle et de la Promotion Sociale et de l’Emploi  119 f. Computer-Programmierer-Ausbildung GmbH  115 Confédération Française des Travailleurs Chrétiens  125 Confédération Générale du Travail, CGT  69, 125, 405 Consolidation, Zeche  323 Conversion  72 f., 78, 402 Cotta’sche Verlagsbuchhandlung  109 Cours Techniques Miniers, CTM  117 f., 390 Creative Class  400 D Deindustrialisierung  19, 38, 43, 67 f., 71, 395 f., 402 f., 405, 410 Demokratisierung  366, 408 Denkstil  346 Dequalifizierung  47, 163, 375, 389 – -shypothese  24 Der Arbeitgeber (Zeitschrift)  244 Der Spiegel  223 Deutsche Arbeitsfront  47 Deutsche Forschungsgemeinschaft  170 Deutsche Lufthansa  111 Deutsche Maschinenbau-Aktiengesellschaft, DEMAG  325 Deutsche Presseagentur  97 Deutscher Ausschuß für Technisches Schulwesen, DATSCH  47 Deutscher Bundestag  87, 151, 264, 346 Deutscher Caritasverband  323 Deutscher Gewerkschaftsbund, DGB  41 f., 157, 180, 182, 241 f., 247, 266, 282, 309, 324, 337,

Sachregister

467

340 – 345, 349 – 353, 364, 366 – 370, 376 – 378, 380 – 382, 384 Deutscher Handwerkskammertag, DHKT  342 f. Deutscher Industrie- und Handelstag, DIHT  246 f., 287, 308, 317 f., 339 Deutsches Industrie-Institut  103 Deutsches Institut für technische Arbeitsschulung, DINTA  47, 61 Deutsches Kaiserreich  179, 209 Deutsches Zentrum für Altersfragen  201 Devianz  48, 321, 349 Diakonie Deutschland  323 Dienstleistungsgesellschaft  13, 20 f. Die Welt  384 Differenz  17, 33 f., 46, 90, 93, 111, 128, 209, 222, 234, 237, 258, 285, 301, 317, 321, 326 f., 335 – 338, 344, 354 f., 357, 361, 363, 365 f., 370, 374, 378, 382, 393 – 395, 397 – 399, 406 f. – -forschung  286 – -geschichte  398 – -kategorie  34 f., 200, 209, 216 f., 257 f., 268, 295, 336, 365, 409 – -wissen  17, 35 Direction Régionale du Travail et de la Main d’œuvre de la Région du Nord  119 Disability Studies  34, 359 Diskriminierung  35, 354 f., 358 f., 399 Disziplinierung  22 – 24, 286, 292, 396 f., 400 Drahtbiegeprobe  100  siehe auch Test Duisburger Arbeitskreis „Berufe für Behinderte“  324, 350, 375, 407  siehe auch Duisburger Modell Duisburger Modell  324 – 326, 342, 353 f., 371, 392  siehe auch Duisburger Arbeitskreis „Berufe für Behinderte“ Düsseldorfer Modell  342, 349 Düsseldorfer Verein für Berufspädagogik  113 f.

Eignung  45, 97, 99 – 102, 111, 127, 149, 159 f., 182, 185, 187, 197, 199, 228, 276, 292 f., 350, 374 – -stest  siehe Test, Intelligenztest Elastizität  83, 97, 180, 221, 245, 247, 394 Elektroindustrie  140 Elektronische Datenverarbeitung (Zeitschrift)  204 f. Entproletarisierung  140, 402 Entwicklungspolitik  291 Epistemisches Ding  30, 128, 205, 207 – 210, 287, 306, 390 Epistemologie, historische  19 Erster Weltkrieg  46 f., 171, 312 Erstes Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt  234 Erwachsenenausbildung  37, 39, 43, 113, 121, 128, 131, 181, 186 – 188, 195, 229, 234, 300, 311, 394 Erwachsenenbildung  131, 181, 194 f., 197, 243 f. – berufliche  112 f., 185, 242, 294 Erzbistum Paderborn  242, 284 Eschweiler Bergwerksverein, EBV  313, 355, 371, 382 Essener Steinkohlenbergwerke AG  323 Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl, EGKS  39, 41, 68, 72, 76 – 78, 80, 83 – 85, 87 f., 109, 112 f., 135, 137, 154, 156, 161 f., 179, 183, 264, 390, 402, 404 Europäische Wirtschaftsgemeinschaft, EWG  77, 85, 179, 183 Europäisierung  84, 402 f. Europarat  13 Evangelische Kirche im Rheinland  234, 242 Evangelische Kirche von Westfalen  42, 189, 234, 242, 397 – Sozialamt  188, 238, 283 Ewald Kohle AG  136 Experimentalsystem  30, 38, 42, 120, 208, 233 f., 249, 258, 277, 289, 345, 389, 391, 397, 403

E École de Formation des Cadres des Centres d’Apprentissage de Bergoïde  50 École Technique des Mines de Douai  47 Éducation permanente  72 – 74, 76

F Facharbeiter  47, 49, 57, 70, 89 f., 96 f., 113, 137 f., 149 – 151, 159, 162, 180, 183, 210, 217, 244, 246, 262, 284, 315, 317, 327, 344, 370, 374 – 376, 379, 387, 391, 400

468 Flexibilität  24, 173, 188, 247, 330, 390, 397, 408 Fluktuation  38, 76, 80 – 86, 132, 134, 138, 140 f., 168, 178 f., 204, 215, 217, 219 – -sangst  318 – -sparadigma  130, 169, 204 Force Ouvrière, FO  125 Fördertarifvertrag  373, 377  siehe auch Tarifvertrag Fordismus  22, 34, 58, 143, 163 Fortbildung  38, 48, 50, 65, 84, 120, 124, 126, 131, 133, 157, 176 f., 182, 188, 198, 224, 226, 243, 260 Fortbildungszentrum Chemnitz  411 Freie Demokratische Partei, FDP  338, 347, 349 Friedrich Krupp AG  41, 94 – 97, 99 f., 103 – 105, 116, 244, 259, 308 – 311, 314 f., 317, 338, 350, 370, 390 Führung  45, 54, 58, 60 f., 74, 153, 156, 230, 240, 270, 277, 279 f., 282, 285, 390, 406 Fürsorge  32, 65, 75, 86, 91, 99, 151, 163, 192, 235 f., 238 – 240, 263, 281, 306, 324, 327, 352, 357, 373 f., 381 f., 393 – 395, 398 – -erziehung  91, 312 f. G Gastarbeiter  103, 134, 146, 168, 362  siehe auch Ausländische Arbeitskräfte Gelsenkirchener Bergwerks-AG  51, 150 Gemeentelijke Sociale Werksvoorzieningsregeling voor Handarbeiders, GSW-Regelung  189 f. Gemischter Ausschuss für die Harmonisierung der Arbeitsbedingungen im Steinkohlenbergbau  82, 85 General-Anzeiger  222 Gesamtverband der Metallindustriellen Arbeitgeberverbände, Gesamtmetall  308 Gesamtverband des deutschen Steinkohlenbergbaus  386 Geschichte und Gesellschaft (Zeitschrift)  170 Geschlecht  34, 142, 153, 206, 219 f., 258, 262, 319, 399 – -erordnung  144, 399 – -lichkeit  260, 399

Register

Gesellschaft zur Verbesserung der Beschäftigtenstruktur, GVB  42, 200, 233 f., 238 f., 241 – 243, 250 – 252, 254 – 258, 266 – 270, 274 – 286, 290, 295, 391 f., 401  siehe auch Arbeitsförderungsbetriebe, Afö Gesetz über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung, AVAVG  131, 151 f. Gesetz zur Verbesserung der Haushaltsstruktur  299 Gesprächskreis für Fragen der beruflichen Bildung  226 Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, GEW  324, 337, 342, 352 Gleichheit  44, 59, 86, 128, 260, 328, 339, 366, 370, 376, 387, 393 – politische  227 – -spolitik  375, 381 Gouvernementalität  24, 75, 286, 291 Graf Bismarck, Zeche  150, 154, 264 Groupement Amical des Responsables de Formation  74 Groupement Inter-Entreprises de la Région de Béthune pour l’Apprentissage et la Formation des Adultes  120 Grubenmilitarismus  60 Gruppendiskussion  298 – 301, 305 Gutehoffnungshütte  100, 372  siehe auch Thyssen Niederrhein AG, TNO Gymnasium  333 H Habitus  36, 260, 394 Hammer (Unternehmen)  242 Handarbeit  20, 50, 92, 117, 146, 189, 196, 303 f., 316, 321, 365, 399 Handwerkskammer, HWK – Düsseldorf  342 – Oberbayern  376 Handwerksordnung  339, 343, 347 Hans-Böckler-Stiftung  398 Hauer  151 Hauptschule, Hauptschüler  93, 309 – 311, 322, 326, 331, 345, 347, 349 f., 352, 358, 363, 367 f., 381, 385  siehe auch Volksschule, Volksschüler

469

Sachregister

Haus Aden, Zeche  83 Heilpädagogik  siehe Sonderpädagogik Heinrich Bergbau AG  242 Hilfsarbeiter  88, 149, 210, 264, 320  siehe auch Angelernter Arbeiter Hilfsschule, Hilfsschüler  92 f., 116, 171, 210, 311 f., 327, 329, 333  siehe auch Sonderschule, Sonderschüler Hitlerjugend  336 Hoechst AG  332 f. Hoesch AG  100, 204, 220 Höherqualifizierung  66, 89 f., 150, 373, 389, 405 – -shypothese  149 Houillères du Bassin de Lorraine, HBL  118, 125 Houillères du Bassin du Centre et du Midi  68, 118 Houillères du Bassin du Nord et du Pas-deCalais, HBNPC  40 f., 45, 50, 54, 57 – 60, 116 – 118, 122 – 126, 192 Humankapital  26 f., 38, 73, 76, 86, 120 f., 146, 172, 230, 277, 306 f., 332, 389, 393, 395 f. Hüttenwerker  348, 370, 372 f., 377 f. – -ausbildung  44, 371, 374 – 378, 393 I Ideologie  98, 227 f., 299, 395, 397 – -kritik  227 f., 298, 301, 362 Immobilität  85 f., 164, 169, 172 f., 175, 178 f., 184 f., 192, 198, 208, 219 – 223, 228, 263 f., 271, 324, 398, 406, 408 Industrie-Club Düsseldorf  98 Industriegesellschaft  15 f., 20, 84, 98, 142, 161, 167, 203, 238, 262, 321, 327 Industriegewerkschaft Bau-Steine-Erden, IGBSE  147, 345, 353 Industriegewerkschaft Bergbau und Energie, IGBE  41, 85, 108, 125, 154, 183, 192, 242, 263 f., 266, 324, 337, 378 – 382, 384 – 386, 389 Industriegewerkschaft Druck und Papier  342 Industriegewerkschaft Metall, IGM  41 f., 94 f., 172, 182 – 188, 245 f., 281 f., 309 f., 337, 339 f., 342 – 345, 351 – 353, 364 – 367, 370 – 378, 382 Industrie- und Handelskammer, IHK – Aachen  382

– – – –

Bochum  323 Braunschweig  95 Dortmund  180, 220 Duisburg  41, 175, 309, 324 f., 348, 353 f., 377 – Düsseldorf  113, 246 f., 340, 364 – Essen  41, 241, 244 – 246, 259, 261, 287 f., 291, 309, 318 f., 348, 350, 372, 377 – Heidelberg  287 – Kiel  340 – Köln  348 – Ludwigshafen  287 – Münster  114, 247 – Stuttgart  345 Informationen zur Arbeitspsychologie  371 Ingenieurschule für Bergwesen, Bochum  314  siehe auch Bergschule Innere Mission  323 Institut Français pour la Formation Pratique des Chefs dans l’Entreprise  74 Institut für angewandte Psychologie, Lausanne  58 Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, IAB  138, 147, 397 Institut für Programmierten Unterricht, IPU  115 Institut für Sozialforschung, IfS  298 Institut für Sozialwissenschaftliche Forschung, ISF  214 f. Institut für Stadt- und Regionalentwicklung der Ruhr-Universität Bochum  283 Institut Mensch und Arbeit  111 f., 224 f. siehe auch Robert Pfützner GmbH Intelligenz  57, 59 f., 71, 93 f., 126, 315, 317, 320 f., 328, 333, 335, 358, 360, 387, 407, 412 – -alter  59, 315 – -forschung  406 – -minderung  331, 376 – -niveau  91 f., 101, 313 – 315, 333, 362 – -quotient, IQ  356 – -schwäche  321, 326, 331 – -Struktur-Test  333, 335, 356 – -test  32, 59, 111, 321, 331, 355, 357, 359, 366, 385, 407  siehe auch Test

470 International Business Machines Corporation, IBM  157 Italsider  112 J Jungarbeiter  52 – 55, 90 – 92, 311, 315, 328 – 331, 335, 337, 361, 363, 379 – 382, 386 Jungbergleute  siehe Jungarbeiter K Kalter Krieg  16, 26, 76, 107, 412 Kapitalismus  23, 26, 67, 298 f., 301, 305 f., 356, 409 – Konsens-  247 – -kritik  306, 381 Keynesianismus  121, 397 Klasse  34, 71, 88, 192, 201, 216, 218 f., 222, 300, 302, 304, 336, 399 – -nbewusstsein  299, 302, 306 – -ngegensatz  88, 304, 351 f. – -ngesellschaft  76, 88 – -nkampf  304 Knappe  47, 49, 62, 379 Kohlenkrise  67, 79, 88, 139, 262, 313, 389 Kolpingwerk  377 Kommunistische Partei Deutschlands  52 König Ludwig, Schulstelle  334 f., 358 König Ludwig, Zeche  136 Konzertierte Aktion  325 Kopfarbeit  20, 117, 196 f., 303 f., 316, 321, 365, 399 Körper, Körperlichkeit  18, 24 f., 33, 52 f., 66, 108, 130, 144, 170 f., 184, 190 f., 196 – 198, 210, 236, 247, 316, 335 – 337, 339, 343, 360 – 364, 375, 385, 387, 393, 399 Korporatismus  32, 41, 49, 324 – 327, 336, 342, 345, 348, 352 – 354, 370, 379, 382, 384, 387, 393 – 395, 401, 407 Korrelation  100, 166, 171, 205, 208, 210, 213, 219, 226, 297 Kreativität  14, 355 f., 407 f. Kreuztabelle  205 – 208, 210 – 212, 216, 219, 223, 391 Kriegsversehrte  47, 65, 141, 177, 191

Register

Kultusministerium des Landes NordrheinWestfalen  155 f., 309, 319, 334 Kultusministerium des Landes RheinlandPfalz  332 Kuratorium der Deutschen Wirtschaft für Berufsbildung  352, 370 Kybernetik  107, 210, 226, 314 Kybernetische Pädagogik  43, 94, 105 – 108, 110, 112, 127, 199, 294, 314 f., 327, 390, 392  siehe auch Programmierte Unterweisung L Labor  29 f., 36, 233, 235, 301, 334 f., 392 f. – -praktiken  29 – Sprach-  199 Landesarbeitsamt – Baden-Württemberg  194 – Nordrhein-Westfalen, LAA NRW  13, 41, 112 – 114, 133 – 139, 141 f., 149, 151 – 156, 159 f., 164 f., 168 f., 177 f., 189, 191 – 193, 200, 236, 241, 248, 258, 261, 266, 276, 278 f., 281, 312, 316 – Rheinland-Pfalz-Saarland  164, 166 f. Landesvereinigung der Industriellen Arbeitgeberverbände NordrheinWestfalens  99 Landeszentrale für politische Bildung Nordrhein-Westfalen  110 Landwirtschaft  13, 65, 296, 301 Lebenslanges Lernen  14, 24 – 27, 72 f., 86 f., 131, 143, 268, 412 Lehrlingsproteste  95, 104 f. Leib-Seele-Dualismus  316 Lernbeeinträchtigung  366 – 368, 372  siehe auch Lernbehinderung Lernbehinderung  40, 42 f., 121, 311, 313, 320, 324, 326 – 330, 332, 336 – 339, 343 – 346, 348 – 351, 353 – 355, 357 – 361, 363 f., 366 – 371, 379, 387, 396, 400 f., 403, 411  siehe auch Behinderung, Lernbeeinträchtigung – -sdiskurs  338, 407 Lernstörung  siehe Lernbehinderung Liberalisierung  43, 140, 286, 408 f. Loi Astier  46

Sachregister

M Mannesmann AG  105, 371 Mannesmann AG Hüttenwerke  90, 325 Männlichkeit  139 – 141, 162 – 164, 191, 201, 236, 249, 258 – 264, 267, 344, 391, 394, 399 f. – -spolitik  399 – -swissen  263 Manpower Development and Training Act  132 Maßnahmen zur beruflichen und sozialen Eingliederung jugendlicher Ausländer, MBSE-Maßnahmen  385 f. Mathematische Beratungs- und Programmierungsdienst GmbH, MBP  202, 204 f. Mechanisierung  13, 23, 79, 88 f., 135, 144 f., 313, 317 Menschenführung  siehe Führung Meritokratie  406 Méthode Carrard  58 f. Mikrozensus  209 Milieu  32, 45, 50, 53, 55, 69, 123 f., 184, 205, 328, 358, 361, 385 f., 398 – -beobachtung  43 f., 70, 117, 339, 363, 366, 376, 379, 393, 406, 410 – -kontrolle  93, 230, 313, 390 – -neurose  78 – -schädigung  343, 351, 360 Militanz, demonstrative  262 Miners’ strike  405 Minimale cerebrale Dysfunktion  366 Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen, MAGS  132 f., 135, 138, 148 f., 153, 155, 201, 241, 243, 346 – 350 Ministerium für Wirtschaft, Mittelstand und Verkehr des Landes BadenWürttemberg  340 Ministerium für Wirtschaft, Mittelstand und Verkehr des Landes Nordrhein-Westfalen, MWMV  132, 137 f., 147 – 149, 347 – 350 Mission Économique Régionale  119 Modellzentrum für die berufliche Eingliederung schwer vermittelbarer, insbesondere älterer

471 Arbeitnehmer (Anpassungszentrum)  233, 243, 251 – 257, 274, 285 f., 290, 391 Möller-Rheinbaben, Zeche  153 Montanmitbestimmung  337 f. Moralische Ökonomie  266, 289 Moral Re-Armament, MRA  51 f. Motivation  14, 70, 124, 127, 190, 225, 275 – 277, 289, 294, 343, 355, 357 f. – -sdiskurs  294 Moulinex  396 N National Coal Board, NCB  168 Nationalsozialismus  47, 49 f., 62, 129, 131, 397 Natürliche Sprachtechnik E. Ritter GmbH  115 Neoliberalismus  26 f., 43, 86, 121, 307, 395 f., 398 Niederrheinische Hütte  325, 372  siehe auch Thysssen Niederrhein AG, TNO Niederrheinische Hütte AG  278 Nordrhein-Westfalen Programm 1975  242 Normalisierung  190, 286, 312 Normalismus  286 Normalität  32, 87, 194, 286, 326 f., 339, 349, 352, 405 Normalverteilung  57, 112, 213, 302, 333, 361 Nürnberger Modell  342 f., 351 O Oberbergamt – Bonn  91 – Dortmund  314 Objektivität  18, 31, 36, 204, 318, 338, 355, 360, 363 – korporatistische  391 f. – mechanische  32, 43, 52, 59, 101, 202, 230, 321, 357, 363, 390 – 393, 410 Ökonomisierung  26, 43, 72, 86, 108, 127, 227, 395 f. Ölkrise  118 Organisation for Economic Co-operation and Development, OECD  72, 76, 164 f., 240, 270, 290, 332, 396 Orientation Professionnelle  46

472 P Pädagogische Hochschule Ruhr  156, 326, 358 Paternalismus  269 f., 281, 374 Pestalozzidorf  55, 91, 323 Planification  121 Plan Jeanneney  118 Postfordismus  22 – 24, 34 Postindustrielle Gesellschaft  27, 43, 157, 201, 235, 245, 327, 400, 408 Prävention  39, 67, 76, 80, 141, 157, 215, 262 Praxeologie  22 Presse- und Informationsamt der Bundesregierung  144 Programm gegen Jugendarbeitslosigkeit des Landes Nordrhein-Westfalen  346 Programmierer  115, 156 – 159, 197, 409, 413 Programmierter Unterricht  siehe Programmierte Unterweisung Programmierte Unterweisung  67, 106 f., 109, 111 – 115, 199, 314 f. siehe auch Kybernetische Pädagogik Proletarität  401 Provinzialinstitut für westfälische Landes- und Volkskunde  170 Psychologie  65 f., 68, 100, 123, 129, 199, 214, 223, 234, 272, 289 f., 292 – 295, 298, 300, 320, 323, 359, 371 Psychotechnik  29, 46, 58 f., 61, 66, 122 f., 182, 186 Q Qualifikationsniedergang  98 Qualifizierungsimperativ  38, 54, 62, 66 f., 72 f., 76 f., 79, 83 f., 93 f., 127, 137, 150, 187, 229, 235, 327, 392 – 394, 410 R Radikalismus – demonstrativer  262 – politischer  262 Rassenanthropologie  170 – 172, 174, 192, 230, 306 f., 391, 396 Rationalisierung  13, 23, 25, 46, 67, 79, 88, 103, 105 – 111, 115 f., 131 – 133, 142, 145, 152, 164, 191,

Register

200, 207, 215, 224, 260, 281 f., 312 – 314, 316, 328, 356, 358, 360, 400 Rationalisierungskuratorium der Deutschen Wirtschaft, RKW  179 f., 215, 221, 240, 261, 290, 296 f. Rationalisierungsverband des Steinkohlenbergbaus  88 Raum – -konfiguration  38, 40, 173, 178, 197, 391, 403, 410 – -planung  71 f., 78, 178 Rééducation professionnelle  siehe Rehabilitation Regressionsanalyse  100 Rehabilitation  47, 65, 133, 190, 194 – 198, 246 f., 252 – 255, 263, 287, 301, 349 – -spädagogik  162, 234, 246, 330, 372 – -sparadigma  359 – -swissen  194, 243 – -swissenschaft  162, 191 f., 194, 199, 257, 306, 391 Reichsberufswettkämpfe  47, 50 Relance  118, 124 Renault-Peugeot  121 Rente  136, 191, 236, 269, 276, 285 f. – Bergmannsrente  136 – Berufsunfähigkeitsrente  136 – -nalter  201, 218 – -nversicherung  194 Responsibilisierung  26, 398 Restauration  409 Revierarbeitsgemeinschaft für kulturelle Bergmannsbetreuung  362 Rezession  118, 131, 137, 164, 180, 265, 320, 338, 391, 405 Riemer-Programm  347 f., 350 f. siehe auch Anschlußprogramm zum Programm gegen Jugendarbeitslosigkeit des Landes Nordrhein-Westfalen Robert Müser, Zeche  265 Robert Pfützner GmbH  224 f. siehe auch Institut Mensch und Arbeit Ruhrbistum  siehe Bistum Essen

473

Sachregister

Ruhrgebietsbevölkerung  168 – 170, 172, 174 – 179, 184, 198, 208, 220, 392  siehe auch Ruhrvolk Ruhrknappschaft  154 Ruhrkohle Aktiengesellschaft, RAG  109, 165, 355 f., 362, 378 – 380, 382 – 385 Ruhrmodell  310 f. Ruhr-Nachrichten  176 Ruhr-Universität Bochum  175, 318 Ruhrvolk  174, 178, 229  siehe auch Ruhrgebietsbevölkerung Rummelsberger Anstalten  368 S Saarbergwerke AG  168 Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung  148, 220 Schicht, soziale  88, 170, 213, 216 f., 219, 227, 293, 295, 328, 359, 361 Schiffbau  39, 403 Schumanplan  69 Science and Technology Studies  300 Sekundäranalyse  28 Selbstoptimierung  26, 86, 127, 227, 307, 396 – 398, 400, 412 Service de la Main-d’Œuvre  119 Sesshaftigkeit  38, 65, 69, 82, 85, 135, 164, 173, 178 f., 390, 398 f. Siemens AG  114, 260 Sonderausbildung  43, 309, 327, 337 – 342, 344 – 346, 350 f., 353 f., 364 f., 367 – 373, 375 – 380, 382 f., 387, 392, 394, 407, 411 – -sordnung  339, 344, 368, 371, 379 f., 383 Sonderpädagogik  48, 57, 315, 322, 326 f., 331, 336 f., 346, 352, 358, 365, 370, 372, 383, 401 Sonderschule, Sonderschüler  99, 210, 239, 287, 311, 313 – 315, 319 f., 322, 324 – 326, 328 f., 331, 333, 339 – 341, 352, 358 f., 362, 366 – 368, 385  siehe auch Hilfsschule, Hilfsschüler Sophia-Jacoba, Zeche  54, 172 Sozialdemokratische Partei Deutschlands, SPD  194, 264, 338, 346, 349, 397 Sozialforschung, empirische  200, 205 Sozialismus  305, 411

Sozialpädagogik  234, 290, 326, 338, 358, 366, 385 f. Sozialplan  265 – 267 Sozialpolitik  15, 68, 129, 131, 137, 148, 151, 153 – 155, 160 f., 168, 172, 177, 188, 230, 253, 259, 261, 263, 265, 284, 298, 300, 302, 402, 404, 411 Sozialpolitische Informationen  221 – 223 Sozialwissenschaft  21, 24, 26, 28 f., 34, 71, 129, 142, 214, 227, 324, 396, 399 Soziologisches Forschungsinstitut Göttingen, SOFI  41 f., 296 – 299, 301 f., 304, 306 Staatliche Ingenieurschule für Bauwesen, Recklinghausen  152, 156 Staatskanzlei des Landes NordrheinWestfalen  42, 155, 349 f. Stahlindustrie  39, 46, 89, 95, 100 f., 103, 105, 160, 179, 238, 275, 324, 364, 370 f., 373, 375 – 377, 379 Stahlwerk Rheinhausen  112, 308 Statistik  22, 205 – 207, 214, 265, 330 f. Statut Social du Mineur  45 Steiger  61, 93, 136, 152 f., 155 f., 266, 392 Streik  45, 47 f., 69, 289 Strukturbruch  20, 407 f. Strukturpolitik  175, 220, 229 Studienkreis für betriebliche Personal- und Sozialpolitik  98 Studienstiftung des Deutschen Volkes  406 Stufenausbildung  41, 43, 67, 94 – 99, 102 – 105, 108, 112, 127, 180, 230, 308 – 311, 314, 317, 330 f., 337, 350, 370, 390, 392 f. Subjektivierung  23, 33 – 35, 75, 224 – -sforschung  35 T Tarif – – – –

-partei  18, 182 -politik  340, 345 -verhandlung  324 -vertrag  190, 340, 379  siehe auch Fördertarifvertrag Taylorismus  58, 74, 107, 127, 129, 291

474 Test  59, 61, 65, 100 – 102, 110, 116, 158, 182, 186, 188, 213, 276, 290, 292, 302 f., 310, 317 – 319, 321, 330, 333, 335, 355 f., 358 f. siehe auch Intelligenztest – Allgemeiner Berufs- und Lernfähigkeits-  292 – Bochumer Testverfahren  109 f. – Bourdon-  100 – Charkow-  100 – Chi-Quadrat-  206 – Erwachsenen-Test-Serie  292 – -kritik  356 – t-  213 Textilindustrie  39, 137, 144, 258 f., 403 Theodor, Zeche  269 Thyssen Niederrhein AG, TNO  42, 354, 372 – 375, 378  siehe auch Gutehoffnungshütte, Niederrheinische Hütte Thyssen Röhrenwerke AG, TRA  105, 244 Thyssen Stahl AG  378 Totalerfassung  52 – 54, 140, 204 Training-Within-Industry  122 U Umstellbarkeit  65 f. Ungelernter Arbeiter  13, 36, 91 f., 99, 132, 150, 159, 183, 205, 217, 223, 326, 338, 382 Ungleichheit  19, 34, 44, 86, 286, 412 – ökonomische  227 – -sforschung  286 – soziale  17 United Nations Educational, Scientific and Cultural Organization, UNESCO  72, 76, 396 Universität Leipzig  398 Unternehmensverband Ruhrbergbau, UVR  61 f., 112, 192, 241 f., 313 Unternehmerisches Selbst  23, 26, 34, 127, 201, 388, 396 V VDI-Nachrichten  99 Verband der Bergarbeiter Deutschlands  65 Verband Deutscher Ingenieure, VDI  47

Register

Verbürgerlichung  16, 402, 408 Vereindeutigung  16, 18, 31 f., 36, 43, 52, 71, 93 f., 96, 100 f., 104, 108, 115, 123 – 128, 150, 188, 192, 200, 202, 207, 210, 220, 229 f., 237, 250, 286 f., 301, 311, 317, 319, 327, 336, 343, 345, 347, 349, 352, 356, 359, 361 f., 368, 374 f., 379, 382, 385 – 387, 390 f., 393, 395, 402, 406 f., 412 f. – -sparadox  99 – -spraktiken  31 f., 36, 38, 43 f., 59, 108, 131, 148 f., 179, 184, 269, 306, 319, 327, 334, 355, 407, 410 f. – -sspirale  112, 161, 295, 387, 395 Vereinigung der Industrie- und Handelskammern des Landes NordrheinWestfalen  180, 347 Vergleich  15, 39 f., 167 f., 184, 187 f., 391, 402 f., 405, 410 – asymmetrischer  40 f. Verwissenschaftlichung  16, 27, 32, 131 f., 147, 161, 200 – 202, 212, 215 f., 227, 229, 326, 345 f., 366, 394 f., 407 Vichy-Regime  48 f., 62, 390 Volkshochschule  131 Volksschule, Volksschüler  90 f., 96, 98 f., 116, 155 f., 160, 210, 311, 313, 315, 318 – 320, 322 f., 328 f., 331, 333, 335  siehe auch Hauptschule, Hauptschüler Vollbeschäftigung  77, 87, 120, 141 W Wanderung  77, 164, 166 – 168 Weiblichkeit  163, 220, 260, 263, 339, 344, 399 Weimarer Republik  46 f., 50, 65 f., 91, 100, 209, 304, 405 f. Weiterbildung  14, 25 f., 38, 65, 73, 84, 112, 115, 118, 120, 131, 175, 182, 187, 196, 198, 222, 225, 229, 234, 258 – 260, 262, 295, 302, 304, 311, 413 Welt der Arbeit (Zeitung)  282 Weltwirtschaftskrise  46, 65 WEMA-Institut für Empirische Sozialforschung, Informatik und angewandte Kybernetik  210 – 217, 219 – 226, 229, 297, 299 Werkerausbildung  siehe Sonderausbildung

Sachregister

Werkplaats Presikhaaf, Arnheim  189 Westdeutsche Allgemeine Zeitung, WAZ  177, 246 Westdeutscher Rundfunk, WDR  259 Westernisierung  43, 408 Westfälische Berggewerkschaftskasse, WBK  41 f., 47, 51, 88, 109, 313, 327 – 331, 334 f., 355 – 357, 360 – 363, 379, 382, 384 – 386 Wirtschaftsvereinigung Eisen- und Stahlindustrie  371 – 376 Wissensgeschichte  35, 188, 344, 393 – 395, 398, 402, 410 Wissensgesellschaft  15 f., 20, 26 – 28, 404, 412 Wissenspolitik  16 – 19, 29 – 32, 35 f., 38 – 40, 42 f., 45, 62, 68, 86, 89, 91, 164, 174, 198, 202, 233, 238, 264, 277, 282, 286, 306 f., 336, 346, 363, 391 – 393, 395, 399 – 401, 405, 409 f., 413 – der Anpassung  43, 67, 94 – 96, 100, 104 f., 108, 116, 127, 187, 230, 234, 253, 257, 286, 307, 311, 314, 317, 345, 360, 387, 390, 393 f., 410 – des Ausschlusses  43, 230, 257, 286, 307, 311, 317, 324, 360, 363, 369, 387, 392 – 394, 410

475 Wissenstransfer  179, 192, 194, 199, 257, 391 Wissenszirkulation  29, 76, 164, 192, 200 f., 221, 224, 243, 295, 390, 402 Wolfenbütteler Modell  92, 335 World Health Organization  372 Z Zeitgeschichte  19 – 21, 26, 28, 320, 395, 407, 411 Zentralinstitut für Rehabilitationsförderung  341 Zollverein, Zeche  52 Zukunft  15 f., 32 – 34, 37 f., 42 – 44, 65 – 67, 79 f., 83 f., 87, 89 – 91, 95, 97 – 99, 104 f., 108, 110, 112, 120 f., 124, 128, 144 – 147, 149, 156, 196 f., 200, 203, 218, 261, 309, 313, 317, 321, 327, 333 f., 338, 345, 355, 365, 370, 378 f., 381, 384, 387 f., 391, 401, 411, 413 – Geschichte der  32 Zweiter Weltkrieg  13, 43, 77, 82, 122, 209