Die poetische Erkundung der wirklichen Welt: Literarische Epistemologie (1800-2000) [1. Aufl.] 9783839412725

Dieses Buch erzählt die Geschichte eines ästhetischen Konkurrenzunternehmens zur Philosophie. In der Zeit um 1800 begann

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German Pages 230 Year 2015

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Table of contents :
INHALT
Einleitung: Über das Programm einer Literarischen Epistemologie
Zur Vorgeschichte: Die mosaische und die europäische Unterscheidung
Ist Literatur ein Medium? Heinrich von Kleists Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden und der Monolog des Novalis
Wissen aus Unmittelbarkeit, Wissen aus Vermittlung – und Medialität bei Herder, Schiller und Kleist
Schillers Räuber oder die Neuerfindung der Subjektivität im Jahre 1782
Krankheit und Wissen oder: Woran erkrankt, wer im Geiste erkrankt? Der Versuch einer philologischen Antwort mit Blick auf Heinrich von Kleists Die heilige Cäcilie oder die Gewalt der Musik
Was ist die Kunst? Was ist der Mensch? Die ästhetische Erkenntnis des Menschen
Poetische Schlussverfahren: Georg Büchners Ästhetik
Wirkungsgeschichte als Wissensgeschichte: Mörike und einige seiner modernen Nachfahren
Der philosophische und Rilkes poetischer Spiegel des Bewusstseins
Bertolt Brechts Gedicht Tannen – eine lyrische Theorie der Metapher
Psychoanalyse und Poesie im Gespräch über Geist und Gehirn
Ist Gewalt ästhetisch gerechtfertigt? Der (vorweggenommene) Einwand Franz Kafkas gegen Jorge Louis Borges
Und jenseits von Europa: Das deutsch-jüdische Theater George Taboris
Quellennachweise
Literatur
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Die poetische Erkundung der wirklichen Welt: Literarische Epistemologie (1800-2000) [1. Aufl.]
 9783839412725

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Christian Kohlross Die poetische Erkundung der wirklichen Welt

2010-01-18 09-59-59 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 0334231593595458|(S.

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Christian Kohlross lehrt und forscht an der Hebräischen Universität in Jerusalem im Bereich Deutsche Literatur- und Kulturwissenschaft.

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Christian Kohlross Die poetische Erkundung der wirklichen Welt. Literarische Epistemologie (1800-2000)

2010-01-18 09-59-59 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 0334231593595458|(S.

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2010 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Christian Kohlross Lektorat & Satz: Christian Kohlross Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1272-1 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

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) T00_04 impressum - 1272.p 231593595490

INHALT Einleitung: Über das Programm einer Literarischen Epistemologie 7 Zur Vorgeschichte: Die mosaische und die europäische Unterscheidung 31 Ist Literatur ein Medium? Heinrich von Kleists Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden und der Monolog des Novalis 43 Wissen aus Unmittelbarkeit, Wissen aus Vermittlung – und Medialität bei Herder, Schiller und Kleist 59 Schillers Räuber oder die Neuerfindung der Subjektivität im Jahre 1782 71 Krankheit und Wissen oder: Woran erkrankt, wer im Geiste erkrankt? Der Versuch einer philologischen Antwort mit Blick auf Heinrich von Kleists Die heilige Cäcilie oder die Gewalt der Musik 87 Was ist die Kunst? Was ist der Mensch? Die ästhetische Erkenntnis des Menschen 103 Poetische Schlussverfahren: Georg Büchners Ästhetik 115 Wirkungsgeschichte als Wissensgeschichte: Mörike und einige seiner modernen Nachfahren 129

Der philosophische und Rilkes poetischer Spiegel des Bewusstseins 147 Bertolt Brechts Gedicht Tannen – eine lyrische Theorie der Metapher 161 Psychoanalyse und Poesie im Gespräch über Geist und Gehirn 173 Ist Gewalt ästhetisch gerechtfertigt? Der (vorweggenommene) Einwand Franz Kafkas gegen Jorge Louis Borges 193 Und jenseits von Europa: Das deutsch-jüdische Theater George Taboris 207 Quellennachweise 219 Literatur 221

EINLEITUNG: ÜBER DAS PROGRAMM EINER LITERARISCHEN EPISTEMOLOGIE

Literarische Epistemologie gab es nicht immer schon. Sie musste erfunden werden. Doch der Zweck ihrer Erfindung lag von Beginn an darin, zu erweisen, dass Erfundenes mehr und anderes sein kann als bloß Erfundenes. Was aber ist es dann? Ein, so behaupten ihre Vertreter, die Literarischen Epistemologen, immer schon Gegebenes, Wirkliches, vielleicht sogar ein Medium der Erkenntnis dieses Wirklichen. Die Vorläufer dieser literarischen Epistemologen waren ohne Zweifel Dichter wie Homer und Sophokles. Zu ihnen gesellten sich alsbald Philosophen wie Platon und Aristoteles, sodann Poetologen, die sowohl Dichter als auch über diese Dichtungen reflektierende Philosophen waren, wie Petrarca und Boccacio, und schließlich Philologen, die zu Beginn freilich noch im Dienste anderer Wissenschaften standen – der Theologie etwa, wie im Falle Friedrich Schleiermachers, oder der Sprachwissenschaften, wie im Falle der Gebrüder Grimm. Was sie alle zu Wegbereitern der Literarischen Epistemologie macht, ist der Umstand, dass sie sich mit der Frage auseinander setzten, ob Dichtung nicht mehr und anderes sein könne als bloß Erfundenes, Ausgedachtes, mehr als der Ausdruck einer mit den Mitteln der Sprache sich selbst berauschenden Einbildungskraft, ob, mit einem Wort, Dichtung in irgendeinem erkennenden Verhältnis zur Wirklichkeit stehe. Wenn Dichter, Philosophen, Poetologen, Philologen diese Frage erörterten, dann taten sie das auf unterschiedliche Weise. Einige unter ihnen, Platon und Aristoteles etwa, bedienten sich zur Begründung ihrer jeweiligen, den Wissensgehalt der Dichtung betreffenden Überzeugung der diskursiven Argumentation, andere, wie Homer und Sophokles, setzten auf die Nachhaltigkeit des Eindrucks, den ihre Dichtungen im Gemüt ihres Publikums hinterließen, wohingegen wieder andere, die Poetologen des Mittelalters, ihre eigenen Dichtungen dadurch aufzuwerten suchten, dass sie sie, wie etwa Boccacio, neben Disziplinen wie Philosophie und Theologie als Wissenschaft (scientia) zu etablieren suchten oder, wie Petrarca,

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Die poetische Erkundung der wirklichen Welt behaupteten, ihre Einsichten und Erkenntnisse seien gehaltvoller noch als die der Artes Liberales.1 Im neunzehnten Jahrhundert begannen die Philologen dann damit, in einem nie gekannten Ausmaß Wissen – genau genommen: auf dem Wege der historischen Forschung gewonnene Informationen über Literatur einem immer größer werdenden Lesepublikum bereitzustellen, um schließlich eine eigene philologische Methode, das historische Verstehen, im Wettstreit der aufkommenden Einzelwissenschaften für sich zu beanspruchen. Was nun im Rahmen dieser eigens geschaffenen philologischen Textgattung geschah, war, dass hier das Interesse an der Geschichte der Literatur mit der Zeit so sehr anwuchs, dass dahinter bald dasjenige am eigentlich Literarischen, Poetischen kaum noch zu erkennen war. Philologen kümmerten sich hinfort mehr um die Generierung eines Wissens über Literatur, als dass sie sich für das Wissen der Literatur interessierten. Das Verhältnis der Literatur zur Wirklichkeit galt nun nicht mehr als eines, das auf dem Wege des Nachdenkens, geschweige denn auf dem Wege der Spekulation oder der literarisch-poetischen Reflexion, sondern als eines, das (wie im Falle der anderen im 19. Jahrhundert sich entwickelnden Einzelwissenschaften auch) vornehmlich auf dem Wege der Forschung zu erschließen sei. Zwar geriet, je positiver und schließlich positivistischer die Gestalt dieses Wissen wurde, die ihm zugehörige Wissenschaft um so mehr in den Verdacht, ein der Literatur bloß äußerliches Wissen zu produzieren, doch verstand sich die Philologie schon bald darauf, diesen Eindruck des Mangels dadurch zu kompensieren, dass man vorgab, über eine spezifische, gerade das Literarische der Literatur erschließende Methode, eben das schon erwähnte historische Verstehen, zu verfügen. Da jedoch der Begriff des Verstehens stets die Weise betrifft, in der Literatur als Wirklichkeit rezipiert wird, nicht jedoch die Art, in der sich Literatur selbst zur Wirklichkeit verhält, geriet, je mehr die Philologie sich im Konzert der Wissenschaften als Literaturwissenschaft Gehör verschaffte, der Anspruch, durch den Blick auf die Literatur etwas über die in ihr dargestellte Wirklichkeit in Erfahrung zu bringen und sodann auch in der Erfahrung zu behaupten, nicht eigentlich in Misskredit, wohl aber in Vergessenheit. Dies schleichende Vergessen ereignete sich nun aber gerade, weil der Wissensanspruch der Literatur zu Anfang des 19. Jahrhunderts so sehr außer Frage stand, dass niemand annahm, er könne überhaupt je in Vergessenheit geraten. Warum? Offenbar, weil sich am Ausgang des 18. Jahrhunderts in den Künsten ein unter dem Kampfbegriff des Genies vorgetragener Starkult etabliert hatte, der Dichter zu Priestern und ihre Werke zu Offenbarungen machte. Und es sind hier die

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Vgl. Nünning (2001), Stichwort: Literaturtheorien des Mittelalters, S. 443f.

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Einleitung modernen Avantgarden mit ihren Dada-, Futur-, Expressio- und sonstigen Ismen, die die Nachhaltigkeit dieses Ausschließlichkeitsund zugleich Erkenntnisanspruchs bis weit ins 20. Jahrhundert und also noch lange nach dem Ende der klassizistischen Periode dokumentieren. Dieser Offenbarungscharakter rückte, als die Weimarer Klassiker Literatur in den Rang einer natürlichen Religion erhoben, wenig später die Philologie in den Rang einer Theologie – einer Lehre also, die die heiligen Schriften erforschen und auslegen konnte, ohne doch für die in ihnen geoffenbarten Wahrheiten selbst einstehen zu müssen. Die literarisch geoffenbarte Wahrheit war nun philologisch dizipliniert, ein Gegenstand der Lehre – ob aber darüber hinaus auch des Glaubens, das wurde nunmehr die Privatsache eines jeden Einzelnen und wurde als eine solche Privatsache deshalb auch in der Folgezeit nicht mehr im Rahmen der Wissenschaft, sondern innerhalb der Literaturkritik diskutiert. Diese aber betrieb und betreibt bis heute in den Augen derer, die sich wissenschaftlich mit Literatur auseinandersetzen, eine Profanisierung dessen, was bis in die universitären Seminare der achtziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts hinein von Ordinarien der Germanistik als geoffenbarte Wahrheit gehandelt wurde. Und noch heutzutage macht Literaturkritik in den Tageszeitungen und Magazinen, was bei Schleiermacher und Gundolf einzig noch das Ergebnis einer dem poetischen oder philologischen Genie vorbehaltenen intellektuellen Anschauung sein konnte, zu einer Sache des ästhetischen Geschmacks, der Meinung (Doxa) und eben letztlich der Beliebigkeit, so sehr, dass im öffentlichen Diskurs das Ästhetische immer mehr zum Synonym für das ganz und gar Beliebige, Idiosynkratische wurde. Dadurch aber wurde aus der Literatur, ehedem eine Quelle der Offenbarung, wieder, was sie immer schon war, eine Quelle des Lustgewinns. Diese Devaluierung des Literarischen, der literarisch geoffenbarten Wahrheit – was immer das sein mochte – als Ergebnis eines Säkularisierungsprozesses brachte aber nicht nur eine Profanisierung, sondern eben auch eine Demokratisierung des Literarischen mit sich. Nun konnte und kann (bei – Nomen est Omen: Elke Heidenreich) jedermann und jede Frau mitreden im öffentlichen Diskurs über Literatur, und mitlesen sowieso. Und genau diese Erschließung neuer Leserschichten ist ein Erfolg, den die Literaturkritik für sich verbuchen kann – nicht aber eine Literaturwissenschaft, die heute vielmehr selbst auf Literaturkritik angewiesen ist, um sich überhaupt noch in nennenswertem Ausmaß Leserschichten zu erschließen. Sie, die Literaturwissenschaft, beinahe mehr noch als die Literatur, von der sie handelt, bedarf nunmehr einer Literaturkritik, von der sie zugleich ahnt, dass, da in der Postmoderne die Literatur fast vollends zu einem säkularen Ereignis geworden ist, ihrer die Öffentlichkeit nun weit mehr bedarf

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Die poetische Erkundung der wirklichen Welt als der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Literatur. Oder aber: Wenn es überhaupt noch ein öffentliches Bedürfnis nach einer Auseinandersetzung über literarische Gehalte und Darstellungsformen gibt, dann ist, und diese Einsicht bricht sich auch unter Literaturwissenschaftlern langsam Bahn, nicht einzusehen, weshalb dieses Bedürfnis statt im Fernsehen oder Feuilleton allein auf Fachtagungen oder von Fachverlagen befriedigt werden sollte. Und tatsächlich ist Kluges über Literatur längst ebenso hier wie dort zu vernehmen. Und weshalb auch nicht: Wenn Literatur ein Medium des ästhetischen Vergnügens und nicht der Erkenntnis sein sollte, ein Medium, dessen Botschaften zwar gedeutet werden können, deren Wahrheitsgehalt aber nicht mehr in Frage steht, dann sind dazu die intellektuellen Exerzitien einer Wissenschaft eben nicht mehr notwendig, ja, wahrscheinlich sogar überflüssig; mit anderen Worten: dann ist dazu die auf solche Umwege verzichtende Literaturkritik offenbar weitaus besser geeignet als die Literaturwissenschaft – eine Ahnung, die all jenen, die überall auf der Welt philologischen Lehrstühlen ihr Daseinsrecht streitig machen, vielleicht längst zur Gewissheit geworden ist. Doch der Sündenfall liegt, wenn es, worüber sich streiten lässt, überhaupt einer ist, anderswo, dort nämlich, wo zu Anfang des 19. Jahrhunderts auch die Philologie dem an die Wissenschaften ergangenen Disziplinierungsgebot Folge leistete und sich zu einer Einzelwissenschaft ausdifferenzierte. Denn im Prozess dieser Ausdifferenzierung geschah etwas, dessen Folgenreichtum den Literaturwissenschaften (und mit ihr der Literatur) bis heute zu schaffen macht, dies nämlich, dass sich die Philologie der Allianz mit der Philosophie verweigerte und, je metaphysikkritischer diese wurde, sich nur umso deutlicher der Theologie zuwandte, um sich sodann in der Folgezeit zu einer historischen Wissenschaft zu entwickeln, der es allenfalls noch um die Wahrheit der Deutung, nicht jedoch um die des Gedeuteten zu tun war. Um es salopp und verkürzt, dadurch aber eben klar zu sagen: Während Philosophie in der Folgezeit und in ihrer Abkehr von der traditionellen Metaphysik ganz und gar auf die Wahrheit von Aussagen setzt, konzentrieren sich die neu entstehenden philologischen Wissenschaften ganz auf die Deutung von offenbar unwahren Aussagen; wo die Philosophie das eigentliche So-Sein der Dinge zu erkennen sucht, beginnt die Philologie nunmehr, sich mit Darstellungen dieser Dinge, mit ihrer sprachlichen Erscheinungsform in der wirklichen Welt, statt mir dieser wirklichen Welt selbst auseinander zu setzen. Und sie glaubte lange Zeit, sich damit begnügen zu können und für die Autorität des von Literatur beanspruchten Wissens nicht auch selbst einstehen zu müssen, da ja diese Autorität – noch – so fest auf den Schultern von Goethe, Schiller, Hölderlin ruhte. Doch übersah oder unterschätze

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Einleitung sie, dass dieses Vertrauen allenfalls auf einem, wie die Geschichte der Religionen zeigt, höchst störanfälligen Offenbarungswissen beruhen konnte, auf einem Wissen, an das man glauben musste, konnte – oder eben nicht, auf einem Wissen also, dessen Geltungsanspruch sich nicht, wie in den Wissenschaften der Neuzeit üblich, auf Verfahren gründete, sondern auf Autoritäten – auf Dichter, die sich als Propheten ausgaben. Das aber konnte auf Dauer nicht gut gehen. Und man wird sagen müssen, die Philologen hätten gewarnt sein können. Denn schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts traten Dichter wie Georg Büchner und Heinrich Heine auf den Plan, die den pontifikalen Anspruch mitsamt des elitären Irrationalismus der Klassiker und Romantiker unterminierten, indem sie ihn dem Lächerlichen preisgaben. Aber natürlich musste, was für die Literatur galt, erst recht für die wissenschaftliche Beschäftigung mit ihr gelten: Erkenntnisansprüche in postaufgeklärten Zeiten konnten nicht mehr über Autoritäten (wie es heilige Schriften, Dichter oder Propheten sind), sie mussten über Verfahren legitimiert werden. Dieser Imperativ, mit dem Kant das Ende des metaphysischen Zeitalters und die Geburtsstunde der Erkenntnistheorie eingeläutet hatte, war auch für die Gründerväter der Literarischen Epistemologie – Schiller, Kleist, Novalis – ein kategorischer.2 Nur die Verfahren, derer sie sich bedienten, waren nicht die der Erkenntnistheorie, ja, es waren allem Anschein nach überhaupt weniger theoretische als vielmehr poetische Verfahren – so dass man, wenn man zu dieser Zeit, also der Zeit um das Jahr 1800, schon von Erkenntnistheorie gesprochen hätte, eigentlich auch von Erkenntnispoesie hätte sprechen müssen. Wollte man nun, das war die Einsicht Kants, die wissenschaftliche Erklärung der Welt aus ersten Gründen und Ursachen des Seienden vorantreiben, so bedurfte man einer grundlegenden Reform dessen, was bislang Metaphysik hieß. Und diese Reform, eben das war Kants fundamentale Einsicht, musste dahin führen, dass Erkenntnistheorie (die bei Kant freilich nicht unter diesem Namen firmierte, sondern schlechthin Philosophie hieß) entweder als „Vernunfterkenntnis aus empirischen Prinzipien“ (wie in der sich seit den fünfziger Jahren des 19. Jahrhunderts bildenden Theorie der Einzelwissenschaften) oder eben, dies Kants eigenes Programm, als „Erkenntnis aus reiner Vernunft“3 betrieben wurde. Und rein war diese Vernunft dadurch, dass sie von allen Inhalten gereinigt, vielmehr nur die Voraussetzung dafür war, dass sich das Denken überhaupt etwas zum Inhalt nehmen konnte. Dieses reine vernünftige Denken war jedoch selbst ein von Heteronomie be2

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Und man sieht mit der Nennung dieser Namen, wie die in Klassik und Romantik erhobenen Geltungsansprüche der Poesie von eben den Autoren, die sie proklamiert hatten, auch wieder in Frage gestellt werden konnten. Kant (1787), B 868.

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Die poetische Erkundung der wirklichen Welt drohtes Denken, und zwar dadurch, dass es traditionell (also bei Platon, Aristoteles und den Mystikern des Mittelalters) einerseits als noetisches, soll heißen: intuitives, anschauendes – eben als Betätigung des Nous, andererseits aber auch als dianoetisches, soll heißen: diskursives, die einzelnen Bestimmungen durchlaufendes Denken begriffen wurde. Kant und mit ihm Erkenntnistheorie sowie die Theorie der Einzelwissenschaften des 19. Jahrhunderts setzten nun ganz auf das dianeotische, diskursive verfahrensorientierte Denken, wenn es um die Legitimation von Wissensansprüchen ging. Mit intellektueller Anschauung wollte und konnte man fortan in Philosophie und Einzelwissenschaften nichts mehr anfangen – ein paar unverbesserliche Phänomenologen immer ausgenommen. Doch war es nicht der Akut, den Kant und die Erkenntnistheorie des 19. Jahrhunderts auf das dianoetische, verfahrensorientierte Denken legten, der für Herder, Schiller, Novalis, Kleist, den Anlass dazu gab, neben der philosophischen Erkenntnistheorie ein eigenes Genre, die Literarische Epistemologie zu begründen. Denn auch sie orientierten sich am dianoetischen Denken, wenn auch nicht – wie bereits Herders frühe Kritik an Kant dokumentiert4 – an der Trennung von Anschauen und Denken. Dies also, dass Denken, gerade dann, wenn es ein erkennendes sein sollte, einzig und allein ein dianotetisches sein konnte, das Intuition und intellektuelle Anschauung aus sich verbannt, war ein Imperativ, dem keiner der Literarischen Epistemologen folgen wollte. Es mochte tatsächlich so sein, dass das Denken ohne Anschauung leer ist und Anschauungen ohne Begriffe blind sind5, doch dass Anschauungen alleine dadurch, dass sie begrifflich würden, einen Wert für die Episteme besäßen, war eine Überzeugung, die Philosophen und Wissenschaftler teilen mochten, aber kaum einer der Kunst Schaffenden teilen konnte. Gerade wer wie Herder und die Frühromantiker an der metaphysikkritischen Einsicht der Aufklärung festhalten wollte, dass dem Glauben an die Wahrheit von Gehalten eine Reflexion auf die Formen vorangehen musste, in denen diese Gehalte zur Erscheinung gelangen, musste keineswegs zu der Überzeugung gelangen, dass diese Formen immer nur dianoetische, begriffliche Formen sein konnten – und keine ästhetischen? Denn warum sollten Begriffe nicht ihrerseits einem ästhetischen Formungsprozess unterliegen? Und so machte man sich um 1800 daran, Begriffe über die bis dahin die Philosophie ihre Definitionsmacht ausgeübt hatte, mit literarästhetischen Mitteln zu reformulieren, indem man literarische Texte schrieb, die sie so exemplifizierten, dass man anhand ihrer den (buchstäblichen) Gebrauch

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Vgl. Herders Metakritik zur Kritik der reinen Vernunft von 1799. Kant (1787), B 75.

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Einleitung der Begriffe nicht nur einüben, sondern auch verändern konnte. Diese Reformulierung betraf nicht nur Begriffe wie den der romantischen Liebe, sondern auch ursprünglich philosophische Begriffe wie die des Subjekts oder der Unmittelbarkeit, aber auch Gegenbegriffe, etwa zur Vernunft – wie den der Geisteskrankheit oder auch neu geschaffene Begriffe wie den der Ästhetik, so dass nunmehr über den Begriff der Kunst auch in der Kunst und nicht mehr nur in der Philosophie verhandelt werden konnte. Nicht aber dem Begriff der Ästhetik, sondern dem ästhetischen Begriff fällt dabei in seiner konkreten Ausgestaltung in der Literatur eine zweifache Aufgabe zu: er zeigt, dass der Raum des Denkens, der Logos, gerade insofern er immer schon ein sprachlicher ist, als dianoetischer, diskursiver noch nicht zureichend begriffen ist; er zeigt aber auch, dass das Ästhetische, anders als dies die philosophische Tradition wieder und wieder behauptete, nicht einfach das Reich der Unbegrifflichen ist. Gerade dann, wenn Kant Recht hatte mit seiner Behauptung, dass Begriffe und Anschauungen für einander unverzichtbar seien, musste man auch den Begriffen – als Formen des Denkens – die Gehalte, die sich in ihnen niederschlugen, anmerken, ja ansehen. Und eben das geschieht im Falle poetisch erzeugter Begriffe, im Falle eben der Begriffe, die der kantischen Logik der reflektierenden Urteilskraft folgen, dadurch, dass sie nicht als Allgemeines dem Besonderen vorgegeben sind, sondern vielmehr vom Besonderen – den einzelnen Darstellungen – erst erschlossen werden. Die Erfindung der Literarischen Epistemologie als Konkurrenzprogramm zu der um 1800 sich von der Metaphysik emanzipierenden Erkenntnistheorie hat dabei ihre nahezu handgreiflichen Gründe in den Kant und die modernen Wissenschaften leitenden Unterscheidungen zwischen Denken und Anschauen sowie Denken und Erkennen. Dass nicht jedes Anschauen ein Denken und nicht jedes Denken auch gleich ein Erkennen ist, mag außer Frage stehen. Aber sollte deshalb, was die poetische Einbildungskraft fabriziert, nichts anderes als ein Produkt der Phantasia sein, von dem es wenig Sinn macht, zu behaupten, es sei wahr oder falsch? Und sollte es, eben weil es sich als ein solches Phantasieprodukt nicht eigentlich mit Gründen rechtfertigen lässt, auch kein Gegenstand des Wissens sein können? Ist also, was der Erfinder der bis heute wirkungsmächtigsten Interpretation des Wissensbegriffs, Platon, im Ion vorgebracht hatte, dies nämlich, dass Dichtung gar nicht in der Lage sei, bei denen, die sich mit ihr befassen, wahre, gerechtfertige Überzeugungen (so die Definition des Wissensbegriffs im Theätet6) hervorzurufen, weil nämlich bereits die Dichter über kein Sachwissen verfügen, auch nach der Epochenschwelle um 1800 noch ein

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Platon (1981), d.i. Theätet, 201c-210d.

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Die poetische Erkundung der wirklichen Welt zustimmungspflichtiges Argument? Oder war nicht bereits Goethes Parteinahme für Sokrates und gegen Ion nicht mehr ganz auf der Höhe ihrer Zeit, wenn sie den platonischen Dialog so deutet, als sei er „nichts als eine Persiflage“7, in dem nur einer lächerlich gemacht wird, nämlich Ion? Hätte Goethe nicht gewarnt sein müssen, dadurch, dass bereits Platon seinen Sokrates so gut nicht aussehen lässt, wenn er ihn immer wieder ein Sach- und Fachwissen vom Rhapsoden Ion fordern lässt, während dieser doch gerade darauf besteht, dass er über eine ganz andere und besondere Art des Wissens verfügt, nämlich über ein Wissen von dem, „was einem Manne geziemt [...] zu sprechen“8 – ein Wissen von Normen und Gebräuchen also – und gerade keines von Gehalten und Sachverhalten?9 Doch die Geburtsstunde der Literarischen Epistemologie, wiewohl sie sich lange und im Grunde eben schon bei Platon ankündigt, hätte nie geschlagen, wenn nicht, und auch dies zeigt sich am Ende des metaphysischen Zeitalters nur umso deutlicher, das philosophische Programm einer Erkenntnistheorie, das die klassische Metaphysik als eine Lehre von den ersten Gründen und Ursachen des Erkennens ersetzen sollte, nicht von Anfang an gravierende Mängel aufgewiesen hätte. Und deren erster war eben die ungebrochene Wertschätzung, die der platonischen Definition des Wissens als wahrer gerechtfertigter Überzeugung zuteil wurde. Denn dieses Verständnis des Wissens gerät, wie bereits im Ion deutlich wird, immer dann an seine Grenze, wenn mit seiner Hilfe anderes als nur ein propositionales Wissen darum, dass etwas der Fall ist, begründet werden soll, wie etwa bei Antwort auf die Frage, woher wir eigentlich wissen, wie die Unterscheidungen wahr/falsch, begründet/nicht-begründet angewendet werden. Es musste also auch im Falle der neuen philosophischen Disziplin der Erkenntnistheorie, die, seit Eduard Zeller im Jahre 1862 seine legendärer Heidelberger Vorlesung Über Bedeutung und Aufgabe der Erkenntnistheorie hielt, dann auch allgemein so genannt wurde, immer etwas vorausgesetzt werden, das mit dem platonischen Verständnis des Wissens gerade 7 8 9

Goethe, Plato als Mitgenosse einer christlichen Offenbarung, in: Platon (1988), S. 48-53, ebd. S. 49. Platon (1988), S. 35, Hervorheb., C.K. Auch dass Ion hier einem Herrschaftsdiskurs ausgesetzt ist – „[...] unsere Stadt“, so Ion zu Sokrates, „wird ja von euch beherrscht und von euren Feldherrn geführt [...]“ (Platon, 1988, S. 39) – wird bei der Bewertung der Argumente Ions häufig (und eben z.B. von Goethe) übersehen, lässt aber gerade die Behauptung Ions, er sei als Rhapsode auch ein begnadeter Feldherr (ebd.) in anderem Licht erscheinen, wenn man Ions Antwort auf die Frage, warum er denn nicht als ein solcher tätig werde, hinzunimmt, denn die lautet, dass Ions von den Athenern eingenommene Stadt – Ephesos – „eines Feldherrn überhaupt nicht“ bedürfe (ebd.).

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Einleitung nicht eingeholt werden konnte, nämlich ein nicht-propositionales Wissen darum, wie epistemische Leitunterscheidungen zu gebrauchen seien.10 Aber es gab noch weitere, das Programm einer Erkenntnistheorie von Beginn an unterminierende Präsuppositionen, so etwa diejenige, die Hegel als „[...] Trennung des Inhalts der Erkenntnis und der Form derselben, oder der Wahrheit und der Gewißheit“11 namhaft macht. Denn mit dieser Trennung war nicht nur vorausgesetzt, „dass“, wie es bei Hegel heißt, „der Stoff des Erkennens als eine fertige Welt außerhalb des Denkens an und für sich vorhanden“12 ist, sondern eben auch, dass die Form von der Wahrheit getrennt, eben nur Darstellung und als Darstellung der Wahrheit äußerlich ist. Das Denken und Darstellen kommt dann jedoch nicht eigentlich über sich hinaus, sondern bleibt als ein Denken und Darstellen immer jenseits des Wirklichen. Die Reflexion auf die Formen und Darstellungen des Bewussteins bringt daher stets das skeptische Argument auf den Plan, wonach die Dinge an sich von den Formen des Verstandes, von seinen Darstellungen unberührt bleiben. Wenn aber die Formen des Verstandes nichts für die Dinge an sich bedeuten, so mag dies auch daran liegen, dass weder die Art, in der Dinge an sich etwas bedeuten, noch gar die Weise, in der das Denken und die Darstellungen etwas für die Dinge bedeuten, bisher überhaupt hinreichend verstanden worden ist. Mit anderen Worten, es kann, wenn von Dingen an sich oder einer an sich seienden Welt zwar gesprochen, aber nicht eigentlich sprechend gehandelt werden kann, irgend etwas im Verständnis dieses Sprachhandelns nicht stimmen. Den Ausdruck An-sich-seiende-Wirklichkeit verstehen, aber nicht erkennen zu können, was eine an sich seiende Wirklichkeit ist, wirft eine naheliegende Frage auf: Wie lernt man den Ausdruck, ohne ein Wissen darüber zu haben, worauf er sich bezieht? Hinzu kommt noch etwas anderes, das Literarische Epistemologen, von denen dieses Buch handeln wird, immer skeptisch gegenüber dem Anliegen einer jeglichen Erkenntnistheorie philosophischer Provenienz hat werden lassen, dies nämlich, dass angesichts der behaupteten Unmöglichkeit, einer an sich seienden, eigentlichen Wirklichkeit hinter der Wirklichkeit auf die Spur zu kommen, es umso unverständlicher sein muss, unter Wissen allein etwas Positives, in Aussagesätzen Behauptbares zu verstehen. Angesichts 10 Und dass dieser Gebrauch theoretisch eben nicht vollkommen geregelt werden konnte, weil er von historischen und kulturellen Kontingenzen abhängt, erfährt dann noch die philosophische Erkenntnistheorie des 20. Jahrhunderts als eine tiefe Kränkung, die sie derzeit im Culturalistic Turn zu überwinden sucht. 11 Hegel (1986), Bd. V, S. 36, Hervorheb. ebd. 12 Ders. ebd.

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Die poetische Erkundung der wirklichen Welt einer Wirklichkeit hinter der Wirklichkeit, die, wie Romantiker vom Schlage ETA Hoffmanns und Ludwig Tiecks bemerken, so deutlich den Charakter der Negativen trägt, muss es verwundern, dass die Geisteswissenschaften von Beginn an so wenig mit diesem Negativen anzufangen wissen, dass sie sich bis heute ganz und gar als positive Wissenschaften verstehen – und das Moment der Spekulation aus sich verbannen. Doch gerade, wenn, wie in der Poesie, Bedeuten so häufig als indirektes Bedeuten geschieht, ja, mehr noch, gerade hier, in der Dichtung, jedes Wort den Gegensinn erregt, also ein Negatives enthält, darf sich der wissenschaftliche Verstand nicht damit begnügen, zu räsonieren und Standpunkte gegeneinander abzuwägen. Nein, gerade die Dichtung fordert, auch wenn die ihr gewidmete Wissenschaft davon meist wenig wissen will, das spekulative Denken. Allein positiv, auf dem Wege der Forschung ist ihr, so sehr die jetzt allerorten aus dem Boden sprießenden geisteswissenschaftlichen Großforschungsprogramme dies auch glauben machen wollen, nicht beizukommen. Das haben schon die Schiller, Hölderlin, Schlegel und Novalis gewusst und sich deshalb dem Wissen der Literatur in zumeist äußerst spekulativen, nicht selten poetologischen oder auch essayistischen, immer aber poetischen Texten genähert. Diese Texte, in die das Negative, und sei es noch als Zweifel an der Wahrheit dessen, was sie zu behaupten scheinen, eingeschrieben ist, behaupten zuletzt freilich doch etwas, vor allem dies, dass die „Trennung des Inhalts der Erkenntnis und der Form derselben, oder der Wahrheit und der Gewissheit“ überwunden werden kann, dass also der absolute Idealismus oder, wie man heute besser sagt: Holismus in Erkenntnisdingen sein Recht habe, und zwar nirgendwo so sehr wie in der Poesie. Dieser ästhetische Holismus zieht die Lehre aus dem Umstand, dass dem Erkenntnisvermögen mit philosophisch-erkenntnistheoretischen Mitteln nur beizukommen ist, wenn man es zu erkennen vermag, ehe man noch weiß, was das ist, das Erkennen. Da aber die Gründe des Erkennens vom Erkennen nicht selbst eingeholt, sondern nur immer vorausgesetzt werden können (und eben das lehrt die Erkenntnistheorie), zieht das Programm Literarischer Epistemologie daraus die Lehre, und das heißt, es zielt, um erst gar nicht in die Gefahr eines infiniten Regresses zu kommen, auf eine Selbsttransparenz des Erkenntnisakts. Was das heißt? Es heißt zunächst, dass man als Leser von Literatur zugleich weiß, was da geschieht, und doch weiß, dass es nicht (wirklich) geschieht. – Es heißt aber auch, dass man weiß, dass man nicht (wirklich) weiß, was da geschieht; die Nicht-Erkennbarkeit zureichender Gründe für das dargestellte Geschehen ist geradezu eine Bedingung für das Wissen darum, dass man es mit Literatur als einer Kunstgattung, und na-

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Einleitung mentlich mit Poesie zu tun hat. Es ist dieses eigentümlich Luzide, das jeder von denjenigen seiner Träume, in denen er weiß, dass er träumt, kennt, ohne das es keine Poesie gäbe. Wer dieses Zugleich von Nichtwissen und Wissen ignoriert, wie Sokrates im Ion, und Poesie mit Fiktion verwechselt, sie also nur in ihrer Unterschiedenheit von der Wirklichkeit gelten lässt, verkennt nicht nur das dialektische Wesen der Poesie, sondern auch ihren seit dem Ausgang des 18. Jahrhunderts immer deutlicher werdenden Anspruch, Literarische Epistemologie zu sein. Diesen Anspruch ernst nehmen aber kann nur, wer sich auf den Realitätstest einlässt, den Poesie seither wieder und wieder nicht nur unternimmt, sondern auch einfordert. Denn die im Namen der Poesie erhobenen Wissensansprüche haben ihrerseits einen Anspruch darauf, kritisch überprüft zu werden, nicht nur durch die Poesie, sondern eben auch durch die Literaturkritik und Literaturwissenschaft. Das aber geschieht so lange nicht, als man, mal mehr, mal weniger deutlich insinuiert, es handele sich bei poetischen Texten bloß um Darstellungen des Wirklichen, nicht um die Wirklichkeit selbst, und sich in gut philologischer Tradition damit begnügt, Darstellungen des Wirklichen zu deuten, es aber unterlässt, sich um die Wahrheit der Darstellungen zu bekümmern, sei es, weil man diese Frage für unentscheidbar, sei es, weil man sie für eine philosophische, nicht aber philologische Frage hält, und das, wo doch längst bekannt ist, was in Erkenntnisdingen die Philosophie von der Poesie hält. Doch darf, wer sich auf die Spur der Literarischen Epistemologie begibt, nicht selbst davor zurückschrecken, nach Wahrheit und Rechtfertigung zu fragen; nein, er muss der Poesie die Würde des Arguments verleihen. Dies aber kann nur geschehen, wenn der Literatur nicht immerzu vorgerechnet wird, sie sei als Fiktion nicht wahrheitsfähig und könne, da sich, was sie sagt, nicht mit Sinn negieren lässt, auch keinen Wissensanspruch geltend machen. Wer so argumentiert und der Poesie mit Sokrates vorhält, sie vermittle alles, vor allem Enthusiasmus sowie allerlei sonstige Formen höheren Wahnsinns, nur eben kein Sachwissen, fällt hinter Platon zurück. Denn der verlieh bekanntlich der Philosophie schon früh eine literarische Gestalt, und zwar mit Gründen, die eben der viel gescholtene und häufig so sehr gering geschätzte Ion zur Sprache bringt: Die Gegenstände, die der Rhapsode erkennt, sind eben Formen, genauer gesagt: Gründe für den Gebrauch sprachlicher Formen: –„Was einem Manne geziemt [...] zu sprechen, und was einer Frau und was einem Sklaven und was einem Freien und was einem Gehorchenden und was

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Die poetische Erkundung der wirklichen Welt einem Gebietenden.“13 Doch sollte etwa in dem Erkennen der Gründe des angemessenen Begriffsgebrauchs kein Wissen liegen? Nein, der seit Sokrates sich haltende Fiktionsverdacht gegenüber aller Poesie, der Verdacht, sie sei lediglich ein Medium der Darstellung des Wirklichen, aber keines des Wissens, hat natürlich damit zu tun, dass man annimmt, allein die Inhaltsseite der Poesie sei überhaupt in der Lage, Gegenstände des Wissens zu vermitteln – die Geltungsansprüche dieser Gegenstände würden jedoch durch die literarische Form ihrer Darstellung sofort wieder zunichte gemacht. Dass, worauf Platon im Ion verweist, auch Formen Geltungsansprüche erheben können, wird dann gerne außer Acht gelassen. Das aber ist umso merkwürdiger, als es sich um einen Umstand handelt, der aus dem Gebrauch der logischen und ästhetischen Formen wohl bekannt ist und in der Logik im Begriff der Wahrheit, im Zusammenhange des Ästhetischen aber im Begriff des Geschmacks seinen Ausdruck findet. Dass auch Formen Geltungsansprüche (welcher Art auch immer) erheben, wird dabei offenbar deshalb übersehen, weil man sich Darstellung und Wirklichkeit als zwei voneinander unabhängige, getrennte Reiche vorstellt. Dieser Vorstellung – der Äußerlichkeit und epistemischen Untauglichkeit der Formen – hat auch die Erfahrung nicht Abhilfe leisten können, dass es Gehalte gibt, die nach ganz bestimmten Formen verlangen, und die man deshalb Themen nennt. Nicht bei allen Themen ist dieses Verlangen eines, das der Poesie gilt – die Informationen, die in einer Gebrauchsanleitung vermittelt werden, bedürfen zwar einer literarisch-textuellen, aber kaum einer poetischen Form. Doch es gibt Themen, die offenbar per se nach einer poetischen, und zwar zuerst und allem voran nach einer poetischen Darstellung verlangen, so, dass etwa ihre Darstellung in wissenschaftlicher Prosa ihnen kaum gerecht wird. – Die Liebe scheint ein solches Thema zu sein; und es spricht viel dafür, dass auch das Ganze des menschlichen Lebens von dieser Art ist, dass die ihm als Ganzem und Gesamtem angemessene Form eine poetische ist – die sich der wissenschaftlichen oder philosophischen Darstellung kaum erschließt. So aber, wie es Themen gibt, die nach einer poetischen Darstellung verlangen, gibt es auch Formen, die nach poetischen Gehalten verlangen, denen also der poetische Gehalt nicht als ein Fertiges äußerlich hinzutritt, sondern vielmehr aus der Form selbst erwächst. Und es mag sein, dass das menschliche Vermögen, Gegenstände so wahrzunehmen, als ob sie etwas anderes wären (was sie nicht sind), die Fähigkeit zur metaphorischen Wahrnehmung also, die menschliche Vorstellungskraft auf poetische Inhalte geführt hat; und es mag auch sein, dass etwa die literarische Form des Apho-

13 Platon (1988), S. 35.

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Einleitung rismus ihre Gehalte weitaus mehr bestimmt als durch diese bestimmt wird. Doch scheint es zuletzt das Verstehen selbst zu sein, gerade auch das unartikulierte, das vor aller Sprache sich vollziehende Verstehen, das eine solche, poetische Gehalte fordernde Form ist. Und wiederum ist es die Tatsache, dass wir träumen – träumen müssen, die den deutlichsten Hinweis darauf gibt. Dieses, das da in Themen und Formen zur Poesie drängt, findet, darauf kommt es hier an, niemals allein aufseiten der Themen oder Formen seinen Ausdruck, sondern erst dort, wo sie miteinander vermittelt sind: im Prozess ästhetischer Erfahrung. Als Gegenstand des Wissens ist dieses Verhältnis von Thema und Form an diese Erfahrung meist so sehr gebunden, dass es sich nicht von ihr isolieren lässt, schon gar nicht als abstrakter Gehalt, als Idee oder einfach als das, was uns der Dichter sagen will. Das aber bedeutet: Insofern es an den Prozess der ästhetischen Erfahrung gebundenes Zustandswissen ist, zeigt es sich nie da, wo man es vermutet. Es steht nicht in Handbüchern und findet sich kaum je einmal in den gängigen Formen akademischer Lehre. Doch entspricht literarisches Wissen gerade in dieser Gebundenheit an den Prozess seiner Erfahrung – und Genese der säkularen Forderung, dass jegliches Wissen sich prozedural, über die Transparenz der Verfahren, als dessen Ergebnis es sich einstellt, auszuweisen habe. Und wo bitte, so möchte man fragen, werden im Moment der Darstellung die Verfahren der Darstellung deutlicher, expliziter, kenntlicher gemacht als eben in der Poesie? – Genau deshalb war es von je her so aberwitzig, die Poesie der Lüge zu bezichtigen. Kann man sich einen schlechteren Lügner vorstellen, als den, der so offensichtlich lügt? Dennoch muss Poesie, will sie mehr sein als reine Fiktion, will sie in ihrem epistemischen Anspruch ernst genommen werden (auch von den Skeptikern), sich gegenüber der im Theätet gegebenen Definition, Wissen sei „wahre Meinung verbunden mit Erklärung“14, behaupten können. Denn trotz aller postmodernen Relativismen ist der platonische Begriff des Wissens als einer Überzeugung, die sowohl wahr als auch gerechtfertigt ist, immer noch der bestimmende.15 Und ein solcher Begriff des Wissens gibt auf die Frage, ob auch die Dichter über ein Wissen verfügen, nur eine einzige, nämlich negative Antwort. Literarische Darstellungen, das galt zu Platons Zeiten bereits für die Epen Homers, die Oden Pindars und selbst die Tragödien des Sophokles, lassen sich eben weder als wahr bezeichnen noch wäre das in ihnen Dargestellte mit Gründen 14 Platon (1981), 201c-201d. 15 Zugegeben, nicht bei den Anhängern Foucaults, wohl aber im gegenwärtigen philosophischen Diskurs – und natürlich im alltäglichen Gebrauch des Begriffs.

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Die poetische Erkundung der wirklichen Welt zu rechtfertigen, zu erklären also. Doch eben dies, die Fähigkeit, eine Erklärung geben zu können, war ja für Platon das Unterscheidungskriterium zwischen Wissen und bloßer Meinung.16 Doch schauen wir genauer hin. Obwohl es so aussieht, als könne Poesie niemals diese drei Kriterien des Wissens – Glauben, Rechtfertigung, Wahrheit – erfüllen, eines dieser Kriterien zu erfüllen ist ihr immer schon ein Leichtes, denn Gegenstände des Glaubens oder Überzeugtseins stellt sie allemal bereit. Und tatsächlich, jeder der einen Roman liest, muss, was er liest, weder für wahr noch für begründbar halten, doch dass, was er liest, so ist, wie es nun einmal dasteht, daran muss er doch glauben können. Und tatsächlich, wer bei der Lektüre von poetischer Literatur seinen radikalen Skeptizismus nicht hinter sich lassen kann und sich beharrlich weigert, den Fiktionsvertrag zu unterschreiben, dem wird der Zutritt zum Reich der Poesie verwährt – er ist dann wie einer, der nicht träumen kann, weil er nicht an das zu glauben vermag, was er träumt, oder wie einer, der nur Buchstaben entziffert, aber keinen Sinn. Doch wie sieht es mit der Wahrheit aus? Um sie scheint sich die Poesie doch offenbar wenig zu bekümmern. Ja, wem es um wahre Sätze geht, dem wird man raten, er möge doch um Gottes willen alles lesen, nur keine Sätze von Hölderlin, Kafka oder Borges. Und er wird dies gewiss auch nicht tun. Ebenso wenig wie derjenige, der Informationen kommunizieren will. Wer kommunizieren will, gar, wer wahre Sätze kommunizieren will, sollte sich nicht der Poesie bedienen. – Doch was heißt das: wahre Sätze? Um welche Eigenschaft von Sätzen, Aussagesätzen handelt es sich da eigentlich? Offenbar um diejenige, die es erlaubt, einen als Behauptung geäußerten Aussagesatz rechtfertigen zu können: Der Satz Draußen vor der Tür steht jemand ist wahr, dann und nur dann, wenn man ihn mit hinreichenden Gründen rechtfertigen kann – dadurch, dass man etwa, die Tür öffnet und nachsieht, ob da jemand steht. Das Verfah-

16 Vgl. ders., Menon 97 b ff., Symposion 202 a, Politeia VII, 534 b f. Stellt man überdies in Rechnung, dass und warum Platon, wenn auch in sokratischer Gestalt, die Dichter aus dem utopischen Staat verbannen wollte, weil sie nämlich nur Abbilder von Abbildern, eine depotenzierte Mimesis also, schüfen, um sodann mit solch schlecht simulierter Wirklichkeit eine umso fatalere, nämlich entmoralisierende, das Ethos zersetzende Wirkung auf ihr Publikum auszuüben, nimmt es nicht Wunder, dass die Dichtung es von Beginn an schwer hatte, sich dieser beiden Argumente, des ontologischen und des ethischen, zu erwehren. Wann immer sie fortan einen Wissensanspruch erhob, sah sie sich dem Verdacht ausgesetzt, nur schönen Schein zu verbreiten, oder man hielt ihr ihre suggestive, Vernunft und Verstand außer Kraft setzende Wirkung vor.

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Einleitung ren des Nachsehens ist das Verfahren der Rechtfertigung – der Zuweisung von Gründen. Was aber sollte – darüber hinaus noch Wahrheit sein? Eine weitere hier noch hinzutretende metaphysische Eigenschaft? Wohl kaum! Denn es gibt nichts mehr, was hier noch hinzuträte zu dem Rechtfertigungsverfahren – dem Nachschauenkönnen, außer vielleicht, wie Brandom geltend macht, dass man selbst bereit ist, die Behauptung zu billigen – dass man also an sie glaubt.17 Ganz gleich aber, ob Brandom Recht hat oder nicht: in beiden Fällen ist das Kriterium der Wahrheit als Bedingung für die Zuschreibung eines Wissens überflüssig. Denn entweder ist Wahrheit gleichbedeutend mit den Rechtfertigungsverfahren oder es ist nichts anderes als der Glaube an die Zuverlässigkeit des Rechtfertigungsverfahrens. Doch im einen wie im anderen Fall kann, wie Wittgenstein gesagt hätte, durch den Begriff der Wahrheit gekürzt werden. Wenn aber Poesie das Kriterium des Glaubens oder Für-wahrHaltens18 spielend erfüllt, weil sie ohne die propositionale Einstellung des Für-wahr-Haltens nicht als Literatur wahrgenommen würde, das zweite Kriterium, das der Wahrheit, nicht erfüllen muss, weil es da nichts mehr zu erfüllen gibt, konzentriert sich ein Skeptizismus gegenüber der epistemischen Kraft der Poesie auf ihre Fähigkeit, die Überzeugungen, die sie hervorruft, auch zu rechtfertigen. Worin aber bestünde ein solches Rechtfertigen? Von Personen, denen wir eine gerechtfertigte Überzeugung zuschreiben, fordern wir, dass sie nicht nur Überzeugungen haben, sondern sich zugleich auf diese Überzeugungen gegenüber anderen festlegen – in einem Raum zahlloser möglicher Festlegungen, die sich zum Teil ausschließen, zum Teil aber auch auseinander ableiten lassen, in einem Raum also, den man mit Recht den Raum der Gründe zu nennt. Hinzu kommt als ein weiteres Kriterium, dass diese Überzeugungen „propositional (und somit begrifflich) gehaltvoll“19 sein müssen. Doch warum müssen sie das? Offenbar, damit sie interpretiert und verstanden werden können. Es ist also das Bedürfnis des Verstehens, das die Forderung nach einem propositionalen, begrifflichern Gehalt hervorruft. Ganz gleich, ob man die philosophische Auffassung teilt, dass nur in behauptbare Aussagesätze übersetzbare Urteile propositionalen Gehalt haben – eine Auffassung, die Poesie wie selbstverständlich nicht teilt, es bleibt im einen wie im anderen Fall die Forderung nach Verstehbarkeit, die erfüllt sein muss, damit wir eine Überzeugung überhaupt als Überzeugung anerken-

17 Vgl. Brandom (2001), S. 155-161. 18 Nicht: der Wahrheit! 19 Brandom (2001), S. 156, Hervorheb. ebd.

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Die poetische Erkundung der wirklichen Welt nen. Denn eine Überzeugung, die man nicht verstehen kann, kann man nicht einmal haben, geschweige denn begründen. Propositionalität meint nun aber auch, dass unsere Überzeugungen, damit sie gerechtfertigt werden können, nicht nur verstehbar sein, sondern als verstehbare Überzeugungen auch Geltungsansprüche enthalten müssen. Diese Geltungsansprüche müssen sich zwar auf Inhalte beziehen, denn es muss ein Etwas geben, das verstanden werden kann, doch kann dieses Etwas eben selbst wiederum eine Form sein, z.B. die Form eines Schlussverfahrens, einer Darstellung, einer Perspektive, oder gar die Form eines Zusammenhangs der Formen von Geltungsansprüchen. Was immer im Falle der Poesie diese propositionalen Gehalte sein mögen – ob es sich um reine Formen, Perspektiven, Erscheinungs- oder Seinsweisen handelt oder um Formen, deren Gehalte erzählt, beschrieben, begriffen werden können, niemals handelt es sich im Falle der poetischen Literatur bei diesen propositionalen Gehalten – den Gegenständen des Überzeugtseins – um reine Informationen oder diskursive Gehalte, für die der Umstand, dass sie so oder anders geformt sind, nichts zu bedeuten hat. Und genau deshalb ist die These, die Fiktionalität ihrer Inhalte stehe dem Wissensanspruch der Poesie entgegen, so nichtssagend. Um reine Inhalte geht es in der Poesie so wenig wie in Träumen. Und aus Träumen lernen kann nur der, der bereit ist, ihre Gehalte als dargestellte, metaphorisierte Gehalte anzuerkennen. Wer in ihnen nur der Buchstäblichkeit und eben nicht der poetischen Phantasie gewahr wird, wird ihrer nicht als Traum (sondern allenfalls als Phantasma) gewahr. Wenn es also in der Poesie zuletzt um Formen geht, um reine Formen oder um geformte, um sprachlich geformte Gehalte, dann können diese ästhetischen Formen doch einen Anspruch auf Geltung und Berechtigung erheben. Und dieser Gebrauch von ästhetischen Formen gleicht darin, dass es ein urteilender Gebrauch ist, dem Gebrauch von Formen innerhalb eines Geschmacksurteils. In beiden Fällen wird ihnen als Gegenständen (die in dem Urteil S ist p die Subjektstelle einnehmen) etwas zu- oder abgesprochen (man denke an jemanden, der weiß, wie man einen Walzer tanzen muss und stelle sich einen anderen vor, der dieses Wissen nicht besitzt). Doch geschieht bei der Zuweisung eines Wissens mehr als nur der logische Vollzug eines Urteils. Denn: „Wenn man,“ ich zitiere noch einmal Brandom, „das, was jemand hat ‚Wissen‘ nennt, tut man dreierlei: eine Festlegung zuweisen, die sowohl als Prämisse als auch als Konklusion von Interferenzen dienen kann, die sie mit anderen Festlegungen in Beziehung setzen, eine Berechtigung zu dieser Festlegung zuweisen, und diese Festlegung selbst eingehen.20

20 Brandom (2001), S. 157f., Hervorheb. ebd.

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Einleitung Wenn wir nun, und darauf kommt es an, genau auf diese von Brandom beschriebene Weise Personen ein Wissen zuschreiben, wenn es das ist, was wirklich geschieht, so muss man sich fragen, weshalb es im Falle der Poesie nicht immer schon geschehen sollte. Denn offenbar kann man ja einem poetischen Text oder der Darstellung eines Dramas auf der Bühne wie jedem anderen Kunstwerk auch eine Festlegung zuweisen – nämlich die Festlegung auf eine bestimmte Formung der Wirklichkeit, auf eine bestimmte Perspektive bestimmten Gehalten gegenüber, die als Prämisse oder Konklusion von Interferenzen dienen kann, ja, dienen muss (ein Kunstwerk, aus dem sich keine Schlüsse ziehen lassen, wäre keines). Ein Kunstwerk, einen poetischen Text zu schaffen bedeutet deshalb immer, eine Position gegenüber und zu anderem zu beziehen. Als singuläres, vollständig hermetisches Ereignis wäre eine ästhetische Äußerung (wie eine Privatsprache) vollkommen unverständlich (schon für den Sprecher), sie würde nichts bedeuten oder gar symbolisieren. Jeder nun, der sich auf Kunst einlässt, jeder, der Literatur als Literatur rezipiert, muss nun aber selbst eine Festlegung auch eingehen. Ich muss zum Beispiel der literarischen Einbildungskraft des Autors folgen und die Dinge wenigstens eine Zeitlang so sehen, wie er mich anhält, sie zu sehen. Das aber heißt nichts anderes, als dass ich, der Leser, die Festlegung auf eine bestimmte Formung des Seins selbst einzugehen oder anzuerkennen habe. Ob ich sie jedoch nur im Rahmen des Fiktionsvertrages eingehe und danach sofort wieder aufkündige, dies ist davon abhängig, ob ich der Festlegung des Textes auf eine bestimmte Form auch eine Berechtigung zuweise. Im Rahmen der Kunst und des Ästhetischen gilt nun genau dieses Zuweisen einer Berechtigung als ein mehr oder weniger willkürlicher, immer jedoch historischen Kontingenzen unterliegender Akt. Wie das Geschmacks- scheint auch das ästhetische Wissensurteil seinen Grund in der uneinholbar vorausgesetzten Subjektivität des Urteilenden zu haben, in seinen kontingenten Vorerfahrungen, geheimen Wünschen, Idiosynkrasien und dergleichen mehr. Und in der Tat scheint ja auch der rasante historische Wandel in diesen Dingen eine ganz eigene, eben klare Sprache zu sprechen. Was wäre unsteter als die Wertschätzung, die einzelnen Kunstwerken zu unterschiedlichen Zeiten entgegengebracht wird? Doch haben, und eben das sollte zu denken geben, aus der Vielzahl der stets neu geschaffenen Werke immer einige das Zeug zum Klassiker. Es scheint also durchaus überzeitliche und überindividuelle Konstanten auch der epistemischen Wertschätzung zu geben. Und in der Tat lesen wir Goethe heutzutage nicht allein, um uns an der Schönheit seiner Sätze zu erfreuen. Nein, Goethe bringt auch

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Die poetische Erkundung der wirklichen Welt gegenüber heutigen Lesern etwas zum Ausdruck, das ihnen des Nachdenkens würdig zu sein scheint, mit anderen Worten: das sie dazu veranlasst, den Goetheschen Texten eine Berechtigung zuzuweisen, die Welt einmal so zu sehen, wie sie dort gesehen wird. Und viele von Goethes heutigen Lesern werden sogar glauben, sie besäßen nicht nur eine Berechtigung dazu, die Welt einmal mit Goethes Augen zu sehen, sondern werden es darüber hinaus sogar für einen Gewinn halten, sie so zu sehen. (Und dieses So-Sehen ist eine Art des Sehens, das einzuüben das in den Texten dargestellte Geschehen: die Inhalte ein Mittel sind.) Das Zuweisen einer Berechtigung hängt hier, keine Frage, von denjenigen unserer anderen Perspektiven ab, von deren Begründbarkeit wir nicht nur überzeugt sind, sondern auf die wir uns auch in unserem Handeln verpflichten und die einzunehmen wir daher in den Gesprächen und Selbstgesprächen, die wir führen, für unerlässlich halten. Ob ich glaube, vermittels der Poesie zu einem validen Wissen zu gelangen, hängt wesentlich von meinen sonstigen Wissenszuschreibungen und -festlegungen ab. – Das aber sind keine individuellen oder gar autistischen Akte. Was begründete Überzeugungen sind und was als ein Wissen gelten kann, lernt man in dem sozialen (bisweilen durch das Verhalten der Natur limitierten) Raum der Gründe (und Ursachen) – das aber heißt, man lernt es in der Sprache, und zwar in jeder Sprache – und nicht notwendigerweise immer schon in der Sprache der Literatur. Wenn man also nach den nicht nur subjektiven und kontingenten Gründen dafür sucht, dass ästhetischen Formen eine Berechtigung zugewiesen wird, gar eine, die der Zuweisende auch selbst eingeht, dann muss man, wie das die folgenden Kapitel immer wieder tun, über Sprache nachdenken, und zwar vor allem über eine bestimmte, von Gottlob Frege einst Sinn genannte Dimension der Sprache.21 Im Unterschied zu einer bloß subjektiven Vorstellung, über die jeder als ein privates Ereignis verfügt, und der Bedeutung, die Frege zufolge den allgemeinen Wahrheitswert eines Ureilsssatzes angibt, markiert der Sinn jene Dimension der Sprache, über die besondere Vorstellungen und allgemeine Wahrheitsgehalte mit anderen Vorstellungen und Wahrheitsgehalten als ein zugleich Subjektives und Objektives verbunden sind. Und Frege gibt ein Beispiel: Der durch ein Fernglas gesehene Stern kommt der Bedeutung, sein Bild auf der Netzhaut des Betrachters der Vorstellung, das Bild, das vom Objektiv im Innern des Fernrohrs entworfen wird, aber dem Sinn gleich (27). Während der wirkliche Stern einfach ist, was er ist, unabhängig davon, dass er beobachtet wird, macht es eine Unterschied, ob

21 Vgl. hierzu u. zu den folgenden Angaben in Klammern: ders. (2002).

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Einleitung das Bild im Innern des Fernrohrs ein Morgenstern- oder ein Abendsternbild ist. Warum? Ganz einfach, weil es die Weise, in der ich dieses Bild wie auch meine inneren Vorstellungen mit anderen Bildern und Vorstellungen verbinde, ja schließlich aber auch die Weise, in der ich mich zukünftig verhalten werde, wenn ich die Venus am Himmel sehe, beeinflusst. Frege sagt dazu, der Sinn bestimme „die Art des Gegebenseins des Bezeichneten“(24). Diese Art des Gegebenseins besteht etwa im Falle eines Behauptungssatzes in einem bestimmten „Gedanken“, den ich habe und den ich zugleich, weil ich ihn mitteilen, mit anderen teilen kann. Diese Teil- und Mitteilbarkeit unterscheidet ihn dabei von meinen Vorstellungen und inneren Bildern, so wie der Umstand, dass er wahr oder falsch sein kann, ihn von dem sinnlich gegebenen Gegenständen unterscheidet. Der Sinn ist also dasjenige an der Sprache, das ich verstehen kann – wie etwa einen Gedanken. Während man innere Bilder und Vorstellungen zwar haben, aber nicht teilen kann und sie sich daher als solche inneren Bilder und Vorstellungen auch nicht verstehen lassen, lassen sich sinnlich wahrnehmbare Gegenstände (das, was Frege: Bedeutung nennt) als sinnlich wahrnehmbare Gegenstände zwar wahrnehmen, aber ebenso wenig verstehen wie jene innere Bilder und Vorstellungen. – Was sollte es heißen, die Venus zu verstehen? Verstehen lässt sich einzig die Dimension des Sinns, wie sie etwa ein Gedanke zum Vorschein bringt. Auf diesen Sinn Bezug nehmen können wir zum Beispiel, indem wir Sprache in der direkten oder indirekten Rede als Sprache gebrauchen. Wenn wir sagen: Peter sagt: „Ich sehe den Abendstern“ oder Peter sagte, er sehe des Abendstern, so nehmen wir mit Sprache auf Sprache Bezug, und zwar auf den Sinn der Sprache. Und eben dasselbe geschieht, wenn zumeist auch nicht durch den Gebrauch der direkten oder indirekten Rede und also mit anderen sprachlichen Mitteln, in der Dichtung.22 Auch sie nimmt mit Sprache auf Sprache Bezug und enthält daher ganz wie die direkte und indirekte Rede sowohl eine meta- als auch eine objektsprachliche Dimension. Doch ist es gerade ihre Eigenschaft, Metasprache zu sein, die deutlich macht, dass hier vom Abend- und nicht vom Morgenstern die Rede ist – obwohl dieser Umstand für das, was Frege Bedeutung nennt, keinen Unterschied macht und für die mit dieser Äußerung verbundenen inneren Bilder oder Vorstellungen keinen Unterschied machen muss. Dem Sinn, um den es hier geht, kommt es darauf nicht an. Ihm geht es einzig darum, dass mit einer anderen Äußerung auch etwas anderes gesagt worden, dass der geäu22 Es geschieht auch in der Linguistik, Sprachphilosophie oder Philologie, es geschieht im gewöhnlichen Gespräch, dort aber, wenn auch nicht immer durch den Gebrauch direkter oder indirekter Rede, doch meist durch die Äußerung behauptender Aussagesätze.

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Die poetische Erkundung der wirklichen Welt ßerte Gedanke ein anderer gewesen wäre, weil er mit anderen Äußerungen und anderen Gedanken auf eine andere, bestimmte, nur ihm, diesem Gedanken, eigene Weise zusammenhinge. Doch kommt nicht-sprachliches Wissen erst dadurch zustande, dass dem bestimmten Sinn ein bestimmter Wahrheitswert entspricht? Liegt, mit anderen Worten, Erkenntnis nicht erst da vor, wo der ausgedrückte Gedanke sich mit dem verbindet, was Frege Bedeutung nennt? Denn schließlich enthält der reine Gedanke ja noch keinerlei Information darüber, ob auch der Fall ist, was er besagt und ich an ihm verstehen kann? Nehmen wir an, die Bedeutung eines Morgen- oder Abendsterngedankens sei, weil es sich um ein anspielungsreiches Gespräch, ein mit Chiffren durchsetztes Gedicht oder einen symbolisch aufgeladenen Traum handelt, gar nicht die Venus, sondern ein anderer Gedanke oder Satz. In diesem Fall gäbe es nichts anderes als den Sinn, der darüber zu entscheiden hätte, ob dem Gedanken ein Wahrheitswert zukommt oder nicht; Sinn und Bedeutung fielen hier also zusammen. Von dieser Art aber sind viele Gedanken. Wir können, um zu entscheiden, ob sie wahr oder falsch sind, sie nur wiederum mit anderen Gedanken, mit anderem sprachlichen Sinn in Beziehung setzen – die ganze Philosophie gründet auf dieser Möglichkeit zur Wahrheit nicht über die Empirie, sondern einzig über den Sinn zu gelangen. Ob das Geschehen A und das ihm zugeordnete innere Wahrnehmungsbild C ein Fall von Gerechtigkeit, Liebe, Prüderie, Arroganz oder Charakterstärke ist, wird im Bereich des sprachlichen Sinns entschieden. Dieser aber kann so wenig mein Sinn sein, wie die Sprache je nur meine Sprache sein könnte (weshalb auch nicht ich entscheide, was ich sage). Das Rechtfertigen also, auf das alles hinausläuft, ist, weil es auf der Ebene des sprachlichen Sinns geschieht, ein immer schon allgemeines Geschehen. Und zwar gerade das Rechtfertigen von Perspektiven und Darstellungsweisen, also von Formen des Sprachgebrauchs, mit Ion zu reden: dessen, was sich „geziemt“ zu sagen. Die Dichtung liefert nun eine schier endlose Reihe von Präzedenzfällen dafür, wie ein sprachlich dargestelltes Geschehen, ein Sprachgeschehen im Reich des Sinns verortet werden kann. Und selbst noch da, wo sie dafür plädiert, es im Reich des Sinnlosen zu verorten, ermöglicht sie ein Verstehen dessen, was auf andere Weise meist erst gar nicht zu verstehen wäre. Im Unterschied zu wissenschaftlichen, philosophischen sowie den meisten anderen nichtästhetischen Diskursen betont sie dabei die Vorläufigkeit dieses Verstehens. Doch liegt in dieser so augenscheinlichen Vorläufigkeit keine Absage an einen Wissensanspruch. Nein, jedes Wissen ist vorläufiges Wissen! Und zwar allein dadurch, dass der Bereich des Sinns, in dem es sich als Wissen rechtfertigen muss, ein beständig

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Einleitung sich wandelnder ist. Anders als die philosophische Erkenntnistheorie bemüht sich jedoch die Poesie, und eben davon wird im Folgenden die Rede sein, darum, in dieser Vorläufigkeit nicht mehr länger eine Limitation der Episteme zu sehen. Anders als die Erkenntnistheorie wird sie darüber zu einem vollendet spekulativen Unternehmen und erkennt als ein solches zur Rechtfertigung ihrer Wissensansprüche keine andere Instanz mehr an als Sinn und NichtSinn. In Sinn und Nicht-Sinn allein liegt für sie das Reich der Gründe zur Rechtfertigung ihrer Darstellungen und Perspektiven. Dadurch schließt sie das, was Frege Bedeutung nennt, das Reich des sinnlich Wahrnehmbaren, aber nicht aus, sondern ein. Denn ihre vollendet idealistische – oder holistische These ist, dass noch die Venus nichts wäre ohne das Wort, das wir für sie haben – sei es Morgenstern, Abendstern oder eben Venus – ohne die sprachliche Form also.23 Damit aber macht die Poesie ernst mit dem eigentlich erkenntnistheoretischen Programm einer nicht-emprischen Epistemologie, deren Gegenstand die Formen der Weltdarstellung sind. Ihr Ernst liegt dabei ganz in der vordergründigen Heiterkeit ihres spielerischen Verfahrens. Denn ihr ist der Raum der Gründe einzig durch das Sein oder die Wirklichkeit der Formen bestimmt. Und über diese Formen findet man etwas heraus, indem man – das ist die Logik des Experiments – sie in immer wieder neuen Versuchsanordnungen erprobt, sie so allererst zur Sprache bringt, sich dabei allerdings nicht mehr, wie noch Frege, auf die Wahrheitsgehalte assertorischer Sätze beschränkt. Denn die sprachlichen Formen, in denen Überzeugungen über den berechtigten Gebrauch von Formen der Anschauung verhandelt werden, das ist die Überzeugung der Literarischen Epistemologen, sind weitaus reichhaltiger als diejenigen, auf die sich zu beschränken die philosophische Erkenntnistheorie einst für unerlässlich hielt. Wer aber sind die Literarischen Epistemologen? Es sind all diejenigen, die Literatur, als Kunst verstandene Literatur, also Poesie oder Dichtung, zu epistemischen Zwecken gebrauchen. Es kann sich also bei ihnen, wie schon gesagt, unter anderem um Poeten, Poetologen, Philologen oder auch Philosophen handeln. Denn es ist allererst ein bestimmter Gebrauch, den Autoren oder Leser von der Sprache machen, durch den sie sich als Literarische Epistemologen auszeichnen. Die Literarische Epistemologie, von der dieses Buch handelt, ist daher kein Gegebenes, kein literar-historisch auffindba23 Jeder weiß, dass die Dinge mit zunehmender Entfernung im Raum nur immer kleiner erscheinen, aber nicht sind, doch keiner, was übrig bliebe von Raum und Entfernung, ohne diese Form der Erscheinung. Man versuche sich einen Raum zu denken, in dem dieses Verhältnis von Größe und Entfernung aufgehoben wäre. Ganz so ist es in der Poesie.

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Die poetische Erkundung der wirklichen Welt res Genre; sie ist nur dort anzutreffen, wo poetische Sprache so gebraucht wird, dass sie nicht nur der Darstellung, sondern der Erkenntnis der Welt dient. Ob sie aber so gebraucht wird, darüber entscheiden dann Poeten, Poetologen, Philologen und Philosophen – Autoren wie Leser; es ist da kein Vorrecht mehr, das die Autoren für sich beanspruchen könnten. Damit aber die poetische Darstellung der Welt nicht nur wie in der Antike und der Frühen Neuzeit vereinzelt, sondern weithin zu epistemischen Zwecken verwendet werden kann, musste erst ein bestimmtes Selbst- und Weltverständnis geschaffen werden, das darauf beruhte, dass Darstellungen gegenüber Gehalten aufgewertet und Wahrheitsgehalte in Abhängigkeit von Darstellungsweisen beurteilt wurden. Das geschah um 1800 in Europa. Warum es geschah, darauf sucht das erste Kapitel, Zur Vorgeschichte: Die mosaische und die europäische Unterscheidung, eine Antwort. Auf ihrer Grundlage widmet sich das anschließende Kapitel Ist Literatur ein Medium? Heinrich von Kleists „Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden“ und der „Monolog“ des Novalis sodann der Frage, unter welchen Umständen man erwarten kann, dass der poetische Gebrauch der Sprache zugleich ein epistemischer ist. Dies sei dann der Fall, argumentierten Kleist und Novalis um 1800, wenn Literatur als Medium verstanden werden könne. Doch enthält der Begriff des Mediums den Gedanken des Vermittelns, der Vermittlung – und eben gegen ihn gibt es, davon wird im dritten Kapitel Wissen aus Unmittelbarkeit, Wissen aus Vermittlung – und Medialität bei Herder, Schiller und Kleist die Rede sein, noch zur gleichen Zeit, also um 1800, erhebliche Einwände – im Namen des Unmittelbaren. Eine Kategorie, die verspricht, beides, mittelbar erworbenes und unmittelbares Wissen zu vereinen, ist die der Subjektivität – aber dann und nur dann, wie Schiller argumentieren wird, wenn man sie mit literarischen Mitteln neu erfindet (Schillers Räuber oder die Neuerfindung der Subjektivität im Jahre 1782). Dass eine literarische Reformulierung der Subjektivität jedoch überhaupt gelingen, sie nicht nur als Kopfgeburt, sondern als ein attraktives Programm erscheinen kann, setzt voraus, dass man sie gegenüber Kopfgeburten, also im Extremfall gegenüber pathogener Subjektivität abgrenzen kann. Und hier ist es Kleist (und nicht erst Büchner im Lenz), der genau das in Zweifel zieht und so einen eminenten Einspruch gegen den Vernunftglauben der Klassik geltend macht. Von ihm wird in dem Kapitel Krankheit und Wissen oder: Woran erkrankt, wer im Geiste erkrankt? Der Versuch einer philologischen Antwort mit Blick auf Heinrich von Kleists „Die heilige Cäcilie oder die Gewalt der Musik“ die Rede sein. Anders als seine Vorläufer und Zeitgenossen zeigt Kleist, dass mitunter die Geisteskrankheit geradezu eine Bedingung der Möglichkeit des Wissens sein kann – und zwar aus Gründen,

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Einleitung die mit der Natur der Bedeutung als dem Medium des Wissens zu tun haben, es nur eben kaum je herauszufinden ist, wann das der Fall ist. Doch ist wiederum Schiller noch in einer anderen Hinsicht für das Projekt einer Literarischen Epistemologie bedeutsam, dadurch nämlich, dass er nicht nur den eigentlich philosophischen Begriff der Subjektivität, sondern auch den des Ästhetischen so reformuliert, dass dieser nicht länger als ein Hinweis auf die Limitierung, sondern vielmehr als Bedingung der Möglichkeit eines Wissens zur Geltung kommt, ja geradezu ein Kampfbegriff gegen die seit der Aufklärung betriebene Domestizierung des Wissens in der philosophischen Erkenntnistheorie zu sein scheint. Das mag sodann ein eher spekulativer, Implikationen offen legender Gebrauch zeigen, den ich von dem vielleicht bekanntesten Satz der Schillerschen Ästhetik machen werde, demzufolge der Mensch nur da ganz Mensch sei, wo er spielt (Was ist die Kunst? Was ist der Mensch? Die ästhetische Erkenntnis des Menschen). Diese Aufwertung des Ästhetischen als eines Mediums des Wissens ist aber letztlich nur plausibel zu machen, wenn, was das Ästhetische ausmacht, auch vom Ästhetischen, von der Kunst und namentlich von der Poesie her gedacht werden kann; eben das soll in dem Kapitel Poetische Schlussverfahren: Georg Büchners Ästhetik geschehen, indem deutlich wird, dass die Kunst als ein Medium des Wissens verstanden werden kann, wenn man bereit ist, zuzugestehen, dass sie uns eine besondere, nicht durch die Gesetze der klassischen Logik limitierte Weise des Schließens ermöglicht, die z.B. beherrschen muss, wer über ein intuitives Wissen verfügt. Eine an besondere sprachliche Vorgaben – den Vers – gebundene Form des Schließens, die ihrerseits gerade die sprachliche Form wie keine andere literarische Gattung in den Vordergrund rückt, ist die Lyrik. Das erste der drei sich dieser Gattung widmenden Kapitel Wirkungsgeschichte als Wissensgeschichte: Mörike und einige seiner modernen Nachfahren geht der Frage nach, wie die Lyrik in der Nachfolge Mörikes mit einem der epistemologischen und zugleich poetologischen Kernprobleme – wie aus dem Nichts ein Etwas, aus dem Nicht-Wissen ein Wissen, aus dem Schweigen ein Sprechen wird – umgeht, wie sie dabei Mörike zu überbieten sucht, zum Teil aber immer noch hinter ihm zurückbleibt. Eine schon zu Mörikes Zeiten absehbare Folge dieser Reflexion auf die allgemeinen Bedingungen des poetischen Wissens war die Kritik eben der philosophischen Metapher, die das Erkennen als ein Widerspiegeln und das Bewusstsein als einen, wie Richard Rorty das dann nennen wird, Mirror of Nature versteht (Der philosophische und Rilkes poetischer Spiegel des Bewusstseins). Was aus dieser Kritik hervorgeht, ist dann nicht weniger als ein eigenes lyrisches Verständnis des Meta-

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Die poetische Erkundung der wirklichen Welt phorischen, eine lyrische Theorie der Metapher, dargestellt an Bertolt Brechts Buckower Elegie Tannen. Hier zeigt sich dann vielleicht am deutlichsten, was es heißt, die alte philosophische Frage, Wie ist epistemische Kreativität möglich? mit poetischen Mitteln zu beantworten; und es heißt, jedenfalls bei Brecht, zu zeigen, dass wir, wenn wir erkennen wollen, gar nicht anders können, als uns des Metaphorischen zu bedienen. Doch obwohl das Buchstäbliche dann nicht mehr länger ein Ideal der Erkenntnis sein kann, gibt es Beispiele, bei denen es fraglich wird, wie weit die epistemische Kraft der Metapher reicht. Eines dieser Beispiele ist die Psychoanalyse, ein anderes sind die ins Anthropologische und Politische reichenden Schlüsse, die Gottfried Benn aus seinem poetisch-metaphorischen Gebrauch der Sprache zieht (Psychoanalyse und Poesie im Gespräch über Geist und Gehirn). Gerade im Bereich des Politischen aber, das mögen die letzten beiden Kapitel vor Augen führen, ist die in der Erkenntnistheorie des 19. Jahrhunderts so sehr bemühte Trennung des Wissens vom Werten oder des Bewertens vom Beschreiben nicht aufrechtzuerhalten. Das zeigen zunächst Franz Kafka und Jorge Louis Borges, indem sie das, was der Erkenntnistheorie ehedem (bei Kant) als „reine Form der Anschauung“24 galt, die Zeit, in reine Gewalt verwandeln, damit aber eben zeigen, dass Gewalt nichts Gegebenes, sondern eine notwendige, mithin, auch in der Kunst, unvermeidliche Form der Anschauung ist (Ist Gewalt ästhetisch gerechtfertigt? Der (vorweggenommene) Einwand Kafkas gegen Jorge Louis Borges). – Was aber geschieht, wenn reine Gewalt nicht mehr als ästhetische Gewalt, sondern als politische Gewalt erlebt wird – wie etwa im Holocaust? Es ist das letzte Kapitel, Und jenseits von Europa: Das deutsch-jüdische Theater George Taboris, das die Konsequenzen dieser Politisierung des Epistemischen und Ästhetischen auszuloten versucht und zu dem – vorläufigen – Schluss kommt, dass am Ende noch einmal der Anfang, die große Erzählung von Europa, die einst das Projekt einer Literarischen Epistemologie möglich gemacht hatte, auf dem Prüfstand steht.

24 KrV B 34f.

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ZUR VORGESCHICHTE: DIE MOSAISCHE UND DIE EUROPÄISCHE

UNTERSCHEIDUNG

Auch die Literarische Epistemologie hat eine Vorgeschichte. Sie hängt mit Europa zusammen. Ja, man kann sogar behaupten, die Literarische Epistemologie sei ein im Grunde europäisches Projekt, wenn man damit sagen will, dass erst ein bestimmtes Selbst- und Weltverständnis geschaffen werden musste, ehe man sich daran machen konnte, Literatur nicht nur als ein Mittel zur Erzielung ästhetischen Genusses, sondern als ein Instrument zur Gewinnung von Erkenntnissen einzusetzen. Doch wenn man sich über Europa, über den Kontinent, über die Idee Europas, vor allem aber über die spezifisch europäischen Projekte Gedanken macht, ist das Ende dieses Nachdenkens zumeist ein ratloses. Dieses aber, dass Europa all diejenigen, die über diesen Begriff, diese Idee, diesen Kontinent und die mit ihm verbundenen Vorhaben nachdenken, schon immer so ratlos zurücklässt, hängt damit zusammen, dass Europa immer schon mehr und anderes war als ein Kontinent oder ein politischer Begriff, nämlich eine bestimmte Weise, von sich zu erzählen, sich auf dem Wege des Erzählens in der Welt zu verorten. Wenn das so ist, so fragt man sich nicht erst heutzutage, wie verhält es sich dann mit dem, wovon Europäer gerne behaupten, dass es sie als Europäer auszeichnet? Wie steht es unter diesen Umständen um die Europa so kennzeichnenden Projekte der Wissenschaft und des technologischen Fortschritts, wie um die europäische Idee der Demokratie, wie um das mit dem Namen Christoph Kolumbus begonnene Projekt der Erschließung des Erdkreises? Nun handelt es sich bei diesen Projekten um Erfindungen, die Menschen dazu benutzen, um sich zusammenschließen – sei es zu politischen, ökonomischen, intellektuellen oder irgendwelchen anderen Zielen. Die Inhalte der vorgeblichen Ziele und Zwecke sind (wie die europäische Geschichte zeigt) austauschbar, das Verfahren ist es nicht: Immer werden Zuschreibungen getroffen, um sich als Teil eines oder mehrerer der genannten Erfindungen und Projekte als Europäer beschreiben zu können.

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Die poetische Erkundung der wirklichen Welt Dabei handelt es sich um Zuschreibungen, die zugleich gemeinschaftsbildende Akte der Welt- und Selbstdarstellung sind – oder auch: um Akte, in denen sich ein kollektives Selbst in einer Welt darstellt, die kein Ort ist, der es ratsam erscheinen lässt, lange alleine zu bleiben. Als Ergebnis solcher erzählerischen Akte entsteht, soziologisch gesprochen: Gesellschaft, philologisch gesprochen: Sinn. Das aber bedeutet: Sinn gibt es nicht, er wird geschaffen. Und zwar aus einem Bedürfnis heraus, das befriedigt wird: durch Erzählungen. Solche Erzählungen, in denen Einzelne sich, weil sie von der Wahrheit ihres Inhalts überzeugt sind, zu Gemeinschaften zusammenschließen, reagieren auf zwei im Ursprung philosophische (und dort ehemals im Rahmen der klassischen Metaphysik verhandelte) Fragen, die sich im Lauf der Geschichte jedoch immer deutlicher als poetologische, die Form des Erzählens betreffende (und daher auch philologisch höchst brisante) Fragen entpuppt haben. Die erste dieser Fragen lautet: Wie gehen Menschen mit der Ungewissheit um, die sie bezüglich der letzten Gründe des Seins oder, weniger prätentiös gesprochen: der Welt haben? Die zweite, nicht minder anspruchsvolle Frage heißt: Was ist eigentlich dafür verantwortlich, dass Menschen sich auf bestimmte Überzeugungen bezüglich der Welt, in der sie als Menschen existieren, festlegen? Ist es die Welt selbst? Ist es eine ominöse, Wahrheit genannte Kraft? Sind es rationale Gründe, Konventionen oder vielleicht doch nur geheime Wünsche, die dafür verantwortlich sind, dass Menschen Vorstellungen und Gedanken zu Überzeugungen werden lassen? Nun hat sich gezeigt, dass monotheistische Erzählungen in besonderem Maße dazu geeignet sind, mit diesen beiden (weil sie das Sein im Ganzen betreffen) eigentlich metaphysischen und, auch wenn wir das heute gerne verdrängen, zutiefst beunruhigenden Fragen umzugehen. Denn monotheistische Erzählungen geben eine sehr präzise Antwort auf die Frage nach den verborgenen letzten Gründen des Seins, und die lautet schlicht: der eine Gott ist dieser letzte Grund. Sie machen aber auch deutlich, was Menschen dazu bewegt, sich auf bestimmte Überzeugungen festzulegen – nämlich: die Möglichkeit, sich, das eigene Selbst in eine verheißungsvolle Erzählung einzuschreiben. Eine dieser verheißungsvollen Erzählungen führt zurück zu den monotheistischen Ursprüngen Europas. So fängt alles mit einer Erzählung an, mit der Erzählung von einem ägyptischen Pharao, Ramses II, der, soviel scheint historisch verbürgt, im 12. vorchristlichen Jahrhundert die in seinem Herrschaftsbereich sich ausbreitenden und, wie er glaubt, seine Herrschaft bedrohenden Hebräer, sie hatten sich hundert Jahre zuvor auf der Su-

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Die mosaische und die europäische Unterscheidung che nach Wasser und Nahrung in Ägypten angesiedelt, auf eine besonders grausame Art dezimieren möchte. Er befiehlt nämlich, den Müttern die männlichen Erstgeborenen zu entreißen und diese zu töten. Eine dieser Mütter, eine levitische Sklavin, verfällt in ihrer Not auf eine sonderbare Idee. Sie nimmt ein Binsenkästchen, dichtet es mit Pech und Teer ab, legt ihren Knaben hinein und setzt ihn im Schilf des Nilufers aus. Bald darauf kommt eine junge Frau, es ist keine andere als die Tochter des Pharao. Sie möchte baden, im Nil. Da entdeckt sie das Kästchen und bemerkt sofort: der schreiende Säugling, der darin liegt, muss ein Hebräerkind sein. Und nun geschieht in ihr etwas, ohne das die Menschheitsgeschichte wahrscheinlich nicht den Lauf genommen hätte, den sie genommen hat: denn ihr Mitleid obsiegt über ihr Pflichtgefühl, und das bedeutet: Sie liefert das Kind nicht dem Pharao aus, sondern errettet es und gibt ihm einen Namen: Moses. Dieser Moses wächst fortan im Hause des Pharao auf. Auch das hat weit reichende Konsequenzen: Moses ist von Geburt Hebräer, von Erziehung, Ausbildung und Kultur aber Ägypter. Doch für den erwachsenen Moses gibt seine biologische Herkunft den Ausschlag – gezwungenermaßen. Denn eines Tages erschlägt er, vielleicht in einem Racheakt, einen Ägypter – und wird von nun an verfolgt, als Hebräer. Das lässt ihn aufbegehren gegen die brutale Unterdrückung, die sein Volk, die Hebräer, durch die Ägypter erfährt. Er wird zu ihrem Anführer und bedrängt nun den Pharao, dass er den Hebräern die schwere Arbeit am Bau der Paläste und Pyramiden ersparen möge, zumindest für die Tage, an denen sie ihrem Gott opfern wollen. Der Pharao weigert sich. Doch Moses hat einen Gott auf seiner Seite. Ihn muss selbst der von den Seinen als Gott verehrte Pharao fürchten; denn der Gott des Moses überzieht nun das Volk der Ägypter mit fürchterlichen Plagen und tötet schließlich, als der Pharao noch immer nicht nachgibt, die Erstgeborenen – nicht die der Juden (die diesen Umstand heute noch im Pessachfest feiern) sondern, man beachte die Inversion des Geschehens, die der Ägypter. Von nun an, das ist klar, ist an ein Zusammenleben von Ägyptern und Hebräern nicht mehr zu denken. Und da Moses, so die Legende, der eine Gott im lodernden Dornbusch erschienen ist und ihm verkündet hat, er, Moses, werde das von ihm auserwählte Volk der Herbräer aus dem Land der Ägypter heraus – und in sein Land, in das Land des Herrn führen, versammelt Moses die Seinen hinter sich und führt sie durch die Wüste in das gelobte Land, viele entbehrungsreiche Jahre lang. Dieses Heldenepos von Moses, dem hebräischen Ägypter, gilt als Gründungsmythos des Monotheismus.1 Denn es hält sowohl auf die 1

Nicht Abraham oder Jakob, erst Moses wurde diese Ehre zuteil. Ein Grund dafür mag in seinem Gebrauch der Religion zu politischen Zwecken liegen, ein anderer in der großen Anzahl von Legenden, die sich seit je her gerade

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Die poetische Erkundung der wirklichen Welt Frage nach den letzten Gründen des Seins wie auch auf diejenige nach den Gründen für die dieses Sein betreffenden Überzeugungen ein und dieselbe Antwort bereit: es ist Jahwe, der das Geschehen bestimmt und es ist Jahwe, der dem Menschen mitteilt, dass er es tut. Das mag so sein – doch was hat das mit Europa zu tun, ich sollte sagen: mit dem Bild, das sich in einer bestimmten geographischen Region aufgewachsene oder aus dieser Region her stammende Menschen von sich, von ihrem kollektiven Selbst machen? Denn offenbar kann der Monotheismus ja weder als eine Erfindung der Europäer gelten (sondern allenfalls der Ägypter oder Hebräer), noch ist die in Europa dominierende Religion, das Christentum, eine im strengen Sine monotheistische Religion; nicht erst die inflationären Heiligsprechungen des Katholizismus, bereits der dreifaltige Gott, so von je her der Einwand des Islam, demonstriert diesen Umstand. Doch hier unterliegen die Europäer von je her einem Selbstmissverständnis! Die Europäer sind Monotheisten – ich muss sagen: geblieben, und zwar deshalb, weil es ihnen gelungen ist, Gott aus der Sphäre der Religion zu befreien. Diese Befreiung geschah im Verlauf dessen, was ich eine zweite Achsenzeit nennen möchte. Diese zweite Achsenzeit am Ausgang des achtzehnten und zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts gestattete es einem Teil der Menschheit ein europäisches Selbst auszuprägen, und damit meine ich: von sich in einer Weise zu erzählen, die dem Polytheismus zu einer neuen Blüte verhalf und dabei das Kunststück fertig brachte, den Glauben an den einen Gott beizubehalten. Und es ist unschwer zu erkennen: damit ein solches Kunststück gelingt, müssen Menschen in der Lage sein, in einer sehr ausgefeilten und raffinierten Weise von sich zu erzählen – und, nicht zu vergessen, sich in diesem Erzählen auf Überzeugungen festzulegen, die die Welt im Ganzen betreffen.2 Wir berufen uns deshalb, wenn wir von uns als Europäer erzählen, noch heute nicht auf bestimmte Inhalte, sondern auf eine bestimmte, Gemeinschaft bildende Form des Erzählens – und weil es eben (nur) eine Form ist, tun sich Europäer immer so schwer, wenn sie die Gehalte angeben sollen, die sie mit anderen Europäern verbinden. Doch es ist genau diese Form, die wir verwenden, um von uns als Europäer zu erzählen, die ihren Ur-

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um die Moses-Gestalt ranken und die bereits apokryphe Texte (wie etwa die Midraschim) dokumentieren. Jedenfalls scheint die Popularität von Moses als literarischer Gestalt einiges zur Verbreitung monotheistischen Gedankenguts beigetragen zu haben. Dabei ist wichtig zu bemerken: Das Festlegen von Überzeugungen geschieht in Erzählungen nur zum Teil explizit. Die Überzeugung, dass Kafkas Romane nicht im zweiten vorchristlichen Jahrhundert spielen, wird in keinem seiner Romane explizit dementiert – und doch wird sie es.

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Die mosaische und die europäische Unterscheidung sprung in der Form der monotheistischen Erzählung hat, wie sie in einer ersten Achsenzeit um das sechste und siebte vorchristliche Jahrhundert zum ersten Mal verfasst wurde. Monotheistische Erzählungen gebrauchen dabei eine Unterscheidung, der Jan Assmann den Namen mosaische Unterscheidung gegeben hat.3 Sie besagt, dass mit dem ersten Gebot – Du sollst keine Götter neben mir haben – nicht nur zwischen dem einen Gott und den vielen Göttern unterschieden wird, sondern auch zwischen wahren und den falschen Überzeugungen, die diesen einen Gott oder: die Einheit des Seins im Ganzen betreffen. Während deshalb die griechischen Götter ohne weiteres in römische Gottheiten verwandelt werden konnten, widersetzt sich der Gott des Monotheismus einer derartigen Transformation und gestattet es dadurch all jenen, die sich auf ihn als den einen und einzigen Gott verpflichten, sich als Gemeinschaft zu verstehen – durch den Ausschluss all der anderen, der Ungläubigen. Eine mosaische Unterscheidung trifft man daher nicht nur im Denken, auch nicht allein im Erzählen, sondern im Bereich des politischen Handelns. Und diese religiöse Unterscheidung als eine politische treffen zu können stellt gewiss eine der bedeutendsten Kulturleistungen dar, die monotheistische Erzählungen – die mosaische ist nur eine unter ihnen – erbracht haben. Doch um die Effizienz dieser monotheistischen Erzählungen zu begreifen, gar um zu verstehen, wie sehr noch das Selbstbild der Europäer im 21. Jahrhundert von der in ihnen propagierten mosaischen Unterscheidung geprägt ist, muss man sich vor Augen führen, dass es bereits in der ersten Achsenzeit gelungen war, diese Erzählungen so zu verfassen, dass sie ihr Publikum davon zu überzeugen vermochten, dass es sich bei ihnen um wahre und gerechtfertigte Erzählungen handelte, indem sie auch noch die Akte ihrer Beglaubigung erzählten. Allein dadurch konnten sie fortan als heilige oder geoffenbarte Schriften gelten. (Daran aber zeigt sich, dass mit der mosaischen Unterscheidung nicht lediglich die Unterscheidung zwischen Wahrem und Falschem im Bereich des Religiösen – und Politischen getroffen wurde, sondern ebenso die Unterscheidung zwischen Faktischem und Fiktionalem im Bereich der Literatur. ) Während und natürlich in der Folge der ersten Achsenzeit gelingt es den Menschen dann immer besser, die mosaische Unterscheidung so zu gebrauchen, dass sie sich über einen Gott, eine Wahrheit und eine wahre Erzählung miteinander zu einem gemeinsamen Selbst zusammenschließen können. Dieses Selbst ist weder ein Gott noch ein logisches Konstrukt, es unterliegt auch nicht dem

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Vgl. Assmann (2003 a) u. ders. (2003 b).

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Die poetische Erkundung der wirklichen Welt Bilderverbot, nein, es ist ganz und gar von dieser Welt. Das bemerkt man auch daran, dass sich mit Hilfe dieses neu entstehenden Selbstbildes im Reich des Körperlichen, bereits in dieser Welt also, eine weitere Unterscheidung treffen lässt – am Anfang nur mit Mühe, mit der Zeit aber immer besser: nämlich die Unterscheidung zwischen Afrikanern und – noch nicht Europäern – sondern Eurasiern oder: Afrikanern einerseits, Europäern und Asiaten andererseits. Der vordere Orient und Europa beginnen, darauf will ich hinaus, sich im Verlaufe der ersten Achsenzeit, und die Folgen davon sind bis heute spürbar, von Afrika loszusagen. Und den Anfang dieser Lossagung macht Moses, der sich mit den Seinen aufmacht ins gelobte Land und die polytheistischen Ägypter in Afrika zurücklässt. Jene von Afrika herkommende, aber in einem Akt der Lossagung von Afrika vollzogene Ausbildung eines eurasischen Selbstbilds wird, paradox genug, begünstigt von einem im Bilderverbot der monotheistischen Religionen angelegten Abstraktionsprozess: Nicht das Konkrete, nicht das Sichtbare zählt; es kommt auf dasjenige an, was dahinter verborgen liegt: die reine Wahrheit, der unsichtbare Gott.4 Bilder hingegen, erst recht die von anderen Göttern, geben dann nur vor, etwas zu sein, was sie nicht sind. Das macht sie zu Götzen. Mit dieser strukturellen Entwertung der Wirklichkeit, des Diesseits geht die Aufwertung eines unsinnlichen und daher auf die Vermittlung von eingeweihten Erzählern angewiesenen Jenseits einher. Nun ist es Transzendentes, das dafür verantwortlich ist, dass in dieser Welt die Dinge so sind, wie sie sind. Doch irgendwann konnte es nicht mehr genügen, dass sich Erzähler auf ein Offenbarungs- oder Erleuchtungsgeschehen beriefen. Zu einer Rechtfertigung von Überzeugungen waren Großerzählungen, die allein auf die Autorität ihrer Schöpfer vertrauten, eben das zeigte sich in der Zeit um 1800, immer weniger in der Lage. Nun benötigte man in immer mehr Bereichen des sozialen Lebens rationale Verfahren, empirische Praktiken, nicht Autoritäten, um Wissensansprüche zu rechtfertigen.5 Aber der für die zweite Achsenzeit entscheidende Wandel besteht in einem Wandel der Perspektive: Nun werden Gehalte als dargestellte oder repräsentierte Gehalte genommen. Das, was man gewohnt ist, als europäische Säkularisierung, Rationalisierung, Modernisierung und Ausdifferenzierung des sozialen Systems zu beschreiben, ist ohne diesen sich über Jahrhunderte anbahnenden und eben um 1800 vollzogenen Perspektivewechsel nicht denkbar. Nun wird die Frage, warum etwas überhaupt ist und warum es so 4 5

Freud spricht in diesem Zusammenhang von einem „Triumph der Geistigkeit“; ders. (1974), S. 559. Der Geniekult macht da, es war schon davon die Rede, um 1800 noch eine bedeutende Ausnahme.

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Die mosaische und die europäische Unterscheidung ist, wie es ist, tendenziell unter der Annahme beantwortet: weil es so und so dargestellt wird, weil das Gehirn es so erscheinen lässt, weil es in diesem sozialen Subsystem als ein solches funktioniert, weil es sprachliche so beschrieben wird – usw. Auch um 1800 hatte diese Logik bereits weit reichende Konsequenzen. Denn sie ermöglichte es Europa, wir wissen nicht: wie lange, sich von Asien und, um genauer zu sein, vom Orient loszusagen und sich damit erst als Europa zu erschaffen. Das Kriterium, dessen sich die Europäer nun in ihren Erzählungen bedienten, um sich von den orientalischen Erzählungen – und natürlich gegenüber Afrika, das kaum Großerzählungen zu besitzen schien – zu unterscheiden, ist die erzählerische Reflexion auf den Umstand, dass die Welt ihren Bewohnern stets nur auf dem Wege der Repräsentation, mittelbar also zugänglich ist, dass Welt und Wirklichkeit etwas sind, das nicht unmittelbar gegeben ist, sondern erst erschlossen werden muss. Deshalb konzentriert Europa nun all sein Nachdenken und all seinen Erfindungsgeist auf die Mittel, in denen die Welt dem Menschen zugänglich werden kann – auch auf die technischen Mittel und Werkzeuge, da es aber um die Ausprägung eines kognitiven Selbstverständnisses geht, vor allem auf die Mittel, mit denen ein Selbst sich in der Welt darstellt – also auf Künste, Wissenschaften und die Philosophie, denn gerade sie sind kulturelle Großversuche zur Erforschung der Darstellbarkeit des Wirklichen.6 Um 1800, und damit meine ich fast ein ganzes Jahrhundert, nämlich die Zeit zwischen Aufklärung und Romantik, entwickelt man nun immer wieder neue Großversuche: es entsteht eine Philosophie des die Welt repräsentierenden Bewusstseins, es entstehen die Wissenschaften der Psychologie und Philologie, es kommt zu dem groß angelegten Projekt einer Geschichtsphilosophie, und die Künste werden für alles, was ihnen folgt, richtungsweisend, eben klassisch. In der Folge wird dann immer wieder anderes als Mittel des Weltzugangs oder, und hier ist das Englische genauer, zum way of worldmaking auserkoren. Und die an die zweite Achsenzeit sich anschließende Moderne trägt in ihren ästhetischen und theoretischen Avantgarden diesem Umstand dann Rechnung, indem sie an den Weisen unseres Weltzugangs immer wieder Neues zutage fördert: der Dadaismus bemerkt die Arbitrarität, der Futurismus die utopische Dimension und der Symbolismus die Bildhaftigkeit unseres 6

Anders als in Renaissance und Barock wird diese großangelegte und zu Beginn der Neuzeit bereits angelegte Erprobung von Darstellungstechniken nun zur Herausbildung eines kollektiven und jetzt auch säkularen Selbstverständnisses genutzt; die Erfindung der europäischen Nationalstaaten ist nicht zufällig eine Erfindung des 19. Jahrhunderts.

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Die poetische Erkundung der wirklichen Welt Repräsentierens, während der Positivismus an unseren Repräsentationen des Wirklichen die Buchstäblichkeit, der Dekonstruktivismus jedoch ihre Uneigentlichkeit oder Metaphorizität herauskehrt. Da jede dieser Avantgarden ihr eigenes Bild entwickelt – und genau an dieser Stelle bricht die Erzählung der europäischen Moderne mit der monotheistischen Tradition – entsteht jedoch der Eindruck, als handelte es sich dabei doch um eine (wenn auch nicht mehr im strengen Sinn theistische) Resurrektion des Polytheismus. Schaut man jedoch aus der Perspektive eines anderen Kulturkreises auf diese Entwicklung der europäischen Moderne, so zeigt sich die Beliebigkeit der Götter, denen da gehuldigt wird. Keine der linguistic, semiotic oder iconic turns, die die Moderne kennzeichnen, keine der Verabsolutierungen einer Darstellungsweise durch die modernen Avantgarden hat den Absolutheitsanspruch, den sie einst geltend gemacht hatten, je einlösen können. Jeder dieser Zugriffe aufs Ganze, das ist längst klar, bleibt partikular. Und es ist dieses Scheitern im Zugriff auf das Ganze des Seins, das dann in unseren Tagen das moderne Europa zu einem melancholischen Europa machte. Diese Melancholie wird die Postmoderne dann ein kurzes Jahrzehnt lang in Heiterkeit und Ironie verwandeln, aber spätestens an 9/11 war der Zeitpunkt gekommen, an dem sich die Europäer eingestehen mussten: sie verstehen die Welt nicht mehr. Doch für diese Ratlosigkeit der Europäer gibt es einen kulturwissenschaftlich klar zu diagnostizierenden Grund: Wenn die Erforschung der Repräsentationsweisen des Wirklichen nicht hinreicht, um Überzeugungen über die Verfasstheit des Seins im Ganzen zu rechtfertigen, dann scheint dieses Sein, ja nicht einmal das in ihm vorkommende Einzelne festzulegen, wie es repräsentiert werden, wie von ihm erzählt werden soll. Es gibt offenbar nichts an den Dingen oder Sachverhalten, womit diese eine bestimmende Kraft auf die Bilder ausüben, die wir uns von ihnen machen. Damit aber ereilt die Erzählung von der europäischen Moderne, die bisher alle, die sich jenseits von Abstammung und geographischer Herkunft als Europäer verstehen wollten, in ihren Bann gezogen hat, einen erheblichen Glaubwürdigkeitsverlust. Denn wenn die Welt keine ihrer Darstellungen bevorzugt, dann bevorzugt sie auch nicht den in Fragen der Darstellbarkeit der Welt stets skeptischen und daher säkularisierten Polytheismus der Europäer gegenüber der Darstellungsvergessenheit monotheistischer oder gar fundamentalistischer Optionen. Das ist natürlich ein für die Erzählung von einem aufgeklärten, modernen, europäischen Selbst desaströses und um 1800 selbstverständlich noch nicht vorhersehbares Ergebnis: Denn es stellt die Errungenschaften – und Europäer haben sie stets als solche be-

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Die mosaische und die europäische Unterscheidung trachtet – der zweiten Achsenzeit in Frage. Nun sieht es so aus, als sei alles, was Europa bleibt, der Versuch, sich ökonomisch gegenüber dem Rest der Welt zu behaupten, wenn es dazu, nach der globalen Enttäuschung über die Verheißungen des Sozialismus, schon ideologisch nicht mehr in Lage ist. Damit aber wird deutlich: Der Begriff Europa enthielt niemals nur eine geographische oder ethnische, sondern immer auch eine historische und ideologische Dimension. Wer von sich als Europäer erzählte, orientierte diese Erzählung stets am Gedanken eines historischen Fortschritts – vom Monotheismus der ersten zur Resurrektion des Polytheismus im Gefolge der zweiten Achsenzeit, poetologisch gesprochen: von der Orientierung auf Inhalte hin zu einer Orientierung an den vielfältigen Verfahren ihrer Darstellung. Doch Europa war im Gefolge der zweiten Achsenzeit niemals wirklich polytheistisch, ebenso wenig, wie es je völlig säkularisiert war. Der Glaube an eine Pluralität der Lebensstile, an Demokratie und freie Märkte sowie die heilsbringende Kraft der Vernunft war und ist für Europäer nicht verhandelbar. Doch die Nicht-Verhandelbarkeit dessen, was die meisten Europäer wahrscheinlich als unzweifelhafte Errungenschaften der europäischen Moderne und damit als Teil ihrer Selbstbeschreibung nicht aufgeben wollen, gestattet den Europäern auch die offensive Zurichtung der Welt nach ihren Maßstäben, mit anderen Worten: der Glaube der Europäer an ihre eigene Fortschrittsgeschichte befördert und beförderte die Selbstsicherheit, ja sogar Gewaltbereitschaft einer europäischen Inbesitznahme der Welt – mit politischen, ökonomischen, wissenschaftlich-technischen und immer auch ästhetischen Mitteln. In dieser Lage konnte es nicht anders sein, die Konfrontation mit der Wiederkehr des mosaischen Monotheismus in Gestalt des arabischen Fundamentalismus musste in den Europäern eine Erinnerung dessen bewirken, was sie über zwei Jahrhunderte hinweg so erfolgreich verdrängt hatten – dass sie nämlich immer Monotheisten geblieben waren. Zugleich aber wurde deutlich, worin das europäische Projekt, sich sowohl zum Monotheismus der Vernunft als zum Polytheismus der ways of worldmaking zu bekennen, gescheitert war: nämlich darin, die vielen Darstellungen der Welt in verbindliche Überzeugungen zu verwandeln. Der Reichtum Europas, der in der Vielheit der geistigen wie sinnlich-bildhaften Formen besteht, die Europäer zur Darstellung des Wirklichen hervorgebracht haben, ist daher nur die Kehrseite seiner Armut: Europa hat die Welt wie auch sich selbst mit Bilden überflutet, aber es gibt kaum jemanden, der noch bereit ist, an sie zu glauben.

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Die poetische Erkundung der wirklichen Welt Was aber machen die Europäer jetzt, da sie einsehen müssen, welch desaströse Konsequenzen ihr Verzicht auf eine Vermittlung von Mono- und Polytheismus hat und sie sich so unverhofft wieder mit einer eigentlich metaphysischen Frage konfrontiert sehen, der Frage nämlich, wie man sich in einer Welt, die die letzten Gründe des Seins so beharrlich vor ihren Bewohnern verbirgt, auf gemeinsame Überzeugungen über diese gemeinsame Welt festlegen soll? Wenn es hier einen wie auch immer schwachen Hoffnungsschimmer geben sollte, dann könnte er von der persuasiven und zugleich epistemischen Kraft der Literatur herrühren. – Gerade dann, wenn man berücksichtigt, dass Überzeugungen nur in Ausnahmefällen durch die Kraft des besseren Arguments, beinahe immer aber erzählend festgelegt werden. Kaum ein Autor von Rang käme daher heute noch auf die im Raum des Politischen so beliebte Idee, Europäern eine alte Metaphysik, eine kommode Religion oder als Ausdruck größter Hilflosigkeit: neue Werte zu verschreiben. Nein, die Poesie ist hier um vieles klüger. Denn sie weiß, dass sich Überzeugungen über Natur und Gestalt des Seins im Ganzen – das hat ihr das Scheitern der Avantgarden gezeigt – nicht aufoktroyieren lassen. Sie können allenfalls im Laufe der Zeit eingeübt werden – individuell und kollektiv zugleich. In diesem Zusammenhang ist kollektiv ein Wort, das hier nicht nur im weitest möglichen Sinne, sondern auch so zu verstehen ist, dass es einen Mangel offenbar werden lässt: eben den Mangel, der darin besteht, dass wir zwar in einer sich politisch, ökonomisch und medientechnisch globalisierten (im Sinne von: entgrenzten) Welt leben, es jedoch in dieser Welt nicht einmal ansatzweise so etwas wie eine gemeinsame Erzählung gibt, in die sich all diejenigen, die sie bewohnen – einige davon Europäer – einschreiben können. Warum sollte, wer, weil er nicht auf Ökonomie, Recht, Politik oder gar Hollywood vertrauen möchte, wenn es darum geht, eine solche gemeinsame Erzählung zu schaffen, stattdessen nicht auf die Literatur vertrauen? Gründe dafür hätte er allemal, zumal dann, wenn er mit Friedrich Schiller, einem der Wegbereiter einer aufgeklärten, modernen Literarischen Epistemologie nicht mehr länger unterscheidet – zwischen überreden und überzeugen: Als Moses, so schildert ihn Schiller in seiner Sendung Moses, in die ägyptischen Mysterien eingeweiht und hinter all den Hieroglyphen und Bildern der unanschaulichen Natur des höchsten Wesens gewahr wurde, da erkannte er sogleich die Unmöglichkeit, sein Volk, die Hebräer, von diesem wahren, aber ganz und gar abstrakten Gott zu überzeugen; und da wusste Moses, so Schiller, plötzlich:

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Die mosaische und die europäische Unterscheidung „Für diese Wahrheit sind [...] ihre Verstandeskräfte noch zu stumpf; er [sc. Moses] kann sie also nicht auf dem reinen Weg der Vernunft in ihre Seele bringen. Da er sie nicht überzeugen kann, so muß er sie überreden, hinreißen, bestechen. Es bleibt ihm also nichts übrig, als ihnen seinen wahren Gott auf eine fabelhafte Art zu verkündigen.“7

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Schiller, Die Sendung Moses, in ders. (2004), Bd. IV, S. 783-804, ebd. S. 799f.

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IST LITERATUR EIN MEDIUM? HEINRICH VON KLEISTS ÜBER DIE ALLMÄHLICHE VERFERTIGUNG DER GEDANKEN BEIM

REDEN UND DER MONOLOG DES NOVALIS

Doch damit Literatur in Ihrem Überreden überzeugend sein kann, muss zuvor eine Frage geklärt werden, die nämlich, ob man behaupten kann, Literatur gebe uns etwas zu wissen? Sogar all diejenigen, die Literatur, den Umgang mit Literatur in ganz besonderer Weise zu schätzen wissen – vielleicht, weil sie die Gewissheit in sich verspüren, sie lernten etwas bei der Lektüre literarischer Texte, etwas ganz Besonderes sogar (über die Welt, über sich oder worüber auch immer) – auch sie geraten, wenn sie gefragt werden, was es denn sei, das sie da in Erfahrung bringen, oder wenn sie gebeten werden, das besondere Wissen, dessen sie bei der Lektüre literarischer Texte teilhaftig werden, zu explizieren, in ganz erhebliche Sprach- und Erklärungsnot – meist mit der Konsequenz, dass nach all den dabei gegebenen Beteuerungen und Begründungen ein irgendwie unbefriedigendes Gefühl zurückbleibt. Können wir, möchte ich deshalb fragen, dennoch daran festhalten, dass Literatur, dass, denn das meine ich im Folgenden immer, wenn ich „Literatur“ sage: Dichtung eine besondere Art des Wissens enthält oder vermittelt? Können wir mit guten Gründen davon überzeugt sein, dass die Literatur ein auch in epistemologischer Hinsicht anspruchsvolles Projekt ist – ein Projekt, das, wer weiß, vielleicht so anspruchsvoll ist, dass es mit anderen wissenschaftlichen oder erkenntnistheoretischen Projekten konkurrieren kann? Auf diese Frage eine Antwort zu versuchen ist ein Unternehmen, das nur Aussicht auf Erfolg hat, wenn es dem traditionellen Bild, das die Literaturwissenschaft von ihrer epistemologischen Situation, und damit zugleich von der Art des literarischen Wissens entwirft, mit Skepsis gegenübersteht.1 Diesem Bild zufolge ist Literatur 1

Mein Verdacht ist, dass Geuss (2003), nur weil er sich noch von diesem Bild leiten lässt, eine so geringe Meinung von der epistemischen Kraft der Literatur haben kann.

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Die poetische Erkundung der wirklichen Welt ein Medium der Erkenntnis. Das heißt, man stellt sich vor, dass der Geist des Literaturwissenschaftlers und die Welt der spezifisch literarischen (nicht-buchstäblichen) Bedeutungen getrennte Sphären sind, die im Medium der Literatur miteinander vermittelt würden. Nur auf der Grundlage dieses Bildes konnte sich die Literaturtheorie überhaupt als eine Unternehmung profilieren, die zu erklären vorgab, auf welche Weise sich dieses meist unbewusste, meist unbeobachtete Vermittlungsgeschehen vollzieht. Und die mittlerweile hundertjährige Geschichte der Literaturtheorie zeigt, dass man für diese Vermittlungsleistung dann offenbar zahllose Repräsentationsarten oder Verfahren verantwortlich machen kann – Zeichen, Strukturen, performative Akte und vieles mehr. Und der berückende Charme des Dekonstruktivismus bestand dann darin, dass er uns glauben machte, der Durchgang durch das Medium der Literatur gelange nie an ein Ende – weshalb die Literatur eine der seltenen Gelegenheiten sei, an dem unser endliches Dasein sich eines Unendlichen vergewissern könne. Nun mag es aber sein, dass nichts dergleichen passiert. Es kann sein, dass, wer die Frage stellt Wie können wir etwas über Literatur wissen? niemals bis zu der Antwort auf die Frage gelangt, ob Literatur etwas weiß, jedenfalls solange nicht, als man an der traditionellen Beschreibung der epistemischen Situation des Literaturwissenschaftlers festhält. Es kann sein, dass es da gar kein Wissen gibt, an dem der Leser literarischer Texte partizipieren könnte, denn vielleicht bedient sich, wer so spricht, nur einer Metapher, die ihm durch die allegorische Beschreibung der ursprünglichen epistemischen Situation des Literaturwissenschaftlers nahe gelegt wird. Was aber wäre dann? Was aber wäre Literatur, wenn sie kein (mehr oder weniger opakes) Medium der Erkenntnis wäre? Nun, es könnte sein, dass die Literatur dann zwar kein Medium, dafür aber so etwas wie ein Instrument oder ein Werkzeug wäre, mit dem wir einen bestimmten Zweck verfolgen könnten, z.B. den der Erkenntnis. Und es wäre möglich, dass literarische Texte darin Theorien gleichen, dass sie sich als Instrumente auffassen lassen, die man dazu verwenden kann, um mit ihnen Wissen zu erzeugen. Doch bestehen nicht die Zwecke von Werkzeugen oder Theorien unabhängig von diesen Theorien oder Werkzeugen? Kann man nicht beabsichtigen, einen Nagel an der Wand zu befestigen, um ein Bild daran zu hängen, ohne einen Hammer zur Hand zu haben? Kann man nicht zu erklären beabsichtigen, warum ein Apfel auf den Boden fällt, ohne eine Ahnung von der Gravitationstheorie zu haben? Ist daher das, was es an der (nicht: über die) Literatur zu wissen gibt, nicht von einer solchen Art, dass sich das zu Wissende überhaupt nicht in dem Maße von der Literatur trennen lässt, wie der

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Ist Literatur ein Medium? Zweck von einem Mittel? Könnte es nicht sein, dass diese literarische Untrennbarkeit von Mittel und Zweck, Sprache und Erkenntnis der Grund für die Sprachnot ist, in die wir geraten, wenn wir erklären sollen, worin das Wissen der Literatur besteht? Was aber sollte das dann für ein Wissen sein, das so eng an die Form seiner literarischen Darstellung gebunden ist, dass es sich kaum in die propositionale Sprache des Literaturwissenschaftlers übersetzen lässt? Was aber sollte das für ein Wissen sein, das einen Wahrheitswert schon deshalb nicht haben kann, weil es nicht in Gestalt von Urteilen auftritt? Um hier weiterzukommen, möchte ich einen Weg beschreiten, der in zwei Richtungen führt. Zunächst in das Gebiet einer in der Zeit um 1800 bei Autoren wie Schiller, Kleist, Schlegel und Novalis sich ausbildenden Gattung, die ich, da sie ob ihrer Namenlosigkeit bislang gezwungen war, ein Schattendasein zu fristen, gerne Poetologische Epistemologie nennen möchte. Die dieser Gattung zugehörigen Texte etablieren, vielleicht als Reaktion auf die Aporien der Wissenstheorien des deutschen Idealismus, einen sowohl philosophisch argumentativen als auch poetischen Diskurs um die Möglichkeit eines spezifisch literarischen Wissens – soll heißen: sie spekulieren über die Bedingungen der Möglichkeit Literatur als ein – ja, das ist tatsächlich so: Medium der Erkenntnis zu verstehen, und zwar als eines, das in der Lage ist, mit der Erkenntnistheorie, ja überhaupt mit theoretischer Erkenntnis zu konkurrieren. Anhand zweier dieser ‚erkenntnis-poetischen‘ Texte, der eine stammt aus der Feder Kleists, der andere aus der des Novalis, möchte ich sogleich die eine Richtung des angekündigten Weges beschreiten. Dass ich ihn jedoch nicht bis in die Gegenwart hinein fortsetze, sondern nach dem Monolog des Novalis verlassen werde, hängt damit zusammen, dass ich gerne noch die andere Richtung des Weges beschreiten möchte. Auch sie führt in die Gegenwart, auch sie nimmt ihren Ausgang bei Kleist und Novalis, aber sie befreit sich von der Vorgabe, im Medium des Literarischen denken zu müssen – und versucht, obwohl Literarische Epistemologen wie Kleist und Novalis behaupten würden, so etwas sei nicht möglich, gleichsam von außen auf Literatur als Medium des Wissens zu blicken, um so zu einem etwas anderen Verständnis der Literatur als Medium des Wissens zu gelangen. – Anders, das heißt hier: anders als das an die Gestalt von Aussagen oder Urteilen gebundene philosophische Medium der Erkenntnis. Was damit gemeint ist, mag deutlich werden, wenn man den Blick auf die ersten Sätze aus Heinrich von Kleists Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden richtet; die nämlich lauten:

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Die poetische Erkundung der wirklichen Welt „Wenn du etwas wissen willst und es durch Meditation nicht finden kannst, so rate ich dir, mein lieber, sinnreicher Freund, mit dem nächsten Bekannten, der dir aufstößt, darüber zu sprechen. Es braucht nicht eben ein scharfdenkender Kopf zu sein, auch meine ich es nicht so, als ob du ihn darum befragen solltest: nein! Vielmehr solltest du es ihm selber allererst erzählen.“2

Doch was sollte das für ein Wissen sein, das sich erst beim Erzählen einstellt, das man also nicht zuvor hat und danach erst in Worte kleidet? Was also heißt in diesem Fall, das Erzählen sei ein Medium der Erkenntnisgewinnung? Nun, es heißt zunächst, dass es sich um keine Erkenntnis handelt, die durch Meditation, also durch die von Descartes prominent gemachte Methode der Innenschau des Geistes gewonnen werden kann. Nicht Abstraktion von der Welt, nicht Abstraktion von den Begriffen, mit denen wir Welt darstellen, soll hier Wissen erzeugen, sondern die an Laut und Schrift gebundene poietische Sprache. – „Die Sprache“, heißt es bei Kleist dann, „ist alsdann keine Fessel, etwa wie ein Hemmschuh an dem Rade des Geistes, sondern wie ein zweites, mit ihm parallel fortlaufendes, Rad an seiner Achse“ (812). Es ist also nicht so, dass zuerst etwas im Geiste gewusst wird, für das im Nachhinein dann die richtigen Worte gefunden werden müssten, nein, das Wissen wird erst zusammen mit seinem sprachlichen Ausdruck erzeugt. Aber wird hierbei überhaupt so etwas wie ein Wissen erzeugt? Man kann ja im Verlaufe des Redens ins Fabulieren geraten und dabei auf die wahnwitzigsten Ideen verfallen, und man kann sich schließlich auch – Kleist selbst gibt Beispiele dafür – um Kopf und Kragen reden? Dennoch, bereits dem Anfang des ersten Satzes „Wenn du etwas wissen willst [...]“ ist zu entnehmen, dass es Kleist hier tatsächlich um ein epistemisches Projekt geht. Um sich über die Stoßrichtung dieses Projekts klar zu werden, ist es hilfreich, sich noch einmal des klassischen Wissensbegriffs zu erinnern, der besagt, Wissen sei eine Überzeugung, die sowohl gerechtfertigt als auch wahr sein müsse. Denn damit wird zugleich deutlich, dass um Wissensansprüche geltend zu machen, es nicht genügt, über Überzeugungen zu verfügen – auch nicht über kollektive Überzeugungen, wie die Anhänger Foucaults annehmen. Nein Überzeugungen, die gewusst werden, müssen darüber hinaus auch wahre Überzeugungen sein. Aber auch, wer eine wahre Überzeugung hat, verfügt deshalb nicht auch schon über ein Wissen. Denn seine Überzeugung könnte ja nur zufällig wahr sein (es ist fünf Ihr, jemand hat die Überzeugung, es sei fünf Uhr, aber er hat diese Überzeugung, weil er auf seine Uhr schaut, 2

Kleist (1966), S. 810. Alle weiteren Kleist- Zitate im Text folgen dieser Ausgabe.

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Ist Literatur ein Medium? die Tage zuvor just zu dieser Stunde stehen geblieben ist). Man muss, um etwas zu wissen, eine Überzeugung daher auch noch aus den richtigen Gründen haben, das heißt, sie muss nicht allein wahr, sondern auch noch eine hinreichend gerechtfertigte Überzeugung sein. Die nicht nur erkenntnistheoretisch, sondern auch für das Projekt einer Literarischen Epistemologie entscheidende Frage lautet daher: Wie rechtfertigt man Überzeugungen? Die schlechthin philosophisch-erkenntnistheoretische Antwort lautete bekanntlich: Mit Bezug auf die Gegenstände der Überzeugung. Und diese Gegenstände können dann empirischer Natur sein oder, wie etwa im Falle der Gerechtigkeit oder der Freiheit, idealer Natur, das heißt, sie können im einen Fall über die Wahrnehmung, im anderen Fall aber durch begrifflich-argumentative Analyseverfahren als Gegenstände des Wissens ausgewiesen werden. Was Platon (im zehnten Buch der Politeia) und zahlreiche Philosophen nach ihm an der Dichtung gering schätzen, ist nun bekanntlich deren Unfähigkeit, Überzeugungen zu rechtfertigen und damit Wissen generieren zu können. Und dass sie dazu nicht in der Lage sei, hängt eben, wie Platon nicht müde wird zu betonen, damit zusammen, dass sie keinen Bezug zu Gegenständen herstellen kann, die gewusst werden können. Denn entweder liefert der Dichter nur Abbilder von Abbildern oder er verfügt wie der Rhapsode Ion nicht über das notwendige Fachwissen: Sokrates zu Ion: „Da du nun über die Fragen der Heerführung Kenntnis besitzt, besitzt du diese Kenntnis insofern du eine Feldherrnnatur bist oder als guter Rhapsode? Ion: Das scheint mir keinen Unterschied zu machen. Sokrates: Wie? Das macht keinen Unterschied, sagst du? Hältst du für ein und dasselbe Fachwissen das des Rhapsoden und das des Feldherrn oder für zwei? Ion: Für ein und dasselbe, meine ich. Sokrates: Wer also ein guter Rhapsode ist, der ist damit auch ein guter Feldherr? Ion: Sehr wohl Sokrates.“3

In dieser unverhohlenen sokratischen Ironie begegnet uns eine (alles weitere erkenntnistheoretische Denken bestimmende) Implikation des Platonismus: die Gegenstände des Wissens existieren für Sokrates – nicht aber für Ion – bevor sie sprachlich Gestalt gewonnen haben. Damit führt Sokrates die – ich weiß keine zurückhaltendere Bezeichnung dafür – Tyrannei des Objektiven in die Geschichte des Denkens ein. Von nun an hat das Denken wie auch seine sprachliche Gestalt sich nach dem zu richten, was unabhän-

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Platon (1988), S. 37f.

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Die poetische Erkundung der wirklichen Welt gig von ihm existiert – sonst, glaubte man, und glaubt es noch heute, sei es nutz- oder gar sinnlos. Kleist gibt demgegenüber in seiner kleinen Schrift Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden zu bedenken, dass doch alles ganz anders sein könnte. Es könnte sein, dass es ein Wissen gibt, das sich im Medium der Sprache einstellt, und nur da. Ich sage, dass es sich im Medium der Sprache einstellt, zum einen deshalb, weil ich darauf hinweisen möchte, dass auch Kleist die Sprache für ein Medium hält (nur eben für keines, das zwischen Ich und Welt steht), zum anderen aber, weil sich in dieser kleinen Poetologischen Epistemologie noch ein anderer für das Projekt einer Literarischen Epistemologie höchst bemerkenswerter Satz findet; er lautet: „[...] nicht wir wissen, es ist allererst ein gewisser Zustand unsrer, welcher weiß“ (813, Hervorheb. ebd.). Um diese in ihrer Fixierung auf Gegenstände auch in den modernen Wissenschaften gerne vergessene Zustandsabhängigkeit des Wissens hat freilich schon Platon gewusst – die Schriftkritik im Phaidros beruhte ja auf der Einsicht, dass der Besitz und die Kenntnis sprachlicher Formulierungen nicht mit einem Wissen über das, wovon in ihnen die Rede ist, einhergehen muss.4 Doch im Unterschied zu Platon macht Kleist geltend, dass es eine eigene vom Zustand des Subjekts abhängige Sprachpraxis gibt, die, obgleich sie die Form urteilenden Sprechens verlässt, dennoch zu einem Wissen führt, und zwar zu einem, das nicht unabhängig von seiner sprachlichen Gestalt besteht. Aber was könnte das für ein Wissen sein? Offenbar ist es eines, das am Begriff des Wissens das Moment der Überzeugung und auch das der Rechtfertigung hervorkehrt, aber sich um das Moment der Wahrheit nicht bekümmert. (Und genau hierin, das sei sogleich mit Blick auf zeitgenössische Wissenstheorien von Brandom, Rorty oder Habermas gesagt, liegt seine eminente Aktualität begründet.)5 Mit dem Moment der Überzeugung geht nun einher, dass es ein Subjekt geben muss, das sich in einem bestimmten Zustand, nämlich dem des Überzeugtseins – und nicht etwa in dem des Zweifels oder des bloßen Meinens – befindet. Und genau auf diesen Zustand legt auch das Erzählen, legt auch die fiktive Dichtung ihren Akut. Das heißt, jedenfalls bei Kleist, dass das fiktionale Medium der Dichtung das Bewusstsein in einen Zustand versetzt oder zu versetzen sucht, in dem es für bestimmte Arten des Wissens oder bestimmte Sachverhalte, die man wissen kann, zugänglich wird. Und 4 5

Hierfür immer noch maßgeblich ist die Studie von Wolfgang Wieland (1982). Einen guten Überblick zum Stand der Diskussion geben: Vogel/Wingert (2003).

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Ist Literatur ein Medium? sowohl Kleists Essay Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden als auch derjenige Über das Marionettentheater charakterisieren diesen Zustand des Wissens als einen, in dem Bewusstsein und Sein oder Denken und Handeln übereinstimmen.6 Nun heißt, etwas zu wissen, aber mehr als nur, von dem, was man sagt, ganz und gar überzeugt zu sein. Die Einheit von Denken und Handeln ist noch kein Fall des Wissens; sie bedarf des Moments der Rechtfertigung. Und die spannende Frage, die Kleist aufwirft, lautet: Was heißt es, im Medium des Literarischen etwas zu rechtfertigen? Was immer es heißen mag, es muss heißen, Gründe für etwas geben zu können. Aber, so muss man sich fragen: Gründe wofür? Gründe für Überzeugungen etwa? Doch wozu immer man Literatur gebrauchen mag, für das Begründen von Überzeugungen oder gar Urteilen über Sachverhalte kann man sie offenbar gerade nicht gebrauchen. – Was also, so lautet die Frage nach den Möglichkeitsbedingungen des literarischen Wissens nun, heißt es, im sprachlichen Medium der Literatur, Gründe für Überzeugungen zu geben – und welcher Art wären diese Überzeugungen? Mit Bezug auf Kleist ließe sich hier vieles, ich will jedoch, da es mir um mehr als um Kleist, nämlich um das generelle Anliegen einer Literarischen Epistemologie geht, nur zweierlei sagen: zum Ersten dies, dass die Erzählungen Kleists, man denke nur an Das Erbeben in Chili, Das Bettelweib von Locarno oder die Marquise von O. auf eine ganz seltsame Art durchaus Gründe für Überzeugungen geben – nämlich dadurch, dass sie alle in diesen Erzählungen vom Erzähler oder den erzählten Figuren gegebenen Gründe dafür, dass geschieht, was geschieht, in Frage stellen. Wenn etwas fraglich ist in diesen Erzählungen, dann, warum in ihnen geschieht, was geschieht. Die Uneinsehbarkeit der Gründe des Geschehens ruft allererst die Literatur auf den Plan. Doch die Literatur ist deshalb nicht einfach vieldeutig. Zwar benennt sie nicht die Gründe des Geschehens, aber sie zeigt das Geschehen doch als eines, das Gründe hat – wenn auch vielleicht uneinsehbare, wenn auch vielleicht solche, bei denen man nicht behaupten kann, gerade sie seien die wahren Gründe. Wenn aber das Geschehen als eine Begründetes ausgewiesen wird, wird damit auch das Reich dessen, was überhaupt als Grund in Frage kommt, eingegrenzt. Gründe können so, auch ohne, dass sie benannt würden, bestimmt werden. Literatur gibt daher bereits bei Kleist durchaus Gründe für Überzeugungen, nämlich für Überzeugungen, die nicht explizit als solche formuliert, sondern erst aus der sprachlichen Gestalt dessen,

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In diesem Sinne auch schon: Kurz (1981).

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Die poetische Erkundung der wirklichen Welt was da explizit formuliert wird, erschlossen werden müssen. – Bei Kleist aber bleibt die Frage nach der Objektivität dieser über das Erzählte zu erschließenden Gründe offen. Es könnte sein, dass sie sich wie das Erzählte lediglich der subjektiven Einbildungskraft des Erzählers verdanken, dass sie also außerhalb des fiktionalen Erzählens überhaupt nicht als Gründe taugen. Es ist Novalis, der den Gedanken zu denken gibt, dass das Rechtfertigen, also das Geben von Gründen für Überzeugungen ein ganz und gar subjektives und dabei dennoch zugleich auch ein ganz und gar sprachlich objektiviertes Geschehen sein könnte. „Es ist eigentlich“, so lauten die ersten Sätze seines Monologs, „um das Sprechen und Schreiben eine närrische Sache; das rechte Gespräch ist ein bloßes Wortspiel. Der lächerliche Irrthum ist nur zu bewundern, daß die Leute meinen – sie sprächen um der Dinge willen. Gerade das Eigenthümliche der Sprache, daß sie sich blos um sich selbst bekümmert, weiß keiner. Darum ist sie ein so wunderbares und fruchtbares Geheimniß, – daß wenn einer blos spricht, um zu sprechen, er gerade die herrlichsten, originellsten Wahrheiten ausspricht. Will er aber von etwas Bestimmten sprechen, so läßt ihn die launige Sprache das lächerlichste und verkehrteste Zeug sagen.“7

Damit ist klar, wahrheitsfähig ist für Novalis schon einmal nur noch die Subjektivität der Sprache, ihre Darstellungsseite, nicht ihr Inhalt. Und das heißt wiederum: Auch Darstellungen können – wie Überzeugungen – wahr oder falsch sein. Worin aber liegt ihre Wahrheit begründet? Novalis schreibt dazu: „Wenn man den Leuten nur begreiflich machen könnte, daß es mit der Sprache wie mit den mathematischen Formeln sei – Sie machen eine Welt für sich aus – Sie spielen nur mit sich selbst, drücken nichts als ihre wunderbare Natur aus, und eben darum sind sie so ausdrucksvoll – eben darum spiegelt sich in ihnen das seltsame Verhältnißspiel der Dinge.“ (523)

Die Wahrheit der Darstellung hängt hier, darauf kommt es an, nicht von den Dingen ab, die sie benennt, und ich füge hinzu: sicher auch nicht von den Sachverhalten, die sie beschreibt, sondern lediglich davon, dass sich in ihr jenes „seltsame Verhältnißspiel der Dinge [spiegelt]“. Es ist eine (an Wittgensteins Tractatus erinnernde) Isomorphietheorie des Wissens, die Novalis hier entwirft, freilich ohne genau zu sagen, was er mit jenem auf der Darstellungsseite der Sprache sich abbildenden „seltsame[n] Verhältnißspiel der Dinge“ meint. Und er kann es seiner eigenen inhalts- und intentionalitätskritischen Theorie gemäß auch gar nicht sagen, er kann es nur zei7

Novalis (1995), S. 522. Alle weiteren Novalis-Zitate folgen dieser Ausgabe und sind im Text selbst ausgewiesen.

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Ist Literatur ein Medium? gen – oder darstellen. Das Darstellen ist eben im Reiche des Poetischen die Weise, in der Geltungsansprüche vertreten werden. Doch was hier darstellend zur Geltung gebracht wird, kann nicht einmal mehr, und dafür ist der Monolog berühmt geworden, durch das sprachliche Subjekt dieser Darstellung legitimiert werden: „Wenn ich damit“, heißt es bei Novalis weiter, „das Wesen und Amt der Poesie auf das deutlichste angegeben zu haben glaube, so weiß ich doch, daß es kein Mensch verstehn kann, und ich ganz was albernes gesagt habe, weil ich es habe sagen wollen, und so keine Poesie zu Stande kommt.“ (522f.)

Das aber heißt: Ist der fiktionalen Literatur eine Rechtfertigung des poetischen Wissens über ihren Bezug auf Gegenstände ohnehin schon versagt, so bleibt ihr nun auch noch die Rechtfertigung eines möglichen poetischen Wissens über das poetische Subjekt versagt. – Doch das stimmt nicht ganz. Nur insofern die Subjektivität des poetischen Subjekts vom Begriff des Bewusstseins her gedacht wird, soll heißen: nur insofern am poetischen Subjekt seine Freiheit herausgestellt wird, bloß subjektiv Gültiges und Vermeintes zu äußern, nur insofern an ihm also die Perspektivengebundenheit des Bewusstseins herausgestellt wird, muss ihm die Legitimität seiner Wissensansprüche versagt bleiben. Wird das poetische Subjekt hingegen als ein sprachliches aufgefasst, ist es, was es ist, nur von Gnaden der Sprache, so könnte doch alles ganz anders sein. Denn wenn das poetische Subjekt, wie Novalis dann schreibt, „[...] reden müßte [ ] und dieser Sprachtrieb zu sprechen das Kennzeichen der Eingebung der Sprache, der Wirksamkeit der Sprache [...] wäre“ (523), dann also, wenn das poetische Subjekt ein Ort der Erscheinung eines absoluten Subjekts – der Sprache – wäre, dann könnte das poetische Subjekt durchaus Wissensansprüche geltend machen. Das klingt, ich weiß es wohl, wie reine Spekulation. Es scheint in sich schlüssig zu sein, und doch drängt sich der Verdacht auf, es sei bloß ausgedacht. Dass sich im Rekurs auf das Sprechen der Sprache Wissensansprüche rechtfertigen lassen, ist in nachheideggerianischen, ganz und gar nominalistischen Zeiten längst ein Gedanke, den kaum jemand noch gewillt ist, ernst zu nehmen. Ich will diesem Gedanken nun aber allen Kredit geben, den ich zur Verfügung habe – und ich mache das, obwohl ich sehr wohl weiß, dass ich dazu nicht geringe Hypotheken werde aufnehmen müssen. Ich verlasse daher jetzt die zu Beginn eingeschlagene, mir von der Poetologischen Epistemologie Kleists und Novalis’ vorgegebene Richtung und versuche ihrem Anliegen nun selbst das Wort zu reden, so gut ich kann.

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Die poetische Erkundung der wirklichen Welt Was mich zuversichtlich macht, dass so etwas überhaupt gelingen könnte, ist die Tatsache, dass im gegenwärtigen philosophischen Wissensdiskurs Subjektivität, Sprache und Wissen aufs Engste miteinander verbunden werden. Wissen wird dann als ein Anspruch verstanden, den Subjekte (freilich keine absoluten Subjekte) sprachlich Geltung bringen. Eine solche Sicht der Dinge legt den Akut auf die Frage: Was tun wir eigentlich, wenn wir etwas als einen Fall des Wissens und damit als eine wahre, gerechtfertige Überzeugung qualifizieren? Nun tun wir, um noch einmal Brandom zu erinnern, dreierlei: Zum Ersten weisen wir eine Festlegung zu, die jemand eingeht und die mit anderen seiner Festlegungen in Beziehung steht (das ist das Moment des Überzeugtseins). Zum Zweiten weisen wir eine Berechtigung zu dieser Festlegung zu (das ist das Moment der Rechtfertigung oder Begründung). Zum Dritten aber ist das, was wir tun, wenn wir eine solche berechtigte Festlegung als wahr qualifizieren, nicht das Zuweisen oder Erkennen einer geheimnisvollen Eigenschaft namens Wahrheit, nein, was wir tun, wenn wir eine Festlegung als wahr qualifizieren, ist, dass wir diese Festlegung selbst eingehen – ganz einfach deshalb, weil wir die Gründe, die zu ihrer Rechtfertigung vorgebracht werden, für überzeugend halten.8 Wer das akzeptiert, befindet sich, ich habe im ersten Kapitel darauf hingewiesen, in der komfortablen Lage, auf das Moment der Wahrheit als Bestimmungsmerkmal des Wissens verzichten zu können. Denn es ist nicht klar, welche Eigenschaft Wahrheit den Festlegungen, die so begründet sind, dass wir sie selbst eingehen, noch hinzufügen soll. Damit aber steht am Begriff des Wissens nur noch das Moment der Festlegung oder Überzeugung sowie das der Rechtfertigung oder Begründung zur Disposition. Was wäre nun, wenn Literatur doch in der Lage wäre, Festlegungen einzugehen und diese Festlegungen auch noch so zu begründen, dass auch wir sie eingehen – wären wir dann am Ende nicht gezwungen, der Literatur ein Wissen zuzusprechen? Dass sie dabei keine propositionalen Aussagen macht, die wahr oder falsch sein können, dies jedenfalls spräche dann nicht mehr gegen die Möglichkeit eines literarischen Wissens (Novalis hatte ja zu bedenken gegeben, dass in der Literatur die Sachverhalte, von denen sie spricht, ohnehin keinen Wissensanspruch rechtfertigen können). Was aber könnten das für Festlegungen sein, die die Kunst, und namentlich die literarische Kunst trifft? Ich meine, es sind Festlegungen in Bezug auf Darstellungsweisen, Perspektiven oder Haltungen, in denen wir etwas als etwas nehmen; und literarische Per-

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Vgl Robert B. Brandom (2001), Kap. 3, Verlässlichkeitstheorien – Einsichten und blinde Flecken, S. 127-161.

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Ist Literatur ein Medium? spektiven oder Haltungen sind dann solche, in denen wir, um etwas als etwas zu nehmen, der Sprache bedürfen.9 Erst dadurch nun, dass ein Text nicht die Inhalte so darstellt, dass sie auf irgend etwas in der Welt da draußen referieren, sondern allein dadurch, dass ein Text seine Inhalte so darstellt, dass sie auf die Art verweisen, in der wir Welt darstellen, wird ein Text zu einem Stück Literatur. Das heißt, zu einem Fall von Kunst wird ein Text erst, wenn es ihm um die Festlegung auf eine bestimmte Darstellungsweise, um ein bestimmtes Etwas-als-etwas-Nehmen geht. Und die Kunst ist dann ein Diskurs, in dem solche Darstellungsweisen verhandelt, in dem mit den daraus resultierenden Erscheinungsweisen des Wirklichen experimentiert wird. Sich in den Diskurs der Kunst einzuschreiben heißt daher, in der beschriebenen, Inhalte nur als Mittel verwendenden Art, eine Festelegung auf eine bestimmte Darstellungs- oder Erscheinungsweise einzugehen. Wer also einen Text schreibt und diesen als literarischen Text verstanden wissen will, der behauptet so viel wie: es sei lohnend, die Dinge einmal auf diese Weise zu sehen. Wenn man ihn aber fragt: lohnend wofür?, so wird ihm klar, dass er nicht nur eine Festlegung auf eine bestimmte Sicht der Dinge eingegangen ist, sondern auch darauf, dass sich diese Hinsicht zureichend – was immer das im Falle der Kunst heißen mag – begründen lässt. Je nachdem, ob er nun geneigt ist, eher defensiv oder eher offensiv zu argumentieren, wird er dann sagen, diese Begründung lasse sich entweder nur mit Bezug auf den Diskurs der Kunst – oder er wird sagen, sie lasse sich mit Bezug auf die Realität geben. Aber wie geht das, wird er sich fragen. Wie mache ich das? Wie rechtfertige ich ästhetische Darstellungsweisen, Perspektiven, Hinsichten, in denen wir etwas als etwas nehmen? Nun, der alte, bereits von Platon gedachte Gedanke besagt hier, dass die Dinge oder Sachverhalte die Weise bestimmen, in der sie als Dinge oder Sachverhalte genommen werden – darin lag die Tyrannei des Objektiven, von der ich sprach. Es ist diese Auffassung, die dafür verantwortlich ist, dass das Ästhetische und erst recht die Kunst als ein freies, als ein von den Dingen und Sachverhalten befreites Experimentieren mit Darstellungsweisen in epistemischer Hinsicht so sehr in Misskredit geraten konnte. Aber wer eine solch geringe Meinung von allem Ästhetischen hat, muss natürlich angeben können, wie Dinge und Sachverhalte sonst, in außerästhetischen Kontexten ihre Darstellungsweise bestimmen. Und wer so fragt, dem wird ziemlich schnell klar: da stimmt etwas nicht! Und was da nicht stimmt, ist das bereits erwähnte Bild einer in Sach-

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Das ist nicht immer so. Wer etwa einen Schraubenzieher als Dosenöffner gebraucht, benötigt dazu keine Sprache.

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Die poetische Erkundung der wirklichen Welt verhalte und Darstellungsweisen oder Objekte und Perspektiven getrennten Welt. Sie, verehrter Leser, verehrte Leserin, sehen in diesem Augenblick nicht auf weißem Papier verteilte Druckerschwärze plus Wörter und Sätze – Sie sehen die Druckerschwärze auf dem Papier als Wörter und Sätze. Aber weil die Realität so darstellungs- und perspektivengesättigt ist, weil wir, was wir sehen und denken, immer nur als etwas sehen und denken können, sind Darstellungsweisen, Perspektiven, Hinsichten nichts, das der Möglichkeit von Erkenntnis entgegensteht. Es ist vielmehr umgekehrt: was nicht als etwas genommen werden kann (ein kantisches Ding an sich etwa), davon kann man auch keine Überzeugungen ausbilden. Ich will daher noch etwas offensiver formulieren und behaupten: Wir müssen uns, da die Dinge die Weise ihrer Darstellung nicht determinieren, daran gewöhnen, dass auch in nicht-ästhetischen, nicht-literarischen Kontexten die Gründe der Behauptbarkeit sprachliche Gründe sind – und zuletzt mögen es dann, Blumenbergs Metaphorologie legt diesen Gedanken nahe, Metaphern sein, die dafür verantwortlich sind, dass wir etwas so oder so begründen. Aber was soll es heißen, dass die Gründe der Behauptbarkeit sprachlicher Art sind? Nun, der Grund dafür, dass, wer sich inmitten einer Menschenmenge befindet, zu Recht behaupten kann, er sehe Menschen um sich herum, liegt nicht in den belebten Körpern, die er wahrnimmt, sondern in der Regel, die es ihm erlaubt, das Wort „Mensch“ in Situationen wie diesen zu äußern. Begriffe lassen sich deshalb als Regeln auffassen, die angeben, wie Wörter zu gebrauchen sind. Begriffe sind jedoch Regeln, die nicht nur festlegen, wie wir etwas bezeichnen, sondern auch, wie etwas als etwas genommen wird. Auf jemanden den Begriff des Menschen anzuwenden heißt nicht nur, ihn so zu bezeichnen und ihm selbst (oder auch nur der Vorstellung oder Wahrnehmung von ihm) ein Namenstäfelchen anzuheften, auf dem Mensch steht. Nein, es heißt, ihn (oder sie) im Lichte der Erfahrungen zu sehen, die wir in Situationen gemacht haben, in denen wir oder andere das Wort Mensch gebraucht haben. Bei solchen Erfahrungen handelt sich nur gelegentlich um literarästhetische, immer aber um sprachliche Erfahrungen. Diese setzen sich wiederum zum Teil aus Erfahrungen zusammen, die wir mit Wörtern wie Tier oder Namen wie Adam und Eva oder Fragen wie Was ist der Mensch? gemacht haben. Ohne solche sprachlichen Erfahrungen wäre niemand, der etwa einen belebten Platz betritt, in der Lage, die Körper um ihn herum als Menschen zu sehen. Zwar könnte auch ein Papagei lernen, beim Anblick eines dieser Körper das Wort Mensch zu äußern, aber er könnte sich nicht, da ihm die sprachlichen Erfahrungen mit den entsprechenden anderen Wör-

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Ist Literatur ein Medium? tern und Sätzen fehlen, auf die Perspektive festlegen, auf die wir uns festlegen, wenn wir jemanden als einen Menschen sehen. Dieses Festlegen auf Perspektiven, von dem ich gesagt habe, es sei unverzichtbar für das, was wir Wirklichkeit nennen, ist nun aber nicht völlig durch begriffliche Regeln (oder das, was Robert B. Brandom als Praxis des Gebens und Nehmens von Gründen beschreibt)10 bestimmt. Dass sich aus der Vielzahl der Situationen, in denen wir ein Wort verwenden, so etwas wie eine feste Regel zu seinem Gebrauch herauskristallisiert, mag hie und da der Fall sein, aber angesichts der Vielzahl der Situationen erwartbar ist allenfalls eine vage Regelmäßigkeit. Da das Sprachverhalten kein Abbilden, sondern ein Sich-Orientieren in der Wirklichkeit ist, musste diese Vagheit die Menschheit von alters her verunsichern. Und nicht selten hat sie dann Trost und Zuflucht bei der Philosophie oder den sog. exakten Wissenschaften gesucht. Doch wie eigentlich schaffen Philosophie und Wissenschaften hier Abhilfe? So, dass sie die Bedingungen erschließen, unter denen Begriffe sich gebrauchen lassen. Dass sie dabei vor allem an gesetzesartigen, durch Regelmäßigkeiten bestimmten und daher wiederholbaren Gebräuchen orientiert sind – und sich eben dadurch von der Literatur unterscheiden –, ist das eine. Das andere aber ist, dass sie gemeinsam mit der Literatur an dem Projekt der Erschließung der Gründe für unseren Gebrauch von Begriffen arbeiten, dass sie also gemeinsam mit der Literatur die Gründe – und, wir haben das bei Kleist und Novalis gesehen, oft genug auch Abgründe erschließen, die die Bedingung der Möglichkeit unserer sprachlichen Weltorientierung ausmachen. Dieses Erschließen der Gründe geschieht in der Literatur nicht über das Argumentieren, logische Schließen oder Beobachten realer Sprecher (ein solches Beobachten ist vielmehr eine Voraussetzung dafür, dass es Literatur gibt), sondern über die Darstellung: Um eine besondere Art des Stolzes zu beschreiben musste Jane Austen die Handlungen, Gedanken, Worte und Gefühle der Heldin von Pride and Prejudice in unzähligen Situationen schildern. Es gab da keinen Begriff, den sie hätte verwenden können. Und es gibt für zahllose andere Gründe, die dafür verantwortlich sind, dass wir die Welt in dieser oder jener Hinsicht nehmen, soll heißen: es gibt für zahllose andere Bedingungen unserer sprachlichen Weltorientierung keine Begriffe. Aber dennoch wäre der Begriff des Stolzes heute nicht, was er ist, wenn Jane Austen nicht Pride and Prejudice geschrieben hätte11; und ich füge hinzu: unser Begriff des Menschen oder der conditio humana wäre gewiss ein anderer, wenn nicht Ge-

10 Vgl. Brandom (2000). 11 Das Bsp. geht zurück auf: Ryle (1969), S. 53.

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Die poetische Erkundung der wirklichen Welt stalten wie Don Quijote, Hamlet oder Faust die Bedingungen des Menschseins offen gelegt hätten. Ein solches Erschließen der begrifflichen wie nicht-begrifflichen Bedingungen der Möglichkeit unseres sprachlichen Welterschließens ist, meine ich, keine geringe epistemische Leistung, die die Literatur erbringt. Doch soll man wirklich sagen, die Literatur erbringe sie? Ich denke nicht. Wer glaubt, die Literatur sei ein Wissensspeicher, bedient sich einer ebenso irreführenden Metaphorik wie derjenige, der sie für ein Medium hält, das uns zu einem Reich verborgener Bedeutungen oder verborgenen Wissens führt. Wir müssen nicht an ein göttliches Wissen glauben, an dem allein enthusiasmierte Dichter teilhaben, und wir müssen auch nicht glauben, die Dichter versteckten ihr Wissen in ihren Texten, damit sich schließlich Heerscharen von Philologen auf die Suche nach ihm begeben – und wiederum Generationen von Literaturtheoretikern begriffliche Detektoren entwickeln können, mit denen es aufgespürt werden kann. Nein, ich stelle mir vor, Literatur sei ein Medium des Wissens nur in dem Sinne, in dem unsere Augen Medien des Sehens oder unsere Ohren Medien des Hörens sind. Nur weil wir Augen haben, gibt es für uns etwas zu sehen, nur weil wir Ohren haben, gibt es für uns etwas zu hören; wir sehen nicht mit den Augen und hören nicht mit den Ohren, sondern sehen und hören durch sie. Denn die Zwecke, die wir mit ihnen verfolgen, gibt es ohne sie gar nicht.12 Auch Literatur, stelle ich mir vor, können wir als ein solches Organ, als eine solche Armatur unseres sprachlichen Sinns verstehen. Sie zu epistemischen Zwecken zu gebrauchen hieße dann nicht, sich auf die Suche nach der wahren, im Text verborgenen Bedeutung zu begeben, es hieße nicht, die Frage zu stellen: Was will uns der Dichter damit sagen? – und es hieße auch nicht, sich zu fragen: Warum hat ihn die Kultur dazu veranlasst, dieses oder jenes zu sagen, vielleicht sogar manches, was er gar nicht hat sagen wollen? Denn wer so fragt, wird kaum je mehr als Mutmaßungen oder dunkle Ahnungen zur Antwort erhalten. Nein, ich stelle mir vor, dass Literatur zu epistemischen Zwecken zu gebrauchen darauf hinausläuft, die Gründe dafür zu erschließen, warum sie überhaupt bedeuten kann. Die Frage lautet dann: Wie muss die Welt aussehen, damit der Dichter überhaupt sagen kann, was er sagt, damit, was er sagt, überhaupt Bedeutung hat. Wie also muss die Welt aussehen, damit Verse wie „Über allen Gipfeln/ ist Ruh“13 ebenso eine Bedeutung haben wie „Du LIEGST im großen Gelausche,/ umbuscht, umflockt“14? Es sind, dies 12 In diesem Sinne argumentiert auch: Davidson (1997). 13 Goethe (1996), Bd. I, S. 142. 14 Celan (1986), Bd. II, S. 334, Hervorheb. ebd.

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Ist Literatur ein Medium? scheint gewiss, viele Welten, die sich so erschließen lassen. Oder, wenn es eine ist, dann eine äußerst heteronome. Und es scheint ebenso gewiss, dass dabei keine begrifflich oder logisch durchstrukturierten Welten zum Vorschein kommen. Das Erschließen solcher Welten, solcher, um genau zu sein, Zusatzannahmen, die uns als Gründe dienen können, um literarischen Texten Bedeutung zu verleihen, ist etwas, das nicht die literarischen Texte für uns, sondern das wir schon selbst leisten müssen. Die Texte legen sich lediglich in Bezug auf die Darstellungsweise ihrer Inhalte, auf Perspektiven also fest, und veranlassen uns durch diese Festlegungen Schlüsse auf die Gründe zu ziehen, die diese Perspektiven zu gehaltvollen, aussagekräftigen Perspektiven machen. Da sie uns aber nur dazu veranlassen und nicht selbst die Gründe dafür, dass sie etwas bedeuten, explizit machen können – dann wären sie nämlich keine literarischen Perspektiven mehr – bleibt es uns überlassen, ihre epistemischen Ansprüche zur Geltung zu bringen. Erst wenn es uns, und ich sage hier gerne: uns Literaturwissenschaftlern gelingt, Gründe dafür, dass ihnen Bedeutung und Gehalt zukommt, ausfindig zu machen, die zugleich Gründe dafür sind, dass etwas anderes – eine andere Erzählung, eine andere Geschichte, ein anderes Leben, eine andere Kultur – Bedeutung und Gehalt bekommt, erst dann, und keinen Augenblick früher15 können wir behaupten, Literatur gebe uns etwas zu wissen.

15 Ohne einen solchen Bezug auf Anderes gäbe es keinen Unterschied zwischen literarischem Wissen und Nicht-Wissen.

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WISSEN AUS UNMITTELBARKEIT, WISSEN AUS VERMITTLUNG – UND MEDIALITÄT BEI HERDER, SCHILLER UND

KLEIST1

Wer, wie das seit 1800 in einem bislang nicht gekannten Ausmaß geschieht, über Literatur und die Grenzen ihrer epistemischen Möglichkeiten nachdenkt, der kommt ziemlich unvermittelt auf einen einfachen Gedanken. Er besagt, dass die Grenzen der Literatur wie ihres Erkenntnisvermögens sowohl die Grenzen des Denkens als auch solche des Seins sind. Das heißt, ein Sein, das nicht gedacht werden kann oder ein Denken, das nicht immer schon den Charakter des Seienden hat, gehört nicht mehr in den Bereich des Literarischen, und übrigens auch nicht in denjenigen einer Wissenschaft von der Literatur. Mit anderen Worten, wo Denken und Sein nicht mehr vermittelt werden können, treffen Literatur und Literaturwissenschaft gleichermaßen an ihre Grenzen. – Doch gilt das nicht überhaupt? Also für die Grenzen eines jeden Denkens und eines jeglichen Seins? Und: Wenn jenseits der Grenzen des Universums, das Literatur und Literaturwissenschaft erkunden, das Undenkbare und Nichtseiende, eben das Nichts herrscht – was steht dann im Zentrum dieser von Literatur und Literaturwissenschaften geteilten Welt? Offenbar dasjenige, dessen Sein mit der Notwendigkeit, es auch zu denken, einhergeht, offenbar das, was, sobald es auch nur gedacht wird, den Charakter des Seins – oder des Wirklichen erhält: das Unmittelbare. Bei diesem Unmittelbaren muss man nicht erst fragen, ob das Denken dem Sein oder das Sein dem Denken entspricht. Das eine ist nur durch das andere; das Sein übt einen unwiderstehlichen Zwang auf das Denken aus, und das Denken wird 1

Vorbemerkung: Wenn im Folgenden von Literaturwissenschaft die Rede ist, dann durchaus im weiten Sinne der Literary Studies oder auch der Literary Theory, da die im Begriff der Literaturwissenschaft liegende Verbindlichkeit des Wissensanspruchs eine allererst zu rechtfertigende ist. Wenn im Folgenden jedoch mal von Literatur und mal von Poesie die Rede, so nicht aus semantischen Gründen, sondern nur aus solchen des Wohlklangs.

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Die poetische Erkundung der wirklichen Welt mit einer überwältigenden Kraft genötigt, gerade das zu denken, was es denkt. Die Welt, die Literatur und Literaturwissenschaft teilen, scheint so eine Welt zu sein, in der die Zuverlässigkeit des Wissens, je weiter man sich dem Zentrum nähert, zunimmt, während sie an den Rändern dieser Welt abnimmt. Doch worauf genau trifft man da – im Zentrum der literarischliteraturwissenschaftlichen Welt? – Auf das Unmittelbare! – Das mag so sein! Aber von welcher Art sollte dieses Unmittelbare sein? Hat es eher die Gestalt des cartesianischen Ich-denke oder nicht doch die empiristische Gestalt eines Sinnesdatums? Oder könnte diese Unmittelbarkeit zuletzt vielleicht sogar eine solche sein, wie sie gläubige Menschen erfahren, im für sie unbezweifelbaren Gegenwärtigsein ihres Gottes? – Das ist die erste Frage, die ich im Folgenden, unverantwortlich kurz, aber eben doch beantworten möchte. Sie lautet: Welche Gestalt hat – im Unterschied zu einem anderen, etwa philosophischen oder theologischen Unmittelbaren – das literarisch Unmittelbare? Gibt es so etwas überhaupt oder: Soll es so etwas geben, in einer literaturwissenschaftlichen Ontologie? Die zweite Frage, um deren, wie auch immer vorläufige Beantwortung ich mich nun bemühen werde, hängt mit einem naheliegenden Einwand gegen die von mir bislang vorgenommene Gleichsetzung des Begriffs des Unmittelbaren mit dem Begriff des Wissens zusammen. Dieser Einwand besagt, dass Unmittelbarkeit ein sehr ungeeigneter Kandidat für verlässliches Wissen sei, denn (erstens) gehe Wissen immer mit der Möglichkeit einher, Überzeugungen begründen zu können – sie also mit anderen Überzeugungen in Beziehung zu setzen – eben zu vermitteln, und (zweitens) gebe es Fälle, in denen, obwohl das Denken immer schon ein Sein und das Sein immer schon ein Denken sei, gerade kein Wissen vorliege – im Falle des Traums etwa. Meine zweite Frage lautet daher: Welche Rolle spielt das Unmittelbare in epistemischer Hinsicht für die Literatur und ihre Wissenschaft. Taugt es zur Erlangung und evtl. zur Rechtfertigung eines spezifisch literarischen Wissens oder nicht? Die Antwort auf diese zweite Frage, von der her ich mich nun einer Antwort auf die erste Frage nähern werde, ist in jüngster Zeit sehr unterschiedlich ausgefallen: Einerseits weisen Philosophen wie John Mc Dowell, Richard Rorty, Wilfrid Sellars und Robert B. Brandom darauf hin, dass etwas als ein Wissen zu begreifen nicht bedeutet, eine empirische Beschreibung von etwas zu geben oder, wie man im theologischen Kontext sagen würde, einen Zustand des Erleuchtetseins zu vergegenwärtigen, sondern vielmehr den Gehalt einer Aussage im logischen Raum der Gründe, traditionell gesprochen, im Raum des Geistigen oder der Vernunft zu verorten. Etwas als ein Wissen auszugeben, die Zuschreibung eines Wissens voll-

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Wissen aus Unmittelbarkeit, Wissen aus Vermittlung zieht sich, so gesehen, in einer diskursiven Praxis des Nehmens und Gebens von Gründen – und nicht als unmittelbares geistiges Schauen der Sache selbst, als Aletheia.2 Eine solche Sicht der Dinge hat zwei wichtige Implikationen: Die erste besagt, dass Wissen immer schon mittelbar, das heißt auf anderes Wissen und andere Begründungen bezogen – und daher das genaue Gegenteil des Unmittelbaren ist. Die zweite Implikation hingegen besteht darin, dass die Zuschreibung eines Wissens kein repräsentierender oder beschreibender, sondern ein performativer sprachlicher Akt ist. Um die Bedeutung dieser Implikationen zu verstehen, muss man sich eine andere, von Rousseau bis Paul de Man reichende und die Moderne bestimmende Sicht auf die epistemische Tauglichkeit des Unmittelbaren in Erinnerung rufen. Die Geschichte dieser Sichtweise beginnt freilich schon sehr viel früher, nämlich im Paradies, und zwar als Adam und Eva vom Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen essen. Was sie dadurch erreichen, ist tatsächlich ein Wissenszuwachs, sie wissen nämlich mit einem Mal um den Gebrauch der Unterscheidungen in gut oder böse, bekleidet oder nackt, und es ist klar, dass ein weiteres Verzehren der Früchte dieses Baums das Geschöpf Gottes schließlich in den Besitz göttlichen Wissens brächte – eben das, die göttliche Furcht davor, dass seine Geschöpfe sein werden wie Götter, motiviert ja ihre Vertreibung aus dem Paradies. Doch verlieren Adam und Eva, indem sie ein beinahe göttliches Wissen gewinnen, zugleich eine bestimmte Art des Wissens, das man vielleicht ein wahrhaft paradiesisches nennen kann. Es ist in der Erzählung des Alten Testamentes ein Wissen, in dem etwas einfach das ist, was es ist. Etwas wird noch nicht als etwas – als gut oder böse, nackt oder bekleidet, gewusst, auch nicht als ein Wahres oder Falsches; diese Unterscheidung führt erst die Schlange ein. Es ist also ein unmittelbares, ein vorprädikatives Wissen, ein Wissen, bei dem nicht Prädikate im Urteil einem Subjekt zugesprochen werden, sondern ein Wissen, das eine ganz und gar nicht-propositionale Struktur hat. Es ist deshalb auch kein Wissen, das erschlossen werden muss. Man hat es einfach, in etwa so, wie man ein Wissen darum hat, dass man jetzt hier ist, zwei Hände hat usw. 2

Die mittlerweile klassische Formulierung hierzu, die zugleich eine radikale Absage an den Naturalismus ist, findet sich in Wilfrid Sellars, Der Empirismus und die Philosophie des Geistes (d.i. ders. 1999) u. lautet: „Der springende Punkt liegt darin, daß wir keine empirische Beschreibung dieser Episode oder dieses Zustands liefern, wenn wir eine Episode oder einen Zustand als ein Wissen bezeichnen. Wir stellen sie vielmehr in den logischen Raum der Gründe, der Rechtfertigung und der Fähigkeit zur Rechtfertigung des Gesagten.“

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Die poetische Erkundung der wirklichen Welt Das letzte, das von Adam vor dem Sündenfall berichtet wird, ist bekanntlich, dass er allen Geschöpfen Gottes, allen Tieren (und übrigens nicht sich selbst) einen Namen verleiht. – Doch woher weiß er, wie er sie nennen soll? – Er weiß es einfach! Von sich aus. Ganz einfach, weil für ihn Denken und Sein noch nicht getrennt sind. Was sie aber trennt und erst die Schlange mit ihrer Frage, ob Gott wirklich gesagt habe, sie dürften nicht von allen Bäumen des Gartens essen, ins Spiel bringt, ist der Zweifel an dem angemessenen Verhältnis von auslegendem Denken und tatsächlichem Sein. Erst dieser Zweifel bewirkt dann, dass Adam und Eva im Denken ihre Unschuld verlieren und so schließlich auch sich selbst abhanden kommen. Die Moderne und erst recht die Postmoderne zeichnet sich nun ganz wesentlich dadurch aus, dass sie sich uneins darüber ist, ob sie an den biblischen Mythos vom Unmittelbaren oder an den aufklärerischen Mythos von der Mittelbarkeit des Wissens anschließen soll. Dieser so wirkungsmächtige Zweifel befällt in der Moderne vor allem die Medien, in denen sich die Episteme darstellt: das Bewusstsein und die Sprache – auch die Sprache der Literatur. Denn beide erweisen sich als recht ungeeignet, wenn es darum geht, die Einheit von Denken und Sein zu verwirklichen, sei es als Unmittelbarkeit, sei es auf dem Wege inferentialistischer Mittelbarkeit. Diese skeptische Einschätzung der epistemischen conditio humana hat sich, wie man weiß, heutzutage längst durchgesetzt – man denke an die Diskussion über die Postmoderne, an die linguistic, semiotic, iconic und diversen cultural turns und die ihnen entsprechenden Proklamationen vom Ende der Kunst oder der Theorie. Doch gegenüber jenem bis in unsere Tage hinein anhaltenden Misstrauen gegenüber dem epistemischen Anspruch ausgefeilter, sei es theoretischer, sei es anderer Begründungsverfahren gibt es einen Einspruch. Und zwar einen, der nicht wie bei Rousseau, Heidegger oder Benn aus einem Misstrauen gegenüber der Reflexion entspringt – ein Misstrauen, das nicht selten die Tendenz verstärkt, der Regression das Wort zu reden. Dieser Einspruch wurde bereits um 1800, und namentlich von Kleist, Schiller und Herder formuliert, und zwar in durchaus progressiver Absicht. Er ist, wenn ich recht sehe, in seiner Kleistschen Formulierung geeignet, um die Unentschiedenheit, die in Bezug auf die Frage herrscht, ob das Unmittelbare in epistemischer Hinsicht ein Ideal oder eher doch ein Fanal sei, wenn nicht aufzulösen, so doch in eine verheißungsvolle Richtung zu lenken (I). Sodann ist die Gestalt, die Schiller diesem Einspruch gibt, dazu angetan, die notorische Skepsis gegenüber jeder Form medialer, ästhetischer oder eben auch theoretischer Darstellungen erheblich zu relativieren (II). Für die philosophische Theorie des Wissens hingegen könnte, vor

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Wissen aus Unmittelbarkeit, Wissen aus Vermittlung allem die Herdersche Variante dieses Einspruchs von Bedeutung sein. Denn Herder kritisiert die so einflussreiche, uns durch Wilfrid Sellars bekannte, tatsächlich aber bereits auf Kants Zwei-ReicheLehre zurückgehende Überzeugung, der Raum des Wissens sei ein von der Sphäre des Natürlichen (des Empirischen) wohl zu unterscheidender Raum der Gründe (des Intelligiblen); wobei der Ort, an dem Herder diese Kritik übt, eben die Stelle ist, an der Literatur und Wissenschaft aufeinander treffen (III). I. Alle drei Autoren, Kleist, Schiller und Herder also, formulieren ihren Einspruch gegen einen allgemeinen Skeptizismus bezüglich der epistemischen Kraft von Darstellungen im Namen einer Sprache, die sowohl Mittelbarkeit als auch Unmittelbarkeit einschließt. Damit geben sie eine Antwort auf die erste der beiden, von mir genannten Fragen, auf die Frage also nach der Gestalt des literarisch Unmittelbaren. Sie behaupten jedoch, dieses Unmittelbare sei als Sprache zugleich ein Mittelbares. Damit geben sie zwar eine auch für die Literaturwissenschaft interessante Antwort, weil, das ist offensichtlich, für die Literaturwissenschaft Sprache sowohl ein Gegenstand, und also ein Mittelbares, als auch ein Unmittelbares ist. – Aber, was es heißt, dass Sprache selbst ein sowohl Unmittelbares als auch Mittelbares sein soll, bleibt dadurch natürlich immer noch eine offene Frage. II. Ich komme daher geradewegs zu meiner zweiten Frage nach der epistemischen Rolle des Unmittelbaren – ich sollte sagen: der Rolle, die ihm Kleist, Schiller und Herder als einem Sprachlichen zusprechen: Im Jahre 1810 veröffentlichte Heinrich von Kleist jene so denkwürdige Schrift über das Marionettentheater, in der ein IchErzähler eine Begegnung mit einem allseits bewunderten Tänzer beschreibt, dem, so der Erzähler, das Marionettentheater der Ort des vollkommenen Tanzes zu sein scheint. Als sich der Erzähler – und der Leser mit ihm – darüber wundert, wie denn Holzpuppen das Ideal des Tanzes – die Grazie – sollten realisieren können, ergeht sich der Tänzer in weitschweifige Erläuterungen darüber, wie und warum die künstliche Bewegung zum Ideal der natürlichen werden könne – dadurch nämlich, dass in ihr kein Gegensatz mehr besteht zwischen dem Denken und dem Sein, zwischen Intention und Handlung, Absicht und Bewegung. Der „Weg der Seele des Tänzers“ sei da beendet, wo die reine Mechanik der Bewegung erreicht sei – wo die Seele mechanische Form gewonnen habe.3 Während dem Tänzer beim Tanzen stets sein Wissen darüber, dass er tanzt, im Wege steht, verkörpert die Marionette gerade deshalb ein vollkom-

3

Kleist (1966), S. 803.

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Die poetische Erkundung der wirklichen Welt menes Wissen über das Ideal des graziösen Tanzes, weil sie es nicht hat – sondern ausdrückt. Während (etwa in der berühmten Dornauszieherepisode der Kleistschen Erzählung) der Mensch, sobald man ihm nur einen Spiegel vorsetzt, sofort seinen natürlichen Ausdruck verliert, hat die Marionette den Vorteil, dass man ihr keinen Spiegel vorsetzen kann. Sie drückt, gerade weil sie nicht denken kann, die Einheit von Denken und Sein aus – und zwar im Medium der ästhetischen Darstellung, sei es in dem des Marionettentheaters, sei es in dem der gleichnamigen Kleistschen Erzählung. Als das Erstaunen des Erzählers angesichts solch ungeheuerlicher Behauptungen immer größer wird, hält ihm der Tänzer vor, er, der Erzähler, habe wohl das dritte Kapitel des ersten Buches Mose nicht mit Aufmerksamkeit gelesen, so dass sich der Leser fragen muss: Und was wäre, wenn er es gelesen hätte? Die Antwort für den Menschen, der nicht wie die Marionette zur Identität von Denken und Sein in der vollkommenen Bewusstlosigkeit gelangen kann (und tatsächlich ringt sich der Text am Ende zu der Positivität einer Antwort durch), besteht darin, dass seine Erkenntnis „gleichsam durch ein Unendliches“ gehen und wie es am Schluss heißt, er noch einmal „von dem Baum der Erkenntnis essen“ muss.4 Nicht Abkehr von der Reflexion und schon gar nicht der Vollzug einer Regression zur vermeintlich reinen Unmittelbarkeit ist es, was Kleist hier nahe legt. Nein, da das „Paradies [...] verriegelt und der Cherub hinter uns [ist,] müssen wir die Reise um die Welt machen [...]“5. Das Medium dieser Reise ist hier nun, wie unschwer zu erkennen, das Erzählen, namentlich das seine Gegenstände im Verlauf des Erzählens erzeugende, mit einem Wort das poetische Erzählen. Doch ist das poetische Erzählen nur die Form jenes Mediums. Sein Material ist die Sprache. In einer seiner letzten epistemologischen Erzählungen, Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden bringt, ich erlaube mir so metonymisch zu sprechen: Kleist denn auch das Erzählen als eine Verfahrensweise zur Erzeugung eines Wissens ins Spiel. Nicht, wie bei Hegel, dem reinen Denken, sondern dem reinen Sprechen wird nun die Aufgabe übertragen, ein Wissen hervorzubringen. Doch obwohl bei Kleist die Sprache als eigenständiges Medium des Wissens gilt, bleibt sie, anders als in der Philosophie das reine Denken, zur Erfahrung hin offen. (Sie muss nicht, wie in Hegels Wissenschaft der Logik das Denken, die Möglichkeit der Erfahrung begründen, sondern ist ihrerseits in dieser begründet). Diese Offenheit zu bewahren gelingt ihr, weil Sprache allein nichts weiß; „es ist“, so heißt es bei Kleist, „allererst ein gewisser Zustand uns-

4 5

Ders. ebd., S. 807. Ders. ebd., S. 804.

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Wissen aus Unmittelbarkeit, Wissen aus Vermittlung rer, welcher weiß“6. Mit anderen Worten: Wenn wir eine Episode oder einen Zustand als ein Wissen bezeichnen, so stellen wir sie in den empirischen Raum eines über Erlebnisweisen verfügenden Bewusstseins. – Doch wie anders sollten diese Erlebnisweisen in den logischen Raum der Gründe Einzug halten (und so an dem diskursiven Ort auftreten, an dem darüber entschieden wird, ob etwas als ein Wissen gilt), wenn nicht in Gestalt von Beschreibungen – und Erzählungen? Diese uns Heutigen immer noch seltsam erscheinende Abhängigkeit auch des objektivsten Wissens von einer irreduzibel subjektiven, von ästhetischen Darstellungen geleiteten Erfahrungsseite möchte ich an zwei Beispielen verdeutlichen. Bei beiden Beispielen handelt es sich um isolierte Sätze (im einen Fall sogar nur um das Fragment eines solchen Satzes). Allerdings handelt es sich um Sätze, denen eine sakrosankte, fast erhabene Natur zu eigen ist. Der erste dieser Sätze ist an Fichte gerichtet, der in einer Zeitschrift Schillers, den Horen, einen Beitrag Über Geist und Buchstab in der Philosophie veröffentlichen wollte. Das jedoch lehnte Schiller ab. Denn er hatte bemerkt, dass da jemand den Geist über den Buchstaben, den gedanklichen Gehalt über den sprachlichen Ausdruck stellen wollte. Und der Satz, mit dem er seine Weigerung, Fichtes kleine Schrift zu publizieren, begründete, lautete: „Schriften, deren Wert nur in den Resultaten liegen, die sie für den Verstand enthalten [..., werden] in demselben Maße entbehrlich [...] als der Verstand entweder gegen diese Resultate gleichgültiger wird oder auf einem leichteren Weg dazu gelangen kann: dahingegen Schriften, die einen von ihrem logischen Gehalt unabhängigen Effekt machen und in denen sich ein Individuum lebend abdrückt, nie entbehrlich werden und ein unvertilgbares Lebensprinzip in sich enthalten, eben weil jedes Individuum einzig und mithin auch unersetzlich ist.“7

Die so sakrosankte Wahrheit, die Schiller da Fichte entgegenschleudert, lautet: reine Ergebnisse des Denkens, Verstandesresultate, propositionale Gehalte werden mit der Zeit entbehrlich, nicht aber subjektive Weisen des Erschließens und Darstellens (von Gehalten). Wenn etwas tradiert wird, dann nicht um der Inhalte, sondern um der Darstellungsweisen, also der Wege willen, auf denen zu diesen Gehalten gelangt werden kann. Was Schiller zufolge tradiert wird an Wissensbeständen, ist demnach, modern gesprochen, ein Know-how – und ein Know-that nur in Abhängigkeit von diesem Know-how. Und tatsächlich spricht vieles dafür, dass Schiller Recht

6 7

Ders. ebd., S. 813. Zit nach: Safranski (2004), S. 83.

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Die poetische Erkundung der wirklichen Welt hat. Denn, wenn wir heute Kant und Schiller und Fichte lesen, dann nicht, weil wir an die Wahrheit der geäußerten Sätze, sondern an diejenige ihrer Darstellungs- und Denkweisen glauben. Wenn nun kulturelles Wissen erzeugt wird, indem Traditionen geschaffen werden, aber über die Frage, ob etwas würdig ist, tradiert zu werden, nicht die Gehalte, sondern die mit diesen Gehalten verbundenen Darstellungs-, Denk-, und Sichtweisen („in denen sich ein Individuum lebend abdrückt“) entscheiden, dann hat Schiller hier ein Kriterium des Wissens angesprochen, das poetische Texte mit wissenschaftlichen oder philosophischen Texten auf eine Stufe stellt. Sollte also zur Zuschreibung eines Wissens erforderlich sein, dass Perspektiven und Darstellungsweisen sich in der Abfolge der Generationen bewähren, so steht die Poesie anderen Verfahren der Wissenserzeugung offenbar in nichts nach. Doch gibt es noch einen zweiten Satz aus der Feder Friedrich Schillers, an dem ich dieses Zusammenspiel der Objektivität der Gründe mit der Subjektivität des Erlebens verdeutlichen möchte. Er entstammt Schillers Schrift Über das Pathetische und wird dort geäußert, als Schiller sich darüber klar zu werden versucht, wie es denn sein kann, dass der Mensch im Kampf gegen das Leiden sich nicht allein auf physische Kräfte, sondern auch auf solche von Ideen glaubt verlassen zu können. Wie, so fragt sich Schiller, sind diese Ideen in der wirklichen Welt (und übrigens auch in der des Dramas) vorhanden, wenn sie sich doch als Ideen dadurch auszeichnen, dass sie nicht vorhanden sind? Und da lautet sein wie nebenher geäußerter, tatsächlich aber ungeheurer Satz: „Jede Erscheinung, deren letzter Grund aus der Sinnenwelt nicht kann abgleitet werden, ist eine indirekte Darstellung des Übersinnlichen.“8

– Das aber heißt: Erscheinungen werden im Hinblick auf etwas, das nicht Erscheinung ist, überschritten. Doch warum werden sie das? Offenbar, weil ihnen immerzu mit einer Frage begegnet wird; nämlich mit der Frage nach ihrem Grund. Nun liegen aber Gründe nicht in den Erscheinungen vor Augen, sie müssen erschlossen, abgeleitet werden. Für jede Erscheinung, deren letzter Grund aus der Sinnenwelt abgeleitet werden kann, gilt dann, dass sie vollständig kausal erklärt werden kann, dass ihr letzter Grund ein natürlicher, eine Ursache sein muss. – Die Erscheinungen jedoch, die keine Ursachen als Gründe haben und daher keine ganz und gar natürlichen Erscheinungen sind, müssen eine andere Art von Gründen aufweisen. Schiller nennt sie Ideen. Ideen sind nun, wie Ursachen auch, nicht von dieser Welt. Doch während Erscheinungen, so sie (in na-

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Schiller (2004) Bd. V, S. 518.

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Wissen aus Unmittelbarkeit, Wissen aus Vermittlung türlicher Gestalt) auf Ursachen verweisen, direkte Darstellungen des Übersinnlichen sind, sind Erscheinungen, denen keine Ursachen, sondern Ideen zugrunde liegen, indirekte Darstellungen des Transzendenten. Das aber heißt: Da letzte Gründe, seien sie natürlicher, seien sie transzendentaler Art, niemals erscheinen, verweisen alle Erscheinungen in dieser Welt auf etwas, das jenseits ihrer selbst liegt! Und, wichtiger noch: Da nichts in seiner Erscheinung aufgeht, werden Erscheinungen als Darstellungen genommen. Und es macht keinen Unterschied, ob dieses Als-Darstellung-Nehmen so geschieht, dass bei einer Erscheinung nach ihren direkten übersinnlichen Ursachen (nach ihren natürlichen Gründen) oder nach ihren indirekten, aber ebenfalls übersinnlichen Gründen (den Ideen) gefragt wird. In beiden Fällen wird Wirkliches im Hinblick auf Mögliches, und zwar auf eine diese Wirklichkeit begründende Möglichkeit überstiegen oder transzendiert. III. Es ist Johann Gottfried Herder, der bereits mehr als zwanzig Jahre zuvor empfiehlt, diese transzendierende oder, weniger prätentiös gesagt, hypothesenbildende Tätigkeit als eine sprachliche Tätigkeit zu nehmen. Denn Herder betont, dass Sprache nicht als ein Werkzeug zur Bezeichnung des Erscheinenden, sondern als ein Ausdrucksgeschehen dessen, was sonst gar nicht zur Erscheinung gelangen könne, zu verstehen sei. Hinzu kommt, dass Herder zwischen dem wissenschaftlichen und dem poetischen Gebrauch der Sprache einen graduellen, nur eben keinen prinzipiellen Unterschied macht. Und das kann er, weil es ihm gelingt, Sprache als etwas zu begreifen, das sich jenseits der Unterscheidung von Mittelbarkeit und Unmittelbarkeit ereignet. „Schon als Tier hat der Mensch Sprache“.9 Dieser berühmte erste Satz aus Herders Abhandlung über den Ursprung der Sprache sagt deshalb, dass sowohl Tiere als auch Menschen über Sprache verfügen. Das aber heißt, auch die unmittelbare und unartikulierte Sprache der Empfindungslaute ist eine Sprache. Denn auch diese Laute drücken etwas aus, das sie nicht selbst sind – einen Affekt zum Beispiel – von dem sie allerdings auch nicht zu trennen sind (erst diese Verbindung macht den Affekt ja zu einem Sein, das verstanden werden kann.) Das aber heißt, Sprache hat zu der emotionalen Haltung des Inder-Welt-Seins, keinen arbiträren Bezug. Sie ist eine nicht-hintergehbare Weise unseres Weltzugangs. Wir wüssten nicht einmal, was wir fühlen, wenn Gefühle nicht diese expressive, sprachliche Seite hätten. Für die naturalistische Erklärungsabsicht Herders ebenso

9

Herder (1989), S. 5, Hervorheb. ebd.; die weiteren Zitatnachweise im Text folgen dieser Ausgabe.

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Die poetische Erkundung der wirklichen Welt wichtig ist dabei: wir wüssten ohne diese expressive Dimension auch nicht, was wir denken. Und das kann sein, weil Wahrnehmen, Fühlen, Denken und eben Sprechen eine zwar komplexe, aber eben doch eine einzige Tätigkeit ist. Und der geläufige Name für diese Tätigkeit heißt eben: Sprache. So verfügt also der Geist des Menschen bei Herder nicht über Sprache, er ist Sprache. Umgekehrt hat die Sprache nicht eine reflexive Seite an sich, sie ist das Vermögen und die Tätigkeit der Reflexion: denn Reflexion meint eben, dass die Seele „[...] in dem ganzen Ozean von Empfindungen, der sie durch alle Sinnen durchrauschet, eine Welle [...] absondern, sie anhalten, die Aufmerksamkeit auf sie richten und sich bewußt sein kann, daß sie aufmerke“ (32). Wodurch aber geschieht dieses Isolieren einer Welle im Ozean der Empfindungen, das Richten der Aufmerksamkeit auf sie – und schließlich das Bewusstwerden dieser Aufmerksamkeit? – Der Mensch erblickt zum ersten Mal etwas anderes, ihm Fremdes; Herder stellt sich vor, es sei ein Schaf: „es steht da, ganz wie es sich seinen Sinnen äußert. Weiß, sanft, wollicht – seine besonnen sich übende Seele sucht ein Merkmal – das Schaf blöket! sie hat [ihr] Merkmal gefunden! [..] Das Schaf kommt wieder. Weiß, sanft, wollicht – sie sieht, tastet, besinnet sich, sucht ein Merkmal – es blökt, und nun erkennet sies wieder! ;Ha! du bist das Blökende!‘ fühlt sie innerlich, sie hat es menschlich erkannt, da sies deutlich, das ist mit einem Merkmal, erkennet und nennet.“ (33)

So schildert Herder den menschlichen Ursprung der Sprache: als Bildung eines inneren, durchaus nicht arbiträren Merkwortes, das eine Regel verkörpert, eine Regel, die die Unterscheidung eines Wahrnehmungsobjekts von anderen wahrgenommenen Objekten ermöglicht. – Was aber gäbe es für uns ohne diesen unterscheidenden Gebrauch solcher Wahrnehmungsbegriffe? Die Antwort lautet kurz und knapp: Nichts; es gäbe keine Erfahrung, es gäbe kein Erinnern, es gäbe nur einen leeren Übergang im Strom der Wahrnehmung, ein Übergang von nichts zu nichts. Herder kann daher völlig zu Recht sagen, er meine „erwiesen zu haben [...], daß selbst die erste niedrigste Anwendung der Vernunft nicht ohne Sprache geschehen konnte“(36). Sprache ist also bei Herder kein Mittel, dessen sich der Geist bedient, sie ist kein Werkzeug, sondern, wie Herder schreibt, „ein natürliches Organ des Verstandes“, ein „neue[r] selbstgemachte[r] Sinn des Geistes“ (43) zur Erfassung einer Wirklichkeit, die es nicht gäbe, wenn es den ihr entsprechenden Sinn nicht gäbe. Das aber bedeutet: Sprache ereignet sich jenseits der Differenz von Mittelbarkeit und Unmittelbarkeit. Wie das Auge ein Medium zur Erfassung der sichtbaren Welt ist – es aber die sichtbare Welt nur gibt, weil es

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Wissen aus Unmittelbarkeit, Wissen aus Vermittlung das Auge gibt, so sind auch in der Sprache Mittelbares und Unmittelbares nur zusammen vorhanden. Das aber gilt für jede Sprache, für die der Poesie wie für diejenige, in der über Poesie verhandelt wird. Wenn nun die Sprache ein Medium ist, das wir als Menschen nicht verlassen können (weil es für uns kein Denken jenseits des Sprachlichen gibt), dann können wir nicht eigentlich über, sondern nur aus der poetischen Sprache über die Sprache der Poesie sprechen. Und wir hätten, zumal als Literaturwissenschaftler, das scheint die unerbittliche Konsequenz des Herderschen Naturalismus zu sein, in der Poesie nicht nur den Gegenstand, nein, vielmehr zugleich auch den uneinholbaren Grund unseres eigenen Sprechens über diesen Gegenstand vor uns – und die Grenzen der Literatur wären stets auch die unseres eigenen Sprechens über Literatur! Nun, wenn Sprache ein expressives Medium ist, in dem Denken und Sein nicht getrennt sind, sondern in dem vielmehr, wie Kleist, Schiller und Herder argumentieren, „Der Mensch [...] mit dem Verstande [empfindet]“ (86), dann wäre dem in der Tat so. Doch dürfte eine auf diese sprachliche Weise sich selbst verstehende Literaturwissenschaft darauf hoffen, dass es ihr gelänge, die Grenzen ihrer Disziplin zu überschreiten und ein zweites Mal vom Baum der Erkenntnis zu essen? Wenn es um die Rechtfertigung von Wissensansprüchen geht, stehen Träume nicht hoch im Kurs. Das hat einen einfachen Grund: man kann aus ihnen erwachen! Doch wenn der Traum, den Literatur und Literaturwissenschaft träumen, Sprache heißt – wie heißt dann die Wirklichkeit, in die hinein erwacht, wer ihn zu Ende geträumt hat?

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SCHILLERS RÄUBER ODER DIE NEUERFINDUNG DER

SUBJEKTIVITÄT IM JAHRE 1782

Die Mannheimer Uraufführung der Räuber im Jahre 1782 war ein rauschender und berauschender Erfolg für den Erregungskünstler Schiller, der, wie überliefert wird, dem Spektakel, unter strengem Inkognito im Publikum versteckt, beiwohnte. „Das Theater glich [so lauten die poetisch inspirierten Worte eines Augenzeugen] einem Irrenhaus, rollende Augen, geballte Fäuste, stampfende Füße, heisere Aufschreie im Zuschauerraum! Fremde Menschen fielen einander schluchzend in die Arme, Frauen wankten, einer Ohnmacht nahe, zur Türe. Es war eine allgemeine Auflösung wie im Chaos, aus dessen Nebeln eine neue Schöpfung hevorbricht!“1

Doch was war passiert? Was hatte das Publikum so sehr ins Chaos gestürzt, damals – was genau war da eigentlich in Auflösung begriffen, das Publikum, der Einzelne oder das, was er für sein Ich hielt? Der Mannheimer Theaterarzt Franz Anton May, von dem man annehmen darf, das enthusiasmierte, bisweilen in hysterischen Wallungen delirierende Publikum habe seiner im Besonderen bedurft, schreibt an einen Freund: „Soeben, mein Bester, komme ich voll Wehmut von der Bühne, wo die innersten Falten des leidenschaftlichen Menschenherzens [...] wöchentlich dreimal zergliedert werden. Man stellte das schauerliche Meisterstück, die Räuber, vor, ein Stück, mein Freund! wobei das Menschenblut erfrieren, und die Nerven sowohl beim Schauspieler als Zuschauer erstarren müssen, wenn ihre Urahnen nicht von Pantoffelholz gewesen sind.“2

Zwei Jahre später, anlässlich der Münchner Aufführung der Räuber werden, man hatte von ihrer exzessiven Wirkung beim Mannheimer

1 2

Zit nach: Sautermeister (2005), S. 8. Vgl. ders. ebd., S. 9.

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Die poetische Erkundung der wirklichen Welt Publikum gehört, die Zuschauer vor dem Betreten des Theaters eigens gewarnt. Sie können nun bereits auf einem Theaterzettel lesen: „Gegenwärtiges Schauspiel ist [...] die vollständigste Anatomie des menschlichen Herzens, die gründlichste Untersuchung ihrer geheimsten Wirkungen. [...] um das Herz des Menschen ganz zu entfalten, musste natürlich das Laster in seiner höchsten Stufe, in seiner ganzen Blöse auftreten. Genug, man wird die ganze Bewegkraft des Lasters neben der sanften Tugend zergliedert finden.“3

Damit ist eigentlich schon alles gesagt: Es ist die Zergliederung des Herzens, seiner Anatomie, seiner, wie es bei Franz Anton May heißt, „innersten Falten“, die das Publikum derart in Aufruhr und Hysterie versetzt hatte. Dennoch ist der hier aufgerufene Gedanke zu groß, als dass ihn die uns Heutigen längst zur Buchstäblichkeit geronnene Metapher des Herzens noch zu erklären vermöchte. – Oder, wie man auch sagen kann: Die Metapher des Herzens ist so reich, dass sie mehr zu denken gibt, als die Zeitgenossen Schillers geahnt haben mögen. Das Herz, das, so es metaphorisch genommen wird, meist stellvertretend für das Gefühl steht, hat nämlich weit mehr als nur eine affektive Seite, die es als Sitz der Leidenschaften ausweist, das heißt, es hat eine deutlich kognitive Seite. – Schon nach ägyptischer Überlieferung soll der Urgott Ptah das Weltall mit seinem Herzen erdacht haben, und wenn Schiller in seiner Shakespeare-Bearbeitung den Macbeth sagen lässt: „was für phantome/ sind das, die deines herzens edeln muth/ so ganz entnerven“4, so ist mit dem edlen Mut des Herzens eine Eigenschaft genannt, die das achtzehnte Jahrhundert buchstäblich nicht mehr dem Herzen, sondern dem Subjekt zuspricht. Denn Subjektsein heißt, eine Haltung einzunehmen, die einen Körper in die Lage versetzt, vom Denken zum Handeln überzugehen (oder auch philosophisch: im Denken zu handeln), also Mut und Herz zum Handeln zu haben. Genau an dieser Schnittstelle von Denken, Handeln und Gefühl ist jenes Herz angesiedelt, von dem die Zeitzeugen sagen, Schiller habe es in seinen Räubern so schonungslos seziert, dass das Publikum offenbar gar nicht anders konnte, als außer sich zu geraten. Das ist, wie sogleich zugestanden sei, nun selbst wiederum eine, genau genommen: meine metaphorische Beschreibung eines Geschehens, das man auch etwas buchstäblicher eine Enthemmung des Subjekts nennen könnte. Diese Enthemmung des Subjekts ist aber nun, so die These, recht eigentlich nur ein Symptom für ein viel umfassenderes Geschehen, an dem Schiller beteiligt ist; die Re3 4

Vgl. ders. ebd. Zitiert nach: Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm, Bd. 10, Sp. 1217.

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Schillers Räuber de ist von der Neuerfindung des Subjekts im Medium der Literatur am Ausgang des 18. Jahrhunderts. – Neuerfindung, so mag man sich fragen, warum Neuerfindung? Musste das Subjekt am Ausgang des 18. Jahrhunderts überhaupt noch erfunden werden? Gibt es Subjekte nicht schon sehr viel länger? In der Tat spricht vieles dafür, dass das Selbstverständnis des Menschen als Ursache von (physischen oder mentalen) Handlungen mindestens bis in die griechische Antike zurückreicht. Neu ist jedoch der Gedanke, dass das Subjekt nur Subjekt ist, solange es sich neu erfinden lässt, und dass zu dieser Neuerfindung die Literatur eine besondere Befähigung hat. Das sind, genau genommen, zwei, wie ich meine, auch heute noch sehr bedenkenswerte Gedanken. Der Erste besagt, dass Subjekte sich immer wieder neu erfinden müssen, weil sie keine im Vorhinein (also auch nicht etwa genetisch) bestimmten Wesen sind. Das kann schon deshalb nicht der Fall sein, weil Subjekte sich im Laufe ihres Subjektseins – im Laufe ihres Lebens – immer wieder als Subjekte anerkennen müssen. Denn ein Subjekt ist niemand dadurch, dass er ein gott- oder naturgegebenes (vielleicht sogar genetisch codiertes) Programm erfüllt, sondern dadurch, dass er in der Lage ist, Geschehnisse des eigenen Lebens, Lebensvollzüge als eigene anzuerkennen – um sich auf diese Weise ein eigenes Leben allererst zu schaffen. Das aber kann nur dem gelingen, der in der Lage ist, sich die Verantwortung für die Realisierung dieser Geschehnisse (des eigenen Lebens) selbst zuzuschreiben. Diese Selbstzuschreibung aber setzt voraus, dass Subjekte sich überhaupt auf sich, auf ihr eigenes Subjektsein zu beziehen vermögen. Dieses Sich-auf-sich-selbst-Beziehen erfordert, weil es in der Zeit geschieht, immer wieder neue Akte des Sich-selbstBeschreibens und -Bestimmens und daher auch die Revision oder Substitution manch früher gefasster Beschreibungen oder Zielsetzungen. (Das Leben, insofern es das eigene ist, gilt daher schon der Sprache als eines, das man führen muss, und nicht als eines, bei dem man geführt wird.) Wenn nun aber Subjekte erst dadurch Subjekte sind, dass sie sich immer wieder neu erkennen, anerkennen und nicht zu vergessen: als Subjekte beschreiben, dann ist nicht mehr ohne weiteres klar, was es heißen soll, dass Subjekte davor oder darüber hinaus auch noch die Einheit der Vielheit dieser für das Subjekt konstitutiven Erkennens-, Erlebens- und schließlich auch Lebensvollzüge ermöglichen können. Das aber heißt, sobald man Subjekte als selbstbezügliche Formen begreift, ist überhaupt nicht klar, weshalb sie ein wie auch immer bestimmtes Wesen haben sollen, das im Wandel dessen, was ihnen widerfährt, Kontinuität garantiert. Nein, es ist vielmehr umgekehrt. Erst die Realisierung des Subjekts klärt

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Die poetische Erkundung der wirklichen Welt darüber auf, was dieses Subjekt ist. Erst das Leben zeigt, wie der beschaffen ist, der es lebt. Damit wird deutlich: Wenn von Subjektivität gesprochen wird, wird eigentlich von einer Tätigkeit gesprochen, genau genommen, von drei Tätigkeiten: von einer des Beschreibens, von einer anderen des Anerkennens dieser Beschreibung, dann aber auch noch von einer des Schließens aus dieser Beschreibung. Ja, das Subjekt lässt sich sogar überhaupt als das Ergebnis eines Schlusses begreifen, nämlich als das Ergebnis eines Schlusses von den Handlungen auf dasjenige an uns, das diese Handlungen vollzieht. So wie ich nun aber immer schon etwas von mir wissen muss, damit ich mich als Ich erkennen und anerkennen kann (weshalb es am Ich stets einiges gibt, das sich einem Vorurteil verdankt), bleibt auch der Schluss von den Lebensvollzügen auf dasjenige in mir, das sie vollzieht, stets ein problematischer. Denn eigentlich bedürfte eine vollständige Erkenntnis meiner selbst als Subjekt einer Unendlichkeit der Lebensvollzüge. Da das Leben aber bekanntlich ein endliches ist, können wir uns als Subjekte niemals vollständig beschreiben, erkennen und anerkennen. Wenn wir dennoch die Überzeugung haben, unser Leben als Subjekte zu leben, dann können wir diese Überzeugung nicht aus dem Nachdenken über das, was wir sind, gewonnen haben. Die Überzeugung, ein Subjekt zu sein, lässt sich offenbar nicht – oder: nicht allein im Denken oder mit den Mitteln des Denkens rechtfertigen.5 Woher aber wissen wir dann, dass wir oder andere (im Unterschied zu Tischen oder Stühlen, aber auch im Unterschied zu anderen Lebewesen, Tieren z.B.) Subjekte sind? Offenbar wissen wir es aus einer allem intentionalen Denken immer schon vorausgesetzten und daher opaken Praxis des Sich-Denkens, des Sich-Erlebens oder eben des Sich-beständig-neu-Erfindens. (Subjekt-Sein ist deshalb eher eine Weise denn ein Grund des In-der-Welt-Seins.) Wo diese Tätigkeit des Sich-Erfindens aufhört, hört auch das Subjektsein auf, und es beginnt etwas, das wir bisweilen das Gegebene, bisweilen aber auch das Objektive nennen. Nun ist jenes Erfinden zwar eine Praxis, die sich selbst niemals vollkommen transparent sein kann, doch muss es ein Medium geben, in dem sie realisiert – also: zur Wirklichkeit wird. Genau an dieser Stelle kommt nun der zweite Teil des angesprochenen Gedankens zur Geltung. Mit ihm tritt sogleich die Literatur auf den Plan. Bereits ihre Existenz erhebt Einspruch gegen die verbreitete Annahme, gerade die Praxis des alltäglichen Lebensvollzugs

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Und genau an dieser Stelle erlangt das Selbstgefühl eine kaum zu unterschätzende Bedeutung. Vgl. dazu: Manfred Frank (2002).

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Schillers Räuber sei das einer expressiven Subjektivität entsprechende und angemessene Medium. Doch erhebt die bloße Tatsache, dass es Literatur gibt, auch Einspruch gegen die philosophische Überzeugung vom Denken als dem eigentlichen Medium der Subjektivität. Und auch den neueren Versuchen einer Naturalisierung der Subjektivität im Rahmen der Neurophysiologie widersteht die Literatur auf ihre eigentümliche, und das heißt auf ihre eigene sprachliche Weise. Was aber ist an der Sprache, das ihr, der Literatur, diesen Widerstand ermöglicht? Nun, wenn man sich darüber klar werden möchte, was Sprache ist oder ausmacht, so ist meist das Erste, das auffällt, dies, dass Sprache es ihren Benutzern ermöglicht, auf Gegenstände oder Sachverhalte zu zeigen oder auf sie Bezug zu nehmen. Sprache besteht diesem geläufigen Verständnis zufolge aus Zeichen oder gilt sogar selbst wesentlich als ein Zeichen. Doch Sprache beschreibt nicht nur die Welt, sie drückt auch aus, wie diese Welt als Welt genommen wird. Denn die Sprache kündet immer auch von der Haltung des Subjekts zu dem, was sie, die Sprache, bezeichnet. Der Satz Das Fenster ist geöffnet beschreibt bekanntlich nicht allein einen Sachverhalt der äußeren Welt, sondern zugleich eine Haltung desjenigen, der ihn äußert, zu diesem Sachverhalt; und das kann dann zum Beispiel der Ausdruck einer beobachtenden Haltung, es kann aber auch ein Ausdruck des Wunsches sein, das Fenster zu schließen, oder der Ungeduld darüber, dass dies noch nicht geschehen ist. Aufgrund dieser expressiven Dimension verrät die Sprache niemals nur etwas über die Welt, in der diejenigen, die sie gebrauchen, sich befinden, sondern immer auch etwas über die Haltung und den Bewusstseinszustand derer, die sie gebrauchen. Man kann deshalb mit Sprache stets zweierlei kommunizieren: Sachverhalte in der Welt, aber eben auch Haltungen zu dieser Welt (oder Arten des Erlebens und des Bewusstseins von dieser Welt). Deshalb ist vieles von dem, was wir zu anderen sagen, gar nicht um des Inhalts willen, sondern um unserer selbst willen gesagt. Wir meinen dann häufig bloß, wir sprächen um der Dinge willen.6 Nun wäre diese Ausdrucksdimension der Sprache aber überhaupt nicht vorhanden, wenn es uns nicht gelänge, Subjekte zu erschaffen. Wir benötigen Subjekte, um die in sprachlichen Äußerungen sich ausdrückenden Haltungen, Bewusstseinszustände und Erlebnisweisen einem Träger zuschreiben zu können. Dass es Subjekte gibt, ist also ein Erfordernis unseres deutenden Weltverhaltens; 6

Das eben bemerkt bereits Novalis im Monolog: „Es ist eigentlich um das Sprechen und Schreiben eine närrische Sache; das rechte Gespräch ist ein bloßes Wortspiel. Der lächerliche Irrthum ist nur zu bewundern, daß die Leute meinen – sie sprächen um der Dinge willen.“ Ders. (1995), S. 522.

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Die poetische Erkundung der wirklichen Welt es ist eine Folge des Umstands, dass wir ständig damit beschäftigt sind, dem Geschehen um uns herum (aber natürlich auch in uns selbst) Bedeutungen zuzuschreiben. Und es ist klar, gerade eine Praxis, die es, wie die Literatur, ohne die expressive Dimension der Sprache gar nicht gäbe, kommt nicht ohne Subjekt aus.7 Aber im Falle der Literatur kommt noch etwas hinzu. Denn weil es in ihr nicht um wahre oder falsche Aussagen über Sachverhalte geht, sondern vielmehr darum, dass ihre Leser die in ihr sich ausdrückenden Haltungen (zu größtenteils fingierten Sachverhalten), eben die bereits angesprochenen Weisen des Erlebens erschließen, ermöglicht sie eine kollektive sprachliche Kommunikation über diese, an Bewusstseinszustände gebundenen Haltungen oder Weisen der Welterschließung. Dadurch vermag sie etwas, wozu weder Philosophie oder Psychologie noch Neurophysiologie in der Lage sind. Sie vermag nämlich, die Erlebnisweisen der ersten Person in der Sprache und aus der Perspektive der ersten Person darzustellen. Die Wissenschaften vom Bewusstsein hingegen können ihren Zugang zu den Erlebnisweisen des Bewusstseins nur in einer Sprache beschreiben und denken, die ganz auf die Beobachtung des Subjektiven aus der Perspektive der dritten Person zugeschnitten ist. Spätestens an dieser Stelle mag deutlich sein, was ich meine, wenn ich behaupte, Schiller habe am Ausgang des 18. Jahrhunderts in den Räubern, aber auch in den etwa gleichzeitig entstandenen Philosophische[n] Briefen das Subjekt neu erfunden. Denn nun dürfte es ein Leichtes sein, zu verstehen, dass ich nicht meine, Schiller allein habe das Subjekt neu erfunden, und auch nicht, dass es, einmal neu erfunden, nun ganz selbstverständlich auch weiterhin als eine solche Erfindung Bestand habe. Nein, Subjekte bestehen nur überhaupt im Akte ihrer Neuerfindung. Subjektivität kann daher als eine Tätigkeit verstanden werden und vielleicht sogar als eine Aufgabe, die das Leben denen stellt, die es zu bestreiten haben. Die Literatur erscheint so als eines der Medien, in denen diese wesentlich sprachliche Tätigkeit vollzogen werden kann.8 Nachdem deutlich geworden sein mag, was es heißt, dass das Subjekt nur Subjekt ist, solange es sich neu erfinden lässt, und dass zu dieser Neuerfindung die Literatur eine besondere Befähigung hat, wende ich mich nun wieder Schiller, dem frühen Schiller 7 8

Die Erfindung eines sog. lyrischen Subjekts war daher, man mag das begrüßen oder nicht, aus heuristischen Gründen unvermeidlich. Da überhaupt nicht klar ist, was Subjektivität ohne das Medium, in dem sie sich realisiert, wäre, gibt es keinen Grund zu behaupten, in der Literatur erscheine das Subjekt bloß als ein kontingentes und insofern als subjektives – objektiv hingegen erscheine es in den Wissenschaften. Nein, Literatur ist ein Medium, in dem Subjektivität erscheint, und zwar als Teil der objektiven Welt.

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Schillers Räuber zu, und dabei ganz besonders seinem Versuch, im Medium der Literatur Subjektivität neu zu erfinden. Dabei sei sogleich gesagt: Schiller, der frühe Schiller hat das Subjekt (den Bewusstseinszustand, in dem jemand sich oder andere als Subjekt erlebt) in vier Hinsichten oder Dimensionen beschrieben, die nicht einzeln, sondern erst zusammen das Neue an Schillers Erfindung der Subjektivität ausmachen. Dabei handelt es sich zunächst um eine natürliche oder naturhafte (I) sowie um eine vielheitliche oder pluralistische (II), sodann um eine mit den Mitteln der Liebe erkennende (III), schließlich jedoch um eine tragische Dimension (IV). I. Die erste Dimension dieser Schillerschen Subjektivität ist gewiss die offensichtlichste, denn sie geht sowohl in phylo- wie ontogenetischer Hinsicht allen anderen Dimensionen voraus. Auch in der Beschreibung der zwischen Enthusiasmus und Hysterie schwankenden Publikumswirkung der Räuber war von ihr schon die Rede. Zwar kann die dabei auftretende Enthemmung des Gefühls noch nicht als enthemmte Subjektivität gelten (da diese ja der SelbstErkenntnis und Selbst-Anerkenntnis bedarf), aber sie offenbart gerade deshalb umso deutlicher deren natürliche Grundlage, also die Triebe, Begierden, Reflexe der inneren Natur. Diese innere Natur versorgt jedes Subjekt mit Erregungszuständen und Impulsen, aus denen es handelt. Ohne diese natürlich bereitgestellten Impulse gäbe es kein Handeln, gäbe es also auch keine Subjekte. – Aber dass sie benötigt werden, um zu handeln, bringt ein Problem mit sich, das Schiller zeit seines Lebens umgetrieben hat, die Frage nämlich: Wie verhält sich der Geist, wie verhalten sich, wie wir heute sagen würden: Bewusstseine zu dieser inneren Natur? Wer dieses Problem löst, egal wie, erzeugt Subjektivität.9 Er behauptet sich als Subjekt. Er wird, wie man auch sagen kann, für sich und andere als Subjekt erkennbar. Franz Moor, in den Räubern, ist ein solches Subjekt, das seine Gestalt erkennbar in der Auseinandersetzung mit der Natur, vor allem der inneren Natur gewinnt. Eine markante Gestalt wird er, weil er Subjektivität in ihrer ursprünglichsten, in ihrer naturhaftesten Form zur Darstellung bringt, nämlich in Form der Enthemmung. Franz Moor wird dadurch Franz Moor, dass er sich auf seine spezifische Art und Weise weigert, eine Forderung zu erfüllen, die gegenüber allen Menschen, allein weil sie sich als Kulturwesen begreifen, erhoben wird, nämlich die eigene innere Natur zu zügeln, die Impulse des Handelns 9

Da eine solche Lösung keine sprachliche sein muss und auch Tiere sich zu diesen natürlich bereitgestellten Impulsen verhalten und auf ihre je eigene, charakteristische Weise damit umgehen können, entsteht Subjektivität bereits in der natürlichen Welt.

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Die poetische Erkundung der wirklichen Welt einer rationalen, am Wohl des Allgemeinen ausgerichteten Kontrolle zu unterwerfen. Doch Franz Moor sieht, und genau das macht einen Teil seiner provozierenden Subjektivität aus, keinen – ich betone das: Grund, seinen Hass gegen Gott und die Welt zu zügeln, das heißt, er verwirft jeden Anspruch der Moral – beruft sich dabei jedoch auf Gründe, auf die Vernunft also. Mit dem Einspruch, den die Vernunft hier im Namen der Natur gegen sich selbst erhebt, nimmt das Verhängnis dann seinen Lauf: Franz Moor unterschlägt einen Brief seines älteren Bruders Karl an ihren gemeinsamen Vater, in dem Karl sich für seine früheren studentischen Ausschweifungen, seine mangelnde Impulskontrolle also, entschuldigt. Franz Moor hat dabei nur eines im Sinn, nämlich Rache an seinem von der Natur und dem eigenen Vater stets begünstigten Bruder zu üben. Er schiebt deshalb dem Vater einen gefälschten Brief unter, der den Eindruck erweckt, der Bruder sei nun vollends monströs, eine Ausgeburt vagabundierenden Schreckens geworden. Also verflucht und verstößt der Vater seinen einst über alles geliebten Sohn, der sich nun ganz der Räuberei verschreibt und sich dabei immer mehr dem Bild nähert, das sein hasserfüllter Bruder von ihm zeichnet. Dieser aber nutzt die Gunst der Stunde und kann sich nun endlich dem hingeben, dem er sich schon immer hat hingeben wollen, nämlich dem Zerstören und Vernichten: Der erste Versuch, die Vergewaltigung der Braut seines Bruders, misslingt, aber der zweite, den ohnmächtigen Vater bei lebendigem Leibe in sein Grab zu sperren, gelingt. Dass nun aber seine enthemmte, grausam zerstörerische Natur doch nicht den Sieg davonträgt, liegt, das ist zunächst noch ganz christlich gedacht, an der Macht der Liebe. Sie nämlich ist stärker als all die Treueschwüre, die Karl seinen Gefährten geschworen hat und lässt ihn zurückkehren zu den Seinen, zu Vater, Braut – und Bruder, der nun aber, als er erkennt, dass nunmehr Karl sich an ihm rächen wird, sein Schicksal an sich vollzieht und sich – auch das ein Ausdruck gesteigerter Subjektivität – selbst erdrosselt. Als dann Karl seinen bereits geschwächten Vater befreit und sich ihm zu erkennen gibt, stirbt auch der – an plötzlichem Entsetzen. Und spätestens an dieser Stelle schlägt das Geschehen vollends ins Tragische um, denn jetzt ermordet Karl seine Braut Amalia, und zwar nicht impulsiv, nicht aus natürlichen Gründen also, sondern aus solchen der Überlegung. Er überlegt sich nämlich, dass ihr Tod ihn von der Bindung an sie, zugleich aber auch von der an seine Gefährten befreit. Die Verheißung dieser neuen Freiheit ist so groß, dass sie ihn zu dem Gedanken hinreißt, er könne sie ein weiteres Mal vergrößern, indem er sich zuletzt auch noch von sich selbst befreit, im Suizid. Doch genau der findet nicht statt. Denn er denkt noch einmal nach. Dabei fällt ihm ein, dass der Ausdruck seiner größten Freiheit als Subjekt doch nicht die voll-

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Schillers Räuber kommene Negation seiner selbst im Tod, sondern die Anerkennung seiner selbst als eines moralischen Regeln unterworfenen Geschöpfes sei, das in der Lage ist, aus Einsicht in die Notwendigkeit zu handeln. Das Subjekt, so viel scheint als Ergebnis eines aufgeklärten Denkens gewiss, ist nur dort ganz bei sich selbst, wo es das tut, was es als Ergebnis seiner Überlegung für richtig hält. Denn die aus den Fugen geratene Ordnung des Ganzen kann nur wieder errichtet werden, wenn sich das Subjekt aus freier Überlegung – und nicht in Folge natürlichen Zwangs – dem Ganzen unterwirft. Karl Moor also geht, damit endet das Stück, und übergibt sich der Justiz. Und der Leser bemerkt: In diesem Sich-der-Justiz-Übergeben liegt so etwas wie der äußerste Triumph einer freien, von der Natur befreiten Subjektivität. Schiller entfaltet also in den Räubern das Bild einer umfassenden Subjektivität. Subjektsein heißt dabei offenbar, sowohl eine Haltung zu den natürlichen Voraussetzungen und Impulsen als auch zu den rationalen Gründen des eigenen Handelns einzunehmen. Doch wie bekommt man diese beiden Seiten des Subjekts zusammen? Ein Teil der Antwort, die Schiller in den Räubern gibt, lautet: Man bekommt sie aufseiten der Natur überhaupt nicht zusammen. Franz Moor ist daher ein großer und bedeutender Kritiker der Natur: „Ich habe“, sagt dieser, als er sich den Verzicht auf die Rechte des Erstgeborenen und die schwer auf ihm lastende Bürde der Hässlichkeit vor Augen führt, „Ich habe“, sagt er, „große Rechte, über die Natur ungehalten zu sein, und bei meiner Ehre! Ich will sie geltend machen.“10 Und er ahnt, auch sein Bruder Karl, der raubt und mordet, handelt gegen die Natur – am Schluss, als dieser seine Braut tötet und sich seinen Feinden ausliefert, sogar gegen seine eigene. II. Dass sich Subjektivität auf dem Wege der Kritik und letztlich Emanzipation von der Natur erzeugen lässt, ist freilich nur der aus dem Geiste der Aufklärung hervorgehende Anfang der Schillerschen, durchaus nicht unvermittelten Neuerfindung des Subjekts. Dieser Anfang, der in der Rezeption Schillers bislang vielleicht ein wenig zu wichtig genommen worden ist, breitet seinen Schatten über einen anderen, gerade vom frühen Schiller gedachten und daher meist etwas unterschätzten Gedanken aus. Er erlaubt es, die uns bestimmende kontingente und daher zutiefst ungerechte Natur des Subjekts mit seiner freien, geist-begabten und mitunter sogar 10 Schiller, Die Räuber, in ders. (2004), Bd. I, S. 481-638, ebd. S. 500. Als Textgrundlage dient hier wie im Folgenden der Erstdruck: Die Räuber. Ein Schauspiel, Frankfurt u. Leipzig 1781.

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Die poetische Erkundung der wirklichen Welt vernünftigen Seite zu vermitteln. Wer sich Schiller nicht als jemanden denkt, der von diesem Gedanken überzeugt war, meine ich, wird Mühe haben zu verstehen, warum Schiller nicht lediglich, was er bekanntlich auch getan hat, philosophische Traktate, sondern eben auch so zahlreiche Dramen verfasst hat. Schillers Gedanke, von dessen Wahrheit freilich noch andere – Hölderlin und Freud zum Beispiel – überzeugt waren, besagt, dass man sich das Subjekt nicht als eines, nicht als individuelles, sondern als vielheitliches vorzustellen habe. Denn Subjekte monologisieren nicht. Sie sind ständig mit sich selbst im Gespräch – und vielleicht existieren sie sogar überhaupt nur so lange, als sie mit sich selbst im Gespräch sind. Dabei sind es stets viele Stimmen (darunter nur unter anderem auch die der Natur und die der Vernunft), die da im Subjekt miteinander verhandeln. Erst wenn sie zusammenstimmen oder eine der Stimmen ganz einfach lauter ist als die anderen, geht das Subjekt vom inneren Diskurs oder, je nachdem, von der inneren Auseinandersetzung zum Handeln über. Schiller bringt deshalb in den Räubern nicht lediglich viele handelnde Subjekte auf die Bühne, nein, er präsentiert seinem Publikum auch das eine Subjekt in der Vielheit seiner Stimmen. Die Form des Dramas bringt die innere Verfassung der Subjektivität zum Ausdruck! Das Schauspiel Die Räuber gibt ein Bild dessen, was uns Schiller als Verfassung unserer Subjektivität zu denken gibt. Das mag merkwürdig klingen, doch äußert Schiller selbst diesen Gedanken, als er am 14. April 1783 an Reinwald schreibt: „Jede Dichtung ist nichts anderes, als eine enthousiastische Freundschaft oder platonische Liebe zu einem Geschöpf unseres Kopfes [...]“. Und dann heißt es: „Alle Geburten unsrer Phantasie wären also zuletzt nur wir selbst.“11 Dass dem tatsächlich so ist, dafür sprechen schon die Träume, denn ihre Gestalten sind die der Träumenden. Doch auch das Schauspiel gibt es nur, weil das Subjekt vieler Stimmen bedarf, um seiner selbst habhaft zu werden. Die Notwendigkeit des Dramas als Form, das macht Schiller deutlich, hat in dieser vielheitlichen Natur des Subjekts ihren Grund. III. Nun ist aber weder die Vielheit der Stimmen an die Form des Dramas gebunden, noch ist mit dem Hinweis auf die Vielheit der Stimmen schon gesagt, wie sich vermitteln lassen. Die eigentümliche in den Räubern sich Gehör verschaffende Subjektivität lässt sich deshalb nicht verstehen, ohne dass man sich einer weiteren, in der Figur der Amalia aufscheinenden Dimension der Subjektivität vergewissert.

11 Schiller (2002), S. 69f., Hervorheb. ebd.

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Schillers Räuber Diese in Amalia symbolisierte Dimension der Subjektivität ist die Liebe. Nicht schon, weil Amalia diejenige ist, nach der sich die beiden Brüder, wenn auch auf unterschiedliche Weise, verzehren, nicht schon, weil Karl Moor sie zuletzt eben doch mehr liebt als sich selbst, sondern weil Amalia, anders als die beiden im Hass sich verzehrenden Brüder, die einzige Figur des Stückes ist, die es versteht, nicht nur (wie Karl Moor) die anderen oder (wie Franz Moor) das eigene Ich, sondern eben sich und die anderen zu lieben. Liebe zeigt sich hier in Amalia als der Zustand des Subjekts, der am besten dazu geeignet ist, es von der Bedrohung der Individualität zu befreien. Gerade dem frühen Schiller gilt die Liebe als die schlechthin verbindende, die Zersplitterung der vielheitlichen Subjektivität aufhebende Macht; und sie ist diejenige Dimension der Subjektivität, in der Natürliches und Geistiges, Triebhaftes und Kognitives vermittelt (Freud hätte gesagt: sublimiert) werden. Das wird nirgendwo deutlicher als in Schillers Philosophie der Liebe, die eine Philosophie der Liebe als Medium der Erkenntnis ist. Dort, in dem zeitgleich mit den Räubern entstandenen, Philosophische Briefe betitelten Fragment eines Briefromans heißt es einmal von der Liebe, sie sei „[...] der allmächtige Magnet in der Geisterwelt, die Quelle der Andacht und der erhabensten Tugend – Liebe“, so heißt es weiter, „[sei] nur der Widerschein dieser einzigen Urkraft, eine“, und genau das sind Schillers Worte: „Anziehung des Vortrefflichen, gegründet auf einen augenblicklichen Tausch der Persönlichkeit, eine Verwechslung der Wesen.“12 Eine solche „Verwechslung“ gilt uns Heutigen als ein Ausdruck des Irrtums. Bei Schiller hingegen ist der Irrtum des Sich-für-einen-anderen-Haltens ein Durchgangsstadium auf dem Wege der Erkenntnis des anderen. Ich muss mich, dies also, dass ich Subjekt bin, einen Augenblick lang vergessen und mich für den anderen halten, um dieser andere – allgemein gesprochen: etwas anderes zu werden. Genau dies geschieht in der Liebe. Denn Liebe ist, wie es in den Philosophische[n] Briefen heißt: „Begierde nach fremder Glückseligkeit.“13 Selbst glückselig wird, wer am Glück der anderen teilhat. Deshalb kann, wer andere und anderes liebt, gar nicht anders, er muss sich selbst lieben. Darin liegt, was meist vergessen wird, eine kaum zu unterschätzende epistemische Dimension: Liebe wird, weil sie die Form des Bewusstseins darstellt, in der sich das Subjekt entäußert und sich einem Objekt anverwandelt, ein Medium der Erkenntnis. Denn in ihr erfüllt sich das Ideal aller Erkenntnis: die Überwindung der Differenz von Subjekt und Objekt. 12 Schiller, Philosophische Briefe, in ders. (2004), Bd. V, S. 336-358, ebd. S. 348. 13 Ders. ebd.

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Die poetische Erkundung der wirklichen Welt Das hat weitreichende Konsequenzen. Zunächst die, dass, wer wie Franz Moor der Selbstsucht und dem Hass verfällt, mit erheblichen Einbußen seines Erkenntnisvermögens zu leben hat. Franz Moor muss deshalb zu spät erkennen, wo die Folgen seines Handelns für ihn zum unwiderruflichen Verhängnis, zum Schicksal werden. Sein Nichtverstehen ist eine Folge des Sich-nicht-verbinden-Könnens mit dem, das es da zu verstehen gilt. Wenn aber Liebe als eine Bedingung gelingender Erkenntnis aufgefasst werden muss, dann bleibt fragwürdig, weshalb diejenigen, die sich von Berufs wegen mit dem Erkenntnisvermögen des Menschen befassen, Philosophen und Wissenschaftler z.B., die Liebe als Medium der Erkenntnis so beharrlich ignorieren: „Viele unserer denkenden Köpfe“, so heißt es in der Theosophie des Julius, „haben es sich angelegen sein lassen, diesen himmlischen Trieb aus der menschlichen Seele hinwegzuspotten [...] und diese Energie, diesen edlen Enthusiasmus im kalten, tötenden Hauch einer kleinmütigen Indifferenz aufzulösen. Im Knechtsgefühle ihrer eigenen Entwürdigung haben sie sich mit dem gefährlichen Feinde des Wohlwollens, dem Eigennutz, abgefunden, ein Phänomen zu erklären, das ihrem begrenzten Herzen zu göttlich war.“14

– Hier ist es wieder, das Herz! Nun aber als Chiffre eines Subjekts, das sich beharrlich weigert, seine Subjektivität zum Zwecke der Erkenntnis zu nutzen. Auch die Wissenschaften (samt all der übrigen Verfahren zur Anerkennung des Wissens) entgehen dieser Schillerschen Kritik nicht. Sie vergessen, wie Franz Moor, sich auf die Dinge und Sachverhalte mit dem „Herzen“ – mit ihrer Subjektivität also einzulassen; sie vergessen, dass dem Erkennen eine innere Haltung des Erkennenden entsprechen muss – die Schiller Liebe nennt, die man aber gewiss auch anders nennen könnte. Wenn man bereit ist, Schiller darin zu folgen, so gilt nicht nur für Philosophie und Wissenschaften, sondern auch für all die anderen Gelegenheiten, in denen sich ein Subjekt als erkennendes behaupten will: Das Subjekt bedarf, gerade weil es als Erkennendes immer subjektiv bleibt, der Schulung dessen, was an ihm ein subjektiv Erkennendes ist – des inneren Erlebens also. (Dass eine Gesellschaft, die sich Wissensgesellschaft nennt, die Schulung dieses inneren Erlebens zu Erkenntniszwecken dem lebensgeschichtlichen Zufall überantwortet, kommt so, von Schiller aus gesehen, einer Absurdität gleich.) Literatur war nun für Schiller eine Institution, die ganz hervorragend dazu geeignet zu sein schien, ein Bewusstsein zum Zwecke

14 Ders. ebd, S. 350.

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Schillers Räuber der Fremd- und Selbsterkenntnis zu bilden. Der literarische Ort dieser Ausbildung war der poetisch inszenierte Dialog. Diesen Ort zu einem öffentlichen Ort zu machen, war das Theater eher geeignet als der Briefroman, weil im Zuschauerraum die Beobachtung, Bewertung und Schulung von Bewusstseinslagen kollektiv eingeübt werden konnte. Da das Publikum gerade im Theater die Erfahrung machen kann, dass es in der Lage ist, sich in viele verschiedene Bewusstseinslagen (in sehr heterogene Wünsche, Intentionen, Hoffnungen) einzufühlen, macht es mit sich, mit seiner Subjektivität die Erfahrung, dass all das, was es auf der Bühne erlebt, ein Teil seines eigenen Erlebens ist – und zwar nicht lediglich (wie die aristotelische Poetik behauptet hatte) der Möglichkeit nach, sondern de facto. So wird das Theater zum Schauplatz eines kollektiven Rituals. Es gilt der Einübung – oder Erfindung – einer vielheitlichen, vielstimmigen Subjektivität. In oder mit ihr wird nun erkundet, welche Möglichkeiten und Grenzen die Liebe angesichts der natürlichen und kognitiven Bedingungen, denen Subjekte unterworfen sind, hat. Das Mannheimer Nationaltheater im Januar des Jahres 1782 ist der Ort, an dem diese Erkundung zum ersten Mal vollzogen wird.15 Und alle weiteren Aufführungen der Räuber ritualisieren diese Erkundung der Möglichkeiten und Grenzen des Subjekts. Doch kann die zwischen Enthusiasmus und Hysterie schwankende Publikumsreaktion in den achtziger Jahren des 18. Jahrhunderts nur erklären, wer versteht, dass Schiller das moderne Konzept vielheitlicher Subjektivität, noch ehe es sich in der uns heute vertrauten Form herausgebildet hat, bereits wieder aus den Fugen geraten lässt – um ein anderes Bild an seine Stelle zu setzen. IV. Dieses andere Bild der Subjektivität, in dem sich das Publikum der 1780iger Jahre wiedererkannt haben dürfte, schwankt nicht nur zwischen Verfallenheit und Kritik der Natur, es ist nicht nur eines, das Subjektivität in viele Instanzen und Bewusstseinslagen aufspaltet und daher des verbindenden Mediums der Liebe bedarf, nein, es ist mehr noch das einer tragischen Subjektivität – und erst in dieser tragischen Verfasstheit eines, das ebenso für antike wie für moderne und postmoderne Zeiten gültig ist.16 Es dürfte nicht zuletzt – und anders als konjunktivisch kann hier nicht geurteilt werden – diese Einsicht in die aller Subjektivität eigene Tragik gewesen sein, die das Publikum damals so sehr hat außer sich geraten lassen. 15 In seiner Geschichte des menschlichen Herzens klagt Schubart 1775 noch darüber, dass in der deutschen Literatur kaum je Leidenschaften dargestellt würden. Vgl. Sauermeister (2005), S. 8. 16 Zur Resurrektion des Tragischen im Zeitalter der Moderne vgl. Menke (2005).

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Die poetische Erkundung der wirklichen Welt Um sich diese tragische Dimension der Räuber vor Augen zu führen, muss man seine Aufmerksamkeit nicht so sehr auf die Kulmination des Geschehens am Ende der Handlung richten, als die Protagonisten einen je und je unvorhersehbaren und gewaltsamen Tod sterben, sondern auf die Konstellation der Hauptpersonen. Bereits diese Konstellation, von der ich gesagt habe, in ihr werde dem Publikum ein Bild seiner eigenen Bewusstseinslage präsentiert, enthält eine tragische Dimension, die der Verlauf der Handlung dann zur Entfaltung bringt. Zu dieser Konstellation gehört nämlich, dass alle Hauptfiguren von demselben Begehren getrieben sind, nämlich von dem nach Liebe: Der Vater will seine Söhne und diese wollen ihn lieben und von ihm geliebt werden, wie sie auch Amalia lieben und von ihr geliebt werden wollen. Doch es kommt etwas dazwischen. Was da dazwischen kommt, mag man Zufall oder Schicksal nennen, in jedem Fall ist es eine Ungerechtigkeit, eine Laune der Natur. Denn sie macht einige ihrer Geschöpfe liebenswerter als andere, gibt einigen das, was sie anderen vorenthält. Aus diesem (aus der Perspektive des Einzelnen) schicksalhaften oder (aus der der Natur) kontingenten Grunde liebt der Vater einen seiner Söhne mehr als den anderen und liebt auch Amalia nur den einen von beiden, während der andere als Reaktion darauf beschließt, sich selber zu hassen und sich an den anderen zu rächen. Es ist diese Ungerechtigkeit der Natur, die zum Movens des Geschehens wird; es ist ihre Laune, mehr nicht, die bewirkt, dass eine der Figuren aus tiefer Kränkung beschließt, die anderen in ihren Bann zu ziehen, um sie, schließlich aber auch sich selbst zu vernichten. Das Ende ist dann notwendigerweise ein schreckliches – notwendig deshalb, weil Natur gar nicht gerecht sein kann; Gerechtigkeit gehört nicht zu den Tugenden, die einzulösen man von der Natur verlangen darf. Stets erzeugt die Natur daher Geschöpfe, die ob dieser vermeintlichen Ungerechtigkeit, die sie erleiden (einer Ungerechtigkeit, die sie als ihr natürliches Schicksal erfahren), so verletzt sind, dass sie nur noch eines wollen, nämlich vernichten – und dies so sehr, dass sie nicht die geringste Bereitschaft verspüren, sich die Erfüllung dieses destruktiven Begehrens durch Gott oder Ratio versagen zu lassen. – Dass hier auch die Vernunft nicht weiterhilft, muss dann auch Karl Moor erfahren: Die Schlüsse, mit denen er am Ende seiner Lage zu entfliehen sucht, helfen nicht weiter – sie lassen ihn einen Mord begehen. Wenn aber weder Gott, von dem Franz Moor sich abwendet, noch Vernunft, die auch seinen Bruder Karl in die Irre leitet, weiterhelfen, wie ist es dann um die in den Philosophische[n] Briefen so sehr beschworene Macht der Liebe bestellt – oder, wie wir heute nüchterner sagen würden: der Anerkennung, Zuneigung, Sympa-

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Schillers Räuber thie, des Sich-Einlassens auf den anderen oder das Andere? Die Antwort, die Schiller in den Räubern gibt, lautet schlicht: Nicht gut! Das Begehren zu lieben und geliebt zu werden ist angesichts einer Natur, die das Vermögen zu lieben so ungleich verteilt, eher eine Ursache des Leides als die seiner Überwindung. Damit aber wird eine wohlfeil psychologisierende Deutung, die besagt, dass Schiller in den Räubern eine Konstellation auf die Bühne bringt, die wir alle in uns tragen – wenn man so will: den Vater, die Geliebte, den Bruder in uns – obsolet. Die Figuren sind – auf der äußeren wie der inneren Bühne – Chiffren einer anderen, einer tragischen Verfassung unserer Subjektivität. Mit dieser tragischen Verfassung kommt das Daseinsrecht der Poesie ins Spiel – denn das Tragische gibt es nur, weil es Tragödien gibt. Darüber hinaus aber bricht sich eine Einsicht Bahn, die sich nur schwer ertragen lässt. Denn das eigentlich Tragische besteht nicht in einem plötzlich eintretenden Unglück, auch nicht allein darin, dass ein solches Unglück – wie im Ödipus – selbst verschuldet ist, nein, das Tragische besteht vielmehr darin, dass, mit einem Wort Peter Szondis gesprochen „[...] der Mensch auf dem Weg untergeht, den er eingeschlagen hat, um dem Untergang zu entgehen.“17 Und genau das geschieht in den Räubern: Der Sohn rettet den lebendig begrabenen Vater, doch der stirbt im Augenblick der Rettung; Franz Moor treibt, indem er, um sich selbst zu erlösen, den Untergang der anderen betreibt, sich selbst ins Verderben; Karl Moor muss, um Gutes zu tun, Verbrechen dulden und begehen; und schließlich: er ist erst da ganz frei von der Willfährigkeit der natürlichen Begierden und Sehnsüchte, wo er sich in Unfreiheit, soll heißen: in Gefangenschaft begibt; Amalia wiederum, um deren Liebe zu gewinnen er sich von seinen Getreuen lossagen will, muss sterben, damit er sich überhaupt von ihnen lossagen kann. Hier radikalisiert Schiller das Tragische. Das Handeln bewirkt nun das genaue Gegenteil dessen, was es bewirken soll. Es ist durch und durch paradox – was hier nichts anderes heißt als: sobald gehandelt wird, tritt das Unglück auf den Plan. Das aber ist eine fatale Diagnose für das Subjekt. Nicht nur ist es selbst ein durch und durch heteronomes, auch sein Verhältnis zur Welt ist von dieser unversöhnlichen und ausweglosen, eben heteronomen Art. Ja fast scheint die Welt selbst so etwas wie ein Subjekt zu sein, ein großes gewalttätiges, das mit jeder seiner Handlungen die des Menschen dementiert; wann immer dieser zur Tat schreitet, erhebt sie Einspruch. Damit wirft sie – darin liegt die existentialistische Dimension alles Tragischen – das Subjekt, das ja nur ist, was es ist, insofern es handelt, auf sich selbst zurück. Das Sub-

17 Szondi (1978), S. 213.

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Die poetische Erkundung der wirklichen Welt jekt als tragisches Subjekt ist nun eines, das nicht handeln kann – aber handeln muss. Und wer, so muss man sich nun fragen, wollte angesichts dieser ausweglosen Lage, in die Schiller das Subjekt, gerade auch das moderne Subjekt gebracht hat, nicht außer sich geraten? Wer wollte sich da, wo Welt und Subjekt so sehr aus den Fugen geraten sind, noch darüber wundern, dass ein Augenzeuge der Mannheimer Uraufführung berichtet: „Das Theater glich einem Irrenhaus, rollende Augen, geballte Fäuste, stampfende Füße, heisere Aufschreie im Zuschauerraum! Fremde Menschen fielen einander schluchzend in die Arme, Frauen wankten, einer Ohnmacht nahe, zur Türe. Es war eine allgemeine Auflösung wie im Chaos, aus dessen Nebeln eine neue Schöpfung hervorbricht“?

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KRANKHEIT UND WISSEN ODER: WORAN ERKRANKT, WER IM GEISTE ERKRANKT? DER VERSUCH EINER PHILOLOGISCHEN ANTWORT MIT BLICK AUF HEINRICH VON KLEISTS DIE HEILIGE CÄCILIE ODER DIE

GEWALT DER MUSIK

Auch philologisches Wissen bedarf nun von je her der schöpferischen Subjektivität. Doch nimmt es seinen Ausgang nicht eigentlich beim Wort, auch nicht bei der Tat, sondern am Zweifel darüber, was früher war, das Wort oder die Tat. Auch wenn am Anfang Wort und Tat noch nicht getrennt, sondern im göttlichen, im theologischen Sprechakt vereint sind, bleibt der Zweifel bestehen. Denn es könnte sein, dass dieser ursprüngliche Sprechakt ein Unterscheiden, ein Differenzieren, es könnte aber auch sein, dass dieses ursprüngliche sprachliche Geschehen ein Beziehen, ein Vermitteln ist. Was hier in Frage steht, ist nicht weniger als das Problem, wie die Entstehung des Neuen, in der Terminologie des Heiligen gesprochen: wie Schöpfung zu denken sei – als die Vermittlung, als Synthese des Vielen oder als ein Differenzieren im Reich der unterschiedslosen Einheit. Doch eigentlich handelt sich dabei um semantische Probleme, also um solche der Tat – in einer, um sogleich mit Kleist zu sprechen, „ringförmigen Welt“1. Ganz gleich, ob man mit dem Synthetisieren des Vielen oder dem Differenzieren des Einen beginnt, zuletzt gelangt man stets zu der Überzeugung, dass man eigentlich am entgegengesetzten Ende der Welt hätte beginnen müssen. Das schicke ich voraus, um deutlich zu machen, dass der Anfang, den ich sogleich bei den Begriffen Wissen und Krankheit nehmen werde, ein willkürlich gesetzter Anfang ist. Doch hoffe ich, deutlich machen zu können, dass dies für alles weitere nicht gilt. Ich denke nämlich, dass, wer die Frage nach dem Verhältnis von Krankheit und Wissen stellt, notwendigerweise auf den Begriff der

1

Kleist (1966), S. 805.

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Die poetische Erkundung der wirklichen Welt Geisteskrankheit zu sprechen kommen muss; denn Geisteskrankheiten sind ja (wenn es sie gibt) epistemische Krankheiten, Krankheiten also, die unser Erkenntnisvermögen beeinträchtigen. Wenn man sich aber als Literaturwissenschaftler über den Zusammenhang der Begriffe Krankheit und Wissen im Begriff der Geisteskrankheit Gedanken machen möchte, wird man – und das ist dann der nächste Schritt – angeben müssen, worin der Unterschied einer solch philologischen zu einer philosophischen oder medizinischem Reflexion des gleichen Themas besteht. Die Eigenart des philologischen Zugriffs werde ich mich bemühen zu verdeutlichen, indem ich zuerst eine vielleicht merkwürdig klingende Frage stelle, nämlich die nach den semantischen Bedingungen der Geisteskrankheit – um sodann eine philologische, also eine literarisch legitimierte Antwort auf sie zu versuchen. Dass ich mich bei diesem Versuch vor allem auf Heinrich von Kleists Erzählung Die heilige Cäcilie oder die Gewalt der Musik berufen werde, ist dem Umstand geschuldet, dass Kleist in dieser Erzählung eine sowohl epochenspezifische als auch eine, wie ich meine, zu Beginn des 21. Jahrhunderts besonders bedenkenswerte Antwort auf die Frage nach den semantischen Bedingungen der Geisteskrankheit gibt. Wie wenig hier jedoch von einer Antwort oder gar einer Lösung, dafür aber umso mehr von der Gestalt eines Problems die Rede sein kann, das mag man dann am Ende daran erkennen, dass Kleist sich und seinen Interpreten die Aufgabe stellt, über die Gründe der bisweilen heilenden, bisweilen aber pathogenen Wirkung der Musik zu spekulieren. Allein vor diesem Hintergrund ist die These zu verstehen, mit der ich meine Überlegungen zu den Begriffen Krankheit und Wissen beginnen möchte und die besagt, wir hätten es dabei von Anfang an mit einer einzigen Frage zu tun, mit der Frage nämlich: Wie gehen wir mit Unterscheidungen um? Wer mit dieser Frage beginnt, ist gezwungen sich vor Augen führen, dass alle Begriffe, also auch die Begriffe Krankheit und Wissen, vor allem dadurch gekennzeichnet sind, dass sie unseren Umgang mit Unterscheidungen regeln, z. B. der Unterscheidung gesund/ krank oder der Unterscheidung Wissen/Nicht-Wissen. Das aber heißt: Begriffe geben uns – darin besteht die enorme Orientierungsleistung, die sie für uns erbringen – Regeln an die Hand, mit deren Hilfe wir entscheiden können, ob, wie und in welchen Situationen wir bestimmte Worte anwenden; und das wiederum heißt: „das Begreifen eines Begriffs [besteht] im Beherrschen des Gebrauchs eines Wortes“2. Die Behauptung, man verstehe einen Begriff, verifiziert

2

Vgl. zu diesem auf Wittgenstein und Sellars zurückgehenden Grundsatz: Brandom (2001), S. 16.

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Krankheit und Wissen man deshalb, indem man zeigt, dass man in der Lage ist, ihn anzuwenden. Das Begreifen oder Verstehen ist demnach eine Sache des Beherrschens oder Könnens, also eine Frage praktischen Wissens. Wenn also irgendwo Worte Taten und Taten Worte sind, dann im Reich des Begrifflichen. Aber in diesem zugleich imaginären und konkreten Reich, in dem zu leben wir als Menschen gezwungen sind, existieren Begriffe nicht als voneinander isolierte Monaden. Nein, sie gehen Beziehungen ein; begründende zumeist, unversöhnliche manchmal, nicht selten aber ganz einfach wahlverwandte. Wenn das so ist, dann muss die Evolution dieses begrifflichen Universums früher oder später in einer Frage kulminieren; und die lautet: Wer ist eigentlich in der Lage, diese Beziehungen, die Begriffe miteinander eingehen, einzuschätzen und zu bewerten, also zu verstehen? Und wie zeigt sich ein solches Verstehen? Nun sind es von alters her die Philosophen, die von sich behaupten, gerade sie seien für die vielfältigen Beziehungen im Reich des Begrifflichen zuständig. Die Orte, an denen sich ihre Zuständigkeit zeigt, seien, so wollen sie glauben machen, eben philosophische Texte und der Nachweis dieser Zuständigkeit zeige sich in der Überzeugungskraft der philosophischen Argumentation. Doch ein Blick auf das Verhältnis, das die Begriffe Krankheit und Wissen miteinander eingehen, macht ziemlich schnell klar, dass das nicht die ganze Wahrheit sein kann. Denn die Spezialisten für den Umgang mit dem Verhältnis dieser Begriffe sind in den Augen der meisten Menschen gerade nicht Philosophen – auch nicht, da machen wir uns nichts vor, Literatur- oder Kulturwissenschaftler, sondern Ärzte – vielleicht aber auch Medizinmänner oder Schamanen. Diese dokumentieren nun das Wissen, das sie über Krankheiten haben, allein dadurch, dass sie in der Lage sind, Kranke zu heilen. Das Heilen ist der Nachweis ihres Wissens. Und über ein solches Wissen können sie auch dann verfügen, wenn die Theorien, mit denen sie den Vorgang des Heilens erklären, aus Überzeugungen bestehen, die mit den meisten unserer aufgeklärt westeuropäischen Überzeugungen konfligieren. Es scheint also, als gewinne im Falle von Krankheit und Wissen die Antwort auf die Frage nach ihrem Verhältnis eine ganz und gar praktische Gestalt – und als sei es diese praktische Gestalt, die das medizinische Wissen über Krankheit von dem der Literaturwissenschaftler oder Philosophen unterscheidet. Doch ganz so einfach ist das nicht. Denn auch das Wissen, das Philologen oder Philosophen über die Bedingungen des Krankseins haben ist ein praktisches Wissen; nur ist die Gestalt dieser Praxis eine semantische und keine somatische. Was heißt das?

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Die poetische Erkundung der wirklichen Welt Es heißt, auch Philologen oder Philosophen dokumentieren ihr Wissen über das Phänomen der Krankheit im Ausführen einer Praxis, nur eben nicht in der des Heilens, sondern in einer Praxis, die zeigt, dass sie sich darauf verstehen, mit der gesund/krankUnterscheidung umzugehen. Aber handelt sich dabei dann nicht um ein lediglich sprachliches Wissen, um ein Wissen, das nur in einem Wissen um Worte besteht – und nicht darum, wie man Kranke heilt? Nun, das Wissen über die semantischen (und nicht: somatischen) Bedingungen darüber, wie der Begriff der Krankheit zu gebrauchen ist, ist nicht irgendein Wissen. Denn das Wissen, was es heißt, krank zu sein oder mit der Möglichkeit des Erkrankens zu leben, darf man getrost als ein Wissen auffassen, über das nur Menschen verfügen können. Gewiss, auch Tiere haben ein Gefühl dafür, wie es ist, krank zu sein und sind sogar in der Lage, auf dieses Gefühl zu reagieren (indem sie sich z.B. zurückziehen oder nur bestimmte Nahrung zu sich nehmen). Doch Tiere können nicht wissen, was es heißt, krank zu sein, denn dies würde voraussetzen, dass sie in der Lage wären, mit der gesund/krank Unterscheidung ihr Gefühl, wie es ist, krank zu sein, sprachlich darzustellen und aus dieser Darstellung Konsequenzen für ihren Umgang mit ihrem Leid zu ziehen. Erst die Fähigkeit des sprachlichen Darstellens und Folgerns ermöglicht die spezifisch humane Dimension des Krankseins; erst sie macht aus dem somatischen Faktum ein semantisches, also eines, das, weil es sich im Reich des Begrifflichen ereignet, Bedeutung gewinnt – im Leben. Das heißt, weder aus Fähigkeit zu heilen noch aus derjenigen zu fühlen, aber auch nicht aus der Fähigkeit, den Begriff der Krankheit in naturwissenschaftliche Theorien zu integrieren, lässt sich ein hinreichendes Wissen über Krankheit, darüber, was es für Menschen heißt, krank zu sein, ableiten. Wenn es daher eine spezifisch sprachliche Dimension des Wissens um das Faktum des Krankseins gibt, könnte man annehmen, es handele sich dabei um eine Dimension des bereits angesprochenen begrifflichen Universums, für dessen nicht-empirische Erforschung Philosophen zuständig sind. Doch auch dieser Schluss wäre noch ein voreiliger. Denn Begriffe sind, um im Bilde zu bleiben, durchaus Fixsterne, an denen sich Diskurse orientieren, aber auch Fixsterne entstehen oder vergehen und, wichtiger noch: auch Begriffe samt der in ihnen fixierten Regeln werden diskursiv erzeugt, sind also das Ergebnis einer Projektion der Sprachgemeinschaft. Es war daher niemals zu erwarten, dass ihre Grenzen distinkt oder ihre Inhalte klar und deutlich zu erkennen seien; gerade an den besonders großen und daher weithin bekannten Sternen am Firmament des Begrifflichen zeigt sich die Vermessenheit einer solchen

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Krankheit und Wissen Erwartung – man denke nur an die Begriffe Freiheit, Liebe, Sinn, Gerechtigkeit – oder eben, Foucault hat darauf hingewiesen: Krankheit.3 Gerade die metaphorische Erzeugung von Begriffen in poetischen Diskursen lässt dabei erwarten, dass diese Diskurse in besonderem Maße den Wandel des Begrifflichen und namentlich der in den Begriffen fixierten Regeln befördern. Und gerade der Literaturwissenschaft fällt dabei die Aufgabe zu, am Firmament des Begrifflichen die Entstehung des Neuen zu beobachten – bis hin zur Umkehr der Kulturgesetze. Um 1800 ereignet sich nun im Kontext des Krankheitsbegriffs eine solche Umkehr der Kulturgesetze. Vorbereitet durch die Entwicklung der Psychologie im Gefolge der Aufklärung und der Französischen Revolution, werden nun Krankheiten kreiert, für die die neu entstehende Wissenschaft der Psychologie und mit ihr die Institution der Psychiatrie die ausschließliche Zuständigkeit beanspruchen. Doch gegen diesen vor allem gegenüber der Theologie vertretenen hegemonialen Anspruch, den Psychiatrie und Psychologie bekanntlich noch bis in die Gegenwart hinein aufrecht erhalten, gibt es von Beginn an heftigen Widerstand. Karl Philipp Moritz, Georg Büchner, Heinrich von Kleist heißen seine Redelsführer. Anton Reiser, Lenz, Die heilige Cäcilie oder die Gewalt der Musik lauten die Titel ihrer Kampfschriften. Sie alle widmen sich einer gemeinsamen, eigentlich psychologischen Frage: Was heißt es, im Geiste zu erkranken – oder: Was sind die Möglichkeitsbedingungen der Geisteskrankheit? Die Literatur fragt in den Augen des Philologen dann eigentlich: Was heißt es, an Bedeutungen zu erkranken, ist so etwas überhaupt möglich – oder: Was sind die semantischen Bedingungen der Möglichkeit von Geisteskrankheit? Es geht also nicht darum, herauszufinden, welche physiologischen oder sozialpsychologischen Voraussetzungen gegeben sein müssen, damit Menschen im Geiste erkranken. Nein, es geht die Frage danach, ob es im Reich des Begrifflichen oder in dem des Bedeutens etwas gibt, das Menschen im Geiste erkranken lässt. Sollte es gelingen, im Bereich des Begrifflichen oder in dem umfassenderen Reich des Semantischen ein solches pathogenes Moment ausfindig zu machen, dann wäre natürlich weiter zu fragen – nämlich: Könnte es nicht sein, dass nicht nur Individuen im Geiste, sondern auch der semantisch und, wie uns Hegel lehrt, sogar begrifflich operierende Weltgeist erkranken kann – und vielleicht immer schon erkrankt ist? Und wenn das möglich sein sollte, wäre dann nicht die Ausarbeitung einer Psychopathologie des Weltgeistes

3

Vgl. Foucault (1969).

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Die poetische Erkundung der wirklichen Welt das Gebot der Stunde? Und wenn auch das so wäre, sollte diese Psychopathologie des Weltgeistes ihr Vokabular wirklich noch der modernen Psychologie entlehnen, die es nahe legt, bestimmte Vorkommnisse im semantisch-begrifflichen Universum als Kollektivneurosen oder kollektive Regressionen zu beschreiben? Wäre eine Psychopathologie des Weltgeistes nicht vielmehr eine Disziplin, für die es überhaupt noch keine angemessene Begrifflichkeit gibt – jedenfalls so lange nicht, als der literarische Beitrag zu einer solchen Wissenschaft nicht berücksichtigt wird? Nun bringt das Veranschlagen einer solch transpersonalen semantischen Dimension des Krankheitsbegriffs eine Reihe von Problemen mit sich, vor allem solche, die mit seinen Grenzen, seiner vielleicht nur metaphorischen Übertragung auf den Bereich des Geistigen und namentlich seiner Abstraktion vom Individuellen und Körperlichen zusammenhängen. Hier wäre im Bereich des Allgemeinbegrifflichen und damit des Philosophischen noch vieles zu sagen. Doch möchte ich im Folgenden entschiedener als bisher als Literaturwissenschaftler argumentieren, und das heißt als jemand, der die Gründe seiner Thesen und Überzeugungen nicht dem Allgemeinbegrifflichen, auch nicht dem Empirischen, sondern der fiktionalen Literatur entnimmt. Denn was sollte Literaturwissenschaft zu betreiben anderes heißen, als im Medium der Literatur zu denken? Was sollte es anderes heißen, als sich die Methode des Denkens von der Literatur diktieren zu lassen – so lange, bis man sich genötigt sieht, sie wieder zu verlassen? Wenn es um das Verhältnis von Krankheit und Wissen geht, dann schließt ein solches Vorgehen die Bereitschaft ein, sich die Gestalt des Problems nicht von der Medizin oder der Philosophie, sondern von der Literatur vorschreiben zu lassen – z.B. von derjenigen Heinrich von Kleists – z.B. von dessen Die heilige Cäcilie oder die Gewalt der Musik betitelter und mit dem Zusatz Eine Legende versehener Erzählung.4 Kleist erzählt darin von drei namenlosen Brüdern, die am Ende des sechzehnten Jahrhunderts, aus den Niederlanden nach Aachen kommend, beabsichtigen, dem „vor den Thoren dieser Stadt“ gelegenen „Kloster der heiligen Cäcilie“ am „Frohnleichnamstag“ das, wie Kleist schreibt, „Schauspiel einer Bilderstürmerei zu geben“ (76). Doch als alle Vorbereitungen getroffen sind und offensichtlich wird, dass die Nonnen jedes irdischen Schutzes entbehren müssen, geschieht im Festgottesdienst, nur Momente bevor der Sturm losbrechen soll, das Unvordenkliche: Schwester Antonia, die eben noch im fiebrigen Delirium darniederlag, betritt Szene. Sie setzt sich

4

Die folgenden Ausführungen beziehen sich auf die zweite Fassung von 1811; zitiert wird nach: Heinrich von Kleist (1997).

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Krankheit und Wissen zum großen Erstaunen aller an die Orgel und lässt zusammen mit ihren Glaubensschwestern ein Oratorium, wir wissen nicht welches, mit solcher Macht erklingen, dass beim gloria in excelsis das gesamte Auditorium vor Rührung erstarrt und die eben noch zum Sturm entschlossenen Brüder gemeinsam die Hüte abnehmen, ihre Hände vors Gesicht legen und Gebete der ihnen eben noch verhassten katholischen Liturgie zu beten beginnen. Viele Stunden lang und eigentlich den ganzen Rest ihres Lebens werden sie damit dann nicht mehr aufhören. Sie verharren in der Anbetung des Heilands. Immer um Mitternacht (ein letztes Mal dann in der Stunde ihres „heitern und vergnügten Todes“, 104) intonieren sie von nun an jenes gloria in excelsis und verbringen ein gemeinsames, in der Freude der Umnachtung und der Verehrung des Katholizismus gefristetes Leben – im Irrenhaus. Kleist erzählt nun im Wesentlichen von den Nachforschungen der Mutter dieser drei Brüder. Erst diese Nachforschungen fördern jenes im mehrfachen Wortsinn unglaubliche Geschehen zu Tage. Selbstverständlich ist der Leser aufgerufen, sich die Frage Kann das überhaupt sein? zu stellen – und dies umso mehr, als die Nachforschungen der Mutter ergeben, dass besagte Schwester Antonia die Aufführung des so wirkungsmächtigen Oratoriums gar nicht hat dirigieren können, weil sie zum Zeitpunkt der Aufführung längst verstorben war. Und auch, dass die Mutter der drei Brüder Jahre später beim bloßen Anblick der Partitur des Oratoriums die Sinne zu verlieren droht, scheint ein Umstand zu sein, den man als unglaublich wird bezeichnen dürfen, erst recht, wenn man erfährt, dass sie sich daraufhin zurück in ihre Heimat, die Niederlande, begibt, um dort zum katholischen Glauben zu konvertieren. All das ist so unglaublich, dass die distanzierende und ironisierende Haltung des Erzählers gegenüber diesem Geschehen nichts anderes als ein Gebot des sogenannten gesunden Menschenverstandes zu sein scheint: „Auch hat der Erzbischof von Trier, an den dieser Vorfall berichtet ward, bereits das Wort ausgesprochen, das ihn allein erklärt, nämlich, ‚daß die heilige Cäcilie selbst dieses zu gleicher Zeit schreckliche und herrliche Wunder vollbracht habe; und von dem Pabst‘“, lässt der Erzähler die Äbtissin dann sagen, „,habe ich soeben eine Breve erhalten, wodurch er dies bestätigt‘“ (103). Doch was wäre fragwürdiger als eben diese Bestätigung? Sie auch nur zu erwähnen heißt, sie zu bezweifeln! Obwohl Kleist hier so offensiv die Dekonstruktion einer christlichen Legende betreibt, will ich nun nicht das dekonstruktivistische Spiel weiter- und bis dahin treiben, dass ich mich darum bemühe, nachzuweisen, wie wenig auch der Erzähler mit Gründen behaupten kann, was er behauptet, nämlich die Fiktionalität des Erzählten, und dass er, der Erzähler, demnach noch die Dekonstruktion der

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Die poetische Erkundung der wirklichen Welt Legende dekonstruiert, Kleist hier also eine neue, wenn man so will: poetische Legende inauguriert. Da ich mich einem solchen dekonstruktivistischen, wenn auch der Sache nach (ich betone das) durchaus berechtigten Spiel ganz und gar nicht verpflichtet fühle, gestatte ich mir noch ein paar Sätze lang bei zwei Fragen zu bleiben, die Kleists Erzählung stellt, und zwar mit solch einer Aufdringlichkeit stellt, dass man sie kaum überhören kann. Und überhören darf man sie auch nicht, jedenfalls dann nicht, wenn man die Gestalt des Problems erkennen möchte, die das Verhältnis der Begriffe Krankheit und Wissen in dieser Kleistschen Erzählung annimmt. Wer sich also fragt: Was weiß Kleists Erzählung von Krankheit und Wissen?, dem möchte ich antworten: Sie weiß etwas über das Problem, mit dem man konfrontiert wird, wenn man die semantischen Gründe der Geisteskrankheit verstehen möchte. Kleists Erzählung führt ihren Leser zu diesem Problem, indem sie ihn mit zwei Fragen konfrontiert. Die erste dieser Fragen lautet: Sind die bilderstürmendenden Brüder wahnsinnig oder nicht – wie steht es also in ihrem Fall um die Bedingungen des Gebrauchs der gesund/krank-Unterscheidung? Die zweite ebenso eindringlich gestellte, aber kaum je wirklich beantwortete, weil vielleicht überhaupt unbeantwortbare Frage ist hingegen: Woher rührt eigentlich die Gewalt der Musik – in diesem, damit aber auch in jedem anderen Falle? Nun gibt es keinen Grund dazu, anzunehmen, diese zweite Frage sei bereits endgültig zu beantworten – bereits die Griechen hatten zu ihrer Beantwortung eigens eine mythologische Figur kreieren müssen, Orpheus; die Christen hingegen haben es dann nur noch zu einer wenig vertrauenserweckenden, bei Herder schließlich sehr in Misskredit geratenen Schutzpatronin der Musik, der heiligen Cäcilie, gebracht.5 Doch möchte ich durchaus versuchen, ein wenig Licht ins Dunkel, das der Schatten dieser nach wie vor offenen Frage nach der performativen Kraft der Musik wirft, zu bringen, indem ich mich ihr von der ersten Frage aus nähere. Wenn man darüber nachzudenken beginnt, ob die Brüder, von denen Kleist erzählt, gesund oder krank sind, bemerkt man über kurz oder lang, dass für beide Optionen einiges spricht; und man kann dann, ich habe das angedeutet, leicht der Versuchung erliegen, dekonstruktivistischen Profit aus dieser Unentscheidbarkeit zu ziehen. Doch viel wichtiger ist es, zu verstehen, was mit dieser Entscheidung auf dem Spiel steht. Zunächst dieses, dass die Protago-

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Zu Herders Kritik am Cäcilien-Mythos vgl. ders. (1888), zur Legende der heiligen Cäcilie vgl. Hinderer (1998), S.185ff.

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Krankheit und Wissen nisten dieser Erzählung entweder, wie der Erzähler insinuiert, musikalisch traumatisiert oder aber doch erleuchtet werden. Sind sie lediglich traumatisiert, dann ist das, was ihnen widerfährt, schlicht das Unbegreifliche. Ihm vor allem ist Kleist auf der Spur. Doch dieses Unbegreifliche scheint noch erklärbar zu sein, in theologischer Begrifflichkeit nämlich: Die Brüder seien, so heißt es, „an der Ausschweifung einer religiösen Idee [er]krank[t]“ (84), denn nur so sei es zu erklären, dass sie ihre Tage „um einen Tisch“ sitzend, „auf welchem ein Crucifix stand“ verbringen, „mit gefalteten Händen schweigend auf die Platte gestützt, dasselbe anzubeten“ (84f.). Doch wenn diese Diagnose zutrifft, sie das Opfer eines strafenden Gottes sind, dann vollzieht sich an ihnen der Sieg eines rächenden katholischen Gottes über seine Widersacher. Der Irrsinn, dem sie verfallen, dokumentiert dann die in der Legende von der heiligen Cäcilie symbolisierte Wahrheit des katholischen Glaubens. Und das Medium, in dem sich das Strafgericht dieses alttestamentarischen Gottes vollzieht, wäre die Musik. Doch die Ironiesignale des Erzählers sind zu deutlich: Das Kloster wird schließlich doch säkularisiert; die katholizistische Deutung weiß sich zuletzt nur zu helfen, indem sie sich auf die Autoriäten der Kirche (Bischof und Pabst) beruft, und vor allem: wahrhaft und vollkommen katholischen Glaubens sind in dieser Erzählung einzig die dem Irrsinn Verfallenen. Es bleibt deshalb immer auch das Gegenteil zu denken, dies also, dass alle anderen geisteskrank, dem Wahnsinn verfallen, die Brüder aber nur eines, nämlich erleuchtet sind. Auch in diesem Fall zahlten sie einen beträchtlichen Preis: Denn sie verbringen ein von der menschlichen Gesellschaft isoliertes Leben im Irrenhause, das freilich in einen, wie es am Ende heißt, „heitern und vergnügten Tod[ ]“ (104) mündet. Doch warum? Offenbar, weil das in der Erleuchtung Gewusste ein so gewaltiges Wissen ist, dass vom Augenblicke der Erleuchtung an alles andere an Bedeutung verliert, vielleicht sogar das Leben. Gewiss ist nur, nicht einmal die Spanne eines Lebens reicht aus, dieses ungeheuren Wissens Herr zu werden: „wenn die gute Stadt Aachen wüßte, was sie [sc, die Brüder wissen]“, heißt es, „so würde dieselbe ihre Geschäfte bei Seite legen, und sich gleichfalls, zur Absingung des gloria, um das Crucifix des Herrn niederlassen“ (86). Um welche Ungeheuerlichkeit wissen also die Brüder – oder glauben sie zu wissen? Darum, so heißt es in der Sprache der Theologie „,daß er [sc., der Heiland] der wahrhaftige Sohn des alleinigen Gottes sei‘“ (85). Es ist dieses Wissen, das zu groß wäre für diese Welt, ein Wissen also, das sowohl eines um die metaphysischen Gründe des In-der-Welt-Seins als auch eines um die Präsenz dieser jenseitigen Gründe im Diesseits wäre. Als Mutmaßung, als Über-

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Die poetische Erkundung der wirklichen Welt zeugung, als Glaube mag das noch zu ertragen sein, doch als Gewissheit nicht mehr. In der Begrifflichkeit der Theologie gesprochen: Würde der Streit um die einzig wahre Religion entschieden (und er wurde für die Christen entschieden durch die Menschwerdung ihres Gottes), dann wäre nichts mehr wie zuvor. Für den Einbruch des Metaphysischen ins Irdische ist der Mensch, so scheint es, nicht geschaffen – allenfalls, Kleists Erzählungen legen diesen Gedanken nahe, die Kunst. Wenn daher auch die Erleuchteten den Preis des Wahnsinns zu zahlen haben, also auch die Gesunden an ihrem Wissen erkranken müssen, dann muss die Welt selbst – oder ihr Geist – krank sein, und zwar so sehr, dass vielleicht nur noch die Kunst heilen kann. Nun heilt aber die Kunst – die des Erzählens wie der Musik – ganz offensichtlich nicht, jedenfalls nicht in der Heilige[n] Cäcilie. Die Musik rettet einige (einige Nonnen z.B.), doch andere treibt sie in den Irrsinn. Kleists Erzählung offenbart sich daher am Ende, in ihrem letzten Absatz, wo sie die so unglaubwürdige christliche Legende fortspinnt, als eine der Unerklärbarkeit des Seins verpflichtete Legende. Es muss deshalb noch einmal genauer und das heißt in nichttheologischer Begrifflichkeit eine Antwort auf die Frage versucht werden: Woran genau erkranken die Brüder, wenn Sie im Geiste oder am Geist der Welt erkranken? Und da lautet meine Antwort: Sie erkranken an einem semantischen Geschehen, nämlich an der Repräsentation! Aber wie geht das? Wie kann man an der Repräsentation erkranken? Nun, das Repräsentieren meint bekanntlich immer zweierlei: zum einen heißt es soviel wie das Ersetzen eines Abwesenden. Man deutet auf den roten Punkt einer Landkarte und behauptet: ,Hier liegt Buenos Aires!‘ In einem solchen Fall repräsentiert dieser rote Punkt Buenos Aires. Zum anderen kann zu repräsentieren aber auch das Vergegenwärtigen eines Abwesenden bedeuten: Ein gläubiger Katholik besucht einen Gottesdienst, nimmt an einer Eucharistiefeier teil, und der Geistliche gibt ihm die Hostie mit den Worten Der Leib Christi! Dieses Repräsentieren, das Vergegenwärtigen eines Abwesenden ist nun in Kleists Heiliger Cäcilie das schlechthin bestimmende semantische Geschehen: Am Fest der Realpräsenz Gottes, dem Fronleichnamsfest, soll das „Schauspiel einer Bilderstürmerei“ (76) gegeben, also dem biblischen Verbot, den wirklichen Gott ästhetisch darzustellen, Gehör verschafft werden. Doch unmittelbar bevor dies geschieht, wird im Medium der Musik eine jenseitige, vielleicht göttliche, vielleicht aber auch teuflische Macht präsent. Diese Macht erleuchtet – oder traumatisiert das Bewusstsein derjenigen, die diese Realpräsenz nicht wahrhaben wollen, und be-

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Krankheit und Wissen wegt sie sogar zur Konversion. Schließlich verwandelt sich im Prozess der Erzählens oder Lesens aber auch das Geschehen in eines, das immer nur wieder dasselbe vergegenwärtigt, nämlich die Uneinsehbarkeit seiner Gründe. Man kann also an der Repräsentation erkranken, im Geiste, und zwar dann, wenn das Präsentische und Präsentierende an ihr zu aufdringlich wird. Das Bewusstsein, so scheint es, benötigt eine repräsentierende Distanz zu den Dingen. Wo nur noch diese Dinge sind, da, wo reine Unmittelbarkeit ist, wird das Bewusstsein überwältigt – es wähnt sich gläubig, erleuchtet oder wissend, doch Glauben, Erleuchtetsein, Wissen bedürfen, da sie geistige Zustände sind, der Mittelbarkeit. Der Geist also kann offenbar nicht anders, er muss sich in die Zeichen oder in die Reflexion retten; allein sie sind in der Lage, ihn vor zu viel Wirklichkeit zu bewahren. Unmittelbarkeit und Realpräsenz sind daher in Kleists Heiliger Cäcilie nicht die Heilmittel des sich vor der Wirklichkeit in die Reflexion flüchtenden Geistes; sie sind dessen Bedrohung. Die Brisanz dieser Diagnose mag man sich vor Augen führen, indem man sich an literarische Gestalten wie Anton Reiser, Werther oder auch Georg Büchners Lenz erinnert. Denn sie alle leiden nicht an zu viel Unmittelbarkeit oder Realpräsenz, im Gegenteil, sie versinken geradezu in ihrer Subjektivität, das heißt in ihrer, die Präsenz des Seins ersetzenden Repräsentation der Wirklichkeit – um es einfach auszudrücken: im Denken. Damit manifestiert sich an ihnen die eigentliche Krankheit des modernen, nachkantischen Denkens: ihm kommen die Dinge abhanden. Seit Beginn der Moderne scheint vieles von dem, was den Menschen umtreibt – auch die Wissenschaften machen da keine Ausnahme, schlicht ausgedacht zu sein. Ein solches Denken entbehrt daher aber nicht auch schon der Wirkung. Nur ist es eines, das beständig auf sich selbst einwirkt, das, was ist, das Sein aber nicht mehr auf sich wirken lässt. Das therapeutische Motto lautete daher stets: Zurück zu den Dingen – nach Möglichkeit so weit zurück, dass der Unterschied zwischen den Dingen und dem Denken verschwindet, das Denken selbst ein dingliches Denken wird! Die Diagnose Der moderne Geist erkrankt an sich selbst, an seiner Distanz zu den Dingen ist daher seit Goethe, Nietzsche, Wittgenstein immer wieder gestellt worden; und auch das Therapeutikum Zurück zum Sein! ist seit Goethe, Hegel, Husserl, Heidegger immer wieder verschrieben worden – nur eben nicht, darauf will ich hinaus, von Kleist. Für ihn ist, im Gegenteil, das Denken der Moderne in der Gefahr, an zu viel Unmittelbarkeit, an der Sehnsucht nach zu viel Unmittelbarkeit zu erkranken. Verhält sich deshalb Kleist zu Goethe in etwa so wie Derrida zu Heidegger? Dekonstruiert Kleist wie nach ihm Derrida die Präsenz-

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Die poetische Erkundung der wirklichen Welt metaphysik seines Vorläufers, so, dass er statt auf An- auf Abwesenheit setzt und allein der Differenz noch das Wort redet? Bedenkt man die eingangs erwähnte Gleichursprünglichkeit von Einheit und Vielheit sowie die Ringförmigkeit des Kleistschen Universums, so muss man antworten: Nein, natürlich nicht! Um dieses Nein, natürlich nicht und die damit einhergehende Post-Postmodernität oder eben ganz einfach die Gegenwärtigkeit Kleists deutlich zu machen, möchte ich, ehe ich dann auf die Heilkraft und die der Musik zu sprechen komme, noch einmal an das poetische Programm von Kleists Über das Marionettentheater betitelter Erzählung erinnern. Kleist diagnostiziert in dieser Erzählung ja die am weitesten verbreitete Krankheit des Geistes. Denn woran erkrankt der Geist hier? Ganz offenbar an seiner Distanz zu den Dingen! Doch Kleist fügt dieser Diagnose, vermutlich veranlasst durch die Aporien in die die idealistische Philosophie bei dem Versuch gelangte, ein seiner selbst gewisses Bewusstseins zu denken, noch etwas hinzu: Der Geist, so lautet seine vollständige Diagnose, erkrankt nicht nur an seiner Distanz zu den Dingen, sondern auch an der zu sich selbst: er kommt sich im Denken selbst abhanden. Das heißt, der Akt der Repräsentation und das Repräsentierte treten bereits im Bewusstsein auseinander. Die Gefahr, dass so etwas geschieht, ist immer dann gegeben, wenn das Bewusstsein sich selbst beobachtet. Dann nämlich verliert es, was wir heute vielleicht Natürlichkeit nennen würden, Kleist aber in der Terminologie des 18. Jahrhunderts Grazie nannte. Doch die Grazie ist mehr als nur eine Eigenschaft des mit sich übereinstimmenden Bewusstseins; sie ist ein Selbst- und Weltverhältnis, das seinen Ausdruck in der Bewegung des Körpers findet. In der Marionettentheatererzählung spricht daher der Ich-Erzähler nicht zufällig mit einem von Berufs wegen der Grazie verpflichteten Tänzer, der im Gespräch das Ideal der vollkommen bewusstlosen Bewegung entwickelt, einer Bewegung, der kein Beobachter mehr im Wege steht und bei der daher der Akt der Repräsentation und das Repräsentierte eins sind. Man sieht also, Kleist verschreibt dem Geist hier durchaus noch das alte Therapeutikum der Unmittelbarkeit oder Realpräsenz. Und die Unverzichtbarkeit dieses Therapeutikums liegt, wie Kleist nicht müde wird zu betonen, an dem vom Geist begangenen Sündenfall. Doch die Vertreibung aus dem Paradies, die Destruktion der Einheit von Denken und Handeln durch die Integration des göttlichen, gut und böse unterscheidenden Beobachters ins menschliche Bewusstsein ist zugleich die Möglichkeitsbedingung eben dieses Bewusstseins. Die Gesundung des Geistes kann deshalb niemals auf dem Wege einer Rückkehr zur Unmittelbarkeit geschehen. Die Grazie, das Ideal der Vermittlung von Repräsentation und Repräsentiertem

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Krankheit und Wissen kann sich, das ist die große Hoffnung, das ist die Utopie am Ende der Erzählung, auch im Geiste ereignen, nämlich dann, „wenn die Erkenntnis gleichsam durch ein Unendliches gegangen ist“6 und wir ein zweites Mal vom Baum der Erkenntnis essen. Die dem Bewusstsein als repräsentierendem immer schon eingeschriebene Möglichkeit der Erkrankung, die darin besteht, dass es einerseits nur als repräsentierendes überhaupt Bewusstsein ist, während es andererseits in einem fort bemüht sein muss, das Repräsentieren zu negieren und zu den Sachen selbst vorzudringen, diese pathogene Anlage des Bewusstseins muss nicht, das jedenfalls ist die Kleistsche Utopie, immer weiter vererbt, sie kann in der Bewegung auf ein Unendliches zu, sie kann in der Bewegung hin auf einen U-Topos, auf einen Nicht-Ort ausradiert werden. Das klingt natürlich sehr nach reiner Metaphysik, doch es ist, meine ich, mehr als das, es ist Musik – oder eben, doch auf diesen Unterschied kommt es nun, da ich zum Schluss gerne auf jenen Kleistschen U-Topos zuhalten möchte, nicht mehr an, jedenfalls nicht für Kleist, der im Sommer 1811, also zur Zeit der Überarbeitung der Cäcilien-Erzählung jenen berühmten Brief an Marie von Kleist geschrieben hat, in dem er von sich sagt: „so habe ich, von meiner frühesten Jugend an, alles allgemeine, was ich über die Dichtkunst gedacht habe, auf Töne bezogen. Ich glaube, daß im Generalbaß die wichtigsten Aufschlüsse über die Dichtkunst enthalten sind.“7 Wer sich jetzt fragt ,Was will uns der Dichter damit sagen?‘, der kommt nicht umhin, selbst eine Antwort auf diese Frage zu versuchen. Ich beginne diesen Versuch einer Antwort damit, dass ich meine Zweifel daran bekunde, ob Kleist sich hier wirklich Rameaus Begriff des basse fondamentale, eines Symbols des harmonischen Geschehens also, das nur als gedachte Stimme existiert, zu eigen macht oder mit dem Begriff des Generalbasses nicht vielmehr auf den in der mehrstimmigen Musik kontinuierlich fortlaufenden basso continuo anspielt. Aber was wäre mit einer Entscheidung in dieser Frage schon gewonnen?8 Weitaus wichtiger scheint mir zu sein, dass sich Kleist einer Metapher bedient. Der Generalbaß ist ihm eine Metapher, die Dichtkunst so auf Musik bezieht, dass in dieser Beziehung, dasjenige, was die Dichtkunst ausmacht, hervortritt. Wenn man so die Poesie von der Musik her betrachtet, ist das Erste, was auffällt, dass bei beiden Künste die Frage Wie können sie bedeuten, was sie bedeuten – bedeuten sie überhaupt etwas? stets 6 7 8

Kleist (1966), S. 807. Ders. (1977), Bd. II, S. 875. Zum Einfluss und zur Rolle der Musikästhetik vgl. Lubkoll (1995).

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Die poetische Erkundung der wirklichen Welt eine offene ist. Zwar wird beständig behauptet, dass diese Künste jeweils eine eigene Sphäre poetischer oder musikalischer Bedeutungen erschließen, aber jeder, der so etwas behauptet, gerät in Verlegenheit, sobald er mit Fragen konfrontiert wie Wo genau ist diese Sphäre?, Wie sehen musikalische oder poetische Bedeutungen aus? usw. Das heißt, außer dem, was im einen Fall zu hören und im anderen buchstäblich zu lesen ist, scheint es nichts weiter zu geben, das sonst für das Bedeutungsgeschehen relevant ist (und wer weiß, vielleicht ist am Ende doch alles wie im Märchen von des Kaisers neuen Kleidern: alle sehen etwas, nur weil sie meinen, da müsste doch etwas zu sehen sein). Wie auch immer, gewiss ist immerhin, dass beide Künste, Poesie und Musik, denkbar schlecht zur Vermittlung von Inhalten geeignet sind, auf jeden Fall um vieles schlechter als unsere propositionale Sprache. Musik verhehlt diesen Umstand auch gar nicht. Es geht in ihr ganz offensichtlich nicht um Inhalte, Dinge, Gegenstände. Doch worum geht es ihr dann? Was sonst stellt sie dar, wenn nicht Inhalte oder Gegenstände? Ich meine: Erscheinungsweisen – oder Hinsichten, in denen Inhalte, Dinge oder Gegenstände als das genommen werden, was sie sind. Bei dem von der Musik Dargestellten handelt es sich um Weisen des Gegebenseins – genauer: um Weisen, in denen das, was uns in der Erfahrung gegeben wird, von uns erfahren wird. Die Musik profitiert dabei von dem Umstand, dass wir einen inneren Sinn für diese Hinsichten oder Weisen des Gegebenseins haben. Da unsere Aufmerksamkeit zumeist völlig auf die Gegenstände oder Inhalte unserer geistigen oder sinnlichen Erfahrung gerichtet ist, die Dinge unsere Aufmerksamkeit meist mit einer ihnen eigenen tyrannischen Macht (die aber vielleicht nichts anderes ist als die Macht der Gewohnheit) in Beschlag nehmen, bleibt uns dieser innere Sinn zumeist verborgen. Doch ist uns sein Medium bestens vertraut. Denn das Medium dieses inneren Sinns ist das Gefühl. In ihm dokumentiert sich die Fähigkeit unseres Körpers, das Geschehen in und um uns herum in ein semantisches Geschehen zu verwandeln – vor aller sprachlichen Repräsentation, aber auch noch danach. Wenn man nun mit Blick auf die Musik fragt: ,Wie aber kommt hier das Akustische ins Spiel? Weshalb ist es gerade die Tonkunst, die diesen inneren Sinn anspricht?‘, so hält bereits Rousseaus Essay über den Ursprung der Sprachen, worin auch über Melodie und musikalische Nachahmung gesprochen wird eine äußerst bedenkenswerte Antwort bereit. Denn Rousseau behauptet darin, dass die sowohl in onto- als auch in phylogenetischer Hinsicht ersten Erfahrungen mit den Weisen, in denen etwas erscheint, ans Akustische

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Krankheit und Wissen gekoppelt sind, und zwar einfach deshalb, weil sie (auditive) Sprach- und Sprecherfahrungen sind: „Schreie der Freude oder des Schmerzes, Drohungen, Seufzer.“9 Das heißt, wir verstehen bei der Sprache den Gestus, in dem sie geäußert wird, lange bevor wir Inhalte verstehen. Und das Medium dieses nicht-inhaltlichen Verstehens ist, so Rousseau, ein auditives. Wir verstehen also das, wofür wir nicht einmal Namen haben. Das heißt, wir haben zwar keine Namen, aber wir haben sehr wohl auditive Repräsentationen, unendlich differenziert und z.B. als Stimmungen interpretierbar. Töne werden daher, wie man Rousseau paraphrasierend sagen kann, nicht allein zum Zeichen unserer Bewegungen und Gefühle, sondern zu Repräsentationen der Weisen, in denen etwas als etwas erscheint (das unterscheidet sie übrigens von Geräuschen). Allein deshalb vermag Musik etwas zu repräsentieren, ohne immer schon Inhalte repräsentieren zu müssen. Das macht sie zu einer durch und durch gestischen Kunst. Darin, in dieser Unabhängigkeit des Repräsentationsgeschehens von allem Inhaltlichen und Gegenständlichen liegt der Grund sowohl für ihre Unausdeutbarkeit als auch für ihre ubiquitäre Verstehbarkeit – schießlich aber auch für die heilende Wirkung, die sie all jenen zuteil werden lässt, die an den Aporien der Repräsentation im Geiste erkrankt sind. Denn wenn irgendwo Deutung und Bedeutung sowohl eines als auch voneinander unterschieden sind, dann in der Musik. Wenn irgendwo die Abwesenheit des Repräsentierten zugleich erzeugt und überwunden wird, dann in der Musik. Ist die Musik daher der U-Topos der Kleistschen, aber ganz gewiss nicht nur seiner Poesie, dann, weil sie wie selbstverständlich jenen Generalbass des inneren Sinns zu instrumentalisieren weiß, den auch die Poesie beansprucht – jenen inneren Sinn für die Weisen des Gegebenseins der Welt, der unser Erleben Sekunde für Sekunde, Augenblick für Augenblick begleitet und der dafür verantwortlich ist, das Bedeutung nur zusammen mit Deutung geschieht. Das Wissen der Poesie, auch dasjenige um die semantischen Bedingungen der Geisteskrankheit ist daher keines, das an ihren Inhalten abzulesen wäre – und auch keines, das sich hinter Bedeutungen, die wir detektivisch aufzuspüren hätten, versteckt. Denn für den, der Kleist folgt, geht es in der Dichtung wie in der Musik nicht um Inhalte, sondern um Arten oder Hinsichten, in denen Inhalte oder Begriffe, wie z.B. Krankheit und Wissen, erscheinen – in einer Welt aus Bedeutungen, in der Worte immer schon Taten, nämlich solche des Geistes sind.

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Rousseau (1984), S. 144.

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WAS IST DIE KUNST? WAS IST DER MENSCH? DIE ÄSTHETISCHE ERKENNTNIS DES MENSCHEN

„Denn, um es endlich auf einmal herauszusagen, der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.“1

Wer beginnt über eine ästhetische Erkenntnis dessen, was den Menschen zum Menschen macht, nachzudenken, den schlägt, ganz gleich, ob er darum weiß oder nicht, dieser Satz in seinen Bann. Denn es ist einer dieser ungeheuren, wie in Marmor geschlagenen Sätze, die Schiller bisweilen geäußert hat und die, nachdem er sie einmal geäußert hat, fortan wie ein Alp auf den Gehirnen der Nachgeborenen lastet. Doch handelt es sich, im Grunde genommen, um einen einfachen, auch einfach zu verstehenden und daher leichten, geradezu, hört man auf den Klang seiner ersten Worte, mit Leichtigkeit heraus gesagten, fast ein wenig zu salopp klingenden Satz. Doch trotz der Leichtigkeit, mit der er geäußert wird, doch trotz der Schwere, die ihm seine Wirkungsgeschichte verleiht: Es handelt sich ganz offensichtlich nicht um einen wahren Satz. Denn weshalb sollte der Mensch nur da ganz Mensch sein, wo er spielt – und nicht da, wo es ihm Ernst ist, nicht da, wo er vollkommen in der Wirklichkeit ist, sei es, weil er sich zur Gänze ihrem Prinzip verschreibt und daher ganz und gar realistisch ist, sei es, weil er sich in der Wirklichkeit gegen diese Wirklichkeit behaupten muss und daher, wie man sagen kann, gezwungen ist, als Mensch (um einen alten Imperativ noch einmal zu bemühen) wesentlich zu werden? Und auch dies, dass der Mensch nur spielt, wo er ganz Mensch ist, gar, dass er nur spielt, wo er ganz bei sich selbst, ganz Gattungswesen ist, kann, um das Mindeste zu sagen, nicht einmal entfernt als zustimmungspflichtig gelten. Denn warum sollte der Mensch nicht gerade dann spielen, wenn er nicht bei sich ist, ja

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Friedrich Schiller (2004), Bd. V, S. 618, Hervorheb. ebd.

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Die poetische Erkundung der wirklichen Welt vielfach genau deshalb spielen, weil er selbstvergessen sein, sich, und sei es nur für den Augenblick, abhanden kommen möchte – als Gattungswesen? Er würde dann genau deshalb spielen, um sein Menschsein im Spiel zu überwinden oder: um im Spiel mehr als nur Mensch zu sein, sich als Mensch zu transzendieren! Was aber ist – der Mensch? Das ist, keine Frage, nicht irgendeine Frage, ganz generell nicht, und schon gar nicht im besonderen Horizont der Frage nach dem Wahrheitsgehalt des Schillerschen Satzes. Hier ist es die schlechthin entscheidende Frage. Denn es kommt eben, um mit Schiller zu sprechen, auf die „volle[ ] Bedeutung des Worts Mensch“ an. Das aber heißt: Es ist eine Frage der Semantik! Sie entscheidet über den Wahrheitsgehalt des Satzes, schließlich aber auch über die wechselseitige Abhängigkeit, über den Zusammenhang der Begriffe Mensch, Spiel und, nicht zu vergessen, Kunst – einen Zusammenhang, den Schiller dann wenig später in einem anderen Satz anklingen lässt, und zwar wiederum in einem Satz, der so seltsam unbekümmert daherkommt, dann aber das Gewicht der Welt auf sich lädt: „Mit einem Wort: es gibt keinen andern Weg, den sinnlichen Menschen vernünftig zu machen, als daß man denselben zuvor ästhetisch macht.“2 Doch die Frage bleibt: Was aber ist der Mensch? Oder, mit Schiller gefragt: Was ist die „volle[ ] Bedeutung des Worts Mensch“? Die aristotelische und bis heute maßgebende Definition des Menschen besagt bekanntlich, er sei ein animal rationale. Doch offenbar ist diese Definition alles andere als eine hinreichende Antwort auf die Frage nach dem, was den Menschen zum Menschen macht. Zwar unterscheidet sie durch das Kriterium der Rationalität den Menschen vom Tier, aber sie sagt nichts darüber aus, wie am Menschen das Verhältnis dieser Rationalität zum Tierischen beschaffen sei – oder des Geistes zum Körper – oder der Seele zum Leib – oder des Gehirns zum Denken und Handeln. Sie sagt nur aus, dass ein solches Verhältnis besteht, nicht wie es besteht. Doch genau das müsste sie, um anzugeben, was den Menschen zum Menschen macht. Das Resultat der aristotelischen Bestimmung des Menschen, die im Grunde nicht mehr als eine Klassifikationsregel ist, kann man daher als Inhaltslosigkeit und Leere auffassen. Darin besteht das Nichtssagende, dessen jeder mehr oder weniger, aber eben doch gewahr wird, der sie gebraucht – wenn er sich zum Beispiel dabei beobachtet, dass er Sätze äußert wie: Der Mensch ist immer beides, Körper und Geist, Leib und Seele, er ver-

2

Ders. ebd., S. 641.

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Was ist die Kunst? Was ist der Mensch? eint in sich Tierhaftes und Vernünftiges, damit aber verschweigt, was man eigentlich wissen möchte, dies nämlich: worin das Und besteht. Man kann dieses Nichtssagende aber auch als ein bedeutendes Nichtssagendes, etwa als Gegenstand einer Frage auffassen. Dann hätte Aristoteles in seiner Definition des Menschen dem Begriff des Menschen die Gestalt einer Frage verliehen. Sie lautete: Wie sind Animalisches und Rationales, weiter gesprochen: Somatisches und Semantisches aufeinander zu beziehen, so dass aus dieser Beziehung das spezifisch Menschliche, das, was den Menschen zum Menschen macht, hervorgeht? Auf diese Frage, die Frage nach dem Gattungswesen Mensch, gibt jeder einzelne Mensch seine je und je individuelle Antwort – einfach durch die Art, in der an ihm Somatisches und Semantisches aufeinander bezogen sind, einfach durch die Weise, wie er in seinem Handeln Körper und Geist aufeinander bezieht, vor allem aber: sich zu der Notwendigkeit, dass er sie aufeinander beziehen muss, verhält. Was den Menschen als Menschen (als ein Wesen, das darum weiß, dass es ein Mensch ist) ausmacht, ist die Weise, wie er sich zu dieser Frage verhält, welche Haltung er zu ihr einnimmt. Oder auch: Menschen sind Naturwesen, die sich im Horizont einer bestimmten Frage auf sich selbst beziehen, sich zu sich selbst verhalten – eben der Frage nach der eigentümlichen Beziehung von Körper und Geist. Unsere Intuition, dass der Gattungsbegriff des Menschen nicht allein eine Sache des Denkens sei, ja, sich allein mit den Mitteln der Vernunft gar nicht zur Gänze erschließen lässt – eine Intuition, die Schillers Votum für das Spiel als Medium der Selbstbestimmung des Menschen so eingängig macht – hat genau hierin, in dieser je und je individuellen Gestalt, die jedes menschliche Leben diesem Allgemein-Begrifflichen gibt und geben muss, ihren Grund.3 Denn die von der Natur (nicht der Kultur übrigens) vorgegebene gegebene Schnittstelle von Soma und Sema ist eben das Gefühl, mit einem Wort: die angeborene Fähigkeit unserer Körper, Wahrnehmungen ihrer selbst verstehen und deuten zu können. Was Gefühle sind oder ausmacht, erst recht das Wie-es-sich-anfühlt-ein-menschli-

3

Weshalb, so lange es menschliches Leben auf diesem Planeten gibt, jedes einzelne menschliche Leben an der Bestimmung des allgemeinen Begriffs vom Menschen Anteil hat. Das freilich ist keine theologische, sondern eine utopische, nüchterner ausgedrückt, eine pragmatistisch expressivistische Bestimmung des Menschen – oder, um es gerade heraus zu sagen: der Mensch ist als Mensch überhaupt nichts Gegebenes: wir müssen erst herausfinden, was der Mensch ist.

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Die poetische Erkundung der wirklichen Welt ches-Wesen-zu-sein erschließt sich zur Gänze nur von innen, nur aus der Perspektive der ersten Person. Obwohl der Gattungsbegriff daher nichts ist, was uns äußerlich wäre, nicht lediglich ein abstraktes Allgemeines, sondern vielmehr jeder ihm durch die Art seines Selbstverhältnisses eine besondere, je und je einmalige Gestalt gibt und wir deshalb am einzelnen Menschen stets etwas über das Gattungswesen Mensch in Erfahrung bringen – obwohl das so ist, bemühen sich Wissenschaftler, namentlich Anthropologen – unter ihnen auch der ästhetische Anthropologe Schiller – darum, auf die Gattungsfrage keine individuelle, sondern eine diskursiv-allgemeine, vor allem aber explizite Antwort zu geben. Schiller versucht dies, indem er die aristotelische Frage nach dem Verhältnis von Animalischem und Rationalem umformuliert, das heißt, indem er zunächst das Animalische durch den auf die Veränderung des Realen zielenden Stofftrieb, die Ratio hingegen durch den auf die Produktion von Formen und Bildern (des Realen) zielenden Formtrieb ersetzt und sodann beide Triebe zu allgemeinen, jeden einzelnen Menschen als Gattungswesen bestimmenden Kräften erklärt. Daraus resultiert dann die bekannte schillersche Antwort auf die Frage nach dem, was den Menschen zum Menschen macht. Sie lautet, es sei eben der Spieltrieb, der am Menschen Stoff- und Formtrieb miteinander vermittelt und so die Einheit des Menschen bestimmt – damit aber eben auch: die spezifische Form, in der am Menschen Sinnliches und Geistiges aufeinander bezogen sind. Der Spieltrieb ist dabei zugleich dafür verantwortlich, dass der Mensch am Ausgang des 18. Jahrhunderts noch einmal als ganzer Mensch und nicht immer schon als durch die Erfahrung der Selbstentfremdung stigmatisierter Mensch begriffen werden kann. Noch sind Vita activa und Vita contemplativa vereinbar, zumindest in der theoretischen Kontemplation. Doch ein Trieb drängt nach Äußerung und Ausdruck. Auch für einen Triebe vermittelnden Trieb wie den Spieltrieb gilt das. Ohne seinen Ausdruck wüssten wir nicht, dass es ihn gibt. Ohne seine Äußerung könnte in der Konzeption Schillers der Mensch niemals ganzer Mensch sein – er käme nie zu sich, bliebe sich selbst immerzu fremd. Wo aber äußert sich der Spieltrieb? Schiller behauptet, im ästhetischen Spiel, in der Kunst als ästhetischem Spiel. Gewiss äußert er sich auch im reinen Spiel oder im reinen ästhetischen Verhalten, doch, wenn irgendwo, dann, das ist die These Schillers, äußert er sich im ästhetischen Spiel der Kunst. Das aber heißt: Wer keine individuelle, sondern eine allgemeine Antwort darauf haben möchte, was den Menschen zum Menschen

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Was ist die Kunst? Was ist der Mensch? macht, der muss auf die Kunst schauen – auf die Kunst als ästhetisches Spiel. Denn, wenn überhaupt irgendwo, dann ist hier das Verhältnis von Sinnlichem und Geistigem ein spezifisch menschliches. Ist das wahr? Oder nur schön gedacht? – Eine Utopie des achtzehnten Jahrhunderts? Das hängt davon ab, was man unter Kunst versteht, also von der Bedeutung des Wortes: Kunst. Was also ist die Kunst? Ist sie ein ästhetisches Spiel, gar ein heiteres, zweckfreies nur um sich selbst bekümmertes? Dagegen spricht, dass der Ursprung der Kunst gerade kein heiterer gewesen sein dürfte. Während die Erzielung eines Lustgewinns aus dem freien Umgang mit dem, was an der Wirklichkeit als deren Erscheinen oder Schein hervortritt, bereits Tieren zu eigen ist, wird an den ersten Höhlenzeichnungen, die Menschen an die Wände ihrer Behausungen gemalt haben, etwas anderes deutlich. Dies nämlich, dass sie darum gewusst haben müssen, dass es Bilder sind, die sie schufen – und nicht einfach Wirkliches; gemalte Gestalten also und nicht wirkliche Menschen, Tiere, Dinge. Dies aber setzt voraus, dass sie in der Lage waren, zwischen Darstellungen und Dargestelltem, zwischen Repräsentation und Repräsentiertem zu unterscheiden. Damit sie aber eine solche Unterscheidung treffen konnten, mussten sie in der Lage gewesen sein, einen noch einfacheren, wenngleich ungemein folgenreichen Gedanken zu denken, nämlich den, dass das Wahrnehmen und Denken und das im Wahrnehmen und Denken Erfahrene deshalb nicht auch schon das Wirkliche sein muss – mit anderen Worten: dass es für sie, für jeden von ihnen keinen unmittelbaren Zugang zur Welt gibt, sie also in eine Welt eingeschlossen sind, die sie zugleich ausschließt, sie in das Reich ihrer inneren und äußeren Bilder verbannt. Und, wer weiß, vielleicht waren schon die ersten Menschen im Pleistozän durch eine Melancholie gekennzeichnet, die jener Ahnung um die Unerreichbarkeit der Wirklichkeit entsprungen war, vielleicht. Schon früh jedenfalls muss in der Gattungsgeschichte des Menschen eine Ahnung aufgeblitzt sein, die seiner ursprünglichen Weltfremdheit. – Mit Schrecken, wie man vermuten darf. Denn von nun an waren Menschen gezwungen, in sinnlicher Ungewissheit zu leben. Die Sinne waren nichts mehr, auf das man sich verlassen konnte (wie zu den Zeiten, als der Mensch noch Tier war), denn von nun an produzierten sie Darstellungen, Repräsentationen des Wirklichen – nicht mehr schlechthin Wirkliches.4

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Selbstverständlich benötigten sie dazu nicht die sprachlichen Begriffe der Repräsentation oder Darstellung. Sie benötigt erst die Reflexion auf den

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Die poetische Erkundung der wirklichen Welt Der zweite Schritt auf dem Weg zur Kunst besteht in einer Reaktion auf diese fundamentale Irritation über die mittelbare Art des eigenen In-der-Welt-Seins. Im Verlaufe dieser Reaktion wird auf die Mittelbarkeit des eigenen Weltzugangs reflektiert, und zwar so, dass die vielfältigen Erscheinungsweisen des Wirklichen sowie die (visuellen, akustischen, sprachlichen) Mittel seiner Repräsentationen in den Vordergrund treten. Geschieht diese Reflexion vornehmlich im Medium des Denkens und zum Zwecke einer Überwindung jener ursprünglichen Mittelbarkeit im Medium des begrifflichen Verstehens, so hat man es mit Philosophie zu tun. Denn das philosophische Denken ist ein Verfahren mit begrifflichen Mitteln die Bedingungen der Möglichkeiten unseres an Repräsentationen und Darstellungen gebundenen Weltzugangs zu erforschen. Dass die regulative Idee dieses Denkens von Beginn an auf den Namen Wahrheit hört, hat nicht nur damit zu tun, dass es spätestens mit Platon bemüht war, sich vom Mythos zu unterscheiden, sondern eben auch damit, dass sein Ziel von Beginn an die Überwindung der ursprünglichen Weltfremdheit des Menschen war.5 Seine wie auch immer uneinlösbare Utopie ist, mit den kritischen Worten Kleists gesprochen: „wieder von dem Baum der Erkenntnis [zu] essen, um in den Stand der Unschuld zurückzufallen“6. – Doch was das abstrakte Denken nicht vermag, das ist der verheißungsvolle Gedanke, den Schiller und Kleist dann haben, könnte eben der Dichtung gelingen. Geschieht die Reflexion auf die Irritation über die ursprüngliche Mittelbarkeit des Weltzugangs jedoch in einem handelnden, erprobenden und eben: spielerischen Umgang mit äußeren Objekten, so hat man es mit ästhetischem Verhalten zu tun. Dieses spielerischästhetische Verhalten sucht die ursprüngliche Weltfremdheit des Menschen nicht im Denken zu überwinden, sondern auszuagieren und in einem (Sinnliches und Geistiges vermittelnden) Handeln zu bewältigen. Wenn sie schon nicht zum Verschwinden gebracht werden kann, so kann man doch lernen, mit ihr umzugehen, kurzum: der Mensch lernt, indem er sich ästhetisch handelnd auf den Schein des Wirklichen bezieht, mit diesem Schein als Schein umzugehen, ihn zu ertragen und handhabbar zu machen – wenn er ihn schon nicht zum Verschwinden bringen kann.

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Unterscheidungsgebrauch (etwa zwischen Repräsentation und Wirklichkeit), nicht der Gebrauch selbst. Das Lachen der thrakischen Magd über den in den Brunnen gestürzten Thales zeigt freilich, wie sehr schon die erste Philosophie in der Gefahr war, in ihrem Nachdenken über die ursprüngliche Weltfremdheit des Menschen selbst als weltfremd zu gelten. Kleist (1966), S. 807.

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Was ist die Kunst? Was ist der Mensch? Dass es sich dabei aber tatsächlich um ein ästhetisches Verhalten handelt, liegt in dem Umstand begründet, dass es sich im Medium des (durchaus nicht nur sinnlichen, sondern imaginativen) Scheins vollzieht und sich dabei auf Gegenstände bezieht, die ebenfalls diesem Reich des sinnlichen oder imaginativen Scheins entstammen. – Daher der Eindruck der Interesselosigkeit und Zweckfreiheit, den ästhetisches Verhalten vermittelt. Dass es sich dabei zugleich um ein spielerisches Verhalten handelt, zeigt jedoch, wie sehr dieser (kantische) Eindruck täuscht. Denn das ästhetische Verhalten als ein spielerisches Verhalten ist zunächst einmal ein experimentierendes, Welt also im handelnden oder wahrnehmenden Umgang mit ihr lustvoll erschließendes Verhalten. Der erprobende Umgang mit ihrem Erscheinen gleicht dabei dem Durchspielen von Handlungsalternativen im Denken. Das ästhetische Spiel ist, so gesehen, ein nach außen gewendetes, konkretes Denken. Es experimentiert, indem es immer wieder neue Konstellationen von Erscheinungen, Darstellungsweisen, Repräsentationen und, nicht zu vergessen, Haltungen dem Wirklichen gegenüber hervorbringt und so etwas über diese Haltungen, Darstellungs- und Repräsentationsweisen des Wirklichen zutage fördert. Der Zweck ästhetischen Verhaltens liegt deshalb in der Erschließung der Reichweite der Darstellungen oder der Gesetzmäßigkeiten von Formen. Dieser aufs Ganze gehende, Welt erschließende Charakter wird dann in der Kunst zu einer Norm: Kunst darf sich nicht wiederholen, sie muss Neues schaffen. – Das aber ist die Logik des Experiments. Das Spielerische des ästhetischen Verhaltens liegt dabei zu einem Gutteil darin begründet, dass es sich die Regeln des Spiels selbst gibt – sich also nicht, wie etwa die Philosophie, geben lässt, von dem, was der Fall ist, vom Sein, von der Wirklichkeit. In dieser Freiheit des Sich-selbst-die-Regeln-Gebens wird aber eine viel größerer Freiheitsgewinn deutlich, nämlich der einer Freiheit von der bestimmenden Gewalt oder eben: Tyrannei des Wirklichen. Diese determinative Kraft übt die Wirklichkeit einfach dadurch aus, dass sie so ist, wie ist. Es ist ihr So-und-nicht-anders-Sein, das den Menschen nötigt, sich ihm zu unterwerfen. Wer es nicht tut, wer etwa die Schlucht ignoriert, die sich vor ihm auftut, oder die sozialen Konstruktionen des Wirklichen hartnäckig leugnet, begeht Suizid, sei es in es in der physischen, sei es, weil sie ihn psychiatrisiert, in der sozialen Welt. Die Heiterkeit des ästhetischen Spiels hat ihren Grund in der Freiheit von dieser bestimmenden Kraft des Wirklichen. Das Lächeln auf dem Angesicht eines Kindes, das zu spielen beginnt, lässt daran nicht geringsten Zweifel. Es macht aber auch deutlich, wie früh schon die bestimmende Kraft des Wirklichen als Last erfahren

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Die poetische Erkundung der wirklichen Welt wird, wenn man so will: als Gewicht der Welt. Von ihm befreit sich, wer im ästhetischen Spiel mit Erscheinungen – an Erscheinungen, an den farbigen Abglanz des Lebens sich verliert. Ist die regulative Idee der Philosophie die Überwindung der ursprünglichen Mittelbarkeit oder Weltfremdheit, so erfährt das ästhetische Spiel diese ursprüngliche Erfahrung als Freiheitsgewinn. Die freilich ebenso uneinlösbare Utopie der Kunst als ästhetisches Spiel ist daher, die Romantiker haben es gewusst, die Verabsolutierung der Mittelbarkeit, ein Reich reiner Formen und Darstellungen, eben die Welt – als Spiel. Doch nicht bei jedem ästhetischen Spiel, weder beim Kinderspiel noch bei dem, was für gewöhnlich Gesellschaftsspiel heißt, handelt es sich um Kunst. Was also macht aus ästhetischen Spielen, die stets im spezifisch menschlichen Medium von Sinn und Sinnlichkeit, Semantischem und Somatischem sich vollziehen, Spiele der Kunst? Zunächst dies, dass Objekte geschaffen werden, die eigens dazu bestimmt sind (und denen man es ansieht, dass sie dazu bestimmt sind), einem ganz eigenen Zweck zu dienen, nämlich dem, die Aufmerksamkeit dessen, der mit ihnen umgeht, auf die Art ihres Erscheinens und Repräsentierens zu richten. Und damit sie diesen Zweck erfüllen können, muss man sie von anderen, sog. praktischen Zwecken befreien. Das geschieht, indem sich die Kunst als eine eigene Form des Gesellschaftsspiels etabliert, das mit Kunstobjekten nach bestimmten Regeln verfährt. Die erste dieser Regeln besagt, dass diese Objekte gemäß dem Zweck, zu dem sie produziert worden sind, auch zu gebrauchen seien, ihre Rezeption daher selbst wiederum eine ästhetische zu sein habe, eine, die ganz auf die Weise des Repräsentierens achtet – und selbst noch das, was da repräsentiert wird, die Inhalte und Gegenstände, im Lichte der Tatsache sieht, dass sie repräsentierte Inhalte oder Gegenstände sind. (Dass diese erste Regel noch kein hinreichendes Bestimmungsmerkmal der Kunst ist, sieht man daran, dass sie auch von Kulturwissenschaftlern befolgt wird, z.B. dann, wenn sie Symbolgehalte oder Riten erforschen.) Die Befolgung der zweiten Regel verleiht der Kunst dann ihre aufs Ganze gehende, allenfalls mit Mythos und Metaphysik vergleichbare Attitüde – und unterscheidet sie darin sowohl vom reinen ästhetischen Spiel (das sich ganz und gar ins Detail verlieren kann) als auch von Kitsch und Kunsthandwerk. Diese zweite Regel besagt, dass die Erscheinungs- und Darstellungsweise der Kunstobjekte, die Tatsache, dass sie dieses oder jenes repräsentieren, als Reaktion auf jene ursprüngliche Darstellungs- und Repräsentationsbedürftigkeit des Menschen genommen werden muss. Kunstobjekte erscheinen, wird diese Regel bei ihrer Produktion oder Rezeption be-

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Was ist die Kunst? Was ist der Mensch? folgt, als ein Versuch, mit dieser Weltfremdheit darstellend oder repräsentierend zurechtzukommen oder sich zu ihr zu verhalten; die existenzialistische Note, die aller Kunst, selbst noch – denkt man an Mozart – in ihren heitersten und verspieltesten Momenten zukommt, hat hierin ihren Grund. Zu diesen beiden, den Umgang mit ästhetischen Objekten als Kunstobjekten bestimmenden Regeln treten nun im Spiel der Kunst zwei Normen hinzu, an deren Erfüllung die Objekte der Kunst gemessen werden: Die erste Norm fordert von ihnen, dass die Art ihres Erscheinens oder Repräsentierens der Darstellung der Welt zu dienen habe, ihr Präsentieren von Repräsentationsweisen, ihr Erscheinenlassen von Hinsichten, in denen etwas als etwas genommen werden kann, also zuletzt einem Zweck zu dienen habe: dem der Darstellung von Welt und Wirklichkeit. Die klassischen Namen für diese Norm heißen Mimesis oder Nachahmung. Doch entspringt diese Norm keiner willkürlichen Setzung, sondern dem, mit Benjamin gesprochen, mimetischen Vermögen, das aber wahrscheinlich mehr ist als ein Vermögen, nämlich ein Bedürfnis. Als solches ist es Teil dessen, was Schiller Spieltrieb nannte. Leicht zu erkennen ist das am Kinderspiel: Es sucht sich, aus welchem Material auch immer, die Welt noch einmal zu erschaffen, sie in einer eigenen, zweiten Welt nachzuahmen. Oder es versucht, darin liegt sein mimetischer Impuls, die Distanz zwischen eigener und anderer Welt zum Verschwinden zu bringen; spielende Kinder werden dann im Spiel das Andere oder ein Anderer, sie werden, was sie spielen. Diese Verpflichtung der Kunst auf Nachahmung oder Mimesis gleicht die Kunst philosophischen und religiösen Weisen der Welterschließung an. Sie fordert von der aus der Erfahrung der Weltfremdheit hervorgegangenen Kunst, dass sie selbst nicht weltfremd bleiben dürfe, sondern – zuletzt Welt verstehbar machen und selbst verstehbar sein müsse. Wo sie sich dieser Norm verweigert, wird ihr das als Makel vorgerechnet oder sie wird gar überhaupt nicht erst als Kunst anerkannt. Doch ist, dass Kunst allein auf Realismus abziele, ein Irrtum, der sich der Missachtung einer zweiten Norm verdankt. Sie besagt das genaue Gegenteil der ersten und ist daher der Grund für die dialektische Spannung, in der alle Kunst begriffen – und natürlich für viele Missverständnisse, denen sie ausgesetzt ist. Dieser Norm zufolge hat Kunst sich nicht um anderes und schon gar nicht um die Welt, sondern allein um sich selbst zu bekümmern. Die Darstellungs- und Repräsentationsweisen, die die Kunstobjekte präsentieren und mit denen sie experimentieren, hätten sich eben gar nicht auf irgendwelche verstehbaren Gehalte zu beziehen, sondern nur

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Die poetische Erkundung der wirklichen Welt auf sich selbst. Worauf es ankommt, ist, dieser Norm gemäß, allein der Akt der Darstellung, die Weise, in denen etwas gezeigt oder als etwas genommen wird, das reine Erscheinen – sowie die Weise, in der sich dieses Erscheinen zu sich selbst verhält. Das ist das Gesetz des Ornaments. Hier wird, was das ästhetische Spiel ausmacht, in der Kunst zur Norm. Die Kunst als soziales Spiel wiederholt das ästhetische Spiel, integriert es, macht es zum Spiel im Spiel. Wo diese Norm erfüllt wird, entstehen reine Formen der sinnlichen und intellektuellen Anschauung. Auch das spezifisch menschliche Selbstverhältnis kann daher in der Kunst die Gestalt reiner selbstbezüglicher Formen annehmen. Was dann entsteht, zeigt nicht erst die abstrakte Malerei, sondern eben bereits das Ornament, das Formen sich auf Formen beziehen lässt – oder die Aleatorik – oder die Arabeske – oder eben die Idee einer progressiven Universalpoesie, zu der es bei Novalis heißt: „Die Sprache ist ein musicalisches Ideen Instrument. Der Dichter, Rhetor und Philosoph spielen und componieren grammatisch.“7 Der aller ornamentalen Kunst zugrunde liegende Gedanke ist dabei freilich ein einfacher. Er lautet, dass von Gehalten deshalb zu abstrahieren sei, weil Gehalte gerade von dem ablenken, was Kunst als ästhetisches Spiel ausmacht. Da Kunst jedoch eine dialektische Unternehmung bleibt, ist auch das nur die halbe Wahrheit. Denn so wie das allein um sich selbst bekümmerte, reine ästhetische Spiel nicht das ganze ästhetische Spiel ist (es gibt daneben auch eines, das auf Mimesis und Nachahmung zielt), ist auch das ganze ästhetische Spiel nur die andere, gewissermaßen unbekümmerte, heitere Seite der gewichtigen und durchaus ernsthaften Frage nach dem, was den Menschen zum Menschen macht. Das ästhetische Spiel, auch das der Kunst, scheint daher nur eine unter vielen (wissenschaftlichen, religiösen, philosophischen) Möglichkeiten, die Frage nach dem Menschen immer wieder neu zu stellen und im Hinblick auf allgemeine Geltungsansprüche zu beantworten – durch den Umgang mit Objekten, die an sich selbst das Verhältnis von Somatischem und Semantischem, Körperlichem und Geistigem immer wieder neu zur Darstellung bringen. Da sie aber den Gegenstand der Frage nach dem Menschen, das Verhältnis von Körperlichem und Geistigem, weder allein im Reich des Geistigen, auf dem Wege des Nachdenkens also, zu erschließen sucht, noch allein auf der Seite des Körperlichen in einem Akt des Positivismus zum Verschwinden bringt, sondern eben als ein Verhältnisspiel immer wieder aufs Neue zum Leben erweckt, ist wohl

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Novalis (1978), S. 555.

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Was ist die Kunst? Was ist der Mensch? kaum ein Verhalten zu dem, wonach die Frage nach dem Menschen fragt, angemessener als das der Kunst. Sie lässt im Rahmen ihres Gesellschaftsspiels und daher eben auf eine spielerische Weise Menschen aushandeln, was sie als Menschen ausmacht. „Denn, um es endlich auf einmal herauszusagen, der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.“

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POETISCHE SCHLUSSVERFAHREN: GEORG BÜCHNERS ÄSTHETIK

Wenn man Geistes-, Kultur-, Medien- oder Sprachwissenschaftler bittet, ihre Aufmerksamkeit, jene Gabe des Bewussteins also, die Malebranche einst „das natürliche Gebet der Seele“1 nannte, der Kunst zu schenken, so hat man, gerade dann, wenn man dabei nicht irgendeine Kunst, sondern die Georg Büchners im Sinn hat, Grund zu der Annahme, dass es für jeden dieser Wissenschaftler ein Leichtes ist, dieser Bitte folge zu leisten. Denn worauf immer sonst die solcherart Angesprochenen ihre Aufmerksamkeit, ihre professionelle Aufmerksamkeit richten – auf Sprache, Geschichte, technische Medien oder die begriffliche Struktur unseres Denkens, immer haben sie es mit Repräsentationen zu tun, damit also, dass das Denken, die Wirklichkeit, das Sein oder, diese Bezeichnung ist mir die liebste: was auch immer der Darstellung bedarf. Dieses Was-auch-immer kommt also nicht ohne ein Medium aus, damit es für uns sein kann, was es ist, damit also auch wir sagen können: „Am farbigen Abglanz haben wir das Leben.“2 Denkt man daher über die Darstellung des Wirklichen, denkt man über das Repräsentieren nach, immer ist sofort die Kunst im Spiel – und, darauf kommt es mir an, immer auch die Kunst Georg Büchners. Wie kann das sein? Nun das kann sein, weil es auch die Kunst beständig mit dem Repräsentieren und Darstellen zu tun hat. Während wir jedoch für gewöhnlich Repräsentationen oder Darstellungen im Hinblick auf das in ihnen Repräsentierte oder Dargestellte in den Blick nehmen, weil wir nämlich gewohnt sind, Repräsentationen als ein Mittel, als ein Medium zu gebrauchen, um uns – was auch immer zu vergegenwärtigen, richtet die Kunst ihre (und damit unsere) Aufmerksamkeit auf das Repräsentieren und Darstellen selbst. Damit befreit 1 2

So heißt es in Paul Celans Büchnerpreisrede Der Meridian, ders. (1986), Bd. III, S. 198. Goethe (1996), Hamburger Ausgabe, Bd. III, S. 149 [d.i. Faust II, Vers 4727].

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Die poetische Erkundung der wirklichen Welt sie uns von der bestimmenden Kraft, die die Gehalte und Gegenstände auf unser Denken ausüben. So ermöglicht sie einem Denken, das beim Repräsentieren oder Darstellen immerzu Gefahr läuft, sich an die Sachverhalte zu verlieren, wieder zu sich selbst zu kommen. Wenn also auch die Kunst Repräsentationen gebraucht, sie aber anders gebraucht, als wir das für gewöhnlich tun, dann ist die Kunst eine dem Repräsentieren oder Darstellen immer schon mitgegebene Möglichkeit. Wer daher seine Aufmerksamkeit dem Reich der Darstellungen zuwendet, der hat es immer schon mit der Kunst zu tun. – Auch mit der Kunst Georg Büchners? Ich denke, ja. Denn Kunst, nicht die Kunst Büchners, sondern den Begriff der Kunst gebrauchen wir, wenn jene ungewohnte Erscheinungsweise von Repräsentationen, das Ästhetische also, Form und Gestalt gewinnt, man muss hinzufügen: menschliche Form und menschliche Gestalt. Doch gibt es allen Grund, die Begriffe der Kunst und des Ästhetischen so sparsam wie möglich zu gebrauchen, ihnen zu misstrauen, gerade auch dann, wenn sie philosophisch nobilitiert oder diszipliniert werden. Kaum ein anderer war sich dessen so sehr bewusst wie Kant, der das Ästhetische und mit ihm die Kunst auf die reflektierende Urteilskraft verpflichtete, die ohne ein Allgemeines, ohne vorgegebene Regeln, Prinzipien und Gesetze auskommen, diese vielmehr erst erschließen muss.3 Gerade weil die Kunst nur als Besondere, je und je Einmalige gegeben ist, bleibt, was die Kunst ist, immer wieder von der Kunst, den einzelnen Kunstwerken her zu denken. Nicht allein die Wissenschaft, nicht allein die Ästhetik, auch die Kunst stellt die Frage nach der Kunst, genauer: nach dem Begriff der Kunst, auch, das versteht sich nun vielleicht schon von selbst, die Kunst Georg Büchners. Wenn daher das Ästhetische eine Möglichkeit, eine in bestimmten Umständen Wirklichkeit werdende Erscheinungsweise, eine, um Gilbert Ryles unschönen, aber präzisen Begriff zu gebrauchen: „dispositionelle Eigenschaft“4 des Repräsentationalen ist, die in der Kunst Gestalt gewinnt, der Begriff der Kunst daher ganz wesentlich von der je und je einmaligen Gestalt der Kunstwerke abhängt und also von diesen Werken her zu denken ist, dann ist jedes Mal, wenn wir unsere Aufmerksamkeit dem Repräsentieren – der Sprache, der Geschichte, den technischen Medien oder der begrifflichen Struktur unseres Denkens – zuwenden, auch die Kunst Georg Büchners mit von der Partie. Wir wüssten ohne sie gar nicht, was das ist, das Ästhetische, die Kunst oder auch das Repräsentieren. Das heißt nicht,

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Vgl. Kant (1974), S. 87f. Ryle (1969), S. 69.

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Poetische Schlussverfahren dass wir es allein durch sie wissen. Es heißt, dass wir, wie es um das Ästhetische, die Kunst oder das Repräsentieren bestellt ist, immer wieder aufs Neue zu erschließen haben – z.B. von der Kunst Georg Büchners her, die, darauf will ich hinaus, ihre eigene Ästhetik entfaltet. Wer nun etwas über die Ästhetik Georg Büchners wissen möchte, der muss noch einmal zurück an den Anfang, nun aber an den Anfang, den die Kunst bei Georg Büchner nimmt. Und auch dieser Anfang ist, wen sollte das verwundern, ganz und gar ubiquitär. Wo immer man hinschaut, die Kunst ist schon da – und macht von sich reden. Revolutionen, Hochzeiten, gepflegte Unterhalten bei Tisch, all das ist ihr willkommen, um die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, Jahrmärkte nicht ausgenommen. Buden, Lichter, Volk, Marie und Woyzeck darunter – und mittendrin die Kunst. So inszeniert Büchner ihren Anfang. Marie und Woyzeck sind unschlüssig, ob sie eintreten sollen, in eines der Jahrmarktszelte, bis da jemand ruft, in gebrochenem, in von Büchner gebrochenem Deutsch: „Meine Herren! Meine Herren! Sehn Sie die Kreatur, wie sie Gott gemacht, nix, gar nix. Sehen Sie jetzt die Kunst, geht aufrecht hat Rock und Hosen, hat ein Säbel! [...] Herein. Es wird sein, die rapräsentation. Das commencement vom commencement wird sogleich nehm sein Anfang.“5

Und er fährt fort, indem er auf einen Affen, ein dressiertes Pferd und einen abgerichteten Kanarienvogel deutet: „Sehn Sie die Fortschritte der Zivilisation. Alles schreitet fort, ein Pferd, ein Aff, ein Kanaillevogel! Der Aff ist schon ein Soldat, s’ ist noch nit viel, unterst Stuf von menschliche Geschlecht! [Und dann noch einmal:] „Die rapräsentation anfangen! Man mackt Anfang von Anfang. Es wird sogleich sein das commencement von commencement.“6

Offenbar macht sich da jemand lustig, nicht über die Kunst, nein, sondern über die Künstlichkeit, die der Mensch gerne für seine Natürlichkeit hält, erst recht, wenn sie als Originalität oder Individualität daherkommt. Sobald die Kreatur aufrecht geht, sich Rock und Hosen anzieht, vergisst sie, dass sie nichts als Natur darunter hat. Doch von der zweiten Natur, doch vom Künstlichen ist es, wie es scheint, noch ein weiter Weg zur Kunst. Nicht für Büchner. Denn für ihn ist die Kunst, die doch, wir werden das sogleich noch genauer sehen, ganz Natur sein soll, mit dem Makel des Artifiziellen,

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Georg Büchner, Woyzeck [Buden, Lichter, Volk], in ders. (1980), S. 162. Ders. ebd.

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Die poetische Erkundung der wirklichen Welt des Wider-Natürlichen behaftet, und zwar, das ist ihr Dilemma, von Anfang an. Denn den Anfang, den, wie es heißt, „Anfang von Anfang“, den absoluten Anfang also, den macht auch hier die Kunst bei der Repräsentation. Wer aber bei der Repräsentation anfängt, der gelangt unversehens zum commencement vom commencement, zur Wiederholung also. Die Kunst nimmt es deshalb bei Büchner mit dem Re am Repräsentieren, mit dem Wiederholen sehr ernst. Zunächst vor allem deshalb, weil sie immer schon eines anderen, eines Vorausgesetzen, eines Gegebenen bedarf, um überhaupt sie selbst sein zu können. Sie kann nicht bei sich selbst anfangen. Dies aber heißt, dass sie darauf angewiesen ist, dass etwas da ist, noch ehe sie es zur Welt bringt: das Sein, die Wirklichkeit oder – was auch immer. Es muss erst einmal etwas präsent sein, damit sie mit dem Repräsentieren beginnen kann. Damit ist sie, Celan hat im Meridian darauf hingewiesen, von Beginn an von einem Gegebenen, von einem Datum also, abhängig.7 Das hat gerade bei Büchner zu dem Missverständnis einer dokumentaristischen Ästhetik geführt.8 Doch Büchner dokumentiert nicht, er dichtet. Er bedient sich historischer Quellen, des ClarusGutachtens im Falle des Woyzeck, der Aufzeichnungen des Landpfarrers Oberlin in der Lenz-Erzählung, Louis Adolphe Thiers Histoire de la Révolution francaise im Falle von Dantos Tod, um nur einige wenige Beispiele zu geben. Das heißt, er bedient sich nicht irgendeiner ominösen Wirklichkeit – das kann die Kunst auch gar nicht – er bedient sich ihrer sprachlichen Repräsentation. Für alles andere fehlt ihr der Sinn. Dass Büchner dabei, etwa in der Lenz-Erzählung, aber auch im Woyzeck weite Passagen aus seinen Quellentexten schlicht zitiert, spricht nicht für den dokumentarischen Charakter seiner Kunst. Auch Marcel Duchamp, auch Andy Warhol finden ein Jahrhundert später die Kunstdinge in Bedürfnisanstalten oder Supermärkten, ehe sie sie ins Museum befördern; doch sie dokumentieren ihrem Publikum nichts, sie lenken seine Aufmerksamkeit. Das aber ändert nichts daran, dass die repräsentierende Kunst, um Kunst zu sein, auch hier, auch bei Büchner über diesen Anfang beim Wiederholen hinaus gelangen muss. Das ist ihr Dilemma, ach was, das ist der Fluch, der auf ihr lastet, und, auch das noch: ihr Segen. Sie kann nicht noch einmal sagen, was andere vor ihr immer schon gesagt haben, sie muss es aber. Sie ist dazu verdammt, über ihren stotternden Anfang im Paraphrasieren, Zitieren und Wieder-

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Vgl. Celan (1986), Bd. III, S. 196. Vgl. etwa Meier (1983), S. 114ff.

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Poetische Schlussverfahren holen hinauszugelangen, doch ohne Paraphrase, Zitat und Wiederholung gäbe es sie gar nicht. Was also macht die Kunst? Sie sagt, was immer schon gesagt worden ist, aber sie sagt es auf ihre Weise. Sie verkleidet, drapiert, kostümiert, was auch immer sie vorfindet, macht es schön, hässlich, erhaben, und mitunter verhüllt sie es dann auch gleich wieder, um es vor allzu vorwitzigen Blicken zu schützen. Sie verleiht den Dingen also kein anderes Sein, aber immerhin einen, und das ist nicht wenig, farbigen Glanz. Und unsere Aufmerksamkeit sieht die Dinge dann meist nicht wie, sondern wirklich zum ersten Mal. In der Wiederholung, wenn sie so geschieht, wie sie in der Kunst geschieht, ist das Leben sein farbiger Abglanz. Und das ist viel! Für Büchner aber ist dies, dass die Kunst sein soll, was sie seit Platon immer sein sollte, nämlich Nachahmung, zu wenig, viel zu wenig. Deshalb schickt er Camille zu dem über all der Wiederholung des immer Gleichen müde und melancholisch gewordenen Danton auf die Bühne und lässt ihn darüber klagen, dass die Kunst in ihrem mimetischen Vermögen sich doch nur selbst überschätzt: „Fiedelt Einer eine Oper, welche das Schweben und Senken im menschlichen Gemüt wiedergibt wie eine Tonpfeife mit Wasser die Nachtigall – ach die Kunst! Setzt die Leute aus dem Theater auf die Gasse: ach, die erbärmliche Wirklichkeit.“9 Aber auch da, wo die Kunst die Wirklichkeit zu überbieten sucht und nicht Nach-, sondern Vorahmung sein möchte, ereilt sie die Kritik Büchners: „in der Wirklichkeit“, so heißt es im Lenz, finden sich „doch keine Typen für einen Apoll von Belvedere oder eine Raphaelische Madonna“10. Dass die Kunst dem Maß des Wirklichen, sei es als Nachahmung, sei es als Vorahmung niemals gerecht werden kann, führt dann bei Büchner zu jenem seltsam klagenden Unterton, den man immer dann vernehmen kann, wenn von der Kunst die Rede ist. Man möchte, so heißt dann die berühmt gewordene Formulierung, „manchmal ein Medusenhaupt sein“, um „festhalten [...], in Museen stellen und auf Noten ziehen“11 zu können, was man sieht hört und empfindet.12 Verzweifelter kann die Klage der Kunst über ihre Ungerechtigkeit gegenüber dem Maß des Wirklichen nicht sein: sie muss töten, um zu bewahren. Da, was immer sie wiederholt, ihr in der Wiederholung erstirbt, sie es gerade nicht wieder zu holen vermag, mag sie sich manchmal wünschen, ein Medusenhaupt zu sein, das die Zeit 9 10 11 12

Georg Büchner, Dantons Tod,, in ders. (1980), S. 33. Ders, Lenz, in ders. (1980), S. 77. Ders. ebd., S. 76. Zu den ideengeschichtlichen Implikationen des Medusa-Konzepts vgl. Schwann (1997), S. 134 ff.

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Die poetische Erkundung der wirklichen Welt stillstellt, indem sie, was immer sie wahrnimmt, in Stein verwandelt. Aber natürlich ist die Medusa hier nicht die Lösung, sie ist das Problem. Sie, die der Sage nach noch im Reich des Hades die Schatten der Toten entsetzte, ist auch der Kunst nichts als die Inkarnation des Grauens, eines Grauens darüber, dass die Kunst immer Gefahr läuft, nicht über die Wiederholung hinauszugelangen, sich in der Routine an die Macht der Gewohnheit zu verlieren. Das aber heißt: Nicht allein der Anfang der Kunst liegt im Wiederholen beschlossen, sondern auch ihr Ende – sei es (wie bei Hegel) in Gestalt ihrer Auflösung in die Prosa des wissenschaftlichen Geistes, sei es (wie bei Arthur Danto oder Niklas Luhmann) als Verwandlung in die Theorie ihrer selbst.13 Immer gleicht das Urteil, das dem Ende der Kunst vorausgeht, dem jener müden Gestalten am Ende von Dantons Tod. Sie sehen zu, wie die zum Tode Verurteilten mit den Worten der vor ihnen Gemordeten – zitierend also – zur Guillotine schreiten und finden: „Das war schon einmal da, wie langweilig!“14 Auch die Medusa kann hier, wo, was ist, nur vergleichend wahrgenommen wird, nicht weiterhelfen. Zwar verhindert sie, indem sie die Zeit stillstellt, auch das Vergehen – und damit die Notwendigkeit des erinnernden Wiederholens, aber, wo alles präsent ist, wird nicht nur die Repräsentation, sondern auch die Kunst überflüssig. Medusa, das ist bei Büchner also nur ein anderer Name für die Mortifikation der Werke – und, das vor allem, der ästhetischen Erfahrung. Da sich Kunst zwar von einem Gegebenen, von ihrem Datum herschreibt, die Jahrestage und Jubiläen aber ihr Ende sind, da also die Kunst (und ich kann hier auf Karl Marx und seinen Achtzehnte[n] Brumaire verweisend hinzufügen: wie die Geschichte) immer da zur Farce wird, wo sie sich anschickt in „alterwührfige[r] Verkleidung“15 die Tragödien der Vergangenheit noch einmal aufzuführen – da das so ist, stellt die Kunst immer dann, wenn sie bei Büchner zu Wort kommt, die Frage, wie sie die Tradition aller toten Geschlechter, die wie ein Alp auf ihr lastet, hinter sich lassen, wie sie der Medusa entkommen kann, um zur Gegenwart und zu neuem Leben zu erwachen. Büchners Antwort auf diese alles entscheidende Frage ist – wie sollte es anders sein? – eine metaphorische. Sie lautet: „Leben, Möglichkeit des Daseins [...] [,das] sei das einzige Kriterium in Kunstsachen“16. Da ich seine Antwort für eine auch heutzutage noch hoch13 Vgl. Hegel (1986) Bd. XIII; S. 24ff., Danto, (1993), S. 109ff. u. Luhmann (1995), S. 469ff. 14 Büchner (1980), S. 66. 15 Vgl. den Beginn von: Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, in: Marx (2008), S. 405. 16 Büchner (1980), S. 76.

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Poetische Schlussverfahren brisante halte, weil sie nämlich die büchnersche Ästhetik zu einer allgemeinen Ästhetik hin öffnet, möchte ich nun etwas buchstäblicher werden. Und das buchstäblich Erste, das sich angesichts dieser von Lenz, dem Büchnerschen Lenz gegeben Antwort einstellt, ist die Frage: Was heißt das: „Leben, Möglichkeit des Daseins [...] sei das einzige Kriterium in Kunstsachen“? Der erste Teil meiner Antwort, die ich nun versuchen werde, orientiert sich an Büchner, der zweite geht, um weder der Wiederholung noch der Medusa zum Opfer zu fallen, darüber hinaus und reicht bis an das Ende dieser Überlegungen. Zunächst also zurück zu Büchners Lenz, der dieses seltsame Kriterium ins Spiel bringt, gerade so, als hätte er vergessen, dass die Kunst ein, wie es dann bei Celan heißt, „marionettenhaftes, jambisch-fünffüßiges“17 und eben durch und durch künstliches Wesen sei. Auch wenn Lenz, bei Tisch mit einem Mal in gute Stimmung geraten, sich plötzlich zu der These hinreißen lässt, es ginge bei der Kunst weder um das Schöne noch um das Hässliche, sondern allein darum, dass „Was geschaffen sei, Leben habe“ und hinzufügt: dieses Gefühl fürs Lebendige der Kunst stehe dann „über diesen Beiden“18, bleibt ziemlich dunkel, was der Dichter da seinen Zuhörern zu denken gibt. Und weil Büchner nicht entgeht, dass er seine Leser nicht mehr wie noch im Danton mit dem Verweis auf die blühende, leuchtende, sich jeden Augenblick neu gebärende Schöpfung zufrieden stellen kann, wenn von der Kunst oder dem Ästhetischen die Rede ist, lässt er seinen Lenz drei Beispiele geben. Denn es geht ja, so würden wir Heutige das vielleicht formulieren, um nicht weniger als um die Frage, wie das Wiederholen mit dem Bewirken – oder, ich hatte ja versprochen, buchstäblicher zu werden, wie das Re- an der Repräsentation mit dem Per- am Performativen zusammenhängt. Nun, das erste Beispiel, das Büchner im Lenz gibt, handelt von zwei Mädchen, die dieser aus der Ferne „auf einem Steine [...] sitzen[d]“19 beobachtet hat. Lenz ist derart hingerissen von ihrer Erscheinung, dass er die Klage äußert, die wir schon vernommen haben, darüber nämlich, dass es uns verwehrt ist, Medusenhäupter zu sein, die solch einen Eindruck „festhalten und in Museen stellen“20 könnten. „Man muß“, so Lenz dann weiter, „die Menschheit lieben, um in das eigentümliche Wesen jedes einzudringen, es darf einem keiner zu gering, keiner zu häßlich sein, erst dann kann man sie verstehen.“21 Dabei bleibt zu beachten: Man kann zwar kein Me17 18 19 20 21

Celan (1986), Bd. III, S. 187. Büchner (1980), S. 76. Ders. ebd. Ders. ebd. Ders. ebd.

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Die poetische Erkundung der wirklichen Welt dusenhaupt sein, wenn man, und allein darum geht es hier, ästhetische Erfahrung machen möchte, aber man kann doch den Einzelnen als Einzelnen nur wahrnehmen – und vor allem würdigen, wenn man eines Allgemeinen an ihm gewahr wird, Büchner nennt es hier schlicht: „die Menschheit“. Einzelnes muss also auch in der ästhetischen Erfahrung im Hinblick auf Allgemeines überschritten werden, damit es für die Erfahrung als Einzelnes, zeitlich gesprochen, als Gegenwärtiges hervortritt. Erst in diesem Überschreiten in Richtung auf ein Allgemeines oder, forcierter gesprochen: Begriffliches wird dann auch das, was da wahrgenommen wird, expressiv; „man kann“, so Lenz dann weiter, „[...] ohne etwas vom Äußern hinein zu kopieren, wo einem kein Leben [...] entgegen schwillt [...]“, „die Gestalten aus sich heraustreten lassen [...]“22. Und genau diese Expressivität steht auf dem Spiel, wenn Büchner (oder eine seiner Gestalten) vom Leben spricht. Sie aber stellt sich erst ein, wenn der ästhetisch Erfahrende aktiv wird, wenn er Einzelnes im Hinblick auf Allgemeines überschreitet. Doch ich gebe zu, dieses Überschreiten ist an dieser Stelle noch eine sehr metaphorische Umschreibung. Ich will daher einen Blick auf die anderen Exemplifikationen des Ästhetischen werfen, die Lenz im sogenannten Kunstgespräch gibt. Auch das zweite und das dritte Beispiel, mit dem Büchner seinen Lenz explizieren lässt, was es mit jenem seltsamen ästhetischen Kriterium „Leben, Möglichkeit des Daseins“ auf sich hat, führt in die Sphäre des Visuellen, ja sogar der Malerei; „[z]wei Bilder“, so heißt es, hätten Lenz „einen Eindruck gemacht [...], wie das neue Testament“23. Auf dem einen dieser beiden Bilder, an die sich Lenz erinnert (Büchner selbst mag dabei ein Gemälde von Careel von Savoy erinnert haben), ist eine Szene des Lukas-Evangeliums dargestellt: „das Eine [Bild] ist, ich weiß nicht von wem, Christus und die Jünger von Emaus. Wenn man so liest, wie die Jünger hinausgingen, es liegt gleich die ganze Natur in den paar Worten. Es ist ein trüber, dämmernder Abend, ein einförmiger roter Streifen am Horizont, halbfinster auf der Straße, da kommt ein Unbekannter zu ihnen, sie sprechen, er bricht das Brot, da erkennen sie ihn, in einfachmenschlicher Art, und die göttlich-leidenden Züge reden ihnen deutlich, und sie erschrecken, denn es ist finster geworden, und es tritt sie etwas Unbegreifliches an, aber es ist kein gespenstisches Grauen; es ist wie wenn einem ein geliebter Toter in der Dämme-

22 Büchner. (1980), S. 77. 23 Ders. ebd. Doch ist, um es gleich zu sagen, das ut pictura poesis, das Büchner hier zur Geltung bringt, ein sehr gemäßigtes, eines, das eher die bildende Kunst an der Literatur, an ihrer Literarizität misst als umgekehrt.

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Poetische Schlussverfahren rung in der alten Art entgegenträte, so ist das Bild“24, sagt Lenz, und meint damit: so ist auch die Literatur – und: so muss Kunst immer sein! Aber wie muss sie dann sein, die Kunst? So etwa, dass sie biblische Stoffe bebildert oder nur überhaupt Stoffe für das innere Auge, für die Einbildungskraft bereitstellt? Schauen wir auf das dritte Beispiel, das letzte Bild, das Büchner seinen Lenz beschreiben lässt. Es soll von Nicolaes Maes, einem niederländischen Maler des siebzehnten Jahrhunderts stammen, aber das ist nicht so wichtig, denn es geht gar nicht so sehr um das, was da auf diesem Bild zu sehen ist – eine Frau, ein Gebetbuch in der Hand, am geöffneten Fenster sitzend, dahinter ein Dorf, und all das vor dem Panorama einer Landschaft –, es geht um die Beschreibung, die Lenz, er ist gerade dabei sich ganz und gar zu vergessen, gibt; und diese Beschreibung lautet: „[...] es ist als schwebten zu dem Fenster über die weite ebne Landschaft die Glockentöne von dem Dorfe herein und verhallet der Sang der nahen Gemeinde aus der Kirche her, und die Frau liest den Text nach.“25 Wie man sieht, es geht hier, wenn es um die Kunst geht, nicht um Bebilderung oder Imitation, ja nicht einmal um Nachahmung. Die Bilder, namentlich die Bilder der bildenden Kunst sind schon da. Was aber nicht da, was aber nicht gegeben ist, das ist hier im letzten Beispiel das Auditive. Lenz sagt daher auch: „es ist als schwebten [...]die Glockentöne [...] herein“26. Er sieht also, was er auf dem Bild sieht, zugleich als ein anderes, nämlich als ein zugleich Auditives. Dieses „es ist als“, dieses Sehen-als begegnet dem Leser bereits in der Schilderung jenes Bildes, das ein paar Männer an einem trüben dämmrigen Abend zeigt. Denn Lenz deutet, was er da sieht, als die Darstellung einer Szene aus dem Lukasevangelium, die den wieder auferstandenen Christus seinen Jüngern begegnen lässt. Lenz sieht nun, indem er das Bild betrachtet, wie die Jünger einen ihnen zunächst Fremden, ja sogar Unheimlichen, dann doch als einen Vertrauten erkennen – auch das ein Überschreiten des sinnlich Gegebenen und Wahrgenommenen, ein Überschreiten, das sogar noch einmal potenziert wird, weil nämlich die Szene aus dem Lukasevangelium zugleich ein Überschreiten des Menschenmöglichen darstellt, denn da soll ja ein Toter wieder zum Leben erwacht sein. Aber, man erinnert sich: „Leben, Möglichkeit des Daseins“ war ja „das einzige Kriterium in Kunstsachen“. Erst im Überschreiten des einzelnen Gegeben im Hinblick auf Anderes findet die Kunst bei Büchner ihre Bestimmung. Dieses 24 Ders. ebd. 25 Ders. ebd. 26 Ders. ebd.; Hervorheb. von mir, C.K.

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Die poetische Erkundung der wirklichen Welt Überschreiten kann in Richtung auf ein anderes Medium geschehen (man geht vom Sehen zum Hören oder vom Bild zum Text über), es kann aber auch im Hinblick auf ein Göttliches oder, ich erinnere an die Notwendigkeit „die Menschheit [zu] lieben“, um den einzelnen Menschen zur Gänze erfassen zu können, es kann auch im Hinblick auf ein Allgemeines geschehen, das eigentlich viel zu groß für ein Menschenleben ist, weil es über die menschlichen Möglichkeiten des Erfahrens hinausreicht. – „Weißt du auch, Valerio“, wird Leonce dann sagen, „daß selbst der Geringste unter den Menschen so groß ist, daß das Leben noch viel zu kurz ist, um ihn lieben zu können?“27 Die Kunst also kommt bei Büchner immer dort ganz zu sich selbst, wo sie transzendiert oder, um noch buchstäblicher zu werden, wo sie uns dazu verhilft, Schlüsse zu ziehen – von dem, was wir sehen, hören und – bei Büchner ganz wichtig – empfinden, auf etwas, das wir nicht hören, sehen oder empfinden, auf ein Abwesendes. Dieses Abwesende, dieses Nicht-Gegebene gibt uns auch die Kunst nicht (Büchner ist kein Präsenzästhetiker vom Schlage Heideggers), aber mit ihrer Hilfe können wir es erschließen. Ästhetisch Erfahrungen zu machen heißt aus dem Blickwinkel der Büchnerschen Ästhetik gesprochen, Schlüsse zu ziehen. Und die Kunst hat allem voran die Aufgabe, diesen Schlüssen Form und Gestalt zu verleihen. Ich könnte auch sagen, sie hat die Aufgabe, uns Schlussverfahren an die Hand zu geben. Das ist ihre performative, über das bloße Wiederholen hinausgehende, ihre expressive und explikative, ich könnte auch mit Blick auf Leonce und Lena, die ja auf der Flucht in das Paradies sind, sagen, das ist ihre im Gegenüber der Medusa verheißungsvolle, dem U-Topos zugewandte Seite. Doch Büchners Lehre von der Dichtung als einem inferentiellen Medium reicht über sein Werk hinaus; sie transzendiert sich selbst. Diesen Schluss kann man, ich meine sogar: muss man ziehen, wenn man sich fragt, was es eigentlich heißt, dass Kunst die ästhetische Erfahrung lehrt, Schlüsse zu ziehen. Nun, zunächst einmal heißt es ganz offenbar nicht, logische Schlüsse zu ziehen. Es heißt nicht, den Übergang von den Prämissen zur Conclusio allein durch die Logik (und sei es auch, wie bei Hegel, keine formale, dem Sein äußerliche, sondern eine dialektische Logik) zu legitimieren. Es handelt sich auch nicht um Schlüsse, bei denen der Übergang von den Prämissen zur Conclusio durch z.B. physikalische, soziale, historische oder sonstige Gesetze gedeckt wäre. Das heißt aber nicht, dass es in der Kunst überhaupt keine Gesetzmäßigkeiten gäbe. Die Kunst verfährt zwar jenseits der Logik, aber durchaus diesseits der Beliebigkeit! Gerade weil sie es

27 Georg Büchner, Leonce und Lena,, in ders. (1980), S. 111.

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Poetische Schlussverfahren mit Repräsentationen zu tun hat. Aus Repräsentationen Schlüsse zu ziehen kann nämlich z.B. heißen, aus der Wahrnehmung des Rauchs auf die Existenz eines Feuers zu schließen oder, für den Roman und das Drama besonders wichtig, aus dem Verhalten, gerade auch dem Sprachverhalten von Personen auf deren mentale Zustände. Ja, ich denke sogar, dass wir in unseren Gefühlen beständig aus den Zuständen unseres Körpers Schlüsse ziehen, wir gerade da unsere Selbstwahrnehmungen als Repräsentationen gebrauchen. Und bekanntlich sind die Büchnerschen Figuren in einem bisweilen sogar beängstigenden Maße mit dieser Fähigkeit ausgestattet: Lenz etwa bemerkt an einer Stelle, „jetzt endlich empfände er die ungeheure Schwere der Luft“28. Ohne dass wir wissen, wie wir auf den unterschiedlichsten Ebenen die verschiedensten Schlüsse zu ziehen haben, würde sich uns so etwas wie Welt oder Wirklichkeit niemals erschließen. Dieses Wissen-wie müssen wir auch bei unserem Umgang mit sprachlichen Repräsentationen beanspruchen. Ich sage: auch, weil die Sprache nur ein bestimmtes, eigens dazu geschaffenes Medium ist, in dem wir von dieser Fähigkeit Gebrauch machen. So schließen wir etwa von dem Gebrauch eines Wortes auf die Umstände, unter denen es Sinn macht. Und Begriffe kann man als Regeln auffassen, die angeben, welche Schlüsse wir aus dem Gebrauch bestimmter Worte zu ziehen haben. Der Begriff des Dreiecks etwa berechtigt uns dazu, sobald jemand das Wort ,Dreieck‘ assertorisch verwendet, indem er z.B. mit hinweisender Geste sagt Das ist ein Dreieck, zu dem Satz Es handelt sich dabei um eine von drei Seiten eingeschlossene Fläche, deren Winkelsumme 180 Grad beträgt überzugehen – oder von dem Satz Etwas liegt in einem Dreieck zu dem Satz Es liegt nicht in einem Kreis oder in einem Quadrat – und so weiter. Aber Begriffe sind nur eine bestimmte, eine sozial bestimmte Form, die unserer im Medium der Sprache sich ausdrückenden Fähigkeit, Schlüsse zu ziehen, Gestalt verleihen – eine explizite Gestalt, über die aber nicht jeder explizit verfügen muss, der aus dem Gebrauch eines Wortes Schlüsse zieht. Nahezu jeder kann aus dem assertorischen, fragenden, imperativischen Gebrauch von Worten wie Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit Schlüsse ziehen. Doch wer ist schon in der Lage, diese Begriffe hinreichend zu explizieren? – Das Undsoweiter reicht bei ihnen offenbar viel zu weit. Das gilt sogar für das Wort Dreieck. Wann immer wir es nämlich nicht assertorisch, sondern ästhetisch gebrauchen, sind auch Schlüsse auf Worte wie Dreiecksbeziehung oder Triangulierung usw. zulässig, Schlüsse, die nur durch die sprachliche Form, das Material der Repräsentation gerechtfertigt sind. Zunächst einmal

28 Büchner (1980), S. 88.

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Die poetische Erkundung der wirklichen Welt hat es daher den Anschein, als sei das Schließen eine ganz gar individuelle Angelegenheit, ja sogar eine individualisierende Sache: Unterscheiden wir uns nicht eben dadurch von all den anderen, dass wir uns Schlussfolgerungen gestatten, die sie nicht für gerechtfertigt halten? Aber wenn Leonce zu Valerio sagt: „Mensch, du bist nichts als ein schlechtes Wortspiel“ und dieser erwidert „Und Sie Prinz, sind ein Buch ohne Buchstaben, mit nichts als Gedankenstrichen. – Kommen Sie jetzt meine Herren“, um dann vom „Aufkommen“ über das „Unterkommen“, „Auskommen“ und „Abkommen“ endlich auf das „Fortkommen“29 zu sprechen zu – kommen, dann leitet ihn nicht assoziative Beliebigkeit, sondern die Logik des Materials, das Medium der Darstellung – also nicht dasjenige, worauf das Kommen Sie jetzt meine Herren! im alltäglichen Sprachgebrauch Bezug nimmt. Ähnliches gilt auch für eine andere, bei Büchner aus nichts als Worten bestehende Figur: Lenz. Als Darstellung einer bis, ich habe das angedeutet, ans Äußerste gehenden Empfindungsfähigkeit lässt sie nur einen Schluss zu, nämlich den, dass Schmerz und Wahnsinn die notwendige Konsequenz eines derart ausgeprägten Vermögens sind und alle theologischen Linderungsversuche des damit einhergehenden Leidens, wie Oberlin sie unternimmt, die Notwendigkeit dieses Schlusses nicht einmal erahnen. Oder man denke an die tragische Logik des Bürgerlichen Trauerspiels, bei der die Liebenden, wiewohl sie unterschiedlichen Ständen zugehören, zusammen kommen wollen, aber nicht zusammen kommen können, weil am Ende einer von ihnen einen tugendhaften Tod stirbt. In Leonce und Lena zieht Büchner dann die Konsequenz aus dieser tragischen Logik. Er präsentiert zwei Figuren, die von Standes wegen füreinander bestimmt sind, aber, weil sie sich nicht aneinander binden wollen, voreinander fliehen, sich dabei, sei es aus Notwendigkeit, sei es aus Zufall, unsterblich ineinander verlieben und am Ende beschließen „in aller Ruhe und Gemütlichkeit den Spaß noch einmal von vorn an[zufangen]“30. Das alles sind Beispiele, mehr nicht, für ästhetische Schlüsse, die nicht durch die Welt, die Wirklichkeit, das Sein oder die von diesem bestimmten Konventionen unsere Sprachgebrauchs gerechtfertigt sind, sondern allein durch die Darstellung. Das Wissen der Kunst – wenn sie eines hat – ist denn auch keines um den Wahrheitsgehalt ihrer Darstellung, sondern einzig eines um die Notwendigkeit der Schlüsse, die aus ihren Darstellungen zu ziehen sind. Und natürlich träumt sie, bei Büchner nicht anders als bei Kant

29 Büchner (1980), S. 101. 30 Büchner (1980), S. 117f.

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Poetische Schlussverfahren oder Adorno, davon, dass es sich dabei um eine Naturnotwendigkeit handelt. Aber das ist, und war es immer schon, ein Traum – der bei Büchner freilich nichts anderes ist als das Leben selbst. Manchmal erwacht sie aus diesem Traum. Dann weiß sie, dass der Schein der Notwendigkeit, die ihr gebietet, nicht aus dem Sein, aus der Wirklichkeit, sondern aus Darstellungen und Repräsentationen Schlüsse zu ziehen, einem ganz ungeheuren Problem geschuldet ist, nämlich dem, dass das Geschehen, so wird Stifter das dann formulieren, „durch die Unendlichkeit des Alls [...] wie ein heiliges Rätsel an uns vorbei“ fließt, ohne dass wir Kausalität, Schicksal oder ein Fatum, Stifter nennt es die „letzte Unvernunft des Seins“31, dafür verantwortlich machen könnten. Gerade die Uneinsehbarkeit der Gründe des Geschehens ruft die Kunst auf den Plan – der Irr- und Widersinn der französischen Revolution das Drama Dantons Tod, das Leben, Morden und Sterben des Johann Christian Woyzeck den Woyzeck Büchners, die Pathogenese des Dichters Jakob Michael Reinhold Lenz die Erzählung Lenz, jene seltsame Logik des Bürgerlichen Trauerspiels das Lustspiel Leonce und Lena. Kunst von der Kunst, von derjenigen Georg Büchners her zu denken führt dann dahin, allein mit den Mitteln der Repräsentation, allein durch die Logik der Darstellung Rückschlüsse auf die uns verborgenen Gründe des Geschehens zu ziehen – oder, umgekehrt, dahin, unsere Aufmerksamkeit darauf zu lenken, dass wir allen Grund dazu haben, aus der Absurdität und Unerklärbarkeit des Geschehens auf die Notwendigkeit des Ästhetischen zu schließen, darauf also, dass wir tatsächlich am farbigen Abglanz das Leben haben – wenn wir nur aufmerksam genug sind.

31 Stifter (2001), S. 4.

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WIRKUNGSGESCHICHTE ALS WISSENSGESCHICHTE: MÖRIKE UND EINIGE SEINER MODERNEN NACHFAHREN

Wenn man sich auf das Fortleben Mörikes in der Lyrik der Moderne, wenn man sich darauf besinnen möchte, wie Mörike den Gebrauch, den seine Nachfahren von der Lyrik als einem sprachlichen Medium zur Gewinnung von Erkenntnissen gemacht haben, beeinflusst hat, dann ist es ratsam, zunächst einmal all jene zu vergessen, die vor ihm zur Lyra die Stimme erhoben. – Man muss einen Augenblick lang so tun, als habe es Goethe, Petrarca, Horaz, ja sogar Orpheus nie gegeben und sich ganz dem Gedanken hingeben, dass es vor Mörike nur eines gab, nämlich Stille. Jahrhunderte, Jahrtausende, Jahrmillionen lang bringt das Universum kein Wort, keinen Ton, ja nicht einmal ein Geräusch hervor, sondern nur eine ganz ungeheure Stille. Noch der Urknall ereignete sich vollkommen lautlos. Es gab nichts, kein Ohr, das ihn hätte vernehmen können. In dieser großen Stille ergreift An einem Wintermorgen, vor Sonnenaufgang eine Stimme das Wort und sagt1: O flaumenleichte Zeit der dunkeln Frühe! Welch neue Welt bewegest du in mir? Was ist’s, daß ich auf einmal nun in dir Von sanfter Wollust meines Daseins glühe? Einem Krystall gleicht meine Seele nun, Den noch kein falscher Strahl des Lichts getroffen; Zu fluthen scheint mein Geist, er scheint zu ruhn, Dem Eindruck naher Wunderkräfte offen, Die aus dem klaren Gürtel blauer Luft Zuletzt ein Zauberwort vor meine Sinne ruft. Bei hellen Augen glaub’ ich doch zu schwanken; Ich schließe sie, daß nicht der Traum entweiche. Seh’ ich hinab in lichte Feenreiche? Wer hat den bunten Schwarm von Bildern und Gedanken Zur Pforte meines Herzens hergeladen,

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Mörikes Werke werden im Folgenden zitiert nach der historisch-kritischen Ausgabe: ders. (1967 ff.).

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Die poetische Erkundung der wirklichen Welt Die glänzend sich in diesem Busen baden, Goldfarb’gen Fischlein gleich im Gartenteiche? Ich höre bald der Hirtenflöten Klänge, Wie um die Krippe jener Wundernacht, Bald weinbekränzter Jugend Lustgesänge; Wer hat das friedenselige Gedränge In meine traurigen Wände hergebracht? Und welch Gefühl entzückter Stärke, Indem mein Sinn sich frisch zur Ferne lenkt! Vom ersten Mark des heut’gen Tags getränkt, Fühl’ ich mir Muth zu jedem frommen Werke. Die Seele fliegt, so weit der Himmel reicht, Der Genius jauchzt in mir! Doch sage, Warum wird jetzt der Blick von Wehmut feucht? Ist’s ein verloren Glück, was mich erweicht? Ist es ein werdendes, was ich im Herzen trage? – Hinweg, mein Geist! hier gilt kein Stillestehn: Es ist ein Augenblick, und Alles wird verwehn! (HKA 1, S. 11f.)

An dieser Stelle, spätestens an dieser Stelle ist sie dann wieder zu vernehmen, jene ungeheure Stille, aus der nun allerdings ein Schweigen geworden ist. Dieses Schweigen ist der Ausdruck einer Frage: Warum geht es jetzt, nachdem sich, wer oder was auch immer, ein lyrisches Subjekt (vielleicht) seiner selbst, seiner poetischen Subjektivität versichert hat, diese Gewissheit aber in der Reflexion auf die Gründe, der die poetische Subjektivität sich verdankt, gerade so gründlich verloren hat, überhaupt noch weiter – mit Worten und Versen, die, wiewohl hinlänglich bekannt, es ebenfalls immer wieder verdienen, so zu vernommen zu werden, als wären Sie nie zuvor vernommen worden: Dort, sieh, am Horizont lüpft sich der Vorhang schon! Es träumt der Tag, nun sei die Nacht entflohn; Die Purpurlippe, die geschlossen lag, Haucht, halbgeöffnet, süße Athemzüge: Auf einmal blitzt das Aug’, und, wie ein Gott, der Tag Beginnt im Sprung die königlichen Flüge! (HKA 1, S. 12)

Diese Verse stellen eine für Mörike, aber auch für die Rezeption Mörikes alles entscheidende Frage: Wie kann es sein, dass nach all dem Schweigen, nach all der Stille zu Anfang ein Subjekt wie aus Träumen erwacht, sich seiner selbst vergewissert, dabei seiner In-

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Wirkungsgeschichte als Wissensgeschichte spiration, seines Genius gewahr wird, dann aber mit jenem „Doch sage,/ Warum wird jetzt der Blick von Wehmut feucht?“ ins Zweifeln gerät über jene subjektiven Kräfte, aus denen es spricht, um dann beim Anbrechen des Tages ins Jubilieren zu geraten und fortzufahren – einfach so, einfach weil es im „– Hinweg, mein Geist! hier gilt kein Stillestehn:/“ beschlossen hat fortzufahren? Ich möchte nun diese Frage etwas präziser formulieren und dabei ein wenig über das Fragliche dieser Frage nachdenken, um von hier aus einen Blick auf das Fortleben, auf die Rezeption Mörikes in der Lyrik des 20. Jahrhunderts zu werfen. Um das, was an dieser Frage fraglich ist, das Fragwürdige also, genauer in den Blick zu bekommen, ist es hilfreich, nicht bei der Interpretation, aber für die Dauer der Lektüre des Gedichts die lyrische Tradition zu vergessen. Denn wenn dem Leser das gelingt, ist er in einer Situation, die der des – ich nenne es nur versuchsweise so – lyrischen Subjekts sehr ähnlich ist. Denn so wie für das lyrische Subjekt – und natürlich Mörike – die Tradition nicht einfach da ist, so wie für das lyrische Subjekt jene „Wunderkräfte“, „Feenreiche“, dionysischen „Lustgesänge“ und bukolischen „Klänge“ samt all der romantischen, genieästhetischen und antikisierenden Untertöne nicht gegeben, sondern erst zu schaffen sind, so wie hier also versucht wird, Tradition zu erzeugen, um dann mit der Tradition über die Tradition hinauszugelangen, so stellt sich auch für uns, die wir heute an der Rezeption Mörikes interessiert sind, die Frage, ob Mörike etwas völlig Neues, etwas noch nie Dagewesenes in die Welt setzt, etwas, das sich nicht verstehen lässt, indem man auf etwas zurückgreift, das es bereits vor Mörike gab. Das mit An einem Wintermorgen, vor Sonnenaufgang angesprochene Problem führt dann im Blick auf dasjenige, was in der Gattungsgeschichte der Lyrik auf Mörike folgen wird, zu der Frage, ob die Lyrik der Moderne eine andere wäre, wenn es Eduard Mörike nicht gegeben hätte, auch nicht jenes soeben zitierte Gedicht. Es ist nun, so scheint es, alles andere als gewiss, ob dem so wäre, ob es, mit anderen Worten, für die moderne Lyrik ein dem Kafkaesken, ohne das die erzählende Literatur des 20. Jahrhunderts nicht wäre, was sie ist, vergleichbares Mörikeskes gibt – und bereits der befremdliche Klang dieses Wortes gibt keinen besonderen Anlass zur Hoffnung, auch nicht jene soeben zitierte letzte Strophe aus An einem Wintermorgen, vor Sonnenaufgang, mit der ‚das lyrische Subjekt‘ in einem voluntaristischen Akt versucht, all die in ihm laut werdenden Zweifel an seinem poietischen Vermögen zu vertreiben. Denn was es da zum Schluss bemüht, um der Tradition zu entkommen, ist nichts anderes als ein – man denke nur an Eichen-

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Die poetische Erkundung der wirklichen Welt dorffs „Es war als hätt der Himmel/ die Erde still geküßt“2 oder an Helios, der des Morgens im Sonnenwagen seine Fahrt beginnt – durchaus traditionelles Bild des gerade erwachenden Tages. Die Beschwörung eines solchen Bildes mag Mut machen und gute Hoffnung, aber eine Antwort auf die Frage, wie etwas entstehen soll, das es so nie zuvor gegeben hat, ist es nicht. Es hat also den Anschein, als gelange Mörike hier in An einem Wintermorgen, vor Sonnenaufgang noch nicht über die Tradition hinaus. Wir werden sehen! Ich habe vorgeschlagen, die Frage nach der Rezeption Mörikes in der Moderne mit einer anderen Frage zu verbinden, die heißt: Wie kommt es, dass etwas ist und nicht vielmehr nichts? Oder auch mit jenem (das ist dieselbe Frage, nur in einer imperativischen Form): Es ist noch nichts, und es soll etwas werden! Wer nämlich mit Rücksicht auf das keineswegs nur metaphysische Problem der Kreativität über Rezeption nachdenkt, dem fällt folgendes auf: Zuerst dies, dass mit dem Begriff der Rezeption einhergeht, dass man etwas nur in Beziehung auf anderes nimmt, es daher gerade nicht als dasjenige nimmt, was es an und für sich ist. Die der Rezeption eigentümliche Ungerechtigkeit gegenüber ihrem Gegenstand liegt daher in ihrem Relativieren und Beziehen. Was ist, ist der Rezeption wesentlich ein, mit Hegel gesprochen „Sein für Anderes“3. Und in diesem Relativieren besteht dann sogar, das wird zumeist vergessen, eine eigentümliche Schwäche der sog. Kulturwissenschaften, wenn sie als Kunstwissenschaften auftreten. Um diese der Rezeption eigentümliche Ungerechtigkeit zu korrigieren, müssen die Gegenstände der Rezeption aus den Zusammenhängen und Kontexten, in denen sie erscheinen, abstrahiert werden, damit sie als etwas genommen werden können, das sie an und für sich sind. Nun gibt es aber auch den Gedanken, dass, was etwas an und für sich ist, gar nicht erkannt werden kann. Jenes An-und-für-sich mag es geben, aber es gibt es nicht für uns. Denn Rezipieren heißt (für Bewusstseine), etwas mit dem in Beziehung zu setzen, das man selbst ist. So gesehen, kann das Rezipieren den Gegenständen gar nicht gerecht werden, es muss sie verfälschen. Gegenüber dieser für die Moderne und Postmoderne typischen Perspektive, es ist eine kantische, gibt es jedoch auch den Gedanken, dass, was etwas an und für sich ist, erst in den Wirkungen dieses Etwas zum Ausdruck kommt. Charles Sanders Peirce etwa schreibt in How to make our Ideas clear: „Überlege, welche Wirkungen, die denkbarerweise praktische

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Eichendorff (2001), S. 55. Hegel (1986), Bd. III, S. 577, Hervorheb. ebd.

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Wirkungsgeschichte als Wissensgeschichte Bedeutung haben könnten, wir dem Gegenstand unseres Begriffs in unserer Vorstellung zuschreiben. Dann ist unser Begriff dieser Wirkungen das Ganze unseres Begriffs des Gegenstands, und darüber hinaus gibt es absolut nichts an ihm.4 Peirce will uns also davon überzeugen, dass unser Begriff des Gegenstands in den Wirkungen besteht, die dieser Gegenstand auf unser Bewusstsein hat. Was immer der Gegenstand sonst noch sein mag, begreifen können wir ihn nur über seine Wirkungen. Dieser Gedanke, der die Möglichkeit eines unerkennbaren An-sich offen lässt, kann aber noch zugespitzt werden. Dann lautet er, dass, was etwas ist, überhaupt nicht im Voraus bestimmt ist – als Idee, Substanz oder Wesen, sondern erst die Realisierung einer Idee oder eines Wesens klärt, was dieses Wesen ist oder wodurch sich jene Idee bestimmt. Mit Bezug auf Mörike gesagt: Was da in Mörikes An einem Wintermorgen, vor Sonnenaufgang zum Ausdruck kommt, ist an sich, also im Modus der Abstraktion aus allen Zusammenhängen und Traditionen überhaupt nicht zu bestimmen. Erst die Rezeptions- oder Wirkungsgeschichte zeigt, wodurch und wie das Wirkende an und für sich bestimmt ist. Jede Rezeptionsgeschichte, die den Anspruch erhebt, die Erkenntnis ihres Gegenstands zu befördern, ist daher getragen von der Hoffnung, dass dieses expressive Denken seine Berechtigung hat und jedes Rezipieren nicht lediglich ein Verfälschen, sondern ein Zur-Geltung-Bringen, ein Verwirklichen dessen ist, was ist. Wir werden sehen, wie weit diese Hoffnung trägt. Vorausschicken möchte ich jedoch schon, dass sie nicht allzu weit trägt, wenn man den expressivistischen Gedanken undialektisch denkt, das heißt, wenn man, wie es häufig geschieht, das Vergangene von der Gegenwart aus oder, wie Peirce und mit ihm die meisten Pragmatisten, die Gegenwart von der Zukunft her denkt. Dann nämlich stellt sich ziemlich unverhofft ein Maßnehmen des Vergangenen am Gegenwärtigen oder des Gegenwärtigen am Zukünftigen ein. Doch Mörikes Lyrik ist nicht an der Lyrik der Moderne und diese nicht an derjenigen der Postmoderne zu messen. Mörikes Lyrik ist nicht einfach im Lichte der Lyrik des 20. Jahrhunderts, sondern auch die moderne Lyrik im Lichte der Lyrik Mörikes zu lesen – so, dass, was die moderne Lyrik ausmacht, sich erst im Blick auf die Lyrik Mörikes zeigt. Meine mit Blick auf den Zusammenhang von Rezeption und Kreativität geäußerte These besagt nun, dass die Lyrik der Moderne an der Lyrik Mörikes deren Auseinandersetzung mit der Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit von Kreativität rezipiert – und zwar so rezipiert, dass die Frage allererst in ihrer Fraglichkeit zur

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Zit. nach: Helmut Pape (2002), S. 21, Hervorheb. ebd.

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Die poetische Erkundung der wirklichen Welt Geltung kommt. Das heißt, die Geschichte der modernen Lyrik ist, so, von Mörike aus gesehen, wesentlich eine Gattungsgeschichte, die sich als eine Geschichte der Erprobung von Lösungsmöglichkeiten des Problems lyrischer Kreativität erzählen lässt. Mörike gibt dieser Wirkungsgeschichte das Problem vor, und, das vor allem, einige, aber natürlich nicht alle Lösungsmöglichkeiten. Er bringt dabei das Problem, das freilich älter ist als Mörikes Lyrik, in einer spezifisch modernen Gestalt zur Geltung. Aber was heißt hier schon modern? Nun, Modernität bedeutet immer, dass die Antwort auf die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit des Neuen in den Weisen seiner Darstellung gesucht wird. Was immer sich ereignet, geschieht daher nicht einfach, nicht von Gottes Gnaden und auch nicht aus unerklärlichen Gründen, sondern, weil es etwas gibt, ein transzendentales Subjekt, ein Unbewusstes, ein Umgreifendes, eine Sprache, ein Sein des Seienden – das gibt, das also, was immer ist, so erscheinen lässt, wie es erscheint. Die Moderne ist daher immer gekennzeichnet durch eine Reflexion auf dieses, das da gibt, allgemein gesprochen: auf das Darstellende. Und natürlich profitiert davon – wie sollte es anders sein? – gerade die Kunst. Sie erfährt daher in der Moderne nicht zufällig eine Aufwertung. Denn sie ist ja seit eh und je eine Reflexion auf die Tatsache, dass Welt immer schon dargestellte Welt ist – eine Tatsache auf die sie ihrerseits mit Darstellungen reagiert. Zu diesem ersten Spezifikum der Moderne, der Darstellungsabhängigkeit des Wirklichen, kommen dann in der Postmoderne zwei weitere Spezifika hinzu: Zum Ersten die Erfahrung, dass der Übergang von der Darstellung zu den dargestellten Inhalten und Sachverhalten, zur Wirklichkeit nicht gelingt. Die Darstellenden haben nun den Eindruck, dass sie im Medium der Darstellung, in der Sprache z. B., gefangen bleiben. Daraus resultiert zum Zweiten der Eindruck der Epigonalität: Alles ist schon einmal da gewesen, man kann nur noch bereits vorhandene Darstellungen zitieren oder paraphrasieren und die tradierten Formen neu arrangieren – wirklich Neues schaffen kann man, kann die Kunst nicht mehr. Mörike befindet sich, ich habe das anzudeuten versucht, bereits in den dreißiger Jahren des vorletzten Jahrhunderts in dieser spezifisch modernen bzw. postmodernen Situation. Darin liegt, wie ich denke, ein nicht unerheblicher Teil seiner Aktualität begründet. Aber seine wirkliche Aktualität gibt sich nicht zu erkennen, wenn man Mörike nur als einen Ahnen zeitgenössischer Problemkonstellationen versteht, als einen frühen Postmodernen gewissermaßen. Nein, man muss auch sehen, worin Mörike nicht nur seiner, son-

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Wirkungsgeschichte als Wissensgeschichte dern vielleicht, es gibt keinen Grund das im Vorhinein auszuschließen, auch unserer Zeit voraus war. Dazu muss man sehen, welche spezifische Gestalt er dem Problem der Kreativität in einer modernen bzw. postmodernen Situation verleiht. Und diese Gestalt, die ich mich bemühen werde im Folgenden zu skizzieren, zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass sie die Instanz, die zumeist beansprucht wird, wenn es darum geht, Kreativität zu erklären, nämlich Subjektivität, in Frage stellt – und das in einer Gattung, die gemeinhin als die subjektivste Form der Dichtung gilt. Das Subjekt, dem Mörike in An einem Wintermorgen, vor Sonnenaufgang die Last der Kreativität aufbürdet, vermag diese Last längst nicht mehr zu tragen. Es weiß auch nicht, wie und warum es zu Anfang den Genius der Inspiration verspürt. In seiner Hilflosigkeit wendet es sich der Tradition zu, ganz am Ende dann einem Anderen, der Natur. Aber auch diese Natur erscheint in einem, ich habe darauf hingewiesen, durchaus konventionellen, durchaus der Tradition verhafteten Bild. Andere Gedichte, wie etwa Göttliche Reminiszenz verfahren ähnlich, manche unter ihnen, wie etwa Der junge Dichter oder Nächtliche Fahrt suchen dann einen Teil der Last der Subjektivität auf die Schultern einer Geliebten oder einer Muse zu verteilen – sie sind zugleich Liebes- und poetologische Gedichte –, aber das ändert nichts an dem Umstand, dass Mörike versucht hat, die scheinbar subjektivste aller Gattungen vom Subjekt zu befreien. Während wir demnach noch heute, wenn wir auf die Lyrik blicken, die Frage nach dem lyrischen Subjekt und seiner Subjektivität stellen, die Lyrik gar für die Gattung halten, in der Subjektivität ihren reinsten, ihren unmittelbarsten Ausdruck erhält und daher Lyrik gerne als den poetischen Ort begreifen, an dem vor allem die an die Subjekte gebundenen Perspektiven auf die Welt dargestellt werden, stellt schon Mörike die Frage, wie Lyrik das Prinzip der Subjektivität und damit einhergehend den Eindruck, sie sei nur der Ausdruck eines perspektivengebundenen Zugangs zur Welt, hinter sich lassen kann. Meine zweite These besagt nun, dass die Mörikerezeption im 20. Jahrhundert zu erkennen gibt, dass Mörike diese Aufhebung der Subjektivität initiiert, indem er seine Lyrik drei Wege beschreiten lässt: Der erste führt sie zu den Dingen (I); der zweite, und das hatte sich in der letzten Strophe von An einem Wintermorgen, vor Sonnenaufgang schon angedeutet, zur Natur (II); der dritte hingegen zurück zum Gedicht selbst, das heißt zur Form des Gedichts(III). I. Mörike gilt bekanntlich, ob zu Recht, das sei dahingestellt, mit Gedichten wie Auf eine Christblume, Weihgeschenk oder An eine

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Die poetische Erkundung der wirklichen Welt Äolsharfe als Begründer des weder von ihm selbst noch übrigens auch von Rilke so genannten Dinggedichts. Und man mag bezweifeln, dass den genannten Gedichten als Dinggedichten heute eine besondere Aufmerksamkeit zuteil würde, wenn nicht auch Rainer Maria Rilke oder Conrad Ferdinand Meyer vor ihm solche Gedichte verfasst hätten. Aber ich denke, dass es keinen Zweifel daran geben kann, worin die Verheißung der Dinge für Mörike bestand, nämlich darin, mit ihrer Hilfe das Subjekt von der Last seiner Subjektivität zu befreien. Nicht zufällig, sondern mit großem Recht haben daher die beiden letzten Verse des wohl berühmtesten Dinggedichts Mörikes, Auf eine Lampe, eine derart große Aufmerksamkeit erfahren. Nicht zugfällig haben Martin Heidegger und Emil Staiger gerade darüber gestritten, wie jenes Scheinen in den Versen „Ein Kunstgebild der ächten Art. Wer achtet sein?/ Was aber schön ist, selig scheint es in ihm selbst“ (HKA 1, S. 132) zu verstehen sei – ob im Sinne des Erscheinens, im Sinne des, wie Heidegger sagt: „Sich-an-ihm-selbstzeigen[s]“5 oder im Sinne des Den-Anschein-Habens, wofür bekanntlich Staiger votiert. Dabei ist strittig, ob den Dingen selbst Subjektivität zugesprochen werden kann, wie Heidegger im Rekurs auf jenes An-sich glaubt, oder lediglich einem Subjekt – mit der Konsequenz, dass das Wie des Erscheinens, das, um genau zu sein, Selig-scheinen nur einem Subjekt so erscheint, während es tatsächlich anders ist, als es erscheint, gerade nicht selig also. Entgegen der verbreiteten Gewohnheit, Lyrik als bloß subjektives Scheinen, als ein sprachliches Darstellen von Perspektiven auf die Welt zu verstehen, liegt die Verheißung der Dinge für Mörike darin, dass sie tatsächlich jene von Heidegger beanspruchte Eigenschaft des Sich-an-ihnen-selbst-Zeigens aufweisen. Den Dingen selbst, und eben daran möchte die Lyrik gerne partizipieren, wohnt eine expressive Kraft inne. Nicht nur Subjekte haben das Vermögen der Expressivität, sondern auch Dinge, auch, um genau zu sein, Artefakte. Wäre Mörike daher, so mag man sich fragen, gegen die staigersche Betonung des videtur auf Seiten des heideggerschen lucet und damit der griechischen Aletheia gewesen? Wenn man Mörike von Rilke aus liest, muss man sagen: Ja, genau das wäre der Fall gewesen! Denn Rilke beschließt seine Blaue Hortensie mit den Versen: „Doch plötzlich scheint das Blau sich zu verneuen/ in einer von den Dolden, und man sieht/ ein rührend Blaues sich vor Grünem freuen.“6 Der Archäische[ ] Torso Apollos ist dann, was die expressive Kraft eines Dings anbelangt, es handelt sich ja um ein Gedicht, das von einem Stück Stein handelt, sogar

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Staiger (1955), S. 42. Rilke (1986), S. 465.

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Wirkungsgeschichte als Wissensgeschichte noch deutlicher. Denn dort heißt es am Schluss von diesem steinernen Torso: „denn da ist keine Stelle,/ die dich nicht sieht. Du musst dein Leben ändern.“7 Auch Rilke also schreibt den Dingen Subjektivität zu – auch wenn uns das heute, da uns die Kopplung der Subjektivität an Personen so selbstverständlich zu sein scheint, wie irr anmuten mag. Rilke wäre also, so scheint es, mit Mörike auf Seiten Heideggers gewesen. Aber die Reflexion auf die Bedingungen der Möglichkeit der Gattung des Dinggedichts, und damit auf die Expressivität der Dinge, ist immer schon ein Teil dieser Gattung. Dinggedichte stellen dann, und eben das zeigt sich bei Rilke, im Verlaufe der Reflexion auf ihre eigenen Möglichkeiten die expressive Kraft der Dinge wieder in Frage. Die letzte Strophe in Rilkes Der Panther, um nur ein Beispiel für diese In-Frage-Stellung zu geben, lautet: „Nur manchmal schiebt der Vorhang der Pupille/ sich lautlos auf –. Dann geht ein Bild hinein,/ geht durch der Glieder angespannte Stille –/ und hört im Herzen auf zu sein.“8 Diese Expressivität verdankt sich, und eben deshalb wären Rilke und Mörike immer auch auf Seiten Staigers, nicht mehr der Subjektivität eines Dings, das hier freilich ein Lebewesen ist, sondern allein dem Medium der Sprache. Rilkes Sprache ist expressiv, sie stellt etwas dar. Aber, was sie darstellt, ist die Ausdruckslosigkeit der Dinge, die sie darstellt. Rilkes Der Panther ist wie Mörikes Auf eine Lampe ein schönes Gedicht; auch der Panther selbst scheint am Ende, wie Mörikes Lampe, ganz in sich selbst zu ruhen. Aber in ihm ist keine Seligkeit mehr. Das scheint nicht einmal mehr der Fall zu sein. Diese Ausdruckslosigkeit der Dinge setzt sich dann in der Oberflächenästhetik der Lyrik des 20. Jahrhunderts fort, in Gedichten wie Eichs Inventur, und damit in Versen wie „Dies ist meine Mütze,/ dies ist mein Mantel,/ hier mein Rasierzeug/ im Beutel aus Leinen. [...] Dies ist mein Notizbuch,/ dies meine Zeltbahn,/ dies ist mein Handtuch,/ dies ist mein Zwirn“9 – oder in den späten Gedichten aus Rolf Dieter Brinkmanns Westwärts 1&2, die nur noch eines notieren, nämlich den Schein der wahrgenommenen Dinge für ein Bewusstsein – und sonst nichts. Dass die Dinge, die bei Brinkmann, etwa in dem Gedicht Landschaft10 auf einer Müllhalde liegen, etwas sagen, dass ihnen eine expressive Kraft innewohnt, wird man nicht sagen können; allein dies, dass sie nichts mehr sagen, sagt noch etwas – nichts Gutes, wie sich versteht. 7 8 9 10

Ders. ebd., S. 503. Ders. ebd., S. 451. Eich (1991), Bd. I, S. 35f. Brinkmann (1975), S. 99.

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Die poetische Erkundung der wirklichen Welt Liest man Mörikes Auf eine Lampe von dieser Tradition entsubjektivierender Dinglyrik her, versteht man also die Wirkungsgeschichte der Lyrik Mörikes als ein Argument im Streit um ihre Interpretation, so wird man sagen müssen, es sei eines, das Staiger gegen Heidegger für sich verbuchen kann. – Doch Mörike gibt, genau genommen, keinem von beiden Recht. Er dichtet den zweifachen Sinn des Scheinens, mindestens den, als lucet und videtur. Damit stellt er der Philologie die Aufgabe, dieses Zugleich zu denken, die Einheit in der Vielheit der Deutungsmöglichkeiten. So befreit er sie zwar von dem Zwang (dem Heidegger und Staiger so ergeben Folge leisten), für die eine richtige Deutung sich entscheiden zu müssen, aber er weist ihr auch die Aufgabe zu, über das Konstatieren der Polysemie hinauszugehen – zu jenem Zugleich. Für die moderne Lyrik heißt dies zwar, dass der Verlust der Aura, den die Dinge erleiden, nicht das letzte Wort sein kann, es heißt aber bereits bei Mörike, dass die Dinge als auratische, als ausgezeichnete Kunstdinge ihre suggestive Kraft verlieren. Die Lyrik bedarf daher bereits bei Mörike nicht mehr der besonderen, der ausgezeichneten Dinge. In ihrer durch Goethe vorbereiteten Darstellung alltäglicher Gegenstände und Sujets, gerade in Mörikes später Schaffensphase, nimmt seine Lyrik die postmoderne Aufwertung des Alltäglichen, Belanglosen und Banalen vorweg. Der damit einhergehende Auraverlust, den die Dinge, ich betone das: bereits bei Mörike erleiden, impliziert freilich eine Kritik an ihnen. Sie besagt, dass ihre expressive Kraft nicht ausreicht, um Kreativität zu garantieren oder, in einer epigonalen Situation, die Entstehung des Neuen. II. Welch Wunder also, dass Mörike sich den Dingen zuwendet, die von sich aus Neues produzieren, ohne Zutun eines menschlichen Subjekts. Die Rede ist von der Natur. Wenn etwas als Verkörperung einer nicht-subjekthaften, nicht menschlichen Subjektivität gilt, dann die Natur. Es ist, traditionell gesprochen, die natura naturans, modern gesprochen, das Vermögen der Autopoiesis, das sie den Artefakten voraushat. Die moderne Naturlyrik, die sich nicht dadurch auszeichnet, dass sie Natur irgendwie zum Thema macht, sondern dadurch, dass sie sich Natur im Hinblick auf das ihr, der Lyrik, eigene Problem der Kreativität zum Vorbild nimmt, versucht an jenem autopoietischen Vermögen der Natur zu partizipieren – soweit sie dazu als eine an Sprache gebundene Kunstgattung in der Lage ist. Viele moderne Naturgedichte, vor allem die der sog. naturmagischen Schule Oskar Loerkes und Wilhelm Lehmanns verfolgen daher das Programm, im Prozess der lyrischen Rede Naturpro-

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Wirkungsgeschichte als Wissensgeschichte zesse zu exemplifizieren.11 Im Naturgedicht sollen, mit Hölderlin gesprochen, „Worte, wie Blumen, entstehn“12. Entstehen, Vergehen, Wachsen und Fließen sind daher bevorzugte Weisen, in denen Natur im modernen Naturgedicht metaphorisiert wird. Auch Mörike versucht bereits an dieser, freilich nicht transzendentalen, sondern eben empirischen Subjektivität der Natur zu partizipieren. Bei nicht wenigen, gerade der frühen Naturgedichte Oskar Loerkes, für den „Mörike [...] auf der höchsten Stufe der lyrischen Kunstbildung heimisch [ist]“13, hat man den Eindruck, dass Mörike sie geschrieben haben könnte. Das hat er nicht, gewiss, aber er hat der modernen Naturlyrik den Weg bereitet. Ich will das in aller ganz und gar unverantwortlichen Kürze an drei Beispielen verdeutlichen: Zuerst erinnere ich an die Verse aus Um Mitternacht, wo es, nachdem die Nacht gelassen ans Land gestiegen ist, heißt: „Und kecker rauschen die Quellen hervor,/ Sie singen der Mutter, der Nacht, in’s Ohr/ Vom Tage,/ Vom heute gewesenen Tage“ – ein „uralt alte[s] Schlummerlied“, das, wie es dann am Schluss heißt, sogar „im Schlafe noch“ nachklingt (HKA 1, S. 155). Das Fließen des Wassers, das Rauschen der Quellen ist hier ganz wie in der Musik ein durch und durch semantisiertes Geschehen – es gibt darin keine Stelle, die nicht bedeuten würde, auch wenn man, wie bei der Musik, deshalb nicht immer auch schon sagen kann, was sie bedeutet. Diese Semantisierung fließender, soll heißen: kontinuierlicher Bewegungen, die uns aus der Musik vertraut ist, geht in der Literatur anders als in der Musik meist mit einer Personifikation einher. Es wird etwas benannt, das fließt; und dies Fließende kann, wie in Mörikes Mein Fluß dann auch angesprochen werden: „O Fluß, mein Fluß im Morgenstrahl!/ Empfange nun, empfange/ Den sehnsuchtsvollen Leib einmal,/ Und küsse Brust und Wange!“ heißt es zu Beginn des Gedichts (HKA 1, S. 53). Die Weise, in der die derart subjektivierte, das heißt hier: zum Subjekt erklärte Natur angesprochen wird, unterscheidet sich deutlich von derjenigen, in der das bei einem prominenten Nachfahren Mörikes, bei Bertolt Brecht geschieht, aber nicht das Motiv dieser Ansprache. Bei Brecht heißt es in Vom Schwimmen in Seen und Flüssen: „Im bleichen Sommer, wenn die Winde oben/ Nur in dem Laub der großen Bäume sausen/ Muß man in Flüssen liegen oder Teichen/ Wie die Gewächse, worin Hechte hausen.“ Und etwas später: „Wenn kühle Blasen quellen/ weiß man: ein Fisch ist jetzt durch uns durch geschwommen./ Mein Leib, die Schenkel und der stille Arm/ Wir liegen still im Wasser, ganz geeint“.14 Brechts Lyrik spricht hier, keine Frage, zwar in 11 12 13 14

Vgl zu dieser Programmatik: Kohlroß (2000). Hölderlin (1979), Bd. VI, S. 108. Loerke (1986), S. 25. Brecht (1976) Bd. I, S. 209f.

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Die poetische Erkundung der wirklichen Welt einer weitaus abgeklärteren Haltung von Natur, aber sie teilt immer noch Mörikes Sehnsucht, sich mit der Natur zu vereinen, das heißt, sie beansprucht immer noch deren Subjektivität. Nicht immer verleiht die Lyrik ihr eine fließendende Gestalt. Ab und an kommt sie auch zeitlich, und dann gerne auch als Jahreszeit daher, etwa als – in bin bei meinem zweiten Beispiel – Frühling. Die Gedichte Mörikes tragen dann Titel wie Zitronenfalter im April, Im Frühling oder einfach: Er ist’s. Er, das ist natürlich der Frühling, der sein blaues Band durch die Lüfte flattern lässt und „von fern“ jenen „leise[n] Harfenton“ erklingen lässt, den wir alle schon „vernommen“ haben (HKA 1, S. 41). Die moderne Lyrik jedoch steht einer derart subjektivierten und als solcher auch tradierten Natur skeptisch gegenüber, Karl Krolow zum Beispiel, in seinem Gedicht Neues Wesen15: Blau kommt auf wie Mörikes leiser Harfenton. Immer wieder wird das so sein. Die Leute streichen ihre Häuser an. Auf die verschiedenen Wände scheint Sonne. Jeder erwartet das. Frühling, ja, du bist’s! Man kann das nachlesen. Die grüne Hecke ist ein Zitat aus einem unbekannten Dichter. Die Leute streichen auch ihre Familien an, die Autos, die Boote. Ihr neues Wesen gefällt allgemein.

Dieses Gedicht Karl Krolows nimmt den Frühling nur noch als ein Zitat, darin liegt das Neue seines Wesens, er erscheint nun als ein durch und durch literarisiertes, als ein von Mörike literarisiertes Wesen. Für diese durch ihre Darstellung verfremdete und zugleich profanisierte Natur hat Urs Widmers Prosastück Er ist’s dann nur noch Hohn und Spott übrig: „Zuweilen, im tiefsten Winter scheinbar noch, tun wir einen Atemzug, und die eingeatmete Luft hat jäh eine kühle Frische, die wir aus uralten Zeiten kennen und die in uns ein tiefes Glück auslöst. Ein überschwemmendes Entzücken, ein erlöstes Aufstöhnen. Ahh! Um es mit den herrlichen Worten Eduard Mörike zu sagen: ,Er ist’s!‘ Der Frühling nämlich. [...] An jenem Tag allerdings stehen wir 15 Krolow (1973), S. 39.

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Wirkungsgeschichte als Wissensgeschichte dann fassungslos unter der offenen Tür und sagen, als täten wir’s zum ersten Mal im Leben: Er ist’s. Mannomann, er ist’s echt. Der Frühling! [...] Kampfhunde werden wieder auf unsern Spazierwegen tollen, und Biker mit Sturzhelmen. Spechte trommeln! Wir husten noch einmal, zum letzten Mal, das war’s dann bis zum nächsten November. [...] Es ist das Beglückende an der Klimakatastrophe, daß wir diesen Jubel immer früher im Jahr anstimmen dürfen.“16

Die Entauratisierung ereilt also nicht nur die Artefakte, sondern etwa ab Mitte des 20. Jahrhunderts auch die Natur, bei Eich, Krolow, Brinkmann, aber auch Becker, Biermann und – nicht zu vergessen: Brecht. Diese Entzauberung der Natur, hinter der sich eine manifeste Kritik – an der Natur (und nicht allein am Umgang des Menschen mit ihr) verbirgt, richtet sich vor allem gegen die klassische naturlyrische Tradition, auch gegen Mörike. Aber die Moderne geht hier nicht einfach über Mörike hinaus. Vor solch undialektischem Fortschrittsglauben sei nachdrücklich gewarnt! Nein, Mörike selbst ist Dialektiker genug, um zugleich das hohe Lied einer heilen, auratischen, subjektivierten, expressiven Natur anzustimmen – und den Abgesang darauf! So beginnt Mörikes Denk’ es, o Seele! durchaus im heiter beschaulichen, um nicht zu sagen despektierlich biedermeierlichen Ton: Ein Tännlein grünet wo, Wer weiß, im Walde, Ein Rosenstrauch, wer sagt, In welchem Garten?

– um diesen heiter beschaulichen Ton dann in all der Brutalität, die Mörike sprachlich zu Gebote steht, ins Gegenteil zu wenden und fortzufahren: Sie sind erlesen schon, Denk’ es, o Seele, Auf deinem Grab zu wurzeln Und zu wachsen. (HKA 1, S. 148)

Im Angesicht des schönen Scheins der sich selbst genügsamen Natur wird (genau das fordert der Imperativ, den Tod, nicht irgendeinen Tod, sondern den eigenen Tod zu denken) die Zeit nach dem Ende der eigenen Lebenszeit vergegenwärtigt, und zwar als eine, in der alles so erscheint, als wäre nichts geschehen.

16 Widmer, Er ist’s., in: ders. (2002), S. 111-113.

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Die poetische Erkundung der wirklichen Welt III. Damit aber ist der dritte, der poetologische Weg bereits betreten, den Mörike wählt, um die Frage, wie lyrische Innovation in einer epigonalen Situation möglich sei, zu beantworten. Das Gedicht wendet sich nun nicht mehr den Dingen oder der Natur, sondern sich selbst zu. Zunächst seiner eigenen Form. Mörike ist jedoch nicht aufgrund seiner antikisierenden Tendenz ein Erneuerer der lyrischen Form. – Wie sollte er das auch? Es ist nicht seine Erfindung des jambischen Trimeters, den Mörike seit etwa 1840 vor allem für Epistolarisches nutzte, es ist auch nicht die Rückbesinnung auf die Formen des Epigramms oder der Elegie, denen die meisten seiner antikisierenden Gedichte zuzuordnen sind, die seine epochale Stellung in der Geschichte der deutschen Metrik begründet, ja, nicht einmal sein Versuch einer Resurrektion des Hexameters im Märchen vom sichern Mann. Auch Brecht, der späte Brecht bevorzugt einen epigrammatischen Ton, die Form der Elegie (in den Buckower Elegien) z.B., und auch Brecht bemühte sich um eine Wiederbelebung des Hexameters – er hat bekanntlich versucht, das Kommunistische Manifest in Hexameter zu zwingen. Doch weder die Wiederbelebung antiker Versformen noch ihre Verabschiedung macht Mörike zu einem Wegbereiter reimloser Lyrik mit unregelmäßigen Rhythmen. Brecht wie Mörike negieren nicht einfach die antiken Versformen, sie rufen sie auf, um sie hinter sich zu lassen. Das Ziel beider ist das gestische Sprechen. Nicht allein, wie man denken könnte, eine Ballade Mörikes, sondern auch ein Gedicht wie Denk’ es o Seele! ist ein hervorragendes Beispiel für ein solch gestisches Sprechen, von dem es bei Brecht heißt: „Das bedeutet[ ]: die Sprache soll[ ] ganz dem Gestus der sprechenden Person folgen.“17 Gestisch ist bei Brecht aber meist nur ein anderes Wort für zeigend. Gezeigt werden sollen, bei Brecht und bei Mörike, keine Dinge, keine Natur, keine Gegenstände mehr, sondern, und das ist entscheidend, Haltungen zu diesen Gegenständen. In Denk’ es, o Seele! ist nicht die Tanne der Gegenstand des Gedichts, auch nicht der Rosenstrauch oder die „zwei schwarze[n] Rößlein“, von denen dann noch die Rede ist, sondern die Haltung zu ihnen. Das ist ganz wie in jener kurzen Buckower Elegie Brechts mit dem Titel Tannen: „In der Frühe/Sind die Tannen kupfern./So sah ich sie/Vor einem halben Jahrhundert/Vor zwei Weltkriegen/Mit jungen Augen.“18 Auch hier geht es nicht um bestimmte Tannen, sondern um die Haltung, in der sie als Tannen genommen werden; es geht nicht einfach um den Gegenstand des Sehens, es geht um ein Sehen-als. Im Fall von Denk’ es, o Seele! war diese Haltung den Dingen gegenüber eine, die sie als mich überdauernde gewahrt. Ich soll an

17 So heißt es in Brechts: Über Lyrik, in ders.: (1971), S. 81. 18 Brecht (1976), Bd. III, S. 1012f.

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Wirkungsgeschichte als Wissensgeschichte ihrem faktischen So-Sein die Möglichkeit wahrnehmen, dass sie mein faktisches Sein überdauern. Darin liegt dann so etwas wie ein Triumph der Gegenstände über denjenigen, der sie als solche gebraucht. In der Brechtschen Elegie ist das ähnlich. Aber hier geht es nicht darum, dass die Tannen ihren Betrachter überdauern, sondern um das Unstimmige einer Haltung ihnen gegenüber – „In der Frühe/ Sind die Tannen kupfern“ ist ein Satz, der die in der lyrischen Tradition ohnehin schon mächtig aufgeladenen Tannen noch weiter auflädt, indem er sie farblich metaphorisiert – sie erscheinen als kupferne; und es ist diese metaphorische Darstellung der Tannen, die im zweiten Teil des Gedichts – „So sah ich sie [...] mit jungen Augen“ – als eine nicht mehr zeitgemäße Haltung verabschiedet wird. In beiden Fällen, bei Brecht wie bei Mörike, erregt daher, und darauf kommt es an, etwas, das gesagt wird, den Gegensinn. Beide Male wird – und zwar völlig unvermittelt – eine Haltung als Haltung herausgekehrt, indem der Gegensinn des Gesagten evoziert wird. Nicht erst Brecht, sondern bereits Mörike ist ein Meister des Zugleich:

GEBET Herr! schicke was du willt. Ein Liebes oder Leides; Ich bin vergnügt, daß Beides Aus deinen Händen quillt. (HKA 1, S. 210)

Wendet man dieses dialektische Zugleich ins Poetologische, und eben das geschieht beim gestischen Sprechen, wie diese Verse zeigen, dann ist an jedem der Worte ihr Gegensinn mitzulesen, ja, sie sind vielfach gerade umwillen dieses Gegensinns geschrieben. So gesehen, und damit: gestisch genommen sind die folgenden Verse Wollest mit Freuden Und wollest mit Leiden Mich nicht überschütten! Doch in der Mitten Liegt holdes Bescheiden. (Ebd.)

die schärfste Kritik am Mediokren, die sich denken und, wer weiß, vielleicht auch dichten lässt. Die moderne Lyrik, Ernst Meister, Paul Celan, aber auch schon Rilkes Gedanke, dass wir in jedem Augenblick, in dem wir unser Leben handelnd gestalten, zugleich unserem Tod eine individuelle

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Die poetische Erkundung der wirklichen Welt Gestalt verleihen19, hat diesen Gegensinn vornehmlich negativ oder negativitätsästhetisch ausgestaltet, so dass Paul Celan dann in Sprich auch du dichten wird: „Blicke umher:/ sieh, wie’s lebendig wird rings –/ Beim Tode! Lebendig!/ Wahr spricht, wer Schatten spricht.20 Diese negativitätsästhetische, das Nicht-Sagbare sich zum Telos der Darstellung wählende, gelegentlich dann auch nihilistische Tendenz ist ein Sonderweg der Moderne, freilich kein kontingenter – der Frage, wie nach Auschwitz noch Gedichte zu schreiben sind, verdankt er seine Notwendigkeit. Bei Mörike freilich, deshalb steht er bei manchen im Verdacht, ein naiver oder gar geistloser Dichter zu sein, hat jenes Anrufen des Gegensinns noch nicht diese nihilistischen Konsequenzen. Darin aber hat er der Moderne etwas voraus. Er ist noch in der Lage etwas zu tun, was diese sich versagen wird. Er vermag nämlich noch, dem Glück lyrisch Gestalt zu verleihen, gerade weil er um dessen Bedrohung weiß, gerade weil er weiß, dass es nur in der Beschränkung, nur in der Abstraktion, nur an und für sich, im Augenblick zu haben ist – da aber eben doch! Das heißt nicht, dass auch schon jedes Gedicht, das ihm, dem Glück, Ausdruck verleihen möchte, glückt. Im Gegenteil, die Darstellung des Glücks ist angesichts einer offenbar nicht geglückten Schöpfung und angesichts all der glücklosen Leben, die darin gelebt werden – man darf mutmaßen, auch Mörike selbst habe ein solches Leben gelebt – die höchste Kunst. Wer sie wie Mörike (und Mozart vor ihm) beherrscht, lässt alles, das zuvor geschaffen wurde, hinter sich. Doch das Glück ist in der Kunst wie im Leben unverfügbar. Es gibt keine Methode, es herbeizuführen, ebenso wenig wie es eine Methode, ein regelgeleitetes Verfahren zur Erschaffung des Neuen in einer epigonalen Situation gibt. Nur, so viel scheint gewiss, die Frage aller Fragen – Wie ist Kreativität möglich? – lässt sich nach Mörike nicht mehr einem Subjekt überantworten, auch nicht dem Schein der Dinge oder der Natur, sei dieses Scheinen nun ein videtur oder ein lucet. Nach Mörike kann die Antwort nur heißen: Es bedarf zugleich des Scheinens eines unverfügbaren Seins und des Anscheins für ein Subjekt! Bei Mörike ist die Gestalt dieser Antwort auf die Frage nach der Kreativität freilich keine metaphysische, sondern eine ästhetische, eine lyrische vor allem, und damit eine nach sprachlichen Maßstäben empirische. Denn die Kunst, das unterscheidet sie von dem Diskurs über sie, erst recht vom philosophischen – und metaphysischen, trennt das Denken nicht von dem Medium, in dem es er19 „Denn wir sind nur die Schale und das Blatt./ Der große Tod, den jeder in sich hat,/ das ist die Frucht, um die sich alles dreht.“ Rilke (1986), S. 293. 20 Celan (1968), S. 59.

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Wirkungsgeschichte als Wissensgeschichte scheint, im Falle der Dichtung: von der Sprache. Die Einheit von Denken und Sein im Erkennen ist für sie nicht wiederum im Denken zu erzielen – sondern allein da, wo das Denken an ein sprachliches Sein, an das Medium seiner Darstellung gebunden bleibt. Der Anschein, dass Dichtung, die Lyrik zumal, uns unmittelbar anspricht, hat hierin seinen Grund. Es bleibt ein Anschein, mehr nicht. Denn das sprachliche Sein ist in der Lyrik nicht nur immer schon gedanklich aufgeladen, sondern auch so überaus reflektiert – in sich, aber auch an dem, was es nicht sagt, an seinem Gegensinn. Dass in diesem Reflexionsprozess des sprachlichen Matetrials etwas entsteht, was es so noch nie gab, dass etwas sich Ausdruck verschafft, was nie zuvor zum Ausdruck gelangen konnte, steht daher gar nicht in der Macht eines Autorsubjektes, sondern allenfalls in der vieler Subjekte. Wie wirkungsmächtig Mörike gerade durch diese Ausformung einer im strengen Sinne subjektlosen Intersubjektivität, die allein im Medium der Sprache sich ereignet, noch in post-postmodernen Zeiten ist, das mag jetzt, da am Ende das Denken gegenüber dem Darstellen keinen Primat mehr beanspruchen kann, noch in einem letzten Beispiel anklingen – nämlich dann, wenn es gelingt, die folgenden Verse von Thomas Kling so zu hören, als wäre es das Letzte, das man je in diesem Leben noch zu hören bekommt21: gewürzter hals, morgendrossel o flaumenleichte Zeit der dunkeln Frühe (Mörike) es ist rein reine halswürze ist es, tags danach noch: ungedrosselter morgn von einmal keinem aber-bilderrätsel verstellt; wie du so schön, bei jedm schluckn (kehlendeutung, ich deute meine kehle) dich zu mir gesellst dies schluck ich gerne TATSACHE MANCHMAL IST DAS LEBEN 1 LUST

21 Im Folgenden zit. nach: Lyrik des 20. Jahrhunderts, hrsg. v. Heinz Ludwig Arnold, Text + Kritik XI 99, München 1999, S. 54.

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DER PHILOSOPHISCHE UND RILKES POETISCHER SPIEGEL DES

BEWUSSTSEINS

Spiegel sind eine ganz und gar seltsame Art von Dingen. Denn die meisten Dinge, die wir für gewöhnlich wahrnehmen, sind einfach das, was sie sind: Stühle, Tische, Wände, Kleidungsstücke, Körper und dergleichen mehr. Wann immer wir aber auf einen Spiegel sehen, können wir bemerken, dass es uns etwas Mühe kostet, wirklich den Spiegel zu sehen und nicht das, was er uns zeigt, ein Bild nämlich. Denn Spiegel haben die Tendenz, sich selbst unsichtbar zu machen. Sie lenken ständig von sich ab – auf anderes. Hält man Spiegeln jedoch den Spiegel vor, so wird ziemlich schnell klar, dass es sich bei ihnen um eine irgendwie primitive, nichtsdestotrotz jedoch ganz besondere Art von mind machines handelt – und es bleibt dann nur die Frage, ob der Spiegel als Instrument eher einem Fotoapparat oder einem Tonbandgerät gleicht oder nicht doch eher einer psychedelischen Droge oder dem computergesteuerten Cyberspace. Die meisten Menschen haben sich angewöhnt, Spiegel für ähnlich verlässliche Instrumente wie etwa einen Fotoapparat oder ein Tonbandgerät zu halten und schätzen deshalb an Spiegeln besonders ihren Realismus – vor allem dann, wenn sie sich selbst darin erblicken, aber auch nachdem sie die Erfahrung gemacht haben, dass Spiegel nichts so darstellen, wie es wirklich ist, weil sie stets die Seiten verkehren. Dass wir uns alle angewöhnt haben, Spiegel dennoch für sehr verlässliche, wenn nicht gar für die verlässlichsten Medien überhaupt zu halten, hat damit zu tun, dass das Spiegelbild an die reale Präsenz des Gespiegelten gebunden bleibt. Was immer das Spiegelbild zeigt, muss, und zwar zur selben Zeit, existieren, sonst würde es nicht gespiegelt. Dieser Realismus, den Spiegel zu garantieren scheinen, weckte 1 das Interesse der Philosophen. Dieses Interesse wurde noch verstärkt, als klar wurde, dass Spiegel einer Tätigkeit sinnlichen Ausdruck verleihen, ohne die Philosophen über kein tragfähiges Bild ihrer selbst verfügen würden; ich spreche von der Reflexion. Philo1

Vgl. das Stichwort Spiegel in: Ritter (1971ff.), Bd. IX, Sp. 1379-1383.

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Die poetische Erkundung der wirklichen Welt sophen reflektieren nicht – wie alle anderen Menschen auch – ohne Unterlass, sondern sind selbst, was sie sind, nur insofern und nur so lange sie von dem allen Menschen gegebenen Vermögen der Reflexion Gebrauch machen. Sie richten ihr Denken in die Welt hinein (auf Gegenstände, Zustände und Verhältnisse), um sodann von alledem gleichsam einen Schritt zurückzutreten und gewisse fundamentale Relationen zwischen diesen Gegenständen und Zuständen zu beschreiben – und zwar mittels sogenannter Reflexionsbegriffe, wie es Gleichheit und Verschiedenheit, Einheit und Vielheit, Allgemeinheit und Besonderheit sind. Nun muss sich die Reflexion, die ursprünglich philosophische Tätigkeit also, aber nicht nur auf die Gegenstände und Erscheinungsweisen der Welt richten, sie kann sich ebenso gut auf das Bewusstsein richten, das diese Tätigkeit vollzieht. Und wenn dies der Fall ist, sprechen Philosophen gerne von Selbstreflexion oder auch Selbstbewusstsein. Die Karriere, die die Metapher des Spiegels in der Geschichte der Philosophie gemacht hat, wäre ohne diese Kopplung an den Begriff des reflektierenden oder gar selbstreflektierenden Bewusstseins gar nicht denkbar. Und es ist klar, dass der extreme Realismus, den Spiegel nun einmal zu garantieren (ich betone:) scheinen, die Philosophen dabei besonders fasziniert hat. Doch wie kommen die Philosophen eigentlich dazu, Geschichten zu erzählen, die Spiegel und Bewusstseine miteinander verbinden? Und was eigentlich hat Rilke mit all dem zu tun? Um zu verstehen, warum Philosophen gerne von Spiegeln sprechen oder zumindest an Spiegel denken, wenn sie das Bewusstsein im Sinne haben, ist es hilfreich, sich auf das Funktionieren des eigenen Bewusstseins zu besinnen. Dabei kann man nämlich bemerken, dass unser Bewusstsein sich durch drei Merkmale auszeichnet, nämlich durch Transparenz, Perspektivität und Präsenz, 2 die es mit Spiegeln gemein hat. Transparenz meint, dass unser Bewusstsein so funktioniert, dass wir phänomenale Zustände in diesem Bewusstsein nicht als phänomenale Zustände erleben, sondern gleichsam durch diese Zustände hindurchschauen. Sie – verehrter Leser, verehrte Leserin – erleben den Raum Ihres Bewusstseins, das, was Sie jetzt sehen, hören, fühlen, nicht als einen von Ihnen, vor allem von Ihrem Gehirn erzeugten Cyberspace, sondern unendlich nah und unendlich real. Wie ein Spiegel hat auch Ihr Bewusstsein die Eigenschaft, Sie unvermittelt auf Phänomene zu lenken und sich dabei selbst, das eigene Prozessieren, zum Verschwinden zu bringen. Wie ein Spiegel

2

Zu Transparenz, Perspektivität und Präsenz vgl. auch: Metzinger (1995), S. 25ff.

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Der philosophische und Rilkes poetischer Spiegel des Bewusstseins stellt auch Ihr Bewusstsein Inhalte dar, aber es stellt die Tatsache, dass es etwas zur Darstellung bringt, nicht noch einmal als Inhalt dar. Das bedeutet, das Bewusstsein verfügt zwar über die Möglichkeit der Reflexion, aber es verweist nicht immer schon auf seine eigene Reflexivität; es erzeugt vielmehr – wie ein Spiegel – den Schein der Unmittelbarkeit. Will man ihn durchbrechen, so muss man sich erst klarmachen, dass man über ein Bewusstsein verfügt oder dass man gerade in einen Spiegel schaut. – Und die Frage wird sein, wie hilfreich es ist, dies wiederum durch Rückgriff auf die Metapher des Spiegels zu tun; doch davon gleich mehr. Das zweite für den Begriff des Bewusstseins konstitutive Merkmal ist die Perspektivität seiner phänomenalen Zustände: Jeder weiß immer nur von sich, wie es ist, den Ton eines Cellos zu hören, den Geschmack eines Apfels zu schmecken oder auch das eigene, unteilbare Leben zu leben – Tag für Tag, Stunde um Stunde, Minute um Minute. Aus dieser Perspektivität des Bewusstseins erwächst die Frage, wie sie sich in die objektive Welt integrieren lässt. Wie ein Spiegel stets nur die ihm zugewandte Seite eines Objekts reflektieren kann, hat auch das Bewusstsein, so scheint es, keinen Zugang zu der ihm abgewandten Seite. Nun gibt es zwar die Idee, man könne Spiegel so aufstellen, dass es zu jeder auch noch so schwer zugänglichen Seite eines Objekts ein Spiegelbild gebe, dass ein Objekt also vollständig gespiegelt werde – aber die Frage heißt dann: Wo, von welchem Ort aus sollte ein Beobachter in der Lage sein, ein solch vollkommenes Spiegelbild zu empfangen? Die Antwort lautet natürlich, dass es keinen solchen Ort gibt, weil unser Bewusstsein so geartet ist, dass es alle Seiten eines Gegenstandes nur nacheinander und nicht zusammen betrachten kann. Ein weiterer Aspekt, den unser Bewusstsein mit Spiegelbildern teilt, ist das, was man Präsenz nennen kann. Was immer wir in einem Spiegel erblicken, muss in dem Augenblick, in dem wir es erblicken, tatsächlich da sein. Diese Gebundenheit an die Gegenwart zeichnet auch unser Bewusstsein aus. Zwar kann das Bewusstsein – ob im Unterschied zu einem Spiegel, das wird bei Rilke noch zu überprüfen sein – erinnern, aber dieses Erinnern ist stets ein gegenwärtiges Ereignis des Bewusstseins, weshalb man statt erinnern gelegentlich auch vergegenwärtigen sagt. Das heißt, unser Bewusstsein vermittelt uns bei all dem, was wir denken oder erleben, immer den Eindruck, dass wir es jetzt erleben. Es ist klar, dass dieses stets mitlaufende Gegenwartsempfinden unser Verständnis von Realität nachhaltig beeinflusst. Nun kann man allerdings sagen, dass, wenn Präsenz, Perspektivität und Transparenz Eigenschaften sind, die sowohl das Bewusstsein als auch einen Spiegel (ich muss hier genauer sagen: Erfah-

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Die poetische Erkundung der wirklichen Welt rungen, die wir als Bewusstseine mit Spiegeln machen) auszeichnen, dies noch kein hinreichender Grund für die Karriere der Spiegelmetapher in der Philosophie ist. Um den Zusammenhang von Spiegel und Bewusstsein im Rahmen der Philosophie und sodann – denn darauf möchte ich hinaus – Rilkes Einwände gegen diesen Zusammenhang wirklich zu verstehen, muss man sich vergegenwärtigen, dass sich die Philosophie gegenüber anderen Wissenschaften, aber auch gegenüber der Religion stets dadurch abzugrenzen suchte, dass sie von sich ein Bild entwarf, in dessen Zentrum die Er3 kenntnistheorie steht. Um dieses Bild auch nur einigermaßen attraktiv zu machen, muss man das Erkennen als ein Problem beschreiben, und zwar am besten als eines, das nur Philosophen lösen können. Dazu ist es nahezu unverzichtbar, unser Erkennen als eine Ansammlung von Darstellungen zu begreifen, die richtig (im Sinne von wahr) sein können, weil sie mit dem, was sie darstellen, übereinstimmen, tatsächlich aber stets Gefahr laufen, dieses Ziel zu verfehlen. Das Bild, das die traditionelle Philosophie bestimmt, ist daher das folgende: Das Bewusstsein lässt sich als ein großer Spiegel verstehen, der Bilder oder Darstellungen enthält – einige davon korrekt, andere nicht –, die durch das Nachdenken, durch Reflexion also, erforscht und auf ihren Wahrheitsgehalt hin überprüft werden können. Descartes gebührt in diesem Zusammenhang das Verdienst, die Aufmerksamkeit der Philosophen auf die Struktur und Beschaffenheit des Spiegels, des Bewusstseins also, gelenkt zu haben. Die Hinwendung zum Reich des Inneren, des Selbstbewusstseins als einem Reich letzter Gewissheiten, erschloss seinen Nachfolgern einen schier unerschöpflichen Forschungsbereich. John Locke erklärte diese von Descartes erschlossene innere Dimension zum Gegenstandsgebiet einer Wissenschaft vom Menschen, die sich deutlich von jeder Naturwissenschaft unterscheiden sollte. Er tat dies, indem er versuchte, für den inneren Raum ein Analogon zu Newtons Partikelmechanik zu errichten. Dieser Unternehmung, die durch eine Untersuchung unseres Verstandes herausfinden sollte, wie tauglich der Spiegel unseres Bewusstseins für eine korrekte Darstellung der Außenwelt ist, gab man sodann den Namen Erkenntnistheorie. Bei Locke selbst führte diese Unternehmung jedoch, wie bald klar wurde, nicht zu den gewünschten Resultaten. Denn Lockes Sensualismus gelang es nicht, zu jener Gewissheit zu gelangen, die Descartes’ Philosophie noch versprochen hatte. Es ist das Verdienst Immanuel Kants, das Scheitern dieser Unternehmung namens Erkenntnistheorie verhindert zu haben,

3

Vgl. hierzu: Rorty (1987), S. 149-184.

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Der philosophische und Rilkes poetischer Spiegel des Bewusstseins jedenfalls für eine lange Zeit. Denn Kant verlegte den äußeren Raum in den inneren Raum – den Raum der konstituierenden Aktivität des transzendentalen Ego – und machte die Außenwelt bis zu einem verschwindend geringen Teil – dem er den Namen »Ding an sich« gab – zu einem Moment der Innenwelt. Für diesen Innenraum postulierte er Gesetze, die so gewiss sein sollten wie Naturgesetze, eigentlich noch etwas gewisser, weil sie nämlich auf einem apriorischen Wissen beruhen. Und so gründete Kant seine kopernikanische Wende auf den Gedanken, dass wir nur dann ein apriorisches Wissen von Objekten haben, wenn wir sie konstituieren. Das heißt, Kant machte unsere Beschreibungen der Welt zu einer Beschreibung über etwas, das wir selbst konstituieren. Nun ist es nicht mehr die Welt, die sich im Bewusstsein spiegelt, sondern das Bewusstsein selbst spiegelt sich eine Welt vor. Spätestens jetzt wurde die Erkenntnistheorie zu einer selbstständigen Disziplin, die, im Unterschied zu Physiologie und Psychologie, den Spiegel des Bewusstseins mittels nicht-empirischer Methoden untersuchen sollte. Nun ging es mir bislang nicht, so viel dürfte augenscheinlich sein, um eine minutiöse Rekonstruktion der Philosophiegeschichte, sondern vielmehr darum, deutlich zu machen, dass da irgendetwas nicht ganz stimmen kann. Denn die Frage ist natürlich: Wie sollen eigentlich jene nicht-empirischen Methoden aussehen, mit denen man das Reich des Mentalen untersucht? Und ist es, um im Bilde zu bleiben, wirklich sinnvoll, den Spiegel des Bewusstseins mit einem anderen Spiegel, nämlich dem der Philosophen, zu untersuchen, einem Spiegel, der sich in nichts von dem Spiegel unterscheidet, den er bespiegelt? Soll man sich also wirklich der Reflexion bedienen, um die reflexiven Strukturen des Bewusstseins zu untersuchen? – Eine Frage, die an Brisanz gewinnt, wenn man sie mit Bezug auf Hegels Wissenschaft der Logik stellt, deren Autor seine Leser bekanntlich davon überzeugen möchte, dass es ihm gelungen ist, das Denken sich selbst denken zu lassen. Nun kann man sagen, dass, gemäß dem Grundsatz, Gleiches sei am besten durch Gleiches zu erkennen, das Bewusstsein als Spiegel tatsächlich am besten durch ein seinerseits reflexives Bewusstsein zu erkennen sei. Doch genau an dieser Stelle möchte ich an das erinnern, was ich soeben über die dem Bewusstsein eigene Transparenz, Perspektivität und Präsenz gesagt habe. An diesen Eigenschaften eines jeden Bewusstseins wird nämlich deutlich, dass kein wie auch immer vollständiges Wissen über deren philosophische – oder psychologische oder neurophysiologische – Konstitutionsbedingungen deren qualitative Komponente zu erklären vermag, das heißt: Eine Theo-

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Die poetische Erkundung der wirklichen Welt rie, die erklärt, wie wir die Präsenz, Perspektivität und Transparenz unseres Bewusstseins erleben, muss eine Theorie sein, in der die spezifische Qualität unseres individuellen Erlebens nicht mehr vorkommt. Anders gesagt: Aus keiner solchen philosophischen – oder psychologischen oder physiologischen – Theorie könnte man ein Wissen darüber ableiten, wie es für Sie – verehrte Leserin, verehrter Leser – jetzt ist, diese Zeilen zu lesen. Egal wie in sich reflektiert die Theorie auch sein mag, an die Qualität Ihrer Bewusstseinserlebnisse reicht sie nicht heran. Genau an dieser Stelle kommt nun die Poesie ins Spiel. Denn die Poesie hat natürlich eine ganz andere Zugangsweise zur Metapher des Spiegels, eine Zugangsweise, die durch den Narzissmythos geprägt ist und von den Gefahren weiß, denen man sich aussetzt, wenn man Spiegel zu Erkenntniszwecken gebraucht. Daraus jedoch abzuleiten, dass die Poesie keinen Sinn für die Faszination des Spiegels habe, wäre voreilig. Denn gerade die Poesie weiß darum, dass sie ohne das Bedürfnis ihrer Konsumenten, sich in ihr wiederzuerkennen, kaum eine Daseinsberechtigung hätte. Was die Poesie über den Gebrauch von Spiegeln weiß, was insbesondere einige Gedichte Rilkes hierzu zu bedenken geben, möchte ich nun, zuerst an einem der Sonette an Orpheus veranschauli4 chen : Spiegel: noch nie hat man wissend beschrieben, was ihr in euerem Wesen seid. Ihr, wie mit lauter Löchern von Sieben erfüllten Zwischenräume der Zeit. Ihr, noch des leeren Saales Verschwender, wenn es dämmert, wie Wälder weit Und der Lüster geht wie ein Sechzehn-Ender durch eure Unbetretbarkeit. Manchmal seid ihr voll Malerei. Einige scheinen in euch gegangen –, andere schicktet ihr scheu vorbei. Aber die Schönste wird bleiben –, bis drüben in ihre enthaltenen Wangen nbeindrang der klare gelöste Narziss.

Das Erste, worauf ich nun ausdrücklich hinweisen möchte, ist der Umstand, dass der erste Vers »Spiegel: noch nie hat man wissend beschrieben« mit einer Setzung beginnt, nämlich mit der Setzung eines Wortes, eines Begriffs oder einer Metapher – mit „Spiegel“ also. Dass direkt nach „Spiegel“ ein Doppelpunkt steht, heißt nichts anderes, als dass alles, was nun gesagt wird, aus dieser Setzung

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Rilke, (1986), S. 696.

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Der philosophische und Rilkes poetischer Spiegel des Bewusstseins abgeleitet ist und aus dieser Setzung hervorgeht, die daher, im Grunde genommen, eine Voraussetzung ist. Dieser Voraussetzung gerecht zu werden heißt, das Wort Spiegel vollständig zu interpretieren, sich also alle Verwendungsweisen, alle Erfahrungen, die je mit diesem Wort gemacht worden sind, zu vergegenwärtigen. Das will und kann ich nicht, aber ich kann doch darauf hinweisen, dass Rilke hier im ersten Vers seines Sonetts das Wort Spiegel mit dem Gedanken der Unmöglichkeit wissender Beschreibung konfrontiert – ja sogar durch den Doppelpunkt suggeriert, dass die Tatsache der nicht-wissenden Beschreibung ihre Ursache in dem hat, was Spiegel sind. Um diesen Effekt der Spiegel, die ja gemeinhin als Garanten für eine realistische Darstellung gelten, zu verstehen, ist es hilfreich, sich klarzumachen, was man eigentlich unter einer wissenden Beschreibung versteht. Eine wissende Beschreibung ist eine Beschreibung, die etwas beschreibt, nämlich ein Wissen, und darüber hinaus im Zustand des Wissens – man beachte das Partizip Präsens – geäußert wird. Eine wissende Beschreibung ist also mehr als eine bloß wahre Beschreibung – eine Beschreibung, die mit dem, was der Fall ist, übereinstimmt. Denn unser Begriff des Wissens enthält zwar das Moment der Wahrheit, aber eben auch das der Rechtfertigung und des Glaubens. Wenn Rilke also schreibt: „Spiegel: noch nie hat man wissend beschrieben“, so steht hier mit dem Partizip Präsens gerade die Zustandsabhängigkeit des Wissens in Frage, über die gewiss noch viel zu sagen wäre, über die ich an dieser Stelle aber nur sagen möchte, dass sie mit dem Verständnis von Wissen und Bewusstsein als Spiegel nur schwer vereinbar ist. Das ist auch der Grund dafür, weshalb eine korrekte Beschreibung des Wesens eines Spiegels noch nie gelungen ist. Denn eine korrekte Beschreibung von so etwas wie einem Wesen, also demjenigen, was die Erscheinung eines Dings prägt, wäre eine philosophische Beschreibung. Aber jede philosophische Beschreibung des Wesens eines Spiegels muss von der Zeitlichkeit und Zuständigkeit unseres Wissens abstrahieren. Und sie kann diese Subjektivität des Wissens immer nur voraussetzen, aber nicht reproduzieren. Härter, wissenschaftlicher formuliert: Philosophische Beschreibungen sind propositionaler Natur und bleiben als solche gegenüber der Tatsache, dass Wissen auch eine Eigenschaft, ein Zustand unseres Bewusstseins ist, indifferent. Eine wissende und nicht allein wahre Beschreibung von dem, was Spiegel sind, muss deshalb in einer anderen, in einer nichtpropositionalen, z. B. poetischen Form gegeben werden – und eben das, denke ich, versucht Rilke in den folgenden Versen. „Ihr wie mit lauter Löchern von Sieben erfüllten Zwischenräume der Zeit“ ist keine philosophische Beschreibung des Wesens von

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Die poetische Erkundung der wirklichen Welt Spiegeln oder gar des Spiegels des Bewusstseins, sondern die Beschreibung eines Spiegels, die unsere Erfahrungsweise des Spiegels zu einem Moment der Beschreibung macht. Denn „Zwischenräume der Zeit“ ist nur dann eine hinlängliche oder zutreffende Beschreibung eines Spiegels, wenn man die Art und Weise berücksichtigt, in der sich unser Bewusstsein in einem Spiegel reflektiert. Anders gesagt: Das Bewusstsein wird sich durch Rilkes poetische Schilderung einer Spiegelerfahrung der Tatsache bewusst, dass es selbst die Zwischenzeit, nämlich seine je und je erlebte Gegenwart immerzu auf den Raum hin durchbricht, das heißt Präsenz in Transparenz transformiert. Wenn man Rilke oder mich jetzt fragt: Und was heißt das eigentlich?, so kann ich mit Rilke auf die zweite Strophe verweisen: Es heißt, die Differenz zwischen Außen- und Innenraum, den Unterschied zwischen dem tatsächlich vorhandenen Raum und dessen Spiegelbild, zwischen dem Raum des Bewusstseins und dem Außenraum aufzuheben: „Und der Lüster geht wie ein Sechzehn-Ender durch eure Unbetretbarkeit.“ Dieses Ineins von Außen- und Innenraum, ich bin versucht zu sagen: diesen Weltinnenraum bestimmt nun die dritte Strophe noch entschiedener, nämlich im Unterschied zur Malerei, die einer traditionellen Auffassung nach ebenfalls die Außenwelt abbildet, aber so, dass sich das gemalte Bild, das Räumliche also, von der Zeit emanzipiert. Diese Emanzipation gestatten Spiegel nicht. Sie sind auf die reale Präsenz des Gespiegelten angewiesen. Zugleich verhält sich jedoch der Spiegel zu dem, was er spiegelt. Er vermag es in sich eingehen zu lassen oder scheu zurückzuweisen. Und eben dadurch wird klar, dass der Spiegel, von dem Rilke hier spricht, nicht nur ein Gebrauchsgegenstand ist, sondern ein Bewusstseinsspiegel, der einiges abweist, anderes jedoch in sich eingehen lässt. In diesem letzteren Fall zeigt sich deutlich, dass, was der Spiegel spiegelt, selbst ein Moment des Spiegels werden kann – ein Umstand, der für gewöhnliche Spiegel nicht gilt, wohl aber für Spiegel, die wie Bewusstseine funktionieren oder gar Bewusstseine sind. Denn Bewusstseine vermögen das Objekt, das ihnen erscheint, zu einem Teil ihrer selbst zu machen – so etwa „die Schönste“, von der die letzte Strophe spricht. Ich möchte mich nicht in Spekulationen darüber ergehen, ob sich hinter dieser Schönsten vielleicht die schöne Bergnymphe Echo verbirgt, sondern nur das Folgende festhalten: Auch die Schönste wird nur so lange ein Moment des sie spiegelnden Bewusstseins bleiben, bis der klare gelöste Narziss ihr zeitliches Spiegelbild verdrängt. Das heißt nichts anderes, als dass Narziss die Idee der Spiegelung als stimmiger Spiegelung und das Ideal des Spiegels als Einheit von Subjekt und Objekt sprengt. Spiegel, auch Bewusstseine als Spiegel versprechen die

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Der philosophische und Rilkes poetischer Spiegel des Bewusstseins Identität von Identität und Differenz, doch je größer dieses Versprechen oder die Sehnsucht danach ist, desto gewisser wird, dass alles, was bleibt, die Differenz von Identität und Differenz ist. Nun kann man sagen, dass Rilke dem philosophischen Spiegel des Bewusstseins einen poetischen Spiegel entgegenhält, der zwar genau jenes subjektive Erleben einholen kann, den die philosophische Rede unberücksichtigt lassen muss, dadurch aber ganz offensichtlich auch zu einer anderen Diagnose über die epistemologische Tauglichkeit der Spiegelmetapher führt: Wer wie die Philosophen glaubt, Bewusstseine spiegelten die Welt, dem hält Rilke die paradoxe Einsicht entgegen, dass Bewusstseine dies gerade dann, wenn ihnen das am vollkommensten zu gelingen scheint, am wenigsten tun, weil nämlich das Spiegeln keine objektivistische, sondern eine ursprünglich narzisstische Tätigkeit ist. Doch trotz dieser Kritik am Spiegel des Bewusstseins kommt auch die Poesie, kommt auch Rilke nicht ohne den Gedanken des Spiegelns aus. Das möchte ich kurz an einem anderen Gedicht Ril5 kes veranschaulichen.

DER LESER Wer kennt ihn, diesen, welcher sein Gesicht wegsenkte aus dem Sein zu einem zweiten, das nur das schnelle Wenden voller Seiten manchmal gewaltsam unterbricht? Selbst seine Mutter wäre nicht gewiss, ob er es ist, der da mit seinem Schatten Getränktes liest. Und wir, die Stunden hatten, was wissen wir, wieviel ihm hinschwand, bis er mühsam aufsah: alles auf sich hebend, was unten in dem Buche sich verhielt, mit Augen, welche, statt zu nehmen, gebend anstießen an die fertig-volle Welt: wie stille Kinder, die allein gespielt, auf einmal das Vorhandene erfahren; doch seine Züge, die geordnet waren, blieben für immer umgestellt.

Das Gedicht beginnt mit einer Frage nach demjenigen, der nicht einen, sondern den typischen Leser kennt. Um diese Frage zu präzisieren, wird nun das Typische dieses Lesers beschrieben, genauer gesagt: entworfen. Dieser Entwurf zeigt zunächst einen Leser, der sich dadurch auszeichnet, dass er sich von dem Sein ab- und einem zweiten Sein zuwendet. Aber was ist das eigentlich: das Sein? Und inwiefern kann man sagen, es gebe zweierlei Sein?

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Im Folgenden zit. nach: Rilke (1986), S. 582.

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Die poetische Erkundung der wirklichen Welt Das Sein ist zunächst nichts anderes als alles, was ist oder existiert. Nun muss aber das, was existiert oder ist, einen Grund haben, der als Grund von diesem begründeten Sein unterschieden ist. Deshalb kann man mit Heidegger das begründete Sein – also alles, was der Fall ist – als Seiendes bezeichnen und Sein dann nur noch das nennen, was als Grund diesem begründeten Seienden vorausgeht. Veranschlagt man bei Rilkes Gedicht diese ontologische Differenz, so kann man sagen, der Leser wende sich ganz dem Sein des Seienden, also demjenigen, das sich nicht mehr in Aussagesätzen feststellen oder in propositionale Wissensinhalte transformieren lässt, zu. Diese Abkehr des Lesers vom Seienden ist aber natürlich auch eine Abkehr von der sinnlich erfahrbaren, physischen Außenwelt und eine Hinwendung zur eigenen Innenwelt, zu jenem Bereich also, in dem das Bewusstsein seine eigenen Bilder entwirft. Der Anfang des Gedichts, die erste Strophe, entwirft demnach das Bild eines Lesers, der das Seiende oder die Welt gerade nicht spiegelt, sondern aus dieser in eine zweite Welt, in die seines Bewusstseins zurückfällt. Diese Inversion des Lesers führt in der zweiten Strophe dazu, dass er selbst für seine Mutter in die Nähe der Unerkennbarkeit rückt. Aber auch von uns, den Lesern des Gedichts, entfremdet sich dieser Leser, weil wir, und in dieses Wir schließt sich das lyrische Subjekt ausdrücklich mit ein, keinen Zugang zu der Zeitlichkeit haben, die der Leser im Sein des Seienden erfährt. Zu diesem Zeitpunkt, also bis unmittelbar vor dem letzten Wort der zweiten Strophe – „bis“, das sodann eine Wende einleitet, entzieht sich das Ideal des Lesers der lyrischen Rede weit mehr, als dass es durch sie beschrieben wird. Alles, was das Gedicht die ersten beiden Strophen lang zeigt, ist ein Zeigen dessen, was es nicht zeigen kann. Und insofern der hier beschriebene Leser nicht irgendein Leser, sondern der Leser dieses Gedichts ist, kann das nur heißen, dass wir uns, so wir versuchen im Sinne dieses Gedichts, also kontemplierend, nach innen gewandt zu lesen, mehr und mehr selbst abhanden kommen, dadurch aber in eine Wirklichkeit geraten, die wie Transparenz, Perspektivität und Präsenz des Bewusstseins für die normale aussagende Rede nicht zugänglich ist, für die poetische Rede aber sehr wohl, wenn auch via negationis, als die Negativität des positiv poetisch Gesagten nämlich. Wir kommen also erst wieder zu uns, zu unserer uns geläufigen, wachen Form des Bewusstseins, wenn der Leser zu Beginn der dritten Strophe aufsieht und sich wieder dem ersten Sein, dem Seienden also, zuwendet. Dies geschieht so, dass er nun die Totalität der im Buch seienden Sachverhalte in seinem Bewusstsein synthetisiert, sie (metaphorisch) trägt und (buchstäblich) erträgt.

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Der philosophische und Rilkes poetischer Spiegel des Bewusstseins Genau in diesem Moment, als seine Augen nämlich nicht nehmend, sondern gebend »an die fertig-volle Welt« anstoßen, wird aus dem Leser ein Spiegel, der das Gelesene zurückwirft in die fertigvolle Welt des Seienden, und zwar durch den Ausdruck seiner Augen, durch die Sprache seines Körpers also. Dabei muss er jedoch erkennen, dass die Widerspiegelung des Gelesenen in seinem Gesicht mit jener Welt, von der er ausgegangen war, unvereinbar ist. Die Erfahrung dieser Unvereinbarkeit, dieser Differenz von Innenund Außenwelt, von Sein und Seiendem ist, wie die letzte Strophe zeigt, eine Schockerfahrung, die ihre Wirkungen in die Züge des Lesers einschreibt: „Doch seine Züge, die geordnet waren, blieben für immer umgestellt.“ Wenn man diese verstörende Erfahrung des Lesens, und man muss hier sagen: des Lesens poetischer Texte, verstehen möchte, wenn man also nachvollziehen will, weshalb das Lesen durchaus ein Spiegeln, aber nicht einfach ein Widerspiegeln ist, so muss man sich die Rolle der Sprache bei diesem poetischen Spiegelungsvorgang vor Augen führen. Dies zu tun heißt zugleich, die Frage zu beantworten, warum Rilke mit dem Bewusstseinsspiegel der Philosophen nicht mehr zurechtkommt, ihn vielmehr für eine unzureichende epistemische Hilfskonstruktion hält: Die Sprache, und zwar jede Sprache, ist in gewisser Hinsicht durchaus ein Spiegel der Welt. Hört oder liest jemand das Wort Tisch, so manifestiert sich in seinem Bewusstsein die Vorstellung von einem Tisch, also in der Regel von einem Ding mit vier Beinen und einer darauf befestigten Platte. Diese Vorstellung ist nichts anderes als eine Erinnerung an Erfahrungen, die der Rezipient im Umgang mit dem Wort Tisch gemacht hat. Denn es tauchte zumeist im Zusammenhang mit diesen Dingen, die er für Tische hält, in seiner Wahrnehmung auf. Auf diese Weise, durch Erinnerung also, koppeln Sprachbenutzer das Zeichen Tisch mit Sinneseindrücken, die sie hatten, als sie dieses Wort gelernt haben. Die Bedeutung des Wortes Tisch ist deshalb nichts anderes als die Geschichte der Erfahrungen, die mit diesem Wort gemacht wurden – in einem Bewusstsein. Dass die Sprecher des Deutschen bei dem Wort Tisch nicht an völlig verschiedene Dinge denken, hat einfach damit zu tun, dass die Ursachen für die Sinnesreize, die sie mit ihm verbinden, ähnlich sind. So gesehen, spiegelt das ein Wort wie Tisch durchaus die Objekte, die man als Tisch bezeichnet. Wir, die Sprecher des Deutschen, benutzen das Wort einfach wie einen Spiegel, in dem sich unsere Erinnerungen und Erfahrungen mit Tischen (genauer gesagt: mit bestimmten Ursachen für Sinnesreizungen, Gedanken oder Vorstellungen) reflektieren. Und für diesen normalen und alltäglichen Gebrauch der Sprache sind die Dinge, von denen sie handelt, also das,

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Die poetische Erkundung der wirklichen Welt was die erste Welt oder das Seiende ist, das Entscheidende. Wir benutzen die Sprache dazu, um über dieses Seiende zu sprechen – mit der Besonderheit, dass dieses Seiende auch unsere Innenwelt, die Welt unserer mentalen Vorgänge umfassen kann. (Wenn ein Sprecher will, dass eine andere Person ihre Aufmerksamkeit auf einen Tisch lenkt und das Wort Tisch verwendet, kann er nicht verhindern, dass sich ihr vergegenwärtigter Sinneseindruck von einem Tisch mit ebenso privaten wie kontingenten Erinnerungen, Fantasien, Wünschen und Überlegungen vermischt.) Dieses jedoch, dass wir ein Wort anschauen und dabei auf die Erfahrungen blicken, die wir je mit ihm gemacht haben, dass ein Wort also wie ein Spiegel funktioniert und von uns in Gesprächen als ein solcher gebraucht wird, ist nur die eine, der Wirklichkeit oder dem Seienden verpflichtete Seite der Sprache. Die andere Seite besteht darin, dass man von der Sprache als Spiegel der Welt einen Gebrauch machen kann, der eine eigene z. B. poetische Welt begründet. Man kann die Spiegel so aufstellen, dass sie zusammen ein Bild erzeugen, das kein Abbild der Welt, sondern eine eigene, wenn man so will: zweite Welt ist. Zwar sind die Bausteine dieser Welt, die einzelnen Spiegel, der normalen, auf Seiendes referierenden Sprache entnommen, aber sie werden jetzt so miteinander kombiniert, dass daraus keine Erinnerung an Erfahrungen oder Sinneseindrücke entsteht, die wirklich gemacht wurden, sondern das Bild einer Welt, die noch niemand gesehen hat. Sprache, die eine solche poetische Welt erzeugt, funktioniert nicht wie ein Spiegel, sondern eher wie ein Kaleidoskop, das eine endliche Anzahl von Elementen – oder Spiegeln – neu kombiniert und dadurch neue Bilder entstehen lässt. Doch allein dadurch, das heißt allein durch ihre Fiktionalität, durch ihren Unterschied zur wirklichen Welt, ist sie noch keine poetische Sprache. Denn sonst wäre jeder idiosynkratische Sprachgebrauch ein poetischer Gebrauch der Sprache. Es muss also noch etwas hinzukommen, damit die Bilder des Kaleidoskops poetische Bilder werden. Was hinzukommen muss, ist die Möglichkeit, die kaleidoskopischen Bilder wiederum als Spiegel zu gebrauchen, in dem sich die erste, wirkliche Welt, die wir im alltäglichen Sprachgebrauch zu spiegeln versuchen, reflektiert. Wenn das gelingt, dann entsteht Poesie. Sie ist dann der Spiegel des Spiegels oder die Reflexion der Reflexion. Ob es der poetischen Sprache aber gelingt, als ein solcher Spiegel des Spiegels aufzutreten, liegt nicht allein in ihrer Macht, auch nicht allein in der des Autors, sondern ganz wesentlich in der des Lesers. Denn dieser muss die zweite, von der Sprache der Poesie erzeugte Welt mit der ersten Welt, mit dem Seienden vergleichen. Erst wenn dieser Vergleich die erste Welt, die Tatsachen in einer interes-

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Der philosophische und Rilkes poetischer Spiegel des Bewusstseins santen, neuen und vielsagenden Perspektive erscheinen lässt, etwa weil er die Bedingungen der Möglichkeit der ersten Welt aufscheinen lässt, spricht man von Poesie. Das wiederum heißt, dass das kaleidoskopische Bild der poetischen Sprache nicht wie ein normaler Spiegel wirkt, der getreue Abbilder erzeugt, sondern wie ein Vexierspiegel. Die philologische Sprache, die Sprache der Interpretation hat die Aufgabe, diesen Vexierspiegel zu positionieren, also einen interessanten, vielsagenden Vergleich zwischen der poetischen Sprache und der normalen Sprache zu erzeugen, indem sie die poetische Sprache in die Sprache zurückübersetzt, mit der wir gewöhnlicherweise unsere Innen- und Außenwelt beschreiben. Man kann sagen, diese Rückübersetzung sei nichts anderes als eine weitere Spiegelung: die Reflexion der Reflexion der Reflexion. Gelingt diese Rückübersetzung nicht, so hat man es nicht mit Poesie, sondern mit Idiosynkrasie, reiner Phantasmagorie oder reiner Fiktion zu tun. Der philologische Leser bleibt daher der Hypothese verpflichtet, dass die Poesie ein Wissen enthält. – Aber ein Wissen, das die Poesie unterscheidet von dem philosophischen Begriff des Wissens als wahrer gerechtfertigter Glaube, von propositionalem, in Aussagen darstellbarem Wissen also. Die Poesie hat via Sprache einen Zugang zu der Sphäre des nicht-propositionalen Wissens, zu jenem Erfahrungswissen also, das wir zum Beispiel haben, wenn wir wissen, wie es ist, man selbst zu sein. Auch deshalb sieht sich Heidegger nicht in der Lage, seine Diagnose von der Seinsvergessenheit des abendländischen Denkens auf die Poesie auszuweiten. Denn die Poesie hat immer schon einen Zugang zu dem, was man als den Grund des In-der-Welt-Seins bezeichnen könnte. Sie hat einen Zugang zu Aspekten unseres Bewusstseins, die wie Transparenz, Perspektivität und Präsenz sich jeder philosophischen Beschreibung entziehen. Und sie hat diesen Zugang durch die Sprache. – Das heißt, dass die Poesie Sprache nicht nur als ein Darstellungsmedium von Inhalten begreift, nicht allein als einen Spiegel, bei dem es wesentlich auf das Bild ankommt, das erzeugt wird, sondern eben als einen Spiegel, bei dem es ebenso sehr auf das Erzeugen oder Darstellen selbst ankommt. Abstrakt formuliert: Während der normale und damit auch der philosophische Sprachgebrauch allein auf Inhalte abzielt, betont die Poesie das Zugleich 6 von Inhalt und Darstellung. Sie ist also in gewissem Sinne ein Spiegel, der sich selbst spiegelt. Heißt es daher zu Beginn der Ilias: „Göttin, singe mir nun des Peleussohnes Achilleus unheilbringenden Zorn [...]“, so heißt das nicht: Göttin, singe mir etwas über diesen Zorn, sondern eben den Zorn selbst; es soll ein zorniges Singen

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Vgl. hierzu auch: Kohlroß (2000), S. 72ff.

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Die poetische Erkundung der wirklichen Welt des Zorns sein, die Haltung, in der gesungen wird, soll dem Gehalt entsprechen. Diese Entsprechung gilt für die Poesie ganz generell, sie gilt auch für den Anfang von Rilkes berühmten Gedicht Herbsttag, wo es zu Beginn heißt: „Herr: es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß. / Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren, / und auf den 7 Fluren lass die Winde los.“ Auch hier wird der Herr zwar als das Gegenüber des lyrischen Subjekts angeredet, es wird etwas von ihm gefordert, aber es handelt sich hier nicht bloß um eine lyrische, an den Herrn gerichtete Rede über die Zeit und den Sommer. Es gibt keinen Grund, die Differenz von lyrischem Subjekt und göttlichem Objekt vorauszusetzen, vielmehr ist der Herr hier die anfängliche Setzung selbst, aus der (nach dem Doppelpunkt im Anschluss an das Wort »Herr«) alle weiteren Worte und Sätze dieses Gedichts folgen. Der Herr zu Anfang des Gedichts Herbsttag ist nichts anderes als der Grund, die causa sui, der Herr und Anfang der Zeit. Den Herrn hier lediglich als den Anderen, der angesprochenen wird, zu begreifen, ist also nichts weiter als eine rhetorische Gewohnheit. Das Gedicht eröffnet jedoch als Gedicht, als poetische Sprache seinem Leser die Möglichkeit, sich selbst als Herrn zu verstehen, das heißt, die Voraussetzung der Prädikation, die Spaltung in Subjekt und Objekt zu überwinden und so mit dem Herrn, mit dem im Wort Herr Gedachten eins zu werden – um sodann den Sommer vergehen und den Herbst herannahen zu lassen. So zu verfahren heißt, die Poesie als einen Spiegel zu betrachten, in den man, so es irgend möglich ist, eingehen, mit dem man eins werden muss, damit man aus ihm heraustreten und ihn von außen betrachten kann.

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Rilke (1906), S. 48.

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BERTOLT BRECHTS GEDICHT TANNEN – EINE LYRISCHE

THEORIE DER METAPHER

Lyrische Formen, Gedichte, gelten gemeinhin als Arten, in denen man etwas sagen oder ausdrücken, und nicht wenigen gar auch als Ausdruck von etwas, das man auf keine andere Art sagen kann, doch sind sie mehr als das: Formen der Erkenntnis. Als diese epistemischen Formen stehen sie mit anderen Formen in Beziehung, manchmal derart, dass sie diese zum Inhalt und Gegenstand ihres Erkenntnisinteresses nehmen. Manche Gedichte bedienen sich daher nicht nur bestimmter Tropen, wie etwa der Metapher, sondern thematisieren diese Tropen auch, manchmal so, dass sie ihnen eine allgemein gültige Form verleihen. Wenn das der Fall ist, kann man von einer lyrischen Theorie sprechen. Eine solche lyrische Theorie findet sich in einer der Buckower Elegien Bertolt Brechts1:

TANNEN In der Frühe Sind die Tannen kupfern. So sah ich sie Vor einem halben Jahrhundert Vor zwei Weltkriegen Mit jungen Augen.

Wie fast alle Buckower Elegien Brechts, so begegnet auch diese, ganz anders als es das Genre vermuten lässt, mit einer rhetorischen Leichtigkeit ohnegleichen: „In der Frühe/ sind die Tannen kupfern“ – später sind sie es nicht mehr. Was sollte daran unverständlich, gar deutungswürdig sein? Nicht einmal der Entstehungszusammenhang scheint gewichtige Fragen aufzuwerfen: Brecht schrieb die Buckower Elegien bekanntlich im Sommer des Jahres 1953 auf seinem Landsitz in Buckow und kommentiert darin die Ereignisse der dann als Arbeiteraufstand bekannt geworden Unruhen. Das geschieht in einigen Elegien (wie Die Lösung, Der Einarmige im Gehölz, Eisen) deutlicher, in anderen, und zwar vornehmlich in den eher 1

Brecht (1988), Bd. XII, S. 313.

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Die poetische Erkundung der wirklichen Welt bukolischen2, verhaltener; aber auch an die antike Schäferdichtung gemahnende Gedichte (wie Heißer Tag oder Böser Morgen) erhalten ihren elegischen Ton durch die politischen Dissonanzen, die die scheinbare Harmonie des Gesagten aufbrechen. Ganz so scheint das auch bei „In der Frühe/ Sind die Tannen kupfern./ So sah ich sie/ Vor einem halben Jahrhundert/ Vor zwei Weltkriegen/ Mit jungen Augen“ der Fall zu sein. Denn es ist offenbar nicht nur das halbe Jahrhundert, es ist offenbar nicht allein die Zeit, sondern es sind augenscheinlich auch zeithistorische Ereignisse, „Weltkriege[ ]“, die den Blick der jungen Augen getrübt haben – und die Ereignisse des 17. Juni, so suggeriert Brecht, tun nun auch noch das ihrige hinzu, ja, machen es wohl unumgänglich, dass der bukolische Dichter in der märkischen Schweiz ein Klagelied anstimmt über die Vergänglichkeit, nicht nur der Zeit, sondern eben auch der an sie gebundenen Hoffnungen und, sagen wir es rundheraus, Utopien. So weit, so selbstverständlich. Doch natürlich bleibt das nicht so. Nicht bei diesem Gedicht, nicht bei irgendeiner der anderen Buckower Elegien. Je genauer man hinsieht, auf das, was da steht, desto fremder blickt es zurück: „In der Frühe/ Sind die Tannen kupfern./“ In welcher Frühe eigentlich? In der des Tages, des eigenen Lebens oder überhaupt in jedweder Frühe, in der Frühe überhaupt? Und weshalb sind sie denn kupfern? Ja, wie können Tannen kupfern sein? Und warum sind sie es gerade in der Frühe? – „So sah ich sie/“. Nun gut, aber wer sieht hier? Und, wichtiger noch: Wie wird hier gesehen, so gesehen, dass Tannen darüber kupfern werden? Was ist das für ein Blick, der hier in Rede steht? – „Vor einem halben Jahrhundert/ Vor zwei Weltkriegen“, das heißt doch wohl, dass dieser Blick ein vergangener ist. Doch was ist für das Vergehen selbst verantwortlich? Allein die Zeit, allein das welthistorische Geschehen? – Oder kündet „Mit jungen Augen“ nicht auch davon, dass es hier um etwas geht, das wert ist, dass es vergeht, sagen wir: weil es vor dem an der Erfahrung geschulten Blick nicht bestehen kann? – Doch was haben „Tannen“ mit all dem zu tun, außer, dass sie dem Gedicht den Titel geben? Was hat es also mit diesen Tannen eigentlich auf sich? Nun sind Tannen sind zunächst einmal nichts anderes als sie selbst, einfach Tannen. Das ändert sich, sobald sie einem Gedicht den Titel geben. Doch, genau genommen, nicht sie geben dem Gedicht den Titel, nicht die durch das Wort Tannen bezeichneten Tannen, sondern nur das Wort Tannen selbst. Aber durch den bloßen Umstand, dass das Wort Tannen nicht einfach geäußert, sondern – als Titel – so geäußert wird, dass es dem Folgenden einen (Eigen-)

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Vgl. Knopf (2000), S. 247.

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Bertolt Brechts Gedicht Tannen Namen verleiht, ist es etwas, das offenbar nicht durch sich selbst verständlich ist, sondern, wie jeder Name, durch das, dessen Name es ist, bestimmt und erläutert und so erst zum Eigennamen wird. Das „In der Frühe/ sind die Tannen kupfern“ scheint diese Erläuterung zu geben. – Doch es ist nur ein Schein, ein Anschein sogar, denn der Name des Gedichts wird nicht eigentlich erläutert, bestimmt, sondern in die Ferne gerückt, verfremdet: Was sind das bloß für Tannen, die in der Frühe kupfern sind? Handelt es sich überhaupt um Tannen, oder benennt hier der Name „Tannen“ nicht etwas, das gewöhnlich einen anderen Namen hat, wenn es überhaupt einen Namen hat? Nein, so muss man sagen, was dasteht, im Gedicht, ist zunächst einmal so, wie es da steht, ernst zu nehmen und nicht immer sogleich einem Vorverständnis (das besagt: es gibt keine kupfernen Tannen) unterzuordnen. Es ist hier also, gerade um dem Indikativ des ersten Satzes gerecht zu werden, konjunktivisch und das heißt so zu lesen, als stünde am Ende des Satzes ein Ausrufezeichen: „In der Frühe/ sind die Tannen kupfern“! Mit anderen Worten: es ist an diesem ersten Satz des Gedichts die logische Form des Urteils wahr-, und damit auch die sich in diesem Urteil vollziehende Zuschreibung einer Eigenschaft ernst oder eben buchstäblich zu nehmen. Und das macht Sinn. Zunächst den, dass der allgemeine Charakter der Frühe aufscheint: Nicht von einer bestimmten Frühe ist hier die Rede, sondern von „der[!] Frühe“ überhaupt. Nicht zufällig, wie man vermuten darf, denn das Kupfer ist ja auf eine besondere Weise mit der Frühzeit des Menschen verbunden; die Zeit um 4000 v. Chr. nennt man deshalb auch gelegentlich die Kupferzeit, aber bereits weit davor, um 10 000 v. Chr., war das Kupfer neben Gold, Silber und Zinn eines der ersten Metalle überhaupt, das Menschen in der Lage waren zu gewinnen und zu bearbeiten. Doch der Hinweis auf die Frühzeit des Menschen macht die Deutung nicht einfacher: Warum sollten in ihr die Tannen buchstäblich kupfern gewesen sein? Und da lautet die Antwort: Einfach, weil sie damals noch nicht waren, was sie heute sind – nämlich ganz und gar nicht kupfern. Das aber heißt, neben der Natur-, neben der Menschheitsgeschichte wird hier auch auf eine ganz besondere Geschichte Bezug genommen, auf eine Geschichte, die alle Arten umfasst, in der Gegenständen Eigenschaften zu- oder abgesprochen werden. Und dass es diese Geschichte gibt, ist überhaupt die Voraussetzung dafür, dass Wahrheit historisiert werden kann. Buchstäbliche Wahrheit zu früheren Zeiten ist demnach – da Natur und Sprache sich wandeln – mit buchstäblicher Falschheit zu späteren Zeiten durchaus vereinbar. Die Frage bleibt nur: Wie? Doch das Gedicht stellt mehr in Frage als nur dieses Wie. Es fragt näm-

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Die poetische Erkundung der wirklichen Welt lich auch: Wie mag es wohl gewesen sein auf der Erde, als Tannen noch kupfern waren? Nun hält das Gedicht aber auf beide Fragen eine Antwort bereit. Es zeigt dabei, dass wir diese Antworten immer schon zu unserer Verfügung haben – meist, ohne das zu bemerken. „In der Frühe/ sind die Tannen kupfern“, das heißt eben auch, sie sind es für den heutigen Leser dieses Satzes nicht mehr buchstäblich, sondern allenfalls metaphorisch. Zwar mögen heutige Leser geneigt sein, die metaphorische Wahrheit dieses Satzes gegen seine buchstäbliche Falschheit auszuspielen, doch ist es eben das Zugleich von buchstäblicher und metaphorischer Wahrheit, auf das es hier ankommt – auf das es ankommt, wenn man verstehen will, was eigentlich die Metapher zur Metapher macht und wie es sein kann, dass wir über die Metapher einen Zugang haben zu dem, wie es wohl einst gewesen sein mag, „In der Frühe“, als Tannen noch kupfern waren. Brecht entwickelt also in dieser Buckower Elegie nicht weniger als eine Metapherntheorie, eine lyrische Theorie der Metapher, die nicht erklärt, sondern zeigt, was die Metapher zur Metapher macht.3 Den ersten Schritt dorthin vollzieht der zweite Satz des Gedichts: „So sah ich sie/ Vor einem halben Jahrhundert/ Vor zwei Weltkriegen/ Mit jungen Augen“. Er macht explizit, dass die Art der Zuschreibung von Prädikaten auf Gegenstände, mit einem Wort: unser Begriffssystem einem historischen Wandel unterliegt. Erst diese Geschichte macht Metaphern möglich; gäbe es sie nicht, so wäre die Welt eine ganz und gar buchstäblich zu erfassende. Was aber sind dann Metaphern? Offenbar Vergegenwärtigungen früherer Zuschreibungen von Prädikaten auf Gegenstände, also zum Beispiel Erinnerungen daran, wie es einmal war, als Tannen noch kupfern waren – Erinnerungen, die die Geschichte der Menschheit oder Erinnerungen, die – „So sah ich[!] sie/“ – die eigene Lebensgeschichte betreffen, die freilich wiederum – „Vor einem halben Jahrhundert/ Vor zwei Weltkriegen“ mit der kollektiven Menschheitsgeschichte verwoben ist. (Und selbstverständlich, wie bei allen Erinnerungen, ist auch bei diesen metaphorischen Erinnerungen ungewiss, ob sie Tatsächliches erinnern oder nur imaginie3

Dass gerade Brechts Nachkriegslyrik nicht nur eine eigene Tropik entwickelt, sondern auch Aufschlüsse über das, altmodisch gespochen, Wesen der Tropen bereithalt, ist freilich eine Vermutung, die bereits vor vielen Jahren die Brecht-Forschung beeinflusste. Vgl. etwa Jürgen Link (1975) und Nosratollah Rastegar (1978), schließlich aber auch den gar nicht so heimlichen Klassiker zu Brechts Lyriktheorie von Klaus Birkenhauer: Die eigenrhythmische Lyrik Bertolt Brechts. Theorie des kommunikativen Sprachstils (1971).

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Bertolt Brechts Gedicht Tannen ren; Erinnerungen sind eben als Erinnerungen nicht vergangene, sondern gegenwärtige Ereignisse, die auf Vergangenes Bezug nehmen; auch Erinnerungen, die die Gestalt von Metaphern annehmen, sind daher nur Hypothesen, dass es so, wie sie vorgeben, tatsächlich gewesen sein könnte – was wiederum heißt: sie sind ein Gegenwärtiges und nicht auch selbst ein Vergangenes.) Die Projektionen oder Übertragungen eines Vergangenen auf die Gegenwart, das Sehen des Gegenwärtigen im Lichte des Vergangenen, all das mag eine historische Bedingung der Herausbildung des metaphorischen Sinnes gewesen sein, doch ist es als Bedingung eben selbst noch keine Metapher. Sie bedarf noch eines Anderen, wenn man so will: Früheren, das dem ersten Satz „In der Frühe/ sind die Tannen kupfern“ denn auch mitgegeben ist, dies nämlich, dass etwas nicht nur gesehen wird, sondern als etwas gesehen wird. Nicht das Sehen, erst als das Sehen-als ermöglicht den metaphorischen Blick. Nicht die schon die Anschauung, erst dieses, dass die Anschauung begrifflich wird, dass Begriff und Anschauung verschmelzen, macht die Metapher zur Metapher. Das ist der Grund dafür, weshalb sie (obwohl sie über das Tertium comparationis etwas vergleicht) selbst kein Vergleich ist. Sie macht etwas zu etwas anderem. Achill ist nicht wie ein Löwe, er ist ein Löwe. Die Metapher zu verstehen heißt, ihn als Löwen zu sehen. Und auch die Tannen der Brechtschen Elegie sind nicht wie Kupfer, sie werden (etwa in der Frühe, bei Sonnenaufgang) als kupferne gesehen. Dieses Sehen-als, von dem uns Kant gelehrt hat, dass es ein unverzichtbarer Bestandteil unserer Weltwahrnehmung, unseres Weltzugangs ist, hat nun den Charakter des Urteils, das Subjekt und Prädikat in der Kopula verbindet. Mit einer Metapher wird also etwas behauptet: „In der Frühe/ sind die Tannen kupfern“! Das aber ist nur die eine, eben die assertorische Seite der Metapher. Tannen tatsächlich als kupferne Tannen sehen zu können ist eine unabdingbare Voraussetzung für den metaphorischen Blick, aber es ist noch nicht der metaphorische Blick. Es muss noch etwas hinzukommen. Und, was da hinzukommen muss, liegt hier, bei Brecht, in einem einzigen, freilich mit einem Auftakt versehenen Wort: „So“. Die hinweisende Geste, mit der es geäußert wird, markiert ein Hinzutreten der Bewusstheit zu dem tatsächlichen Sehen von etwas als etwas. Wer dieses „So“ beansprucht, muss darum wissen, dass er so und nicht anders etwas als etwas anderes sieht. Doch damit eine Metapher entstehen kann, bedarf es eines Weiteren, nämlich der inneren Distanznahme zu dem, das da bewusst als etwas gesehen wird. Der metaphorische Blick ist deshalb ein bewusstes Sehen-als-ob, ein Wissen darum, dass man etwas so sieht, als ob es etwas anderes wäre (was es nicht ist). Dieses Ein-

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Die poetische Erkundung der wirklichen Welt nehmen einer distanzierten Haltung gegenüber der eigenen Haltung den Dingen gegenüber – und Brecht geht es in dieser wie in allen anderen Buckwower Elegien um die Offenlegung, nicht selten Einübungen von Haltungen der Welt und den Dingen gegenüber – kann bei Metaphern viele Gründe haben. Hier, in dem Gedicht Tannen hat es einen besonderen, und der heißt Erfahrung. Es ist die Erfahrung von Zeit und Zeitgeschichte – „Vor einem halben Jahrhundert/ Vor zwei Weltkriegen“, die hier die Distanz zum Sehen von etwas als etwas begründet und dadurch etwas Neues schafft, nämlich ein Sehen-als-ob, ein Sehen der Tannen, als ob sie kupfern wären. Und dies Sehen-als-ob ist durchaus ein Sehen von etwas als etwas; es ist wirklich ein Sehen und Urteilen und Behaupten, zugleich aber auch eine Rücknahme des damit erhobenen Geltungsanspruchs, eben ein Sehen-als-ob. Es bleibt also das Sehen-als im metaphorischen Sehen-als-ob erhalten. Das Gedicht dementiert daher nicht seinen ersten mit seinem zweiten Satz, es nimmt ihn nicht lediglich zurück, sondern muss ihn gerade in der Negation des zweiten Satzes bestehen lassen, in seinem Geltungsanspruch. – Gedichte sind eben, nicht nur bei Brecht, ganz und gar dialektische Unternehmungen. Bei einem Gedicht, das nicht nur vom Zustandekommen einer Metapher handelt, sondern sich in seinem Verlauf auch selbst als Metapher, als metaphorisches Verfahren präsentiert, kann das auch gar nicht anders sein, nur eben, und darauf kommt es fast noch mehr an, bei Metaphern auch nicht: Ich muss Tannen als kupferne Tannen sehen, wissen, dass sie es nicht sind und sie trotzdem als kupferne sehen, und all das im selben Moment. Das metaphorische Sehen, Wahrnehmen und Verstehen ist daher ein recht anspruchsvolles Verhalten den Dingen gegenüber, und zwar eines, das nicht unbedingt sprachlich hervorgerufen werden muss. Etwas nach Maßgabe eines Anderen wahrnehmen, das kann man auch in außersprachlichen Zusammenhängen. Und dies kann man z. B. bei Brecht lernen – wenn man es nicht schon bei Freud gelernt hat. Denn dessen vielleicht weitreichendste Einsicht ist eben die in die Ubiquität des Übertragungsgeschehens: wir sehen auch andere Menschen immerzu so, als ob sie andere wären, und das bedeutet: eben nicht nur nach Maßgabe der Erfahrungen, die wir mit anderen Menschen gemacht haben, sondern eben gerade so, als ob sie wahrhaft andere Menschen wären (die sie nicht sind). Der Unterschied ist nur: anders als beim metaphorischen Als-ob ist das Also-ob der psychoanalytischen Übertragung an die Abwesenheit von Bewusstheit gekoppelt – nur so kann es überhaupt seine Wirkungsmacht entfalten, als Übertragung von Gefühlsqualitäten und -intensitäten.4 Und bei

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Freud (1960) Bd. II, S. 568.

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Bertolt Brechts Gedicht Tannen Freud ist dieses Geschehen dann eines, das, weil es sich im Primärprozess ereignet, ganz besonders von frühen Entwicklungsstadien beeinflusst ist. Auch hier also der Hinweis darauf, dass zumindest die unbewussten Anteile des Metaphorischen onto- wie phylogenetisch weit zurückreichen. Doch warum ist das so? Warum ist das metaphorische Sehen immer wieder als ein ursprüngliches Wahrnehmen verstanden worden, so, dass das Metaphorische nicht die Ausnahme von der einmal etablierten Regel ist, sondern ihr vorausgeht? Nun, damit die Metapher als Metapher bewusst werden kann, muss ihr Gegensatz gegen das Buchstäbliche deutlich werden. – Am Anfang, für den im Anfang Begriffenen sind Tannen nämlich buchstäblich kupfern – und nicht metaphorisch. Es gibt am Anfang des Denkens und Sprechens den Gegensatz von Metaphorischem und Buchstäblichen nämlich noch gar nicht. Damit er sich als Gegensatz herausbilden kann, bedarf es der Erfahrung. Im Verlauf dieser Erfahrung muss sich aber nicht nur das Metaphorische als Metaphorisches, sondern auch das Buchstäbliche als Buchstäbliches erst herauskristallisieren. Wie aber geschieht das? Ganz offenbar so, dass mit Worten, Dingen, Ereignissen bestimmte Erfahrungen gemacht werden. Sowohl wirkliche Tannen als auch Worte (wie „Tannen“) haben (für uns) eine Erfahrungsgeschichte, die erinnert wird, wenn wir Tannen als Tannen oder Worte wie Tannen wiedererkennen. Im Akt des Wiedererkennens etabliert sich so eine Kontinuität. Wir wissen, es sind dieselben Tannen, oder es sind Objekte, die zu derselben Klasse von Objekten gehören – und wenn diese Objekte Worte sind, so schließen wir, wird auch das mit ihnen Gemeinte nicht jedes Mal etwas völlig anderes sein. Mit der Zeit bekommen so Ereignisse, Dinge, Worte eine Geschichte, die wir mehr oder weniger bewusst erinnern, wenn wir wieder mit ihnen konfrontiert werden. Das Buchstäbliche ist, so gesehen, nichts anderes als die Erwartung, dass die Zukunft so sein wird, wie es die Vergangenheit vermuten lässt; mit ihm geht die Annahme einher, dass die Erinnerung der Zukunft ihr Maß vorgibt, dass es also eine Vorhersagbarkeit ermöglichende Regelmäßigkeit der Abläufe gibt, mit einem Wort: wer buchstäblich versteht (und das Buchstäbliche ist eine Weise des Verstehens), ist der Überzeugung, dass seine in der Vergangenheit gewonnenen Erfahrungen von der Zukunft bestätigt werden. Das jedoch heißt nicht nur, dass die gegenwärtigen Ereignisse den Charakter von Hypothesen über den Verlauf der Zukunft annehmen, sondern zunächst einmal, dass aus der Regelmäßigkeit der Ereignisse und Wortgebräuche eine Regel gewonnen wird, die Ereignisse, Dinge, Worte dann verkörpern. Es handelt sich also um ein Geschehen, das vieles mit dem Erlernen einer fremden Sprache gemein hat – einer Sprache also, für die es noch kein Übersetzungs-

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Die poetische Erkundung der wirklichen Welt handbuch gibt. Bis wir die Regel und mit ihr die buchstäbliche Bedeutung erschlossen haben, dauert es eine Weile; am Anfang nehmen wir nur Verschiedenheit wahr; erst im Laufe der Zeit, erst mit dem Erkennen der Wiederkehr des Gleichen sind wir in der Lage, eine Regel des Wort- und Sprachgebrauchs und mit dieser Regel eine Bedeutung zu erkennen. – Davor aber ist noch nichts einfach das, was es ist. Die Grenzen zwischen den Objekten sind noch gar nicht erkennbar – oder: jedes Ereignis, jedes Ding, jedes Wort ist noch gar nicht es selbst, sondern das unbestimmte Andere, das im Lichte von mehr oder weniger bestimmtem Anderen wahrgenommen wird. Es erscheint daher als Anderes, es erscheint so, als ob es ein Anderes wäre, doch man weiß (denn man hat ja bereits, um die Frage nach seiner buchstäblichen Bedeutung stellen zu können, einen Anfang in dem Bemühen gemacht, etwas als etwas zu identifizieren), dass es dieses Andere selbst nicht sein kann, dass es also es selbst sein muss. – Es ist diese metaphorische Struktur, die die Bedingung der Herausbildung der Buchstäblichkeit ist. Das Metaphorische ist also nicht nur in Gestalt der Abweichung oder Ausnahme eine Folge, sondern bereits eine Bedingung des Buchstäblichen – mit Brecht gesprochen:ein Ereignis „der Frühe“. Doch damit nicht genug. Kupferne, „Mit jungen Augen“ gesehene Tannen sind nicht sowohl kupfern als auch Tannen, sie sind – als Metapher – nichts von beidem. Metaphorische Tannen sind keine buchstäblichen Tannen, und metaphorisch kupfern zu sein ist nicht dasselbe, wie es buchstäblich zu sein. – Und das kann sein, weil in der Metapher an Worte, Dinge, Ereignisse gebundene buchstäbliche Erinnerungen und Erwartungen so miteinander verbunden werden, dass für die Zukunft nicht mehr gilt, was die Vergangenheit erwarten ließ. Die Synthesis der Erinnerungen und Erwartungen zu einem metaphorischen Urteil schafft etwas Neues, nie Dagewesenes. Achill ist, sobald behauptet werden kann, er sei ein Löwe, nicht mehr, was er einmal war. Und auch der Begriff des Löwen hat sich, wenn seine metaphorische Extension nun auch Achill umfasst, gewandelt. – Genau so sind auch Tannen nicht mehr, was sie einmal waren, wenn sie erst einmal kupfern geworden sind, und die Eigenschaft kupfern ist nicht mehr, was sie war, sobald sie einmal Tannen zugewiesen – und diese Zuweisung selbst von der Gemeinschaft der Sprecher anerkannt wurde. Freilich kann auch dieser Sprachwandel selbst wiederholt werden, und dadurch der Charakter des Neuen verschwinden. Dann aber geschieht nichts anderes, als dass die Metapher stirbt und nun ihrerseits – wie im Falle von Tischbeinen – buchstäblich wird. Das aber heißt, der Charakter des Neuen und damit die Eigenschaft, Regeln zu verletzen, ist für die Metapher ein Unverzichtbares. Und das wiederum bedeutet, man muss die Regel noch erken-

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Bertolt Brechts Gedicht Tannen nen, von der die Metapher abweicht. Wo dies nicht mehr gelingt und die Metapher sich selbst an die Stelle der Regel setzt, da also, wo sie selbst die Regel setzt, hat man es mit absoluten Metaphern zu tun. In ihrem Fall kann nicht mehr angegeben werden, welche an Worte gekoppelten Erfahrungsgeschichten miteinander verbunden werden, um eine neue Geschichte zu erzeugen. Wer von hellen Tönen oder schwerem Wein spricht, ist kaum in der Lage, anzugeben, was an einem Ton hell oder an einem Wein schwer ist, das heißt, die buchstäbliche Schwere oder Helligkeit ist in der Metapher nicht mehr zu bestimmen. Doch ist sie nicht verloren gegangen, sie ist (im dreifachen Wortsinne) aufgehoben – in der (eben deshalb) absoluten Metapher. Darin liegt eine eigentümliche Nähe der absoluten Metapher zum Buchstäblichen; wir haben kein treffenderes Wort, um das zu sagen, was wir sagen wollen, oder: absolute Metaphern sind, von ihrer Funktion her gedacht, Eigennamen. Dass es dennoch ein metaphorischer und kein buchstäblicher Sprachgebrauch ist, der hier vorliegt, hat seinen Grund in der Unangemessenheit dessen, was an der Metapher buchstäblich ist, gegenüber dem, worauf es, das Buchstäbliche, übertragen wird. Der helle Ton hat keine der Eigenschaften der Wahrnehmung, die wir buchstäblich als hell bezeichnen. Und kupferne Tannen haben keine derjenigen Eigenschaften, die sonst in Rede stehen, wenn wir etwas als kupfern bezeichnen. Tannen, die kupfern sind, kommen daher einer solchen absoluten Metapher sehr nahe. Doch ist es schlicht unentscheidbar, ob es sich hierbei (noch) um eine Metapher handelt, bei der die Erfahrungen, die wir mit den Worten kupfern und Tannen gemacht haben, noch etwas zu unserem Verstehen des Begriffs der kupfernen Tannen beitragen – oder nicht doch um eine absolute Metapher, bei der dies nicht der Fall ist, also um ein (erneutes) Sehen-als, das vorgibt, dass es aus einem Sehen-als-ob hervorgegangen ist. Doch wie auch immer, „So sah ich sie/ Vor einem halben Jahrhundert/ Vor zwei Weltkriegen/ Mit jungen Augen“ heißt, dass sie heute, in der Gegenwart des Sprechenden nicht mehr so gesehen werden – können – dürfen – sollen – oder müssen. Darin liegt eine unmissverständliche, dem Gedicht mitgegebene Frage, die nach der Rechtfertigung der Metapher, des metaphorischen Sehens-als-ob. Und da sieht es so aus, als gebe es ein Recht des Buchstäblichen, des Sehens-als gegen das metaphorische Sehen-als-ob. Und nicht nur ein Recht, sondern sogar ein Vorrecht, das sich aus der historischen Erfahrung, vor allem dem historisch erfahrenen Leid herleitet. Ja, es hat den Anschein, als könne die metaphorische Erfahrung der Wirklichkeit unzeitgemäß werden. Und in der Tat, was Brecht hier präsentiert, ist der landläufige und in dem Gedicht An die Nachgeborenen auch von ihm selbst vorgebrachte Einwand

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Die poetische Erkundung der wirklichen Welt gegen den, denn nicht weniger steht hier auf dem Spiel, poetischen Blick des Als-ob. Dieser Einwand besagt, dass die Wirklichkeit gerade dann, wenn sie eine gewalttätige und leidvolle ist, das Als-ob aus sich vertreibe und da, wo es ihr zugemutet wird, gegenüber dieser Zumutung wie von selbst den Vorwurf der Ästhetisierung erhebe. Es sieht also so aus, als erfordere es gerade das Leid, dass man sich gegen den poetischen Blick der Metapher immunisiere. Und das mit gutem Grund: Denn lehrt nicht gerade die Erfahrung unermesslichen Leids, lehrt nicht gerade die Erfahrung des Traumas, dass Leid gerade deshalb unermesslich werden kann, weil alles Spätere, auf das traumatisierende Ereignis Folgende nur unter dem Eindruck des Früheren erfahren werden kann – gerade so, als ob es immer wieder selbst dieses Frühere wäre? – So dass Heilung dann darin bestünde, das buchstäbliche Sehen dessen, was etwas, nicht als etwas anderes, sondern nur als dasjenige, was es hier und jetzt ist, wieder zu erlernen? Das aber heißt, mit dem metaphorisch-poetischen Blick, der in der Lage ist, etwas als etwas anderes zu sehen, geht nicht nur eine durch die Geschichte der Poesie belegte Verheißung, sondern eben immer auch (der unter dem Namen Realitätssinn vorgetragene Widerstand des Buchstäblichen gegen die Poesie legt davon ein beredtes Zeugnis ab) eine Bedrohung einher. Und man darf vermuten, eben die Melancholie darüber macht aus diesem Gedicht Bertolt Brechts eine Elegie. Doch gegen die Metapher im Namen des Buchstäblichen Einspruch erheben kann die elegische Form hier nur, weil die Metapher als solche einen Erkenntnisanspruch erhebt. Sie behauptet etwas, immer schon, dies nämlich, dass sie selbst als Metapher gerechtfertigt ist, dass es eben bisweilen Sinn macht, nicht selten sogar mehr Sinn macht, etwas bewusst so zu sehen, als ob es etwas anderes wäre – wenn man, was es selbst ist, erkennen möchte. Genau deshalb kann auch, was metaphorisch oder – und das ist hier dasselbe: poetisch gesagt wird, zumeist auf keine andere Weise gesagt werden, ohne etwas anderes zu sagen. „Am farbigen Abglanz haben wir das Leben“5 heißt eben, dass wir es da wirklich haben, das Leben – vielleicht sogar, das jedenfalls ist der feste Glaube aller Poesie, nur da! Und tatsächlich, auch der Einspruch dieses auf den ersten Blick so leicht verständlichen, weil dem buchstäblichen Verstehen so nahen Gedichts gegen die Metapher ist doch im Namen des metaphorischen, des poetischen Blicks erhoben: „TANNEN/ In der Frühe/ Sind die Tannen kupfern. So sah ich sie/ Vor einem halben

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Goethe: Faust II, Vers 4727.

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Bertolt Brechts Gedicht Tannen Jahrhundert/ Vor zwei Weltkriegen/ Mit jungen Augen“ sagt eben nicht allein, was buchstäblich gesagt wird – dass in der Frühe die Tannen kupfern sind und so früher einmal, mit noch jungen Augen gesehen wurden. Nein, das Buchstäbliche wird hier aufgehoben im Metaphorischen. Es wird zum Ausdruck gebracht, aber doch so, als ob damit immer auch etwas anderes zum Ausdruck gebracht würde. Und genau in dem Augenblick, in dem das mit Bewusstheit wahrgenommen wird und die Worte tatsächlich so verstanden werden, als ob sie dabei etwas anderes zu verstehen gäben, sind die Augen wieder jung, die Tannen kupfern und ist das Gedicht Tannen zu einem Gedicht geworden, das, weil es den elegischen Ton der Klage hinter sich lässt, recht eigentlich schon nicht mehr ist, was es zu sein vorgibt, eine Elegie.

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PSYCHOANALYSE UND POESIE IM GESPRÄCH ÜBER GEIST UND GEHIRN

Wenn Literatur unter Beweis stellen möchte, dass sie in der Lage ist, einen Zugang zu gewöhnlicher Wissenschaft unzugänglichen Bereichen des Wissens zu gewähren, so steht sie in diesem Bemühen nicht allein. Auch innerhalb der Wissenschaften selbst entstehen immer wieder Disziplinen, die beanspruchen, etwas zu erforschen, das niemand zuvor je hat erforschen können – die Ästhetik ist eine, die Psychoanalyse eine andere dieser Disziplinen. Doch selten einmal standen sich literarische und wissenschaftliche Innovation näher als im Falle von Gottfried Benn und Sigmund Freud. Die Affinität beider, die sich allem Anschein nach nur am Rande überhaupt zur Kenntnis genommen haben, könnte größer nicht sein.1 Nicht schon, weil beide neue Wege zur Erforschung des Seelenlebens erschließen, nicht schon, weil ihr Interesse der literarischmetaphorischen Gestalt dieses Seelenlebens galt, aber auch nicht allein deshalb, weil das Werk Freuds wie dasjenige Benns ohne die Fortschritte der Neurowissenschaften im 19. Jahrhundert nicht wäre, was es ist – und das, obwohl beide als junge Psychiater den Fortschritten dieser Wissenschaften mit Faszination und Skepsis zugleich gegenüber standen. Ihre Nähe, die Nähe des Zeit seines Lebens in innerer Distanz zum Judentum verharrenden Sigmund Freud und des bisweilen emphatisch sich zum Deutschtum bekennenden Gottfried Benn resultiert aus den Fragen, denen sie sich stellen und den Notwendigkeiten, sie in einer bestimmten Richtung zu beantworten, nämlich in Richtung auf eine im Zeichen des Literarischen vollzogene Semantisierung der Natur.2

1

2

Die Forschung schließt das nicht aus, lässt es aber auch nicht unbedingt vermuten, da sie bislang vor allem den Einfluss von Freud auf Benn zu dokumentieren versuchte, namentlich den Einfluss von Freuds Psychoanalyse auf Benns frühe Prosa; vgl. etwa: Kyora (1995) sowie: Gann (2007). Und dass Natur erst mit Bedeutung belegt werden muss, heißt, dass sie als reine Physis bedeutungslos ist; sie ist dann einfach (was sie ist). Bedeutung

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Die poetische Erkundung der wirklichen Welt Die Notwendigkeit einer Semantisierung der Natur im Zeichen des Literarischen resultiert dabei aus der, wenn man so will: Frage aller Fragen, nämlich der Frage nach dem, was den Menschen zum Menschen macht. Am Ausgang des 19. Jahrhunderts konkretisiert sich diese allgemeine Frage zu einer Reihe von auch heute noch wohl vertrauten, weil nach wie vor offenen Teilfragen. Mit ihnen setzen sich Gottfried Benn und Sigmund Freud auseinander. Sie lauten: In welchem Verhältnis steht eine Empirisierung der Wissenschaften vom Menschen zur Idee einer Autonomie des Geistigen (Freud) oder Ästhetischen (Benn)? Um die Frage zuzuspitzen: Habe ich im Bereich des Geistigen oder Ästhetischen Aussicht auf Selbstbestimmung, wenn ich für das Wollen meines Ichs gar nicht verantwortlich bin, weil das Ich (das eben war schon die Erfahrung des 19. Jahrhunderts) ein Anderer ist und, was ich für mein Ich halte, in seinem Wollen das Wollen eines Anderen in mir ist? Und wenn die zunehmende Physiologisierung der Anthropologie seit dem 18. Jahrhundert zu der Erkenntnis führt, dass das Gehirn das Organ der Imagination ist, welche Funktion kommt dann der Phantasie oder der poetischen Einbildungskraft innerhalb des modernen Wissens zu? Oder, um auch diese Frage zuzuspitzen: Kann ein Organ überhaupt etwas wissen. Kann es, gerade insofern es ein Materielles ist, überhaupt etwas wissen (schließlich halten wir die meisten Dinge um uns herum gerade aufgrund der Tatsache, dass sie materielle Dinge sind, für des Wissens unfähig)? Und wenn es als ein rein Physiologisches nicht einmal etwas wissen kann, wie sollte es etwas wollen können, wenn das Wollen sich doch auf eine Welt und deren Gegenstände richtet, um die es wissen muss?3 – Es ist die Unbe-

3

erlangt sie erst als Gegenstand der Deutung oder der Beobachtung für einen Handelnden. In der reinen Irrealität kann ich nicht einmal etwas wünschen, ich würde mir ja nicht einmal meinen Glauben glauben; wenigstens meine Wünsche muss ich für wahr halten. Ich muss aber auch für wahr halten, dass sie sich wirklich auf etwas beziehen, dass sie Gegenstände haben. Einen reinen Physiologismus (‚Eine Erklärung des Mentalen ist eine Erklärung körperlicher Vorgänge!‘) ereilt dabei dasselbe Schicksal wie einen reinen Psychologismus (‚Eine Erklärung des Mentalen ist ganz und gar eine Erklärung psychischer Ereignisse!‘). Beide kommen nicht damit zurecht, dass wir immer schon mehr beanspruchen als Physiologie oder Psychologie, wenn wir von anderen verstanden werden wollen – als mentale Wesen. Das sagt am Ausgang des 19. Jahrhunderts (1892, um genau zu sein) niemand so deutlich wie Gottlob Frege in seiner Kritik des ehedem als Psychologismus und heute als Konstruktivismus auftretenden Skeptizismus: „Von idealistischer und skeptischer Seite ist […] schon längst eingewendet worden: ‚Du sprichst hier ohne weiteres von dem Monde als einem Gegenstande; aber woher weißt du, dass der Name der Mond überhaupt eine Bedeutung hat, woher weißt du, daß überhaupt irgend etwas eine Bedeutung hat?‘ Ich antworte,

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Psychoanalyse und Poesie im Gespräch über Geist und Gehirn antwortbarkeit dieser Fragen im Rahmen herkömmlicher Wissenschaft, die Sigmund Freud und Gottfried Benn aus deren Bahnen hat ausbrechen und auf das Gebiet von Übertragung und Metapher sich hat begeben lassen. Ihr besonderes Gewicht, ihre Dringlichkeit erlangen diese Fragen, vor allem die nach dem Verhältnis von Physis und Bedeutung oder Somatischem und Semantischem, vor dem Hintergrund einer wahrhaft allgemeinen und daher auch nicht bloß akademisch, im Rahmen der Anthropologie etwa, zu beantworteten Frage, nämlich der Frage nach dem Menschen (I). Ihre Gestalt, die Gestalt die sie in der von Aristoteles sich her schreibenden Überlieferung gewonnen hat, macht es für Freud wie auch für Benn nötig, eigene Sphären des Wirklichen zu postulieren – oder zu entdecken: das Psychische und das Artistische (II). Was Freud wie Benn damit erreichen, ist eine Semantisierung des Physischen. Der Körper wird, um es sehr metaphorisch auszudrücken, mit Geist aufgeladen. Er wird (in diesem Sinne) vergeistigt – mit dem Ergebnis, dass eine eigens für diese Form der Vergeistigung geschaffene Disziplin, die Psychologie, aber zugleich eben auch die Emotion und Kognition im Bereich des Sprachlichen vermittelnde Literatur für ihn zuständig ist. Doch obwohl man erwarten dürfte, es gingen mit dieser im Zeichen von Psychologie und Literatur sich vollziehenden Semantisierung – oder Vergeistigung – des Körperlichen für das moderne Subjekt Freiheitsgewinne einher, scheint das Gegenteil der Fall zu sein: nicht nur das Psychische, auch das Literarische (und zwar gerade als ein Artistisches) unterliegt der bestimmenden Kraft von Gesetzmäßigkeiten. Wenn aber auch der Geist, und namentlich seine Semantik nicht ganz und gar durch sich selbst bestimmt ist, dann kann der Gegensatz von Natur und Geist nicht dem Gegensatz von Determination und Autonomie oder Fremd- und Selbstbestimmung entsprechen (III). Allerdings entdecken Benn und Freud in den Bereichen des Psychischen wie des Artistischen ein ganz und gar Unbestimmbares und überdies Unbestimmbarkeit Provozierendes; doch ist es nicht das Ich oder das moderne Subjekt, das sie entdecken, sondern das Nichts. Die Entdeckung des Nichts als Bestandteil eines psychischen sowie eines artistisch-ästhetischen Vermögens des Menschen sichert ihm sodann nicht nur Freiheitsgewinne, die ihm zuvor verloren zu gehen drohten, sondern stellen Freud wie Benn auch vor eine ungeheure Aufgabe: sie müssen eine Antwort daß es nicht unsere Absicht ist, von unserer Vorstellung des Mondes zu sprechen, und daß wir uns auch nicht mit dem Sinne begnügen, wenn wir ‚der Mond‘ sagen; sondern wir setzen eine Bedeutung voraus. Es hieße, den Sinn geradezu verfehlen, wenn man annehmen wollte, in dem Satze ‚der Mond ist kleiner als die Erde‘ sei von einer Vorstellung des Mondes die Rede.“ Frege (2002), S. 28.

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Die poetische Erkundung der wirklichen Welt auf die Frage nach dem, was den Menschen zum Menschen macht, geben, die die spezifische Zuständigkeit von Psychoanalyse und Ästhetik für den Menschen dadurch rechtfertigt, dass Psychoanalyse und Ästhetik dem, was am Menschen unbestimmt und unbestimmbar ist, in besonderer Weise gerecht werden (IV). I. Um sich das mit aller Klarheit vor Augen zu führen, darf man sich nicht davor scheuen, die wie auch immer pontifikal, eigentlich aber nicht mehr als anthropologische Frage noch einmal zu stellen: Was ist der Mensch? Die aristotelische und bis heute maßgebende Definition des Menschen besagt bekanntlich, er sei ein animal rationale. Dabei ist es offensichtlich, dass diese Definition alles andere als eine hinreichende Antwort auf die Frage nach dem gibt, was den Menschen zum Menschen macht. Wenn man jedoch eine andere berühmte Definition des Menschen, nämlich die vom nicht festgestellten Tier abwandelt, dann heißt das zunächst so viel wie: der Mensch ist das Tier, das sich immer wieder aufs Neue nach der Gattung, der es zugehört, fragen muss – positiv gewendet: der Mensch ist das Tier, das sich immer wieder aufs Neue im Hinblick auf den ihm zugehörigen Allgemeinoder Gattungsbegriff bestimmen muss. Man kann daher auch nicht ein für alle Mal herausfinden, was der Mensch ist; es gibt da nichts, das es zu finden gäbe. Nein, man wird vielmehr erst zum Menschen, indem man sich zu diesem Begriff verhält – sich auf ihn als auf das dem jeweiligen Einzelnen zugehörige Allgemeine bezieht. Jedermann legt also in seinem alltäglichen, gerade aber auch in seinem theoretischen oder ästhetischen Verhalten zu sich selbst und natürlich zu anderen, die er als seinesgleichen anerkennt, ein beredtes Zeugnis davon ab, was es heißen kann, sich nicht nur als Individuum, als unvergleichliches Einzelwesen, sondern eben als Menschen, als Gattungswesen zu verstehen. Der Begriff des Menschen ist daher nichts, was uns äußerlich wäre und schon gar nichts Abstraktes. Denn wir haben gar nicht die Wahl eines rein singulären Selbstbezugs – wenn wir uns selbst verstehen, unser Handeln deuten oder gar rechtfertigen wollen. In seinem je und je einmaligen (deutenden, verstehenden, rechtfertigenden) Handeln erzeugt jedermann ein virtuelles Allgemeines, seinen/ ihren Begriff vom Menschen. Und sowohl zur Darstellung als auch zur Auslegung dieses Begriffs kann man sich dann eines theoretischen, eines ästhetischen oder eben auch eines psychologischen Vokabulars bedienen. In jedem Fall aber ist dieses von jedem Einzelnen erzeugte Allgemeine, eine sehr konkrete, nämlich gelebte Antwort auf die Frage danach, was den Einzelnen zum Menschen macht. Und das erkennt man daran, dass niemand einfach so ist, wie er ist, sondern die Be-

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Psychoanalyse und Poesie im Gespräch über Geist und Gehirn rechtigung zu haben glaubt, so zu sein, wie er oder sie ist – und so wahrzunehmen, so zu denken, so zu fühlen, wie er oder sie denkt, wahrnimmt, fühlt – und eben manchmal auch dichtet. Aber natürlich ist es, das zeigen mehr als 2000 Jahre Diskussion um den Begriff des Menschen, mehr als fraglich, ob sich dieses von jedem Einzelnen beanspruchte und daher vielgestaltige Allgemeine des Begriffs in eine noch umfassendere Allgemeinheit, gar in eine endgültige Definition überführen lässt. Doch kann worüber sich kein Konsens erzielen und was daher auch nicht definiert werden kann deshalb aber immer noch als ein unbestimmtes Allgemeines mit kommuniziert werden – sei es als Psychisches, sei es als Poetisches. Wenn man nun die Konstellation aus Freuds und Benns theoretischen und poetischen Antworten auf die anthropologische Frage in den Blick nimmt, so tritt die Frage danach, wer hier wann auf wen welchen Einfluss ausgeübt hat, in den Hintergrund. Und das, obwohl jene Antworten auf die eigentlich anthropologische Frage nichts sind, das denen, die da antworten, äußerlich wäre. Nein, Sigmund Freud und Gottfried Benn erschaffen sich selbst, indem sie in ihren Schriften, ihren je eigenen Begriff des Menschen erschaffen. Doch diese Begriffe beanspruchen mehr als Individualität oder gar eine individuelle Sicht der Dinge. Sie beanspruchen Geltung. Deshalb reichen sie, ihrer beider Begriffe des Menschen, über die Leben derer, die sie erschaffen haben, hinaus. II. Um nun ihre jeweiligen Begriffe des Menschen zur Geltung zu bringen, weisen Benn wie Freud Wirklichkeiten oder Welten aus, für die ihre Aussagen oder, im Falle der Poesie: Darstellungen Geltung beanspruchen können. Um diese Geltung beanspruchen zu können, müssen sie den Begriff des Wirklichen, das, was zu ihrer Zeit als Wirklichkeit galt, erweitern. Diese Erweiterung betrifft in erster Linie das Verhältnis des Wirklichen zum Natürlichen und Naturhaften, ein Verhältnis, das die Natur- und Neurowissenschaften damals (wie heute) zu dem für den Menschen, wenn nicht gar den Begriff des Wirklichen überhaupt bestimmenden Verhältnis erklären. – Eine Erklärungsabsicht, die bereits um 1900 Erfolg versprechend war, weil selbst noch die idealistische Tradition des Naturdenkens bei Kant und Schiller die Natur als das schlechthin Bestimmende und in sich Determinierende anerkennen musste. Doch Benn und Freud vereint ein Affekt gegen diesen Entwurf einer in sich bestimmten, anderes bestimmenden Natur. Und genau das ist auch schon einer der Gründe, warum sie dem Natürlichen enthobene Sphären des Wirklichen hypostasieren. Doch ist es mehr als ein Affekt, der sie dazu bewegt. Es ist vor allem der Umstand, dass sich im Rekurs auf Natur allein nicht erklär- und verstehbar

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Die poetische Erkundung der wirklichen Welt machen lässt, was sie mit ihren ästhetischen und theoretischen Überlegungen erklären, verstehen, manchmal aber einfach auch nur zur Darstellung zu bringen suchen, nämlich das, was ihrer Auffassung nach die spezifische Verfassung des Menschen ausmacht. Es ist also kein Affekt, es ist die Einsicht in die Beschränkung, die sich einhandelt, wer versucht, im Rekurs auf Natur das spezifisch Menschliche zu erklären, die beide dazu bewegt, die Natur als etwas zu begreifen, dessen schlichte Positivität und Faktizität, die ihr etwa als Sinnesdatum kommt, transzendiert werden muss. Doch schauen wir genauer hin: Freuds Einsicht in die Beschränkung naturalistischer Erklärungen stellte sich erst nach etwa 20 Jahren naturwissenschaftlichen Forschens ein. Freud begann bekanntlich, bevor er zwischen 1895 und 1900 das Zeitalter der Psychoanalyse ausrief, 1877 mit der Untersuchung von Spinalganglien primitiver Organismen. Sein Interesse galt der Funktion einzelner Nervenzellen und schließlich der komplexen Organisationsstruktur des Gehirns; vor allem einer neurophysiologischen Erklärung von Aphasien galt sein Interesse. Als Freud dann zu Anfang der 1880iger Jahre seine Ausbildung als klinischer Neurologe begann, geschah das in einer Zeit, die noch deutlich von der zwanzig Jahre zuvor gemachten Entdeckung Paul Brocas beeinflusst war. Broca, einem französischen Neurologen, gelang es nämlich erstmals, „[…] den physiologischen Sitz einer mentalen Funktion […] zu identifizieren“ und „die Fähigkeit zur Artikulation einer bestimmten Hirnregion“, dem Broca-Areal, zuzuordnen.4 „Zehn Jahre später“, so heißt es bei Kaplan und Solms, „zeigte der deutsche Neurologe Carl Wernicke, daß die Schädigung eines anderen Teils des Gehirns, bekannt als Wernicke-Areal, zu einem weiteren Syndrom führt, nämlich zur Unfähigkeit, Sprache zu verstehen, obwohl das Hörvermögen intakt ist.“5 Wer, wie Freud, in dieser Zeit zum Neurologen ausgebildet werden wollte, musste demnach vor allem die Fähigkeit ausbilden, gewissen Symptomen und Fehlleistungen bestimmte Hirnregionen zuzuordnen, sie also zu lokalisieren – wenn möglich nicht post mortem, auf dem Wege einer pathologischen Diagnostik, sondern ante mortem, durch genaue Beobachtung des Patientenverhaltens. Und Freud genoss, so wird berichtet, in der Ausübung dieser hermeneutischen Kunst einen hervorragenden Ruf. Die so genannte deutsche Schule der Neurologie, zu der die Lehrer Freuds gehörten, sah nun in den Ergebnissen Brocas und Wernickes die Legitimation zu einem physikalistischen Reduktionismus, zu der Überzeugung also, dass es im Grunde an bestimmten

4 5

Vgl. Kaplan-Solms, Karen/ Solms, Mark (2003) S. 20. Dies. ebd., S. 21.

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Psychoanalyse und Poesie im Gespräch über Geist und Gehirn Orten im Gehirn sich ereignende, physikalisch hinreichend beschreibbare Prozesse seien, die all die Symptome verursachten, um deren Linderung und wenn möglich Beseitigung sich die klinischen Neurologen bemühten. Doch gab es ein Problem. Dieses Problem wurde Freud um 1885/86, also während seines Aufenthaltes in Paris bei Charcot an der Salpetière, immer deutlicher. Es bestand darin, dass bei Hysterie und Neurasthenie, so intensiv man auch autopsierte, keine Verletzungen des Nervensystems gefunden werden konnten und die zu Lebzeiten an den Patienten beobachteten klinischen Symptome auch post mortem unerklärlich blieben, nicht nur für die deutsche Schule der Neurologie, auch für Charcot. Doch obwohl Charcot keine für die Hysterie zuständigen Läsionen finden konnte, setzte er seine Studien aus einer rein anatomischen Perspektive fort. Und genau in dieser Situation erhebt Freud gegen Charcot einen ungeheuren Einspruch, denn er schreibt: „Ich dagegen behaupte, daß die Läsion bei den hysterischen Lähmungen ganz und gar unabhängig von der Anatomie des Nervensystems sein muß […]; die Läsion [besteht] im Falle einer hysterischen Lähmung in nichts anderem als in der Unzulänglichkeit der Vorstellung[!] des Organs oder der Funktion für die Assoziationen des bewussten Ichs […].“6

Doch wenn die Ursachen des Symptoms Vorstellungen und Assoziationen sind, dann ist es das Denken selbst, an dem hier der Körper erkrankt. Dieses Denken als ein zugleich somatisches und semantisches Geschehen aber lässt sich nicht, wie es die klinisch-anatomische Methode versuchte, als ein Mosaik aus Funktionszentren auf das Gehirn projizieren; denn die Regeln und Gesetzmäßigkeiten, denen es unterliegt, haben so wenig wie das Ich eine lokalisierbare Stelle im Gehirn. Mit anderen Worten: der Teil des Denkens, an dem Hysteriker und Neurotiker erkranken, bedarf zwar der neurologischen Basis des Gehirns, aber er vollzieht sich nicht mehr allein im Gehirn, sondern in einem aus diesem emergierenden Seinsbereich, dem psychischen Apparat, dessen Gesetze Freud fortan zu erforschen sucht. Die Gestalt dieses psychischen Apparates ist der physikalistischen Metaphorik zum Trotz eine virtuelle. Das Gehirn ist nicht der psychische Apparat. Es ist, und dieser Einschätzung ist Freud ein Leben lang treu geblieben, zwar eine Bedingung der Möglichkeit, aber kein hinreichender Erklärungsgrund des Psychischen. Es ist diese zwischen Somatischem und Semantischem klaffende Erklärungs-, mehr noch Verstehenslücke, die wenig später auch Gottfried Benn faszinieren und ebenfalls zu einer ungeheuren Set-

6

Dies. ebd..

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Die poetische Erkundung der wirklichen Welt zung, nämlich der einer zwar von der Natur abhängigen, weil aus ihr hervorgehenden, aber ihr nicht mehr unterliegenden Sphäre des Artistischen veranlassen wird. Auch Benn steht, wie schon Freud, ganz im Bann einer naturalistischen Erklärungsabsicht, wenn er darüber nachdenkt, was den Menschen zum Menschen macht. Doch kann die Faszination, die das Versprechen des Naturalismus bereithält, recht Unterschiedliches bedeuten: es kann sein, dass Natur, wie in dem Vortrag Das moderne Ich, eine gewalttätige, den Menschen der Notwendigkeit unterwerfende Kraft ist; sie ist dann dafür verantwortlich, dass der Mensch „kein Schicksal hat und kein Schicksal kennt, daß er geboren wird, genießt und fortgehauen wird in sein früh verwebtes Grab“7. Doch vor dem Hintergrund dieses vorbestimmten Ganges alles Irdischen (als eines Natürlichen) muss sich der Mensch als deutendendes und erst in Deutungen (als Mensch) zu sich selbst kommendes Wesen behaupten. Und das muss, es kann gar nicht anders sein, zu einer ungeheuren Spannung führen: „[…] wohin mit der Gebetsmaterie, den Aufstiegsenergien, die, seitdem die Geschichte der Menschheit aus der Mythe auf die Schreibtäfelchen aus gebranntem Ton zwischen Memphis und Theben trat, durch Vererbung und Neuerwerb diese ungeheure paraboloide Spannung des menschlichen Gefühls in die schlechthinnige Abhängigkeit gespeist hatte?“8

Eingespannt zwischen Gebet und Materie, Neuerwerb und Vererbung wird der Mensch erst als das Wesen erkennbar, das dazu verdammt ist, sein Schicksal in die Hand zu nehmen und sich selbst zu erschaffen. In einem anspruchsvollen, nicht-reduktionistischen Naturalismus spricht sich aber immer auch eine eigentümliche Verheißung aus. Sie hat damit zu tun, dass Natur das Umgreifende, das Reich der letzten Gründe des Menschen und Menschseins ist.9 Die Verheißung dieses das menschliche Sein umgreifenden Seins besagt aber nun, dass der Mensch es als ein solches Umgreifendes doch begreifen und in seine Gewalt bringen könne – und damit zuletzt sogar sich selbst als Naturwesen. Benn ist seiner Vision einer Menschen- und nicht zu vergessen: Dichterzüchtung dieser Verheißung

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Benn (1987), Bd. III, S. 103. Ders. ebd. Das Verdienst, diese Einsicht dem modernen Menschen erschlossen zu haben, gebührt zweifelsohne Darwin. Auch Skeptiker des Darwinismus, wie Benn einer war, können sich ihr kaum entziehen.

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Psychoanalyse und Poesie im Gespräch über Geist und Gehirn erlegen.10 So gesehen darf sich eigentlich niemand darüber wundern, dass Benn, als es so schien, auch die Politik sei nunmehr angetreten, ihm zu Hilfe zu eilen und seine Vision Wirklichkeit werden zu lassen, ein paar Jahre lang, ich kann das nicht freundlicher sagen, seinen Verstand verlor: die bisweilen grotesken Passagen, in denen Benn das Genialische auf das Genetische zurückzuführen und sich selbst als Abkömmling einer die Genialität besonders befördernden Erbmasse der deutschen Pfarrhäuser outet, um schließlich „die Erziehung zu einem neuen Ackergefühl“11 zu fordern, haben ein nicht zu unterschätzendes komisches Potential; zur Tragödie, meine ich, taugen sie nicht. Sie sind das Zeugnis eines Denkens, das sich selbst um Verstand gedacht hat.12 Das zeigt sich auch darin, dass Benn hier weit hinter Freud zurückfällt, den er bereits viel früher (nämlich in: Zur Problematik des Dichterischen) dafür kritisiert hatte, dass dieser das Einmalige als Effekt eines blind waltenden Naturtriebes, der Libido, zu denken versucht habe, so aber gerade nicht denken könne.13 Wäre nun aber der Bennsche Züchtungswahn selbst nur das Ergebnis eines mangelhaften Denkens, er verdiente keinen weiteren Gedanken. Doch jene Verheißung, durch deren Faszination die Natur das Denken bisweilen zu betrügen vermag, hat seinen Grund eben auch darin, dass die Natur ein den Menschen umgreifender Bestimmungsgrund ist. – Wie sollte es da, muss man sich fragen, der Mensch nicht versuchen, sich dieses Bestimmungrundes zu bemächtigen? Das ist keine Entschuldigung, sondern eine Versuchung, die im Begriff des Menschen als Naturwesen liegt. Aber natürlich muss ihr zu erliegen nicht heißen, ihr wie Benn zu erliegen; auch die analytische Kur ist – wo Es war soll Ich werden – ein Pro10 Dargestellt ist diese Verheißung in Essays wie Der deutsche Mensch, Erbmasse und Führertum oder Züchtung I oder auch: Geist und Seele künftiger Geschlechter. 11 Benn Gottfried (2003), Bd. II, S. 793. 12 Benn „erliegt“, darauf läuft es hinaus, „in den frühen dreißiger Jahren einem überzogenen Machbarkeitsglauben“ (vgl. Büssgen, 2006, S. 425). Es ist deshalb auch nicht eine Gering-, sondern vielmehr eine Überschätzung der Möglichkeit, Natur denkend zu erfassen, die Benns Allianz mit den Nationalsozialisten begünstigt hat. Das Nichts, dem sich Benn dann später in seiner Thematisierung des Nihilismus zuwenden wird, hat, so gesehen, die wichtige Funktion eines Korrektivs für ein sich überschätzendes und überstrapazierendes Denken.

13 „[…] der Individualitätsbegriff, Erbe des aristotelischen Zeitalters […], das freie Ich, das Bergsteigerideal der protestantischen Glaubensvernichtung, der autochtone Wille, die aufrechtgehende Weltvernunft, vom Kollektivismus unterminiert, von der Psychoanalyse und ihren Grenzwissenschaften dem Unbewußten zurückgegeben und zur Libido regrediert.“ Benn (1987), Bd. III, S. 235.

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Die poetische Erkundung der wirklichen Welt jekt zur Bestimmung dessen, was uns als Natur- und Triebwesen bestimmt. Benn jedenfalls, die frühen Morguegedichte dokumentieren das, war von Anfang an im Bann der Natur, vor allem im Bann des Gedankens, die Verfassung des Menschen lasse sich dadurch charakterisieren, dass er letztlich doch nur Natur sei. Doch hat Benn sich später, nachdem seine Züchtungsphantasien der Realität zum Opfer gefallen sind, immer ausschließlicher, vor allem aber entschiedener dem ihn beherrschenden Naturgedanken zu entziehen versucht. Nicht die Psyche ist es, die er (in Nach dem Nihilismus) dazu auserkoren hat, den Bann zu durchbrechen, sondern das Artistische. In Benns eigenen, wie er selbst zugesteht, vagen Worten: „Manches deutet ja darauf hin, daß wir vor einer ganz allgemeinen entscheidenden anthropologischen Wendung stehn, banal gesagt: Verlagerung von Innen nach Außen, Verströmen der letzten arthaften Substanz in die Gestaltung, Überführung von Kräften in Struktur. […] Manches, wie der Expressionismus, der Surrealismus, die Psychoanalyse, deutet ja in der Richtung, dass wir biologisch einer Wiedererweckung der Mythe entgegengehn […]. Die letzte arthafte Substanz will Ausdruck, überspringt alle ideologischen Zwischenschaltungen und bemächtigt sich nackt und unmittelbar der Technik, während sich die Zivilisation inhaltlich zurück zur Mythe wendet […]: das Ziel, der Glaube, die Überwindung hieße dann: das Gesetz der Form.“14

Doch die präziseste Formulierung für dieses rein Artistische findet sich in einem Gedicht. Es heißt Satzbau und stellt die alles entscheidende Frage „warum drücken wir etwas aus?/“, um schließlich, und das ist etwas für Gedichte ziemlich Untypisches, sogar eine Antwort darauf zu versuchen, freilich eine im Modus der Frage stehende. Sie lautet15: […] es ist ein Antrieb in der Hand, ferngesteuert, eine Gehirnlage, vielleicht ein verspäteter Heilbringer oder Totemtier, auf Kosten des Inhalts ein formaler Priapismus, er wird vorübergehn, aber heute ist der satzbau das Primäre. „Die wenigen, die was davon erkannt“ – Goethe – Wovon eigentlich? Ich nehme an: vom Satzbau.

14 Ders. ebd., S. 402f., Hervorheb. ebd.

15 Benn (1987), Bd. I, S. 238.

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Psychoanalyse und Poesie im Gespräch über Geist und Gehirn Was Benn hier „Satzbau“, andernorts „Geist“16 oder „Sein“17 nennt, bringt eine grundsätzliche Option der Kunst zur Geltung: Die Kunst ist als Darstellung die wirkliche Welt noch einmal. Ihre Darstellungen können Inhalte darstellen – Begebenheiten, Stoffe, Themen, sie können aber auch reine Formen darstellen, man denke an ein Ornament, eine Arabeske, ein Lautgedicht oder auch an ein Musikstück. Aber was heißt reine Form oder reiner Ausdruck? Es heißt, dass für die Weise, in der etwas als etwas genommen wird – nicht die Inhalte, nicht mehr, das, was sich über etwas sagen läst, sondern eben allein Formen verantwortlich sind. Eine Gattung, wie die des Gedichts kann eine solche Form sein, der Satzbau eine andere. Die Logik der Form, das Gesetz des reinen, und das heißt von allem Inhalt abstrahierten Ausdrucks ist die regulative Idee der artistischen Poetik Benns. Nicht das Reich der reinen Logik oder der reinen Vernunft, gewiss auch nicht das des rein Psychischen, sondern das der reinen Darstellungsformen ist es, durch das Benn das Natürliche und Naturhafte im Mensch nicht negieren, sondern transzendieren möchte – indem er eben eine, neben der Darstellung von Welt bestehende, andere Option der Kunst zur Geltung bringt, die ornamentale. III. Soweit die Idee, die, zumal in der Dichtung, einen entscheidenden Mangel bei sich hat: Die von allen Inhalten gereinigten Darstellungsformen lassen sich dichterisch beschwören, Dichtung sein können sie nicht! Denn Dichtung besteht aus Worten, Sätzen, Versen, und die müssen anders als Töne oder Farben etwas darstellen, etwas sagen, und zwar, ob sie wollen oder nicht, etwas Bestimmtes. Für das Artistische gilt daher etwas Ähnliches wie für das psychische Reich der Vorstellungen und der an diese Vorstellungen gekoppelten Emotionen: Das Artistische kann sich so wenig von seinen Inhalten emanzipieren, wie das Psychische reine Vorstellung, reine Intention, reiner Gedanke sein kann. Beide sind auf ihr jeweils anderes, das Artistische auf Vorstellungsinhalte, das Psychische auf den Ausdruck der emotionalen Färbung des Denkens, Intendierens, Vorstellens angewiesen. Weil aber im Bereich des Psychischen, anders als etwa in logischen oder neurophysiologischen Beschreibungen des Denkens, Ausdruck und emotionale Färbung ein Teil des Gedankens sind, ja diesen eigentlich ausmachen, ist die der Psyche angemessene Sprache eine, die Expressivität und Emotionalität nicht wie Logik und Neurophysiologie aus-, sondern einschließt (nicht zufällig wendet

16 Etwa in dem Gedicht Einsamer nie, vgl. ders. (2003), Bd. I, S. 140. 17 Vgl. das Gedicht mit dem Titel Gedicht., vgl. ders. (2003), Bd. I, S. 298.

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Die poetische Erkundung der wirklichen Welt sich daher die Psychoanalyse, wo sie die Psyche sprachlich erschließen möchte, nicht an die Linguistik, sondern an die Poesie). Die Literarisierung der Psychologie in der Psychoanalyse ist daher alles andere als ein Zufall. Sie entspringt keiner Laune Freuds oder Breuers, sondern der Erfahrung, dass es nicht länger ausreicht, körperliche Vorgänge kausalanalytisch zu erklären, sie vielmehr auch noch gedeutet werden müssen. Die Notwendigkeit der Semantisierung des körperlichen Geschehens, die Aufgabe, körperliche Vorgänge wie sprachliche Vorgänge zu deuten, ergab sich dabei für Freud und Breuer aus ihrer Erfahrung, dass Patienten, wie Cäcilie M. sich durch reines Reden selbst zu heilen vermochten. Freud und Breuer üben sich deshalb fortan in ihrer diagnostischen Arbeit nicht mehr so sehr im genauen Hinsehen, das bislang ihre klinische Arbeit beherrscht hat, sondern im genauen Hinhören – das heißt in der Kunst des über Worte vermittelten Erschließens des Fremdpsychischen. Zum Medium des Behandlungsprozesses wurde nun nicht mehr der Körper, sondern die (verkörperte) Sprache. Und es galt nun, an dieser Sprache ein sie formendes Unbewusstes auszumachen, als Sprechendes, als das sich in ihr – im Versprechen, Verlesen, Verschreiben ebenso wie in Witz und Wortspielen Ausdrückende. Dabei ist zu beachten, dass das Unbewusste bei Freud als ein Sprachloses aufgefasst wird – gegen die These von der Sprachlosigkeit des Unbewussten hat dann erst Jacques Lacan Einspruch erhoben. Diese Sprachlosigkeit des Unbewussten, das im sog. Primärprozess allein mit Sachvorstellungen, nicht, wie das Bewusstsein, mit via Konvention festgelegten Wortvorstellungen prozessiert, vermag aber freilich den Gebrauch der Worte, die Haltung, mit der sie geäußert werden, und die Weise, in der sie auf Wirkliches Bezug nehmen, zu bestimmen. Es ist ein die Weise des Zugriffs auf Wirkliches bestimmendes und damit eben formales, gleichsam artistisches Prinzip – aus der Natur hervorgehend, doch selbst nicht mehr Natur seiend, etwas, das sie zum Psychischen hin transzendiert. Dass jedoch die vom Unbewussten geformten Vorstellungsinhalte ihre Formen allein der formenden Kraft des Unbewussten verdanken, nicht jedoch der Sprache, nicht der Poesie, das hat Freud nie behauptet. Zu offensichtlich ist, dass Träume nur zu häufig eine poetisch-metaphorische Gestalt haben, das Poetische nicht nur eine Eigenschaft der Dichtkunst, sondern eben überhaupt eine Dimension des inneren Erlebens ist. Die Metaphorizität des psychoanalytischen Vokabulars, die in Begriffen wie Abfuhr, Abwehr, psychische Energie, psychischer Apparat und Projektion zum Ausdruck kommt, trägt dieser poetischen Verfahrensweise des Geistes Rechnung. Das hermeneutische Verfahren der Analyse übersetzt daher nur ein durch und durch semantisiertes und metaphorisch verfahrendes inneres Erleben in die

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Psychoanalyse und Poesie im Gespräch über Geist und Gehirn kaum weniger metaphorische und von Freud selbst denn auch so bezeichnete „Bildersprache“18 der psychoanalytischen Theorie. Was dadurch geschaffen wird, ist nicht von einer gänzlich anderen Art als das, worum sich auch Gottfried Benns Poetik, wenn auch gelegentlich wider ihren ausgesprochenen Willen bemüht; ich spreche von einer neuen Mythologie, von den allgemeinen Gesetzen der Form, die als Schicksal das Zeug dazu haben, das Leben des Einzelnen in ihre Gewalt zu bringen. Die Macht des Schicksals im Gewande der Aufklärung zu propagieren ist ein Vorwurf, der freilich von je her auch gegen die Psychoanalyse ins Feld geführt wurde. Kaum jemand hat das so klar erkannt wie Wittgenstein, der bemerkt, dass Freuds Deutungsangebot dem Patienten eine „[…] ungeheure Erlösung [anbiete], wenn gezeigt werden kann, daß das eigene Leben doch das Muster einer Tragödie aufweist – die tragische Entfaltung und Wiederholung eines Musters, das durch die Urszene festgelegt worden ist.“19 Und man kann sich dabei vorstellen, dass Wittgenstein diese Sätze mit Bewunderung und Abscheu zugleich geäußert hat; denn seinem Tagebuch vertraut er an: „Freud irrt sich gewiss sehr oft & was seinen Charakter betrifft so ist er wohl ein Schwein oder etwas ähnliches aber an dem was er sagt ist ungeheuer viel“, um dann hinzuzufügen: „Und dasselbe ist von mir wahr.“20 Ich nehme an, auch Benn hätte diese Sätze geäußert haben können; seine zwischen Bewunderung und Widerwillen schwankenden Erwähnungen Freuds und der Psychoanalyse sprechen jedenfalls dafür. Allerdings spräche eine Literarisierung oder gar Mythologisierung des Lebens im Falle Benns nicht gegen den Autor und sein Werk; sie ist von je her eine regulative Idee der Dichtkunst. Diese Literarisierung des Lebens aber konnte, Benn mag das geahnt haben, nicht dessen Überführung in reine Form bedeuten; der reine Ästhetizismus ist blutarm, leer und in der Kunst nur schwer, am wenigsten aber in der Literatur zu ertragen. Denn diese ist eben als Wortkunst an Inhalte und damit an das gebunden, was man etwas ungenau das Leben nennen kann, genauer aber das durch die Einbildungskraft erschlossene Reich der Vorstellung nennen sollte. Benns Semantisierung des Körpers entspringt daher einer in der Sache, in der sprachlichen Form der Dichtung liegenden Notwendigkeit, und natürlich, nicht zu vergessen, einer Tradition, die Benns demonstrative Kennzeichnung des Literarischen als eines Biologischen nur scheinbar außer Kraft setzt: ich spreche von der Tradition, Literatur als Ausdruck eines inneren Erlebens zu ver18 Freud (1978), S. 166. 19 Wittgenstein (1994), S. 73f. 20 Ders. (1997), Bd. I, S. 21.

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Die poetische Erkundung der wirklichen Welt stehen. Und alle Versuche einer Naturalisierung des Ästhetischen müssen erst einmal in der Lage sein, sich gegenüber dieser expressivistischen Deutungstradition zu behaupten.21 Doch was genau heißt Semantisierung des Körperlichen bei Benn? Es heißt zunächst einmal, das Ich, den Raum inneren Erlebens vom Gehirn, Benn spricht von der „Großhirnrinde“ zu unterscheiden: „[...] in der Zelle saß das Leben, im Organ saß die Krankheit, und die Persönlichkeit, als eine gefährliche ideologische Krankheit, einen mittelalterlichen Dämon, legte man auf die Großhirnrinde fest, begegnete ihr mit der Elektrode, desillusionierte sie mittels des Zuckerstichs und löste sie in Assoziationen auf, die durch anatomische Leitungsbahnen verliefen. Es war das Zeitalter einer konstruktiven mathematischen Seelenlehre, es war klinisch das Zeitalter Flechsigs und Wernickes, es reicht bis in unsere Tage […].“22

Doch ist dies nicht mehr Benns Sicht der Dinge. Er fasst (wie Freud) die Persönlichkeit als eine komplexe, über den Organismus verteilte, von diesem beeinflusste und aus ihm hervorgehende, aber nicht mit diesem identische Einheit auf. Diesen Schritt vollzieht er bereits in Der Aufbau der Persönlichkeit, wo er an der Person eine eigene psychologische Schicht von einer biologischen sowie einer geistigen unterscheidet. Auch bei Benn ist das Ich nicht Herr im eigenen Haus, doch, was es ist, das ist es von Gnaden einer biologischen Grundausstattung, die, und mit diesem unheimlichen Gedanken endet bekanntlich Benns Schrift vom Aufbau der Persönlichkeit, auch eine andere sein könnte. Wer weiß, so Benn, ob nicht die Evolution dem Menschen dereinst anstatt des Gehirns ein neues Leitorgan erschaffen wird: „Heißt vielleicht die neue Wahrheit, dass dieser Körper, der schon großartigere Persönlichkeitsspannungen als die unsere trug […]: auch dieses Großhirn einst zu seinen Runen nehmen wird, wenn es müde ist oder neue Katastrophen den Planeten überziehn? Daß er noch in den Bann neuer Leitorgane treten wird; daß er diese Persönlichkeit wieder zum Hirnstamm zurückholen wird, wenn neue Spezialisierungen beginnen? Immer weiter die Rufe, immer weiter die Unterwer21 Die im Rahmen der sog. Empirischen Literaturwissenschaft versuchte Naturalisierung der Literaturwissenschaft zeigt vielleicht am deutlichsten, was es heißt, sich gegenüber dieser expressivistischen Deutungstradition nicht behaupten zu können: denn Empirische Literaturwissenschaft kann eben aufgrund ihrer extremen Naturalisierung des literarischen Geschehens mit den Gehalten, die dieser Tradition zufolge in der Literatur zum Ausdruck gelangen, nichts mehr anfangen – und konnte wohl vor allem deshalb niemals wirklich Fuß fassen, in der Literaturwissenschaft. 22 Benn (1987) Bd. III, S. 264f.

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Psychoanalyse und Poesie im Gespräch über Geist und Gehirn fungen, bis er vielleicht alle Rudimente noch einmal reaktivieren muß zum letzten Kampf, wenn der große biologische Abbau alles Lebendigen beginnt –, daß dann vielleicht auch unsere – quartiäre – Persönlichkeit noch einmal als Sage aufsteigen wird in das große Gesetz, unter dem alles geschah: das Gesetz einer unausdenkbaren Verwandlung?“23

– Diese naturhistorische Spekulation hat eine handfeste poetische Wirkungsabsicht: das den Menschen eigene und Eigenste, das Gehirn, erscheint mit einem Mal als ein Fremdes, als eine Laune der Natur. Doch zielt der Gedanke nicht auf die Natur, er ist Teil eines Gedankenexperiments mit einem eindeutigen, nämlich skeptizistischen Resultat: auch die höchste Differenzierung und Komplexität des Geistes ist, begreift man den Geist als Resultat der Naturgeschichte, eine zu überwindende. Es ist mithin ein wildes, entdifferenzierendes, in der Tendenz regressives Denken, dem Benn, durch Cassirer, Freud, Nietzsche und andere angeregt, und also durchaus dem Geist der Zeit entsprechend, das Wort redet – selbstverständlich vor allem mit poetischen Mitteln.24 Denn was geschieht in den Rönne-Erzählungen anderes, als dass hier ein wissenschaftlich und rational ausgebildetes Ich, Wissenschaft und Rationalität hinter sich lässt, um stattdessen die assoziative Logik des Traums für sich zu entdecken, was geschieht damit anderes, als der assoziativen Logik des Traums, die Freud zuvor mit wissenschaftlichen Mitteln zu entschlüsseln versuchte, nun auf dem Wege der Literatur beizukommen? Das ist, wie die lange Geschichte literarischer Traumerzählungen belegt, so neu nicht, neu aber sind die Vorzeichen, unter denen die Semantisierung des Körpers nun geschieht. Das erste dieser Vorzeichen bringt ein Gedicht wie das Oskar Loerke gewidmete und dann auch eben so: Für Oskar Loerke zum 50. Geburtstage betitelte Gedicht zum Ausdruck; ich spreche von dem Versuch der Legitimation eines nicht regelgeleiteten, assoziativen, entdifferenzierenden Denkens: […] Doch wenn Du ganz versinkst, kommt Dir die Wende, Du schweigend weitertrinkst Wunden und Ende. Wenn Du dann ganz am Grund Der Höllenscharen, naht sich ein Geistermund, hallen Fanfaren.

23 Ders. ebd., S. 277.

24 Vgl. Riedel (2000), S. 479ff. sowie Lethen (2007), S. 50ff.

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Die poetische Erkundung der wirklichen Welt Dann über Einsamkeit, Spieler und Spötter, naht die Unsterblichkeit: Strophen und Götter.25

Es sind also epistemische Gründe, die es rechtfertigen sollen, ganz zu versinken – bis auf den Grund. Doch wer genauer hinsieht, bemerkt: ob hier etwas erkannt oder nur poetisch beschworen wird, ist nicht zu entscheiden. Eher dementiert schon die formale Differenziertheit, mit der hier lyrisch gesprochen wird, den Inhalt dieses Sprechens. Weder Gedichte wie das eben zitierte noch Gedichte, die programmatische Titel wie Stammhirn oder Regression tragen, sind selbst, was sie fordern: undifferenziertes, thalassales Denken. Es ist ihre poetisch-artistische Form, die verhindert, dass ein solch regressives Denken in der Dichtung nicht nur beschworen, sondern auch realisiert werden kann. Doch gibt es noch ein anderes Vorzeichen, unter dem sich bei Benn die Semantisierung des Körpers vollzieht, und das ist (in Das moderne Ich, in Nach dem Nihilismus, in Dorische Welt) die Einbettung dieser Semantisierung in eine psychohistorische Metaerzählung, an der ja auch Freud (im Mann Moses, im Unbehagen in der Kultur, in Totem und Tabu) interessiert war. Dabei gleichen sich die Diagnosen, die aus diesen anamnetischen Metaerzählungen zur Lage des menschlichen Geistes resultieren, auf eine frappierende Weise; denn sie lauten beide Male: Vergeistigung, progressive Zerebration, Verhirnung. Das Denken emanzipiert sich von der Welt, setzt sich an ihrer Statt, vergisst sie darüber schließlich und verwickelt sich in der Folge umso mehr in sich selbst, vor allem in seine eigenen Widersprüche. Aber das Vergessene bleibt bei Freud als kollektiv Unbewusstes, bei Benn als kollektive Verfassung des menschlichen Körpers gegenwärtig und kehrt als ein Verdrängtes wieder – darin liegt das Unheimliche des Bennschen in seiner Akademie-Rede geäußerten Satzes: „Die primitiven Völker erheben sich noch einmal in den späten.“26 Doch genau an dieser Stelle fördern die psychohistorischen Metaerzählungen Benns und Freuds etwas zutage, das sie schließlich über eine Semantisierung des Körpers hinaustreibt; eben weil nunmehr die Grenzen der Deutbarkeit offenbar werden und Benn wie Freud das Unzureichende ihrer jeweiligen Strategien, das Menschliche am Menschen zu verstehen, ich weiß nicht ob: erkennen, mit Sicherheit aber erahnen.

25 Benn (2003), Bd. I, S. 436f. 26 Benn (1987), Bd. III, S. 391.

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Psychoanalyse und Poesie im Gespräch über Geist und Gehirn IV. Gerade Benns Akademie-Rede widmet sich diesen Grenzen der Deutbarkeit da, wo sie für den Begriff und das Selbstverständnis des Menschen entscheidend werden: Gewiss, was da wiederkehren soll, wenn der Leib die Seele transzendiert, ist eine prälogische, mythische Erlebensweise, wir können, da der Nietzsche-Leser Benn das Rauschhafte eigens betont, auch sagen: das Dionysische. „Aber wir kommen“, so Benn dann weiter, „um die Frage nicht herum, was erleben wir denn nun in diesen Räuschen, was erhebt sich denn in dieser schöpferischen Lust, was gestaltet sich in ihrer Stunde, was erblickt sie, auf welche Sphinx blickt denn ihr erweitertes Gesicht? Und die Antwort kann nicht anders lauten, sie erblickt auch hier am Grunde nur Strömendes hin und her, eine Ambivalenz zwischen Bilden und Entformen, Stundengötter, die auflösen und gestalten, sie erblickt etwas Blindes, die Natur, erblickt das Nichts. Dies Nichts, das wir hinter allen Gestalten sehen, allen Wendungen der Geschichte, hinter Stein und Bein.“27 Von diesem Nichts behauptet Benn bekanntlich, es bringe sich nicht lediglich im Nihilismus, im Akt der Negation eines Positiven zum Ausdruck. Nicht die Negation einer transzendentalen Einheit nach Goethe, nicht die Entzauberung des Menschen durch Darwin, ja nicht einmal die Negation all dessen, was über den ökonomischen Nutzen hinausgeht, ist es, die das Nichts auszeichnen soll, sondern vielmehr das, was Benn die „formfordernde[ ] Gewalt des Nichts“ nennt und von der er sagt, sie sei als „Gesetz des Produktiven“ in das „Ursprünglichste der anthropologischen Substanz [eingebettet]“.28 Dieses nicht mehr nihilistische, sondern durchaus produktive Nichts gibt aber natürlich zu denken. Zunächst einfach deshalb, weil Benn immer wieder darauf stößt, bei seinem Versuch einer Deutung des Körperlichen – als Regression, als Todesverfallenheit des Körpers, als Unerklärbarkeit des Schöpferischen. Umso mehr zu denken gibt dieses schöpferische Nichts aber deshalb, weil auch Freuds Versuch einer Deutung der Psyche nach literarischen Maßstäben nicht umhin kann, es in Gestalt des Todestriebs die Bühne des Wirklichen und Wirkungsmächtigen betreten zu lassen, ja, es schließlich sogar in den Zellen des Körpers zu verorten.29 Doch das Nichts reicht auch bei Freud weit über die konkrete Bestimmbarkeit eines Negativen hinaus. Es verschafft sich Gehör in der Sprachlosigkeit des Unbewussten, das sich des Erlebnisraums des Bewusstseins auf manchmal groteske, manchmal ominöse Weise bedient. Es macht sich bemerkbar als zwischen Physis und Psyche klaffende Erklärungslücke in der psychoanalytischen Theorie und schließlich, nicht zu vergessen, im Scheitern der analytischen Kur. Freuds be27 Ders. ebd., S. 391f. 28 Ders. ebd.

29 Freud (1978), S. 193.

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Die poetische Erkundung der wirklichen Welt rühmte Bemerkung aus den Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse: „Die Symptome verschwinden, wenn man ihre unbewussten Vorbedingungen bewusst gemacht hat“30 ist – Gott sei’s geklagt – nur unter erheblichen Einschränkungen wahr. Es scheint an den Bedingtheiten des Menschen, erst recht an seiner Seele einiges zu geben, das sich entweder nicht verstehen oder selbst auf dem Wege des Verstehens nicht kurieren lässt. Anders gesagt, das Nichts, wie es zum Beispiel in der Negation des Urteils, im Nicht-Verstehen, im Misslingen, in der Zurückweisung des Anderen, in der Angst und nur unter anderem auch im Tod zum Vorschein kommt, bestimmt die Verfassung des Menschen als eine allgemeine, wenn man so will: philosophische. Doch die Literatur vermag ihr überdies eine besondere, an den sprachlichen Erlebnisraum des Bewusstseins gebundene Gestalt zu geben, und sie vermag dies offenbar besser als die an die Form des Allgemeinbegriffs gebundene Psychoanalyse. Denn sie muss nichts – auch nicht das Nichts – benennen. Sie muss es nur darstellen, zeigen und eben nicht: begreifen, was sich nicht begreifen lässt. Doch kann die Literatur das Nichts zeigen? Eigentlich nicht! Damit sie es aber dennoch zeigen kann, muss sie da nicht auf etwas zeigen? In der Tat, das muss sie, aber der Gegenstand, auf den da in der literarästhetischen Erfahrung gezeigt wird, ist nicht das Nichts, sondern, wenn man nicht davor zurückscheut, ihm einen philosophischen Namen zu geben, die Existenz. Existenz ist aber nur ein Name, eine Chiffre für die Lage des Menschen, der sich als Mensch in Bezug auf ein Nichts – des Nicht-Wissens, Nicht-Verstehens doch selbst wissen und verstehen muss. Literatur vermag diese durch das Nichts bestimmte und den Menschen als Menschen bestimmende Lage des Menschen als je und je einmalige und doch verallgemeinerbare im Raum eines inneren an die literarische Form gebunden Erlebens darzustellen – oder zu zeigen. Aber wie? Zum Beispiel so wie in Gottfried Benns Nur zwei Dinge31:

NUR ZWEI DINGE Durch so viel Formen geschritten, durch Ich und Wir und Du, doch alles blieb erlitten durch die ewige Frage: wozu?

30 Ders. (1977), S. 222. 31 Benn (1987), Bd. I, S. 320.

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Psychoanalyse und Poesie im Gespräch über Geist und Gehirn Das ist eine Kinderfrage. Dir wurde erst spät bewußt, es gibt nur eines: ertrage – ob Sinn, ob Sucht, ob Sage – dein fernbestimmtes: Du mußt. Ob Rosen, ob Schnee, ob Meere, was alles erblühte, verblich, es gibt nur zwei Dinge: die Leere und das gezeichnete Ich.

Dieses gezeichnete Ich ist ein besonderes Ich. Es steht am Ende eines Gedichts, eines lyrischen Redeprozesses, der ganz allgemein, ohne lyrisches Ich beginnt, in dem also zu Anfang nur irgendein unbestimmt Sprechendes da ist. Seine Entwicklung oder, um eher im Sinne Benns zu sprechen: Autopoiesis führt durch Formen, die sowohl grammatikalischer Natur als auch solche des Erlebens sind – ich spreche vom Ich, vom Wir und vom Du. An diesen Formen reflektiert sich das Sprechende, indem es im Prozess seiner Rede durch sie hindurch schreitet. Dabei macht es eine Erfahrung: nämlich die der Begrenzung seiner Autonomie im Bestimmtwerden oder Erleiden. Doch wodurch wird es da bestimmt, was ist der Grund des Erleidens? Ganz offenbar ein Bedürfnis nach Sinn, ein semantisches Bedürfnis also, das des Verstehens der eigenen Lage – „die ewige Frage: wozu?“ Sie nicht beantworten zu können, aber sie beantworten zu müssen, nötigt das Sprechende in der zweiten Strophe dazu, weiter zu sprechen und sich gegenüber einem Du als lyrisches Ich zu bestimmen. Seine Selbstbestimmung und Konkretisierung zum lyrischen Ich ist also das Ergebnis eines rhetorischen, vor allem aber semantischen Zwangs – der Sinngebung des Sinnlosen. Von diesem Zwang sich zu befreien, das ist das paradoxe Ergebnis der zweiten Strophe, heißt offenbar, sich ihm hinzugeben – das von Ferne bestimmende „Du mußt“ zu ertragen – nicht irgendwie zu ertragen und auch nicht als das ganz Andere zu ertragen, sondern so, als sei es ein als „Sinn“, als „Sucht“ oder „Sage“ doch dem Verstehen noch Zugängliches. Doch die letzte Strophe transzendiert sowohl das Determiniertsein durch den Sinnzwang der ersten als auch die Möglichkeit einer Wiedererlangung von Autonomie durch die schiere Zurückweisung des Zwangs und die Hinnahme des Nichtverstehens, wie ihn die zweite Strophe zum Vorschein bringt. In ihr gelangt etwas zum Vorschein, das diese Transgression erforderlich macht. Es ist wiederum das Gefühl eines Bestimmtseins oder Bestimmtwerdens, nun aber durch etwas, das ganz deutlich nicht mehr von dieser Welt, also nicht mehr von der Welt des deutenden und sich im Sein orientierenden Bewusstseins ist. Es ist dieses metaphysische, nur noch als 191

Die poetische Erkundung der wirklichen Welt Fraglichkeit der eigenen Bestimmtheit erfahrbare Bestimmtsein, das alles konkrete Physische und Irdische zu einem Zufälligen – „Ob Rosen, ob Schnee, ob Meere/“ – macht und es dabei entindividualisiert: es wird zu einem Beispiel für die allgemeine Wahrheit, dass alles, was entstanden ist, auch dazu bestimmt ist zu vergehen – „nach der Ordnung der Zeit“32 Als Konsequenz aus dieser für alles Seiende geltenden Notwendigkeit vollzieht sich am Schluss eine äußerste Reduktion auf nur ein Verhältnis, nämlich auf das ursprünglich menschliche Verhältnis eines im Allgemeinen aufscheinenden, als Leere sich konkretisierenden Nichts zu dem durch dieses Nichts gezeichneten Ich. Und es zeigt sich: Durch dieses Verhältnis ist der Mensch als Mensch determiniert; es ist die Situation, die ihn als Menschen und in der er sich als Mensch bestimmt. Seine Autonomie kann nur darin bestehen, sich zu diesem ihn bestimmenden Verhältnis zu verhalten – und zwar aus einem Grund heraus, den er nicht mehr einsehen, nicht mehr verstehen oder deuten – den er aber sehr wohl darstellen kann – wenn irgendwo, dann in der Kunst.

32 „Und was den seienden Dingen die Quelle des Entstehens ist, dahin erfolgt auch ihr Vergehen ,gemäß der Notwendigkeit; denn sie strafen und vergelten sich gegenseitig ihr Unrecht nach der Ordnung der Zeit,“, so der berühmte Satz des Anaximander in der Wiedergabe von Simplikios, zit. nach: Geoffrey S. Kirk/ John E. Raven/ Malcolm Schofield, Die vorsokratischen Philosophen. Einführung, Texte und Kommentare, übers. v. Karlheinz Hülser, Stuttgart 2001, S. 128.

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IST GEWALT ÄSTHETISCH GERECHTFERTIGT? DER (VORWEGGENOMMENE) EINWAND FRANZ KAFKAS GEGEN JORGE

LOUIS BORGES

Um sogleich mit einem Geständnis zu beginnen: Es gibt eine Erzählung von Jorge Luis Borges, die mir sehr am Herzen liegt. Es ist die Erzählung von Jaromir Hladik, einem zum Tode verurteilten jüdischen Autor. Dieser Hladik hat eines Nachts einen seltsamen Traum. Es träumt ihm nämlich, er sei in einer Schachpartie, die seit vielen Jahrhunderten zwischen verfeindeten Familien gespielt wird, einer der Spieler. Als jedoch wieder einmal der Termin zur Fortsetzung der Partie unerbittlich näher rückt, kann Jaromir, der Träumer, sich weder an die Bedeutung der Figuren noch an die Regeln des Schachspiels erinnern – er gerät in Panik und läuft ziellos „durch die Sanddünen einer regnerischen Einöde“1. Da erwacht er und hört „die gepanzerte Vorhut des Dritten Reichs“, es ist der 14 März 1939, „in Prag ein[rücken]“ (131). Als Hladik, unter anderem Autor „einer Untersuchung der indirekten jüdischen Quellen bei Jakob Böhme“(ebd.) ein zweites Mal erwacht, ist es das Erwachen aus einem Lebenstraum– oder aus dem Leben als Traum. Denn von nichts hatte er so sehr geträumt wie davon, eine Tragödie, er gibt ihr den vorläufigen Titel Die Feinde, zu beenden, ein Versdrama, mit dem Hladik, bislang als Autor nie übermäßig erfolgreich, über sich hinauswächst – es wird sein Lebenswerk sein. Doch der Jude Hladik wird denunziert, verhaftet, zum Tode verurteilt, grundlos natürlich, und erwacht, im Kerker auf das binnen einer Woche zu vollstreckende Todesurteil wartend, aus seinem Lebenstraum. Erst jetzt ist er ganz bei sich selbst, denn er weiß: Nicht nur sein Leben wird ihm alsbald genommen werden, sondern auch die Möglichkeit, es mit dem Abschluss seiner Tragödie zu vollenden, sich also, wie Borges schreibt, vor sich und Gott zu „rechtfertigen“ (135). Um dieses Werk zu vollenden, bräuchte er noch ein Jahr. Doch alles, was ihm bleibt, sind ein paar lächerliche

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Borges (1994), S. 131. Seitenangaben nachfolgend im Text.

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Die poetische Erkundung der wirklichen Welt Tage, dann wird man ihn erschießen. In seiner Not, der Termin der Urteilsvollstreckung rückt, ganz so wie im Traum die Schachpartie, unaufhaltsam näher, ruft er Gott an und bittet ihn – worum auch sonst? – um Aufschub. Doch der Tag seiner Hinrichtung ist gekommen. Man stellt Hladik vor die Kasernenwand. Schon äußert jemand die Besorgnis, die Wand hinter ihm könnte mit Hladiks Blut verunreinigt werden. Da befiehlt man ihm, ein paar Schritte nach vorne zu treten. Hladik gehorcht, tritt die befohlenen Schritte nach vorne und erwartet nun aus den auf ihn gerichteten Gewehrläufen die tödliche Salve. In diesem Augenblick bleibt das physische Universum stehen (vgl. 137). „Die Gewehre waren auf Hladik gerichtet, aber die Männer, die ihn töten sollten, waren unbeweglich“, so heißt es bei Borges. „Der Arm des Feldwebels verewigte eine unabgeschlossene Gebärde. Auf eine Fliese des Hofes warf eine Biene einen festen Schatten. […] Kein noch so schwacher Laut erreichte ihn mehr aus der gestauten Welt“ (ebd.) Von nun an war es still um Hladik, und es dauerte einen Tag, bis er begriff: alle Bewegung war nun nur noch die seines Denkens; Gott hatte seine Bitte erhört: „Ein volles Jahr hatte er von Gott erbeten, um sein Werk zu beenden: Ein Jahr gewährt ihm seine Allmacht“ (ebd.). Und obwohl er kein Dokumentationsmaterial zur Hand hat, nutzt er den Stillstand der Welt und arbeitet nunmehr unablässig an der Vollendung seines Werks – freilich „[…] nicht für die Nachwelt“, ja „nicht einmal für Gott, über dessen literarische Vorlieben er wenig wusste“ (138), sondern einzig um seiner selbst willen. Als sein Geist das letzte Wort gefunden, den letzen Vers vollendet hat, rollt ihm ein Wassertropfen die Wange herab. In diesem Augenblick trifft ihn die „vierfache Salve“, er stößt „einen verrückten Schrei aus“ und stirbt, „[…] am Morgen des 29. März, zwei Minuten nach 9 Uhr“ (138). Wie ist es möglich, dass einem Leser gerade diese Erzählung so sehr ans Herz wächst? Ist es nicht grauenhaft, was da erzählt wird: die Hinrichtung eines Unschuldigen, die Vollendung eines Kunstwerks, das niemand jemals wird zur Kenntnis nehmen können, weil es so fest an das Leben seines Schöpfers gebunden ist, dass es mit diesem vergeht? Nun, und das muss an dieser Stelle gesagt werden, hat bekanntlich Stéphane Mosès diese Erzählung als Ausdruck einer ungeheuren Hoffnung gedeutet. Denn sie erzählt ja von einer Vollendung, die nicht am Ende der Zeit geschieht, sondern mitten in der Zeit.2 Die physische Zeit wird angehalten, um in der Zeit des Erlebens, der psychischen Zeit, zu vollenden, was in der physischen Zeit sich nicht vollendenden lässt. Es ist das Verständnis einer Zeit, die nicht als unabänderlicher Ablauf von Gegenwart, als reine Suk-

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Vgl. hierzu und zum Folgenden: Mosès (1994), S. 7-24.

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Ist Gewalt ästhetisch gerechtfertigt? zession aufgefasst wird, sondern als Zeit, in der Vollkommenheit, Utopie sich nicht am Ende der Zeit, sondern bereits in der Zeit ereignet – als tatsächlich erfüllter Augenblick. Es ist der Glaube an die Möglichkeit dieses erfüllten Augenblickes, den (Stéphane Mosès weist in seinem Buch Der Engel der Geschichte ausdrücklich darauf hin) auch Rosenzweig, Benjamin und Scholem geteilt haben, der zugleich der Grund dafür ist, dass mir diese Erzählung so am Herzen liegt. Es ist die ungeheure, mag sein, sonst überhaupt nur mit der Erfahrung der Liebe einhergehende Hoffnung auf die Gegenwart des Utopischen, Vollkommenen – dadurch, dass Zeit in der Zeit angehalten und transzendiert werden kann. Doch ist dies, genau besehen, selbst auch nur eine utopische, von der Hoffnung getragene Lesart dieser Erzählung. Denn diese Hoffnung schwindet, sobald man die Gewaltverhältnisse bedenkt, sobald man also bedenkt, dass Gewalt hier als gerechtfertigte Gewalt erscheint. Wie kann das sein? Hladik ist doch offenbar das unschuldige Opfer blinder Justizgewalt! – Gewiss, doch ist die Darstellung der Rechtsgewalt als Unrechtsgewalt für Borges nur der Anlass, um über Gewalt in ganz anderer Hinsicht nachzudenken – nämlich (zunächst) im Hinblick darauf, dass sie als Mittel zu gerechtfertigten Zwecken nicht nur im Rahmen des Rechts – oder Unrechts, sondern eben auch in dem der Kunst gebraucht werden kann. Dieser Gebrauch der Gewalt, nicht nur im Recht, sondern eben auch in der Kunst, in ästhetischen Zusammenhängen ist nicht ganz so nahe liegend. Denn es gibt, wie man weiß, eine lange, von Kant zu Schiller, Freud und Gadamer reichende Tradition, die den Bereich der Kunst gerade als einen gewaltfreien, Freiheitsgrade vergrößernden, eben, das ist das kantische Wort dafür: zweckfreien Bereich betrachtet. Dagegen erhebt Borges in dieser Erzählung, sie trägt den Titel Das Geheime Wunder, Einspruch. Gewalt ist hier ein Mittel der Kunst und, wichtiger noch, sie ist eine Bedingung der Kunst. Als Mittel ist sie hier, wie sonst in der Kunstgeschichte (fast) allgegenwärtig – nämlich als Inhalt der Kunst, als dasjenige, wovon Kunst handelt – etwa von der Verhaftung und Ermordung Jaromir Hladiks. Aber das ist nur, und ich betone dieses nur, ein Beispiel dafür, dass Gewalt als Inhalt der Kunst den Effekt der Kunst, ihre Gewalt, von der sogleich noch genauer zu reden sein wird, intensiviert. Interessanter ist hier aber der Umstand, dass Gewalt – und dies beeinträchtigt das utopische Potential dieser Erzählung erheblich – als Bedingung der Produktion von Kunst erscheint. Zunächst dadurch, dass Verhaftung und Todesdrohung in Hladik die äußerste Konzentration auf den Wunsch herbeiführen, sein Lebenswerk zu

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Die poetische Erkundung der wirklichen Welt beenden. Sodann aber dadurch, dass dem Lauf der Dinge selbst Gewalt angetan und er außer Kraft gesetzt wird, um die Voraussetzungen zur Vollendung der Kunst im erfüllten, aus der Zeit heraus gefallenen Augenblick zu schaffen. Im erfüllten Augenblick, der im Falle Jaromir Hladiks freilich ein Jahr dauert, erfährt die Gewalt so ihre ästhetische Rechtfertigung. Sie dient als Mittel zu ästhetisch gerechtfertigten Zwecken – und das sind, natürlich, nicht schon die Zwecke des wirklichen Lebens, wohl aber solche der Kunst. Doch, dass Gewalt sich ästhetisch rechtfertigen lasse, diese ungeheure Hoffnung, der Borges hier Ausdruck verleiht, reicht dann doch über den Bereich der Kunst hinaus: Jeder, der sich oder anderen um des erfüllten Augenblicks, sagen wir lapidarer: um seines Lebensglücks willen Gewalt antut, vertraut genau darauf: die gelingende Gestalt seines Lebens(werks) möge das Unglück der anderen rechtfertigen. Und auch hier gibt die Kunst bekanntlich das Modell vor: Wer zum Augenblicke sagen will, „Verweile doch, du bist so schön“3, muss eben mit dem Teufel paktieren. Das mag, keine Frage, ethisch nicht zu rechtfertigen sein – ist es aber ästhetisch. Auch die Gestalt des guten Lebens stellt Ansprüche an das Leben, auch die Form also fordert. Denn noch weniger als das, was für alle gelten soll, nennen wir es das Ethische, ein Maß ist, an dem ein Leben sich messen lässt, ist es ein Maß der Kunst.4 Doch jenseits der Gewalt, die man versuchen kann durch die Form des gelungenen Lebens oder der vollendeten Kunst zu legitimieren, gibt es eine Gewalt, die unser Denken weitaus mehr herausfordert, weil sie uns noch entschiedener dazu auffordert, die gewohnten, an die Vorstellung von Zweck und Mittel gebundenen Bahnen unseres Nachdenkens über Gewalt zu durchbrechen, ich spreche von der reinen Gewalt.5 Diese reine Gewalt fordert das Denken deshalb so sehr heraus, weil sie kein Mittel zu gerechtfertigten oder ungerechtfertigten Zwecken, ja nicht einmal ein Selbstzweck ist, sondern einfach geschieht. Sie ist einfach da, sie ereignet sich, unablässig und unerbittlich, ohne dass man sagen könnte, warum sie geschieht. Und sie geschieht auch, wenn plötzlich und unverhofft der Lauf des physischen Universums angehalten wird. Zwar sieht es, ich habe diesen Gedanken stark gemacht, so aus, als geschehe hier Gewalt zu ästhetischen, letztlich utopischen Zwe3 4

5

Vgl. Faust I, Vers 1699ff. Diesen Umstand kann man philosophisch als notwendigen Schuldzusammenhang, dem kein Leben entrinnen kann, beschreiben oder eben wie die christliche Theologie als Erbsünde. Benjamin nennt diese reine Gewalt am Ende seines Essays Zur Kritik der Gewalt auch „göttliche Gewalt“ (vgl. ders. 1977, S. 196-203). Doch möchte ich sie so nicht nennen, denn dass es sie gibt, ist vielleicht das stärkste Argument dafür, dass der Atheismus für sich verbuchen kann.

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Ist Gewalt ästhetisch gerechtfertigt? cken. Doch ist der Gedanke, der Lauf des Universums werde angehalten, um der Vollendung eines vereinzelten Kunst- oder Lebenswerks willen, nicht geradezu ein lächerlicher? Ist die Gewalt hier nicht so groß, dass vor dem Erscheinen ihrer Größe das Werk Jaromir Hladiks völlig bedeutungslos, nichtssagend wird? – Das aber eben zeigt: Gewalt tritt hier bei Borges nicht nur als Mittel zu ästhetischen Zwecken auf, sondern eben darüber hinaus auch als reine Gewalt. Die Gestalt dieser reinen Gewalt findet ihren Ausdruck in dem Gedanken, im Angesicht des Todes werde der Lauf der Dinge angehalten. Denn darin, in diesem Gedanken, liegt ja ein ungeheures Skandalon: dass genau dies nämlich niemals geschieht, nicht einmal dann, wenn es (und die Weltgeschichte verzeichnet nicht wenige dieser Augenblicke) unbedingt nötig wäre. Das Skandalon ist gerade, dass die Zeit trotzdem fortschreitet, unerbittlich, grundlos, gewaltig und uns dabei mit sich reißt, jeden von uns am Ende einfach umbringt – ganz gleich, ob er vollendet hat, was er vollenden wollte; die gute Gestalt des gelingenden Lebens ist eben gerade nichts, worum sich die Zeit bekümmert. Darin eben zeigt sich die Abhängigkeit des reinen wie des erfüllten Lebens von der reinen Gewalt, die die Zeit an ihm verübt. Das Unglaubliche dieser Erzählung ist dabei, dass mit erzählerischen, also poetsichen Mitteln einer Durchbrechung der reinen Gewalt der Zeit das Wort geredet wird. Was außerhalb des erzählerischen Kontexts unplausibel, unglaubwürdig ist – in der Kunst erscheint es möglich, dies, dass auch noch der reinen Gewalt (der Zeit) Gewalt angetan wird, durch die Kunst, um genau zu sein: durch die Kunst des Erzählens. Wenn aber die Kunst die Gewaltverhältnisse des Lebens außer Kraft setzen kann – welch höhere Rechtfertigung der Kunst ließe sich denken? Und, ich habe es angedeutet, es ist dieser romantisierende Ästhetizismus, den ich zwar, anders als Borges und Stéphane Mosès, nicht teilen kann, ohne den ich aber, ich gebe es unumwunden zu, doch nicht leben möchte. Nun wirft Das Geheimes Wunder aber eine für den Zusammenhang von Kunst und Gewalt, ja für unser Verständnis von Gewalt noch viel entscheidendere Frage auf, und zwar eine philosophisch längst in Misskredit geratene und daher (meiner festen Überzeugung nach) um so dringender philologisch zu beantwortende Frage, nämlich die nach dem Wesen der Gewalt, also nach dem Gewalttätigen der Gewalt – und dem Verhältnis der Kunst zu diesem Gewalttätigen der Gewalt. Dabei fällt auf, dass Gewalt hier in der Kunst zwar immer noch als etwas verstanden wird, das Menschen von anderen Menschen zugefügt wird, doch als reine Gewalt eben mehr und anderes

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Die poetische Erkundung der wirklichen Welt ist als eine Eigenschaft des menschlichen Handlungszusammenhangs. Deshalb ist ihr in sozialen, rechtlichen, psychologischen Zusammenhängen niemals ganz gerecht zu werden; und deshalb spricht man auch nicht nur von Rechtsgewalt, staatlicher oder seelischer Gewalt, sondern eben auch von Naturgewalt. Wenn aber Gewalt zuletzt in all diesen Verhältnissen gegenwärtig ist, sei es als reine Gewalt, sei es als an Zweck-Mittel-Zusammenhänge gebundene Gewalt, was macht sie dann zur Gewalt? Zunächst einmal: Gewalt ist eine Erscheinungsform des Wirklichen. Es gibt Gewalt nicht an sich, sondern es gibt sie nur für einen Beobachter, der sie als Gewalt erfährt – sei dieser Beobachter nun Täter, Opfer oder weder das eine noch das andere, sondern nur ein unbeteiligter Beobachter.6 Gewalt ist daher sowohl eine Sache der Wahrnehmung, der Aisthesis als auch eine Sache der Deutung des Wahrgenommenen und, insofern sie beides ist, immer auch eine Sache der Ästhetik. Ich will eine Definition versuchen: Gewalt ausüben heißt, einen Anderen (in der Regel einen Menschen) etwas erleiden oder tun zu lassen, das dieser Andere von sich aus nicht tun oder erleiden will – ihn dabei aber nicht nur etwas erleiden, sondern eben zugleich leiden zu lassen (physisch oder psychisch). Wichtig dabei ist zweierlei: Zunächst, dass es sich dabei um ein Geschehen handelt, bei dem etwas gegen die Bereitschaft, im Falle von Menschen: gegen den Willen derjenigen geschieht, denen sie geschieht, denn sonst wäre jedes zugefügte Leiden – auch das im Verlaufe einer medizinischen Behandlung – das Erleiden einer Gewalt. Sodann aber wird dadurch, dass in Gewaltzusammenhängen etwas gegen den Willen, gegen die Bereitschaft desjenigen, der ihr ausgesetzt ist, geschieht und dieses Geschehen ein Leiden hervorruft, etwas geschaffen: nämlich ein Opfer – und mit dem Opfer noch etwas anderes: nämlich ein Täter. Ein ästhetischer Begriff ist dieser Begriff der Gewalt dadurch, dass dieses Geschehen in und gemäß seinem Zur-ErscheinungKommen gedeutet werden muss. Erst danach, erst nach dieser Interpretation eines Geschehens als Gewaltgeschehen tritt das Phänomen der Gewalt in den Horizont der Rechtfertigung, und das heißt in den Mittel-Zweckzusammenhang des Ethischen. Dieser ästhetische Begriff der Gewalt ist – wenn ich recht sehe – umfassend. Denn ihm zufolge erleiden nicht nur Menschen, die Intentionen haben, sondern auch Tiere, die eigenes Erleben annehmen oder ablehnen können, Gewalt. Und sogar Dinge haben eine

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Vgl. zu dieser Trias von Täter oder Opfer und Beobachter: Keppler (1997), S. 380.

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Ist Gewalt ästhetisch gerechtfertigt? Bereitschaft dazu, Veränderungen ihres Zustands anzunehmen oder zu verhindern, sie können also etwas erleiden und so zum Opfer von Fremdeinwirkungen werden; allein, um ihnen ein Leiden zuzusprechen fehlt uns (wer weiß, wie lange noch) der Begriff. Doch gibt es etwas, das auch ein solcher Begriff der Gewalt noch nicht umfasst, nämlich das Moment der Macht. Nicht nur, dass der Andere keine Bereitschaft hat, das zu erleiden, was er erleidet. Auf seine Bereitschaft kommt es bei Ausübung der Gewalt zuletzt gar nicht mehr an. Opfer ist man genau dadurch, dass die eigenen Wünsche und Handlungsabsichten keinen Schutz mehr bieten vor der Ausübung der Gewalt. Und noch etwas kommt hinzu, beim Begriff – oder Deutungshorizont der Gewalt (und man sieht bereits jetzt, welch gehaltvolle Interpretationsleistung sich hinter dem Wort Gewalt verbirgt). Dieses, das da noch hinzutritt, ist eine der Ausübung jener Macht innewohnende Tendenz, den Willen und den Widerstand des Anderen, des Opfers zu brechen – und es so letztlich, da es nur im Widerstehen ein Opfer ist, noch als Opfer zum Verschwinden zu bringen. Alle Gewalt zielt daher zuletzt auf die völlige Auslöschung, auf die Tötung des Opfers, und zwar unabhängig davon (es ist ja ein Deutungsgeschehen), ob sie dieses Ziel tatsächlich erreicht. Rein wird die Ausübung der Gewalt aber erst dadurch, dass es nichts gibt, wodurch sie gerechtfertigt wäre. Nicht der Vollzug des Todesurteils an Jaromir Hladik ist ihr Zeichen, sondern der Umstand, dass Todesurteile den Mittel-Zweck-Zusammenhang durchbrechen – weder als letzte Zwecke, noch als Mittel zur gerechtfertigten Zwecken sind sie plausibel zu rechtfertigen. Das macht die Vollstreckung des Todesurteils zum Mord – und zwar genau so lange, als er in einer anderen Rechtsordnung geahndet werden kann. Wo dies wie Falle Jaromir Hladiks nicht möglich ist, denn es handelt sich hier ja um eine Kunstfigur, wird nur umso deutlicher, was die Deutung als Justizmord am Todesurteil sonst meist verbirgt – dies nämlich, dass sich im Todesurteil nichts anderes ausdrückt als die reine, willkürliche Gewalt, die nur vortäuscht, gerechtfertigte Gewalt zu sein. Doch ganz und gar rein ist Gewalt erst da, wo sie als Zeichen äußerster Macht sich um Gründe erst gar nicht mehr bekümmern muss, es nicht einmal nötig hat, sie vorzutäuschen, wie eben im Falle des Mordes, dessen Opfer wir alle werden, und den zuletzt die Zeit an uns verübt. Diese der reinen Gewalt innewohnende, schier unbeschränkte – gottgleiche – Macht verändert die Gewalt selbst, macht aus der Gewalt ein Faszinosum. Die Kunst, auch die Kunst erliegt diesem Faszinosum, diesem delightful horror der Gewalt.

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Die poetische Erkundung der wirklichen Welt Doch weshalb? Wer hier weiterdenken möchte, muss sich darüber klar werden, in welchen Hinsichten Gewalt in der Kunst als Gewalt erscheint. Ich unterscheide drei dieser Hinsichten oder Perspektiven: 1) Die erste Perspektive ist die schon angesprochene inhaltliche. Gewalt ist (explizit) Inhalt oder Gegenstand der Kunst. Das sieht man schon daran, dass Kunst seit ihren Anfängen Gewalt-Bilder, also Bilder von Gewaltakten produziert. Bereits ein oberflächlicher Blick auf die Gewaltbildkultur der christlichen Kunstgeschichte führt dies sehr deutlich vor Augen und macht dann den Blick frei auf ein weitaus älteres Medium der Gewaltdarstellung, nämlich die Plastik der griechischen Antike und, nicht zu vergessen, die griechische Tragödie. Gewalt ist also von je her Gegenstand oder Inhalt der Kunst, einer unter vielen Inhalten und Gegenständen der Kunst. Und das ist sie ganz offenbar, weil physische Gewalt (in der westlichen Kultur) zu früheren Zeiten sehr viel verbreiteter war als heute, wo das Rechtssystem einen beträchtlichen Teil dieser Gewalt absorbiert. Zu diesem Inhalt, zu dem Sachverhalt, dass es Gewalt gibt, in der Welt, und dass Gewalt in der Kunst dargestellt wird, verhält sich die Kunst – einfach dadurch, dass sie sie auf diese oder jene affirmative oder kritische Weise darstellt. Während aber im terroristischen Anschlag oder in der Gewaltpornographie Gewalt getan wird, um gezeigt zu werden, letztlich um durch das Zeigen Macht zu instaurieren, wird offenbar in der Kunst Gewalt als Inhalt gezeigt, nicht um getan, sondern um gezeigt und vor allem, um als Phänomen erkannt und verstanden zu werden. Es hat also den Anschein, als arbeite Kunst, einfach weil sie bei Gewaltakten zu genauerem und schonungsloserem Hinsehen nötigt, an der Überwindung der Gewalt – und sei selbst, als Kunst, ein Medium der Gewaltlosigkeit.7 2) Aber bereits die griechische Tragödientheorie des Aristoteles wusste darum, dass mit Gewalt im Zusammenhang der Kunst nicht nur der Inhalt oder der Gegenstand ästhetischer Darstellung auf dem Spiel steht, sondern auch die Wirkung der Kunst selbst. Die Tragödie begreift Aristoteles daher bekanntlich als eine Nachahmung von Handlungen, die Eleos und Phobos, Jammer und Schaudern beim Publikum hervorrufen und hierdurch gerade eine Reinigung von derartigen – im allgemeinen durch Gewalteinwirkung provozierten Erregungszuständen bewirken. Gewalt ist hier nicht allein Inhalt, sondern auch ein Teil der ästhetischen Wirkung – in reinigender Absicht, also zum Zwecke der Sublimierung von realer Gewalt. Und diese läuternde Wirkung der Kunst nehmen bekanntlich

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So Martin Seel in ders. (2003), S. 316.

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Ist Gewalt ästhetisch gerechtfertigt? auch noch Lessing, der das Aristotelische Eleos durch das Mitleid ersetzt, und natürlich Brechts episches, die Bedingungen von Gewaltverhältnissen analysierendes Theater in Anspruch. 3.) Die Wirkung des Inhalts ist nun aber, zumal in der Kunst, ganz offenbar von der Art seiner Darstellung abhängig. Es macht eben einen Unterschied, ob Gewalt als reale Gewalt (wie in Kriegsfilmen), als erhabene Gewalt eines meist männlichen Helden (wie John Wayne oder Bruce Willis) oder als fiktionale, spielerische Gewalt (wie in James-Bond-Filmen) dargestellt wird. Die Art der Darstellung von Gewalt bestimmt ganz offenbar die Wirkung auf das Publikum. Das Problem ist nur, dass gerade die Darstellung von Gewalt schwer vorhersehbare Wirkungen hat. Diese Erfahrung machten schon Mendelssohn, Nicolai und Lessing in ihrem Briefwechsel über das Trauerspiel: Die Darstellung mitleidiger Personen auf der Bühne bewirkt nicht unbedingt eine mitleidige Reaktion des Publikums. Was gezeigt wird, ist nicht auch schon das, was bewirkt wird – gerade im Falle von Gewalt.8 Die Folgen der Gewaltdarstellung sind nicht, wie Hollywood zeigt, unkalkulierbar, aber sie sind, weil sie von der Art der Darstellung abhängen – und eben Kunst mit Darstellungsformen immerzu experimentiert, schwer berechenbar. Und diese Schwierigkeit nimmt noch zu, wenn man in Rechnung stellt, dass Kunst selbst eine Affinität zur Gewalt, ich muss genauer werden und sagen: zu reinen Gewalt hat. Und eben diese Affinität möchte ich nun noch etwas genauer bedenken. Zunächst gilt es dabei freilich den Irrtum zu beseitigen, dass Kunst, weil sie sich im Medium der Darstellung ereignet, weil sie sich – bloß – im Medium der Repräsentation ereignet, nur metaphorisch Gewalt ausüben könne.9 Diesem Irrtum unterliegt besonders leicht, wer Gewalt für ein rein physisches – und eben interpretationsunabhängiges, letztlich unbegriffliches Geschehen hält, eine, wie erst kürzlich wieder der so genannte Karikaturenstreit gezeigt hat, gefährliche Fehleinschätzung eines eurozentrischen Denkens. Ihm zufolge ist, wenn ich mich so verkürzt ausdrücken darf, das Sein und die Wirklichkeit das Eine, das Denken und Darstellen aber das Andere, von der Wirklichkeit Unterschiedene. Der springende Punkt dabei ist: Für wen immer das gelten mag, für den Menschen gilt es nicht. Denn Menschen müssen sowohl die Welt, in der sie leben, als auch das eigene Selbst und natürlich ihr eigenes Leben darstellen und repräsentieren, um sich in der Welt, im Leben zurechtzufinden. Und, mehr noch, Menschen müssen sich dazu auch noch auf bestimmte Darstellungen ihres Selbst sowie der Welt,

8 9

Vgl. Lessing (1973), S. 153-228. So etwa Seel (2003), S. 302.

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Die poetische Erkundung der wirklichen Welt in der sie leben, verpflichten. Sie müssen also die Welt und das eigene Selbst betreffende Überzeugungen ausbilden – vor allem auch, um dem Geschehen in der Welt da draußen und natürlich im eigenen Innern nicht auf Dauer fremd zu bleiben. Nicht auf alle diese Überzeugungen muss man sich so sehr verpflichten, dass sie wichtiger werden als das eigene Selbst oder gar das eigene Leben, man mag sogar für keine dieser Überzeugungen bereit sein, einen Helden- oder Märtyrertod zu sterben; doch Überzeugungen sind, was sie sind, nur, weil man sich auf sie, und das heißt zuletzt: auf Darstellungen oder Repräsentationen des Wirklichen verpflichtet. Diesen Selbst- und Weltbildern nun, mit denen sich Menschen in ihren Überzeugungen verbinden (müssen), kann man Gewalt antun, nicht nur, indem man sie diffamiert oder verleumdet, sondern allein schon, indem man sie kritisiert, in Frage stellt, sie mit alternativen Versionen des Wirklichen konfrontiert – also genau das tut, was Kunst immer schon, gewissermaßen sui generis tut, und zwar gerade auch (allein deshalb kann hier von buchstäblicher Gewalt gesprochen werden) gegen den Willen derer, denen sie ihre repräsentationale Gewalt antut. Das ist das eine, meist verdrängte Gewaltpotential der Kunst. Doch gibt es im Rahmen der Kunst auch noch jene reine, von Zwecken und Mitteln befreite Gewalt, wie ihr jener Forschungsreisende, es ist einer der Unseren, einer der frühen Kulturwissenschaftler des letzten Jahrhunderts, in Franz Kafkas Strafkolonie begegnet.10 Seit langer Zeit herrscht in der Strafkolonie die reine Gewalt in Gestalt eines „eigentümliche[n] Apparat[es]“ (113), auf den die zum Tode Verurteilten gebunden werden. Auf dem Bauch liegend, den Kopf gefesselt, einen Filzstumpf im Mund, der ihre Schreie erstickt, können sie nicht sehen, was mit ihnen geschieht. Nicht wissend, dass und warum sie verurteilt wurden, können sie nur spüren, dass Nadeln in ihre Körper eindringen und ihnen qualvolle zwölf Stunden lang das Gebot, das sie jeweils übertreten haben sollen, in ihre Körper schreiben. Nicht um die Verurteilten zu läutern. Denn sie sind erst kurz bevor der Tod eintritt in der Lage, jene Schrift zu entziffern – nicht mit den Augen, sondern eben mit den Schmerzen, die sie erleiden, ehe ihnen dann der Tötungsapparat seinen gewaltigen Stachel durch die Stirn jagt, sie zur Gänze aufspießt und in die vor ihnen befindliche Grube wirft; dort verscharrt man sie dann. Als der Forschungsreisende zu einer dieser grundlos und unerbittlich wie das Schicksal sich vollziehenden Hinrichtungen geladen wird, er weiß nicht: warum, versucht ihn der zuständige Offizier, er ist zugleich Richter und Vollstrecker des Urteils, für seine

10 In der Strafkolonie, Kafka (1976). Die folgenden Seitenangaben im Text entsprechen dieser Ausgabe.

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Ist Gewalt ästhetisch gerechtfertigt? Sache – es ist die der Grausamkeit – zu gewinnen. Denn waren diese Hinrichtungen einst Feste und der Offizier in Gestalt des Scharfrichters ihr Zeremonienmeister, so hat sich mittlerweile der Zeitgeist gewandelt. Gewisse, wie es heißt, „europäische[ ] Anschauungen“ (127) haben sich in der Kolonie ausgebreitet. Die Hinrichtungen sind nur noch schlecht besucht, und es sieht nun ganz danach aus, als würde nunmehr nicht allein der neue Kommandant der Kolonie diesen raffinierten maschinellen Vollzug der reinen Gewalt und ihre Erscheinungsform: die Grausamkeit unterbinden wollen. Also bittet der Offizier den Forschungsreisenden um seine – und also uns um unsere Mithilfe im Kampf gegen jene aufgeklärt europäischen, vom Vermögen des Mitleids geprägten Anschauungen. Worum wir und der Forschungsreisende mit uns gebeten, ja, mehr noch angefleht werden, von Kafkas Offizier, ist nicht weniger, als dass wir uns hinreißen lassen vom Faszinosum der reinen Gewalt. Wir sollen konvertieren zur Religion der reinen Gewalt, so dass auch wir hinfort zusammen mit jenem Offizier der Strafkolonie nur noch einen anbeten, nämlich jenen früheren, mittlerweile verstorbenen ehemaligen Kommandanten dieser Kolonie, den Erfinder jenes eigentümlichen Tötungsapparates. Doch so wenig, wie wir daran denken, diesem Faszinosum zu erliegen, denkt auch der nunmehr zum Gutachter bestellte Forschungsreisende daran, die Sache der reinen Gewalt zu seiner Sache zu machen. Im Gegenteil, es scheint gewiss, dass er beschließt, was wir auch beschließen würden, dies nämlich, alles daran zu setzen, der reinen Gewalt ein Ende zu bereiten, und das heißt, den letzten Vertreter ihrer reinen Religion und päpstlichen Nachfolger des ehemaligen Kommandanten (von dem es heißt, er werde eines Tages wieder von den Toten auferstehen) seines Amtes zu berauben. – Als der Offizier merkt, dass die Faszination der Grausamkeit nicht reicht, um den Reisenden zum Fürsprecher seiner Sache zu machen, passiert, was passieren muss: er befiehlt dem Soldaten, neben ihm selbst und dem Forschungsreisenden der einzige Zeuge der soeben begonnenen Hinrichtung, den bereits auf die Apparatur gefesselten Verurteilten wieder zu befreien, um sich an seiner Statt zu Tode martern zu lassen. Und so ermordet ihn der Apparat, schnell, aber qualvoll, indem er ihm die Worte: „Sei gerecht!“ (398) in den Körper schreibt – denn eben so lautet das Gebot, das die reine Gewalt beständig übertritt. Doch indem sie ihren letzten Zeremonienmeister richtet, richtet sie sich in der Gestalt ihres letzten verbliebenen Werkzeugs – jenes eigentümlichen Apparates – auch gegen sich selbst. Der Tötungsapparat vollzieht bei der Vollstreckung seines letzten Urteils nicht nur das Urteil der Gewalt über ihren letzten Statthalter, sondern auch an ihrem Tötungswerkzeug, das während es den Offizier ermordet, selbst in tausend Teile zerfällt. Die Gewalt ist hier mit nichts anderem mehr, sondern

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Die poetische Erkundung der wirklichen Welt nur noch mit sich selbst beschäftigt. Sie tut sich selbst Gewalt an, sie vernichtet nicht nur ihre Gläubigen, sondern auch noch sich selbst. Gut, so möchte man, den Blick auf das Ende von Kafkas Erzählung gerichtet, sagen: Keinen Ort hat nun die Grausamkeit mehr, nicht einmal mehr in der Strafkolonie! Erleichtert machen wir uns daher zusammen mit dem Forschungsreisenden – er hat, wie wir, genug gesehen – auf den Weg zum Hafen, wo wir an seiner Seite ein Boot besteigen, das uns nach draußen, ins offene Meer bringen soll; dort, so heißt es, wartet ein Dampfer auf uns, der uns fortbringen wird – wohin auch immer. Schon im Boot sitzend, das unser Schiffer gerade vom Ufer löst, bemerken wir mit einem Mal jene beiden, die wir zurückgelassen haben und die alles daran setzten, noch in unser Boot zu gelangen: den soeben gerade noch dem Tode entronnenen Verurteilten und, an seiner Seite, den Soldaten. Und da schreibt Kafka, es ist der letzte Satz dieser Erzählung: „Sie hätten noch ins Boot springen können, aber der Reisende hob ein schweres geknotetes Tau vom Boden, drohte ihnen damit und hielt sie dadurch vom Sprunge ab“ (139). Das ist das Ende der Erzählung. Aber nicht das Ende der Gewalt. Natürlich nicht. Sie hat hier nur eine neue Gestalt angenommen, die des Ignoramus et ignoramibus. Denn der Forschungsreisende überlässt diejenigen, die er zurücklässt, ihrem ungewissen Schicksal, von nun an – und, da die Erzählung zu Ende ist, für immer. Dieses Nicht-Wissen und Nicht-wissenWollen, die Ignoranz gegenüber dem Schicksal des Anderen ist freilich die äußerste Form der Gewalt, derer sich Forschungsreisende schuldig machen können. Und man sieht, anders als bei Borges, erlaubt die Gewalt hier kein Entrinnen mehr, auch nicht im ästhetisch erfüllten Augenblick. Nicht einmal ein solcher Augenblick vermag sie noch zu rechtfertigen. So gibt es auch nichts mehr, das durch sie gerechtfertigt wäre. Als Inhalt einer Erzählung, die von kaum etwas anderem handelt als von Gewalt, dient Gewalt hier bei Kafka nur noch der Erkenntnis, dass Gewalt hier vor allem eines, nämlich allgegenwärtig – und dabei auch noch sich selbst genug ist. Denn wenn es hier etwas nicht mehr gibt: dann einen Grund zur Hoffnung darauf, dass es (wovon Stéphane Mosès, Borges, Benjamin und Rosenzweig geträumt hatten und auch wir, sind wir ehrlich, nicht aufhören wollen zu träumen) jemals anders sein könnte. Das Apodiktische dieses Skeptizismus hat Kafka längst zum Klassiker werden lassen. Denn die Gewalt seines erzählerischen Urteils lässt uns aus einem verhängnisvollen Traum erwachen, dem von einem Ort der Gewaltlosigkeit – und sei es in der Kunst. Es gibt kein gewaltloses Leben im gewaltsamen, gewalttätigen, schon gar

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Ist Gewalt ästhetisch gerechtfertigt? nicht, wenn Gewalt (auch) ein Phänomen der Darstellung, soll heißen: wenn sie ein ästhetisches Phänomen ist. Doch wenn die Einsicht in die Unvermeidbarkeit der Gewalt sich ertragen lässt, dann vielleicht nur hier, nur dort also, wo sie, wie in der Kunst oder der Kunst- und Kulturwissenschaft, dargestellte und repräsentierte Gewalt ist. Das heißt nicht, dass sie als dargestellte Gewalt keine Gewalt mehr wäre – man kann auch mit Worten Gewalt ausüben; es heißt auch nicht, dass Gewalt, um der Kunst oder um des Lebens willen zu rechtfertigen wäre (das bedeutete einen Rückfall in den Borgesschen Ästhetizismus), es heißt nur, dass, weil es überall Gewalt gibt, und sei es als reine Gewalt, es in der Kunst wie der Kunstwissenschaft nach Kafkas vorweggenommenen Einspruch gegen Borges nur eines geben kann, nämlich das unbedingte und bedingungslose Hinschauen, und das ist zuletzt nicht ethisch, nicht in der Überwindung der Gewalt, sondern nur epistemisch zu rechtfertigen – im Erkennen und Anerkennen dessen, was ist, sagen wir: des Unvermeidlichen. Was die Kunst dabei lehrt, ist zweierlei: Zunächst, dass diese schonungslose Aufmerksamkeit selbst kein gewaltloses Tun ist – weder gegenüber dem Gegenstand der Betrachtung noch gegenüber dem Betrachter, der gezwungen ist, das eigene Selbst- und Weltverständnis (radikal) in Frage – und sich damit zuletzt selbst zur Disposition zu stellen. Dann aber lehrt die Kunst dabei noch etwas, dies nämlich, dass sie selbst Gewalt nicht unbedingt um irgendwelcher, gar politischer Zwecke willen darstellt, sondern unter bestimmten idealen Umständen sogar selbst zur reinen Gewalt wird. Die übt sie immer da aus, wo die Repräsentation zur Präsentation wird, über der Darstellung die Mittel der Darstellung in Vergessenheit geraten. Das aber heißt, die Aufhebung ihrer ästhetischen Mittel, mit einem anderen Wort: Unmittelbarkeit ist die Gestalt der reinen Gewalt in der Gestalt der Kunst. Forschungsreisende in das Gebiet der Kunst sind stets, da sie diese Unmittelbarkeit wieder in die Mittelbarkeit des Begrifflichen verwandeln, und also schon von Berufs wegen, keine Verfechter der reinen ästhetischen Gewalt, wie sie sich im bedingungslosen, unmittelbaren Erscheinen bekundet. Sie wenden sich, darin besteht die Schuld der Kunstwissenschaften gegenüber der Kunst, von deren geheimem Telos – so zu erscheinen, als sei es nicht Kunst, die da erscheint – ab. So widerstehen die Kunstwissenschaften der reinen Gewalt der Kunst. Nicht ohne Grund. Denn sie beruht zuletzt auf jenem Ignoramus et ignoramibus gegenüber den Mitteln der ästhetischen Wirkung. Wissenschaft ist genau hierin zur Kunst das Gegenprogramm. Sie legt die Mittel der ästhetischen Wirkung offen,

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Die poetische Erkundung der wirklichen Welt ist also selbst Kritik der reinen ästhetischen Gewalt und offenbart so zuletzt sich selbst im Gegenüber der Kunst – als Gewalt. Das gilt allerdings nur so lange, als Kunst und Kunstwissenschaft sich wie jene verfeindeten Familien gegenüberstehen, die seit vielen Jahrhunderten ein Spiel gegeneinander spielen, dessen vielleicht wichtigste Regel besagt: die Kunst sei ein Gegebenes und die Kunstwissenschaft habe sich nach diesem Gegebenen zu richten und auf die Züge, die ihr die Kunst vorgibt, so zu reagieren, wie es die Kunst von ihr fordert. Doch es könnte der Kunstwissenschaft, wenn sie nur endlich ins Träumen gerät, passieren, dass sie diese scheinbar so unverzichtbare Spielregel einfach vergisst – vergisst, ohne dabei wie der träumende Jaromir Hladik in Panik zu geraten, sondern froh darum, dass, wenn die Kunst kein Gegebenes, sondern etwas ist, das erst das Spiel mit ihr erzeugt – ein Mitspieler also, auch die Kunstwissenschaft nicht länger sein muss, was sie im Gegenüber der Kunst bislang doch stets zu sein schien: reine Gewalt.

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UND JENSEITS VON EUROPA: DAS DEUTSCH-JÜDISCHE THEATER GEORGE TABORIS

Wer sich auf die Suche nach dem Israelbild in der deutschjüdischen Literatur begibt, bemerkt sogleich, und das ist eigentümlich genug, dass es nicht ganz einfach oder eben: fraglich ist, wonach er suchen soll. Denn weder ist der Bereich der deutschjüdischen Literatur ein fest umrissener, noch der Begriff des Bildes. Am Begriff der deutsch-jüdischen Literatur tritt diese Fraglichkeit bereits durch den Umstand hervor, dass diejenigen Texte, als deren Klassifikationskriterium das (wie auch immer unbestimmte) Jüdische gilt, eben nicht zur deutschen, sondern zur jüdischen Literatur zu zählen sind, während umgekehrt wie immer als jüdisch gekennzeichnete oder von jüdischen Autoren stammende Texte, die in deutscher Sprache oder gar von deutschen Autoren verfasst worden sind, doch eigentlich zur deutschen und nicht zur jüdischen Literatur zählen müssten. Am Begriff des Bildes, gar des Israelbildes hingegen steht zwar Israel als der Gegenstand eines solchen Bildes nicht in Frage, sehr wohl aber der Charakter dieses Bildes selbst, denn von ihm ist alles andere als gewiss, ob es sich um ein Produkt der kollektiven, vielleicht gar kollektiv-unbewussten Einbildungskraft handelt oder sich auf dem Felde der deutsch-jüdischen Literatur überhaupt so etwas Konkretes wie ein Bild, gar ein Bild Israels ausmachen lässt. Und natürlich kann keine Rede davon sein, dass der Begriff des literarischen Bildes durch die Literaturwissenschaft schon hinreichend genau bestimmt wäre, so genau, dass immer schon deutlich wäre, wonach man denn sucht, wenn man nach einem Bild, gar einem Bild Israels sucht. Klar ist allenfalls, dass, wer nach einem literarischen Bild sucht, sich nicht auf die Suche nach etwas Buchstäblichem begibt, denn der Bereich der literarischen Bildlichkeit, die Tropik, ist ja bekanntlich von je her eben der Bereich der uneigentlichen, übertragenen, indirekten Mitteilung. Das aber erschwert die Suche noch einmal, denn: Woran soll man es nun erkennen, das literarische Bild Israels? Wenn literarische Bilder Formen indirekter

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Die poetische Erkundung der wirklichen Welt Mitteilung sind, sind sie an einem offenbar nicht zu erkennen, nämlich daran, dass in der Literatur von Israel die Rede ist. Dennoch scheint nun aber die Frage nach dem Israelbild in der deutsch-jüdischen Literatur eine dringliche zu sein, wenn irgend das Verhältnis von Deutschem und Jüdischem nach dem Holocaust noch eine Geschichte hat, also Wandlungen unterworfen ist, die nicht nur etwas über die Gegenwart, sondern eben auch die Vergangenheit lehren, aus der sie hervorgehen. Aus israelischer Perspektive ist freilich diese Frage eine noch dringlichere, denn in Israel ist man anders als in Deutschland und aus anderen, vor allem geopolitisch nahe liegenden Gründen auf der Suche nach einer kollektiven Identität. Nicht, dass diese Unternehmung bislang zu einem konsensfähigen Ergebnis gelangt wäre, nein, bereits die Tatsache, dass nach einer gemeinsamen Identität gesucht wird, führt nun, wie jeder in Israel leicht beobachten kann, zu einem Gefühl kollektiver Zusammengehörigkeit – bereits die Tatsache eines gemeinsamen Diskurses schafft Gemeinsamkeit, oder: noch die unterschiedlichsten Optionen, sind hierbei Optionen in ein und demselben Spiel zur Aushandlung einer kollektiven Identität. Was spräche dagegen, endlich auch die nicht-hebräische Literatur an diesem Spiel zu beteiligen? Was spräche dagegen, es gerade über die Auseinandersetzung mit dem jüdischen Leben und Schreiben in Deutschland, im Land des Holocausts zu einem abgründig dialektischen Spiel werden zu lassen? Nichts, so möchte man meinen, doch muss man wissen, worauf man sich einlässt, vor allem aber, wie die tief die Abgründe sind, die sich hier auftun. Wer sie ermessen will, ist gut beraten, die Frage nach dem Israelbild in der deutsch-jüdischen Literatur an George Tabori zu richten. Denn von Tabori, der weder jüdischen Glaubens, noch israelischer Staatsbürger war, ja nicht einmal in deutscher Sprache geschrieben hat, ist doch gewiss, dass er die deutsch-jüdische Literatur in der öffentlichen Wahrnehmung der Bundesrepublik seit den sechziger Jahren beeinflusst und hier wie kein Zweiter Maßstäbe gesetzt hat, für die literarische Durcharbeitung des Holocausts – Maßstäbe, die vielleicht nur jemand setzen konnte, der erst dadurch zum Juden geworden ist, dass er von den Deutschen als ein solcher verfolgt wurde und der denn auch gewiss, wie ein großer Teil seiner Familie, von den Nazis ermordet worden wäre, wenn er nicht rechtzeitig seiner ungarischen Heimat entflohen wäre. Bemerkenswert ist der Fall Tabori denn auch gerade dadurch, dass Tabori sich zunächst und bis Mitte der sechziger Jahre weigert, jüdisches Leben, jüdische Identität in seinen vielfältigen Publikationen und Romanen

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Das deutsch-jüdische Theater George Taboris explizit zu thematisieren.1 Dies, die Erfahrung des außergewöhnlichen Leids interessiert, ist bestimmend, auch für sein frühes Werk, aber eben nicht als jüdisches Leid – mit anderen Worten: die Erfahrung des Leids beansprucht als allgemeine und verallgemeinerbare Erfahrung Relevanz, nicht als jüdische. Gerade ihre Unerträglichkeit macht es unmöglich, sie zu spezifizieren. Das ändert sich (und es ist diese Änderung gewesen, die eine Bedingung dafür war, dass Tabori in den 90er Jahren zum Beckett der deutsch-jüdischen Literatur avancieren konnte), als er die literarische Gattung wechselt und keine Romane, auch kaum noch Erzählungen, sondern Theaterstücke schreibt, und zwar vornehmlich solche, die unter die Haut gehen. Dass sie unter die Haut gehen, hat freilich viele Gründe, vor allem den, dass hier der Holocaust mit einem Mal in einer Weise dargestellt wird, in der er niemals zuvor dargestellt worden war und ihn kein deutscher, nicht-jüdischer Autor hätte darstellen können, ohne die Opfer des Nationalsozialismus zu verhöhnen. Bereits Taboris erste theatralische Versuchsanordnung gilt dabei der Frage: Gibt es jüdisches Leid, deutsch-jüdisches Leid, das die Nachgeborenen des Holocausts als Nachgeborene für sich, für ihre Identität in Anspruch nehmen können, oder zuletzt doch immer nur namenloses Leid? Und Tabori bedient sich eben zur Beantwortung dieser Frage eines Stilmittels, dessen sich kein deutscher Autor hätte bedienen können – des Humors, man muss sagen: des beißenden Humors, des Sarkasmus.2 In den Kannibalen, Taboris erstem und vielleicht erschreckendstem Stück, wird dabei der Holocaust zum Gegenstand einer Gruppentherapie – die freilich außer Kontrolle gerät, als eine Gruppe von Männern den Überlebenskampf ihrer im KZ ermordeten Väter erinnern, wiederholen, durcharbeiten. Und immer dann, wenn dieser Kontrollverlust am Unerträglichsten wird, wird es unvermeidlich, das Lachen des Publikums. Dass Tabori Grenzen der Peinlichkeit dabei so konsequent missachtet, löst dabei nicht nur Befremden aus (bereits die erste Aufführung der Kannibalen in Deutschland war ein großer Erfolg), sondern ist gerade eine der Bedingungen für jene Theatererfahrung, die Tabori in den postmodernen Zeiten der späten 1980er und 1990er Jahre zum Klassiker der deutsch-jüdischen Bühnenliteratur hat avancieren lassen.3 Denn mit einem Mal gab es nun auf deut1 2

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Seinen ersten, kurz nach Kriegsende geschrieben Roman Pogrom hat Tabori vernichtet. Und das Überschreiten der Peinlichkeitsgrenzen ist kein strategisches Ziel, sondern eben, wie Karin Dahlke (1994) eindrücklich vor Augen führt, ein Mittel des Humors. Vgl. Klein (1995), S. 172ff.

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Die poetische Erkundung der wirklichen Welt schen Bühnen, was es zuvor weder hier noch anderswo gab, nämlich eine Auf- und Durcharbeitung der deutschen Vergangenheit – ganz auf der Höhe der postmodern Gegenwart.4 Das hat kaum zu unterschätzende Konsequenzen für die deutschjüdische Literatur wie auch überhaupt für die Bestimmung des Deutsch-Jüdischen, jenes begrifflichen Hybrids, von dem so schwer zu sagen ist, was ihn genau ausmacht. Die erste dieser Konsequenzen zeigt ein Stück wie Mein Kampf, in dem Tabori Theodor Herzl und, lange vor dessen Machtergreifung, Adolf Hitler in einem Wiener Männerheim aufeinander treffen lässt. Dort kümmert sich Herzl dann rührend, rührig und geradezu väterlich um den nicht nur ökonomisch minder bemittelten Hitler, und zwar so sehr, dass er ihm sogar das dann für Hitler so typische Erscheinungsbild, Seitenscheitel mit zurecht gestutztem Oberlippenbart, verpasst, ihn darüber hinaus mit einer jüdischen Genealogie versieht – und so Hitler nicht nur ideologisch, dafür aber gut dialektisch zu einem Geschöpf des Judentums macht. Doch trotz all dieser väterlichen Fürsorge lässt Herzl seinen Schützling ohne Hosen zu seinem Vorstellungsgespräch an der Kunsthochschule gehen – ein Versäumnis, das wesentlich zu der Weigerung der Hochschule beiträgt, Hitler aufzunehmen – mit den bekannten Konsequenzen. Hitler als ein Produkt Herzls, der Nationalsozialismus als ein Produkt des Zionismus, dieser Vorwurf wiegt schwer und ist erträglich nur, weil er im Modus des Komischen vorgetragen wird: „HERZL: Außerdem, warum noch ein Buch schreiben? Es gibt nur ein Buch, und das ist schon geschrieben, und dieses eine Buch, das schon geschrieben ist, sagt alles über alles, auch über deine Tränen, und doch muß ich mein eines Buch schreiben, um das Böse aus meinem Herzen zu vertreiben, diesen Schatten, der auf meine Seele fällt. Also frage ich dich, Lobkowitz“, es ist jener Lobkowitz, den Herzl sonst nur Gott nennt, „was soll ich tun? LOBKOWITZ fröhlich: Wie ist der Titel, wie nennst du dein Buch? HERZL: ‚Mein Leben‘ soll es heißen. LOBKOWITZ schüttelt den Kopf: ‚Mein Leben‘? Das soll ein Titel sein für einen potentiellen Bestseller? […] Schlomo, ich bin enttäuscht. Fang noch einmal an. HERZL: wie wär’s mit ‚Meine Memoiren‘? LOBKOWITZ wie auch Hitler, schüttelt den Kopf: Entsetzlich! ‚Meine Memoiren‘! Frage dich selbst, Schlomo, würde deine Mutter ein Buch kaufen, das ‚Meine Memoiren‘ heißt? HERZL: „Nein!“ LOBKOWITZ: „Versuch es noch einmal!“ Herzl: „Wie wär’s mit ‚Schlomo und die Detektive?‘ ‚Schlomo ohne Eigenschaften‘. Schlomeo und Julia. ‚Schlomo und Islode‘. ‚Warten auf Schlomo‘. ‚Schlomo auf der Suche nach den verlorenen Schlomos‘. ‚Schlomo und Frieden‘. ‚Die letzten Tage der Schlomos‘. ‚Ecce

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Zur Bestimmung des literaturhistorischen Ortes der Theaterarbeit Taboris vgl. die Standortbestimmungen in Bayerdörfer/Schönert (1997).

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Das deutsch-jüdische Theater George Taboris Schlomo‘. Wie wär’s mit ‚Mein Kampf‘?“ LOBKOWITZ: „Das ist es!“ HITLER: Jetzt haben Sie’s. HERZL: „Wer hat sie gefragt?“5

Die mäeutische Kunst des Herrn, genannt Lobkowitz, inspiriert Herzl also zu der Idee, noch ein Buch der Bücher zu schreiben und ihm den Titel Mein Kampf zu geben. Dass aber Herzl es ist, der dieses Buch schreibt, lässt doch eines im Unklaren: Schreibt Herzl Hitlers Mein Kampf oder wird ein Buch, das Herzl tatsächlich geschrieben hat, Der Judenstaat, hier als metaphorisches Äquivalent zu Hitlers Mein Kampf ins Spiel gebracht. Schließlich kann, was buchstäblich falsch ist, immer noch metaphorisch wahr sein – dadurch etwa, dass es sich in beiden, wie auch immer unvergleichlichen Fällen um Kampfschriften nationalistischer Bewegungen handelt. Wie immer unerträglich diese metaphorische Gleichsetzung sein mag, erträglich ist sie nur in der Form der indirekten Mitteilung: wenn es also unentscheidbar ist, ob es sich dabei um eine Behauptung handelt oder nicht, wenn also – in diesem Fall – unentscheidbar ist, wer genau, was geschrieben hat. Diese Unentscheidbarkeit aber führt nicht nur zu einer Vergleichbarkeit des Unvergleichlichen, sondern auch zu einer Depersonalisierung. Tabori führt mit Herzl und Hitler Typen vor, nicht Individuen, die auch nur als Typen interessieren.6 Deswegen sind historisch zufällige Fakten, die Tatsache etwa, dass es aber in Wirklichkeit anders, nämlich so oder so gewesen ist, für das Theater Taboris so unerheblich. Es ist eben kein dokumentarisches, die Fakten als Argumente beanspruchendes Theater. Dass es aber in Wirklichkeit doch anders, nämlich so oder so gewesen ist, zeigt dabei vor allem eines – dies, dass das Tatsächliche allein noch viel zu schwach ist, um einen Anspruch auf Wirklichkeit erheben können, denn es ist an ihm selbst (als Tatsächlichem) gar nicht auszumachen, ob es sich kontingenten oder notwendigen Umständen verdankt. Die Literarisierung auch noch des Grauens, die Tabori so konsequent betreibt, bedeutet deshalb, es von seiner Möglichkeit her in den Blick zu nehmen – freilich nicht von irgendeiner unbestimmten, sondern von seiner literarischen Möglichkeit. Doch gibt es überhaupt so etwas wie literarische Möglichkeitsbedingungen des Grauens?

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Tabori (1994), S. 149. Die folgenden Nachweise folgen dieser Ausgabe. Deshalb kann man durchaus mit Liessmann (1997) der Auffassung sein: „Mein Kampf versteht nicht, sondern zelebriert gleichermaßen amüsant wie angestrengt den Hitler in uns. Und weil dieses Stück dies tut, fühlen wir uns dabei so unendlich behaglich.“ Ders. ebd., S. 88.

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Die poetische Erkundung der wirklichen Welt Natürlich, die gibt es! So etwa den von Herzl erwähnten Umstand, dass es nicht ein einziges heiliges Buch, sondern viele solche Bücher gibt, also nicht eine einzige, für alle verbindliche Darstellung des Wirklichen (auch etwa des Holocausts), sondern viele, und dass dies etwas über die Wirklichkeit selbst aussagt, dies nämlich, dass sie verschieden darstellbar und interpretierbar ist. Dies wiederum hat schmerzhafte Konsequenzen, vor allem die, dass dieser schlichte Umstand jede Fixierung auf Singularität, Einmaligkeit, Identität – wie auch immer sie daherkommt – bedroht. Und das wiederum gilt unabhängig von den Gehalten der Überzeugungen, aus denen diese Identitäten sich zusammensetzen – mit einem Wort: für Nationalsozialisten und Zionisten gilt: im Raum der Möglichkeit sind sie einander ähnlicher, als sie es im Raum der Wirklichkeit für möglich halten. Das ist ein formales, von der Form her gedachtes Argument, das Literatur hier zur Geltung bringt. Es wird aber nicht, wie in der Philosophie in der Form des logischen Schlusses vorgetragen (A kann nicht gleich A sein, weil es, um mit sich identisch sein zu können, von sich unterschieden sein muss), sondern etwa in der Form des Sprachspiels (und natürlich sind Sprachspiele in der Poesie Formen des Argumentierens): „HERZL: Was halte ich von Christus? […] Kommt drauf an, welchen Christus du meinst? Arthur Christ? Hugo von Christ? Fjodor Christ?“ (177) oder: „HITLER: Ich vermute, Tannhäuser sagt Ihnen nichts? HERZL: Welchen Tannhäuser meinst du? Otto Tannhäuser? Karl-Heinz Tannhäuser? Itzig Tannhäuser?“ (158f.), oder – „HERZL [zu Hitler]: Wenn Sie glauben, Sie sind der einzige Hitler in diesem Tränental, dann machen Sie sich auf eine Ernüchterung gefasst. Im Wiener Telefonbuch gibt es, meiner Schätzung nach, dreiundzwanzig Hitler, alle, vermute ich, Abkömmlinge eines Zwillingsstammes, von Odessa der eine, von Munkacevo, das sich in die karpatischen Ausläufer schmiegt, der andere.“ (155) Das Lachen über die zwei Identitätssucher Hitler und Herzl ist freilich eines, das im Halse stecken bleibt. Denn wer auf das Ende der Geschichte sieht, deren Anfang Tabori hier in einem Wiener Männerheim inszeniert, gelangt unversehens zu den deutschen und jüdischen oder eben deutsch-jüdischen Identitätssuchern unsere Tage – muss also, wenn er über die Hitlers und Herzls lacht, auch den verzweifelten Mut haben, über sich selbst zu lachen: Ist nicht der Versuch der Gewinnung einer deutsch-jüdischen Identität genauso töricht wie ehemals der einer zionistischen (Herzl) oder deutsch-nationalen (Hitler). Sind unsere, unter dem Banner von Transkulturalität und interkulturellem Verstehen sich vollziehenden Identitätssuchen wirklich um so vieles besser als jene frühen Versuche, oder werden sie von zukünftigen Taboris nicht einmal

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Das deutsch-jüdische Theater George Taboris genauso belacht werden, wie die Identitätssucher Herzl und Hitlers auf der Weltbühne George Taboris von uns belacht werden? – Einfach deshalb, weil sie immer glauben, die Suche nach einer kollektiven Identität sei ein lohnenswertes Ziel, wo doch gerade die, die sie gefunden haben – Herzl und Hitler unter ihnen – mit einem nicht zurechtkommen, damit nämlich, dass ihre Darstellung der Wirklichkeit keine verbindliche, sondern nur eine andere Darstellungen ausschließende ist – mit all dem Gewaltpotential, das dieser Ausschluss in sich birgt. Identität ist denn auch tatsächlich nicht der Maßstab, an dem Tabori das Verhältnis des Deutschen zum Jüdischen bestimmt. Und als Bild des Deutschen oder des Jüdischen ist es nicht zu haben oder: es ist nur im Unernst zu haben, nur in der Heiterkeit, nur als Karikatur. Und dabei ist besonders bitter für die Opfer: nicht einmal über das erlittene Leid lässt sich eine solche deutsch-jüdische Identität noch gewinnen. – Am Ende von Weisman und Rotgesicht, einem Jüdischen Western, überbieten sich ein Indianer und ein Jude in der Aufzählung der erlittenen Niederlagen, Schmähungen, Verletzungen: „WEISMANN: Verdroschen von Vater, von Mutter, von Brüdern, von Lehrern, vom Rabbi, von dreitausend Niggerjungs mit Fahrradketten […]. ROTGESICHT: Elektroschockiert in der Klu-Klux-Klan-Klinik. […] Onkel gelyncht in Disneyland“ […] WEISMANN: Tante in Treblinka verbrannt. ROTGESICHT: „Die Schonzeit ist vorbei. WEISMANN: Es geht schon wieder los. ROTGESICHT: Jidsein ist nicht mehr abendfüllend.“ (234)

Taboris Verdikt über die Identitätssucher, gleich welchen Schlages, ist dabei zunächst ein ästhetisches: Die Möglichkeit der extremen Darstellung, etwa des Holocausts, zeigt, wie wenig die Gegenstände der Darstellung die Art der Darstellung bestimmen, anders gesagt, auf welch verschiedene, einander widersprechende Weisen Sinn erzeugt werden kann. Was Taboris Theater dabei vor Augen führt, ist freilich, dass der Sinn des Bilderverbots so lange nicht hinreichend verstanden ist, als man glaubt, es betreffe nur das Bild Gottes und nicht das des Menschen – von sich selbst. Wenn die karikaturhaften Kunstfiguren Taboris etwas vor Augen führen, dann dieses, dass das Gebot Du sollst dir kein Bildnis machen … eben wirklich alle Arten von Bildern einschließt, gerade auch die Selbstbilder. Wenn es daher in den postmodernen Zeiten der späten 80er und 90er Jahre nichts mehr gab, woran man sich halten konnte (die Renaissance der Religion im Bereich des Politischen ließ noch ein paar Jahre auf sich warten), dann gewiss am wenigsten an das Bild, das man sich von sich selbst machte.

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Die poetische Erkundung der wirklichen Welt An diese postmoderne Einsicht hatte sich nun der aufgeklärte Europäer längst gewöhnt. Er wusste darum, dass er in der Gegenwart als aufgeklärter Europäer nur bestehen kann, indem er sich auf sein Vermögen zur (ironischen) Selbstdistanzierung beruft, auf jenes Vermögen also, das im Theater Taboris bis zum Äußersten beansprucht wird, bis da hin, wo nichts mehr heilig ist, nicht einmal mehr der Holocaust. Von hier aus, von der Bühne Taboris aus gesehen, ist freilich das, was man von ihr aus über das zeitgenössische Israel sagen kann, nichts Gutes. Denn mit dem Gesellschaftsspiel der kollektiven Identitätssuche, wie es – aus politisch natürlich verständlichen Gründen – im Israel des ausgehenden 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts gespielt wird, weiß Taboris Theater wenig anzufangen. Denn es ist ein Theater nach dem Ende von Metaphysik und Geschichtsphilosophie. Und in diesem säkularen, aufgeklärten Theater ist Gott selbstverständlich tot. Das mögen alle theologisch oder politisch Gläubigen bedauern, es sind aber, nicht zu vergessen, ästhetische Ansprüche, denen Tabori hier Genüge tut. Schwer vorzustellen, dass eine Kunst sich am Ausgang der Postmoderne noch in den Dienst von Geschichtsphilosophie oder Metaphysik stellt, ohne dabei ihren Kunstcharakter zu verlieren. Politische Theologie mag unter politischen oder philosophischen Gesichtspunkten auch heute noch ein interessantes Programm sein, ästhetisch ist sie es bereits seit dem Ende der Moderne nicht mehr. – „HERZL: […] ich sitze am Ofen wie an den Wassern von Babylon und warte auf den Messias, sehr wohl, aber ich bin nicht sicher, daß ich dabeisein will, wenn er kommt. O Herr, offen gesagt, wäre mir die Globuschek lieber[…].“ (173) Wie aber macht man aufgeklärtes deutsch-jüdisches Theater jenseits von geschichtsphilosophisch inspirierter kollektiver Identitätssuche und diesseits der Metaphysik? Und da lautet Taboris Antwort nun ganz klar: als Umschreibung der kollektiven Narrative (derjenigen Mythen, Erzählungen, Denkfiguren, mit deren Hilfe sich Massen zu identischen Massen erklären, indem sie sich ein kollektives Selbst erschaffen), und das sind dann eben zumeist historische, genauer: historiographische oder religiöse Narrative, und, keine Frage, auch der Holocaust ist ein solches Narrativ. Doch weder die Verpflichtung auf Geschichte noch auf Religion, weder tatsächliches, historisch erfahrenes Leid noch gar die Mythologie des Alten Testaments halten, das ist das unerbittliche Argument Taboris, der historischen und religiösen Erfahrung der Menschheit stand, dass sowohl historisch erfahrenes Leid als auch religiöse Erfahrung zur Identitätsbildung eben gerade nicht taugen

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Das deutsch-jüdische Theater George Taboris – es vielmehr stets anderes Leid, andere Mythen auch gab – und gibt. – „Geh hinab“, sagt Gott in den Goldberg-Variationen zu Moses, „und gib meinem auserwählten Volk die Gesetze. Es ist nur ein Angebot, kein Vertrag. Wenn sie sich weigern, in Wahrheit und Gerechtigkeit zu leben, erwähle ich mir ein anderes.“ (320) Die Goldberg-Variationen machen denn vielleicht auch Taboris theatralische Sendung am deutlichsten, dies, dass es in ihr nicht allein um ein schonungsloses Programm zur Einübung in Selbstdistanznahme, sondern eben zugleich um eine Umschreibung der vertrauten historiographischen und religiösen Narrative geht, der Narrative, die auch das Denken und Handeln derer bestimmen, die glauben, es handele sich bloß um Narrative. Der Ort dieser Umschreibung ist für Tabori das Theater. Die Texte, derer er sich bedient, sind nicht nur der Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, sondern eben auch der Heiligen Schrift der Juden und Christen entnommen. Die Goldberg-Variationen übernehmen dabei das Bachsche Programm einer Überführung der religiösen Gehalte in ästhetische Form und variieren die Mythen von Isaak und Jakob, die Befreiung aus Ägypten, Moses’ Entdeckung des Heiligen Landes, die Kreuzigung Christi – kurzum einige der Narrative, die die Imagination Israels so nachhaltig bestimmen. Doch natürlich ist dabei auf Taboris Theaterbühne am Ausgang des 20. Jahrhunderts nichts mehr so, wie es einmal war: Eva hält die Erzählung vom Sündenfall nun schlicht für ein unter emanzipatorischen Gender-Gesichtspunkten unerträgliches „Pornopoem“ (310), und auch, ob Gott noch ist, was er zu sein behauptet, nämlich er selbst, weiß nun keiner mehr (zumal dieser auch noch mit dem Ausstieg aus dem Welttheater droht), während wiederum Aaron Moses darüber aufklärt, dass das ganze Narrativ vom auserwählten Volk der Juden auf einem Irrtum beruhe und die Juden nie aus Ägypten hätten ausziehen sollen: „Prima Klima, Vollbeschäftigung, Sozialversicherung, und Pyramiden zu bauen ist auch nicht weniger kreativ, als Magengeschwüre vom Manna zu kriegen“ (320). Doch die Kritik reicht tiefer, denn Aaron offenbart Moses auch, dass, indem Gott ihn, Moses, zu „Gottes drohende[m] Finger“ gemacht hat, er den Antisemitismus heraufbeschworen, Aaron sagt: „erfunden“ hat (321). – „Ich kenne dich. Du wirst den Mund nicht halten können, du wirst das Gesetz der Wahrheit und Gerechtigkeit an die Kinder weitergeben, und sie werden ein Entsetzen für alle Völker sein, sie werden gehasst und verbrannt werden, auch wenn nur noch ein einziger übrig ist, den man hassen und verbrennen kann, weil ihre Gegenwart an Seine Gegenwart erinnert.“ (321) – Oder, wie Goldberg, der Assistent des Regisseurs, sagt: „Nicht nur das, sondern tagein, tagaus werdet ihr unterjocht sein, und nie-

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Die poetische Erkundung der wirklichen Welt mand wird euch retten [… ], wenn die Viehwagen wieder zu rollen beginnen. […] Eure Söhne und Töchter werden zu Heiden oder sehr einsamen Leichen, eure Augen werden täglich vor Verlangen nach ihnen vergehen, und was ihr sehen werdet, Berge von Schuhen und Haaren, wird euch in den Wahnsinn treiben, aber der Herr wird euch aufgeben, und ihr werdet zum Entsetzen werden unter allen Völkern, zu denen der Herr euch treibt, und am 40. Tag werden die Öfen wieder zu rauchen beginnen“, so die düstere Prophetie Goldbergs – die in ihrer Düsternis jedoch unerträglich, lähmend ist – und eben deshalb aufgehoben wird – im Humor, wenn Goldberg [zu Mrs. Mopp] fortfährt: „Welchen Tag haben wir heute, Moppelchen?“, und Mrs Mopp antwortet: „Den 41.“ (325) – Doch das Lachen bleibt hier einmal mehr im Halse stecken. Der 41. Tag muss eben der sein, an dem die Prophetie längst Wirklichkeit geworden ist. Gewiss, die Frage bleibt: Welche neue, wer weiß, verheißungsvolle Erzählung entsteht, wenn die alten Erzählungen aufgelöst, umgeschrieben werden – oder, etwas salopper ausgedrückt: Wo bleibt da das Positive? – Natürlich gibt es bei Tabori nicht einfach ein neues Positives, gar ein zur Bestimmtheit des Bildes sich konkretisierendes Positives, das als Gegenstand der Hoffnung an die Stelle der alten Narrative zur Identitätsbildung eingesetzt werden könnte. Aber dies, die Abwesenheit des Positiven, also der bestimmten Hoffnung, ist bei Tabori noch lange kein Grund, um, wie die Moderne glaubte, darüber humorlos zu werden. Es ist ein Verzweifeln auf höchstem Niveau, das Taboris Theater etabliert und hinter das, wenn irgend es eine Errungenschaft darstellt, auch nach Tabori und der Postmoderne niemand mehr zurück kann. Denn es ist ein höherer Ernst, den dieses Theater für die Zukunft bereithält. Höher ist dieser Ernst, weil er ein Lachen über all die Greueltaten einschließt, die die Geschichte bereithält, ernst ist dieses Lachen dadurch, dass es nicht mehr länger ein abwertendes, sondern, im Gegenteil, ein Lachen ist, das die Opfer würdigt. Und Opfer, das sind in Taboris Theater auch die Täter. Die Wirkungsabsicht dieses Theaters ist deshalb eine kaum verhüllte: die Einübung in die Kunst jenseits der Täter-Opferunterscheidung, jenseits der Zusammenhänge von Schuld und Vergeltung zu denken – und, bei Tabori genau so wichtig: fühlen zu lernen, um sodann anders denken und fühlen zu können als dies das politische Geschehen gemeinhin zulässt. Was daraus entsteht, ist eine Ästhetik, die sich über Fragen des guten Geschmacks souverän hinwegsetzt, weil sie diese Fragen für solche der Etikette – und damit recht eigentlich für irrelevante Fragen hält. – Als Raamah in den Goldberg-Variationen einen Witz Mr. Jays schlicht geschmacklos findet, erwidert dieser: „Das ist die Wahrheit immer.“ (343)

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Das deutsch-jüdische Theater George Taboris Bislang mag es noch kein Land geben, das seinen Bewohnern die Einübung eines derartigen historischen Bewusstseins jenseits von Identität, Schuld und Geschmack auferlegt. Doch gibt es einen Ort, an dem die Wahrheit schonungslos sein und das Gewand des Geschmacks ablegen darf: das Theater George Taboris.

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QUELLENNACHWEISE

Sechs der vierzehn Kapitel dieses Buches werden hier erstmalig veröffentlicht. Vorstufen zu den nachfolgend aufgeführten Kapiteln sind in den folgenden Zeitschriften und Sammelbänden erschienen: „Zur Vorgeschichte: Die mosaische und die europäische Unterscheidung“ unter dem Titel „Der Mann Moses und die europäische Erzählung der Zeit um 1800“, in: Frank Degler (Hrsg.), Europa/Erzählen. Zu Politik, Geschichte und Literatur eines Kontinents (Das Wissen der Literatur Bd. II), S. 195-206, St. Ingbert 2008. „Ist Literatur ein Medium? Heinrich von Kleists Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden und der Monolog des Novalis“ in: Thomas Klinkert/Monika Neuhofer (Hrsg.), Literatur, Wissen und Wissenschaft seit der Epochenschwelle um 1800. Theorie – Epistemologie – komparatistische Fallstudien, herausgegeben von Thomas Klinkert und Monika Neuhofer. Berlin/New York 2008, S. 19-34. „Schillers Räuber oder die Neuerfindung der Subjektivität im Jahre 1782“, in: Athenäum. Jahrbuch der Romantik 16/2006, S. 39-56. „Krankheit und Wissen oder: Woran erkrankt, wer im Geiste erkrankt? Der Versuch einer philologischen Antwort mit Blick auf Heinrich von Kleists Die heilige Cäcilie oder die Gewalt der Musik“, in: Epochen/Krankheiten. Konstellationen von Literatur und Pathologie (Das Wissen der Literatur Bd. I), hrsg. v. Frank Degler u. Christian Kohlroß, St. Ingbert 2006, S. 77-96. „Poetische Schlussverfahren: Georg Büchners Ästhetik“ unter dem Titel „Georg Büchners Ästhetik des Expressiven“, in: Sinn und Form 58/3, 2006, S. 386-394. „Wirkungsgeschichte als Wissensgeschichte: Mörike und einige seiner modernen Nachfahren“ unter dem Titel „Lyrische Geistergespräche. Mörike und einige seiner modernen Nachfahren“, in: Albrecht

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Die poetische Erkundung der wirklichen Welt Bergold/Reiner Wild (Hrsg.), Mörike-Rezeption im 20. Jahrhundert, Göttingen 2005, S. 11-28. „Der philosophische und Rilkes poetischer Spiegel des Bewusstseins“ in: Jahrbuch der Österreich-Bibliothek in Sankt Petersburg 2003, S. 127-139. „Bertolt Brechts Gedicht Tannen – eine lyrische Theorie der Metapher“ unter dem Titel „Bertolt Brechts Tannen oder: Was eigentlich macht eine Metapher zur Metapher?“, in: Lyrik im historischen Kontext. Festschrift für Reiner Wild, hrsg. v. A. Böhn, U. Kittstein, Ch. Weiß unter Mitarbeit von Sandra Beck, Würzburg 2009, S. 364-378.

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Eva Erdmann Vom Klein-Sein Perspektiven der Kindheit in Literatur und Film Juni 2010, ca. 200 Seiten, kart., ca. 24,80 €, ISBN 978-3-89942-583-3

Wolfgang Hallet, Birgit Neumann (Hg.) Raum und Bewegung in der Literatur Die Literaturwissenschaften und der Spatial Turn 2009, 414 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1136-6

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Mareen van Marwyck Gewalt und Anmut Weiblicher Heroismus in der Literatur und Ästhetik um 1800 Februar 2010, 314 Seiten, kart., zahlr. Abb., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1278-3

Elena Stepanova Den Krieg beschreiben Der Vernichtungskrieg im Osten in deutscher und russischer Gegenwartsprosa 2009, 342 Seiten, kart., 33,80 €, ISBN 978-3-8376-1105-2

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Manuela Günter Im Vorhof der Kunst Mediengeschichten der Literatur im 19. Jahrhundert 2008, 382 Seiten, kart., 34,80 €, ISBN 978-3-89942-824-7

Arne Höcker, Oliver Simons (Hg.) Kafkas Institutionen 2007, 328 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-89942-508-6

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Tom Karasek Generation Golf: Die Diagnose als Symptom Produktionsprinzipien und Plausibilitäten in der Populärliteratur 2008, 308 Seiten, kart., 30,80 €, ISBN 978-3-89942-880-3

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ZfK – Zeitschrift für Kulturwissenschaften

Sebastian Gießmann, Ulrike Brunotte, Franz Mauelshagen, Hartmut Böhme, Christoph Wulf (Hg.)

Politische Ökologie Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 2/2009 Oktober 2009, 158 Seiten, kart., 8,50 €, ISBN 978-3-8376-1190-8 ISSN 9783-9331

ZfK – Zeitschrift für Kulturwissenschaften Der Befund zu aktuellen Konzepten kulturwissenschaftlicher Analyse und Synthese ist ambivalent: Neben innovativen und qualitativ hochwertigen Ansätzen besonders jüngerer Forscher und Forscherinnen steht eine Masse oberflächlicher Antragsprosa und zeitgeistiger Wissensproduktion – zugleich ist das Werk einer ganzen Generation interdisziplinärer Pioniere noch wenig erschlossen. In dieser Situation soll die Zeitschrift für Kulturwissenschaften eine Plattform für Diskussion und Kontroverse über Kultur und die Kulturwissenschaften bieten. Die Gegenwart braucht mehr denn je reflektierte Kultur, historisch situiertes und sozial verantwortetes Wissen. Aus den Einzelwissenschaften heraus kann so mit klugen interdisziplinären Forschungsansätzen fruchtbar über die Rolle von Geschichte und Gedächtnis, von Erneuerung und Verstetigung, von Selbststeuerung und ökonomischer Umwälzung im Bereich der Kulturproduktion und der naturwissenschaftlichen Produktion von Wissen diskutiert werden. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften lässt gerade auch jüngere Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen zu Wort kommen, die aktuelle fächerübergreifende Ansätze entwickeln.

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