196 45 6MB
German Pages [128] Year 1987
Bauwelt Fundamente 77
Herausgegeben von Ulrich Conrads unter Mitarbeit von Peter Neitzke Beirat: Gerd Albers Hansmartin Bruckmann Lucius Burckhardt Gerhard Fehl Herbert Hübner Julius Posener Thomas Sieverts
Jan T\imovsky Die Poetik eines Mauervorspnmgs Essay
ν Friedr. Vieweg & Sohn
Braunschweig/Wiesbaden
Alle Rechte vorbehalten © Friedr. Vieweg & S o h n Verlagsgesellschaft m b H , Braunschweig 1987 Urnschlagentwurf: Helmut Lortz Satz: Satzstudio Frohberg, Freigericht Druck und buchbinderische Verarbeitung: Lengericher Handelsdruckerei, Lengerich Printed in Germany
ISBN 3-528-08777-3
ISSN 0522-5094
Inhalt
I
Konzept und Empirie Zur Genesis des Mauervorsprungs
7
1 Zu zwei Ausrichtungen der Architektur 2 Zu zwei Faktoren jeder Architekturarbeit 3 Zum Wittgenstein-Haus
12 14 16
Poetik und Architektur Zum Bedeutungspotential des Mauervorsprungs
34
Das Poetische und das Ästhetische
42
A Ordnung В Sinnlichkeit С Interesselosigkeit
43 49 55
Zwischenbilanz
61
а Innovation b Ambivalenz с Universalität
63 72 79
III
Gesicht und Profil Uber die Vorderfläche des Mauervorsprungs
86
IV
Raum und Objekt Uber die Kante des Mauervorsprungs
97
II
Exkurs um die Ecke V
106
Kunst und Rahmen Uber die Seitenfläche des Mauervorsprungs
110
Schluß
120
Verwendete Literatur
122 5
I
Konzept und Empirie Zur Genesis des Mauervorsprungs
Ludwig Wittgenstein schuf in zwei Lebensabschnitten zwei unterschiedliche, einander gewissermaßen entgegengesetzte Philosophien. Innerhalb des Zeitraums zwischen diesen zwei philosophischen Phasen entstand das Haus, an dessen Entwurf Wittgenstein wesentlich beteiligt war und dessen Errichtung er leitete. In den Plänen dieses Hauses fanden wir den Mauervorsprung, mit dem wir uns in dieser Arbeit befassen wollen; im weiteren nennen wir ihn kurz MVS.
VORRAUM
im
EINGANO
Abb. 1 (2/39), Unterschrift (1/12) 7
Die erste philosophische Phase Wittgensteins endet 1921, als sein bereits 1918 fertiggestellter „Tractatus logico-philosophicus" veröffentlicht wird. Die darin präsentierte Frühphilosophie (Philosophie I) Wittgensteins kann charakterisiert werden als ein systematisches, abstrakt ideales Konzept des Denkens, der Sprache, der Welt. Die zweite philosophische Phase Wittgensteins beginnt 1929 mit seiner Rückkehr nach Cambridge. Das bedeutendste Dokument der Spätphilosophie (Philosophie II) Wittgensteins sind „Philosophische Untersuchungen", erst 1953 posthum herausgegeben. Hierbei handelt es sich um eine weitgehend unsystematische Aufarbeitung empirischen Sprachmaterials. Im Herbst 1926 tritt Wittgenstein als Architekt auf - er bezeichnet sich ausdrücklich so. Dies bestätigt der Stempelabdruck auf dem Baueingabeplan des Hauses für Margarethe Stonborough, Wittgensteins Schwester. Sie kaufte ein etwa 3.000 m^ großes Grundstück zwischen Kundmanngasse, Geusaugasse und Parkgasse in Wien 3 und beauftragte zunächst den Architekten Paul Engelmann, einen Freund Wittgensteins, mit der Konzeption der Villa, deren Raumprogramm sie im wesentlichen selbst bestimmte. Nachdem sich ihr Bruder für den Bau überaus interessiert gezeigt hatte, ließ sie ihn zusammen
PAUL Еиаашши 4 UIMM «ΙΓΤβΕΝβΤΕΙΝ Arokittkt·· WH, Ш. P v t e M W. Abb. 2 Wittgenstein-Haus, Lageplan (1/35), Stempelabdruck, 1926 (1/44) 8
mit Engelmann die Pläne anfertigen und das Haus ausführen, wobei Wittgenstein immer deutlicher die Hauptverantwortung übernahm. Wittgenstein arbeitete an dem Haus mit Eifer und Akribie; dies ist bekannt. „Engelmann mußte der sehr viel stärkeren Persönlichkeit weichen, und das Haus wurde dann bis ins kleinste Detail nach den von Ludwig geänderten Plänen und unter seinen Augen gebaut. Ludwig zeichnete jedes Fenster, jede Tür, jeden Riegel der Fenster, jeden Heizkörper mit einer Genauigkeit, als wären es Präzisionsinstrumente, und in den edelsten Maßen, und er setzte dann mit seiner kompromißlosen Energie durch, daß die Dinge auch mit der gleichen Genauigkeit ausgeführt wurden." (1/29) Wir können also annehmen, daß auch die baulichen Details des Hauses - unter ihnen der MVS - aus Wittgensteins Hand stammen oder von ihm zumindest gebilligt wurden. Die genaue Kenntnis der Sachlage wäre zwar von Interesse, für unsere Abhandlung ist sie jedoch nicht von entscheidender Bedeutung. Uns interessiert - ja fasziniert - der MVS vielmehr als Phänomen. Und als solches soll er hier interpretiert werden. Seinem Ursprung nach ist der MVS aber ein Teil der Wittgensteinschen Architektur. Wollen wir seiner Entstehungsgeschichte nachgehen, müssen wir ihn dort orten. Wenn man sich mit der Architektur Wittgensteins befaßt, befindet man sich in einem Dilemma. Einerseits ist es nahezu unmöglich, sie nicht in einem Zusammenhang mit der Philosophie Wittgensteins zu sehen. Andererseits erscheint es aber angebracht, bei Verquickungen und Vergleichen dieser letztlich inkommensurablen - Bereiche äußerst vorsichtig vorzugehen. Dabei gelangt man in ein zweites, allgemeineres Dilemma. Ein Vergleich zweier verschiedenartiger Gegenstände ist um so fraglicher, je direkter und paradoxerweise - je tiefgreifender er sein soll. Betreibt man ihn eingehend, analytisch, dann befindet man sich auf geradem Weg zu „Strukturen" und läßt gezwungenermaßen die interessanten Besonderheiten der Einzelerscheinungen beiseite oder stellt sie - unvergleichbar und daher unverglichen bloß in den Raum. Wählt man für den Vergleich jedoch eine metaphorische Ebene, so ist man wahrscheinlich enttäuscht, wie unscharf er ist, wie wenig aufgezeigt und nachgewiesen wird. Eine Frage, die bei Vergleichen - gleichgültig welcher Art - im konkreten Fall sofort auftaucht, ist, ob die Architektur des Wittgenstein-Hauses, des Palais Stonborough, (noch) der Frühphilosophie oder (bereits) der Spätphilosophie Wittgensteins entspricht. Georg Henrik von Wright, Wittgenstein-Biograph und -Bibliograph, meint, das Haus habe „die gleiche einfache und statische Schönheit wie die Sätze des ,Tractatus'". (3/13) Hermine Wittgenstein, Schwester des Philosophen und
der Frau Stonborough, sieht in dem Palais „eine Wohnung für die Götter" und apostrophiert es als „hausgewordene Logik". (1/32) Einen analytisch fundierten Vergleich zwischen dem Haus und der Philosophie Wittgensteins konstruiert Lothar Rentschier in den letzten Kapiteln seiner „morphologischen Interpretation" des Wittgenstein-Palais. (2/141 - 1 6 0 ) Auch für ihn ist das Haus eine „Abbildung" der Frühphilosophie Wittgensteins; er versucht nachzuweisen, „daß zwischen Tractatus und WittgensteinPalais eine homomorphe Strukturanalogie besteht". (2/160) Diesen Schluß zieht Rentschier, nachdem er festgestellt hat, „daß sämtliche kategorischen Forderungen im Tractatus, die in der Spätphilosophie ausdrücklich verworfen werden, als analoge Strukturbegriffe in der Formensyntax der Architektur genauso kategorisch auftreten (also insbesondere Exaktheit, Atomismus, Absolutismus, logische Idealsprache, Kontextinvarianz, Analysierbarkeit)". (2/149) Es mag sein, daß hinsichtlich der gesuchten Analogie zwischen dem Wittgenstein-Haus und der Philosophie Wittgensteins auch von einer analytischen Abhandlung im Grunde nur metaphorische Schlüsse zu erwarten sind. Wie aufschlußreich jedoch eine Architekturanalyse sein kann, zeigt gerade Rentschlers Arbeit. Sie enthält einige für eine Auseinandersetzung mit dem Wittgenstein-Haus wichtige Anhaltspunkte, auf die wir uns später beziehen werden - insbesondere bei dem Versuch, die Entstehungsgeschichte des MVS zu rekonstruieren. Da die Problematik einer etwaigen Beziehung zwischen Wittgensteins Architektur und Philosophie nicht das eigentliche Thema unseres Essays ist, wird hier die Philosophie Wittgensteins weder als Objekt einer vergleichenden Analyse noch als Fundus von Metaphern herangezogen. Sie soll hier in ihrer Zweiteilung lediglich als Hintergrund betrachtet werden, auf dem sich folgende Parallelen abzeichnen können: - zu zwei gegensätzlichen Ausrichtungen der Architektur im allgemeinen, - zu zwei gegensätzlichen Faktoren jeder Architekturarbeit, - zu zwei gegensätzlichen Teilen des Wittgenstein-Hauses und den Entwicklungen und Verwicklungen innerhalb dieses Bauwerks. In diesem Zusammenhang halten wir es für zulässig und angemessen, den Unterschied zwischen den zwei Philosophien Wittgensteins auf einen einfachen Gegensatz zu reduzieren, nämlich auf die Polarität zwischen Konzept und Empirie. Von allen spezifischen sprachphilosophischen Implikationen nun abgesehen, läßt sich behaupten, daß Wittgensteins Frühphilosophie ein eindrucksvolles Beispiel eines apriorischen, generalisierenden Konzepts, einer globa10
len, abstrakt logischen Theorie darstelh. Wittgenstein selbst glaubte, sein „Tractatus" liefere den Schlüssel zur endgültigen Lösung sämtlicher philosophischen Probleme. Zu den Hauptcharakteristiken eines solchen Konzepts gehören Eigenschaften wie Geschlossenheit, strenge Systematik, geistige Sublimitât, idealisierende Abstraktion, aber auch Zerbrechlichkeit. Als Wittgenstein erkannte, daß er im „Tractatus" von falschen Voraussetzungen ausging, verwarf er ihn. Er kam aber auch zur Uberzeugung, daß philosophische Theorien - als ein Produkt der Phantasie - einfache, nur scheinbar tiefe Bilder bieten, die für die tatsächliche Vielfalt der Realität blind machen; daraufhin gab er das konzeptuell orientierte Philosophieren insgesamt auf. In seiner Spätphilosophie wendet er sich gerade jenen empirischen Tatsachen zu, deren Existenz die philosophischen Verallgemeinerungen widerlegt. Seine „Untersuchungen" sind voll von ganz gewöhnlichen, unsystematischen, detaillierten Beschreibungen des sprachlichen Materials und gänzlich frei von kategorischen Behauptungen. Das idealistisch-heroische Pathos des „Tractatus" kann dadurch aber nicht mehr zerstört werden; es bekommt nur seinen bescheidenen und pragmatischen Gegenpol. So sind im Lebenswerk eines Philosophen zwei polare Grundhaltungen erkennbar, die - allgemein gesehen - einen der fundamentalen Gegensätze in der Geschichte der Philosophie bilden. Dieser Gegensatz zwischen Konzept, Theorie, Ratio auf der einen und der Empirie auf der anderen Seite fand seine deutlichste Ausprägung im Wettstreit des kontinental-europäischen Rationalismus mit dem britischen Empirismus im 17. Jahrhundert. Hier Spinoza, Leibniz, Pascal und vor allem Descartes („cogito ergo sum"), dort Bacon, Locke, Hume und auch Berkeley („esse est percipi"). Bekanntlich betonen Rationalisten die Priorität der gedanklichen Konzepte, Hypothesen und Theorien, Empiristen dagegen die Priorität der Wahrnehmungserfahrungen, Beobachtungen, Sinneseindrücke, des „Gegebenen". Wendet man diese Unterscheidungskriterien an, dann wird Wittgensteins „Tractatus" der rationalistischen, „Philosophische Untersuchungen" der empiristischen Tradition zugeordnet. Nun wollen wir versuchen, jene Gegensätze zu skizzieren, die als Analogien zu dieser (vereinfacht dargestellten) Zweiheit der Philosophie Wittgensteins bzw. zum allgemeinen philosophischen Gegensatz zwischen Konzept und Empirie aufgefaßt werden können.
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1
Zu zwei Ausrichtungen der Architektur
Wenn man den Begriff der Architektur nicht enger auslegt, dann kann er zwei gegensätzUche Bereiche umfassen. Der eine kann mit dem Begriff des Konzepts, der andere mit dem Begriff der Empirie assoziiert werden. Für Architektur, die einem abstrakten Konzept folgt, ist der in einer kategorischen Komposition sich manifestierende Ordnungswille bezeichnend. Den Kontrast dazu bildet Architektur, die den konkreten Gegebenheiten verpflichtet bleibt, handle es sich nun um Gegebenheiten des Bauens, des Gebrauchs oder des Ortes, wobei Gestaltungsintentionen und Gestaltungsregeln - falls überhaupt involviert - diesen Gegebenheiten untergeordnet sind oder von ihnen abgeleitet werden, was deutlich an das empiristische Prinzip der Induktion erinnert. Ein anschauliches Beispiel dieses Gegensatzes finden wir in entsprechender geographischer Zuordnung und zeitlicher Nähe der Auseinandersetzung zwischen den philosophischen Systemen des Rationalismus und des Empirismus: die kontinentale Villa, zweifellos am besten durch Palladlos Villa Rotonda repräsentiert, in der Gegenüberstellung mit einem typischen englischen Landhaus. (Abb. 3) Auf der einen Seite strenge Geometrie, absolutes Ordnen, Formen und Ausrichten ohne Rücksicht auf Besonderheiten irgendeiner Art, heroische Attitüde des von der Natur sich abhebenden Artifiziellen; auf der anderen Seite unbeschwertes, pragmatisch ausgerichtetes und akzidentell anmutendes Anordnen mit Respekt vor den Anomalien der Einzelheiten, unproblematische Bescheidenheit, Gewöhnlichkeit und Gebrauchsorientiertheit der Empirie des Bauens, natürliches und unauffälliges Einordnen in die Umgebung. (Von dieser Haltung scheint es nicht allzuweit zu sein zur Ästhetik von „the strip is almost all right" oder gar des „all is pretty".) Verfolgt man diese zwei Architekturausrichtungen zurück zu ihren Ursprüngen, nach exemplarischen Gebilden suchend, so kommt man im Bereich der „konzeptuellen" Architektur wahrscheinlich zum griechischen Tempel, im Bereich der „empirischen" Architektur vielleicht bis zur bloß vorgefundenen Höhle. Natürlich bieten sich für diese gegensätzlichen Bereiche auch prägnantere Bezeichnungen an. Den einen könnte man Architektur par excellence oder schlicht „die Architektur" nennen, den anderen - wie bereits üblich - Architektur ohne Architekten oder eben „Nicht-Architektur". Dazu sei lediglich angemerkt, daß Bertrand Russell der Meinung war, Wittgensteins „Philosophische Untersuchungen" hätten mit Philosophie nichts zu tun. (3/18) 12
Abb. 3 Architektur abstrakten Konzepts, Architektur empirischer Tatsachen
Andrea Palladio: Villa Rotonda, Vicenza (31/359)
Eden Nesfield: Landhaus Pias Dinam, Montgomery (32/113) 13
2
Zu zwei Faktoren jeder Architekturarbeit
Die vorhin erwähnten zwei Ausrichtungen der Architektur treten freiHch kaum irgendwo in reiner Form auf; vielmehr geht es immer nur um vorherrschende Tendenzen, um Prioritäten. Allein schon aus Gründen der Statik kann es keine völlig gestaltlose, absolut ungeordnete Architektur geben. In diesem Sinne ordnet sich das Baumaterial gewissermaßen selbst. Oft entwickelt auch ein Entwurf - zumindest dem Anschein nach - eine ordnende Eigendynamik.
Abb. 4 Augenscheinliche Ungenauigkeit Wittgenstein-Haus, Eingang von der Halle in den Saal (1/90) 14
Andererseits ist es absolut unwahrscheinlich, daß eine Architektur im Zustand eines idealen, abstrakten Konzepts ohne jegliche Veränderungen überhaupt nur zu Papier zu bringen ist, geschweige denn baulich realisiert werden kann. Die banalste Ursache von Veränderungen und Verschiebungen ist die Unvermeidbarkeit von Ungenauigkeiten (Abb. 4), die wirklich lästigste und ärgerlichste aber die in genialem Konzept großzügigerweise vernachlässigte Materialität (siehe z.B. die Genesis des MVS). In jedem Bau, jedem einzelnen Architekturwerk, jedem Entwurfsprozeß gibt es das Willensmoment des Konzepts und das Widerstandsmoment des empirischen Materials. Hier tangieren wir eine implizite These unserer Abhandlung: Es liegt in der Natur der Dinge, daß ein Architekturkonzept sich mit der „Materie" der Architektur nie ganz vertragen kann. Unter dieser „Materie" verstehen wir die physisch-materiellen, die syntaktischen und die pragmatischen Unabdingbarkeiten der Architektur. Diese „Materie" ist äußerst sperrig, eigenwillig und unnachgiebig. Sie zwingt jedes logische Konzept zu Inkonsequenzen, die in der Tat sein Scheitern bedeuten. (Die Rede ist nicht vom kleinlichen Scheitern an irgendwelchen ungünstigen äußeren Umständen, sondern vom heroischen Scheitern des Abstrakten an dem Konkreten.) Wer sich einmal in eine Entwurfsarbeit vertieft hat, kennt die magisch suggestive Kraft der Idealvorstellungen - der Ergebnisse eines abstrakt logischen Denkens - , den verführerischen Zauber reiner Geometrien, die lockende Vernetzung von klaren Ausrichtungen, exakten Projektionen, expansiv sich verbreitenden Entsprechungen: all diese Besessenheit zu ordnen, die entweder zu erstarrten Schematismen oder zu fortschreitenden, nicht mehr auflösbaren Verwicklungen führt. Er kennt auch die schmerzhafte Einsicht, nicht alle nach und nach ins Auge gefaßten Maximen zugleich erfüllen zu können, sich über nicht perfekt gelöste Probleme schließlich hinwegsetzen zu müssen, in scheinbar einfachen Situationen an endgültig unüberwindbaren Paradoxien angelangt zu sein. Offen bleibt natürlich immer noch der Kunst-Weg: die Bedrängnisse zu exponieren, gestalterisch zu interpretieren, miterleben zu lassen. Es gibt schöne Häuser, und es gibt häßliche Häuser. Es gibt banale Häuser, und es gibt geistreiche Häuser. Doch an jedem Haus scheitert der konsequente Geist. Das ist schön anzuschauen. 15
3
Zum Wktgenstein-Haus
Zur Demonstration des Gegensatzes zwischen den zwei Architekturausrichtungen sowie des Gegensatzes zwischen den zwei Faktoren jeder Architekturarbeit ist das Wittgenstein-Haus insoweit ein äußerst instruktives Beispiel, als es (hinter einer homogenen Fassade) zwei gegensätzliche Teile aufweist. Im Repräsentationsbereich des Erdgeschoßgrundrisses, bestehend aus Eingang, Vorraum, Halle, Speisezimmer, Saal, Wohnzimmer und (dem höher gelegenen) Frühstückszimmer, manifestiert sich die ordnende Kraft eines abstrakten Konzepts. (Abb. 5) In der hinteren Zone des Erdgeschoßgrundrisses und in den Grundrissen der beiden Obergeschosse offenbart sich die „Materie" der Architektur in ihrer rohen Gestaltlosigkeit und Konkretheit. (Abb. 6) Nun wirkt aber der unsystematische Teil der Villa gerade in Konfrontation mit dem konzeptuellen Teil nicht als unangestrengte, problemlose Nicht— . 4«!
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Abb. 5 Wittgenstein-Haus, Erdgeschoß, Ausführungsplan (2/37) 16
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Abb. 6 Wittgenstein-Haus, 2. Stock, 1. Stock, Baueingabepläne (2/50, 44) 17
Architektur, sondern vielmehr als unter dem Eindruck von Bedrängnissen letztlich aufgegebenes Terrain. Andererseits ist auch jener Teil, in dem sich der Ordnungswille eindeutig durchgesetzt hat, voll von Spuren eines verbissenen Kampfes um die Kohärenz eines abstrakten Konzepts, das aufgrund der Konstellation seiner Maximen den heftigen Widerstand der „Materie" geradezu herausfordert. Einige Beispiele (Abb. 7): - Die Wand zwischen Saal und Halle soll der Anforderung standhalten, sowohl eine der Bauart des Salles entsprechende tragende Mauer als auch eine in das Skelettsystem der Halle sich einfügende ausgefachte Stützenkonstruktion zu sein, also mit jeder ihrer beiden Seiten konstruktiv anders zu reagieren und etwas anderes darzustellen. - Die Wand zwischen Speisezimmer und Terrasse soll durch die gleichmäßige Aufteilung der vier Türen (drei Außentüren, eine Innentür) die Symmetrie des Speisezimmers bestimmen, wobei aber die (ursprünglich vorgesehenen) quer verlaufenden Unterzüge diese Symmetrie in Frage stellen. - Die Wand zwischen Eingang und Wohnzimmer wird verdoppelt, weil keine Querwand den durch die Breitendifferenz der Eingangsräume verursachten Wandknick aufnehmen kann, wie es auf der anderen Seite mittels der Wand zwischen Garderobe und Waschraum geschieht. - Diese umständlich erreichte Planheit der kurzen Wohnzimmerwand erscheint wertlos im Hinblick auf den Kaminkörper, der, offensichtlich im letzten Moment in eine Raumecke eingebaut, sowohl die Planheit der anderen kurzen Wand als auch die Symmetrie der Fensterwand und damit die mühsam aufgebaute geometrische Ordnung des Raumes zerstört. - Unter welcher äußersten Anstrengung diese Ordnung gesucht und zu konstruieren versucht wird, mit welchem Aufwand (und Schmerz) auch um die Gesamtordnung des Hauses gerungen wird, dokumentiert der von der Wand zwischen Wohnzimmer und Saal ablesbare Konfliktbericht. (Abb. 7,8,9) Zwei Idealräume, deren sämtliche Wände offenbar symmetrisch sein sollten, prallen hier so unvorteilhaft aufeinander, daß die Symmetrie-Maxime kaum noch zu erfüllen ist. Der seitliche Eingang des Wohnzimmers verursacht eine Verschiebung der Wohnzimmerachse gegenüber der entsprechenden Saalachse und erschwert damit erheblich die Aufgabe, eine für beide Räume zufriedenstellende Lage der Verbindungstür zu finden. Der Weg eines einfachen geometrischen Ausgleichs - das Wohnzimmer mit einer der Eingangstür analogen Ausgangstür im Terrasseneinschnitt zu verse18
hen, was freilich zur Verbreiterung der vorderen Hausfassade führen würde kann offenbar nicht beschritten werden. D a die symmetrische Ordnung des Saales als unantastbar betrachtet wird, entfesselt sich im Wohnzimmer entlang der den beiden Räumen gemeinsamen Wand ein Positionskampf bzw. eine Materialschlacht zwischen links und rechts.
Ausschnitt:
RAUM. A b b . 7 Wittgenstein-Haus, Erdgeschoß, Baueingabeplan (2/36) 19
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RAUMi
t 1 гl· Г Ч k »«β r 8 (2/36) Abb.
Zunächst wird die Wandmitte durch ein 20 cm breites Pfeilerchen markiert. Dann wird auf der rechten Seite - gleichsam als Attrappe - ein 40 cm breiter Pfeiler aufgestellt, der dem etwa in der Mitte der linken Seite stehenden Eckpfeiler der Halle lagemäßig entspricht. Da jedoch der rechte Pfeiler eine genügend tiefe Nische entstehen lassen soll, in der die Ecke der an dieser Stelle zurückspringenden Außenmauer verdeckt werden könnte, muß auch der linke Pfeiler tief in das Wohnzimmer hineinreichen. Nun wird so getan, als wäre zwischen dem rechten Pfeiler und der Außenwand eine der Zimmereingangstür analoge Terrassenausgangstür möglich oder sogar vorhanden; wie links bei der wirklichen Tür, wird auch hier in einem Mauerabstand von 5 cm durch 5 cm breite seitliche Abstufungen eine Türnische mit Türlaibung gebildet, doch führt die 135 cm breite Öffnung lediglich in die Nische mit dem verborgenen Mauerknick. Die Verbindungstür zwischen Saal und Wohnzimmer muß jetzt im Wandbereich zwischen dem Mittelpfeilerchen und dem rechten Pfeiler angeordnet werden, und zwar so, daß ihre Achse mit der Saalachse übereinstimmt. Infolge dieser Bedingung kann die Verbindungstür nicht den ganzen zur Verfügung stehenden Wandbereich einnehmen; es verbleibt ein 35 cm breiter Restbereich, der als ein Mauerstück in der Wandebene des Mittelpfeilerchens, mit dem zusammen er die Begrenzung der 125 cm breiten Öffnung bildet, dem rechten Pfeiler zugeschlagen wird. Dies kann links nicht ohne Gegenmaßnahme bleiben; auch hier wird dem Pfeiler ein ähnliches, 35 cm breites Mauerstück angefügt, so daß die Breite der bis zum Mittelpfeilerchen reichenden, mit der Verbindungsöffnung symmetrischen Nische auch nur 125 cm beträgt. Nun endlich ist ein geometrisches Gleichgewicht zwischen links und rechts hergestellt, freilich nur im vorderen Tiefenbereich dieser komplizierten Wandkonstruktion. Bis zu ihrem Hintergrund darf der Blick nicht vordringen, denn hier gibt es weder eine Symmetrie der Öffnungen noch eine Symmetrie der Wandebenen bzw. Nischenrückwände. 20
•
β
Abb. 9 (2/37)
Dem Ausführungsplan zufolge soll die neben der Verbindungsöffnung befindliche und ihr spiegelbildlich entsprechende Nische zugemauert werden, so daß die Fronten des linken Mauerstücks und des Mittelpfeilerchens - auf diese Weise verbunden - in einer undifferenzierten Fläche zusammenfließen, wonach die geometrische Ordnung des ganzen Wandbereichs zwischen den 40 cm breiten Pfeilern nicht mehr erkennbar ist und die Lage der Verbindungstür somit als beliebig erscheint . . . (Abb. 9) Was aber schließlich (nach einem Umbau in den siebziger Jahren) von der ganzen Anstrengung übriggeblieben ist, zeigt der Bestandsplan. (Abb. 10)
Abb. 10 Wittgenstein-Haus, Erdgeschoß, Bestandsplan (2/41) 21
Uns interessiert aber auch an diesem Beispiel vielmehr das ursprüngliche Ringen konzeptueller Intentionen mit den Gegebenheiten der Architektursyntax, eine Auseinandersetzung, in der naturgemäß das Ordnungskonzept um so unterlegener ist, je weniger die unveränderbaren Gesetzmäßigkeiten des geometrisch-materiellen Zusammenfügens beachtet werden und je mehr der einzelne Architekturteil als isoliertes Element aufgefaßt und behandelt wird, ohne daß er aber tatsächlich die Autonomie einer selbständigen, unabhängigen Einheit erreichen kann. Jenes Charakteristikum der Wittgensteinschen Architektur, das Lothar Rentschier auf überzeugende Weise identifiziert, als „eindeutig erkennbare Tendenz zum Elementansieren und zum isolierten absoluten Architekturelement" {1/ 152) beschreibt, mit Eigenschaften klassizistischer Architektur vergleicht und somit in einen interpretatorischen Zusammenhang mit der „Absage an das barocke Prinzip des ,Strebens der Elemente nach vielfacher Bindung'" (2/86) stellt, sehen wir nicht hauptsächlich als Stilmerkmal, sondern im konkreten Fall eher (oder zumindest auch) als Symptom eines ungeübten Umgangs mit der Architektursyntax und als Ursache vieler sich fortpflanzender Schwierigkeiten. Das Wittgenstein-Haus unter dem Aspekt der Syntax betrachtend, wollen wir unterscheiden zwischen einem tatsächlichen „Autonomiestreben der Elemente" und einem Isolieren von Elementen, die de facto nach Bindungen und Entsprechungen streben. Wenn aus dem Rechteck der Vorderfassade das Rechteck des Eingangsbereichs herausgelöst und nach nur ihm eigenen geometrischen Regeln behandelt wird, so ist das etwas grundsätzlich anderes, als wenn zwei Seiten derselben Wand unabhängig voneinander gestaltet werden und das Rechteck einer Durchgangsöffnung dabei in zwei Wandkompositionen eingebunden werden soll, deren geometrische Systeme in keinem Punkt übereinstimmen. Zwei Wände, die in einer Raumecke zusammentreffen, können - jede für sich - sehr wohl nach Autonomie streben; sie kann ihnen aber auch aufgezwungen werden, wenn das - jedenfalls vorhandene - Problem der Ecke gar nicht in Betracht gezogen wird. Wenn „nicht um die Ecke gedacht" wird, so kann dies eine gestalterische Intention sein - oder aber das simple Unvermögen, auch noch das Problem der Ecke zu lösen, wenn bereits die Probleme der einzelnen Wände schwer zu bewältigen sind. Daß im WittgensteinHaus Kollisionen in den Raumecken nicht unbedingt als beabsichtigt anzusehen sind, beweisen die liebevoll und präzise konstruierten Eckradiatoren. (Abb. 11) 22
Westecke der Halle
Radiator im Frühstückszimmer
Abb. 11 Wittgenstein-Haus, Eckkollisionen und Eckradiatoren (1/107,111) 23
Zwei Wände, die gegeneinander stehen und sich daher nicht berühren, können mit Erfolg als autonome Einheiten behandelt werden. Ein solches Vorgehen wird aber problematisch, wenn die Wände letztlich doch durch Geometrisierung der sie verbindenden Flächen (ausgeprägter Fugenraster des Fußbodens, Anordnung der Elektroauslässe im Plafond) aufeinander bezogen werden. Ahnliches gilt auch für ganze Räume und deren Konfrontation innerhalb des Gesamtgrundrisses. Es ist schon schwierig genug, den Fußboden eines Raumes nachträglich einer modularen Ordnung zu unterwerfen, dies um so mehr, wenn auf unterschiedliche Fußbodenraster der anschließenden Räume Rücksicht genommen werden muß. (Abb. 10) In seinem Vergleich des Wittgenstein-Hauses mit dem „Tractatus" führt Lothar Rentschier auch folgenden Aspekt ins Treffen: „Das apriorische Konzept mit seiner mangelnden empirischen Absicherung hat seine Strukturanalogie in der nicht der handwerklichen Erfahrung gemäßen Präzisionsforderung. Sie stößt auf fast unüberwindliche Schwierigkeiten bei der Ausführung." (2/153) Er bezieht sich auf jene insistente Pedanterie, mit welcher Wittgenstein technische Einrichtungsgegenstände und Details (Fenster und Türen, Heizkörper, Griffe, Schlüssellöcher) entwarf und - allen pragmatischen Einwänden trotzend - herstellen ließ. Es handelt sich dabei aber um eine Sphäre, wo latente Toleranzen des Materials und der Funktion unter einer gesteigerten Anstrengung voll genutzt oder sogar erweitert werden können. Dagegen ist jene mangelnde empirische Absicherung, die hier diskutiert wird, nämlich die im Bereich der das bauliche Detail und die Geometrie involvierenden Architektursyntax, weitaus verhängnisvoller und auch durch einen beharrlichen Willen kaum zu kompensieren. Es gibt einen qualitativen Unterschied zwischen der Weigerung einer Schlosserfirma, ein Material in einer unerprobten Weise zu verarbeiten, und dem Widerstand der Syntax-Geometrie, ein nicht ihren Gesetzen gemäß geordnetes Baumaterial aufzunehmen. Nun ist es aber möglich, durch eine Verlagerung des Interesses (wie auch der Ambitionen und Energien) von der Auseinandersetzung mit dem Gesamtkonzept auf die Beschäftigung mit der Perfektion der Einzelheiten die nicht bereinigten Unstimmigkeiten des Konzepts in den Hintergrund treten zu lassen oder gar einer Umwertung zu unterziehen - im Sinne einer von der Exaktheit der Details ausgehenden positiven Interpretation. Gerade dies scheint uns für das Wittgenstein-Haus und dessen Rezeption bezeichnend zu sein. 24
Möglicherweise gibt es innerhalb des „Tractatus" und des WittgensteinHauses ähnliche oder vergleichbare Einzelmerkmale. Markanter jedoch erscheint uns die Analogie des Scheiterns beider Konzepte. Offensichtlicher und bedeutender als jene „einfache und statische Schönheit des Hauses", die an die Sätze des „Tractatus" erinnere, finden wir den Prozeß der eskalierenden Verwicklung, wie er unter den Händen des Entwerfenden oder vor den Augen des Betrachters abläuft. Auf eine Begegnung mit den Problemen der Architektursyntax kann nur mit einem Respekt vor empirischen Gegebenheiten sinnvoll reagiert werden. Ein solcher Respekt ist charakteristisch für Wittgensteins Spätphilosophie. Auch in diesem Zusammenhang läßt sich aber lediglich von einer Parallele sprechen. Weder kennen wir die Gedankengänge Wittgensteins während der Arbeit am Entwurf und am Bau, noch wissen wir, wie die weitere Entwicklung seines Denkens durch die Beschäftigung mit Architektur beeinflußt wurde. Doch manche der Entwurfsvorgänge, die zu konkreten Ergebnissen führten, halten wir für relativ solide rekonstruierbar oder gewissermaßen objektiv interpretierbar. Wie sich am Beispiel der Wand zwischen Wohnzimmer und Saal zeigt, können derartige Darstellungen zuweilen sehr episch anmuten, denn im Wittgenstein-Haus gibt es Situationen, die offensichtlich durch längere Verkettungen von einzelnen Entscheidungen, Widerständen, versuchten Korrekturen usw. entstanden sind. Einem konzeptuellen Denken, das auf einen Widerstand der „Materie" stößt, bieten sich zwei prinzipielle Möglichkeiten: von neuem zu beginnen und diesen Schritt gegebenenfalls zu wiederholen - auf jeweils höherer Erfahrungsstufe, mit besser koordinierten Maximen und raffinierteren Methoden (wobei möglicherweise erkennbar wird, daß die Architektursyntax sich gegen ein wirklich konsequentes Konzept grundsätzlich sperrt) - oder aber auf die auftretenden Probleme mit Ad-hoc-Maßnahmen zu reagieren. Dabei handelt es sich um Subkonzepte, die dem Gesamtkonzept beigefügt werden. Sie verstärken seine Schwachstellen, indem sie diese zu sanieren versuchen, zugleich aber noch deutlicher machen. Unsere These lautet nun, daß der MVS das Resultat eines solchen Subkonzepts ist.
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Abb. 13 Wittgenstein-Haus im Jahr 1928, Blick von Süden (1/37)
Abb. 12 Südostfassade, Zwischenstock, Baueingabepläne (2/58, 38) 26
Der Mauervorsprung (MVS) befindet sich im Frühstückszimmer des Wittgenstein-Hauses. Dieses Zimmer Hegt im „Zwischenstock" - oberhalb der Garderobe und der Naßräume, und zwar in einem seitlichen, dem Hauptkörper des Hauses angefügten Gebäudeteil. Durch den Einschnitt einer Terrasse ist jedoch aus diesem Gebäudeteil jene Baumasse noch teilweise herausgelöst, die grundrißlich vom Frühstückszimmer voll eingenommen wird. Hinsichtlich der Baumassengestaltung ist das Zimmer also einerseits weitgehend separiert, andererseits auf komplexe Weise syntaktisch eingebunden. Das Frühstückszimmer hat einen mit Stufen versehenen Eingang und zwei Fenster. Der Eingang wurde in einer Zimmerecke angeordnet; eine andere Möglichkeit bot der Gesamtgrundriß nicht. Jedes der beiden Fenster ist die einzige Öffnung in einer Außenwand des Zimmers, jede der beiden Außenwände bildet in diesem Geschoß einen selbständigen Fassadenteil. Es war eine logische und selbstverständliche Intention des konzeptuellen Denkens, in beiden Fällen das gleiche zu tun: die Fensteröffnung in der Wand axial anzuordnen, dies sowohl in bezug auf die innere Wandfläche als auch hinsichtlich der Fassade. Gibt es eine einfachere Architekturaufgabe, als ein Fenster mittig in eine ganz gewöhnliche, glatte, von zusätzlichen Ansprüchen oder Bedingungen
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nicht belastete Wand zu setzen? Und doch ist diese scheinbar simple Aufgabe manchmal unlösbar. Im Frühstückszimmer des Wittgenstein-Hauses kann man sich davon überzeugen. Es ist die „Materie" der Architektur, hier in Gestalt der Architektursyntax, woran die Verwirklichung der konzeptuellen Absicht scheitert. Jede Wand hat zwei Seiten, d.h. zwei Wandflächen, und außerdem zwei Enden, mit denen sie meist in das übrige Mauerwerk des Hauses eingebunden ist. Hier kann es zu Differenzen zwischen den Längen der zwei Wandflächen kommen, und diese Differenzen können an den zwei Enden der Wand unterschiedlich sein. Herrschen nun an beiden Enden einer Wand gleiche geometrische Verhältnisse, so sind die grundrißlichen Symmetrieachsen der beiden Wandflächen identisch. Dann ist es auch problemlos möglich, eine Öffnung zu konstruieren, die in bezug auf beide Seiten der Wand axial angeordnet ist. Dies ist der Fall bei einer der beiden Fensteröffnungen im Frühstückszimmer. Sie befindet sich in einer Wand, die in zwei analogen Ecksituationen endet: An beiden Enden dieser Wand - in den beiden Ecken - schließen in gleicher Richtung und unter gleichem (rechtem) Winkel gleich dicke Außenwände an. Somit ist die Achse der inneren Wandfläche identisch mit der Achse der äußeren Wandfläche, die Raumachse identisch mit der Baukörperachse, und die Fensterachse kann mit diesen Achsen zusammenfallen. Anders verhält es sich bei der anderen Fensteröffnung. Sie verbindet - und so miteinander konfrontiert - zwei Seiten einer Wand, an deren Enden unterschiedliche geometrische Verhältnisse herrschen: Diese Wand endet links in einer Außenecke, rechts in einer Innenecke des zusammengesetzten Baukörpers. Daher gibt es keine axiale Ubereinstimmung der inneren Wandfläche mit der Fassadenfläche. Das Problem liegt nun darin, daß diese Fassadenfläche als ein selbständiges Rechteck angenommen wird, ganz im Sinne der „Autonomie der Elemente". Seiner Kontur nach ist dieses Rechteck ja im vollkommenen Gleichgewicht; seine senkrechten Begrenzungslinien scheinen gleichwertig zu sein. (Abb. 12) Noch spricht nichts dagegen, diese Fassadenfläche mit einer senkrechten Symmetrieachse zu versehen und auf diese Achse auch die Fensteröffnung zu setzen. Es geschieht exakt, wie die (das darunter gelegene Fenster der Naßräume betreffenden) Plankoten bezeugen: 176 cm und 2,5 mm (!) von der Außenecke zur Fensterachse, das gleiche Maß von der Fensterachse zur Innenecke. (Abb. 5) Im Grundriß zeigt sich aber, daß das Rechteck dieser Fassadenfläche strukturell (syntaktisch) nicht im Gleichgewicht ist und daß seine seitlichen Begren28
Zungslinien keineswegs als gleichwertig gelten können. Die Intention, die Fensteröffnung in dieser Fläche axial anzuordnen, erweist sich als eine abstrakte Idealvorstellung, die infolge ihrer „mangelnden empirischen Absicherung" auf heftigen Widerstand der Architektursyntax stößt. Eine perfekte, jedoch absurde Lösung des Problems bestünde darin, den Baukörper des Frühstückszimmers auch dort mit einer dicken „Außenwand" zu versehen, wo er an den Hauptkörper des Hauses angefügt ist und daher keine eigene Raumbegrenzung braucht. Damit würde der zurückgesetzte Baukörper sich gleichsam verselbständigen und seine Vorderfassade eine tatsächliche Autonomie erlangen; die Innenfläche dieser Wand würde auf das durch die Symmetrie bestimmte Maß verkürzt. Ahnlich wie in der Richtung der anderen grundrißlichen Dimension des Zimmers wäre dann auch hier die Raumachse mit der Baukörperachse identisch; das Fenster könnte sowohl in der Fassade als auch in der inneren Wandfläche axial angeordnet werden.
Abb. 14 Zwischenstock, Baueingabeplan (2/38) 29
Diese Lösung ist aber im konkreten Fall insoweit nicht durchführbar, als die unnötige (nur zur Erreichung der Symmetrie notwendige) innere „Außenwand" mit dem Zimmereingang kollidieren würde. Dennoch ist es im Prinzip die Lösung, die hier angestrebt wird, allerdings nur im Ansatz. Und dieser Ansatz ist der MVS. Der MVS teilt die Innenfläche der vorderen Zimmerwand in eine ideale symmetrische Fensterwand und eine Restfläche, die eben der Mauerstärke jener gedachten „Außenwand" entspricht. Der MVS ist ein verkörpertes Subkonzept - eine Ad-hoc-Maßnahme, mit der das konzeptuelle Denken den Widerstand der „Architekturmaterie" zu überwinden versucht, was gleichzeitig zur Exposition des konkreten Problems, aber auch der allgemeinen Problematik führt. Daß der MVS keineswegs konstruktiv bedingt, sondern lediglich formal begründet ist, geht aus den Konstruktionszeichnungen (Schalungsplänen) eindeutig hervor. (Abb. 16)
Abb. 15 Zwischenstock, Ausführungsplan (2/39) 30
Abb. 16 Deckenplan; links unten (separat) das Frühstückszimmer (2/48)
Pragmatisch könnte der MVS an Sinn gewinnen, wenn er den Anfang einer in die Tiefe des Zimmers reichenden Nische bilden würde; sie wäre wohl ein vernünftiger Ersatz für die ominöse innere „Außenwand", könnte aber aus demselben Grund wie diese - wegen des in der Raumecke gelegenen Eingangs - nicht zu Ende geführt werden. Eine zusätzliche und gravierende Schwierigkeit besteht nun darin, daß hinter der Rückwand dieser gedachten Ersatznische bereits eine zwar kleine, aber signifikante Nische vorhanden ist. Ihre Existenz deutet darauf hin, daß der Hauptkörper des Hauses - ebenso wie der Baukörper des Frühstückszimmers - entlang der ihnen gemeinsamen Trennlinie keine dicke Mauer braucht, so daß an dieser Stelle eigentlich zwei parallele unwirkliche „Außenmauern" notwendig wären, um im Frühstückszimmer einen geometrischen Ausgleich zu schaffen. Wäre nämlich der angrenzende Vorraum nicht gegenüber dem Eingang verbreitert, so verliefe die das Frühstückszimmer begrenzende Leichtwand gerade, und zwar in Fortsetzung der Rückwand der kleinen Nische. In einem solchen Regelfall wäre die Position der ganzen Leichtwand (wie jetzt die ihres Ansatzes) durch den inneren Knickpunkt der umlaufenden Außenmauer angegeben. 31
Dies hätte für das Frühstückszimmer die Konsequenz, daß sich die Raumachse von der Fassaden- und Fensterachse noch weiter entfernen würde. (Als eine Zuspitzung des Problems könnte man dies insbesondere dann empfinden, wenn man sich bemühen würde, durch eine Abschrägung der Fensterleibung die beiden divergierenden Achsen innerhalb der Mauerstärke schräg zusammenzuführen.) Betrachtet man die Situation im Frühstückszimmer also etwas abstrakter und allgemeiner, losgelöst von der besonderen äußeren (und daher als akzidentell zu charakterisierenden) Einwirkung der Vorraumverbreiterung, dann sieht man klarer - sowohl die Ursache als auch die physische Gestalt des MVS.
Abb. 17 Wittgenstein-Haus, Zwischenstock, Ausführungsplan (2/39) 32
Abb. 18 Die Natur der Syntax
K:
гг.
es geht nicht
K-
es geht noch immer nicht
Vz
es geht erst wenn es zerfällt
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II
Poetik und Architektur Zum Bedeutungspotential des Mauervorsprungs
Wollen wir über eine Poetik des Mauervorsprungs sprechen, so müssen wir uns zunächst allgemein mit dem Begriff der Poetik befassen, seine Verwendung begründen, die Möglichkeiten seiner Beziehung zum Begriff der Architektur untersuchen. Dies alles kann hier nur in Form einiger Notizen geschehen. Dafür werden wir, wann immer sich die Gelegenheit dazu bietet, zum konkreten MVS zurückkehren. Zu glauben, daß man Begriffe definieren muß, bevor man über sie diskutieren kann, hält Karl Popper für einen großen philosophischen Fehler. (4/49) Man müßte nämlich, um einen Begriff zu definieren, auf andere Begriffe zurückgreifen, die aber wiederum definiert werden müßten. Die Diskussion könnte nie beginnen. Außerdem wäre es vergeblich, die Bedeutung eines vieldeutigen Begriffs einschränkend festlegen zu wollen, denn die solchermaßen eliminierten Bedeutungen würden nicht deshalb aufhören, bei seinem Gebrauch mitzuschwingen. Gerade der Begriff der Poetik impliziert ja - zumindest in der Mehrzahl seiner möglichen Bedeutungen - das Nichtaußerachtlassen des konnotativen und assoziativen Bedeutungsspektrums. Zu Verschiebungen und Anhäufungen von Bedeutungen kommt es im Verlauf der Geschichte. Mit der Respektierung dieser Tatsachen glauben wir dem Begriff besser gerecht zu werden als mit dem Versuch einer Definition. Poetik ist etymologisch verwandt mit dem griechischen „poiein", was „machen" bedeutet. Davon stammt „poiesis" - das Verfertigen, die Werktätigkeit. Für Piaton ist die poietische Philosophie eine dem Herstellen dienende Wissenschaft, wie z.B. Architektur. In seiner „Metaphysik" definiert Aristoteles „poiesis" als einen an „noesis" anschließenden Akt: „Das Werden und die Bewegung heißen teils Denken (noesis), teils Werktätigkeit (poiesis); nämlich die vom Prinzip und der Form ausgehende Bewegung Denken, dagegen diejenige, welche von dem ausgeht, was für das Denken das Letzte ist, heißt Werktätigkeit." (6/36) So entsteht „z.B. das Haus aus einem Hause im Geiste des Künstlers". (6/37) Für Aristoteles ist das Bauen „eine Kunst ( . . . ) und wesenhaft ein mit Vernunft verbundenes hervorbringendes Verhalten" (6/36), somit auch ein typisch poietisches Schaffen. 34
Dies ist also jene klassische Dimension des Begriffs, auf die z.B. Paul Valéry zurückgreift, als er in der „Première Leçon du Cours de Poétique" von einer Untersuchung des künstlerischen „Tuns" spricht und „Poetik" somit auf alle Kunstgattungen bezieht; jene Bedeutung, auf die sich auch Umberto Eco beruft, wenn er den Begriff der Poetik für „Das offene Kunstwerk" in Anspruch nimmt und ihn als „Form- und Strukturplan des Werkes" oder als „Operativprogramm" des Künstlers auffaßt. (12/10-11) Wenn Poetik als „Werkplan" verstanden wird, so stellt sich die Frage nach der Rekonstruierbarkeit dieses meist unsichtbaren, nicht überlieferten Dokuments. Dem so ausgelegten Begriff der Poetik muß daher ein anderer Begriff, jener der Werkanalyse, zugeordnet werden. Es geht nämlich darum, „daß man aus der Art, wie das Werk gemacht ist, erschließen möchte, wie es gemacht sein wollte"; man sucht im fertigen Werk nach der „Spur einer Intention". (12/10-11) Da eine Werkanalyse sowohl an sich ein rationales Vorgehen ist als auch innerhalb des Werkes rationale (intentionale) Elemente voraussetzen muß, bekommt der auf diese Weise involvierte, auf seinen klassischen Ursprung bezogene Begriff der Poetik eine konstruktiv-rationale Färbung. Dies wiederum läßt ihn geradezu exemplarisch auf Architektur projizieren. In diesem Sinne hätte also unser bereits unternommener Versuch, die Genesis des MVS zu rekonstruieren, mit einer derart aufgefaßten „Poetik" der Architektur zu tun. Der klassischen, von „poiesis" ausgehenden Quelle der mit dem Poetik-Begriff sich verbindenden Bedeutungen, die diesem Begriff eine anwendungsmäßige Breite geben, kann aber ein fast ebenso altes Fundament des Begriffs entgegengesetzt werden: „Ars Poetica" - allgemein die ausdrücklich auf Dichtkunst orientierte Poetik, konkret die theoretische Abhandlung von Horaz, in der er sich zu „Aufgabe und Pflicht" macht, zu zeigen, „wie man die Mittel bekommt, was den Dichter fördert und bildet, was passend ist, was nicht, wohin Können führt, wohin Irrtum". (6/39) Hier also ist Poetik ein für den Dichter verbindliches System von Regeln und Anweisungen. Wird der Begriff eng gefaßt, ist Poetik immer noch synonym mit der Theorie der Dichtkunst. Freilich handelt es sich nicht mehr generell um eine präskriptive Poetik der absoluten Norm, sondern schlicht um die Ästhetik der dichterischen Sprache, oder - in der strukturalistischen Anschauung - um die Untersuchung der sprachlichen Strukturen eines literarischen Werkes. Das Moment des Absoluten und Didaktischen haftet aber dem auf Literatur bezogenen Begriff der Poetik nicht nur in der Spätantike, sondern auch im ganzen Mittelalter an; die in der Zeit bis zum Barock verfaßten Poetiken ver35
bleiben in der Festlegung der dichterischen Verfahrensweisen normativ. Der Aufruf Giordano Brunos klingt im 16. Jahrhundert daher noch wahrlich ketzerisch: „Merk dir, daß die Poesie nicht aus den Regeln besteht, außer ganz beiläufig. Vielmehr stammen die Regeln aus der Poesie." (6/14-15) Interessanter als eine Anmerkung über die neuzeitlichen Tendenzen zur Präskription (z.B. in der marxistischen Kunstauffassung) ist vielleicht die Erwähnung der Tatsache, daß Mehrdeutigkeit, jenes gegenwärtig am häufigsten hervorgehobene Charakteristikum des Poetischen, bereits in der mittelalterlichen Theorie der Allegorik ins Spiel kommt, wenn auch in einer geregelten Form - als eine kleine Anzahl ohnehin vorgesehener Interpretationen. Allgemein und grundlegend wandelt sich die Bedeutung des Poetik-Begriffs erst im 18. Jahrhundert, in der Romantik. Es sind dabei zwei Tendenzen feststellbar, die auch zwei Gruppen von Bedeutungsschattierungen hervorbringen. Einerseits beginnt das Poetische die engen Grenzen des außerdem noch strikt segmentierten Gebiets der Dichtkunst zu überwinden, so daß sich der Anwendungsbereich des Poetik-Begriffs wieder erweitert. „Die romantische Poesie ist eine progressive Universalpoesie", formuliert Friedrich Schlegel und setzt programmatisch fort: „Ihre Bestimmung ist nicht bloß, alle getrennten Gattungen der Poesie wieder zu vereinigen und die Poesie mit der Philosophie und Rhetorik in Berührung zu setzen. Sie will und soll auch Poesie und Prosa, Genialität und Kritik, Kunstpoesie und Naturpoesie bald mischen, bald verschmelzen, die Poesie lebendig und gesellig und das Leben und die Gesellschaft poetisch machen, den Witz poetisieren und die Formen der Kunst mit gediegnem Bildungsstoff jeder Art anfüllen und sättigen und durch die Schwingungen des Humors beseelen." (6/144) Damit sind die Assoziationen umrissen, die den Poetik-Begriff nun expandieren lassen - bis zur Vision einer „unendlichen" Poesie, die „als ihr erstes Gesetz anerkennt, daß die Willkür des Dichters kein Gesetz über sich leide". (6/145) Andererseits - hier manifestiert sich die zweite Tendenz gleich im nächsten Satz - „ist oder soll alle Poesie romantisch sein". (6/145) Anschließend war sie es ja in ausreichendem Maß, und „im Hintergrund schien obligatorisch der Mond". (10/68) Aber nicht nur der Poet, sondern auch der Philosoph, wie z.B. Schopenhauer, spricht von einem „zauberischen Schimmer (. . .), welchen man bei sinnlich angeschauten Objekten das Malerische, bei den nur in der Phantasie geschauten das Poetische nennt". (6/177) Wie auch immer Vorlieben für bestimmte Themen und Ausdrucksweisen zeitlich bedingt und auch zeitlich begrenzt sein mögen, die Verbindung des Poetik-Begriffs mit romantischen Vorstellungen wirkt nachhaltig. Romantisierende Bedeutun36
gen begleiten vor allem das Adjektivum „poetisch" bei seinem umgangssprachlichen Gebrauch bis heute und bringen es dabei in die Nähe von „idyllisch" oder „pittoresk". Diese Assoziationen könnten auch mit einer unverkennbar romantischen Formel zusammenfassend beschrieben werden: „Poesie = Gemüthserregungskunst" [(>/\ЪЪ) Allerdings stammt diese Gleichung von Novalis und enthält - latent - einen sehr interessanten Aspekt, der übrigens im zitierten Satz Schopenhauers explizit dargelegt ist: daß nämlich das Poetische nicht so sehr mit dem Sinnlichen, sondern vielmehr mit dem Geistigen zu tun habe. Wenn man das allgemeine Schema der anthropologischen Funktionsbereiche heranzieht, welches in Ubereinstimmung mit Kant und seinen drei „Kritiken" drei grundsätzliche „Vermögen" des Menschen unterscheidet (das theoretische, das emotionale und das praktische Vermögen), so stellt man fest, daß das von Novalis ins Kalkül gebrachte „Gemüt" nicht den der Sinnessphäre zugeordneten konkreten Vermögen (Empfindung, Gefühl, Trieb), sondern den in der Rubrik des Geistes befindlichen Vermögen (Denken, Gemüt, Wollen) angehört. (5/15) Somit verliert der Poetik-Begriff auch in der gefühlsgeladenen romantischen Zeit nicht den Bezug zur Ratio. Dies bringt Novalis auch selbst deutlich genug zum Ausdruck, wenn er z.B. erwähnt, daß man mit Poesie nicht nur „Stimmungen" und „Anschauungen" hervorzhubringen suche, sondern vielleicht auch „geistige Tänze etc.". (6/133) Die Rolle des Intellekts in der Poesie wird von Novalis öfters hervorgehoben. Vom Dichter verlangt er „kühle Besonnenheit", denn die Vereinigung von Phantasie und Denkkraft sei die Quelle der beschwörenden Wirkung der Poesie. Es sei aber noch auf einen anderen Aspekt in Novalis' Sicht des Poetischen hingewiesen: „Die beste Poesie liegt uns ganz nahe, und ein gewöhnlicher Gegenstand ist nicht selten ihr liebster Stoff." (6/134) Schließlich antizipierte Novalis mit seiner Überlegung, daß Gedichte bloß wohlklingend, aber ohne allen Sinn und Zusammenhang sein könnten, eine der wichtigsten Tendenzen in der Poetik des 19. und 20. Jahrhunderts - die Intention, Poesie von jeder Inhaltslast zu befreien, um das eigentliche Wesen des Poetischen erkennbar zu machen. „Poésie pure", ein großartiger Versuch, das „rein Poetische" von der Mitteilungsfunktion der Sprache abzukoppeln, den poetischen Akt an sich aus der realen Gegenständlichkeit der Welt und aus den physischen Gegebenheiten des Daseins herauszulösen, wurde immer wieder aufs neue begonnen, sei es theoretisch - in Form von Abhandlungen und Manifesten - , sei es praktisch - in Kunstwerken, Aktionen oder dem eigenen Leben. 37
In der allerletzten Konsequenz, als absolut abstrakte Poetizität, konnte das Ideal des rein Poetischen freilich nie erreicht werden; das Poetische blieb immer an irgendein reales Material und seine realen Eigenschaften gebunden, von der Euphonie bzw. Kakophonie der Sprache oder der besonderen Typographie bildähnlicher Gedichte bis zu den Toleranzgrenzen der menschlichen Konstitution. Verwendet wurde der Begriff der „Poésie pure" erstmals 1830 von SainteBeuve; später erlangte er substantielle Bedeutung im französischen Symbolismus (insbesondere bei Mallarmé), danach bei Valéry. Ausdrücklich oder implizite figuriert er dann in künstlerischen Bewegungen des frühen 20. Jahrhunderts: im italienischen und im russischen Futurismus, im internationalen Dada sowie im Surrealismus. Es mag paradox erscheinen, daß sich gleichzeitig und in enger Verbindung mit der Suche nach dem rein Poetischen das Poetische mit der ganzen Realität und mit allen Bewußtseinsinhalten vermischt. Es erfaßt nicht nur die extremen Bereiche - den dadaistischen Nonsens und Zufall, die surrealistischen Tagträume und Unterbewußtseinsautomatismen, sondern auch die Gegenstände und Geschehnisse des Alltags. Am allerwenigsten assoziiert es sich nun mit den abgenützten romantischen Gefühlen und Requisiten. Was auch immer darunter konkret zu verstehen ist, das „rein Poetische" verdrängt - zumindest auf gewissen Bedeutungsebenen - jenes Romantische, den Poetik-Begriff nur noch verflacht Verzierende. Im Poetismus, einer Bewegung innerhalb der tschechischen Avantgarde der zwanziger Jahre, entwickelte die Künstlergruppe Devetsil - der Kunsttheoretiker Karel Teige, der Dichter Vítézslav Nezval u.a. - den Gedanken der „Poésie pure" zu einer nahezu kosmologischen Theorie. Das poetistische Programm wurde von Teige in einigen Artikeln formuliert, die in der 1927 erschienenen Broschüre „Stavba a basen" („Bau und Gedicht") zusammengefaßt sind. Teige bewundert die „nackte, reine und strenge Schönheit" der Ingenieurbauten, aber auch das Streben nach Reinheit in der modernen Architektur, vor allem den Purismus Le Corbusiers, und vergleicht die Befreiung der Architektur vom Dekor mit der Loslösung der Poesie von der Literatur, wie dies die „Poésie pure" intendiere. Im 20. Jahrhundert sei das Schöne kein Privileg der Kunst und diese wiederum keine Sache eines anachronistischen künstlerischen Professionalismus; alle Kultur beruhe auf der maschinellen Produktion, Poesie müsse allumfassend sein: „Nachdem Poesie die literarische Form verlassen hat, verbindet sie sich mit anderen Bereichen der modernen Schönheit, mit Film, Bildern, Pla38
katen, Radiophonie, Seefahrt, Touristik, Tanz, Mode, Zirkus usw. in einzige poetische Kunst der technischen Zeit." (7/130) Diese neue - reine und universelle - Poesie schöpfe einerseits aus dem Symbolismus eines Mallarmé - der „Quelle des reinen Lyrismus und einer undefinierbaren Poetizität", andererseits aus einer Literatur, die man als „konstruktivistisch" bezeichnen könne - z.B. aus den Romanen Jules Vernes. Drei mächtige Einflüsse seien die kubistische und surrealistische Poesie Apollinaires, das die Eigenheiten der amerikanischen Kultur reflektierende Werk Walt Whitmans und der Futurismus Marinettis. Neue Kunst sei „Konzeption elementarer Freiheit, Vorbereitung auf die grenzenlose Entfaltung von Poesie, reiner Ausdruck der Sensibilität". Aus Poesie, die sich der Feierlichkeit entkleidet, keine Weltanschauung mehr verkörpert und voll ironischen Elans ist, würde „Unterhaltung, etwas wie Akrobatik, absoluter spiritueller Clownismus". (7/137-142) An dieser Stelle erinnert man sich vielleicht an Novalis' „geistige Tänze etc." oder an Friedrich Schlegels Proklamation der Universalpoesie. Doch Teige distanziert sich ausdrücklich von jeder Art romantizistischer Tradition. „Die Kunst, die der Poetismus bringt, ist leger, heiter, phantasievoll, spielerisch, unheroisch und erotisch. Es ist keine Prise Romantizismus darin. Sie wurde in einer Atmosphäre der lebensfrischen Geselligkeit geboren, in einer Welt, die lacht; was macht es schon aus, wenn die Augen weinen. (. . .) Poetismus will aus dem Leben ein Vergnügungsunternehmen machen. Exzentrischen Karneval, Harlekinade der Gefühle und Vorstellungen, betrunkenen Filmstreifzug, wundervolles Kaleidoskop." (7/161-162) Den Poetismus stellt Teige in eine komplementäre Position zu einem „Konstruktivismus", welchen er einerseits als das Fundament des wissenschaftlichen, technischen und ökonomischen Aufbaus der modernen Welt versteht und als einen „Grundriß des Lebens" apostrophiert, andererseits als Quelle einer neuen Ästhetik anerkennt: „Die neue Schönheit wurde aus konstruktiver Arbeit geboren, welche die Grundlage des modernen Lebens ist. Der Triumph der konstruktiven Methode (Untergang der Manufaktur, Verdrängung dekorativer Kunst, Serienproduktion, Typisation und Standardisation) wurde nur durch die Hegemonie eines scharfen Intellektualismus ermöglicht..." (7/160) Doch dieser Konstruktivismus brauche den Poetismus als Zusatz, als eine Art Überbau: „Poetismus ist die Krone des Lebens, dessen basis Konstruktivismus ist. Wir Relativisten sind von einer verborgenen brationalität überzeugt, die vom wissenschaftlichen System unbemerkt blieb und deshalb nicht unterdrückt wurde. Es liegt im Interesse des Lebens, daß die Be39
rechnungen der Ingenieure und Denker genau sind. Aber jede Berechnung rationalisiert die Irrationalität bloß auf die Reichweite einiger Dezimalstellen. ( . . .) Poetismus ist nicht nur der Gegensatz, sondern auch eine notwendige Ergänzung des Konstruktivismus. Er basiert auf seinem Grundriß." (7/161) Allein die „reine" Poesie hat also zur gleichen Zeit und bei einem Autor zwei grundverschiedene Gesichter: die technoide Unsentimentalität und die sprießende Phantasie. Die vielen Aspekte und Nuancen des Poetik-Begriffs, alle die Assoziationen, die er je eingegangen ist und heute noch hervorruft, lassen sich kaum erfassen. Wir haben versucht, einige wichtige anzudeuten, und wollen sie kurz rekapitulieren: - die klassische Werktätigkeit (poiesis), auf die in der Gegenwart oft rekurriert wird, indem Poetik als Strukturplan eines - nicht unbedingt literarischen - Werkes oder als Werkanalyse aufgefaßt wird; - die präskriptive Poetik der absoluten Norm, heute verständlicherweise obsolet und - wenn dennoch in Betracht gezogen - mittelalterlich anmutend; - das Aufblühen des Begriffs in der Romantik, seine Expansion bei gleichzeitiger, in der Umgangssprache immer noch perpetuierter Romantisierung; - die inhaltliche Entlastung im Sinne des rein Poetischen, verbunden mit weitgehender Verallgemeinerung des Begriffs; - jede andere, täglich mögliche, unvorhersehbare Aktualisierung des Begriffs bzw. Erweiterung oder Verschiebung seiner Bedeutung, so wie es mit allen Begriffen im Gebrauch potentiell und auch tatsächlich geschieht. Diese - gewiß unvollständig dargestellte - Bedeutungsbreite des Begriffs ist durch keine Definition zu ersetzen, seine Entwicklung nie zum Stillstand zu bringen. Uns ging es hier vor allem darum, festzustellen, in welchem Maße die Bindung des Poetik-Begriffs an Poesie als Literatur gegeben ist bzw. wieweit der Begriff außerhalb des literarischen Bereichs verwendet werden kann, ohne grundsätzlich mißbraucht zu werden. Bezieht man sich auf die Dimension des Begriffs in der Antike, in der Romantik oder in dem von „Poésie pure" inspirierten Poetismus, so erscheint die Übertragung des Begriffs auf Architektur durchaus legitim. „Poesie, griechisch poiesis, ist jede souveräne und freie schöpferische Tätigkeit", sagt Teige (7/164) und kommt damit von der auf literarischem Gebiet entwickelten „Poésie pure" zurück zur bezugsneutralen ursprünglichen Be40
deutung des Poetik-Begriffs. Hier könnte man die zwei Aspekte der poetistischen Theorie noch einmal verdeutlichen, indem man unterscheiden würde zwischen jenem absolut sachlichen „poiein", welches - in ein maschinelles „Herstellen" verwandelt - die reine Poesie der Modernität hervorbringt, und jener „poiesis", die immer schon mehr war als ein mechanisches Erzeugen, wobei dieses „Mehr" mit Kunst, Freude und Phantasie zu tun hat und als nichtliterarische, begrifflich nicht faßbare Poetizität bezeichnet werden kann. Es ist nicht von ungefähr, wenn die nichtliterarische Poetizität mittels eines poetischen Bildes - z.B. als Lichteffekt - beschrieben wird; der „zauberische Schimmer" des Poetischen bei Schopenhauer ist ein schönes Beispiel dafür. Nach Mukarovsky „äußert sie sich oft wie ein flüchtig über die Dinge laufender Lichtstrahl, wie ein Zufall, der aus einer einzigartigen Augenblicksbeziehung zwischen Subjekt und gegebenem Ding hervorgegangen ist".
(9/100)
Allerdings spricht Mukarovsky an dieser Stelle nicht von Poetizität, sondern erläutert die „ästhetische Funktion", welche „aus dem Ding, das ihr Träger ist, ein ästhetisches Faktum ohne jede weitere Eingliederung" macht. Dies wirft in bezug auf unsere Abhandlung die grundsätzliche Frage auf, warum hier der Begriff der Poetik in Anspruch genommen werden soll, wenn für die Beschreibung außerliterarischer Phänomene der allgemeinere Begriff der Ästhetik ohnehin zur Verfügung steht. Eine kurze Begründung sei hier daher erlaubt.
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Das Poetische und das Ästhetische In der Tat handelt es sich um zwei verwandte Begriffe - besser gesagt: Begriffsgruppen. Manchmal werden sie sogar als synonym betrachtet, dann nämlich, wenn die Adjektiva „poetisch" und „ästhetisch" zur Bezeichnung gleicher spezifischer Eigenschaften verwendet werden - vor allem jenes poetischen „Mehr", mit anderen Worten, der „ästhetischen Differenz". Was die Begriffe unterscheidet oder unterscheidbar macht, sind sonstige Bedeutungen, die ihnen zugeordnet werden können, und andere Begriffe, mit denen sie in Zusammenhang gebracht werden. Soll die Begründung der Begriffswahl so kurz wie möglich gehalten werden, so ist zu sagen, daß das erste, womit man den Ästhetik-Begriff verbindet und was er ganz allgemein bedeutet, die Auseinandersetzung mit dem „Schönen" ist; und da hier die Schönheit (oder Häßlichkeit) des MVS nicht interessiert, wird auf jenen Begriff ausgewichen, der diverse ästhetisch relevante Aspekte impliziert, nicht jedoch den Schönheitsbezug suggeriert. Die Weigerung, sich mit der Schönheit von faszinierenden Dingen zu befassen, läßt sich freilich wieder am besten poetisch ausdrücken, z.B. mit Worten von Vitezslav Nezval (10/68): . . . mich blendet ein Garten mitten im Satz Oder eine Latrine Darauf kommt es nicht an Ich unterscheide die Dinge nicht mehr nach dem Reiz oder der Häßlichkeit die ihr ihnen zuschreibt. So etwa könnte man das Problem der Begriffe verlassen, wir benützen es aber noch als Grundlage für einen Orientierungsweg, auf dem der MVS unter verschiedenen Aspekten betrachtet werden soll. Das Ästhetische hat nicht nur direkt mit dem Schönen zu tun; es ist auch umgeben von jenen Ideen, die aus der Geschichte der permanenten Suche nach dem Schönen bekannt sind. Hier nur einige der markantesten: „Die hauptsächlichsten Formen aber des Schönen sind Ordnung und Ebenmaß und Bestimmtheit", sagt Aristoteles. (6/37) „Denn die Sinne finden Wohlgefallen an harmonisch geordneten Dingen", setzt Thomas von Aquin fort. (6/53) „Wohlgefallen (. . .) ohne alles Interesse", ergänzt Kant. (6/110) Es sind dies also drei (ausgewählte) Ideen oder Konvolute von Ideen, die - als traditionelle Kriterien zur Bestimmung des Schönen - mit dem Begriff des Ästhetischen eng verbunden sind. In Stichworte gefaßt, lauten sie: - Ordnung als Maß und Ziel, - sinnlich bedingtes Wohlgefallen, - Interesselosigkeit gegenüber jedem Zweck. 42
A
Ordnung
Auf den ersten Blick scheint Ordnung ein sehr sohdes Kriterium des Ästhetischen zu sein. Erstens ist sie - darüber besteht kaum ein Zweifel - in irgendeiner Form (Ordnung, Ordnen, Geordnetheit, Negation der Ordnung . . . ) an allen ästhetischen Prozessen beteiligt, seien sie rezeptiver oder produktiver Art. Am besten zu erkennen ist dies vielleicht in der Architektur; hier spürt man deutlich den Drang nach Ordnung, aber auch den Zwang zur Ordnung. Der Drang mag psychologisch begründet sein, der Zwang hat sachliche Gründe. Wie bereits erwähnt, ist allein aus Gründen der Statik ein Mindestmaß an Ordnung in allem Gebauten unerläßlich. Ein anderer Beweggrund für das Streben nach Ordnung ist die Ökonomie, welche aber nicht ausschließlich als aufgezwungene, rein äußere Bedingung aufzufassen ist, sondern - ähnlich wie die Statik - durchaus zu einem ästhetischen Faktum sowie zu einem ästhetischen Mittel werden kann. Zweitens scheint Ordnung eine objektivierbare Komponente des Ästhetischen zu sein - eine rational erfaßbare und intentional erreichbare Größe, rezeptiv von Fall zu Fall vergleichbar, produktiv Schritt für Schritt herstellbar, jederzeit überprüfbar, ohne daß der Gedanke an die Subjektivität der Betrachtungsweise überhaupt nur aufkommt. Dem Anschein nach allgemeingültig ist beispielsweise die Behauptung, daß geometrische Grundfiguren einfacher sind und daher mehr Ordnung aufweisen als unregelmäßige oder zusammengesetzte Figuren. Das Urteil darüber, ob ein Grundriß mehr oder besser geordnet ist als ein anderer, mag zunächst ebenso eindeutig erscheinen. Die offensichtliche Allgegenwärtigkeit und die scheinbare Objektivierbärkeit von Ordnung machen aus diesem traditionellen Terminus einer mit metaphorischen Umschreibungen operierenden Ästhetik auch den vorrangigen Bezugspunkt einer nach wissenschaftlich exakten Aussagen strebenden Ästhetik. Doch gerade bei der extremen Beanspruchung bei den ambitionierten Versuchen, Ordnung näher zu bestimmen, objektiv festzustellen und sogar zu messen, erweist sich der Begriff der Ordnung als äußerst vage. Man erinnere sich an den vergeblichen Versuch der Gestalttheorie, die „Höhe und Reinheit der Gestalt" präzise zu definieren, oder an die unproduktiven Anstrengungen der informationstheoretischen Ästhetik, das auf Ordnung direkt bezogene „ästhetische Maß" zu errechnen. Selbst die Anhäufung komplizierter mathematischer Formeln vermag nicht die grundsätzliche Einseitigkeit des Ansat43
zes und eine unüberwindbare Diskrepanz innerhalb der Methode zu verdecken: Einerseits tut eine objektorientierte Ästhetik so, als wäre die ästhetische Qualität den Dingen inhärent, vom Betrachter gänzlich unabhängig. U m dem eigenen Objektivitätsanspruch gerecht zu werden und um überhaupt eine „exakte" Methode entwickeln zu können, versucht eine solche Ästhetik, das Subjekt aus dem Kalkül auszuschließen. Natürlich ist dies eine einseitige, dem Prinzip ästhetischer Prozesse keineswegs entsprechende Abstraktion, für die rechnerische Methode jedoch eine notwendige Voraussetzung. Andererseits ist es aber verfahrensmäßig unumgänglich, die Kriterien und Parameter der Ordnung zu finden, das heißt letztlich auszuwählen bzw. festzulegen, und dies kann nur arbiträr geschehen, wie bereits die einfachsten Beispiele mit geometrischen Figuren oder elementaren Strukturen zeigen. Ein Subjekt muß also schließlich doch - sogar in entscheidender Weise involviert werden. So wird aus der objektbezogenen Ästhetik eine von irgend jemandem subjektiv bestimmte Konstruktion und aus der Ordnung - jenem vermeintlich absoluten ästhetischen Kriterium mit all seiner scheinbar rational abgesicherten Objektivierbarkeit - eine irrationale, bestenfalls metaphysisch begründete Größe. Auch wenn die - berechtigterweise nach Objektbezogenheit und Genauigkeit strebenden - Naturwissenschaften zu Hilfe genommen werden, um zumindest die Bedeutung von „Ordnung" zu klären, bleibt der Begriff unbestimmt und unbestimmbar; deutlich wird nur seine Zwiespältigkeit: Ordnung kann entweder mit gleichmäßigem Verteilen gleicher Partikel, mit Gleichgewicht und Homogenität, also mit Entropie assoziiert werden, oder aber mit ihrem Gegenteil - der Negentropie, nämlich mit struktureller Blüte und deren unwahrscheinlichsten Hervorbringungen. Außerdem erscheint auf irgendeinem Niveau der Analyse letztlich alles geordnet, auf irgendeiner Betrachtungsebene alles gleichartig. Daher ist die Frage nach der Ordnung auch eine des gewählten Grades oder Maßstabs, mit anderen Worten und aus anderer Sicht: des größten gemeinsamen Nenners, auf den die Brüche der Natur oder des Artifiziellen zu bringen sind. (So paßt wahrscheinlich fast jede Architektur in einen räumlichen Millimeterraster und könnte somit als modular bezeichnet werden. Eine ähnliche Diskussion gab es einmal über die Architektur Alvar Aaltos.) W o Ordnung beginnt, wo sie endet und - vor allem - mit welchem Vorzeichen sie zu versehen ist, bleibt solange offen, als es nicht festgesetzt oder vereinbart wird. 44
Das alles bedeutet nicht, daß „Ordnung" ein in der Ästhetik unbrauchbarer Begriff, ein uninteressantes Thema wäre, ganz im Gegenteil. Es ist nur notwendig, zu erkennen, daß es sich nicht um einen exakten und eindeutigen, sondern vielmehr um einen assoziativen Begriff handelt, der keinem Absolutheitsanspruch gerecht werden kann. Ordnung hat viele Gesichter mit vielen Ausdrucksnuancen und kann daher auf viele verschiedene Weisen sowohl interpretiert als auch kreativ eingesetzt werden. Wie unterschiedlich Ordnung in der Architektur aufgefaßt werden kann, sei hier nur illustrativ angedeutet - durch den Vergleich eines Fassadenentwurfs von Aldo Rossi mit einem von John Hejduk. (Abb. 19)
Abb. 19 Spielarten der Ordnung
Шм Aldo Róssi: Schulhaus in Fagnano Olona (29/37)
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John Hejduk: „Wand-Pfeiler-Stützen-Haus", Projekt (29/13) 45
Zur Rolle von Ordnung in der Bedeutungskonstitution während eines ästhetisch ausgerichteten Rezeptionsvorgangs zitieren wir Mukafovsky: „Sobald der Aufnehmende zu einem gewissen Gegenstand eine Haltung einnimmt, wie es beim Aufnehmen des Kunstwerkes üblich ist, entsteht in ihm sofort das Bestreben, in der Beschaffenheit des Werkes Spuren einer Ordnung zu finden, die es gestattet, das Werk als Bedeutungsganzheit zu begreifen." (9/36) In diesem Satz, in dem Ordnung freilich nicht nur als eine geometrische oder sonstwie äußerlich formale Anordnung gemeint ist, könnte man auf jedes der drei (von uns) hervorgehobenen Wörter gesondert Nachdruck legen: zunächst auf „Ordnung", wobei es einleuchtet, daß sie das verbindende, Elemente zu Strukturen zusammenfügende Medium ist; dann auf „Spuren", und zwar einerseits, weil man den Ordnungen ständig nachspürt, andererseits, weil ein Anflug einer Ordnung bereits genügt, um sie als solche zu erkennen, bzw. weil eine Ordnung nicht ohne Rest alle Elemente umfassen muß, um zur Geltung zu kommen; schließlich auf „einer", dies aber auch im doppelten Sinn, nämlich als „irgendeiner" Ordnung, aber auch „jeweils nur einer" Ordnung - wie es etwa auf Vexierbilder zutrifft. (Zu allen diesen Aspekten eines Rezeptionsvorgangs machte bereits die Gestalttheorie viele klärende und gültige Aussagen.) Unter sehr ähnlichen, analogen Aspekten kann auch ein ästhetisch ausgerichteter Produktionsvorgang betrachtet werden: Zur Offensichtlichkeit der Relevanz von Ordnung im allgemeinen kommt noch ein Aspekt, der jenem von „Spuren" entspricht, und ein anderer, der mit jenem von „einer" Ordnung komplementär ist. Denn genauso wichtig wie Ordnung selbst ist erstens die Möglichkeit, Ordnung nicht als Totalität anzustreben, sondern auf ein notwendiges oder strukturell sinnvolles Maß zu beschränken, und zweitens die Eventualität, daß verschiedenartige Ordnungen innerhalb eines Werkes aufgebaut werden. Zum ersteren gibt es in einer von Rudolf Arnheim verfaßten Studie über Ordnung eine treffende Formulierung, in der auch die grundsätzliche Ambivalenz des Begriffs anklingt: „Eine ungehemmte Tendenz zum bloßen Geordnetsein führt zur Verärmlichung und schließlich zu dem allerniedrigsten Strukturniveau, das nicht länger klar von gänzlicher Ordnungslosigkeit zu unterscheiden ist." (13/70) Diese Erscheinung haben wir übrigens bereits erwähnt - als eines der möglichen Resultate der Auseinandersetzung zwischen der ordnenden Kraft eines abstrakten Konzepts und der tückischen Sperrigkeit und Konkretheit der Architektursyntax. Das konsequente Ordnen während eines Entwurfsprozesses führt entweder zu komplexer Verwicklung mit der Syntax oder zu 46
einem absolut trivialen Schema. (Auf die Ursache dieser Schwierigkeiten kommen wir noch zu sprechen.) Der andere Aspekt des Ordnens - die Alternative zwischen einer Ordnung und der gleichzeitigen Existenz von mehreren Ordnungen - ist nicht minder problematisch. Eine Vielfalt von Ordnungen innerhalb eines Werkes vermag bei dessen Rezeption eine Bereicherung der Bedeutungsentfaltung herbeizuführen. Werden jedoch während der Produktion mehrere Ordnungen zugleich angestrebt, so kann dies bei mangelnder Koordination die Entstehung von Unordnung zur Folge haben. „Unordnung" ist nach Arnheim „nicht die Abwesenheit von Ordnung, sondern ein Zusammenprall beziehungsloser Einzelordnungen". (13/23) Treten in einem Architekturentwurf individuelle Ordnungen auf, die sich berühren oder durchdringen, aber ohne Berücksichtigung dieser Tatsache aufgebaut werden, dann entstehen zwischen den einzeln geordneten Einheiten Divergenzen, Spannungen und Risse. Im Wittgenstein-Haus hat jeder der Haupträume im Erdgeschoß seine eigene Ordnung. Die Zusammenstöße der Fußbodenrasterungen dokumentieren auf anschauliche Weise, wie diese Einzelordnungen miteinander kollidieren. (Abb. 10) Es handelt sich dabei um Ordnungen desselben Grades und derselben Art. „Unordnung" entsteht aber auch, wenn verschiedenartige Ordnungen aufeinanderprallen. Und da sind wir wieder bei dem MVS. Wie gezeigt, kann er als Resultat einer versuchten Korrektur betrachtet werden - als Ergebnis des Bemühens, eine Angelegenheit „in Ordnung zu bringen". Diese Angelegenheit ist nichts anderes als eine Kollision zweier Ordnungen, welche grundsätzlich - ihrem Ursprung nach - unterschiedlich sind. Im allgemeinen kann die eine dieser Ordnungen als Ordnung der Syntax, die andere als Ordnung des Konzepts beschrieben werden. Die erstere Ordnung liegt in der Natur der Dinge, die andere entspringt einem individuellen Ordnungswillen. So gesehen, geht es hier also um einen Konflikt zwischen dem Gegebenen und dem Gedachten, gewissermaßen um einen Konflikt zwischen dem Naturhaften und dem Artifiziellen. Konkret handelt es sich um die Ordnung des Grundrisses und die Ordnung der Fassade. Die Gegebenheiten der Syntax manifestieren sich im Grundriß, nicht aber in der Fassade; die Fassade verdeckt sie und lädt somit zum Installieren einer eigenwilligen Ordnung ein. Diese Ordnung wird jedoch durch die Fensteröffnung in den Innenraum übertragen und hier mit der ersten Ordnung konfrontiert. Dies äußert sich in der Unordnung der Fensterwand - in der nichterwünschten Asymmetrie ihrer Innenfläche. 47
Der MVS schafft diese Unordnung ab, indem er die Fläche grundrißHch auf das Symmetriemaß verringert. Gleichzeitig aber bewirkt er eine neue Unordnung im Grundriß, denn er kann nicht mehr in die Gesamtordnung des Zimmers eingespannt werden, z.B. in der Weise, daß er ein - sei es nur latentes - Pendant an der gegenüberliegenden Türwand erhielte, mit dem zusammen er eine Nische bilden würde; dies ist wegen der in der Zimmerecke angeordneten Tür nicht möglich, wobei die Tür nur hier liegen kann wie die grundrißliche Gesamtordnung des Hauses es determiniert. Der MVS verwandelt also eine Unordnung in Ordnung, verursacht dabei aber eine andere Unordnung. Sollte diese Unordnung nicht bestehen bleiben, so müßte die Ordnung des Zimmergrundrisses geändert werden, was wiederum ein Umordnen des ganzen Hausgrundrisses notwendig machen würde. Das Ende dieser kettenartigen Entwicklung bleibt für immer im Ungewissen, denn der Vorgang wurde vorzeitig - mit der Errichtung des MVS - abgebrochen. Dieser Zustand, ästhetisch unbefriedigend, trägt das Merkmal einer Dynamik; von „statischer Schönheit" kann hier also kaum die Rede sein. Die Poetik dieses Zustands kann aber den Terminus „Ordnung" - jenes prägnante und zugleich vage Kriterium des Ästhetischen - adoptieren und mit seiner Hilfe diesen Zustand, die Vorgeschichte und die hypothetische Weiterentwicklung erfassen. (Wenn Ästhetik mit Ordnung identifiziert werden soll, dann bleibt der Poetik die Funktion der ständigen Umstrukturierung von Ordnungen überlassen.) Der MVS erscheint zunächst als ein torsoartiges Ordnungselement, flankiert von zwei Unordnungen - einer beseitigten und einer herbeigeführten. In dem Ordnungstorso ist aber auch die potentielle Energie eines Dominoeffekts verborgen: Sollte - von der mangelnden Integration des MVS ausgehend - weiter geordnet werden, indem die jeweils nächstliegende Unordnung applaniert würde, so bliebe von der ursprünglichen Grundrißdisposition kaum etwas übrig. Die Farbe der Ordnung auf weißem Papier ist Weiß.
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Sinnlichkeit
Nach tradierter Meinung hat Ästhetik vorrangig und wesentlich mit den Sinnen zu tun - mit dem Appell an die Sinne, mit Sinneswahrnehmungen, mit Sinnlichkeit. Schließlich kommt „Ästhetik" von „aisthesis", was im Griechischen soviel wie Wahrnehmung oder Empfindung bedeutet; gemeint ist eine direkte Einschaltung der Sinnesorgane. Klassischen Ursprungs ist auch die Vorstellung von der Aufteilung der menschlichen Psyche auf die Sphäre der Sinne und die des Geistes. Die Annahme, diese zwei Bereiche seien gleichsam voneinander getrennt, ermöglicht eine andere Vorstellung: Die Wahrnehmung gewisser Phänomene erfolge lediglich im Bereich der Sinne, und im allgemeinen verlaufe die Wahrnehmung zweistufig - zunächst im „Eingangsbereich", sodann auf der „höheren Ebene". Doch weder gibt es jene Trennung wirklich, noch kommt den Sinnen die Funktion einer primären - und fallweise alleinigen - Instanz zu. Ernst Gombrich stellt im ersten Kapitel seiner Studie über die Psychologie der Kunst etliche Aussagen zur Rolle der Ratio bei der Wahrnehmung zusammen. Aus ihnen geht hervor, daß - wie beispielsweise Konrad Fiedler konstatierte - „schon die einfachste Anschauung, in der man meinen könnte, nur erst den Stoff für die Operationen der Denkfähigkeit zu empfangen, bereits ein geistiges Gebilde ist". (14/32) Schon Plinius behauptete: „Unser Geist ist das wahre Organ des Sehens und Beobachtens. Die Augen haben dabei nur die Funktion eines Gefäßes, welches die sichtbaren Teile der Bewußtseinsinhalte auffängt und weiterleitet." (14/31) Es kommt aber auch auf die eigentliche Initiative der Ratio bei der Wahrnehmung an. Karl Popper wendet sich gegen die, wie er sie nennt, „Eimertheorie der Psyche" - gegen die empiristisch orientierte Auffassung, daß die Psyche etwa einem Behälter entspricht, in dem Sinnesempfindungen aufgefangen und dann weitergeleitet werden - und stellt ihr seine „Scheinwerfertheorie" gegenüber; sie betont die unablässige Aktivität, mit der jedes Lebewesen seine Umgebung abtastet, erforscht und untersucht. „Diese Betrachtungsweise hat sich auf vielen Gebieten der Psychologie als fruchtbringend erwiesen", schreibt Gombrich (14/44), der sich ganz zu Poppers Auffassung bekennt. Nach einer derartigen - rationalistisch ausgerichteten - Auffassung besteht die Wahrnehmung im ständigen Aufstellen von Hypothesen, die auf die Probe gestellt und entweder bestätigt oder widerlegt werden. Sogar die Sinnesorgane selbst können als raffinierte Versuche der Anpassung an die Umweltbe49
dingungen betrachtet und daher als Theorien charakterisiert werden - als solche, die den lebenden Organismen einverleibt sind. (4/57) Auf diese Weise läßt sich argumentativ zeigen, wie Sinne, Sinneseindrücke und Sinnesorgane beschaffen sind: durchdrungen und dominiert von Ratio. So kann auch der Begriff der Sinnlichkeit gerade zu seinem vermeintlichen Gegenteil verkehrt werden - dem Begriff der Rationalität. Jedenfalls erscheint es nicht ratsam, an den Begriff der Sinnlichkeit einen strengen, absoluten Maßstab zu legen. Wie der Begriff der Ordnung, so tendiert auch dieser Begriff zur Ambivalenz. Genaugenommen hat das Adjektivum „sinnlich" einen deutlich metaphorischen Charakter und - als Terminus - auch bloß einen solchen Wert, ähnlich wie z.B. das Eigenschaftswort „herzlich". Andererseits weiß jeder, was mit „Sinnlichkeit" gemeint ist, vor allem aber, womit sie eng verbunden ist: mit der Sehnsucht nach direkter, nichtangestrengter und nichtspekulativer Wahrnehmung oder Wirkung. In diesem Sinne ist der Terminus auch in der Ästhetik anwendbar. Dabei muß freilich die Kenntnis davon vorausgesetzt werden, daß auch die einfachsten Phänomene, wie z.B. Farben oder Klänge, nicht „unmittelbar" wirken, sondern „mit Verständnis" wahrgenommen werden. U m so weniger kann Sinnlichkeit als ein verläßliches und ausreichendes Kriterium in der Architektur gelten, denn hier geht es nicht nur um sinnliche Qualitäten von Oberflächen oder Formen, sondern immer auch um Aspekte, die unumgänglich den Intellekt herausfordern, etwa um eine Problemlösung, um Konstruktion usw. Es geht in der Architektur aber auch um den Aspekt der Kunst und in der Kunst wiederum um den entscheidenden Einfluß der Ratio. „Jedes Kunstwerk bedarf, um ganz erfahren werden zu können, des Gedankens und damit der Philosophie, die nichts anderes ist als der Gedanke, der sich nicht abbremsen läßt", sagt Adorno. (16/391) Uns scheint das Bild eines solchen - fortschreitenden - Gedankens sehr wohl vereinbar mit dem - Dynamik und Rationalität implizierenden - Begriff der Poetik, assoziiert man nun Poetik mit weitgehender Analyse oder mit unendlicher Semiose (in der Signifikate immer wieder in neue Signifikanten verwandelt werden). Ob dagegen das momentane Aufflammen der Sinnlichkeit traditionell wie potentiell eher mit dem Begriff der Ästhetik in Zusammenhang gebracht wird, bleibe dahingestellt. Der Gegensatz zwischen Sinnlichem und Rationalem wird gerade in der Kunst überbrückt. Hier kommt es oft nicht nur zu einer Umkehrung dieser 50
Begriffe, sondern auch zu deren Verschmelzung und gegenseitiger Potenzierung. Hegel zufolge ist „das Sinnliche in der Kunst vergeistigt, da das Geistige an ihr als versinnlicht erscheint". (17/232) Sehr ähnlich äußert sich zu dieser Wechselwirkung Adorno: „In bedeutenden Werken wird das Sinnliche seinerseits, aufleuchtend von ihrer Kunst, zum Geistigen, so wie umgekehrt vom Geist des Werks die abstrakte Einzelheit, wie immer auch gleichgültig gegen die Erscheinung, sinnlichen Glanz gewinnt." (16/29) Wenn hier von abstrakter Einzelheit die Rede ist, so taucht das konkrete Beispiel sofort wieder auf: der MVS. Das Werk, dessen Teil er ist, mag ebenso bedeutend erscheinen wie - bei all seiner Vornehmheit - gewissermaßen roh. In diesem Licht bekommt der MVS einen etwas herben Glanz. Die Frage, ob der MVS sinnliches Wohlgefallen bewirkt oder ein Mißfallen verursacht, sei mit der Feststellung beantwortet, daß sich solche Gefühle angesichts bedeutender, aber etwas roher, nicht gänzlich harmonisierter Werke ohnehin vermischen. Mukarovsky befaßte sich mit dem Problem der - nicht unbedingt negativ wirkenden - inneren Uneinheitlichkeit eines Kunstwerks und nahm wiederholt auch zur Problematik des Mißfallens Stellung: „Es wurde (. . .) schon oft darauf hingewiesen, daß das ästhetische Mißfallen keine außerästhetische Tatsache ist - das ist lediglich die ästhetische Indifferenz - , und auch darauf, daß das ästhetische Mißfallen als dialektischer Gegensatz des ästhetischen Wohlgefallens und als allgegenwärtiges Element ästhetischer Wirkung wichtig ist." (9/56) Die sinnliche Ausstrahlung der MVS-Oberfläche lassen wir notgedrungen aus dem Spiel, denn einem solchen Effekt kann die Vorstellung kaum gerecht werden. In dieser Hinsicht mag hier der MVS ganz abstrakt erscheinen spiegelglatt und farblos, vielleicht sogar transparent - oder nur gleichsam entmaterialisiert - glatt verputzt und hell gestrichen. Konzentrieren wir uns also auf die verbleibende sinnliche Eigenschaft des MVS - auf seine Körperlichkeit. Dabei können wir zwei der drei Dimensionen sogleich aus der Diskussion entlassen. Die Höhe des MVS ist durch die Raumhöhe begrenzt. Die Breite des MVS deckt sich mit der Ursache seiner Existenz und ist daher invariant. So reduziert sich das ganze Problem der Sinnlichkeit auf die Tiefe des MVS, auf das Vorsprungsmaß. Diese Dimension wollen wir nun zum Gegenstand dreier gedanklicher Experimente machen. Im ersten Experiment versuchen wir, den MVS einer „taktilen Kontemplation" zu unterziehen. „Bauten werden auf doppelte Art rezipiert: (. . .) taktil 51
und optisch", schreibt Walter Benjamin. (15/40) Die taktile Rezeption charakteristisch für den Umgang mit Architektur - erfolge auf dem Wege der Gewohnheit und sei auch während Unaufmerksamkeit und Zerstreuung möglich. Wir wählen also für unser Experiment eine Situation, in der Gewohnheit und Zerstreuung eine beträchtliche Rolle spielen. Andererseits soll es bei diesem Experiment möglich sein, eine gesteigerte Aktivierung des Tastsinnes zu simulieren. Es ist eine bekannte Tatsache, daß die im täglichen Leben etwas abgestumpften Sinne durch anorganische „Verlängerungen" (Mikroskop, Fernrohr, Greifapparaturen u.ä.) nicht nur funktionsmäßig erweitert, sondern auch besonders angeregt werden können. Ahnlich sinnesbelebende Wirkung zeigen auch ungewöhnliche Wahrnehmungspositionen (z.B. Kopfstand). Wir verändern jedoch die Position des zu prüfenden Gegenstandes und legen den MVS versuchsweise auf den Boden. Dadurch wird gleichzeitig eine Verdeutlichung seiner Begrenzungs- bzw. Aufteilungsfunktion erreicht. Außerdem verleihen wir ihm die Bedeutung einer gewohnten Grenze - keine liegt näher als jene zwischen Fahrbahn und Gehsteig. Nun setzen wir uns ins Auto, womit unser Tastsinn bezüglich aller möglichen Berührungen sensibilisiert und bis in die Räder verlängert wird, und fahren - womöglich im Zustand der Zerstreuung - an die MVS-Kante heran.
Abb. 20 Stufen der Sinnhchkeit 52
Die Frage lautet nun, welche physische Erhabenheit des umgelegten MVS als die sinnlichste empfunden wird: die mit einer 20 cm hohen Seitenwand grob und gewaltig, mit der Kante bis in den Schmerzbereich der Radkappen bedrohlich hineinragend - , die etwa 10 cm hohe Begrenzungsstufe eindeutig, jedoch weniger penetrant, höchstens den Reifengummi etwas quetschend - , oder die nur 2 cm hohe Erhebung, die man gerade noch spürt und gerade deshalb intensiv erlebt, die das Verbot der Transgression sanft, aber um so eindringlicher in Erinnerung ruft - mit all den begleitenden Unsicherheiten . . . Spätestens jetzt merkt man, wie sich Vernunft und Intellekt ständig und auf allen Ebenen in die sinnliche Wahrnehmung einmischen. Mag sein, daß die zarteste Erhöhung am sinnlichsten wirkt und daß dies mit der extremen Herausforderung der Sinne zu tun hat. Doch kommt eine solche Herausforderung der Sinne nicht nur vom Objekt her, sondern deutlich auch vom Subjekt, wofür wiederum nur die Ratio verantwortlich sein kann. Im zweiten Experiment mit der Vorsprungsdimension des MVS wird Ratio insoweit noch deutlicher in Anspruch genommen, als es sich hier direkt um Fragen der Architektur und außerdem um eine relativ abstrakte Ebene der Beurteilung handelt. Der MVS steht wieder an seiner Stelle in der Villa. Erneut wird seine Tiefe variiert, diesmal stufenlos. Die Veränderung dieser Dimension verändert prinzipiell nichts an der Wirkung des MVS auf die Geometrie der Fensterwand, also an seiner Aufteilungsfunktion, einiges jedoch an seinem Zugehörigkeitszustand und an der Wahrnehmung des Raumes. Wird der MVS flach gehalten, so gehört er als bloßes Gliederungselement einem Pilaster ähnlich - der Wand an und bildet mit ihr - trotz seiner Begrenzungsfunktion bzw. gerade wegen seiner Aufteilungsfunktion - eine Einheit. Das Zimmer wird als ein im Grundriß rechteckiger Raum mit vier ganzheitlichen Wänden wahrgenommen, wobei die Unregelmäßigkeit vernachlässigt wird. Jetzt beginnen wir, das Vorsprungsmaß des MVS allmählich zu vergrößern. Es kommt ein Moment, in dem sich der MVS - dem Empfinden nach vom Rest der Fensterwand absetzt und zu einem eigenständigen Objekt wird, so daß seine dreidimensionale Körperlichkeit als nicht mehr abstrahierbar erscheint. Dann greift der MVS auch bereits deutlich in den Raum, diesen in seiner bisher nur geringfügig angetasteten Grundform spürbar verletzend bzw. in einen L-Raum verwandelnd. Wann wurde das kritische Maß erreicht? Wie weit springt der MVS vor, als die Verhältnisse sich schlagartig ändern? Ergibt sich der gleiche Wert, wenn 53
wir nun den MVS wieder schrumpfen lassen oder den Vorgang wiederholen? - Gefühlssache? Rationale Abwägung? Sinnestäuschung angesichts eines Vexierbildes? Im dritten Experiment soll angestrebt werden, das Problem gänzlich zu intellektualisieren und die Sinnlichkeit des MVS zu eliminieren. Der Vorsprung des MVS muß also zum Verschwinden gebracht werden, ohne daß gleichzeitig die MVS-Breite - und damit die Begrenzungsfunktion des MVS - verlorengeht. Eine Verflachung des MVS bis auf Tapetenstärke kann ein Einfrieren der Sinnlichkeit, ebenso aber deren unkontrollierten Ausbruch infolge Überreizung der Sinne herbeiführen. Eine nur gedachte Teilung der Fensterwand ist kaum kommunizierbar und überdauert den Gedanken nicht. Ein Farbwechsel in ebener Fläche spricht den Sehsinn stark an, ein Materialwechsel überdies den Tastsinn. Eine schmale N u t zwischen zwei Bereichen gleicher Oberfläche wäre zwar kühl genug, hat aber selbst eine Breite und ist daher als Begrenzung zu ungenau. Wir entscheiden uns für die Antisensibilität und den absolut unarchitektonischen Charakter eines senkrechten, auf der glattverputzten Wandfläche mit hartem Bleistift von unten nach oben geführten Striches, denken aber schnell noch einmal scharf nach und lassen nach einigen zurückgelegten Zentimetern die Mine abbrechen, so daß nur eine kurze Markierung im untersten Wandbereich entsteht. Dann legen wir uns auf den Boden und betrachten durch abgenommene Brille die vernünftigste, intellektuellste und unsentimentalste aller Problemlösungen. Und schon wieder beben unsere Sinne in einem Rausch. Wir sehen einen wilden Bach von Graphitpartikeln in Kaskaden über die Felsen der Putzkörnchen hinunterfließen. Das ist wohl Kalifornien. Und da, da winkt der alte Kerouac.
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Interesselosigkeit
Seit Immanuel Kant sie als Kriterium ästhetischer Urteile postulierte, ist Interesselosigkeit ein großes und schwieriges Thema der Ästhetik. Der Begriff des „Wohlgefallens ohne alles Interesse" ist in erster Näherung insoweit verwirrend, als man überzeugt ist, den Gegenständen, deren Schönheit man beurteilen soll, doch zunächst ein gewisses Interesse entgegenbringen zu müssen. Es scheint also darum zu gehen, welches Interesse gemeint ist. Freilich versteht Kant unter „Interesse" das Interesse am Besitz einer Sache oder an ihrer Nützlichkeit, spricht aber in diesem Zusammenhang zunächst vom Wohlgefallen an der puren „Existenz" der Sache: „Interesse wird das Wohlgefallen genannt, das wir mit der Vorstellung der Existenz eines Gegenstandes verbinden. Ein solches hat daher immer zugleich Beziehung auf das Begehrungsvermögen, entweder als Bestimmungsgrund desselben, oder doch als mit dem Bestimmungsgrunde desselben notwendig zusammenhängend. Nun will man aber, wenn die Frage ist, ob etwas schön sei, nicht wissen, ob uns oder irgend jemand an der Existenz der Sache irgend etwas gelegen sei, oder auch nur gelegen sein könne; sondern, wie wir sie in der bloßen Betrachtung (Anschauung oder Reflexion) beurteilen." (6/109-110) In ein Urteil über die Schönheit dürfe sich nicht „das mindeste Interesse" mengen; zur Existenz der Sache müsse man „ganz gleichgültig sein".
(6/110)
Eine derart idealistisch abstrahierende Konzeption der Bedingungen eines rezeptiven ästhetischen Prozesses tabuisiert das Objekt der Betrachtung und schränkt das betrachtende Subjekt in seiner Komplexität, seinen Regungen und Verhaltensmöglichkeiten maximal ein. Sie führt zu einer Einengung des ganzen ästhetischen Bereichs und zu einer Reduktion der darin möglichen Vielfalt. „Die Doktrin vom interesselosen Wohlgefallen ist arm angesichts des ästhetischen Phänomens", sagt Adorno. (16/22) Zwar attestiert er Kant das Verdienst, als erster die Erkenntnis erreicht zu haben, „daß ästhetisches Verhalten von unmittelbarem Begehren frei sei" (16/23), zeigt aber, indem er Kants Ästhetik mit Freuds Kunsttheorie konfrontiert, wie das Postulat der Interesselosigkeit zu einem Paradox wird - „zum kastrierten Hedonismus, zu Lust ohne Lust". (16/25) Der Begriff der Interesselosigkeit ist also nicht weniger problematisch und widersprüchlich als jener der Ordnung oder jener der Sinnlichkeit, denn 55
auch er trägt in sich den Keim des Gegensatzes und tendiert zur Verquickung gerade mit dem, was er verneint. Zu diesem Sachverhalt zitieren wir noch einmal Adorno: „Dem Interesselosen muß der Schatten des wildesten Interesses gesellt sein, wenn es mehr sein soll als nur gleichgültig (. . .)·" (16/24) Hier wieder: Wenn die Vorstellung von absoluter Interesselosigkeit mit Ästhetik assoziiert wird, kann ein wildes Interesse Zuflucht in einer Poetik finden. Zutreffen mag dies besonders für ein Interesse innerhalb der Architektur, denn in ihrem Bereich kann den Bedingungen der Kantischen Interesselosigkeit am allerwenigsten entsprochen werden. Das außerästhetische Interesse, das in Opposition zu der von Kant geforderten „bloßen Betrachtung" steht, kann verschiedener Ausprägung sein: Grundsätzlich kann es sich als begehrendes oder als praktisches Verhalten manifestieren, d.h. entweder auf Lusterfüllung oder auf Zweckerfüllung ausgerichtet sein; außerdem können sich die beiden Intentionen vermengen. In der Rezeption von Architektur ist das praktische Verhalten - also der letztere Gegensatz zum ästhetischen Verhalten - gewiß von größerer Relevanz, zumal das Genießen von Architektur - als begehrendes Verhalten sehr oft von der Erfüllung praktischer Belange abhängt. Wir wollen uns daher eher auf diesen Gegensatz konzentrieren. Mit der Frage, wie sich auf dem Gebiet der Architektur der Aspekt des Ästhetischen und jener des Praktischen miteinander vertragen, werden wir uns in dieser Arbeit noch ausführlicher befassen. Indessen befolgen wir die übliche These, daß es zwar keine Gleichzeitigkeit der zwei Betrachtungsweisen geben kann, daß aber dieselben Architekturdinge das eine Mal ästhetisch rezipiert, das andere Mal praktisch verwendet werden können. Als Objekte der (Kantischen) „bloßen Betrachtung" sind sie freilich stets in Gefahr, hedonistisch genossen zu werden und somit die Aura des Ästhetischen gleich wieder zu verlieren; als Objekte der Architektur sind sie überdies insoweit ästhetisch instabil, als sie in jedem Augenblick wieder zu funktionellen Gebrauchsgegenständen werden können. Der MVS bildet hier eine Ausnahme. Da er lediglich formal begründet ist und keinem praktischen Zweck dient, könnte er auf eine ungetrübt ästhetische Weise beurteilt werden. Er ist tatsächlich wegen der Schönheit da, nun aber - seltsam genug - nicht der eigenen wegen, sondern wegen der Schönheit der Fensterwand, die er verkürzt. Darin ist er kaum vergleichbar mit einem Pilaster, der zwar seiner Wand auch formale Dienste leistet, indem er sie strukturiert, dabei jedoch - als dominierendes Element - die Aufmerksamkeit letztlich auf sich zieht. Der MVS - funktionell unnütz und ästhetisch 56
selbstlos - bleibt frei von jedem praktischen Interesse und provoziert kein Begehren; er ist ein ideales Objekt der „bloßen Betrachtung (Anschauung oder Reflexion)", denn er ist dies sozusagen nur am Rande. - Der MVS ist geradezu eine Attraktion für die Intresselosigkeit. Es wäre daher sehr gut möglich und wahrscheinlich angemessen gewesen, ihm viel mehr Zurückhaltung entgegenzubringen, an seiner Existenz gar nicht interessiert zu sein, von ihm nicht einmal - Kant hält es nicht für notwendig, um etwas schön zu finden - „einen Begriff zu haben", nach seiner Bedeutung also gar nicht erst zu fragen. An sein Geheimnis sich nicht heranmachen zu wollen, sein verzweifeltes Wesen unberührt zu lassen - so hätte man sich auf richtige, moralisch einwandfreie Weise an seiner Schönheit, oder besser: an der Schönheit, die er herstellt und deren Verkörperung er selbst gar nicht ist, erfreuen können. Doch dazu ist es zu spät. Man hätte den MVS aber noch auf eine andere unbedenkliche Weise schön finden können - nämlich mit ähnlichen Empfindungen wie jenen, die man angesichts großer, berühmter Kunstwerke zu haben gewohnt ist: mit der Achtung vor der Genialität des Schöpfers, vor der Einmaligkeit des Werkes, schließlich auch vor der öffentlichen Meinung darüber. Großartiges, Bewundernswertes und allgemein Bewundertes zwingt zu nobler, distanzierter Haltung. Das Wittgenstein-Haus gehört in diese Kategorie. Das spürt man, das weiß man. Es wäre nicht unangebracht gewesen, sich dem MVS mit der gleichen Ehrfurcht zu nähern, die sich einstellt, wenn man das Haus betritt. Sie ist natürlich, aufrichtig. Denn tatsächlich ist alles noch da, worauf sie sich gründen kann: der Geist des Denkers, der Atem der Zeit, das Niveau der Gesellschaft - besonders, authentisch, erlesen. Die Tradition, der Aufbruch ins Ungewisse, die Abstraktion. Der Kampf um das Schlichte und Verfeinerte. Modernität mit Enthusiasmus. Der ganze Ernst und die Frische. - Aber auch das Reale, das Stoffliche ist da, die Widerstände und Störfaktoren. Das Nichtbewältigte, Verlassene - zwar nicht sentimental, aber leidvoll. - Die Reinheit des Gedankens, die Stärke im Wagnis und - die Hindernisse. Sie sind unübersehbar. - Architektur und das Baumeistermäßige. Gewiß, das Baumeistermäßige auch als Zeitphänomen, als das Pionierhafte. Aber auch das ewig Baumeistermäßige - das Rohe, nicht Verarbeitete, nicht einmal Thematisierte, und - andererseits - das Vertrackte. Jetzt tritt man der Sache schon wieder näher, zu nah. Herausgelöst aus dem Werk, das Faszination ausübt und Ehrfurcht bewirkt, erscheint das Detail schutzlos. Es fasziniert nun auf eine eigene Art, es attrahiert - das Interesse. Es gäbe noch eine dritte Möglichkeit einer durchaus korrekten Näherung mit dem nüchternen Gemüt eines Analytikers und den soliden Kenntnissen 57
eines Historikers. Das Ding zu untersuchen, zu beschreiben und einzuordnen, etwaige Vorbilder, Parallelen, Nachahmungen und Weiterentwicklungen ausfindig zu machen, es also einerseits zu analysieren, andererseits in Kontext zu setzen, nicht weniger und nicht mehr. Offenbar bietet sich der MVS nicht dazu an, denn all das ist mit dem Haus bereits geschehen, er jedoch - soviel uns bekannt ist - blieb unerwähnt. Der MVS ist also weder ein Objekt allgemeiner Bewunderung noch ein Gegenstand fachlicher Diskussion. Beides wäre - ebenso wie ein bloßes, distanziertes Gefallen - mit dem Ideal der „Interesselosigkeit" irgendwie vereinbar. So aber kann der MVS tatsächlich einem allgemeinen und totalen Desinteresse anheimfallen, wobei er aber zugleich wie ein Köder für ein „wildes Interesse" dasteht. Das Interesse, einmal erwacht, kann für seine Nüchternheit und Harmlosigkeit nicht garantieren. Es kann passieren, daß sogar das Tabu von Kunst, wie Adorno es beschreibt, verletzt wird, „daß man zum Objekt animalisch sich stellt, seiner leibhaft sich bemächtigen will". (16/24) Ein recht animalisches Wesen kommt in der Einführung zu einer AsthetikMaterialsammlung von Christiaan L. Hart Nibbrig vor. Es geht um einen prähistorischen Menschen, der das erste Werkzeug erfindet - Mensch wird bekanntlich als werkzeugschaffendes Tier bezeichnet - , und um seine Fähigkeit, den möglichen Gebrauchswert eines spitzen Knochens oder scharfen Steins zu entdecken, nämlich „nicht zu einem vorgegebenen Zweck das Mittel zu suchen und zu erschaffen - das wäre bloß eine technische Erfindung - , sondern ein vorhandenes Material in spielerisch-erprobendem Imaginieren im Hinblick auf m ö g l i c h e Zwecke von Verwendbarkeit in ein Mittel zu verwandeln". (6/11) Gerade eine solche Fähigkeit und ein solches Verfahren, in welchem das praktische Verhalten deutlich zum Ausdruck kommt und vielleicht auch ein Begehrungsmoment sich abzeichnet, nennt Hart Nibbrig „ästhetisch". Das Resultat dieses Verfahrens stellt er einem Kunstwerk gleich: „Das Werkzeug bekommt in der Erfindung seines möglichen Gebrauchs insofern schon Kunstwerkcharakter, als es dabei zu einem Medium von Deutbarkeit wird." (6/11) „Blumen, freie Zeichnungen, ohne Absicht ineinander geschlungene Züge, unter dem Namen des Laubwerks, bedeuten nichts, hängen von keinem bestimmten Begriffe ab und gefallen doch", sagt Kant. (6/110) Das „spielerischerprobende Imaginieren" ist aber - und daher würden wir es „poetisch" nennen - offensichtlich umfassender als das bloße Wohlgefallen im Kantischen Sinne. Es impliziert nicht nur die Frage nach der ästhetischen Wir58
kung, sondern vor allem die nach der Bedeutung, und somit auch jene nach praktischer Verwendbarkeit. Die Suche danach, wozu etwas gut ist oder gut sein könnte, bringt dann auch ein gewissermaßen ungeniertes Abtasten mit sich und fordert die Vorstellungskraft in ihrer ganzen Komplexität und Unberechenbarkeit heraus. Hier könnte man einwenden, daß dies zwar während eines produktiven ästhetischen Prozesses als notwendig erscheinen mag und erlaubt werden muß, nicht aber im Bereich der ästhetischen Rezeption, also angesichts eines abgeschlossenen Werkes. Doch zeigt gerade das von Hart Nibbrig angeführte Beispiel, in dem Produktion und Rezeption geradezu verschmelzen, daß diese
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utlUty. Abb. 21 Das Interesse des Auges an bedeutungsloser Schönheit (30/5) 59
zwei Vorgänge kaum voneinander streng zu unterscheiden sind. Im Zuge jeder ästhetischen Produktion kommt es immer wieder zu rezeptiven Einschaltungen, und umgekehrt kann jede ästhetische Rezeption als eine Art Produktion angesehen werden. Im übrigen ruft Haft Nibbrigs Beispiel vom „spielerisch-erprobenden Imaginieren" Parallelen aus der Architektur in Erinnerung: das adaptive Verhalten bei der Benützung von Architektur - auch ein solches bei der ästhetischen Rezeption von Architektur - und, aus dem produktiven Bereich, den beim Entwerfen ständig stattfindenden Versuch, den ästhetischen und den praktischen Aspekt zur Deckung zu bringen, mit anderen Worten, das Bemühen um mehrfache Begründung einzelner Schritte und Eingriffe. Der Architekt wird - bei der eigenen Arbeit sowie als Betrachter von Architektur - stets ein wenig verunsichert, wenn ein Detail, ein Zusammenhang oder eine Maßnahme lediglich als formal begründet erscheint. Eine Rechtfertigung aus dem außerästhetischen Bereich ist ihm daher immer willkommen. Fast automatisch wird nach ihr Ausschau gehalten; es wird nach einem möglichen Zweck für die vorgegebene, beabsichtigte oder sonstwie apriorische Form gesucht, dies vielleicht noch heftiger als - im umgekehrten Fall nach einer guten Form für einen vorgesehenen Zweck. So treten wir letztlich auch mit einem praktischen „Interesse" dem MVS gegenüber. Seine (sinnliche?) Körperlichkeit läßt uns keine Ruhe. Beunruhigend ist vor allem, daß er nicht zum Tragen verwendet wird und sich ebensowenig auf irgendeine andere Weise nützlich macht. Eine ideale Funktion für ihn wäre die eines bloß durchgehenden Rauchfangs. - Ob der hohle MVS weniger schön wäre? Betrachtet man das Problem unter einem etwas weiteren Blickwinkel, so bringt man es, früher oder später, in einen Zusammenhang mit dem ungelösten Problem im Wohnzimmer: Hier zerstört ein Kaminkörper, der dem MVS äußerlich gar nicht unähnlich ist, die klare geometrische Ordnung des Raumes. (Abb. 5) Im Gegensatz dazu versucht der MVS eine geometrische Ordnung „künstlich" herzustellen. Es wäre naheliegend gewesen, einen Interessenausgleich anzustreben. Man merkt, der Eifer ist läppisch. Lassen wir doch den MVS, anstatt ihn auszuhöhlen und mit Rauch zu füllen, lieber in seiner Kantischen Schönheit erstrahlen.
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Zwischenbilanz Ordnung, Sinnlichkeit und Interesselosigkeit - diese drei Stichworte repräsentieren eine Auswahl traditioneller Kriterien einer ästhetisch ausgerichteten Betrachtungsweise. Die Widersprüchlichkeit dieser Kriterien haben wir zumindest andeutungsweise zu zeigen versucht, die drei Begriffe dann aber vielmehr dazu verwendet, um die vielschichtige Problematik des MVS unter verschiedenen Blickwinkeln zu untersuchen. Als Resultat des Bemühens, die Innenfläche der Fensterwand in den Zustand einer spannungslosen Geordnetheit zu bringen - offensichtlich handelt es sich dabei nicht um einen symmetrischen „Aufbau", sondern um einen zur Symmetrie führenden „Abbau" im Sinne der entropischen Tendenz zur Homogenität - verursacht der MVS eine Unordnung im Raum, die nur solange nicht manifest wird, als man bereit und fähig ist, die Fensterwand als ein individualisiertes, aus den gesamträumlichen Wirkungen entlassenes Element zu betrachten, wobei aber immer noch ungewiß bleibt, ob der MVS dieser Wand als ein Teilbereich angehören soll oder nicht. Gehört er der Wand an, dann ist die Wand nicht in Ordnung - sie besteht aus einem symmetrischen Teil und einem zwar definierenden, aber selbst Undefinierten Restteil mit dem Charakter eines unliebsamen Appendixes. Gehört der MVS der Wand nicht an, so wird durch seine Absonderung nicht nur seine Vorderfläche exponiert, sondern auch seine seitliche Tiefendimension aktualisiert; sie macht ihn zu raumgreifendem Objekt, und seine Individualisierung bedarf nun in der Tat keiner Wahrnehmungs- oder Vorstellungsanstrengung - jetzt ist der MVS ein beziehungsloses Fremdelement. Der dünne Faden der Hilfeleistung an die Fensterwand, der die einzige Verbindlichkeit des MVS im Raum des Zimmers darstellt, geht verloren. Der MVS verselbständigt sich. Seine abstrakte Ordnungsfunktion verschwindet hinter seiner konkreten, sinnlichen Körperlichkeit, die verschiedenartige Interessen des Betrachters anzieht. Das Problem des Frühstückszimmers scheint unter den gegebenen Umständen nur so lösbar zu sein, daß der MVS weggedacht und die verbleibende symmetrische Innenfläche der Fensterwand gedanklich auf die gesamte Zimmerbreite ausgedehnt wird, wobei freilich das somit entstehende Problem der Fassade außer acht gelassen werden muß. Weder ist der MVS ein Ausweg aus dem durch die materiell-geometrische Architektursyntax bedingten Dilemma der Achsenverschiebung, noch kann er als ein ästhetischer, Wohlgefallen bewirkender Gegenstand charakterisiert werden. Wozu ist er dann eigentlich gut? Was kann er außer seiner Entste61
hungsgeschichte und seiner nackten Existenz noch bedeuten? - Fragen, die von einer Poetik im Sinne von „Werkplan" und Analyse zu einer Poetik im Sinne von Assoziation und Semiose führen. Den traditionellen Kriterien des Ästhetischen haben wir andere Begriffe gegenübergestellt: der Ordnung der Homogenität die Aufbau- oder Umbaustruktur eines Ordnungsprozesses; der Sinnlichkeit mit ihrer augenblicklichen Unmittelbarkeit die Unaufhaltsamkeit eines fortschreitenden Gedankens; der Interesselosigkeit ein „wildes" Interesse. Alle diese Begriffe oder Vorstellungen, die - nach unserer Auffassung - in Poetik involviert werden können und deren Vorkommen darin sogar symptomatisch ist, haben drei Charakteristika gemeinsam: die Irrelevanz des Schönen, eine immanente Dynamik und den Bezug auf das Mögliche. Eine analytische Poetik kann das Schöne nicht erreichen. Zwischen einer strukturalen „Poetik" und der „Ästhetik" liege „eine unüberwindbare Grenze", befindet Tzvetan Todorov, zwischen der „Struktur" und dem „Wert eines Werks" unterscheidend. (17/55) Einer assoziativen Poetik kommt es auf das Schöne im herkömmlichen Sinne, auf das „statisch Schöne", nicht an; sie bezieht sich nicht auf die Schönheit des Gegebenen, sondern auf die Faszination des Möglichen. Soweit möglich, wollen wir daher „Schönheit" und „Wertung" - und damit wohl „Ästhetik" - aus dem Spektrum der Bedeutungen von „Poetik" ausklammern. In der Frage des Wertes gelangt Ästhetik ohnehin in die Nähe von Ehtik. Daß jedoch zwischen Poetik und Ästhetik in vielen Aspekten keine präzise Unterscheidung getroffen werden kann, zeigt sich auch an der Ubereinstimmung von Kriterien, die in der Poetik wie in der Ästhetik gegenwärtig am häufigsten ins Treffen geführt werden. Um die Betrachtung des MVS fortzusetzen, ziehen wir nun diese Kriterien heran. Es sind dies: - Innovation, - Ambivalenz, - Universalität.
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a
Innovation
Der Begriff der Innovation ist essentiell abhängig vom Begriff der Norm. Um manifest zu werden, braucht jede Innovation den Kontrast zum Normalen, Gewohnten, Erwarteten. Die Problematik der ästhetischen Norm ist am systematischsten - soviel uns bekannt ist - in den Schriften Jan Mukarovskys aufgearbeitet worden. Ausgehend von seinem kritischen Standpunkt gegenüber der Auffassung von Ästhetik als Wissenschaft von Regeln, die die sinnliche Wahrnehmung bestimmen (Baumgartner), und gegenüber dem Axiom, daß allgemein verbindliche Voraussetzungen für das Schöne existieren (Fechner), definiert Mukafovsky die ästhetische Norm als ein kompliziertes, stetig sich prozeßhaft erneuerndes „Regulativ der ästhetischen Funktion" (8/111), das - wie andere Normen auch - seinen Ursprung im kollektiven Bewußtsein hat und zwischen Einhaltung und Abänderung oszilliert, seine Eigenart aber am deutlichsten auf dem Gebiet der Kunst zeigt, wo nämlich die ästhetische Norm „in der Regel nur den Hintergrund für den unaufhörlich gegen sie gerichteten Verstoß bildet". (8/38) „Das Kunstwerk ist immer eine inadäquate Anwendung der ästhetischen Norm", schreibt Mukarovsky und dokumentiert an konkreten Beispielen, wie in verschiedenen Epochen die gerade gültige Norm angegriffen, gestört, durchbrochen wurde. Die Geschichte der Kunst - betrachtet unter dem Aspekt der ästhetischen Norm - sei „eine Geschichte der Auflehnung gegen die herrschenden Normen". (8/45-46) Andererseits kann ein Kunstwerk die bestehende Norm kaum überwinden, indem es sie gänzlich negiert; um überhaupt kommunizierbar zu sein, muß es sie auch gewissermaßen erfüllen. Deshalb enthält ein Kunstwerk üblicherweise Elemente, die der Norm verpflichtet bleiben, und andere, die sich ihr widersetzen. Die eigentliche Kunst besteht also im Kunstgriff, behaupteten schon vor der Oktoberrevolution russische Formalisten, auf die sich Mukarovsky übrigens oft ausdrücklich bezieht und deren Theorie nicht ohne Einfluß auf seinen frühen Strukturalismus blieb. Sie bereits wußten um die Tatsache, daß das Ästhetische dort am wirksamsten ist, wo es für den Rezipienten eine Überraschung darstellt. „Ostranenie", ihr berühmter Terminus, der soviel wie Besonders- oder Merkwürdig-Machen bedeutet und leider nur ungenau mit „Verfremdung" übersetzt werden kann, wurde 1916 von Viktor Sklovskij wie folgt beschrieben: „ein Abweichen von der Norm, ein Verblüffen des Lesers durch einen Kunstgriff, der sich seinen Erwartungssystemen widersetzt 63
und die Aufmerksamkeit auf das poetische Element lenkt, das er erfassen soll". (12/123) Unter diesem Blickwinkel analysierte Sklovskij beispielsweise Laurence Sternes „Tristram Shandy", einen auf Normverletzungen aufgebauten Roman. Nach dem Konzept der Formalisten folgt der durch einen Kunstgriff bewirkten Innovation wiederum eine Automation des künstlerischen Verfahrens; das normsprengende Mittel nützt sich ab. U m diesen Vorgang semiologisch zu erklären, verwendet Umberto Eco die dementsprechende Terminologie; gleichzeitig aber figuriert in seinen diesbezüglichen Passagen ein sehr anschaulicher Begriff - „der ästhetische Reiz". Wenn eine bereits oft angewendete Form dem Empfänger nicht mehr reizvoll erscheint, so bedeutet dies die „Gewöhnung an den Reiz"; es folgt „eine Art von Ubersättigung" - die Form hat sich für eine gewisse Zeit verbraucht und muß in die „Quarantäne". (12/82) Dies wird jedoch nicht sofort allgemein erkannt und akzeptiert, so daß weiterhin Formen im Umlauf bleiben, die nur noch unangenehme Reize ausüben. Liest man heute Mukarovskys Schilderung einer derartigen Situation, so denkt man nicht unbedingt an den jetzigen Zustand der Poesie: „Das dichterische Werk kommt auf die Welt als Produkt, das die Aufgabe hat, durch die gewaltsame Veränderung des Materials ein ästhetisches Erleben hervorzurufen. Es ist neu, ungewöhnlich, und darum frisch. Menschen lesen es und gewöhnen sich an seinen Charakter. Der Dichter bringt weitere Werke hervor, die dem ersten in den Gestaltungsmitteln ähnlich sind; gegebenenfalls gehört er zu einer Dichterschule (Generation), deren Gestaltungsmittel im ganzen gleich sind. Oft geschieht es, daß nach den Schöpfern Epigonen kommen, die deren Gestaltungsmittel ohne Änderung übernehmen. Durch lange Gewohnheit verbraucht sich jedoch der gegebene Komplex von Gestaltungsmitteln, und das Aufnehmen der auf sie gegründeten dichterischen Werke automatisiert sich wie jede Handlung, die ohne Änderung oft wiederholt wird. Versrhythmus, syntaktischer Satzbau, Wahl der Wörter und ihre Bedeutungsverknüpfungen usw., die alle zu Zeiten ihrer Lebensfrische ungewöhnlich und beunruhigend waren, wirken jetzt monoton. Die dichterische Technik des betreffenden Dichters, bzw. der ganzen Schule, büßt ihren geheimnisvollen Charakter ein, ist für jedermann greifbar, Schüler, die anfangen Verse zu schmieden, beherrschen sie." (9/93-94) Die Architektur, auf die diese Zeilen gegenwärtig bezogen werden können, braucht hier gewiß nicht gezeigt oder beschrieben zu werden; Figuren und Verfahren, die unlängst vielleicht noch innovativ waren, inzwischen aber infolge von Wiederholung und Trivialisierung ihre ästhetische Wirkung ver64
loren haben, sind hinreichend bekannt. Immer mehr in Vergessenheit geraten aber jene originären Konzepte, Situationen und Zusammenhänge, in denen sie ursprüngHch auftraten und aus denen sie später herausgerissen wurden, um jetzt . . . Was bleibt, wenn dieses gesamte Vokabular endlich in die Quarantäne kommt? - Wieder nur klare Linie, gerade Wandfläche, strenger Raster? Sind es nicht etwa die Dinge, an deren stereotyper Verwendung die Moderne scheiterte und die sich selbst noch in der Quarantäne befinden? In diesem Kontext wird zweierlei deutlich: daß ein Architekturvokabular sich sehr schnell abnützen kann und daß das Formenrepertoire der Architektur insgesamt nicht sehr umfangreich ist. Zum Glück ist aber Architektur nicht auf eine ständige Innovation der Mittel angewiesen, denn es gibt auch eine Innovation der Aspekte. Diese ist kein geschichtliches Phänomen; sie hat ihre Quelle in den tiefsten Schichten der alltäglichen Wahrnehmung. Das Ziel ist jedoch in beiden Fällen das gleiche: aus der Automation der Abläufe herauszukommen. In einem anderen Zusammenhang wurde hier bereits erwähnt, daß der Wahrnehmungsprozeß im Aufstellen und Uberprüfen von Hypothesen besteht. Daran ist uns jetzt wichtig nicht so sehr die Priorität der Ratio vor den Sinnen als vielmehr die Tatsache, daß es sich bei der Wahrnehmung nicht etwa um die Übertragung der Realität in das Bewußtsein handelt, sondern um die Konstruktion von hypothetischen Modellen der Realität. Wie jedes Modell, so ist auch das Modell der Realität, das während der Wahrnehmung hergestellt wird, eine Vereinfachung - eine notwendige Vereinfachung, denn die Realität bietet potentiell weitaus mehr, als man aufnehmen kann. Das hypothetische Modell der Realität ist nur eine bestimmte Kombination potentieller Stimuli, wobei alle anderen möglichen, aus derselben Situation ableitbaren Kombinationen unrealisiert bleiben. Das wahrnehmende Individuum ist einfach nicht fähig, „alle möglichen Elemente in jeder Situation und alle ihre möglichen Beziehungen experimentell zu erfassen". Daher sind die Wahrnehmungen - wie P.P. Kilpatrick sagt „keineswegs absolute Enthüllungen dessen, ,was außerhalb liegt', ( . . .) sondern Vorhersagen und Wahrscheinlichkeiten, die auf erworbenen Erfahrungen basieren". (11/428) Gerade aber die Möglichkeit, in einer Situation verschiedene Modelle der Realität zu konstruieren, kann das wahrnehmende Subjekt nützen, indem es sich nicht mit der vordergründigsten, sich „automatisch" anbietenden Kombination der Stimuli zufriedengibt. 65
Α. Ombredane formuliert es sehr deutlich, indem er verschiedene Typen der wahrnehmenden Subjekte und deren verschiedene Methoden der Wahrnehmung einander gegenüberstellt: „Man könnte unterscheiden: das Individuum, das seine Erkundung abkürzt und beschließt, eine bemerkte Struktur zu benutzen, bevor es noch alle Informationselemente ausgenutzt hat, die es hätte sammeln können; das Individuum, das seine Operation verlängert und sich verbietet, die Struktur anzunehmen, die die Operation ihm zeigt; das Individuum, das die beiden Verhaltensweisen verbindet, sei es um mehrere mögliche Entscheidungen zu vergleichen, sei es um die beiden besser in ein allmählich aufgebautes einheitliches Perzept einzubeziehen. (. ..) Wenn die Wahrnehmung eine Verpflichtung, ein Engagement ist, dann gibt es verschiedene Arten, sich auf dem Weg einer Suche nach nützlichen Informationen zu engagieren oder es abzulehnen, sich zu engagieren." (11/430) Es versteht sich von selbst, daß alle diese Wahrnehmungsmethoden auch auf ein einziges Subjekt bezogen werden können - in der Annahme, daß ein wahrnehmendes Subjekt unter verschiedenen Umständen verschiedenartig vorgeht. Die Wahl zwischen einer automatisierten, abgekürzten Wahrnehmung und einer angestrengten, verlängerten Wahrnehmung liegt dann im Entscheidungsbereich des Individuums. Das Herausbrechen aus dem Wahrnehmungsautomatismus kann also willentlich herbeigeführt werden und ist die erste Voraussetzung dafür, zu neuen „Ansichten" zu gelangen. Man könnte nun einwenden, daß eine auf diesem Wege erreichte Innovation der Aspekte auf die individuelle Betrachtung beschränkt bleibe und für die Allgemeinheit daher ohne Bedeutung sei. Freilich betrifft die Innovation der Mittel vor allem die Sphäre der Produktion, die Innovation der Aspekte dagegen hauptsächlich die Sphäre der Rezeption. Doch gibt es zwischen beiden keine hermetische Grenze, sondern vielmehr eine ständige Fluktuation. Die Ergebnisse der eigenen Betrachtungen wirken ja unmittelbar auf die eigene Arbeit, und möglicherweise sind sie außerdem als Bewußtseinsinhalte mitteilbar. Nun wollen wir der Frage nachgehen, ob eine Affinität zwischen dem MVS und dem Thema der Innovation besteht bzw. hergestellt werden kann. Man wäre vielleicht geneigt, den MVS einen Kunstgriff zu nennen, womit man aber wahrscheinlich etwas wie einen gekünstelten Kniff meinen würde. Denn mit Kunst assoziiert man den MVS kaum. Zwar ist er - und dies sogar ausschließlich - aus ästhetischen Gründen da, doch es käme gewiß der Verkennung sowohl seiner Bedeutung als auch der in ihm realisierten Absicht 66
gleich, ihn als künstlerisches Mittel qualifizieren zu wollen, als kalkulierte Verletzung des Erwartungssystems, „gewaltsame Veränderung des Materials", als eine Verfremdung, die auf das „poetische Element" aufmerksam machen soll. Tatsächlich aber lenkt der MVS die Aufmerksamkeit auf sich, und die Bezeichnung „gewaltsame Veränderung des Materials" paßt auf ihn. Doch ist er ganz und gar mit der Intention erfüllt, applanierend zu wirken, ein vor seinem Urheber wohl plötzlich auftauchendes Problem des „Materials" aus der Welt zu schaffen und nicht zu thematisieren. U m es überspitzt zu formulieren, der MVS will ja gar nicht vorspringen, geschweige denn als Kunst interpretiert werden. Ist also die Poetik, die wir ihm zuschreiben, lediglich eine Projektion auf eine an sich flache Wand.' Wird der MVS bloß wie ein Ready-made aus der grauen Realität herausgegriffen und völlig „künstlich" zur Kunst erklärt, sonst aber ein bedeutungsloser Gegenstand bleiben? Hier sieht man wieder - er ist mehr als das. Er bietet sich an, springt doch einigermaßen vor, in mancher Hinsicht sogar, womit sich die Frage der Aspekte stellt. Er hält uns auf, verlängert und kompliziert unsere Wahrnehmung, fordert unser Engagement heraus. Vergeblich suchten wir nach ähnlichen Mauervorsprüngen; wir fanden keinen einzigen, der so motiviert wäre oder so motivieren würde. Es gibt keine Entwicklungsgeschichte solcher Mauervorsprünge, der MVS ist eine ahistorische Einzelerscheinung. Geschichtlich innovativ erweisen könnte er sich daher nur noch als Mutation eines abstrakten Maßnahmetypus, eines in bestimmter wiederkehrender Situation üblichen Eingriffs. Doch auch hier ist ein historischer Bezug kaum erkennbar oder herstellbar. In einer Situation, die jener im Frühstückszimmer des Wittgenstein-Hauses analog ist, wird nämlich normalerweise gar keine besondere Maßnahme gesetzt, sondern nur - je nach der Priorität - zwischen zwei Eventualitäten entschieden. Auf eine einfache Formel gebracht: Ist das Äußere wichtiger als das Innere, so wird die Öffnung in einem zurückspringenden Gebäudeteil in die Mitte der Fassade gesetzt und die Asymmetrie der Innenseite hingenommen. Fischer von Erlach bevorzugte bei seinen Bauten diese Lösung. (Abb. 22) Ist aber das Interieur wichtiger als die Fassade, so wird die Öffnung auf die Mitte der inneren Wandfläche ausgerichtet, wobei die äußeren Verhältnisse unberücksichtigt bleiben. Diese Lösung, beispielsweise von Adolf Loos wiederholt angewendet, ist natürlicher, konstruktiv organischer, weniger formalistisch, denn sie entspricht den Gegebenheiten der Syntax. (Abb. 23) 67
Abb. 22 Achsenproblem der Fensteröffnung in einem zurückspringenden Gebäudeteil bei Fischer von Erlach
Belvedere Liechtenstein (24/Abb. 212)
„Lustgebäude" in Neuwaldegg (24/Abb. 213) 68
Abb. 23 Achsenproblem der Fensteröffnung in einem zurückspringenden Gebäudeteil bei Adolf Loos
Haus Duschnitz (25/512)
Haus Mandl (25/513) 69
Abb. 24 Achsenproblem der Fensteröffnung in einem zurückspringenden Gebäudeteil
E
Fischer von Erlach
Adolf Loos
Wittgenstein-Haus
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Bei seinen glatten Fassaden konnte sich Loos diese Lösung erlauben, wohingegen Fischer von Erlach auf die plastische Gliederung seiner Fassaden Rücksicht nehmen mußte. Erhält die Fassade eines Baumassenkomplexes auch in der Innenecke einen Pilaster, so entsteht eine syntaxmäßig widersinnige Symmetrie des zurückspringenden Baukörpers. Dieser - der grundrißlichen Struktur nach angeschlossene - Gebäudeteil wird dadurch äußerlich abgekoppelt und wie ein separates Bauwerk behandelt. Obwohl die Fassaden des Wittgenstein-Hauses genauso glatt sind wie die der Loosschen Bauten, wird hier die Fassadensymmetrie genauso streng genommen wie beispielsweise bei den reliefartig behandelten Bauten Fischers von Erlach. Gewollt wird im Wittgenstein-Haus freilich beides: der Vorteil der einen wie der Vorteil der anderen Lösung - die äußere wie die innere Symmetrie eines in sich asymmetrischen Gebildes. (Abb. 24) Der MVS soll das Unmögliche zuwege bringen. Er ist ein Kuriosum, die Verzweiflungstat eines Amateurs, zeitlos. Somit unterliegt der MVS nicht dem Innovationskriterium der Geschichte, sondern dem Innovationskriterium der Wahrnehmung. Es geht hier also nicht um die Epik einer Typus-Evolution, es geht hier wahrscheinlich nur um das Elementare, um die „Phoneme" der Architektur. Übrigens sahen Novalis und Mallarmé im Alphabet das größte dichterische Werk überhaupt.
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b
Ambivalenz
Das „ästhetische Urphänomen von Ambivalenz", wie Adorno es nennt, tritt unter verschiedenen Benennungen auf und ist gegenwärtig wohl das begehrteste Attribut für alles, was nach ästhetischer Wirkung strebt. Mehrdeutigkeit, Unbestimmtheit, Ambiguität, wie auch immer es heißen mag, gilt als vorrangiges Kriterium auch für Architektur, die „mehr" (meist aber - paradoxerweise - etwas Bestimmtes) bedeuten soll. Wenn es in der Architektur um Fragen der Bedeutung geht, liegt anscheinend nichts näher als der Vergleich zwischen Architektur und Sprache. Er hat bereits seine eigene Tradition, fand Verwendung auch in der Linguistik (bei Saussure) und wurde oft - insbesondere zu Zeiten der allgemeinen Vorliebe für Semiologie - breit angelegt präsentiert, wobei die Bemühung um einen Terminologietransfer nicht selten im Vordergrund stand. Hier dagegen soll nur auf Grundsätzliches hingewiesen und eine Betrachtungsmöglichkeit angedeutet werden. Von detaillierten Unterscheidungen abgesehen, gibt es zwei gegensätzliche Arten der Anwendung, der Funktion, der Bedeutung von Sprache: die referentielle und die poetische. Die referentielle Nachricht - eine Mitteilung - dient einem praktischen Zweck. Sie hat die Aufgabe, Gedanken so genau, klar und kurz wie möglich zu übermitteln. Auf die Eindeutigkeit der Nachricht wird daher Wert gelegt. (Dennoch gibt es keine Garantie, daß der Nachricht tatsächlich jene Gedanken entnommen werden, die sie übermitteln sollte, und daß es dabei zu keinerlei Bedeutungsdivergenzen kommt.) Die ästhetische Botschaft - ein poetischer Text - hat ein anderes Ziel: nicht etwa die Verständigung zu ermöglichen und das Verständnis zu erleichtern, also etwas Bestimmtes exakt zu bedeuten, sondern - wie Mukarovsky es definiert - „das Erleben des Ausdrucksaktes als Selbstzweck" (9/91) oder wie Jakobson sagt - „ die Einstellung auf die Botschaft als solche, die Ausrichtung auf die Botschaft um ihrer selbst willen" (10/92). Eine Botschaft, die zweideutig strukturiert ist - Eco schildert es spannend - , „die mich zu der Frage treibt, was das denn heißen soll, während ich im Nebel der Ambiguität etwas erblicke, was auf dem Grunde meine Decodierung leitet, eine solche Botschaft beginne ich zu beobachten, um zu sehen, wie sie gemacht ist". (11/147) Die Zweckmäßigkeit eines Mitteilungstextes macht ihn einem Gebrauchsgegenstand, einem Nutzbau durchaus vergleichbar. Ein derartiges Objekt funktioniert; dies kommt der Referentialität einer Mitteilung gleich. Man 72
kann aber auch beim Gebrauchsgegenstand von einer tatsächlichen Referentiahtät sprechen: Ohne überhaupt in Funktion treten zu müssen, teilt er seine Funktion mit. Anders gesagt: „Das Gebrauchsobjekt ist unter dem Gesichtspunkt der Kommunikation das Signißans desjenigen exakt und konventionell denotierten Signifikats, das seine Funktion ist." (11/306) Analog dazu muß auch ein Mitteilungstext seine Funktion mitteilen, um sie ausüben zu können. Er muß also noch zusätzlich referentiell sein; das ist er durch seine eindeutige Strukturierung. Somit ist der Vergleich zwischen Mitteilung und Gebrauchsobjekt auch insofern zutreffend, als beide ihren Gebrauchscharakter, ihre Funktion und die beabsichtigte Eindeutigkeit erkennen lassen. Was aber entspricht in der Architektur mehrdeutigen, poetischen Texten? In Frage kommen offensichtlich jene sonderbaren Objekte, die zwar der Architektur angehören, sich jedoch außerhalb der Kategorie der Gebrauchsgegenstände befinden - die keineswegs nützlichen oder benutzbaren Dinge, Räume, Bauteile. (Das Objekt, das sich hier als Beispiel anbietet, braucht gewiß nicht wieder genannt zu werden.) Doch weder ist die Beschränkung auf derartige Ausnahmefälle notwendig, noch kann bloße Nutzlosigkeit mit Mehrdeutigkeit gleichgesetzt werden. Es ist also nach einer besseren Entsprechung zu suchen. Für das hauptsächliche Merkmal des Poetischen wird meist die Metapher gehalten. Daher wird auch oft angenommen, Architektur nähere sich der Poesie mittels gebauter metaphorischer Gleichnisse. Nicht ohne Zusammenhang damit ist jenes Problem zu sehen, das der Architektur aus ihrer gesellschaftlichen Verpflichtung erwächst: Einerseits besteht der Ehrgeiz, mehrdeutige Architekturbotschaften hervorzubringen, andererseits wird erwartet, daß sie als allgemein verständliche Symbole gleichsam eindeutig interpretiert werden. Bei der Lösung dieser ambivalenten Aufgabe kann auch Semiologie kaum helfen. Um so mehr drängt sich die Metapher als Ausweg aus dem Mehrdeutigkeitsproblem auf. Sie erscheint als kunstvoll verschlüsselte Botschaft, die aber mühelos, fast automatisch entschlüsselbar ist - ein Ausweg in die Eindeutigkeit, ein überredend überzeugendes, vielmehr rhetorisches denn poetisches Mittel. Tatsächlich ist die mit Metaphern versehene Architektur ähnlich der Literatur, nicht aber der besten. Soll Architektur auf der Suche nach poetischer Mehrdeutigkeit Architektur bleiben, so mag es von Bedeutung sein, daß Poetisches auch Nichtpoetisches enthält und auch anderswo zu finden ist als in den mit künstlerischer Ambition verfaßten Botschaften. Diesem Aspekt wollen wir etwas mehr Aufmerksamkeit widmen. 73
U m die Relevanz außerästhetischer Faktoren in der Kunst an einem Beispiel zu demonstrieren, wies Mukarovsky auf die Dringlichkeit der „Zweckfrage" in der Architektur hin: „In der Theorie der Architektur wurde wiederholt behauptet und bewiesen, daß die künstlerische Gestalt, welche scheinbar als Frucht ästhetisch ausgerichteter Schöpfungskraft entsteht, sich in Wirklichkeit in Anpassung des Gebildes an außerästhetische, natürliche oder gesellschaftliche, Bedingungen und Anregungen herausbildet, daß, mit anderen Worten, also gerade den außerästhetischen Funktionen eine außerordentlich wichtige Rolle bei der Entwicklung der künstlerischen Gestalt zufällt. Dadurch, daß die Kunst scheinbar entgegen ihrer natürlichen Bestimmung ständig gezwungen wird, praktisch in den Lebensprozeß einzugreifen, erneuert sie ständig ihren ästhetischen Aufbau." (9/18-19) Die in der Architektur jederzeit denkbare Aktualisierung außerästhetischer Funktionen, vor allem durch pragmatische Belange, ermöglicht die Entwicklung einer Ambivalenz, die sich von der beabsichtigten und mit ästhetischen Mitteln herbeigeführten Mehrdeutigkeit wesentlich unterscheidet und nur eine andere - reziproke - Form jener Ambivalenz ist, die sich aus der Eventualität ästhetischer Wirkung der lediglich zweckentsprechend zu funktionierenden Gebrauchsobjekte ergibt. Auf beide Wirkungsbereiche dieser Ambivalenz - sie existiert im Ansatz auch auf dem literarischen Gebiet - macht Jakobson in einem Satz aufmerksam: „Jeder Versuch, die Sphäre der poetischen Funktion auf Dichtung zu reduzieren oder Dichtung auf die poetische Funktion einzuschränken, wäre eine trügerische Vereinfachung." (10/92) Entsteht aber etwas wie eine Poetizität referentieller Nachrichten, z.B. alltäglicher Zeitungsmeldungen, oder eine Poetizität gewöhnlicher Gebrauchsgegenstände, werden also Texte und Objekte offensichtlich anders interpretiert, als es vorgesehen wurde, so stellt sich die Frage, inwieweit dies subjektiv bedingt ist. In letzter Konsequenz ist der Rezipient als alleinverantwortlich zu betrachten; es muß ihm nämlich die Entscheidung über die Art der einem Text oder Objekt attribuierten Bedeutung überlassen bleiben: „Ob etwas poetisch aufgefaßt wird, ist Folge der Einstellung, mit der der Rezipient an den betreffenden Text herangeht. Damit ist das Poetische als ein Vermögen bzw. eine Fähigkeit (. . .) des Textrezipienten beschrieben, nicht jedoch als eine Eigenschaft, die den entsprechenden Texten objektiv inhärent wäre (. ..)". (18/141) Andererseits bleibt dem Rezipienten die Wahl der Bedeutungsart insoweit nicht überlassen, als er durch die gesamte Gestaltung der Nachricht in deren Interpretation beeinflußt wird. Ähnlich, wie ein Mitteilungstext oder ein Ge74
brauchsgegenstand seine Funktion mitteilt, als wäre er mit einem referentiellen Index versehen, trägt ein Kunstwerk die ebenso imaginäre Anweisung: „Interpretiere mich als Kunst!" - einen suggestiven, immer gewissermaßen rhetorischen Index. Die Maxime des Poetischen ist aber die Wahl zwischen den Möglichkeiten, die Nichtfestlegung der Bedeutung, die Mehrdeutigkeit im Sinne von Offenheit. Soll diese Maxime ganz zur Geltung kommen, so muß sie während einer Interpretation spontan und von Grund auf befolgt werden können, sich also bereits auf die Voraussetzungen der Bedeutungswahl beziehen. Auf dieser Grundebene besteht die Mehrdeutigkeit darin, daß auch der Mehrdeutigkeit als solcher eine Alternative zur Seite gestellt wird. Und dies kann nur die Eindeutigkeit sein - die Eindeutigkeit einer referentiellen Nachricht oder eines Gebrauchsobjekts. Das wahre Poetische ist also poetisch und zugleich nichtpoetisch, beispielsweise praktisch. Diese grundsätzliche Ambivalenz findet in der Architektur, wo sie sich auf die Heterogenität der Komponenten und Funktionen stützen kann, viel bessere Bedingungen als in der Literatur, wo sie nur in Opposition zu der implizit angekündigten Monofunktionalität eines Textes denkbar ist. Im Prinzip könnte daher Architektur poetischer sein als Poesie. Gerade aber die rhetorisch manifeste Kunstambition hindert Architektur daran, dies zu erreichen. Eine ganz andere Sache ist, daß formal motivierte Anstrengungen Merkwürdiges hervorbringen, wenn sie mit dem Widerstand der Syntax konfrontiert werden. Nicht nur jene Ambivalenz, die aus dem Verhältnis zwischen der pragmatischen und der ästhetischen Funktion resultiert, sondern auch die zwischen syntaktischen Normen und ästhetisch ausgerichteten Intentionen sich entwickelnde Ambivalenz ist in der Architektur spezifisch ausgeprägt, denn die syntaktischen Normen der Architektur basieren auf physikalischen und geometrischen Gegebenheiten und sind daher - anders als z.B. jene der Sprache - unwandelbar. Die so begründete Mehrdeutigkeit offenbart sich bei der Beobachtung, wie etwas gemacht ist, wie es gemacht sein wollte, wie es - der Eigengesetzlichkeit der Architektursyntax entsprechend - gemacht werden mußte, müßte, könnte usw. Die beiden erwähnten Ambivalenzen reichen tief - sowohl zu der Grundebene der interpretatorischen oder konzeptionellen Entscheidungen als auch zu den natürlichen und apriorischen Prämissen der ganzen Architektur. Keine dieser beiden Ambivalenzen involviert architekturfremde semantische Einflüsse, beide sind als architekturimmanent zu betrachten. In einer auf 75
ihnen aufbauenden Poetik der Architektur können sich also zwei Aspekte gegenseitig ergänzen: - die fundamentale Poetizität, die aus der grundsätzlichen Unbestimmtheit der Oszillation zwischen der pragmatischen und der ästhetischen Funktion entsteht und oft gerade die einfachsten Dinge als mehrdeutige Objekte erscheinen läßt, - Die Poetizität des Fundamentalen, der unabänderlichen syntaktischen Grundprinzipien, die sich in formalästhetischer Hinsicht als Dilemmata erweisen und Architektur zu vielfältiger Falle machen. Der MVS kann zweifellos mit dem zweiten dieser Aspekte in Zusammenhang gebracht werden; er ist ein verkörperter Hinweis auf die potentielle Ambivalenz der Architektursyntax. Man könnte jedoch einwenden, er sei kein geeignetes Beispiel für die hier vorgeschlagene Kombination beider Aspekte, weil er sich dem ersten entziehe; denn tatsächlich dient er keinem praktischen Zweck. Nun ist aber eine derartige Funktionslosigkeit des MVS zunächst gar nicht feststellbar. Vielmehr könnte bei ihm die Eigenschaft des Nützlichen vorausgesetzt werden. Sein bescheidenes Außeres, unbeschwert von Dekor und rhetorischer Signifikanz, erinnert an den referentiellen Index eines Gebrauchsgegenstands und scheint auf eine pragmatisch ausgerichtete Dienstbarkeit hinzudeuten. So ist der Betrachter vermutlich bereit, den MVS in die Kategorie jener Mauervorsprünge, Risalite und Eckpfeiler einzuordnen, die in Wohnungen auf der ganzen Welt millionenfach auffindbar sind. Sie bergen in sich Rauchfänge, Installationsrohre oder statische Notwendigkeiten. Ihr Dasein ist also zweckerfüllt. Dennoch umgibt sie oft eine Aura des Irrationalen. Nicht nur weil sie unpraktisch sind, lästig bei der Einrichtung. Sie können auch sehr nett sein, haben fast immer einen persönlichen Flair, so daß sich die Bewohner über sie zwar manchmal ärgern, sie aber trotzdem, früher oder später, liebgewinnen oder zumindest akzeptieren, ohne sich mit deren Sinn und Funktion zu befassen. Könnte es sein, daß einige dieser Mauervorsprünge - manche klingen ja hohl - keine zweckhafte Substanz haben.' Seitdem wir den MVS kennen, sind sie allesamt verdächtig. Umgekehrt kann er mit ihnen assoziiert werden und daher ebenso „nichtpoetisch" poetisch wirken. Daß sich der MVS in ambivalenter Lage befindet, haben wir bereits zu zeigen versucht. Er muß der Fensterwand angehören, damit er nicht als selbständiges Element den Raum verunklärt. Gleichzeitig darf er der Fensterwand nicht angehören, denn diese soll ja symmetrisch sein. Er muß hier sein und zugleich weg sein. 76
Der MVS besteht aus zwei Flächen und einer Kante. Diese drei Elemente werden wir noch einzeln untersuchen; in allen stecken weitere Ambivalenzen, die in den grundlegenden Fragestellungen der Architektur bereits vorgezeichnet sind und gelegentlich zu überraschenden Figurationen aufwachsen können. Vielleicht dürfen auch solche Gebilde, die nur aus Linien, Flächen und räumlichen Beziehungen entstehen, „Bilder" genannt werden. In seiner „Poetik des Raumes" versucht Gaston Bachelard „den radikalen Unterschied zwischen dem Bild und der Metapher zu zeigen". Die Metapher habe keinen phänomenologischen Wert und sei „allerhöchstens ein fabriziertes Bild, ohne tiefere, echte, wirkliche Wurzeln". Im Gegensatz zur Matapher sei das Bild ein Werk der Einbildungskraft, und - „es stiftet Sein". (19/104-105) Zum selben Thema zitieren wir noch ein Gedicht von Wolfgang Bauer (22/25-26):
Flucht in die Reinheit Es verfolgt mich ein Schwärm von Gleichnissen entfliehen will ich ihren süßen Dienstbarkeiten an denen ich mich längst überfressen habe Ich weiß, daß der Baum ein Lebensbaum ist das Leben ein Traum die Seele ein tiefer See der Tod ein böser Geselle ich weiß, daß der Himmel ein Zelt ist das Gesumme der Bienen Musik ist und jede Wurst zwei Enden hat daß die Frau eine Göttin die Wirklichkeit Einbildung die Wüste eine Leere der Wald ein Schilderwald die Stadt ein Häusermeer die Nacht ein Mantel die Sonne ein Ball der Mond eine Sichel ist 77
Hinaus mit euch, gurrende Metaphern ich will jetzt dichten: Unter dem blauen Himmel sitzt auf einer grünen Wiese eine wunderschöne Frau in der Hand einen Strauß Margeriten ihr Kleid ist blau. Im dunklen Zimmer sitzt der Mann ißt seine Suppe schnell leert er den Teller wischt sich den Mund ab geht in den Keller. Die schöne Frau kommt nach Hause der Mann sitzt schon beim Wein sie macht ihm eine Jause Ei, wie fein. So schön und einfach ist die Welt so heiter ist das Leben wenn die Metapher fehlt
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Universalität
Viele Mißverständnisse und Verkrampfungen sowohl im praktischen als auch im theoretischen Bereich der Architektur sind auf Unsicherheiten in den grundsätzlichen Fragen der Bedeutung zurückzuführen: Was bedeutet Architektur? Ist Architektur Kunst? Das unklare Gefühl, Architektur wäre den anderen Künsten doch nicht ganz ebenbürtig, entspringt offenbar einer nüchternen Betrachtung: Architektur bildet nichts ab, und sie erzählt auch keine Fabel. Vergeblich sind all die Versuche, das fehlende Sujet irgendwie zu ersetzen, all die Beteuerungen, daß Architektur z.B. die Geschichte ihres Entstehens erzählt oder die gesellschaftlichen Verhältnisse abbildet - darüber reden die anderen Künste ja nebenbei. Vergeblich sind aber auch all die Vergleiche mit der - in ihrer Abstraktheit ohnehin unerreichbaren - Kunst der Musik; sie machen die Stummheit und die physische Schwere der Architektur nur allzu deutlich. Ob die Sehnsucht latent bleibt oder manifest wird - Architektur will sprechen, hat aber kein Thema außer sich selbst. Gerne würde sie die Inhaltslasten auf sich nehmen, deren sich beispielsweise die Poesie in ihrem Bemühen, „Poésie pure" zu werden, entledigen wollte. Daß sich im Umgang mit Kunst das Sujet überhaupt verselbständigen und die Bedeutung auf sich ziehen kann, hat seine Ursache in der hegelianischen Spaltung des Kunstwerks in Inhalt und Form - einer Auffassung, „die der Kunsttheorie große Schwierigkeiten bereitet hat". (9/10) In engem Zusammenhang damit steht auch die Annahme, das eigentliche Ziel der Kunst sei das „Abbilden" oder das „Erzählen", wobei es sich in Wirklichkeit nur um Mittel der Kunst handelt - eine Kategorie, in der auch das „Bauen" figurieren kann. Kunst besteht nicht darin, jemandem Geschehenes oder Nichtgeschehenes zur Kenntnis zu bringen oder ihn über reale Eigenschaften eines Gegenstands zu informieren, sondern darin, ein Material so zu strukturieren, daß es ästhetisch wirksam wird, sei es nun ein literarischer Stoff, ein Farbstoff oder ein Baustoff. Der Stoff selbst jedoch wird als Bestandteil des Kunstwerks zum „Ballast, den die Betrachtung abwirft", wie Walter Benjamin schrieb. (6/253) Was übrig bleibt, ist offenbar die Struktur und die Bedeutung des Kunstwerks. Was aber bedeutet ein Kunstwerk? Alles. Darin liegt seine Universalität. Um das zu erklären, greift man gern auf ein Zitat von Benedetto Croce zurück: „(. . .) jede echte künstlerische Darstellung ist sie selbst und das Universum, 79
das Universum in dieser individuellen Form, diese individuelle Form als das Universum. In jedem Wort des Dichters, in jedem Geschöpf seiner Phantasie liegt das ganze Schicksal der Menschheit, alle Hoffnungen, Illusionen, Schmerzen und Freuden, Größe und Elend des Menschen; das ganze Drama des Wirklichen, das ewig auf sich selbst wächst und wird, leidend und genießend." (11/145) 1934 definierte Jan Mukarovsky in seinem Vortrag „L'art comme fait sémiologique" das Kunstwerk als „autonomes Zeichen". (Dieser Begriff stiftete später Verwirrung, denn es wurde vermutet, daß damit eine Autonomie der Kunst angesprochen ist, wobei gerade Mukarovsky immer den gesellschaftlichen Bezug der Kunst betonte.) In der Autonomie des Zeichens kommt die Universalität des Kunstwerks besonders gut zum Vorschein. Das Kunstwerk ist ein Zeichen ohne eindeutigen Sachbezug, es „meint" keineswegs jene Realität, die es mit seinem Thema und seinem Material mitteilt oder abbildet, sondern „den Komplex aller Realitäten, das Universum als Ganzes oder - genauer - die gesamte Lebenserfahrung des Autors bzw. des Aufnehmenden". (9/146) Wie ein - dem Umfang nach - kleines Kunstwerk eine Nahezu-Referentialität in ein ganzes Bedeutungs-Universum verwandeln kann, soll hier mit einem Gedicht von Ernst Herbeck dokumentiert werden (23/115):
Der Abend! Guten Tag, grüßt ein Herr, eine Dame Überm Weg besonders schön. Dankend bekam der Herr die Antwort Guten Tag sagte sie in den kühlen Abend hinein Es muß aber nicht immer die ganze Welt sein, worauf sich das Kunstwerk bezieht. Das autonome Zeichen kann „im Bewußtsein des Aufnehmenden eine Beziehung zu einem beliebigen Erlebnis oder einem Erlebniskomplex des Aufnehmenden anknüpfen". (9/35) 80
Damit wird auch der individuelle Beitrag des Rezipienten zu der sich konstituierenden Bedeutung des Kunstwerks hervorgehoben. Das Universum, das vom Kunstwerk „bezeichnet" wird, ist nicht für jeden dasselbe. Natürlich kann durch den Einfluß des Rezipienten auch jedes andersgeartete - z.B. referentielle - Zeichen sowie jeder beliebige Gegenstand zum autonomen Zeichen werden. Wenn hier von Zeichen die Rede ist, dann soll auch die Prozeßhaftigkeit einer Semiose erwähnt werden. Umberto Eco beschreibt solche in Etappen sich gestaltenden Vorgänge besonders anschaulich. Allerdings spricht er hier nicht von einem einzigen, ganzheitlichen Zeichen, sondern von einem „Reizfeld", das viele einzelne Zeichen enthält. „Im ästhetischen Reizfeld sind die Zeichen gebunden von einer Notwendigkeit, die sich von in der Sensibilität des Empfängers verwurzelten Gewohnheiten herleitet (sie ist das, was man Geschmack nennt - eine Art von geschichtlich sich herausbildendem Kodex); gebunden vom Reim, vom Metrum, von konventionellen Proportionen, durch ihren Zusammenhang mit dem Wirklichen, vom Wahrscheinlichen und den stilistischen Gewohnheiten gebunden von institutionalisierten Beziehungen, erscheinen die Zeichen als ein Ganzes, von dem der Rezipierende fühlt, daß es nicht zerstückelt werden kann. Er vermag die Bezüge nicht zu isolieren und muß den Gesamtbezug erfassen, auf den der Ausdruck ihn verweist. Das führt dazu, daß das Signifikat vielförmig und uneindeutig wird und daß die erste Phase des Verständnisvorgangs eben wegen ihrer Komplexität zugleich befriedigt und nicht befriedigt. Deshalb ein zweites Sichbeschäftigen mit der Botschaft, nun schon mit einem Schema komplexer Signifikate, die unausweichlich unsere Erinnerungen an frühere Erfahrungen ins Spiel gebracht haben; die zweite Rezeption wird darum angereichert sein durch eine Reihe begleitender Erinnerungen, die mit den beim zweiten Kontakt erfaßten Signifikaten in Wechselwirkung treten; diese Signifikate wiederum werden schon von Anfang an von denen des ersten Kontaktes verschieden sein, weil die Komplexität des Reizes von sich aus dazu geführt haben wird, daß die erneute Rezeption unter einer unterschiedlichen Perspektive, gemäß einer neuen Hierarchie der Reize, erfolgt. Der Empfänger, der seine Aufmerksamkeit erneut dem Komplex der Reize zuwendet, wird jetzt Reize in den Vordergrund stellen, die er vorher nur beiläufig aufnahm, und umgekehrt. In dem transaktiven Akt, bei dem das Arsenal der begleitenden Erinnerungen sich mit dem System der Signifikate verbindet, das bei der zweiten Phase zugleich mit dem in der ersten Phase aufgetauchten (jetzt als Erinnerung - als .harmonischer Oberton' der zweiten Verständnisphase fungierenden) System aufsteigt, gewinnt ein 81
Signifikat Form, das reicher ist als das des ursprünglichen Ausdrucks. Und je mehr das Verständnis sich kompliziert, desto mehr erscheint die ursprüngliche Botschaft - so wie sie ist, konstituiert durch die Materie, die sie realisiert - anstatt verbraucht erneuert, bereit zu vertiefteren ,Lektüren'. Es wird eine richtige Kettenreaktion entfesselt, wie sie typisch ist für jene Organisation von Reizen, die wir als ,Form' zu bezeichnen pflegen. Diese Reaktion ist theoretisch unendlich, und sie endet faktisch, wenn die Form aufhört, dem Empfänger reizvoll zu erscheinen; doch in diesem Fall kommt offensichtlich das Nachlassen der Aufmerksamkeit ins Spiel; eine Art Gewöhnung an den Reiz, durch die einerseits die Zeichen, aus denen er sich zusammensetzt - wie ein zu lange betrachtender Gegenstand oder ein Wort, dessen Bedeutung wir uns immer wieder obsessiv vorgestellt haben (...)." (12/80-82) An einer anderen Stelle befaßt sich Eco mit der Frage des interpretatorischen Spielraums, den sich der Rezipient einer poetischen Botschaft beläßt. Es geht dabei um „eine Dialektik zwischen interpretatorischer Treue und interpretatorischer Freiheit": „Einerseits versucht der Empfänger, die Aufforderung der Ambiguität der Botschaft aufzunehmen und die unsichere Form mit den eigenen Codes zu füllen; andererseits wird er von den Kontextbeziehungen dazu gebracht, die Botschaft so zu sehen, wie sie gebaut ist, in einem Akt der Treue gegenüber dem Autor und der Zeit, in der die Botschaft hervorgebracht worden ist." (11/165) Der Anteil der „Eigeninitiative", die der Empfänger entwickelt, kann freilich verschieden groß sein. Allen diesen Feststellungen liegt eine wesentliche Tatsache zugrunde: daß nämlich das Kunstwerk keine prädeterminierte Bedeutung hat, die es bloß zu finden gäbe (so wie manchmal vermutet wird). Das Kunstwerk gleicht also nicht einem Kreuzworträtsel, in welches die entschlüsselten Bedeutungen brav einzusetzen wären, sondern vielmehr einem Flipper, bei dem es zu Bedeutungsanhäufungen kommt, indem die Betrachtung komplizierte und unberechenbare Wege durchläuft und diverse Punkte des Spielfelds berührt. Wie heißt es bei Eco? - „(. . .) das Signifikat wird ständig auf den Signifikanten zurückgeworfen und reichert sich mit neuen Echos an (...)." (12/79) Der MVS ist zwar ein durch eine ästhetisch ausgerichtete Intention bedingter Gegenstand, intentional jedoch kein Kunstwerk. Dennoch betrachten wir ihn als kunstähnlich; dies in dem Sinne, daß wir ihm - in bezug auf seine Bedeutung - Universalität zuschreiben. Bevor wir aber zum MVS kommen, müssen wir den Zimmereingang passieren. Das Betreten des Frühstückszimmers läßt sich als Ubergang von einer Realität in eine andere Realität deuten. Folgende Tatsachen tragen dazu bei: 82
1 1.1
Gestaltung des Zimmereingangs Abb. 25 (2/116) Der Eintritt in das Zimmer erfolgt über sechs Stufen und ist somit erschwert. 1.1.1 Die Stufen führen hinauf, zu einer „besseren" Ebene. 1.2 Die Zimmereingangstür befindet sich im Bereich der Stufen (auf der zweiten Stufe). Dies ist eine weitere Erschwernis, jedoch nicht die letzte. 1.3 Blockiert durch die Stufen im Zimmer, läßt sich die Tür nur gegen die Steigrichtung öffnen, so ähnlich wie die waagrecht bewegbaren Schranken gewisser Grenzübergänge, da sie an Betonblöcke anschlagen, nur gegen die Fahrtrichtung geöffnet werden können. 1.3.1 Das Öffnen der Tür zwingt zu einem Schritt zurück - von der ersten Stufe hinunter. 1.4 Die Tür ist zweiflügelig. Bei solchen Türen läßt sich im Normalgebrauch nur einer der Flügel öffnen, so daß nur die Hälfte der Öffnung frei wird bzw. die durch die Gesamtbreite des Türrahmens suggerierte Erwartung unerfüllt bleibt. 1.4.1 Dieser Effekt wird noch verstärkt, indem die Durchgangsbreite auch mit der Stufenbreite in Verbindung gebracht wird. 83
1.5
Die Tür ist - von ihren spezifischen Eigenschaften abgesehen - die absolute Sperre des Raumes, in der Hinderniswirkung jedenfalls stärker als die bloß erschwerend wirkende Treppe. Der scharfen Raumgrenze, der räumlich (materiell), zeitlich (ablaufbezogen) und bedeutungsmäßig nahezu nur punktuellen Sperre in Gestalt der Tür, wird die - in allen genannten Aspekten - langgestreckte Erschwernis in Gestalt der Treppe unterlegt und in das Zimmer verlängert. Damit wird die Hinderniswirkung der Tür unterstrichen und der Eintretende einem psychologischen Effekt ausgesetzt: Gerade als er im Begriff ist, die absolute Grenze zu passieren, stellt er fest, daß die Erschwernis fortdauert und er im Zimmerinnern weiter hinaufsteigen muß. 2 Lage und Eingliederung des Zimmers 2.1.1 Das Frühstückszimmer grenzt grundrißhch an den Hauseingang. 2.1.2 Das Zimmer nimmt eine Eckposition im Haus ein; dies kommt vor allem im ursprünglichen Lageplan zur Geltung. (Ein Fenster gehört der Hauptfassade an, das andere ist dem früheren Zugangsweg zugewandt.) 2.2 Das Zimmer ist aus der Gesamtbaumasse des Hauses teilweise herausgelöst. 2.3 Die „Exterritorialität" des Zimmers manifestiert sich auch darin, daß es der einzige Raum der „Zwischenstock"-Ebene ist. 3 Funktion des Zimmers 3.1 Ein Zimmer, das ausdrücklich dem Frühstücken gewidmet ist, liegt zwischen Nacht und Tag. 3.2 Ein Frühstückszimmer ist auch ein Ort des Ubergangs zwischen Privatheit und Kommunikation. 3.3 Somit liegt ein Frühstückszimmer auch zwischen „innen" und „außen". Nun aber stehen wir vor dem Mauervorsprung, und zwar mit der These, daß er ein ganzes Universum enthält. Es mag sein, daß der MVS für den jeweiligen Rezipienten eine Quelle persönlicher Assoziationen ist oder sogar ein Universum im Sinne Croces darstellt, doch das soll hier nicht die Hauptsache sein. Es gibt einen Aspekt der Universalität, den wir bisher nicht erwähnt haben. Das Kunstwerk als autonomes Zeichen bezieht sich nicht nur auf die Gesamtheit der Realität im allgemeinen, sondern auch auf den spezifischen Bereich der Kunst. Abgesehen davon, daß sich Kunstwerke manchmal ausdrücklich aufeinander beziehen, werden sie aufeinander bezogen und erlangen somit ganz selbstverständlich, indem ihre Zahl ständig wächst, immer mehr den Charakter von Kommentaren zur Kunst. 84
Analog dazu kann auch jede Architektur als Kommentar zur Architektur betrachtet werden. In diesem Sinne wollen wir den MVS sachbezogen sehen. Er scheint Stellungnahmen zu fundamentalen Fragen der Architektur zu enthalten, eine Art kleines Architekturuniversum zu sein. Wird er in seine drei Bestandteile zerlegt, so spricht er mit jedem dieser Elemente einen wesentlichen Problemkreis der Architektur an.
85
III
Gesicht und Profil Über die Vorderfläche des Mauervorsprungs
Nun stehen wir also vor dem MVS und schauen ihn an. Als erstes fällt auf: Er schaut uns entgegen. Wie aber schauen Wände? Glatte, homogene Wände schauen im Prinzip genauso wie Grottenolme, deren Augen während der stammesgeschichtlichen Entwicklung völlig aufgelöst wurden, wobei sich das Sehvermögen gleichmäßig über die ganze Körperfläche verteilte. (Diese merkwürdigen Tiere leben in der Adelsberger Grotte in Postojna, Jugoslawien.) Ob man es nun „schauen" nennt oder anderswie - gemeint ist, daß eine Wand den vor ihr befindlichen Raum kontrolliert, auf ihn Anspruch erhebt, auf diesen Raum „reflektiert". Doch nicht alle Wände sind in diesem Sinne schauende Wände. Es gibt auch Wände, die sich zu dem angrenzenden Raum indifferent verhalten, indem sie keine Raumansprüche stellen. Die Unterscheidung ist nicht immer problemlos. Innenraumwände lassen das „Schauen" oder „Nichtschauen" besonders schwer erkennen. Ihre diesbezüglichen Charakteristika sind in der Regel nicht von der Wandoberfläche ablesbar, sondern ergeben sich aus der Syntax oder werden erst durch die Einrichtung festgelegt; nicht selten bleiben sie daher unbestimmt. Bevor wir uns aber mit den schwierigen, glatten Innenraumwänden befassen, um schließlich zur Vorderfläche des MVS zu gelangen, verfolgen wir die Problematik in Bereichen, wo sie sich klarer und anschaulicher darstellt. Ein Haus beansprucht nicht nur den Raum, den es mit seinem Volumen einnimmt, sondern auch den Raum, in den es schaut - auf den jene seiner Außenwände gerichtet sind, die sich als Fassaden verstehen. Es geht in diesem Zusammenhang nicht um die Notwendigkeit der Belichtung (und schon gar nicht um irgendeine Symbolik der Fenster), sondern einfach um das auf Raum bezogene Projektionsprivileg der Fassaden. Dennoch sei hier die Bestimmung über den Lichteinfall erwähnt - als die Konkretisierung eines ähnlichen Raumanspruchs. Das Lichteinfall-Prisma ist ein sehr anschauliches Beispiel eines imaginären Besitzes, der - rechtlich gesichert - über die realen Eigentumsgrenzen hinausreicht. Hier beginnt sich die allgemeine Ambivalenz der Raumansprüche abzuzeichnen. (Sie ist geradezu greifbar dort, wo in das Lichteinfall-Prisma eines Hauses ein Teil ei86
nés anderen Hauses - gegebenenfalls erlaubterweise - hineinragt, und sie ist sehr gut vorstellbar dort, wo sich die Lichteinfall-Prismen der beiden Häuser durchdringen: in diesem doppelbesetzten Raum wird die Luft „dichter".) Überall gibt es Bereiche, die mehrfach beansprucht werden, die mehreren Fassaden zugleich zugeordnet werden müssen, denn ganz offensichtlich gibt es insgesamt weniger Raum, als für ungehinderte Projektionen aller Fassaden benötigt würde. Selten kommt ein Haus in die Situation eines einsamen Bauwerks, das seine Fassaden frei in den Raum ausstrahlen kann - nirgendwo eine Mauer, von der sie zurückgeworfen würden, eine Kante, an der sie zerbrechen könnten, eine Fassade, mit der sie um einen Raum wetteifern müßten, - so daß sie sich unbemerkt in kleinteiligem Laub auflösen oder sogar den Horizont erreichen und in Luftvibrationen weich zerrüttet werden. In einer Straße schauen sich die Häuser gegenseitig an. Dies bedeutet zwar Konkurrenz - nicht zuletzt um den gemeinsamen Raum - , aber auch Kommunikation - gerade durch den gemeinsamen Raum. Wenn keine groben Mißverhältnisse aufkommen, bleibt diese Vis-à-vis-Situation relativ harmlos. Seitlich haben die Häuser meist überhaupt keine Probleme miteinander, denn die fensterlosen Seitenwände stellen keine Raumansprüche und zeigen keine Abneigung gegen den Kontakt mit Nachbarwänden gleicher Art. Manche Möbelstücke, Schränke etwa, sind solchen Häusern sehr ähnlich. Auch sie haben zwei Arten von Außenwänden - Fassaden und Seitenwände. Die Fassaden von Schränken brauchen zwar kein Licht, beanspruchen aber ebenso wie die Fassaden von Häusern den Raum, in den sie schauen. Ein Schrank „besetzt" somit nicht nur den Raum des eigenen Volumens und jenen Raum, der notwendig ist, um an dem Schrank vorbeizugehen, seine Türen zu öffnen und ihn zu benützen, sondern auch den ganzen Raum seiner Fassadenprojektion - ähnlich wie ein Mensch jenen ganzen Raum „okkupiert", den er sich mit dem Kegel seines Blickes aus dem öffentlichen Raum aneignet. Die Seitenwände von Schränken sind, wie die von Häusern, in der Regel anbaubar. (Zwar stellen zum Beispiel Schränke mit Gesims oder mit abgerundeten Kanten auch seitlich gewisse Raumansprüche, im Prinzip sind die Seitenwände jedoch „blind".) Ein Zimmer ist aber selten so geordnet wie eine Straße, in der sich zwei Zeilen von Anbauelementen gegenüberstehen. Sehr oft entsteht dann folgende Situation (Abb. 26): In den „Ausblick" eines Schrankes wird ein anderer Schrank mit seiner Seitenwand gestellt. Das beschneidet den Raumanspruch des ersten Schrankes, und zwar in einer sehr unangenehmen Weise - es macht jede Kommunika87
Abb. 26 Die alltägliche Kollision von Ausrichtungen
tion der beiden Fassaden unmöglich. (In die gleiche Situation kommt man selbst z.B. in der Straßenbahn - dort, wo den in der Fahrtrichtung angebrachten Sitzen quergestellte Sitze vorgelagert sind: Frontal starrt man jemandes Profil an.) Dieses Kollisions-Schema ist gleichermaßen banal wie fatal. Es wiederholt sich in unzähligen Variationen, denen man fast in jedem Zimmer begegnet. Es tritt so häufig in Erscheinung, daß man darin etwas nahezu Naturgegebenes erblicken kann. Vielleicht deshalb wirkt es in der Wirklichkeit - wenn überhaupt wahrgenommen - weniger störend als in einem Entwurf. Beim Konzipieren kann es nicht übersehen werden, da muß es bewußt verschleiert, überspielt, verschmerzt werden. Es ist der Prototyp einer zutiefst unarchitektonischen Begebenheit, deren Ursachen aber - paradoxerweise - gerade im fundamentalen Bereich der Architektur zu suchen sind. Solange ein Raum tunnelartig bleibt und wie eine Straße nur zwei Zeilen von Anbauelementen aufnehmen kann, potentiell also einem unendlichen Schrankraum gleicht, geht alles gut. Der Querabschluß ist das Grundproblem. Er müßte flach, abstrakt, unbebaut, anders als die Zeilenwände sein. 88
(Der Abschluß könnte auch in jeder erdenklichen Form und jedem Sinn „hinausgeschoben" werden, doch das ginge nur bei einem solitären Raum oder auf Kosten des anschließenden Raumes.) Nichts dürfte nach innen vorstoßen, kein raumgreifendes Objekt dürfte vor die abstrakte gerade Abschlußfläche gestellt werden, denn es würde mit seinen Seitenwänden in das Blickfeld der Zeilen geraten. Diese Kollision wäre dann nur zu beseitigen, indem die Zeilen gekürzt würden, damit sie die Fassadenebene des Querobjekts nicht überschreiten. Das Problem scheint sich zu einem grundsätzlichen Dilemma zu verdichten: Architektur kann nie so simpel und streng sein, wie sie sein müßte, um architektonisch richtig zu sein. Einerseits kann man nicht ausschließlich tunnelartige „Schrankräume" bauen. Man könnte sie ohnehin nicht zu grundrißlichen Strukturen zusammenfügen. Andererseits kommt es aber sofort zu Verwicklungen und Unstimmigkeiten (Schränke beleidigen einander u.ä.), wenn der Tunnel der absoluten Simplizität verlassen wird. Ist also Architektur nicht machbar? Im Sinne des reinen, idealen Prinzips ist sie es tatsächlich nicht. Es gibt aber ein Mittel, das dieses Faktum abschwächt und einen hypothetischen Ausweg aus dem Dilemma ermöglicht. Darauf kommen wir noch zu sprechen. Inzwischen sind wir bei den "Wänden eines Zimmers angelangt, indem wir begonnen haben, abstrakte Abschlußwände von verbauten oder verbaubaren Wänden zu unterscheiden. Es wird dabei angestrebt, das Kriterium des Raumanspruchs von der potentiellen Einrichtung auf die Wände zu übertragen, dies im doppelten Sinn: Erstens hätte dann ein Zimmer - ebenso wie ein Zeilenhaus oder ein Schrank - Wände, die man als Fassaden, schauende Wände oder Gesichter bezeichnen könnte, und Wände, die einer blinden Seitenwand, einem Profil gleichkämen. Zweitens wären diese Entsprechungen durch räumliche Parallelitäten fixiert. Man könnte daher (gedachte) Einrichtungsgegenstände als Orientierungsmodelle verwenden. Dies sei an einem Beispiel demonstriert. Stellen wir uns eine gewöhnliche Kommode vor, die an eine Zimmerwand gestellt ist. Der verstellte Wandbereich reproduziert sich durch seine Projektion in der Front der Kommode, von hier überträgt sich der Fassadencharakter zurück auf die ganze Zimmerwand. Sie ist somit als eine schauende Wand zu qualifizieren. Ahnlich reproduziert sich der von der Kommode besetzte Fußbodenbereich in ihrer oberen Abdeckplatte, die einen fassadencharakteristischen Raumanspruch nach oben ausstrahlt und damit auf den Raumanspruch des gesam89
ten Fußbodens aufmerksam macht. (Freilich erhebt der Fußboden Anspruch auf den ganzen Raum, bis zum Plafond. Er will „seinen" Grundriß hinauf, entlang der Wände „durchdrücken"; alles was den Wänden angehört, stört ihn. Sehr konkret manifestiert sich dies bei einer Fußbodenheizung; sie strahlt den Raumanspruch effektiv aus.) Die Kommode steht nun aber nicht nur an einer Wand, sondern in einer Raumecke. Mit einer ihrer Seitenwände verdeckt sie einen Teil der zweiten Zimmerwand und prägt ihr den eigenen Charakter eines Profils unmittelbar ein. Reproduzieren könnte sich der verdeckte Wandbereich in der anderen Seitenwand der Kommode, hier aber wieder nur als eine blinde, profilähnliche Fläche. Diese Kommodenwand ist theoretisch anbaubar; somit wird auch die parallele Zimmerwand - auf welche Entfernung auch immer - zur Seitenwand erklärt. Nun ist aber eine solche Hierarchie der Wände weder a priori gegeben noch unabänderlich. Mit dem Möbelstück kann sie jederzeit verschoben werden. Meist sind die Wände eines Zimmers relativ gleichwertig und können daher ebenso die eine wie die andere Rolle übernehmen. Natürlich aspirieren sie alle auf die anspruchsvollere. In der Raumecke eines leeren Zimmers treffen zwei Wände aufeinander, die harmlos flach aussehen und scheinbar im besten Einvernehmen an der Ausbildung der Ecke zusammenwirken. Der Schein trügt. Die Raumecke ist ein Ort explosiver Spannung und ewigen Wettstreits, denn beide Wände erheben Anspruch auf denselben Raum zugleich. U m dies zu illustrieren, wechseln wir den Maßstab und betrachten eine Flachbausiedlung, wo jedem Haus ein Garten zugeordnet werden soll. In einer Zeile können alle Häuser gleiche und regelmäßige Gartenflächen erhalten; doch soll aus solchen Häusern ein Winkel gebildet werden, dann entfesselt sich auf der Seite der Gärten ein erbitterter Kampf um die Raumecke. Noch dramatischer wird die Situation beim versuchten Abwinkein eines mehrgeschossigen Wohnhauses, an dem die Raumansprüche stufenweise, nämlich in Gestalt von Terrassen oder Schrägverglasungen, angeordnet sind. Häuser mit dem bekannten abgestuft geneigten Profil sind wahrlich querschnittgelähmt - ein grundrißlicher Knick ist für sie unvorstellbar. Sie liegen wie steife Stangen hilflos im Stadtgeflecht. Ihr Ende ist meist ein scharfer Schnitt - das blinde Profil. Aber auch ein Haus mit einem senkrecht geraden Querschnitt läßt sich nur mühevoll um die Ecke biegen, wenn z.B. eine Blockrandbebauung gebildet werden soll. Abgesehen von den Schwierigkeiten der Grundrißgeometrie, werden Ansprüche auf einen Anteil der Hoffassade in der Innenecke unter90
drückt. (Ein Eckgrundriß kann nie durch eine Modifizierung eines geraden Grundrisses entstehen, und einen geometrisch perfekten Zweispänner-Eckgrundriß gibt es wohl nicht.) Hier haben wir die exakte Analogie zum architektonisch einwandfreien Tunnelraum: das endlose, stangenartige Wurstobjekt. Es ist die einzige Hausform, die keine Zuordnungsprobleme verursacht, keine Ansprüche kürzt, keine formalen Kollisionen herbeiführt. Es ist das einzige konsequente architektonische Objekt. Das damit zusammenhängende Dilemma ist noch auswegloser als jenes des Tunnelraumes und der Architektur. Städtebau kann schon gar nicht so simpel und streng sein, wie er sein müßte, um formal richtig und konfliktfrei zu sein. Einerseits kann man nicht stangenartige Hauszeilen von endloser Länge in endloser Parallel-Repetition als Städtebau betrachten. Sie müßten alle tatsächlich in gleicher Richtung verlaufen, denn in einem linearen System wird jede quergestellte Zeile zu einem unlösbaren formalen Problem, indem ihre Fassade von den Endseiten der anderen Zeilen stellenweise benachteiligt wird. Andererseits sind Häuserblocks zu einer Strukturbildung zwar geeignet, doch aber mit den logisch-geometrischen Stauchproblemen der Ecke behaftet. Außerdem kommt aus einem anderen Argumentationsbereich ein Einwand, dem das System des allseits geschlossenen Häuserblocks mit Hof nicht standhalten kann: Die Einseitigkeit der Himmelsrichtungsgunst stellt die Konzentrizität des Blocks - seine Richtungsgleichgültigkeit - absolut in Frage. Immer zeigt zumindest eine Seite des Blocks die Tendenz, aus dem Block herauszukippen. Ist also Städtebau nicht machbar? Im Sinne des reinen, idealen Prinzips ist er es noch weniger als Architektur, denn jenes Mittel, von dessen Existenz wir bereits gesprochen haben, wirkt da nur bedingt. Doch davon später. Wir kehren nun in das Zimmer zurück und schauen wieder in die Ecke. Daß ein Wurstobjekt nicht ohne katastrophale Folgen geknickt werden kann, ist leicht vorstellbar. U m aber einzusehen, daß eine glatte, senkrechte Wand nicht ohne weiteres geknickt werden kann, muß man schon einigermaßen durch versuchtes, erfolgloses Knicken sensibilisiert sein. Es geht darum, vor der Wand den Raum zu sehen, den sie an sich bindet und der mitgeknickt werden müßte: Zunächst ein leiser Knall, und dann schieben sich zwei polarisierte, an den Wandteilen haftende Luftvolumina ineinander; jetzt hat der Eckraum die doppelte Anzahl von atü, dafür aber eine Kreuzbewehrung aus zwei Systemen von Koordinaten. In einem solchen Raum sitzen in jedem 91
Punkt zwei Punkte; sie sind nicht wirklich identisch, denn jeder von ihnen schaut in eine andere Richtung - die Bhckrichtung „seiner" Wand. Sie bekämpfen sich genauso heftig, wie im Hintergrund die Wände ihren Konflikt austragen. Ist der architektonische Raum dreidimensional? Drei Maße sind notwendig, um die Lage eines Punktes im Raum anzugeben. Die vierte Dimension fixiert die Ausrichtung des drehbaren Punktes in der horizontalen Ebene, die fünfte Dimension definiert den Neigungswinkel seiner Blickrichtung gegenüber der Horizontale. Erst dann ist der „architektonische" Punkt in seiner Position und seinem Bezug zum Raum eindeutig bestimmt. Eines der größten Abenteuer der Architektur: in die Innenecken zu schauen und das, was dort vor sich geht, zu beobachten - die Rivalität der Wände, ihren Kampf um den Raum und seine Ausrichtung. In jede Ecke ist die ganze Tragödie des Universums, das monströse Absurdum seiner (oder bloß unserer.^) Geometrie hineingepfercht, aber auch eine ganz spezifische Alltagsgeschichte hineingeschrieben. Ein Bücherregal wird an eine Wand befestigt, und schon ist die andere Wand zur Nebenwand degradiert. Ein Sessel wird an eine Wand gestellt, und sie ist jetzt die Front. In einem Eck im Badezimmer kreuzt sich die Etagere mit einem Hängekästchen, und das Ganze wird gespiegelt - wie geht es aus.' Besonders reizvoll sind aber die leeren Ecken, wo zwei auf Unschuld geschminkte Wände nur mit ihren latenten Graviditäten gegeneinander antreten. Jede der Wände trägt vor sich unauffällig einen potentiellen Schrank, mit dessen blinder Seitenwand sie ununterbrochen versucht, die andere Zimmerwand zu stigmatisieren. Ist der architektonische Raum ambivalent.' Ein Zimmer hat in der Regel vier Innenecken. Was immer sich in einer Ecke ereignet, welche Hierarchie der Wände hier etabliert wird, bezieht sich auf die ganzen Längen der Wände, wird somit in beiden Richtungen in die jeweils nächste Ecke übertragen und dort mit dem Stand der Dinge konfrontiert. Widerspricht es den dort festgelegten Rollen der Wände, dann entsteht eine Spannung, die entweder als eine Art Torsion innerhalb der Wand zwischen den zwei Ecken oder als eine wahrnehmungsmäßige Unbestimmbarkeit des Wandcharakters empfunden werden kann. In einem Zimmer kämpfen also nicht nur die Wände um die Vorherrschaft in den Ecken, sondern auch die Ecken gegeneinander um die Gefolgschaft der Wände. Diese Konkurrenzverhältnisse können in dramatischen Konfliktsituationen Ausdruck finden, können aber auch verborgen bleiben; sie sind jedenfalls existent. 92
Abb. 27 Ambivalente Räume (27/43)
Die „Mehrdeutigkeit" des Raumes, von der Venturi beispielsweise in bezug auf die Doppelaxialität der St.-George-Kirche in Bloomsbury spricht (27/42-43), ist - latent - in jedem einfachen Raum mehrfach vorhanden. Sie steckt in jeder Ecke und wartet dort auf ihre Entdeckung, Klärung oder Verstärkung. Wenn sie latent bleibt, ist sie nicht weniger mehrdeutig. Eine offensichtliche Zweideutigkeit ist dagegen nur eine halbe Zweideutigkeit. (Abb. 27) Es fällt uns jetzt einigermaßen schwer, über die Abschaffung der so herrlichen Ambivalenz der Ecke zu sprechen. Aber wir berühren damit jenes Mittel, das eine relative Konfliktlosigkeit der Architektur (und vielleicht auch 93
des Städtebaus) herbeiführen kann, und wir nähern uns damit auch wieder unserem eigentlichen Gegenstand. Wenn zwei Wände, die eine Innenecke bilden, gleichwertige, ihrem Charakter nach fassadenähnliche Frontalwände bleiben sollen, wenn also keine dieser Wände zu einer untergeordneten Seitenwand ohne Raumanspruch degradiert werden soll, dann kann die Ambivalenz der Ecke nur beseitigt werden, indem die Ecke selbst beseitigt wird. Die Wegnahme einer Innenecke kann aber nur durch das Hineinfügen eines Körpers erfolgen. (Daß die Kontinuität der Raumbegrenzung nicht verloren gehen soll, wird vorausgesetzt.) Ein Eckpfeiler - selbst ein fragwürdiges Wesen - ist das AntiambivalenzMittel. Er macht aus einer Innenecke eine Außenecke und zwei Innenecken, die aber in ihrer übersichtlichen Eindeutigkeit mit der ursprünglichen Innenecke geradezu kontrastieren: In den durch den Eckpfeiler gebildeten Innenecken sind die Rollen der Wandflächen von vornherein klar verteilt. Die bestehenden Wände behalten ihren Frontalcharakter, den Flächen des implantierten Eckpfeilers kommt der Profilcharakter zu. Die auf diese Weise gebildeten Innenecken sind nichts anderes als Bestandteile von Nischen. Das Einsetzen von Eckpfeilern in die Innenecken eines Raumes verwandelt seine Wände in Wandnischen. Sie können z.B. Schränke aufnehmen und sind im Prinzip, was die Hierarchie der Wandflächen anbelangt, selbst (offene) Schränke - mit blinden Seitenwänden und einer schauenden Rückwand. Die Wandnischen und die Eckpfeiler regeln das Aufstellen von Einrichtungsgegenständen, wobei sie Kollisionen weitgehend verhindern. Sie disziplinieren also die Einrichtung, die Wände, die Ecken, den Raum, sie tilgen Ambivalenz aus. Die wilden Raumansprüche der Wände werden gezähmt - in den Käfigen der Nischen. Nur ein Blick in den Bereich des größeren Maßstabs: Durch die Wegnahme der Außenecken eines Häuserblocks entsteht ein Gebilde, das dem Zimmer mit Eckpfeilern und Wandnischen sehr ähnlich ist. Der Unterschied besteht darin, daß anstelle der Eckpfeiler platzartige, die Straßenkreuzungen erweiternde Freiräume in die Struktur eingesetzt werden. Nun aber zum Frühstückszimmer des Wittgenstein-Hauses. Die Frage lautet, ob der MVS als an der Bildung zweier Nischen beteiligter Eckpfeiler oder bloß als Hervorhebung innerhalb der Fensterwand anzusehen ist. Im ersten Fall hätte seine Vorderfläche den Charakter einer blinden, profilähnlichen Seitenwand, im zweiten Fall wäre sie eine gesichtähnliche, einer Fassade vergleichbare Frontalwand, die in Richtung Zimmereingangstür „schaut". 94
Es könnte sein, daß diese Tür die für die gestellte Frage zuständige Entscheidungsinstanz ist. Um ihre Bedeutsamkeit würdigen zu können, wollen wir sie zunächst von ihren Türblättern befreien. Ein Türblatt ist wohl das unarchitektonischste Architekturelement. Nicht nur, daß sich kaum ein Türblatt an die ganz natürliche Vorstellung hält, es sollte eigentlich ein Teil der Wand sein, eben der als Türöffnung herausgeschnittene Teil, genauso dick wie die Wand selbst und womöglich aus demselben Material; zu allem Unglück wird das Türblatt dann auch noch seitlich befestigt, so daß es zu einer flatternden Klappe wird - kein Vergleich zum Beispiel mit einem Schubladen-Vorderteil, das die Wandstärke der ganzen Front behält und beim Offnen die geordneten Bahnen der Orthogonalität nicht verläßt. Meist steht ein Türblatt halb offen oder verdeckt irgendein Möbelstück zur Hälfte, schlägt einem Schrank ins Gesicht, und immer erlaubt es nur ein unexaktes, suspekt einschleichendes Betreten des Zimmers. Zweiflügelige Türen, die eine gewisse Geradlinigkeit vorgeben und die grundsätzlichen Formalmängel eines Türblattes zu kompensieren suchen, funktionieren nie wirklich. Entweder ist ein Türblatt fixiert - die Verlegenheit selbst - oder es ist ein lächerlich wedelnder Schwanz des ernsthaften Ungeheuers der Architektur. Im Gegensatz zum Türblatt ist die in eine Wand eingeschnittene Türöffnung ein eminent architektonisches Element - kraftvoll und doch ohne Physis. Daß eine Türöffnung Räume verbindet, ist selbstverständlich, aber sie verbindet Räume auch syntaktisch, fügt sie oft zu wuchernden Strukturen zusammen, und zwar ohne jede Prise Material, nur durch Beziehungen, die sie herstellt. Außerdem wirkt eine Türöfnnung vermittelnd: Sie überträgt Ordnungen von Raum zu Raum; sie nimmt die Konditionen eines Raumes auf und transformiert sie in die Konditionen eines anderen Raumes. Es ist eine ständig wiederkehrende, hinlänglich bekannte Situation: Eine Türöffnung verwandelt die Knappheit eines Erschließungsraumes in eine Bedrängnis im zu erschließenden Raum, indem sie hier die äußerste Eckposition einnimmt und somit jede Einrichtung an der anliegenden Wand verhindert. Sie nimmt die ganze Wand in Beschlag, entkleidet sie ihres Raumanspruchs, glättet sie zu einer Gleitfläche. O b es wohl denkbar ist, ein Zimmer noch „seitlicher" zu betreten als an seiner Seitenwand gleitend? Man müßte in diese Wand hineinkommen und in der Wand gehen können. Dies ist aber nur möglich, wenn die Wand durch eine Nische ersetzt ist: Man betritt das Zimmer durch eine Tür in der Schmalseite einer Wandnische und geht entlang der Rückwand dieser Nische weiter; man befindet sich also 95
im Bereich der Wand, d.h. außerhalb des eigentlichen Raumes, und doch bereits im Zimmer. Was man vor sich sieht, ist die andere Schmalseite der Wandnische. Ist es gerechtfertigt, diese Beschreibung einer Eingangssituation auf das Frühstückszimmer des Wittgenstein-Hauses zu beziehen? Entscheidend ist, inwieweit sich die Wandnische manifestiert, durch die das Zimmer betreten sein soll. Theoretisch kann die Existenz einer solchen Nische im konkreten Fall aus syntaktischen Zusammenhängen abgeleitet werden. (Dies haben wir bereits im ersten Kapitel zu zeigen versucht.) Für die unmittelbare Wahrnehmung wäre ein physischer Hinweis - z.B. die Absenkung des Plafonds im Nischenbereich - von ungleich größerer Bedeutung, doch einen solchen Hinweis gibt es nicht. O b der MVS allein genügt, um den Eindruck der Nische hervorzurufen - ob er als ein nischenbildender Eckpfeiler empfunden wird - , bleibt daher fraglich. Offensichtlich gewährleistet die räumlich-materielle Ausformung der Situation keine interpretatorische Eindeutigkeit. Man kann in der Vorderfläche des MVS die Seitenwand einer Nische sehen, oder aber einen vortretenden, integrierten Teil der Fensterwand. Von der Zimmereingangstür aus gesehen, erscheint der MVS als ein variables Vexierbild: Vorderwand - Seitenwand - en face - Profil - jetzt schaut er - jetzt schaut er nicht. . . Läßt man das Bild einige Male umkippen, dann kann zwischen seinen zwei Versionen eine Balance hergestellt werden, so daß beide gleichzeitig wahrnehmbar sind. Der MVS erinnert dann an das picassoeske Gesicht mit der Kontur eines Profils - die Nase seitlich und die beiden Augen nebeneinander - oder an die Visage einer Scholle. (Eigentlich ist Scholle ein kubistisches Tier.) Tatsächlich scheint hier plötzlich etwas verwirklicht zu sein - unerwartet, unbeabsichtigt, in ungewohnter Ausprägung - , was im Grunde immer undurchführbar war: Kubismus in der Architektur. Auf dieser abstrakten Betrachtungsebene, die sich aber auf ganz einfache und konkrete Gegebenheiten der Architektur stützt, entfällt nämlich das theoretische Problem, mit dem etwa Pavel Janák rang, als er versuchte, eine dritte Dimension in ein Medium einzuführen, in deni es eine dritte Dimension bereits gibt. Besteht aber Kubismus darin, in einer Fläche mehrere verschiedene Ansichten - unterschiedliche räumliche Aspekte - unterzubringen, dann kann die Vorderfläche des MVS als suprakubistisch bezeichnet werden, denn zwei gegensätzliche Perspektiven fallen in ihr zusammen: Sie ist en face und zugleich im Profil. 96
IV
Raum und Objekt ü b e r die Kante des Mauervorsprungs
Um in unserer Betrachtung des MVS weiterzukommen, lösen wir nun das „kubistische" Gleichzeitigkeitsbild seiner Vorderfläche wieder auf, gehen zurück zur Zimmereingangstür und versuchen in einem neuen Anlauf die Situation so wahrzunehmen, wie es der Bewegung entspricht und förderlich ist. Wir treten ein. Die Wand links der Tür ist zunächst eine Gleitwand, von der Tür beherrscht und „geglättet". Um so mehr, als diese Wand in die Position einer Seitenwand gedrängt wird, kann sich die Vorderfläche des MVS als Frontalwand hervortun. In der Position einer Prospektwand oder Zielwand wirkt sie anziehend. Mit diesen Merkmalen versehen, beschleunigen die beiden Wände die Bewegung, die sie auch lenken. Knapp vor dem Erreichen der MVS-Vorderfläche sollte man den Eindruck bekommen, eigentlich befinde man sich in einer Nische. (Vielleicht initiiert gerade die kleine, tatsächHch vorhandene Nische diese Änderung der Situationsbeurteilung.) Somit wird die Frontalwand in eine Profilwand verwandelt. Da das Profil naturgemäß aus der Nische weist, wird man nach rechts geleitet und gelangt schließlich zur Kante des MVS. An der Kante ändern sich die Wahrnehmungsverhältnisse grundsätzlich: Hier ist man im Begriff, den bisher kontinuierlichen taktilen Kontakt mit der Wandfläche zu verlieren und in den freien Zimmerraum katapultiert zu werden. Gleichzeitig aber kommt es an dieser Stelle auch zu einer Erweiterung der Wahrnehmungskomplexität: Hat man auf der bereits zurückgelegten Strecke lediglich eine Wandfläche berühren und an ihr gleiten können, so ist man hier mit einem dreidimensionalen, gegenstandanigen, wahrlich greifbaren Gebilde konfrontiert, an dem man sich festhalten kann. Soviel über haptische Erlebnisse an der MVS-Kante. Nun versuchen wir, das Besondere dieser Stelle optisch zu erfassen. Als von Raumansprüchen der Wände die Rede war, stellten wir fest, daß frontal aktive, fassadenähnliche Wände den vor ihnen befindlichen Raum an sich binden, ihm eine Ausrichtung geben. Wenn wir nun auf dem Weg von der Zimmereingangstür zur Kante noch einmal - unter diesem Aspekt - beobachten, wie die Rolle der frontalen Wand zunächst der MSV-Vorderfläche und dann der anderen an der Bildung der Innenecke beteiligten Wand zu97
kommt, so sehen wir, wie der Raum der Innenecke seine Ausrichtung verändert, wie er durchsetzt ist mit Vektoren, die zunächst gegen uns und dann nach rechts gerichtet sind. Dieser innere Schwenk des Raumes ist reversibel und kann behebig oft wiederholt werden. Es kommt letztlich nicht auf die Ausrichtung des Raumes an, sondern auf die Tatsache, daß man einen Raum als solchen - in seiner Abstraktheit - wahrnehmen kann. Verlassen wir nun für eine Weile das konkrete Zimmer und stellen uns vor, daß wir uns in einem einfachen Architekturmodell befinden - zum Beispiel in einem Würfel, der ein Haus oder ein Zimmer darstellt. Wir werden das Innere um so mehr bloß als Raumvolumen empfinden und die Wände lediglich als flächige Begrenzung dieses Volumens wahrnehmen, je abstrakter und immaterieller die Wandflächen wirken. Dieser Eindruck wird vollkommen sein, wenn es nirgendwo eine Öffnung oder ein anderes Detail gibt, so daß sich uns keine Information über die Wandstärke, das Material, die Konstruktion anbietet. Vielleicht kommen wir dann gar nicht auf die Idee, uns um diese Dinge zu kümmern, lassen die Wände schließlich völlig unbeachtet und werden - in letzter Konsequenz - den Raum als einen „nackten" Luftkubus wahrnehmen, als ein imaginäres Negativ-Objekt. Eine derart gesteigert abstrakte Wahrnehmung von Architektur als Raum scheint nur unter willentlicher Anstrengung möglich zu sein, und doch ist sie nicht weit davon entfernt, wie Architektur im Alltag unwillkürlich wahrgenommen wird. Soll man etwa den Weg durch ein zufällig besuchtes Gebäude später nachzeichnen, so kann man ihn eher aus Luftquadern zusammensetzen als grundrißlich oder in Wandabwicklungen darstellen. Wohl bleiben aber auch einige objekthafte Details in Erinnerung. Wenn wir nun unser Raummodell von außen betrachten, nehmen wir den Würfel tatsächlich als Objekt wahr - als ein solitäres Bauwerk in einem unbegrenzten Außenraum, nicht als eine Begrenzung des Außenraumes. Es wird uns nur sehr schwer gelingen, die Wahrnehmung so zu verändern, daß wir den Außenraum durch den Würfel definiert sehen, als würden die Seiten des Würfels den Außenraum umschließen. Gewiß bereitet diese Umkehrung keine theoretischen Schwierigkeiten, auch mag sie in der Phantasie durchführbar sein; in der Wirklichkeit aber wird eine solche Wahrnehmungskonstruktion wahrscheinlich scheitern. Jetzt schauen wir eine Seite des Würfels an und stellen gleichzeitig einen anderen - ähnlichen - Würfel dazu, so daß ein Zwischenraum gebildet wird. Unsere Wahrnehmung verändert sich. Obwohl wir immer noch dieselbe Stelle derselben Wand anschauen, betrachten wir sie in der neuen Situation nicht mehr objektbezogen, sondern als raumdefinierend. 98
Man kann also Architektur auf zwei grundsätzlich verschiedene Arten wahrnehmen - entweder als Raum oder als Objekt. Auch wenn sich diese zwei Wahrnehmungsarten oft vermischen, kann man sie bewußt auseinanderhalten und die eine oder die andere ebenso bewußt anwenden. Doch welche von ihnen in einer Situation von selbst zum Tragen kommt oder dominierend wird, hängt von der jeweiligen Situation ab. Mit der Wahrnehmungsart korreliert dann einiges in unserem Verhalten gegenüber dem Betrachtungsgegenstand und schließlich auch die Art der Ansprüche, die wir an Architektur stellen. Ein alleinstehendes Bauwerk werden wir vor allem deshalb als Objekt wahrnehmen, weil wir es in seiner Kompaktheit als abgeschlossenes Ganzes erfassen können. In der Folge werden wir es wohl mit Konsequenz objektorientiert betrachten. - Wir lassen unsere Sinne entlang seiner Oberfläche gleiten und nach jeder Gelegenheit suchen, in die Tiefe vorzustoßen, denn an einem Objekt interessiert uns nicht nur die äußere Form, sondern auch die innere Struktur, das Material, die Tektonik. Ein Objekt ist sogleich ein Objekt unseres Interesses; über ein Objekt wollen wir möglichst alles erfahren. Vielleicht verspüren wir sogar eine Enttäuschung, daß wir die Materie des Objekts nie von ihrem Innern aus sehen können, daß wir, wie tief auch immer wir in die mikroskopischen Bereiche der Materie vordringen, immer nur mit einer Art Außenfläche in Kontakt kommen. Indem wir uns das bewußt machen, erscheint uns die Beschaffenheit und die Gestaltung aller vorhandenen Flächen als wesentlich, jede Gliederung als eine willkommene Informationsquelle. Dieses Gefühl könnte auch als Sehnsucht nach Plastizität beschrieben werden. Zu einem Objekt werden wir uns wahrscheinlich pedantisch verhalten; sowohl bei der Betrachtung als auch bei der Erzeugung eines Objekts werden wir auf äußerste Exaktheit Wert legen. Auch das deutet darauf hin, daß während einer objektbezogenen Wahrnehmung unsere Bereitschaft zum Abstrahieren reduziert ist. Stellen wir uns vor, daß wir um das bereits erwähnte Würfelmodell herumgehen. - Wir werden bestimmt nach geometrischen Ungenauigkeiten, handwerklichen Unzulänglichkeiten, schlecht versteckten Hilfskonstruktionen und bereits erfolgten Beschädigungen Ausschau halten. Im allgemeinen sieht man Objekte konkretistisch, nimmt sie viel zu ernst und wird dabei kleinlich. Betrachten wir aber Architektur als Begrenzung des Raumes, als eine Fläche, die zwar einen materiellen Hintergrund hat, selbst jedoch - als äußerste Schicht der Materie - keine Materialität mehr besitzt und nur wie eine Oberflächenspannung den Baustoff von seinem Einbruch in den Raum voll-
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Abb. 28 Architektur als Objekt, Architektur als flächige Raumbegrenzung (beides in Pátmos, Griechenland) 100
flächig zurückhält, dann interessiert uns nicht das Baugerüst jenseits dieser Grenzfläche, sondern das Volumen und die Ausformung des Raumes, eventuell seine möglichen Funktionen, wogegen das Flächendekor der Wände völlig belanglos bleibt. Die Häuser einer Straße werden wir in erster Näherung als Raumbegrenzung wahrnehmen, als ein Kontinuum, das der Länge nach selbst gleichsam unbegrenzt ist, zumal seine seitlichen Konturen entweder außerhalb der Perspektive oder nahe des Fluchtpunkts liegen. Doch wenn wir die Fassaden einzeln betrachten, dann werden wir dies gewissermaßen unter dem Objekt-Aspekt tun. Wahrscheinlich werden wir aber nur der Erdgeschoßzone volle Aufmerksamkeit widmen und die anderen Bereiche der Fassaden nur sehr ungefähr wahrnehmen. Mit Recht gibt beispielsweise Ricardo Bofill solchen Fassaden auch nur eine sehr ungefähre architektonische Gliederung, die den Eindruck von Tektonik hervorruft, ohne tektonisch richtig zu sein, und eine nur sehr seichte Reliefierung. (Abb. 29) Der Grad der Plastizität ist wohl das erste, was an einer Fassade wahrgenommen wird. Dann erst werden die hauptsächlichen Merkmale der Tektonik beachtet. Als letztes kommt das konkrete Vokabular zur Geltung. Fassaden, die einen Straßenraum bilden sollen, könnten - einschließlich ihrer Fenster - vollkommen plan sein; das würde großzügig wirken, den Raum klar definieren und - nebenbei - die Häufigkeit von Bauschäden radikal verringern. Eine leichte Korrosion der Oberfläche hat natürlich auch ihre Reize, ist mit einer anderen Art von Großzügigkeit assoziierbar und bewirkt ähnliches wie ein flaches Relief: Der Kontrast zwischen Bauwerk und Raum ist nicht so hart, die flächige Grenze wird selbst dreidimensional und porös, die Fassade geht sanft - allmählich - in die Luft über. Am Rande der Wahrnehmung von Architektur als Raumbegrenzung siedeln sich objekthafte Partikel an, so daß auch die Eindeutigkeit der Betrachtungsweise aufgeweicht wird. Die Schattierungen auf der Skala zwischen der raumbezogenen und der objektorientierten Wahrnehmung entstehen also unter der Einwirkung zweier maßgeblicher Faktoren - der Individualisierung des Gebäudes und der Plastizität seiner Oberfläche. Werden nun diese zwei Faktoren gegenseitig in eine Relation gebracht, so würde man erwarten, daß sie im Verhältnis direkter Proportionalität stehen: Je mehr ein Gebäude aus dem Kontext der kontinuierlichen Bebauung gerät, um so tiefer sein Relief, um so mehr Details - Teilobjekte - an diesem Objekt. (Merkwürdig, daß für die moderne Architektur gerade das Gegenteil 101
Abb. 29 Plastizität bei Ricardo Bofill: Palacio d'Abraxas (34/1051) 102
galt: Weg von der straßenraumbildenden Blockrandbebauung, hin zur separierten Zeile und zum Punkthaus, wobei aber die Häuser immer glatter wurden.) Selbstverständlich könnte man noch weitere, die Plastizität potentiell beeinflussende Faktoren ins Spiel bringen und beispielsweise die Frage, warum die Häuser einer Straße im Prinzip glatter sein sollen als die eines Platzes, mit dem Hinweis auf zwei Unterschiede beantworten: das kinetische Moment der Straße im Gegensatz zum statischen Charakter eines Platzes und die - im Vergleich zur Beengtheit einer Straße - auf einem Platz vorhandene größere Betrachtungsdistanz, die das Wahrnehmen der Häuser als Einzelobjekte forden. All dies sind Überlegungen, die in der ersten, grundlegenden Phase einer Gestaltung relevant sein können. U m jetzt unseren konkreten - bereits vorhandenen - Gegenstand allmählich wieder in den Blickwinkel zu bekommen, wenden wir uns kombinierten und übergangsmäßigen Wahrnehmungen zu. Wie eindeutig auch immer ein Straßenraum als Luftquader betrachtet wird und die Fassaden der Häuser daher nicht objekthaft, sondern als flächige Raumbegrenzung wahrgenommen werden: Eine in diesem Straßenraum befindliche Architektur kleineren Maßstabs - sei es ein Denkmal, sei es ein Kiosk - wird als Objekt wahrgenommen und nicht als eine Ausnehmung im Raum oder ein bloß außenraumbildendes Element abstrahiert. (Zu einer derartigen Abstraktion des Objekts käme es vielleicht dann, wenn der Verkehr im Straßenraum das eigentliche Thema der Betrachtung wäre.) Im Regelfall werden wir also ein solches Objekt nicht nur mit mehr Aufmerksamkeit, sondern grundsätzlich anders als die Raumbegrenzung betrachten. Das Objekt wird kaum an der Raumbildung beteiligt, vielmehr erlangt es die Autonomie eines solitären Gegenstands. Ahnliche Wahrnehmungseffekte können auch am Rand eines Raumes auftreten. Die in den Straßenraum hineinragenden Erker werden uns wahrscheinlich nicht als Teile der Raumbegrenzung, sondern als an den Wänden des Luftraumes angebrachte Objekte erscheinen. Das heißt, daß wir die Raumgrenze großflächig vereinfacht ziehen und dadurch die Erker gleichsam abschneiden, in den Raum stellen, zu exponierten Objekten machen. Eckhäuser brauchen die Baufluchtlinie gar nicht zu überschreiten, um in der Wahrnehmung hervorzutreten. Vom Straßenraum mehrseitig umgeben, präsentieren sich ihre Baumassen in dreidimensionaler Greifbarkeit. Ein Eckhaus ist ein potentielles Objekt, ein Semiobjekt, ein allmählich sich aus der abstrakten Raumbegrenzung physisch artikulierendes Objekt. 103
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Abb. 30 Eckhaus und Erker als potentielle Objekte (Coimbra, Portugal) 104
U m in dieser Betrachtung noch einen Schritt weiterzugehen: Durch ein Abrunden (das heißt auch Glattmachen) der Ecke wird die Objektbildung um so mehr unterdrückt, je größer der Radius der Rundung ist. (Andererseits stellt aber das konvexe Auswölben einer Fassade innerhalb einer geraden Zeile einen Ansatz zur Objekthaftigkeit dar, wogegen die konkave Ausbildung der Fassade eines alleinstehenden Objekts als der kleinste vorstellbare Beitrag zur Raumbildung und daher auch zur dementsprechenden Wahrnehmung anzusehen ist.) Jetzt aber sind wir wieder bei dem MVS - an der Stelle, wo wir ihn verlassen haben, um die visuelle Wahrnehmung von Objekten und Raumbegrenzungen etwas allgemeiner zu untersuchen. Es ist einleuchtend, daß sich an der MVS-Kante die Wahrnehmung intensiviert und qualitativ verändert, indem hier die raumbegrenzende Wandfläche zum Objekt wird. Doch wie weit reicht nun die Objekthaftigkeit zurück.' Dazu eine vergleichbare, dieselbe Stelle betreffende Vorstellung: In der Kante kulminiert die Intention, die den MVS entstehen ließ; hier ist sie unwiderruflich manifest - verdichtet, scharf, wirksam. Wird sie hier aber einmal festgestellt, so kann der lokale Befund auf den ganzen MVS zurückprojiziert werden. Ähnlich können wir die an der Kante wahrgenommene Objekthaftigkeit retrospektiv auf die ganze MVS-Vorderfläche ausdehnen. Da die Fläche homogen und glatt ist, verläuft diese wahrnehmungsmäßige Umstellung reibungslos. Gerade deshalb können wir sie auch dosierend betreiben, so daß wir zwischen der Außenecke und der Innenecke einen allmählichen Ubergang von der objektorientierten zur raumbezogenen Betrachtung herstellen. Der MVS scheint dann mit einem Fluid der Objekthaftigkeit (so wie gegebenenfalls jenem der Intention) gefüllt zu sein, dessen Konzentration zur Kante hin ansteigt. Schließlich können wir die Wahrnehmung zum Extrem bringen: Da sich der MVS mit seiner Oberfläche nicht von den Zimmerwänden unterscheidet, sich also optisch von der Raumbegrenzung nicht absetzt, ist es denkbar, die objektspezifische Wahrnehmung tatsächlich auf die Kante zu beschränken, die ganze Objekthaftigkeit in die blanke Linie hineinzupressen. Sie wird dadurch zu einem eindimensionalen, immateriellen, abstrakten Objekt. Im Luftkorridor der Straße taucht plötzlich ein Objekt auf - eine Skulptur, eine Litfaßsäule, ein Erker oder bloß eine Hausecke. In der räumlichen Verlängerung des Zimmereingangs der stehende Laserstrahl der MVS-Kante.
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Exkurs um die Ecke Die Kante des MVS ist nicht nur eine besonders heikle, sinnHche, wahrnehmungsmäßig exponierte Stelle und als Ort intentionaler Schärfe ein Ziel rationalen Interesses; sie ist auch ein Anziehungspunkt für die eher irrationale Neugier, indem sie den Zugang zu Geheimnissen zu markieren scheint. Ist die Ursache der Wandhervorhebung unbekannt, so muß sie wohl im Innern des Körpers vermutet werden: eine Art Kern. Wie bei jedem objektähnhchen Gebilde, versuchen wir auch hier intuitiv, in die Tiefe der Materie durchzudringen, um die strukturellen Zusammenhänge aufzudecken. Die ebene, einheitlich glatte Oberfläche des MVS läßt aber solche Bestrebungen als hoffnungslos erscheinen. Wir können nur noch um die Ecke schauen, herumgehen, um schließlich vielleicht doch dahinterzukommen, wie die ungewöhnliche Entwicklung des Wandverlaufs begründet ist. Als würde es sich hier um einen dramatischen Aufbau nach der Aristotelischen „Poetik", um das Schema der tragischen Intrige handeln: das unerklärliche Geschehen, die Steigerung der Spannung bis zum äußersten Punkt, das Enthüllen der Hintergründe und die dadurch hergestellte Glaubwürdigkeit der Situation, dann das Freiwerden der aufgestauten Gefühle - insgesamt eine Katharsis für den Betrachter. Hier nochmals das Architektur-Drama: das Verstellen des geraden, axialen Weges mit einem geheimnisvollen Objekt, das zunächst gar nicht objekthaft, sondern als Raumbegrenzung, als ein flächiges Hindernis sich präsentiert, links nur eine schwache Andeutung des Weiterkommens, eine kleine seichte Nische als Sackgasse, in der Folge das Rechts-herumgehen-Müssen, wobei sich das Objekt allmählich aus der Raumbegrenzungsfläche konstituiert und wie ein Kernstück herausschält, schließlich - möglicherweise - das Dahinterkommen, das befreiende Begreifen, der neue Aspekt. Der MVS als vielleicht die knappste Version eines Spiels, dessen Schema auch in einer opulent figurativen Realisierung erkennbar ist: 1906 baute Edwin Lutyens das Haus Heathcote in Ilkley, Yorkshire. Man nähert sich dem Haus von Norden, auf der durch die ausgeprägte äußere Symmetrie des Bauwerks und die Position der Eingangstür angegebenen Hauptachse. In dieser Bewegung wird man jedoch kurz nach dem Betreten der Eingangshalle jäh aufgehalten. Eine frontale Wand versperrt den geraden Weg. Links sieht man zwei untergeordnete Türen; hinter ihnen gibt es nichts Wichtigeres als eine Abstellkammer und den Gang zu einer Nebentreppe. 106
Nun entdeckt man die Antimetrie des Raumes: Die weiterführende Öffnung befindet sich - dem Haupteingang diagonal gegenübergestelh - rechts in der Frontalwand. Der Weg dorthin ist auch im Fußbodendekor angedeutet: Ein Bandraster aus Marmorplatten ist mit diagonal verlegten Ziegelsteinen ausgefacht, so daß unzählige „Pfeile" nach rechts (oder zurück zum Haupteingang) weisen. Man gelangt in eine runde, wie ein Raumgelenk wirkende Diele, erblickt von hier aus die hinaufführende Treppe, geht aber geradeaus weiter - in den Seitenteil des großen Saales. Zwar könnte man jetzt direkt zur Raummitte gehen, doch suggeriert die raumtrennende Säulenreihe einen geraden Weg; man wird an die Außenmauer herangeführt und dann auf der in ihrer Nähe verlaufenden Querachse zur mittleren Öffnung geleitet. Nach einer Linksdrehung steht man wieder - jetzt aber verkehrt - in der Hauptachse des Hauses und begreift nun ihre Unterbrechung durch das Kernstück, dem man jetzt zugewandt ist und dessen Objekthaftigkeit man
Abb. 31 Edwin Lutyens: Haus Heathcote, Ilkley, Yorkshire (26/19) 107
sukzessive wahrgenommen hat. Inzwischen hat man auch - in der Kombination zweier offener Kamine - die FunktionaHtät des Kernstücks erkannt. Damit bekommt die gesamte Sequenz den Charakter einer abgeschlossenen und nachvollziehbaren Handlung. Ein Haus mit diesem Szenario kann aber auch in einem viel kleineren räumlichen Ausmaß realisiert werden, ohne daß es an Großzügigkeit und Witz verliert. 1962 baute Robert Venturi in Chestnut Hill, Pennsylvania, das Haus für seine Mutter. Die Vorderfassade zeichnet sich durch eine freie Ausgewogenheit der Elemente auf, ist also symmetrisch im Vitruvschen Sinne. Der Eingang befindet sich in der Mitte. Im Unterschied zu Lutyens' Heathcote ist hier die Eingangshalle offen, die Blockierung der Hauptachse durch die zweite Frontalschicht somit bereits von außen sichtbar. Auch die Ausformung der Hinderniswand zu einem Kernstück erfolgt hier sogleich: Durch einen Knick entsteht Konvexität, die auf Objekthaftigkeit hindeutet. Jetzt können wir den schon bekannten Weg gehen: Links befindet sich wieder die Sackgasse in Gestalt einer kleinen Nische, rechts wird man zum Eingang geleitet, wobei die Richtung diesmal vom schräggestellten Wandteil angegeben wird. Man betritt die Diele; sie ist hier nur viertelrund, dennoch nicht weniger ein Raumgelenk. Auch erblickt man hier wieder die hinaufführende Treppe und
Abb. 32 Robert Venturi: Haus in Chestnut Hill, Pennsylvania (27/187) 108
gelangt - wie gewohnt - in den Seitenteil des geräumigen Wohnzimmers, der hier nicht durch eine Säulenreihe, sondern durch den Wechsel des Fußbodenbelags abgetrennt ist. Auch in diesem Fall könnte man direkt zur Raummitte gehen, doch die zusammen mit der Brüstung - abgeschrägte Auftrittsstufe, das Diagonalmuster des Fußbodens und die parallel dazu verlaufende Küchenwand geben deutlich eine andere Richtung an: Man gelangt rechts an die verglaste Schiebetürwand. Von hier weisen die Querfugen des Fußbodens zur hinteren Außenwand, zu dem in ihrer Mitte gelegenen großen dreiteiligen Glaselement, welches die Teilung des Wohnzimmers sowohl aufhebt als auch durch die eigene Teilung befolgt. Wenn man sich hir wieder nach links dreht, hat man das Kernstück des Hauses vor sich: die Kombination eines offenen Kamins mit der dahinter eingezwängten Treppe - auch hier wieder ein Objekt, das ursprünglich als eine Ziel-, Hindernis- und Gleitwand wahrgenommen wurde. Zwar gibt es - soviel uns bekannt ist - in der Literatur keinen Hinweis auf die fast „wörtliche" Ubereinstimmung dieser zwei Häuser; auch Venturi selbst betrachtet sein Bauwerk nicht unter diesem Aspekt - weder in seiner ausführlichen Beschreibung des Hauses (27/187-193), noch in seinem und Denise Scott Browns Artikel „Learning from Lutyens" (28), in dem Heathcote gar nicht erwähnt wird. Doch ist die Ähnlichkeit der zwei Häuser augenscheinlich und amüsant - das Vanna-Venturi-Haus ist Heathcote en miniature. Dagegen ist freilich bei einem Vergleich der beiden Häuser mit der Situation im Frühstückszimmer des Wittgenstein-Hauses etwas mehr interpretatorische Anstrengung und Bereitschaft zum Abstrahieren erforderlich. Der Zufall hilft aber vehement nach: die kleine Nische links, die Richtung des Herumgehens . . . Es fehlt wirklich nur noch ein Kamin als Mittelpunkt des MVS (wie übrigens schon früher vermerkt). Außerdem müßten wir nun die Außenwand durchdringen, um die Betrachtungssequenz zu schließen. Dann würde sich auch der MVS als objekthaftes Kernstück ganz herausschälen. Wir aber würden, in der äußeren Innenecke des Hauses angelangt, wahrscheinlich gar nicht merken, daß dort das eigentliche Problem steckt, daß wir uns am Ursprung der Verwicklung, am Ort der syntaktischen „Intrige" befinden.
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Kunst und Rahmen Über die Seitenfläche des Mauervorsprungs
Nach dem Exkurs „hinter" die Kante, die sensibelste und anregendste Stelle des MVS, gehen wir nun tatsächlich um die Ecke herum und kommen so zu seinem bedeutendsten Teil - zu seiner seitlichen Fläche. Mit dieser Fläche definiert der MVS den Raum vor der mit seiner Hilfe auf das Symmetriemaß gekürzten Fensterwand. Die Seitenfläche des MVS bildet zusammen mit dem ihr entsprechenden Teil der gegenüberliegenden Wand und den genauso breiten Streifen des Fußbodens und des Plafonds einen flächigen Rahmen, der nicht nur diesen Raum einfaßt, sondern auch einen Rahmen der gekürzten Fensterwand bildet und somit eine zweite Einrahmung des Fensters darstellt. Die Seitenfläche des MVS ist also an der Bildung einer Fensternische beteiligt, deren übrigen Begrenzungsflächen nur latent determinierte Bereiche der betreffenden Flächen sind, so daß die Seitenfläche des MVS als einzige die Tiefe dieser Nische bzw. der Umrahmung angibt. Dies ist zwar eine Minimaldefinition, reicht aber zum Wahrnehmen des Rahmens aus. Obwohl das Thema des Rahmens ein ureigenes Thema der Architektur ist, scheint der Architektur gerade der Rahmen zu fehlen, der die Kunst ausmacht, indem er sie von der Realität trennt. Bereits Viktor Sklovskij behauptete: „Soll ein Ding zu einem künstlerischen Faktum werden, ist es notwendig, dies Ding aus der Reihe der Fakten des wirklichen Lebens herauszunehmen. Es ist notwendig, die Sache aus dem Zusammenhang der üblichen Assoziationen herauszureißen, in denen sie sich befindet." (9/92-93) Die einfachste Methode eines solchen Herausnehmens oder Herausreißens ist die Verwendung eines Rahmens. Wenn das Wesen von Kunstwerken charakterisiert werden soll, wird in der Regel ihre vielschichtige und mehrdeutige ästhetische Struktur als jenes Merkmal angeführt, das sie von den Bestandteilen der Realität unterscheidet. Dabei wird die simple Tatsache außer acht gelassen, daß Kunstwerke allein schon durch irgendeine Art der Einrahmung, der Adjustierung oder bloß der Situierung eine Distanz zur Realität gewinnen. Im Gegensatz zur inneren ästhetischen Struktur eines Kunstwerks, die sich ja - zumindest teilweise - erst während einer individuellen Rezeption konstituiert und daher als allgemein gültiges Kriterium des Kunstwerks unver110
läßlich ist, kann das Kriterium der äußeren Abgrenzung oder Einfassung des Kunstwerks als viel beständiger und objektiver betrachtet werden; es unterliegt kaum irgendwelchen interpretatorischen Schwankungen. Es geht hir um jenen rhetorischen Index, der die ästhetisch ausgerichtete Interpretation eines Gegenstands einleitet und der physischer oder imaginärer Natur sein kann. Bilder haben Rahmen, die sie deutlich - physisch - von der Wirklichkeit trennen. Aber auch ungerahmte Bilder oder Gegenstände, die in einer Galerie ausgestellt sind, werden als für Kunstkommunikation bestimmte Objekte eindeutig erkannt und laufen daher keine Gefahr, randlos in Realität aufzugehen. Sogar die kitschigste Reproduktion, mit einem Rahmen versehen und in einem Supermarkt mengenweise angeboten, wird noch qualitativ anders interpretiert als die daneben stehenden Suppenkonserven. Würde man aber eine jener Dosen in die Warhol-Koje eines Museums stellen, so hätte diese „Einrahmung" das hypothetische Verschwinden des eßbaren Inhalts und das interpretative Auffüllen des Objekts mit ästhetischer Struktur zur Folge. Andererseits kann der Rahmenverlust sogar das physische Ende des betroffenen Kunstwerks bedeuten: Ein zufällig aus dem Rahmen einer Exposition geratenes Wannen-Objekt von Beuys wurde bekanntlich von sämtlichen Pflaster-Zutaten „gereinigt", mit Wasser gefüllt und zur Kühlung von Flaschenbier verwendet. Wotruba-Plastiken, von Bühnenarbeitern in einem Kulissendepot gefunden und für Gerümpel gehalten, wurden kurzerhand weggeworfen. Im Theater ist der Rahmen der „anderen Realität" die Bühnenöffnung. Jeder Zuschauer weiß, daß in diesem Rahmen ein Theaterstück und nicht das wirkliche Schicksal der handelnden Personen verfolgt werden kann. Auch hier braucht es sich nicht unbedingt um eine Einrahmung im wörtlichen Sinn zu handeln - nicht nur die Guckkastenbühne, bereits die Rampe schafft eine deutliche Trennung zwischen Wirklichkeit und Kunst. Wie wirksam und beständig diese Grenze ist, zeigt sich am deuthchsten bei den Versuchen, sie zu überwinden bzw. ihre Überschreitung zu inszenieren. Ein bereits klassisches Beispiel dafür ist das 1921 uraufgeführte PirandelloStück „Sechs Personen suchen einen Autor". Die Irritation besteht darin, daß auf nichtdekorierter, arbeitsmäßig belassener Bühne scheinbar eine Theaterprobe stattfindet, die - wiederum scheinbar - von sechs Personen, die im Unterschied zu den „Schauspielern" kostümiert sind, gestört wird. Mit einer ähnlichen „Uberbrückung der Rampe" (20/11) wird in vielen Theaterstücken operiert, wobei das Publikum manchmal zwischen beabsich111
tigten und unbeabsichtigten „Störungen" tatsächlich nicht zu unterscheiden vermag. Im Prinzip, als Erwartungsfaktor, bleibt der Rahmen der Bühne vorhanden. Das Verständnis von Architektur als Kunst ist problematisch nicht irgendwelcher grundsätzlichen Materialschwächen oder Strukturmängel wegen das Material der Architektur läßt sich ja ästhetisch wirksam strukturieren - , sondern weil hier der fixe Rahmen, die klare Grenze zwischen Realität und Kunst, fehlt. Daß sich in einem Architekturobjekt das Ästhetische mit dem Realen ohnehin ständig vermengt, ist evident, jedoch nicht ausschlaggebend; weder stellt es eine ungewöhnliche Belastung der Interpretation dar, noch bildet es die Grundlage eines Kontrastes zur Kunst. Bis zu einem gewissen Grad ist jedes Kunstwerk innerlich heterogen und diffus, denn nicht alle Elemente, die es beinhaltet, gehören auch seiner ästhetischen Struktur an. Bei jeder Interpretation bleiben „unpassende" Elemente zurück - Elemente, die in die jeweilige Bedeutungsstruktur nicht aufgenommen werden können und daher auffallend real wirken. Entscheidend ist aber der „Rahmen", der die Vereinheitlichung der Bedeutung forciert, der zunächst die interpretatorische Weiche in Richtung „Kunstwerk" stellt und letztlich auch die nicht vereinnahmten Elemente miteinschließt. In Ermangelung eines Rahmens, einer scharfen Kunst-Kontur, wird Architektur von der Realität absorbiert. Ihre innere Substanz wird durch nutzungsorientiert beanspruchte Bestandteile der Wirklichkeit ersetzt, ihre äußere Gestalt verliert sich kontextualistisch in der gebauten Umgebung oder verflüchtigt sich naturhaft in der landläufigen Luft. Andererseits besteht Architektur aus unzähligen Rahmen verschiedener Arten, Formate und Maßstäbe. Jeder Rahmen, gleichgültig wo er auftritt und wie er beschaffen ist, unterbricht die Kontinuität der Wirklichkeit und deklariert den eingeschlossenen Bereich als eine mehr oder weniger andersgeartete Wirklichkeit. Auf die Wahrnehmung eines Rahmens folgt automatisch eine spezifische Interpretation des abgesonderten Bereichs. Es muß sich dabei freilich nicht gleich um eine Interpretation im Sinne von Kunstrezeption handeln, doch es ist wahrscheinlich, daß allein schon durch die - dem Rahmen entsprechende - Ausformung eines solchen Bereichs die Interpretation eine formale, ästhetische Färbung bekommt, die sich im weiteren steigern kann. Auch ist es möglich, daß gerade der Rahmen eine Assoziation mit Kunst hervorruft. Wenn Beliebiges zur Kunst erklärt werden kann, dann ebenso - oder um so mehr - ein durch einen Architektur-Rahmen begrenzter Bereich der Wirk112
lichkeit. Zwar fehlt der Architektur der Rahmen, der das Kunstwerk definiert, doch kann sie selber als ein solcher fungieren. Bilderrahmen haben ihren Ursprung in jenen Schein-Fensterrahmen, die zur Entstehung der Illusion eines Blickes in die Landschaft Altgriechenlands entscheidend beitragen sollten. Bei einem wirklichen Fenster ist die Situation eher umgekehrt: Wenn wir hinausschauen, sehen wir zwar Realität, aber einen bestimmten Ausschnitt aus der Realität - wie ihn der Fensterrahmen angibt. Es handelt sich also nicht um die Wirklichkeit schlechthin, sondern um eine durch den Fensterrahmen manipulierte Repräsentation der Wirklichkeit. Wie auch immer zufällig die Lage des Fensters in bezug auf die Wirklichkeit sein mag, letztlich wirkt die Wahl des Ausschnitts gewollt, artifiziell. Dies erinnert an die Arbeit eines Fotografen, der zwar die Wirklichkeit absolut „realistisch" erfaßt, dennoch aber Kunst macht, nicht zuletzt durch die Wahl des Ausschnitts. Auf ähnliche Weise ist das Innere eines Zimmers nicht etwa ein Teil durchgehender Realität, sondern eine spezifische, vom Rahmen der konkreten Wände eingeschlossene, geformte, akzentuierte Realität. Man sagt zum Beispiel, das oder jenes Zimmer habe eine bestimmte Atmosphäre - offensichtlich ist dies ein ästhetisches Urteil; es heißt, dieses Zimmer unterscheide sich von all dem, was rundum ist. Die Unterschiede sind vielleicht nicht sehr groß, doch in jedem Zimmer gelten etwas andere Gesetze oder werden dieselben Grundgesetze etwas anders angewendet. Letztlich gibt es keine einheitliche pauschale Wirklichkeit mehr - die Realität wird durch Architektur strukturiert. Dabei wird auch Architektur selbst Objekt dieses einrahmenden Strukturierens, des Individualisierens, des potentiellen Erklärens zum Kunstwerk. Wie Norberg-Schulz vermerkt, war früher das Ziel des Dekorierens in der Architektur nicht etwa, von den Architekturelementen durch „verschönernden Zierat" abzulenken, sondern - im Gegenteil - „sie herauszulösen und als einmalig herauszustellen. Der Rahmen individualisierte die Tür, die Bogenrundung das Portal, die Stuckleiste die Decke, die Fassade das ganze Gebäude." (21/171) Ob mit oder ohne Dekor - ein Bauwerk ist ein Set von verschiedenen Rahmen, die verschiedene Bereiche definieren, aber auch einander einrahmen und als Rahmen für Kunst aktualisiert werden können. Indem Rahmen zu Kunst-Rahmen werden, können auch sie dem eingerahmten Kunstobjekt angehören - ähnlich wie jene Folien, in die Christo Objekte verpackt und so aus der Realität herausnimmt, Bestandteile des Kunstwerks werden, wie übrigens auch der Akt des Einrahmens an sich. 113
Abb. 33 Rahmen bei Le Corbusier
Wohnhaus in Stuttgart, Weißenhofsiedlung (33/66) 114
Kloster La Tourette (33/265) 115
Abb. 34 Rahmen bei Tadao Ando
„Tezukayama-Haus" - Haus Manabe, Osaka (36/30)
„Haus aus Glasbausteinen" - Haus Ishihara, Osaka (36/34) 116
Abb. 35 Rahmenfragmente und Rahmen bei Alvaro Siza
Curj^
Wohnhaus in Berhn, Ickensteinstraße (35/60)
Dasselbe Wohnhaus, Schlesische Straße (35/58) 117
Für die Wahrnehmung von Architektur als Kunst scheint eine solche FoHe - und sei sie nur gedacht - unentbehrlich zu sein. Sie kann als jener fehlende Kunst-Rahmen der Architektur interpretiert werden, wobei aber die Architektur selbst als eine solche Folie, ein solcher Kunst-Rahmen gedacht werden kann - als ein hohles Objekt, in dem sich weitere Rahmen verbergen. Ein Haus als ein Rahmen, darin ein Zimmer als ein Rahmen, darin ein Fenster als ein äußerst sensitiver Rahmen. Das Fenster eingerahmt in eine ästhetisierte, symmetrische Wandfläche. Diese Wandfläche gerahmt von einem imaginären Rahmen mit einer realen Seite - der Seitenfläche des MVS.
Abb. 36 Rahmen für den Zusammenfall eines konkreten Objekts mit einem abstrakten Objekt - der Kante eines Mauervorsprungs (in Wien) 118
Schluß
Wenn wir nun versuchen, den MVS wieder als ein Ganzes zu sehen und unter den verschiedenen, hier erwähnten Aspekten zu betrachten, haben wir ein schillerndes und pulsierendes Gebilde vor Augen. Anstatt daß er - wie ein Eckpfeiler - die Ambiguität der Raumecke beseitigt, erzeugt der MVS Spannungen im Raum, die nicht durch einfache Umbaumaßnahmen, sondern nur durch einen radikalen Abbruch beseitigt werden könnten. (Die Lage der Zimmereingangstür ist unabänderlich, usw.) Anstatt daß er - gemäß der Intention, die ihn entstehen ließ - die Fensterwand, der er angehört, aber gleichzeitig nicht angehören soll, von dem ursprünglichen Dilemma der Achsenverschiebung befreit, wird der MVS selber zu einem Paradoxon und macht auf sein unlösbares Problem der Zugehörigkeit bzw. der Selbständigkeit aufmerksam. An sich ist sein Habitus aber unauffällig und seine Oberfläche schlicht und verschlossen, so daß die Beschaffenheit seines Innern äußerlich unüberprüfbar bleibt. Doch aus den Planunterlagen erfahren wir von seiner Homogenität und Zweckfreiheit; es bestätigt sich die Vermutung, daß der Dienst, den der MVS zu leisten versucht, ästhetischer Natur ist. (Übrigens erinnern auch die Initialen an Manuel Venator aus Ernst Jüngers Eumeswil.) Die Sinnlichkeit des MVS hat einen intellektuellen Hintergrund; die MVSVorderfläche kann als doppelbelichtet gedacht werden - als frontal exponiert und zugleich im Streiflicht der seitlichen Ausrichtung einer Wandnische befindlich. Dieser zweifache oder wechselnde Polarisierungseffekt, der sich von der Fläche auf den angrenzenden Raum überträgt, wird von einem gleichsam plastischen Effekt überlagert: Entsprechend dem allmählichen Übergang von der Raumbegrenzungsfunktion der Wand in der Innenecke zur Objekthaftigkeit der Außenecke, scheint sich die MVS-Vorderfläche sinusartig auszuwölben, wobei dieser Eindruck wieder modifiziert werden kann - bis zum Bild einer geraden Fläche, die ihre Raumbezogenheit bereits in der Innenecke oder erst an der Außenecke abrupt in Selbstbezogenheit verändert. Von der jeweiligen Einstellung innerhalb dieses Möglichkeitsspektrums hängt gewissermaßen auch die Schärfe der MVS-Kante ab. U m zumindest im letzten Moment auf die Bedeutung der kleinen, tatsächlich vorhandenen Nische einzugehen, die bisher im Schatten des MVS stand, können wir uns die gesamte Situation so vorstellen, daß der MVS, einem Deus ex machina ähnlich, aus dem seitlichen Kulissenschlitz herausfährt und wie eine 120
adjustierbare Blende den exakten Rahmen für das Fenster und seine Passepartout-Fläche markiert. Die kleine Nische ist immer noch hier, sowohl im Bestandsplan als auch in Wirklichkeit, der MVS nicht. Wir wissen nicht, ob es ihn je gab; das tut aber nichts zur Sache.
Abb. 37 Wittgenstein-Haus, Zwischenstock, Bestandsplan (2/41) 121
Verwendete Literatur
Auf die Numerierung dieses Verzeichnisses beziehen sich die in Klammern gesetzten Angaben bei Zitaten im Text und bei Abbildungen, wobei die Zahl hinter dem Schrägstrich jeweils die Seitenzahl angibt. Abbildungen ohne Quellenangabe sind Zeichnungen und Fotos des Verfassers. 1 Bernhard Leitner, The Architecture of Ludwig Wittgenstein. A Documentation, Halifax (Canada) 1973 2 Gunter Gebauer, Alexander Grünenwald, Rüdiger Ohme, Lothar Rentschier, Thomas Sperling, Ottokar Uhi, Wien, Kundmanngasse 19. Bauplanerische, morphologische und philosophische Aspekte des WittgensteinHauses, München 1982 3 David Pears, Ludwig Wittgenstein, München 1971 4 Bryan Magee, Popper, Glasgow 1973 5 Alwin Diemer, Ivo Frenzel (Hrsg.), Philosophie (Das Fischer Lexikon), Frankfurt 1958 6 Christiaan L. Hart Nibbrig (Hrsg.), Ästhetik. Materialien zu ihrer Geschichte, Frankfurt 1978 7 Karel Teige, Stavba a háseh, Praha 1927 8 Jan Mukafovsky, Kapitel aus der Ästhetik, Frankfurt 1970 9 Jan Mukafovsky, Studien zur strukturalistischen Ästhetik und Poetik, Frankfurt, Berlin, Wien 1977 10 Roman Jakobson, Poetik. Ausgewählte Aufsätze 1921-1971, Frankfurt 1979 11 Umberto Eco, Einführung in die Semiotik, München 1972 12 Umberto Eco, Das o f f e n e Künstwerk, Frankfurt 1977 13 Rudolf Arnheim, Entropie und Kunst. Ein Versuch über Unordnung und Ordnung, Köln 1979 14 Ernst H. Gombrich, Kunst und Illusion. Eine Studie über die Psychologie von Abbild und Wirklichkeit in der Kunst, Stuttgart und Zürich 1978 15 Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, Frankfurt 1966 16 Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie, Frankfurt 1970 17 Franz Koppe, Grundbegriffe der Ästhetik, Frankfurt 1983 18 Erika Fischer-Lichte, Bedeutung. Probleme einer semiotischen Hermeneutik und Ästhetik, München 1979 122
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