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German Pages 248 [249] Year 2021
Daniel Elon
Die Philosophie Salomon Maimons zwischen Spinoza und Kant Akosmismus und Intellektkonzeption
Paradeigmata · Band 42
Meiner
PARADEIGMATA 42
PARADEIGMATA Die Reihe Paradeigmata präsentiert historisch-systematisch fundierte Abhandlungen, Studien und Werke, die belegen, dass sich aus der strengen, geschichtsbewussten Anknüpfung an die philosophische Tradition innovative Modelle philosophischer Erkenntnis gewinnen lassen. Jede der in dieser Reihe veröffentlichten Arbeiten zeichnet sich dadurch aus, in inhaltlicher oder methodischer Hinsicht Modi philosophischen Denkens neu zu fassen, an neuen Thematiken zu erproben oder neu zu begründen.
DANIEL ELON
Die Philosophie Salomon Maimons zwischen Spinoza und Kant Akosmismus und Intellektkonzeption
FELIX MEINER VERLAG HAMBURG
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über 〈http://portal.dnb.de〉 abrufbar. ISBN 978-3-7873-3930-3 ISBN eBook 978-3-7873-3931-0
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Meinen Eltern gewidmet
Inhalt
1
2
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
11
Einleitung: Die Philosophie Maimons im Forschungskontext . . . . . . .
1.1 Allgemeine Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
13 13
1.2 Fragestellungen und Erkenntnisinteresse . . . . . . . . . . . . . . . . .
18
1.3 Primärtextgrundlagen aus Maimons Gesamtwerk . . . . . . . . . . .
20
1.4 Zur Methodik: Wahl des Zugangs zu Maimons Philosophie . . . .
23
1.5 Übersicht der Gliederung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
27
Maimons Spinoza-Rezeption: Der Akosmismusvorwurf . . . . . . . . . . .
29 30
2.1 Zeitachse: Maimons Weg in die Berliner Haskala . . . . . . . . . . . 2.1.1 Zeit in Polen-Litauen und erster Versuch der Einreise nach Berlin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.2 Frühe Berliner Zeit, weitere Reisen durch West- und Mitteleuropa sowie Rückkehr nach Berlin . . . . . . . . . . . . 2.2 Maimons Abkehr von der Philosophie Spinozas: ›Zurückschaudern vor dem Nichts‹ und Akosmismus . . . . . . . . 2.2.1 Systematische Verknüpfung der beiden Topoi . . . . . . . . . 2.2.2 Forschungsperspektiven auf Maimons sich wandelnde Haltung zu Spinozas Philosophie . . . . . . . . . .
3
30 33 41 41 54
2.3 Maimons Position zum zentralen Spinoza-Streit um 1785 . . . . .
62
2.4 Kants Spinozismusvorwurf an Maimon und dessen Folgen . . . .
67
Maimons Verstandeskonzeption vor ihrem primären Formierungshintergrund der Transzendentalphilosophie Kants . . . . .
73
3.1 Maimons Transformation und Ausweitung der kantischen Fragestellung quid juris . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.1 Kants Ausgangspunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.2 Maimons Ansatzpunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
85 85 90
3.2 Akzentverschiebungen in der kritischen Philosophie Kants bis 1787 sowie ihre Reflexion durch Maimon . . . . . . . . . 3.2.1 ›Intellektuelle Anschauung‹ in der Erstauflage der Kritik der reinen Vernunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
94 94
8
Inhalt
3.2.2 ›Anschauender Verstand‹ in der Zweitauflage . . . . . . . . . . 101 3.2.3 ›Anschauender Verstand‹ in der Kritik der reinen Vernunft und ›unendlicher Verstand‹ im Versuch über die Transzendentalphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 3.2.4 Maimons Transferierung der Intellektkonzeption in den Problemhorizont der kantischen Ideenlehre . . . . . . . . 123 3.3 Unendlicher und endlicher Verstand: Verhältnisbestimmung auf Grundlage der approximierenden Vervollständigungsdynamik . . . . . . . 3.3.1 Die ›allgemeine Antinomie des Denkens überhaupt‹ 3.3.2 Gradualität und Approximation . . . . . . . . . . . . . . 3.3.3 Antinomie und Aporie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
127 127 132 141
3.4 Spiegel und Fenster. Die Referenz auf Leibniz' Monadologie im Versuch über die Transzendentalphilosophie . . . 145 3.5 ›Intellectus archetypus‹: Maimons Verstandeskonzeption im Kontext der Kritik der teleologischen Urteilskraft . . . . . . . . 151 3.6 Revision: Kants Spinozismusvorwurf an Maimon . . . . . . . . . . . 156 4
Rückbezug der Intellektkonzeption auf die Akosmismusthese . . . . . . 159
4.1 Rekonstruktion: Maimons Positionierung gegen Spinozas Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.1 Verortung des intellectus innerhalb der Grundstruktur der Metaphysik Spinozas . . . . . . . . 4.1.2 Hintergrund des Akosmismusvorwurfs: Der Intellekt als zentraler Perspektivpunkt der Philosophie Maimons . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.3 Akosmismus und Nihilismus . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.4 ›Gegebenes‹ und Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . . . 160 . . . . . 160
. . . . . 164 . . . . . 170 . . . . . 173
4.2 Problematik: Plausibilität der Spinoza-Rezeption Maimons . . . . 175 4.2.1 Aktuelle Diskussion: Spinozismus als Akosmismus . . . . . . 175 4.2.2 Schwächen der Spinoza-Lesart Maimons . . . . . . . . . . . . . 182 4.3 Revisionen: bisherige Widersprüche und offene Fragen 4.3.1 Spinoza und Leibniz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.2 Maimons spätere Neubewertung des Versuchs . . 4.3.3 Die Verwendung des Tropus vom Salto mortale . 4.3.4 ›Humischer Skeptizismus‹ . . . . . . . . . . . . . . . .
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186 187 191 195 197
Inhalt
5
9
Maimons Skeptizismusmodell im Kontext der Akosmismusthematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199
5.1 Assoziative Synthesis: Skeptizismus und Weltseele in systematischer Schnittfläche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 5.2 Maimons Skeptizismus als ›apostatischer Rationalismus‹ . . . . . 208 5.3 Revision: Antinomie und Aporie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 5.4 Der ›Antiakosmismus‹ der Spätphilosophie Maimons . . . . . . . . 216 6
Schlussreflexion und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 Zitierweise und Siglenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245
Vorwort
»Unter freiem Himmel wohnen geht nicht!«, schreibt Johann Gottlieb Fichte 1793 an seinen Briefpartner Heinrich Stephani (GA III,2, 28). Da die Philosophie Immanuel Kants hinsichtlich ihrer Tragfähigkeit in Zweifel geraten sei, so Fichtes Sicht, werde ein neues System benötigt, um die befürchtete philosophische ›Heimatlosigkeit‹ abzuwenden. Dies versucht Fichte in den Folgejahren mit seiner Wissenschaftslehre. Dass es überhaupt zum Sturz der kantischen Philosophie gekommen sei, schreibt er an anderer Stelle vor allem der Kritik Salomon Maimons zu (vgl. ebd., 282). Dessen perspektivenreiche, vielfach gebrochene und oft widersprüchliche, aber in sich fließende Philosophie, die eben kein System sein will, kann wiederum genau als das verstanden werden, was Fichte ›Wohnen unter freiem Himmel‹ nennt. Die Faszination für dieses Denken Maimons, gerade auch in seinen Schwierigkeiten und Irrwegen, war eine wesentliche Motivation für das Verfassen dieser Studie. Hierbei handelt es sich um die leicht veränderte Version meiner Dissertationsschrift, die im Sommersemester 2020 von der Fakultät für Philosophie und Erziehungswissenschaft der Ruhr-Universität Bochum angenommen wurde. Mein besonderer Dank gilt Prof. Birgit Sandkaulen, die das Projekt als Erstbetreuerin von Beginn an maßgeblich mitgeprägt und immer wort- und tatkräftig unterstützt hat. Prof. Helmut Pulte danke ich für die Übernahme des Korreferats, Prof. Gunter Scholtz für viele Jahre der Unterstützung, Prof. Annette Sell für ihr Engagement am Projektabschluss. Für meine Zeit in Hagen danke ich Prof. Hubertus Busche, für die in Yale Prof. Michael Della Rocca und Prof. Paul Franks, für die an der Johns Hopkins University Prof. Yitzhak Melamed. Viele weitere Personen haben die Entstehung der Schrift begleitet, die ich hier leider nicht alle nennen kann. Besonders erwähnen möchte ich JohannesGeorg Schülein, Majk Feldmeier, Tim Rohmann, Markus Gante und unseren Lesekreis für die wichtige philosophische und freundschaftliche Gesellschaft. Ulla Hansen, Marcel Simon-Gadhof, Manfred Meiner und Johann Meiner danke ich für die Aufnahme des Buches in das Verlagsprogramm und für das großartige Lektorat. Meine Eltern haben mich auf meinem Weg immer voll und ganz unterstützt und alles erst ermöglicht. Ihnen ist dieses Buch gewidmet. Bochum, im Dezember 2020
Daniel Elon
1 Einleitung: Die Philosophie Maimons im Forschungskontext
1.1 Allgemeine Einführung
Als Max Horkheimer im Wintersemester 1925/26 seine Vorlesung über die Geschichte der deutschen idealistischen Philosophie von Kant bis Hegel an der Frankfurter Universität hält (vgl. HGS 10, 11), kommt er in einem frühen Teil (HGS 10, 81–93) auf einen Autor zu sprechen, der »bettelarm und zerlumpt aus Litauen nach Deutschland gewandert [war] und [. . .] nicht nur eine große Sehnsucht nach deutscher Wissenschaft mitgebracht [hatte], sondern auch ein philosophisches Talent, das ihm schließlich nicht allein die hervorragende Schätzung Kants, sondern auch die grenzenlose Achtung Fichtes und Schellings eintrug.« (HGS 10, 81) Die Rede ist von Salomon Maimon. Dieser wurde 1753 1 als Shelomo ben Yehoshua (שׁ ַע ֻ ְהו ֹ )שׁלֹמֹה ֶבּן י ְ im Dorf ukau Barok (Sukowiborg) im Osten Polen-Litauens (heute Weißrussland) geboren. Er absolvierte bereits früh eine rabbinische Ausbildung und emigrierte ca. 1776 in Richtung des deutschsprachigen Raumes. Dort war er nach vielen bewegten Jahren auf Wanderschaft und in Armut v. a. im Berlin der 1790er Jahre philosophisch aktiv und verstarb schließlich 1800 nahe Glogau in Schlesien, wahrscheinlich infolge einer Alkoholkrankheit. 2 In seiner Vorlesung bespricht Horkheimer primär die bedeutsame Auseinandersetzung mit Immanuel Kants Kritik der reinen Vernunft (A1781; B1787), die Maimon u. a. in seinem konzeptionell wichtigen Frühwerk mit dem Titel Versuch über die Transzendentalphilosophie 1789/90 vorlegte. Kurz zuvor, ebenfalls 1789, waren Maimons erste deutschsprachige Publikationen in Form von Artikeln in Berliner Journalen erschienen. 3 Etwa ein halbes Jahrzehnt vor Horkheimers Vorlesung beschäftigt sich auch der Freiburger Philosophieprofessor Richard Kroner mit der Philosophie Von Kant bis Hegel. In seiner zweibändigen Schrift mit diesem Titel nennt er Maimon 1921 den »scharfsinnigste[n] der zwischen Kant und Fichte für die Gänzlich exakt lässt sich Maimons Geburtsjahr nicht bestimmen. Auch wenn bisweilen 1754 angegeben wird, so erscheint 1753 plausibler; vgl. Engstler, Untersuchungen (1990), 13; Melamed / Socher, Maimon’s Autobiography (2018), XV. 2 Vgl. Harel, Maimon (1987), 710 f. 3 »Probe Rabbinischer Philosophie« (I, 589–597); »Ueber Wahrheit. Ein Brief des Hrn. S. Maimon, an seinen edlen Freund L. in Berlin« (I, 599–616). 1
Einleitung: Die Philosophie Maimons im Forschungskontext
14
Weiterentwicklung in Betracht kommenden Denker«. 4 Auch hier geht es v. a. um Maimons Kant-Kritik: »Mit einem unbestechlichen, bohrenden Verstande begabt, dringt er in das Innere der transzendentalen Logik ein und prüft die Festigkeit ihres Baues.« 5 Darüber hinaus deutet Kroner jedoch auch auf die Bedeutung der Rezeption der Metaphysik Baruch de Spinozas durch Maimon hin: In Maimons Auseinandersetzung mit dem »Verhältnis des Bestimmbaren und der Bestimmung« auf transzendentallogischer Ebene (vgl. v. a. VT, 51– 58) ließen sich »unschwer die berühmten Definitionen Spinozas« erkennen. 6 Gemeint sind hiermit Spinozas Definitionen zu seinem Konzept der Substanz (vgl. v. a. E I, def. 3–6). »Da die Substanz Spinozas aber im deutschen Idealismus zum Ich werden wird, so läßt sich daran das Gewicht ermessen, das Maimons Wiederaufnahme des Grundgedankens der Ethik Spinozas besitzt.« 7 Achim Engstler, der um 1990 diverse wichtige Schriften zur Philosophie Maimons publiziert, 8 bemerkt hierzu, Kroner nehme diese Verbindung der transzendentallogischen Überlegungen Maimons zur Substanzmetaphysik Spinozas »mit viel Phantasie« an. 9 In der Tat erscheinen Kroners Darstellungen der Epoche ›von Kant bis Hegel‹ generell veraltet. 10 Dies gilt auch für die inhaltlich obsolete, z. T. jedoch noch immer gebräuchliche Titulatur des ›Deutschen Idealismus‹, 11 die Horkheimer ebenfalls verwendete. Kroners Behauptung der systematischen Nähe von Maimon und Spinoza wird sich im späteren Verlauf der vorliegenden Studie als nicht haltbar erweisen. An dieser Stelle ist zunächst allerdings dasjenige Forschungsparadigma von Interesse, das durch Kroners Ausführung maßgeblich mitgeprägt wurde und bis heute weitgehend anerkannt ist: Laut diesem Paradigma gilt Maimon hinsichtlich zentraler Aspekte seines Gesamtwerkes, wenn auch unter bestimmten Einschränkungen, insgesamt als Vertreter der Philosophie Spinozas. Florian Ehrensperger beispielsweise, der den Versuch über die Transzendentalphilosophie 2004 in kritischer Edition neu herausgibt und 2006 eine Dissertation über Kroner, Von Kant bis Hegel (1921), Bd. 1, 326. Ebd. 6 Ebd., 360. 7 Ebd., 360 f.; vgl. Bergman, The Philosophy of Solomon Maimon (1967), 220, hier bezugnehmend auf Kroner. 8 Vgl. Engstler, Untersuchungen (1990); ders., Versuch einer Vereinigung (1990); ders., Zwischen Kabbala und Kant (1994). 9 Engstler, Zwischen Kabbala und Kant (1994), 180 (Anm. 92). 10 Birgit Sandkaulen fordert, v. a. mit Blick auf die Philosophie Friedrich H. Jacobis, »dass die Kronersche Titulatur ›Von Kant bis Hegel‹ wirklich der Vergangenheit angehören sollte« (Sandkaulen, Ichheit und Person (2019), 201 f.). 11 Dass es in besagter Epoche nicht etwa um einseitig idealistische Philosophie geht, sondern vielmehr um die »Vermittlung von Idealismus und Realismus«, weist Valentin Pluder in seiner Schrift mit diesem Titel umfassend nach; vgl. ders., Vermittlung (2012). 4
5
Allgemeine Einführung
15
Maimons Konzepte von Weltseele und unendliche[m] Verstand vorlegt, verbleibt ohne weitere Problematisierung mit der kurzen Notiz, »Kroner beton[e] in seiner Darstellung Maimons Spinozismus«. 12 In der Erforschung sowohl der Philosophie Maimons im Besonderen als auch der Bedeutung der Spinoza-Rezeption in der deutschsprachigen Philosophie um 1800 im Allgemeinen hat sich gerade innerhalb der letzten Jahrzehnte viel getan. Die Anzahl der neuen Forschungspublikationen zu Maimon lässt in diesem Zeitrahmen einen geradezu rasanten Anstieg verzeichnen. Und hinsichtlich der generellen Spinoza-Rezeption gilt inzwischen allgemein als anerkannt, dass die Entwicklung der deutschen Philosophie jener Epoche in einem mindestens ähnlichen Maße von der Beschäftigung mit dem Denken Spinozas geprägt wurde, wie sie sich in der Auseinandersetzung mit Kants Kritizismus herausbildete. Exemplarisch sei hier der von Eckart Förster und Yitzhak Melamed 2012 veröffentlichte Sammelband Spinoza and German Idealism genannt, in dem genau diese Konstellation zur Geltung gebracht wird: »[T]here can be little doubt that without Spinoza, German Idealism would have been just as impossible as it would have been without Kant. Indeed, each of the German Idealists emphasized the importance of Spinoza for his own endeavor – in terms of both agreement and disagreement – just as each of them did with Kant.« 13 Generell gilt in diesem Sinne ebenfalls für die Philosophie Maimons, dass sie in ihrer Position zwischen Spinoza und Kant zu verstehen ist. Von dieser Prämisse geht auch die vorliegende Untersuchung aus. In der Tat spielt Maimons Rezeption der Metaphysik Spinozas eine nicht zu vernachlässigende Rolle für die Profilierung seines eigenen Denkens, wie noch zu zeigen sein wird. Überaus problematisch erscheint in diesem Kontext jedoch besagtes Forschungsparadigma: Laut diesem wird die Bedeutung der Philosophie Spinozas für Maimons Denken, wie beschrieben, primär darin gesehen, dass sich Maimon im Zuge der Entwicklung seiner eigenen Philosophie insgesamt positiv und affirmativ auf Spinozas grundlegende Konzeptionen beziehe. 14 Dies betont Ehrensperger, Einleitung (2004), IX. Förster / Melamed, Introduction (2012), 1. 14 Eine frühe Ausnahme stellt Samuel Atlas’ Artikel Maimon and Spinoza (1959) dar, in dem die systematischen Differenzen zwischen Spinoza und Maimon hervorgehoben werden; vgl. ebd., v. a. 285. Auch Engstler betont, »[z]um Verständnis von Maimons Spinoza-Rezeption« müsse »vielmehr zunächst von der Distanz zwischen seinem Denken und dem Spinozas, genauer: zwischen seiner Denkart und der Spinozas« (ders., Zwischen Kabbala und Kant (1994), 163) ausgegangen werden. Diese Distanz sieht Engstler allerdings primär in der Differenz von Maimons Problem- und Spinozas Systemdenken. Dass die Charakterisierung Maimons als bloßer Problemdenker, genereller auch die Annahme eines strikten Dualismus von Problem- und Systemdenken, angesichts der vorliegenden Thematik allerdings zu kurz greift, soll in Abschnitt 1.4 besprochen werden. Was konkretere inhaltliche Aspekte anbelangt, verfolgt Engstler dann doch wieder das Ziel, die Nähe diverser Ideen 12 13
16
Einleitung: Die Philosophie Maimons im Forschungskontext
u. a. Melamed in seinem 2004 erschienenen Artikel Salomon Maimon and the Rise of Spinozism in German Idealism. 15 In dieselbe argumentative Richtung geht wenig später, 2007, Carlos Fraenkel. 16 In Abgrenzung zu jenem Forschungsparadigma erscheint es aus systematischen Gesichtspunkten durchaus angebracht und weiterführend, gerade die offensichtlichen prinzipiellen Differenzen zwischen Maimons Denken und demjenigen Spinozas in den Fokus zu rücken. Damit werden zugleich Maimons eigene explizite Positionierungen in der hier zentralen Publikationsphase von 1789 bis 1793 ernst genommen und entsprechend zur Geltung gebracht: Schließlich grenzt er seine Philosophie dort klar vom System Spinozas ab und betont die Unterschiedlichkeit dieser verschiedenen philosophischen Perspektiven selbst nachdrücklich. 17 Im Zuge der hier entworfenen Betrachtung soll es daher primär um die diachrone Entwicklung von Maimons Denken in Relation zur Philosophie Spinozas gehen. Am rekonstruierbaren Beginn dieser Entwicklung, d. h. ab ca. 1765 bis in die frühen 1780er Jahre hinein, steht durchaus eine positive Bezugnahme auf Spinozas Denken. Jene positive Referenz kann sich im Laufe der Entwicklung von Maimons konzeptionell eigenständiger philosophischer Position ab den späteren 1780er Jahren jedoch nicht halten. Dies gilt v. a. für den Beginn seiner publikatorischen Tätigkeit 1789 und für die Folgejahre. Wolfgang Bonsiepen spricht 2002 in einer Erörterung über Maimons Verhältnis zu Spinozas Philosophie hinsichtlich der hier angerissenen Dynamik von einem »Geflecht sich bedingender Rezeptionen« und von »verschlungenen Wege[n]«. 18 Um diese grundsätzliche Bewegung in Maimons Denken nachzeichnen zu können, ist, angesichts der Komplexität dieser Dynamik in ihren einzelnen Momenten, ein klarer Ankerpunkt vonnöten. Ein solcher möglicher Ankerpunkt zeigt sich in einem der zentralen Aspekte der Spinoza-Rezeption Maimons, nämlich in dessen Auffassung von Spinozismus als Akosmismus. Durch diesen Aspekt lässt sich zugleich Maimons originärer Beitrag zur generellen Auseinandersetzung mit dem Spinozismus im deutschsprachigen Raum um 1800 sowie zu den philosophischen Theoriebildungsprozessen der Zeit insgesamt herausstellen. Zudem handelt es sich um eines der Themenfelder in Maimons Werk, denen in der bisherigen Maimon-Forschung noch nicht genügend Aufmerksamkeit zuteilwurde und über die bislang noch weitgehend Maimons zu denjenigen Spinozas nachzuweisen; vgl. v. a. ebd., 165. Er geht also gewissermaßen stillschweigend von dem durch Kroner geprägten Paradigma aus, das es nur noch zu belegen gelte. 15 Vgl. Melamed, Rise of Spinozism (2004), v. a. 68 f.; 78 f.; 93 f. 16 Vgl. Fraenkel, Maimonides, Spinoza, Solomon Maimon (2007), v. a. 193; 213 f.; darauf basierend und weitgehend identisch: ders., Maimonides and Spinoza (2009), v. a. 212; 233 f. 17 Vgl. v. a. VT, 197 f.; VI, 429 f./Br, AA XI, 174 f.; WS, 51; III, 205. 18 Bonsiepen, Einsicht (2002), 378; 406.
Allgemeine Einführung
17
Unklarheit herrscht: Der allgemein bekannte Vorwurf gegen Spinozas in der Ethik (1677) systematisch dargelegte Philosophie, sie vertrete eine atheistische Position, wird von Maimon entschieden abgewiesen und gewissermaßen gänzlich umgekehrt. In seiner Lebensgeschichte, der zweibändigen Autobiographie Maimons von 1792/93, schreibt er, »das spinozistische System« müsse eher »das akosmische System heißen.« (I, 154) Anstatt dass Spinoza das Dasein Gottes leugne, gehe er vielmehr davon aus, dass nur Gott existiert und keine Welt. In der Tat geht der Terminus des Akosmismus originär auf Maimon zurück. 19 Fichte und Hegel werden den Terminus später aufgreifen, ersterer in Bezug auf seine eigene Philosophie, letzterer wiederum in Bezug auf diejenige Spinozas. 20 Damit liegt ein klar erkennbarer Einfluss der Spinoza-Rezeption Maimons auf die Philosophie der nachfolgenden Jahrzehnte vor. Wie sich zeigen lassen wird, stellt dieser Zweig der Spinoza-Rezeption jedoch gewissermaßen einen Nebenschauplatz zum zentralen Spinoza-Streit zwischen Friedrich Heinrich Jacobi und Moses Mendelssohn um 1785 dar. Unter historischen wie systematischen Gesichtspunkten lässt sich jener Nebenschauplatz weitgehend vom Disput zwischen Jacobi und Mendelssohn abgrenzen. Dennoch können hier diverse interessante Verbindungspunkte benannt werden. Des Weiteren verknüpft Maimon die philosophische Konfrontation mit dem System Spinozas, ebenfalls um 1792, mit einem Bericht der Erfahrung eines ›Zurückschauderns vor dem Nichts‹ (vgl. III, 455). Die in der bisherigen Forschung noch nicht unternommene systematische Zusammenschau dieses Diktums mit dem Akosmismusvorwurf soll in dieser Untersuchung als argumentativer Ausgangspunkt nutzbar gemacht werden.
Vgl. v. a. Kuntze, Die Philosophie Salomon Maimons (1912), 20; Atlas, Maimon and Spinoza (1959), 254; Engstler, Zwischen Kabbala und Kant (1994), 168. Bereits Ernst Platner schreibt in den Philosophischen Aphorismen (1776) jedoch, »Spinosa [. . .] leugnet eigentlich nicht die Existenz der Gottheit, sondern die Existenz der Welt. Es ist also in seinem System nichts wirklich als Gott, d. h. das ewige unendliche Wesen« (ebd., 353; vgl. Schütte, Akosmismus (1971), 128 (hier jedoch ohne Hinweis auf die erstmalige Verwendung des Terminus bei Maimon); Melamed, Spinozism, Acosmism, and Hassidism (2018), 77 (Anm. 9)). Ob Maimon Platners Schriften gelesen hat, ist nicht rekonstruierbar. Wie sich im weiteren Verlauf der vorliegenden Erörterung ergeben wird, ist aber gerade Maimons Auslegung der Philosophie Spinozas unter der genuinen Titulatur des Akosmismus von einschlägigen, systematisch erfassbaren Eigenheiten geprägt. Diese Eigenheiten lassen es plausibel erscheinen, Maimon als philosophischen Urheber des Akosmismusbegriffs in Bezug auf Spinozas Substanzmetaphysik zu verstehen. 20 Vgl. GA I,6, 54 bzw. GW 20, 89; V 9, 111. 19
18
Einleitung: Die Philosophie Maimons im Forschungskontext
1.2 Fragestellungen und Erkenntnisinteresse
Generelle Fragestellung der Studie ist demgemäß, wie sich Maimons Philosophie im Zuge ihrer Entfaltung zu derjenigen Spinozas verhält. Dabei soll gerade das beschriebene, weitgehend anerkannte Forschungsparadigma eines positiven, affirmativen und diachron relativ konstanten Spinozismus Maimons problematisiert und kritisch hinterfragt werden. Primärer argumentativer Fixund Ankerpunkt ist dabei Maimons Akosmismusthese, die hier klar als Angriff auf die Philosophie Spinozas verstanden wird. 21 Dies ist dabei grundsätzlich vor dem Hintergrund zu sehen, dass sich Maimons eigene Philosophie ganz wesentlich in der Auseinandersetzung mit Kants Kritizismus entwickelt. Wie sich zeigen wird, ist dabei auch Maimons Beschäftigung mit dem Entfaltungsprozess der kritischen Philosophie im Laufe der 1780er Jahre relevant. Von Bedeutung sind hierbei insbesondere Kants Überlegungen zu zwar denkbaren, jedoch nicht positiv bestimmbaren ›anderen Arten‹ von Erkenntnisvermögen als den menschlichen, d. h. vor allem intellektuelle Anschauung und intuitiver Verstand. Damit geht es hier prinzipiell um die Position der Philosophie Maimons ›zwischen Spinoza und Kant‹. Dies verweist wiederum auf das inzwischen etablierte allgemeine Verständnis der Epoche der deutschsprachigen Philosophie um 1800: Indem sich Maimon von der affirmativen Beschäftigung mit Spinozas Metaphysikkonzept ab- und der kritischen Auseinandersetzung mit Kants Transzendentalphilosophie zuwendet, vollzieht er im Verlauf seiner philosophischen Biographie gewissermaßen einen grundlegenden Diskurswechsel. Dieser ist für die Erfassung der in Rede stehenden Denkbewegung von zentraler Bedeutung. Problematisch ist dabei hingegen die bisweilen in der Forschung vertretene Auffassung, besagter Diskurswechsel sei als tatsächlicher Versuch einer positiven Vereinigung der Philosophien Kants und Spinozas zu verstehen, worin dann der Einfluss Maimons auf die weitere Theoriebildung der Epoche bestünde. 22 Auch diese Einschätzung erscheint bei näherer Betrachtung kaum haltbar. Vor diesem Hintergrund soll hier die generelle Annahme eines signifikanten positiven Einflusses der Spinoza-Rezeption Maimons auf die weitere nachkantische Philosophie kritisch diskutiert werden, ebenso auch die inhaltliche Plausibilität und Triftigkeit dieser Rezeption. Bereits Kant selbst fasst Maimons Philosophie als mit dem »Spinozism [. . .] einerley« (Br, AA XI, 50) auf und begründet dies mit Maimons spezifi21 Vgl. Bonsiepen, Einsicht (2002), 404; als Gegenposition: Socher, Radical Enlightenment (2006), 77. Diese Gegenüberstellung der divergierenden Forschungspositionen zum Akosmismusbegriff Maimons wird in Kap. 2 aufgegriffen werden. 22 Vgl. v. a. Melamed, Rise of Spinozism (2004), 94.
Fragestellungen und Erkenntnisinteresse
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scher Verstandeskonzeption, in der die Idee eines unendlichen Verstandes eine zentrale Funktion einnimmt. Diese Verstandeskonzeption unterscheidet sich, wie Kant betont, in systematisch wichtigen Punkten von den Grundpositionen seiner eigenen transzendentalen Logik. Dass jene Intellektkonzeption dabei gleichbedeutend mit Spinozismus sei, weist Maimon unterdessen selbst rigoros zurück, implizit auf Kant bezugnehmend (vgl. VT, 197 f.). Durchaus vermag Kants noch zu erschließende Argumentation in dieser Angelegenheit kaum zu überzeugen. Eine der zentralen Thesen der vorliegenden Untersuchung ist nun, dass es gerade diese Intellektkonzeption ist, durch deren Konstituierung sich Maimon effektiv von der Philosophie Spinozas abwendet. Überdies lässt jene Konzeption die darauffolgende Akosmismuszuschreibung erst systematisch nachvollziehbar werden. Eine weitere hauptsächliche Fragestellung in Bezug auf die Position der Philosophie Maimons zwischen Spinoza und Kant ist daher, auf welchem Weg Maimon sein ebenfalls primär transzendentallogisches Modell intellektualer Erkenntnis entwickelt und zur Anwendung bringt. Dabei soll demonstriert werden, dass dies v. a. in der kritischen Auseinandersetzung mit Kants transzendentaler Analytik in ihrem Wandel von 1781 bis 1787 geschieht. 23 Wie sich dabei zeigen wird, richtet sich die generelle Denkbewegung Maimons in signifikantem Maße am allgemeinen Themenkomplex von κόσµος und intellectus, von Welt und Verstand, aus. Einige Forschungspositionen wurden bereits als bedeutende Referenztexte dieser Studie genannt. Zusätzlich sind vielerlei weitere Sekundärschriften aus der inzwischen extensiven globalen Maimon-Forschung sowie aus angrenzenden Themenfeldern zum Zweck der Erörterung der hier skizzierten Fragestellungen von Interesse. Daneben sind zwei neuere Buchpublikationen von besonderer Wichtigkeit, auch wenn sich diese Bücher höchstens am Rande auf Maimon beziehen: 24 Einerseits Eckart Försters Schrift über Die 25 Jahre der Philosophie von 2011 (32018), durch die die erwähnte diachrone Entfaltung der kritischen Philosophie Kants auf einschlägige Weise zugänglich wird; andererseits Yitzhak Melameds Monographie Spinoza's Metaphysics. Substance and Thought von 2013, die für die im Laufe der Untersuchung vorzunehmende Rekonstruktion der Philosophie Spinozas im Hinblick auf die Akosmismusthematik von Bedeutung ist. Der hier umrissene Fundus an Forschungsliteratur, die im Folgenden zudem kritisch in Diskurs zueinander gesetzt werden soll, wirft bereits viel Licht auf die angesprochenen Teilaspekte der Maimon-Forschung. Dabei zei23 Wie noch zu zeigen sein wird, hat Maimon während des Entstehungsprozesses des Versuchs nachweislich sowohl mit beiden Auflagen der Kritik der reinen Vernunft als auch den Prolegomena (1783) parallel gearbeitet. 24 Vgl. Melamed, Spinoza’s Metaphysics (2013), 64; 67 f.
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Einleitung: Die Philosophie Maimons im Forschungskontext
gen sich allerdings noch deutliche Lücken, Desiderate und Fehlkonzeptionen: Dies betrifft zunächst das bereits als Problem herausgestellte, diskussionswürdige Paradigma in Bezug auf Maimons generelle Haltung zu Spinoza. Sodann sind auch die konkreten Entwicklungsmodalitäten der Intellektkonzeption Maimons noch tiefgreifender zu erörtern, als bisher in der Forschungsliteratur geschehen ist. Letztlich steht auch der eigentliche philosophische Gehalt von Maimons Akosmismusthese noch weitgehend ungeklärt zur Debatte. In diesem Kontext soll untermauert werden, dass die These durchaus als Vorwurf an Spinoza zu verstehen ist. Dies wiederum wird eine klare Positionierung gegen das o. g. Forschungsparadigma ermöglichen. In diesen Hinsichten soll die vorliegende Untersuchung einen klar umgrenzten, dabei deutlich profilierten Beitrag zur Schließung besagter Lücken liefern. Zudem kann der Versuch einer Klärung der Position Maimons zum Denken Spinozas auch eine geschärfte Erfassung von Maimons Philosophie als solcher und in ihrer grundsätzlichen Charakteristik ermöglichen. Das Erkenntnisinteresse der Untersuchung ist daher allgemein die Etablierung neuer Erklärungsperspektiven auf die Philosophie Maimons. Dabei wird sich im Resultat zeigen, dass die Akosmismusthematik innerhalb dieser Philosophie untrennbar mit Maimons eigentümlichem Verständnis intellektualer Erkenntnis zusammenhängt. Gerade die Beschäftigung mit der philosophischen Theorie des Akosmismus, die in ihrer Radikalität kaum übertroffen werden kann, bietet dabei weitere mögliche Anknüpfungspunkte: Immerhin ist diese Thematik auch über den speziellen historischen Rahmen hinausgehend sowie für allgemeinere philosophische Fragestellungen von Interesse.
1.3 Primärtextgrundlagen aus Maimons Gesamtwerk
Mit dem Versuch über die Transzendentalphilosophie von 1789/90 (im Folgenden »Versuch«) und der Lebensgeschichte von 1792/93 wurden bereits zwei für diese Untersuchung zentrale Werke Maimons angeführt. In der erstgenannten Schrift lässt Maimon zunächst bewusst offen, ob diese nun als ›kantisch‹ oder ›anti-kantisch‹ aufzufassen sei: Wie weit ich übrigens Kantianer, Antikantianer, beides zugleich, oder keines von beiden, bin: überlasse ich der Beurteilung des denkenden Lesers. Ich habe mich bemüht [. . .], den Schwierigkeiten dieser entgegengesetzten Systeme, so viel an mir war, auszuweichen; wie weit es mir hierin gelungen ist, mögen Andere entscheiden. (VT, 11)
Primärtextgrundlagen aus Maimons Gesamtwerk
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Es steht hier demnach infrage, ob Maimon die grundsätzliche Position Kants übernimmt, um deren interne Inkonsequenzen aufzudecken und dann entweder zu korrigieren oder aber demonstrativ in die Aporie zu führen. – Letzteres ist beispielsweise wenig später die Strategie Gottlob Ernst Schulzes, der in seinem Aenesidemus von 1792 gegen Kant, insbesondere jedoch gegen Karl Leonhard Reinholds ›Elementarphilosophie‹ polemisiert. – Oder Maimon nimmt eine sich zu Kants Philosophie extern verhaltende Position ein, um ein eigenständiges Alternativmodell zur KrV aufzustellen. Angesichts seiner Grundhaltung zur KrV ist der Versuch zunächst allerdings als Projekt immanenter Kritik aufzufassen. In diesem Projekt werden die prinzipiellen Grundzüge der KrV hinsichtlich Disposition der Fragestellungen und Modi der Argumentation beibehalten. Dabei bleibt es jedoch nicht: Maimon nimmt umfassende, tiefgreifende Transformationen an Kants Kritizismus vor. Diese Transformationsprozesse führen schließlich zur Entwicklung einer eigenständigen philosophischen Position, die für Maimons Denken insgesamt charakteristisch und als solche eben nicht mehr kantisch ist. Diese Positionsbestimmung der spezifischen Form der Kant-Kritik, die im Versuch vollzogen wird, spiegelt sich auch im Entstehungsprozess der Schrift wider. Jener Arbeitsprozess nimmt Maimons philosophisches Schaffen von 1787 bis 1789 im Wesentlichen ein: Das Manuskript wurde als Kommentar 25 zur KrV sowie als Dokumentation von Maimons Lektüreprozess begonnen. Die in diesem Prozess auftretenden Kritikpunkte an Kants Thesen, die Maimon im Manuskript ausführt, liefern sodann die Basis für den Entwurf seiner eigenen Position. Dabei greift er zwar deutlich auf vorkantische Autoren zurück, insbesondere auf Gottfried Wilhelm Leibniz und David Hume. Die sich damit herausbildende Philosophie weist jedoch eine spezifisch eigene, genuine Charakteristik auf, wie zu zeigen sein wird. Diese Eigenart der Entstehung des Versuchs stützt die hier grundsätzlich vertretene These, dass die direkte Arbeit mit und an Kants Kritizismus den maßgeblichen Faktor zur Entwicklung von Maimons eigener Verstandeskonzeption darstellt. Dementsprechend kann diese Konzeption allein vor dem Hintergrund des besagten Arbeitsprozesses in seiner eigentümlichen Dynamik nachvollzogen werden. Mit der Lebensgeschichte liegt nun ein grundlegend andersartiges Schriftstück vor. Die Autobiographie ist zudem lange Zeit der Hauptgrund für das oft v. a. literaturhistorische Interesse an Maimons Person gewesen. Es wäre 25 Zum hier relevanten Hintergrund der rabbinischen Tradition des Kommentierens vgl. Engstler, Zwischen Kabbala und Kant (1994), 165 (Anm. 21). Inwieweit eine solche Kontextualisierung jedoch die Gefahr eines verkürzten Verständnisses der Charakteristik von Maimons Philosophie in sich birgt, soll im folgenden Abschnitt besprochen werden.
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jedoch verfehlt, der Lebensgeschichte den bloßen Charakter eines narrativen Lebensberichts zu geben und der Schrift keine tiefere philosophische Bedeutung zuzuschreiben. Bei einer Person wie Maimon, für die Lebensvollzug und Philosophie weitgehend in eins fallen, 26 ist ›Lebensgeschichte‹ immer auch Genealogie des philosophischen Werdegangs, per se also auch philosophische Reflexion. So stammen viele der zentralen Aussagen Maimons zu Spinoza aus der Lebensgeschichte. Insgesamt bietet die retrospektive Schrift eine gute Möglichkeit, die Entwicklung von Maimons Denken auf detaillierte, aussagekräftige Weise zu rekonstruieren. Da Maimons publikatorische Aktivität im Wesentlichen erst 1789 beginnt, muss sich die Auseinandersetzung mit seiner vorhergehenden philosophischen Entwicklung v. a. auf dessen reichhaltige Darstellungen in der Lebensgeschichte stützen. Sowohl der Versuch als auch die Lebensgeschichte sind aus den genannten Gründen für diese Untersuchung von maßgeblicher Bedeutung. Ergänzt wird diese Auswahl der Primärtexte durch einige weitere Werke Maimons aus dem Zeitraum bis 1793: zu nennen sind hier v. a. das Philosophische Wörterbuch (III, 1–246) und die hebräische Schrift Givʿath hamMore 27 von 1791, außerdem die Streifereien im Gebiete der Philosophie (IV, 1–294) mit dem darin enthaltenen Aufsatz Ueber die Progressen der Philosophie (IV, 23–80) von 1793. Relevant sind nicht zuletzt auch der Briefwechsel im Dreieck Marcus Herz 28 – Kant – Maimon aus derselben Zeitspanne sowie diverse Zeitschriftenartikel Maimons, v. a. aus dem Berlinischen Journal für Aufklärung und dem Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. 29 An der Herausgabe der letztgenannten Zeitschrift beteiligt sich Maimon in den Jahren 1792 und 1793. Die hier aufgelisteten Schriftstücke sind für den skizzierten thematischen Rahmen allesamt von Interesse. Dabei ist zu beachten, dass sich Maimons Positionierungen zu Spinoza in den genannten Schriften in Form kürzerer Passagen oder auch pointierter, relativ isolierter Aussagen finden. Eine für sich stehende, ausführliche Erörterung der Philosophie Spinozas, wie zuvor insbesondere Jacobis Schrift Ueber die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn (11785; 21789; JWA 1,1; im Folgenden »Spinozabriefe«), legt Maimon hingegen nicht vor. Deshalb wird hinsichtlich seiner Haltung zu Spinozas Denken einiges an Rekonstruktionsarbeit notwendig sein.
So schreibt beispielsweise Marcus Herz, der in Kap. 2 noch wichtig werden wird, 1789 über Maimon an seinen Freund Kant: »Er lebt hier sehr kümerlich, unterstüzt von einigen Freunden, ganz der Spekulation.« (Br, AA XI, 15). 27 Maimon, Givʿath hamMore (1791/1965). 28 Vgl. Anm. 26. 29 Die einschlägigen Artikel werden im weiteren Verlauf der Abhandlung sukzessive vorgestellt. 26
Zur Methodik: Wahl des Zugangs zu Maimons Philosophie
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Nach 1793 lassen sich keine maßgeblich neuartigen Positionierungen oder signifikanten Wandlungen in Maimons Spinoza-Rezeption mehr registrieren. Deshalb werden seine Schriften ab 1794 30 in dieser Studie allenfalls ausblickartig konsultiert.
1.4 Zur Methodik: Wahl des Zugangs zu Maimons Philosophie
Dass Maimon hinsichtlich der Systematizität seines Gesamtwerkes keineswegs an viele andere Autoren der Zeit heranreicht, eine konsistente Systematik auch überhaupt nicht als seine eigene philosophische Programmatik begreift, ist in der Forschung umfassend anerkannt. Daher stellt sich die Frage, inwieweit bei einem tendenziell unsystematisch vorgehenden Autor wie Maimon überhaupt von einer zentralen Charakteristik seines philosophischen Schaffens ausgegangen werden kann. Die bisher geäußerten Thesen ergeben schließlich nur vor dem Hintergrund der Annahme einer solchen Charakteristik Sinn. Dies hängt zusammen mit der generellen Fragestellung nach der Methodik des Zugangs zu Maimons Werk. Achim Engstler charakterisiert Maimon, unter Rückgriff auf Nicolai Hartmanns Unterscheidung von Problemdenken und Systemdenken, 31 explizit als »Problemdenker«: Es gehe Maimon nicht um die systematisch durchgeführte Aufstellung eines umfassenden, in sich konsistenten Welterklärungsmodells, sondern um jeweils eng begrenzte Lösungen von Einzelproblemen. Dabei vertrete er in erster Linie eine »aporetische Denkweise«. 32 Dieser Ansatz erklärt zumindest die bisweilen in seinem Werk auftretenden Inkonsequenzen und Widersprüche. Dennoch greift die strikte Gegenüberstellung von Problem- und Systemdenken hier zu kurz und muss in ihrer Geltung für den vorliegenden Sachverhalt grundlegend hinterfragt werden. Durchaus spricht Maimon sich z. T. gegen »Systemsucht« (V, 351) aus und begreift »Philosophie [. . .] (wie schon ihr Name zeigt) vielmehr [als] eine intellektuelle Tendenz« denn »als geordnetes Ganze[s] der Erkenntnis selbst« (VI, 135). Diese grundsätzliche philosophische Haltung manifestiert sich in der allgemeinen perspektivischen und strukturalen Charakteristik seines Gesamt30 Erwähnenswert sind hier v. a. der Versuch einer neuen Logik oder Theorie des Denkens (V) und Die Kathegorien des Aristoteles (VI, 1–271) von 1794 sowie die Kritischen Untersuchungen über den menschlichen Geist (VII, VII–373) von 1797. 31 Vgl. u. a. Hartmann, Diesseits von Idealismus und Realismus (1924), 163 f., hier zum »maßgebenden Unterschied ›systematischer‹ und ›aporetischer‹ Denkweise«; Engstler, Untersuchungen (1990), v. a. 250–253. 32 Engstler, Untersuchungen (1990), 251.
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werkes, 33 so v. a. in Programmatik und Titelgebung der Streifereien von 1793. Diese Programmatik definiert Maimon dort in den einleitenden Worten, womit er sich zugleich gegen den möglichen Vorwurf des Epigonentums verteidigt: Mögen große Männer Systeme umstürzen und auf ihren Trümmern, nach einem besseren Modell, neue aufbauen. Mögen die, die für sich nichts großes zu unternehmen im Stande sind, die Thaten ihrer respektiven Helden in Prosa und in Versen erzählen. Für mich ist jenes zu groß, und dieses zu klein. Ich bin so wenig Architekt als Poet, folge bloß meinem Naturtriebe und mache zuweilen Streifereien im Gebiete der Philosophie. Doch muß man nicht glauben als lebte ich bloß vom Raube. Die Philosophie ist ein weitläuftiges republikanisches Reich, das allen die sich darin anzubauen Lust haben, offen stehet. Ihre Provinzen sind alle Theile der menschlichen Erkenntniß. (IV, 3)
Dieses prinzipielle perspektivische Charakteristikum dahingehend auszulegen, Maimons Denken beziehe sich lediglich episodisch auf philosophische Partikularprobleme und weise keinen darüber hinausgehenden inneren Zusammenhang auf, erscheint jedoch unzulässig. Dies gilt umso mehr, wenn Engstler »Talmud und Rabbinismus« 34 als Hintergründe dieser vermeintlichen Denkweise Maimons identifiziert. Florian Ehrensperger weist zurecht darauf hin, dass »[d]iese an sich wertfreien Behauptungen« potenziell eine »abschätzige[] und diskriminierende[]« Schlagrichtung annehmen können. 35 Dies belegen lange zuvor u. a. unrühmliche Äußerungen Ludwig Noacks. 36 Ehrensperger kommt damit das Verdienst zu, das von Engstler noch vertretene Bild von Maimon als bloßem Problemdenker als obsolet nachgewiesen zu haben. 37 Und Vgl. u. a. Freudenthal, Maimon’s Philosophical Itinerary (2018), 247: »Maimon admires the ›esprit systématique‹ of modern science and philosophy but strongly opposes the ›esprit de système.‹« Weiterführend Freudenthal, Overturning the Narrative (2019), 64–67: »Systematic Philosophy vs. a System of Philosophy«. 34 Engstler, Untersuchungen (1990), 254 f. 35 Ehrensperger, Weltseele (2006), 13. 36 Vgl. Noack, Philosophie-geschichtliches Lexikon (1879), 573 f.: »Maimon war, wie ihn Rosenkranz (in seiner Geschichte der Kant’schen Philosophie treffend bezeichnet) ein rechter talmudischer Ideenspalter, ein Zerdenker, ein für die geschickte Verwirrung des Einzelnen fruchtbarer, aber für die Organisation des Grossen und Ganzen leerer Geist, welcher bei einiger Unbehülflichkeit und Incorrectheit in der Darstellung seiner Gedanken doch in einem leidlich guten Styl und einer zum Theil witzig seinsollenden Fortsetzung der Mendelssohn’schen Verstandeseleganz seine Gedanken vorzutragen wusste.« Zu dieser und weiteren Beurteilungen solcher Art vgl. Ehrensperger, Weltseele (2006), 13 f. 37 Engstler revidiert dies wenig später in Teilen; vgl. ders., Zwischen Kabbala und Kant (1994). Damit legt er ein deutlich behutsameres, elaborierteres und treffenderes Verständnis der Charakteristik von Maimons Philosophie vor, auch wenn er noch immer an der Klassifizierung Maimons als »ausgeprägte[m] Problemdenker« (ebd., 163) festhält: »Sein [sc. Maimons; D. E.] Denken ist 33
Zur Methodik: Wahl des Zugangs zu Maimons Philosophie
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durchaus: Selbst wenn es Maimon lediglich um die Erörterung von Einzelproblemen ginge, so muss die jeweilige Lösung dieser Probleme, ob nun positiv oder nicht, dennoch eine spezifische philosophische Grundlage voraussetzen. Dasselbe gilt für die Motivationsgründe der Auswahl gerade jener Probleme als relevante Themenstellungen. Bei besagter philosophischer Grundlage stellt sich die legitime Frage nach einer konsistenten Charakteristik dann abermals. Daher muss die verengende Blickrichtung auf vorgeblich reines Problemdenken grundsätzlich ins Leere laufen. Dementsprechend soll hier die Position vertreten und als plausibel dargelegt werden, dass sich durchaus ein im Wesentlichen stringenter Charakter in Maimons Denken ausspricht, trotz bisweilen mangelnder Konsequenz und trotz seiner expliziten Absage an das Systemdenken seiner Zeit. Jener Charakter lässt sich durch eine hermeneutisch umsichtige Auseinandersetzung mit dem umrissenen Textkorpus auch adäquat erarbeiten. Wie bereits angedeutet, ist es in erster Linie die spezifische Verstandeskonzeption Maimons, die sich als zentraler Aspekt jenes Charakters herausstellen lässt. Dies gilt besonders im Hinblick auf den innerhalb dieser Konzeption zu erschließenden Gedanken progressiver, jedoch nie faktisch abgeschlossener intellektualer Vervollkommnung. In diesem Kontext werden sich gute Gründe dafür zeigen, von einer spezifischen, über bloßes Problemdenken signifikant hinausreichenden Charakteristik in Maimons Philosophie auszugehen. Dass diese Charakteristik wiederum in der Tat durch gewisse aporetische Züge gekennzeichnet ist, tut dem keinen Abbruch. Methodisch und perspektivisch geht es in dieser Untersuchung dabei primär um die Wandlungsprozesse in Maimons Denken im skizzierten historischen Rahmen. Von entscheidender Relevanz sind hierfür die systematischen Interferenzen dieser Prozesse mit der bereits genannten Entfaltungsdynamik der kritischen Philosophie Kants in den 1780er Jahren. In dieser Hinsicht wiederum muss Ehrensperger widersprochen werden, wenn er Maimon in erster Linie »als mittelalterliche[n] Philosoph[en]« versteht, der »das Erbe eines mittelalterlichen Aristotelismus« 38 vertrete sowie konsistent an einem »pantheistische[n] Rationalismus« 39 orientiert bleibe. Es erscheint zwar durchaus legitim, die antiken und mittelalterlichen Prägungshintergründe Maimons, ein nicht sistierbarer, tendenziell infiniter Prozeß, denn auch die eigenen, niedergeschriebenen Überlegungen werden sogleich wieder Ausgangspunkt erneuter, streifender Kommentierung, und so fort. So präsentieren sich Maimons Schriften als immer neu ansetzende und stets nur vorläufig abgebrochene Denkbewegungen.« In diesem Sinne sei »Maimons Philosophie in ständigem Fluß« (ebd., 164). 38 Ehrensperger, Weltseele (2006), 15. 39 Ebd., 18 f.
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v. a. durch Moses Maimonides, 40 bei der Erörterung seiner Philosophie mitzuberücksichtigen. Ehrensperger interpretiert das Vorliegen einer solchen Prägung jedoch dahingehend, Maimon bewege sich philosophisch im Wesentlichen außerhalb der »Kantischen kopernikanischen Wende«. 41 Dadurch werden Maimons offensichtliche enge Orientierung an der Transzendentalphilosophie Kants 42 sowie seine direkte Beteiligung an weiteren Diskursen der Zeit nicht hinreichend berücksichtigt. Auch hier besteht somit abermals die Gefahr der Etablierung eines zu einseitigen Forschungsparadigmas, das den Blick auf Maimons Philosophie in ihren verschiedenartigen Aspekten und Kontextualisierungen verstellen würde. Hierzu trägt bei, dass Ehrensperger auch im Hinblick auf besagten Aristotelismus Maimons, dessen Diagnostizierung sicherlich nicht ganz gegenstandslos ist, 43 erneut ohne angemessene Problematisierung von einer affirmativen Bezugnahme Maimons auf Spinoza ausgeht. 44 Zwar sollen also o. g. Wandlungsprozesse in ihren verschiedenartigen Interferenzen betrachtet werden; damit ist die vorliegende Studie hinsichtlich ihrer grundsätzlichen Perspektivik in wesentlichem Maße historisch ausgerichtet. Dennoch sind es, wie sich an dieser Stelle resümierend zum methodischen Aspekt sagen lässt, letztlich die bereits skizzierten systematischen FragestellunVgl. u. a. Rosenbaum, Die Philosophie Salomon Maimons in seinem hebräischen Kommentar (1928); Atlas, Maimon’s Treatment (1948); ders., Maimon and Maimonides (1950/51); Lachtermann, Mathematical Construction (1992); Schwartz, Causa Materialis (2003); Freudenthal, The Maimonides of Enlightenment (2004); ders./Klein-Braslavy, Salomon Maimon Reads Moses Ben-Maimon (2005); Socher, Radical Enlightenment (2006); Freudenthal, The Philosophical Mysticism (2009); Fraenkel, Maimonides and Spinoza (2009); Elon, Maimons Maimonides-Rezeption (2017). 41 Ehrensperger, Weltseele (2006), 135. 42 David Hereza geht, sozusagen in diametraler Entgegensetzung zu Ehrensperger, davon aus, Maimons »Philosophie [habe] ihren Ursprung in der Philosophie Kants.« (Hereza Modrego, Die Transformation der Frage ›quid juris?‹ (2019), 232) Auch dies erscheint jedoch bei weitem zu einseitig, v. a. insofern Maimons komplexer philosophischer Werdegang in seiner ›vorkantischen‹ Zeit bedacht werden muss (s. u., Kap. 2). Zudem wird Maimons Philosophie damit gänzlich in den ›Schatten Kants‹ gestellt, wogegen wiederum Gideon Freudenthal explizit vorgeht; vgl. ders., Overturning the Narrative (2019), 47. 43 Vgl. u. a., zeitgleich mit Ehrenspergers Studie, Socher, Radical Enlightenment (2006), v. a. 58 f.; 64; 83; 99; 126–128; 132 f.; 139; 159. 44 Vgl. Ehrensperger, Weltseele (2006), 133: »Die vorliegende Untersuchung zu den Begriffen Weltseele und unendlicher Verstand in der Philosophie Maimons hat zu argumentieren versucht, daß in Maimons Gebrauch beider Begriffe ein an Maimonides und Spinoza orientierter Aristotelismus zum Ausdruck kommt«. Ehrensperger setzt Maimons Theorem der Idee eines unendlichen Verstandes mit Spinozas Konzept des intellectus infinitus gleich. Dieses Konzept verweise seinerseits, auf Grundlage des Aktivitätsaspekts, auf Aristoteles; vgl. ebd., 92; 117 f. Damit reflektiert Ehrensperger die prinzipielle Divergenz der verschiedenen Modelle nicht ausreichend, auch wenn Aktivität im Sinne intellektualer Spontaneität als Teilaspekt der besprochenen Theorien dort in zumindest vergleichbarem Maße von Bedeutung ist. 40
Übersicht der Gliederung
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gen zum Themenkomplex um Kosmos und Intellekt, spezifischer um Akosmismus und Verstandeskonzeption, die hier im primären Fokus stehen sollen.
1.5 Übersicht der Gliederung
Im Sinne dieser prinzipiellen Perspektive gestaltet sich die argumentative Basisstruktur der Untersuchung wie folgt: In Kap. 2 wird zunächst der grundlegende historische Rahmen der sich wandelnden Beziehung Maimons zur Philosophie Spinozas nachgezeichnet. Zudem werden die verschiedenen zentralen Topoi dieser Beziehung systematisch miteinander verknüpft. Im Zuge dieser Betrachtung wird sich auch die generelle Frage nach dem Verhältnis Maimons zu Spinoza in speziellere Teilfragestellungen differenzieren. Dieses Kapitel hat daher in erster Linie eine vorbereitende Funktion. In Kap. 3 soll, ausgehend von Kants Spinozismusvorwurf an die Verstandeskonzeption Maimons, ebendiese Konzeption in ihrem letztlich doch primär kantisch geprägten Entstehungsprozess umfassend erörtert und diskutiert werden. Kap. 4 dient der Anwendung der Ergebnisse dieser Diskussion um Maimons Intellektkonzept auf den in Kap. 2 entworfenen Rahmen der Akosmismusthematik. Dabei ist rekonstruktiv darzustellen, inwieweit der Akosmismusvorwurf erst vor dem Hintergrund von Maimons spezifischem Modell intellektualer Erkenntnis hermeneutisch sinnvoll erschlossen werden kann und inhaltlich transparent wird. In Kap. 5 wird schließlich der Theoriekomplex der Philosophie Maimons nach dem Versuch, also 1790 und später, 45 komprimierend in den Mittelpunkt gestellt. Dabei soll in erster Linie dargelegt werden, inwieweit jener Theoriekomplex als entschiedene, konzeptionell eigenständige Distanzierung vom Akosmismus generell, damit im Speziellen auch von der Philosophie Spinozas gelesen werden kann. Das gilt gerade im Hinblick auf die dort maßgeblichen Aspekte von Maimons Skeptizismus und vom Theorem einer Weltseele. Dies soll in der Schlussreflexion (Kap. 6) zum Versuch einer Widerlegung des hier kritisierten Forschungsparadigmas nutzbar gemacht werden. Dabei sind auch klare Schwächen der Spinoza-Rezeption Maimons zu berücksichtigen, die sich im Laufe der Studie zeigen werden. Zudem bietet sich im Schlussteil die Gelegenheit eines Ausblicks auf potenziell anzuschließende Untersuchungen in Bezug auf Fragestellungen, die sich während der Erörterung ergeben haben werden und die dabei noch nicht effektiv verfolgt werden konnten. Im Rahmen dieses Komplexes geht Maimon zwar deutlich von den Resultaten des Versuchs aus. Es kommt allerdings teilweise zu einer programmatischen Umorientierung sowie zu begrenzten, aber nicht unbedeutenden Verschiebungen in der Schwerpunktsetzung. 45
2 Maimons Spinoza-Rezeption: Der Akosmismusvorwurf
Dieses Kapitel dient, wie angekündigt, in erster Linie dem Nachvollzug des für die vorliegende Untersuchung relevanten historischen Rahmens. Dazu soll zunächst, in Abschnitt 2.1, Maimons philosophischer Werdegang unter dem Leitaspekt seiner Spinoza-Rezeption chronologisch nachgezeichnet werden. Dies geschieht primär auf Basis der Darstellungen in seiner Lebensgeschichte sowie unter Hinzuziehung ergänzender Quellen. Von Bedeutung ist dabei der Zeitraum von Maimons ersten Begegnungen mit Spinozas Denken auf seinem frühen Bildungsweg um 1765 in Polen-Litauen bis zum Höhepunkt seiner Aktivität im Berliner philosophischen Diskurs, insbesondere im Umfeld der Haskala, um 1793. 46 Diese Zeitachse wird hier als Referenzlinie notwendig sein, um Maimons verschiedenartige, für seine Philosophie insgesamt systematisch bedeutsamen Bezüge auf Spinozas Denken akkurat einordnen und sinnvoll in Relation zueinander setzen zu können. In diesem Sinne geht es nicht um bloße Nacherzählung, sondern bereits um eine vorsichtige, provisorische Bewertung von Maimons philosophischer Biographie hinsichtlich seiner Haltung zu Spinoza. Darauf aufbauend wird in 2.2, dem systematisch orientierten Hauptabschnitt dieses Kapitels, die Verknüpfung der hier zentralen Topoi vorgenommen: Maimons Akosmismusvorwurf an die Philosophie Spinozas soll mit dem Diktum des ›Zurückschauderns vor dem Nichts‹, das im Kontext der Auseinandersetzung mit dieser Philosophie formuliert wird, in Verbindung gebracht werden. Diese Verknüpfung ist dabei zudem weiterführend zu reflektieren. Außerdem werden verschiedene Forschungspositionen zu Maimons Akosmismusbegriff vorgestellt und evaluierend in Diskussion zueinander gesetzt. In den beiden darauffolgenden Abschnitten geht es wiederum um zwei spezielle historische Teilaspekte, die an dieser Stelle vertieft werden müssen: Abschnitt 2.3 setzt sich mit Maimons Position zum zentralen Spinoza-Streit um 1785 auseinander. Dieser Streit wurde in erster Linie zwischen Jacobi und Mendelssohn geführt, während Maimon zu der Zeit noch weitgehend eine ›Außenseiterposition‹ im Diskurs einnahm. Durch diese partielle Abgrenzung soll die Erfassung von Maimons eigener Spinoza-Rezeption zusätzlich geschärft werden. In 2.4 wird hingegen Kants gegen Maimon gerichteter Spinozismusvorwurf thematisiert, der sich unmittelbar auf das Manuskript des Versuchs 46
Vgl. hierzu vertiefend Wulf, Spinoza in der jüdischen Aufklärung (2012), v. a. 321–390.
Maimons Spinoza-Rezeption: Der Akosmismusvorwurf
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über die Transzendentalphilosophie bezieht. Dieser Vorwurf, der für das Verständnis der philosophischen Position Maimons ›zwischen Spinoza und Kant‹ von maßgeblicher Relevanz ist, muss hinsichtlich seiner Triftigkeit durchaus problematisiert werden. Zudem leitet dieser Aspekt über zu Kap. 3: In jenem systematischen Hauptteil der vorliegenden Schrift wird es um die detaillierte Erörterung der Entwicklung von Maimons Verstandeskonzeption gehen, v. a. vor dem Hintergrund seiner Auseinandersetzung mit Kants kritischer Philosophie in ihrem Entfaltungsprozess.
2.1 Zeitachse: Maimons Weg in die Berliner Haskala 2.1.1 Zeit in Polen-Litauen und erster Versuch der Einreise nach Berlin
Maimons Bekanntschaft mit der Philosophie Spinozas beginnt bereits während seiner Jugendzeit in Polen, noch deutlich vor seiner Emigration in Richtung Berlin. 47 Diese erstmalige Begegnung mit Spinozas »tiefe[m] Denken« (I, 469) steht im Zusammenhang der Auseinandersetzung Maimons mit den »kabbalistischen Schriften« (ebd.), die seinen frühen geistigen Werdegang mitprägten (vgl. I, 126–143). 48 Maimon schildert die ursprünglich rational-philosophische Motivation, durch die er sich einen Zugang zu den Schriftstücken der Kabbala schaffen möchte: Unbefriedigt von der litterarischen Kenntniß dieser Wissenschaft suchte ich in ihren Geist einzudringen; und da ich bemerkte, daß diese ganze Wissenschaft, wenn sie diesen Nahmen verdienen sollte, nichts anders als die Geheimnisse der Natur in Fabeln und Allegorien eingehüllet, enthalten könne: so bemühte ich mich diese Geheimnisse ausfindig zu machen, und dadurch meine bloße litterarische Erkenntnis zu einer Vernunfterkenntniß zu erheben. (I, 138; Hervorhebung: D. E.) Carlos Fraenkel legt plausibel dar, dass Maimon, anders als bisher in der Forschung zumeist angenommen, zu dieser Zeit vermutlich noch keinen unmittelbaren Zugang zu den Primärtexten Spinozas hatte; vgl. Fraenkel, Maimonides and Spinoza (2009), 233 (Anm. 50). Vielmehr kann davon ausgegangen werden, dass er indirekten Kontakt mit Spinozas Denken herstellte, und zwar vermittelt über Schriftstücke der Kabbala. Dieser diffuse Kontakt kann nicht vollends klar rekonstruiert werden. Erst ab 1780 in Berlin (s. u.) hatte Maimon definitiv Spinozas Texte vorliegen. Dennoch ist, unter Berücksichtigung der retrospektiven Darstellung in der Lebensgeschichte, der Beginn von Maimons allgemein gefasstem Bezug zu Spinoza hier anzusetzen. 48 Zu Maimons grundsätzlichem Verständnis der Kabbala vgl. I, 126–129, hier 126: »Kabbala [. . .] im weitern Sinn heißt Ueberlieferung und begreift nicht nur die geheimen Wissenschaften die nicht öffentlich gelehrt werden dürfen, sondern auch die Methode aus den in der heiligen Schrift vorkommenden Gesetzen neue Gesetze herzuleiten, wie auch einige Fundamentalgesetze«. 47
Zeitachse: Maimons Weg in die Berliner Haskala
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Dieser vernunftbasierte Zugangsversuch führt rasch zu Verwerfungen mit den Kabbalisten aus Maimons Umfeld. Diese erklären, ihrer religiösen Haltung gemäß, Maimons rationale Positionierung für inakzeptabel: Die Kabbalisten behaupten nehmlich, daß die Kabbala keine menschliche, sondern eine göttliche Wissenschaft sey, und daß es folglich dieselbe herabwürdigen hieße, wenn man ihre Geheimnisse, der Natur und Vernunft gemäß, erklären wollte. Je vernünftiger also meine Erklärungen herauskamen, desto mehr wurden sie gegen mich aufgebracht (I, 143).
Maimons Rezeption der Kabbala soll in dieser Untersuchung nicht weiterführend vertieft werden. 49 Von Interesse ist jene Phase seines Werdegangs hier in erster Linie, da seine Bekanntschaft mit dem Denken Spinozas zu dieser Zeit beginnt. 50 Achim Engster merkt hierzu an, dass diverse Rekonstruktionen notwendig seien, um von konkreten Zeiträumen sprechen zu können. Ergänzend verweist er auf den Biographen Sabattia Joseph Wolff, 51 laut dem Maimon »selten [wußte], in welchem Monate er lebte, oder was für ein Datum sei; ja oft nicht, was für ein Tag«. 52 Aufgrund verschiedener Hinweise gelingt es Engstler auf plausible Weise, die Phase von Maimons Kabbalastudium auf 1765 Vgl. hierzu Atlas, Maimon and Spinoza (1959), 257–259; Schulte, Kabbala (1999); Engstler, Zwischen Kabbala und Kant (1994), hier u. a. 167 (Anm. 28): »Seine Rekonstruktion der Kabbala hat Maimon auch schriftlich fixiert [. . .]. Dies Manuskript war bis 1943, als es mit Maimons übrigem handschriftlichen Nachlaß verbrannte [. . .], erhalten«. Fälschlicherweise setzt Engstler dieses sehr frühe Manuskript aus dem Zeitraum von 1765 bis 1770 (vgl. I, 143: »Ein ganzes Werk, das ich darüber schrieb, brachte ich noch mit nach Berlin«) hier jedoch mit einem deutlich späteren Manuskript Maimons von 1778 aus Posen gleich, das sich z. T. ebenfalls mit kabbalistischer Literatur auseinandersetzt. Engstler verweist dabei auf Abraham Geiger und Friedrich Kuntze; vgl. Geiger, Entwickelungsgeschichte (1866), 192 f.; Kuntze, Die Philosophie Salomon Maimons (1912), 17 f. – Zur Differenz dieser beiden Manuskripte vgl. Ehrensperger, Einleitung (2004), XI f. Anders als das frühe Manuskript ist das spätere erhalten. Zu diesem Manuskript sowie allgemein zum Schicksal von Maimons handschriftlichem Nachlass s. u., Anm. 134. 50 Maimon äußert in diesem Zusammenhang, die Kabbala sei »[i]n der That [. . .] nichts anders als erweiterter Spinozismus« (I, 141). Zu dieser Einordnung der Kabbala, die an dieser Stelle nicht von zentraler systematischer Relevanz für die hier im Vordergrund stehende Spinoza-Lesart Maimons ist, vgl. Melamed, Rise of Spinozism (2004), 81–83; Fraenkel, Maimonides and Spinoza (2009), 235–237. 51 Vgl. Engstler, Zwischen Kabbala und Kant (1994), 166 (Anm. 24). 52 Wolff, Maimoniana (1813), 195. Weil Maimon in seiner Lebensgeschichte daher ebenfalls keinerlei Jahreszahlen nennt, stützt sich die vorliegende Darstellung auf eine vergleichende Zusammenschau aktueller Rekonstruktionen, u. a. auf Ehrenspergers Forschungsbeiträge sowie auf Abraham Sochers Monographie Radical Enlightenment (2006). Socher ist mit Yitzhak Melamed Herausgeber der aktuellen englischen Übersetzung der Lebensgeschichte; vgl. Maimon, Autobiography (1792/93/2018); ergänzend auch ebd. als Nachwort: Freudenthal, Maimon’s Philosophical Itinerary (2018). 49
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bis 1770 zu datieren. 53 Damit fällt also auch seine erstmalige, wenn auch vage und schwer erfassbare Spinoza-Rezeption in die Zeit seiner frühen bis mittleren Jugend. Es folgen problembelastete Jahre in Maimons osteuropäischer Heimat, in denen er u. a. ein »jämmerlich[es]« (I, 200) Dasein als Hofmeister fristet (vgl. I, 198–206). Sein späteres Schicksal wird bereits in Aussicht gestellt: »Branntwein mußte hier mein einziges Labsal seyn, das mir allen meinen Kummer vergessen machte.« (I, 200) Etwa zu dieser Zeit schließt Maimon Bekanntschaft mit der religiösen Bewegung der ›neuen Chassidim‹, von der er sich jedoch recht schnell abwendet (vgl. I, 207–235). 54 Das problematische, spannungsreiche Verhältnis zu seinem stark religiös geprägten Umfeld, seine prekäre wirtschaftliche Situation und vor allem sein bisher unbefriedigt gebliebener Drang zur Wissenschaft motivieren Maimon schließlich dazu, ab ca. 1776 55 nach Westen in Richtung des deutschsprachigen Raumes zu emigrieren: Da meine äußern Umstände immer schlechter wurden, weil ich mich nicht mehr zu meinen gewöhnlichen Geschäften schicken wollte, und mich daher überall außer meiner Sphäre befand; ich auch von der andern Seite meine Lieblingsneigung zum Studium der Wissenschaften in meinem Wohnorte nicht genug befriedigen konnte, so beschloß ich mich nach Deutschland zu begeben, und da Medicin, und bey dieser Gelegenheit auch andere Wissenschaften zu studiren. (I, 259)
Über Königsberg und Stettin – teils mit dem Schiff, teils zu Fuß (vgl. I, 259– 268) – gelangt Maimon, vermutlich 1777, 56 schließlich nach Berlin. Er trägt dem Ältestenrat der dortigen jüdischen Gemeinde seine Bitte vor, in Berlin bleiben zu dürfen, um Medizin zu studieren, – und wird prompt abgewiesen, da er einem der Berliner Rabbiner zuvor erzählt hatte, er wolle Moses Maimonides' Buch More Nevukhim 57 (מורה נבוכים, arab. ca. 1190 als Dala¯ lat al-H . a¯ ʾir¯n, Vgl. Engstler, Zwischen Kabbala und Kant (1994), 166. Zu Maimons Bezug zum Chassidismus, auch im Kontext seiner späteren Spinoza-Rezeption, vgl. Melamed, Spinozism, Acosmism, and Hassidism (2018). Hier geht Melamed zudem kurz auf den Zusammenhang von Chassidismus und Kabbala ein; vgl. ebd., 83. Weiteres hierzu folgt in 2.2.2. 55 In der Neuen Deutschen Biographie ist »um 1777« angegeben (Harel, Maimon (1987), 709). Ehrensperger nennt exakter 1776 und weist dies als plausibel nach; vgl. ders., Salomon Maimon. Leben / Chronologie (2013). 56 Vgl. Batscha, Nachwort (1995), 331; Ehrensperger, Salomon Maimon. Leben / Chronologie (2013). 57 Maimonides, Führer der Unschlüssigen (1190/1972). Maimons wichtige Verbindung zu Maimonides’ Denken, die auch der Grund seiner selbstgewählten Namensgebung gewesen ist, kann hier nicht vertiefend besprochen werden. An dieser Stelle sei jedoch angemerkt, dass der zweite Teil der Lebensgeschichte zu mehr als einer Hälfte aus einem Kommentar zu Maimonides’ Führer der Unschlüssigen besteht (I, 305–454); vgl. weiterführend Anm. 40. 53
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»Führer der Unschlüssigen«) kommentieren und neu herausgeben. Dies erweckte den Verdacht, der gerade eingetroffene Immigrant habe die Absicht, »hauptsächlich [sich] in Wissenschaften überhaupt zu vertiefen, und [seine] Erkenntniß zu erweitern« (I, 270). Dies musste der orthodoxen Gemeinde »als etwas [. . .] der Religion und den guten Sitten Gefährliches« (I, 271) erscheinen. Abermals also gerät Maimon aufgrund mangelnder Anpassung an religiös fundierte Normvorstellungen und wegen seines Interesses am »Licht der Vernunft« (ebd.) in Konflikt mit den rabbinischen Autoritäten seines Umfeldes. Innerhalb kürzester Zeit wird er ausgewiesen, findet sich voller Verzweiflung vor den Toren der Stadt wieder und begibt sich erneut auf Wanderschaft in eine ungewisse Zukunft. Über eine längere Zeit hinweg irrt Maimon als Bettler umher, trifft im Herbst 1777 58 in Posen ein und wird erneut Hofmeister (vgl. I, 274–289). Vom Aberglauben der dortigen Bevölkerung zu Spott und Häme provoziert, wird er zunächst zum Propheten verklärt und schließlich als Ketzer verdammt (vgl. I, 289–292). Sein Ziel bleibt Aufklärung, daher tritt er den Rückweg an: Dieser Fanatismus machte bey mir das Verlangen rege, nach Berlin zu reisen und den Rest des mir anklebenden Aberglaubens durch Aufklärung zu vernichten [. . .]; nahm also von meinem Herrn und seiner ganzen Familie Abschied, setzte mich auf die Frankfurter Post, und reisete nach Berlin. (I, 292)
Damit endet der erste Teil von Maimons Autobiographie. Seine kritische Stellungnahme – oft bewusst provozierend – zu religiöser Orthodoxie und Tradition führte in dieser Phase zu zahlreichen Zerwürfnissen mit seinen Mitmenschen. Diese Konflikte ließen ihm den Weg in den Diskurs der Berliner Aufklärung erneut als einzig gangbare Option erscheinen.
2.1.2 Frühe Berliner Zeit, weitere Reisen durch West- und Mitteleuropa sowie Rückkehr nach Berlin
Im zweiten Versuch gelingt es Maimon 1780, 59 nach Berlin einzureisen. Per Zufall erhält er ein Exemplar von Christian Wolffs Vernünfftigen Gedancken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen 60 – er rettet das Buch vor einem Butterhändler, der gerade dabei ist, es »zu seinem Gebrauche zu anatomiren« (I, 460). Maimon arbeitet sich in das Werk ein und nimmt Anstoß an Wolffs 58 59 60
Vgl. Ehrensperger, Salomon Maimon. Leben / Chronologie (2013). Vgl. Engstler, Zwischen Kabbala und Kant (1994), 166 (Anm. 24). Wolff, Vernünfftige Gedancken (1720); vgl. Ehrensperger, Einleitung (2004), XII.
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rationaler Theologie, verfasst eine Kritik derselben in hebräischer Sprache und sendet sie an Moses Mendelssohn (vgl. I, 460–462). Dieser antwortet und rät Maimon, sich weiter mit Wolffs Philosophie zu beschäftigen. Maimon kommt der Aufforderung nach, woraus »eine metaphysische Disputation in hebräischer Sprache« resultiert, in der er »die Gründe der so wohl geoffenbarten als natürlichen Theologie in Zweifel« zieht (I, 462). Auch diese Schrift erreicht Mendelssohn, der Maimon daraufhin zu sich einlädt. In der Folge wird Mendelssohn primäre Bezugsperson für Maimons philosophische Ambitionen und sorgt sich auch um dessen Unterhalt. Über Mendelssohn vermittelt, baut er Kontakt zu den »vornehmsten, aufgeklärtesten und reichsten Juden in Berlin« auf: »Ihr Tisch stand mir frei, und ihre Bibliotheken waren zu meinem Gebrauch offen.« (I, 464) Auf diese Weise kann er sich innerhalb kurzer Zeit in der jüdischen Berliner Aufklärung, der Haskala, 61 etablieren, macht sich jedoch auch hier bereits durch den Vortrag »verschriene[r] Systeme« (ebd.) negativ bemerkbar. So konsolidiert sich, sehr zum Missfallen Mendelssohns, Maimons zustimmende Haltung zur Philosophie Spinozas, mit der er sich in diesem Zeitraum wieder eingehender beschäftigt. Hier, in Berlin um 1780, lässt sich nun der Bogen zu Maimons Auseinandersetzung mit der Kabbala zwischen 1765 und 1770 schlagen. In jenem Zusammenhang stieß er, wie eingangs geschildert, bereits auf Spinozas Philosophie. Nun befasst sich Maimon ganz explizit mit Spinozas Schriften: 62 Ich las den Spinoza; das tiefe Denken dieses Philosophen und seine Liebe zur Wahrheit gefiel mir ungemein, und da ich schon in Polen durch Veranlassung der kabbalistischen Schriften auf das System desselben gerathen war, so fieng ich darüber aufs neue nachzudenken an, und wurde von dessen Wahrheit so überzeugt, daß alle Bemühungen Mendelssohns mich davon abzubringen fruchtlos waren. (I, 469 f.)
Maimons »Freunde und Gönner«, die »Wolffianer«, beharren unterdessen auf »ihr[em] System«. Diese Haltung kann sich Maimon wiederum nur als »politische Kniffe und Heuchelei« 63 erklären (I, 470). Er wirft ebendiesen Freunden sogar vor, sie hätten »größtenteils nie über Philosophie nachgedacht [. . .], sondern [hielten] die Resultate der zur Zeit herrschenden Systeme blindlings für ausgemachte Wahrheiten« (I, 471 f.). Deshalb könnten sie Maimons Positionen lediglich mit unbegründeter Vorverurteilung und Unverständnis begegnen. Abermals zeichnen sich tiefgreifende Konflikte ab. Mendelssohn bleibt Vgl. weiterführend Feiner, Solomon Maimon and the Haskalah (2000). Vgl. Anm. 47. 63 Zu Maimons Vorwurf der Heuchelei gegen Mendelssohn vgl. Freudenthal, Radikale und Kompromißler (2002). 61
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zunächst jedoch der Ansicht, Maimon solle seinen Gedanken weiterhin freien Lauf lassen – auch wenn er »jetzt nicht auf de[m] rechten Weg« sei (I, 471). Durchaus kommt es wenig später, etwa 1782, 64 zum Bruch mit Mendelssohn. Dessen nun harscher werdende Vorwürfe an Maimon sind erstens seine ziellose Lebensführung, zweitens seine in der Haskala geradezu skandalöse Verbreitung »gefährliche[r] philosophische[r] Systeme« (I, 497) sowie »schädliche[r] Meinungen« (I, 500), drittens seine Zuwendung zu »sinnlichen Vergnügungen« (ebd.). 65 Den ersten Vorwurf begegnet Maimon mit dem offenen Geständnis, dass er »bloß zum ruhigen spekulativen Leben geneigt sey« (I, 500), dieses Leben also ganz der theoria widmen wolle; nur eben nicht unter Ausschluss sinnlicher Vergnügen. Zum zweiten Vorwurf, der insbesondere auf die Befürwortung der Philosophie Spinozas abzielt, wendet er ein, die von ihm vertretenen philosophischen Positionen seien entweder wahr und damit nicht schädlich, oder unwahr und damit widerlegbar. Damit bestehe eigentlich kein Problem. Jedoch: »Nicht die Schädlichkeit dieser Meinungen, sondern die Unfähigkeit dieser Herren, sie zu fassen, [. . .] ist es, was sie gegen mich in Harnisch jagt.« (I, 501) Den dritten Vorwurf schließlich beantwortet Maimon mit der offensiven Stellungnahme: »so sage ich Ihnen Herr Mendelssohn geradezu: Wir sind alle Epikuräer.« (Ebd.) 66 Desillusioniert und in offensichtlicher Enttäuschung seines Wunsches nach umfassender Aufklärung verlässt er Berlin. Socher vermutet 1783; vgl. ders., Radical Enlightenment (2006), 34. Da Maimon sich jedoch, wie im Folgenden nachgezeichnet wird, im Juni 1783 an einem Hamburger Gymnasium einschreibt (vgl. I, 527; hierzu Ehrensperger, Einleitung (2004), IX f.; s. u., Anm. 70) und zuvor mindestens neun Monate (vgl. I, 509) in Holland verbracht hatte, ist 1782 wahrscheinlicher. 65 Maimon berichtet, er sei in eine Gesellschaft von »Gentelmanns« (I, 497) geraten, mit denen er die »Annehmlichkeiten des geselligen Lebens genießen konnte«: »Meine neuen Freunde führten mich in lustige Gesellschaften, in Wirthshäusern, auf Spaziergängen, und zuletzt auch in – und dieses alles auf ihre eigne Kosten.« (I, 496) Diese hier nur noch angedeuteten Ausschweifungen müssen im Umfeld der Haskala auf enorme Abneigung gestoßen sein. 66 ›Epikureer‹ kann sich hier sowohl auf die Neigung zu »sinnlichen Vergnügungen« (I, 500; s. o.) beziehen als auch ›Häretiker‹ meinen. ›Apiqores‹, das ursprünglich talmudische und im Jiddischen verwendete Wort für Häretiker, leitet sich ab von der hebräischen Adaption des Namens Epikurs. Zu Maimons Position als ›Apiqores‹ vgl. weiterführend Socher, Radical Enlightenment (2006), v. a. 7 f. – Zu diesem Topos ein weiteres anekdotisch-humoristisches Detail aus Maimons Lebensgeschichte, kurze Zeit nach dem hier beschriebenen Konflikt mit Mendelssohn: Maimons Abweisung der Avancen einer »Dame [. . .], die schon ziemlich lange Wittwe war« (I, 513), wird von dieser in einem Brief kommentiert: »Mein Herr! Ich habe mich in Ihnen sehr geirrt. Ich hielt Sie für einen Mann von edler Denkungsart und hohen Empfindungen. Aber wie ich nun sehe, sind Sie ein ächter Epikuräer. Die suchen bloß das Vergnügen. Ein Frauenzimmer kann Ihnen bloß wegen seiner Schönheit gefallen. [. . .]« (I, 515). Maimons Reaktion: »Madam! Daß Sie sich geirrt haben, lehrt der Erfolg. Sie sagen, ich sey ein ächter Epikuräer, Sie thun mir hiermit viel Ehre an.« (I, 516) Im selben Kapitel berichtet Maimon darüber, wie sein Umfeld die Geduld mit ihm verliert und er als »verdammte[r] Ketzer« (I, 509) beschimpft wird. 64
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Mendelssohn hatte ihm, trotz der Konflikte noch immer um sein Wohlergehen bemüht, zuvor ein »sehr vortheilhaftes Zeugniß« (ebd.) ausgestellt. Im Folgenden reist Maimon in Richtung Hamburg (vgl. I, 502). In der darauffolgenden Zeit, um 1782/83, streift er erneut ziellos umher: Nach einem kurzen Aufenthalt in Hamburg reist er per Schiff nach Holland (I, 503). Dass der zu diesem Zeitpunkt noch überzeugte Spinozist Maimon, der wegen ebendieser philosophischen Position in der Berliner Haskala nicht Fuß fassen konnte, gerade Amsterdam und danach Den Haag (»Grafenhagen« bzw. »Grafenhaag«; I, 505; 508) als Ziele wählt, ist mit Sicherheit kein Zufall. Zumindest nennt Maimon in seinen Schilderungen keinen konkreten anderslautenden Grund hierfür. Die gutgläubige Hoffnung auf größeres philosophisches Verständnis an den zentralen Schaffens- und Wirkungsorten Spinozas, in dessen Heimatstaat Holland, mag ein Motivationsgrund für diese Reise Maimons gewesen sein. Auch in Holland gerät er jedoch in Konflikt mit Mitgliedern der ansässigen jüdischen Gemeinden und wird schließlich, biographisch quasi parallel zu Spinoza, 67 als »verdammte[r] Ketzer« (I, 509; vgl. Anm. 66) von dort verstoßen. 68 Nach einem gescheiterten Selbsttötungsversuch, von Maimon selbst als »tragikomische[] Szene« (I, 512) verspottet, gelangt er über Hannover zurück nach Hamburg. Dort sucht er einen Pastor auf, mit der Bitte, zum Christentum konvertieren zu dürfen, und begründet dies mit dem Wunsch nach »Erlangung der Vollkommenheit« (I, 521). Der Pastor weist das Gesuch ab: Past[or]. Sie sind zu sehr Philosoph, um ein Christ werden zu können. Die Vernunft hat bei Ihnen die Oberhand, und der Glaube muß sich nach derselben richten. [. . .] Beten Sie also zu Gott, daß er Sie mit seiner Gnade erleuchten und Ihnen den Geist des wahren Christenthums eingeben möge; und alsdann kommen Sie wieder. / Ich. Wenn dem so ist, so muß ich gestehn, Herr Pastor, daß ich zum Christenthum nicht qualifizirt bin. Das Licht, das ich empfangen werde, werde ich immer mit dem Lichte der Vernunft beleuchten. [. . .] Meine Religion befiehlt mir, nichts zu glauben, sondern die Wahrheit zu denken und das Gute auszuüben. (I, 524 f.)
Religion als reine Vernunftreligion abseits jeglichen Glaubens sowie das ›Licht der Vernunft‹ als primäre Orientierung tauchen hier prominent als Motive in Maimons Lebensweg auf. 69 Nach dem gescheiterten Konvertierungsversuch Zur Thematik der Exkommunikation im Kontext Spinozas und Maimons unter Berücksichtigung der Position Mendelssohns vgl. Melamed, Mendelssohn, Maimon, and Spinoza (2015). 68 Sabattia Wolff berichtet, Maimon wurde in Amsterdam »so verketzert, daß ihn der Pöbel der dortigen Juden auf öffentlicher Straße mit Steinen warf« (Wolff, Maimoniana (1813), 178). 69 Zum Motiv der absoluten Priorität der Vernunft vor dem Glauben vgl. I, 415: In dieser Passage der Lebensgeschichte stellt Maimon, auf Maimonides bezugnehmend, in Aussicht, »wie man, durch 67
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schreibt Maimon sich im Sommer 1783 70 an einem Gymnasium in Altona ein, vorrangig um seine Kenntnisse der deutschen Sprache zu verbessern (vgl. I, 526–535). Vermutlich erst in dieser Phase nimmt er auch den Namen des Rabbi Moshe ben Maymon, also Maimonides', als selbstgewählte Alternative zu seinem Patronym ben Yehoshua an. 71 Zumindest immatrikuliert er sich unter dem hier erstmals auftauchenden Namen Salomon Maimon an besagtem Gymnasium, dem Christianeum Hamburg. 72 1785 73 reist er erneut, nun zum dritten Mal, nach Berlin. Dort besucht er Mendelssohn sowie weitere Bekannte aus seinem vorherigen Berlin-Aufenthalt. Maimon soll, so der Vorschlag der Vertreter der Haskala, wissenschaftliche Lehrbücher auf Hebräisch verfassen, um zur Aufklärung der in Polen lebenden Juden beizutragen (vgl. I, 536). Zwecks dieser Arbeiten hält er sich zeitweise in Dessau auf. Aufgrund wirtschaftlicher Probleme scheitert das Publikationsprojekt relativ schnell; Maimon hatte zunächst ein mathematisches Lehrbuch auf Grundlage Wolff 'scher Schriften verfasst, das letztlich nicht zum Druck gebracht werden konnte (vgl. I, 540 f.). In der Folge kommt es abermals zu Zerwürfnissen und zu Maimons erneuter Abreise aus Berlin. An der nächsten Station seiner Vita, in Breslau, lernt Maimon 1786 74 den Dichter Ephraim Moses Kuh kennen. Von diesem erfährt er, dass diffamierende Briefe aus Berlin in Breslau eingetroffen seien: Diese warnen davor, dass »Salomon Maimon [. . .] schädliche Systeme zu verbreiten« versuche (I, 544). Auch hier ist wahrscheinlich, dass damit v. a. die Philosophie Spinozas gemeint ist, durch deren Befürwortung Maimon bereits in der Zeit zwischen 1780 und 1782 enorme Konflikte innerhalb der Berliner Haskala verursachte und dort einen nachhaltig negativen Eindruck von sich vermittelte. Dieses Konfliktpotenzial wurde durch entsprechenden Briefverkehr nun bis nach Breslau weitergetraeine vernünftige Exegese, den Glauben mit der Vernunft aussöhnen und in eine vollkommene Harmonie dringen kann«. Eine Stelle aus Maimons Nachlass verdeutlicht, wie diese Harmonie zu realisieren sei: »Die sogenannte Harmonie zwischen Glauben und (theoretischer) Vernunft ist seiner [sc. des Verfassers; D. E.] Meinung nach, nichts anders, als die gänzliche Aufhebung des erstern durch die letztere.« (VII, 640) Die hier zitierte, nicht mehr erhaltene Nachlassschrift wurde 1804 von Friedrich L. Bouterwek im Neuen Museum der Philosophie und Litteratur herausgegeben; vgl. Maimon, Geschichte seiner philosophischen Autorschaft (1804) (= VII, 625–648). Unmittelbar auf die zitierte Passage bezugnehmend merkt Bouterwek ergänzend an, Maimon spreche hier lediglich vom »Offenbarungsglauben« (VII, 640), wie aus dem Kontext ersichtlich sei; vgl. hierzu auch Ehrensperger, Einleitung (2004), XI; Rosenstock, Spinoza Quarrel (2014), 288 f.; Elon, Maimon und Bouterwek (2019). 70 Vgl. Ehrensperger, Einleitung (2004), IX f. 71 Vgl. Socher, Radical Enlightenment (2006), 21; 36. 72 Vgl. Ehrensperger, Einleitung (2004), X. 73 Vgl. Socher, Radical Enlightenment (2006), 38; Ehrensperger, Einleitung (2004), IX f. 74 Vgl. Socher, Radical Enlightenment (2006), 40.
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gen. Es gelingt Maimon jedoch, Kontakt zu Christian Garve aufzubauen, dem er einige philosophische Aphorismen zusendet und der ihm daraufhin ein positives Zeugnis ausstellt (vgl. I, 545). Dies verbessert Maimons Position, insbesondere sein Verhältnis zu christlichen Gelehrten in Breslau, deutlich. Zudem übersetzt er hier Mendelssohns Morgenstunden oder Vorlesungen über das Daseyn Gottes (MGS 3,2, 1–175) von 1785 sowie Schriften Isaac Newtons ins Hebräische (vgl. I, 549). Nach erneuten wirtschaftlichen Erschwernissen (vgl. I, 550–555) entscheidet sich Maimon, vermutlich 1787, 75 zum vierten Mal nach Berlin zu reisen. Mendelssohn ist inzwischen verstorben. Maimons Bezugspersonen aus dem Umfeld der Haskala werden nun u. a. der ihm bereits bekannte Philosoph Lazarus Bendavid 76 sowie der Buchhändler Saul Ascher. Von letzterem erhält Maimon, wahrscheinlich ebenfalls 1787, 77 ein Exemplar von Kants Kritik der reinen Vernunft (vgl. I, 557). Ascher selbst berichtet in seiner Schrift Die Germanomanie von 1815 über den Kontakt zu Maimon: Ich habe Maimon persönlich und genau gekannt. – Aus meinen Händen erhielt er zuerst ein Exemplar von Kants Kritik der reinen Vernunft, das er mir erst nach Jahren zurückgab und sich noch in meinem Büchervorrath findet. Ich war es, der ihn zum Schriftsteller ermunterte, ihm oft mit Rath aushelfen mußte. 78
Maimon beginnt, das Werk intensiv durchzuarbeiten und zu kommentieren. Die Zeit von 1787 bis 1789 steht für Maimon ganz im Zeichen dieser Arbeit an der KrV. Auf dieser Grundlage entsteht das Manuskript zum Versuch über die Transzendentalphilosophie. Dieses Manuskript wird 1789 an Kant gesendet, und zwar vermittelt über den Arzt und Philosophen Marcus Herz, zu dem Maimon bereits während seines Berlin-Aufenthalts um 1781 Kontakt hatte. Kant bekundet daraufhin Herz gegenüber seine Wertschätzung Maimons. Diese Thematik wird, als Überleitung zur systematischen Untersuchung in Kap. 3, in Abschnitt 2.4 aufgegriffen und braucht an dieser Stelle nicht weiter vertieft zu werden. Mit der Veröffentlichung des Versuchs Ende 1789 79 konsolidiert sich Maimons Position im Berliner philosophischen Diskurs. Teilweise noch unmittelVgl. Ehrensperger, Einleitung (2004), XIV. Vgl. auch Bendavids Darstellung von Maimons Leben und Wirken, die unmittelbar nach dessen Tod erschien: Bendavid, Ueber Salomon Maimon (1801). 77 Vgl. Ehrensperger, Einleitung (2004), XIV: »Maimons Kant-Studien beginnen also erst im Jahre 1787.« Dass Maimon dabei mit beiden Auflagen der KrV gearbeitet hat, wird in Kap. 3 eingehender besprochen. 78 Ascher, Germanomanie (1815), 55; vgl. Ehrensperger, Einleitung (2004), XIV. 79 Auf dem Titelblatt des Versuchs ist 1790 als Erscheinungsjahr angegeben. Ein Brief von Johann G. Kiesewetter an Kant vom 15. November 1789 belegt jedoch, dass das Buch bereits Ende 75 76
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bar zuvor sowie in den Folgejahren erscheint eine Vielzahl an Aufsatzpublikationen über verschiedene philosophische und psychologische Themenfelder in diversen Journalen. 80 1791 81 publiziert Maimon einen hebräischen Kommentar zu der von Isaac Abraham Euchel herausgegebenen Neuauflage von Maimonides' Führer der Unschlüssigen 82 unter dem Titel Givʿath hamMore 83 (גבעת המורה, »Anhöhe des Lehrers«). Im selben Jahr erscheint außerdem das Philosophische Wörterbuch (III, 1–246; vgl. I, 574 f.). 1792 und 1793 beteiligt sich Maimon an der Herausgabe der Bände 9 und 10 des Magazins zur Erfahrungsseelenkunde (Alternativtitel »Γνωθι σαυτον«), begründet von Karl Philipp Moritz. Dieser gibt in denselben Jahren dann auch die beiden Bände von Maimons Lebensgeschichte heraus, auf die sich die in diesem Abschnitt vorgelegte partielle Darstellung von Maimons Lebenslauf gestützt hat. 1793 erscheint zudem der in der Einleitung bereits zitierte Band Streifereien im Gebiete der Philosophie als eines der programmatisch zentralen Werke Maimons. Die zum Zweck der noch auszuführenden Untersuchungen notwendige biographische Kurzdarstellung endet hier. Maimons nach wie vor bedeutsames philosophisches Schaffen von 1794 bis zu seinem frühen Tod 84 1800 in 1789 vorgelegen haben muss und somit höchstwahrscheinlich zum Jahreswechsel erschienen ist; vgl. Br, AA XI, 115: »Maimon habe ich bei ihm [sc. Marcus Herz; D. E.] kennen gelernt. Sein äußeres verspricht nicht viel, um so mehr, da er wenig und schlecht spricht. Ich habe seine Transcendentalphilosophie zu lesen angefangen«. Vgl. Engstler, Untersuchungen (1990), 27 (Anm. 2); Ehrensperger, Einleitung (2004), XV. 80 U. a. »Probe Rabbinischer Philosophie« (1789) (= I, 589–597); »Baco und Kant. Schreiben des H. S. Maimon an den Herausgeber dieses Journals« (1790) (= II, 499–522); »Ueber die Weltseele (Entelechia universi.)« (1790) (= WS); »Ueber den Plan des Magazins zur Erfahrungsseelenkunde« (1791) (= III, 247–253); »Ueber die Theodicee« (1791) (= III, 309–331). 81 Vgl. Socher, Radical Enlightenment (2006), 45. 82 Maimonides, More Nebuchim (1190/1791). 83 Vgl. Anm. 27. Der Kommentar beschränkt sich in der gedruckten Fassung von 1791 auf den ersten der drei Teile von Maimonides’ Schrift. Maimons Kommentare zu den weiteren Teilen haben im Manuskript allerdings vorgelegen; vgl. I, 574; Fraenkel, Maimonides and Spinoza (2009), 219 (Anm. 24); hierzu auch die frühe und kompakte Monographie Rosenbaum, Die Philosophie Salomon Maimons in seinem hebräischen Kommentar (1928). Von diesem Kommentar zu unterscheiden ist ein früheres, ebenfalls nicht mehr vorhandenes Manuskript Maimons zum Führer der Unschlüssigen, das deutlich vor seiner Berliner Zeit entstanden ist; vgl. Ehrensperger, Einleitung (2004), XI f.; Melamed, Rise of Spinozism (2004), 69 (Anm. 7): »This early manuscript was carried by Maimon throughout his wanderings. Following Maimon’s death the manuscript disappeared. I do believe, however, that some pages of this manuscript may have been attached to Hesheq Shelomo (another unpublished manuscript of Maimon which was written about a year later, when Maimon was staying in Posen).« Zu letztgenanntem Manuskript s. u., Anm. 134. 84 Zu Maimons Tod vgl. die Schilderung des schlesischen Pastors Samuel G. Tscheggey, Ueber Salomon Maimon und seine letzten Stunden (1801); hierzu weiterführend Melamed / Socher, Maimon’s Autobiography (2018), XXXIII f.
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Maimons Spinoza-Rezeption: Der Akosmismusvorwurf
Schlesien 85 ist für die vorliegende Untersuchung nicht von primärem Interesse: Wie in der Einleitung bereits erwähnt, kommt es in dieser Zeit hinsichtlich des hier fokussierten Aspekts der Spinoza-Rezeption nicht mehr zu signifikanten Akzentverschiebungen. Zum bewegten Lebenslauf Maimons merkt Sabattia Wolff bereits 1813 an, es ließen sich gewisse Parallelen zwischen Maimon und Spinoza erkennen. 86 Mehr als zweihundert Jahre später betont dies auch Yitzhak Melamed. 87 »Und tatsächlich«, so Achim Engstler mit Blick auf Sabattia Wolffs Darstellung, »gibt es zwischen den Biographien Baruch Spinozas und Salomon ben Josuas, der sich in Deutschland nach Maimonides nannte, manche Entsprechung: Maimon durchlief wie Spinoza Stufen der Ausbildung zum Rabbiner; wie Spinoza entfremdete er sich bald von seiner jüdischen Gemeinde und wurde als Ketzer verfolgt; wie Spinoza lebte er danach ›eingezogen‹, getrennt von seiner Familie, ›ganz der Spekulation‹«. 88 Abseits dieser biographischen Parallelen ist an dieser Stelle jedoch entscheidend, dass sich Maimons Haltung zur Philosophie Spinozas im hier nachvollzogenen Zeitraum, d. h. zwischen 1765 und 1793, deutlich wandelte, und zwar von oberflächlicher, aber interessierter Bekanntschaft über enthusiastische Parteinahme schließlich zu klar geäußerter Ablehnung. Diese Distanzierung in der Zeit nach 1789, also nach Maimons intensiver Auseinandersetzung mit Kants kritischer Philosophie, ist im nächsten Abschnitt zu beleuchten. Die bisher nachgezeichnete Zeitlinie ist dabei, wie bereits geschildert, als Referenz notwendig, um die verschiedenen Wandlungen der Positionierung Maimons zu Spinoza in den folgenden systematisch ausgerichteten Betrachtungen sinnvoll einordnen zu können.
85 In dieser Zeit (vgl. Anm. 30) erscheinen u. a. mit dem Versuch einer neuen Logik oder Theorie des Denkens (1794; V), den Kathegorien des Aristoteles (1794; VI, 1–271) sowie den Kritischen Untersuchungen über den menschlichen Geist (1797; VII, VII–373) noch weitere umfangreiche Teile von Maimons Gesamtwerk. 86 Vgl. Wolff, Maimoniana (1813), 178 (Anm.). 87 Vgl. Melamed, Let the Law Cut through the Mountain (2014), 76: »More than anything else, they [sc. Spinoza and Maimon; D. E.] affirmed uncompromising commitment to pursue philosophical arguments regardless of where they might lead. This kind of commitment is precisely what the mediocrity of the liberal bourgeoisie – in 18th-century Jewish Berlin, or anywhere else – could never swallow.« Melamed setzt den Fokus hier somit auf Maimons Konflikte mit den Vertretern der jüdischen Berliner Aufklärung, allen voran Mendelssohn. 88 Engstler, Zwischen Kabbala und Kant (1994), 162. Vgl. auch Zac, Maïmon, Spinoza et Kant (1985), 67: »Dans son autobiographie, Maïmon raconte que pour lui, comme pour Spinoza, la spéculation philosophique est une question de vie.«
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2.2 Maimons Abkehr von der Philosophie Spinozas: ›Zurückschaudern vor dem Nichts‹ und Akosmismus 2.2.1 Systematische Verknüpfung der beiden Topoi
Bereits der Versuch über die Transzendentalphilosophie von 1789/90, Maimons systematisch zentrales Frühwerk, ist ein klares Zeugnis der entschiedenen Abstandnahme von der Philosophie Spinozas. Dies soll hier als provisorische These aufgestellt werden. Immerhin finden sich im gesamten Werk keinerlei Bezüge auf Spinozas Schriften; bemerkenswerterweise fällt der Name Spinozas als solcher dort kein einziges Mal. In den relativ umfangreichen »Anmerkungen und Erläuterungen über einige kurz abgefasste Stellen in dieser Schrift« (VT, 182–238), in denen es zu systematischen Vertiefungen der Grundpositionen Maimons kommt, erklärt sich dieser jedoch an einer Schlüsselstelle, er vertrete keinen Spinozismus: »Mancher Leser wird glauben, hier den Spinozismus zu erblicken. Um also allen Mißdeutungen dieser Art vorzubeugen, will ich mich hier ein für allemal erklären« (VT, 197 f.). Die Anmerkung bezieht sich auf eine der Kernpassagen des systematisch wichtigen zweiten Abschnitts des Versuchs (VT, 21–45). Diese »ein für allemal« geäußerte, entschiedene Erklärung gegen das drohende Verdikt des Spinozismus stellt eine direkte Reaktion Maimons auf einen Vorwurf Kants dar. Dieser Vorwurf, von Maimon als »Mißdeutung[]« (VT, 198; s. o.) aufgefasst, wird in Abschnitt 2.4 eingehender besprochen. Die eigene transzendentalphilosophische Position Maimons im Versuch, die ebendiesen Vorwurf grundsätzlich abwehren soll, muss hier zunächst noch unbeachtet bleiben und wird der zentrale Untersuchungsgegenstand von Kap. 3 sein. Von Interesse ist an dieser Stelle primär Maimons zu jenem Zeitpunkt, 1789, bereits deutlich zutage tretende Ablehnung der Philosophie Spinozas. Diese Ablehnung steht in offensichtlichem Gegensatz zu seinem enthusiastischen Spinozismus zur Zeit seines zweiten Berlin-Aufenthalts von 1780 bis 1782. Interessanterweise kommt es in den Folgejahren, in der Zeit um 1791/92, zu einer klaren Revision der Ausrichtung des Versuchs durch Maimon selbst. Für die vorliegende Untersuchung ist dies von besonderer Relevanz, da es in der Revision primär um die Philosophie Spinozas geht: Während Maimon jene Ausrichtung in der Schrift selbst explizit als nicht-spinozistisch bestimmt (vgl. VT, 197 f.; s. o.), ändert sich dies später deutlich. Auch hierzu vorerst einige Worte zum konkreten historischen Kontext: 1792 erscheint im Magazin zur Erfahrungsseelenkunde – zu diesem Zeitpunkt bereits neben Moritz von Maimon mitherausgegeben – ein Schreiben des Schweizer Philosophen und Arztes Jacob Hermann Obereit aus dem Sommer 1791 mit dem Titel Obereits Widerruf
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für Kant. 89 Hier bekennt Obereit, von sich selbst stets in der dritten Person schreibend, einerseits, er halte die kantische Philosophie in ihrer »Entwickelung« 90 durch Reinholds ›Elementarphilosophie‹ für »genau richtig und ohne Irrthum«. 91 Dabei hat Obereit v. a. Reinholds ›Satz des Bewusstseins‹ 92 im Blick. Andererseits führe die kritische Philosophie, so Obereits bisweilen nebulöse, pathetisch vorgetragene Überlegung, mit ihrer Behauptung der Unerkennbarkeit der Dinge an sich, gewissermaßen als »Einleitungssystem zur Sokratischen Unwissenheit vor allen Dingen«, 93 in letzter Instanz »zum Nichts aller Dinge an sich, ihrem Nichts nehmlich außer dem ewigen Wesen von selbst, das allein von selbst nothwendig wirklich« sei. 94 – Eine klare Argumentationsstruktur ist dabei kaum erkennbar. Dies ist Obereits eigentliches Bekenntnis zum Glauben an dasjenige, was »also keines Beweises [braucht], [. . .] über allen Beweis hinaus« ist. 95 Die Konsequenz dieser letztlich theistisch orientierten Einsicht ist radikal: Da nun Obereit [. . .] ein negativer Philosoph wird, mit einem evidenten Salto mortale, bis ins Nichts seiner selbst und aller Dinge an sich außer Einem Ewigen von selbst, so nimmt er mit seinem neuen und alten Wirbel des Nihilismus à se der von Ewigkeit zu Ewigkeit richtig ist [. . .], kurzab Schweizerisch guten Obereit, Widerruf (1792) (= III, 418–455). Obereit, Widerruf (1792), 116. 91 Ebd., 116 f.: »Obereit bekennt hiemit öffentlich, daß Kants Kritik der reinen Vernunft in rechtem Verstande, nach Reinholdischer Entwickelung, genau richtig und ohne Irrthum sey, und läßt ihr hiermit alle übrigen bekannten und schätzbaren Vorzüge, vor allen die große Zweckbemerkung, daß die Natur das ganze spekulative Vermögen zum Behuf und zur Gründung des moralischen hauptsächlich eingerichtet habe, welche erhabene Bemerkung zugleich die Bestimmung der Vernunftgrenzen in sich faßt. Nur das einige kann er nicht gestehen und finden, daß sie ohne allen Mangel a priori sey; hievon zeugt selbst die Mangelersetzung, der unerklärten Voraussetzungen, durch die Reinholdische Theorie des Vorstellungsvermögens«. Reinhold kommt in diesem Sinne laut Obereit das Verdienst zu, er habe seiner »Vorstellungsart« gemäß »das Kritische«, anders als Kant selbst, »durchaus natürlich genetisch entwickelnd« darstellen können (ebd., 110): Vom ›Satz des Bewusstseins‹ als fundamentalem Prinzip des Vorstellungsvermögens konnte Reinhold die kritische Philosophie genetisch ableiten. Die KrV hingegen beginne »mit unendlichem Raum und Zeitfluß ohne Genesis wie mit einem plötzlich sich in uns versetzenden Feenhimmel« (ebd., 124). 92 Vgl. Reinhold, Fundament (1791/1978), 78: »Durch keinen Vernunftschluss, sondern durch blosse Reflexion über die Thatsache des Bewusstseyns, das heisst, durch Vergleichung desjenigen, was im Bewusstsein vorgeht, wissen wir: dass die Vorstellung im Bewusstsein durch das Subjekt vom Objekt und Subjekt unterschieden und auf beyde bezogen werde.« Vgl. Obereit, Widerruf (1792), 114. 93 Obereit, Widerruf (1792), 137. Hiermit bezieht sich Obereit möglicherweise auf Johann G. Hamanns Sokratische Denkwürdigkeiten (HaSW II, 57–82) von 1759, in denen die Sokratische Unwissenheit eine zentrale Stellung einnimmt; vgl. v. a. HaSW II, 70. Der dunkel-metaphorische, emphatische und durch facettenreiche intertextuelle Referenzen geprägte Stil Obereits erinnert zumindest ebenfalls an denjenigen Hamanns, was diesen Bezug plausibel erscheinen lässt. 94 Obereit, Widerruf (1792), 140 f. 95 Ebd., 140. 89 90
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Abschied, von aller ihm gnädigen toleranten deutschen Lesewelt, und wünscht aller Welt allerseits wohl zu leben im All. 96
Eine sinnvolle philosophische Einordnung und Beurteilung der in diesen schwer zugänglichen Passagen dargelegten Position Obereits, von Helmut Schneider auch als »theosophische[] Mystik« 97 charakterisiert, erscheint hier kaum möglich und ist an dieser Stelle auch nicht weiterführend von Relevanz. Es sei jedoch angemerkt, dass die dort vorliegenden Motive der Kritik am Problemkomplex der epistemischen Unzugänglichkeit der Dinge an sich sowie die Figur des Salto mortale deutlich auf Jacobi verweisen, 98 wenn auch in gänzlich andersartiger Verwendung. 99 Diesen erwähnt Obereit hier bloß beiläufig als den »größten Realisten«. 100 Dessen Schriften fallen dabei durch eine deutlich größere inhaltliche Klarheit im Vergleich zu derjenigen Obereits auf. 101 Entscheidend ist nun die Reaktion des Herausgebers Maimon auf den Text Obereits: Einerseits kommt es im Oktober 1791 zu einem Briefwechsel zwischen den beiden Autoren, der Ende 1792 ebenfalls im Magazin zur Erfahrungsseelenkunde abgedruckt wird. 102 Andererseits, und dies ist hier von höherer Relevanz, kommentiert Maimon Obereits Widerruf für Kant auch unmittelbar durch eine Vielzahl an Herausgeberanmerkungen. So sagt Maimon zu Beginn, die Intention hinter dem Schreiben werde letztlich nicht klar. 103 Am Ende greift er hingegen die vom Autor verwendeten Topoi des Salto mortale und des Nichts auf, setzt diese jedoch in den Kontext der Philosophie Spinozas – ohne dass Obereit hierzu einen Anlass gegeben hätte: Immerhin ist der ›Eine
Ebd., 142. Schneider, Vorwort (2008), 8. 98 Vgl. u. a. JWA 2,1, 106–112 bzw. JWA 1,1, 20; 30. 99 Diese Divergenz ist in Abschnitt 2.3 weiterführend zu reflektieren. 100 Obereit, Widerruf (1792), 135. 101 Zum Verhältnis von Jacobi und Obereit vgl. Gawoll, Hegel – Jacobi – Obereit (2008), 86– 98; sowie Schneider, Vorwort (2008). Schneider bespricht hier kurz Obereits Suche »nach der Möglichkeit einer Metaphysik mit einem transsubjektiven Sein« (ebd., 8). Grundlage sei dabei die vermeintlich mit Jacobi geteilte Ablehnung der Erkenntniskritik Kants. Hierzu muss jedoch eingewandt werden, dass Jacobis Positionierung zu Kants KrV ungleich komplexer ist; vgl. v. a. JWA 2,1, 103–112; Sandkaulen, Jacobi über Idealismus und Realismus (2017), 17–29; dies., Jacobis Realismus (2019), 150–162. Als Spezifikum der Position Obereits kann laut Schneider dessen o. g. »theosophische[] Mystik« (Schneider, Vorwort (2008), 8) benannt werden. Diese gehe allerdings mit einem Missverständnis des transzendentalen Idealismus einher; vgl. ebd. 102 Obereit, Schreiben des Herrn Obereit an Herrn S. Maimon (1792); Maimon, Antwort auf das Schreiben des Herrn Obereit an Herrn S. Maimon (1792) (= III, 456–461). 103 Vgl. III, 418/Obereit, Widerruf (1792), 106: »[W]as aber Herr Obereit damit haben wolle, da ihm niemand dieses Glaubensbekenntniß abgefordert hat, können wir dem Leser nicht sagen [. . .]. S. M.« 96 97
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Ewige‹, 104 der dem bloß hypothetischen Nichts der Dinge gegenübersteht, hier eindeutig nicht als die eine Substanz im Sinne Spinozas zu verstehen, sondern als freihandelnde Schöpferfigur in theistischer Auffassung. 105 Assoziativ, am eigentlichen Thema vorbeigehend, verbindet Maimon die in Obereits Text auftauchende bedrohliche Präsenz des Nichts also mit einem andersartigen philosophischen Problemkomplex, nämlich dem um das Denken Spinozas. Dieser Problemkomplex muss ihn hier nach wie vor umgetrieben haben. Maimons für die folgenden Überlegungen maßgebliche Anmerkung soll an dieser Stelle in Gänze zitiert werden, um die sich darin ausdrückenden Bezüge daraufhin sukzessive analysieren zu können: Der brave Schweizer Herr Obereit, der, wie man aus diesem Aufsatze sieht, das tiefe Denken mit einer ungemeinen Erhabenheit des Ausdrucks in sich vereinigt, wird es einem braven Polen verzeihen, wenn er eingesteht, daß ihn dieser hohe Schwung schwindlich macht, und daß er vor dem Nichts zurück schaudert. Er bekennet selbst in seiner ersten Schrift (Versuch über die Transzendentalphilosophie) dieses Salto mortale gewagt, und die Vereinigung der Kantischen Philosophie mit dem Spinozismo versucht zu haben; ist aber jetzt von der Unausführlichkeit dieses (einem jeden Selbstdenker natürlichen) Unternehmens vollkommen überzeugt, und glaubt vielmehr die Vereinigung der Kantischen Philosophie mit dem Humischen Skeptizismo bewerkstelligen zu können. S. M. (III, 455/Obereit, Widerruf (1792), 143)
Die Dichte der in dieser Anmerkung versammelten Aussagen und zentralen Termini stellt diverse Herausforderungen für Rezeptionsversuche dar. Zunächst sei hier auf die oben bereits genannte Revision der Programmatik des Vgl. Obereit, Widerruf (1792), 142; s. o. Vgl. ebd., 140 f.: »Ja da endlich Nichts ohne das Einige von selbst allgenugsame Wesen der unendlichen Freiheit nur möglich seyn kann, so findet Obereit damit den Weg zum Nichts aller Dinge an sich, ihrem Nichts nehmlich außer dem ewigen Wesen von selbst, das allein von selbst nothwendig wirklich, keine nothwendigen Folgen als nur bloße Möglichkeiten haben kann, hiemit absolute Freiheit zu handeln darüber, [. . .] mit seiner eigenen freimöglichen, anständigen und unerschöpflichen Fruchtbarkeit und Mittheilbarkeit, im ewigen Gleichgewicht aller Vollkommenheiten der nothwendigen Wesens-Beziehung von, durch und zu sich selbst als einiger absoluter Allgrund und Herr aller bloßen Abhänglichkeit.« Das »Nichts aller Dinge an sich« ist somit am ehesten zu verstehen als die Nichtexistenz der Dinge, sofern sie, als Abhängiges, nicht vom unendlich freien Wesen als dem »Absolute[n] an sich« (ebd., 142) geschaffen worden wären – dies entspricht der hier naheliegenden Deutung der Position Obereits im Sinne eines entschlossenen Theismus. Daher kann hier nur die Rede vom hypothetischen Nichts der Dinge sein: »Mit dessen absolutem Daseyn von selbst, wenn es weg fiele, wird alle nur denkbare Möglichkeit auf einmal und für immer aufgehoben« (ebd., 141; Hervorhebungen: D. E.). Des Weiteren führt Obereit in klar biblischtheistischer Bildsprache den »Ich bin, der ich bin« (vgl. 2 Mos 3,14) sowie das »ewige Licht von Nazareth« an (Obereit, Widerruf (1792), 140). 104
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Versuchs eingegangen: Die im Versuch selbst erstrebte Erklärung »ein für allemal« gegen den Vorwurf des Spinozismus erscheint Maimon in der Retrospektive als bei weitem zu schwach. Immerhin geht er nun, im Zeitraum 1791/92, so weit, seine Schrift als Versuch der »Vereinigung der Kantischen Philosophie mit dem Spinozismo« zu beschreiben. Engstler hebt hervor, dass hier ein offensichtlicher Widerspruch vorliegt, den es zu lösen gilt. 106 Diesbezügliche Lösungsvorschläge können an dieser Stelle der vorliegenden Untersuchung noch nicht diskutiert werden; möglich wird dies erst in Kap. 4, auf Grundlage der bis dahin anzuschließenden Betrachtungen. Zunächst soll daher die bloße Feststellung der grundsätzlichen Revision des Versuchs in seiner Grundausrichtung durch Maimon selbst genügen. Ähnliches gilt für die vielfältigen weiteren Fragestellungen, die sich hier aufdrängen und die zunächst zwar benannt, bislang jedoch noch nicht sinnvoll diskutiert werden können: Wieso sich dieser Vereinigungsversuch für Maimon als undurchführbar erwiesen habe und warum er dennoch »einem jeden Selbstdenker natürlich[]« sei, wird ebenfalls in Kap. 4 besprochen werden. Das Konzept einer »Vereinigung der Kantischen Philosophie mit dem Humischen Skeptizismo« als bloß dem Anschein nach eklektizistisches Alternativprogramm für Maimons eigene Philosophie nach dem Versuch wird in Kap. 5 zum zentralen Untersuchungsgegenstand werden. Maimons hier von Obereit übernommene Verwendung des Tropus vom Salto mortale wird hingegen im folgenden Abschnitt 2.3, in dem Maimons Stellung zum Spinoza-Streit zwischen Mendelssohn und Jacobi zu erörtern ist, weiterführend reflektiert. Die im aktuellen Kapitel primär relevante Fragestellung ist unterdessen diejenige nach den Gründen für Maimons eigene Ablehnung der ehemals enthusiastisch vertretenen Philosophie Spinozas. Hierzu findet sich in der zitierten Passage mit dem Topos des ›Zurückschauderns vor dem Nichts‹ nun durchaus ein entscheidender Hinweis. Wie oben rekonstruiert, kann es sich dabei nicht um das ›Nichts‹ in Obereits Verständnis handeln: Dieses steht in einem prinzipiell andersartigen Kontext, der sich eben nicht um das Problem des Spinozismus dreht. Maimon geht hingegen assoziativ zu gerade diesem für ihn selbst noch immer virulenten Problemkomplex über: Er schließt den Spinozismus, hier in der Form einer versuchten Vereinigung mit der Philosophie Kants, als philosophische Option für sich selbst endgültig und entschiedener als zuvor aus, betont dies nachdrücklich und konnotiert die abgewiesene Option zugleich mit dem ›Zurückschaudern vor dem Nichts‹. Dieser Topos erlaubt nun eine systematische Verknüpfung mit der Klassifikation der Philosophie Spinozas als akosmisch, die sich im ersten Band von 106
Vgl. Engstler, Versuch einer Vereinigung (1990), 42.
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Maimons Lebensgeschichte findet und die daher aus demselben klar abgrenzbaren Zeitrahmen entstammt, nämlich 1791/92. Diese Klassifikation wurde in der Einleitung bereits als eine der für diese Untersuchung zentralen Textstellen bestimmt. Die konkrete Akosmismuszuschreibung sei an dieser Stelle in ihren einzelnen Aspekten und Details nochmals genauer beleuchtet: Im Zusammenhang der Schilderungen seines frühen Lebensverlaufs, in dem auch die erste Begegnung mit dem Denken Spinozas stattfand (s. o., 2.1.1), fügt Maimon einige Überlegungen zum Wesen jüdischer Religion sowie jüdischen Brauchtums ein (vgl. I, 150–188). Dabei bespricht er auch den »Begriff der Religion überhaupt« (I, 150) in knapper, schematischer Ausführung. Dort kommt es zu einer Auseinandersetzung mit dem allgemein bekannten Vorwurf an Spinoza, dessen Philosophie sei atheistisch. Bevor diese Auseinandersetzung Maimons genauer fokussiert wird, soll an dieser Stelle zunächst eine allgemeine, kurzgefasste, bloß heuristische Überlegung hierzu folgen. Dies soll ermöglichen, Maimons Ausführungen daraufhin auf ein terminologisch klar strukturiertes Fundament stellen zu können: In der gewissermaßen klassisch-theistischen Position wird von der Grundprämisse ausgegangen, dass sowohl Gott als auch Welt 107 existieren, und zwar als verschiedene Entitäten. Inwieweit die Gottesvorstellung dabei mit Rationalität, Freiheit, Wohlwollen oder weiteren Eigenschaften konnotiert ist, ist an dieser Stelle zunächst unerheblich. Von zentraler Bedeutung ist allerdings das ebenso klassisch-theistische Verständnis des Verhältnisses von Gott zu Welt: ersterer nämlich als unabhängiger, transzendenter Schöpfer der letzteren, diese somit als abhängige, trotzdem substanziell verschiedene Schöpfung von jenem. Diese Position vertritt, wie oben dargelegt, beispielsweise Obereit, wenn auch in eine »theosophische[] Mystik« 108 eingekleidet. Das System Spinozas hingegen kennt, als Theorie einer konsequenten Immanenz, 109 nun in erster Linie kein Transzendenzverhältnis zwischen Gott und Welt, demnach auch nicht den hier beschriebenen Schöpfungsakt als solchen. Die Welt hat, als Gott inhärierend, somit kein substanziell von Gott differentes Dasein. Indem nun das klassisch-theistische Verständnis mit dem System Spinozas konfrontiert wird, ist es nicht eine etwaige explizite Behauptung der Nichtexistenz Gottes, die zum Problem wird. Eine solche Aussage ist Spinozas Denken grundsätzlich fremd. Vielmehr wird das beschriebene Fehlen der für den klassischen Theismus konEs geht hier also um die zentralen Topoi von θεός und κόσµος, vor deren Hintergrund die Problematik um Atheismus und Akosmismus in Gegenüberstellung zueinander zu verstehen ist. 108 Vgl. Anm. 97. 109 Vgl. v. a. E I, prop. 18: »Deus est omnium rerum causa immanens, non vero transiens.« (»Gott ist die immanente, nicht aber die übergehende Ursache aller Dinge.« (Übers., hier und nachfolgend: Wolfgang Bartuschat)). 107
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stitutiven Differenz von κόσµος und θεός zum Stein des Anstoßes. Da eine solche Differenzlosigkeit durch die Grundzüge dieses Theismus nicht sinnvoll erfasst werden kann, entsteht der Vorwurf des Atheismus: Aufgrund der prinzipiellen Unterschiedlichkeit des Verständnisses vom Verhältnis zwischen Gott und Welt sieht der Theismus das System Spinozas als diesem Theismus grundsätzlich widersprechend, mithin als A-theismus, an. Dies gilt trotz der Tatsache, dass der Begriff von Gott, deus, hier als die eine Substanz, eine zentrale Position in diesem konsequent monistischen System einnimmt. 110 Eine mögliche und oft unternommene Abwehr dieses Atheismusvorwurfs ist die bekannte Charakterisierung des Spinozismus als Pantheismus, d. h. als Ineinssetzung von Gott und All, πᾶν. Dabei stellt sich dann abermals die Frage, inwieweit Pantheismus gleichbedeutend mit Atheismus sein könnte. Nun ist es an dieser Stelle nicht möglich und wäre inhaltlich auch nicht weiterführend, den um diese Problemstellungen kreisenden ›Pantheismusstreit‹ aus der Zeit um 1785 historisch weiterführend aufzuarbeiten oder nachzuzeichnen. Vielmehr soll hier eine möglichst schematische Beschäftigung mit den grundsätzlichen Termini und Konzeptionen im Umkreis des Atheismusvorwurfs im Vordergrund stehen. Auch geht, wie in Abschnitt 2.3 konkreter aufzuzeigen sein wird, Maimons Positionierung weitgehend am eigentlichen Spinoza-Streit um 1785 vorbei und setzt sich aus anderer Richtung kommend sowie von andersartigen Hintergründen geprägt mit dem Denken Spinozas auseinander: Auch für Maimon selbst bleibt die Annahme der Differenz von Gott und Welt valide. Dementsprechend ist die Charakterisierung des Spinozismus als konsequent immanentistische, faktische Ineinssetzung von Gott und Welt, d. h. als strikter Pantheismus, aus Maimons Perspektive ebenfalls nicht möglich. Formal gesehen übernimmt er damit die Argumentationsfigur klassisch-theistischer Perspektiven: Diesen gemäß werden anderslautende Positionen bezüglich des Verhältnisses von Gott und Welt eher dahingehend ausgelegt, dass sie die Existenz einer der Seiten de facto, wenn auch nicht expressis verbis, leugneten, als dass sie tatsächlich beides in eins setzen könnten. Dort betrifft dies demnach die Existenz Gottes; daher das Verdikt des Atheismus gegen Spinozas System. Maimon übernimmt diese Figur formal und dreht sie einmal komplett um: Es ist unbegreiflich wie man das spinozistische System zum atheistischen machen können? da sie doch einander gerade entgegengesetzt sind. In diesem wird das Dasein Gottes, in jenem aber das Daseyn der Welt geleugnet. Es müßte also eher das akosmische System heißen. (I, 154) Vgl. E I, prop. 14: »Praeter Deum nulla dari neque concipi potest substantia.« (»Außer Gott kann es keine Substanz geben und keine begriffen werden.«) 110
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Anstatt das System Spinozas also dahingehend auszulegen, es nehme die Existenz der Welt an und leugne diejenige Gottes, spiegelt Maimon diesen Vorwurf und bezeichnet Spinozas Philosophie somit als Akosmismus. Der explizite Motivationsgrund dieser kompletten Umkehrung hängt mit Maimons SpinozaVerständnis bezüglich der Aspekte von Einheit und Vielheit zusammen, die vom Atheismus genau entgegengesetzt aufgefasst würden. Maimons Erklärung hierzu, die der Akosmismuszuschreibung unmittelbar vorangeht, soll an dieser Stelle ebenfalls umfassend zitiert und in der Folge analysiert werden: Das spinozistische System [. . .] supponirt eine und eben dieselbe Substanz als unmittelbare Ursache aller verschiedenen Wirkungen, die als Prädikate eines und eben desselben Subjekts betrachtet werden müssen. Materie und Geist sind beym Spinoza eine und dieselbe Substanz, die einmal unter diesen, ein andermal unter jenen Attribut erscheint. Diese einzige Substanz ist, nach ihm, nicht nur das einzige mögliche selbständige (von einer äußeren Ursache unabhängige) sondern auch das einzige für sich bestehende Wesen, dessen Arten (modos) (diese Attribute auf eine besondere Art eingeschränkt) alle, sogenannte, Wesen außer ihm sind. Jede besondere Wirkung in der Natur wird bey ihm nicht auf ihre nächste (die bloß ein Modus ist) sondern unmittelbar auf diese erste Ursache oder Substanz bezogen, die allen Wesen gemein ist. In diesem System ist die Einheit reell; das Mannigfaltige aber bloß idealisch. In dem atheistischen Systeme hingegen ist es gerade umgekehrt. Das Mannigfaltige ist reell, in der Natur der Dinge selbst gegründet. Die Einheit hingegen die man in der Ordnung und Gesetzmäßigkeit der Natur bemerkt, ist diesem zufolge bloß zufällig, wodurch wir unser willkürliches System zum Behuf der Erkenntniß, zu bestimmen pflegen. (I, 153 f.)
Was Maimon in dieser Passage zur Sprache bringt, sind zunächst die Eigenschaft der einen Substanz als causa sui 111 sowie als causa immanens 112 ihrer Modi im Sinne ihrer Affektionen oder Prädikationen, 113 ebenso die unpräzise wiedergegebene Unterscheidung der Attribute extensio und cogitatio (hier »Materie und Geist«; vgl. richtigstellend E II, prop. 1 & seq.). Zentrales Merkmal des Spinozismus ist, so Maimon, jedoch dessen Annahme der Einheit als Vgl. E I, def. 1; prop. 7, dem.: »Substantia non potest produci ab alio [. . .]; erit itaque causa sui« (»Eine Substanz kann nicht von etwas anderem hervorgebracht werden [. . .]; sie wird daher Ursache ihrer selbst sein«). 112 Vgl. Anm. 109. 113 Vgl. E I, def. 5: »Per modum intelligo substantiae affectiones, sive id, quod in alio est, per quod etiam concipitur.« (»Unter Modus verstehe ich die Affektion einer Substanz, anders formuliert das, was in einem anderen ist, durch das es auch begriffen wird.«) Zur möglichen Lesart der Identität von Inhärenz- und Kausalrelation vgl. Della Rocca, Spinoza (2008), 62–69. Zur Kritik dieser Lesart vgl. u. a. Melamed, Spinoza’s Metaphysics (2013), 63 f.; 92–104; ders., The Building Blocks (2018), 109. 111
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›Reelles‹. Diese Annahme stellt auch das Unterscheidungsmerkmal des Spinozismus vom Atheismus dar, für den die Vielheit das Reelle ist. Für den in dieser Hinsicht fundamental monistischen Spinozismus ist das Eine, τò ἕν, entsprechend das Übergeordnete, Ursprüngliche. Der Vielheit der Dinge, d. h. dem All, dem Kosmos im Sinne der Gesamtheit dieser Vielheit – τò πᾶν – kommt unterdessen ein lediglich akzidentielles, vom substanziellen Einen abhängiges Sein zu. Wie oben dargestellt, ist auf formaler Ebene herleitbar, dass Maimon durch die Spiegelung des Atheismusvorwurfs gegen Spinozas Substanzmonismus zur Charakterisierung desselben als Akosmismus gelangt. Zuletzt wurde dieser Akosmismus mit Maimons Positionierung zum Aspekt von Einheit und Vielheit weiterführend erläutert. Auf inhaltlicher Ebene bleibt die Akosmismusthese dabei jedoch noch opak und unzugänglich: Denn die bloße Theorie des Einen als des Realen 114 ist eindeutig nicht hinreichend, um dieses System als Akosmismus klassifizieren zu können: Ist dieses Eine schlechthin real, so gibt es offenbar eine Welt, selbst wenn sich dieser Kosmos im Sinne der Vielheit der Dinge in ihrer Gesamtheit erst auf Grundlage der bloß akzidentiellen Modi des Einen konstituiert. Hieran ändert sich prinzipiell auch nichts, wenn weitere explizite Positionierungen Maimons zu Spinoza in Betracht gezogen werden: Maimon legt Spinozas Philosophie in seiner Schrift Ueber die Progressen der Philosophie von 1793 (IV, 23–80) 115 u. a. auch in einem quasi-eleatischen Sinne dahingehend aus, sie nehme endliche Wesen bloß als Einschränkungen des ›Reellen‹, also der Substanz an, somit als bloße Negativa. Spinoza behauptet nach dem Parmenides ›nur das Reelle, vom Verstande begriffene existirt, was mit dem Reellen in einem endlichen Wesen verknüpft ist, ist bloß die Einschränkung des Reellen, eine Negation, der keine Existenz beigelegt werden kann. [. . .] Die Einschränkung [. . .] kann nicht ohne das Reelle gedacht werden, dahingegen das Reelle ohne die Einschränkung gedacht werden kann.[‹] (IV, 62 f.) 116 Maimons Sprachgebrauch ist in Bezug auf Differenzierungen wie ›real‹, ›reell‹, ›ideal‹, ›idealisch‹ etc. weder präzise noch konsequent. Dies muss bei der Erörterung seiner Texte mitberücksichtigt werden. Im hier vorliegenden Fall scheint das ›Reelle‹ (vgl. I, 153 f.; s. o.) als das im substanzialen Sinne ›Reale‹ gemeint zu sein. 115 In dieser Schrift antwortet Maimon auf die »Preisfrage der königl. Akademie zu Berlin für das Jahr 1792: Was hat die Methaphysik seit Leibniz und Wolf für Progressen gemacht?« (IV, 23). Die Abhandlung erscheint 1793 eigenständig (Maimon, Ueber die Progressen (1793)) sowie als erstes Kapitel von Maimons Streifereien im Gebiete der Philosophie. 116 Referenzpunkt ist dabei am ehesten E I, prop. 8, schol. 1.: »Cum finitum esse revera sit ex parte negatio et infinitum absoluta affirmatio existentiae alicujus naturae« (»Weil endlich sein der Sache nach eine partielle Verneinung ist und unendlich sein die unbedingte Bejahung der Existenz irgendeiner Natur«; vgl. Melamed, Omnis determinatio (2012), 185). Hierin drückt sich zudem die 114
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Doch selbst wenn der Kosmos bloß als Vielheit von Einschränkungen eines Substanzialen aufgefasst wird, so bleibt dieser Kosmos qua Substanz als Eingeschränktes, dabei dennoch ›Reales‹, weiterhin existent. 117 Durch die Akosmismuszuschreibung wird daher im Kern etwas anderes zum Ausdruck gebracht. Dies ist hinsichtlich seines eigentlichen philosophischen Gehalts wesentlich radikaler, als die bloß formale Umkehrung des Atheismusvorwurfs, der substanziale Vorrang des Einen gegenüber dem Vielen sowie die Auffassung der Modi als bloße Limitationen der Substanz implizieren konnten. Auch an dieser Stelle soll daher fokussiert und vertiefend auf die eigentliche Bedeutung des Terminus eingegangen werden: Die Position des Akosmismus ist die Auffassung, dass – in aller Radikalität, die Maimon in seiner Formulierung von der Leugnung des »Daseyn[s] der Welt« (I, 154; s. o.) ausdrückt – keine Welt da ist. Dies erscheint dem unvoreingenommen naiv Reflektierenden auf den ersten Blick als geradezu aggressive Maximalhypothese philosophischer Reflexion. Schließlich wird durch diese These das scheinbar schlechthin Gegebene, Unhinterfragte, nämlich dass eine klare Priorität des Unendlichen vor dem Endlichen laut Spinoza aus. – O. g. Ausführung Maimons scheint dabei zunächst auf eine Darstellung Jacobis in den Spinozabriefen zu verweisen (dort bezugnehmend auf Ep. L, 194); vgl. JWA 1,1, 100: »Determinatio est negatio, seu determinatio ad rem juxta suum esse non pertinet. [›Bestimmung ist Negation, oder Bestimmung bezieht sich nicht auf die Sache, soweit ihr Sein in Frage kommt.‹] Die einzelnen Dinge also, in so ferne sie nur auf eine gewisse Weise da sind, sind die non-entia; und das unbestimmte unendliche Wesen, ist das einzige wahrhafte ens reale«. Wie in 2.3 besprochen werden wird, hat sich Maimon in diesem Zeitraum um 1793 bereits intensiver mit den Schriften des Spinoza-Streits beschäftigt. Plausibler erscheint dennoch, dass Maimon hier vorrangig unter dem Einfluss seiner wesentlich früher beginnenden, prägenden Kabbala-Lektüre steht: In Abschnitt 2.1 wurde bereits dargestellt, wie eng Maimon seine Spinoza-Rezeption mit der Kabbala konnotiert. Thematisch wichtig ist hier v. a. das Theorem des Zimzum als Schöpfung qua Selbstkontraktion Gottes; vgl. Atlas, Maimon and Spinoza (1959), 257–259; Melamed, Rise of Spinozism (2004), 81–83. Unterdessen wird die Kabbala auch in den Spinozabriefen am Rande erwähnt, ebenfalls im Zusammenhang des Aspekts der Kontraktion; vgl. JWA 1,1, 31. – Dass Jacobis Hervorhebung der Formel »Determinatio est negatio« wiederum nicht im Sinne einer Akosmismuslesart der Philosophie Spinozas zu verstehen ist, wird in Kap. 4 weiter ausgeführt. 117 Vgl. auch Birgit Sandkaulens Ausführungen zu dieser Thematik, hier im Zusammenhang der Spinoza-Rezeption Hegels vor dem Hintergrund der Philosophie Jacobis: Sandkaulen stellt fest, dass Hegels »akosmistische Deutung Spinozas einschließlich der Parallelisierung von Spinoza und Parmenides vollkommen in die Irre geht. Denn daraus, dass die endlichen Dinge bei Spinoza Modi der Substanz und also nicht selbst Substanzen sind, folgt selbstverständlich nicht, dass sie keine ontologische Bedeutung besitzen. Sowohl hinsichtlich ihres Wesens als auch hinsichtlich ihrer zeitlichen Existenz haben sie ein von der Substanz unterschiedenes ontologisches Format, das auch nicht etwa ein ›äußerlicher Verstand‹ nur scheinbar an die Substanz heranträgt, sondern in dem sich vielmehr die wesentliche Potenz der Substanz selbst produktiv zum Ausdruck bringt.« (Sandkaulen, Metaphysik oder Logik? (2019), 328) Dass Jacobi selbst klar gegen eine akosmistische Lesart der Philosophie Spinozas argumentiert (vgl. vorherige Anm.) – anders als bisweilen behauptet –, wird in Abschnitt 4.2 deutlicher zur Sprache kommen.
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Welt da ist, frontal negiert. Nun ist diese ›Maximalhypothese‹ jedoch kein flüchtiges, instabiles, rhapsodisches Gedankenspiel, sondern basiert vielmehr auf einem in radikal konsequenter Rationalität durchgeführten metaphysischen System. So muss es sich zumindest für Maimon dargestellt haben. Die Theorie des Nicht-daseins der Welt lässt sich also nicht unbekümmert und argumentationslos abweisen oder gar ignorieren, sondern erfordert es, ihr philosophisch adäquat beizukommen. Nun sieht sich Maimon durch die Auseinandersetzung mit der Philosophie Spinozas also vermeintlich mit der Behauptung des ἀ-κόσµος, des ›Nicht‹ der Welt, auf bedrohliche Weise konfrontiert. Daher erscheint es verständlich, dass gerade im Kontext der Beschäftigung mit dem Spinozismus das ›Zurückschaudern vor dem Nichts‹ zutage tritt. Auf diese Weise lässt sich die in der Forschung bislang noch nicht unternommene Verknüpfung dieses Topos mit der Akosmismusthese systematisch begründen. Dass diese Verknüpfung sinnvoll als Schlüssel zur weiteren Erörterung des Verhältnisses Maimons zu Spinoza funktionalisiert werden kann, ist die zentrale These dieses Kapitels. Diese Funktionalisierung soll in den folgenden Teilen der Abhandlung durchgeführt werden. Wieso aber nun eigentlich die philosophische Konfrontation mit Spinozas Substanzmonismus zum ›Zurückschaudern vor dem Nichts‹ führt; wieso die Theorie der Substanzialität des Einen und der Akzidenzialität der Vielheit aus Maimons Perspektive mit dem ›Nicht‹ der Welt, dem Akosmismus, gleichbedeutend sein soll, konnte inhaltlich bislang nicht eindeutig geklärt werden. Schließlich lässt sich die tatsächliche Gefahr eines ›Nichts‹ innerhalb dieses Rahmens noch immer nicht deutlich vergegenwärtigen. Ein begründeter Beantwortungsversuch dieser Frage wird erst nach den noch anzuschließenden Betrachtungen in Kap. 4 möglich sein. Dieser Versuch soll dann, über Maimons Spinoza-Rezeption hinausgehend, v. a. auch Licht auf Maimons eigene Philosophie in ihren Grundzügen werfen. Dass es Maimons spezifische Intellektkonzeption ist, die den Akosmismusvorwurf in seinem eigentlichen philosophischen Gehalt letztlich erst transparent werden lässt, ist bislang noch bloße Hypothese. Diese soll in Kap. 3 verifiziert werden. An dieser Stelle ist jene Annahme aber bereits durch einen einschlägigen Hinweis provisorisch zu untermauern. Dieser Hinweis zeigt sich im zweiten Band der Lebensgeschichte in einer Episode aus Maimons ›Spinozismus-Zeit‹, d. h. während seines Berlin-Aufenthalts zwischen 1780 und 1782. Maimon erzählt hier eine frühe Begegnung mit Marcus Herz nach: Über den nicht explizit namentlich genannten Herrn »H. . .« 118 (I, 464) schreibt Maimon, er sei »ein Mann von vielen Kenntnissen Zur plausiblen Annahme, dass es sich hierbei um Marcus Herz handelt, vgl. Engstler, Zwischen Kabbala und Kant (1994), 173 (Anm. 69). 118
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und von vortreflichem Herzen, 119 der ein spezieller Schüler Mendelssohns war« (ebd.), jedoch »kein philosophischer Kopf« (I, 465). Maimon versucht, Herz das System Spinozas, »daß nämlich alle Gegenstände bloße Akzidenzen einer einzigen Substanz« (I, 466) seien, zu erklären. Herz äußert hiergegen einen spontanen, für Maimons damalige spinozistische Position zwar naiv scheinenden, philosophisch jedoch keineswegs untriftigen Einwand: Dieser Einwand zielt auf das unmittelbare Bewusstsein der je eigenen Existenz voneinander verschiedener Menschen ab: »aber, mein Gott! sind Sie und ich nicht verschiedene Menschen, und hat nicht ein jeder von uns eine eigene Existenz?« (ebd.). Maimons Reaktion ist rigoros: Macht die Fensterladen zu! rief ich auf seinen Einwurf. Dieser seltsame Ausruf setzte ihn in Erstaunen, er wußte nicht was ich damit sagen wollte. Endlich erklärte ich mich ihm. ›Sehet[‹], sagte ich, [›]die Sonne scheint durch die Fenster. Dieses viereckigte Fenster giebt einen viereckigten, und dieses runde einen runden Wiederschein, sind es deshalb schon verschiedene Dinge, und nicht vielmehr ein und derselbe Sonnenschein? Macht die Fensterladen zu, so werden diese verschiedene Wiederscheine gänzlich verschwinden.[‹] (Ebd.)
Was Maimon hier vorbringt, ist eine vereinfachende metaphorische Wiedergabe der Substanztheorie Spinozas in ihren prinzipiellen Grundzügen: Die verschiedenartigen Lichtformen – rund, viereckig; je nachdem, durch welches Fenster die Sonnenstrahlen fallen – erscheinen auf den Innenwänden als je eigenständige Entitäten, sind jedoch allesamt lediglich Modifikationen ein und derselben Substanz, des Sonnenlichts. Die formale Verschiedenheit der somit rein akzidentiellen Modi ist bedingt durch die Verschiedenheit der ›Fenster‹, d. h. der Attribute, unter denen sich die eine Substanz ausspricht. Die imperativische, bildliche Aufforderung Maimons, ›macht die Fensterladen zu!‹, bezieht sich dabei unmittelbar auf Herz' Beharren auf der je eigenen, mithin unabhängigen Existenz seiner Person und der seines Gegenübers: ohne Sonnenlicht kein Widerschein, ohne Substanz keine einzelnen Entitäten. Zum erzählten Zeitpunkt, d. h. während Maimons konfliktreicher Berliner Zeit von 1780 bis 1782, vertrat dieser die hier metaphorisierte Philosophie Spinozas zwar noch selbst. Zum Zeitpunkt der Niederschrift und der Veröffentlichung der Erzählung, d. h. 1792/93, hatte sich dies jedoch grundlegend geändert. Da Maimon somit bereits aus der Perspektive eines Nicht-Spinozisten über seine eigene vergangene Spinozismus-Zeit berichtet, kann plausiblerweise davon ausgegangen werden, dass sich diese neue Perspektivik in der ErzähVgl. vorherige Anm.; hier gibt Maimon, ob beabsichtigt oder nicht, selbst einen Hinweis auf die Identität von Herrn »H. . .«. 119
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lung niederschlägt. Und durchaus: Um die Einheit der Substanz, des ›Sonnenlichts‹, die als solche keine Individuation kennt, überzeugend ›spinozistisch‹ zu illustrieren, wäre es weitaus naheliegender gewesen, hätte Maimon Herz aufgefordert, die Wand niederzureißen. Somit wäre Alles unterschiedslos Licht. Stattdessen nimmt Maimon die hypothetische Nichtexistenz der Substanz an, um Herz' Beharren auf Individualität abzuweisen. Diese Nichtexistenz würde dann, bei geschlossenen Fensterläden, zur Dunkelheit führen. 120 Dieses metaphorische Dunkel fügt sich nun treffend in den Sinnzusammenhang von Akosmismus und ›Zurückschaudern vor dem Nichts‹ ein: Es sind nicht die bloße Einheit der Substanz und die Einordnung der Vielheit der Dinge als Modi dieser Substanz, die zum Problem für Maimon werden. Es ist die Bestimmung der Substanz oder vielmehr ihr Mangel an spezifischer Bestimmtheit, der den frühen Spinozisten anscheinend bereits unterschwellig, diffus umtrieb und ins ungewollte Dunkel abdriften ließ. Die konzeptionelle Reichweite des Akosmismusbegriffs bei Maimon erstreckt sich somit nicht lediglich auf die Sphäre der Modi, um deren untergeordneten ontologischen Status es bloß gehe. Stattdessen ist auch die Substanz selbst nach Spinozas Verständnis, so Maimons Perspektive, von einer grundlegenden, in der Tat bedrohlichen Problematik mitbetroffen. Auf dieser Basis soll im weiteren Verlauf der Untersuchung, besonders in Kap. 4, ein Verständnis der Akosmismusthematik entwickelt werden, das den bisherigen, in Kürze zu besprechenden Forschungspositionen hierzu entgegentritt: Aus Maimons Sicht auf Spinozas Philosophie ist auch deren Substanz mit dem Problem von Nichtigkeit konfrontiert. Maimons ›Schaudern‹ und das Dunkel in der von ihm verwendeten Metaphorik legen dies durchaus nahe. Und immerhin ist in Maimons Disput mit Obereit, wie besprochen, explizit vom Nichts die Rede – seitens Obereit auch vom Nihilismus. 121 Vorausgreifend soll hier bereits angekündigt werden, dass das vorgeschlagene neuartige Verständnis von Maimons Begriff des Akosmismus diesen als Form von Nihilismus identifizieren wird, den Maimon Spinoza unterschwellig als unbeabsichtigte Folge seiner Substanzkonzeption vorwirft. Dies soll ausblicksweise in eine neuartige Sicht auf die vielschichtige Diskurskonstellation des späten 18. Jahrhunderts münden. Die Plausibilität dieser Sicht soll ebenfalls im Laufe von Kap. 4 bekräftigt werden. Zumindest wird an dieser Stelle bereits deutlich, inwieweit Maimon bestrebt gewesen sein mag, sich im Zuge der Entfaltung seiner eigenen PhiDass diese zum Zweck der metaphorischen Illustration gewählte hypothetische Annahme der Nichtexistenz der Substanz keineswegs mit Spinozas eigener Position konform gehen kann, wird in den Abschnitten 4.1 und 4.2 zu thematisieren sein. 121 Obereit ist wahrscheinlich der Erste, der den Nihilismusbegriff in der deutschsprachigen Philosophie verwendet, worauf in 4.1.3 zurückzukommen ist. 120
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losophie von Spinozas Metaphysikkonzept zu distanzieren. Was das zentrale Spezifikum dieser Philosophie Maimons darstellt und was in dessen Sinne letztlich die Gefahr durch das drohende ›Nicht‹ des Kosmos und den Verlust der Substanz im Dunkel abwenden soll, sind nun Konzeption und Position des Intellekts. Dies wird in Kap. 3 ausführlich zu erarbeiten und in Kap. 4 konkret anzuwenden sein – auch hinsichtlich der Fragestellung, ob Maimons Auffassung der Philosophie Spinozas als Akosmismus dieser überhaupt gerecht werden könne. Dass dies im Wesentlichen nicht der Fall ist, sei hier ebenfalls bereits vorweggenommen. Bisher wurde in der vorliegenden Untersuchung aufgrund der oberflächlich recht klaren Evidenzlage davon ausgegangen, Maimons späte Positionierungen zur Philosophie Spinozas, d. h. diejenigen aus dem Zeitraum ab 1789, stellten insgesamt eine dezidierte Ablehnung derselben dar. Dies ist im folgenden Teilabschnitt argumentativ weiter zu stützen: Hier sollen verschiedene, dem z. T. widersprechende Forschungspositionen vorgestellt, diskutiert, einander gegenübergestellt und evaluiert werden.
2.2.2 Forschungsperspektiven auf Maimons sich wandelnde Haltung zu Spinozas Philosophie
In seinem Aufsatz Salomon Maimon and the Rise of Spinozism in German Idealism von 2004 betrachtet Yitzhak Melamed eingehend Maimons Positionierung zur Philosophie Spinozas, auch hinsichtlich des Akosmismusbegriffs. Melameds These ist dabei, dass Maimon konsistent eine Form von »Spinozistic pantheism« 122 vertrete, auch in seinen späteren Schriften und trotz der dortigen Orientierung am Skeptizismus: »In spite of this skeptical turn, Maimon never completely abandoned Spinoza's philosophy«. 123 Das Ziel jener Untersuchung ist somit u. a., die Hintergründe von Maimons Spinozismus nachzuzeichnen. 124 Melamed geht insgesamt davon aus, dass es zwar zu Wandlungen in Maimons Haltung zu Spinoza gekommen sei, dass es dabei jedoch keinen grundsätzlichen Bruch gegeben habe. Maimons explizite Abkehr von der Philosophie Spinozas in den späten 1780er und frühen 1790er Jahren, also v. a. im Versuch über die Transzendentalphilosophie, wie in 2.2.1 beschrieben, sieht Melamed gewissermaßen als politisch motivierte Täuschung: Damit wolle Maimon dem nicht ungefährlichen Spinozismusvorwurf aus dem Weg gehen. Große Achtsamkeit, Melamed, Rise of Spinozism (2004), 68. Ebd. 124 Vgl. ebd., 69: »I will also examine the intellectual background of Maimon’s Spinozism and trace influences of Maimon’s contemporaries on his understanding of Spinoza.« 122
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»great caution«, 125 angesichts der zuvor von Maimon selbst erlebten Gefahren eines offen vertretenen Spinozismus habe ihn dazu gebracht, nach außen hin vorgeblich eher Elemente der Philosophie Leibniz' zu vertreten, 126 um nicht erneut mit den Feindseligkeiten seines philosophischen Umfeldes konfrontiert zu werden. Die Auffassung der Philosophie Spinozas als Akosmismus sieht Melamed in diesem Kontext als inadäquate 127 Umschreibung der insgesamt auch von Maimon selbst vertretenen Position des Pantheismus. Das ›Akosmische‹ in Maimons Verständnis der Philosophie Spinozas sei der sich darin vermeintlich ausdrückende Verlust von Vielheit in Illusion, der verhindert werden müsse. Dies sei dabei immerhin Anlass für Maimon gewesen, sich im Detail, wenn auch nicht generalisierend, kritisch mit dem Aspekt der Einheit der Substanz bei Spinoza auseinanderzusetzen: While he [sc. Maimon; D. E.] would probably accept that all determinations are ultimately grounded in one subject, he will suggest that it is not that they are all direct determinations of the ultimate subject, but rather that they are only related to it indirectly and transitively. The motivation behind this move of Maimon might have been an attempt to avoid Spinoza's alleged ›acosmism,‹ which he thought set a clear dichotomy between the real and unique substance, on the one hand, and the illusory manifold of modes, on the other hand. 128
Die Einordnung der Position Maimons als grundsätzlich pantheistisch begründet Melamed hingegen mithilfe von Textstellen aus der hebräischen Schrift Givʿath hamMore 129 von 1791: Dort schreibt Maimon, Gott sei nicht nur Wirk-, Form- und Finalursache der Welt, sondern auch deren Materialursache. 130 Melameds Bewertung: »The pantheistic implications of the claim that God is also the material cause of the world are quite clear«; 131 und weiter: »Maimon's Ebd., 93. Vgl. ebd., v. a. 78 f.; 93 f. Eine sehr ähnliche These vertritt Carlos Fraenkel; vgl. ders., Maimonides and Spinoza (2009), 233: »I would suggest that the motive for Maimon’s seemingly inconsistent attitude towards Spinoza was exoterically he found it more convenient to present himself as a disciple of Leibniz.« Fraenkels Annahme eines insgesamt signifikanten persistierenden Spinozismus in Maimons Philosophie wird in Kap. 4 weiterführend kritisch zu diskutieren sein. 127 Vgl. Melamed, Rise of Spinozism (2004), 92: »As I have already alluded to, I find the view of Spinoza as a Neo-Eleatic (or as an acosmist), which was shared by Maimon and most of his contemporaries, a misconception of Spinoza’s philosophy.« Die triftigen Gründe, die Melamed hier anführt, sollen ebenfalls in Kap. 4 näher beleuchtet werden, auch unter Rückgriff auf dessen Monographie Spinoza’s Metaphysics (2013). 128 Melamed, Rise of Spinozism (2004), 92 f. 129 Vgl. Anm. 27. 130 Vgl. Melamed, Rise of Spinozism (2004), 80 f. 131 Ebd., 81. 125 126
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view of God as the material cause of the world [. . .] make[s] clear the central and overriding role of Spinoza's influence on Maimon's philosophy.« 132 Ergänzend bezieht sich Melamed hier 133 auf Maimons Manusript H . esheq 134 Shelomo (חשׁק שׁלמה, »Salomons Verlangen«, vgl. 1 Kön 9,1). Dieses ist auf 1778 datiert und entstand somit im Wesentlichen während Maimons Posener Zeit, wurde in Teilen vermutlich jedoch schon zuvor in Polen verfasst. 135 In dem fünfteiligen Schriftstück werden die Themenfelder Kabbala, Astrologie, Wissenschaft, Mathematik und Bibelkommentare besprochen. 136 Dabei wird von Melamed jedoch nicht weiter thematisiert, ob dieses damit sehr frühe Manuskript überhaupt ohne Weiteres in direkte Verbindung mit Maimons Position um 1790 und später gebracht werden kann. Aufgrund der systematisch deutlich erkennbaren Wandlungen in Maimons Denken, insbesondere durch seine in Kap. 3 zu erörternde Bekanntschaft mit der kantischen Philosophie ab 1787, erscheint Melameds unmittelbarer Miteinbezug des (als solchen sehr wichtigen) Manuskripts zum wenigsten problematisch. Um Melameds für die vorliegende Untersuchung einschlägige Thesen nochmals skizzierend zusammenzufassen: Maimon vertrete, maßgeblich durch Spinoza geprägt, eine pantheistische Position 137 und distanziere sich nur scheinbar von dessen Philosophie, um nicht erneut aus dem philosophischen Diskurs Ebd., 93 f. Vgl. ebd., 79; 81. 134 Das in Anm. 83 bereits erwähnte Manuskript wird aktuell unter der Nummer MS 806426 in der National and University Library in Jerusalem aufbewahrt; vgl. Melamed, Rise of Spinozism (2004), 69 (Anm. 7). Es handelt sich hierbei um eine der anscheinend lediglich zwei noch existierenden Arbeiten aus Maimons handschriftlichem Nachlass: Dieser wurde z. T. direkt nach Maimons Tod verbrannt. Die übriggebliebenen Stücke wurden in der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums in Berlin aufbewahrt, von dort 1940 beschlagnahmt und 1943 bei einem Bombenangriff zerstört; vgl. Engstler, Untersuchungen (1990), 20 (Anm. 31). Engstler führt als vermeintlich einziges Überbleibsel »ein[en] aus der Breslauer Zeit [sc. 1786/87; D. E.] stammende[n] hebräisch geschriebene[n] Traktat über Newtons Physik« (ebd.) an (vgl. I, 549: »eine Naturlehre nach neutonianischen Prinzipien [. . .] in hebräischer Sprache«), befindlich »in der Bodleian Library Oxford, Department of Oriental Books, als ›MS. Mich. 186‹ unter der Nummer 2061« (Engstler, Untersuchungen (1990), 20 (Anm. 31); vgl. Kuntze, Die Philosophie Salomon Maimons (1912), 16 f.). Titel dieses auf 1787 datierten Manuskripts ist Taʿalumoth H . okhma (תעלמות חכמה, »Mysterien der Weisheit«); vgl. Geiger, Entwickelungsgeschichte (1866), 191 f.; Ehrensperger, Einleitung (2004), XIV. – Zusammen mit dem von Melamed genannten Manuskript H . esheq Shelomo in Jerusalem, dessen Fortbestehen nach 1943 Engstler anscheinend noch nicht bekannt gewesen ist, sind somit aktuell zwei bislang unveröffentlichte Überbleibsel des Nachlasses registriert. 135 Vgl. Melamed, Spinozism, Acosmism, and Hassidism (2018), 82. 136 Vgl. Ehrensperger, Einleitung (2004), XII, hier nach Auskunft von Melamed; zu Datierung und Inhalt vgl. weiterführend Geiger, Entwickelungsgeschichte (1866), 192–199. 137 Eine damit weitgehend übereinstimmende Perspektive vertritt Florian Ehrensperger, laut dem Maimons Position im »Sinne eines pantheistischen Dogmatismus« zu rekonstruieren sei (Ehrensperger, Weltseele (2006), 136), v. a. im Rekurs auf Maimonides; vgl. ebd., 116 (Anm. 415). 132 133
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der Haskala ausgeschlossen zu werden. Auch wenn er den Spinozismus als akosmische Philosophie missverstehe und daran partiell Anstoß nehme, sei es in seinem philosophischen Werdegang zu keiner tatsächlichen Abstandnahme vom Denken Spinozas gekommen. Der Einfluss bleibe signifikant, allerdings seien auch systematische Abweichungen Maimons von Spinoza festzustellen. Melameds Abhandlung kommt bezüglich der Erforschung des Verhältnisses Maimons zu Spinoza das Verdienst verschiedener deutlicher Fortschritte zu. Hervorzuheben sind hier u. a. die Erläuterungen zu Maimons späteren Behauptungen der klaren Nähe von Leibniz' Philosophie zu derjenigen Spinozas, die das in Rede stehende Verhältnis nochmals komplexer werden lassen. 138 Auch der Miteinbezug der schwer zugänglichen Schrift H . esheq Shelomo ist zu nennen, ebenso die Erörterung der Akosmismusthese als in verschiedenen Hinsichten inadäquat. Der letztgenannte, systematisch wichtige Aspekt wird in Abschnitt 4.2 näher besprochen werden. 139 Zu problematisieren ist jedoch Melameds Annahme, Maimons Philosophie sei insgesamt pantheistisch: Wie dargestellt, beruft sich Melamed hier auf die Identifikation Gottes mit allen vier aristotelischen Ursachentypen in Maimons Givʿath hamMore. Unter Rekurs auf die Überlegungen in 2.2.1 ist hierzu jedoch Folgendes festzustellen: Selbst wenn Maimon Gott in diesem Schriftstück als Materialursache der Welt versteht – wie Melamed anhand direkter Zitation (s. o.) klar belegt –, so bleibt die prinzipielle Differenz der Welt von Gott hier noch immer konstitutiv. Schließlich ist Gott in diesem Modell ebenfalls externe Final- und Wirkursache der Welt. In dieser Hinsicht ist er der Welt als ihr aktiv handelnder, intellektualer Schöpfer transzendent, auch wenn durch den Miteinbezug der Materialursache zusätzlich ein Immanenzaspekt zum Tragen kommt. Die angeführten Äußerungen Maimons erscheinen daher allein nicht hinreichend, um dessen Philosophie als ›pantheistisch‹ im Sinne der deutlich radikaleren Substanztheorie Spinozas zu erklären. Für letzteren gibt es, in seiner Theorie der Immanenz, schließlich keine Transzendenzrelation zwischen Gott und Welt, 140 mithin auch keine Konzeption eines finalursächlichen Schöpfungsaktes. In Abgrenzung zu Spinozas Philosophie könnte Maimons an dieser Stelle angeführtes Theorem eher als Panentheismus 141 definiert werDieser Aspekt steht in der vorliegenden Abhandlung, die sich auf die spezifische Position Maimons zwischen Spinoza und Kant konzentriert, nicht im Vordergrund. Auf Elemente der Philosophie Leibniz’ in Maimons Kant-Kritik sowie in seiner Spinoza-Rezeption wird jedoch in Abschnitt 3.4 bzw. in 4.3.1 einzugehen sein. 139 S. u., Anm. 477. 140 Vgl. Anm. 109. 141 Das Konzept des Panentheismus, d. h. des Ineinandergreifens von Transzendenz- und Immanenzaspekten hinsichtlich des Gott-Welt-Verhältnisses, wurde v. a. durch den Philosophen Karl 138
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den, da sich hier sowohl Transzendenz- als auch Immanenzaspekte zeigen. 142 Nahezu idealtypisch für eine panentheistische Position – unter zusätzlicher Berücksichtigung der genannten Aspekte von Wirk- und Finalursächlichkeit – sei dazu eine Äußerung Maimons aus der von Melamed als eine der Hauptquellen genannten Schrift Givʿath hamMore angeführt, hier in der Übersetzung von Carlos Fraenkel: »It clearly follows from this that the world is in Him [העולם ]נמצא בו, exalted be He, as the intellectual cognition is in the intellect.« 143 Hinzu kommt, dass Melamed nicht unmittelbar auf weitere spätere Stellungnahmen Maimons zum Spinozismusproblem eingeht. Durch diese Positionierungen kann die hier besprochene Pantheismuszuschreibung weiterführend angefochten werden. Derentwegen kann zudem auch die provisorische Charakterisierung als Panentheismus nicht vorbehaltlos stehen bleiben. Jene Äußerungen sollen zum Ende von Kap. 5 vertiefend in den Fokus gestellt werden. Problematisch ist zudem – dies sei an dieser Stelle vorgreifend angeführt – die Einordnung von Maimons Idee eines unendlichen Verstandes als Thema von bloß sekundärer Wichtigkeit. 144 Was diesen Teilaspekt betrifft, scheint Samuel Atlas in seinem frühen grundlegenden Aufsatz Solomon Maimon and Spinoza von 1959, in dem das Theorem des unendlichen Verstandes eine zentralere C. F. Krause geprägt. Dieser versteht Panentheismus (πᾶν ἐν θεῷ, »All in Gott«) als die Theorie der Immanenz der Welt in Gott, der dieser Welt dabei auch transzendent ist; vgl. ders., Vorlesungen über das System der Philosophie, Bd. 1 (1869), 302–322, v. a. 308–311. Zu dieser Konzeption, sowohl auf Krause bezugnehmend, als auch generell gefasst, sei hier auf die theologischen Forschungsbeiträge Benedikt P. Göckes verwiesen; vgl. u. a. ders., Alles in Gott (2012); ders., Panentheismus als Leitkategorie theologischen Denkens? (2015). 142 Abweichend von seiner ehemaligen Positionierung (vgl. Melamed, Spinoza’s Metaphysics (2013), 20) plädiert Yitzhak Melamed aktuell dafür, Spinozas Philosophie sei ebenfalls als Panentheismus, nicht Pantheismus, zu verstehen. Dies wird insbesondere damit begründet, dass Gott laut Spinoza die Welt physischer und mentaler Entitäten transzendiere. Damit ist jedoch nicht etwa ein transzendent-kausaler Schöpfungsakt gemeint, der über das Immanenzverhältnis zwischen Modi und Substanz hinausginge (vgl. 2.2.1, v. a. Anm. 109). Vielmehr transzendiere Gott die Welt, indem uns von den unendlich vielen Attributen Gottes, d. h. der Substanz, lediglich zwei bekannt seien, nämlich Denken und Ausdehnung; vgl. Melamed, A Concise Grammar of Pantheism (2018), 10; 16–18; ders., Cohen, Spinoza (2018), 174 f.; 177. Gott sei daher ›mehr‹ als die Welt und erschöpfe sich nicht in ihr. Hiergegen lässt sich jedoch einwenden, dass Substanz und Attribute Spinoza zufolge konstitutiv keinerlei Teilbarkeitsverhältnisse kennen: Demgemäß bringt sich das Wesen der Substanz bspw. im Attribut des Denkens ungeteilt und vollständig zum Ausdruck. Wird jenes Wesen der Substanz also in diesem Attribut begriffen, kann daher nicht gesagt werden, dass dabei weitere Aspekte dieses Wesens (nämlich potenziell unendlich viele) unbekannt und unzugänglich blieben. – Diese Überlegungen zur Position Spinozas sollen in Kap. 4 umfangreich ausgeführt werden. 143 Fraenkel, Maimonides and Spinoza (2009), 228 (Hervorhebung: D. E.). Original: Maimon, Givʿath hamMore (1791/1965), 165. 144 Vgl. Melamed, Rise of Spinozism (2004), 93: »I have avoided several relevant issues, which I believe to be of secondary importance. [Anm. 93: ›Of such kind are Maimon’s doctrine of the WorldSoul [. . .] and his suggestion to replace Kant’s three ideas with the idea of an infinite intellect.‹]«
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Position einnimmt, in eine sinnvollere Richtung zu weisen. Zumindest stellt Atlas fest, dass die Auffassung von Spinozismus als Akosmismus im Konnex zur Verstandeskonzeption Maimons betrachtet werden sollte. Ebendies wird auch in der vorliegenden Betrachtung als eine der wesentlichen Prämissen angenommen. Jene Verstandeskonzeption steht ihrerseits in einem spezifischen dualismuskritischen Problemkontext, was an dieser Stelle ebenfalls antizipierend in Aussicht gestellt werden kann: Now Maimon's conception of Spinoza's pantheism as acosmism should be understood in connection with his own conception of the idea of an infinite mind, to the assumption of which he was driven by the consideration of the epistemological question concerning the relation of understanding to sensibility. 145
Inwieweit die Akosmismusthematik also mit Maimons Modell intellektualer Erkenntnis zusammenhängt und wie sich dieses Modell gerade auch in der Auseinandersetzung mit der epistemologischen Dualismusproblematik konstituiert, soll im Gesamtverlauf der vorliegenden Studie ausführlich entwickelt werden. In welcher Hinsicht sich der hier vertretene Ansatz dabei von Atlas' früher Perspektive letztlich unterscheiden wird, ist in Kap. 3 zu besprechen. Dies gilt gerade im Hinblick auf den dort verwendeten ›mind‹-Begriff. 146 Dass Atlas im dargestellten Zusammenhang gerade die wesentliche Differenz zwischen Spinoza und Maimon im Fokus hat, 147 soll demgegenüber in Kap. 4 aufgegriffen werden, unter Einschränkung affirmierend. Sofern die Bestimmung der Philosophie Maimons als insgesamt durchgehend spinozistisch also problematisiert werden kann, erscheint es auch unplausibel, dass seine explizit behauptete Abkehr vom Spinozismus lediglich vorgetäuscht gewesen sei. Demgegenüber ist hier zu vertreten und in den anzuschließenden Betrachtungen systematisch zu untermauern, dass diese Abkehr philosophisch durchaus ernst gemeint ist. In der Tat wird sie schon im Versuch, also unmittelbar vor 1790, vollzogen sowie in den Folgejahren fortgeführt. Denn immerhin impliziert die Akosmismuszuschreibung, sofern sie mit dem Diktum vom ›Zurückschaudern vor dem Nichts‹ in Verbindung gebracht wird, eine für Maimon philosophisch signifikante Bedrohung. Diese wiederum erfordert deutlich mehr Aufwand als eine bloß begrenzte Modifikation der Philosophie Spinozas. In seinem jüngeren Forschungsbeitrag Spinozism, Acosmism, and Hassidism: A Closed Circle (2018) 148 betrachtet Melamed Maimons Bekanntschaft mit der 145 146 147 148
Atlas, Maimon and Spinoza (1959), 254. Vgl. ebd. Vgl. v. a. ebd., 255. Vgl. Anm. 54.
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in 2.1.1 bereits kurz genannten osteuropäischen Bewegung der neuen Chassidim um Rabbi Dov Bär, den ›Maggid von Mesritsch‹. Als deren spirituelles Hauptanliegen identifiziert Maimon die »Selbstzernichtung vor Gott« (I, 208). 149 Melamed geht von der Annahme aus, Maimons spätere auf Spinoza gerichtete Verwendung des Akosmismusbegriffs sei durch seinen Kontakt zum Chassidismus um 1770 150 beeinflusst gewesen: 151 Schließlich vertritt die Bewegung selbst eine Position, die als Akosmismus charakterisiert werden könnte, und zwar im Kontext des kontemplativen, jedoch nicht-asketischen Strebens nach Selbstnegation: »That all particularity was truly a manifestation of the infinity of God – and thus the distinct reality of particularity an illusion – was one of the most striking teachings of Hassidism.« 152 Alternativ könnte diese Lehre als Pantheismus verstanden werden, wie auch bisweilen geschehen. Daher könne der Streit zwischen rabbinischen Autoritäten und dem neuen Chassidismus im Litauen des 18. Jahrhunderts gewissermaßen, so eine weitere These Melameds, als zweiter Pantheismusstreit angesehen werden – geographisch zwar weitab von demjenigen zwischen Mendelssohn und Jacobi, jedoch nahezu zeitgleich. 153 Diese wichtigen, komplexen religionsgeschichtlichen Überlegungen zum Hintergrund der Akosmismusthematik können an dieser Stelle nicht weiterverfolgt werden. Immerhin kann hier jedoch ein kurzer Ausblick auf jenes Forschungsfeld gegeben werden. Dabei zeigt sich zudem, dass der Akosmismusbegriff auch in aktuelleren Diskussionen noch auftaucht: Melamed berichtet, dass es in den 1990er Jahren zu einer Debatte zwischen Chassidismusforschern um die Frage gekommen sei, inwiefern der frühe Chassidismus des 18. Jahrhunderts als Akosmismus charakterisiert werden könne. – »[T]here is a certain historical irony in the very posing of the question«, 154 so Melamed, sofern seine These richtig sei: Denn immerhin sei das erstmalige Auftreten des dort in Diskussion stehenden Akosmismusbegriffs gerade durch Maimons Begegnung mit ebendiesem frühen Chassidismus geprägt gewesen, womit sich der Kreis schließe. 155 Im Kontext der Maimon-Forschung Melameds sind auch die Schriften Abraham Sochers, zusammen mit Melamed Herausgeber der aktuellen englischen Übersetzung der Lebensgeschichte, 156 relevant, hier v. a. die Monographie The Radical Enlightenment of Solomon Maimon. Judaism, Heresy, and PhiloVgl. Melamed, Spinozism, Acosmism, and Hassidism (2018), 75; 78 f.; 82. Vgl. ebd., 76. 151 Vgl. ebd., 83: »The term ›acosmist,‹ I argue, was coined by Salomon Maimon under the influence of his brief yet intense encounter with the circle of the Maggid of Mezrich.« 152 Ebd., 76. 153 Vgl. ebd., 78. 154 Ebd., 83. 155 Vgl. ebd. 156 Vgl. Anm. 52. 149
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Maimons Abkehr von der Philosophie Spinozas
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sophy von 2006. 157 Dort wird das Bild Maimons in der neueren philosophiesowie kulturhistorischen und judaistischen Forschung in den USA reichhaltig wiedergegeben. Maimon wird hier verstanden als Aufklärer zwischen verschiedenen kulturellen Umfeldern – osteuropäischem Judentum, deutscher Aufklärung, Haskala –, zugleich gewissermaßen als Häretiker, apiqores. 158 Relevant ist zudem Sochers ausführliche, historisch kontextualisierte Darstellung des intellektuellen Vollkommenheitsstrebens als zentrales, im Grunde auch aristotelisch-maimonidisches Motiv in Maimons Denken. 159 Hier zeigt sich, kongruent zur Position Melameds, ebenfalls die Charakterisierung der Philosophie Maimons als ›radikal pantheistisch‹; 160 sogar eine Intensivierung dahingehend, dass der Akosmismus, hier nun synonym zum Pantheismus, als Maimons eigene Position verstanden wird: Socher spricht daher explizit von ›Maimons Pantheismus, oder Akosmismus‹. 161 Als chronologisch unmittelbar vorhergehende Gegenposition zu Melamed und Socher ist unter Berücksichtigung der hier relevanten Fragestellungen besonders Wolfgang Bonsiepens Abhandlung Salomon Maimons Einsicht in die Unausführbarkeit seines Versuchs einer Vereinigung von kantischer Philosophie und Spinozismus von 2002 anzuführen. Da der wichtige Aufsatz in der bisher besprochenen US-amerikanischen Maimon-Forschung nicht rezipiert wurde, bietet sich hier die erstmalige Möglichkeit, diese verschiedenen Positionen in Diskussion zueinander zu setzen. Wie Melamed untersucht auch Bonsiepen Maimons Spinoza-Interpretation im Kontext seiner Referenz auf Leibniz. 162 Zu Maimons Akosmismusbegriff in Bezug auf Spinozas Philosophie geht Bonsiepen davon aus, dass Maimon diesen Akosmismus eben nicht selbst vertrete, sondern dies als Vorwurf gegen die Philosophie Spinozas anführe. Damit unterscheidet sich Bonsiepens Einschätzung v. a. von derjenigen Sochers: Gegen Spinoza wendet Maimon ein, daß er Gott und die Welt als ein und dieselbe Substanz denke. Dies ist nicht so zu verstehen, daß Gott auf die Welt reduziert wird, sondern umgekehrt. Es ist deshalb [. . .] unsinnig, Spinozas System, dem eher der Vorwurf des Akosmismus zu machen ist, atheistisch zu nennen. 163 Vgl. Anm. 21. Vgl. Anm. 66. 159 Vgl. Socher, Radical Enlightenment (2006), v. a. 58 f.; 64; 83; 99; 126–128; 132 f.; 139; 159. 160 Vgl. ebd., 61; 75. 161 Vgl. ebd., 77: »Maimon’s pantheism, or ›acosmism‹ as he would later insist on calling it (because the doctrine is that everything in the cosmos is god)«. Hier bleibt zudem die eigentliche Charakteristik des Akosmismus unberücksichtigt: Dieser sagt eben nicht aus, alles im Kosmos sei Gott bzw. der Kosmos sei Gott, sondern ganz unmittelbar, es sei kein Kosmos. 162 Vgl. Bonsiepen, Einsicht (2002), 379; 381 f.; 397–405. 163 Ebd., 404. 157 158
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In den folgenden Betrachtungen soll die also auch von Bonsiepen vertretene These, die Akosmismuszuschreibung sei ein Vorwurf an Spinoza, und zwar ein schwerwiegender, weiterführend untermauert werden. Bonsiepens Untersuchung wird insbesondere in Kap. 4 relevant werden: Dort wird es u. a. um die Frage gehen, wie Maimons spätere Revision seines Versuchs als gescheitertes Projekt der Vereinigung von kantischer Philosophie und Spinozismus zu bewerten sei. Auch in Kap. 5 soll Bonsiepens Erörterung zu Rate gezogen werden: Zu Maimons ›Spätphilosophie‹, die Thema jenes Kapitels sein wird, legt Bonsiepen einen sehr knappen, jedoch eingängigen Grundriss vor. 164 Inwieweit gerade diese Spätphilosophie als Gegenentwurf zum Akosmismus und als Gegenmodell zu Spinozas Substanztheorie aufgefasst werden kann, kommt bei Bonsiepen jedoch nicht weiter zur Sprache. Stattdessen identifiziert er Maimons Theorem des unendlichen Verstandes sowie das damit einhergehende »Bemühen einer Umformung der kantischen Ideenlehre«, 165 das von Melamed zwei Jahre später als Nebenschauplatz bestimmt werden wird, 166 als Grund für den »bei Maimon trotz aller Vorbehalte existente[n] Spinozismus«. 167 Da gerade hierin aber Maimons Kernargument gegen Spinoza gesehen werden kann, wird diese These in Kap. 4 kritisch zu diskutieren sein. In den bisherigen Ausführungen ist bereits angeklungen, dass Maimons Auseinandersetzung mit der Philosophie Spinozas im Wesentlichen abseits des zentralen Spinoza-Streits zwischen Mendelssohn und Jacobi um 1785 geschah. Hierfür lassen sich sowohl historische als auch systematische Gründe nennen. Da diese bereits angesprochene, zeitlich klar eingrenzbare ›Außenseiterposition‹ für die vorliegende Untersuchung insgesamt von Bedeutung ist, soll hierauf im folgenden Abschnitt näher eingegangen werden, ebenfalls unter Rekurs auf einschlägige aktuelle Forschungsliteratur.
2.3 Maimons Position zum zentralen Spinoza-Streit um 1785
Es gibt durchaus deutlich erkennbare spätere Auswirkungen des SpinozaStreits auf Maimons philosophisches Schaffen, wenn auch zeitlich und thematisch eingrenzbar. Diese interessanten Verknüpfungen wurden bereits in der Einleitung erwähnt und sollen hier weiter erläutert werden: Maimon fertigt bereits um 1786 eine hebräische Übersetzung der Morgenstunden (1785) MenVgl. ebd., 405 f. Ebd., 406. 166 Vgl. Anm. 144. 167 Bonsiepen, Einsicht (2002), 406. Zur Schwäche dieses Arguments für die Annahme der Position Maimons als spinozistisch s. u., 3.2.4. 164 165
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delssohns an, die dessen hauptsächlichen Beitrag zum Disput mit Jacobi über die Spinozismusproblematik darstellen. Dies bleibt zunächst allerdings ohne systematisch klar erfassbare Folge für die Konstituierung von Maimons eigenständiger philosophischer Position in den Folgejahren. 1793 legt Maimon in der Progressen-Schrift 168 dann jedoch eine entschiedene Kritik an der Philosophie seines »würdigen Freundes« (I, 472) Mendelssohn vor. 169 Außerdem liest, kommentiert und übersetzt er Teile von Jacobis Bruno-Exzerpt, 170 der Beylage I der Zweitauflage der Spinozabriefe von 1789 mit dem Titel »Auszug aus Jordan Bruno von Nola. Von der Ursache, dem Prinzip und dem Einen«. 171 Maimons hebräische Übersetzung des Exzerpts wird 1791, ebenso wie die Übersetzung der Morgenstunden, 172 auszugsweise in die Schrift Givʿath hamMore aufgenommen, wie Paul Franks in seinem Artikel All or nothing. Systematicity and Nihilism in Jacobi, Reinhold, and Maimon (2000) betont. 173 Laut Abraham Socher handelt es sich bei der Schrift Givʿath hamMore um ›das erste auf Hebräisch verfasste Werk der modernen Philosophie‹. 174 Diese Einschätzung ist zwar diskussionswürdig; dennoch: Dass Jacobi und Mendelssohn über den Umweg der Übersetzungen Maimons Eingang gefunden haben in dieses so verstandene philosophie- und sprachhistorische ›Erstlingswerk‹, ist ein bisher nicht adäquat thematisiertes und gewürdigtes Detail der deutsch-jüdischen Geistesgeschichte. Maimons Referenz auf den »tiefdenkende[n] Jakobi« (I, 488) zeigt sich außerdem als Anstoß für die Übernahme von Giordano Brunos Begriff der Weltseele durch Maimon ab 1790. 175 Dieser Aspekt der Spätphilosophie Maimons soll in Kap. 5 weiter erörtert werden. Mit Blick auf die Akosmismusthematik, die hier im thematischen Mittelpunkt steht, muss jedoch v. a. auf diejenigen historischen wie systematischen Aspekte eingegangen werden, aufgrund derer Maimons philosophische Tätigkeit im Wesentlichen außerhalb jenes Diskurses zu verorten ist: Wie im Zuge der chronologischen Übersicht in Abschnitt 2.1 geschildert, wurde der Vgl. Anm. 115. Vgl. Engstler, Zwischen Kabbala und Kant (1994), 170 (Anm. 51). Auf diese Kritik wird in 4.3.1 näher einzugehen sein. 170 Vgl. Bruno, Von der Ursache, dem Prinzip und dem Einen (1584/1993); hierzu weiterführend Otto, Spinoza ante Spinozam (2004). 171 JWA 1,1, 147–268; darin JWA 1,1, 185–205. Vgl. auch Maimons Kommentar zum Exzerpt »nach Hr. Jakobi Uebersetzung« (IV, 616) im Magazin zur Erfahrungsseelenkunde (IV, 617–652). 172 Vgl. Ehrensperger, Einleitung (2004), XIII. 173 Vgl. Franks, Systematicity and Nihilism (2000), 109 (Anm. 109). 174 Vgl. Socher, Radical Enlightenment (2006), 45: »[. . .] the first work of modern philosophy composed in Hebrew«. 175 Vgl. hierzu Maimon, Ueber die Weltseele (Entelechia universi.) (1790) (= WS; vgl. Anm. 80); sowie den damit weitgehend übereinstimmenden, leicht gekürzten Artikel »Weltseele« im Philosophischen Wörterbuch von 1791 (= III, 203–232). 168 169
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Grundstein für Maimons Spinoza-Verständnis bereits während seiner frühen Beschäftigung mit der Kabbala gelegt. 176 In diesem Rahmen kam es zu einer ersten Bekanntschaft mit Spinozas System, wobei sich dieser Kontakt lediglich diffus erfassen lässt. Die u. a. darauf basierende Hauptphase der positiven Haltung Maimons zur Philosophie Spinozas lag dann in der Zeitspanne von 1780 bis 1782, der Dauer seines zweiten Berlin-Aufenthalts. Hier kam es zur vertiefenden Beschäftigung mit Spinozas Schriften und zum Streitfall Maimons mit Vertretern der Haskala. Dies betraf in erster Linie Moses Mendelssohn und Marcus Herz, hauptsächlich aufgrund von Maimons enthusiastischer Parteinahme für das »schädliche System[]« (I, 544) des Spinozismus. Die Konflikte, die Maimon somit innerhalb der Berliner Haskala verursacht hat, führen 1782 dann zu seiner Abreise aus Berlin. Damit will Maimon, so im Streitgespräch mit Mendelssohn deutlich werdend, weitere Probleme vermeiden: »Ich sehe aber wohl, [. . .] daß ich von Berlin weg muss, wohin? gleichviel; und damit nahm ich von Mendelssohn Abschied.« (I, 501) Aufgrund seines eigenen frühen Spinozismus, der ja eine der Hauptursachen für die genannten Konflikte gewesen ist, verabschiedet sich Maimon somit bereits aus dem Berliner philosophischen Diskurs, bevor sich dieser hinsichtlich der Spinoza-Problematik erst maßgeblich intensiviert. Die Phase von Maimons eigenem Spinozismus liegt damit vor Beginn der eigentlichen Publikationsphase des Spinoza-Streits 1785. 177 Mit Sicherheit nicht zufällig – »wohin? gleichviel« (I, 501) – hält sich der Spinozist Maimon nach 1782 dann u. a. in Amsterdam und Den Haag auf. Zwar kommt es um 1785 erneut zu einem Zwischenhalt in Berlin und Dessau; dieser kurze Abschnitt ist jedoch abermals von Konflikten geprägt. Maimon übersetzt, wie bereits genannt, kurze Zeit später in Breslau Mendelssohns Morgenstunden ins Hebräische (vgl. I, 548; s. o.); über diesen von Maimon bloß marginal erwähnten Aspekt hinaus kommt es hier jedoch zu keinem erfassbaren Bezug zum Spinoza-Diskurs der Zeit (vgl. I, 536–543; s. o.). Zur Kernphase des Spinoza-Streits zwischen Mendelssohn und Jacobi, d. h. zur Veröffentlichung der Erstauflage der Spinozabriefe 1785 (JWA 1,1, 1–146), hält Maimon somit keinen philosophisch wirksamen, direkten Kontakt zum Berliner Diskurs: In Maimons intensive, früh beginnende Auseinandersetzung mit der Kabbala kann auch als Hintergrund seiner späteren Auffassung gelten, laut Spinoza seien endliche Entitäten Einschränkungen des ›Reellen‹, Unendlichen; vgl. Anm. 116. 177 Der Briefwechsel zwischen Jacobi und Mendelssohn, durch den der Disput initiiert wird, beginnt im November 1783; vgl. JBW I,3, 227–246. Dieser Briefwechsel wurde wiederum durch Margaretha Elisabeth Reimarus zu Beginn jenes Jahres vermittelt; vgl. JBW I,3, 132; 137 f.; 172 f.; 202– 204; JWA 1,1, 7 f. – Mendelssohns warnende Kritik an Maimons Spinozismus, die 1782 zu Maimons Abreise aus Berlin führt, liegt also ebenfalls zeitlich vor jenem Disput. 176
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dieser Phase ist er entweder auswärtig auf Reisen oder aber in verschiedene Konflikte mit Vertretern der Haskala involviert. Maimons Rückkehr nach Berlin, vermutlich 1787, 178 fällt in die Zeit nach Mendelssohns Tod. Nun sind es u. a. Lazarus Bendavid, Marcus Herz und Saul Ascher (s. o., 2.1.2), die Maimons philosophische Aktivitäten und Ambitionen begleiten. Der Fokus dieser Aktivitäten liegt nun klar auf der intensiven Lektüre der KrV ab 1787, mit der Veröffentlichung des Versuchs über die Transzendentalphilosophie Ende 1789 als Resultat. Wie als zentrale These der folgenden Kap. 3 und 4 auszuführen sein wird, war es nun diese kritische Auseinandersetzung, die Maimons eigene philosophische Position maßgeblich bestimmte – seine im Wesentlichen erst später, ab 1790 beginnende, oben beschriebene Beschäftigung mit den Schriften des Spinoza-Streits ist hierfür nicht von entscheidender Relevanz. Durch jene eigene philosophische Position Maimons wird seine spätere Klassifizierung der ehemals selbst vertretenen Philosophie Spinozas als akosmisch erst verständlich, wie weiterhin gezeigt werden soll. In jener zentralen Entwicklungsphase von Maimons transzendentalphilosophischem Ansatz zwischen 1787 und 1789 sind es somit Referenzpunkte außerhalb des eigentlichen Spinoza-Streits, die für diese Entwicklung von wesentlicher Bedeutung sind. Es lässt sich daher plausiblermaßen annehmen, dass sich Maimons Position ›zwischen Spinoza und Kant‹ schon aus diesen rezeptionshistorischen Gründen weitgehend abseits der zentralen SpinozaKontroverse um 1785 entfaltete und somit gewissermaßen einen Nebenschauplatz zu dieser darstellte. Gleiches gilt für den dabei relevanten systematischen Aspekt: Die spätere Akosmismuszuschreibung von 1792 ist, wie geschildert, Maimons originärer Beitrag zur generellen Spinoza-Rezeption der Epoche um 1800. Im weiteren Verlauf der vorliegenden Untersuchung wird sich zeigen, dass der eigentliche philosophische Hintergrund der Akosmismusthese Maimons in erster Linie durch dessen spezifische Intellektkonzeption bestimmt ist. Diese wiederum bildet sich primär in seiner Auseinandersetzung mit Kants Transzendentalphilosophie heraus. Jene Auseinandersetzung vollzieht sich, wie gesagt, im Wesentlichen unabhängig vom Spinoza-Streit um 1785. Deshalb lässt sich hinsichtlich des Akosmismusvorwurfs keine signifikante inhaltliche Verknüpfung zum Streit zwischen Mendelssohn und Jacobi – veranlasst durch Gotthold Ephraim Lessings in Diskussion stehende affirmative Positionierung zum ῝Εν καὶ Πᾶν 179 der Philosophie Spinozas – herstellen, die eine vertiefende systematische Einordnung Maimons in diesen Diskursrahmen ermöglichen würde. 178 179
Vgl. Anm. 75. Vgl. v. a. JWA 1,1, 16 f.; 40.
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Trotz der genannten rezeptionsgeschichtlichen Hintergründe vertritt Bruce Rosenstock in seinem Artikel ›God . . . Has Sent Me to Germany‹: Salomon Maimon, Friedrich Jacobi, and the Spinoza Quarrel (2014) den Interpretationsansatz, Maimons Versuch könne als gewissermaßen antifideistische Reaktion auf Jacobis Schrift David Hume über den Glauben oder Idealismus und Realismus von 1787 (JWA 2,1, 5–112) gelesen werden. 180 Aufgrund der oben erläuterten Position Maimons abseits des Diskurses um Jacobi, der sich hier in gänzlich anderer Zugangsweise als Maimon kritisch mit Kants (nicht mehr primär Spinozas) Philosophie auseinandersetzt, erscheint dieser Ansatz jedoch nicht plausibel: Schließlich beschäftigt sich Maimon ab 1787 fokussiert mit Kants KrV selbst und entwickelt sein eigenes transzendentalphilosophisches Theorem ganz entschieden auf Grundlage dieser frontalen Auseinandersetzung. Mögliche systematische Entgegensetzungen von Jacobi und Maimon bleiben natürlich von Interesse: Dies betrifft u. a. das Verhältnis von Glauben und Rationalität, das Rosenstock hier bespricht. Hierzu sei auf Paul Franks' o. g. Artikel All or nothing verwiesen, auf den sich auch Rosenstock bezieht. 181 Dessen eigene Begründung für diese Kontextualisierung überzeugt weitgehend jedoch nicht: denn als zentrale Referenzstelle für diese Begründung nennt Rosenstock Maimons spätere Verwendung der Figur des Salto mortale (vgl. III, 455; s. o.), die hier als unmissverständliche Bezugnahme auf Jacobi aufgefasst wird: »Maimon, in an unmistakeable reference to Jacobi, describes his Essay as offering a different salto mortale. If Jacobi recommends a downward leap from the heights of an ›empty‹ reason into the givenness of experience, Maimon calls for an upward leap toward the infinite mind of God.« 182 Wie in 2.2.1 dargestellt wurde, entlehnt Maimon diesen Terminus, an dortiger Stelle als kommentierender Herausgeber des Magazins zur Erfahrungsseelenkunde tätig, jedoch unmittelbar von Jacob Hermann Obereit und nicht von Jacobi. Jener wurde bei der Verwendung der Figur sicherlich von diesem geprägt. 183 Obereits eigener »evidente[r] Salto mortale« unterscheidet sich als Sprung »bis ins Nichts seiner selbst und aller Dinge an sich außer Einem Ewigen von selbst«, 184 somit gewissermaßen als tatsächlicher ›Abwärtssprung‹, jedoch grundlegend von der Verwendung der Figur des Sprungs bei Jacobi selbst. Diese Figur bespricht Birgit Sandkaulen umfassend in der Monographie Grund und Ursache (2000), auf deren Kapitel »Überlegungen zur Topographie
180 181 182 183 184
Vgl. Rosenstock, Spinoza Quarrel (2014), 287. Vgl. ebd., 290 f. Ebd., 291 f. Vgl. Anm. 96; 98–101. Obereit, Widerruf (1792), 142; s. o., Anm. 96.
Kants Spinozismusvorwurf an Maimon und dessen Folgen
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des Sprungs« 185 hier verwiesen sei. Maimons über Obereit vermittelte Verwendung des Tropus ist hiervon ebenfalls grundsätzlich verschieden und lässt damit letztlich keine systematisch sinnvolle Verknüpfung mit Jacobis Sprung zu. Zugleich bezieht sich Maimons Salto mortale jedoch auch nicht, wie von Rosenstock vorgeschlagen, als ›Aufwärtssprung‹ positiv auf das Konzept eines unendlichen, göttlichen Verstandes. Dies wird erst in Kap. 4, genauer in 4.3.3, resümierend dargelegt werden können. 186 Positiv zu nennen ist hier jedoch Rosenstocks Hinweis auf die Nähe Maimons zu Spinoza hinsichtlich der Kritik am Konzept von Wundern. 187 Um Maimons nun bereits oft erwähnte explizite Abstandnahme von der Philosophie Spinozas sinnvoll kontextualisieren und erschließen zu können, ist Kants direkte Reaktion auf das Manuskript des Versuchs entscheidend: Kant äußert kritisch, Maimon vertrete in der Schrift selbst eine spinozistische Position. Hierauf wiederum reagiert Maimon unmittelbar. Diese Thematik ist im folgenden Abschnitt weiterführend zu beleuchten, erneut unter Berücksichtigung der konkreten Diskussion zwischen den Beteiligten. Von dort aus kann zur systematischen Hauptbetrachtung in Kap. 3 übergegangen werden.
2.4 Kants Spinozismusvorwurf an Maimon und dessen Folgen
Wie in 2.1.1 bereits kurz angesprochen wurde und wie als Ausgangspunkt für die nun anzuschließenden Betrachtungen aufzugreifen ist, kontaktiert Marcus Herz seinen ehemaligen Lehrer und langjährigen Briefpartner Kant im Frühjahr 1789 mit der Bitte, dass sich dieser mit dem parallel von Maimon zugesandten Manuskript des Versuchs auseinandersetzen möge. In einem Brief vom 7. April schreibt Herz an Kant: Herr Salomon Maymon, ehedem einer der rohesten polnischen Juden, hat sich [. . .] vorzüglich in den letzten Zeiten Ihre Philosophie oder wenigstens Ihre Art zu philosophiren so eigen gemacht, daß ich mit Zuverläßigkeit mir zu behaupten getraue, daß er einer von den sehr sehr wenigen von den jezigen Sandkaulen, Grund und Ursache (2000), 23–52. Abseits dieses thematischen Kontextes verwendet Maimon die Figur des Salto mortale an anderer Stelle auch in Bezug auf die vorkantische Metaphysik: »Er [sc. Kant; D. E.] bemerkt gleichfalls den salto mortale, den die Dogmatiker vor seiner Zeit gewagt haben, indem sie von der Logik unmittelbar zur Methaphysik, d. h. von der Erkenntnis der Formen des Denkens zur Erkenntnis der dadurch gedachten Gegenstände übergegangen sind, ohne doch vorher die Rechtmäßigkeit dieses Verfahrens gezeigt zu haben.« (II, 516 f.). 187 Vgl. Rosenstock, Spinoza Quarrel (2014), 314: »Salomon Maimon is perhaps, after Spinoza, the most incisive critic of the possibility of experiencing miracles«. 185
186
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Bewohnern der Erde ist, die Sie so ganz verstanden und gefaßt. Er lebt hier sehr kümerlich, unterstüzt von einigen Freunden, ganz der Spekulation. [. . .] Es geschah auf meine Veranlassung, daß er diese Aufsätze die er zum Druck bestimmt, vorher Ihnen zur Durchsicht überschickt. Ich nahm es über mich Sie zu bitten, die Schrift anzusehen, ihm Ihre Meynung darüber mitzutheilen, und wenn Sie sie des Druckes würdig finden, in einigen Zeilen es der Welt zu sagen. (Br, AA XI, 15) 188
Am selben Tag versendet Maimon das Manuskript an Kant, zusammen mit einem kurzen Brief (Br, AA XI, 15–17), in dem die Grundthesen des Schriftstückes skizziert werden. Kant antwortet Maimon am 24. Mai lediglich in einer kurzen Notiz (Br, AA XI, 48). Darin verweist er auf einen umfangreicheren Brief an Herz, den er dann am 26. Mai an diesen adressiert (Br, AA XI, 48–55). Hier kommt es zu einer detaillierteren, wenn auch noch immer kurz gefassten Auseinandersetzung mit dem Manuskript des Versuchs durch den zu dieser Zeit eigentlich anderweitig beschäftigten Kant. Dieser gesteht Maimon eine explizite Sonderstellung unter seinen Kritikern zu: Aber wo denken Sie hin, liebster Freund, mir ein großes Pak der subtilsten Nachforschungen, zum Durchlesen nicht allein, auch zum Durchdenken, zuzuschicken, mir, der ich in meinem 66sten Jahre noch mit einer weitläufigen Arbeit meinen Plan zu vollenden [. . .] beladen bin [. . .]. Ich war schon halb entschlossen das Mscpt so fort, mit der erwähnten ganz gegründeten Entschuldigung, zurück zu schicken; allein ein Blick, den ich darauf warf, gab mir bald die Vorzüglichkeit desselben zu erkennen und, daß nicht allein niemand von meinen Gegnern mich und die Hauptfrage so wohl verstanden, sondern nur wenige zu dergleichen tiefen Untersuchungen soviel Scharfsinn besitzen möchten, als Hr. Maymon und dieses bewog mich, seine Schrift bis zu einigen Augenblicken der Musse zurück zu legen (Br, AA XI, 48 f.).
Im Anschluss an dieses nicht geringfügige Lob und mit der Bitte, »HEn Maymon [. . .] diesen Begrif zu communiciren« (Br, AA XI, 49), befasst Kant sich kritisch mit Maimons Positionen. Dabei hat er v. a. den zweiten Abschnitt des Manuskripts im Auge. Indem Kant in diesem Kontext primär Maimons Verstandeskonzeption fokussiert (vgl. v. a. Br, AA XI, 49 f.), zielt er durchaus in das systematische Zentrum von Maimons transzendentalphilosophischem Theorem. Gerade hierin begründet Kant nun seinen Vorwurf, »Hrn. Maymons Vorstellungsart« sei »in der That« mit dem »Spinozism [. . .] einerley« (Br, AA XI, 50); denn: 188
Vgl. Anm. 26.
Kants Spinozismusvorwurf an Maimon und dessen Folgen
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Die Theorie des Hrn. Maymon ist im Grunde: die Behauptung eines Verstandes (und zwar des menschlichen) nicht blos als eines Vermögens zu denken, wie es der unsrige und vielleicht aller erschaffenen Wesen ist, sondern eigentlich als eines Vermögens anzuschauen, bey dem das Denken nur eine Art sey, das Mannigfaltige der Anschauung (welches unserer Schranken wegen nur dunkel ist) in ein klares Bewustseyn zu bringen (ebd.).
Hierzu stellt sich Kant im Anschluss in Opposition. Ob diese Charakterisierung der Verstandeskonzeption Maimons tatsächlich zutrifft, soll im folgenden Kapitel besprochen werden, indem ebendiese Konzeption vor ihrem letztlich doch primär kantischen Formierungshintergrund analysiert und erörtert wird. An dieser Stelle interessiert unterdessen der nicht unerhebliche Spinozismusvorwurf als solcher, v. a. hinsichtlich seines Begründungszusammenhangs. In dieser Angelegenheit argumentiert Kant weder ausführlich noch transparent. Eine mögliche Herangehensweise ist folgende: Kant setzt den von Maimon vermeintlich als »Vermögen[] anzuschauen« (ebd.) aufgefassten Verstand kurzerhand mit Spinozas scientia intuitiva 189 als der dritten Erkenntnisgattung in Verbindung. Demgemäß nehme Maimon den ›unsrigen‹ Verstand als zu einer unmittelbaren, intuitiven Einsicht fähig an. Um diese Lesart zu stützen, fehlen jedoch stabile systematische Anhaltspunkte, durch die Maimons Konzeption des unendlichen Verstandes – in Kants Rezeption – unmittelbar mit Spinozas scientia intuitiva verknüpft werden könnte. Viel eher scheint Kant dieses Theorem Maimons direkt mit Spinozas Konzept des intellectus infinitus 190 zu assoziieren oder sogar gleichzusetzen. Terminologisch ist dies zunächst naheliegend und nachvollziehbar. Und durchaus: Kant nimmt an, dass Maimon behaupte, der »unsrige« Verstand sei »nur ein Theil« des »Göttliche[n] Verstand[es]« (Br, AA XI, 49; Hervorhebung: D. E.). Wenn Kant hierin zugestimmt werden könnte, deutete dies in der Tat auf eine Position hin, die mit derjenigen Spinozas zumindest eng verwandt wäre. Dieser schlussfolgert im zweiten Teil seiner Ethik: »Hinc sequitur mentem humanam partem esse infiniti intellectus Dei« (»Hieraus folgt, dass der menschliche Geist ein Teil von Gottes unendlichem Verstand ist.« E II,
Vgl. v. a. E II, prop. 40, schol. 2: »Praeter haec duo cognitionis genera datur [. . .] aliud tertium, quod scientiam intuitivam vocabimus.« (»Außer diesen beiden Gattungen der Erkenntnis gibt es [. . .] noch eine dritte Gattung, die wir intuitive Erkenntnis nennen wollen.«) Zu weiteren Aspekten der Rezeption von Spinozas Konzept der scientia intuitiva, v. a. durch Johann W. v. Goethe, vgl. Förster, Die 25 Jahre (2018), 100–109; ders., Goethe’s Spinozism (2012). 190 Vgl. v. a. E II, prop. 4, dem.: »Intellectus infinitus nihil praeter Dei attributa ejusque affectiones comprehendit« (»Ein unendlicher Verstand umfasst nichts als Gottes Attribute und dessen Affektionen«). 189
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Maimons Spinoza-Rezeption: Der Akosmismusvorwurf
prop. 11, coroll.). 191 – In genau dieser Relation von pars und totum besteht das Kernargument von Kants Spinozismusvorwurf gegen Maimon. Damit wäre auch nachvollziehbar, inwieweit Maimons Verstandeskonzept, aus Kants Perspektive, mittelbar mit Spinozas scientia intuitiva zusammenhängt, inwieweit Maimon den menschlichen Verstand gemäß dieser Erkenntnisgattung also ›als anschauend‹ annimmt. In Melameds Worten: »To conceive things through scientia intuitiva is to think like God, or, more precisely, to take part in God's infinite intellect. [. . .] Hence, if we wish to take part in divine knowledge, we must turn to scientia intuitiva.« 192 Wie noch zu zeigen sein wird, steht gerade dieses Verhältnis einer Teilhabe jedoch in entscheidendem Widerspruch zu Maimons eigener Intellektkonzeption. Maimon versendet sowohl im Sommer 1789, direkt auf die Kritik am Manuskript des Versuchs bezugnehmend, als auch in den Folgejahren diverse weitere Briefe an Kant. 193 Diese bleiben jedoch unbeantwortet. 194 Allerdings gehört Maimon, u. a. neben Jacobi, Herz und Reinhold, zu denjenigen Personen, die 1790 auf Kants Veranlassung hin eines der zwanzig Freiexemplare der Kritik der Urteilskraft erhalten (vgl. Br, AA XI, 179); hierzu später Weiteres. Von weiterführender Relevanz ist an dieser Stelle insbesondere Maimons direkte Reaktion auf den Spinozismusvorwurf im Versuch selbst. Die Schrift wird zum Jahreswechsel 1789/90 bei Christian Friedrich Voß und Sohn in Berlin publiziert. Das zuvor an Kant gesandte Manuskript wurde für die Publikation um »Anmerkungen und Erläuterungen über einige kurz abgefasste Stellen in dieser Schrift« (VT, 182–238) ergänzt. 195 Wie zu Beginn von 2.2.1 191 Vgl. zusätzlich E III, prop. 51, schol.; E V, prop. 40, schol.; zum Verhältnis von einzelnem Geist (mens) und göttlichem Verstand (intellectus) vgl. weiterführend Ep. LXVI, 234: »Obwohl jedes Ding auf unendlich viele Weisen im unendlichen Verstand Gottes ausgedrückt ist, können die unendlich vielen Ideen, durch die es ausgedrückt wird, doch nicht ein und denselben Geist eines Einzeldinges konstituieren; sie konstituieren vielmehr unendlich viele Geister, weil ja jede der unendlich vielen Ideen [für sich besteht, diese Ideen also] keine Verknüpfung untereinander haben« (Einfügung v. Hrsg.). 192 Melamed, Mapping the Labyrinth (2013), 114 (Hervorhebung: D. E.). Die Verknüpfung von scientia intuitiva und intellectus infinitus Dei in Spinozas System sowie die epistemologischen Spezifika dieser dritten Erkenntnisgattung können hier nicht weiter ausgearbeitet werden, weshalb hierzu auf Melameds Erörterung verwiesen sei. 193 Vgl. Br, AA XI, 68 f.; 171; 174–176; 258 f.; 285–287; 389–394; 470 f. (= VI, 426–443). 194 In einem Brief vom 28. März 1794 an Reinhold äußert sich Kant auf tendenziöse Weise geringschätzig über Maimon, den er zu diesem Zeitpunkt bereits fast vier Jahre lang ignoriert hat: Kant habe »nie recht [. . .] fassen können«, »was aber z. B. ein Maimon mit seiner Nachbesserung der critischen Philosophie (dergleichen die Juden gerne versuchen, um sich auf fremde Kosten ein Ansehen von Wichtigkeit zu geben) eigentlich wolle« (Br, AA XI, 495). 195 Der Zeitrahmen der Entstehung dieser nachträglichen Ergänzungen liegt somit zwischen Juni und November 1789; vgl. Anm. 79; Engstler, Untersuchungen (1990), 30 (Anm. 12); Ehrensperger, Einleitung (2004), XV.
Kants Spinozismusvorwurf an Maimon und dessen Folgen
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bereits erwähnt, reagiert Maimon in einer dieser Anmerkungen (VT, 197– 199) unmittelbar, wenn auch ohne namentliche Nennung, auf Kants Einwand. Dabei nimmt Maimon Bezug auf eine Schlüsselstelle des erwähnten zweiten Abschnitts (VT, 21–45, hier 40), 196 den Kant bei seiner Kritik an Maimons Verstandeskonzeption primär im Blick hatte. Dass also »[m]ancher Leser [z. B. Kant; D. E.] glauben« wird, »hier den Spinozismus zu erblicken«, sei, so Maimon mit Nachdruck, eine »Mißdeutung[]«. Um solchen Missverständnissen vorzubeugen, möchte er sich »ein für allemal erklären« (VT, 197 f.). Nach den bisherigen Überlegungen erscheint es nun relativ plausibel, dass es sich hierbei nicht etwa um eine bloß vorgetäuschte, politisch-taktierende Ablehnung der Philosophie Spinozas handelt, um dem abermals drohenden Verdikt des Spinozismus, diesmal von Kant vorgebracht, aus dem Weg zu gehen. Vielmehr vollzieht sich im Versuch über die Transzendentalphilosophie durchaus eine systematische, grundsätzliche Distanzierung vom Denken Spinozas. Dies sei hier als resümierende, rekapitulierende These dieses Kapitels formuliert. Die sich in jenem Denken zeigende, für Maimon fortwährend gravierende philosophische Problematik wird sich später in den Topoi des Akosmismus und des Diktums vom ›Zurückschaudern vor dem Nichts‹ manifestieren. Die beiden Topoi lassen sich dabei erst auf Grundlage der Intellektkonzeption Maimons erklären. Diese Konzeption wiederum kann ihrerseits gerade als Reaktion auf die sich später in den beiden Topoi aussprechende Problemstellung aufgefasst werden. Dies soll in Kap. 4 thematisiert werden. Das folgende Kap. 3 dient hingegen der eingehenden Behandlung der Fragestellung, wie diese Konzeption überhaupt inhaltlich beschaffen sei. Leitende Perspektive ist dabei die Frage, auf welche Weise Maimon sie in enggeführter, unmittelbarer Auseinandersetzung mit den Grundzügen der kritischen Philosophie Kants in ihrem diachronen Wandel konstituiert sowie profiliert. Dass es sich durchaus so verhält, soll dort zunächst, als erforderliche Prämisse jener Untersuchung, durch eine detaillierte Erörterung der grundlegenden Fragedisposition Maimons im Hinblick auf die kantische Vernunftkritik nachgewiesen werden.
Untersuchungsgegenstände dieses primär transzendentallogischen, für die strukturale Ausrichtung von Maimons Entwurf maßgeblichen und für die folgenden Untersuchungen in Kap. 3 zentralen Abschnittes sind, laut Titel, »Sinnlichkeit, Einbildungskraft, Verstand, reine Verstandsbegriffe a priori, oder Kategorien, Schemata, Beantwortung der Frage quid juris, Beantwortung der Frage quid facti, Zweifel über dieselbe« (VT, 21). 196
3 Maimons Verstandeskonzeption vor ihrem primären Formierungshintergrund der Transzendentalphilosophie Kants
Vermehrt wurde in der Maimon-Forschung auf eine Affinität zwischen Maimons Theorem eines unendlichen Verstandes im Versuch und Kants Modell des intellectus archetypus im Sinne eines intuitiven Verstandes in der unmittelbar danach erschienenen Kritik der Urteilskraft (vgl. KU, AA V, 408) hingewiesen. Letztgenanntes Modell steht dabei im Zusammenhang mit Kants vorangegangenen Überlegungen zu intellektueller Anschauung. 197 Die Ausführungen zu jener konzeptionellen Nähe Kants und Maimons sollen im Folgenden kurz zusammengetragen werden, um einen Überblick über die diesbezügliche Forschungssituation zu schaffen. Frederick Beiser äußert sich, gewissermaßen paradigmatisch für diese Forschungsperspektive, wie folgt zu Maimons Verstandestheorem in seinem Bezug zur Position Kants: The ideal of knowledge [. . .] seems reserved for the intellectus archetypus, the infinite understanding of God alone. Rather than advising resignation to this predicament, Maimon demands that we act to overcome it. Taking his cue from Kant's theory of ideas, he suggests that we regard the idea of the infinite understanding, the intellectus archetypus, as a regulative ideal, the goal of all enquiry. If we only exert the powers of our understanding, he maintains, then we can approach, even if we still cannot attain, this ideal of knowledge. In other words, we can approximate, even if we cannot reach, the status of the intellectual [sic] archetypus. 198
Auf die hier dargestellte approximierende Vervollständigungsdynamik innerhalb der Verstandeskonzeption Maimons wird später weiter einzugehen sein. Bemerkenswert ist an dieser Stelle hingegen die unmittelbare Identifikation der Idee des unendlichen Verstandes in Maimons Philosophie mit dem von Kant entlehnten Terminus des i. archetypus 199 – und zwar ohne weitere Thematisierung oder Problematisierung dieser Gleichsetzung, obwohl Maimon den Begriff des i. archetypus selbst gar nicht verwendet. Auch kann ihm die KU, in
Vgl. u. a. KrV, A 252 f./B 308 f.; A 279 f./B 335 f. Beiser, German Idealism (2002), 256 f. 199 Aufgrund der in diesem Kapitel auszuführenden, in Kürze weiter zu erläuternden ›Typologie der Intellektkonzeptionen‹ wird der Gattungsbegriff des intellectus, in Bezug auf seine verschiedenen Arten, der Einfachheit halber im Folgenden grundsätzlich abgekürzt. 197 198
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der dieser Begriff eines ›urbildlichen‹, intuitiven (nicht explizit unendlichen) Intellekts an prominenter Stelle auftritt, zur Zeit der Abfassung des Versuchs nicht vorgelegen haben. 200 Abraham Socher geht zurückhaltender auf die Thematik der KU im Kontext der Philosophie Maimons ein und erwägt eine mögliche Antizipation kantischer Gedanken durch Maimon, auch wenn dieser Punkt nicht weiter entwickelt wird: »Moreover, they [sc. ›Maimon's doctrines‹; ebd.] would seem to anticipate some of the ideas of the Critique of Judgment, on which Kant was working when he received Maimon's manuscript«. 201 In eine ähnliche, jedoch andersartig vorgeprägte Richtung gehen bereits einige Jahrzehnte zuvor Samuel Atlas und Nathan Rotenstreich. Diese betrachten Maimons Verstandeskonzept lose im Kontext der Überlegungen Kants zu einem möglichen intuitiven Verstand. Atlas bespricht in relativ unsystematischer, knapper Form »intuitive mind«, »intuitive reason« sowie »intuition [which] is intellectual« 202 als methodologische Fiktionen in Kants Philosophie, die sich von Maimons Verstandestheorem trotz konzeptioneller Verwandtschaft unterscheiden; denn: »The idea of an infinite mind, which fulfills for Maimon the function of the various Kantian ideas, can be characterized as a metaphysical monism.« 203 In diesem Sinne nahm Atlas bereits zuvor an, Maimons Idee eines unendlichen Verstandes übernehme in dessen Philosophie die Position einer ›metaphysischen Realität‹: »And herein lies the difference between the idea of an infinite mind, intellectus archetypus, in Kant which is merely a limiting and methodological concept, introduced for the purpose of delimiting and defining the finite human mind by contrasting it with the infinite, intuitive mind, and Maimon's conception of the idea as a transcendent, metaphysical reality.« 204 Trotz der bei Beiser später dann fehlenden notwendigen Unterscheidung der Termini von i. archetypus und unendlichem Verstand ist Atlas jedoch noch deutlich davon entfernt, Kants Konzeptionen in ihrem systematischen Verhältnis zu Maimons Philosophie differenziert zu fassen.
200 Der Terminus des i. archetypus fällt einmalig, isoliert und eingeklammert bereits im Anhang der transzendentalen Dialektik der KrV, und zwar als »gesetzgebende Vernunft [. . .], von der alle systematische Einheit der Natur, als dem Gegenstande unserer Vernunft, abzuleiten sei« (KrV, A 695/B 723). Anders als im Falle der Verwendung des Terminus in der KU lässt sich dessen Auftreten in der KrV kaum sinnvoll mit Maimons Verstandeskonzeption in Verbindung bringen. 201 Socher, Radical Enlightenment (2006), 9. Vgl. auch ebd., 104. 202 Atlas, Speculative Idealism (1964), 90 f. 203 Ebd., 92. 204 Atlas, Maimon and Spinoza (1959), 242. Diese Lesart von Maimons Theorem im Sinne einer starken ontologischen Aussage wird sich im weiteren Verlauf der vorliegenden Erörterung als nicht haltbar erweisen.
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Rotenstreich ist terminologisch noch unpräziser: Ohne nähere Belege schreibt er das Theorem eines unendlichen Verstandes (»in nite understanding«) Kant selbst zu und bestimmt dies als strukturell mit Maimons Konzeption gleichartig, funktionell jedoch von diesem verschieden: »Thus [sc. ›According to Maimon‹; ebd.] the in nite understanding is the condition of our nite understanding. Here we once again encounter the difference between the doctrines of Kant and Maimon. Kant also allows room for the in nite understanding and his description of its structure is the same as Maimon's. However, for Kant, the in nite understanding does not constitute the precondition of the validity of the methods of our nite understanding.« 205 Ähnlich wie bei Atlas wird der notwendige Hinweis auf die Differenz zwischen Kant und Maimon also zwar gegeben. Es bleibt jedoch gänzlich unklar, wie Kants vermeintliches Konzept eines unendlichen Verstandes mit demjenigen Maimons strukturell und funktionell zusammenhängen soll. Florian Ehrensperger schließlich geht im Kontext seiner Erörterung zu Maimons Verstandeskonzept 206 äußerst kurz auf verschiedene mögliche Formen von Sinnlichkeit und Verstand gemäß Kants Position ein. Dabei fällt auch der Terminus des i. archetypus, allerdings ohne weitere Ausführung oder Kontextualisierung: »Der Verstand ist diskursiv und daher verbindend und nicht schaffend. Der Grundmodus ist der der Synthesis (intellectus ectypus versus archetypus). Die Anschauung ist passiv und auf das Gegebensein der Materie angewiesen (sinnliche versus intellektuelle Anschauung).« 207 Diese Bestimmung der kantischen Position führt Ehrensperger hier u. a. als Begründung für seine Einschätzung an, die von Kant vorgenommene Charakterisierung der Theorie Maimons als »Behauptung eines Verstandes (und zwar des menschlichen) [. . .] als eines Vermögens anzuschauen« (Br, AA XI, 50; s. o., Abschnitt 2.4) sei »[t]reffend«. 208 Diesbezüglich kann Ehrensperger zwar in Teilen zugestimmt werden, wie sich im weiteren Verlauf dieses Kapitels zeigen wird. Kants von Ehrensperger zwar erwähnter, 209 jedoch nicht weiter diskutierter Spinozismusvorwurf gegen Maimon, der auf ebendieser vermeintlichen Annahme eines anschauenden Verstandes basiert, wird später allerdings klar zu kritisieren sein. Was sich in der hier vorgelegten Zusammenschau der Forschungsperspektiven auf diesen speziellen Aspekt der Thematik um Kant und Maimon ausspricht, ist ein durchaus bereits entwickeltes Bewusstsein über den Zusammenhang zwischen Maimons Verstandestheorem und Kants Überlegungen zu intuitivem Verstand sowie intellektueller Anschauung. Eine systematisch und 205 206 207 208 209
Rotenstreich, The Problem of the Critique of Judgment (1965), 701. Vgl. v. a. Ehrensperger, Weltseele (2006), 92–132. Ebd., 122. Ebd. Vgl. ebd. (Anm. 433).
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terminologisch differenzierte sowie ausführliche Entwicklung dieses Zusammenhangs liegt in der Forschung bislang jedoch nicht vor. Gewissermaßen paradigmatisch für diesen Mangel an systematischer Differenzierung kann, wie gesagt, Beisers oben zitierte Darstellung genannt werden: Dort wird Maimons Theorem des unendlichen Verstandes schlicht mit dem Terminus des i. archetypus gleichgesetzt. Dies spricht zwar, ebenso wie die weiteren hier angeführten Äußerungen, zunächst durchaus passend für die systematische Nähe der verschiedenen Verstandeskonzeptionen und weist damit bereits in eine sinnvoll weiterzuverfolgende Richtung. Hierzu ist jedoch eine deutlich umfangreichere Besprechung der Thematik notwendig, da die in Rede stehenden konzeptionellen Zusammenhänge ungleich komplexer und vielschichtiger sind, als die bisher genannten Positionen vermuten lassen konnten. Als vorläufige Arbeitshypothese dieses Kapitels ist somit zu formulieren, dass Maimon sein Theorem eines unendlichen Verstandes primär in direkter, fokussierter Auseinandersetzung mit den korrelierenden transzendentalphilosophischen Überlegungen Kants entwickelt. Daher verbleibt er im Wesentlichen innerhalb des von Kant vorgezeichneten kritizistischen Reflexionsrahmens, auch wenn sich die Ergebnisse dieser Theoriebildung Maimons letztlich klar von Kants eigenen Positionen entfernen. Vorausgreifend lässt sich dazu bereits andeuten, dass sich Maimon mit dem Modell der Idee eines unendlichen Verstandes vor allem kritisch zum epistemologischen Problem des ›Gegebenen‹ positioniert. Diese Problemstellung konturiert er dadurch, dass er verschiedene Lösungsansätze des Problems in Kants Ausführungen von 1781 bis 1787 als unzulänglich herausstellt. Jene Lösungsansätze wiederum lassen sich mit Kants Überlegungen zu intellektueller Anschauung und anschauendem Verstand in Verbindung bringen, allgemeiner auch mit Kants erkenntnistheoretischem Dualismus von Sinnlichkeit und Verstand, den Maimon kritisiert. Damit begibt sich die hier vertretene These v. a. in Opposition zu Ehrenspergers Schrift über Weltseele und unendliche[n] Verstand: Ehrensperger zufolge kommt in Maimons Konzept des unendlichen Verstandes, ebenso wie in dem der Weltseele, »ein an Maimonides und Spinoza orientierter Aristotelismus zum Ausdruck«. 210 Jene Verstandeskonzeption sei daher, so Ehrenspergers Position, nicht bloß resultativ anti-kantisch, sondern auch hinsichtlich ihres Entstehungshintergrundes ganz grundlegend un-kantisch: Maimon vertrete ein »mittelalterliches Erbe«, das ihn »von den im Paradigma der Kantischen kopernikanischen Wende philosophierenden Zeitgenossen« trenne. 211 Wie in der Einleitung bereits angesprochen, soll hier keineswegs behauptet werden, 210 211
Ebd., 133. Ebd., 135.
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dass historisch orientierte Überlegungen zu den Prägungshintergründen Maimons durch die vorneuzeitliche philosophische Tradition generell inadäquat oder verzichtbar wären. Unter konkret-systematischen Aspekten erscheint es an dieser Stelle dennoch angemessener und sinnvoller anzunehmen, dass Maimons Verstandeskonzept durchaus im Zuge der zunächst immanent agierenden Arbeit an Kants kritischer Philosophie konstituiert worden ist. Dies soll hier als Forschungsperspektive vertreten und im Folgenden entwickelt werden. Laut dieser Lesart steht Maimon somit nicht, etwa als in erster Linie mittelalterlich geprägter Denker, außerhalb des transzendentalphilosophischen Diskursfeldes der ›kopernikanischen Wende‹. Dies schließt keineswegs aus, dass Maimons Theorem des unendlichen Verstandes hinsichtlich seines eigentlichen Gehalts letztlich als Gegenposition zur kantischen Philosophie auftreten kann. Zur Entwicklung dieser These sind insbesondere zwei Aspekte von hervorzuhebender Bedeutung. Zum Ersten: Maimon wird in seiner vermutlich 1787 212 beginnenden kritischen Rezeption der kantischen Philosophie mit den darin verschiedentlich auftretenden negativ gefassten Konzeptionen ›anderer‹ Arten von Erkenntnisvermögen als den uns allein positiv bekannten menschlichen konfrontiert: Anschauung als intellektuell, Verstand als anschauend. Diese Konzeptionen sind für Kants Position zwar bedeutsam, jedoch nicht systematisch zentral. Die Andersartigkeit dieser Arten fungiert, so die hier vorgestellte Hypothese, dann als entscheidender Ausgangspunkt für Maimons eigene, positiv orientierte Theoriebildung. Zum Zweiten: Maimon beschäftigt sich in der Zeitspanne von 1787 bis 1789 mit Kants kritischer Philosophie in ihrer theoretischen Ausprägung. Daher liegen ihm mit der Erstauflage der KrV von 1781, den Prolegomena von 1783 sowie der Zweitauflage der KrV von 1787 während seines Arbeitsprozesses drei einschlägige Werke vor, die in ihrer Aufeinanderfolge bekanntermaßen deutliche konzeptionelle Differenzen aufweisen. Dass Maimon durchaus mit den drei Schriften parallel gearbeitet hat, wurde von Engstler und Ehrensperger als gesichert nachgewiesen: 213 So beziehen sich die Seitenzahlangaben der KrV im Versuch auf die Erstauflage (vgl. VT, 195; 214 f.); Maimons Erklärung von Erfahrungssätzen im Kontext des Wahrnehmungsbegriffs mitsamt illustrierendem Beispiel 214 verweist klar auf Vgl. Anm. 77. Vgl. Engstler, Untersuchungen (1990), 27 f. (Anm. 3); Ehrensperger, Weltseele (2006), 93 (Anm. 345). 214 Vgl. VT, 44 f.: »Ja, wird man sagen, das Faktum ist unbezweifelt. Wir sagen z. B. das Feuer erwärmt (macht warm) den Stein, welches nicht bloß die Wahrnehmung der Folge zweier Erscheinungen in der Zeit sondern die Notwendigkeit dieser Folge bedeutet. Hierauf aber würde David Hume antworten: [. . .].«; ergänzend VT, 105 f. 212 213
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seine Lektüre der Prolegomena; 215 diverse weitere Bezüge und Formulierungen im Versuch belegen seine Beschäftigung mit der Zweitauflage der KrV. 216 Für die provisorische Stützung und weiterführende Ausarbeitung der oben formulierten These ist nun die Zusammenführung jener beiden als relevant genannten Aspekte entscheidend: Im hier unter Aspekt 2 angesprochenen, von Maimon rezipierten Entwicklungszeitraum der kritischen Philosophie Kants von 1781 bis 1787 kam es gerade hinsichtlich der als Aspekt 1 angeführten Überlegungen Kants zu ›anderen‹ Arten von Erkenntnisvermögen zu zwar deutlich eingrenzbaren, jedoch durchaus signifikanten Akzentverschiebungen. Maimons Auseinandersetzung mit Kants Kritizismus könnte zwar als statisch auf eine einzelne Schrift bezogen vorgestellt werden. – Der beschriebene historische Rahmen lässt es jedoch als wesentlich plausibler erscheinen, dass Maimon in seiner Rezeption gerade den diachronen Entwicklungs- und Entfaltungsprozess der kritischen Philosophie im Blick gehabt hat. Damit konnte er die sich darin manifestierenden Bewegungen und Verschiebungen in seine eigene, transzendentalphilosophisch motivierte Reflexion aufnehmen, die Herausbildung seines Ansatzes mithin an der internen Dynamik dieses Prozesses ausrichten. Auf dieser Grundlage kann Maimon als systematisch selbständiger Rezipient und kritischer Begleiter des in Rede stehenden Prozesses aufgefasst werden. Seine eigenen Konzeptionen, v. a. sein Theorem eines unendlichen Verstandes, versucht er daher nicht etwa als der kritischen Philosophie gänzlich fremdes, externes Additiv anzufügen, beispielsweise im Sinne eines eigentlich aristotelischen, klassisch-metaphysischen Gedankens. Vielmehr entwickelt er diese Konzeptionen primär, auch trotz nicht zu leugnender vorkantischer Prägungen, aus der kritischen Philosophie selbst heraus. Damit stellt er sich später aber auch in Opposition zu dieser Philosophie. Diese grundsätzliche Haltung philosophischen Rezipierens bringt Maimon selbst, geradezu programmatisch, in seinem Artikel über Baco und Kant (II, 499–522) aus dem Berlinischen Journal für Aufklärung von 1790 auf den Punkt. Dies ist hier besonders bemerkenswert, da der Text aus derselben Schaffensphase stammt wie der Versuch. Im Artikel äußert Maimon sich über mögliche Formen des Umgangs mit »Werken des Genies« (II, 500) und hat dabei die Schriften Kants, aber auch Francis Bacons im Blick: Der wichtigste Nutzen hingegen bestehet darin, daß man dem Gang des darinn herrschenden Geistes nachspührt, die Erfindung von ihrem ersten Aufkeimen 215 Vgl. Prol, AA IV, 301 (Anm.): »Sage ich aber: die Sonne erwärmt den Stein, so kommt über die Wahrnehmung noch der Verstandesbegriff der Ursache hinzu, der mit dem Begriff des Sonnenscheins den der Wärme nothwendig verknüpft«. 216 Vgl. Engstler, Untersuchungen (1990), 27 f. (Anm. 3).
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bis zu ihrem Reifwerden vor Augen hat, und in sich selbst den ersten Erfinder wiederherstellet. Das Genie ist ansteckend! (II, 500 f.)
Auf Basis dieses speziellen Rezeptionsmodus wird zudem erst erklärbar und systematisch transparent, dass und wie Maimon ein bestimmtes Entwicklungsmoment des kantischen Kritizismus aufgreift und als Folie seiner eigenen Theoriebildung selbständig fortführt: Durch das Theorem des unendlichen Verstandes bringt er ein Konzept vor, das quasi zeitgleich und unter Ausschluss der Möglichkeit einer wechselseitigen Beeinflussung in Kants Modell des i. archetypus in der KU eine partielle Entsprechung findet. Letztgenanntes Modell kann dabei zugleich als Kulminationspunkt der vorangegangenen Überlegungen Kants zu ›anderen‹ Arten von Erkenntnisvermögen gesehen werden. Dabei sind jedoch v. a. auch klare konzeptionelle Differenzen festzustellen. Erst in diesem Sinne kann die Rede davon sein, Maimon habe bestimmte Gedanken des teleologischen Teils der KU im Versuch antizipiert, wenn auch stark begrenzt. Dies vertritt, wie gesagt, beispielsweise Socher. 217 Vorgreifend ist jedoch bereits festzuhalten, dass die Komplexität, inhaltliche Tiefe und theoretische Weitläufigkeit von Kants transzendentalphilosophischer Behandlung teleologischer Themenfelder durch Maimons Philosophie bei weitem nicht eingeholt werden kann. Den hier umrissenen Relationskomplex erstmalig umfassend aufzuarbeiten, ist das primäre Ziel dieses Kapitels, das sich daher auf eine direkte Zusammenführung historischer und systematischer Perspektiven stützen muss. Die Verwobenheit der transzendentalphilosophischen Theoriebildung Maimons mit der diachronen Entwicklung der kritischen Philosophie Kants geht dabei noch weiter, als hier bisher dargestellt werden konnte, und auch weiter, als bislang in der Maimon-Forschung diskutiert wurde. Dies lässt sich im Ansatz anhand eines frühen Briefes Kants an Marcus Herz von Februar 1772 erschließen – wohlgemerkt, an denjenigen Akteur des Diskurses, der den Kontakt zwischen Kant und Maimon später herstellte: Kant erklärt hier, immerhin fast ein Jahrzehnt vor Erscheinen der KrV, dass er an einer systematischen Neubestimmung des menschlichen Erkenntnisvermögens in seiner Position zwischen i. archetypus, urbildlichem Verstand, und i. ectypus, abbildlichem Verstand, arbeite. Die Erklärung verdient an dieser Stelle ausführlich zitiert zu werden, auch als Ausblick auf die in diesem Kapitel folgenden Untersuchungen zu Kants späterer Philosophie: Die passive oder sinnliche Vorstellungen haben also eine begreifliche Beziehung auf Gegenstände, und die Grundsätze, welche aus der Natur unsrer Seele ent217
Vgl. Anm. 201.
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lehnt werden, haben eine begreifliche Gültigkeit vor alle Dinge in so fern sie Gegenstände der Sinne seyn sollen. Eben so: wenn das, was in uns Vorstellung heißt, in Ansehung des obiects activ wäre, d. i. wenn dadurch selbst der Gegenstand hervorgebracht würde, wie man sich die Göttliche Erkenntnisse als die Urbilder der Sachen vorstellet, so würde auch die Conformitaet derselben mit den obiecten verstanden werden können. Es ist also die Möglichkeit so wohl des intellectus archetypi, auf dessen Anschauung die Sachen selbst sich gründen, als des intellectus ectypi, der die data seiner logischen Behandlung aus der sinnlichen Anschauung der Sachen schöpft, zum wenigsten verständlich. Allein unser Verstand ist durch seine Vorstellungen weder die Ursache des Gegenstandes, (außer in der Moral von den guten Zwecken) noch der Gegenstand die Ursache der Verstandesvorstellungen (in sensu reali). Die reine Verstandesbegriffe müssen also nicht von den Empfindungen der Sinne abstrahirt seyn, noch die Empfänglichkeit der Vorstellungen durch Sinne ausdrücken, sondern in der Natur der Seele zwar ihre Quellen haben, aber doch weder in so ferne sie vom Obiect gewirkt werden, noch das obiect selbst hervorbringen. (Br, AA X, 130)
Diese Darstellung gibt einen Einblick in die frühe Konstituierungs- und Formierungsphase der kritischen Philosophie. Bemerkenswert und für die anzuschließenden Betrachtungen von Interesse ist hier insbesondere der i. archetypus in seiner Funktion als nichtsinnlich-anschauendes Vermögen, das seinen Erkenntnisgegenstand selbst hervorbringt. Dieses Vermögen steht dem i. ectypus gegenüber, der auf das Gegebene der sinnlichen Anschauung angewiesen ist. Nun erscheint es durchaus plausibel, dass Maimon diesen Brief durch seinen Kontakt zu Herz kannte. 218 Das darin skizzierte ›proto-kritische‹ Modell verschiedener Intellektkonzeptionen kann somit einen Einfluss auf Maimons eigenständige Transformation des Ansatzes der KrV ausgeübt haben. Die Gegenüberstellung von i. ectypus und archetypus taucht in inhaltlich neu konfigurierter, terminologisch jedoch eng verwandter Form 1790 dann in der KU erneut auf. Kants vorkritische Philosophie kann wegen des hier zu ziehenden Rahmens nicht angemessen in die Betrachtung integriert werden. An dieser Stelle soll der Hinweis darauf genügen, dass es durch die philosophische Diskussion im Dreieck Kant – Herz – Maimon durchaus zu einer Bekanntschaft Maimons mit Kants ›inoffiziellen‹ vorkritischen Verstandeskonzeptionen gekommen sein mag. Diese Bekanntschaft dürfte Maimons Rezeption der KrV mitgeprägt haben, indem er dadurch bereits für die Wandlungen in Kants diesbezüglichen Überlegungen sensibilisiert worden ist. Systematisch maßgeblich sind nun die 218
Vgl. Socher, Radical Enlightenment (2006), 86 (Anm. 4).
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hierfür relevanten Dynamiken innerhalb der Philosophie Kants zwischen 1781 und 1787 in ihrer Reflexion durch Maimons Theoriebildung zwischen 1787 und 1789. Für die vorzunehmende Herausarbeitung und Darstellung dieser Dynamiken sind Eckart Försters Ausführungen in seiner Monographie über Die 25 Jahre der Philosophie als Anknüpfungspunkte für die vorliegende Untersuchung von wesentlicher Bedeutung. Förster geht anfänglich ebenfalls auf den oben zitierten Brief Kants an Herz von Februar 1772 ein. 219 Dort kündigt Kant die Herausgabe des ersten, theoretischen Teils einer »Critick der reinen Vernunft« an, und zwar in enormer Fehleinschätzung des anstehenden Arbeitsprozesses »binnen etwa 3 Monathen« (Br, AA X, 132). Zudem bespricht Förster das bereits in Kants Dissertation De mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis (AA II, 385–419) von 1770 vorkommende Konzept einer »produktive[n] [. . .] intellektuelle[n] (göttliche[n]) Anschauung, die als der Grund und nicht die Folge der Objekte gedacht ist«: 220 »Weil aber unser Verstand nicht der Grund der Objekte ist, sondern auf ein gegebenes Material zum Denken angewiesen ist, das er in diesem Fall nur in der menschlichen Sinnlichkeit finden kann, so muss er diese zuerst verbinden und so zum Bewusstsein bringen«. 221 Durch diese Konstellation wird außerdem die enge konzeptionelle Verwandtschaft dieser in der Dissertation erwähnten göttlichen, ebenfalls ›archetypischen‹ 222 Anschauung mit dem 1772 im Brief an Herz dann genannten i. archetypus in Abgrenzung zum menschlichen Erkenntnisvermögen deutlich: 223 Auf die Anschauung des i. archetypus gründen sich die Sachen selbst, der i. ectypus ist auf Data der sinnlichen Anschauung angewiesen. – Der intuitus divinus ist selbst Grund der Objekte, der intuitus mentis nostrae ist im Hinblick auf die Objekte passiv. 224 Vgl. Förster, Die 25 Jahre (2018), 13 f.; 24. Ebd., 42. Vgl. AA II, 396 f.: »Intellectualium non datur (homini) intuitus [. . .]. Intuitus nempe mentis nostrae semper est passivus; adeoque eatenus tantum, quatenus aliquid sensus nostros afficere potest, possibilis. Divinus autem intuitus, qui obiectorum est principium, non principiatum, cum sit independens, est archetypus et propterea perfecte intellectualis.« (»Eine Anschauung des Intellektuellen ist (dem Menschen) nicht gegeben [. . .]. Die Anschauung unseres Geistes ist offenbar immer passiv; und daher nur insofern möglich, dass irgendetwas unsere Sinne affizieren kann. Die göttliche Anschauung aber, die der Grund der Gegenstände ist, nicht etwas Begründetes, ist, da sie unabhängig ist, urbildlich und deshalb vollkommen intellektuell.«) 221 Förster, Die 25 Jahre (2018), 42. 222 Vgl. Anm. 220. 223 Im Brief räumt Kant jedoch ein, er habe in der Dissertation die Frage, »[w]ie denn sonst eine Vorstellung die sich auf einen Gegenstand bezieht ohne von ihm auf einige Weise afficirt zu seyn möglich« sei, »mit Stillschweigen« übergangen (Br, AA X, 130 f.). Diese Fragestellung weist bereits deutlich auf das hier von Kant initial entworfene Projekt der kritischen Philosophie hin. 224 Vgl. Anm. 220. 219
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Durch die Betrachtung der kantischen Philosophie der frühen 1770er Jahre legt Förster den Grundstein zu einem detaillierten Verständnis der u. a. darauf basierenden genetischen Entwicklung der kritischen Philosophie im Folgejahrzehnt. Für die hier vorliegende Untersuchung ist besonders Försters Erörterung der späteren kantischen Konzeptionen von intellektueller Anschauung und intuitivem Verstand im direkten Vergleich von Interesse: 225 Indem Förster, wie er selbst feststellt, 226 erstmalig eine systematische Unterscheidung dieser »Grenzbegriffe« 227 vornimmt, wird zugleich ein wichtiges Moment in der diachronen Entwicklung der kritischen Philosophie zwischen 1781 und 1790 zugänglich gemacht. Das damit geschaffene »begriffliche[] Arsenal« erlaube es, so Förster, »auch dasjenige, wozu sie Grenzbegriffe sind, nämlich unsere menschlichen Erkenntnisvermögen, in klarerem Licht erscheinen zu lassen«. 228 Jenes begriffliche Arsenal weist dabei bereits auf die späteren Theoreme v. a. Fichtes, Schellings, Jacobis und Novalis' zu intellektueller Anschauung hin. Diese Theoreme sollen in der vorliegenden Untersuchung nicht behandelt werden. 229 Auch die erneut kurz angesprochene vorkritische Philosophie Kants dient lediglich zur initialen Einführung in die hier vorgezeichnete Thematik und soll im Folgenden nicht mehr zur Sprache kommen. Für den eigentlichen Untersuchungsgegenstand dieser Abhandlung, nämlich Maimons Verstandeskonzeption, ist diese Thematik als solche nun von besonderer Wichtigkeit. Auch wenn Maimon in Försters Schrift keinerlei Erwähnung findet: Das begriffliche Arsenal um ›intellektuelle Anschauung‹ und ›intuitiven Verstand‹, von Kant als bloß negative Kontrastbegriffe zu den uns allein bekannten Arten von Erkenntnisvermögen angeführt, wird sich hier als äußerst hilfreich erweisen. Denn Maimons Konzept eines unendlichen Verstandes kann gerade in seiner genetischen Verwobenheit mit der diachronen Entwicklung des kantischen Kritizismus auf dieser Basis tiefgreifend und hinsichtlich seines eigentlichen philosophischen Gehalts erschlossen werden. Um den thematischen Rahmen nochmals zu rekapitulieren und zu präzisieren, soll an dieser Stelle der Disput zwischen Kant und Maimon von 1789, vermittelt über Herz, in Erinnerung gerufen werden: Kant wirft Maimon vor, er vertrete den Spinozismus. Dies begründet er einerseits mit Maimons Annahme des menschlichen Verstandes als anschauend; andererseits, damit einhergehend, mit der Auffassung dieses Verstandes als Teil des göttlichen – so Vgl. Förster, Die 25 Jahre (2018), v. a. 147–160. Vgl. ebd., 154. Die Ausführungen im Buch basieren streckenweise auf einem früheren zweiteiligen Aufsatz Försters; vgl. ders., Die Bedeutung von §§ 76, 77 (2002), v. a. Teil I, 177–180. 227 Förster, Die 25 Jahre (2018), 160. 228 Ebd. 229 Vgl. hierzu insg. Tilliette, Recherches (1995). 225
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zumindest Kants Auslegung der Position Maimons (vgl. Br, AA XI, 49 f.; s. o., Abschnitt 2.4). Allgemeiner Kontext ist also Kants Spinozismusvorwurf gegen Maimon, den dieser später klar zurückweisen wird. In diesem Zusammenhang kommt Kant jedoch erneut auf die in seiner Philosophie selbst zu findenden negativen Kontrastbegriffe ›anderer‹ Arten von Erkenntnisvermögen als die menschlichen zu sprechen, und zwar mehr als einmal. So hat er dort u. a. die radikal-genetische Fragestellung nach der Möglichkeit der spezifischen Gestalt der verschiedenen menschlichen Erkenntnisvermögen sowie nach deren Zusammenstimmung im Blick. Dazu merkt er an: Wie aber eine solche sinnliche Anschauung (als Raum und Zeit) Form unserer Sinnlichkeit oder solche Functionen des Verstandes, als deren die Logik aus ihm entwickelt, selbst möglich sey, oder wie es zugehe, daß eine Form mit der Andern zu einem möglichen Erkenntnis zusammenstimme, das ist uns schlechterdings unmöglich weiter zu erklären, weil wir sonst noch eine andere Anschauungsart, als die uns eigen ist und einen anderen Verstand, mit dem wir unseren Verstand vergleichen könnten und deren jeder die Dinge an sich selbst bestimmt darstellete, haben müßten: wir können aber allen Verstand nur durch unseren Verstand und so auch alle Anschauung nur durch die unsrige beurtheilen. (Br, AA XI, 51; Hervorhebungen: D. E.) 230
Um die dort genannten, tiefgreifenden Fragestellungen bezüglich der Möglichkeit der menschlichen Erkenntnisvermögen in ihrer eigentümlichen Beschaffenheit beantworten zu können, wäre also gewissermaßen eine ›Außenperspektive‹ auf diese Vermögen notwendig. Hierzu bräuchte es den positiven Vergleich mit ›anderen‹ Arten von Anschauung und Verstand. Da solche Vermögen jedoch lediglich negative Grenzbegriffe darstellen und besagte ›Außenperspektive‹ somit unmöglich bleibt, können auch die genannten Fragen nicht beantwortet werden. Zudem rät Kant Maimon, sich erneut mit den »Antinomien der r[einen] Vernunft« zu beschäftigen, »die ihn vielleicht überzeugen werden, daß man den menschlichen Verstand nicht für specifisch einerley mit dem Göttlichen [. . .] annehmen könne: daß er nicht, wie dieser, als ein Vermögen anzuschauen, Dieselbe Überlegung zur hier behaupteten Unerklärbarkeit dieser grundlegenden epistemischen ›Fakten‹ äußert Kant wenig später auch in der Kontroverse mit Johann A. Eberhard. Dieser setzte, als Vertreter der Lehren Leibniz’ und Wolffs, Kants kritische Philosophie mit Skeptizismus gleich; vgl. v. a. Eberhard, Vergleichung (1791/92), 86. Im Schlussteil seiner u. a. darauf reagierenden Schrift Über eine Entdeckung [. . .] von 1790 bespricht Kant dieselbe Problematik wie auch in der oben zitierten Passage des Briefes an Herz, lässt jedoch die Nennung ›anderer Arten‹ von Erkenntnisvermögen weg; vgl. AA VIII, 249 f.; hierzu auch Birken-Bertsch, Die Heterogenität der Vorstellungsarten (2001), 707. Zur Thematik der Kontroverse zwischen Kant und Eberhard vgl. weiterführend Gawlina, Das Medusenhaupt der Kritik (1996). 230
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sondern nur zu denken, müsse betrachtet werden, welches durchaus ein davon ganz verschiedenes Vermögen (oder Receptivität) der Anschauung zur Seite, oder besser zum Stoffe, haben müsse, um Erkenntnis hervorzubringen« (Br, AA XI, 54). In dieser Diskussionskonstellation zeigt sich somit eine bemerkenswerte Pointe: Kant setzt Maimons Position mit der Philosophie Spinozas gleich. Laut dieser sei der menschliche Verstand Teil des göttlichen, von diesem also nicht spezifisch unterschieden und daher zugleich anschauend. Kant bezieht sich damit, wie in Abschnitt 2.4 ausgeführt, nicht ganz präzise auf Spinozas Theorie der mens humana als Teil des i. infinitus Dei (vgl. E II, prop. 11, coroll.). – Dieser i. infinitus stellt dabei jedoch ebenso wie der i. finitus lediglich einen Modus der Substanz dar, 231 was hier bereits antizipierend ergänzt sei. – Kant führt dann allerdings die sich in seiner eigenen Philosophie findenden Konzepte ›anderer‹ Arten von Erkenntnisvermögen an. Damit gibt er unbeabsichtigt einen Hinweis auf den eigentlichen Ursprung von Maimons Theorem des unendlichen Verstandes: Wie hier als zentrale These vertreten werden soll, ist dieser Ursprung eben nicht Maimons Bezugnahme auf die Substanzmetaphysik Spinozas mit den Spezies von i. infinitus und i. finitus als Modi der einen Substanz. Es ist vielmehr die zunächst immanent agierende, d. h. primär transzendentalphilosophisch und nicht etwa metaphysisch-ontologisch motivierte Arbeit Maimons an den genannten, von Kant selbst im Zuge seiner kritischen Philosophie entwickelten ›anderen Arten‹. Damit lässt sich zudem Maimons entschiedene Abwehr des Spinozismusvorwurfs erklären (vgl. VT, 197 f.; s. o., Abschnitt 2.4). Dieser Vorwurf muss ihm gerade vor dem hier skizzierten Hintergrund als grobes Missverständnis seines eigenen Ansatzes vorgekommen sein. Um die bisher umrissenen Zusammenhänge zielführend erörtern zu können, soll in diesem Kapitel eine Typologie der Intellektkonzeptionen bei Kant und Maimon erstellt werden, v. a. unter Rückgriff auf Eckart Försters KantRezeption. Dabei wird auch die jeweilige spezifische Position der Sinnlichkeit innerhalb jener Konzeptionen und damit die Frage nach epistemologischem Dualismus oder Monismus zu erörtern sein. Um hierfür einen entsprechenden Rahmen zu schaffen, soll in Abschnitt 3.1 zunächst Maimons grundlegende Herangehensweise an die Hauptfragen der KrV besprochen werden. Dabei wird sich zeigen, dass es zu einer dezidierten Umdeutung und Ausweitung der von Kant im Zuge der transzendentalen Deduktion konzipierten Fragestellung quid juris kommt. Dies wirkt sich insbesondere auf Maimons Theoriebildung im Problemhorizont der Dinge an sich und des Gegebenen aus. Im umfangreicheren Abschnitt 3.2 sind Kants Konzepte 231
Vgl. E I, prop. 29, schol.; prop. 31 & dem.
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von intellektueller Anschauung und anschauendem Verstand in den beiden Auflagen der KrV, dort insbesondere in den zwei Fassungen der transzendentalen Deduktion, zu erörtern. Darauf aufbauend soll demonstriert werden, wie Maimon seine Konzeption eines unendlichen Verstandes gerade innerhalb der Interferenzen der Entwicklung der kantischen Position zwischen 1781 und 1787 entwickelt und dieses Konzept schließlich in den Reflexionsrahmen der transzendentalen Dialektik verschiebt. Abschnitt 3.3 dient der konkreten Fragestellung nach der Verhältnisbestimmung von endlichem und unendlichem Verstand bei Maimon. Die sich im Resultat ergebende approximierende Vervollständigungsdynamik auf Grundlage einer »allgemeinen Antinomie des Denkens überhaupt« (AS, 56) wird sich dabei als für Maimons Denken insgesamt prägender Zug herausstellen lassen. Abschnitt 3.4 befasst sich in komprimierter Form mit einem speziellen Aspekt der Leibniz-Rezeption Maimons, die sich im Versuch als für das dort konzipierte Intellekttheorem von besonderer Relevanz erweist. In 3.5 wird dann zur KU und den darin erneut auftauchenden Termini von i. archetypus als intuitivem und i. ectypus als diskursivem Verstand übergegangen. Diese Termini können Maimon zur Zeit der Abfassung des Versuchs in dieser Form noch nicht bekannt gewesen sein. In diesem Zusammenhang soll jener Themenkomplex der KU kritisch mit Maimons Theorem des unendlichen Verstandes zusammengeführt werden. Hierbei wird sich zeigen, dass dieses Theorem in begrenzter Hinsicht parallel zur Entwicklung der kantischen Konzeptionen verläuft, von diesen unter systematischen Gesichtspunkten letztlich jedoch deutlich abweicht. Zusätzlich soll kurz auf den weiteren historischen Rahmen von Maimons sich anschließender Rezeption der KU eingegangen werden. In 3.6 wird der Rückbezug zu Kants Spinozismusvorwurf im Kontext des Verstandestheorems Maimons hergestellt. Damit soll der Übergang zur Besprechung der Relevanz dieses Theorems für die Akosmismusthese in Kap. 4 vorbereitet werden.
3.1 Maimons Transformation und Ausweitung der kantischen Fragestellung quid juris 3.1.1 Kants Ausgangspunkt
Kant beginnt das zweite Hauptstück der transzendentalen Analytik der Begriffe, »Von der Deduktion der reinen Verstandesbegriffe« (KrV, A 84/B 116), genauer den einführenden Absatz »Von den Prinzipien einer transzendentalen Deduktion überhaupt« (ebd.; »§ 13« nach KrV, B), mit der Entlehnung der Frage quid juris aus der Rechtswissenschaft:
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Die Rechtslehrer, wenn sie von Befugnissen und Anmaßungen reden, unterscheiden in einem Rechtshandel die Frage über das, was Rechtens ist, (quid juris) von der, die die Tatsache angeht, (quid facti) und indem sie von beiden Beweis fordern, so nennen sie den erstern, der die Befugnis, oder auch den Rechtsanspruch dartun soll, die Deduktion. (Ebd.)
Deduktion wird somit hier, an prominenter Stelle der KrV, als Beweis hinsichtlich der Frage quid juris, ›was Rechtens ist‹, definiert. Damit erhält ebendiese Fragestellung eine elementare Position innerhalb der Systematik der KrV insgesamt. Was nun das Transzendentale der damit initial entworfenen Deduktion ausmacht, 232 führt Kant im Folgenden weiter aus. Dabei geht er erneut auf den Aspekt der Rechtmäßigkeit ein: Unter den mancherlei Begriffen aber, die das sehr vermischte Gewebe der menschlichen Erkenntnis ausmachen, gibt es einige, die auch zum reinen Gebrauch a priori [. . .] bestimmt sind, und dieser ihre Befugnis bedarf jederzeit einer Deduktion; weil zu der Rechtmäßigkeit eines solchen Gebrauchs Beweise aus der Erfahrung nicht hinreichend sind, man aber doch wissen muß, wie diese Begriffe sich auf Objekte beziehen können, die sie doch aus keiner Erfahrung hernehmen. (KrV, A 85/B 117; Hervorhebung: D. E.)
Durch diese Formulierung stellt Kant unmittelbar dasjenige heraus, was Förster als »das eigentliche Thema der Transzendentalphilosophie« bestimmt, nämlich »die apriorische Referenzrelation«: 233 Von der Metaphysik unterscheidet sich die Transzendentalphilosophie dadurch, dass letztere »selbst gar nicht auf Gegenstände geht, [. . .] sondern die Möglichkeit eines solchen nicht-empirischen Gegenstandbezugs – und damit die Möglichkeit von Metaphysik – untersucht«, 234 so Förster. Dass diese Referenzrelation dabei im Hinblick auf ›Gegenstände überhaupt‹ gilt und dass diese Geltungsbestimmung das eigentlich Charakteristische des ursprünglichen Entwurfs der kantischen Transzendentalphilosophie ausmacht, führt Förster dort weiter aus, auf eine zentrale Formulierung aus der Einleitung zur Erstau age der KrV bezugnehmend: »Ich nenne alle Erkenntnis transzendental, die sich nicht so wohl mit Gegenständen, sondern mit unsern Begriffen a priori von Gegenständen überhaupt beschäftigt.« (KrV, A 11 f.) 235 Zur Kant-immanenten Thematik der transzendentalen Deduktion als solcher vgl. Henrich, Beweisstruktur (1973); ders., Identität und Objektivität (1976); ders., Die Identität des Subjekts (1988); Baum, Deduktion und Beweis (1986). 233 Förster, Die 25 Jahre (2018), 16. Später, v. a. in Prolegomena und Zweitauflage der KrV, verschiebt sich dies in Richtung der spezifischer formulierten Fragestellung, wie synthetische Urteile a priori möglich seien; vgl. Förster, Die 25 Jahre (2018), v. a. 111; 121; 135. 234 Ebd., 16. 235 Vgl. ebd., 16 f. 232
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Eben in der Erklärung der Rechtmäßigkeit der apriorischen Referenzrelation, und zwar der Relation von Begriffen auf Gegenstände überhaupt, besteht nun die eigentliche Aufgabe der transzendentalen Deduktion dieser Begriffe: Ich nenne daher die Erklärung der Art, wie sich Begriffe a priori auf Gegenstände beziehen können, die transzendentale Deduktion derselben, und unterscheide sie von der empirischen Deduktion, welche die Art anzeigt, wie ein Begriff durch Erfahrung und Reflexion über dieselbe erworben worden, und daher nicht die Rechtmäßigkeit, sondern das Factum betrifft, wodurch der Besitz entsprungen. (KrV, A 85/B 117)
Dieses Unternehmen einer transzendentalen Deduktion als Antwort auf die vorangestellte Frage quid juris lässt sich nun, wie von Förster geleistet, unmittelbar in den Diskursrahmen um besagte ›andere‹ Arten von Erkenntnisvermögen als die menschlichen integrieren: Das menschliche Erkenntnissubjekt verfügt Kant zufolge eben nicht über eine »produktive«, »intellektuelle [. . .] Anschauung«, die selbst der »Grund der Objekte« wäre, die die Erkenntnisgegenstände dieses Subjekts somit selbst hervorbrächte. Wäre dies so, »dann wäre eine transzendentale Deduktion weder nötig noch möglich.« 236 Notwendigkeit und überhaupt erst Möglichkeit dieser zentralen Unternehmung der kantischen Transzendentalphilosophie, nämlich der transzendentalen Deduktion der reinen Verstandesbegriffe, d. h. der Beantwortung der Fragestellung quid juris, hängen ganz wesentlich von der spezifischen Einrichtung der menschlichen Erkenntnisvermögen ab. Diesen Vermögen verleiht Kant immer wieder, wie Förster betont, durch die Kontrastierung zu zwar denkbaren, uns jedoch qualitativ unbekannten ›anderen Arten‹ schärfere Konturen. Diese Konturen sind wohlbekannt und lassen sich an dieser Stelle daher stark komprimiert nachzeichnen: Der menschliche Verstand ist, als diskursiver und nicht intuitiver, »auf ein gegebenes Material zum Denken angewiesen«. 237 Er bezieht sich also seiner grundsätzlichen Verfasstheit gemäß auf die disparate Erkenntnisfunktion der Sinnlichkeit. Diese ist die einzige Form der dem menschlichen, damit dual strukturierten Erkenntnissubjekt möglichen Anschauung. Ebenso, wie der Verstand seinen Erkenntnisgegenstand nicht selbst produzieren kann, ist auch die Sinnlichkeit auf etwas Externes angewiesen. Mehr noch: Passivität, und zwar in Form von Rezeptivität, gehört zu den konstitutiven Eigenschaften dieser Erkenntnisfunktion. 238 Der Rezeptivität der Sinnlichkeit muss wiederum etwas ›Gegebenes‹ korrelieren, das von der Ebd., 42. Ebd. 238 Vgl. ebd., 39: »Die Sinnlichkeit ist als Vermögen der Rezeptivität passiv.«; hier u. a. bezugnehmend auf Henrich, Identität und Objektivität (1976); ders., Die Identität des Subjekts (1988). 236 237
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in dieser Hinsicht passiv-anschauenden Erkenntnisfunktion rezipiert wird. 239 Dies geschieht dadurch, dass jenes Gegebene die Sinnlichkeit affiziert. 240 Diese Grundkonstellation stellt Kant unmittelbar zu Beginn der transzendentalen Elementarlehre, d. h. zu Anfang der transzendentalen Ästhetik dar, ebenfalls unter der methodischen Prämisse der Frage nach der grundsätzlichen Referenzrelation möglicher Erkenntnis auf Gegenstände überhaupt: Auf welche Art und durch welche Mittel sich auch immer eine Erkenntnis auf Gegenstände beziehen mag, so ist doch diejenige, wodurch sie sich auf dieselbe unmittelbar bezieht, und worauf alles Denken als Mittel abzweckt, die Anschauung. Diese findet aber nur statt, so fern uns der Gegenstand gegeben wird; dieses aber ist wiederum [Zusatz KrV, B: ›uns Menschen wenigstens,‹] nur dadurch möglich, daß er das Gemüt auf gewisse Weise affiziere. Die Fähigkeit, (Rezeptivität) Vorstellungen durch die Art, wie wir von Gegenständen affiziert werden, zu bekommen, heißt Sinnlichkeit. (KrV, A 19/B 33)
Gegenstandserkenntnis ist dem menschlichen Erkenntnissubjekt somit prinzipiell nur über die rezeptive sinnliche Anschauung vermittelt möglich. Daher stellt sie, ebenso prinzipiell, als Erfahrungserkenntnis lediglich Erscheinungserkenntnis dar. Hierzu schreibt Kant in der Vorrede zur Zweitauflage, dass »wir von keinem Gegenstande als Dinge an sich selbst, sondern nur so fern es Objekt der sinnlichen Anschauung ist, d. i. als Erscheinung, Erkenntnis haben können« (KrV, B XXVI). 241 Nun wäre es »ungereimt[]«, »daß Erscheinung ohne etwas wäre, was da erscheint«, weshalb »wir eben dieselben Gegenstände auch als Dinge an sich selbst, wenn gleich nicht erkennen, doch wenigstens müssen denken können.« (KrV, B XXVI f.) Zwar sind die letztgenannten Formulierungen speziell für die Zweitauflage der KrV charakteristisch; die hier ausgeführte Bedeutung der ›Dinge an sich selbst‹ lässt sich dennoch generell mit den Aspekten der Rezeptivität der Sinnlichkeit sowie dem dieser Rezeptivität notwendig korrelierenden ›Gegebenen‹ verknüpfen: Die Sinnlichkeit wird durch externe ›Dinge‹ affiziert. Die Art dieses Affiziertwerdens gibt zugleich die Erkenntnis der Erscheinung dieser Dinge an die Hand. Gerade in demjenigen, was der Rezeptivität der Sinnlichkeit als ›Gegebenes‹ korreliert, lässt sich schließlich das von der Erscheinung der Dinge klar unterschiedene Konzept der ›Dinge an sich selbst‹ lokalisieren. Dieses Konzept erweist sich in der hier umrissenen Vgl. Förster, Die 25 Jahre (2018), 119: »Denn eine Anschauung kann nicht als rezeptiv gedacht werden, wenn ihr nicht etwas entspricht, von dem sie etwas empfängt.« 240 Zum Affektionsaspekt vgl. weiterführend Willaschek, Affektion und Kontingenz (2001). 241 Die Thematik des Verhältnisses von Dingen an sich zu Erscheinungen stellt ein weites Forschungsfeld mit langer Geschichte dar, das an dieser Stelle nicht detaillierter aufgearbeitet werden kann; vgl. u. a. Willaschek, Mehrdeutigkeit (2001). 239
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epistemischen Konstellation durchaus als notwendig: Ohne Gegebenes keine Rezeption durch Affiziertwerden; ohne Dinge an sich selbst keine Erscheinungen der Dinge. Diese kurze Skizze der erkenntnistheoretischen Grundzüge der transzendentalen Elementarlehre dient an dieser Stelle der genaueren Konturierung des transzendentalphilosophischen Problemhorizonts, von dem Maimon im Versuch grundsätzlich ausgeht, und braucht an dieser Stelle daher nicht fortgeführt zu werden. Mit vorausgreifendem Blick auf Maimons eigenen Ansatz, der ganz wesentlich von der hier thematisierten Fragestellung quid juris abhängt, ist die Problemkonstellation der KrV nochmals wie folgt zusammenzufassen: Die transzendentale Deduktion als Erklärung der Gültigkeit des Bezugs reiner Verstandesbegriffe auf Gegenstände überhaupt stellt die Antwort auf die Frage quid juris dar. Dies ist also die Frage nach dem ›Rechtsanspruch‹, nach der Legitimität des apriorischen Gegenstandsbezugs jener Begriffe. Dass sich diese Frage aber überhaupt erst stellt, dass die Deduktion somit überhaupt möglich und auch notwendig wird, liegt an der spezifischen Verfasstheit des menschlichen Erkenntnissubjekts als Dualität von diskursivem Verstand und rezeptivanschauender Sinnlichkeit: Aufgrund dieser Konstitution wird das in dieser Hinsicht passive Erkenntnissubjekt mit einem extern, durch Affektion, Gegebenen konfrontiert. Für dieses Gegebene steht die Gültigkeit apriorischer Begriffe dann infrage und muss deduziert werden. Konkreter handelt es sich dabei um die Begriffe der Synthesis des vermittelst der Sinnlichkeit gegebenen Multiplen. Die Sinnlichkeit ist ihrerseits, als Vermögen des Affiziertwerdens, also im Wesentlichen passiv. Damit geht einher, dass die dieser Passivität korrelierenden und sich somit innerhalb des konzeptionellen Horizonts des Gegebenen befindlichen Dinge nicht ›an sich selbst‹ erkannt werden können. Stattdessen sind lediglich die Erscheinungen dieser Dinge epistemisch zugänglich. Wäre das in Rede stehende Erkenntnissubjekt ›andersartig‹ verfasst, verfügte es beispielsweise über eine intellektuelle, produktive, damit nicht-rezeptive Anschauung, wäre, wie Förster festhält, 242 das gesamte Projekt einer transzendentalen Deduktion hinfällig. Die Frage quid juris stellte sich dementsprechend gar nicht erst. Wäre der Gegenstand vom Subjekt selbst produziert und damit eben nicht auf irgendeine Weise extern ›gegeben‹, könnte es auch keine Frage nach der Legitimität einer Referenzrelation auf diesen Gegenstand geben. In Bezug auf das in der KrV angenommene dual strukturierte menschliche Erkenntnissubjekt konnte demgegenüber gezeigt werden, dass die Aspekte von Gegebenem, Dingen an sich selbst sowie Affektion durch diese Dinge im selben Theorierahmen stehen wie die Frage quid juris, wenn auch erst über die konzeptionelle 242
Vgl. Anm. 236.
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Weitläufigkeit dieses Rahmens hinweg vermittelt. Mit diesem Zwischenergebnis kann nun zu Maimons Behandlung der Frage übergegangen werden.
3.1.2 Maimons Ansatzpunkt
Maimon geht besonders im zweiten, ferner im dritten Abschnitt des Versuchs explizit auf die unmittelbar von Kant übernommene Fragestellung quid juris ein. 243 Achim Engstler betont treffend, diese Frage stelle das »zentrale Thema dieses Buches«, also des Versuchs, dar. Dies bedeutet laut Engstler jedoch zugleich, dass demgegenüber die »Ding-an-sich-Problematik«, damit auch Maimons »angebliche[] Kritik an Kants Affektionslehre«, 244 eben nicht zu den eigentlichen Anliegen der Schrift gehören. Fragestellung quid juris und Dingan-sich-Thematik werden hier somit als zwei grundsätzlich disparate Problemfelder aufgefasst: Maimons Fokus auf erstere bedeutet für Engstler zugleich, dass letztere in diesem Kontext bloß nebenrangig oder sogar irrelevant sei. Damit stellt sich Engstler gegen »die durch die Philosophiegeschichtsschreibung des Neukantianismus kanonisierte Perspektive [. . .], im Mittelpunkt des Denkens aller frühen Kant-Kritiker stünde die Auseinandersetzung mit der Ding-an-sich-Problematik.« 245 Seine Ablehnung dieser also v. a. im Neukantianismus geprägten Perspektive führt Engstler später weiter aus und hat dabei unter anderem Schriften Wilhelm Windelbands, Ernst Cassirers und Kuno Fischers im Blick. 246 Indem die Vertreter des Neukantianismus die Ding-ansich-Problematik im Zentrum von Maimons Ansatz stehend sehen, projizieren sie laut Engstler ihr eigenes systematisches Interesse fälschlicherweise auf die Philosophie Maimons. 247 Zweifellos richtig ist einerseits, dass Maimon die Behandlung der Fragestellung quid juris zu einem seiner Hauptanliegen im Versuch erklärt. Andererseits stimmt es auch, dass die explizite Problematisierung der Konzeption der Dinge an sich dort keine so zentrale Stellung einnimmt wie in anderen wichtigen Schriften dieser Phase der frühen Kant-Kritik. Zu nennen sind hier insbesondere Jacobis bereits erwähntes Werk David Hume über den Glauben von 1787 sowie Gottlob Ernst Schulzes Aenesidemus 248 von 1792, die den Versuch Vgl. VT, 38–40; 50. Maimons eigene, später entstandene Anmerkungen hierzu: VT, 196 f. Engstler, Untersuchungen (1990), 21. 245 Ebd. 246 Vgl. ebd., v. a. 57–61. 247 Vgl. ebd., 59 f. 248 Schulze, Aenesidemus (1792/1996). Zur grundlegenden Divergenz der Ansätze Jacobis und Schulzes vgl. Sandkaulen, Das »leidige Ding an sich« (2007), v. a. 179–182; 187 f. 243 244
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rein chronologisch gesehen gewissermaßen flankieren. Problematisch ist allerdings Engstlers daraus resultierende Schlussfolgerung, die quid-juris-Thematik sei, statt der Ding-an-sich-Thematik, Maimons Hauptinteresse und letztere damit relativ zu vernachlässigen. Hiergegen lässt sich zweierlei einwenden: Zum einen liegt, wie im vorhergehenden Teilabschnitt bezüglich des kantischen Ansatzes beschrieben wurde, die Problematik der Dinge an sich durchaus im weiteren Problemhorizont der Fragestellung quid juris. Deshalb erscheint Engstlers Annahme eines strikten Entweder-Oder ungerechtfertigt. Zum anderen kommt es in Maimons eigener Auseinandersetzung mit der Fragestellung zu einer signifikanten Transformation und Ausweitung derselben, auch wenn er die grundsätzliche Problemdisposition, die in der Fragestellung zum Ausdruck kommt, von Kant übernimmt. Dieser Transformations- und Expansionsprozess ist im vorliegenden Teilabschnitt weiterführend nachzuzeichnen. Inwieweit sich in Maimons eigenem Ansatz damit gerade eine konzeptionelle Engführung der Problemstellungen von Gegebenem und Dingen an sich mit der Frage quid juris vollzieht, kann demgegenüber erst in den darauffolgenden Abschnitten adäquat erarbeitet werden. Dies wird Engstlers strikte Trennung der Themenfelder noch problematischer erscheinen lassen. Somit also zunächst zu den Grundzügen der genannten Transformation und Expansion: Unter anderem identifiziert Maimon die Frage quid juris mit der Frage »quid rationis«, d. h. mit der »Frage [. . .]: wie ist es begreiflich« (VT, 197). Diese Zusammenführung von ius und ratio thematisiert Engstler, indem er, soweit treffend, feststellt: »Unter der Formel ›quid juris‹ sind daher im ›Versuch‹ zwei Fragen bzw. zwei Aspekte zusammengefaßt, die nicht klar unterschieden werden, nämlich die Frage nach der Begreiflichkeit oder Erklärbarkeit der Anwendung apriorischer Begriffe auf aposteriorische Gegenstände und die Frage nach der Gültigkeit dieser Anwendung.« 249 Hierin sieht Engstler allerdings lediglich eine eher geringfügige Akzentverschiebung der Fragestellung durch Maimon, 250 keine wirkliche Transformation. Auch Ehrensperger geht auf Maimons Formulierung quid rationis ein. Diesen Aspekt bezieht er, aufgrund von Maimons Konnotation der ratio mit Gesetzmäßigkeit, 251 auf »die Frage nach der Gesetzmäßigkeit der Synthesis: Welches Gesetz regelt die Verbindung von Verstandesbegriff und empirischer Anschauung?« 252 Die Implikationen von Maimons Fragestellung quid rationis können an dieser Stelle Engstler, Untersuchungen (1990), 62. Vgl. ebd.: »In Maimons ›Versuch‹ wird der Akzent der Frage etwas verschoben.« 251 Vgl. VT, 197: »Quid juris heißt bei mir so viel als quid rationis? weil dasjenige rechtmäßig ist was gesetzmäßig ist, und in Ansehung des Denkens ist dasjenige rechtmäßig, was den Gesetzen des Denkens oder der Vernunft gemäß ist.« 252 Ehrensperger, Weltseele (2006), 103. 249 250
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zwar nicht weiter vertieft werden, 253 da das hier letztlich Entscheidende damit aus dem Fokus geriete. Dennoch gibt Ehrenspergers Verknüpfung dieser Frage mit dem Aspekt der Gesetzmäßigkeit von Synthesis im Allgemeinen einen Hinweis auf die eigentliche systematische Tragweite der Frage quid juris in Maimons Philosophie: Im zentralen zweiten Abschnitt des Versuchs erklärt sich Maimon generell zu dieser Fragestellung. Dadurch wird zugleich klar, dass hier nicht bloß von einer Akzentverschiebung die Rede sein kann, wie von Engstler angenommen, sondern von einer wesentlich weiterreichenden Transformation. Diese vollzieht sich auch unter Rückgriff auf die philosophische Tradition: Wollen wir die Sache genauer betrachten, so werden wir finden, daß die Frage quid juris? mit der wichtigen Frage die alle Philosophen von jeher beschäftigt hat, nämlich die Erklärung der Gemeinschaft zwischen Seele und Körper, oder auch mit dieser, die Erklärung von Entstehung der Welt (ihrer Materie nach) von einem Intelligenz; einerlei ist. (VT, 39)
Einer möglichen Verwunderung seiner Leser über diese signifikante Ausweitung der Fragestellung kommt Maimon in seinen Anmerkungen zum Haupttext des Versuchs zuvor. Dabei bezeichnet er jene Ausweitung zugleich als ›Reduktion‹: 254 Mancher schulgerechte Professor, der etwas von der Frage: quid juris? vernommen hat, (wenn ich nur die Ehre haben sollte, von diesen Herren gelesen zu werden, welches ich mir nicht versprechen darf) wird hier, den Kopf schüttelnd, ausrufen: ein seltsamer Einfall! die Frage: quid juris? auf die Frage: de commercio animi et corporis, zu reduzieren! Aber was manchem Professor als seltsam vorkömmt, braucht nicht deswegen in der Tat seltsam zu sein. (VT, 196)
Dies wiederum begründet Maimon dadurch, »daß man nur verschiedene Arten des Bewußtseins durch diese Namen unterscheidet, nämlich das Bewußtsein der Formen a priori[] heißt Seele; das Bewußtsein von etwas bloß Gegebenem aber heißt Materie, und die Verknüpfung beider bringt dasjenige, was man diesen oder jenen Gegenstand nennt, hervor.« (Ebd.) Diese verschiedenartigen beIn 3.2.3 wird nochmals kurz hierauf einzugehen sein. In der Lebensgeschichte schreibt Maimon über den Versuch bezüglich der in Rede stehenden Ausweitung: »Hier wird das wichtige Problem, mit dessen Auflösung sich die Kritik beschäftigt: quid juris? in einem viel weitern Sinn, als Hr. Kant es nimmt, ausgeführt, und dadurch für den Humischen Skeptizismus in seiner völligen Stärke Platz gelassen.« (I, 558) Damit betont Maimon selbst, dass es in seiner Erörterung der Frage in Unterscheidung von Kants Perspektive um deutlich mehr geht als um eine Akzentverschiebung. Der letztgenannte, hier noch deplatziert erscheinende Aspekt des Hume’schen Skeptizismus wird erst in Kap. 5 angemessen besprochen werden können. 253 254
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grifflichen Identifikationen erscheinen aufgrund ihrer terminologischen Willkür zwar problembehaftet und schwer legitimierbar. Gleichwohl manifestiert sich in Maimons Erklärungen zur Frage quid juris das eigentlich Charakteristische seines Problemverständnisses in diesem Kontext: Hierbei handelt es sich um die noch grundlegendere Fragestellung nach der Möglichkeit der Zusammenbringung und Zusammenstimmung von prinzipiell Heterogenem, seien es apriorische Form und gegebene Materie, Seele und Körper, oder Intelligenz und Welt – »the problem of the heterogeneity of a priori intelligible or universal and necessary form, and a posteriori given or particular and contingent matter«, so benennt Paul Franks diese Problemstellung. 255 Ähnliches konstatiert auch Ehrensperger, wenn er, auf den ursprünglichen kantischen Ausgangspunkt der Fragestellung zurückgreifend, festhält: »Für Maimon ist also die Frage der transzendentalen Deduktion mit der Frage nach der Einheit von Seele und Körper einerlei: In beiden Fällen steht die Synthesis zweier heterogener Elemente [. . .] zur Debatte.« Zuvor äußerte Ehrensperger bereits, Synthesis sei in diesem Sinne grundsätzlich »das Charakteristische der Philosophie Maimons«. 256 Dabei ist jedoch zu präzisieren, dass es für Maimon nicht um bloße Synthesis von Heterogenem geht, zumindest im Problemhorizont der Frage quid juris: Vielmehr ist v. a. die Problematisierung der Zusammenstimmung dieses Heterogenen sein eigentliches Anliegen. Diese Problematik muss dann letztlich entweder in Skepsis bezüglich der Möglichkeit dieser Zusammenstimmung resultieren oder aber im Unternehmen einer Neutralisierung jener Heterogenität selbst. Dieses Strukturmerkmal der Philosophie Maimons, das hier im Kontext der quid-juris-Thematik skizziert werden konnte, wird im späteren Verlauf der Untersuchung erneut relevant werden. Bemerkenswert ist zunächst, dass das genannte Interesse Maimons an der Möglichkeit der Zusammenstimmung von Heterogenem klar zu demjenigen gehört, was Kant an Maimons philosophischer Unternehmung hinsichtlich der Disposition ihrer Fragestellungen kritisiert: »[W]ie es zugehe, daß eine Form mit der Andern zu einem möglichen Erkenntnis zusammenstimme, das ist uns schlechterdings unmöglich weiter zu erklären« (Br, AA XI, 51), so Kant über das Manuskript des Versuchs im bereits zitierten Brief an Herz von Mai 1789. Kant sieht Maimons eigene Überlegungen zur Frage quid juris daher als zu tiefgreifend und damit als letztlich undurchführbar an. Eine intensivere Einarbeitung in die KrV könnte Maimon von diesen unfruchtbaren Überlegungen abbringen, so Kant. Doch auch hier gilt: Kant bringt in diesem Kontext ›andere‹ Arten von Erkenntnisvermögen 255 Franks, Systematicity and Nihilism (2000), 106. Vgl. auch ebd., 105: »Maimon discerned a single structure in the fundamental problems of medieval, early modern, and Kantian philosophy: ›The question quid juris [. . .]‹.« 256 Ehrensperger, Weltseele (2006), 95; 14.
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als die menschlichen zur Sprache, deren positive Kenntnis zur zielführenden Erörterung der abgewiesenen Frage notwendig wäre. Damit verweist er auf genau diejenige Herangehensweise, die sich Maimon im Zuge seiner Erörterung der Frage quid juris zu eigen macht. Ebendiese Herangehensweise ist in Kants eigenem Ansatz bereits implizit angelegt, wird von ihm als tatsächliche Option jedoch prinzipiell ausgeschlossen. Für Maimon hingegen bedeutet der von ihm selbst gewählte Weg eine Radikalisierung im Umgang mit der vorgefundenen Fragestellung. In dieser Radikalisierung zeigt sich außerdem bereits seine inhaltliche Abstandnahme von der Position Kants: Denn es geht Maimon nicht etwa bloß um ›richtige‹ oder ›falsche‹ Antworten auf die Frage quid juris. Vielmehr sei diese Frage, sofern von Kants oben dargelegter Annahme der spezifischen Einrichtung eines dual strukturierten Erkenntnissubjekts ausgegangen werde, schlicht »unauflöslich« (VT, 38; 40), also generell nicht zu beantworten. Maimon selbst verfolgt demgegenüber das Projekt, durch einen transzendentalphilosophischen Gegenentwurf bezüglich der Frage quid juris »die größte Schwierigkeit dieser Art [zu] heben« (VT, 41). Es soll also letztlich eine mögliche epistemologische Konzeption vorgebracht werden, bei der sich diese Frage gar nicht erst stellt. In diesem Sinne antizipiert er an anderer Stelle des Versuchs ein Wegfallen der Frage explizit (vgl. VT, 79). Dass jene epistemologische Konzeption in ihrem Konstituierungsprozess nun, wie bereits betont, auf Kants sich wandelnden Ausführungen zu besagten ›anderen Arten‹ aufbaut, ist im folgenden Abschnitt zu thematisieren. Denn unter Rückgriff auf Försters Überlegungen wurde immerhin bereits demonstriert, dass die transzendentale Deduktion bei Annahme einer etwaigen intellektuellen Anschauung weder notwendig noch überhaupt möglich wäre. Damit fiele auch die Frage quid juris als dasjenige, worauf die Deduktion eine Antwort geben soll, weg. Genau ein solches Wegfallen ist, wie beschrieben, wiederum eine zentrale Motivation Maimons.
3.2 Akzentverschiebungen in der kritischen Philosophie Kants bis 1787 sowie ihre Reflexion durch Maimon 3.2.1 ›Intellektuelle Anschauung‹ in der Erstauflage der Kritik der reinen Vernunft
Die Behandlung der Erstauflage der KrV in diesem Teilabschnitt bedeutet nicht, dass die untersuchten Theoreme exklusiv für diese Auflage wären und in der Zweitauflage fehlen oder ersetzt würden, wie in Bezug auf viele andere Passagen der Schrift gilt. Alle hier fokussierten Stellen der Erstauflage finden sich auch
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in der Zweitauflage. Lediglich eine Ausnahme wird gesondert zu besprechen sein. Die entscheidende festzustellende Akzentverschiebung wird vielmehr in demjenigen liegen, was in der Zweitauflage zusätzlich angeführt und entwickelt wird. Jene Zusätze und Erweiterungen sollen im darauffolgenden Teilabschnitt betrachtet werden. Kant gibt in den einleitenden Passagen der transzendentalen Analytik der Begriffe eine prägnante Definition der internen Struktur des dual aufgebauten menschlichen Erkenntnissubjekts in seinen verschiedenartigen Funktionen. Dadurch werden die oben bereits besprochenen Charakterisierungen dieser Funktionen nochmals terminologisch präzisiert und erweitert. Als Grundlage für die anzuschließenden Erörterungen soll dieser Absatz daher umfangreicher zitiert werden: Der Verstand wurde oben bloß negativ erklärt: durch ein nichtsinnliches Erkenntnisvermögen. Nun können wir, unabhängig von der Sinnlichkeit, keiner Anschauung teilhaftig werden. Also ist der Verstand kein Vermögen der Anschauung. Es gibt aber, außer der Anschauung, keine andere Art, zu erkennen, als durch Begriffe. Also ist die Erkenntnis eines jeden, wenigstens des menschlichen, Verstandes, eine Erkenntnis durch Begriffe, nicht intuitiv, sondern diskursiv. Alle Anschauungen, als sinnlich, beruhen auf Affektionen, die Begriffe also auf Funktionen. Ich verstehe aber unter Funktion die Einheit der Handlung, verschiedene Vorstellungen unter einer gemeinschaftlichen zu ordnen. Begriffe gründen sich also auf einer Spontaneität des Denkens, wie sinnliche Anschauungen auf der Rezeptivität der Eindrücke. Von diesen Begriffen kann nun der Verstand keinen andern Gebrauch machen, als daß er dadurch urteilt. (KrV, A 67 f./B 92 f.)
Diese genaue Bestimmung der menschlichen Erkenntnisvermögen lässt sich nun in Verbindung mit dem Beginn der transzendentalen Logik insgesamt bringen, um den Aspekt der dabei infrage stehenden grundsätzlichen Referenzrelation der Erkenntnis auf Gegenstände überhaupt beleuchten zu können. Dort wird die prinzipielle Dualität des analysierten Erkenntnissubjekts generell auf den Punkt gebracht: Unsre Erkenntnis entspringt aus zwei Grundquellen des Gemüts, deren die erste ist, die Vorstellungen zu empfangen (die Rezeptivität der Eindrücke), die zweite das Vermögen, durch diese Vorstellungen einen Gegenstand zu erkennen (Spontaneität der Begriffe); durch die erstere wird uns ein Gegenstand gegeben, durch die zweite wird dieser im Verhältnis auf jene Vorstellung (als bloße Bestimmung des Gemüts) gedacht. Anschauung und Begriffe machen also die Elemente aller unsrer Erkenntnis aus, so daß weder Begriffe, ohne ihnen auf
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einige Art korrespondierende Anschauung, noch Anschauung ohne Begriffe, ein Erkenntnis abgeben können. (KrV, A 50/B 74)
Der letztgenannte Aspekt der notwendigen Zusammenkunft von Anschauung und Begriff spiegelt sich im wenig später folgenden klassischen Diktum Kants zur Dualität der Erkenntnis wider. Dort werden Anschauung und Begriff auch unmittelbar mit den Erkenntnisfunktionen von Sinnlichkeit und Verstand verknüpft: »Ohne Sinnlichkeit würde uns kein Gegenstand gegeben, und ohne Verstand keiner gedacht werden. Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind.« (KrV, A 51/B 75) Die generelle Definition von Anschauung selbst findet sich, ergänzend, zu Beginn der transzendentalen Ästhetik: »Auf welche Art und durch welche Mittel sich auch immer eine Erkenntnis auf Gegenstände beziehen mag, so ist doch diejenige, wodurch sie sich auf dieselbe unmittelbar bezieht, und worauf alles Denken als Mittel abzweckt, die Anschauung.« (KrV, A 19/B 33) Es folgt die oben bereits zitierte Bestimmung der spezifisch menschlichen Anschauung als sinnlich-rezeptiv. Von besonderer Wichtigkeit ist an dieser Stelle hingegen die allgemeinere Definition von Anschauung als diejenige Erkenntnisform, die sich unmittelbar auf Gegenstände bezieht. Durch diese Unmittelbarkeit unterscheidet sich Anschauung von Diskursivität. Auf Basis der hier angeführten Erklärungen Kants lässt sich nun eine zweigliedrige Matrix der menschlichen Erkenntnisfunktionen hinsichtlich ihrer prinzipiellen Charakteristika sowie der spezifischen Eigenheiten ihres Gegenstandsbezugs zeichnen: Verstand ist Erkenntnis durch Begriffe, d. h. diskursiv, Sinnlichkeit ist Erkenntnis durch Anschauung, d. h. intuitiv. Erkenntnis durch verstandesbasierte Begriffe heißt, dass der Gegenstand gedacht wird, Erkenntnis durch sinnliche Anschauung heißt, dass der Gegenstand gegeben wird. Im Denken eines Gegenstands – Begriff als Funktion – ist der Verstand spontan (reine Verstandesbegriffe sind ›Produkte‹ intellektualer Spontaneität), im Empfangen des Gegenstands als Gegebenes – Anschauung als Affektion – ist die Sinnlichkeit rezeptiv (Gegebenes ist nur möglich als etwas extern Affizierendes). Durch Kants in den einschlägigen Abschnitten gegebene Hinweise darauf, dass dies nur für menschliche Erkenntnis gilt, kommt es allerdings zu einer bedeutenden Einschränkung der Gültigkeit jener strukturellen Charakteristika. Kant stellt dies sowohl zu Beginn der transzendentalen Ästhetik 257 als auch der transzendentalen Logik fest. 258 So wird zugleich ein (wenn auch rein negativer) Ausblick auf das dieser Einschränkung Jenseitige ermöglicht. Damit ergibt sich 257 258
Vgl. KrV, B 33; s. o.: »[. . .] uns Menschen wenigstens [. . .]«, hier noch nicht in der Erstauflage. Vgl. KrV, A 68/B 93: »[. . .] eines jeden, wenigstens des menschlichen, Verstandes [. . .]«.
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folgendes Bild: Anschauung, intuitive Erkenntnis, ist nicht etwa per se sinnlich-rezeptiv, d. h. auf Affiziertwerden durch ein extern Gegebenes angewiesen. Andererseits ist der Verstand, intellektuelle Erkenntnis, auch nicht per se diskursiv, d. h. an den Begriff als Funktion gebunden. Damit lässt sich zugleich ein Bruch in der oben skizzierten Parallelität feststellen: Dieser Doppelstruktur gemäß müsste, analog zur Rezeptivität sinnlicher Anschauung, Spontaneität das Spezifikum des menschlichen Verstandes darstellen. So verhält es sich jedoch keineswegs; vielmehr nimmt Diskursivität diese Position ein. Als Modell einer ›anderen‹ Art von Verstand als dem menschlichen, diskursiven, ergibt sich damit ein selbst anschauender, d. h. intuitiver Verstand, und zwar anschauend im oben genannten Sinne eines gänzlich unmittelbaren Gegenstandsbezugs. Dabei kann angenommen werden, dass Spontaneität, die ja eben kein Spezifikum des menschlichen Verstandes ist, intellektuelle Erkenntnis als solche charakterisiert. Intellektualität der Erkenntnis ist Spontaneität derselben; und zwar ebenso, wie Anschauung als solche, unbestimmt ob sinnlich oder nicht, durch die Unmittelbarkeit ihres Gegenstandsbezugs charakterisiert ist. In der Folge ist die genannte nicht-rezeptive, also spontane Anschauung zugleich intellektuelle Anschauung, ebenso wie der nicht-diskursive Verstand ein intuitiver ist. Und mit genau diesen Termini arbeitet Kant, was weiterhin zu erörtern sein wird. Eckart Förster nimmt, wie bereits erwähnt, erstmalig eine systematische Unterscheidung der Modelle von intellektueller Anschauung und intuitivem Verstand vor. Letzterer erhält in der KU, genauer in der Dialektik der teleologischen Urteilskraft, eine systematisch bedeutende Position. Ebendiese Position innerhalb des teleologischen Problemhorizonts der KU steht in Försters Erörterung des intuitiven Verstandes daher auch im exklusiven Fokus. 259 In Abgrenzung dazu nennt er die »eher sporadischen Anmerkungen über eine andere Anschauungsart in der ersten Kritik«, 260 d. h. über die intellektuelle Anschauung. Damit orientiert er sich an Kants eigener Erklärung in der KU: Laut dieser Erklärung wird dort, in der dritten Kritik, »die Idee von einem andern möglichen Verstande, als dem menschlichen« relevant, »so wie wir in der Kritik der r. V. eine andere mögliche Anschauung in Gedanken haben mußten« (KU, AA V, 405). 261 Nach Förster ergibt sich damit folgende klare Einteilung: sporadische Anmerkungen über intellektuelle Anschauung in der KrV; systematische Überlegungen zum intuitiven Verstand in der KU. Die Unterscheidung der beiden Modelle nimmt Förster nun auf Grundlage der oben reflektierten Gegenüberstellungen von rezeptiv / spontan sowie 259 260 261
Vgl. Förster, Die 25 Jahre (2018), 150–160. Ebd., 153. Vgl. ebd., 152.
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diskursiv / intuitiv vor: »So wenig, wie diskursiver Verstand und sinnliche Anschauung identisch sind, genauso wenig auch deren Alternativen: intuitiver Verstand und intellektuelle Anschauung.« 262 Bei der intellektuellen Anschauung gehe es somit um die erste Opposition, beim intuitiven Verstand um die zweite. An diesem analogischen Argument ist jedoch Folgendes problematisch: Im hier zur Diskussion stehenden Begriffspaar zeigt sich durch die chiastische Struktur von Verstand (intellectus) als intuitiv und Anschauung (intuitus) als intellektuell eine unmittelbare inhaltliche Verschränkung, die hinsichtlich der Differenz von Verstand als diskursiv und Anschauung als sinnlich-rezeptiv so nicht vorliegt. Der Unterschied von intuitivem Verstand und intellektueller Anschauung lässt sich damit also nicht als gänzlich analog zu demjenigen zwischen diskursivem Verstand und sinnlicher Anschauung fassen. An dieser Stelle soll demgegenüber als Alternativlesart vorgeschlagen werden, dass in den Konzepten von intuitivem Verstand und intellektueller Anschauung bereits ein Aufbrechen der Dualität der Struktur des Erkenntnissubjekts bemerkbar wird. Dieses Aufbrechen ist bei Kant gewissermaßen implizit modelliert: Wenn Diskursivität qua Begriff einerseits sowie Rezeptivität qua Sinnlichkeit andererseits als Spezifika des menschlichen Erkenntnissubjekts wegfallen, bleiben Intellektualität als Spontaneität sowie Anschauung als Unmittelbarkeit des Gegenstandsbezugs bestehen; intellectus und intuitus fallen damit in eins. Es ginge also nicht mehr um zwei divergierende Funktionen eines Erkenntnissubjekts, das in seiner Rezeptivität auf etwas extern Gegebenes und in seiner Diskursivität auf ein begriffliches Durchlaufen dieses Gegebenen angewiesen wäre. Vielmehr handelte es sich hier um ein nicht-duales Subjekt, das den spontan hervorgebrachten Gegenstand unmittelbar anschauen würde. Dies könnte, konsequent weitergedacht, auch als Selbstanschauung verstanden werden. In diesem – nun auch über Kants Reflexion hinausgehend modellierten – Fall wäre eine Differenzierung von intuitivem Verstand und intellektueller Anschauung tatsächlich nicht indiziert. 263 So geradlinig gestaltet sich der Sachverhalt letztlich jedoch nicht: Försters o. g. Argument der Analogiebildung bleibt zwar problematisch. Dennoch wird dort im Folgenden umfassend dargelegt, inwieweit sich das Konzept des intuitiven Verstandes, des i. archetypus in der KU, funktional deutlich von der intellektuellen Anschauung in der KrV unterscheidet. Der i. archetypus ist Ebd., 154. Vgl. Klingner, Kants Begriff einer intellektuellen Anschauung (2016), 622: »Insofern eine Identität von Vorstellung und Hervorbringung, wie sie die produktive Vorstellungsweise Gottes auszeichnen soll, lediglich mittels der Nivellierung des Unterschieds von Anschauung und Begriff bzw. Sinnlichkeit und Verstand denkbar ist, sind die Begriffe ›ursprüngliche Anschauung‹ und ›anschauender Verstand‹ offenkundig synonym.« 262 263
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dabei innerhalb eines weitreichenden teleologischen Problemhorizonts zu verorten. 264 Försters Differenzierung bleibt somit legitim. 265 Ebenso überzeugend ist sein Nachweis, dass in der KrV, im Vergleich zur KU, der Fokus auf der intellektuellen Anschauung als ›anderer‹ Art eines Erkenntnisvermögens liegt. Hieran ist jedoch wiederum Försters Annahme zu kritisieren, es gehe in der KrV ausschließlich darum: Denn durchaus ist auch in der KrV verschiedentlich die Rede von einer anderen Art von Verstand. In der Erstauflage beschränkt sich dies im Wesentlichen auf das dritte Hauptstück der Analytik der Grundsätze, »Von dem Grunde der Unterscheidung aller Gegenstände überhaupt in Phaenomena und Noumena« (KrV, A 235/B 294): 266 Der Begriff eines Noumeni, bloß problematisch genommen, bleibt demungeachtet nicht allein zulässig, sondern, auch als ein die Sinnlichkeit in Schranken setzender Begriff, unvermeidlich. Aber alsdenn ist das nicht ein besonderer intelligibeler Gegenstand für unsern Verstand, sondern ein Verstand, für [KrV, A: ›vor‹] den es gehörete, ist selbst ein Problema, nämlich, nicht diskursiv durch Kategorien, sondern intuitiv in einer nichtsinnlichen Anschauung seinen Gegenstand zu erkennen, als von welchem wir uns nicht die geringste Vorstellung seiner Möglichkeit machen können. (KrV, A 256/B 311 f.)
Hier, im Kontext der Diskussion um das Konzept der Noumena, lässt sich jedoch wiederum das oben entwickelte Argument der eigentlichen Identität von intuitivem Verstand und intellektueller Anschauung anbringen, auch wenn an dieser Stelle, bereits in der Erstlauflage der KrV, der intuitive Verstand explizit genannt wird. Und durchaus: Funktional gesehen lässt sich keine tatsächliche systematische Differenz zu dem feststellen, was Kant im selben Abschnitt kurz zuvor thematisierte: Erscheinungen, so fern sie als Gegenstände nach der Einheit der Kategorien gedacht werden, heißen Phaenomena. Wenn ich aber Dinge annehme, die bloß Gegenstände des Verstandes sind, und gleichwohl, als solche, einer Anschauung, obgleich nicht der sinnlichen (als coram intuitu intellectuali) gegeben werden können; so werden dergleichen Dinge Noumena (intelligibilia) heißen. (KrV, A 248 f.)
Hierbei handelt es sich um die o. g. isolierte Passage, die sich lediglich in der Erstauflage findet. In der Zweitauflage wird dieser Passus gestrichen und durch eine prägnantere Ausführung ersetzt. Diese Ausführung verdeutlicht die hier 264 265 266
Vgl. Förster, Die 25 Jahre (2018), v. a. 154–160. Diese Thematik wird in Abschnitt 3.5 weiterführend zu betrachten sein. Vgl. hierzu allgemein Willaschek, Phaenomena / Noumena (1998).
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vorliegende konzeptionelle Identität von intuitivem Verstand und intellektueller Anschauung im Kontext der Noumenon-Thematik nochmals und wird auch von Förster in diesem Zusammenhang zu Rate gezogen: 267 Wenn wir unter Noumenon ein Ding verstehen, so fern es nicht Objekt unserer sinnlichen Anschauung ist, indem wir von unserer Anschauungsart desselben abstrahieren, so ist dieses ein Noumenon im negativen Verstande. Verstehen wir aber darunter ein Objekt einer nichtsinnlichen Anschauung, so nehmen wir eine besondere Anschauungsart an, nämlich die intellektuelle, die aber nicht die unsrige ist, von welcher wir auch die Möglichkeit nicht einsehen können, und das wäre das Noumenon in positiver Bedeutung. [. . .] Da nun eine solche, nämlich die intellektuelle Anschauung, schlechterdings außer unserem Erkenntnisvermögen liegt [. . .]. (KrV, B 307 f.)
Auch wenn in diesem Abschnitt der KrV der Terminus des intuitiven Verstandes somit vereinzelt fällt, erscheint Försters Vorschlag angebracht und sinnvoll, dies als konzeptionell unter der Rubrik der intellektuellen Anschauung stehend zu verbuchen. Ebendies hält Förster resümierend unter »intellektuelle[r] Anschauung [. . .] als nichtsinnliche[r] Anschauung von Dingen an sich« fest. 268 Diese Art von Anschauung ist dem menschlichen Erkenntnissubjekt laut Kant selbstredend nicht möglich. Dennoch sei die negativ gefasste Annahme einer solchen Anschauung notwendig, um Gegenstände überhaupt als Erscheinungen der Dinge an sich betrachten zu können, anstatt als diese Dinge selbst. Dieser Aspekt der intellektuellen Anschauung im Problemkontext von Dingen an sich, positiven sowie negativen Noumena und transzendentalen Gegenständen (vgl. u. a. KrV, A 191/B 236) bzw. transzendentalen Objekten (vgl. u. a. KrV, A 288/B 344) kann an dieser Stelle nicht weiter vertieft werden. Der Fokus ist, im Hinblick auf die eigentliche Thematik der Kant-Rezeption durch Maimon, hier anderweitig zu setzen. Daher sei an dieser Stelle auf Försters Ausführungen 269 sowie auf weitere Schriften zu jenem Themenkomplex verwiesen. 270 Auch ansonsten kann Förster unterdessen zugestimmt werden, dass das Konzept der intellektuellen Anschauung in der KrV lediglich sporadisch auftaucht und keine weiterreichende systematische Ausarbeitung findet. 271 Dieses Konzept tritt dabei primär als negativ annehmbare, jedoch nicht qualitativbestimmte Art einer nicht-sinnlichen Anschauung auf. Allerdings führt Förster Vgl. Förster, Die 25 Jahre (2018), 159. Ebd., 160. 269 Vgl. ebd., 118–120. 270 Vgl. u. a. de Boer, Kant’s Multi-Layered Conception (2014); Prauss, Kant (1974); Seidl, Bemerkungen (1972). 271 Vgl. KrV, A 286 f./B 342–344; B 429–431; A 439/B 467. 267
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noch eine zweite Verwendungsform des Konzepts der intellektuellen Anschauung in der KrV an, zusätzlich zur o. g. Anschauung von Dingen an sich: nämlich eine »Anschauung [als] nicht sinnlich, sondern produktiv«, »als [. . .] produktive Einheit von Möglichkeit (Denken) und Wirklichkeit (Sein)«, in deren Fall es also »auf die Schaffung der Dinge an sich« ankomme. 272 Eine weitgehend deckungsgleiche Differenzierung nimmt auch Stefan Klingner vor: Einerseits ist, »[m]it Blick auf das Merkmal der Nichtsinnlichkeit ihres Objekts«, intellektuelle Anschauung als »nichtsinnliche Anschauung« zu verstehen, »deren Objekt(e) Noumena sind«. Andererseits wird intellektuelle Anschauung »[m]it Blick auf das Merkmal der Produktivität« als »ursprüngliche Anschauung« bestimmt, die »ausschließlich einem göttlichen Wesen zugesprochen werden könnte«. 273 Die genannte zweite Verwendungsform, also Anschauung als produktives Vermögen, bezieht Förster nun explizit aus der Neufassung der transzendentalen Deduktion in der Zweitauflage der KrV. »[N]icht weniger als sechsmal«, 274 so betont Förster, insistiert Kant darauf, dass die Deduktion der reinen Verstandesbegriffe »nur für einen Verstand gilt, der seine Gegenstände nicht selbst hervorbringt«: Ungültig, »unmöglich, aber auch überflüssig« 275 wäre die Deduktion im Falle eines Verstandes, der genau dies täte. Diese Thematik bezieht sich nun exklusiv auf die Zweitauflage.
3.2.2 ›Anschauender Verstand‹ in der Zweitauflage
Förster bestimmt diese mögliche Annahme eines Verstandes, der seine Gegenstände selbst produzieren könnte, wie dargestellt als eine von zwei klar disparaten Verwendungsweisen der intellektuellen Anschauung – dies, wohlFörster, Die 25 Jahre (2018), 158–160 (Hervorhebung: D. E.). Klingner, Kants Begriff einer intellektuellen Anschauung (2016), 629. Als dritte Rubrik nennt Klingner, unter Rückgriff auf die »mereologische[] Beschreibung des Unterschieds zwischen der Funktionsweise des diskursiven und des intuitiven Verstands«, intellektuelle Anschauung »als ein unmittelbares Erkennen von Übersinnlichem [. . .], dessen Objekt ein seine Teile a priori bestimmendes Ganzes wäre« (ebd.). Anders als bei Förster wird der intuitive Verstand hier also unter den Oberbegriff intellektueller Anschauung subsumiert und ihr nicht als disparates Vermögen gegenübergestellt. Klingners Motivation ist dabei hauptsächlich, diese Mehrdeutigkeit der Konzeption als adäquate Methodik der Rationalismuskritik Kants auszulegen. Vor dem Hintergrund dieser Kritik werde besagte Mehrdeutigkeit überhaupt erst verständlich; vgl. ebd., v. a. 618–620; 629 f.; 642 f. 274 Vgl. KrV, B 135; 138 f.; 145; 149; 153; 159; Ehrensperger, Weltseele (2006), 122, hier mit Verweis auf Förster, Die Bedeutung von §§ 76, 77 (2002), 177. Der weitere Kontext der Ausführungen Kants zu intellektueller Anschauung und anschauendem Verstand wird von Ehrensperger jedoch nicht aufgearbeitet. 275 Förster, Die 25 Jahre (2018), 158 f. 272 273
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gemerkt, obwohl der Verstand hier, in den einschlägigen und in Kürze näher zu betrachtenden Passagen der B-Deduktion, in substantivischer Position auftritt. Es müsste also vielmehr von einem anschauenden Verstand die Rede sein als von einer intellektuellen Anschauung. Konsequent wäre diese Gleichsetzung nun bei Annahme des oben vorgeschlagenen Modells, laut dem in beiden Konstellationen intuitus und intellectus in eins fallen würden. Eine funktionale Differenzierung wäre, trotz des terminologischen Unterschieds, in dem Fall nicht mehr angezeigt. Von dieser Annahme geht Förster aber eben nicht aus, wenn er – wie gesagt durchaus berechtigt – intellektuelle Anschauung in der KrV klar von intuitivem Verstand in der KU unterscheidet. Um diese Problematik klären zu können, soll an dieser Stelle zunächst unmittelbar auf die entsprechenden Stellen der B-Deduktion eingegangen werden. In § 16 schreibt Kant: Ein Verstand, in welchem durch das Selbstbewußtsein zugleich alles Mannigfaltige gegeben würde, würde anschauen; der unsere kann nur denken und muß in den Sinnen die Anschauung suchen. (KrV, B 135)
›Denken‹, hier im Sinne der Verstandestätigkeit als des Kategorial-Diskursiven, ist im Falle des menschlichen, nicht-anschauenden Verstandes auf dasjenige angewiesen, was er als Gegebenes über die Sinnlichkeit vermittelt vorfindet. Das Gegebene ist dabei gewissermaßen das zu synthetisierende Material. ›Anschauen‹ hieße in Bezug auf den Verstand somit, dass das Multiple der Erkenntnis durch den Verstand selbst gegeben würde. Anschauung tritt hier somit in radikalisierter Form auf, nämlich nicht mehr bloß als unmittelbare Form des Gegenstandsbezugs, sondern als richtiggehende Schaffung des Gegenstands. Klingner merkt daher unter Rückgriff auf Martin Heideggers Schrift über Kant und das Problem der Metaphysik 276 an, dass in diesem Fall vielmehr von »Entständen« als von »Gegenständen« die Rede sein müsste. 277 Kant präzisiert weiterführend: [E]in Verstand, durch dessen Vorstellung zugleich die Objekte dieser Vorstellung existierten, würde einen besondern Actus der Synthesis des Mannigfaltigen zu der Einheit des Bewußtseins nicht bedürfen, deren der menschliche Verstand, der bloß denkt, nicht anschaut, bedarf. Aber für den menschlichen Heidegger, Kant (1929/2010). Vgl. Klingner, Kants Begriff einer intellektuellen Anschauung (2016), 622; 624 (Anm. 37); 629; 631 (Anm. 73); 632 (Anm. 80). Indem dabei treffenderweise von einem Produktions- statt von einem Oppositionsverhältnis im Erkenntnisakt ausgegangen wird und sich dies auch in den Begrifflichkeiten widerspiegelt, müsste dann konsequenterweise allerdings auch von einer ›Hinschauung‹ anstatt von einer ›Anschauung‹ gesprochen werden. 276
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Verstand ist er doch unvermeidlich der erste Grundsatz [sc. ›Ich denke‹; ebd.], so, daß er sich sogar von einem anderen möglichen Verstande [. . .] nicht den mindesten Begriff machen kann. (KrV, B 138 f.)
Hier betont Kant somit u. a., dass der in Rede stehende Akt der Synthesis nicht »für jeden überhaupt möglichen Verstand« (KrV, B 138) Geltung besitze. Dies trifft damit auch auf die »ursprünglich-synthetische[]«, »transzendentale[] Einheit der Apperzeption« (KrV, B 131; 139) mit dem Grundsatz »Ich denke« als »oberste[m] Prinzip alles Verstandesgebrauchs« (KrV, B 131 f.; 136) zu, somit auch auf die gesamte davon abhängende Kategoriendeduktion: Im Falle eines spontan produzierenden, in diesem Sinne anschauenden Verstandes wäre all dies hinfällig. Im Folgenden unterstreicht Kant nochmals, dass es zwar möglich wäre, sich einen solchen Verstand in Abgrenzung zum menschlichen, diskursiven zu denken. Es ist jedoch unmöglich, sich davon »den mindesten Begriff« (KrV, B 139; s. o.) zu machen, weshalb dieses Denken keinerlei positiven Gehalt mit sich brächte: Denn, wollte ich mir einen Verstand denken, der selbst anschauete (wie etwa einen göttlichen, der nicht gegebene Gegenstände sich vorstellete, sondern durch dessen Vorstellung die Gegenstände selbst zugleich gegeben, oder hervorgebracht würden), so würden die Kategorien in Ansehung eines solchen Erkenntnisses gar keine Bedeutung haben. Sie sind nur Regeln für einen Verstand, dessen ganzes Vermögen im Denken besteht (KrV, B 145).
Hier wird der zur Diskussion gestellte, bloß als negativer Grenzbegriff denkbare anschauende Verstand unmittelbar mit metaphysischen Theoremen eines göttlichen Verstandes in Verbindung gebracht. Solche Theoreme werden von Kant, eben aufgrund seiner kritizistischen Perspektive, aber nicht weiterführend positiv thematisiert. Es folgen weitere Stellen, in denen Kant das Gesagte wiederholt und bekräftigt. 278 Insgesamt wird klar, dass in der B-Deduktion hinsichtlich der terminologischen Charakteristik eindeutig von einem anschauenden Verstand die Rede ist. Försters Einordnung dieses negativen Grenztheorems in die Rubrik der intellektuellen Anschauung, die in der Erstauflage als Gesamter sporadischer auftaucht als der anschauende Verstand allein in der B-Deduktion, erscheint daher problematisch. Dies gilt zumindest angesichts der Tatsache, dass Förster diese Rubrik vom intuitiven Verstand, dem i. archetypus in der KU, klar abgrenzt. Und selbst wenn, wie vorgeschlagen, beide Konstellationen im Sinne des Ineinsfallens von intellectus und intuitus als letztlich identisch aufgefasst Vgl. v. a. KrV, B 153: »Weil nun der Verstand in uns Menschen selbst kein Vermögen der Anschauungen ist [. . .]«; B 159. 278
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werden könnten, so ist hier doch Folgendes zu beachten: In der B-Deduktion taucht dieses Grenztheorem mit dem Verstand in substantivischer Position, der Anschauung in adjektivischer, in signifikantem Maße auf. Dies ist eine bemerkenswerte, klar erkennbare Akzentuierung im Entwicklungsprozess der kritischen Philosophie von 1781 bis 1787. Jene Akzentsetzung fällt umso mehr ins Gewicht, wenn einerseits bedacht wird, dass die transzendentale Deduktion zu den unbezweifelt zentralen Passagen der KrV insgesamt gehört, dass die vollständige Umänderung dieser Passage andererseits die möglicherweise wichtigste Neuerung der Zweitauflage darstellt. Dabei muss betont werden, dass Kant durch die Verknüpfung dieses Theorems mit der Vorstellung eines göttlichen Verstandes deutlich macht, in welchem Maße die positive Annahme eines anschauenden Verstandes der kritischen Philosophie nicht nur widersprechend, sondern auch konzeptionell fremd wäre. Dennoch erfüllt diese Annahme im Sinne eines Grenzkonzepts auf gewisse Weise eine positive Funktion: Immerhin kann dadurch die Notwendigkeit der Kategoriendeduktion für den menschlichen, nicht-anschauenden Verstand deutlich untermauert werden, auch wenn die Vorstellung eines anschauenden Verstandes mit keinerlei positivem Inhalt verknüpfbar ist. Wie letztlich der Erkenntnisakt eines solchen Verstandes aussähe, davon kann sich das menschliche Erkenntnissubjekt in seiner konstitutiven Diskursivität und Rezeptivität schlicht kein Bild machen. Ergänzend kann an dieser Stelle ein Zusatz zu »Allgemeine[n] Anmerkungen zur Transzendentalen Ästhetik« (KrV, A 41/B 59) aus der Zweitauflage angeführt werden. Die Anschauung steht dabei erneut in substantivischer Position, allerdings befindet sich der Passus auch außerhalb der transzendentalen Logik und weit abseits der Deduktion. In jenem Zusatz wird die »Sinnlichkeit des Menschen« charakterisiert als »abgeleitet (intuitus derivativus), nicht ursprünglich (intuitus originarius), mithin nicht intellektuelle Anschauung [. . .], als welche aus dem eben angeführten Grunde allein dem Urwesen, niemals aber einem, seinem Dasein sowohl als seiner Anschauung nach (die sein Dasein in Beziehung auf gegebene Objekte bestimmt), abhängigen Wesen zuzukommen scheint« (KrV, B 72). 279 Hier kommt es also zu einer nochmaligen Nennung der intellektuellen Anschauung sowie, parallel zur Konnotation des anschauenden mit einem göttlichen Verstand in der B-Deduktion, zur Verknüpfung derselben mit dem intuitus originarius eines Urwesens. Diese ursprüngliche Anschauung wäre »eine solche [. . .], durch die selbst das Dasein des Objekts der Anschauung Mit dem intuitus originarius eines Urwesens zeigt sich zudem ein Rückbezug Kants auf den intuitus divinus als archetypus, dessen Begriff er lange zuvor in der Dissertation verwendete; vgl. Anm. 220; AA II, 396 f. 279
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gegeben wird« (ebd.). Die »abgeleitet[e]« Anschauung, der intuitus derivativus, sei demgegenüber »von dem Dasein des Objekts abhängig«, »mithin nur dadurch, daß die Vorstellungsfähigkeit des Subjekts durch dasselbe affiziert wird, möglich« (ebd.). Hier, zum Ende der transzendentalen Ästhetik, tritt erneut der Gegensatz von Intellektualität im Sinne von Spontaneität und Rezeptivität in Form von Affiziertwerden auf, parallel zum anschauenden Verstand in der transzendentalen Logik (in dieser Passage allerdings, wie gesagt, mit der Anschauung in substantivischer Stellung). Konkret zu diesem Sachverhalt führt Stefan Klingner weiter aus: »Sowohl die intellektuelle Anschauung als auch der anschauende Verstand sind demnach in dem Sinne ›göttlich‹, als ›durch sie selbst‹ bzw. ›durch dessen Vorstellung‹ zugleich ›das Dasein des Objects gegeben‹ würde bzw. ›die Gegenstände selbst hervorgebracht‹ würden«. 280 Als Zwischenergebnis dieses Kapitels ist daher nun Folgendes festzuhalten: Das Konzept eines anschauenden Verstandes bringt durch die darin ausgedrückte substantivische Positionierung eine Akzentsetzung mit sich, die es letztlich von der intellektuellen Anschauung unterscheidet. Dies ist umso auffälliger, da jenes neuartig konturierte Modell im Kernstück der transzendentalen Logik mit signifikanter Präsenz auftaucht. Hierin manifestiert sich ein zwar deutlich umgrenzbarer, aber dennoch nennenswerter Aspekt der Entwicklung der kritischen Philosophie in ihrem Jahrzehnt. Dieser Aspekt ist in Försters Erörterungen zu intellektueller Anschauung und intuitivem Verstand, so die hier vertretene Position, nicht hinreichend zur Geltung gekommen. Vielmehr verdient das Modell eines anschauenden Verstandes, das in dieser Form exklusiv in der B-Deduktion auftaucht, in der von Förster vorgezeichneten, differenzierenden Auflistung eine eigene systematische Position als Zwischenstation auf dem Weg von der Erstauflage der KrV zur KU.
3.2.3 ›Anschauender Verstand‹ in der Kritik der reinen Vernunft und ›unendlicher Verstand‹ im Versuch über die Transzendentalphilosophie
Wie Kant selbst betont und wie Förster nochmals hervorhebt, wäre im Fall besagter ›anderer Arten‹ von Erkenntnisvermögen als den spezifisch menschlichen »eine Kategoriendeduktion unmöglich, aber auch überflüssig«: 281 Wäre der Gegenstand durch ein nicht-dual strukturiertes Erkenntnissubjekt selbst produziert, gäbe es auch keine Frage nach dem Gültigkeitsanspruch der Referenzrelation apriorischer Begriffe auf den Gegenstand. Mit anderen Worten: 280 281
Klingner, Kants Begriff einer intellektuellen Anschauung (2016), 621. Förster, Die 25 Jahre (2018), 158 f.
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Die Frage quid juris bräuchte und könnte gar nicht gestellt werden, womit auch die Deduktion als Antwortversuch auf diese Frage wegfiele. Durch diesen Rückbezug zur quid-juris-Thematik lassen sich Kants rein negativ gefasste Überlegungen zu anderen Arten von Erkenntnisvermögen, v. a. in der B-Deduktion, in direkte Verbindung zu Maimons eigener Theoriebildung bringen. Zunächst sollen drei Kritikpunkte Maimons an Kants transzendentaler Elementarlehre herausgestellt und diskutiert werden. Auf Grundlage dieser Kritikpunkte ist dann zu verdeutlichen, einerseits inwieweit Maimons eigener Lösungsvorschlag zur Frage quid juris unmittelbar auf Kants Theoremen von ›anderen Arten‹ in ihrem diachronen Wandel von 1781 bis 1787 basiert, andererseits inwieweit sich dieser Lösungsvorschlag inhaltlich damit klar gegen die kantische Philosophie positioniert. Bei den Kritikpunkten, die im vorliegenden Teilabschnitt komprimiert erörtert werden sollen, handelt es sich (1) um Maimons Auseinandersetzung mit Kants Schematismustheorie, (2) um seine Problematisierung des Konzepts eines ›Gegebenen‹ und (3) um die unmittelbar damit zusammenhängende Stellungnahme zur Thematik der Dinge an sich. Zum ersten Kritikpunkt, dem aufgrund seiner systematischen Schlüsselposition in dieser Betrachtung der weiteste Umfang zuzuteilen ist, Folgendes: Im Anschluss an die Deduktion der reinen Verstandesbegriffe befasst sich Kant, zu Beginn der transzendentalen Analytik der Grundsätze, mit der konkreten Frage, wie »die Anwendung der Kategorie auf Erscheinungen möglich« sei. Denn immerhin sind »reine Verstandesbegriffe, in Vergleichung mit empirischen (ja überhaupt sinnlichen) Anschauungen, ganz ungleichartig, und können niemals in irgend einer Anschauung angetroffen werden.« Damit ist also zu klären, wie »nun die Subsumtion der letzteren unter die erste« (KrV, A 137/B 176), mithin deren konkrete Anwendung möglich sei. Während es in der Deduktion um die generelle Legitimität der Kategorien hinsichtlich ihres apriorischen Gegenstandsbezugs geht, kreist die Problematik nun um deren konkrete Applikation auf sinnlich konstituierte Erscheinungen. Damit reflektiert Kant die in seiner grundlegenden Annahme der dualen Struktur des menschlichen Erkenntnissubjekts wurzelnde Heterogenität von Begriff und Anschauung. 282 Um den Graben dieser prinzipiellen Heterogenität überbrücken zu können, »ist klar«, so Kant, »daß es ein Drittes geben müsse, was einerseits mit der Kategorie, andererseits mit der Erscheinung in Gleichartigkeit stehen muß, und die Anwendung der ersteren auf die letzte möglich macht. Diese vermittelnde Unter Anschauung ist hier nun konkret der Gegenstand der Sinnlichkeit zu verstehen, nicht mehr die oben noch primär relevante Erkenntnisweise eines gänzlich unmittelbaren Gegenstandsbezugs. 282
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Vorstellung muß rein (ohne alles Empirische) und doch einerseits intellektuell, andererseits sinnlich sein.« (KrV, A 138/B 177) Als Medium zwischen Verstand und Sinnlichkeit steht somit »das transzendentale Schema« (ebd.), und zwar in Form der »transzendentale[n] Zeitbestimmung«: diese ist »mit der Kategorie (die die Einheit derselben ausmacht) so fern gleichartig, als sie allgemein ist und auf einer Regel a priori beruht. Sie ist aber andererseits mit der Erscheinung so fern gleichartig, als die Zeit in jeder empirischen Vorstellung des Mannigfaltigen enthalten ist. Daher wird eine Anwendung der Kategorie auf Erscheinungen möglich sein, vermittelst der transzendentalen Zeitbestimmung, welche, als das Schema der Verstandesbegriffe, die Subsumtion der letzteren unter die erste vermittelt.« (KrV, A 138 f./B 177 f.) Zu Maimons Problematisierung dieses Vermittlungstheorems Kants im Hinblick auf die spezifische Differenz von Anschauung und Begriff ist zunächst Folgendes zu klären: Maimon fasst die Frage quid juris auch als Fragestellung danach auf, wie »es begreiflich [sei], daß Formen a priori mit gegebenen Dingen a posteriori übereinstimmen sollen« (VT, 39). Hierin zeigt sich, in Abgrenzung zu Kant, zweierlei: Erstens steht nicht mehr bloß die Gültigkeit, sondern auch die Begreiflichkeit des Gegenstandsbezugs apriorischer Formen infrage. Dadurch wird deutlich, in welchem Sinne Maimon auch von der Fragestellung quid rationis ausgeht, wie oben bereits thematisiert. 283 Zweitens äußert sich in Maimons Problemverständnis bezüglich der Frage quid juris abermals, dass es ihm generell um die Thematik der Zusammenstimmung von grundsätzlich Heterogenem geht. Für Kant beschränkt sich die Frage, analog zu ihrem eigentlichen rechtswissenschaftlichen Ursprung, auf die Rechtsgültigkeit, d. h. auf den Geltungsanspruch der Kategorien in ihrem Bezug auf Gegenstände überhaupt. Diese Frage soll durch die Deduktion der reinen Verstandesbegriffe beantwortet werden. Die Problematik der konkreten Applikation dieser Begriffe auf aposteriorische Erscheinungen, also dasjenige, was Kant durch die transzendentale Schematismustheorie zu lösen versucht, gehört somit nicht mehr in den Horizont der Fragestellung quid juris. Dies sieht Maimon nun anders, indem er diesen Problemhorizont deutlich ausweitet und die Frage generell auf Aspekte der Zusammenstimmung von Heterogenem bezieht. Damit fällt für Maimon auch dasjenige, was Kant durch die Schematismustheorie zu beantworten versucht, in die Sphäre der Frage quid juris. Maimons Auseinandersetzung mit der Schematismuslehre wurde von Achim Engstler bereits eingehend untersucht. 284 Hier soll der Hinweis auf 283
S. o., 3.1.2; vgl. VT, 197; Engstler, Untersuchungen (1990), 62; Ehrensperger, Weltseele (2006),
284
Vgl. Engstler, Untersuchungen (1990), 71–123.
103.
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Maimons Kernargument in dieser Angelegenheit genügen. Diesem zufolge ist die von Kant behauptete Übereinstimmung von reinem Verstandesbegriff und sinnlicher Anschauung durch das Schema der transzendentalen Zeitbestimmung nicht realisierbar. Denn diese vermeintliche Übereinstimmung könne in Anbetracht der spezifischen Differenz von Anschauung und Begriff, auf Grundlage der Heterogenität von Sinnlichkeit und Verstand, im Endeffekt nichts ausrichten, selbst wenn die Elemente auf beiden Seiten a priori seien: »Also angenommen, daß Zeit und Raum Anschauungen a priori sind; so sind sie doch nur Anschauungen, nicht aber Begriffe a priori« (VT, 38). Engstler kommentiert dies unmittelbar: »[A]uch wenn man zugesteht, daß Zeit a priori und in dieser Hinsicht mit den Kategorien gleichartig ist, so bleibt sie doch als Anschauung Kants eigener Annahme zufolge prinzipiell von anderer Art als die Kategorien, die reine Begriffe sind.« 285 Ebendies betont auch Wolfgang Bonsiepen, wenn er in Bezug auf Maimons Kant-Kritik anmerkt, »Kants Erklärung« im Kontext der Schematismuslehre scheine »inkonsistent zu sein, da er selber die Heterogenität von reinen Anschauungsformen und Verstandeskategorien betont«. 286 Manfred Frank kommt hiervon ausgehend zu dem Ergebnis, dass »Maimon überzeugend dartun [konnte], daß Kants Versuch, die unverständlichen Konsequenzen seines Sinn-Verstand-Dualismus durch Einführung eines sogenannten Schematismus zu kaschieren, auf einer Erschleichung beruht: Die für die Vermittlungsaufgabe ausersehene Zeit ist zwar, wie der Verstand, a priori. Aber sie besteht darum nicht weniger in einem vom Verstand gänzlich unterschiedenen Vermögen, um dessen Vermittelbarkeit mit dem Intellekt es doch gerade zu tun ist.« 287 Hinsichtlich weiterer Details der Kritik Maimons an Kants Schematismustheorie sei auf Bonsiepens Erörterung und besonders auf Engstlers umfangreichere Untersuchung verwiesen. Von zentraler Bedeutung ist an dieser Stelle demgegenüber die bereits beschriebene signifikante Ausweitung der Geltungssphäre der Frage quid juris durch Maimon. Damit integriert er u. a. auch dasjenige in diese Sphäre, was laut Kant durch die Annahme eines transzendentalen Schemas gelöst werden soll. Durch jene Ausweitung wird deutlich, dass Maimon in seiner Fassung der Frage quid juris ganz grundsätzlich die in dualistischen Konzeptionen immer wiederkehrende Problematik der Zusammenstimmung von Heterogenem im Blick hat. Dementsprechend vertritt er nicht etwa, dass Kants Schematismuslehre als solche gescheitert sei und durch einen andersartigen Ansatz ersetzt werden müsse. Es geht Maimon stattdessen 285 286 287
Ebd., 106. Bonsiepen, Einsicht (2002), 384. Frank, Einleitung (1996), L.
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um eine tieferliegende Problematik: Diejenigen Grundlehren, von denen Kant ausgeht und die u. a. die Annahme eines transzendentalen Schemas als Medium zwischen apriorischem Begriff und aposteriorischer Anschauung überhaupt erst notwendig werden lassen, müssen tiefgreifender hinterfragt werden. Hierbei handelt es sich in allererster Linie um die Theorie der dualen Struktur des menschlichen Erkenntnissubjekts, das in die spezifisch verschiedenartigen Funktionen von rezeptiver Sinnlichkeit und diskursivem Verstand zerfalle. Wird dies angenommen, dann kehrt auch die Problematik grundsätzlicher Heterogenität in verschiedenen Ausprägungen immer wieder; oder, in Maimons Formulierung: Die Frage quid juris bleibt »unauflöslich« (VT, 38; 40), stellt also ein ungebrochen persistierendes philosophisches Problem dar. Gemäß Kants enger gefasstem Verständnis der Frage quid juris ist, wie mehrfach betont, die transzendentale Deduktion der Kategorien der einzige und auch vollends hinreichende Weg, 288 diese Frage zu beantworten. Wie von Förster hervorgehoben, sagt Kant verschiedentlich mit Nachdruck, dass Frage (quid juris) und Antwort (Deduktion) nur bei der spezifischen dualen Verfasstheit des menschlichen Erkenntnissubjekts notwendig und überhaupt möglich seien. Maimon wendet durch sein erweitertes Verständnis der Frage quid juris grundsätzlich ein, dass die sich in ebendieser Verfasstheit manifestierende prinzipielle Heterogenität der Elemente als massives philosophisches Problem virulent bleibe und nicht überwunden werden könne. Ein wesentlicher positiver Ansatzpunkt der Kant-Kritik Maimons ist somit naheliegenderweise dasjenige, was Kant selbst als das Gegenteil der Bedingung anführt, unter der sich die Frage quid juris überhaupt erst stellt. Nun kann davon ausgegangen werden, dass Maimon im Zuge der Entwicklung seines eigenen transzendentalphilosophischen Ansatzes den diachronen Wandel der kritischen Philosophie zwischen 1781 und 1787 im Blick gehabt hat, zumindest in deren theoretischer Ausrichtung. Ebendas wurde im vorliegenden Kapitel als eine der zentralen Thesen vorgeschlagen. Unter Berücksichtigung der bisherigen Betrachtungen erscheint es damit durchaus plausibel, dass Kants negatives Grenztheorem eines anschauenden Verstandes, das in dieser Form exklusiv in der B-Deduktion auftaucht und dort eine deutliche Präsenz zeigt, den entscheidenden Ansatzpunkt für die Entwicklung von Maimons eigener Verstandeskonzeption darstellt: denn immerhin benennt Kant dieses Theorem als diejenige Bedingung, unter der die Deduktion als Antwort auf die Frage quid juris weder notwendig noch möglich wäre. Würde ein anschauender Verstand angenommen werden, d. h. ein solcher, der seinen Gegenstand selbst produzierte und damit auf keinerlei Rezeptivität in Form 288
Vgl. KrV, A 128–130/B 168 f.
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von Sinnlichkeit angewiesen wäre, stellte sich die Frage nach der Legitimität des Gegenstandsbezugs gar nicht: In einem solchen nicht-dualistischen Modell gäbe es schlicht keine Heterogenität, da gar nicht erst voneinander verschiedene Elemente angenommen würden. Das ist nun genau diejenige Forderung, die Maimon durch seine Ausweitung der Frage quid juris stellt. Ziel ist, dass sich transzendentalphilosophische Überlegungen nicht persistent mit dem unauflöslichen Heterogenitätsproblem konfrontiert sehen. Und in entscheidenden systematischen Punkten lässt sich durchaus eine klare Verwandtschaft zwischen Kants negativem Theorem eines anschauenden Verstandes in der B-Deduktion und Maimons positiv gewendetem Konzept eines unendlichen Verstandes im Versuch feststellen, auch wenn keineswegs behauptet werden kann, die beiden Konzeptionen seien inhaltlich identisch. Maimons Verstandeskonzept soll daher nun im Hinblick auf die in Rede stehende Verwandtschaft erörtert werden. Grundlage ist dabei die in dieser Hinsicht zentrale Passage im zweiten Abschnitt des Versuchs: Dort tritt die Frage auf, wie »nämlich der Verstand etwas was nicht in seiner Macht ist (die gegebenen Objekte) dennoch seiner Macht (den Regeln) unterwerfen« könne (VT, 40). Diese Fragestellung, d. h. eine der Erscheinungsformen der Frage quid juris, ist prinzipiell nicht beantwortbar, sofern davon ausgegangen wird, dass »Sinnlichkeit und Verstand zwei ganz verschiedene Quellen unserer Erkenntnis« (ebd.) seien. Laut Maimons epistemologischem Alternativvorschlag hingegen kann die Schwierigkeit dieser Frage, der Kant bloß ausweiche (vgl. ebd.), »leicht aufgelöst werden«, und zwar dadurch, dass sich diese Frage im Falle des Alternativvorschlags gar nicht erst stellt: Denn wird statt der kantischen Dualität von Sinnlichkeit und Verstand ein epistemologischer Monismus angenommen, also dass »beide aus einerlei Erkenntnisquelle« fließen und »ihr Unterschied nur in Graden der Vollständigkeit dieser Erkenntnis« (ebd.) besteht, ergibt sich eine grundlegend andersartige Ausgangslage. Nach diesem System »sind Zeit und Raum obgleich undeutliche jedoch Verstandsbegriffe von den Beziehungen und Verhältnissen der Dinge überhaupt, und so können wir mit allem Fug diese den Verstandsregeln unterwerfen.« (Ebd.) 289 Sofern Sinnlichkeit als spezifisch vom Verstand unterschiedene, rezeptive Erkenntnisfunktion wegfiele, könnte nur mehr von 289 Lidia Gasperoni stellt diese »radikale[ ] Rationalisierung der Sinnlichkeit« als den problematischen Punkt der Epistemologie Maimons heraus, da dadurch sinnliche Erkenntnis nicht mehr in ihrer eigentlichen Bedeutsamkeit erfasst werden könne (Gasperoni, Maimon und der Skeptizismus (2012), 127; vgl. dies., Versinnlichung (2016), 204–206). Auch Hanno Birken-Bertsch kritisiert, ausgehend von diversen Überlegungen zum Heterogenitätsbegriff bei Kant und Maimon, »daß Maimon der besonderen Rolle der Anschauung bei Kant nur unvollständig gerecht wurde.« (Birken-Bertsch, Die Heterogenität der Vorstellungsarten (2001), 703).
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einem verringerten Grad an spontaner Verstandeserkenntnis die Rede sein, 290 also von verminderter Spontaneität, nicht aber Rezeptivität. Damit eröffnet sich in der Folge die Perspektive auf strukturell genau dasjenige, was Kant in der B-Deduktion als anschauenden Verstand thematisiert hat. Auf diesem Weg wäre die Frage quid juris erledigt: Könnte unser Verstand aus sich selbst, ohne daß ihm von irgend anders woher etwas gegeben zu werden brauchte, nach den von ihm selbst vorgeschriebenen Regeln oder Bedingungen Objekte hervorbringen, so fände diese Frage nicht statt. (Ebd.)
Zunächst behauptet Maimon hierzu, noch ganz im Sinne Kants, dass »es sich aber nicht so verhält« (ebd.). Die explizit dargestellte ›Hervorbringung‹ der Objekte durch einen Verstand, der auf nichts Gegebenes angewiesen wäre – was durchaus der Fall sein müsste, wäre jegliche Rezeptivität in Form von Sinnlichkeit aus dem Rahmen des Erkenntnissubjekts getilgt –, scheint dem menschlichen Verstand nicht möglich zu sein. Dies leitet nun unmittelbar über zum Theorem der Idee eines unendlichen Verstandes: Wir nehmen an (zum wenigsten als Idee) einen unendlichen Verstand, bei dem die Formen zugleich selbst Objekte des Denkens sind; oder der aus sich alle mögliche Arten, von Beziehungen und Verhältnissen der Dinge (der Ideen) hervorbringt. (Ebd.)
Kant bestimmte als das zentrale Charakteristikum eines zumindest negativ denkbaren anschauenden Verstandes in der B-Deduktion, dass dieser seine Gegenstände selbst hervorbringt. Ebendas taucht an dieser Schlüsselstelle in prinzipiell gleichartiger Form bei Maimon auf. Dessen Pointe in jener Passage liegt jedoch hierin: »Unser Verstand ist eben derselbe, nur auf eine eingeschränkte Art.« (Ebd.) Die genannte »Idee« ist also einerseits die Idee eines uneingeschränkt spontanen, in diesem Sinne unendlichen Verstandes, andererseits die damit einhergehende Idee der spezifischen Identität desselben mit dem lediglich graduell eingeschränkten menschlichen Verstand. Hierdurch erhofft sich Maimon, es lasse sich »die größte Schwierigkeit dieser Art heben« (VT, 40 f.). Damit wird abermals die generelle quid-juris-Problematik in ihrer möglichen Aufhebbarkeit angesprochen. Zudem betont Maimon die Erhabenheit dieser Idee (vgl. ebd.). Die hier detailliert betrachtete Passage aus dem Versuch ist vielfach in der Forschung besprochen worden, so beispielsweise auch in ausführlicher Form Vgl. VT, 103: »Herr Kant behauptet, daß Sinnlichkeit und Verstand zwei ganz verschiedene Vermögen sind; ich behaupte hingegen, [. . .] daß die Sinnlichkeit bei uns der unvollständige Verstand ist.« (S. u., 3.3.1). 290
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von Manfred Frank. 291 Die dort entwickelten vielfältigen Perspektiven brauchen an dieser Stelle nicht wiederholt zu werden. Um die hier vorgebrachte These zu untermauern, ist ein Nachweis der strukturellen Parallelität von anschauendem Verstand in Kants B-Deduktion sowie unendlichem Verstand in Maimons Versuch, und zwar im Problemhorizont der Frage quid juris stehend, zentral. Auf die hier noch gänzlich offen gelassene Frage nach der Verhältnisbestimmung von menschlichem und unendlichem Verstand wird demgegenüber in Abschnitt 3.3 einzugehen sein, indem verschiedene Forschungspositionen zu jener Fragestellung diskutiert werden. Mit der Theorie der Idee eines unendlichen Verstandes hängt ein weiterer Themenkomplex zusammen, der aufgrund seiner Weitläufigkeit an dieser Stelle nicht adäquat in die Untersuchung miteinbezogen werden kann. Bei jenem Themenkomplex handelt es sich um Maimons epistemologisch ausgearbeitete Differenzialtheorie, die sich im Wesentlichen an Leibniz' Version der Infinitesimalrechnung orientiert. Das Themenfeld von Maimons Theorie um Verstandesideen, Differenziale und Anschauungselemente wurde ebenfalls bereits umfassend von Achim Engstler bearbeitet. 292 Deshalb sei hier erneut auf die dortigen Untersuchungen verwiesen, zusätzlich auf eine neuere Studie von Simon Duffy. 293 Auch Gideon Freudenthal, dessen Forschung einen facettenreichen Zugang zu Maimons Philosophie der Mathematik bietet, 294 bespricht Maimons Bezugnahme auf Leibniz' und Newtons Versionen der Infinitesimalrechnung. 295 An dieser Stelle sei eine prägnante Zusammenfassung besagter Theorie Maimons durch Engstler angeführt. Laut Engstler lässt sich der Erkenntnisakt nach Maimon folgendermaßen vorstellen, wobei er sich ebenfalls primär auf den zweiten Abschnitt des Versuchs (vgl. v. a. VT, 21–23) bezieht: Die Ideen des unendlichen Verstandes sind [. . .] zunächst Gegenstand unserer Sinnlichkeit. Die Sinnlichkeit ›nimmt‹ die einzelnen Ideen, deren wir uns als solcher nicht bewußt sind, ›auf‹ und ›liefert‹ sie der Einbildungskraft [. . .]. Die Einbildungskraft apprehendiert die einzelnen Vorstellungen und bildet so Vgl. Frank, Unendliche Annäherung (1997), v. a. 117–128. Vgl. Engstler, Untersuchungen (1990), v. a. 124–143. 293 Duffy, Maimon’s Theory of Differentials (2014), v. a. 234–245. 294 Vgl. v. a. Freudenthal, Definition and Construction (2006). Zu diesem weitreichenden Themenfeld vgl. außerdem Buzaglo, Solomon Maimon (2002). In einem neueren Forschungsbeitrag bespricht Freudenthal mögliche systematische Bezüge des Wiener Kreises zu Maimons Wissenschaftstheorie und Philosophie der Mathematik; vgl. Freudenthal, Overturning the Narrative (2019). 295 Vgl. Freudenthal, Maimon’s Philosophical Program (2010), 94–99. Freudenthal geht dabei auch auf die ›quasi-religiöse Bedeutung‹ (vgl. ebd., 94) ein, die Maimon der Infinitesimalrechnung zuschreibt: »The concepts of the infinite in mathematics teach man to transcend his finitude, to assume the perspective of an infinite intellect.« (Ebd.) Hierzu passt, dass Maimon die mathematischen Theorien Newtons und Leibniz’ auch »Funken der Gottheit« (V, 324) nennt. 291
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einen Gegenstand unseres Bewußtseins, eine Anschauung [. . .]. Die Elemente, die die Einbildungskraft apprehendiert, denkt Maimon als ›Qualität abstrahirt von Quantität‹ [. . .], als das ›Unendlichkleine jeder sinnlichen Anschauung und ihrer Formen‹ [. . .]. Entsprechend bezeichnet er diese ›sinnliche[n] Vorstellungen‹ als ›Differenziale‹ [. . .]; den Vorgang der Bildung einzelner Anschauungen wird er als einen mathematischer Integration analogen Prozeß gedacht haben. Unsere Sinnlichkeit also nimmt die Differentiale auf, unsere Einbildungskraft nimmt sie zu einzelnen Anschauungen zusammen, und unserem Verstand kommt schließlich das ›Geschäft‹ zu, ›verschiedene schon gegebene sinnliche Objekte (Anschauungen) durch reine Begriffe a priori auf einander zu beziehen‹ [. . .]. Das tut er nun derart, daß er die ›reinen Verstandesbegriffe oder Kategorien‹ nicht ›auf die Anschauungen unmittelbar‹ bezieht, ›sondern bloß auf ihre Elemente‹ [. . .]: ›der Verstand bringt aus dem Verhältnisse dieser verschiedenen Differenziale, welche seine Objekte sind, das Verhältniß der aus ihnen entspringenden sinnlichen Objekte heraus‹. 296
Um diese Skizze nochmals zu komprimieren und in Bezug zu den in diesem Teilabschnitt zentralen Überlegungen zu bringen, ist folgender Aspekt als der entscheidende herauszustellen: Der Verstand muss sich in seinem Erkenntnisakt nicht etwa auf seiner intellektualen Erkenntnisform fremde, heterogene Data einer ebenso heterogenen Sinnlichkeit beziehen. Vielmehr werden die Elemente der Anschauungen, das qualitativ »Unendlichkleine«, d. h. die Differenziale derselben, 297 als Ideen des unendlichen Verstandes gegeben. Diese Elemente können, vermittelt über eine ›Sinnlichkeit‹ als graduell abgestufte Verstandestätigkeit und die Einbildungskraft als apprehendierendes Vermögen, schließlich vom menschlichen Verstand kategorial gedacht werden. Das ›Gegebene‹ im Sinne der Ideen des unendlichen Verstandes ist somit explizit intellektual, die Heterogenität von Anschauung und Begriff damit neutralisiert: »[D]ie Frage quid juris? [. . .] [muß] wegfallen«, »indem man reine Begriffe auf Ideen appliziert.« (VT, 105) Freudenthal unterstreicht dies, auf den oben skizzierten Erkenntnisakt nach Maimons Modell bezugnehmend: »The concepts of the understanding, the categories, apply to the ›differentials‹, Engstler, Versuch einer Vereinigung (1990), 46 f. Zusätzliches Referenzmodell ist hier, zumindest bis zu einem gewissen Grad, Leibniz’ Theorie der »petites perceptions« (M, 21); oder, in Manfred Franks Darstellung dieser Referenz: »Daß wir die Anschauungen von den Begriffen unterscheiden, erklärt Maimon mit Leibniz aus der ›Kleinheit‹ der ersteren, die vor ihrer Reflexion durch den Verstand nicht die Schwelle des Bewußtseins überschreiten können (wie wenn wir am Meeresufer das Brüllen der Wellen nicht in die Millionen und Abermillionen Einzelempfindungen zerlegen können, aus denen es sich doch faktisch zusammensetzt).« (Frank, Unendliche Annäherung (1997), 118; vgl. Leibniz, Principes (1718/2014), § 13, 166 f.). 296 297
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which are the principles of the sensual world but not sensual themselves.« 298 Engstlers in diesem Kontext strikt vertretene Position einer statischen Differenz von spontanem unendlichem und rezeptivem menschlichem Verstand wird in Abschnitt 3.3 jedoch noch zu diskutieren sein. Die grundsätzliche konzeptionelle Schwäche der epistemologischen Differenzialtheorie Maimons ist allerdings relativ offensichtlich: Kant kann zwar vorgeworfen werden, die Schematismustheorie habe den Charakter einer letztlich nicht überzeugenden »Ad-hoc-Lösung« 299 im Sinne einer versuchten Überbrückung der Differenz von Sinnlichkeit und Verstand. Für Maimons Theorie gilt angesichts dessen aber mindestens gleichermaßen, dass die radikale Intellektualisierung von Anschauungsinhalten durch das mathematische Differenzialkonzept ebenso als wenig bestechende Ad-hoc-Lösung oder als konstruierter Notbehelf erscheinen mag. Bevor auf die prinzipiellen Divergenzen zwischen den Konzepten von anschauendem Verstand bei Kant und unendlichem Verstand bei Maimon eingegangen werden kann, sollen zunächst noch die zwei weiteren zu Beginn dieses Teilabschnitts genannten Aspekte der Verstandeskonzeption Maimons besprochen werden. Hierbei handelt es sich um seine expliziten Positionierungen zu den Problemfeldern des Gegebenen einerseits und der Dinge an sich andererseits. »Das Problem des Gegebenen im Zusammenhang mit der Lehre von der Affektion bzw. der Ursächlichkeit von Dingen an sich« 300 benennt auch Ehrensperger in jenem Zusammenhang als zentralen Ansatzpunkt für die Rekonstruktionsarbeit an Maimons Position. In der Folge fokussiert Ehrensperger jedoch, abweichend von der Perspektive der hier vorliegenden Untersuchung, primär das »Problem der Rechtmäßigkeit als Gesetzmäßigkeit von Synthesis überhaupt«. 301 Die konkreten Positionierungen Maimons sollen auf Grundlage der bisherigen Betrachtungen versuchsweise in ein klareres Licht gebracht werden. Hierfür sind v. a. die Präzisierungen und Pointierungen im Antwortschreiben von Interesse: Zur Thematik des Gegebenen äußert Maimon dort, »die Vernunft forder[e], daß man das Gegebne in einem Objekte nicht als etwas seiner Natur nach unveränderliches betrachten muß, sondern blos als eine Folge der Einschränkung unsres Denkvermögens.« (AS, 67) Unter Berücksichtigung der oben vorgenommenen Charakterisierung des unendlichen Verstandes vor der kantischen Folie des anschauenden Verstandes bedeutet dies, dass die scheinbare Rezeptivität des menschlichen Erkenntnissubjekts lediglich als verminder298 299 300 301
Freudenthal, Maimon’s Philosophical Program (2010), 95. Birken-Bertsch, Die Heterogenität der Vorstellungsarten (2001), 706. Ehrensperger, Weltseele (2006), 104. Ebd.
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ter Grad von Spontaneität des Denkens, d. h. von Intellektualität, aufzufassen sei. Damit wurzelt diese scheinbare Rezeptivität nicht in einer etwaigen spezifisch heterogenen, per se rezeptiven Erkenntnisfunktion, d. h. Sinnlichkeit. Sofern also die prinzipielle Heterogenität zweier Erkenntnisfunktionen durch eine graduelle Abstufung der Vollständigkeit einer an sich spontanen Funktion ersetzt wird, verliert auch das ›Gegebene‹, als notwendiges externes Korrelat einer rezeptiven Sinnlichkeit, seine Statizität. Hugo Herrera beschreibt dies mit Blick auf die Differenz von Transzendentalität und Transzendenz: »[T]he given emerges from a transcendental principle, not from a transcendent place. [. . .] Passivity as representation emerges from the reduction of the activity of the subject, a reduction that brings the emergence of the illusion of an active external cause that we simply receive.« 302 Im selben Maße, wie nun das »Denkvermögen« in seiner Spontaneität maximiert werden kann, wird auch das Gegebene verringert. Diese progressive Vervollständigungsdynamik des Verstandes, die als solche erst in Abschnitt 3.3 gesondert fokussiert werden soll, tritt in Maimons Darstellung als ›Gebot der Vernunft‹ auf: »Die Vernunft gebietet uns daher einen Fortschritt ins Unendliche, wodurch das Gedachte immer vermehrt, das Gegebne hingegen bis auf ein unendlich Kleines vermindert wird.« (Ebd.) Dieses Gebot rührt laut Maimon daher, dass »die Vollständigkeit des Denkens eines Objekts« erfordere, »daß nichts darinn gegeben, sondern alles gedacht werden soll.« (AS, 57) Mit anderen Worten: Gänzlich objektive Gegenstandserkenntnis wäre eine solche, in der die Spontaneität des Verstandes diesen Gegenstand selbst hervorbrächte. Erneut zeigt sich hier die Bedeutung der Ausführungen Kants zum anschauenden Verstand als Ankerpunkt für Maimons Überlegungen, hier nun speziell zum Problem des Gegebenen: dessen statische Position, die Kant bei Annahme einer grundsätzlichen Rezeptivität des menschlichen Erkenntnissubjekts vertreten musste, wird bei Maimon offensiv infrage gestellt. Dies geschieht durch die Annahme der vernunftgegebenen Forderung, »daß wir unser Denken immer vollständiger machen« (ebd.). Maimons epistemologischer Monismus soll, wie dargestellt, einerseits das generelle Problem von epistemischer Heterogenität neutralisieren, andererseits eben dadurch auch das Konzept statischer Rezeptivität durch eine Gradualität der Vollständigkeit von Spontaneität ersetzen. In genau diesem Sinne gerät die Problemstellung des Gegebenen in Maimons kritischen Fokus. Oder, von der Perspektive der B-Deduktion her gedacht und dabei dem hier relevanten Kontext entsprechend umformuliert: Wäre der Verstand anschauend, gemäß dem beschriebenen radikalisierten Sinn von ›Anschauung‹ also uneingeschränkt spontan und damit produktiv, dann 302
Herrera, Maimon’s Commentary (2010), 599; 601.
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wäre er zugleich auch nicht auf etwas angewiesen, was ihm als Gegebenes zugeliefert werden müsste; zugeliefert nämlich über die Sinnlichkeit vermittelt, die als rezeptives Vermögen des Affiziertwerdens stets von etwas Externem abhängig ist, das affiziert. Der Affektionsaspekt im Kontext der Problematik des Gegebenen leitet nun, wie in 3.1.1 vorgezeichnet, über zur Thematik der Dinge an sich. – Denn, um hierzu eine einschlägige Passage aus den Prolegomena anzuführen: »[E]s sind uns Dinge als außer uns befindliche Gegenstände unserer Sinne gegeben, allein von dem, was sie an sich selbst sein mögen, wissen wir nichts, sondern kennen nur ihre Erscheinungen, d. i. die Vorstellungen, die sie in uns wirken, indem sie unsere Sinne afficiren.« (Prol, AA IV, 289; Hervorhebungen: D. E.) Gegebenes, Dinge an sich und Affektion treten hier unmittelbar im selben Kontext auf. Aus den bisher ausgeführten Positionierungen Maimons zu den von Kant vorgegebenen epistemologischen Themenfeldern von Heterogenität und Rezeptivität im weiter gefassten Problemhorizont der Frage quid juris erhellt nun, dass auch das kantische Konzept der Dinge an sich in dieser Form für Maimon nicht ohne Weiteres stehen bleiben kann. In der Tat äußert er sich im Antwortschreiben hierzu explizit: »Nach Herrn Kant ist Ding an sich dasjenige ausser unserm Erkenntnisvermögen, worauf sich der Begriff oder die Vorstellung in demselben bezieht. Ich behaupte hingegen, daß das Ding an sich in diesem Verstande ein leeres Wort ohne alle Bedeutung ist, indem man nicht nur das Daseyn dieses Dinges nicht beweisen, sondern sich auch von demselben gar keinen Begriff machen kann« (AS, 55). Maimons weitere Ausführungen hierzu zeigen jedoch, dass er von einem Problemverständnis ausgeht, das dem Sachverhalt der kantischen Philosophie kaum gerecht werden kann: »Erstlich weiche ich«, so Maimon, »von Herrn Kant ab in Ansehung des Unterschieds zwischen Ding an sich, und Begriff oder Vorstellung eines Dinges. [. . .] [N]ach mir sind Dinge an sich, und Begriff oder Vorstellung eines Dinges objektive eines und eben dasselbe, und nur subjektiv, d. h., in Beziehung auf die Vollständigkeit unsrer Erkenntnis von einander unterschieden.« (AS, 54 f.) Indem er hier »Ding an sich« und »Begriff oder Vorstellung eines Dinges« kontrastiert, verfehlt er die eigentliche kantische Konstellation von ›Dingen an sich selbst‹ einerseits und Erscheinungen dieser Dinge andererseits. Stattdessen geht er von einem davon abweichenden Abstraktions- oder Repräsentationsverhältnis aus. 303 Auch hier tritt jedoch der Aspekt der graduellen Vollständigkeitsdifferenz in den Vordergrund. Dieser prägte bereits seine Auseinandersetzung mit dem Problem des Gegebenen maßgeblich: »Vollständigkeit unsrer Erkenntnis«, d. h. 303
Vgl. Elon, Maimons Maimonides-Rezeption (2017), 130 f.
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Vollständigkeit der Spontaneität des Verstandes oder aber graduelle Verringerung derselben, bestimmen auch, inwieweit von einer Differenz von Ding selbst und Vorstellung des Dinges die Rede sein kann: »[D]ie Vorstellung eines Dinges ist vom Dinge selbst bloß durch eine mindere Vollständigkeit unterschieden; nimmt man aber beide in ihrer größern Vollständigkeit [. . .], so sind sie notwendig eins und eben dasselbe.« (VT, 109 f.) Der Vollständigkeitsaspekt verweist dabei erneut auf die Idee eines unendlichen Verstandes: »Bei einem unendlichen Verstande ist also das Ding und seine Vorstellung Eins und Ebendasselbe.« (VT, 198) Abermals steht also der Gesichtspunkt der grundsätzlichen Spontaneität des Verstandes ohne statische Rezeptivität im konzeptionellen Zentrum von Maimons Auseinandersetzung mit den durch Kant vorgegebenen Problemfeldern, auch wenn es, zumindest in diesem Fall, zu einer Verschiebung der damit nicht mehr adäquat gefassten Problemdisposition kommt. Bisher wurde ein wichtiger Aspekt der Position Maimons ausgespart, der nun umso stärker zur Geltung kommen muss: Das Theorem der bloß graduellen Differenz zwischen Sinnlichkeit und Verstand entspricht, so fordert es Maimon zumindest selbst ein, der Lehre der Leibniz-Wolff 'schen Philosophie. Im zweiten Abschnitt des Versuchs, im Zuge seiner zentralen Überlegung zur dort entworfenen monistischen Erkenntniskonzeption, beruft er sich auf das »Leibniz-Wolffische[] System« (VT, 40). An anderer Stelle des Versuchs identifiziert er seine eigene Position als »das Leibnizische System (wenn es recht verstanden wird)« (VT, 233). In seinem bereits genannten Aufsatz über Baco und Kant geht Maimon sogar so weit, diesbezüglich von einem »verbesserten Leibnizismus« (II, 521) zu sprechen. Manfred Frank zufolge musste »Kant [. . .] diese Re-Leibnizianisierung seiner Philosophie höchst unwillkommen sein«. 304 – Kant selbst hingegen erklärte Maimons Position, wie am Ende des vorigen Kapitels dargestellt, aufgrund einer dort vermeintlich vertretenen totum-pars-Relation von göttlichem und menschlichem Verstand zum Spinozismus. Hierauf gründete auch der Vorwurf, Maimon nehme den menschlichen Verstand als anschauend an. Diese Einschätzung Kants wird im weiteren Verlauf dieser Untersuchung hinsichtlich ihrer Triftigkeit noch zu diskutieren sein. Dennoch: Zunächst scheint Maimons ›leibnizianische‹ Annahme einer rein graduellen Differenz von Sinnlichkeit und Verstand, zusammen mit dem daraus resultierenden Theorem eines unendlichen Verstandes, in der Tat eine klar vorkantische Position darzustellen. Gerade die klare Ausarbeitung der spezifischen Differenz von Sinnlichkeit und Verstand, von Anschauung und Begriff sowie die entschiedene Behauptung einer gegenseitigen Irreduzibilität dieser Erkenntnisvermögen stellen schließlich 304
Frank, Unendliche Annäherung (1997), 96.
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eine der wesentlichen Neuerungen durch Kants Epistemologie dar. Dies gilt vor allem in Anbetracht des zuvor ungeschlichteten Streits zwischen intellektualistischen und sensualistischen Positionen in der grob gefassten Opposition von Rationalismus und Empirismus. 305 Die These einer bloßen Gradualität der Vollständigkeit eines intellektualen Erkenntnisvermögens, die mit der Annahme einer möglichen uneingeschränkten Intellektform einhergeht, scheint daher einen Rückfall in Denkmuster zu bedeuten, die der Vernunftkritik historisch vorhergehen. Kant selbst schreibt in der transzendentalen Methodenlehre, es sei gemäß der vorgelegten Kritik der Vernunft »nicht erlaubt, sich irgend neue ursprüngliche Kräfte zu erdenken, z. B. einen Verstand, der vermögend sei, seinen Gegenstand ohne Sinne anzuschauen«: dies »hieße, der Vernunft leere Hirngespinnste, statt der Begriffe von Sachen, unterzulegen.« (KrV, A 770/B 798) Damit antizipiert Kant gewissermaßen einen Angriff auf die KrV nach Art Maimons. Solche Positionen unkritischen Vernunftgebrauchs erörtert Kant zudem anhand der philosophiegeschichtlich reflektierten Auseinandersetzung zwischen »Sensual-« und »Intellektualphilosophen«: »Epikur kann der vornehmste Philosoph der Sinnlichkeit, Plato des Intellektuellen genannt werden.« (KrV, A 853/B 881) Gerade letztgenannte Strömung mache sich dabei grundlegender philosophischer Fehlleistungen schuldig, wenn sie »eine Anschauung durch den von keinen Sinnen begleiteten und ihrer Meinung nach nur verwirreten reinen Verstand« (KrV, A 854/B 882) annehme. Indem Kant Maimon also später explizit vorwirft, er behaupte den ›unsrigen‹ Verstand als »Vermögen[] anzuschauen«, »nicht blos als [. . .] Vermögen[] zu denken« (Br, AA XI, 50; s. o., Abschnitt 2.4), sieht er seinen Kritiker als klar in der fehlgeleiteten Tradition ungeprüfter Vernunftanmaßungen einer dogmatischen Metaphysik stehend. 306 Oben wurde dargelegt, inwieweit Maimon sich im Zuge der Entwicklung seiner eigenen Verstandeskonzeption an den Akzentverschiebungen der kritischen Philosophie zwischen 1781 und 1787, mit dem Konzept eines ›anschauenden Verstandes‹ in der B-Deduktion als einem der Resultate dieser Verschiebungen, orientiert haben mag. Dieses Konzept wurde von Kant selbst jedoch mit der Vorstellung eines etwaigen göttlichen Verstandes in Verbindung gebracht. Ebenso identifizierte er den intuitus originarius am Ende der transzendentalen Ästhetik in der Zweitauflage als annehmbare, uns jedoch völlig Vgl. Klingner, Kants Begriff einer intellektuellen Anschauung (2016), 618; 638; v. a. 626: »Kant weist die Vorstellung einer solchen ›intellektualisierten‹ Anschauung zurück, indem er die Eigenständigkeit der Sinnlichkeit und ihre für jede Form von Erkenntnis notwendige geltungstheoretische Funktion hervorhebt.« 306 Zu Kants Auseinandersetzung mit einer nichtsinnlichen Anschauung im allgemeineren Kontext seiner Rationalismuskritik vgl. Anm. 273. 305
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unbekannte Anschauung eines Urwesens. Damit betont er die konzeptionelle Fremdheit derartiger Modelle für den Kontext einer konsequenten Vernunftkritik, die die Möglichkeit solcher Modelle überhaupt erst prinzipiell prüfen muss. Ebendies stellt auch Eckart Förster fest: Bezüglich des anschauenden Verstandes in der B-Deduktion, den er hier unter der Rubrik intellektueller Anschauung in der KrV fasst, erklärt er, diese gehe »zurück auf den Diskussionszusammenhang [. . .] einer Charakterisierung Gottes«. 307 Jenes Modell stehe also klar in einem vorkritischen Kontext. Anders verhalte es sich bei dem auch in der Erstauflage vorkommenden, dennoch bloß sporadisch auftauchenden Modell einer intellektuellen Anschauung »als nichtsinnliche Anschauung von Dingen an sich«. 308 Deren Annahme, wenn auch in rein negativer Form, sei notwendig, um Gegenstände der Erfahrung überhaupt kontrastiv als Erscheinungen denken zu können: Diese Variante intellektueller Anschauung »entspringt der kritischen Charakterisierung des menschlichen Verstandes und der menschlichen Sinnlichkeit und liefert hierzu die Gegenbegriffe.« 309 Ebendiese Variante, die somit innerhalb des konzeptionellen Horizonts der kritischen Philosophie steht, hat Maimon im Zuge seiner eigenen Theorembildung jedoch nicht im Blick, so lässt sich als Resultat der bisherigen Erörterung festhalten. Stattdessen ist das außerhalb dieses Horizonts stehende Modell eines anschauenden Verstandes in der B-Deduktion hierfür von zentraler Bedeutung. Maimons Positionierung innerhalb der Diskussion um die KrV lässt sich noch weiter problematisieren: Wie Manfred Frank darlegt – noch ohne die durch Försters Erörterungen möglich gemachten Differenzierungen –, setze Maimon zwar »solch einen anschauenden Verstand überall voraus, [habe] aber keine wirkliche Theorie der intellektuellen Anschauung entwickelt.« 310 Dieser Annahme widerspricht, unter Berücksichtigung der Auffassung intellektueller Anschauung als Form von Selbstanschauung, Hugo Herrera: Maimons Beitrag zu dieser Debatte sei, so Herrera, in der Forschung bislang weitestgehend unbeachtet geblieben. 311 Tatsächlich habe er jedoch bereits vor Fichte und Schelling eine nicht-sinnliche Selbstanschauung thematisiert und dazu bereits einen Lösungsversuch entwickelt. 312 Dies belegt Herrera v. a. durch folgende Passage Förster, Die 25 Jahre (2018), 159. Ebd., 160. 309 Ebd., 159 f. 310 Frank, Unendliche Annäherung (1997), 123. 311 Vgl. Herrera, Maimon on Intellectual Intuition (2013), 291: »However Maimon’s contribution to the cognition of the self by means of a doctrine of intellectual intuition has been almost completely ignored.« 312 Vgl. ebd.; zur Präformation dieser Thematik bei Kant vgl. KrV, B 68 f.: »Alles, was durch einen Sinn vorgestellt wird, ist so fern jederzeit Erscheinung, und ein innerer Sinn würde also entweder gar 307
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aus dem Übersichtsteil (VT, 95–132) des Versuchs: »Ich hingegen halte das Ich für eine reine Anschauung a priori[,] die alle unsere Vorstellungen begleitet« (VT, 116 f.). 313 Trotz terminologischer Divergenzen fasst Herrera dies als Konzept einer intellektuellen Anschauung auf. Über die positive Bestimmung einer solchen apriorischen Selbstanschauung schweige Maimon zwar: »[H]ow is this direct access to the self to be characterised positively? Maimon does not answer this question.« 314 Oder, in Maimons eigenen Worten: Wir können »keine Merkmale dieser Anschauung, weil sie einfach ist, angeben« (VT, 117). Dennoch, so Herrera, konnte Maimon nachweisen, dass die Erkenntnis der Erscheinungen, ebenso wie letztlich jede Erkenntnis, vom Selbst und dessen nicht-sinnlicher Anschauung als deren Bedingung abhängig sei: »The self is then by Maimon not a metaphysical thing in itself, but the condition of all knowledge. [. . .] Maimon was the first to raise the issue of access of the self to itself as subject within the context of critical philosophy, and to attempt to solve it by means of nonsensible intuition.« 315 Es stellt sich jedoch die Frage, ob dies nicht bedeuten würde, den Aspekt des Ichs als apriorische, reine Anschauung im Versuch hinsichtlich seiner philosophiehistorischen Relevanz überzubewerten. Denn wie Herrera auch unter Rückgriff auf Maimons eigene Stellungnahme zu dieser Thematik darlegt, bleibt die reine (nicht explizit intellektuelle) Selbstanschauung hier ohne positive Bestimmung ihres eigentlichen Gehalts. Dementsprechend kann Frank in dieser Sache zugestimmt werden: Maimon habe noch keinerlei positiven Entwurf zum Konzept einer intellektuellen Anschauung vorgelegt, der als Antizipation dessen verstanden werden könnte, was sich in der späteren nachkantischen Philosophie ab Fichtes und Schellings Überlegungen zu einer solchen Anschauung entwickelte. Dies liegt zu einem wesentlichen Teil jedoch daran, dass sich intellektuelle Tätigkeit gemäß Maimons Verständnis ganz wesentlich in kategorial-begrifflicher Form vollzieht. Das gilt auch im Rahmen der Idee eines unendlichen Verstandes: »Verstandsbegriffe«, »Verstandsregeln«, denen gemäß Objekte hervorgebracht werden können, und »Formen a priori« als dienicht eingeräumt werden müssen, oder das Subjekt, welches der Gegenstand desselben ist, würde durch denselben nur als Erscheinung vorgestellt werden können, nicht wie es von sich selbst urteilen würde, wenn seine Anschauung bloße Selbsttätigkeit, d. i. intellektuell, wäre. [. . .] Das Bewußtsein seiner selbst (Apperzeption) ist die einfache Vorstellung des Ich, und, wenn dadurch allein alles Mannigfaltige im Subjekt selbsttätig gegeben wäre, so würde die innere Anschauung intellektuell sein. [. . .] da es denn sich selbst anschauet, nicht wie es sich unmittelbar selbsttätig vorstellen würde, sondern nach der Art, wie es von innen affiziert wird, folglich wie es sich erscheint, nicht wie es ist.« 313 Vgl. Herrera, Maimon on Intellectual Intuition (2013), 299 f.; zum ›Ich‹ in Maimons Versuch vgl. auch Gasperoni, Antinomie, Sprache und Fiktion (2016), 384–386. 314 Herrera, Maimon on Intellectual Intuition (2013), 300. 315 Ebd., 303.
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jenigen Formen, die beim unendlichen Verstand »zugleich selbst Objekte des Denkens sind« (VT, 39 f.), stehen hier im Vordergrund. Diese prägen Maimons Überlegungen im Kernstück der Konstituierung seiner Verstandeskonzeption im zweiten Abschnitt des Versuchs: »Der Verstand unterwirft also nicht Etwas a posteriori gegebenes[] seinen Regeln a priori; er läßt es vielmehr diesen Regeln gemäß entstehen« (VT, 50). Von einer essenziell nicht-begrifflichen, schaffenden Anschauung kann hier nicht die Rede sein, ebenso wenig von intellektueller Anschauung im Sinne einer unmittelbaren Selbstanschauung. Vielmehr handelt es sich um ein »ursprünglich schaffendes Denken«, 316 um diese schlichte, aber treffende Benennung Ehrenspergers beizubehalten. Intellektualität als grundsätzliche Spontaneität ist für Maimon also noch immer Denken, d. h. an die Form von Begrifflichkeit gebunden. 317 Bezüglich Franks o. g. Kritik lässt sich daher anmerken, dass es auch gar nicht Maimons Anspruch ist, eine Theorie intellektueller Anschauung im späteren nachkantischen Sinne zu entwickeln. Deshalb ist seine Intellektkonzeption auch in einem generell andersartigen Kontext zu verstehen. Diese Konzeption allein von der Perspektive späterer Entwürfe her zu beurteilen, würde eine Verwechslung verschiedenartiger Diskursfelder bedeuten, was zudem die chronologischen Bezüge durcheinanderbrächte. Vorläufig ergibt sich allerdings folgende Problemlage: Einerseits vermag Maimons Theorie nicht, inhaltlich bereits positiv auf spätere Ideen intellektueller Anschauung hinzudeuten – was jedoch schwerlich als Schwäche der Theorie als solcher ausgelegt werden kann. Eine klare terminologische Differenzierung von intellektueller Anschauung und ursprünglich-schaffender Verstandestätigkeit kann diese Problematik weitgehend heben. Dadurch behält Franks Einwand nur begrenzte Gültigkeit bei. Andererseits, und dies wiegt an dieser Stelle ungleich schwerer, scheint Maimons Verstandeskonzept einen Rückschritt in den vorkantischen Diskursrahmen zu bedeuten: Das Theorem eines unendlichen Verstandes könnte als positiv-ontologische Aussage über einen etwaigen göttlichen Intellekt aufgefasst werden, so zumindest eine mögliche Lesart. Diesem Intellekt käme in Bezug auf die Realität des Kosmos des Erfahrbaren eine kreierende Funktion zu. Hierbei würde es sich somit um die metaphysische Lehre eines intellektualen, nicht-personalen Schöpferprinzips handeln. Damit stünde Maimon epigonisch in einer facettenreichen philosophiegeschichtlichen Linie, die vom νοῦς ποιητικός der aristotelischen TradiEhrensperger, Weltseele (2006), 107 (Hervorhebung: D. E.). Hugo Herrera spricht daher in diesem Kontext auch von »purely conceptual and not intuitive knowledge« (ders., Maimon’s Commentary (2010), 611). Zum Aspekt der Diskursivität in Maimons Philosophie vgl. weiterführend Thielke, Discursivity and its Discontent (1999); ders., Discursivity and Causality (2001); ders., Getting Maimon’s Goad (2001). 316 317
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tion 318 bis zu Leibniz' Urmonade 319 führt. Die Position Maimons könnte dabei als metaphysische Theorie im Sinne einer rational-religiösen Gottesvorstellung bezeichnet werden. 320 Jene Theorie entspräche zugleich prinzipiell denjenigen Deutungsmöglichkeiten intellektueller Anschauung bei Kant, die Förster als »auf den Diskussionszusammenhang [. . .] einer Charakterisierung Gottes« zurückgehend identifiziert. 321 Gerade mit einem solchen metaphysischen Theorem fiele Maimon allerdings hinter die grundlegende vernunftkritische Perspektivik Kants zurück: 322 Immerhin geht es in dessen Vernunftkritik v. a. auch darum, die Möglichkeitsbedingungen solcher ontologischer Annahmen grundsätzlich zu prüfen, mit weitgehend negativem Ergebnis. Das Projekt kritischer Philosophie im kantischen Verständnis ist aber gerade programmatischer Ausgangspunkt Maimons im Versuch. Sofern er im Verlauf der Abhandlung zu einem Resultat käme, das diesen Ausgangspunkt unterböte, würde dies ein klares konzeptionelles Defizit bedeuten. In dem Fall könnte letztlich auch nicht mehr sinnvoll angenommen werden, dass die direkte Auseinandersetzung mit Kants Kritizismus als primärer Formierungshintergrund der Verstandeskonzeption Maimons aufzufassen sei. Besagte ›metaphysische‹ Lesart, und zwar in konkretisierter Form des Spinozismusvorwurfs gegen Maimons Verstandestheorem, war auch Kants Hauptargument gegen dessen Philosophie: Sein Modell intellektualer Erkenntnis ignoriere Vgl. Nuyens, L’Évolution (1948), 302. Vgl. v. a. M, 47 f.; s. u., Abschnitt 3.4. 320 Unter Vorbehalt lässt sich dies auch als deistische Position verstehen: Entscheidend sind dabei die Aspekte der Nicht-Personalität des Schöpferprinzips sowie, allgemeiner, die rationale Basis dieses Theorems, d. h. zugleich die Ablehnung von Offenbarungsglauben; vgl. Gawlick, Deismus (1972), 44 f. Die Intellektualität der göttlichen Entität steht hiermit ebenfalls in Einklang, auch wenn dies kein notwendiges Charakteristikum deistischer Theorien darstellt; vgl. ebd., 45. Der eigentliche, historische Deismus besagt unterdessen, dass das göttliche Schöpferprinzip im Anschluss an den Schöpfungsakt nicht mehr in den Kosmos eingreife; vgl. ebd. – Maimons unendlicher Intellekt in der hier erwogenen Lesart scheint aber gerade dies zu implizieren: Die Kreation der Verstandesideen als rezipierbare intellektuale Elemente der erscheinenden Realität kann gemäß jener Lesart am ehesten als konstanter Prozess vorgestellt werden. Inwieweit der Deismusbegriff in diesem Zusammenhang passt, bleibt daher diskussionswürdig. 321 Förster, Die 25 Jahre (2018), 159; s. o., Anm. 307. 322 Kant selbst verwendet den diesbezüglich in Anm. 320 erwogenen Deismusbegriff unterdessen in andersartiger, negativerer Bedeutung: Laut dem Deismus sei das Dasein eines Urwesens durch bloße Vernunft erkennbar, wobei die Realität dieses Wesens nicht näher bestimmt werden könne; vgl. KrV, A 631/B 659. Hiermit unterscheide sich der Deist auch vom Theisten: Letzterer sehe sich in der Lage, besagtes Wesen »nach der Analogie mit der Natur näher zu bestimmen, nämlich als ein Wesen, das durch Verstand und Freiheit den Urgrund aller anderen Dinge in sich enthalte. Jener [der Deist] stellet sich also unter demselben bloß eine Weltursache [. . .], dieser [der Theist] einen Welturheber vor.« (KrV, A 631 f./B 659 f.) – Und mit Blick auf besagte Unbestimmbarkeit Gottes, damit auch Nicht-Personalität im Deismus: »[D]er Deist glaube einen Gott, der Theist aber einen lebendigen Gott.« (KrV, A 633/B 661). 318
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die prinzipiellen Ansprüche der Vernunftkritik und falle damit hinter deren Programmatik zurück. Maimons Problemverständnis hinsichtlich der Grunddisposition kritischer Philosophie gestaltet sich bei genauerem Blick allerdings deutlich komplexer: Er verfolgt keineswegs den Plan, positiv-metaphysische Theoreme ohne vorherige Prüfung ihrer Legitimität schlicht zu restituieren. – Eine solche Rückwendung zur vorkantischen Philosophie beabsichtigte etwa zeitgleich beispielsweise Johann August Eberhard. 323 – Maimons andersartige Orientierung zeigt sich insbesondere an der versuchten Integration seiner Verstandeskonzeption in den Rahmen dessen, was Kant zuvor als transzendentale Dialektik ausgearbeitet hat. Dies ist im Folgenden zu beleuchten.
3.2.4 Maimons Transferierung der Intellektkonzeption in den Problemhorizont der kantischen Ideenlehre
Wie im vorigen Teilabschnitt bereits dargestellt, führt Maimon das Konzept eines unendlichen Verstandes als ›erhabene Idee‹ ein, bemerkenswerterweise allerdings »zum wenigsten als Idee« (VT, 40; Hervorhebung: D. E.). Potenziell handelt es sich dabei also um mehr denn ›bloß‹ Idee. Diese Formulierung wird im Zuge der Verhältnisbestimmung zwischen endlichem und unendlichem Verstand noch zu besprechen sein. Zunächst soll es hingegen um Maimons explizite Behandlung der kantischen Ideenlehre gehen. Im Anmerkungsteil des Versuchs grenzt sich Maimon in dieser Angelegenheit explizit von Kant ab, unmittelbar auf die zentrale Stelle im zweiten Abschnitt bezugnehmend: Ich weiche also in diesen zwei Hauptstücken von Hrn. Kants Meinung ab. 1) Daß ich anstatt der drei Ideen, die er annimmt, eine einzige für hinreichend halte (die Idee eines unendlichen Verstandes). 2) Anstatt daß Herr Kant dergleichen Ideen für gar keine Objekte unserer Erkenntnis hält, ich sie zwar für keine Objekte der Anschauung, wohl aber für Objekte des Verstandes, die [. . .] als bestimmte Objekte des Denkens von uns erkannt werden. (VT, 198)
Kant nimmt, wie dargelegt, ›andere Arten‹ von Erkenntnisvermögen als rein negative Grenzbegriffe an. Die Überlegungen zu diesen Vermögen finden sich dabei im Wesentlichen außerhalb des eigentlichen systematischen Reflexionsrahmens zum Thema der Ideen als Vernunftbegriffe, d. h. außerhalb der transzendentalen Dialektik: 324 Intellektuelle Anschauung und anschauender Verstand treten innerhalb der transzendentalen Ästhetik und des Analytik-Teils Vgl. Anm. 230. Vgl. KrV, A 321/B 378: »Eben so können wir erwarten, daß die Form der Vernunftschlüsse, wenn man sie auf die synthetische Einheit der Anschauungen, nach Maßgebung der Kategorien, 323 324
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der transzendentalen Logik auf, und zwar relativ sporadisch und unsystematisiert. Durch jene Grenzziehung sollen den uns allein bekannten menschlichen Erkenntnisvermögen schärfere Konturen verliehen werden. Zudem soll, spezieller, die Notwendigkeit einer transzendentalen Deduktion als Antwort auf die bezüglich dieser spezifischen Erkenntnisvermögen zu stellende Frage quid juris untermauert werden. Eine positive, darüber hinausgehende Funktion erfüllen diese unsystematisierten Grenzbegriffe dabei im Wesentlichen nicht. Ganz anders verhält sich dies bei den drei reinen Vernunftbegriffen als transzendentalen Ideen, nämlich Seele, Welt, Gott: Diese erfüllen im Rahmen des DialektikTeils der transzendentalen Logik eine regulative Funktion im Hinblick auf die Totalität des Verstandesgebrauchs. 325 Maimon entwickelt demgegenüber, und zwar v. a. mit den kantischen Ausführungen über einen anschauenden Verstand in der B-Deduktion als wesentlichem argumentativen Ankerpunkt, die Konzeption eines unendlichen Verstandes. Diese Konzeption wird von Maimon nun in besagten Reflexionshorizont des Ideenbegriffs transferiert. Diesen Transfer wiederum benennt er dabei als Unterscheidungsmerkmal von Kants Denken, hier sogar als einziges: »Ich unterscheide mich also von Hrn. Kant bloß darin, daß ich anstatt drei Ideen, die er annimmt, eine einzige Idee (eines unendlichen Verstandes) annehme« (VT, 198). Mehr noch: Diese Idee soll als »Objekt[] des Denkens« durchaus erkennbar sein und daher, wenn auch unter gewissen Auflagen, sogar »objektive Realität« (ebd.) und Notwendigkeit (vgl. VT, 138) erhalten. Auch dies wird erst im folgenden Abschnitt effektiv erörtert werden können. Mit Blick auf die Dreiheit der Ideen bei Kant, basierend auf den drei Arten von Vernunftschlüssen, 326 versucht Maimon unterdessen, die von ihm behauptete Einheit im Sinne einer triniform konnotierten »Dreieinigkeit« zu untermauern: Wir haben hier, (wenn mir der Ausdruck erlaubt ist) eine Dreieinigkeit, Gott, die Welt und die menschliche Seele, nämlich verstehen wir unter Welt bloß die intellektuelle Welt, d. h. den Inbegriff aller möglichen Objekte, die durch alle mögliche, von einem Verstande gedachten Verhältnisse hervorgebracht werden können, und unter Seele, ein Verstand, (Denkungsvermögen) das sich darauf bezieht, so daß alle diese mögliche Verhältnisse von ihm gedacht werden können, unter Gott aber einen Verstand, der alle diese Verhältnisse wirklich denkt, [. . .] so sind diese drei ein und eben dasselbe Ding. (VT, 116) anwendet, den Ursprung besonderer Begriffe a priori erhalten werde, welche wir reine Vernunftbegriffe, oder transzendentale Ideen nennen können, und die den Verstandesgebrauch im Ganzen der gesamten Erfahrung nach Prinzipien bestimmen werden.« 325 Vgl. v. a. KrV, A 508 f./B 536 f.; A 619 f./B 647 f. 326 Vgl. KrV, A 303–311/B 359–368.
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Im vereinigenden Kontext der Konzeption eines Verstandes, der die Sphäre seiner möglichen Gegenstände in ihrem Relationszusammenhang denkend selbst hervorbringt, seien die Ideen von Seele, Welt und Gott einerlei. Damit vollzieht sich im Brennpunkt dieser Verstandeskonzeption eine so wesentliche Verschiebung der von Kant vorgegebenen Ideenlehre, dass die Idee des unendlichen Verstandes nur mehr die einzige darstellt. Zumindest ist dies Maimons Absicht und wird von ihm hiermit eingefordert. Dieser oberflächliche ›Monismus‹ ist im Übrigen auch derjenige Faktor, den Wolfgang Bonsiepen unter Rückgriff auf Samuel Atlas' Überlegungen 327 als das Spinozistische der Philosophie Maimons identifiziert: »Der bei Maimon trotz aller Vorbehalte existente Spinozismus resultiert aus diesem Bemühen einer Umformung der kantischen Ideenlehre.« 328 Diese Unifikation stellt jedoch ein schwaches und insgesamt nicht überzeugendes Kriterium dar, um die Position Maimons als tatsächlich mit derjenigen Spinozas übereinstimmend klassifizieren zu können. Immerhin ist dessen ungleich radikalerer Monismus grundsätzlich andersartig konstituiert. Maimons Umformung der kantischen Ideenlehre läuft also über die Transferierung der Konzeption eines unendlichen Verstandes in den Rahmen dieser Lehre ab und soll in der vereinigenden Zentrierung dieser Konzeption resultieren. Dieser Prozess kann dabei nur als deutliche Abflachung und Simplifizierung der von Kant entwickelten Programmatik einer transzendentalen Dialektik charakterisiert werden: Die eigentliche Komplexität, Elaboriertheit und Intention dieses Programms können damit nicht eingeholt werden. Hinzu kommt, dass Maimon sich hier einer theologisch gefärbten Ausdrucksweise bedient. Dadurch könnte der bereits geäußerte Verdacht gestützt werden, das Theorem eines unendlichen Verstandes stelle letztlich einen Rückfall in ein vorkantisches Philosophiekonzept im Sinne einer rational-religiösen, positiven Metaphysik dar. Hiergegen kann jedoch ein potenziell entscheidender Einwand vorgebracht werden, der ebenfalls mit Maimons Bezugnahme auf die programmatischen Grundzüge der transzendentalen Dialektik zusammenhängt. Diese Bezugnahme kann zudem Licht auf den eigentlichen Gehalt des in Rede stehenden Verstandestheorems werfen, ganz besonders unter Berücksichtigung der hier angenommenen Entwicklung desselben vor dem Hintergrund der kantischen Überlegungen zu einem anschauenden Verstand in der transzendentalen Deduktion: Maimon bestimmt das Konzept eines unendlichen Verstandes als Idee. Vgl. Atlas, Maimon and Spinoza (1959), 246; 280; 283; v. a. 285: »The monistic tendency in Maimon’s thought, as it is manifest in his idea of an infinite mind, [. . .] is in line with Spinoza’s monism.« Dennoch kommt Atlas hier auch auf die signifikanten Unterschiede zu sprechen, die in Kap. 4 weiterführend erörtert werden sollen. 328 Bonsiepen, Einsicht (2002), 406. 327
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Dadurch möchte er zwar den möglichen Vorwurf antizipierend entkräften, er vertrete die Theorie einer ›unkritischen‹ Metaphysik. Durch die mit dieser Bestimmung einhergehende Umformung der kantischen Ideenlehre verfehlt er jedoch den eigentlichen programmatischen Anspruch der transzendentalen Dialektik. Zugleich kommt es allerdings auch zu einer Bewegung in gewissermaßen entgegengesetzter Richtung: Denn Maimon greift einen der zentralen Aspekte der Dialektik auf – den der Antinomie – und transferiert diesen Aspekt in seine Rezeption des Analytik- und damit konstitutiven Teils der Vernunftkritik. Damit geht eine signifikante Ausweitung des antinomischen Charakters des Denkens auf die Sphäre anderer Wissenschaften einher, letztlich sogar auf mögliche Erkenntnis insgesamt und als solche. Lidia Gasperoni fasst die »Ausweitung des Vorgangs der Antinomien« sogar als den »zentrale[n] Punkt der Kritik von Maimon an Kant« auf; 329 mehr noch: »Diese Erweiterung des Antinomiebegriffs durch Maimon geht bereits in die Richtung der Kritik Hegels an Kants kosmologischen Antinomien der Kritik der reinen Vernunft, wie er sie in der Enzyklopädie ausführt.« 330 Damit räumt Gasperoni Maimon eine bisher kaum thematisierte, allerdings auch lediglich vage erfassbare Position auf dem Weg zwischen Kant und Hegel ein: »Insofern kann Maimon als wichtige Station des Weges gelten, der von Kant bis zu Hegel führt, welcher schließlich die Relationen des Denkens als generell antinomisch ansehen und die Möglichkeit ihrer prozessualen Aufhebung postulieren wird.« 331 Der mögliche systematische Konnex zwischen Maimons Kant-Kritik und derjenigen Hegels soll hier nicht weiter erörtert werden und bleibt für zukünftige Untersuchungen ausstehend. 332 Zu fokussieren ist stattdessen Maimons eigene unmittelbare Stellungnahme zum Antinomieaspekt: Ich hingegen dehne die Sphäre der Ideen und der daraus entspringenden Antinomien, viel weiter aus: indem ich behaupte, daß sie nicht nur in der Metaphysik, sondern auch in der Physik, ja sogar in der evidentesten aller Wissenschaften, nämlich der Mathematik anzutreffen sind, und daß daher die Antinomien eine weit allgemeinere Auflösung erfordern. (VT, 126)
Wenn Maimon an dieser Stelle von Ideen als Gegenständen außerhalb der Metaphysik spricht, geht es um ›Verstandesideen‹ im Sinne der intellektualen Elemente von Anschauungen. Es handelt sich somit um die im vorigen TeilGasperoni, Antinomie, Sprache und Fiktion (2016), 387. Ebd. 331 Gasperoni, Maimon und der Skeptizismus (2012), 124; vgl. dies., Antinomie, Sprache und Fiktion (2016), 391. 332 Vgl. Bonsiepen, Maimons Kant-Rezeption (1982). 329
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abschnitt kurz erklärten Differenziale in erkenntnistheoretischer Bedeutung, nicht um ›Idee‹ im Sinne eines Vernunftbegriffs im hier anderweitig relevanten Kontext. Das Entscheidende an dieser Passage ist jedoch die von Maimon vorgenommene Ausweitung des Antinomieprinzips. Wie bereits genannt, spricht Maimon im Antwortschreiben auch von einer »allgemeinen Antinomie des Denkens überhaupt« (AS, 56). Das Theorem eines unendlichen Verstandes kann inhaltlich überhaupt erst vor dem Hintergrund dieses Antinomischen sinnvoll erschlossen werden. Zudem führt dieser Hintergrund erneut unmittelbar auf die durch den kantischen Argumentationsrahmen vorgegebenen Aspekte von Heterogenität, Spontaneität und Rezeptivität zurück. Dies ist im Folgenden zu untersuchen. Auf diesem Weg kann dargelegt werden, dass und warum Maimons Intellektkonzeption keinen Rückschritt in vor- oder unkritische Metaphysik im Sinne positiv-ontologischer Aussagen über einen etwaigen göttlichen Verstand bedeutet. Vielmehr hat jene Konzeption gerade in der problembewussten Auseinandersetzung mit dem Kritizismus ihren eigentlichen Ursprung.
3.3 Unendlicher und endlicher Verstand: Verhältnisbestimmung auf Grundlage der approximierenden Vervollständigungsdynamik 3.3.1 Die ›allgemeine Antinomie des Denkens überhaupt‹
Maimon benennt die spezifische Verschiedenheit von Sinnlichkeit und Verstand sowie die damit einhergehende Unüberbrückbarkeit der Heterogenität dieser Erkenntnisvermögen und ihrer Gegenstände als Hauptproblem der kantischen Philosophie. Dies ist ein wesentliches Teilresultat der bisherigen Erörterungen. Damit gehört Maimon, wie zuvor schon Johann Georg Hamann, 333 zu denjenigen Beteiligten am frühen Diskurs um Kants Philosophie, die deren Dualismus zur zentralen konzeptionellen Schwäche erklären. In Abgrenzung von Kant schlägt Maimon also ein an sich intellektuales, d. h. grundsätzlich spontanes Erkenntnisvermögen vor, das bloß verschiedene Grade von Vollständigkeit dieser Spontaneität kennt. 334 Indem es sich beim menschlichen Erkenntnissubjekt um 333 Vgl. v. a. Hamanns Rezension der KrV von 1781 (HaSW III, 275–280, hier v. a. 278) sowie die z. T. darauf basierende Metakritik über den Purismum der Vernunft von 1784 (HaSW III, 281–289, hier v. a. 286 f.). 334 Daher ist Samuel Atlas auch zuzustimmen, wenn er feststellt, Maimon sei durch seine Auseinandersetzung mit der epistemologischen Fragestellung nach der Differenz von Sinnlichkeit und Verstand zur Annahme der Idee eines unendlichen Verstandes geführt worden; vgl. Atlas, Maimon and Spinoza (1959), 254; s. o., Anm. 145. Indem Atlas dort ›Verstand‹ jedoch als ›mind‹ auffasst und
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ein eingeschränktes handelt, tritt in dessen Sphäre überhaupt erst eine Sinnlichkeit auf. Hierbei handelt es sich allerdings nicht um prinzipielle Rezeptivität der Anschauung gemäß Kants Auffassung, sondern um einen verringerten Grad an Verstandestätigkeit, d. h. an Spontaneität: 335 »Herr Kant behauptet, daß Sinnlichkeit und Verstand zwei ganz verschiedene Vermögen sind; ich behaupte hingegen, daß, ob sie schon in uns als zwei verschiedene Vermögen vorgestellt werden müssen, sie doch von einem unendlichen denkenden Wesen als eine und eben dieselbe Kraft gedacht werden müssen, und daß die Sinnlichkeit bei uns der unvollständige Verstand ist.« (VT, 103) Die Formulierung, dass die beiden Vermögen vom »unendlichen denkenden Wesen« als ein identisches Vermögen gedacht werden müssten, kann in die Irre führen: Es klingt zunächst so, als dächte besagtes Wesen die Einheit der Erkenntnisvermögen hier selbst. Der ontologische Status jenes Wesens bleibt aber auch an dieser Stelle problematisch, anstatt dass es als tatsächlich seiend angenommen wird. Es kann hier somit nicht der eigentliche Akteur des in Rede stehenden Gedankens sein. Nun liegt jener Gedanke aber faktisch vor. Daraus ergibt sich, dass besagte Einheit der Vermögen nicht durch dieses Wesen selbst gedacht wird, sondern in Bezug auf ein solches Wesen angenommen werden muss. Jene hypothetische Annahme eines »unendlichen denkenden Wesen[s]« ist dabei bereits im Gradualitätsgedanken als solchem impliziert: Immerhin führt die Vorstellung einer mehr oder minder vorliegenden Vollständigkeit der Spontaneität des Denkens gewissermaßen von selbst auf die Annahme eines Höchstgrades dieser Spontaneität, bei dem der Grad an Rezeptivität des Erkenntnissubjekts exakt null erreichen würde. Indem spezifische somit gegen graduell-variable Differenz eingetauscht wird, ist also auch das Gegebene als Korrelat der Rezeptivität nichts Statisches mehr: Vielmehr kann es, in die Richtung seiner gänzlichen Auflösung weisend, prinzipiell verringert werden. Eben hier setzt Maimons »allgemeine Antinomie des Denkens überhaupt« (AS, 56; s. o.) an: Indem ›Gegebenes‹ und ›Gedachtes‹ explizit zu den beiden zentralen Topoi der Antinomie erklärt werden, thematisiert Maimon damit die in Bezug auf Kants Philosophie herausgearbeitete grundlegende Problemstellung von Rezeptivität und Spontaneität der Erkenntnis. Diese Problemstellung ergibt sich unmittelbar aus der dort angenommenen dualen Struktur des menschlichen Erkenntnissubjekts. Jene Struktur geht wiederum mit dem nicht bezwingbaren Problem grundsätzlicher nicht als ›intellect‹, wird der eigentlich entscheidende Diskurshintergrund um Intellektualität als Spontaneität der Erkenntnis letztlich nicht adäquat erfasst. 335 Vgl. Herrera, Maimon’s Commentary (2010), 603: »[S]ensibility cannot be anything but a mere defect of the spontaneity of the subject, nothing else than the expression of finitude of cognoscitive activity.«
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Heterogenität einher, daher auch mit der Unbeantwortbarkeit der für Maimon zentralen philosophischen Fragestellung quid juris. Maimon verknüpft ›Gegebenes‹ und ›Gedachtes‹ mit dem epistemologisch gefassten Begriffspaar von Materie und Form, deren Zusammentreffen notwendige Bedingung von Erkenntnis mit positivem Gehalt überhaupt sei: »Soll eine Erkenntnis wahr sein, so muß sie gegeben und gedacht zugleich sein: gegeben, in Ansehung ihrer Materie [. . .], gedacht, in Ansehung der Form, welche an sich nicht gegeben werden kann« (VT, 38). Dass das Vorliegen eines Gegebenen als ›Materie‹ der Erkenntnis, in Abgrenzung zur ›Form‹ als Gedachtem, lediglich für »[e]in eingeschränktes Erkenntnisvermögen« (VT, 13) gelte, betont Maimon direkt zu Beginn des ersten Abschnitts (VT, 13–20) des Versuchs: Ein solches Vermögen »erfordert zwei Stücke: 1) Materie, d. h. etwas Gegebnes [. . .]; 2) Form, oder wofür es erkannt werden soll.« (VT, 13) Das auf diese Weise zum Einsatz gebrachte Begriffspaar wird auch mit Passivität und Aktivität in Verbindung gebracht, entsprechend der Verknüpfung mit Rezeptivität und Spontaneität: »Das Gegebne in der Anschauung (Materiale) entstehet durchs Leiden. Die Ordnung derselben nach einer Form aber, durch Tätigkeit.« (VT, 222) Strukturelle Ausgangslage der Antinomie sind also Gegebenes, Materie, Rezeptivität, Passivität auf der einen Seite; Gedachtes, Form, Spontaneität, Aktivität auf der anderen Seite. Worin die Antinomie als solche nun eigentlich besteht, beschreibt Maimon am deutlichsten im Antwortschreiben: Denn das Denken überhaupt bestehet in Beziehung einer Form (Regel des Verstandes) auf eine Materie. (das ihr[] subsumirte Gegebne) Ohne Materie kann man zum Bewußtsein der Form nicht gelangen, folglich ist die Materie eine nothwendige Bedingung des Denkens, d. h. zum reellen Denken einer Form oder Verstandesregel muß nothwendig eine Materie, worauf sie sich beziehet, gegeben werden; auf der andern Seite hingegen erfordert die Vollständigkeit des Denkens eines Objekts, daß nichts darinn gegeben, sondern alles gedacht werden soll. Wir können keine dieser Forderungen als unrechtmäßig abweisen, wir müssen also beyden Genüge leisten (AS, 56 f.).
Für ein unveränderlich, statisch eingeschränktes Erkenntnisvermögen wäre die Dualität von Gegebenem und Gedachtem ungebrochen konstitutiv: Erst im Zusammentreffen von Rezeptivität und Spontaneität – im kantischen Modell Sinnlichkeit und Verstand – wäre Erkenntnis generell möglich. Könnte es dabei belassen werden, wäre auch von keiner ›allgemeinen Antinomie des Denkens überhaupt‹ die Rede. Die mit dieser epistemologischen Dualität notwendig einhergehende Problemlage der Unvermittelbarkeit des grundsätzlich Heterogenen wurde von Maimon zuvor jedoch als zentraler Schwachpunkt der kantischen Theorie herausgestellt. Erst durch die Ersetzung von Dualität durch
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Einheit lässt sich jene Problematik prinzipiell neutralisieren. Läge allerdings diese Einheit schlechthin vor, nämlich in Form eines uneingeschränkt spontanen Denkvermögens, dann gäbe es ebenfalls keine Antinomie: In diesem Fall wäre in der Erkenntnis schlicht »alles gedacht« (ebd.), ohne Notwendigkeit eines Bezugs auf Gegebenes. Erst durch die für Maimons Position charakteristische Annahme einer graduellen, zugleich veränderlichen Unvollständigkeit der Spontaneität des eingeschränkten Erkenntnisvermögens treten die zwei genannten antinomischen Forderungen auf. Wie Martin Bondeli beschreibt, versucht Maimon also zwar den kantischen Dualismus von Sinnlichkeit und Verstand aufzulösen. Infolge dieses Versuchs sieht er sich allerdings mit einem andersartigen Dualismus konfrontiert, nämlich mit der »Dualität von endlicher und unendlicher Erkenntnis«. 336 Auch bezüglich dieser Dualität geht Maimon jedoch nicht von einem statischen, sondern einem dynamischen Verhältnis aus, was noch zu zeigen sein wird. Zur potenziellen Auflösung der allgemeinen Antinomie des Denkens äußert sich Maimon unterdessen deutlich: »Wir können keine dieser Forderungen als unrechtmäßig abweisen, wir müssen also beyden Genüge leisten dadurch, daß wir unser Denken immer vollständiger machen, wodurch die Materie sich immer der Form nähert bis ins Unendliche, und dieses ist die Auflösung dieser Antinomie.« (AS, 57) In genau diesem Sinne ist das in 3.2.3 bereits genannte ›Gebot der Vernunft‹ zu verstehen: Laut diesem Gebot soll die Rezeptivität des Erkenntnisvermögens auf dem Weg eines »Fortschritt[s] ins Unendliche« (AS, 67) vermindert, d. h. die Spontaneität des Denkens progressiv vervollständigt werden. Erst vor dem Hintergrund dieser möglichen Auflösung der Antinomie ist auch zu verstehen, wieso Maimon bereits zu Beginn der Einleitung des Versuchs (VT, 7–12) voranstellt, dass »das Bestreben eines denkenden Wesens: nicht nur überhaupt zu denken [sei], sondern dieses Maximum im Denken zu erreichen.« (VT, 7) – Mehr noch: »Alle menschliche Beschäftigungen sind, als solche, bloß ein mehr oder weniger Denken.« (Ebd.) Die zur Auflösung der ›allgemeinen Antinomie‹ erforderte Maximierung intellektualer Tätigkeit, d. h. der Spontaneität des Denkens, mit dem Ziel der Verringerung einer nichtstatischen Rezeptivität prägt als leitendes, quasi programmatisches Motiv somit bereits den Beginn des Versuchs. Die bisher nachgezeichnete Argumentationsstruktur Maimons kann an dieser Stelle wie folgt resümiert werden: Die kantische Annahme einer spezifischen Differenz von Sinnlichkeit und Verstand bringt die Problematik einer grundsätzlichen Heterogenität mit sich, die als solche unlösbar ist. Erst wenn 336
Bondeli, Maimon über Kants Beweis (2004), 274.
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die dualistische Annahme dieser Differenz aufgegeben wird, eröffnen sich weiterführende philosophische Optionen, da die Problematik der Heterogenität damit prinzipiell wegfällt. Die von Kant noch statisch verstandene Rezeptivität des Erkenntnissubjekts wird bei Maimon damit nur mehr zu einem verminderten Grad an Spontaneität. Funktional teilweise parallel zu einem ›anschauenden Verstand‹, den Kant als rein negativen Grenzbegriff in der B-Deduktion anführt, formuliert Maimon die Idee eines unendlichen Verstandes: Dieser bringe seinen Gegenstand selbst hervor. Auf diese Idee führt die Annahme der graduellen Vollständigkeit der Spontaneität des Denkens gewissermaßen automatisch, da in der Gradualität das Maximum dieser Spontaneität bereits mitgedacht ist. Evidentermaßen handelt es sich beim menschlichen Erkenntnisvermögen jedoch nicht um diesen »absolute[n] (durch Sinnlichkeit und ihre Gesetze uneingeschränkte[n])« Verstand (VT, 127): Schließlich erfährt sich das menschliche Subjekt in seinem Erkenntnisakt grundsätzlich (auch) als rezeptiv und ist damit durchaus auf etwas Gegebenes angewiesen. Diese Tatsache der Eingeschränktheit menschlicher Erkenntnis wird, wie dargestellt, bereits zu Beginn des ersten Abschnitts des Versuchs betont. Besonders deutlich drückt Maimon dies zudem im Artikel über Baco und Kant aus: »Wir mögen daher unsre Erkenntnis noch so sehr erweitern; so können wir doch die Sinnlichkeit nie los werden.« (II, 521) In dieser Hinsicht geht Maimons Position noch streckenweise mit derjenigen Kants konform. In Abweichung von Kant, dessen Annahme einer statischen, spezifischen Differenz von Sinnlichkeit und Verstand Maimon ablehnt, ergibt sich dann allerdings ein weiterer Dualismus: nämlich der von unendlichem, d. h. uneingeschränkt spontanem Verstand einerseits und endlichem, d. h. eingeschränkt spontanem sowie partiell rezeptivem (auf Sinnlichkeit angewiesenem) Verstand andererseits. Da die Annäherung an jenen Status uneingeschränkter Spontaneität dem limitierten Verstandeswesen gegenüber als ›Forderung‹ sowie als ›Gebot‹ der Vernunft auftritt, sieht sich dieses endliche Wesen mit der ›allgemeinen Antinomie des Denkens überhaupt‹ konfrontiert: Die mögliche Auflösung dieser Antinomie ist die progressive Vervollständigungsdynamik in Richtung absoluter Spontaneität des Denkens. Dadurch kann zudem besagter neu auftretender Dualismus zwar nicht gänzlich aufgehoben werden, wird allerdings immerhin durchlässig. Jene absolute Spontaneität kann jedoch nie faktisch erreicht werden: Auch wenn es als Zielzustand anzustreben ist, so kann das endliche Erkenntnissubjekt doch seine »Sinnlichkeit nie los werden« (ebd.). Gerade diese Approximationsbewegung erlaubt nun den Versuch einer Verhältnisbestimmung von endlichem und unendlichem Verstand. Wie bereits in Aussicht gestellt wurde, soll dabei demonstriert werden, dass es sich bei Mai-
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mons Theorem des unendlichen Verstandes nicht etwa um den geradlinigen Restitutionsversuch einer rational-religiösen Metaphysik handelt. Vielmehr geht es dabei um einen Lösungsansatz, der konzeptionell grundsätzlich aus dem unmittelbaren Umgang mit denjenigen Problemstellungen erwächst, die Kant durch seine Philosophie vorgegeben hat. In letzter Instanz widerspricht jener Lösungsvorschlag der kantischen Philosophie inhaltlich allerdings deutlich.
3.3.2 Gradualität und Approximation
Wie in 3.2.3 erwähnt, vertritt Achim Engstler die Position, Maimon gehe von einer strikten Differenz zwischen menschlichem und unendlichem Verstand aus: dies nämlich v. a. in der Hinsicht, dass letzterer die intellektualen Elemente der Erkenntnis spontan hervorbringt, ersterer diese Elemente, d. h. die Differenziale als ›Verstandesideen‹, sinnlich rezipiert und dadurch Gegenstände zu denken in der Lage ist. Zwischen Rezeption und Denken steht vermittelnd die apprehendierende Einbildungskraft. Dabei spricht sich Engstler klar gegen die mögliche Annahme einer eigentlichen Identität von endlichem und unendlichem Verstand aus: »In der Forschung wird überwiegend die Ansicht vertreten, konstitutiv für Maimons ›rationalen Dogmatismus‹ 337 sei die These, daß unser Verstand die Erscheinungswelt hervorbringt – mit dieser These antizipiere er ein zentrales Theorem Fichtes.« 338 Laut jener Forschungsposition würde Maimons Philosophie also aussagen, der menschliche Verstand wäre durchaus identisch mit dem rein spontanen, damit produktiven und ›absoluten‹ Verstand, von Maimon unter dem Terminus des unendlichen Verstandes gefasst. Dies scheint seine Behauptung, »[u]nser Verstand« sei »eben derselbe« wie der unendliche Verstand, »nur auf eine eingeschränkte Art« (VT, 40), zumindest nahezulegen: Auch wenn es eine graduelle Differenz der Verstandesformen gibt, so liegt dennoch eine spezifische Identität vor. Engstler weist nun anhand verschiedener Belege nach, 339 dass die schlichte Behauptung einer Identität von endlichem und unendlichem Verstand im Falle des menschlichen Erkenntnissubjekts letztlich nicht Maimons Position entspricht. Um den im Zentrum der Überlegungen Engstlers stehenden Erkenntnisakt gemäß Maimons Differenzialtheorie konsequent und widerspruchsfrei Philosophische Hauptaussage dieses sogenannten rationalen Dogmatismus (vgl. v. a. VT, 232 f.) ist die von Maimon vertretene epistemologische Notwendigkeit der Setzung der Idee eines unendlichen Verstandes. Diese Notwendigkeit im Hinblick auf mögliche Objektivität der Erkenntnis soll im Verlauf des vorliegenden Teilabschnitts geklärt werden. 338 Engstler, Untersuchungen (1990), 143 f. 339 Vgl. ebd., 143–165. 337
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denken zu können, müsse vielmehr von einer klaren Differenz der beiden Vermögen ausgegangen werden: »Treffen die bisherigen Ausführungen zu, dann ergibt sich im Rahmen von Maimons ›rationalem Dogmatismus‹ also die These, uns würden als Elemente unserer Erscheinungen Ideen eines unendlichen Verstandes gegeben. Daß Maimon so gedacht hat, wird meines Erachtens durch die idealistische Theorie der Entstehung empirischer Anschauungen bestätigt, die er im zweiten Abschnitt des ›Versuchs‹ skizziert.« 340 Diese idealistische Theorie erläutert Engstler anhand der verschiedenen Vermögen von Sinnlichkeit, Einbildungskraft und Verstand weiterführend: »Die Funktionen von Sinnlichkeit und Einbildungskraft sind demnach bezogen auf die Bildung empirischer Anschauungen; Aufgabe unseres Verstandes ist die Bestimmung empirischer Anschauungen. ›Die Sinnlichkeit‹, so führt Maimon aus, ›liefert die Differenziale zu einem bestimmten Bewußtsein . . .‹ [VT, 23]. Geht man davon aus, Maimon meine, unser Verstand sei Urheber der Erscheinungswelt, ist diese Formulierung kaum verständlich. Denn es ist nicht einzusehen, weshalb es dann sinnvoll sein kann zu sagen, die Differentiale oder Ideen, die unser Verstand aus sich selbst hervorbringt, würden von unserer Sinnlichkeit geliefert.« 341 Engstlers Argumentationsstrategie ist somit zu demonstrieren, dass die in Diskussion stehende Lesart – die Annahme der Identität von menschlichem und unendlichem Verstand als Maimons eigene Position – keine konsistente Interpretationsmöglichkeit der Philosophie Maimons bieten könne. Dies sieht laut Engstler bei der gegenteiligen Annahme anders aus: »Sieht man die Differentiale jedoch für Ideen eines unendlichen Verstandes an, dann bietet Maimons Formulierung keine Schwierigkeit. Bilden die Ideen eines unendlichen Verstandes die Elemente unserer empirischen Anschauungen, so liegt es nahe zu sagen, unsere Sinnlichkeit nähme sie auf.« 342 In sich konsistent sei Maimons Theorie damit, wenn diese als Annahme einer strikten Differenz von menschlichem Erkenntnisvermögen und unendlichem Verstand aufgefasst werde, so das Resultat aus Engstlers Überlegungen: Hinsichtlich des Vorliegens der Erscheinungswelt ist der unendliche Verstand dabei die spontane Fraktion, die die eigentlich intellektualen Elemente dieser Erscheinungen produziert; das endliche Verstandeswesen hingegen die rezeptive Fraktion, die diese Elemente über seine Sinnlichkeit vermittelt aufnimmt: »Die Gegenstände empirischer Anschauung sind zwar von seiten ihrer Elemente ursprünglich rational, wir werden uns ihrer Rationalität jedoch nicht bewußt, sie erscheinen uns vielmehr als sinnliche, empirische Vorstellungen.« 343 340 341 342 343
Ebd., 156. Ebd., 156 f. Ebd., 157. Ebd.
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In diesem Kontext wird auch die eigentliche epistemische Funktion der apprehendierenden Einbildungskraft gemäß Maimons Position deutlicher darstellbar, wie von Engstler geleistet und wie an dieser Stelle nicht weiter vertieft werden soll: 344 »Die Aufgabe, aus den von der Sinnlichkeit gelieferten Elementen raum-zeitliche Objekte, Gegenstände empirischer Anschauung zu machen, weist Maimon unserer Einbildungskraft zu.« 345 Diese Interpretation der Philosophie Maimons im Hinblick auf das darin angenommene Verhältnis der verschiedenen Verstandesformen wird auch von Manfred Frank befürwortet, der sich darin explizit auf Engstler bezieht. Dabei geht es Frank insbesondere um die Frage, inwieweit Maimons Idealismus die spätere Position Fichtes antizipiere. Dies werde in der Forschung häufig angenommen, von Engstler aber klar problematisiert. 346 Frank schreibt hierzu: »Achim Engstler hat nun [. . .] gezeigt, daß dieser schnelle Gang von Maimon zu Fichte so nicht stattgefunden hat. Vielmehr bestehe eine Spannung zwischen Fichtes Produktionsmodell und der Maimonschen Auffassung, daß unserem Verstand allerdings Stoff ›gegeben‹ werden muß, nur nicht vom Ding an sich (darin ist Maimon mit Fichte einverstanden), sondern vom unendlichen Verstand, dem Produzenten der Differentiale, die ja eben nicht sinnlich, sondern geistig – noumenal – sind. Insofern könne für Maimon wie für Fichte gelten, daß sie absolute Idealisten sind, wobei ›absolut‹ hier besagen soll, daß ihre Ontologie nur ideale Entitäten annimmt und einem unendlichen Verstand bzw. einem absoluten Ich immanent bleibt. Damit bricht der wesentliche Unterschied zwischen Maimon und Fichte aber auch schon zusammen.« 347 Auf dieser Grundlage benennt Frank Maimons Philosophie daher auch als diejenige Theorie, in der Fichte »den Keim seines absoluten Produktionsidealismus vorgebildet fand«. 348 Frank versucht in Abgrenzung von Engstler also Vgl. hierzu auch Gasperoni, Versinnlichung (2016), 194–202. Zum dort angesprochenen Zusammenhang zwischen Maimons Ausführungen zur Einbildungskraft und seinem später erarbeiteten Konzept der Fiktion vgl. den entsprechenden Artikel im Philosophischen Wörterbuch von 1791 (III, 60–73; hier 60): »Fiktion (Erdichtung) ist in der allgemeinen Bedeutung eine Operation der Einbildungskraft, wodurch eine nicht objektiv nothwendige Einheit im Mannigfaltigen eines Objekts hervorgebracht wird.« Vgl. dazu Atlas, Maimon’s Doctrine of Fiction (1969/70); Breazeale, Reinhold gegen Maimon (2003); Gasperoni, Antinomie, Sprache und Fiktion (2016), v. a. 395–398; dies., Immaginare approssimando (2019); Breazeale, Philosophy and ›the Method of Fictions‹ (2018); sowie Jelscha Schmids im Entstehen begriffene Dissertationsschrift zu Maimons Methode der Fiktion im Hinblick auf die damit einhergehende Positionszuweisung der Philosophie als Wissenschaft. Zu Maimons Erklärungen zur Funktion der Einbildungskraft im Versuch einer neuen Logik von 1794 vgl. Schmidt, Fichtes Begriff der ›Einbildungskraft‹ (2018), v. a. 13–16. 345 Engstler, Untersuchungen (1990), 158. 346 Vgl. v. a. ebd., 13–19. 347 Frank, Unendliche Annäherung (1997), 128. 348 Frank, Einleitung (1996), LI; vgl. ders., Unendliche Annäherung (1997), 131. 344
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zwar, die konzeptionelle Nähe Fichtes zu Maimon wieder stärker zu machen. Dennoch hebt er Engstlers Herausarbeitung der strikten Gegenüberstellung von spontanem unendlichem und rezeptivem endlichem Verstand affirmierend hervor. Die klare Darstellung der Differenz der verschiedenen Verstandesformen in der Theorie Maimons ist durchaus angebracht. Immerhin kann, wie besprochen, die Annahme einer schlichten Identität dieser Formen letztlich nicht mit Maimons konkreten Ausführungen in Einklang gebracht werden: Zu stark ist dort die Emphase der Eingeschränktheit menschlicher Erkenntnis. Durch die ›harte‹, von Engstler vertretene Gegenüberstellung der Formen hinsichtlich Spontaneität und Rezeptivität ergibt sich allerdings eine nicht unerhebliche Problematik, die sich im Wesentlichen anhand zweier Aspekte erläutern lässt: Zum Ersten würde diese strikte Lesart bedeuten, Maimon nehme den unendlichen Verstand als metaphysisch reale Entität an, treffe diesbezüglich also eine stark-positive ontologische Aussage. Statt der kantischen ›Dinge an sich selbst‹ würde ein spontan-produktiver Verstand angenommen werden, der die intellektualen Elemente der objektiven Welt schlicht ›gäbe‹. Diese objektive Welt erschiene dem endlichen, rezeptiven Verstandeswesen dann empirisch. Es wäre letztlich kaum möglich, eine solche Position als etwas anderes denn als metaphysisches Theorem einer rational-religiösen Gottesvorstellung zu klassifizieren, wie in 3.2.3 bereits als mögliche Lesart vorgestellt wurde. Eine solche Positionierung unter Missachtung der Ergebnisse der kantischen Vernunftkritik lässt sich Maimon aufgrund seiner transzendentalphilosophischen Argumentationsperspektive allerdings kaum zuschreiben. Zum Zweiten – und dies kann weiterhin als Begründung letztgenannter Aussage gelten – thematisiert diese Lesart die im vorigen Teilabschnitt erörterte ›allgemeine Antinomie des Denkens überhaupt‹ nicht in ausreichendem Maße. Denn als explizite Lösung dieser Antinomie benennt Maimon das Moment einer infiniten, asymptotischen 349 Approximationsdynamik in Richtung des Status des unendlichen Verstandes, d. h. des Status uneingeschränkter, vollständiger Spontaneität des Intellekts. Dieser Status kann dabei jedoch faktisch nicht erreicht werden. Auf Basis dieser für Maimons Denken insgesamt charakteristischen Vervollständigungsdynamik soll hier als mögliche Auslegung vorgeschlagen und als plausibel dargestellt werden, dass es zwar durchaus eine Differenz von menschlichem und unendlichem Verstand gebe; der unendliche Verstand sei dabei jedoch als notwendiges, wesentliches Strukturmoment des begrenzt spontanen, damit endlichen Verstandes aufzufassen, und zwar im Sinne einer Idee mit objektivem, transzendentalphilosophisch begründetem Realitätsanspruch. Dies lässt 349
Vgl. Atlas, Maimon and Spinoza (1959), 255; Socher, Radical Enlightenment (2006), 99.
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sich gegen die von Engstler und Frank vertretene, gewissermaßen ›metaphysische‹ Lesart der Theorie des unendlichen Verstandes einwenden: Maimon geht von einem variablen Grad an Spontaneität des menschlichen Verstandes aus, durch deren Steigerung die Antinomie des Denkens aufzulösen ist. Dies impliziert bereits, wie schon in Aussicht gestellt, den Gedanken einer ›absoluten‹, d. h. gänzlich uneingeschränkten Spontaneität. Auch gewissermaßen ›nach unten hin‹ ist diese »unendliche Reihe von Graden« denkbar: Diese Unvollständigkeit des Bewußtseins aber kann von einem bestimmten Bewußtsein bis zum völligen Nichts durch eine abnehmende unendliche Reihe von Graden gedacht werden, folglich ist das bloß Gegebene (dasjenige, was ohne alles Bewußtsein der Vorstellungskraft gegenwärtig ist) eine bloße Idee von der Grenze dieser Reihe, zu der (wie etwa zu einer irrationalen Wurzel) man sich immer nähern, die man aber nie erreichen kann. (VT, 224)
Durch diese Reihe infinitesimaler Grade zwischen null, vollständigem Fehlen von Spontaneität, und deren absolutem Maximum ist ebendieses Maximum prinzipiell schon im Gradualitätsgedanken mit inbegriffen. Demgemäß ist auch das Gegebene selbst nichts statisch Vorhandenes, sondern »eine bloße Idee von der Grenze dieser Reihe« (ebd.), nämlich der unteren Grenze. Dies wendet Maimon u. a. auf die »absolute Totalität« an, die hinsichtlich der »reine[n] Begriffe a priori« (VT, 198 f.) gefordert werde, spezieller hinsichtlich der Relationskategorien. Hier hat Maimon also die lediglich vage gefasste transzendentale Dialektik Kants im Blick: »Nun aber dringt der Verstand (oder nach Hrn. Kant, die Vernunft) in diesen Begriffen auf die absolute Totalität; folglich, ob schon diese Totalität bei uns unerreichbar ist, so gehört sie doch so gut zum Wesen des Verstandes, als diese Begriffe überhaupt.« (VT, 199; Hervorhebung: D. E.) In diesem Zusammenhang begründet Maimon auch die »objektive Realität« (VT, 198), die der Idee des unendlichen Verstandes zukomme. Dies verdeutlicht Maimon, terminologisch nicht unproblematisch und potenziell irreführend, durch eine eigenwillige, schwer zu deutende Anwendung des Begriffs vom Schema: »[. . .] z. B. das Schema zu der Idee eines unendlichen Verstandes ist unser Verstand. Dieses Schema deutet hier auf die Idee, und die Idee auf das Ding selbst oder auf seine Existenz, ohne welche diese Idee und ihr Schema selbst unmöglich wären.« (Ebd.) Vor dem Hintergrund des hier im Fokus stehenden Gradualitätsgedankens sei daher folgende Interpretation versucht: Indem das Verstandesvermögen des eingeschränkten Erkenntnissubjekts als in graduell-variablem Maße spontan vorgestellt wird, liefert diese Gradualität der Spontaneität sozusagen das ›Schema‹ zur idealen Vorstellung absolut uneingeschränkter Spontaneität. Damit ist die Idee des unendlichen Verstandes zum »Wesen« (VT, 199; s. o.) des
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eingeschränkten Verstandes gehörig, also diesem Verstand im Sinne eines wesentlichen Strukturmoments inhärierend. Dies führt Maimon zum Ende des Artikels über Baco und Kant weiter aus, abermals sozusagen ohne ›Feingefühl‹ im Umgang mit den Positionen der von ihm rezipierten Denker: Nach dem verbesserten Leibnizismus, dem ich beypflichte, aber behaupte ich zwar mit Kant: daß die Vorstellung eines unendlichen Verstandes und folglich auch die beständige Näherung zu demselben eine bloße Idee ist. Da aber ich mit dem Plato behaupte, daß die Ideen die wahren Objekte des Verstandes sind; so ist diese Ausfüllung [sc. der ›Lücke zwischen den Formen und der Materie überhaupt‹; ebd.] zwar bei uns etwas Unerreichbares, an sich aber doch etwas Mögliches. Es ist ein Desideratum, das in unserer Natur (ob wohl nicht die Erfüllung desselben) gegründet ist. (II, 521 f.)
Um die Hauptgedanken dieser recht unsortierten Zusammenstellung versuchsweise in einen sinnvollen Kontext zu bringen: Die Diskrepanz zwischen Gedachtem und Gegebenem (›Formen und Materie überhaupt‹) wird von Maimon, unter Rückgriff auf Leibniz' Annahme einer bloß graduellen Differenz zwischen Sinnlichkeit (Rezeptivität) und Verstand (Spontaneität), nicht mehr als statisch angesehen, sondern als approximativ überbrückbar aufgefasst. Die Idee einer gänzlichen Neutralisierung jener Diskrepanz durch das Erreichen eines Zustands völliger Spontaneität, also des unendlichen Verstandes, 350 ist nicht faktisch einlösbar, sondern lediglich Zielwert einer infiniten Annäherungsdynamik. Gerade durch diese Dynamik gehört die Idee als ›Desideratum‹ aber ganz wesentlich zur ›Natur‹ des eingeschränkten Verstandes, stellt also ein bedeutendes Strukturmerkmal desselben dar. In genau diesem Sinne ist die Idee, hier mit unvermitteltem Bezug auf Platon und vom ›Wesen‹ des Verstandes auf seinen Gegenstand reflektiert, ›wahres Objekt des Verstandes‹. Dies betont Maimon auch im entsprechenden Passus des Versuchs. 351 Simon Duffy fasst Maimons Konzeption eines unendlichen Verstandes als primär regulative Idee auf. Dies erklärt er in einem der hier vorgestellten Position weitestgehend entsprechenden Sinn, wobei er sich explizit von Engstlers Lesart abgrenzt: The regulative use of the concept of the infinite understanding does not make Maimon's system theocentric. Nor does Maimon presuppose the infinite underWieso Maimon Kant hier unmittelbar die Idee eines unendlichen Verstandes zuschreibt, ist fragwürdig. In seiner Kommentierung zum Schreiben Obereits (vgl. 2.2.1) äußert sich Maimon hierzu andersartig: »Diese [sc. die ›kritische Philosophie‹; ebd.] weiß von keinem unendlichen Verstande was zu sagen« (III, 438). 351 Vgl. VT, 198: »Anstatt daß Herr Kant dergleichen Ideen für gar keine Objekte unserer Erkenntnis hält, ich sie zwar für keine Objekte der Anschauung, wohl aber für Objekte des Verstandes«. 350
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standing as ›the originator of the world of appearances‹, whose ideas constitute its elements. [Anm. 15: ›This is the thesis proposed by Engstler‹.] The infinite understanding for Maimon is only an idea of the understanding that functions as an ultimate limit concept that our understanding continuously approaches without ever reaching. 352
In diesem Sinne ist daher auch Felix Krämer zuzustimmen, der etwa zeitgleich mit Engstlers Untersuchungen konstatiert, »der unendliche Verstand [sei] also keine metaphysische Entität, die unabhängig von unserem Bewußtsein existierte [. . .]. [Anm. 8: ›Wenn der unendliche Verstand als Idee des endlichen Verstandes bezeichnet wird [. . .], dann bedeutet das, daß er eine regulative Idee ist, die uns (den endlichen Verstand) dazu anleitet, uns nicht mit der bloßen Gegebenheit zufrieden zu geben sondern immer mehr von der vollständigen Möglichkeit zu durchschauen.‹]« 353 Einen strukturell ähnlichen Gedanken verfolgt auch Ehrensperger und setzt sich dabei weiter mit dem ideellen Status des unendlichen Verstandes auseinander: »Wenn die Realität des unendlichen Verstandes nur von der Unvollständigkeit des endlichen Verstandes her gefordert wird, dann kann es sich dabei sowohl um eine Idee als auch um eine heuristische Fiktion oder Hypothese handeln. Maimons Ausführungen hierzu sind vielfältig und variieren je nach Kontext.« 354 Diesen Variationen entsprechend diskutiert Ehrensperger verschiedene Lesarten der Konzeption des unendlichen Verstandes, und zwar (1) als mit dem endlichen Verstand identisch; (2) als konstitutive Idee; (3) als regulative Idee oder (4) als heuristische Fiktion. 355 Dazu äußert Ehrensperger die Vermutung, Maimons Position wandle sich im Laufe seines Schaffens von (1) nach (4), wobei der Versuch bei (2) ende und das Antwortschreiben bei (3). In einem ähnlichen Sinne betont Bonsiepen die konstitutive Funktion der Idee im Versuch und weist dabei auch auf die strukturale Inhärenz dieser Idee im menschlichen Erkenntnissubjekt hin: »Maimon setzt an die Stelle der drei regulativen Ideen die Idee des unendlichen Verstandes, die unmittelbar mit unserer menschlichen Erkenntnis gegeben ist. Die Idee des unendlichen Verstandes stellt für Maimon die Bedingung der Möglichkeit objektiver Erkenntnis dar. Sie muß also eine konstitutive Idee unseres Verstandes sein. Da der endliche Verstand nur dem Grade nach vom unendlichen verschieden ist, besitzt auch er eine partielle objektive Erkenntnis.« 356 Bonsiepen lenkt den 352 353 354 355 356
Duffy, Maimon’s Theory of Differentials (2014), 244. Krämer, Maimons Versuch (1990), 188. Ehrensperger, Weltseele (2006), 127. Vgl. ebd. (Anm. 449). Bonsiepen, Einsicht (2002), 406 (Hervorhebungen: D. E.).
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Blick somit auf die erkenntniskonstitutive Funktion dieser Idee. Dadurch wird deutlich, inwieweit Maimons Absicht bei der Erarbeitung dieses Theorems eine prinzipiell transzendentalphilosophische ist und keine vorkantisch-metaphysische: 357 Gemäß Maimons epistemologischer Konzeption einer graduellen Varianz intellektualer Spontaneität im Erkenntnisakt ist ›Objektivität‹ generell bloß denkbar bei zumindest idealer Annahme eines Maximalgrades jener Spontaneität. Dieser Maximalgrad würde bedeuten, dass im Gegenstand ›alles gedacht‹ und nichts gegeben ist. Dies wäre absolute Objektivität, an der die eingeschränkte Objektivität des limitierten Erkenntnissubjekts gewissermaßen teilhat. Deshalb muss Maimon zufolge die Idee eines unendlichen Verstandes die von Bonsiepen hervorgehobene konstitutive epistemische Funktion ausführen. Die hier angerissene Diskussion zum Status der Idee als konstitutiv oder regulativ soll nicht weiterführend vertieft werden. Stattdessen ist zu zeigen, dass jene Idee Maimon zufolge als wesentliches Strukturmoment des per se eingeschränkten, damit nicht mit dem unendlichen Verstand identischen menschlichen Erkenntnissubjekts aufzufassen ist. Anders formuliert: Nicht etwa ist die Vorstellung eines unendlichen Verstandes (ob nun als metaphysische Realität oder als Vernunftbegriff) Ausgangspunkt der Theorie Maimons, laut der jener Status uneingeschränkter Verstandestätigkeit dann vermittelst gradueller Vervollständigung des endlichen Verstandes zu approximieren wäre. Vielmehr ist die dynamische Verfasstheit des prinzipiell nicht-dualen menschlichen Erkenntnissubjekts mit seinem variablen Grad an intellektualer Spontaneität selbst Ausgangspunkt für die Idee eines zu approximierenden Maximalgrades dieser Spontaneität. Besagter Maximalgrad kann dann als Idee eines unendlichen Verstandes fixiert werden. Diese approximierende Vervollständigungsdynamik ist auch dasjenige, was Paul Franks als ›dynamischen Charakter‹ von Maimons epistemologischem Monismus 358 benennt: »First, Maimon was committed to the idea of the infinite intellect as the goal of infinite striving, which finite minds could near but never attain.« 359 Lidia Gasperoni bezieht dies, in perspektivischer Übereinstimmung mit Franks' Ausführung 360 sowie unter dem Aspekt des Infinitesimalen, unmittelbar auf Maimons Antinomie: »Weil die Erkenntnis unvollkommen ist und sich nur beständig der vollkommenen Erkenntnis (bis zum kleinsten Unendlichen) annähern kann, stellt sie also den
Zur Diskussion um Konstitutitvität und Regulativität in diesem Zusammenhang vgl. weiterführend Herrera, Maimon’s Commentary (2010), 610 f. 358 Vgl. Franks, Systematicity and Nihilism (2000), 109. 359 Ebd. 360 Vgl. Elon, Skepsis und System (2019), 97. 357
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Ausdruck der Antinomie dar, die als eine dynamische Praxis des Denkens zu verstehen ist.« 361 Zusammenfassend lässt sich dieser Sachverhalt wie folgt skizzieren: Maimon entwickelt sein Modell des menschlichen Erkenntnissubjekts in unmittelbarer Auseinandersetzung mit den an Kants Philosophie herausgestellten Problemfeldern von Heterogenität, Rezeptivität und Spontaneität. Dies geschieht vor dem generellen Hintergrund der Frage quid juris. Maimons monistisches Gegenmodell zu Kants Dualismus orientiert sich an dessen Überlegungen zu ›anderen Arten‹ von Erkenntnisvermögen in ihrem diachronen Wandel, v. a. am ›anschauenden Verstand‹ in der B-Deduktion. Besagtes Gegenmodell Maimons beinhaltet aufgrund des darin manifesten Gradualitätsgedankens bereits die Idee eines absolut-spontanen Intellekts. Der Zustand dieses Intellekts wird durch das nicht-statisch eingeschränkte Verstandeswesen qua Vervollständigung approximiert. Diese Approximationsdynamik ist dabei überhaupt erst Grundlage für die Ausformulierung der Idee eines unendlichen Verstandes, und zwar als Strukturmoment des endlichen Erkenntnissubjekts. Am zentralen Merkmal der Idee, d. h. approximierbarer absoluter Spontaneität, wird nun die konzeptionelle Nähe des unendlichen Verstandes bei Maimon zum anschauenden Verstand bei Kant deutlich. Diese absolute Spontaneität war derjenige Aspekt von Kants hypothetischem Verstandesmodell, der sich als Ansatzpunkt für Maimons eigenen Versuch der Problemlösung anbot; dies nämlich wegen der darin implizierten Möglichkeit einer Neutralisierung der persistenten Herausforderung durch die Frage quid juris. Die ideale absolute Spontaneität wird sodann, wie beschrieben, durch die angenommenen epistemischen Charakteristika von Gradualität und Approximation modelliert. Hiermit zeigt sich überdies auch eine Kreisstruktur in Maimons Argumentationsgang hinsichtlich seiner kritischen Auseinandersetzung mit Kants Philosophie: initialer theoretischer Anstoß ist Kants negativ gefasste Überlegung zum anschauenden Verstand. Diese Überlegung steht im Problemhorizont der Frage quid juris, die für Maimon wiederum mit der Problematik genereller Heterogenität zusammenhängt. Seine Lösungsansätze sind, davon ausgehend, die epistemologischen Theoreme von Monismus, Gradualität und Approximation, was in der Idee eines unendlichen Verstandes resultiert. Indem dieser wiederum auf Kants Modell eines anschauenden Verstandes verweist, das am Anfang der beschriebenen Denkbewegung stand, schließt sich der Kreis. 362 Gasperoni, Maimon und der Skeptizismus (2012), 124 (Hervorhebung: D. E.). Diese Kreisstruktur bezieht sich lediglich auf die hier vorgenommene Rekonstruktion der Argumentationswege Maimons. Ein tatsächliches Zirkelargument lässt sich Maimon hiermit also nicht vorwerfen. 361 362
Unendlicher und endlicher Verstand
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Maimons Philosophie ist in dieser Unternehmung, d. h. im Lösungsvorschlag zu den diagnostizierten Problemen der Philosophie Kants, jedoch alles andere als erfolgreich: Denn durch die ›allgemeine Antinomie des Denkens überhaupt‹ tun sich weitere gravierende Problemstellungen auf. Dies soll im Folgenden gezeigt werden.
3.3.3 Antinomie und Aporie
Martin Bondeli demonstriert, wie bereits angesprochen, dass sich Maimon durch sein Gegenmodell zum kantischen Dualismus von Sinnlichkeit und Verstand mit einem andersartigen Dualismus konfrontiert findet, nämlich dem von endlicher und unendlicher Erkenntnis. 363 Diese duale Struktur erörtert Bondeli im Kontext der von Kant ausgehenden grundsätzlichen Diskussion um die Möglichkeit synthetischer Urteile a priori. Damit greift Bondeli auf eine bei Maimon vorliegende Dualität des Erfahrungsgegenstands aus: Es gelte »fest[zu]halten, dass Maimons Auffassung synthetischer Urteile a priori durch eine bei Kant nicht vorliegende Dualität von unendlichem, idealem und endlichem, zum Ideal strebendem Gegenstand der Erfahrung gekennzeichnet ist. Synthetische Urteile a priori werden zwar, wie bei Kant, als eine für jede Form von synthetischen Urteilen unentbehrliche Bedingung angesehen. Synthetische Urteile a priori haben aber, anders als bei Kant, in Bezug auf die unter ihnen stehende Ordnung und Gültigkeit synthetischer Urteile eine regulative und nicht konstitutive Funktion.« 364 Was sich in dieser Geltungsrestriktion im Kern ausspricht, ist Maimons Konzeption eines ›empirischen Skeptizismus‹ (vgl. VT, 232 f.) als Positionierung hinsichtlich der Frage quid facti (vgl. KrV, A 84/B 116). Dieser Skeptizismus soll im Sinne eines »Coalitionssystem[s]« (I, 557) mit dem bisher betrachteten ›rationalen Dogmatismus‹ (vgl. VT, 232 f.), 365 seinerseits Reaktion auf die Frage quid juris, koexistieren. Laut dem an David Hume angelehnten, von dessen Position letztlich jedoch abweichenden 366 empirischen Skeptizismus kann letztlich nicht gewusst werden, ob de facto Erfahrungsurteile 367 gefällt werden. Gemeint sind damit solche Urteile, in denen sich eine objektiv gültige, notwendige Synthesis vollzieht. Angesichts der skeptischen Problematisierung durch Maimon Vgl. Anm. 336. Bondeli, Maimon über Kants Beweis (2004), 274 f. 365 Zur Charakteristik von Maimons Dogmatismusbegriff in diesem Kontext vgl. Anm. 337. 366 Vgl. Engstler, Untersuchungen (1990), 204 f. 367 Zu Kants Definition von Erfahrungsurteilen in Abgrenzung von Wahrnehmungsurteilen, die Maimon später übernimmt, vgl. Prol, AA IV, 297 f.; Baum, Möglichkeit der Erfahrung (2006), 157. 363 364
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stellt sich aber die Frage, ob nicht lediglich von subjektiv gültiger Synthesis auf Assoziationsgrundlage ausgegangen werden müsse: 368 »Ich hingegen bezweifle das Faktum selbst, daß wir nämlich Erfahrungssätze haben« (VT, 105). Der von Bondeli herausgestellte Aspekt der allein regulativen Funktion synthetischer Urteile a priori bezieht sich nun in erster Linie darauf, dass eine bloß approximative Erfüllung des Kausalgesetzes angenommen werden könne. Der Approximationsgedanke Maimons wird damit konkret auf dieses Gesetz angewandt: »Es ist [. . .] dieses allgemeine Kausalgesetz so anzunehmen, dass es von der wirklichen Erfahrung annäherungsweise erfüllt wird und insofern nur hypothetisch gültig ist. [. . .] Es kann ebenfalls nicht mit apodiktischer Gültigkeit gesagt werden, dass ein sich im Bereich der wirklichen Erfahrung dem allgemeinen Kausalgesetz annäherndes kausales Verhältnis auch in der Tat ein kausales Verhältnis ist. [. . .] Für Maimon ist die Kausalität, soweit sie als Ideal genommen wird, durchaus ein gültiger Verstandesbegriff. [. . .] Im Unterschied zu Kant meint Maimon aber, dass sich jene Kausalität, welche man sich als Annäherung an das Ideal der Kausalität vorstellt, radikal, d. h. auch in ihrer Eigenschaft als Kausalität selbst, in Frage stellen lassen muss.« 369 Auch Paul Franks bespricht Maimons entschiedene Problematisierung der faktischen Anwendung der Kausalitätskategorie und betont dabei dessen Bezugnahme auf Humes Skeptizismus (vgl. v. a. VT, 45): »Maimon sometimes argues, not that the meaning of ›cause‹ is noncategorical, but that its use is based on an illusion or self-deception. [. . .] Maimon's point is that Kant has not refuted Humean skepticism, and has therefore failed to deduce the objective reality of the categories«. 370 Maimons hier kurz umrissenes Skeptizismusmodell in seinem an Hume orientierten Referenzrahmen soll in Kap. 5 weiterführend thematisiert werden. An dieser Stelle geht es unterdessen primär um diejenige Problemlage, die sich aus dem von Bondeli herausgestellten Dualismus in Maimons Philosophie ergibt und vor deren Hintergrund das Konzept des ›empirischen Skeptizismus‹ überhaupt erst sinnvoll erschlossen werden kann: Die Differenz endlicher und unendlicher Erkenntnis persistiert in Maimons epistemologischem Modell von Gradualität und Approximation. Dies bedeutet zugleich, dass innerhalb der Sphäre endlicher Erkenntnis letztlich auch die Antithese von zu steigerndem Gedachten und zu reduzierendem Gegebenen offenbleiben muss. Mit anderen Worten: Da der approximierte Zustand uneingeschränkt spontanen Denkens vom menschlichen Subjekt prinzipiell nicht erreicht werden kann, ist auch das Vorliegen eines Gegebenen letztlich nicht neutralisierbar. 368 369 370
Vgl. v. a. VT, 44 f.; 105 f. Bondeli, Maimon über Kants Beweis (2004), 283 f., hier v. a. bezugnehmend auf VT, 105 f. Franks, All or Nothing (2005), 181 f.
Unendlicher und endlicher Verstand
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Damit sieht sich Maimon aber erneut auf die für ihn zentrale Problematik grundsätzlicher Heterogenität zurückgeworfen: In diesem Sinne bleibt es zweifelhaft, ob die Formen des Verstandes, im Speziellen v. a. die Kausalitätskategorie, faktisch auf die Materie des letztlich doch ›sinnlich‹ rezipierten Gegebenen angewandt werden. Die Problemstellung der Divergenz von Rezeptivität als Angewiesensein auf Gegebenes (Materie) einerseits und Spontaneität des Denkens (Form) andererseits innerhalb der Sphäre des Erkenntnissubjekts wiederholt sich damit als Frage nach Wirklichkeit und Möglichkeit des Erkenntnisgegenstands qua Erfahrungserkenntnis: »Nach meiner Erklärung aber ist die Möglichkeit eines Dinges das Gedachte [. . .], die Wirklichkeit aber das Gegebene in demselben.« (VT, 139; Hervorhebungen: D. E.) Wird nun der »Verstand bloß für ein Vermögen zu denken« (VT, 107) gehalten, dann gilt für »die Kategorien als reine Verstandesbegriffe«, dass sie bloß »die Denkbarkeit der Dinge« betreffen, also deren Möglichkeit. »[D]ie Wirklichkeit derselben [. . .] ist ihnen bloß zufällig« (VT, 106), kategorial somit nicht effektiv erfassbar. Aufgrund der letztlich nicht auflösbaren Antithese von Gedachtem und Gegebenem zeigt sich somit ein Riss zwischen Wirklichkeit und Möglichkeit der Erfahrung. Es bleibt daher, so Maimons Konsequenz, radikal anzuzweifeln, dass Erfahrungssätze wirklich sind, also dass Kategorien wie Kausalität tatsächlich zur Anwendung kommen. Konkret formuliert Maimon dies im Sinne Humes: »Nun sage ich, man trifft nirgends in der Wahrnehmung eine Folge, die notwendig nach einer Regel ist, d. h. ich leugne das Faktum« (VT, 105). Manfred Baum, der zudem diverse Schwächen der Kant-Interpretation Maimons diagnostiziert, führt die Bedeutung dieses Zweifels aus Maimons Argumentationsperspektive gesehen weiter aus: »Statt der objektive Notwendigkeit ausdrückenden Erfahrungsurteile verfügen wir nach Maimon nur über ›bloß subjektive (aus Gewohnheit gewordene)‹ [VT, 104] Urteile [. . .], i. e. über Wahrnehmungsurteile im Sinne Kants, die Maimon aber in ihrem Zustandekommen gemäß der Analyse Humes versteht. [. . .] Da sie aber die einzigen empirischen Urteile sind, über die wir faktisch verfügen, kann Erfahrung im objektiven Sinne Kants keine Faktizität beanspruchen. So ist die Realität des Gebrauchs der Kausalitätskategorie in Wahrheit kein unbezweifelbares Faktum.« 371 Hier zeigt sich somit eine für Maimons Gedankengang insgesamt bedeutsame Schnittstelle der Fragen quid juris und quid facti: Durch das Erreichen absoluter intellektualer Spontaneität, d. h. durch eine tatsächliche ›Gleichwerdung‹ des endlichen Verstandeswesens mit dem unendlichen Verstand, wäre die Fragestellung quid juris prinzipiell erledigt. Genau dieses Erreichen ist 371
Baum, Möglichkeit der Erfahrung (2006), 157.
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Maimons Verstandeskonzeption vor der Transzendentalphilosophie Kants
faktisch jedoch nicht möglich. Damit bleibt jenes endliche Wesen in sich epistemisch dual strukturiert, nämlich in Form der Dualität von Spontaneität und Rezeptivität. Denn schließlich ist Maimon zufolge nicht etwa die genannte ›Gleichwerdung‹ Auflösung der Antinomie, sondern die infinit-approximierende Vervollständigungsdynamik in Richtung der Idee eines unendlichen Verstandes als Strukturmoment des endlichen. Daher bleibt, wie gesagt, auch das Problem genereller Heterogenität virulent. Dies manifestiert sich aufgrund der korrelierenden Diskrepanz von Möglichkeit und Wirklichkeit der Erfahrung dann konkret im unauflöslich scheinenden »Zweifel in Ansehung der Frage: Quid facti« (VT, 11). Die konzeptionelle Problematik in Maimons Versuch zeigt jedoch noch eine zusätzliche Erschwerung auf formaler Ebene: Der Dualismus von Sinnlichkeit und Verstand als spezifisch unterschiedlicher Erkenntnisquellen kann durch Maimons Gradualitätsmodell zwar abgelöst werden. Dennoch bleibt das eingeschränkte Erkenntnissubjekt, wie beschrieben, mit seiner nicht aufhebbaren Dualität von Rezeptivität und Spontaneität konfrontiert. Immerhin bleibt die anvisierte Reduktion des Gegebenen auf exakt null unerreichbar. 372 Aus dem Gradualitätsmodell resultiert dann aber auch der übergeordnete Dualismus von unendlicher (d. h. rein spontaner) und endlicher (spontaner und rezeptiver) Erkenntnis. Dem wiederum entspricht ein Dualismus von epistemologischem Monismus und Dualismus, worin sich ein nicht unerheblicher konzeptioneller Bruch diagnostizieren lässt: Auch wenn Maimon den Dualismus der kantischen Philosophie als zu behebenden Mangel angreift, so scheint sein eigenes Gegenmodell nur noch tiefer in dualistische Strukturen hineinzuführen. Paul Franks spricht diesbezüglich von der Relation zwischen monistischem Dogmatismus und dualistischem Skeptizismus. 373 Maimons epistemologisches Modell kann zunächst also nicht einlösen, was es selbst zu seinen Hauptanliegen erklärt hat, nämlich einen adäquaten Umgang mit dem Problem von Heterogenität auf Grundlage von Dualismuskritik zu finden sowie die angestrebte Auflösung der Frage quid juris zu ermöglichen. Damit scheint die ›allgemeine Antinomie des Denkens überhaupt‹ schließlich in einer konzeptionellen Aporie zu resultieren: Immerhin setzt sich die zentrale, eigentlich zu lösende Problematik im Vollzug der Entwicklung des 372 Dies gilt zumindest »bey uns«, also für menschliche Erkenntnissubjekte. Außerhalb dessen, »an sich«, ist jener Status allerdings zumindest möglich. Diesen Gedanken entwickelt Maimon jedoch nicht weiter; vgl. II, 522: »[. . .] so ist diese Ausfüllung zwar bey uns etwas Unerreichbares, an sich aber doch etwas Mögliches. Es ist ein Desideratum [. . .]«. 373 Vgl. Franks, Systematicity and Nihilism (2000), 109: »The dynamic character of Maimon’s monism illuminates the relation between his monistic ›rational dogmatism‹ and his dualistic ›empirical skepticism.‹«
Spiegel und Fenster. Die Referenz auf Leibniz’ Monadologie
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Modells letztlich in Form der Fragestellung quid facti fort. Inwieweit gerade in dieser Aporie ein möglicherweise positiver Aspekt der Philosophie Maimons verortet werden kann, soll in Abschnitt 5.3 versuchsweise in Aussicht gestellt werden. 374 Im nächsten Schritt ist demgegenüber eine alternative Lesart zentraler Aspekte des Versuchs, durch die sich die hier benannte konzeptionelle Problematik möglicherweise auflösen lassen könnte, vorzustellen sowie hinsichtlich ihrer Plausibilität zu diskutieren.
3.4 Spiegel und Fenster. Die Referenz auf Leibniz’ Monadologie im Versuch über die Transzendentalphilosophie
Den bisher besprochenen Äußerungen Maimons zufolge ist das endliche Verstandeswesen dahingehend als eingeschränkt aufzufassen, dass ihm stets ein gewisser Grad an Spontaneität der Erkenntnis fehle. In diversen Passagen des Versuchs führt Maimon das Charakteristikum dieser Einschränkung jedoch andersartig aus. Dieser Unterschied gestaltet sich zunächst relativ unscheinbar, ist hinsichtlich seiner systematischen Konsequenzen jedoch durchaus gewichtig. So erklärt Maimon in der »Kurzen Übersicht des ganzen Werks« (VT, 95– 132) zum Gegebenen im Sinne eines ›Außer uns‹, dass es hier leicht zu einer Täuschung kommen könne: »Man muß sich aber durch den Ausdruck: außer uns, nicht irre machen lassen, als wäre dieses etwas mit uns im Raum-Verhältnis, weil Raum selbst nur eine Form in uns ist, sondern dieses außer uns, bedeutet nur etwas, in dessen Vorstellungen wir uns keine [sic] Spontanaität bewußt sind, d. h. ein (in Ansehung unseres Bewußtseins) bloßes Leiden aber keine Tätigkeit in uns.« (VT, 114) Hinsichtlich des Raumaspekts lässt sich eine starke Referenz auf Kant erkennen, der bereits zwischen einem ›Außer uns‹ im empirischen und im transzendentalen Sinne unterschieden hat (vgl. KrV, A 373). Von wesentlich größerem Interesse ist an dieser Stelle hingegen der im zitierten Passus letztgenannte Aspekt: Im Falle eines Gegebenen als eines ›Außer uns‹ mangelt es bei der Vorstellung von demselben an Bewusstheit über Spontaneität. Lediglich »in Ansehung unseres Bewußtseins« könne daher von »Leiden« (Rezeptivität als Passivität) gesprochen werden anstatt von »Tätigkeit in uns« (Spontaneität als Aktivität). Zum Zusammenhang von Antinomie und Aporie vgl. Bransen, Antinomy (1991), hier in der prägnant resümierenden Wiedergabe durch Lidia Gasperoni: »Bransen [. . .] hat eine ausführliche Analyse der Antinomie bei Maimon vorgelegt und sie mit einigen Ansätzen der analytischen Philosophie verglichen. Er zeigt, inwiefern das Verhältnis zwischen dem Denken und den Objekten einen aporetischen Charakter behält, der nicht eliminierbar ist und der als Problem erhalten werden müsste.« (Gasperoni, Maimon und der Skeptizismus (2012), 124 (Anm. 19)). 374
Maimons Verstandeskonzeption vor der Transzendentalphilosophie Kants
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Diese Akzentsetzung auf einen bloßen Mangel an Bewusstheit lässt sich nun als implizite Annahme lesen, dass bei der Vorstellung eines dem Schein nach extern Gegebenen durchaus Spontaneität vorliege, nur eben ohne vollständiges Bewusstsein über dieselbe. Diese Lesart wird klar durch die Passage gestützt, die der hier angeführten Aussage Maimons unmittelbar vorhergeht. Laut Luis Hoyos handelt es sich dabei um »ein besonders brillantes Moment seiner Philosophie«, 375 nämlich um die vielzitierte Spiegelmetapher, 376 der auch Manfred Frank besondere Aufmerksamkeit schenkt. 377 Die Metapher dient der Illustration der eigenwilligen, von Kants Position abweichenden Definition des transzendentalen Idealismus durch Maimon. Diese Definition ist hier zunächst voranzuschicken: Doch da das selbst unmöglich zu beweisen ist, daß nämlich die Anschauungen, Wirkungen von etwas außer uns selbst sind, so müssen wir, wenn wir bloß unserm Bewußtsein nachgehn wollen, den transzendentalen Idealismus annehmen, daß nämlich diese Anschauungen bloße Modifikationen unseres Ichs sind, die durch ihn [sic] selbst so bewirkt werden, als wären sie durch von uns ganz verschiedene Gegenstände bewirkt. (VT, 113)
Anschauungen sind diesem Idealismus zufolge also nicht auf ein etwaiges dem Erkenntnissubjekt Externes zurückzuführen, sondern müssen als Wirkungen dieses Subjekts, des Ichs, selbst angenommen werden, nur eben ›als ob‹ tatsächlich ein extern Gegebenes vorläge. Diesbezüglich spricht Maimon explizit von einer »Illusion«, womit nun auf die eigentliche Metapher eingegangen werden kann: Man kann sich diese Illusion auf folgende Weise vorstellen. Die Vorstellung der Objekte der Anschauungen in Zeit und Raum, sind gleichsam die Bilder, die durch das transzendentale Subjekt aller Vorstellungen (das reine Ich, durch seine reine Form a priori gedacht) im Spiegel (das empirische Ich) hervorgebracht werden; sie scheinen aber, als kämen sie von etwas hinter dem Spiegel (von Objekten, die von uns selbst verschieden sind). Das empirische (Materiale) der Anschauungen ist wirklich (so wie die Lichtstrahlen) von etwas außer uns, d. h. (verschieden von uns) gegeben. Man muß sich aber durch den Ausdruck: außer uns, nicht irre machen lassen (VT, 113 f.).
Es folgt die oben angeführte Erklärung, wonach dieses ›Außer uns‹ eben kein tatsächlich extern Gegebenes sei, sondern lediglich auf einen Mangel an Spon375 376 377
Hoyos, Skeptizismus (2008), 290. Vgl. u. a. auch Ehrensperger, Weltseele (2006), 119 f. Vgl. Frank, Unendliche Annäherung (1997), 125.
Spiegel und Fenster. Die Referenz auf Leibniz’ Monadologie
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taneitätsbewusstsein zurückgeführt werden müsse (vgl. VT, 114). Die an dieser Stelle entscheidende Differenz ist nun diejenige zwischen der Annahme eines tatsächlichen Fehlens von Spontaneität einerseits und der Annahme eines Fehlens von Bewusstheit der eigentlich doch vorhandenen Spontaneität andererseits. Die Spiegelmetapher scheint nun nahezulegen, dass Maimon beim eingeschränkten Verstandeswesen von letzterem ausgeht. Daraus würde eine Auffassung des generellen Problems von Rezeptivität und Gegebenem folgen, die von den obigen Erörterungen der Position Maimons im Kontext der ›allgemeinen Antinomie des Denkens überhaupt‹ durchaus abwiche: Zwar bedient sich Maimon mit der Unterscheidung von transzendentalem Subjekt und empirischem Ich einer oberflächlich an Kants Ausführungen zur Subjektivitätsthematik orientierten Terminologie. Im systematischen Mittelpunkt der Reflexion Maimons steht aber nach wie vor die Problematik um Rezeptivität und Spontaneität des graduell eingeschränkten intellektualen Erkenntnissubjekts: Demgemäß blickt dieses Verstandeswesen als ›empirisches Ich‹, dem es lediglich an einem vollständigen Bewusstsein über die eigene Spontaneität mangelt, in sich selbst als in den ›Spiegel‹ dieser Spontaneität. In seinem intellektualen Akt erkennt es somit die eigentlich von ihm selbst, seinem ›transzendentalen Subjekt‹ als ›reinem Ich‹, geschaffenen Gegenstände. Bloß aufgrund des unvollständigen Spontaneitätsbewusstseins unterliegt das Erkenntnissubjekt dabei der explizit als solcher benannten »Illusion«, die »Objekte der Anschauungen [. . .] kämen [. . .] von etwas hinter dem Spiegel (von Objekten, die von uns selbst verschieden sind)« (VT, 113; s. o.). Es scheint dem Subjekt fälschlicherweise daher so, als schaute es nicht in den Spiegel der eigenen Verstandestätigkeit, sondern sozusagen durch ein ›Fenster‹ auf etwas seiner selbst gegen-ständlich Externes. Florian Ehrensperger nimmt an, dass die von Maimon verwendete Spiegelmetapher v. a. als Referenz auf neuplatonische Theoreme zu verstehen sei. 378 Wird an dieser Stelle hingegen Maimons primärer Prägungshintergrund hinsichtlich der Annahme einer graduell abgestuften Vollständigkeit des grundsätzlich intellektualen Erkenntnissubjekts mit in den Kontext der Metaphorik einbezogen, so ist hier in erster Linie der Leibniz-Bezug Maimons von Interesse. Dabei kann jedoch einerseits nicht behauptet werden, Maimon nehme die eigentliche Position Leibniz' tatsächlich umfassend und systematisch umsichtig in seine eigene Theoriebildung auf. Andererseits soll an dieser Stelle auch nicht das Ziel sein, Maimons verschiedenartig geäußerten ›Leibnizismus‹ ausführlich zu erarbeiten, was den thematischen Rahmen der vorliegenden Untersuchung zu weit überschritte. Vielmehr geht es in diesem Abschnitt um einen speziel378
Vgl. Ehrensperger, Weltseele (2006), 119; 140 f.
Maimons Verstandeskonzeption vor der Transzendentalphilosophie Kants
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len, gewissermaßen motivgeschichtlichen Aspekt in Maimons Metaphorik, der seine hier im Subtext sich äußernde Bezugnahme auf Leibniz deutlicher vor Augen führen kann: Leibniz stellt in der Monadologie Gott als ›Urmonade‹ im Sinne der »allein [. . .] anfängliche[n] Einheit oder [der] ursprüngliche[n] einfache[n] Substanz« einerseits sowie die durch sie »geschaffenen oder abgeleiteten Monaden« als ihre »Hervorbringungen« andererseits gegenüber (M, 47). 379 »Der vorübergehende Zustand, der in der Einheit oder in der einfachen Substanz«, d. h. in der Monade, »eine Vielheit einhüllt und vorstellt, ist nichts anderes als das, was man die Perzeption nennt« (M, 14). Deshalb ist »die Perzeptionsfähigkeit«, neben Appetition (vgl. M, 15), primäres Unterscheidungsmerkmal zwischen Urmonade und geschaffenen Monaden: »Mais en Dieu ces attributs sont absolument infinis ou parfaits; et dans les Monades creés [. . .] ce n'en sont que des imitations, à mesure qu'il y a de la perfection.« (M, 48) Letztere sind dabei »beschränkt durch die Rezeptivität des Geschöpfes, dem es wesentlich ist begrenzt zu sein.« (M, 47) Eingeschränktheit des endlichen Verstandeswesens qua Rezeptivität stellt hier also einen wichtigen Aspekt dar. Für die Urmonade gilt das Gegenteil: »[E]n Dieu, la perfection est absolument infinite.« (M, 41) Zu Aktivität und Passivität in diesem Kontext erklärt sich Leibniz weiterführend, hier v. a. in Bezug auf die Abstufung von Perzeptionen hinsichtlich ihrer Deutlichkeit: La Creature est dite agir au dehors en tant, qu'elle a de la perfection; et patir d'une autre, en tant qu'elle est imparfaite. Ainsi l'on attribute l'Action à la Monade, en tant qu'elle a des perceptions distinctes et la passion en tant, qu'elle a de confuses. (M, 49)
Nun ist eine der bisher zentralen Thesen der vorliegenden Untersuchung gewesen, dass Maimons Intellektkonzeption primär vor dem Hintergrund der Auseinandersetzung mit Kants transzendentalphilosophischen Theoremen entwickelt worden und eben keine unmittelbare Referenz auf vorkantische Positionen gewesen sei. Mit Blick auf die bedeutenden Aspekte der graduell verschiedenartigen Vollständigkeit intellektualer Spontaneität sowie der idealen Konzeption eines Maximalgrades dieser Spontaneität wird jedoch deutlich, inwieweit Leibniz' Argumentationsgänge für Maimons Theoriebildung strukturell relevant gewesen sein müssen. Die theologischen Stoßrichtungen der Position Leibniz' lassen sich dennoch nicht auf das Verstandestheorem Maimons übertragen: Wie gezeigt, geht es letzterem im Versuch eben nicht um positive, rational-religiöse Aussagen über einen kreierenden göttlichen Intellekt, son379
Übers., hier und nachfolgend: Ulrich J. Schneider.
Spiegel und Fenster. Die Referenz auf Leibniz’ Monadologie
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dern um eine transzendentalphilosophisch motivierte Charakterisierung des menschlichen Verstandes. Im Zusammenhang der Spiegelmetapher Maimons wird dessen Rückbindung an Leibniz' Ausführungen hingegen auffällig: So sagt Leibniz einerseits: »Les Monades n'ont point de fenêtres, par lesquelles quelque chose y puisse entrer ou sortir.« (M, 7) Andererseits heißt es dort auch: »[E]lle [sc. ›chaque substance simple‹; ebd.] est [. . .] un miroir vivant perpetuel de l'univers.« (M, 56; vgl. M, 63) Wie oben dargestellt, impliziert Maimons Spiegelmetapher im Kontext der Diskussion um die Vollständigkeit der Spontaneität des intellektualen Erkenntnissubjekts, dieses Subjekt unterliege einer Illusion: Es glaubt, es schaute nicht etwa in einen Spiegel, also sich selbst an, sondern blickte in ein vermeintliches Fenster, d. h. in ein ›Außer uns‹, das es so nicht gibt. Im Falle eines vollständigen Bewusstseins über die Spontaneität der Erkenntnis, also gewissermaßen im Falle ›absolut unendlicher oder vollkommener Perzeptionsfähigkeit‹ (M, 48; s. o.), wäre die Illusion eines Fensterblicks aufgehoben. Die perzipierende Entität wäre sich vollständig darüber bewusst, die Welt ausschließlich im Spiegel der eigenen Erkenntnis zu sehen. Motivgeschichtlich ist also die Nähe der Metaphorik Maimons zu Leibniz' Ausführungen in der Monadologie durchaus deutlich. 380 Dies sollte natürlich, wie nochmals nachdrücklich betont werden muss, nicht über die fundamentalen programmatischen und konzeptionellen Differenzen zwischen Leibniz und Maimon hinwegtäuschen. Dementsprechend ist hier erneut zu unterstreichen, dass Maimons Theorem eines unendlichen Verstandes nicht im Leibniz'schen Sinne einer metaphysischen Aussage über die Existenz einer schaffenden, ›ursprünglichen einfachen Substanz‹ vollkommener Perzeptionsfähigkeit auszulegen ist. Vielmehr geht es Maimon, v. a. in Auseinandersetzung mit der kantischen Vernunftkritik in ihren epistemologischen Grundzügen, um die Annahme der Idee eines unendlichen Verstandes als unveräußerliches Strukturmerkmal eingeschränkter intellektualer Erkenntnis. Daraus folgt auch, dass die metaphysisch verstandene Differenz von Urmonade und geschaffenen Monaden gemäß Leibniz strukturell letztlich nicht auf Maimons Intellektkonzeption mit endlicher und unendlicher Verstandeserkenntnis übertragbar ist: Auch wenn Spiegel und Fenster innerhalb der metaphorischen Umschreibung dieser Konzeption motivgeschichtlich klar auf Leibniz' Überlegungen zu verschiedenen Graden intellektualer Vollkommenheit verweisen, so ist der Versuch trotzdem kein monadologisches Theorem. 380 Im Magazin zur Erfahrungsseelenkunde, genauer in seinem Kommentar zu Jacobis BrunoExzerpt (IV, 617–652), kommt Maimon später, 1793, explizit auf Leibniz’ Verwendung des Bildes vom Spiegel zu sprechen; vgl. IV, 630; hierzu auch Atlas, Maimon and Spinoza (1959), 243 f.; Ehrensperger, Weltseele (2006), 78.
Maimons Verstandeskonzeption vor der Transzendentalphilosophie Kants
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Dennoch eröffnet sich durch Maimons Überlegungen im Kontext der Spiegelmetapher zumindest die Möglichkeit einer alternativen Lesart des Versuchs. Damit wird nun zum Beginn dieses Teilabschnitts zurückgegangen: Nach dieser Lesart kann davon ausgegangen werden, das endliche Erkenntnissubjekt sei lediglich in der Hinsicht eingeschränkt, dass es ihm an Bewusstheit seiner eigentlich uneingeschränkten Spontaneität fehle. Dies ließe sich letztlich doch als Behauptung der Identität von menschlichem und unendlichem Verstand interpretieren. Im Sinne dieser anscheinend alternativen Positionierung lassen sich auch einige Ausführungen in den Schlussabsätzen des Versuchs lesen: Dort geht Maimon von seinem Begriff der Vernunft als derjenigen Instanz aus, die dem scheinbar endlichen Verstandeswesen das Gebot zur progressiven Vervollständigung seiner selbst auferlegt (vgl. v. a. AS, 67). So heißt es hier in Distanzierung von Kant: Nach Kants System wird die Vernunft zu ihrer Selbsterkenntnis zurück geführt, und nachdem sie sowohl ihre Kräfte, als ihre Ansprüche genau untersucht hat, findet sie, daß diese bloß zur Sicherung ihres Besitzes, nicht aber zu auswärtigen Eroberungen hinreichend sind. Nach meinem System (oder Nichtsystem) hingegen denkt die Vernunft zwar auf keine auswärtigen Eroberungen, sondern bloß auf Sicherung ihres rechtmäßigen Besitzes; aber sie findet zugleich, daß dieser unbegrenzt ist, sie kann daher denselben nie auf einmal genießen, sondern bloß nach und nach bis uns Unendliche: das sind aber bloß rechtmäßige Erwerbungen, keinesweges aber gewaltsame Eroberungen. (VT, 236) 381
Das Unbegrenzte als rechtmäßiger Besitz der Vernunft sei also klares Abgrenzungsmerkmal der Position Maimons von derjenigen Kants: »Sie [sc. die Vernunft; D. E.] darf sich also selbst keine andern Grenzen setzen, sie braucht auch nicht zu befürchten, sich in die höhern Regionen zu versteigen, und in der reinen ätherischen Luft zu ersticken [. . .], indem sie immer eine der Region angemessene Beschaffenheit bekommt.« (VT, 237) Diese abschließenden Äußerungen Maimons scheinen durchaus in die Richtung zu weisen, dass die Identität des menschlichen Verstandes mit dem unendlichen, vermittelt über die übergeordnete Instanz der Vernunft, realisierbar sei: Indem die Vernunft die Unendlichkeit, d. h. die absolute Spontaneität des Verstandes als dessen zwar ideales, aber unveräußerliches Strukturmerkmal auffassen könnte, wüsste sich dieses Verstandeswesen damit gewissermaßen als unendlich. Diese mögliche Auslegung scheint außerdem durch Maimons Definition seines ›rationalen Maimon führt in der Folge zusätzlich die Konzeption einer ›unendlichen Vernunft‹ ein; vgl. VT, 236 f. Dieses dort bloß schwach entwickelte Theorem lässt jedoch kaum eine zufriedenstellende Erörterung und Kontextualisierung zu. 381
›Intellectus archetypus‹
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Dogmatismus‹ gestützt zu werden: Dieser gehe davon aus, »daß so wohl die Formen als die Objekte unsrer Erkenntnis selbst in uns a priori sind, und daß dieses Vermögen nicht bloß darin bestehet, uns gegebne Objekte durch von uns gedachte Formen zu erkennen, sondern durch diese Formen die Objekte selbst hervorzubringen.« (VT, 232) Mit den Ausführungen der Position Maimons in Abschnitt 3.3 ist dies nun schwerlich in einen sinnvollen konzeptionellen Einklang zu bringen. In dieser Sache scheint die Feststellung durchaus vorliegender, nicht unerheblicher Brüche und Inkonsequenzen im Versuch zunächst genügen zu müssen. Die philosophische Komplexität und argumentative Wirksamkeit der Gedankenführung Maimons soll dabei nicht gänzlich in Abrede gestellt werden. Auch kann, wie im späteren Verlauf der Untersuchung, v. a. in Abschnitt 5.3, weiterführend zu überlegen sein wird, gerade in den Strukturmerkmalen der Approximation und der damit einhergehenden Inkonsistenzen das spezifisch Charakteristische in Maimons Werk gesehen werden. Mit diesem Zwischenfazit ist nun jedoch zum eigentlichen Anfangspunkt dieses dritten Kapitels zurückzukehren, nämlich zur Fragestellung, inwieweit bei Maimons Verstandestheorem überhaupt von einer konzeptionellen Nähe zu Kants Modell eines intuitiven Verstandes als i. archetypus in der KU ausgegangen werden kann. Zunächst wird dieses Modell adäquat innerhalb seines Kontextes erschlossen werden müssen. Daher soll mit der Kritik der teleologischen Urteilskraft ein neuartiges, im Laufe dieser Untersuchung bisher nicht näher thematisiertes Diskursfeld skizzenhaft besprochen werden. Gleichwohl steht auch hier der Aspekt der Überlegungen Kants zu besagten ›anderen Arten‹ im thematischen Mittelpunkt der Betrachtung. In jenem Aspekt zeigt sich trotz klaren Wandels auch eine gewisse Kontinuität im Verlauf der Entwicklung der kantischen Philosophie.
3.5 ›Intellectus archetypus‹: Maimons Verstandeskonzeption im Kontext der Kritik der teleologischen Urteilskraft
Kant führt das Modell eines intuitiven Verstandes systematisch in den Schlusspassagen der Dialektik der teleologischen Urteilskraft (KU, AA V, 385–416) ein. In § 75 wird zunächst konstatiert: »[I]ch kann nach der eigenthümlichen Beschaffenheit meiner Erkenntnißvermögen über die Möglichkeit jener Dinge [sc. ›gewisser Dinge der Natur‹; ebd.] und ihre Erzeugung nicht anders urtheilen, als wenn ich mir zu dieser eine Ursache, die nach Absichten wirkt, mithin ein Wesen denke, welches nach der Analogie mit der Causalität eines Verstandes productiv ist.« (KU, AA V, 397 f.) Dieses Prinzip sei kein »objectiver Grundsatz für die bestimmende«, sondern »ein subjectiver Grundsatz
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Maimons Verstandeskonzeption vor der Transzendentalphilosophie Kants
bloß für die reflectirende Urtheilskraft, mithin eine Maxime derselben, die ihr die Vernunft auferlegt.« (KU, AA V, 398) In Anbetracht der Zweckmäßigkeit der Natur ist diese von der Vernunft auferlegte Maxime der reflektierenden Urteilskraft unverzichtbar: »Wir können uns die Zweckmäßigkeit, die selbst unserer Erkenntniß der inneren Möglichkeit vieler Naturdinge zum Grunde gelegt werden muß, gar nicht anders denken und begreiflich machen, als indem wir sie und überhaupt die Welt uns als ein Product einer verständigen Ursache (eines Gottes) vorstellen.« (KU, AA V, 400) Dieser Satz ist dabei nicht etwa »objectiv-dogmatisch geltend«, denn immerhin beruht er »nur auf subjectiven Bedingungen, nämlich der unseren Erkenntnißvermögen angemessen reflectirenden Urtheilskraft« (KU, AA V, 399). Ebendiese Maxime ist dabei »dem menschlichen Geschlecht unnachlaßlich anhängend[]« (KU, AA V, 401). Zu dieser Betrachtung im Kontext der teleologisch-reflektierenden Urteilskraft merkt Kant zu Beginn von § 76 weiterhin an, dass sie »es gar sehr verdien[e,] in der Transscendentalphilosophie umständlich ausgeführt zu werden«; an dieser Stelle möge sie jedoch »nur episodisch zur Erläuterung (nicht zum Beweise des hier Vorgetragenen) eintreten.« (Ebd.) Auf diesem Argumentationsweg kommt Kant schließlich, in § 77, auf »die Idee von einem andern möglichen Verstande, als dem menschlichen« zu sprechen. Diese Idee müsse hier, bezüglich der in Rede stehenden Maxime einer verständigen Ursache der Welt, »zum Grunde liegen« (KU, AA V, 405). Mit Blick auf diesen »andere[n] (höhere[n]) Verstand, als de[m] menschliche[n]« (KU, AA V, 406) schreibt Kant: Es kommt hier also auf das Verhalten unseres Verstandes zur Urtheilskraft an, daß wir nämlich darin eine gewisse Zufälligkeit der Beschaffenheit des unsrigen aufsuchen, um diese als Eigenthümlichkeit unseres Verstandes zum Unterschiede von anderen möglichen anzumerken. (Ebd.)
Wie in 3.2.1 bereits dargestellt wurde, ist Diskursivität das in Rede stehende Spezifikum des menschlichen Verstandes. Dies bestätigt Kant hier nochmals: »Unser Verstand ist ein Vermögen der Begriffe, d. i. ein discursiver Verstand« (ebd.). Die »Spontaneität der Begriffe« (KrV, A 50/B 74) wird somit suspendiert und das essenzielle Charakteristikum von Verstandeserkenntnis, nämlich Spontaneität generell, auf die Unmittelbarkeit des Gegenstandsbezugs, d. h. auf die Anschauung, transferiert. Hierin besteht bereits genannte Radikalisierung des Anschauungsbegriffs in Richtung einer spontan produktiven Erkenntnisfunktion. Damit ergibt sich im Resultat »ein Vermögen einer völligen Spontaneität der Anschauung« (KU, AA V, 406): Dieses ideal angenommene Vermögen sei ein »von der Sinnlichkeit unterschiedenes und davon ganz unabhängiges Erkenntnißvermögen, mithin Verstand in der allgemeinsten Bedeutung«
›Intellectus archetypus‹
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(ebd.). Diese allgemeinste Bedeutung, d. h. ein Verstand im Sinne eines spontan-anschauenden Vermögens, fasst Kant an dieser Stelle explizit als »intuitiven Verstand« (ebd.). Dieser kann zumindest gedacht werden, jedoch bloß negativ, nämlich als nicht-diskursiver Verstand. Im Folgenden wird diese Konzeption ergänzend zunächst als »urbildliche[r]« (KU, AA V, 407) Verstand und weiterhin, wie bereits genannt, als »intellectus archetypus« (KU, AA V, 408) bezeichnet. Dies ist v. a. vor dem Hintergrund zu verstehen, dass dieser in seiner Spontaneität nicht-diskursive, damit unmittelbar anschauende Verstand von Kant auch als »Verstand in der allgemeinsten Bedeutung« (KU, AA V, 406; s. o.) aufgefasst wird. In dessen Sphäre liegt das einschränkende Spezifikum des menschlichen, ›abbildlichen‹ Verstandes (»intellectus ectypus«, KU, AA V, 408), nämlich Diskursivität, grundsätzlich nicht vor. Kant spricht hier auch von »der Zufälligkeit einer solchen Beschaffenheit« (ebd.). Damit wird nochmals betont, dass Diskursivität nicht etwa Verstand als solchen charakterisiert, sondern allein den menschlichen. Anschließend wird die hier ausgeführte Idee eines ›anderen‹, also intuitiven Verstandes mit demjenigen identifiziert, was in § 75 als subjektiver Grundsatz der teleologisch-reflektierenden Urteilskraft eingefordert wurde. Gerade in dieser Identifikation besteht der entscheidende konzeptionelle Schritt jener Passage der KU: Der urbildliche, archetypische Verstand wird, angesichts seiner anzunehmenden Funktion als »Weltursache«, auf diesem Weg zum ursprünglichen, architektonischen (vgl. KU, AA V, 410; 420). »[S]o ist es uns schlechterdings unmöglich, aus der Natur selbst hergenommene Erklärungsgründe für Zweckverbindungen zu schöpfen, und es ist nach der Beschaffenheit des menschlichen Erkenntnißvermögens nothwendig, den obersten Grund dazu in einem ursprünglichen Verstande als Weltursache zu suchen.« (KU, AA V, 410) Was Kant bereits in der KrV und zuvor thematisiert hatte, nämlich das Modell ›anderer Arten‹ von Erkenntnisvermögen als die menschlichen, wird in der KU somit systematisch ausgearbeitet und als notwendige subjektive Maxime in den teleologischen Diskussionskontext um die reflektierende Urteilskraft integriert. Dadurch erhält das Konzept eines intuitiven Verstandes, nun explizit als »Idee« (KU, AA V, 405; s. o.) gefasst, eine positive Funktion innerhalb der Systematik der teleologischen Urteilskraft, auch wenn es als solches noch immer weitgehend negativ auftritt. Sowohl was die Ausformulierung dieses Konzepts als auch seine Position innerhalb des transzendentalphilosophischen Theorierahmens betrifft, kann hier also durchaus von einem Kulminationspunkt gesprochen werden: Der Gedanke der ›anderen Arten‹, der immer wieder in Kants Schriften auftaucht, findet hier quasi seinen Abschluss. Eckart Förster setzt sich näher mit den inhaltlichen Bestimmungen des intuitiven Verstandes in den §§ 76 und 77 der KU auseinander. Dabei benennt
Maimons Verstandeskonzeption vor der Transzendentalphilosophie Kants
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er zwei Deutungsmöglichkeiten des Konzepts. Diese Deutungsoptionen lassen sich auf Grundlage der Darstellung Kants ausführen, und zwar »intuitive[r] Verstand als (a) ursprüngliche[r], selbstanschauende[r] Verstand (Grund aller Möglichkeiten); und (b) als synthetisch-allgemeine[r] Verstand«. 382 Parallel zu den zwei von Förster unterschiedenen Formen intellektueller Anschauung 383 gilt dabei hier für Form (a), sie gehe »zurück auf den Diskussionszusammenhang vorkritischer Physikotheologie«, während (b) »der kritischen Charakterisierung des menschlichen Verstandes« entspringe. 384 Gerade im Hinblick auf diese zweite Deutungsmöglichkeit lassen sich nun durchaus systematische Parallelen zwischen Maimons Konzeption eines unendlichen Verstandes im Versuch und Kants Modell des i. archetypus im Sinne eines intuitiven Verstandes feststellen, wenn auch klar umgrenzbar: Kants Konzept tritt hier als unveräußerliches Merkmal der spezifischen Einrichtung der menschlichen Erkenntnisvermögen auf, die in der teleologisch-reflektierenden Beurteilung der Natur auf diese Maxime angewiesen sind. – Dasjenige Maimons ist primär als ebenso unveräußerliches Strukturmoment des endlichen Verstandeswesens aufzufassen. In beiden Fällen wird die Konzeption dabei als »Idee« gefasst. Kant charakterisiert den intuitiven Verstand als »Vermögen einer völligen Spontaneität der Anschauung« (KU, AA V, 406; s. o.). – Maimon entwickelt das Theorem eines unendlichen, d. h. uneingeschränkt spontanen Verstandes gerade in der unmittelbaren Auseinandersetzung mit dem Problem einer nichtvollständigen Spontaneität intellektualer Erkenntnis. Sinnlichkeit als spezifisch rezeptive Erkenntnisfunktion soll dabei in beiden Modellen als suspendiert gedacht werden. Der epistemologische Dualismus wäre damit außer Kraft gesetzt. Förster, Die 25 Jahre (2018), 160. Damit bezieht sich Förster auf Kants Aussage, der intuitive Verstand gehe »vom Synthetisch-Allgemeinen (der Anschauung eines Ganzen als eines solchen) zum Besondern [. . .], d. i. vom Ganzen zu den Theilen«. Demgegenüber habe unser Verstand als diskursiver »die Eigenschaft, daß er in seinem Erkenntnisse [. . .] vom Analytisch-Allgemeinen (von Begriffen) zum Besondern (der gegebenen empirischen Anschauung) gehen muß« (KU, AA V, 407; vgl. auch Klingner, Kants Begriff einer intellektuellen Anschauung (2016), 626 f.). Zu den weiterführenden inhaltlichen Charakteristika dieses Modells eines intuitiven Verstandes in der Dialektik der teleologischen Urteilskraft, die hier nicht weiter vertieft werden sollen, vgl. Winegar, Kant on God’s Intuitive Understanding (2017). Winegar schreibt dort zum Aspekt verschiedener Modalitäten im Kontext von Kants moraltheologischem Gottesbegriff: »In § 76 [. . .] Kant contrasts the human being’s discursive understanding with the concept of an intuitive understanding and provocatively claims that an intuitive understanding would represent no distinction between possible things and actual things. [. . .] I will argue that attending to the relationship between § 76’s underlying argument and Kant’s views regarding the divine will promises to reconcile § 76’s modal claims with Kant’s moral concept of God.« (Ebd., 305 f.) Zusätzlich kommt dort Alexander G. Baumgartens Konzept eines intuitiven Verstandes zur Sprache; vgl. ebd., 307–316. 383 Vgl. Förster, Die 25 Jahre (2018), 159 f.; s. o., 3.2.1. 384 Förster, Die 25 Jahre (2018), 159. 382
›Intellectus archetypus‹
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Zur prozessualen konzeptionellen Entstehung der Theoreme Kants und Maimons lässt sich unterdessen Folgendes festhalten: Kant baut auf seinen verschiedenartigen bisherigen Ausführungen zu ›anderen Arten‹ von Erkenntnisvermögen auf und bringt diesen Gedankenkomplex in der KU zu seinem systematischen Kulminationspunkt. – Maimon greift die Entwicklung dieser Ausführungen in Kants Schaffensphase bis 1787 auf und integriert deren Kernpunkte in seine eigene Theoriebildung. Resultat ist das Konzept des unendlichen Verstandes. Auch hier wird also deutlich, inwieweit von einer teilweise vorliegenden Parallelität der Modelle gesprochen werden kann. Abseits dessen muss an dieser Stelle jedoch v. a. deren klare Differenz betont werden: Denn einerseits ist Kants Konzeption des i. archetypus fest im weitläufigen Theorierahmen der transzendentalphilosophischen Thematisierung teleologisch-reflektierender Urteilskraft verankert. Dieser Rahmen findet in Maimons Versuch hinsichtlich seiner Komplexität und seines Horizonts keinerlei adäquate Entsprechung. V. a. aus diesem Grund übernimmt der i. archetypus bei Kant eine gänzlich andersartige Funktion als der unendliche Verstand bei Maimon. Andererseits widerspricht der für Maimons Denken zentrale Aspekt von Gradualität und Approximation im Kontext seiner Intellektkonzeption der Position Kants insgesamt deutlich. Zudem verbleibt Maimons Verstandestheorem als »ursprünglich schaffendes Denken«, 385 wie dargestellt, in der Form des Begriffs. Dies gilt für Kants negatives Modell als explizit nicht-diskursiv so nicht. Qualitativ erscheinen diese Differenzen wesentlich signifikanter als die begrenzten Parallelen. Deshalb ist die zu Beginn des Kapitels angeführte, in der Forschung häufiger zu findende Kurzschaltung zwischen Kants Modell des i. archetypus und Maimons Verwendung der Idee eines unendlichen Verstandes klar zu problematisieren. Maimon erhält, wie in Kap. 2 angesprochen, 1790 auf Kants Veranlassung hin eines der Freiexemplare der KU (vgl. Br, AA XI, 179). Zu einer weiteren Kontaktaufnahme durch Kant kommt es nicht. Maimon verschickt dennoch weiterhin Briefe an Kant: So bedankt er sich im Mai 1790 – etwa ein Jahr, nachdem das Manuskript des Versuchs über Herz an Kant gelangt ist – für das Exemplar der KU (vgl. VI, 429–431/Br, AA XI, 174–176). Maimon habe »zwar noch nicht Zeit gehabt, dieses wichtige Werk durchzulesen, oder wie dies erforderlich ist, durchzudenken, sondern es erst blos durchblättern können« (VI, 429/Br, AA XI, 174). Allerdings erwähnt er unmittelbar in diesem Zusammenhang einen weiteren Autor der Zeit, der Maimons Aussage nach zum wichtigen Anstoßgeber für seine weiteren Überlegungen geworden ist, und zwar veranlasst durch die bislang nur flüchtige Lektüre der KU. Bei die385
Vgl. Anm. 316.
Maimons Verstandeskonzeption vor der Transzendentalphilosophie Kants
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sem Autor handelt es sich um den Mediziner und Biologen Johann Friedrich Blumenbach. Dieser wird in der KU selbst erwähnt (vgl. KU, AA V, 424) und gehört außerdem, neben Maimon u. a., zu denjenigen, die ein Freiexemplar der Schrift zugeschickt bekommen haben (vgl. Br, AA XI, 179; s. o.). Blumenbach hatte sich zuvor mit seiner Schrift Über den Bildungstrieb und das Zeugungsgeschäfte von 1781 (21789) 386 einen Namen gemacht. In der KU bezieht sich Kant auf dessen Unterscheidung von Bildungskraft und Bildungstrieb (vgl. KU, AA V, 424). Inwieweit Maimon dann später Blumenbachs naturwissenschaftliche Untersuchungen rezipiert, wird in Kap. 5 zu besprechen sein. Zunächst soll es hingegen um den Rückbezug der Intellektkonzeption Maimons auf dessen Akosmismusthese zur Philosophie Spinozas gehen. Dazu soll, als Übergang zu Kap. 4, nochmals Kants Spinozismusvorwurf gegen Maimon von 1789 in den Fokus genommen werden.
3.6 Revision: Kants Spinozismusvorwurf an Maimon
Dieser Vorwurf bezieht sich, wie bereits dargestellt, explizit auf Maimons Verstandeskonzeption: Indem Maimon den menschlichen Verstand als Teil des göttlichen und daher als anschauend annehme, sei seine Vorstellungsart mit dem Spinozismus einerlei, so Kants Vorwurf. In den daraufhin verfassten Anmerkungen zum Manuskript des Versuchs, die dessen im späteren Verlauf des Jahres publizierter Fassung angefügt sind, möchte sich Maimon gegen eine solche Missdeutung ein für alle Mal erklären. Endresultat des vorhergehenden Kap. 2 war nun die Annahme, dass Maimon diese Erklärung philosophisch durchaus ernst meint: Dementsprechend handelt es sich dort nicht bloß um eine vorgetäuschte Positionierung gegen die Philosophie Spinozas, um dem Verdikt des Spinozismus aus dem Weg zu gehen. Im Vergleich zu den frühen 1780er Jahren, in denen Maimon seine Stellung in der Berliner Haskala aufgrund jenes Verdikts letztlich verlor, hatte sich das Spinoza-Bild im deutschsprachigen Raum zu diesem Zeitpunkt, 1789, bereits deutlich verändert. Dies lag insbesondere am Spinoza-Streit zwischen Mendelssohn und Jacobi sowie u. a. auch an Johann Gottfried Herders Schrift Gott: Einige Gespräche von 1787 387 (HrSW XVI, 401–580). Zwar ist es einerseits unwahrscheinlich, dass sich dieser Wandel bereits maßgeblich auf die Einstellung der nach Mendelssohns Tod verbleibenden Hauptvertreter der Haskala auswirkte. Andererseits Die Zweitauflage ist erheblich erweitert und umgestaltet. Zum weitreichenden Aspekt der Spinoza-Rezeption Herders vgl. Forster, Herder and Spinoza (2012). 386 387
Revision: Kants Spinozismusvorwurf an Maimon
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erscheint es, wie ebenfalls bereits in Kap. 2 besprochen wurde, relativ unplausibel, dass sich Maimon in der Zeit bis 1789 bereits intensiver mit den aktuellen Entwicklungen des Diskurses um Spinoza auseinandersetzte, was sich ab 1790 dann jedoch änderte. Der politisch-philosophische Druck durch Kants Spinozismusvorwurf wird für Maimon trotzdem nicht so groß gewesen sein, dass sich dieser genötigt gefühlt haben könnte, eine Abkehr von Spinozas Denken bloß vorzutäuschen. 388 Dass eine solche Abkehr in Maimons Philosophie in der Tat stattgefunden habe, erscheint daher abermals plausibler. Und durchaus: Dass Maimon den von Kant vorgegebenen transzendentalphilosophischen Diskursrahmen prinzipiell verlassen und mit seiner Intellektkonzeption einen geradlinigen Restitutionsversuch vorkantisch-metaphysischer Ideen unternommen habe, lässt sich kaum sinnvoll behaupten. Vielmehr entwickelt er jene Konzeption primär in direkter kritischer Auseinandersetzung mit den Grundzügen der transzendentalen Elementarlehre. Kant wirft Maimon unterdessen vor, er gehe von Spinozas Theorie der mens humana als Teil des i. infinitus Dei aus. Damit nimmt Kant eine Gleichsetzung der Konzepte von unendlichem Verstand bei Maimon und i. infinitus bei Spinoza vor. Eine solche Gleichsetzung erscheint terminologisch zunächst zwar plausibel, liegt systematisch gesehen jedoch nicht vor. Insbesondere die in Abschnitt 3.3 vorgenommene Verhältnisbestimmung mit dem Ergebnis, die Idee eines unendlichen Verstandes sei in erster Linie aufzufassen als unveräußerliches Strukturmerkmal eingeschränkter Erkenntnis mit graduell variabler intellektualer Spontaneität, ist hier wichtig: Immerhin lässt sich dadurch verdeutlichen, inwieweit sich Maimons Position von Spinozas Intellekttheorie, die wiederum im weiteren Theorierahmen des Substanzmonismus steht, klar unterscheidet. 389 Ergebnis von Abschnitt 3.4 war, dass die Relation von unendlichem und endlichem Verstand bei Maimon nicht als diejenige von Urmonade und geschaffener Monade gemäß Leibniz verstanden werden kann. In noch höherem Maße gilt diese Divergenz nun für Maimons Konzeption im Vergleich zu Spinozas Theorie des Intellekts. Mit der Annahme eines graduellen Unterschieds intellektualer Vollständigkeit orientiert sich Maimon immerhin noch deutlich an Leibniz' Monadologie. Im Rahmen dieses Gradualitäts- und Approximationsmodells verschafft Maimon zusätzlich dem ebenfalls auf Leibniz zurückgehenden Aspekt des Infinitesimalen weitere epistemologische Geltung. Kant beispielsweise hält wenig später, in der Kritik der Urteilskraft, zwar am Atheismusvorwurf gegen Spinoza fest, nennt diesen aber immerhin einen »rechtschaffenen Mann« (KU, AA V, 452). Hierdurch wird abermals die beschriebene Veränderung des Spinoza-Bildes in den 1780er Jahren verdeutlicht, auch wenn Kant diesen Wandel nur stark begrenzt mitvollzog. 389 Vgl. Bonsiepen, Einsicht (2002), 393: »Unzureichend begründet ist sein [sc. Kants; D. E.] Vorwurf, Maimons Theorie des endlichen und unendlichen Verstandes bedeute Spinozismus.« 388
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Maimons Verstandeskonzeption vor der Transzendentalphilosophie Kants
Zumindest vor diesem klar eingegrenzten Hintergrund erscheinen Maimons eigene positive Bezugnahmen auf Leibniz im Versuch gerechtfertigt. Dennoch geht es Maimon letztlich nicht um positive substanzmetaphysische Aussagen im Sinne der pluralistischen Theorie Leibniz'. Maimons Distanzierung von Spinozas monistischer Metaphysik erscheint in diesem Kontext noch deutlicher: zum Ersten, da der endliche Intellekt dort bloß als Teil des unendlichen auftritt und damit auf mereologisch-ontologischer Ebene von diesem zu unterscheiden ist; zum Zweiten, da in dieser Metaphysik Substanz außerdem nicht gleichbedeutend mit Intellekt ist, sondern letzterem lediglich die Position eines Modus zukommt, was im Folgenden weiter zu besprechen sein wird. Gerade jene Konstellation der deutlichen Differenz zwischen der Intellektkonzeption Maimons und der Metaphysik Spinozas ist für den zentralen Gedanken der vorliegenden Untersuchung nun von besonderer Wichtigkeit: Denn in dieser Konstellation kann der eigentliche philosophische Grund dafür gefunden werden, einerseits wieso sich Maimon im Versuch systematisch von Spinozas Philosophie abwendet, andererseits warum er diese Philosophie wenige Jahre später als Akosmismus bezeichnen und dementsprechend mit dem ›Zurückschaudern vor dem Nichts‹ in Verbindung bringen wird. Im Folgenden soll daher vor diesem Hintergrund die direkte Zusammenführung von Akosmismusthese und Intellektkonzeption vorgenommen werden. Damit kann Maimons eigentümliche philosophische Position ›zwischen Spinoza und Kant‹ in jenem Kontext um Intellekt und Akosmismus weiterführend beleuchtet werden.
4 Rückbezug der Intellektkonzeption auf die Akosmismusthese
In Kap. 2, d. h. im Zuge der Erörterung von Maimons Spinoza-Rezeption während seiner Schaffensphase bis 1793 im zentralen Kontext des Akosmismusbegriffs, haben sich sukzessive verschiedene Fragestellungen ergeben. Zu deren Beantwortung ist die Besprechung der Intellektkonzeption Maimons in Kap. 3 notwendig gewesen. Diese Fragestellungen sollen daher nun zunächst aufgeführt und strukturiert angeordnet werden, um die Anwendung der Ergebnisse von Kap. 3 auf die in Kap. 2 entworfenen Themenfelder ermöglichen zu können. Unklar ist bisher v. a. der eigentliche philosophische Hintergrund und Gehalt des Akosmismusvorwurfs geblieben: So steht noch immer zur Debatte, wieso Maimon den Substanzmonismus Spinozas, laut dem der Vielheit der Modi dieser Substanz lediglich ein akzidentielles Dasein zukommt, als Theorie des Nicht-daseins der Welt versteht. Gerade angesichts der Verknüpfung der Akosmismusthese mit dem Diktum vom ›Zurückschaudern vor dem Nichts‹ manifestiert sich in dieser Haltung Maimons gegenüber der Theorie Spinozas eine schwerwiegendere philosophische Problematik. Diese geht wesentlich über den Aspekt der Substanzialität der Einheit sowie der Auffassung der Vielheit als bloßer Modi dieses Einen hinaus. Dass die Akosmismuszuschreibung durchaus als klare Distanzierung von Spinozas System zu verstehen ist und erst vor dem Hintergrund der spezifischen Intellektkonzeption Maimons sinnvoll erschlossen werden kann, war bislang bloß eine vorläufige Arbeitshypothese. Dies ist im Folgenden argumentativ zu stützen. Zunächst soll daher, in Abschnitt 4.1, die Verortung des intellectus innerhalb der Systematik der Philosophie Spinozas skizziert werden. Im Resultat wird sich ergeben, inwieweit sich Maimons Modell der Idee eines unendlichen Verstandes prinzipiell von Spinozas i. infinitus unterscheidet und inwieweit damit auch eine generelle Differenz zwischen den Philosophien Spinozas und Maimons festzustellen ist. Dabei soll v. a. deutlich werden, in welcher Hinsicht Maimons eigenes Verstandestheorem in seiner spezifischen Funktion und Position letztlich als rekonstruierbare, eigentliche philosophische Grundlage für die Auffassung von Spinozismus als Akosmismus gesehen werden kann. In 4.2 ist demgegenüber auf Basis aktueller Forschungspositionen zu diskutieren, inwieweit und unter welchen Bedingungen Maimons Spinoza-Lesart als plausibel gelten kann. Auch allgemeine, durchaus signifikante Schwächen in Maimons Spinoza-Verständnis sollen dabei zur Sprache kommen. Da-
Rückbezug der Intellektkonzeption auf die Akosmismusthese
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durch lässt sich die infrage stehende Plausibilität weiterführend anzweifeln. Abschnitt 4.3 bietet die Gelegenheit, verschiedene weitere, hiermit unmittelbar zusammenhängende Themenfelder und offengebliebene Fragestellungen zu revidieren bzw. versuchsweise zu beantworten. Damit soll ein resümierender Überblick über Maimons Verhältnis zur Philosophie Spinozas sowie zum Diskurs über diese Philosophie in den 1780er Jahren gegeben werden.
4.1 Rekonstruktion: Maimons Positionierung gegen Spinozas Philosophie 4.1.1 Verortung des intellectus innerhalb der Grundstruktur der Metaphysik Spinozas
An dieser Stelle kann selbstverständlich keine umfassende, tiefgreifende Untersuchung der Philosophie Spinozas vorgelegt werden. Vielmehr ist das Ziel, fokussiert, skizzenhaft und unter Rückgriff auf aktuelle Beiträge der Spinoza-Forschung auf die Position von i. infinitus und i. finitus innerhalb der strukturellen Grundzüge dieses Systems einzugehen, um anhand dessen den hauptsächlichen Abgrenzungspunkt Maimons von Spinozas Metaphysik rekonstruieren und klar benennen zu können. In der ›vertikal‹ 390 ausgerichteten Struktur von Substanz, Attributen und Modi ist der intellectus innerhalb der Sphäre der letzteren zu lokalisieren: Die cogitatio, das Denken, stellt neben der extensio, der Ausdehnung, eines der unendlich vielen 391 Attribute der einen Substanz, ihrerseits causa sui, 392 dar (vgl. E II, prop. 1 & seq.). Der intellectus ist als solcher Modus der Substanz unter dem Attribut der cogitatio, nicht etwa dieses Attribut selbst. 393 Attribute können dabei am ehesten, wie v. a. von Gilles Deleuze und später von Yitzhak Melamed dargestellt, als Ausdrucksarten 394 der Substanz verstanden werden, Dies dient hier lediglich als Behelf zur Rekonstruktion dieser Theorie und ist nicht etwa in dem Sinne zu verstehen, bei Spinozas Metaphysik handelte es sich um eine Emanationslehre, an deren Spitze dann die Substanz stünde. 391 Vgl. E I, def. 6; prop. 10, schol.; prop. 11; hierzu, auch bezüglich der Frage nach den daher ›unbekannten‹ Attributen, Melamed, The Building Blocks (2018), 84; 97; 99; ders., Rise of Spinozism (2004), 77 (Anm. 36). 392 Vgl. E I, def. 1; Melamed, The Building Blocks (2018), 89. 393 Vgl. E I, prop. 31, dem.: »Per intellectum enim [. . .] non intelligimus absolutam Cogitationem, sed certum tantum modum cogitandi« (»Unter Verstand verstehen wir nämlich [. . .] nicht [das Attribut] unbedingtes Denken, sondern lediglich einen gewissen Modus des Denkens«). 394 Vgl. E I, def. 6: »[. . .] substantia[] constan[s] infinitis attributis, quorum unumquodque aeternam et infinitam essentiam exprimit.« (»[. . .] eine Substanz, die aus unendlich vielen Attributen besteht, von denen jedes eine ewige und unendliche Essenz ausdrückt.«) Ausgehend von dieser 390
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oder auch als »explications«, Ausführungsformen, ›Aspekte‹ derselben. 395 Für diese Aspekte gilt, dass sie die Essenz der Substanz, d. h. zugleich die natura divina, selbst sind, während die Modi als propria Gottes 396 notwendig aus dieser Essenz folgen: »For Spinoza, modes are God's propria, i. e. properties, which follow necessarily from the essence of a thing. [. . .] The attributes do not follow from God's nature or essence; they are God's nature.« 397 Dabei können Modi, d. h. dasjenige, was der Substanz im Sinne ihrer prädizierten Eigenschaften inhäriert, 398 auch als zum Teil lokal und zeitlich spezifizierte Eigenschaften der Substanz verstanden werden. Für Attribute gilt diese Spezifikation nicht. 399 Systematisch entscheidend ist an dieser Stelle die Grenzziehung zwischen natura naturans und natura naturata, 400 die auf der Unterscheidung von Substanz sowie Attributen als Essenz Gottes einerseits 401 und von Modi als notwendigen Folgen dieser Essenz andererseits basiert. Substanz wird dabei zugleich in ihrer Bedeutung als dasjenige, ›was in sich selbst ist und durch sich selbst begriffen wird‹ (vgl. E I, def. 3), sowie als causa libera (vgl. E I, prop. 17, coroll. 2) gefasst: Nam ex antecedentibus jam constare existimo, nempe quod per Naturam naturantem nobis intelligendum est id, quod in se est et per se concipitur, sive talia substantiae attributa, quae aeternam et infinitam essentiam exprimunt, hoc est [. . .] Deus, quatenus ut causa libera consideratur. Per [Naturam] naturatam autem intelligo id omne, quod ex necessitate Dei naturae sive uniuscujusque Dei attributorum sequitur, hoc est omnes Dei attributorum modos, quatenus Definition nimmt Deleuze (Spinoza (1968)) eine ausführliche Untersuchung der Ausdrucksthematik bei Spinoza vor, sowohl bezüglich der Attribute, als auch darüber hinausgehend; vgl. u. a. ebd., 9 f.: »La nature expressive des attributs apparaît alors comme un thème fondamental dans le premier livre de l’Éthique. Le mode, à son tour, est expressif [. . .]. En premier lieu, la substance s’exprime dans ses attributs, et chaque attribut exprime une essence. Mais, en second lieu, les attributs s’expriment à leur tour: ils s’expriment dans les modes qui en dépendent, et chaque mode exprime une modification.« 395 Vgl. Melamed, Spinoza’s Metaphysics (2013), XIX; Melamed, The Building Blocks (2018), 102; E II, prop 7, schol. 396 Vgl. E I, prop. 11: »Deus sive substantia« (»Gott, anders formuliert eine Substanz«). 397 Melamed, The Building Blocks (2018), 107 f.; vgl. ebd., 96; 109; ders., Spinoza’s Metaphysics (2013), 50; E I, prop. 16. 398 Vgl. v. a. Melamed, Spinoza’s Metaphysics (2013), 49. 399 Vgl. ebd., 31 f.: »[M]odes are local, or temporally specified, properties, whereas attributes are essential properties that have no relation to time.« Zu Raum als infinitem Modus unter dem Attribut der extensio vgl. ebd., 59 (Anm. 197). 400 Vgl. u. a. ebd., 50. 401 Zur Realunterscheidung der Substanz von ihren Attributen vgl. weiterführend Melamed, The Building Blocks (2018), 101 f.
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consideratur et res, quae in Deo sunt et quae sine Deo nec esse nec concipi possunt. Denn meines Erachtens ergibt sich bereits aus dem Vorangehenden, dass wir unter Natura naturans zu verstehen haben, was in sich selbst ist und durch sich selbst begriffen wird, also solche Attribute von Substanz, die eine ewige und unendliche Essenz ausdrücken, d. h. [. . .] Gott, insofern er als freie Ursache angesehen wird. Unter Natura naturata verstehe ich dagegen all das, was aus der Notwendigkeit der Natur Gottes oder vielmehr der Natur irgendeines seiner Attribute folgt, d. h. alle Modi der Attribute Gottes, insofern sie als Dinge angesehen werden, die in Gott sind und ohne Gott weder sein noch begriffen werden können. (E I, prop. 29, schol.; Hervorhebungen: D. E.)
Melamed verdeutlicht die Unterscheidung 402 von Substanz sowie Attributen als n. naturans und Modi als n. naturata u. a. anhand der prinzipiellen Frage nach Teilbarkeit: »Notice [. . .], that Spinoza never claims that anything is part of God. Spinoza's substance and attributes are strictly indivisible [. . .], and for him the part-whole relation obtains only between modes.« 403 – N. naturans »simply has no parts.« 404 Hinsichtlich der Teilbarkeit der Modi wird nun die von Melamed ausführlich erarbeitete Differenz zwischen finiten und infiniten Modi relevant. Dabei betont Melamed, dass die Theorie unendlicher Modi wahrscheinlich die einzige Konzeption Spinozas sei, die kein Äquivalent bei seinen Vorgängern oder Zeitgenossen habe. 405 Als Hauptdiskussion dieser Thematik wird E I, prop. 21–23 angegeben: 406 »Finite modes are just parts of certain infinite totalities that Spinoza calls ›infinite modes.‹ These infinite modes, as opposed to the substance and attributes, are divisible.« 407 Dabei gilt für jeden endlichen Zum Aspekt der hier relevanten Differenz von Ewigkeit und Dauer, v. a. mit Blick auf Ep. XII, vgl. Melamed, The Building Blocks (2018), 104 f.; ders., Spinoza’s Metaphysics (2013), 110; allgemein hierzu Jaquet, Eternity (2018). 403 Melamed, The Building Blocks (2018), 105; vgl. ders., Rise of Spinozism (2004), 82 (Anm. 56); E I, prop. 12 & seq. 404 Melamed, Spinoza’s Metaphysics (2013), 129. 405 Vgl. ebd., 113–136, hier v. a. 113. Dort wird auch die Differenz von unmittelbaren und mittelbaren unendlichen Modi sowie ihre eindimensionale, unendliche Verkettung nach absteigender Vollkommenheit besprochen, was hier nicht weiter thematisiert werden kann. 406 Vgl. ebd., 115; ders., The Building Blocks (2018), 109; E I, prop. 21: »Omnia, quae ex absoluta natura alicujus attributi Dei sequuntur, semper et infinita existere debuerunt, sive per idem attributum aeterna et infinita sunt.« (»Alles, was aus der unbedingten Natur irgendeines Attributes Gottes folgt, hat immer existieren und unendlich sein müssen, anders formuliert, ist durch ebendieses Attribut ewig und unendlich.«) Da Ewigkeit hier nicht im Sinne von Atemporalität verstanden werden kann, die bloß Substanz und Attribute betrifft, ist an dieser Stelle vielmehr von ewiger Dauer auszugehen; vgl. Melamed, Spinoza’s Metaphysics (2013), 110; 122–126. Damit bleiben auch infinite Modi temporal spezifiziert. 407 Ebd., 35; vgl. ders., The Building Blocks (2018), 110. 402
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Modus, er sei Teil eines unendlichen, der seinerseits wiederum der Substanz unter einem bestimmten Attribut inhäriere. 408 Spinoza definiert intellectus nun, wie gesagt, explizit als Modus 409 und lokalisiert ihn damit innerhalb der Sphäre der teilbaren n. naturata. Auf dieser Grundlage lässt sich auch das Verhältnis von i. infinitus und i. finitus klar bestimmen. Beide Formen werden in E I, prop. 31 explizit genannt 410 und hinsichtlich ihrer Zuordnung zur n. naturata einander gleichgesetzt. Im bereits zitierten Passus in E II, prop. 11, coroll. (s. o., Abschnitt 2.4) wird die mens humana als Teil des i. infinitus Dei definiert. In Melameds Umschreibung: »Thus, for example, the human mind (a finite mode) is part of God's infinite intellect (an infinite mode).« 411 Unter Berücksichtigung der in diesen Passagen der Ethik dargestellten Konstellationen erscheint es nun plausibel, die mens humana als konkrete Manifestationsform des i. finitus aufzufassen, d. h. den i. finitus als mens humana in ihrer intellektualen Tätigkeit: Der an sich endliche menschliche Geist ist in diesem Sinne qua intellectio Teil des i. infinitus Dei und damit zugleich explizit ewig. 412 Anders gewendet: Die aufgrund dieser Teilhaberelation zwar ewigen, per se jedoch nicht infiniten Modi menschlicher Geister konstituieren, in ihrer Vielheit, als Teile das Ganze des i. infinitus. So erklärt Spinoza im fünften Teil der Ethik, unter Rekurs auf E I, prop. 21 (s. o.) als Kerndarstellung des Theorems infiniter Modi: [E]x quibus et simul ex prop. 21. p. 1. et aliis apparet, quod mens nostra, quatenus intelligit, aeternus cogitandi modus sit, qui alio aeterno cogitandi modo determinatur, et hic iterum ab alio, et sic in infinitum; ita ut omnes simul Dei aeternum et infinitum intellectum constituant. Hieraus – und zugleich aus Lehrsatz 21 des 1. Teils und aus anderem – ist deutlich, dass unser Geist, insofern er einsieht, ein ewiger Modus des Denkens ist, der von einem anderen ewigen Modus des Denkens bestimmt wird, und dieser wiederum von einem anderen und so ins Unendliche, so dass alle zusammen Gottes ewigen und unendlichen Verstand ausmachen. (E V, prop. 40, schol.; Hervorhebung: D. E.) 413 Vgl. Melamed, Spinoza’s Metaphysics (2013), 102. Vgl. Anm. 393. 410 »Intellectus actu, sive is finitus sive infinitus« (»Der wirkliche Verstand, mag er endlich oder unendlich sein«). 411 Melamed, The Building Blocks (2018), 110. 412 Vgl. E V, prop. 40, coroll.: »Nam pars mentis aeterna [. . .] est intellectus, per quem solum nos agere dicimur« (»Denn der ewige Teil des Geistes ist [. . .] der Verstand, durch den allein sich von uns sagen lässt, dass wir aktiv sind«). 413 Zur unendlichen Determinationsverkettung endlicher Entitäten, d. h. Modi, qua Kausalrelation vgl. E I, prop. 28; Della Rocca, Rationalism, Idealism (2012), 13. 408
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Damit besteht bei Spinoza eine totum-pars-Relation zwischen i. infinitus und i. finitus, wie hier v. a. anhand von Melameds aktuellen Ausführungen zur Charakteristik der infiniten Modi nachgezeichnet werden konnte: Der endliche Intellekt, beispielsweise in Manifestationsform des menschlichen Geistes, ist Teil des unendlichen Intellekts, der seinerseits eine immerwährende, damit temporale Modifikation der Substanz unter dem Attribut des Denkens darstellt. Die vermeintliche Annahme eines ebensolchen Teilhabeverhältnisses ist nun der konkrete Grund für Kants Spinozismusvorwurf an Maimon. Dass dieser Vorwurf aufgrund der prinzipiell andersartigen Ausrichtung von Maimons Intellektkonzeption verfehlt sei, wurde am Ende von Kap. 3 bereits angesprochen. Inwieweit gerade durch diese grundlegende Differenz der Intellektkonzeptionen zusätzlich auch Maimons Akosmismusvorwurf an die Philosophie Spinozas inhaltlich erschlossen werden kann, soll im Folgenden erörtert werden.
4.1.2 Hintergrund des Akosmismusvorwurfs: Der Intellekt als zentraler Perspektivpunkt der Philosophie Maimons
Als methodische Problematik muss an dieser Stelle zunächst Folgendes benannt werden: Auf den ersten Blick scheint es kaum möglich zu sein, Maimons Versuch über die Transzendentalphilosophie als systematisch motivierte Distanzierung von Spinozas Ethik auszulegen; hinsichtlich ihrer Motivation, Themenstellung und Zielsetzung unterscheiden sich die beiden Schriften grundlegend. Maimons Programmatik ist keineswegs eine substanzmetaphysische, weshalb er zunächst in einem gänzlich anderen Diskursrahmen steht als Spinoza: Die zentralen transzendentalphilosophischen Problemdispositionen und Fragestellungen, mit denen sich Maimon in der Nachfolge Kants auseinandersetzt, lassen sich nicht ohne Weiteres auf die Diskussion um Spinozas Theorie der Substanz projizieren und anwenden. In Maimons eigenständig konzipiertem Intellektmodell zeigt sich jedoch eine vermittelnde Schnittstelle der divergenten Diskursfelder, wie im Folgenden dargestellt werden soll. Auf Basis dieser Schnittstelle wird nachvollziehbar, einerseits inwieweit sich Maimon diesbezüglich von der Position Spinozas abgrenzt und Kants Spinozismusvorwurf in der Folge als »Mißdeutung[]« (VT, 198; s. o.) abzuwehren versucht, andererseits wieso er Spinozas Philosophie wenig später als Akosmismus charakterisieren wird. Maimons Theorem der Idee eines unendlichen Verstandes kann, wie beschrieben, primär dahingehend aufgefasst werden, dass diese Idee ein unveräußerliches Strukturmerkmal des menschlichen, per se endlichen intellektualen Erkenntnissubjekts darstellt. Dieses Subjekt orientiert sich in seiner pro-
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gressiven, approximierenden Vervollständigungsdynamik an dieser Idee, ja ist überhaupt erst auf Basis der nie zum Stillstand kommenden Approximationsbewegung in der Lage, diese Idee zu bilden. Dies unterscheidet sich strukturell deutlich von Spinozas substanzmetaphysisch kontextualisierter Theorie des i. finitus als Teil des Ganzen eines i. infinitus. Gerade in dieser Hinsicht ist die in der Forschung oft betonte vermeintliche Nähe der Philosophie Maimons zu derjenigen Spinozas, aktuell v. a. bei Melamed und Carlos Fraenkel, 414 lange zuvor jedoch schon bei Richard Kroner, 415 grundsätzlich zu problematisieren: Ebenso wie Maimons Theorem des unendlichen Verstandes nicht kurzerhand mit Kants Modell eines i. archetypus gleichgesetzt werden kann (s. o., Abschnitt 3.5), muss auch prinzipiell unterschieden werden zwischen jenem Theorem Maimons und Spinozas Konzept des i. infinitus, trotz der klaren terminologischen Verwandtschaft. Die Notwendigkeit der letztgenannten Differenzierung nicht hinreichend beachtet zu haben, ist der Hauptgrund für Kants fehlerhafte Einschätzung der Position Maimons, die dieser dann unter weiterer Explikation seines Verstandestheorems als Missdeutung zurückweisen wird (vgl. VT, 197–199). Diese Differenz ist dabei sogar noch deutlicher als erstgenannte: Denn immerhin dürfte sich Maimon, wie in Kap. 3 dargestellt, in der Konstituierung seiner eigenen Verstandeskonzeption durchaus klar an Kants Überlegungen zu besagten ›anderen Arten‹ von Erkenntnisvermögen orientiert haben. Dies gilt v. a. für den anschauenden Verstand in der B-Deduktion, auch wenn schließlich der teleologische Kontextrahmen des i. archetypus keine adäquate Entsprechung in Maimons transzendentalphilosophischem Ansatz findet. Die Differenz zwischen Maimons unendlichem Verstand und Spinozas i. infinitus ist nochmals deutlicher, schon wegen des Unterschieds ihrer grundlegenden systematischen und argumentativen Rahmenbedingungen. In Maimons Philosophie kommt es dabei zu einer prinzipiellen Zentrierung des Intellekts hinsichtlich Funktion und Signifikanz: Intellektualität als grundsätzliche epistemische Spontaneität wird von Maimon gewissermaßen als Leitwert und thematische Konstante philosophischer Reflexion begriffen. Der Intellekt wird damit zum zentralen Perspektivpunkt der Philosophie Maimons. Dies ist zwar nicht etwa im Sinne eines substanzontologischen Theorems der Identifikation von Substanz und Intellekt zu verstehen, womit Maimon in direkte Opposition zu Spinoza träte. Allerdings zeigt sich in besagter Zentrierung Vgl. Anm. 15 f. Samuel Atlas hat demgegenüber bereits explizit auf die wesentlichen Differenzen zwischen den Positionen Spinozas und Maimons hingewiesen, mit Blick auf den hier fokussierten Aspekt der Verstandeskonzeptionen; vgl. ders., Maimon and Spinoza (1959), v. a. 285; s. o., Anm. 14. 415 Vgl. Anm. 6 f. 414
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doch letztlich eine Alternativposition zu Spinozas Substanzmonismus, in dem intellectus Modus ist. Dies ist für die Akosmismusthematik von besonderem Interesse: Wie in Kap. 2 dargestellt wurde, ist die Theorie der Substanzialität des Einen und der Akzidenzialität der Vielheit keineswegs hinreichend, die Metaphysik Spinozas dahingehend auszulegen, sie behaupte oder impliziere tatsächlich das Nicht-dasein der Sphäre dieses Vielen in seiner Gesamtheit, also des Kosmos. Die multiplen Entitäten dieses Kosmos, d. h. die Modifikationen der Substanz, werden Maimons Spinoza-Lesart gemäß zwar als Einschränkungen dieser Substanz vorgestellt, damit als bloße Negativa (vgl. IV, 62 f.; s. o., 2.2.1). Dadurch lässt sich dennoch nicht vergegenwärtigen, inwieweit laut dieser Theorie vermeintlich ›keine Welt da ist‹: Immerhin behalten die Modi der Substanz ihr Charakteristikum als im weitesten Sinne daseiend. Denn selbst wenn diese Modi die Substanz lediglich einschränken, so ist, simpel gesprochen, die Substanz als das Eine auch als Eingeschränktes noch immer da, 416 ebenso diese Einschränkungen selbst. All dies legt nahe, dass es Maimon in seiner Bestimmung der Philosophie Spinozas als Akosmismus um eine letztlich andersartige, tieferliegende philosophische Problematik geht. Dies erscheint umso deutlicher, wenn in Betracht gezogen wird, dass die Akosmismusthese systematisch sinnvoll mit dem Diktum vom ›Zurückschaudern vor dem Nichts‹ in Verbindung gebracht werden kann. Wenn die bisher erzielten Ergebnisse der Erörterungen zu Maimons Verstandeskonzeption hiermit verknüpft werden, lässt sich diese Problematik durchaus rekonstruktiv erschließen: Von entscheidender Relevanz ist die o. g. Position des Intellekts als zentraler Perspektivpunkt in Maimons Denken. Dies steht also im anscheinenden Konflikt sowie Widerspruch mit bzw. zu Spinozas Verortung des Intellekts innerhalb der Sphäre der Modi der Substanz, also der passivisch konnotierten 417 n. naturata. Der Intellekt, ob nun als i. infinitus oder i. finitus, erhält bei Spinoza damit gewissermaßen einen Ort ›außerhalb‹ des eigentlich Substanzialen – und zwar in dem Sinne, dass intellectus lediglich ein der Substanz, also der aktivisch konnotierten 418 n. naturans, inhärierender Modus ist und nicht sie selbst. Interessanterweise wendet Maimon den Grundgedanken dieses Arguments anderenorts und in einem andersartigen Zusammenhang, nämlich in der Progressen-Schrift in Bezug auf Parmenides, selbst an. Dies setzt er jedoch nicht in den Kontext der Akosmismusthematik: »Da nun das Reelle in allen wirklichen Dingen einerley ist, und sie nur durch die Grade der Einschränkung von einander verschieden seyn können, so muß alles Wirkliche eins und eben dasselbe seyn.« (IV, 55). 417 Vgl. Curley, Spinoza’s Metaphysics (1969), 19. Zur Problematik der Folgerung Curleys, die n. naturata sei daher zwar verursacht durch Gott, sei aber nicht Gott, vgl. Melamed, Spinoza’s Metaphysics (2013), 17–20, hier 20: »Thus, if pantheism is the view that identifies God with nature (i. e., with all aspects of nature), Spinoza is a pantheist.« 418 Vgl. Curley, Spinoza’s Metaphysics (1969), 19. 416
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Aus Maimons Perspektive bleibt die Substanz bei Spinoza damit unbestimmt, primär nämlich in dem Sinne, dass Substanz qua Substanzialität nicht Intellekt ist. Gerade Intellektualität ist für Maimon jedoch mit eigentlicher Produktivität konnotiert: Der hypothetisch ideal angenommene unendliche Verstand produziert, was er versteht, und versteht, was er produziert. Ein solcher Status gänzlicher intellektualer Spontaneität im Sinne reiner Produktivität ist für das endliche menschliche Erkenntnissubjekt dabei nicht faktisch erreichbar, sondern lediglich approximierbarer, idealer Zielwert. Eine tatsächliche Auflösung der Welt des Gegenständlichen in reine intellektuale Produktion bleibt für Maimon damit ausgeschlossen, wie im späteren Verlauf dieses Kapitels weiter gezeigt werden soll. Ausgehend von der beschriebenen prinzipiellen Zentrierung des Intellekts in der Philosophie Maimons behält die Konnotation von Intellektualität mit Produktivität jedoch ihre Gültigkeit und Signifikanz. Nun wird Maimon in seiner Auseinandersetzung mit der Metaphysik Spinozas allerdings mit einer per se nicht-intellektualen, ganz ursprünglich produktiven potentia konfrontiert: Gott, also Substanz, ist dem Wesen nach bewirkende Macht, und zwar bewirkend im Sinne der Verursachung seiner selbst und damit zugleich aller Dinge: Dei potentia est ipsa ipsius essentia. Demonstratio. Ex sola enim necessitate Dei essentiae sequitur Deum esse causam sui [. . .] et [. . .] omnium rerum. Ergo potentia Dei, qua ipse et omnia sunt et agunt, est ipsia essentia. Q.e.d. Gottes Macht ist genau seine Essenz. Beweis: Aus der bloßen Notwendigkeit der Essenz Gottes folgt nämlich, dass Gott die Ursache seiner selbst [. . .] und [. . .] aller Dinge ist. Folglich ist Gottes Macht, durch die er und alles ist und handelt, genau seine Essenz. W.z.b.w. (E I, prop. 34 & dem.)
Dies fügt sich entsprechend in den Kontext der Substanz als klar aktivisch konnotierte n. naturans ein. Gott als Substanz ist somit ursprünglich produktive Kraft, die sich qua Attributen wirkursächlich als Welt zum Ausdruck bringt. Ein solches Grundkonzept nicht-intellektualer, dennoch produktiver potentia ist nun für Maimon – eben aufgrund der beschriebenen, von ihm vertretenen philosophischen Zentralität des Intellekts – gänzlich untragbar, nicht sinnvoll erfassbar und damit gewissermaßen unerträglich. In Maimons Blick auf die Metaphysik Spinozas verbleibt deren Substanz im Dunkel: Die Substanz kann im von Spinoza beabsichtigten Sinne, so Maimons unterschwellige, rekonstruierbare Haltung zu jener Metaphysik, letztlich schlicht nicht sein. Was sich in dieser Haltung somit ausspricht, ist geradezu ein irrationales Irregehen Maimons an Spinozas Philosophie. In Maimons Auffassung dieser Philosophie entschwindet deren Substanz, konzeptionell für ihn nicht greifbar, im Nichts. Dies gilt
Rückbezug der Intellektkonzeption auf die Akosmismusthese
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dann auch für den Kosmos, d. h. für das Gesamte der Vielheit der Modi, die dieser Substanz inhärieren. Somit erscheint Spinozas Philosophie für Maimon als Akosmismus. Gemäß dieser Rekonstruktion geht Maimon dabei nicht etwa davon aus, Spinoza beabsichtige tatsächlich die Behauptung dieses Akosmismus. Vielmehr ist es erst die philosophische Perspektive Maimons, von der aus sich Spinoza dieser Vorwurf machen lässt. Dass besagtes Irregehen, damit auch die Akosmismuszuschreibung als solche, keineswegs als adäquate Rezeption der Philosophie Spinozas gelten kann, wird sich im Folgenden zeigen. Auf diesem Weg wird zunächst jedoch nachvollziehbar, warum Maimon während seiner eigenen ›Spinozismuszeit‹ zu Beginn der 1780er Jahre im Gespräch mit Marcus Herz eine so verwunderliche Metaphorik wählt, um seinem ›unphilosophischen‹ Gesprächspartner die Metaphysik Spinozas verständlich zu machen. Dies wurde bereits in 2.2.1 thematisiert: Substanz wird in Maimons Metapher als Sonnenlicht, Fenster werden als Attribute und Lichtformen als Modi umschrieben, so die spätere Nacherzählung in der Lebensgeschichte (vgl. I, 465 f.; s. o.). Dabei erschiene es wie gesagt naheliegend, den Grundgedanken von Spinozas Monismus durch die Aufforderung zu illustrieren, die Wände niederzureißen. Stattdessen fordert Maimon Herz auf, die Fensterläden zu schließen, womit alles unterschiedslos Dunkel wäre. Hierin spricht sich also möglicherweise bereits Maimons – zum erzählten Zeitpunkt noch untergründig schwelendes – philosophisches Unbehagen im Umgang mit Spinozas Theorie aus: In seinem metaphorischen Gedankenexperiment zwecks Demonstration der Grundzüge dieses Theorems operiert er nicht etwa mit Einheit als Licht, sondern mit Einheit als Dunkel. Indem im Experiment also vom hypothetischen Nicht-dasein der Substanz ausgegangen wird, dem dann auch das Nichtdasein der Modi folgen müsste, zeigt sich dort bereits eine frühe Antizipation der späteren Akosmismusthese. Auf diesem Weg lässt sich also die mögliche systematische Verknüpfung zwischen früher Lichtmetaphorik und späterem Akosmismusvorwurf herstellen. Yitzhak Melamed sieht den von Maimon angenommenen Akosmismus Spinozas darin, dass gemäß dessen Metaphysik die multiplen Entitäten des Kosmos bloß ›Illusionen‹ seien. 419 Samuel Atlas macht zuvor hingegen eine bloß ›phänomenalistische‹ Ausrichtung dieser Metaphysik dafür verantwortlich. 420 Melameds Auslegung weist mit ihrer größeren Radikalität dabei in die deutlich plausiblere Richtung. Dem ist jedoch hinzuzufügen, dass selbst der Illusionsstatus zu hoch angesetzt zu sein scheint, da der eigentliche Kernpunkt Vgl. Melamed, Rise of Spinozism (2004), 76; 92 (Anm. 91); 93. Vgl. Atlas, Maimon and Spinoza (1959), v. a. 259: »Now Maimon’s definition of Spinozism as acosmism seems to be grounded in the conception of Spinozism as a sort of phenomenalism.« 419
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der Thematik auch dadurch nicht vollends erfasst werden kann: Denn indem Maimon Spinozas Philosophie als Akosmismus klassifiziert und in Anbetracht dieser Philosophie zugleich ›vor dem Nichts zurückschaudert‹, drückt sich hierin immer noch mehr aus als ein bloßes Herabsetzen der Vielheit der Entitäten des Kosmos zu Illusionen. Aufgrund der deutlichen Diskrepanz der Theoreme Spinozas und Maimons hinsichtlich der darin jeweils manifestierten Positionen des Intellekts sieht sich letzterer, für den Intellekt prinzipiell zentral bleibt, im Umgang mit der Philosophie des ersteren mit einer massiven Problematik konfrontiert: Wie beschrieben, ist die Behauptung einer an sich nichtintellektualen, ursprünglichen potentia, die die Welt bewirken soll, für Maimon philosophisch untragbar. Spinozas Substanz wird aus Maimons Perspektive somit nichtig, und damit auch der Kosmos der inhärierenden Vielheit; daher sei Spinozas System »das akosmische« (I, 154). Resümierend kann folgende Dynamik in Maimons Haltung zu Spinozas Philosophie skizzenhaft nachgezeichnet werden: Auch wenn er den Substanzmonismus Spinozas zu Beginn der 1780er Jahre noch selbst vertritt und darüber in Konflikt mit den Vertretern der Berliner Haskala gerät, zeigt sich hier bereits ein unterschwelliges philosophisches Unbehagen angesichts der Grundzüge dieses Monismus. Diese schwelende, zunächst jedoch noch nicht weiter ausgeführte Diskrepanz zwischen Spinozas Denken und Maimons gerade im Entstehen begriffener, eigener Position des Intellekts als zentralem philosophischem Perspektivpunkt 421 ist dann einer der entscheidenden Motivationsgründe für Maimons weiteres Schaffen: Davon ausgehend konturiert und erarbeitet er zwischen 1787 und 1789, im Zuge der Abfassung des Versuchs, seine eigene Intellektkonzeption. Diese Konzeption soll einerseits besagte Zentralität des Intellekts angemessen zur Geltung kommen lassen, andererseits in Opposition zu Spinozas Theorie um i. infinitus und i. finitus treten. Genereller programmatischer Ansatzpunkt Maimons ist dabei die Transzendentalphilosophie Kants, spezieller thematischer Anker dessen Ausführungen zu ›anderen Arten‹ von Erkenntnisvermögen als den menschlichen. Dass Maimon seine Position dabei als derjenigen Spinozas widersprechend darstellt und Kants Spinozismusvorwurf als Missdeutung bezeichnet, ist inhaltlich nachvollziehbar und plausibel. Als frühes, noch deutlich an Aristoteles sowie an Moses Maimonides’ rational-religiösem Denken orientiertes Zeugnis dieser konstant erkennbaren grundsätzlichen Schlagrichtung kann u. a. Maimons Manuskript H . esheq Shelomo von 1778 (vgl. Anm. 134) gelten. Dort schreibt er (hier in der Übersetzung von Yitzhak Melamed): »[Y]ou should know that the intellect is the best and first reality, and is the cause of the least and last reality external to the intellect [. . .]. And thus, since He is an intellect in actu, the intellect, the intellecting subject and the intellecting object will be one« (Melamed, Rise of Spinozism (2004), 80; zu Maimons darin geäußertem Maimonides-Bezug unter Berücksichtigung seiner späteren Kant-Kritik vgl. Elon, Maimons Maimonides-Rezeption (2017), 120– 123). 421
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Rückbezug der Intellektkonzeption auf die Akosmismusthese
Im Weiteren wird durch Maimons Intellektkonzeption schließlich auch rekonstruierbar, aus welchem Grund er Spinozas Philosophie dann einige Zeit später, 1792, als Akosmismus charakterisieren wird, wie in diesem Teilabschnitt besprochen wurde.
4.1.3 Akosmismus und Nihilismus
Gemäß dieser Rekonstruktion des Hintergrunds von Maimons Akosmismusthese kann Akosmismus im dargestellten Sinne auch als Nihilismus verstanden werden. Die Konnotation mit dem ›Zurückschaudern vor dem Nichts‹ sowie die Metaphorik des unterschiedslosen Dunkels lassen diese Identifikation durchaus plausibel erscheinen. Dies verdeutlicht zudem abermals, inwieweit die Akosmismuszuschreibung durch Maimon einen klaren Vorwurf an das Denken Spinozas sowie eine entschiedene Distanzierung von demselben darstellt. Dabei impliziert Maimons Vorwurf des Akosmismus, im Sinne von Nihilismus, keineswegs die Behauptung, Spinoza vertrete beabsichtigt eine nihilistische Philosophie. Dies wurde im vorherigen Teilabschnitt bereits in Aussicht gestellt: Erst aus Maimons eigener philosophischer Perspektive zeigt sich die Nihilismusproblematik in Spinozas Substanztheorie. – Ginge es in Spinozas Philosophie, gemäß Maimons Auffassung derselben, tatsächlich bloß um die Annahme der Realität des Einen, also der Substanz, sowie um die Herabsetzung der kosmischen Vielheit von Entitäten zu bloßen Einschränkungen der Substanz, bliebe jene erstmalige Verwendung des Akosmismusbegriffs durch Maimon in diesem Kontext unverständlich: Immerhin verweist die sich im Begriff ausdrückende Bedrohung eines ›Nicht‹ der Welt, wie bereits mehrfach betont, klar auf eine tieferliegende philosophische Problematik. Diese unterschwellige Problematik lässt sich nun aufdecken, indem Akosmismus als Nihilismus begriffen wird: In Maimons rekonstruierbarer eigentlicher Auffassung der Philosophie Spinozas kann auch die Substanz als das Eine letztlich kein stabiles Dasein behaupten. Dies wiederum liegt an der Kollision der von Maimon vertretenen Zentralität des Intellekts mit Spinozas Annahme der Substanz als an sich nicht-intellektualer potentia. Dass dieses sich unterschwellig zeigende Verständnis der Philosophie Spinozas als Nihilismus zumindest auf Spinozaimmanenter Ebene klar verfehlt ist, zeigt sich bereits eindeutig in der ersten Definition von Teil I der Ethik: Eine etwaige Nichtexistenz der Substanz ergibt im System Spinozas schlicht keinen Sinn. Durch diese Identifizierung von Akosmismus als Nihilismus zeigt sich allerdings gewissermaßen eine doppelte historische Pointe: Einerseits entstammt Maimons sich auf Spinozas Philosophie beziehendes Diktum vom ›Zurück-
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schaudern vor dem Nichts‹ seinem Disput mit Jacob Hermann Obereit. Auch der hiermit zusammenhängende Akosmismusvorwurf Maimons an Spinoza steht daher in jenem Kontext. Obereit verwendet in seinem Widerruf für Kant, den Maimon im Magazin zur Erfahrungsseelenkunde als Herausgeber kommentiert, selbst den Begriff des Nihilismus. 422 Tatsächlich ist Obereit wohl der Erste, der den Nihilismusbegriff im deutschsprachigen philosophischen Diskurs verwendet, und zwar im Zusammenhang seiner Auseinandersetzung mit der kantischen Philosophie. Dies geschieht erstmalig 1787, also wenige Jahre vor dem Disput mit Maimon. 423 Obereits eigenes Nihilismusverständnis kann an dieser Stelle zwar nicht weiter erörtert werden. Dennoch ist bemerkenswert, dass die Termini von Nihilismus und Akosmismus, ausgehend von Obereit bzw. Maimon, aus demselben, hier erörterten Diskussionsrahmen der Philosophie ›zwischen Spinoza und Kant‹ um 1790 entstammen. Andererseits verweist dieser Diskussionsrahmen bereits auf denjenigen philosophischen Streitfall, durch den der Nihilismusbegriff erst wirklich einschlägig wird: Friedrich Heinrich Jacobi wird Johann Gottlieb Fichte im Sendschreiben von 1799 vorwerfen, seine Philosophiekonzeption der Wissenschaftslehre sei, als Idealismus, letztlich Nihilismus. 424 Gerade diese Wissenschaftslehre bildet sich, wiederum vermittelt über Jacobis vorangegangene Spinoza-Rezeption, auch in der Auseinandersetzung mit der Substanztheorie Spinozas heraus. Jacobi selbst fasst den »[t]ransscendentale[n] Idealismus« Fichtes, der u. a. auch von der Kant-Kritik durch Jacobi selbst ausgeht, 425 dabei als einem »umgekehrVgl. Anm. 96. Vgl. Obereit, Der wiederkommende Lebensgeist (1787), 14 ff.; Müller-Lauter, Der NihilismusBegriff (1984), 846 f.; Timm, Die Bedeutung der Spinozabriefe (1971), 79 f.; 81: »Die unprogrammatische Art, in der Obereit mit dem Terminus [sc. ›Nihilismus‹; ebd.] verfährt, läßt aber vermuten, daß er seinerseits ihn bereits von anderswo übernommen hat; vielleicht aus den theosophischen Traditionen Süddeutschlands und der Westschweiz, aus denen vieles in seine chaotische Sprachwelt eingeflossen ist.« 424 Vgl. JWA 2,1, 215, hier bezugnehmend auf den Realismus, der jenem Idealismus gegenübergestellt wird: »Wahrlich, mein lieber Fichte, es soll mich nicht verdrießen, wenn Sie, oder wer es sey, Chimärismus nennen wollen, was ich dem Idealismus, den ich Nihilismus schelte, entgegensetze«. Vgl. weiterführend Müller-Lauter, Nihilismus als Konsequenz des Idealismus (1975). Zu den Aspekten der Systemkritik sowie der Relevanz personaler Existenz in Jacobis Auseinandersetzung mit Fichte vgl. Sandkaulen, Ichheit und Person (2019). – Zum vorangegangenen Nihilismusvorwurf an den transzendentalen Idealismus (vermutlich mit Blick auf Fichte und Schelling) durch den Theologen Daniel Jenisch vgl. ders., Ueber Grund und Werth (1796), 200–204; 273 f.; 276–278; Pöggeler, Hegel und die Anfänge der Nihilismus-Diskussion (1974), 327 f.; 335–338. Jenischs Buch ist, ebenso wie Maimons Progressen-Schrift von 1793 (vgl. Anm. 115), »ein Beitrag zu der berühmten Preisfrage der Berliner Akademie nach den Fortschritten, die die Philosophie seit Leibniz und Wolff gemacht habe.« (Pöggeler, Hegel und die Anfänge der Nihilismus-Diskussion (1974), 335 f.). 425 Vgl. u. a. JWA 2,1, 112: »Der transscendentale Idealist muß also den Muth haben, den kräftigsten Idealismus, der je gelehrt worden ist, zu behaupten, und selbst vor dem Vorwurfe 422 423
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ten Spinozismus« entsprechend auf (JWA 2,1, 195). Der Nihilismusvorwurf Jacobis an Fichte kann daher gewisserweise als entgegengesetzter Argumentationsstandpunkt zum Akosmismusvorwurf Maimons an Spinoza ausgelegt werden: 426 Laut Jacobi lehrt die Philosophie Fichtes mit ihrer Theorie der Tathandlung eines absoluten Ichs (vgl. v. a. GA I,2, 255–282) das »Auflösen[] alles Wesens in Wißen; progreßive Vernichtung (auf dem Wege der Wißenschaft) durch immer allgemeinere Begriffe« (JWA 2,1, 203). 427 Spontane Produktion durch epistemische Aktivität, deren Mangel in Maimons Sicht auf Spinozas Substanz zum Problem wurde, sei bei Fichte damit absolut geworden und lasse schlicht nichts übrig: Dadurch nehmlich, daß ich auflösend, zergliedernd, zum Nichts-Außer-Ich gelangte, zeigte sich mir, daß Alles Nichts war, außer meiner, nur auf eine gewiße Weise eingeschränkten, freyen Einbildungskraft. Aus dieser Einbildungskraft kann ich dann auch wieder hervorgehen laßen, alleinthätig, alle Wesen, wie sie waren, ehe ich sie, als für sich bestehend, für Nichts erkannte. (Ebd.) 428
Jene Theorie Fichtes wurde darüber hinaus auch durch dessen Rezeption der Transzendentalphilosophie Maimons mitgeprägt, wie in Kap. 3 bereits angeklungen ist. 429 Und schließlich äußert Fichte ebenfalls 1799, in Provokation seiner Gegner, man könne ihn einen Akosmisten nennen, nicht jedoch einen des spekulativen Egoismus sich nicht zu fürchten«; hierzu Sandkaulen, Jacobi über Idealismus und Realismus (2017), 22 f. 426 Jacobis Lesart der Philosophie Spinozas beinhaltet weder eine Akosmismuszuschreibung noch einen Nihilismusvorwurf. Dies wird in Abschnitt 4.2 weiter zur Sprache kommen. 427 Vgl. Sandkaulen, Jacobi über Idealismus und Realismus (2017), 23 (hier auch unter Berücksichtigung des o. g. Einflusses von Jacobis Kant-Kritik auf Fichte): »Auf den Spuren von Jacobis Analyse hat Fichte den Mut zum ›spekulativen Egoismus‹: Unter radikalem Verzicht auf das ›leidige Ding an sich‹ begründet er alles Wissen in der Tathandlung des ›absoluten Ich‹. Damit ist der Innenraum des Bewußtseins nun tatsächlich, buchstäblich im Vollzug einer Tat, absolut geworden – jeglicher Bezug auf eine Welt außer uns fällt als eine vom Ich selbst produzierte Binnenunterscheidung zwischen Ich und Nichtich nach innen. [. . .] Voller Bewunderung für Fichtes Konsequenz bringt Jacobi selbst diese idealistische Konstruktionslogik auf den Punkt, um sich ihr im selben Moment zu widersetzen. Der konsequente Idealismus, so Jacobi wörtlich [. . .], vollendet sich im Nihilismus«. 428 Vgl. JWA 2,1, 202: »Der menschliche Geist also, da sein philosophischer Verstand schlechterdings nicht über sein eigenes Hervorbringen hinausreicht, muß, um in das Reich der Wesen einzudringen, um es mit dem Gedanken zu erobern, Welt-Schöpfer, und – sein eigener Schöpfer werden. Nur in dem Maaße wie ihm das lezte gelingt, wird er in dem ersten Fortgang spüren. Aber auch sein eigener Schöpfer kann er nur unter der angegebenen allgemeinen Bedingung seyn: er muß sich dem Wesen nach vernichten, um allein im Begriffe zu entstehen, sich zu haben: in dem Begriffe eines reinen absoluten Ausgehen und Eingehen, ursprünglich – aus Nichts, zu Nichts, für nichts, in Nichts«. 429 Aus den bisherigen und nun noch (v. a. in 4.1.4) folgenden Erörterungen der vorliegenden Untersuchung erhellt allerdings, dass die positive Konzeption eines rein spontanen, »eigene[n] Hervorbringen[s]« der Welt und seiner selbst durch den Verstand (vgl. vorherige Anm.) der Philosophie
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Atheisten (vgl. GA I,6, 54). – Diese Themenkomplexe um die Philosophie Fichtes können an dieser Stelle ebenfalls nicht tiefergehend besprochen werden, kommen im abschließenden Kap. 6 ausblicksweise jedoch nochmals zur Sprache.
4.1.4 ›Gegebenes‹ und Welt
Eine bereits untersuchte mögliche Lesart des Versuchs über die Transzendentalphilosophie wäre die Auffassung, Maimon setze den menschlichen Verstand mit dem unendlichen, d. h. uneingeschränkt spontanen, gleich (s. o., Abschnitt 3.4). Dies würde bedeuten, dass jeglicher Gegenstand des menschlichen, gemäß dieser Lesart also gänzlich intellektualen Erkenntnisaktes durch ebendiesen Akt selbst produziert werden würde. Die Frage nach einem externen Gegebenen stellte sich dementsprechend gar nicht erst. Gerade dies könnte jedoch als eine andersartige, quasi entgegengesetzte Form von Akosmismus verstanden werden: Die letztlich ontologische Frage, ob ›eine Welt da ist‹, verlöre ihren eigentlichen Gehalt und ließe sich in Richtung der epistemologischen Fragestellung nach den Charakteristika des rein spontanen, intellektualen Produktionsakts des Gegenstands durch das Erkenntnisvermögen auflösen. Demgemäß wäre, simpel ausgedrückt, nur Intellekt und keine Welt da, zumindest nicht im Sinne eines dem Intellekt extern Gegen-ständlichen. Dies entspräche außerdem in Teilen Fichtes späterer Theorie des rein produktiv setzenden Ichs als des absoluten Subjekts (s. o., 4.1.3), auf deren Grundlage Jacobi ihm, wie dargestellt, Nihilismus vorwerfen wird. Wie sich aus den Überlegungen in Kap. 3 jedoch ergeben hat, lässt sich dies kaum plausibel als Maimons eigentliche Position annehmen: 430 Das menschliche Erkenntnissubjekt kann eben nicht schlichtweg mit dem unendlichen Verstand identifiziert werden. Vielmehr kommt die Idee dieses Intellekts dem endlichen Verstandeswesen aufgrund seiner progressiven Vervollständigungsdynamik als unveräußerliches Strukturmoment zu, womit dieses Wesen in seinem Erkenntnisakt prinzipiell auf etwas ›Gegebenes‹ angewiesen bleibt. Dies gilt auch in Anbetracht der Tatsache, dass sich dieses Gegebene als nicht-statisch in Richtung seiner Auflösung fortlaufend und graduell reduzieren lässt. Vollständige Spontaneität der Erkenntnis im Sinne aktiver Gegenstandsproduktion widerspricht Maimons Prämisse der Eingeschränktheit des menschlichen Intellekts. Dies Maimons nicht zugeschrieben werden kann. Hierin lässt sich also ein wesentlicher Unterschied zwischen der Position Fichtes, zumindest in Jacobis Lesart, und derjenigen Maimons erkennen. 430 Vgl. vorherige Anm.
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manifestiert sich auch in der ›allgemeinen Antinomie des Denkens überhaupt‹: Deren Auflösung ist Maimon zufolge eben nicht eine etwaige Reduktion des Gegebenen auf tatsächlich null, sondern die fortlaufende infinite Approximation an diesen grundsätzlich nicht-erreichbaren Status. Die in 4.1.2 besprochene thematische Zentrierung des Intellekts in Maimons Philosophie, die dessen Akosmismusvorwurf an die Metaphysik Spinozas erst nachvollziehbar werden lässt, ist somit nicht als Behauptung auszulegen, es sei bloß Intellekt und ansonsten nichts. Letzteres würde durchaus in einer Position resultieren, die selbst als Akosmismus bezeichnet werden könnte; dies dabei nicht im o. g. radikaleren Sinne der eigentlichen Nichtexistenz der Substanz, sondern in dem Sinne, dass der Intellekt uneingeschränkt spontan produzieren würde und ihm nichts als gegeben gegen-stünde. Dasjenige, was Maimon in transzendentalphilosophischer Programmatik als Aspekt des Gegebenen behandelt, und zwar von Kants Problemdisposition ausgehend, verweist damit letztlich auf Etwas außerhalb dieser Programmatik: Denn ebendieses Gegebene als das Erkenntnisexterne, das prinzipiell nicht vollends aufgelöst werden kann, ist auch nicht in der Lage, in einer rein epistemologischen Fragestellung aufzugehen. Die nicht neutralisierbare Annahme eines Gegebenen führt daher doch wieder zur allgemeineren und weiterreichenden Frage danach, ›ob eine Welt da ist‹. Damit lassen Gegebenes und Welt unter Berücksichtigung des hier relevanten Kontextes durchaus eine systematische Verknüpfung über die Grenzen der spezifischen, divergierenden Diskursfelder hinweg erkennen. Zumindest erscheint Maimons eigene Position, trotz genannter Bestrebung der thematischen Zentrierung des Intellekts, letztlich nicht als Konzeption eines etwaigen akosmischen Intellektualismus. Inwieweit diese Position Maimons daher auch als Versuch einer nicht-akosmischen Gegenposition zu Spinozas Philosophie gelesen werden kann, soll zum Ende dieses Kapitels und v. a. in Kap. 5 erörtert werden. Um den vorliegenden Sachverhalt anhand der in Abschnitt 3.4 besprochenen Spiegelmetaphorik Maimons illustrierend zu umschreiben: Das menschliche Erkenntnissubjekt bleibt, auch trotz seiner Approximation an den Status des unendlichen Verstandes, eingeschränkt. Deshalb blickt es in seinem Erkenntnisakt nach wie vor nicht etwa in den bloßen Spiegel seiner eigenen Spontaneität, sondern durch ein Fenster auf die Welt als extern Gegebenes.
Problematik: Plausibilität der Spinoza-Rezeption Maimons
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4.2 Problematik: Plausibilität der Spinoza-Rezeption Maimons 4.2.1 Aktuelle Diskussion: Spinozismus als Akosmismus
Michael Della Rocca und Yitzhak Melamed diskutieren in jüngeren Forschungsbeiträgen 431 die Plausibilität der Annahme, der Philosophie Spinozas zufolge gäbe es keine Welt, besprechen also die Möglichkeit einer Lesart dieser Philosophie als Akosmismus. Dabei gehen sie von unterschiedlichen Perspektiven aus. Diese verschiedenartigen Argumentationswege sollen im Folgenden skizziert und hinsichtlich ihres (von Melamed auch explizit hergestellten) möglichen Bezugs zu Maimons Spinoza-Rezeption nutzbar gemacht werden: Della Rocca wählt in seiner Betrachtung Spinozas Konzeptionen von Rationalismus und Idealismus als Ausgangspunkte. Ziel ist die Fragestellung, in welchem Sinne Spinozas Monismus zu verstehen sei und ob dieser Monismus letztlich nicht in der Annahme der Nichtexistenz des Kosmos resultieren müsse. Zentraler Ankerpunkt der Argumentation ist dabei der Satz vom zureichenden Grund als primäres Charakteristikum von Spinozas Rationalismus: »Thus, I characterize rationalism as the commitment to the PSR [Principle of Sufficient Reason], to the view that for each thing that exists there is an explanation of its existence (and, for each thing that does not exist, there is an explanation of its non-existence).« 432 Die Erklärungsmöglichkeit der Existenz eines Dinges bedeutet zugleich dessen prinzipielle Verständlichkeit, also intellektuale Zugänglichkeit: »Or, in other words, each thing is intelligible. [. . .] To explain a thing can be seen as rendering it intelligible.« 433 Dies ist vor dem Hintergrund zu sehen, dass gemäß Spinozas Grundposition jegliche Entität begreifbar sein muss – wenn nicht durch ein Anderes, dann durch sich selbst: »Id, quod per aliud non potest concipi, per se concipi debet.« (»Was durch ein anderes nicht begriffen werden kann, muss durch sich selbst begriffen werden.« E I, ax. 2) Della Rocca versteht Intelligibilität dabei explizit im Sinne eines inter legere: Erklärung ist grundsätzlich relational und zielt auf die Bezüge zwischen Explanandum und anderen Entitäten ab. Damit wird ratio im Sinne von ›Verhältnis‹ gefasst: 434 »To explain, then, is to place a thing in some kind of network of relations and thus relationality is present in the very nature of explaining as explaining-as.« 435 Letztlich folgt daher aus dem Satz vom Grund,
431 432 433 434 435
Vgl. v. a. Della Rocca, Rationalism, Idealism (2012); Melamed, Omnis determinatio (2012). Della Rocca, Rationalism, Idealism (2012), 7. Ebd., 8; vgl. Della Rocca, Spinoza (2008), 4 f. Vgl. Della Rocca, Rationalism, Idealism (2012), 8. Ebd., 9.
Rückbezug der Intellektkonzeption auf die Akosmismusthese
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so Della Roccas »slogan«, die Identität von Existenz und Intelligibilität: »To be is to be intelligible.« 436 Dies geht einher mit einer von Della Rocca diagnostizierten begrenzten Ausprägung von Idealismus in Spinozas Philosophie, womit zugleich auf dessen Attributenlehre ausgegriffen wird: »The nature of each thing consists, at least in part, in the thing's availability to thought. Doesn't this claim amount to a form of idealism? The quick and honest answer is: yes, yes, it does. Spinoza is a certain kind of idealist.« 437 Dieser Idealismus wird in seiner Reichweite jedoch eingeschränkt durch die von Della Rocca explizit stark gemachte konzeptionelle Unabhängigkeit der Attribute: Ausgedehnte Dinge können, u. a. gemäß E II, prop. 6, nur durch extensio begriffen werden, nicht durch cogitatio. Anders als beispielsweise laut George Berkeley existieren nach Spinoza ausgedehnte Dinge. Deshalb kann dieser zwar begrenzt als Idealist verstanden werden, nicht jedoch im radikaleren Sinne der Position Berkeleys, 438 nach der die Existenz ausgedehnter Substanz schlicht unmöglich ist: 439 »Thus, for Spinoza, the statement ›the extended substance is thinking‹ is, strictly, false«. 440 Es muss dabei grundsätzlich unterschieden werden zwischen der Position Berkeleys und demjenigen, was Della Rocca als Idealismus Spinozas benennt: Für Berkeley ist das Sein von Gegenständlichkeiten, d. h. von Ideen, gleichbedeutend mit Perzipiertwerden. 441 Dieses empirisch basierte, faktische Wahrgenommenwerden ideeller, nicht-ausgedehnter Entitäten 442 ist gänzlich verschieden von der prinzipiellen Intelligibilität, die nach Della Roccas Spinoza-Auslegung mit Sein gleichzusetzen ist. ›Idealist‹ bleibt Spinoza in dem Sinne, dass Erklärung als solche, auch in Bezug auf das Attribut der Ausdehnung, ein gedanklicher Prozess bleibt. Jegliche Entität muss somit gedanklich zugänglich, intelligibel, sein. 443 Im Anschluss an diese Überlegungen zu Rationalismus und Idealismus richtet Della Rocca den Blick auf den Monismusbegriff, der unter Berücksichtigung des Satzes vom Grund als zentralem Prinzip tiefgreifender erörtert wird. Dabei werden diverse systemimmanente Spannungen in Spinozas Philosophie in zunehmendem Maße bemerkbar: Della Rocca geht davon aus, dass die Annahme der Realität von Relationen dem Prinzip des Satzes vom Grund widerspreche, und zwar wegen einer potenziellen infiniten Regressproblema436 437 438 439 440 441 442 443
Ebd.; vgl. Della Rocca, Spinoza (2008), v. a. 9; 50. Della Rocca, Rationalism, Idealism (2012), 13. Vgl. ebd., 12 f. Vgl. Berkeley, Treatise (1710/1949), v. a. §§ 16–20; 44. Della Rocca, Rationalism, Idealism (2012), 12. Vgl. Berkeley, Treatise (1710/1949), § 3. Vgl. ebd., v. a. §§ 1–8; Anm. 439. Vgl. Della Rocca, Rationalism, Idealism (2012), 14.
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tik: »It's not an option for a proponent of the PSR to say that the relation is ungrounded or is grounded in other relations that are grounded in other relations and so on ad infinitum. [. . .] Thus there does not seem to be a way, consistent with the PSR, to see relations as real.« 444 Es wird also erstens davon ausgegangen, dass Existenz einerseits und Intelligibilität qua Erklärbarkeit andererseits identisch seien; zweitens davon, dass Erklärung gemäß dem Satz vom Grund prinzipiell relational sei; drittens davon, dass Relationen als solchen laut ebendiesem Satz jedoch keine Realität zukomme; viertens schließlich zudem, dass auch das ›Eine‹ in der Philosophie Spinozas, also die Substanz, allein relational intelligibel sei, nämlich hinsichtlich der Relationen dieser Substanz zu den ihr inhärierenden Modi. Daraus würde folgen, dass dieses Eine, oder auch der Kosmos – hier nicht im Sinne der Vielheit der nicht-substanzialen Entitäten, sondern als Synonym für die Substanz als das Eine 445 – in Relation zu seinen Eigenschaften 446 nicht gänzlich intelligibel ist. Unter Rekurs auf Francis Bradley und Peter van Inwagen 447 stellt Della Rocca daher fest, dass diese Spinoza-Lesart durchaus in der Annahme der ›Nicht-Intelligibilität und NichtExistenz der Welt selbst‹ resultieren würde: 448 »[T]he PSR entails that no thing exists.« 449 Im totalen relationalen Begründungsnetz wäre die Existenz der Welt geradezu wegerklärt. Della Rocca verwendet an dieser Stelle zwar nicht explizit den Terminus des Akosmismus, 450 allerdings handelt es sich genau darum, wenn nun vom ›Jenseits des Monismus‹ 451 gesprochen wird: »I'm afraid that, given the PSR, not only does multiplicity not (fully) exist, but also the cosmos does not (fully) exist.« 452 Der systemimmanente Widerspruch ist offensichtlich: Einerseits diagnostiziert Della Rocca hier Akosmismus im radikalen Sinne, dass nicht einmal die Substanz vollständig existiert. – Dies entspricht im Kern Maimons oben rekonstruierter Auffassung von Spinozas Philosophie als Akosmismus im Sinne von Nihilismus, auch wenn sich die dazu führenden Argumentationswege klar voneinander unterscheiden. – Andererseits muss die von Spinoza vertretene Theorie der Identität von Gott und Substanz sowie die Implikation der Existenz Gottes in dessen Essenz bedacht werden. Das Festhalten an der Zentralität Ebd., 19. Vgl. ebd., 16. 446 Vgl. ebd., 23. 447 Vgl. Bradley, Appearance and Reality (1893/1968); Inwagen, Metaphysics (2009). 448 Vgl. Della Rocca, Rationalism, Idealism (2012), 23. 449 Ebd., 24. 450 In einem neueren Erklärungsansatz verweist Della Rocca diesbezüglich explizit auf den Akosmismusbegriff im Ausgang von Maimon und Hegel; vgl. Della Rocca, Elusiveness (2019), 60. 451 Della Rocca, Rationalism, Idealism (2012), 22–26: »Beyond monism«. 452 Ebd., 22; zum hierin ausgedrückten Aspekt der Gradualität von Realität vgl. ebd., 20 f. 444 445
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des Satzes vom Grund demonstriert somit eine mögliche, nicht unerhebliche interne Spannung in Spinozas Denken. Deshalb kommt Della Rocca zu dem Ergebnis, der Satz vom Grund führe letztlich zu einer Position jenseits von Spinoza: »I have, with the guidance of the PSR, gone not only beyond monism, but also, I believe, beyond Spinoza.« 453 Doch nicht nur das: Unter Annahme eines strikten Akosmismus, und zwar in der radikalen Form, dass nichts vollständig existiert, stünde auch die Gültigkeit des Satzes vom Grund selbst infrage. 454 Ebendiese Gültigkeit in konsequenter Auslegung war jedoch, als Prämisse der Argumentation, Voraussetzung für die hier nachgezeichnete Akosmismuszuschreibung, deren möglicher Bezug zu derjenigen Maimons noch zu diskutieren sein wird. Aufgrund dieser Aporie schließt Della Rocca seine Überlegung mit dem Ausblick darauf ab, der Satz vom Grund könnte als Leiter des ›rationalistischen Aufstiegs‹ am Ende desselben möglicherweise weggestoßen werden, womit er zugleich auf Ludwig Wittgenstein referiert. 455 Yitzhak Melamed erklärt nun, in expliziter Abgrenzung von Della Rocca, er halte den Satz vom Grund nicht für eine Methode des Universalzugangs zu Spinozas Denken: »In the past few years, Michael Della Rocca has developed an interpretation of Spinoza that stresses the central role of the principle of sufficient reason [. . .] in Spinoza's philosophy. On this issue, as on many others, I completely agree with him. Yet, unlike Della Rocca, I do not believe this principle is the key to all doors in Spinoza's palace.« 456 Demgemäß wählt Melamed auch zur Akosmismusthematik eine Herangehensweise, die sich nicht zentral am Satz vom Grund orientiert und die damit prinzipiell von Della Roccas Perspektive abweicht. Ausgangspunkt ist bei Melamed stattdessen die Frage nach der Rolle von Einschränkung und Negation der Substanz durch ihre Modifikationen. Damit bezieht sich Melamed unmittelbar auf Spinozas Diktum »determinatio negatio est«. 457 Dieser Aspekt manifestiere sich einerseits in Maimons bereits angesprochener Behauptung, gemäß Spinozas System seien die Modi der Substanz, als bloße Einschränkungen derselben, lediglich Negativa und damit letztlich nicht-existent. 458 Andererseits gelte dies auch für Hegels Umformulierung des Satzes zu »omnis determinatio est negatio« (GW 15, 10) 459 in seiner Rezension der Werke Jacobis von 1817 (GW 15, 7– Ebd., 25. Vgl. ebd., 25 f. 455 Vgl. ebd., 26; hierzu Wittgenstein, Tractatus (1922/2014), 85 (6.54). 456 Melamed, Spinoza’s Metaphysics (2013), XV. 457 Ep. L, 194: »Da Gestalt also nichts anderes ist als Bestimmung und Bestimmung Negation, kann sie, wie gesagt, nichts anderes sein als eine Negation.« Vgl. Anm. 116; Melamed, Omnis determinatio (2012), 176. 458 Vgl. Anm. 116; Melamed, Omnis determinatio (2012), 177 f. 459 Vgl. ebd., 179 f. 453 454
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29). Dies wiederum basiert auf Jacobis Verwendung der Formel »Determinatio est negatio« (JWA 1,1, 100) in den Spinozabriefen. 460 Melamed unterscheidet drei verschiedene Lesarten der determinatio-Formel in der Spinoza-Rezeption innerhalb der deutschen Philosophie um 1800: (a) Durch die Formel werde die Realität endlicher Dinge geleugnet, während Gott in der Eigenschaft als unendlich zugleich als absolut unbestimmt aufzufassen sei: »According to this reading, the formula states that (1) God, or the infinite, is absolutely indeterminate, while finite things are just determinations, limitations, or negations of the absolutely infinite (or of the absolutely indeterminate). In addition, this reading accepts that (2) what is merely negation or determination of the infinite is not fully real.« 461 Gott habe demgemäß, an sich selbst betrachtet, keine Prädikate. 462 Diese akosmische Lesart schreibt Melamed nicht nur Maimon, sondern auch Jacobi 463 und Hegel zu. 464 (b) Ausgehend von Michael Inwoods Hegel-Interpretation 465 könne die Formel Vgl. Anm. 116. Melamed, Omnis determinatio (2012), 177. 462 Vgl. ebd., 178. 463 Als Beleg der Auffassung, Jacobi vertrete eine Akosmismuslesart Spinozas, führt Melamed (vgl. ebd.) die bereits genannte Verwendung der Formel »Determinatio est negatio« in den Spinozabriefen (vgl. Anm. 116) mitsamt Erläuterung Jacobis an. Immerhin äußert Jacobi dort in Bezug auf Spinozas Philosophie, die »einzelnden Dinge also, in so ferne sie nur auf eine gewisse bestimmte Weise da sind, sind die non-entia« (JWA 1,1, 100). Bei genauerer Betrachtung ist Jacobis Verständnis der Philosophie Spinozas der Akosmismuslesart allerdings geradezu entgegengesetzt: Hierzu legt Birgit Sandkaulen dar, dass Jacobis »Bestimmung der endlichen Dinge als ›non-entia‹ auf keinen Fall deren ontologische Nichtigkeit behauptet, sondern mit dem Einsatz der Negation hier allein und ausschließlich auf das ontologische Abhängigkeitsverhältnis zwischen ›Sein‹ und ›Dasein‹, zwischen Substanz und Modi aufmerksam gemacht wird.« (Sandkaulen, Metaphysik oder Logik? (2019), 329; vgl. auch dies., Die Ontologie der Substanz (2007), 261: »Indem er bereits im Gespräch mit Lessing das ›Uralte: a nihilo nihil fit‹, also gerade die genuine Leugnung von Negativität, für den ›Geist des Spinozismus‹ erklärt, zielt Jacobis Einsatz von Anfang an auf die absolute Affirmation der Substanz im Binnenverhältnis dessen, was aus ihrer Bestimmung als causa immanens folgt«.) Dabei müsse »das, was die Substanz ist, und das, was aus ihr folgt, als ein[] instantane[r] untrennbare[r] Zusammenhang« verstanden werden; es sei im Sinne von »Spinozas Metaphysik der Immanenz [. . .] völlig sinnlos [. . .], die Substanz als so etwas wie ein exklusives Prinzip von ihren Folgen zu isolieren« (Sandkaulen, Metaphysik oder Logik? (2019), 328 f.). Vgl. hierzu v. a. eine weitere Darstellung Jacobis in den Spinozabriefen, die einer Akosmismuslesart deutlich widerspricht: »Der Gott des Spinoza, ist das lautere Prinzipium der Würklichkeit in allem Würklichen, des Seyns in allem Daseyn, durchaus ohne Individualität, und schlechterdings unendlich. Die Einheit dieses Gottes beruhet auf der Identität des nicht zu unterscheidenden, und schließet folglich eine Art der Mehrheit nicht aus. Blos in dieser transcendentalen Einheit angesehen, muß die Gottheit aber schlechterdings der Würklichkeit entbehren, die nur im bestimmten Einzelnen sich ausgedrückt befinden kann.« (JWA 1,1, 39). 464 Zur Implausibilität von Hegels Akosmismuslesart vgl. weiterführend Sandkaulen, Metaphysik oder Logik? (2019), v. a. 328 (vgl. Anm. 117); dies., Die Ontologie der Substanz (2007), 252; 260–266. 465 Vgl. Inwood, A Hegel Dictionary (1992), 78. 460 461
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als Leitlinie universeller Dialektik verstanden werden: »[T]he dialectical [. . .] interpretation[] of the determinatio negatio est formula [. . .] makes the infinite and finite mutually negate each other. In other words, [. . .] not only is the finite a determination, or negation, of the infinite, but also the infinite (or the indeterminate) is a negation of the finite.« 466 Das Unendliche sei dementsprechend, wie Melamed unter Bezugnahme auf Hegels o. g. Jacobi-Rezension darlegt, Negation der Negation, d. h. des Endlichen. 467 Hierbei handelt es sich allerdings um die eigene Anwendung der Formel durch Hegel, nicht um eine etwaige Zuschreibung dieses Verständnisses der Formel an Spinoza selbst. (c) Schließlich könne die Formel auch als Ausdruck der Relation zwischen endlichen Dingen und dem Unendlichen als dem maximal Bestimmten aufgefasst werden: »This reading, just like the acosmist reading (a), takes finite things to be limitations, or partial negations, of the infinite. Yet, by contrast with the acosmist reading, the infinite is here conceived as maximally determined (as opposed to the absolute indeterminacy of the infinite in the acosmist reading).« 468 Diese Lesart sieht Melamed in Kants Ausführungen zum ens realissimum sowie zur omnitudo realitatis im Kapitel zum transzendentalen Ideal in der KrV manifestiert (vgl. KrV, A 575–583/B 604–611). Bei der »Idee des höchsten Wesens« (KrV, A 578/B 607) im Rahmen der transzendentalen Dialektik kann es Kant dabei evidentermaßen nicht um objektive Urteile bezüglich des ontologischen Status eines ens realissimum gehen. Dennoch schreibt Melamed aufgrund der strukturellen Übereinstimmung 469 zwischen Spinozas determinatio-Formel und Kants Ausführung zum ens realissimum letzterem einen latenten Gebrauch dieser Formel zu. 470 Von Interesse ist an dieser Stelle v. a. die Gegenüberstellung der von Melamed herausgearbeiteten Lesarten (a) und (c): Im Fall beider Interpretationsmodi werden endliche Dinge bloß als Limitationen, somit als partielle Negationen der Substanz als Unendliches verstanden. Dies allein sei, so Melameds Darstellung, nicht hinreichend, um die Position Spinozas als Akosmismus charakterisieren zu können. Erst wenn, wie in (a), das Unendliche zugleich als absolut Unbestimmtes aufgefasst werde, sei dies der Fall: Die Annahme, dass der Kosmos, d. h. das Gesamte der Vielheit endlicher Entitäten (τò πᾶν), lediglich die limitierende, plurale Modifikation einer per se absolut unbestimmten Substanz sei, könne daher als Behauptung eines Nichtdaseins dieses Kosmos gelten. Hierin besteht auch ein zentraler Unterschied 466 467 468 469 470
Melamed, Omnis determinatio (2012), 180. Vgl. ebd., 181. Ebd., 182. Vgl. ebd., 183. Vgl. ebd., 196.
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zwischen Melameds Akosmismusverständnis und demjenigen, was Della Rocca als mögliche Position der Nichtexistenz des Kosmos ausführt: Letzterer fasst den Kosmos, wie angesprochen, eben als das Eine auf, τò ἕν, dessen Existenz auf Basis der konsequenten Anwendung des Satzes vom Grund in Zweifel geraten muss. Hinsichtlich der Fragestellung, welche der drei diskutierten Lesarten nun tatsächlich mit der Position Spinozas übereinstimme, plädiert Melamed für (c): »Is the third reading of the determinatio formula [. . .] consistent with Spinoza's claims? I believe the answer is positive«. 471 Anhand vielfältiger Belege stellt Melamed als plausibel dar, dass die Substanz gemäß Spinozas Lehre eben nicht absolut unbestimmt sei, sondern, im Gegenteil, maximal bestimmt. Von maßgeblicher Bedeutung hierfür ist v. a. die Theorie der Attribute: Wie bereits besprochen, können diese als essenzielle Ausführungs- oder Ausdrucksarten der Substanz begriffen werden. In diesem Sinne betont Melamed, die Attribute konstituieren laut Spinoza die Natur der Substanz, sind im Hinblick auf die Substanz somit klar zu inkludieren und nicht etwa als quasi-externe Bestimmungen derselben aufzufassen. 472 Letztlich stellt Spinoza sogar ein Identitätsverhältnis zwischen Natur und Attribut eines Dinges her, explizit durch die Formulierung von »natura[] sive attribut[um]« (E I, prop. 5). 473 Melamed führt hierzu weiter aus: »[T]he attributes, each being infinite, are absolute affirmations of some nature, while finite things are partial negations of the attribute, or nature, to which they belong«. 474 – Wenn, anders gewendet, Attribute die Essenz der einen Substanz unter je einem bestimmten Aspekt ausdrücken; wenn zudem diese Essenz Existenz impliziert; wenn schließlich Essenz auch mit Potenz gleichzusetzen ist (vgl. E I, prop. 34; s. o.), dann können die Attribute als diejenigen positiven, realen, wesentlichen Arten und Weisen verstanden werden, wie die Substanz qua Ausdruck ihrer Potenz existiert. 475 Vor diesem Hintergrund fällt Melameds Urteil über die Akosmismuslesart eindeutig aus, die er ebenso wie (b) 476 für unplausibel erklärt: »In light of all the texts and considerations we have discussed so far, I believe we have to reject the acosmist interpretation in spite of its great charm and boldness.« 477 Es könne Ebd., 195. Vgl. ebd., 185–187. 473 Vgl. ebd., 195. 474 Ebd. 475 Vgl. Sandkaulen, Metaphysik oder Logik? (2019), 328. 476 Vgl. Melamed, Omnis determinatio (2012), 189 f.: »[T]he dialectical reading conflicts explicitly with some of Spinoza’s deepest metaphysical principles. [. . .] [F]or Spinoza, God, or the infinite, is purely affirmative (and is not what it is by virtue of negating the finite).« 477 Ebd., 189; zur weiteren Stützung dieser Argumentation vgl. Melamed, Acosmism or Weak Individuals (2010), 89–91. 471 472
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nicht von einer per se absolut unbestimmten Substanz ausgegangen werden, der die Attribute quasi als Externa zukämen und deren Modi, d. h. die kosmische Vielheit von Entitäten, bestenfalls ein Dasein als Illusionen innehätten. Stattdessen ist laut Melamed das Gegenteil anzunehmen: Gerade qua Attributen, die je »eine bestimmte ewige und unendliche Essenz« zum Ausdruck bringen (E I, prop. 10, schol.; vgl. E I, def. 6), ist die Substanz als Unendliches zugleich maximal bestimmt. Dies gilt erst recht, wenn in Betracht gezogen wird, dass einer Entität umso mehr Attribute zuteilwerden, je mehr Realität sie besitzt. Damit müssen der Substanz unendlich viele Attribute zukommen. 478 Unter anderem auch vor dem Hintergrund des Parallelismus von Kausalverknüpfungen von Gegenständen unter den verschiedenen Attributen 479 spricht sich Melamed klar dafür aus, dass der Pluralität endlicher Dinge, d. h. den Modifikationen der Substanz, gemäß Spinozas System eindeutig Dasein zukomme. 480 Die Auffassung dieses Systems als Akosmismus sei damit aufzugeben: »Simply put, were Spinoza's substance a singular, undifferentiated entity, no plurality would obtain, and it would be pointless to speak of any ›order‹ or ›connection‹ among things.« 481
4.2.2 Schwächen der Spinoza-Lesart Maimons
Melameds Unterscheidung der Lesarten (a) und (c) führt deutlich vor Augen, dass es zur Charakterisierung der Philosophie Spinozas als Akosmismus nicht allein hinreichend ist, finite Entitäten als bloße Limitationen, d. h. Negationen, des Unendlichen aufzufassen. Dasselbe gilt zudem, wie bereits festgehalten wurde, von Maimons Verständnis dieser Philosophie als Theorie der Substanzialität des Einen und der Akzidenzialität der Vielheit. Stattdessen geht es im Kontext der generellen Möglichkeit der Akosmismuszuschreibung zentral um die Bestimmung der Substanz selbst oder vielmehr um ihre gänzliche UnbeVgl. Anm. 391; E I, prop. 16, dem.; Melamed, Omnis determinatio (2012), 188 f. Vgl. E II, prop. 7, schol.; Melamed, Omnis determinatio (2012), 188. 480 Gerade dies entspricht unterdessen der Spinoza-Lesart Jacobis; vgl. Anm. 463; weiterführend JWA 1,1, 108: »Jedes einzelne Ding setzt andre einzelne voraus, bis ins Unendliche, und keines kann aus dem Unendlichen unmittelbar entspringen. Da nun die Ordnung und der Zusammenhang der Begriffe, mit der Ordnung und dem Zusammenhange der Dinge einerley ist, so kann auch ein Begriff von einem einzelnen Dinge nicht unmittelbar aus Gott entspringen, sondern er muß auf dieselbige Weise wie jedes einzelne körperliche Ding zum Daseyn gelangen, und kann nicht anders, als mit einem bestimmten körperlichen Dinge zugleich vorhanden seyn.« Vgl. Sandkaulen, Die Ontologie der Substanz (2007), 261 f. Deshalb ist hier nochmals darauf hinzuweisen, dass die von Melamed vertretene Zuschreibung einer Akosmismuslesart an Jacobi nicht plausibel erscheint. 481 Melamed, Omnis determinatio (2012), 188. 478
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stimmtheit. Erst diese ist die Bedingung dafür, den Kosmos, also die Vielheit der Modi dieser Substanz, als letztlich nicht-daseiend annehmen zu können. Melamed legt nun dar, dass die Auffassung der Unendlichkeit der Substanz als absolute Unbestimmtheit bei genauerer Betrachtung der Metaphysik Spinozas widerspricht. Stattdessen muss gerade vom Gegenteil ausgegangen werden. Damit lässt sich die Plausibilität von Maimons Akosmismusvorwurf durchaus infrage stellen: Immerhin kann auch dort die Unbestimmtheit der Substanz als einer der wesentlichen Ausgangspunkte jenes Vorwurfs benannt werden, wie in 4.1.2 gezeigt wurde. Diese Problematisierung der Position Maimons wird dadurch weiterführend gestützt, dass Melamed in der von ihm vertretenen Lesart der Substanz als maximal Bestimmtes v. a. mit Spinozas Theorie der Attribute arbeitet. Diese seien als affirmative, essenzielle Ausdrucksformen der Natur der Substanz zu verstehen, damit als klar zur n. naturans gehörend. Gerade hinsichtlich dieser Theorie zeigt sich nun eine klare interpretative Schwäche und terminologische Ungenauigkeit in der Spinoza-Rezeption Maimons: So bestimmt er »Materie und Geist« als diejenigen »Attribut[e]«, unter denen die Substanz »erscheint« (I, 153; s. o., 2.2.1). Dies kann letztlich nur als fehlerhafte Wiedergabe der Philosophie Spinozas gelten: Einerseits sind extensio und cogitatio inhaltlich deutlich von Materie und Geist zu unterscheiden, die zu den Modi der Substanz unter den genannten Attributen gezählt werden müssten. Andererseits stimmt auch die Auffassung der Attribute als Erscheinungsformen der Substanz letztlich nicht mit der Theorie Spinozas überein. Für diesen sind, wie anhand der Erörterungen Melameds skizziert wurde, Attribute vielmehr reale, inklusive Ausdrucks- und Konstituierungsformen der Substanz. Zudem nimmt Maimon die zwei genannten Attribute als einzige an und lässt damit die für Spinozas Position wichtige These einer unendlichen Anzahl von Attributen der Substanz außer Acht. Gerade diese unendliche Vielheit kann dabei aber, wie gesagt, als Argument für die Charakterisierung der Substanz als maximal bestimmt gelten. Dies verdeutlicht abermals Maimons Verständnisdefizit im Umgang mit Spinozas Denken: Im Journalartikel Ueber die Weltseele von 1790, also in der Phase zwischen Versuch und Akosmismusvorwurf, schreibt Maimon: »[N]ach diesem [sc. dem ›Spinozismus‹; ebd.] ist Gott und die Welt eine und eben dieselbe Substanz, der zwey Eigenschaften beygelegt werden, nämlich unendliche Ausdehnung (Materie) und unendlicher Verstand (Form).« (WS, 51) Hier zeigt sich außerdem, über die irrtümliche Annahme lediglich zweier »Eigenschaften« der Substanz hinausgehend, ein weiteres nicht unerhebliches Fehlverständnis der Grundzüge der Metaphysik Spinozas, ähnlich dem o. g. Passus zu Materie und Geist: Einerseits wird unendliche Ausdehnung mit Materie identifiziert, andererseits unendlicher Verstand – nicht
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etwa Denken, was korrekt gewesen wäre – mit Form. Damit kommt es abermals zu einer deutlichen Konfusion der Unterscheidung zwischen Attribut und Modus. – Gleichwohl behält die im Laufe dieses Kapitels vorgeschlagene Begründungsmöglichkeit der Akosmismuszuschreibung durch Maimon trotz dieser Fehlkonzeption ihre Gültigkeit, auch wenn die inhaltliche Triftigkeit dieser Zuschreibung dadurch weiterführend klar in Zweifel geraten muss: Denn auch gemäß der hier zitierten Passage ist »Verstand« der Substanz als solcher laut der Position Spinozas in Maimons Lesart quasi-extern: Selbst wenn Verstand, auch als unendlicher, »Eigenschaft« der Substanz ist – eigentlich Modus –, so bleibt es doch der Fall, dass Substanz selbst nicht Intellekt ist. In diesem Kontext lässt sich Melameds Annahme, die Auffassung der Substanz als absolut Unbestimmtes sei die notwendige Bedingung für die Akosmismusthese, hinsichtlich Maimons eigener philosophischer Position spezifizieren und weiterentwickeln: Es geht Maimon letztlich nicht um die generelle Unbestimmtheit der Substanz, sondern primär um einen speziellen Aspekt dieser Unbestimmtheit: nämlich um die Tatsache, dass die Substanz als solche keine Bestimmung als Intellekt trägt. Dessen zentrale philosophische Bedeutsamkeit ist für Maimon wiederum gewissermaßen unverhandelbar. Und in der Tat verbleiben sowohl i. infinitus als auch i. finitus als Modi laut Spinoza in der Sphäre dessen, was zwar aus der attributiv konstituierten Essenz der Substanz notwendig folgt, nicht jedoch diese Substanz selbst ist. Unter Berücksichtigung der in Maimons eigener Position manifestierten primären Signifikanz des Intellekts tritt im Umgang mit der Metaphysik Spinozas nun durchaus die beschriebene Problematik auf: Substanz, als an sich nicht-intellektual spontane und produzierende potentia, kann gemäß Maimons Perspektive schlicht nicht sein. Gerade dies kann, wie beschrieben, letztlich als rekonstruierbarer Grund für Maimons Akosmismuszuschreibung im Kontext des ›Zurückschauderns vor dem Nichts‹ aufgefasst werden. Damit scheint die mögliche Geltung dieser Zuschreibung, auch unter Berücksichtigung der bisher nachgezeichneten, überzeugenden Argumentation Melameds, nicht gänzlich neutralisiert zu sein. Interessanterweise ist es nun die bereits vorgestellte Position Della Roccas, die hierzu einen möglicherweise weiterführenden Ansatzpunkt bietet. Zwar plädiert Della Rocca selbst in kritisch-problematisierender Form für eine Akosmismuslesart. Insbesondere die Auslegung, nach der der Substanz letztlich kein vollständiges Sein zukomme, scheint Maimons im Kern entsprechender Akosmismuszuschreibung zunächst Vorschub zu leisten. Della Rocca räumt allerdings ein, dass Spinoza eine gewisse, begrenzte Form von Idealismus zugeschrieben werden könne, und zwar in dem ganz grundsätzlichen Sinn, dass Spinozas Rationalismus zufolge jegliche Entität gedanklich zugänglich sein
Problematik: Plausibilität der Spinoza-Rezeption Maimons
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muss. 482 Dies kann nun naheliegenderweise als intellektuale Zugänglichkeit verstanden werden; schließlich gebe es, so Della Rocca, eine Identität von Sein und Intelligibilität. 483 Dies weist bereits auf eine mögliche Sonderstellung des Denkens in Spinozas Philosophie hin, auch wenn Denken qua Intellekt hier noch weitgehend mit Verstehen, nicht jedoch explizit mit produktiver Spontaneität konnotiert ist. Letztlich ist es hingegen Melameds Argument der Priorität des cogitatioAttributs, das hier auf entscheidende Weise greift, und zwar v. a. vor dem Hintergrund der Annahme von Attributen als inklusiven, essenziellen Ausdrucksweisen der Substanz: »What is thought's priority among the attributes?«, 484 so Melameds Fragestellung, auf die eine klare Antwort folgt: We can reach the characteristic of thought that grants it priority among the attributes in a couple of different ways, but essentially, it is one and the same characteristic. Thought is preeminent among the attributes insofar as it is the only attribute that harbors a mode – God's idea – to which Spinoza assigns absolute infinity and uniqueness, qualities that are otherwise ascribed only to God. 485
Die Idee Gottes – »[b]ecause all things are in God, God's idea of himself is the idea of everything that is« 486 – wiederum kann, wie Melamed demonstriert, mit dem i. absolute infinitus Dei identifiziert werden. 487 Vor diesem Hintergrund erscheint auch eine weitere Formulierung aus Teil I der Ethik einleuchtend: Spinoza setzt dort das unendlich Viele, das auf unendlich viele Weisen aus der Notwendigkeit der göttlichen Natur folgt (d. h. die n. naturata als Folge der n. naturans), mit demjenigen gleich, was unter einen i. infinitus fallen kann (vgl. E I, prop. 16). Birgit Sandkaulen stellt in eine ähnliche Richtung wie Melamed weisend fest, der i. infinitus sei dasjenige, was »die formale Scheidung der Attribute objektiv übergreif[e]«. 488 Dem i. infinitus kommt als Modus im Attribut der cogitatio laut Spinoza also ein bedeutsamer Sonderstatus zu, diesem Attribut daher zugleich auch eine Vorrangstellung vor anderen Attributen. Dies spricht klar gegen die Überzeugungskraft der Akosmismusthese Maimons in der hier als plausibel vorgeVgl. Anm. 437 f.; 443. Vgl. Anm. 436. 484 Melamed, Spinoza’s Metaphysics (2013), 193. 485 Ebd. 486 Ebd., 181. 487 Vgl. ebd., 132–136; 182; dort v. a. bezugnehmend auf E II, prop. 4, dem.; Ep. LXIV, 232: »[I]m Attribut Denken unbedingt unendlicher Verstand«. 488 Sandkaulen, Individualität der Person (2019), 259. 482 483
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schlagenen Interpretation ihres eigentlichen philosophischen Hintergrundes: Immerhin zeigt sich in besagtem Sonderstatus überaus deutlich, inwieweit Substanz ihrem Wesen, d. h. zugleich ihrer potentia nach auch denkend ist, und zwar auf hervorzuhebende Weise und zugleich ungeteilt. 489 Über ihren Modus des i. infinitus vermittelt, der durch finite Intellekte konstituiert ist, ist Substanz damit durchaus intellektual aktiv. Dies gilt in signifikantem Maße, auch wenn Substanz als solche nicht deckungsgleich mit intellectus ist. 490 Die oben rekonstruierte Basis von Maimons Akosmismusvorwurf an Spinoza verliert damit ihre Validität und Relevanz: Denn selbst wenn der Intellekt für Spinoza nicht exklusiv die Position der Substanz einnimmt, so drückt sich die Potenz dieser Substanz 491 doch ganz wesentlich als Intellektualität aus. 492 Die Annahme einer Substanz als prinzipiell nicht-intellektuale potentia, aus Maimons Perspektive eines richtiggehenden Nichts, lässt sich Spinoza somit nicht zuschreiben. Unter Berücksichtigung dieser Sachverhalte erscheint es im Resultat daher nicht möglich, Maimons Akosmismusthese als überzeugende Auslegung der Philosophie Spinozas zu charakterisieren.
4.3 Revisionen: bisherige Widersprüche und offene Fragen
Trotzdem werfen die bisherigen Betrachtungen zu Maimons Spinoza-Rezeption, gerade in ihrer Problematik, Licht auf Maimons eigene philosophische Position zur Zeit der Veröffentlichung des Versuchs sowie in den Folgejahren. Davon ausgehend sollen daher nun diverse bislang offengebliebene Problemstellungen bezüglich dieser Position, die sich in den grundlegenden Betrachtungen in Kap. 2 ergeben haben, weiterführend zur Sprache kommen. Dazu sei zunächst Maimons in Abschnitt 2.2 bereits erörterte Herausgeberanmerkung zu Obereits Widerruf für Kant erneut angeführt. Diese Anmerkung kann gewis489 Da die n. naturans, wie in 4.1.1 beschrieben, außerhalb jeder Teilbarkeits- und Teilhabeverhältnisse steht, kann auch nicht gesagt werden, lediglich ein Teil der Substanz sei denkend. Substanz bringt sich vielmehr ungeteilt im Denken zum Ausdruck. 490 Vgl. Sandkaulen, Die Ontologie der Substanz (2007), 260: »Davon, daß dieser Verstand der Substanz äußerlich sei, ist aber bei Spinoza gar keine Rede und kann auch keine Rede sein, insofern der Verstand als infiniter Modus des Attributs cogitatio unter das fällt, was als natura naturata aus der Notwendigkeit der göttlichen natura naturans immanent folgt.« 491 Zu diesem Aspekt des produktiven Ausdrucks der Potenz der Substanz im Kontext der Akosmismuszuschreibung durch Hegel vgl., wie in Anm. 117, Sandkaulen, Metaphysik oder Logik? (2019), 328. 492 Vgl. hierzu Deleuzes Darstellung, nach der sich Substanz durch Attribute, Attribute durch ihre Modi zum Ausdruck bringen; vgl. Anm. 394. Auch Intellekt kann demgemäß als vollständiger Ausdruck des dabei ungeteilten (weil prinzipiell unteilbaren) Attributs des Denkens verstanden werden.
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sermaßen als Matrix der an dieser Stelle noch zu behandelnden Fragestellungen dienen: Der Versuch wird dort retrospektiv, ganz im Gegensatz zu Maimons Positionierung in der Schrift selbst, als Versuch einer »Vereinigung der Kantischen Philosophie mit dem Spinozismo« charakterisiert. Ein solches Unternehmen sei zwar »einem jeden Selbstdenker natürlich[]«, habe sich aber als undurchführbar, als »Salto mortale« erwiesen (III, 455; s. o.). In Anbetracht des ›Zurückschauderns vor dem Nichts‹ (vgl. ebd.), dessen Verknüpfung mit Maimons Akosmismusvorwurf gegen die Philosophie Spinozas im Laufe dieser Abhandlung erörtert wurde, nimmt Maimon von jener Unternehmung Abstand. Stattdessen bestimmt er eine »Vereinigung der Kantischen Philosophie mit dem Humischen Skeptizismo« (ebd.) als seine aktuelle und zukünftige Programmatik.
4.3.1 Spinoza und Leibniz
Zunächst überrascht Maimons anscheinend völlige Umkehr in der Frage nach dem Bezug des Versuchs zur Philosophie Spinozas. Dies gilt umso mehr in Anbetracht der Tatsache, dass die im Versuch selbst behauptete, gegen Kants Vorwurf stark gemachte prinzipielle Differenz zwischen den Positionen Maimons und Spinozas hinsichtlich der jeweiligen Konzeptionen von Intellekt durchaus vorliegt, wie sich aus den bisherigen Untersuchungen ergibt. Dies revidiert Maimon nun, 1792, jedoch gänzlich. Diese Revision hängt in erster Linie mit seiner inzwischen deutlich veränderten Perspektive auf das Verhältnis der Philosophien Spinozas und Leibniz' zusammen: Im Versuch und im Artikel über Baco und Kant, also 1789/90, identifiziert Maimon seine Position noch verschiedentlich mit derjenigen Leibniz'. In Abschnitt 3.4 wurde dargelegt, dass dies zwar hinsichtlich begrenzter epistemologischer Aspekte teilweise gelten kann, dass die grundlegende programmatische Differenz zwischen Leibniz und Maimon letztlich jedoch überaus deutlich erscheint. Inzwischen, d. h. im Zeitraum von 1792/93, plädiert Maimon nun für die Auslegungsvariante, die Position Leibniz' sei im Resultat weitgehend mit derjenigen Spinozas deckungsgleich. Dies erarbeitet Maimon v. a. in der Progressen-Schrift. 493 Fichte bezieht sich wenig später klar affirmativ hierauf: »[D]aß das Leibnizische System, in seiner Vollendung gedacht, nichts anders sey, als Spinozismus, zeigt in einer sehr lesenswerten Abhandlung: Ueber die Progressen der Philosophie u. s. w. Salomo Maimon.« (GA I,2, 264) 493
Vgl. Engstler, Versuch einer Vereinigung (1990), 43.
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Es ist dabei nicht etwa Maimons Rezeption der Philosophie Spinozas sowie seine Haltung zu derselben, die sich verändert, sondern seine Auslegung der Philosophie Leibniz'. Diesbezüglich lässt sich das Kernargument in den Progressen wie folgt skizzieren: Maimon unterscheidet nun, anders als noch im Versuch, zwischen einer exoterischen und einer esoterischen Lehre Leibniz'. 494 Der Substanzpluralismus der Monadologie gehöre demgemäß zur ersteren, damit auch Leibniz' Ausführungen zur Urmonade und zur prästabilierten Harmonie: Diese Lehre sei »populair, exoterisch, und zu kras, als daß man im Ernst eine solche Vorstellungsart diesem großen Manne beilegen sollte.« (IV, 42) Monaden im Sinne pluraler Substanzen sieht Maimon als »nützliche Fikzionen« (IV, 78) und als »gewisse nothwendige Täuschungen«, die zum »Vorzug der Popularität« »als Realitäten [. . .] betrachtet« werden (IV, 79). – Dies ist vor dem Hintergrund zu verstehen, dass Maimon die Konzeption einer »Methode der Fikzionen« in der Schrift zuvor selbst als sinnvolle philosophische Methodik vorgeschlagen hat. Dort fügt er die vorausgreifende Anmerkung bezüglich des Obengesagten hinzu, dass »der große Leibniz in der Philosophie sich derselben, (ohne von ihr besonders zu sprechen) wirklich bedienet« habe (IV, 39): »Ein in Ansehung einer gewissen Bestimmung nach einer Regel veränderliches Objekt kann betrachtet werden, als gelange es zu der höchsten Stuffe seiner Veränderung, d. h. als wäre es dasselbe und nicht dasselbe Objekt zugleich. Dieses ist eine Fikzion, und kann dienen um etwas in Ansehung eines reellen Objekts zu bestimmen« (ebd.). 495 Dieses gerade in seinem Bezug zur Philosophie Leibniz' schwer zugängliche Konzept methodischer Fiktionen bei Maimon soll an dieser Stelle nicht weiter analysiert werden. 496 Von systematischem Interesse ist hier vielmehr Maimons besagte Unterscheidung zwischen dieser exoterischen Lehre Leibniz' – der Annahme einer Pluralität von Monaden als Substanzen in der Funktion einer methodischen Fiktion – und einer esoterischen. In letzterer zeigt sich laut Maimon nun die behauptete signifikante Nähe der Position Leibniz', im »wahre[n] Begrif« (IV, 42), zu derjenigen Spinozas: Gott, als eine unendliche Vorstellungskraft, denkt sich von aller Ewigkeit alle mögliche Wesen, d. h. er denkt sich selbst auf alle mögliche Art eingeschränkt. [. . .] Gott denkt also alle reelle Objekte, nicht bloß nach dem in unserer Philo494 Zu dieser Unterscheidung vgl. Engstler, Zwischen Kabbala und Kant (1994), 173 f.; Bonsiepen, Einsicht (2002), 401–403. 495 Diese Darstellung der Fiktion als philosophische Methode unterscheidet sich von der Auffassung der Fiktion als »Operation der Einbildungskraft« (III, 60), wie sie zuvor, 1791, im Philosophischen Wörterbuch besprochen wurde; vgl. Anm. 344. 496 Zu Maimons Methodologie der Fiktionen in Bezug auf Leibniz’ Infinitesimalrechnung vgl. Schmidt, Fichtes Begriff der ›Einbildungkraft‹ (2018), 13–20.
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sophie so hoch gepriesenen Satze des Wiederspruchs, sondern wie wir (ob zwar auf eine vollständigere Art) die Objekte der Mathematik denken, d. h. er bringt sie durchs Denken zugleich hervor. (Ebd.)
Zunächst fällt zwar unmittelbar auf, dass sich dieses Leibniz von Maimon zugeschriebene Theorem deutlich von Spinozas Theorie der Substanz unterscheidet: einerseits eine sich selbst als auf multiple Weise eingeschränkt denkende, damit die Welt intellektual produzierende »unendliche Vorstellungskraft« (»seine [sc. Gottes; D. E.] Gedanken sind zugleich Darstellungen« (ebd.)) – andererseits die Annahme einer Substanz, die als solche eben nicht Vorstellungskraft ist. Worauf Maimon jedoch als übereinstimmende Merkmale dieser angenommenen Lehre Leibniz' und derjenigen Spinozas abzielt, sind die Charakterisierungen beider Philosophien als Monismus und als Immanentismus. Um dies zu belegen, kontrastiert Maimon nochmals unmittelbar Leibniz' exoterische mit seiner esoterischen Theorie: »Die Harmonie zwischen den Substanzen beruht also darauf, daß sie alle ein und dasselbe Wesen ausdrücken.« (IV, 43) Was die methodischen Fiktionen einer Pluralität von Substanzen sowie einer prästabilierten Harmonie zwischen denselben eigentlich bedeuten sollen, ist die Singularität einer Substanz. Dieser inhäriert die Vielheit der Objekte im Sinne ihrer Einschränkungen, 497 also das Wesen der Substanz ausdrückender Modifikationen, gänzlich. »Der Unterschied zwischen Leibniz' und Spinozas System reduziert sich damit für Maimon auf ein Minimum«, 498 so Wolfgang Bonsiepen hierzu. 499 Im Sinne dieser Kombination von Monismus und Immanentismus, die Leibniz in seiner esoterischen Lehre also letztlich vertrete, sieht Maimon die »Verträglichkeit« und mithin weitgehende Übereinstimmung dieser Lehre, wenn auch keine vollständige Kongruenz, »mit dem höchsten Dogmatismo (Spinozismo)« (IV, 11). – Spätestens in dieser identifizierenden Auffassung von Spinozismus als ›höchstem Dogmatismus‹ wird deutlich, dass Maimons hier skizzierte Umdeutung der Philosophie Leibniz' aller Wahrscheinlichkeit nach 497 Damit führt Maimon abermals eine quasi-eleatische Lesart dieses Immanentismus an; vgl. Anm. 116. 498 Bonsiepen, Einsicht (2002), 403. 499 Vgl. auch Engstler, Zwischen Kabbala und Kant (1994), 174: In diesem Sinne falle »Leibniz’ Philosophie ihrer Ontologie nach mit der Spinozas zusammen[].« Hinsichtlich der Akosmismusthematik ist diese Lesart eines gänzlichen Zusammenfallens bzw. eines nur noch minimalen Unterschieds jedoch zu stark. Schließlich sieht Maimon die Philosophie Leibniz’ explizit nicht als Akosmismus; vgl. I, 154 f. Dies wird begründet mit der in Leibniz’ System nicht gänzlich neutralisierbaren Existenz der Pluralität kausal wirksamer Entitäten; vgl. ebd. – Dieser Aspekt kann hier nicht weiter vertieft werden; die Leibniz-Rezeption Maimons würde auch hierin eine eigenständige Untersuchung erfordern.
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durch seine nachweisliche 500 Rezeption der Hauptschriften der Spinoza-Kontroverse zwischen Mendelssohn und Jacobi veranlasst worden ist, die nach der Publikation des Versuchs, also ab 1790 einsetzt. Mit ›höchstem Dogmatismus‹ ist in diesem Kontext das philosophische System eines konsequenten Rationalismus und Monismus gemeint, auch wenn diese Verwendung des Dogmatismusbegriffs durch Maimon die Positionierungen und Formulierungen in den Schriften Jacobis nicht angemessen widerspiegelt. Die Annahme, Leibniz' Philosophie stimme in letzter Instanz mit derjenigen Spinozas überein, verweist spezieller auf Maimons Lektüre und Rezeption der Spinozabriefe Jacobis. Dort wird dieser Gedanke verschiedentlich geäußert, u. a. auch von Gotthold Ephraim Lessing im Dialog, den Jacobi in seinen Briefen an Mendelssohn rekonstruiert hat. 501 Die Auffassung von Spinozismus als ›höchstem Dogmatismus‹ im o. g. Sinne, dem also auch Leibniz in Wirklichkeit verpflichtet gewesen sei, kann ebenfalls auf die verschiedentlich vorgenommene Darstellung der Metaphysik Spinozas in der Schrift Jacobis zurückgeführt werden. 502 Und nicht ohne Grund bezieht sich Maimons in den Progressen unternommene »Metakritik der Mendelssohnschen Spinoza-Kritik« 503 (vgl. IV, 59–63) auf Mendelssohns Schrift Morgenstunden von 1785, 504 die ebenfalls besagtem Disput entstammt. Durchaus zweifelhaft ist im Endeffekt also, ob Fichtes Lob des Nachweises der Nähe von Leibniz' Philosophie zu derjenigen Spinozas legitimerweise Maimon zukommen kann. Vor dem Hintergrund dieser gewissermaßen verspäteten Rezeption des Spinoza-Streits durch Maimon wird allerdings auch nachvollziehbar, wieso dieser den Versuch einer Vereinigung von Kants Philosophie mit dem Spinozismus als »einem jeden Selbstdenker natürliche[s]« (III, 455; s. o.) Unternehmen chaS. o., Abschnitt 2.3. Vgl. v. a. die Beylage VI (JWA 1,1, 232–246) in der Zweitauflage von 1789, in der die »große Analogie der Lehre des einen [Spinoza] mit der Lehre des andern [Leibniz]« (JWA 1,1, 153) dargelegt wird; zudem u. a. JWA 1,1, 23: »Leßing. Gut. Aber nach was für Vorstellungen nehmen Sie denn Ihre persönliche extramundane Gottheit an? Etwa nach den Vorstellungen des Leibnitz? Ich fürchte, der war im Herzen selbst ein Spinozist.« Vgl. Bonsiepen, Einsicht (2002), 406. 502 Vgl. dort u. a. Lessings Positionierung: »Es giebt keine andere Philosophie, als die Philosophie des Spinoza.« (JWA 1,1, 18); sowie Jacobis an Mendelssohn adressierte Rekonstruktion ebendieser Philosophie in 44 Paragraphen (JWA 1,1, 93–112). Eine etwaige Dogmatismuszuschreibung passt hier keineswegs, weshalb Maimons Terminologie an dieser Stelle als verfehlt gelten muss. 503 Engstler, Zwischen Kabbala und Kant (1994), 170. Zu den Details dieser Metakritik vgl. weiterführend ebd., 170–173. 504 MGS 3,2, 1–175, hier v. a. Vorlesung XIII (MGS 3,2, 104–113), die Maimon direkt zitiert; vgl. IV, 59–62/MGS 3,2, 105–108; Engstler, Zwischen Kabbala und Kant (1994), 170 f. – Zu einem möglichen zusätzlichen Bezug Maimons auf Mendelssohns Philosophische Gespräche von 1755 (MGS 1, 1–39) vgl. Engstler, Zwischen Kabbala und Kant (1994), 170 (Anm. 51). 500 501
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rakterisiert: In den Spinozabriefen wird verschiedentlich enorme Bewunderung für die konsequente Rationalität und philosophische Überzeugungskraft von Spinozas System, dem ›höchsten Dogmatismus‹ in Maimons Worten, geäußert, sowohl vom Spinozisten Lessing in Jacobis Darstellung 505 als auch von Jacobi selbst. 506 Dies liefert hier die argumentative Grundlage. Davon ausgehend betont Maimon später die ›Natürlichkeit‹ des philosophisch-autonomen Unterfangens, dieses System in künftiger philosophischer Theoriebildung adäquat zur Geltung kommen zu lassen, und zwar auch in Anbetracht des weitreichenden Perspektiv- und Paradigmenwandels durch die kantische Vernunftkritik. Auch wenn sich der ehemals überzeugte Spinozist Maimon inzwischen prinzipiell vom System Spinozas distanziert hat, so äußert er doch bisweilen noch seine hohe Wertschätzung für dessen Denken (vgl. z. B. II, 501) – u. a. auch in der Form, dass er die »Neigung« des »tiefdenkende[n] Jakobi« (I, 488) zum Spinozismus als verständlich und nachvollziehbar darstellt (vgl. I, 488 f.). 507 Dabei reflektiert Maimon Jacobis tatsächliche, deutlich komplexere Haltung zu diesem Themenfeld jedoch nicht angemessen. Diese Haltung soll in 4.3.3 ausblicksweise kurz angesprochen werden.
4.3.2 Maimons spätere Neubewertung des Versuchs
Durch die beschriebene Umorientierung Maimons in seiner Rezeption der Philosophie Leibniz' wird schließlich auch deutlich, wieso seine 1792 vorgenommene Revision der Programmatik des Versuchs so sehr von der Darstellung in der Schrift selbst abweicht. Dieser Revision zufolge ist die Schrift das gescheiterte Unterfangen einer »Vereinigung der Kantischen Philosophie mit dem Spinozismo« (III, 455; s. o.) gewesen. Im Versuch selbst identifiziert Maimon seine Position, wie dargestellt, bisweilen mit derjenigen Leibniz', weist eine Interpretation seiner eigenen Philosophie als konform zu derjenigen Spinozas hingegen explizit und entschieden zurück. Nun wird von einer weitgehenden Übereinstimmung von »Leibnizismus« (II, 521) und Spinozismus als »höchste[m] Dogmatismo« (IV, 11; s. o.) ausgegangen. Damit lässt sich nachvollziehen, wieso Maimon den Versuch zum betrachteten späteren Zeitpunkt, also 1792, dann doch unmittelbar mit der Philosophie Spinozas in Verbindung bringt. Vgl. v. a. JWA 1,1, 18; 40 f. Vgl. v. a. JWA 1,1, 27 f.; 90–112; 290. 507 In diesem Kontext widerspricht Maimon auch der bisweilen geäußerten Ansicht, Mendelssohn sei infolge der Geschehnisse des Spinoza-Streits verstorben; vgl. I, 489. Dies behauptete v. a. Karl P. Moritz (vgl. ders., Berlin, den 24 Januar (1786)/JBW II,5,2, 704–706), der Herausgeber der Lebensgeschichte Maimons sowie des Magazins zur Erfahrungsseelenkunde. 505 506
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Dementsprechend bezeichnet er die dogmatische ›Fraktion‹ dieses Versuchs eines ›Koalitionssystems‹ (vgl. I, 557 f.) etwa zeitgleich, in der Lebensgeschichte, synonymisch auch als »spinozistische[n] oder leibnitzische[n] Dogmatism« (I, 558). 508 Maimon betont also die Unausführbarkeit der versuchten Vereinigung dieses Dogmatismus mit der kantischen Philosophie, d. h. mit der Orientierung an der grundlegenden transzendentalphilosophischen Perspektivik Kants. Darin spricht sich am ehesten Maimons Einsicht aus, er habe sich im Versuch noch nicht in ausreichendem Maße vom Spinozismus distanziert. Gemäß der hier skizzierten Bedeutung geht es dabei also primär um einen konsequenten Monismus. An dieser Stelle zeigt sich jedoch eine nicht unerhebliche Problematik in der Auslegung dieser nachträglichen selbstreferenziellen Umwertung durch Maimon, die eine weiterführende Prüfung des hier vertretenen Ansatzes notwendig werden lässt: Im betrachteten Passus wird unter ›Spinozismus‹ also Monismus und Immanentismus in Einheit verstanden, unter der sich auch die von Maimon angenommene esoterische Lehre Leibniz' subsumieren lässt. Das bedeutet zugleich, dass diesem Monismus gemäß unbestimmt bleibt, wie die Substanz als das Eine nun verstanden wird: Hiermit kann Substanz in Spinozas Sinne gemeint sein oder auch, davon grundsätzlich verschieden, eine spontan-produktiv denkende »unendliche Vorstellungs[-]«, besser ›Darstellungskraft‹ (vgl. IV, 42; s. o.), also eindeutig Intellekt. Damit ließe sich aber letztlich nicht mehr legitimieren, dass Maimons hier auftretendes Diktum vom ›Zurückschaudern vor dem Nichts‹ sinnvoll mit dem anderenorts, jedoch im selben Zeitrahmen zu findenden Akosmismusvorwurf gegenüber der Philosophie Spinozas verknüpft werden kann: Immerhin wird dieser Vorwurf nur unter Berücksichtigung der Besonderheit der Substanzkonzeption Spinozas inhaltlich transparent. Dies wurde hier zumindest als plausible Lesart vorgeschlagen: Nur insofern im Spinozismus davon ausgegangen wird, dass Substanz per se eben nicht Intellekt ist, sondern es sich um eigentlich nicht-intellektuale potentia handelt, erscheint Maimons Akosmismusthese rekonstruktiv nachvollziehbar, wenn auch sachlich am Ende nicht haltbar. Nun scheint es allerdings Monismus in einem allgemeineren Sinne zu sein, der hier mit dem ›Zurückschaudern vor dem Nichts‹ konnotiert wird. Hierzu lässt sich allerdings Folgendes einwenden: In Abschnitt 3.4 wurde dargestellt, dass der Versuch potenziell die Auslegung zulässt, es werde dort die Identität des menschlichen Verstandes mit dem unendlichen angenommen. Hier zeigt sich also eine Bedeutungsverschiebung im Vergleich zu dem, was im Versuch noch als ›rationaler Dogmatismus‹ innerhalb des Koalitionssystems zu verstehen ist; vgl. Anm. 337. 508
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Jener transzendentalphilosophisch gewendete Radikalismus von Intellektualität würde in seiner uneingeschränkten Ausführung in einem intellektualistischen Monismus resultieren, wie dann in 4.1.4 zu ›Gegebenem und Welt‹ beschrieben wurde. Ein solcher Monismus könnte selbst wiederum als Form von Akosmismus aufgefasst werden: Dementsprechend gäbe es, vereinfacht gesprochen, bloß Intellekt und keine Welt; zumindest nicht im Sinne von Gegenständlichkeit, die sich tatsächlich extern zum Intellekt verhält. Gerade diese zwar mögliche Auslegung des Versuchs erscheint letztlich jedoch nicht plausibel, wie bereits betont wurde: Immerhin muss beachtet werden, dass Maimon dort verschiedentlich von der konstitutiven Eingeschränktheit der Spontaneität menschlicher Erkenntnis und ihrem nicht-neutralisierbaren Angewiesensein auf etwas extern Gegebenes spricht. Es ist also möglich, hier von zwei verschiedenen Formen von Akosmismus auszugehen, auf die Maimon mit dem Diktum vom ›Zurückschaudern vor dem Nichts‹ hinweist: Primär und mit deutlich stärkerer Gewichtung die bisher hauptsächlich erörterte Auslegung des Spinozismus im engen, eigentlichen Sinne, also konkret der Philosophie Spinozas, laut der Substanz als solche nicht Intellekt ist; sekundär eine mögliche Form von intellektualistischem Monismus, in dem jedes extern Gegenständliche faktisch aufgelöst wäre. ›Welt‹ wäre demgemäß nichts dem intellektualen Erkenntnissubjekt wirklich Gegen-stehendes, sondern gänzlich spontan Produziertes. In Anlehnung an die Überlegungen in 4.1.3 f. könnte dies als geradezu entgegengesetzte Position verstanden werden: Im ersten Fall geht es um ein Fehlen intellektualer Produktivität auf höchster ontologischer Ebene; im zweiten Fall um die vollständige Auflösung der Welt in uneingeschränkter Produktion durch den Intellekt. Maimon hat sich im Versuch, so die wahrscheinliche Motivation seiner rückwirkenden Neubewertung, nicht ausreichend gegen einen solchen Intellektualismus erklärt und eine derartige Auslegung seiner Schrift immerhin noch ermöglicht. Daher bot sich auch die Möglichkeit, den Versuch als Spinozismus im weiteren, uneigentlichen Sinne aufzufassen, d. h. generell als monistische Philosophie. 509 Diese Hypothese zweier divergierender Formen von Akosmismus erscheint an dieser Stelle zunächst kaum als verifizierbar. Durchaus plausibel wird sie jedoch, wenn in Betracht gezogen wird, was Maimon hier als künftige Alternativprogrammatik seiner Philosophie angibt: nämlich eine perspektivische Zusammenführung von Transzendentalphilosophie und Skeptizismus. Dieser Dies ist allerdings noch immer zu unterscheiden von Kants Spinozismusvorwurf, demzufolge Maimon ein Teil-Ganzes-Verhältnis von menschlichem und göttlichem Verstand (i. finitus und i. infinitus) annehme. 509
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›Humische‹ Skeptizismus bezeichnet genauer Maimons eigenständige, in Anlehnung an Hume entwickelte Skeptizismuskonzeption. Diese wiederum ist nun dasjenige Element des im Versuch entwickelten Theoriekomplexes, das innerhalb des Argumentationsrahmens dieses Komplexes das entscheidende Gegengewicht zum ›rationalen Dogmatismus‹ darstellt. Dessen möglicher Monismus kann gerade durch den Skeptizismus konterkariert werden, wie in 3.3.3 demonstriert wurde: Indem die tatsächliche Erlangung des Status des unendlichen Verstandes für den menschlichen Verstand prinzipiell nicht realisierbar ist, bleibt letztlich auch der Dualismus von Gedachtem und Gegebenem bestehen. Dies schlägt sich in Maimons ›empirisch-skeptizistischer‹ Problematisierung der faktischen Anwendung von Kategorie auf Gegebenes nieder. Dieser Kontext ist es auch, in dem Paul Franks das rational-dogmatische Element der Philosophie Maimons als monistisch, das empirisch-skeptizistische hingegen als dualistisch bestimmt. 510 Maimon kündigt nun also, in Distanzierung von seinem eigenen vorangegangenen Ansatz im Versuch, künftig eine Umorientierung von ›Spinozismus‹ zu ›Humischem Skeptizismus‹ an. Dabei ist es gerade die mögliche monistische Lesart seiner Philosophie, die Maimon hierdurch revidiert und neutralisiert wissen möchte. Ebendiese Lesart kann, wie gesagt, in einer Auslegung dieser Philosophie ihrerseits als Akosmismus im o. g. sekundären Sinne resultieren. Was künftig anstehen soll, ist also eine stärkere Akzentuierung des skeptizistischen Elements innerhalb der Philosophiekonzeption eines ›Koalitionssystems‹. Diese deutlich zutage tretende Umorientierung in Richtung des Skeptizismus hängt also weiterführend mit der Akosmismusthematik zusammen. Besagter Skeptizismus hat dabei bereits im Versuch eine wichtige Position eingenommen und stellt innerhalb der philosophischen Theoriebildung Maimons somit keinen gänzlich neuartigen Aspekt dar, daher auch keinen grundsätzlichen Bruch. 511 Dies soll, als Überleitung zu Kap. 5, in 4.3.4 weiterverfolgt werden. Zunächst ist mit der noch immer nicht gänzlich klar gewordenen Verwendung der Figur des Salto mortale durch Maimon jedoch ein anderer Aspekt zu beleuchten. Diese Figur verweist wiederum, zumindest dem Anschein nach, erneut auf das Themenfeld des Spinoza-Streits um 1785.
510 511
Vgl. Anm. 373. S. o., v. a. 3.3.3.
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4.3.3 Die Verwendung des Tropus vom Salto mortale
Maimon hat in seiner Schaffensphase um 1792/93, wie gezeigt, bereits unter dem Einfluss seiner Rezeption des vorangegangenen Spinoza-Streits gestanden. Die im Kommentar zu Obereits Widerruf für Kant zu findende Verwendung der Figur des Salto mortale muss diesbezüglich jedoch ausgenommen werden, ebenso wie auch allgemeiner der Akosmismusaspekt: In Abschnitt 2.3 wurde bereits dargelegt, dass sich Maimon mit dem Tropus nicht etwa direkt auf Jacobi bezieht, wie von Bruce Rosenstock vorgeschlagen, 512 sondern unmittelbar auf Obereits »evidenten Salto mortale, bis ins Nichts seiner selbst und aller Dinge an sich außer Einem Ewigen«. 513 An dieser Stelle ist ergänzend auszuführen, inwieweit auch Rosenstocks Lesart von Maimons eigenem Salto mortale dem transzendentalphilosophischen Ansatz des Versuchs letztlich nicht gerecht wird: Rosenstock fasst diesen Salto im Sinne eines ›Aufwärtssprungs zum unendlichen Verstand Gottes‹ auf, 514 der im Versuch eingefordert werde. Unter Berücksichtigung der Erörterungen zu Maimons Verstandeskonzeption in Kap. 3 lassen sich hiergegen im Wesentlichen drei Argumente nennen: Zum Ersten geht es im Versuch eben nicht um ein etwaiges positiv-metaphysisches Theorem zum Verstand Gottes, was Rosenstocks Formulierung nahelegt. Zwar findet sich dort eine periphere Konnotation der Idee eines unendlichen Verstandes mit dem Göttlichen. 515 Die in Kap. 3 vorgeschlagene Interpretation jener Idee lässt es dennoch unplausibel erscheinen, dass Maimon hier tatsächlich vom Intellekt einer metaphysisch realen göttlichen Entität spricht. Zum Zweiten ist die von Maimon konzipierte progressive Approximationsdynamik des in variablem Grad limitierten Verstandeswesens, auf deren Grundlage besagte Idee eines unendlichen Verstandes überhaupt erst gebildet werden kann, alles andere als ein ›Sprung‹: Die asymptotische Annäherung an den idealen Status des unendlichen Verstandes zeichnet sich aufgrund ihrer mathematisch gefassten Charakteristik gerade durch Kontinuität und den Fortgang in einer infiniten Reihe von unendlich kleinen Schritten aus. Gemäß der von Maimon gezeichneten Annäherungsbewegung wird somit prinzipiell nicht ›gesprungen‹. Zum Dritten ergibt sich hieraus schließlich, dass diese Bewegung nicht etwa darauf abzielt, den Status des unendlichen Verstandes faktisch zu erreichen. Ebendies impliziert Rosenstocks Figur des Aufwärtssprungs. Vielmehr geht es darum, die letztlich nicht komplett neutralisierbare Eingeschränktheit 512 513 514 515
Vgl. Anm. 182. Vgl. Anm. 96. Vgl. Anm. 182. Vgl. VT, 116; hierzu 3.2.4.
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menschlicher Erkenntnis, d. h. die Angewiesenheit auf ein Gegebenes, fortlaufend zu reduzieren. Vor diesem Hintergrund erscheint es daher letztlich nicht plausibel, Maimons Verwendung des Tropus vom Salto mortale unmittelbar mit dem Motiv der Vervollständigungsdynamik gemäß seiner Verstandeskonzeption zu konnotieren. Zudem wird deutlich, dass sich diese Verwendung grundsätzlich von Jacobis philosophischem Konzept des Sprunges unterscheidet, wie in 2.3 bereits in Aussicht gestellt: Dieses Konzept bewegt sich in einem gänzlich andersartigen Diskursfeld um die Philosophie Spinozas und lässt die von Rosenstock unternommene kontrastierende, direkte Gegenüberstellung damit prinzipiell ebenfalls unplausibel erscheinen: 516 Bei Jacobi geht es somit auch nicht etwa um den vorgeschlagenen ›Abwärtssprung‹ von den Höhen leerer Vernunft herab in das Gegebene der Erfahrung, 517 sondern um seine systemkritische Auseinandersetzung mit dem Spinozismus aus der Perspektive der Doppelphilosophie eines ›Spinoza und Antispinoza‹. 518 Insgesamt erscheint es daher ratsam, die Verwendung des Tropus durch Maimon hinsichtlich ihrer Einbettung in den historischen Kontext der Diskussion nicht überzubewerten. In erster Linie handelt es sich hier, genereller, um die Umschreibung eines zwar ambitionierten philosophischen Unternehmens, das sich in seiner versuchten Realisierung aber als schwindelerregender »hohe[r] Schwung« (III, 455; s. o.), damit als undurchführbar erwiesen habe. Hierfür spricht zudem, dass Maimon den Tropus auch anderenorts in andersartigem Kontext, damit insgesamt recht unspezifisch gebraucht. 519 Wie im vorhergehenden Teilabschnitt vorgeschlagen, manifestiert sich hierin also am ehesten Maimons nachträgliche Neubewertung des Versuchs: Die Distanzierung von der Philosophie Spinozas sei in der Schrift noch nicht entschieden genug gewesen und damit unvollständig geblieben.
Vgl. Anm. 185. Vgl. Anm. 182. 518 Vgl. Sandkaulen, Jacobis ›Spinoza und Antispinoza‹ (2019), v. a. 24–26. Gleichwohl erhält, wie Sandkaulen darlegt, die »Erfahrung des menschlichen Handelns« eine elementare Funktion innerhalb der Sphäre von Jacobis »Antispinoza« (ebd., 27). In diesem Sinne ist es die »Erfahrung des Handelns« – »[u]rsächliches Handeln aus Freiheit« –, in der Menschen das »Bewusstsein des Unbedingten« gewinnen. Dieses Unbedingte wiederum liegt jeglichen metaphysischen Systemen zu Grunde, die »auf die Dimension des Absoluten zielen.« (Ebd., 31) Da sich der ›Sprung‹ jedoch, wie gesagt, auf die Ebene der Doppelphilosophie des ›Spinoza und Antispinoza‹ bezieht und nicht auf die Signifikanz der Erfahrung innerhalb der Sphäre des Antispinoza, lässt sich Rosenstocks o. g. Lesart des Tropus als gewissermaßen irrationaler ›Abwärtssprung‹ letztlich nicht legitimieren. 519 Vgl. Anm. 186. 516 517
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4.3.4 ›Humischer Skeptizismus‹
Als sein künftiges Alternativprogramm zum Ansatz im Versuch über die Transzendentalphilosophie bestimmt Maimon also »die Vereinigung der Kantischen Philosophie mit dem Humischen Skeptizismo« (III, 455; s. o.). Dabei muss einerseits in Betracht gezogen werden, dass die vorangegangene Konfrontation mit dem Spinozismus zum ›Zurückschaudern vor dem Nichts‹ führte; andererseits, dass dieses Zurückschaudern mit der Auffassung von Spinozismus als Akosmismus zusammenhängt, wie in Kap. 2 dargelegt wurde. – Im Resultat erscheint es dann durchaus plausibel, das nun von Maimon angekündigte Alternativprogramm als entschiedene Positionierung gegen den Akosmismus zu interpretieren, also als Philosophie, die in ihrer betont anti-akosmistischen Ausrichtung gerade das drohende Entschwinden des Kosmos im Nicht seiner selbst abzuwenden bestrebt ist. Dass Maimon mit der zunächst eklektizistisch wirkenden Kombination von kantischer Transzendentalphilosophie und dem Skeptizismus Humes gerade eine solche Programmatik verfolgen soll, mag auf den ersten Blick wenig einleuchtend oder gar paradox erscheinen: Immerhin könnte Skeptizismus auch als philosophische Position verstanden werden, die akosmischen Theorien vielmehr Vorschub leistet, anstatt diesen wirksam entgegentreten zu können. Dies gilt zumindest für die Form eines radikalen Außenweltskeptizismus. Gerade darum geht es in Maimons spezifischem Modell von Skeptizismus, gewissermaßen unter transzendentalphilosophischen Vorzeichen, jedoch eben nicht. Im folgenden, letzten Hauptkapitel soll daher einerseits nachgewiesen werden, dass dieser Ansatz keineswegs bloßer Eklektizismus ist. Vielmehr bezeichnet er auf sehr offen umschreibende Weise Maimons sich nun entwickelnde, konzeptionell eigenständige ›Spätphilosophie‹. Andererseits ist zu zeigen, dass diese Philosophie in ihrer eigentümlichen Profilierung durchaus u. a. das Ziel verfolgt, sich klar gegen einen möglichen Akosmismus zu positionieren. Hiermit gehen jedoch abermals erhebliche interne Probleme in Maimons Philosophie einher, die dabei klar zu benennen sein werden.
5 Maimons Skeptizismusmodell im Kontext der Akosmismusthematik
Nachdem Maimon, wie zum Ende von Kap. 2 erwähnt, ein Freiexemplar der Kritik der Urteilskraft erhält, wendet er sich im Mai 1790 nochmals mit einem Brief an Kant. Darin betont er die Wichtigkeit der Schrift für seine eigene aktuelle philosophische Arbeit: Ich habe zwar noch nicht Zeit gehabt, dieses wichtige Werk [sc. die KU; D. E.] durchzulesen, oder wie dies erforderlich ist, durchzudenken, sondern es erst blos durchblättern können. Gleichwol aber bin ich durch den Beyfall, welchen Sie dem H[of] R[ath] Blumenbach ertheilen, veranlaßt worden, deßen vortrefliche kleine Schrift zu lesen: und hiedurch ist bey mir ein Gedanke rege gemacht worden, der wiewol er nicht neu ist, doch paradox genug scheinen mag, nähmlich die Realität der Weltseele bestimmen zu wollen, wovon ich mich erdreuste Ew. Wohlgeborn den Plan zur Prüfung vorzulegen. [. . .] Ich sehe nicht ein, was die neuern Philosophen habe bewegen können, diese Meinung gänzlich zu verwerfen. (VI, 429 f./Br, AA XI, 174)
Bei der »vortrefliche[n] kleine[n] Schrift« handelt es sich um Blumenbachs in Kap. 3 bereits genannte, primär fortpflanzungsbiologische Schrift Über den Bildungstrieb und das Zeugungsgeschäfte von 1781 (21789): Kant bezieht sich in der KU zustimmend auf Blumenbach und führt dessen Position in der teleologischen Diskussion um die Frage nach der Möglichkeit organisierter Materie an, und zwar als Referenz für die »Theorie der Epigenesis«: [D]aß rohe Materie sich nach mechanischen Gesetzen ursprünglich selbst gebildet habe, daß aus der Natur des Leblosen Leben habe entspringen und Materie in die Form einer sich selbst erhaltenden Zweckmäßigkeit sich von selbst habe fügen können, erklärt er [sc. Blumenbach; D. E.] mit Recht für vernunftwidrig; läßt aber zugleich dem Naturmechanism unter diesem uns unerforschlichen Princip einer ursprünglichen Organisation einen unbestimmbaren, zugleich doch auch unverkennbaren Antheil, wozu das Vermögen der Materie (zum Unterschiede von der ihr allgemein beiwohnenden bloß mechanischen Bildungskraft) von ihm in einem organisirten Körper ein (gleichsam unter der höheren Leitung und Anweisung der ersteren stehender) Bildungstrieb genannt wird. (KU, AA V, 424) 520 Vgl. auch Kants Brief an Blumenbach vom 5. August 1790 (Br, AA XI, 184 f.). Dort dankt Kant für die Zusendung der 1789er-Ausgabe der Schrift Über den Bildungstrieb und kündigt seine Erwähnung Blumenbachs in der diesem eben zugesandten KU an. 520
Maimons Skeptizismusmodell im Kontext der Akosmismusthematik
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Die Annahme eines Bildungstriebes, nisus formativus, 521 als »Princip einer ursprünglichen Organisation« zeichnet die Theorie der Epigenesis spezifisch aus und grenzt sie von der gewissermaßen vor-darwinistischen Evolutionslehre im Sinne einer Präformationstheorie ab: So erklärt sich auch Kant gegen »[d]ie Verfechter der Evolutionstheorie, welche jedes Individuum von der bildenden Kraft der Natur ausnehmen, um es unmittelbar aus der Hand des Schöpfers kommen zu lassen [. . .]. Sie erklärten sich für die Präformation.« (KU, AA V, 423) In der so verstandenen Evolutionslehre wird also davon ausgegangen, dass sämtliche Organismen mit der Schöpfung des Kosmos bereits präformiert vorlägen und sich nur noch zu entwickeln, evolvieren, bräuchten. 522 Demgegenüber nimmt die Theorie der Epigenesis einen eigenständig und ursprünglich formierenden, nicht-mechanischen Trieb als Naturkraft an, der seine Wirksamkeit in Zeugung, Erhaltung und Regeneration von Organismen zeige. Als Rezipient der Ausführungen Blumenbachs und Kants zum Streit zwischen Evolutions- und Epigenesistheorie gedenkt Maimon 1790 also, in den Diskurs einzusteigen. Dies wird aus dem oben zitierten, im Übrigen ebenfalls unbeantwortet gebliebenen Brief an Kant ersichtlich. Damit greift Maimon, auf dem Umweg über Blumenbachs Bildungstrieb, zudem die im Versuch noch nicht realisierte teleologische Dimension der dritten Kritik Kants auf. Das biologistisch-teleologische Theorem eines Bildungstriebes verbindet er dabei mit dem Terminus der Weltseele, der ihm u. a. durch die Beschäftigung mit Jacobis Bruno-Exzerpt bekannt gewesen sein wird. 523 Noch im selben Jahr erscheint der bereits genannte Artikel Ueber die Weltseele im Berlinischen Journal für Aufklärung, 1791 dann eine geringfügig gekürzte Version des Artikels in Maimons Philosophischem Wörterbuch (III, 203–232). 524 Mit dem Bruno-Exzerpt setzt sich Maimon intensiver 1793 im Magazin zur Erfahrungsseelenkunde auseinander. 525 Im Artikel von 1790 selbst verknüpft Maimon nun die Diskussion um die ›verworfene‹ (vgl. VI, 430; s. o.), »in Verfall gerathen[e]« (WS, 47) Lehre eiVgl. Blumenbach, Bildungstrieb (1781), 12 f.: »Ein Trieb (oder Tendenz oder Bestreben, wie mans nur nennen will) der sowol von den allgemeinen Eigenschaften der Körper überhaupt, als auch von den übrigen eigenthümlichen Kräften der organisirten Körper ins besondre, gänzlich verschieden ist; der eine der ersten Ursachen aller Generation, Nutrition und Reproduction zu seyn scheint, und den ich hier um aller Misdeutung zuvorzukommen, und um ihn von den andern Naturkräften zu unterscheiden, mit dem Namen des Bildungs-Triebes (Nisus formativus) belege.« 522 Vgl. Blumenbach, Bildungstrieb (1781), 25–39; ders., Bildungstrieb (21789), 6; hierzu Ehrensperger, Weltseele (2006), 33–38. 523 Vgl. Anm. 171; Franks, Systematicity and Nihilism (2000), 109 (Anm. 109); Engstler, Zwischen Kabbala und Kant (1994), 179. 524 Vgl. Anm. 175. 525 Vgl. Anm. 171. 521
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ner Weltseele unmittelbar mit dem Disput der genannten entgegengesetzten Positionen in Biologie und Teleologie: »Ich glaube [. . .] bemerken zu können, daß diese Streitigkeit [sc. um ›die Realität einer Weltseele‹; WS, 48] mit einer andern Streitigkeit in genauer Verbindung stehe, nämlich mit der, über die Erklärungsart der Generation, welche zwey entgegengesetzte Systeme veranlaßt hat, nämlich das System der Evolution, und der Epigenesis.« (WS, 52 f.) In diesem Kontext stellt er auch die Position Blumenbachs dar (vgl. WS, 56–63). 526 Zu seiner eigenen Konzeption der Weltseele schreibt Maimon unterdessen: Die Weltseele ist eine der Materie überhaupt (dem Stoff aller reellen Objekte) beywohnende, und auf dieselbe wirkende Kraft, deren Wirkung nach der verschiedenen Modifizierung der Materie verschieden ist. Sie ist der Grund der besondern Art der Zusammensetzung in jedem, (auch Unorganisirten) ist die Organisation in jedem organisirten Körper, das Leben im Thier, der Verstand und die Vernunft im Menschen u. s. f., kurz sie giebt die Form, die wiederum die Materie zur Annehmung einer andern Form von einer höhern Ordnung geschickt macht. Und da die Materie unendliche Modifikazionen annehmen kann, so kann diese Entelechie auch unendlich verschiedene Formen liefern, sie ist also der Grund aller möglichen Wirksamkeit. (WS, 48 f.)
Im Hinblick auf die Funktion der Weltseele in diesem Verständnis als »Organisation in jedem organisirten Körper« behauptet Maimon eine Kongruenz dieses Theorems mit Blumenbachs Epigenesislehre, der er sich ebenfalls, wie Kant, anschließt: »Das Generationssystem, welches Herr Blumenbach festzusetzen, und mit triftigen Gründen zu unterstützen sucht, stimmt auch mit der Idee einer Weltseele aufs genaueste überein. Denn ein Bildungstrieb kann nicht ohne eine bildende Kraft gedacht werden, es ist aber der Vernunft gemäß, nicht mehr als eine einzige Kraft von dieser Art, der Natur beyzulegen, indem die Verschiedenheit der Bildungsarten, aus der Verschiedenheit des denselben zum Grund liegenden Stoffes sich wohl erklären läßt.« (WS, 89 f.) Damit bestimmt Maimon den Bildungstrieb nach Blumenbach gewissermaßen als eine Art der Gattung einer »bildende[n] Kraft«, die der Natur insgesamt, 527 auch der anorganischen, als materiell ›beiwohnend‹ verstanden wird. 528 Wenn in der vorliegenden Abhandlung von Maimons ›Spätphilosophie‹ gesprochen wird, dann ist es dieses Theorem der Weltseele, das als spezielles Vgl. Ehrensperger, Weltseele (2006), 31–43. Ehrensperger nennt den Bildungstrieb daher auch »eine organische Version Newtonscher Kraft« (ebd., 39). 528 Zum möglichen Einfluss von Maimons Verwendung des Theorems einer Weltseele auf Schelling, Fichte und Kant vgl. Engstler, Zwischen Kabbala und Kant (1994), 178 (Anm. 89); Hammacher, Fichte, Maimon und Jacobi (1989), 245; Lehmann, Beiträge (1969), 327. 526
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Charakteristikum jener Philosophie und als am Anfang derselben stehend aufgefasst wird. Wie nachgewiesen wurde, ist es diejenige Theoriebildungsphase in Maimons philosophischer Biographie, die unmittelbar auf die Publikation des Versuchs über die Transzendentalphilosophie folgt. In diesem taucht der Terminus der Weltseele noch nicht auf. In Anbetracht der Tatsache, dass sich Maimons philosophische Publikationstätigkeit im Wesentlichen auf den Zeitraum von 1789 bis kurz vor seinem Tod 1800 beschränkt, erscheint es zwar problematisch, seine Schaffensphase ab 1790 bereits als ›Spätphilosophie‹ zu bezeichnen. Angesichts der systematischen Neuerung, die sich durch die Ausführung der Theorie einer Weltseele zeigt, soll dies als Behelf zur Benennung jener Schaffensphase nach dem Versuch hier dennoch gelten. Achim Engstler spricht mit Blick auf dieses Auftreten der Konzeption einer Weltseele in Maimons Philosophie von einem »Umtausch«: Die Funktion, die im Versuch noch das »Theorem[] des intellectus infinitus« übernommen habe, komme später dem »neuplatonische[n] Konzept der Weltseele« zu. 529 Nun ist in dieser Sache nicht bloß darauf hinzuweisen, dass die stillschweigende Identifikation der Theorie vom unendlichen Verstand im Versuch mit dem v. a. spinozanisch geprägten Terminus des i. infinitus nicht zulässig ist, wie sich aus den Überlegungen in Kap. 3 ergeben hat. Auch erscheint die Annahme eines schlichten Umtausches der einen Konzeption gegen die andere nicht als adäquat. Wolfgang Bonsiepen konstatiert demgegenüber daher, »daß Maimon keineswegs radikal mit der Konzeption seines Versuchs bricht, insofern er an der Theorie eines unendlichen Verstandes festhält.« 530 Dass sich dies durchaus so verhält, dass innerhalb der Theoriebildung Maimons in Bezug auf unendlichen Verstand und Weltseele also kein gänzlicher Umbruch stattfindet, lässt sich beispielsweise an Maimons letzter großer Schrift Kritische Untersuchungen über den menschlichen Geist von 1797 demonstrieren: Dort hat das Theorem des unendlichen Verstandes mitsamt dem generellen Approximationsgedanken noch immer maßgebliche Relevanz und findet weitere Ausführung. 531 Einerseits muss also in Betracht gezogen werden, dass Maimon (wie in Kap. 4 gezeigt) die »Vereinigung der Kantischen Philosophie mit dem Humischen Skeptizismo« als Alternativprogrammatik seiner philosophischen AmEngstler, Zwischen Kabbala und Kant (1994), 178. Bonsiepen, Einsicht (2002), 397. 531 Vgl. u. a. VII, 246, hier in der Fassung eines (nun theologisch kontextualisierten) unendlichen Erkenntnisvermögens: »Der Mensch betrachtet sich [. . .] ferner als ein Objekt der Natur, folglich als ein eingeschränktes Wesen, und doch, da sich sein Erkenntnisvermögen auf alle mögliche Objekte erstreckt, findet er sich im Stande, bis ins Unendliche zu schreiten, und sich dem unendlichen Erkenntnißvermögen (der Gottheit) ohne Aufhören zu nähern. Kann eine größere Würde irgend eines Wesens nach der Gottheit gedacht werden.« 529
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bitionen nach dem Versuch bestimmt. Andererseits ist festzuhalten, dass diese Schaffensphase der ›Spätphilosophie‹ Maimons zudem durch die Entwicklung des Theorems einer Weltseele geprägt ist. Schließlich ist auch davon auszugehen, dass beide Umorientierungen keine radikalen Brüche darstellen, sondern vielmehr modifizierte Schwerpunktsetzungen und veränderte Akzentuierungen. – Aus dieser Konstellation ergeben sich diverse Fragestellungen: So wird im Folgenden zunächst, in Abschnitt 5.1, zu klären sein, inwieweit Maimons Verständnis vom Hume'schen Skeptizismus in systematischer Verknüpfung zu seinem u. a. naturphilosophisch inspirierten Konzept einer Weltseele steht. Gerade auf Grundlage dieser Verknüpfung soll dabei erörtert werden, inwieweit hier von einer eigenständigen Theoriebildung Maimons ausgegangen werden kann. Besagte philosophische Programmatik beschränkt sich also nicht etwa auf Eklektizismus, wie zumindest vermutet werden könnte. Daraus wird sich in 5.2 ergeben, dass Maimons spezifisches Skeptizismusmodell auch keine bloße Offensive gegen generelle Vernunftansprüche darstellt, sondern vielmehr erst vor dem Hintergrund der durchaus eingeforderten Legitimität ebendieser Ansprüche sinnvoll erschlossen werden kann. Im Folgenden ist dann der direkte Rückbezug zur Akosmismusthematik herzustellen: In 5.3 soll die Relevanz des in Rede stehenden Skeptizismusmodells für die Akosmismusdiskussion dargelegt werden. Dies geschieht vermittelt über die in 3.3.3 besprochene Thematik um Antinomie und Aporie im Kontext der Verstandeskonzeption Maimons. In 5.4 wird abschließend dargestellt, inwieweit sich innerhalb des Theoriekomplexes der Spätphilosophie Maimons eine generelle Verschiebung des Substanzialitätsverständnisses vollzieht. Diese Verschiebung soll einerseits zwar die vermeintlich vom Spinozismus ausgehende Bedrohung durch Akosmismus, wie sie in 4.1 rekonstruiert wurde, neutralisieren. Andererseits kann sie jedoch auch als Rückfall Maimons in vorkantisch-metaphysische Argumentationsstrukturen aufgefasst werden. Inwieweit die Lehre von der Weltseele dabei, so Engstlers oben zitierte Aussage, zumindest teilweise als »neuplatonische[s] Konzept« zu verstehen ist, kann dabei nicht in adäquatem Maße aufgearbeitet werden. Hierzu sei auf Kap. 2 der Dissertationsschrift Ehrenspergers verwiesen, 532 in dem die antiken und v. a. mittelalterlichen Prägungshintergründe dieses Theorems besprochen werden. 533 Allerdings wird sich zum Ende der hier vorliegenden Erörterung erneut ergeben, dass Ehrenspergers Einschätzung zu Maimons Denken nicht umfassend überzeugen kann: Ehrensperger geht davon aus, dieses Denken vollEhrensperger, Weltseele (2006), 19–59. Vgl. ebd., u. a. 44: »Maimon geht also wie Blumenbach von der Aristotelischen dynamis-energeia-Dichotomie aus und interpretiert Blumenbachs Vitalismus im Sinne von Avicennas transzendentem Formgeber, dem aktiven Intellekt, dem Weltgeist oder der Weltseele.« 532
533
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ziehe sich wesentlich im Paradigma mittelalterlich-aristotelischer Theorie und gewinne daher auch seine eigentliche Motivation. 534 Eine solche Einordnung wird der Philosophie Maimons angesichts ihrer thematischen Einbettung in den zeitgenössischen philosophischen Diskurs allerdings nicht gänzlich gerecht.
5.1 Assoziative Synthesis: Skeptizismus und Weltseele in systematischer Schnittfläche
Wie in 3.3.3 dargestellt, nimmt Maimons Rückbezug auf David Humes Skeptizismus bereits im Versuch eine systematisch bedeutsame Position ein: Angesichts der nicht vollends neutralisierbaren spezifischen Heterogenität von Gegebenem der Erfahrung und reinem Verstandesbegriff kann letztlich nicht mit Gewissheit festgestellt werden, ob die Kausalitätskategorie tatsächlich zur Anwendung gebracht wird. Deshalb muss zweifelhaft bleiben, ob »wir nämlich Erfahrungssätze (die Notwendigkeit ausdrücken) haben« (VT, 105), so Maimons dortige Darstellung. Damit bezieht sich Maimon auf Humes Kritik an der Annahme apriorischer Kausalitätskonzeptionen (vgl. v. a. PhW 4, 24 f.). Diese Kritik war bekanntermaßen einer der wesentlichen Ausgangspunkte für Kants transzendentalphilosophische Wende. Der Hauptunterschied zwischen Humes Position und Maimons eigenem Modell eines ›Humischen Skeptizismus‹ besteht unterdessen darin, dass ersterer die faktische Anwendung einer etwaigen apriorischen Kausalitätskategorie als unmöglich auffasst (vgl. ebd.), letzterer hingegen lediglich für zweifelhaft erklärt. 535 Dies reiche jedoch aus, um Kants Prämissendisposition hinsichtlich der Wirklichkeit von Erfahrung infrage zu stellen. 536 Auf diese Weise sieht Maimon sich in der Lage, Humes kausalitätsbezogenen Skeptizismus innerhalb des Diskursrahmens um die kritische Philosophie Kants erneut zur Geltung kommen zu lassen, ohne diesen Rahmen hinsichtlich der darin relevanten Fragestellungen verlassen zu müssen: Ja, wird man sagen, das Faktum ist unbezweifelt. Wir sagen z. B. das Feuer erwärmt [. . .] den Stein, welches nicht bloß die Wahrnehmung der Folge zweier Erscheinungen in der Zeit sondern die Notwendigkeit dieser Folge bedeutet. Hierauf aber würde David Hume antworten: Es ist nicht wahr, daß ich hier eine notwendige Folge wahrnehme; ich bediene mich zwar bei dieser Gelegenheit 534 535 536
Vgl. ebd., u. a. 46; 91. Vgl. Anm. 366. Vgl. Bondeli, Maimon über Kants Beweis (2004), v. a. 267 f.; 276 (Anm. 25); 278.
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desselben Ausdrucks, dessen sich andere bedienen, allein ich verstehe darunter bloß die von mir oft wahrgenommene Folge der Erwärmung des Steins auf die Gegenwart des Feuers, nicht aber die Notwendigkeit dieser Folge. (VT, 45) 537
Was die Frage nach der Existenz vermeintlicher Erfahrungsurteile betrifft, geht Maimon klar den von Hume vorgezeichneten Weg und bezieht sich positiv auf dessen Konzeptionen von association und custom: 538 »Es ist bloß eine Assoziation der Wahrnehmungen, aber kein Verstandesurteil [. . .]. [F]olglich gibt es auch keine eigene Erfahrungssätze, (die Notwendigkeit ausdrücken) und wenn ich sage: dieser Begriff ist von der Erfahrung hergenommen, so verstehe ich darunter bloße Wahrnehmung, die eine (durch Gewohnheiten entstandene) subjektive Notwendigkeit enthält, und die man fälschlich für eine objektive Notwendigkeit ausgibt.« (VT, 45; Hervorhebungen: D. E.) 539 Unter Rückgriff auf Humes skeptische Problematisierung der Wahrnehmbarkeit von Kausalität – »Nun sage ich, man trifft nirgends in der Wahrnehmung eine Folge, die notwendig nach einer Regel ist« (VT, 105) – konturiert Maimon im Versuch sein eigenes, in dieser Hinsicht durchaus ›Humisches‹ Modell eines ›empirischen Skeptizismus‹. Angesichts des Vorliegens scheinbarer Kausalurteile müsse also auf die letztlich psychologische Dimension gewohnheitsbasierter Assoziation von Wahrnehmungsinhalten ausgegriffen werden. Weil Kant »das Faktum als unbezweifelt voraus[setze], daß wir nämlich Erfahrungssätze« haben (VT, 105), dieses Faktum allerdings nicht beweisen könne, 540 sieht sich transzendentalphilosophische Reflexion persistent mit Humes Skepsis konfrontiert. 541 Gerade mit Blick auf diese Konfrontation geben die Konzeptionen von association und custom jedoch begrenzt positive Optionen an die Hand. Vgl. Anm. 214. Vgl. v. a. PhW 4, 17–19; 37–40. 539 Zur Problematik des Begriffs subjektiver Notwendigkeit bei Kant und Maimon vgl. Senderowicz, Maimon’s ›quid facti‹ Argument (2003), 194 f. 540 Vgl. Franks, From Quine to Hegel (2019), 14: »Thus the Humean naturalist denies the actuality of what the transcendental philosopher calls ›experience‹, which is not merely perceptual experience, but a body of knowledge that integrates perceptions into a view of the world.« 541 Vgl. hierzu auch IV, 80: »Die kritische und skeptische Philosophie stehen ohngefähr in eben dem Verhältniß, wie der Mensch und die Schlange nach dem Sündenfall, wo es heißt: Er (der Mensch) wird dich treten aufs Haupt; (das heißt, der kritische Philosoph wird immer den skeptischen mit der, zu einer wissenschaftlichen Erkenntniß erforderlichen Nothwendigkeit und Allgemeingültigkeit der Prinzipien beunruhigen); du aber (Schlange) wirst ihn an der Ferse beissen (das heißt: der Skeptiker wird immer den kritischen Philosophen damit necken, daß seine nothwendige und allgemeingültige Prinzipien keinen Gebrauch haben). Quid facti?« Vgl. Franks, From Quine to Hegel (2019), 16; 28: »If you cannot defang the serpent, you must learn how to treat snakebites, and how to walk with swollen heels.« 537 538
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Maimon charakterisiert die Programmatik seiner Spätphilosophie in Abgrenzung zum Versuch wie gesagt dadurch, in ihr eine Vereinigung von Hume und Kant bewerkstelligen zu wollen. Dabei ist es eben der Skeptizismus im hier umrissenen Verständnis, der in Maimons ›koalitionssystemischer‹ Philosophiekonzeption in der Folge eine stärkere Betonung finden soll. Dies bedeutet jedoch nicht, dass das ›rational-dogmatische‹ Element seines Denkens damit gänzlich suspendiert wird. Wolfgang Bonsiepen weist nun darauf hin, inwieweit der durch Hume geprägte Aspekt assoziativer Synthesis im Skeptizismus Maimons mit seinem naturphilosophisch motivierten Interesse am Theorem einer Weltseele verknüpft ist. Eine vermittelnde Position nimmt dabei die Erkenntnisfunktion der Einbildungskraft ein. Besagte Verknüpfung der verschiedenen Theorieelemente ist hier von entscheidender systematischer Relevanz: Maimon »untersucht die Bedeutung der Assoziationsgesetze, die Wirkungsweise unserer Einbildungskraft und deren Zusammenhang mit dem allgemeinen organischen Leben, das er auch Weltseele nennt. Es kommt ihm darauf an, einer möglichen Fundierung der apriorischen Strukturen unseres Erkennens in Natur und Wahrnehmungsprozessen nachzugehen.« 542 Diesen teilweise naturalistisch orientierten Perspektivwandel hin zu empirisch-psychologischen Fragen nach der Genese von Erkenntnisstrukturen verbindet Bonsiepen also mit Maimons wenig später zu findenden Ausführungen zur Einbildungskraft, v. a. im Philosophischen Wörterbuch von 1791. Dies skizziert Bonsiepen auf eingängige Weise: »Die Gesetze der Assoziation stellen dem Körper eigentümliche Gesetze dar, die der Seele aufgrund ihrer Verbindung mit dem Körper zukommen. Der Natur wohnt eine der menschlichen Einbildungskraft analoge produktive Kraft inne, die die Naturobjekte nach bestimmten Regeln hervorbringt. Es ist die Weltseele, die die Quasiobjektiviät der durch die Einbildungskraft erzeugten Assoziationen verbürgt.« 543 In der Tat bezieht sich Maimon im Philosophischen Wörterbuch, genauer im Artikel über »Apprehension und Association der Einbildungskraft« (III, 38– 49), implizit, aber deutlich auf Humes Konzept der imagination im Kontext von associaton (vgl. v. a. PhW 4, 17 f.). Dabei setzt sich Maimon das Ziel zu demonstrieren, dass sich aus dem »Gesetz der Association [. . .] die Entstehungsart der transcendentalen Begriffe erklären« lasse (III, 47): Dieses Gesetz [. . .] wird also ausgedruckt: wenn die Wahrnehmung der Objekte in Zeit und Raum nach einer Regel als coexistirend oder als aufeinander folgend, sinnlich wiederholt wird, so wird bei der Wahrnehmung des einen die Bonsiepen, Einsicht (2002), 405. Inwieweit hier noch von Apriorizität der Erkenntnisstrukturen gesprochen werden kann, wird sich in Kürze zeigen. 543 Ebd., 396. 542
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Wahrnehmung des andern nach einer Regel a priori bestimmt. [. . .] [W]enn dieses Verhältniß unverändert zwischen ihnen bemerkt worden, und es ein Zeitverhältniß ist, worin das eine beständig als vorhergehend, das andre aber als unmittelbar darauf folgend wahrgenommen worden ist, daraus der Begriff von Ursache entspringt (III, 42 f.).
Die von Maimon angeführte Bestimmung »nach einer Regel a priori« ist hier bloß im uneigentlichen Sinne zu verstehen, d. h. als subjektiv-notwendige Synthesis von Wahrnehmungsinhalten, »die man fälschlich für eine objektive Notwendigkeit ausgibt« (VT, 45; s. o.). Dies wird aus Maimons nachfolgender Positionierung gegen Kant und implizit für Hume deutlich (vgl. ebd.). Dabei behält er allerdings weiterhin die grundlegende transzendentalphilosophische Perspektivik Kants bei: »Ich unterscheide mich also hierin von dem Herrn Kant, indem er die Categorien für transcendentale Verstandesbegriffe hält, ich hingegen dieselben für transcendentale Erdichtungen der Einbildungskraft halte.« (III, 44) Anders gewendet: Selbst wenn die Verstandeskategorien auch nach Maimon eine quasi-apriorische Geltung auf Grundlage assoziativer Synthesis beibehalten – laut Bonsiepen »Quasiobjektivität« 544 –, so ist hinsichtlich der Genese dieser Kategorien dennoch auf das empirisch-psychologische Moment der imagination im Verständnis Humes auszugreifen. 545 Wie Bonsiepen darlegt, sind also Maimons Theorem einer Weltseele einerseits sowie sein skeptizistisch kontextualisiertes Modell assoziativer Synthesis vermittelst einer transzendental aufgefassten Einbildungskraft andererseits zwei Aspekte ein und desselben naturalistisch orientierten Theoriekomplexes. Hierdurch wird zudem auch Humes eigener naturalistischer Programmatik Rechnung getragen. 546 Jener Komplex kann daher weitgehend als besagtes Projekt einer »Vereinigung der Kantischen Philosophie mit dem Humischen Skeptizismo« (III, 455; s. o.) identifiziert werden. Dieses Projekt formuliert Maimon 1792, bereits rückblickend und in eigentümlich geprägtem Verständnis der von ihm rezipierten Positionen, als seine Programmatik. Hierfür spricht auch, dass die Theorie einer Weltseele von Maimon explizit als empirisch basierte Annahme bestimmt wird 547 und sich somit auch auf methodologiS. o., vorherige Anm. Vgl. Franks, From Quine to Hegel (2019), 9: »For Maimon saw, not only that a consistent naturalist would reject Kant’s method, but also that Kant’s putatively necessary conditions of possibility could themselves be naturalised by means of a Humean psychological explanation.« 546 Vgl. v. a. Humes Treatise of Human Nature von 1739/40 (PhW 1, 301–560; PhW 2, 73–374); vgl. zudem (in Rückwendung zu Maimons Bezug auf Hume) Franks, From Quine to Hegel (2019), 24: »[T]he methodological naturalist may appropriate what the transcendental philosopher treats as categorial necessities by redescribing them as no more than practically indispensable.« 547 Vgl. WS, 51: »[D]as Daseyn der Weltseele [. . .] wird bloß a posteriori angenommen.« 544 545
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scher Ebene in seine naturphilosophische Perspektivik einfügt. Zudem müsse, damit einhergehend, »die Idee einer allgemeinen Weltseele [. . .] von großem Nutzen zur Erweiterung unserer Naturerkenntnis seyn« (WS, 92). Vor diesem Hintergrund ist schließlich auch Maimons publizistische Beteiligung an Karl Philipp Moritz' Projekt des Magazins zur Erfahrungsseelenkunde in den Jahren 1792 und 1793 zu sehen: Schließlich ist es ja ebendiese Orientierung an empirisch-psychologischen Fragestellungen vor dem Hintergrund eines allgemeinen Naturalismus, die den hier umrissenen Theoriekomplex im Wesentlichen charakterisiert. 548 In diesem Sinne betont Bonsiepen, dass Maimon auch in seiner Besprechung von Jacobis Bruno-Exzerpt im Magazin 1793 »an dem Zusammenhang zwischen Einbildungskraft und Weltseele fest[halte]«. 549 Auch weist Bonsiepen generell darauf hin, dass diese perspektivische Umorientierung in Richtung »einer möglichen Fundierung der apriorischen Strukturen unseres Erkennens in Natur und Wahrnehmungsprozessen« Maimon letztlich »von Kant, Spinoza und auch Leibniz« unterscheide. 550 Für die vorliegende Untersuchung ist nun von eigentlicher, zentraler Relevanz, inwieweit diese Programmatik der Spätphilosophie Maimons als entschiedene Positionierung gegen einen möglichen Akosmismus verstanden werden kann. Dies wird von Bonsiepen nicht besprochen, auch wenn er in einem lose verbundenen Kontext kurz auf den Akosmismusvorwurf Maimons an Spinoza eingeht. 551 Bevor dieser Aspekt zum Abschluss des Kapitels vertieft werden kann, ist zunächst jedoch zu erörtern, inwiefern Maimons Skeptizismusmodell eben keinen radikalen Bruch mit seinen prinzipiellen rationalen Ansprüchen darstellt. Vielmehr bleibt er ebendiesen Ansprüchen grundsätzlich verpflichtet, auch angesichts besagter Umorientierung und veränderter Schwerpunktsetzung.
5.2 Maimons Skeptizismus als ›apostatischer Rationalismus‹
Im vierten Abschnitt des Versuchs beschäftigt Maimon sich mit »Subjekt und Prädikat«, dem »Bestimmbare[n] und [der] Bestimmung« (VT, 51–58) hinsichtlich genereller Synthesisleistungen des Erkenntnisvermögens: »Wenn eine Synthesis von der Art ist, daß der eine Bestandteil derselben ohne Beziehung auf den andern, d. h. so wohl an sich, als in einer andern Synthesis, der andere Vgl. v. a. Maimons programmatische »Einleitung zur neuen Revision des Magazins zur Erfahrungsseelenkunde« im 1792er Jahrgang des Journals (III, 462–490). 549 Bonsiepen, Einsicht (2002), 396; vgl., so von Bonsiepen nicht klar markiert, IV, 631–633. 550 Bonsiepen, Einsicht (2002), 405. 551 Vgl. Anm. 163. 548
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aber nicht ohne Beziehung auf den erstern gedacht werden kann, so heißt der erste Subjekt dieser Synthesis, und der letzte Prädikat.« (VT, 51) Nicht ohne Grund, wie sich noch zeigen wird, führt Maimon ein Beispiel aus der Mathematik an: »[E]in Dreieck [. . .] kann sowohl an sich, ohne Beziehung auf das recht- oder schiefwinkligsein, als in diesen verschiedenen Arten der Synthesis, disjunktive gedacht werden. Hingegen kann das recht- oder schiefwinkligsein, nicht ohne Dreieck überhaupt gedacht werden. Hier ist also Dreieck Subjekt, das recht- oder schiefwinklingsein aber Prädikat; und der aus dieser Synthesis entsprungene Begriff, ein absoluter Begriff.« In der transzendentalen Logik werden nun, so Maimon, Subjekt und Prädikat »durch eine Bedingung a priori unterschieden«. Ebendiese Bedingung sei dabei »nichts anders als die objektive Möglichkeit einer Synthesis überhaupt.« (Ebd.) Mit anderen Worten: Um Synthesis in ihrer generellen Möglichkeit als objektiv gültig legitimieren zu können, ist eine Einsicht in die apriorische Unterscheidungsbedingung zwischen Subjekt und Prädikat notwendig. 552 Das Subjekt, das Bestimmbare, kann dieser Bedingung gemäß also nicht zugleich als Prädikat, als Bestimmung, gedacht werden, und umgekehrt. Ist dies doch der Fall, sei die Synthesis lediglich arbiträr. 553 Oded Schechter spricht in seiner umfangreichen Erörterung dieser Erklärungen Maimons daher einführend von einer ›asymmetrischen Relation‹. 554 Auf Basis jener Überlegungen zu Bestimmbarem und Bestimmung stellt Maimon im Zuge der Entwicklung seiner Spätphilosophie den »Satz der Bestimmbarkeit« (V, 78) auf. Dieser Satz liegt im Versuch über die Transzen552 Oded Schechter stellt einerseits dar, dass Maimon hiermit versucht, eine Leerstelle der kantischen Philosophie hinsichtlich der positiven Definition synthetischer Urteile zu füllen: »Maimon claims that there is a gap in Kant’s definition of analytic and synthetic: whereas the analytic judgment is characterized in the logical realm, the synthetic judgment lacks any logical characterization of its own. [. . .] [Kant] explains neither the rule governing syntheses nor what synthesis in itself is. Maimon’s Lod [Law of Determinability] is meant to fill this lacuna [. . .]. Thus, the missing link in Kant’s philosophy is an exhaustive account of what a synthesis is.« (Schechter, Logic of Speculative Philosophy (2003), 35 f.) Andererseits betont Schechter, dass Synthesis im dargestellten Verständnis Maimons nicht etwa bloß auf die Verknüpfung von Gegebenem abzielt, sondern vielmehr auf die produktive Schaffung neuer Begriffe; vgl. ebd., 30; 37; 39. Im Falle des hypothetischen unendlichen Verstandes wären solche Begriffe, d. h. das darstellend – nicht vorstellend – Gedachte, zugleich Realität; vgl. ebd., 43. Dadurch wird abermals die grundsätzliche Konnotation von Intellekt und Produktivität zur Geltung gebracht, trotz der skeptizistischen Kontextualisierung des Satzes der Bestimmbarkeit: »Thinking [. . .] should rather yield something new. The intellect in its highest form is creative« (ebd., 37). Dies betont auch Meir Buzaglo: »[A] synthesis according to this principle [of determinability] yields an object. [. . .] [A]n objectively real thought yields a real object.« (Buzaglo, Regular Decahedron (2019), 113; 115) »Determinability and Creativity« (ebd., 114) seien bei Maimon daher grundsätzlich im Verbund zu betrachten. 553 Vgl. Buzaglo, Regular Decahedron (2019), 114. 554 Vgl. Schechter, Logic of Speculative Philosophy (2003), 22.
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dentalphilosophie also bereits klar präformiert vor, wenn auch nicht explizit entwickelt. 555 Im Versuch einer neuen Logik oder Theorie des Denkens von 1794 erklärt Maimon diesen Satz zu nichts Geringerem als zum »Grundsatz alles reellen Denkens, und folglich auch der gesammten Philosophie« (V, 368). Damit bezieht sich Maimon zwar auf das v. a. von Reinhold und Fichte parallel geprägte Projekt einer Grundsatzphilosophie vor dem Hintergrund der Rezeption des kantischen Kritizismus. 556 Dabei soll der Satz der Bestimmbarkeit dennoch nicht als Basis eines in sich konsistenten, einheitlichen philosophischen Systems fungieren. Maimon bleibt hinsichtlich der Systemoption mindestens zurückhaltend. 557 Vielmehr ist mit dem Satz ein Demonstrationsprinzip mit klar bestimmter Funktion an die Hand gegeben: Durch dieses kann gezeigt werden, dass Erkenntnis innerhalb der Sphäre des empirisch Gegebenen eben nicht in der Lage ist, den an sich legitimen rationalen Ansprüchen an die Möglichkeitsbedingungen objektiv gültiger Synthesis von Erkenntnisinhalten im Allgemeinen Genüge zu leisten. 558 Was als zumindest teilweise positive Erklärungsoption innerhalb dieser Sphäre des Empirischen übrig bleibt, ist oben beschriebener Theoriekomplex um assoziative Synthesis auf Basis von imagination und custom in psychologistischem Verständnis.
555 David Hereza skizziert den Bogen der Entwicklung von Maimons Behandlung der Frage quid juris (s. o., Abschnitt 3.1) bis zum Satz der Bestimmbarkeit; vgl. Hereza Modrego, Die Transformation der Frage ›quid juris?‹ (2019), v. a. 242–248. 556 Zu Maimons Verwendung des Begriffs vom Grundsatz vgl. Asmuth, Maimon und die Transzendentalphilosophie (2019), 32 f.: Da der Satz der Bestimmbarkeit also »Grundsatz alles reellen Denkens« (V, 368; s. o.) sei, könne er, so Asmuth, auch als »Grundsatz der Transzendentalphilosophie« laut Maimon gelten. Im Folgenden bespricht Asmuth das Bewusstsein als Unbestimmtes und absolut Bestimmbares in Maimons Versuch einer neuen Logik: Indem dieses als »erste Möglichkeitsbedingung alles Objekterkennens« auftritt, rücke Maimon einerseits »den Grundsatz der Bestimmbarkeit ganz in die Nähe der transzendentalen Apperzeption Kants.« Andererseits schwebe ihm »hier bereits die Idee eines absoluten Subjekts vor« (Asmuth, Maimon und die Transzendentalphilosophie (2019), 34 f.). Abseits dieser weiteren transzendentalphilosophischen Bezüge des Satzes der Bestimmbarkeit soll in der vorliegenden Untersuchung hingegen dessen skeptizistische Funktionalisierung durch Maimon im Vordergrund stehen. 557 Vgl. u. a. VI, 135: »Philosophie ist (wie schon ihr Name zeigt) vielmehr eine intellektuelle Tendenz, als ein geordnetes Ganze der Erkenntnis selbst.« 558 Vgl. V, 495 f.: »Ich bezweifle also den Erfahrungsgebrauch der Kathegorien aus einem doppelten Grund, erstlich aus der schon angeführten humischen subjektiven Erklärungsart dieses vermeintlichen Gebrauchs; und dann wieder aus dem Mangel des zu diesem Gebrauche erforderlichen Grundes, nämlich die Einsicht in dem Verhältniß der Bestimmbarkeit (daß das Subjekt, als das Bestimmbare [an] sich, das Prädikat aber nicht an sich, sondern als Bestimmung von jenem ein Gegenstand des Bewußtseyns seyn kann) an den empyrischen Objekten. Die Kathegorien sind also nach mir nicht zum Erfahrungsgebrauch, sondern zum Gebrauche von a priori bestimmten Objekten der Mathematik bestimmt«.
Maimons Skeptizismus als ›apostatischer Rationalismus‹
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Der Satz der Bestimmbarkeit als solcher wurde in der Maimon-Forschung bereits eingehend besprochen. 559 An dieser Stelle ist jenes Element der Philosophie Maimons aus spezielleren Gründen von Interesse: Zum einen lässt sich auf Basis des Prinzips darlegen, dass die Programmatik von Maimons spätphilosophischer Orientierung an naturalistischen Fragestellungen, an empirisch-psychologischer Perspektivik und skeptizistischer Problematisierung der Resultate der Vernunftkritik keine strikte Beschränkung auf derartige Dimensionen philosophischer Reflexion und Methodik bedeutet. Stattdessen geht es, wie gesagt, primär um eine verschobene Akzentuierung innerhalb des Modells einer ›Koalition‹ empirisch-skeptizistischer und rational-dogmatischer Elemente, und zwar vor dem allgemeinen Hintergrund transzendentalphilosophischer Überlegungen. Zum anderen wird damit deutlich, inwieweit jenes rationalistische Moment seine grundsätzliche Relevanz auch in Maimons Spätphilosophie beibehält. Achim Engstler nimmt in dieser Sache an, Maimon halte es in seiner Philosophie nach dem Versuch »für geboten [. . .], die kantische Philosophie vor dem Hintergrund des von ihr unwiderlegten und für sie in seinen Augen auch unwiderlegbaren empirischen Skeptizismus' neu zu interpretieren«. 560 Dieser Lesart zufolge verliert Maimon demnach die rationalistische Dimension seines vormaligen Denkens, hier eingegrenzt als »dogmatische[] Metaphysik«, 561 bewusst und gewollt aus den Augen. Hierin zeigt sich also erneut ein problematisches Verständnis hinsichtlich der vermeintlichen Radikalität der Brüche in der Entwicklung von Maimons Denken.
559 Vgl. v. a. Breazeale, Satz (2003); Lee, Principle (2008). Schechter bespricht außerdem die möglicherweise signifikante philosophiegeschichtliche Wirksamkeit dieses Prinzips: Synthesis wird von Maimon, dem Satz der Bestimmbarkeit gemäß, als Schaffung neuer Begriffe und potenziell neuer gegenständlicher Realitäten verstanden; vgl. Anm. 552; Schechter, Logic of Speculative Philosophy (2003), 47: »Synthesis for Maimon is a productive activity of the intellect which culminates in creating new objects. It gives us the basis for thinking of developmental logic, that is to say, a process of production which grants the mind the possibility of presentation instead of representation, while considering it a synthetic, not an analytic, activity.« Da ein solcher uneingeschränkter Produktionsprozess dem endlichen Verstandeswesen unmöglich bleibe, vertrete Maimon letztlich Skeptizismus; vgl. ebd., 48; 53. Trotzdem sei durch Maimons transzendentallogische Überlegungen im Kontext des Satzes der Bestimmbarkeit zugleich die Basis spekulativer Logik an die Hand gegeben; vgl. ebd., 47; 53: »In conclusion, Maimon’s Satz der Bestimmbarkeit provides the structure for any speculative logic, and paves the way for subsequent philosophical systems. At the same time, it is the most unpretending of philosophies regarding the possibility of the finite human mind to gain any sort of acquaintance with reality.« – Inwieweit Schechters Annahme einer so hohen Signifikanz als plausibel gelten kann (auch hinsichtlich möglicher Einflüsse Maimons auf Hegel; vgl. ebd., 51–53), wird unterdessen erst nach weiterreichenden Untersuchungen beantwortet werden können. 560 Engstler, Versuch einer Vereinigung (1990), 49. 561 Ebd.
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Peter Thielke schlägt demgegenüber vor, die skeptizistischen Positionen sowohl Humes als auch Maimons, trotz einiger Differenzen, 562 als ›apostatischen Rationalismus‹ 563 zu charakterisieren. Dabei geht Thielke auch auf die an Hume angelehnte naturalistische Option als möglichen Ausweg aus dem Skeptizismus ein: At a transcendental level, reason provides what might be called ›standards of justification,‹ which centrally involve being able to give a complete account of any presumed fact. In this respect, Maimon's dogmatism leads him to endorse a demand for an entirely rational and transparent explanation of our cognitive situation. But these transcendental standards are never satisfied in the case of our empirical dealings with the world: our limited experience cannot fulfill the demands of reason. [. . .] Of course, we can give various provisional accounts of our experience following certain naturalistic themes, and here Maimon invokes Hume's account of customs and habits of the mind. But these explanations are always only probable, and not certain, since they fail to meet the standards of reason. 564
Gerade hinsichtlich der Anerkennung der Legitimität dieser Vernunftstandards bleibt Maimon durchaus Rationalist; »but his rationalism is apostate, since he remains unconvinced that such a standard can ever be met.« 565 Wie Thielke dabei jedoch betont und wie auch aus Maimons Ausführungen zum Satz der Bestimmbarkeit hervorgeht, ist es im Gegensatz zur Sphäre empirischer Erkenntnisinhalte gerade die Mathematik, in der jene Standards durch die Einsicht in die spontane Konstruktion von Objekten erfüllt werden können. 566 Der Mathematik kommt für Maimon damit eine Sonderrolle unter den Wissenschaften zu. 567 Vgl. Thielke, Apostate Rationalism (2008), 613–615. Vgl. ebd., 601; 609. 564 Ebd., 597. 565 Ebd., 601. 566 Vgl. Anm. 558; Thielke, Apostate Rationalism (2008), 599: »Mathematics [. . .] holds out the promise of what completely determinate knowledge would involve, even though this standard is not met in the case of empirical cognition.« Laut Paul Franks wird Transzendentalphilosophie für Maimon daher ›transzendentale Logik der Mathematik‹; vgl. Franks, From Quine to Hegel (2019), 15. 567 Vgl. IV, 42: »Alle Begriffe der Mathematik werden von uns gedacht, und zugleich als reelle Objekte durch Konstrukzion a priori dargestellt. Wir sind also hierin Gott ähnlich.« Vgl. Schechter, Logic of Speculative Philosophy (2003), 44–47: »Mathematics and Construction«, hier 44: »In it [sc. ›mathematics‹; ebd.] we can see both that and how the idea of generation is accomplished.« Auch Mathematik sei für Maimon dabei zwar, so Schechter, keine vollkommene Form von Wissen, da das endliche Verstandeswesen hier immer noch auf Anschauung angewiesen ist; vgl. ebd., 45. Das Entscheidende, nämlich die Regeln mathematischer Konstruktion, seien dabei trotzdem per se Ergebnis von Verstandestätigkeit; vgl. ebd., 46: »It is rather the work of the understanding. Nothing 562
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Maimons Skeptizismus als ›apostatischer Rationalismus‹
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Die Standards der Vernunft, denen die Empirie also sowohl nach Hume als auch nach Maimon nicht Genüge leisten kann, können dabei selbst nicht in dieser Empirie gegründet sein. 568 Thielke sieht Hume deshalb als ›rationalen Dogmatiker, auf die gleiche Weise wie Maimon‹: 569 »Hume [. . .] must grant that there is a rational standard of necessary causal connection that fails to be met in particular cases, or he is in no position to criticize his more ›dogmatic‹ opponents. [. . .] Hume's negative arguments against a kind of direct causal realism then can succeed only if there is a standard of adequate explanation already in place. In other words, we must know what we are looking for even in order to recognize that we have not found it.« 570 Im Resultat stellt Thielke daher fest, der Skeptizismus sowohl Maimons als auch Humes sei lediglich vor dem Hintergrund fundamentaler rationalistischer Ansprüche an mögliche Erkenntnis erklärbar. 571 In der Tat seien diese Ansprüche als eigentliche Möglichkeitsbedingungen jenes Skeptizismus aufzufassen: »Skepticism, on this line of thought, then arises only for rational beings who seek to satisfy standards of explanation that reflect the demands of reason rather than nature alone. Both Maimon and Hume recognize that skepticism is only a problem because the demands of reason [. . .] lay claim to us, even though they can never be satisfied.« 572 in pure intuition could have provided us with this rule. Inventing a rule is the activity of the intellect par excellence.« In diesem Sinne plädiert Meir Buzaglo dafür, dass auch geometrische Figuren wie das reguläre Dekaeder (ein Körper bestehend aus zehn gleichseitigen und -winkligen, einander kongruenten Vielecken) Maimon zufolge existent seien: Maimon beschäftigt sich verschiedentlich mit der Figur des regulären Dekaeders aufgrund von dessen Unkonstruierbarkeit nach Euklid und Platon; vgl. Buzaglo, Regular Decahedron (2019), 115–118. Für einen uneingeschränkten Verstand seien die Limitationen durch sinnliche Anschauung jedoch neutralisiert, damit auch die Beschränkung auf den dreidimensionalen euklidischen Raum; vgl. ebd., 118. Das Dekaeder könnte also vom Verstand in dessen nicht-limitierter Form synthetisch-produzierend gedacht werden. Im Resultat nennt Buzaglo Maimons Position daher rationalistischer als diejenige Leibniz’, der sich ebenfalls mit besagter geometrischer Figur auseinandersetzt und sie für selbstwidersprüchlich, damit unmöglich erklärt; vgl. ebd., 115 f.; 120 f. 568 Vgl. Thielke, Apostate Rationalism (2008), 605. 569 Vgl. ebd., 599. 570 Ebd., 605. 571 In vergleichbarer Perspektivik untersucht auch Della Rocca rationalistische Elemente in der Philosophie Humes, so u. a. die Annahme, Verursachung erfordere begriffliche Verknüpfung. Ebendies finde Hume zufolge in der Erfahrung jedoch keine Entsprechung; vgl. Della Rocca, Playing with Fire (2018), 466 f. Hierin geht Della Rocca noch weitgehend mit Thielkes Einschätzungen konform. Während letzterer die Position Humes jedoch als in sich konsistente Theorie eines apostatischen Rationalismus sieht, geht ersterer in der Folge v. a. auf interne Inkonsequenzen in Humes Philosophie ein: Trotz rationalistisch geprägter Elemente bleibe Hume insgesamt Antirationalist, primär wegen der schlichten Prämisse eines nicht weiter begründbaren Unterschieds zwischen Ursache und Wirkung, der die eingeforderte begriffliche, damit rationale Verknüpfung unmöglich mache; vgl. ebd., 477–480. 572 Thielke, Apostate Rationalism (2008), 618.
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Maimons Skeptizismusmodell im Kontext der Akosmismusthematik
Thielkes Ausführungen demonstrieren also einerseits, dass Maimons hervorgehobene Orientierung an Humes Skeptizismus innerhalb seiner Theoriebildung nach dem Versuch keine geradlinige Absage an seine prinzipielle rationalistische Perspektive darstellt. In dieser Entwicklung findet somit kein gänzlicher Umbruch statt. Vielmehr wird, wie gesagt, die Schwerpunktsetzung innerhalb der Konzeption eines Koalitionssystems neu kalibriert. Ebendies sollte hier auf Grundlage der Ausführungen Thielkes gegen Engstlers Annahme stark gemacht werden. Andererseits wird zudem auch deutlich, dass sich der in Rede stehende Rationalismus schwerlich mit der Position Spinozas identifizieren lässt: In dessen Philosophie tritt Rationalismus grundsätzlich in untrennbarem systematischem Verbund mit einem ontologisch-metaphysischen Monismus auf. Dies wurde in 4.2.1 angerissen, u. a. auf Basis der Darstellung Michael Della Roccas. 573 Wenn Richard Kroner Maimons Ausführungen zum Bestimmbaren und zur Bestimmung also, wie bereits in der Einleitung angeführt, als philosophiehistorisch bedeutsame Referenz auf Spinozas Substanzkonzeption interpretiert, 574 wird damit Maimons eigentliche skeptizistische oder auch apostatisch-rationalistische Motivation hinter der Formulierung des Satzes der Bestimmbarkeit deutlich verfehlt. Dadurch wird überdies auch die Lesart der Philosophie Maimons als per se spinozistisch forciert, laut Engstler »mit viel Phantasie«. 575 Von jener Lesart soll sich in den folgenden zwei Abschnitten abgegrenzt werden: Denn einerseits kann Maimons Skeptizismus im Allgemeinen als Positionierung gegen Akosmismus generell verstanden werden. Andererseits lässt sich auch die konkrete Ausführung des Theoriekomplexes seiner Spätphilosophie gerade als klare Stellungnahme speziell gegen Spinozas Philosophie, verstanden als Akosmismus, auffassen.
5.3 Revision: Antinomie und Aporie
In 3.3.3 wurde dargestellt, dass Maimons Modell einer nicht effektiv abschließbaren Approximation des limitiert-spontanen menschlichen Erkenntnissubjekts an den Status eines unendlichen Verstandes letztlich tiefer in dualistische Strukturen hineinführt. Damit verfehlt Maimon sein eigentliches Ziel, die grundsätzliche Dualismusproblematik im Umgang mit der kantischen Philosophie tatsächlich lösen zu können: So bleibt Maimon im Rahmen des anti573 Vgl. Della Rocca, Spinoza (2008), 33: »How many things are there in the world? Spinoza’s answer: one.« 574 Vgl. Anm. 6 f. 575 Engstler, Zwischen Kabbala und Kant (1994), 180 (Anm. 92).
Revision: Antinomie und Aporie
215
nomischen Moments seiner transzendentalphilosophischen Konzeption persistent mit den Dualismen von Rezeptivität und Spontaneität, von endlicher und unendlicher Erkenntnis, schließlich auf einer Metaebene sogar mit dem Dualismus von empirisch-skeptizistischem Dualismus und rational-dogmatischem Monismus konfrontiert. 576 Im Kontext der unmittelbaren Kant-Kritik Maimons lässt sich somit eine konzeptionelle Aporie diagnostizieren. Ebendieser Zug in Maimons Philosophie konnte demgegenüber in 4.1.4, also in andersartiger Kontextualisierung, zu einem eventuell positiven Aspekt umgedeutet werden: Immerhin lässt sich hier eine Stellungnahme gegen einen möglichen Akosmismus in Form eines intellektualistischen Monismus (d. h. Spinozismus im weiteren, uneigentlichen Sinne eines generellen Monismus) erkennen: dies nämlich, sofern plausiblermaßen davon ausgegangen wird, dass Maimons bereits skeptizistisch ausgerichtete Beschäftigung mit der Frage quid facti eben auf das Vorliegen eines nicht-neutralisierbaren Gegebenen verweist. Dieser Gedanke ist nun, d. h. im Zusammenhang der Diskussion um Maimons Skeptizismus als solchen, nochmals aufzugreifen. Dadurch soll einerseits dargelegt werden, inwieweit gerade innerhalb dieser prinzipiellen, nach dem Versuch stärker werdenden skeptizistischen Sicht charakteristische Züge von Maimons Denken insgesamt aufzufinden sind. Andererseits ist zu zeigen, inwieweit sich dieses Denken damit auch in nicht unerheblichem Maße in der Konfrontation mit der Akosmismusproblematik konstituiert, auf die der Skeptizismus Maimons eben eine mögliche Reaktion darstellt. Die fortlaufende, progressive Vervollständigungsdynamik mit dem faktisch nicht einlösbaren epistemischen Ziel uneingeschränker Intellektualität nimmt eine wichtige Position innerhalb der Philosophie Maimons ein. Diese Approximationsbewegung kann dabei prinzipiell nicht zu einem tatsächlichen, positiven Abschluss gebracht werden. Deshalb sieht sich das im Horizont dieses Philosophieverständnisses reflektierende Subjekt stets auf die Problemstellungen fundamentaler Heterogenität und eines nicht-vermittelbaren Dualismus in den Strukturen der Erkenntnis und der Dinge zurückgeworfen. Schließlich führt diese Reflexion daher unweigerlich in aporetische Situationen und in eine grundsätzlich skeptizistische Haltung. – All dies im Verbund muss letztlich als konstitutiver Zug der Philosophie Maimons anerkannt werden. Diese Philosophie tritt aus diesem Grund auch nicht als formal und inhaltlich in sich konsistenter Systemversuch auf, sondern lässt immer wieder diverse Brüche auf den verschiedenartigen Ebenen ihrer Ausführung zutage treten.
576
Vgl. Anm. 373.
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Maimons Skeptizismusmodell im Kontext der Akosmismusthematik
Gerade hierin besteht aber auch eine letztlich positiv bewertbare Anerkennung gewisser ›Reibungen‹, die das Subjekt im philosophisch reflektierenden Umgang mit dem Gegebenen der Welt notwendig erfährt. Zudem wird die ›Einpassung‹ dieses Gegebenen in besagten Reflexionsrahmen dadurch immer wieder aufs Neue als ihrer Möglichkeit nach problembehaftet nachgewiesen. Der Aspekt besagter konfrontativer Reibung nimmt also eine bedeutende Position innerhalb der Philosophie Maimons ein. Durch diesen Aspekt wird schließlich auch am ehesten deutlich, inwieweit jene Philosophie gerade in ihrer skeptizistischen Dimension einem möglichen Akosmismus klar entgegentritt: Auch wenn sich das philosophische Denken gemäß Maimons Verständnis nicht zu einem in sich konsistenten, systematisch-positiven Abschluss bringen lässt, so ist doch stets die Präsenz des Gegebenen einer gegen-ständlichen Welt gewährleistet.
5.4 Der ›Antiakosmismus‹ der Spätphilosophie Maimons
Davon konzeptionell unberührt ist bislang allerdings dasjenige geblieben, was in Abschnitt 4.1 als das spezifisch Akosmische des Spinozismus im engeren, eigentlichen Sinne rekonstruiert wurde. Gemeint ist hier also konkret die Ethik Spinozas in Maimons Auslegung sowie in seiner prinzipiellen Perspektive auf diese. Wie dargestellt, geht es hierbei um die Problematik des Mangels an Bestimmtheit der Substanz, genauer um die Tatsache, dass Substanz qua Substanzialität nicht Intellekt ist. Hierzu will Maimon ein positives Gegenmodell entwerfen und die drohende Gefahr eines möglichen Akosmismus somit neutralisieren. Daher kommt es in seiner Spätphilosophie nun gerade innerhalb des Diskursfeldes um die Konzeption einer Weltseele zu einer eigenwilligen, signifikant nichtspinozistischen Neufassung des Substanzialitätsverständnisses. Bereits im Brief an Kant von Mai 1790, in dem Maimon den ersten Plan dieser Konzeption vorlegt, betont er explizit, dass hierbei von Spinozismus keine Rede sein könne: [F]ürchtet man hier Spinozismus; so dünkt mich ist nach obiger Definition demselben genugsam zuvorgekommen. Denn dem Spinozismus zufolge ist Gott und die Welt ein und ebendieselbe Substanz. Jener Erklärung aber zufolge ist die Weltseele eine von Gott erschaffne Substanz. Gott wird als intelligentia pura extramundana vorgestellt. Die Weltseele hingegen, wird zwar als eine Intelligenz, aber als eine solche, welche mit einem Körper (der Welt) in Verbindung steht, folglich eingeschränkt und den Gesetzen der Natur unterworfen ist, vorgestellt. (VI, 430/Br, AA XI, 175)
Der ›Antiakosmismus‹ der Spätphilosophie Maimons
217
Im Artikel zur Weltseele im Berlinischen Journal aus demselben Jahr bestätigt Maimon dies in annähernd identischer Form 577 und fügt überdies hinzu, die Weltseele sei »mit der Welt endlich« (WS, 51). In Abgrenzung von der Philosophie Spinozas zeigt sich damit eine grundsätzliche Umgestaltung der generellen Auffassung von Substanzialität im Zusammenhang der Diskussion um den Themenkomplex von Kosmos und Intellekt: Dem Monismus Spinozas wird eine Absage erteilt, indem auf prinzipieller Ebene zwischen den Entitäten Gott und Welt unterschieden wird. Dies bringt die Möglichkeit mit sich, auch von mehr als einer Substanz auszugehen: Demgemäß erschafft Gott als intellektuale Substanz eine von sich unterschiedene, endliche und empirisch erkennbare Substanz, die Weltseele. Diese inhäriert der ebenso von Gott differenten Welt als formal bildendes Prinzip. Indem Gott zugleich als rein extramundan, also klar transzendent bestimmt wird, nimmt Maimon zudem eine klare Gegenposition zu Spinozas Immanentismus ein. Schließlich, und dies ist hier von hervorzuhebender Bedeutung, ist Gott als solcher explizit intelligentia. Damit soll auch der Problematik der einen Substanz als per se nicht-intellektual zuvorgekommen werden. Wie aus den Rekonstruktionen in Kap. 4 ersichtlich, war es immerhin gerade diese Problematik, vor deren Hintergrund Maimons Auffassung der Philosophie Spinozas als Akosmismus erst erklärbar und transparent wird. Zugleich scheint aber auch die Gefahr eines andersartigen Akosmismus im bereits erörterten Sinne eines intellektualen Monismus gebannt: Zwar ist Gott als Substanz per definitionem intellektual. Aufgrund der Absage an einen grundsätzlichen Substanzmonismus bleibt dennoch ein von dieser transzendenten intelligentia unterschiedener Kosmos präsent. Dieser hat als durch den Akt der creatio explizit ›beseelte‹ creatura ein zwar endliches, allerdings dennoch substanzial unabhängiges Dasein inne. Hinzu kommt, dass durch Maimons Annahme einer Weltseele ein finalursächliches Moment innerhalb seiner Theorie zur Geltung gebracht wird: Die Weltseele sei »causa formalis und finalis aller Objekte« (WS, 72). Dies widerspricht dem spinozanischen Modell einer gänzlichen Ablehnung von Finalursächlichkeit abermals deutlich. 578 Yitzhak Melamed und Abraham Socher gehen davon aus, dass Maimon bestrebt sei, durch das Konzept der Weltseele eine pantheistische, letztlich doch 577 Vgl. WS, 72: »Aus allem bisher vorgetragenen erhellet, daß [. . .] die Weltseele nicht Gott selbst, sondern eine von ihm erschaffene Substanz ist, indem Gott als ein Ens perfectissimum, folglich als eine Intelligentia pura extramundana gedacht werden muß, die Weltseele aber ist zwar eine Intelligenz, aber eine solche, die mit einem organisirten Körper (der Welt) in genauer Verbindung stehet, folglich in ihrer Wirkung eingeschränkt, und von den mechanischen Naturgesetzen abhängig ist.« (Vgl. III, 218). 578 Vgl. v. a. E I, appendix.
Maimons Skeptizismusmodell im Kontext der Akosmismusthematik
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wieder spinozistische Position einzunehmen. 579 Dadurch wird Maimons eigentliche, genau gegenteilige Motivation allerdings aus den Augen gelassen: Im vorliegenden Abschnitt wurde die gänzliche Reformulierung des Substanzialitätsverständnisses durch Maimon gegen Spinoza skizziert. Davon ausgehend kann Maimons eigener Stellungnahme durchaus zugestimmt werden, »[d]iese Meinung«, d. h. das Theorem einer Weltseele, sei »also weit vom Spinozismus entfernt« (WS, 51). Zwar kommt durch das beschriebene Inhärenzverhältnis der Weltseele im u. a. materiell verstandenen Kosmos – »Welt« als »Körper« (VI, 430; s. o.) – ein gewisser, begrenzter Immanenzaspekt zum Tragen. Deshalb kann unter Einschränkungen von einer Form von Panentheismus gesprochen werden, wie in 2.2.2 unter Rekurs auf Maimons Schrift Givʿath hamMore von 1791 bereits erwähnt wurde. 580 Dennoch liegt hier in erster Linie ein Gegenmodell zum Immanentismus und Monismus Spinozas vor. Damit bekräftigt und konsolidiert Maimon seine philosophisch durchaus ernst gemeinte, explizit geäußerte Distanzierung vom Denken Spinozas. Des Weiteren ist allerdings auch Florian Ehrenspergers andersartig ausgerichtete Einschätzung zu problematisieren, »Maimons Weltseele, welche dem aktiven Intellekt nachempfunden« sei, sei »transzendenter Formgeber«: 581 Das Modell einer Weltseele wird von Ehrensperger vor dem Hintergrund der Konzeptionen v. a. Aristoteles', Alexanders von Aphrodisias und Avicennas zum νοῦς ποιητικός gesehen. 582 Jenes Modell vertrete dementsprechend »dieselben Funktionen wie der aktive Intellekt der peripatetischen Tradition im islamischen und jüdischen Mittelalter«. 583 Damit wird aber die von Maimon klar betonte substanziale Differenz zwischen Gott als transzendenter intelligentia einerseits und kreierter, dem Kosmos inhärierender Weltseele andererseits nicht in hinreichendem Maße berücksichtigt. Zur allgemeinen Charakteristik der hier besprochenen Spätphilosophie Maimons unter dem Aspekt ihres deutlichen ›Antiakosmismus‹ muss allerdings Folgendes festgestellt werden: Die philosophische Neuausrichtung Maimons im Anschluss an die Schaffensphase des Versuchs über die Transzendentalphilosophie fällt in diversen Hinsichten gerade hinter die im Versuch selbst behandelte kritische Philosophie Kants zurück, damit auch grundsätzlich hinter dessen kopernikanische Wende. Unter dem konzeptionell übergreifenden Modell einer Weltseele kommt es zu einer perspektivischen Zusammenführung 579
Vgl. Melamed, Rise of Spinozism (2004), 69; 94; Socher, Radical Enlightenment (2006), 75–
580
Vgl. Anm. 141; 143. Ehrensperger, Weltseele (2006), 45 f. Vgl. ebd., v. a. 24 f.; 44. Vgl. Anm. 318. Ehrensperger, Weltseele (2006), 19 f.
77. 581 582 583
Der ›Antiakosmismus‹ der Spätphilosophie Maimons
219
eines in der Nachfolge David Humes zu verstehenden, damit u. a. skeptizistisch motivierten Naturalismus mit einer sich gegen Spinozas Philosophie positionierenden substanzontologischen Theorie. Diese Theorie einer kreierenden göttlichen Intelligenz kann nun durchaus als rational-religiöse Metaphysik verstanden werden. Was in Bezug auf den Versuch noch in Abrede gestellt werden konnte – so die Resultate in Kap. 3 –, liegt in der Spätphilosophie also in der Tat vor. Damit nimmt Maimon hier letztlich doch eine positiv-metaphysische Position im vorkantischen Sinne ein. Eine solche Position kann den grundsätzlichen Ansprüchen der Vernunftkritik aber nicht mehr Genüge leisten, was ebenfalls in Kap. 3 bereits als mögliche Gefahr in Aussicht gestellt wurde. 584 Es muss also prinzipiell unterschieden werden zwischen zwei divergierenden Ansätzen Maimons: Einerseits das transzendentalphilosophisch motivierte Theorem der Idee eines unendlichen Verstandes im Versuch; andererseits das nun doch im vorkantischen Sinn metaphysische Modell einer Weltseele sowie einer extramundanen göttlichen intelligentia in der Spätphilosophie. Diese Philosophie erscheint in den hier besprochenen Aspekten daher als anachronistisch. Dass Maimon mit letztgenanntem Modell einen prinzipiellen Diskurswechsel vollzieht und das Paradigma der kopernikanischen Wende somit durchaus verlässt, kündigt er im Artikel über die Weltseele selbst explizit an: Er »habe es aber hier«, also im Zuge seiner Erarbeitung dieses Theorems, »nicht mit Kant, sondern mit seiner Gegenparthey zu thun, die das bloße Denken für hinreichend hält, ein Objekt dadurch zu bestimmen, sie haben also keinen Grund diese Meinung zu verwerfen.« (WS, 51) Maimon wendet sich also an die ›dogmatische‹ Gegenpartei Kants, 585 die dessen kritische Neuausrichtung der Philosophie als allein noch offenstehenden Weg (vgl. KrV, A 856/B 884) nicht anerkennt, sondern an der Möglichkeit einer objektiven und zugleich metaphysisch gültigen Bestimmung von Gegenständen durch »das bloße Denken« (WS, 51; s. o.) festhält. Dieser Diskursfraktion legt Maimon sein Modell in der Erwartung positiver Rückmeldung zur Prüfung vor. Damit distanziert er sich in der Ausarbeitung dieses Modells aber deutlich von prinzipiellen kritizistischen Ansprüchen. Zumindest mit Blick auf diesen Teilaspekt der Philosophie Maimons kann Ehrensperger partiell zugestimmt werden, insofern er behauptet, diese Philosophie bewege sich außerhalb des Paradigmas der kopernikanischen Wende. 586 Nicht Trotz der Bezugnahme auf Giordano Bruno kann Maimons hier vorgestelltes metaphysisches Modell nicht als adäquate Anknüpfung an die eigentliche Theorie Brunos verstanden werden. Eine Untersuchung zur Differenz zwischen Brunos Konzept der Weltseele und demjenigen Maimons würde an dieser Stelle den Rahmen sprengen und bleibt für künftige Untersuchungen ausstehend. 585 Möglicherweise hat Maimon hier u. a. Johann A. Eberhard im Blick; vgl. Anm. 230. 586 Vgl. Anm. 41. 584
Maimons Skeptizismusmodell im Kontext der Akosmismusthematik
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haltbar ist dabei jedoch die Auffassung, Maimon vertrete in erster Linie einen dem neuzeitlichen Denken fremd gegenüberstehenden »mittelalterlichen Aristotelismus«, letztlich sogar eine »rationalistische Mystik«: 587 Schließlich wird damit außer Acht gelassen, inwieweit sich Maimons Philosophie auch in der Auseinandersetzung mit dem Denken Spinozas herausbildet. Gerade mit Blick auf diese Auseinandersetzung lässt sich angesichts der hier beschriebenen positiv-metaphysischen Momente der Spätphilosophie Maimons eine gewisse thematische Abflachung nicht leugnen. Dies gilt v. a. hinsichtlich der darin vertretenen Gottesvorstellung, die als philosophische Alternativposition zu Spinozas Substanzmonismus gerade aufgrund ihrer anachronistischen Charakteristik kaum überzeugen kann. Hierin zeigt sich überdies abermals ein interner Bruch innerhalb der Theoriebildung Maimons, d. h. eine Diskrepanz zwischen den darin formulierten Ansprüchen und dem im Resultat faktisch Geleisteten: Immerhin soll es in dieser Theorie gerade um die Programmatik einer modifizierten Ausrichtung der kritischen Philosophie unter Berücksichtigung neu verschaffter Geltung skeptizistischer Einwände gehen. Dieser Skeptizismus kann angesichts seiner ursprünglichen Motivation als apostatischer Rationalismus verstanden werden. Der von Maimon ausgeführte Naturalismus erscheint dabei durchaus als folgerichtige Konsequenz der skeptizistischen Problematik. Die mit diesem Naturalismus verknüpfte ontologische Dimension einer rational-religiösen Gottesvorstellung ist dennoch wiederum nicht sinnvoll in den eigentlich als gültig angekündigten Rahmen kantisch verstandener Transzendentalphilosophie integrierbar. Die naturalistisch-empiristische Fragestellung nach der psychologischen Entstehung von Erkenntnisstrukturen widerspricht dabei ebenfalls dem transzendentalphilosophischen Paradigma Kants: Dies betrifft hier speziell dessen methodologisch konsequente Beschränkung auf die Frage nach epistemischer Geltung in Abgrenzung von Genese. Letztlich gelingt es Maimon also zwar, ein metaphysisches Modell im Grundriss zu entwerfen, das der Philosophie Spinozas hinsichtlich des darin ausgedrückten Substanzialitätsverständnisses deutlich entgegengesetzt ist. Dies geschieht auch unter Rückbezug auf diverse Theoreme des Diskurses im mittleren und späten 18. Jahrhundert: Humes Naturalismus, Blumenbachs Bildungstrieb, Jacobis Aufarbeitung von Brunos Terminus einer Weltseele. Jene Position Maimons kann dabei auch als beabsichtigt nicht-akosmische Philosophie aufgefasst werden. Es muss jedoch einerseits in Betracht gezogen werden, zu welchem hohen Preis er die Möglichkeit der Ausarbeitung dieses Modells erkauft: Immerhin liegt hier ein Rückfall in vorkantisch-metaphysische Argumenta587
Ehrensperger, Weltseele (2006), 91; 88.
Der ›Antiakosmismus‹ der Spätphilosophie Maimons
221
tionsstrukturen vor, damit ein immanenter Bruch im Selbstanspruch seines philosophischen Standpunkts. Andererseits beruht die Charakterisierung der Philosophie Spinozas als Akosmismus größtenteils auf einem begrenzten, fehlerbehafteten Verständnis dieser Philosophie, wie in Kap. 4 dargestellt wurde. Daher erscheint durch Maimons Spinoza-Rezeption hinsichtlich ihrer philosophischen Aussagekraft insgesamt wenig gewonnen.
6 Schlussreflexion und Ausblick
Nicht in Maimons Auseinandersetzung mit Spinoza liegt damit also die Stärke seiner Philosophie. Hier fällt er klar hinter die Errungenschaften Jacobis im Zuge des ›eigentlichen‹ Spinoza-Streits zurück. 588 Es ist vielmehr seine kritische Auseinandersetzung mit der Philosophie Kants, die positiv hervorzuheben ist. Durch diese Kritik werden, so die Resultate der Untersuchungen in Kap. 3, in der Tat argumentativ schlagkräftige, wenn auch nicht systematisch umfassende und gänzlich in sich konsistente transzendentalphilosophische Alternativkonzeptionen sowie -positionen vorgebracht. Diese Konzeptionen sind wiederum u. a. für den Start von Fichtes Großprojekt einer Wissenschaftslehre von Bedeutung gewesen (vgl. v. a. GA I,2, 109). 589 Gleichwohl wird gerade im Kontext der Diskussion um die Akosmismusthematik und um das damit zusammenhängende Diktum Maimons vom ›Zurückschaudern vor dem Nichts‹ deutlich, inwieweit Spinozas Philosophie im Hinblick auf die Entfaltung von Maimons Denken dennoch von konstitutiver Wichtigkeit ist: Dies ist hier nicht etwa in dem Sinne zu verstehen, dass Maimon trotz anderslautender expliziter Positionierungen in Wirklichkeit der Philosophie Spinozas auf positive Weise verpflichtet bliebe oder zumindest konstant ein dem Spinozismus eng verwandtes Denken verträte. Stattdessen – und damit bricht die vorliegende Studie mit dem aktuell zumeist vertretenen Forschungsparadigma – bildet sich seine Philosophie in deutlichem Maße gerade vor dem Hintergrund des Spinozismus als Anstoß- und Abstoßungspunkt in Richtung einer eigenständigen, eben nicht mehr spinozistischen Philosophie heraus. Davon unberührt bleibt die Tatsache, dass Maimon nach wie vor seine Hochachtung für Spinozas »tiefe[s] Denken« (I, 469) zum Ausdruck bringt. 590
Achim Engstler merkt zudem an, Maimons Spinoza-Rezeption bleibe im Unterschied zu denjenigen Schellings und Hegels bloß »streifend«, also nicht in vergleichbarem Maße systematisch und umfassend; vgl. Engstler, Zwischen Kabbala und Kant (1994), 180. 589 Maimons Einfluss auf Fichte in seinen verschiedenen Facetten ist gerade in der letzten Zeit vermehrt Untersuchungsgegenstand in der Forschung geworden; vgl. Schmidt, Fichtes Begriff der ›Einbildungkraft‹ (2018); Asmuth, Maimon und die Transzendentalphilosophie (2019), v. a. 38–40; Marinelli, Maimon’s Implicit Influence (2019). Manfred Frank konstatierte zuvor schon, wie bereits erwähnt, dass Fichte in Maimons Philosopie »den Keim seines absoluten Produktionsidealismus vorgebildet fand«; vgl. Anm. 348. Zu den dabei relevanten Differenzen s. o., 4.1.3 und 4.1.4. 590 Vgl. zudem u. a. II, 501; IV, 62 f. 588
Schlussreflexion und Ausblick
224
Als entscheidender positiver Aspekt dieser Herausbildung von Maimons Philosophie, v. a. hinsichtlich der dafür zentralen Intellektkonzeption, wurde unterdessen die Auseinandersetzung mit Kants Kritizismus in der Entfaltungsdynamik innerhalb seines Jahrzehnts identifiziert. In dieser spezifischen Konstellation besteht nun Maimons philosophische Position zwischen Spinoza und Kant. Zentral für diese Position ist die generelle Beschäftigung mit dem Problemkomplex von Welt und Verstand, genauer mit den Themenfeldern von Akosmismus und der Modellierung intellektualer Erkenntnis. Auf dieser Grundlage erscheint auch die bisweilen geäußerte Ansicht, Maimons Philosophie führe als solche mit der darin vorgenommenen SpinozaRezeption zu einem tatsächlichen Wiedererstarken der Substanzmetaphysik Spinozas gegenüber der Transzendentalphilosophie Kants, 591 weitgehend nicht haltbar. Dennoch ist klar herausstellbar, dass Maimons Referenzen auf Spinoza den philosophischen Diskurs im deutschsprachigen Raum um und nach 1800 anderweitig mitprägten. In diesem Kontext ist nun, so auch der Ausblick in der Einleitung, erneut der Akosmismusaspekt von Bedeutung: Fichte, der seine hohe Wertschätzung für Maimon verschiedentlich betont und auch in seinen Hauptwerken auf dessen Schriften Bezug nimmt, 592 greift den Akosmismusbegriff im Rahmen des ›Atheismusstreits‹ 1799 provokativ und mit Blick auf seine eigene Philosophie auf. Damit verfolgt er das Ziel, diese Philosophie vom Atheismusvorwurf freizusprechen. Fichte übernimmt dabei Maimons Figur der diametralen Entgegensetzung von Atheismus und Akosmismus, ohne dies jedoch auf die Philosophie Spinozas zu beziehen: Ist es dem Gegner nicht genug, so kann ich ihm nicht helfen. Halte er nach einem solchen Bekenntnisse mich immer für gestört; dies soll ihm frei stehen: denke er auf eine neue Benennung, nenne er mich etwa einen Akosmisten, nur nenne er mich nicht einen Atheisten: das, was ich läugne, liegt ganz wo anders, als er denkt. (GA I,6, 54)
Hegel, in dessen Gesamtwerk Maimon hingegen keinerlei Erwähnung findet, 593 verwendet den Begriff des Akosmismus deutlich später ebenfalls und setzt diesen nun erneut explizit mit der Metaphysik Spinozas in Verbindung. So heißt es in den Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie von 1825/26 beispielsweise: Vgl., wie in der Einleitung grundlegend skizziert, Kroner, Von Kant bis Hegel (1921), 360 f.; Melamed, Rise of Spinozism (2004), v. a. 68 f.; 78 f.; 93 f. 592 Vgl. u. a. GA I,2, 109; 264; GA III,2, 282. 593 Vgl. Asmuth, Maimon und die Transzendentalphilosophie (2019), 31. Maimons Lebensgeschichte, in der der Terminus des Akosmismus erstmals auftritt, befand sich allerdings nachweislich in Hegels Besitz; vgl. GW 31,1, 784 f. 591
Schlussreflexion und Ausblick
225
Will man den Spinozismus aber Atheismus nennen nur deshalb, weil er Gott nicht von der Welt unterscheidet, so ist dies ungeschickt; man könnte ihn vielmehr Akosmismus nennen, weil alle natürlichen Dinge nur Modifikationen sind. Spinoza behauptet, was man eine Welt heißt, gibt es gar nicht, es ist nur eine Form Gottes, nichts an und für sich; die Welt hat keine wahrhafte Wirklichkeit. Es mischt sich immer die schiefe Vorstellung [hinein], als ob die einzelnen Dinge wahrhafte Wirklichkeit seien, wie sie in der Endlichkeit sind. Jener Vorwurf also, daß Spinoza Gott vom Endlichen nicht unterscheide, ist nichtig, sondern alles dieses ist von Spinoza in den Abgrund der Einen Identität geworfen. Die endliche Wirklichkeit (Kosmos) hat nach ihm keine Wahrheit; was ist, das ist allein Gott. Der Spinozismus ist so weit davon entfernt, Atheismus im gewöhnlichen Sinne zu sein, aber in dem Sinn, daß Gott nicht als Geist gefaßt wird, so würde sein System wohl Atheismus genannt werden können. (V 9, 111; Einfügung v. Hrsg.) 594
Als argumentative Grundlage von Hegels Akosmismuszuschreibung an Spinoza lässt sich somit der vermeintliche Hinabsturz der einzelnen, endlichen Dinge »in den Abgrund der Einen Identität«, in die Differenzlosigkeit der einen Substanz benennen. Dem Kosmos des Endlichen komme damit keine »wahrhafte Wirklichkeit«, kein An-und-für-sich zu (vgl. ebd.). 595 Dies unterscheidet sich deutlich vom eigentlichen Hintergrund und Gehalt der Akosmismusthese Maimons, wie sie in Kap. 4 rekonstruiert wurde. Maimon kann also zwar als terminologischer Initiator der allgemeinen Akosmismusdiskussion gelten, indem er diesen Begriff erstmalig verwendet, und zwar mit Blick auf die Philosophie Spinozas. Was sich im Kontext jener Diskussion aber weiterführend entwickelt, hebt sich inhaltlich klar von der Position Maimons ab. Dennoch: Indem Maimon Spinozismus erstmals als Akosmismus, also auf den ersten Blick als das genaue Gegenteil von Atheismus bestimmt, wurde ein Gedanke genuin innerhalb des primär an Spinoza und Kant ausgerichteten philosophischen Diskurses der Zeit verankert, der das weitere Verständnis der Philosophie Spinozas mitprägte. Dies gilt auch, obwohl sich das Verständnis des Akosmismusbegriffs in der Folge in andersartiger Richtung weiterentwickelte, Dass laut Spinoza Gott nicht Geist und Spinozismus somit Atheismus sei, entspricht der Position Jacobis, die Hegel übernimmt; vgl. JWA 1,1, 19 f.; 120; GW 15, 9–13, v. a. 11. 595 Zu den Irrtümern dieser Lesart vgl. Anm. 117. – Vgl. auch GW 20, 89: »Abgesehen davon, daß Spinoza Gott nicht definirt, daß er die Einheit Gottes und der Welt, sondern daß er die Einheit des Denkens und der Ausdehnung (der materiellen Welt) sey, so liegt es schon in dieser Einheit, selbst auch wenn sie auf jene erste ganz ungeschickte Weise genommen wird, daß in dem Spinozischen Systeme vielmehr die Welt nur als ein Phänomen, dem nicht wirkliche Realität zukomme, bestimmt wird, so daß dieses System vielmehr als Akosmismus anzusehen ist. Eine Philosophie, welche behauptet, daß Gott und nur Gott ist, dürfte wenigstens nicht für Atheismus ausgegeben werden.« 594
Schlussreflexion und Ausblick
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als in Maimons hier rekonstruiertem Spinoza-Verständnis angelegt. Yitzhak Melamed kann also zunächst zugestimmt werden, wenn er die Bedeutung der Philosophie Maimons für die Veränderung des Spinoza-Verständnisses der Zeit herausstellt. 596 Dies soll hier jedoch einschränkend kommentiert werden: Einerseits lässt sich jene Bedeutung, wie beschrieben, nicht etwa durch einen vermeintlich positiven Spinozismus Maimons und einen etwaigen Syntheseversuch dieses Spinozismus mit Kants Philosophie erklären. 597 Andererseits ist Maimons Bedeutung für den Wandel des Spinoza-Bildes sowohl historisch als auch systematisch den Wirkungen Jacobis und Herders nachgeordnet. Eine grundsätzliche Frage zur Philosophie Maimons ist in der vorliegenden Erörterung unterdessen gänzlich unthematisiert geblieben, obgleich sich diese Frage in zunehmendem Maße aufdrängt: Oft ist die Rede gewesen von der Konzeption intellektualer Vervollkommnung im Sinne einer progressiven Approximationsdynamik an den Status des Unendlichen. Hierin ist einer der zentral charakterisierenden Züge von Maimons Denken verortet worden. Dabei wurde jedoch nicht besprochen, wie sich diese approximierende Bewegung seinem Verständnis zufolge im Konkreten umsetzen und realisieren lässt. Es gibt verschiedene Hinweise in seinen Schriften, dass hierfür die durchaus aristotelisch mitgeprägte Vorstellung des βίος θεωρητικός, der vita contemplativa, von entscheidender Bedeutung ist: 598 Was die Frage nach dem grundsätzlichen Verhältnis von Theorie und Praxis betrifft, nimmt Maimon im zeitgenössischen Diskurs gewissermaßen eine Außenseiterposition ein, indem er sich gegen das v. a. von Kant, Jacobi und Fichte geprägte Paradigma der Vorrangstellung des Praktischen wendet: 599 »Ich erkenne kein andres Interesse der Menschheit als das Interesse der Wahrheit.« (IV, 209) – und mit unmittelbarer Bezugnahme auf Aristoteles: »Vergebens wird man also die Würde des Menschen [. . .] anderwärts suchen, als wo [sie] Aristoteles gesucht und gefunden hat, im Denkvermögen.« (V, 324) In diesem Sinne bestimmt Maimon die theoria, also das nach der Wahrheit um ihrer selbst willen forschende, spontane Denkvermögen als solches, bereits im Versuch über die Transzendentalphilosophie gewissermaßen als Radikalvermögen jeder menschlichen Aktivität. Dabei betont er abermals 596
Vgl. Melamed, Rise of Spinozism (2004), 68; 94–96; ders., Spinoza’s Metaphysics (2013), 67–
69. Vgl. Melamed, Rise of Spinozism (2004), 94: »I have argued that the most important Spinozistic element in Maimon’s philosophy is his pantheistic view of God as the material cause of the world. Maimon’s adoption of Spinoza seems to be of crucial importance for the later developments of German Idealism, not only because he was the first to try to wed Spinoza and Kant (a path which was followed by Schlegel, Schelling and Hegel), but even more so because of the new understanding of Spinoza which emerged from his writings.« 598 Vgl. Elon, Maimon und Bouterwek (2019), 88. 599 Zu Maimons expliziter Abgrenzung von Kant in dieser Angelegenheit vgl. VII, 667 f. 597
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die Bedeutung einer Steigerungsbewegung innerhalb dieser graduell variablen, primären Erkenntnisfunktion: »Alle menschliche Beschäftigungen sind, als solche, bloß ein mehr oder weniger Denken.« – Dabei sei »das Bestreben eines denkenden Wesens: nicht nur überhaupt zu denken, sondern dieses Maximum im Denken zu erreichen.« (VT, 7) 600 Die intellektuale Approximationsdynamik hängt also einerseits mit Maimons eigener Konzeption des βίος θεωρητικός zusammen. Andererseits weist dieses sich in seiner Philosophie insgesamt aussprechende Modell der theoria als Form von Lebensvollzug zudem auf eine existenzielle Dimension hin: Immerhin ist besagte Approximationsbewegung dadurch charakterisiert, dass der nach intellektueller Vervollkommnung strebende Einzelne unweigerlich ›unterwegs bleibt‹ und ›nicht ankommt‹. 601 Dies kann in künftigen Erörterungen, die sich an die vorliegende Studie anschließen, weiterführend besprochen werden.
600 601
Vgl. Elon, Maimon und Bouterwek (2019), 88 f. Vgl. ebd., 91.
Zitierweise und Siglenverzeichnis
Sofern nicht anders vermerkt, sind Hervorhebungen aus dem Original übernommen. Verschiedene Formen von Hervorhebung werden in den Zitaten dabei vereinheitlicht als Kursivierung wiedergegeben. Modernisierungen in Orthographie und Interpunktion richten sich nach den jeweils verwendeten Ausgaben (s. u.). Die Angaben zu den Schriften Maimons (Bandnr. in römischer, Seitenzahl in arabischer Ziffer) beziehen sich, mit Ausnahme des Antwortschreibens, des Versuchs über die Transzendentalphilosophie sowie Ueber die Weltseele (»AS«, »VT« bzw. »WS«; s. u.), auf: M a i m o n, Salomon, Gesammelte Werke, 7 Bde., hrsg. v. Valerio Verra, Hildesheim 1965–1976.
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Personenregister
Kursiv gesetzte Seitenzahlen beziehen sich auf Nennungen im Fußnotenapparat. Alexander von Aphrodisias 218 Aristoteles 26, 169, 218, 226 Ascher, S. 38, 65 Atlas, S. 15, 58 f., 74 f., 125, 127 f., 165, 168 Avicenna (Ibn Sina) 203, 218 Bacon, F. 78 Bär, D. 60 Baum, M. 143 Baumgarten, A.G. 154 Beiser, F.C. 73 f., 76 Bendavid, L. 38, 65 Berkeley, G. 176 Blumenbach, J.F. 156, 199 –201, 203, 220 Bondeli, M. 130, 141 f. Bonsiepen, W. 16, 61 f., 108, 125, 138 f., 189, 202, 206 –208 Bouterwek, F.L. 37 Bruno, G. 63, 149, 200, 208, 219, 220 Buzaglo, M. 209, 213 Cassirer, E. 90 Deleuze, G. 160, 186 Della Rocca, M. 11, 175 –178, 181, 184 f., 213, 214 Duffy, S. 112, 137 Eberhard, J.A. 83, 123, 219 Ehrensperger, F. 14, 24–26, 56, 75 –77, 91–93, 101, 114, 121, 138, 147, 201, 203, 218 f. Engstler, A. 14, 15 f., 23 f., 31, 40, 45, 56, 77, 90–92, 107 f., 112, 114, 132 –138, 202 f., 211, 214, 223 Epikur 35, 118 Euklid 213
Fichte, J.G. 11, 13, 17, 82, 119 f., 132, 134 f., 171 –173, 187, 190, 201, 210, 223 f., 226 Förster, E. 15, 19, 81 f., 84, 86 f., 89, 94, 97–103, 105, 109, 119, 122, 153 f. Fraenkel, C. 16, 30, 55, 58, 165 Frank, M. 108, 112, 113, 117, 119–121, 134, 136, 146, 223 Franks, P.W. 11, 63, 66, 93, 139, 142, 144, 194, 212 Freudenthal, G. 26, 112 f. Garve, C. 38 Gasperoni, L. 110, 126, 139, 145 Geiger, A. 31 Goethe, J.W.v. 69 Hamann, J.G. 42, 127 Hardenberg, F.v. (Novalis) 82 Hartmann, N. 23 Hegel, G. W. F. 13 f., 17, 50, 126, 177, 178 –180, 186, 211, 223, 224 f., 226 Heidegger, M. 102 Herder, J.G. 156, 226 Herrera, H. 115, 119 f., 121 Herz, M. 22, 38, 39, 51–53, 64 f., 67 f., 70, 79–82, 83, 93, 155, 168 Horkheimer, M. 13 f. Hoyos, L. 146 Hume, D. 21, 44 f., 77, 92, 141–143, 187, 194, 197, 203 –207, 210, 212 –214, 219 f. Inwagen, P.v. 177 Jacobi, F.H. 14, 17, 22, 29, 43, 45, 50, 60, 62 –67, 70, 82, 90, 149, 156, 171–173, 178 –180, 182, 190 f., 195 f., 200, 208, 220, 223, 225, 226 Jenisch, D. 171
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Personenregister
Kant, I. passim Kiesewetter, J.G. 38 Klingner, S. 101 f., 105 Krause, K. C. F. 57 f. Kroner, R. 13 –15, 16, 165, 214 Kuh, E.M. 37 Leibniz, G.W. 21, 49, 55, 57, 61, 83, 85, 112, 113, 117, 122, 137, 145, 147–149, 157 f., 171, 187 –192, 208, 213 Lessing, G.E. 65, 179, 190 f. Maimon, S. passim Maimonides, M. 26, 32, 36, 37, 39 f., 56, 61, 76, 169 Melamed, Y.Y. 11, 15 f., 19, 31, 40, 54 –62, 70, 160, 162 –165, 168, 175, 178 –185, 217, 226 Mendelssohn, M. 17, 22, 24, 29, 34 –38, 40, 45, 52, 60, 62 –65, 156, 190, 191 Moritz, K.P. 39, 41, 191, 208 Newton, I. 38, 56, 112, 201 Noack, L. 24 Obereit, J.H. 41–46, 53, 66 f., 137, 171, 186, 195
Parmenides 49, 50, 166 Platner, E. 17 Platon 118, 137, 213 Reimarus, M.E. 64 Reinhold, K.L. 21, 42, 70, 210 Rosenkranz, K. 24 Sandkaulen, B. 11, 14, 50, 66 f., 179, 185, 196 Schechter, O. 209, 211 –213 Schelling, F. W. J. 13, 82, 119 f., 171, 201, 223, 226 Schlegel, F. 226 Schulze, G.E. (Aenesidemus) 21, 90 Socher, A.P. 31, 60 f., 63, 74, 79, 217 Spinoza, B.d. passim Stephani, H. 11 Thielke, P. 212–214 Voß, C.F. 70 Windelband, W. 90 Wittgenstein, L. 178 Wolff, C. 33 f., 37, 49, 83, 117, 171 Wolff, S.J. 31, 40
Sachregister
Kursiv gesetzte Seitenzahlen beziehen sich auf Nennungen im Fußnotenapparat. Affektion 48, 69, 81, 88–90, 95 –97, 105, 114, 116, 120 Akosmismus 16 –20, 27, 29, 41, 45–51, 53 –55, 57, 59 –63, 65, 71, 85, 156, 158, 164, 166, 168 –187, 189, 192–195, 197, 199, 203, 208, 214–218, 220 f., 223 –225 Akzidenzialität 49, 51 f., 159, 166, 182 Analytik, transzendentale 19, 85, 95, 99, 106, 123 f., 126 Anschauung, intellektuelle 18, 73 –77, 81 f., 85, 87, 89, 94, 97–105, 119–123, 154 sinnliche 75, 80 f., 83, 88, 95 –100, 106, 108, 113, 213 Antinomie 83, 126 f. allgemeine des Denkens überhaupt 85, 127 –131, 135 f., 139 –141, 144, 145, 147, 174, 203 Aporie 21, 23, 25, 141, 144 f., 178, 203, 215 Apperzeption 103, 120, 210 Approximation (s. auch Vervollständigungsdynamik) 73, 85, 127, 131 f., 135, 137, 139 f., 142, 144, 151, 155, 157, 165, 167, 174, 195, 202, 214 f., 226 f. Aristotelismus 25 f., 61, 76, 78, 121 f., 204, 220, 226 Assoziation 142, 204 –207, 210 Ästhetik, transzendentale 88, 96, 104 f., 118, 123 Atheismus 17, 46 –50, 61, 157, 173, 224 f. Atheismusstreit 224 Attribut 48, 52, 58, 69, 148, 160–164, 167 f., 176, 181–185, 186 Ausdehnung (Attribut) 48, 58, 160, 161, 176, 183, 225 Autobiographie 17, 21 f., 31, 33, 40 Bildungstrieb 156, 199 –201, 220
causa immanens 46, 48, 179 causa sui 48, 160, 167 Chassidismus 32, 59 f. cogitatio (s. Denken) Deduktion, transzendentale 84 –87, 89, 93 f., 101 –107, 109 –112, 115, 118 f., 124 f., 131, 140, 142, 165 der B-Au age 101 –106, 109–112, 115, 118 f., 124, 131, 140, 165 Deismus 122 Dekaeder, reguläres 213 Denken (Attribut) 48, 58, 160, 176, 183, 185, 186, 225 Dialektik, transzendentale 74, 85, 123 –126, 136, 180 Differenzial 112–114, 127, 132–134 Dinge an sich 42 f., 44, 66, 83 f., 88–91, 100 f., 106, 114, 116, 119 f., 134 f., 172, 195 Dogmatismus 56, 67, 118, 144, 152, 189 –192, 211–213, 219 rationaler 132 f., 141, 144, 150 f., 194, 206, 211 –213, 215 Dualismus 15, 59, 76, 84, 108, 110, 127, 130 f., 140–142, 144, 154, 194, 214 f. Dualismuskritik 59, 127, 130 f., 144 Einbildungskraft 71, 112 f., 132 –134, 172, 188, 206 –208, 210 Einschränkung 48 –50, 64, 111, 114, 128 –132, 135–137, 139 f., 144 f., 147 –150, 153, 157, 166, 170, 172 –174, 178 –180, 182, 188 f., 193, 195, 202, 213, 214, 216, 217 Eklektizismus 45, 197, 203 Eleaten 49, 55, 189 Empirismus 118, 220 Epigenesis 199–201
246
Sachregister
Erfahrung 66, 77, 86–88, 119, 124, 141–144, 196, 204 f., 210, 212 f. Erscheinung 77, 88 f., 99 f., 106 f., 116, 119 f., 122, 132 f., 183, 204 Essenz 160, 161 f., 167, 177, 181–185 Ewigkeit 17, 42, 44, 66, 160, 162 f., 182, 188, 195 extensio (s. Ausdehnung) Fiktion 74, 134, 138, 188 f. Gegebenes 50, 66, 75 f., 80 f., 84, 87 –89, 91 –93, 95 –99, 102–107, 110 f., 113–116, 120, 121, 128 –131, 133 f., 136–139, 142–147, 154, 173 f., 193 f., 196, 204, 209, 210, 215 f. Geist 30, 36, 48, 69, 70, 78, 81, 163 f., 172, 179, 183, 203, 225 Gewohnheit 143, 205, 210, 212 Glaube 36, 37, 42, 43, 66, 122 Gradualität 111, 113, 115–118, 128, 130 –132, 136 f., 139 f., 142, 144, 147 f., 155, 157, 173, 177, 227 Grundsatz 103, 151–153, 210 Grundsatzphilosophie 210 Haskala 29 f., 34 –38, 57, 61, 64 f., 156, 169 Heterogenität 93, 106–110, 113, 115 f., 127, 129 –131, 140, 143 f., 204, 215 Ich 14, 44, 103, 120, 134, 146 f., 172 f. absolutes 134, 172 f., 210 Idealismus 14 f., 134, 171, 175 f., 184, 223, 226 transzendentaler 43, 146, 171, 172 Idee Gottes 185 Imagination (s. Einbildungskraft) Immanenz 46, 48, 57 f., 134, 179, 186, 218 Immanentismus 47, 189, 192, 217 f. Individualität 53, 179 In nitesimalrechnung 112, 157, 188 intellectus archetypus (s. auch Verstand, intuitiver) 73 –76, 79–81, 85, 98, 103, 151, 153 –155, 165 in nitus 26, 69, 70, 84, 157, 159 f., 163–166, 169, 184–186, 193, 202 Intellekt-/Verstandeskonzeption 19–21, 25, 27, 30, 51, 59, 65, 68 –71, 73 –77, 80, 82, 84, 109 f., 114, 118, 121 –123, 125, 127, 148 f., 151, 155 –159, 164 –166, 169 f., 187, 195 f., 203, 224 intelligentia pura extramundana 216 f., 219
intuitus originarius 104, 118 Kabbala 30 f., 32, 34, 50, 56, 64 Kategorie 71, 78, 80, 85, 87, 89, 96, 99, 101 –109, 113, 120, 123, 136, 142 f., 194, 204, 207 Kausalität 48, 58, 142 f., 151, 163, 182, 189, 204 f., 213 Koalitionssystem 141, 192, 194, 206, 211, 214 kopernikanische Wende 26, 76 f., 218 f. Kosmos 27, 49 f., 54, 61, 121, 122, 166, 168 f., 175, 177, 180 f., 183, 197, 200, 217 f., 225 Kritizismus / kritische Philosophie 15, 18 f., 21, 25, 30, 40, 42, 70, 71, 76 –82, 83, 84, 94, 103 –105, 118–120, 122 f., 127, 137, 204, 205, 210, 218 –220, 224 Leibnizismus 117, 137, 147, 187, 191 f. Logik, transzendentale 14, 19, 71, 95 f., 104 f., 124, 209, 211 f. Magazin zur Erfahrungsseelenkunde (s. auch Psychologie) 22, 39, 41, 43, 63, 66, 149, 171, 191, 200, 208 Manuskripte Maimons 21, 31, 37, 38, 39, 56, 67 f., 169 Materie 48, 75, 92 f., 129 f., 137, 143, 183, 199, 201, 218, 225 Mathematik 37, 56, 112–114, 126, 189, 195, 209, 210, 212 mens humana 69, 84, 157, 163 Metaphysik 14 f., 18, 34, 43, 51, 54, 67, 74, 78, 84, 86, 103, 118, 120–123, 125 –127, 132, 135 f., 138 f., 149, 157 f., 160, 164–168, 174, 181, 183 f., 190, 195, 196, 203, 211, 214, 219 f., 224 Substanz- 14, 17, 84, 164 f., 224 Modus 48–50, 52 f., 55, 58, 84, 158 –164, 166, 168, 177 f., 179, 182–186, 189, 225 in niter 161, 162 –164, 185 Monade / Monadologie (s. auch Urmonade) 122, 145, 148 f., 157, 188 Monismus 47, 49, 51, 74, 84, 110, 115, 117, 125, 139 f., 144, 157 –159, 166, 168 f., 175 –178, 189 f., 192–194, 214 f., 217 f., 220 epistemologischer 84, 110, 115, 117, 139 f., 144 Substanz- 47, 49, 51, 157 –159, 166, 168 f., 177 f., 189 f., 192, 214, 217 f., 220
Sachregister
Nachlass Maimons (s. Manuskripte) Natur 30 f., 42, 48, 49, 56, 74, 122, 137, 151–154, 156, 161 –163, 166 f., 181, 183, 185, 186, 199 –201, 202, 203, 206 –208, 213, 216, 217 natura naturans / naturata 161 –163, 166 f., 183, 185, 186 Naturalismus 205, 206 –208, 211 f., 219 f. Negation 49, 50, 60, 166, 178 –182 Neukantianismus 90 Neuplatonismus 147, 202 f. Nichts 17, 29, 41–45, 51, 53, 59, 66, 71, 136, 158 f., 166 f., 169–172, 184, 186 f., 192 f., 195, 197, 223 Nihilismus 42, 53, 170 –173, 177 nisus formativus (s. Bildungstrieb) Noumenon 99 –101, 134 Objektivität 115 f., 124, 132, 134, 135 f., 138 f., 141–143, 151 f., 180, 185, 205–207, 209 f., 219 Ontologie 50, 53, 74, 84, 121 f., 127 f., 134 f., 158, 165, 173, 179, 180, 189, 193, 214, 219 f. Panentheismus 57 f., 218 Pantheismus 25, 47, 54 –61, 166, 217 f., 226 Pantheismusstreit (s. Spinoza-Streit) Peripatos 218 Perzeption (s. Wahrnehmung) Physikotheologie 154 Pluralismus, Substanz- 158, 188 f. potentia 167, 169 f., 184, 186, 192 prästabilierte Harmonie 188 f. Problemdenken (s. auch Systemdenken) 15, 23–25 Produktion / Produktivität 50, 81, 87, 89, 96, 98, 101, 102, 103, 105, 109 f., 115 f., 132 –135, 151 f., 167, 172 –174, 184 f., 186, 189, 192 f., 206, 209, 211, 213, 223 Psychologie (s. auch Magazin zur Erfahrungsseelenkunde) 39, 205–208, 210 f., 220 quid facti 71, 86, 141, 143 –145, 205, 215 quid juris 71, 84 –87, 89 –94, 106 –113, 116, 124, 129, 140 f., 143 f., 210 quid rationis 91, 107
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Rationalismus 25, 118, 175 f., 178, 184, 190, 211–214, 220 apostatischer 208, 212–214, 220 Rationalismuskritik 101, 118 Rationalität 46, 51, 66, 133, 191 Raum 42, 83, 108, 110, 134, 145 f., 161, 206, 213 Realismus 14, 171, 213 Referenzrelation, apriorische 86–89, 95, 105 Relationalität 175, 177 Religion 33, 36, 46, 60, 112, 169 Vernunft- 36 Rezeptivität 84, 87 –89, 95 –98, 104 f., 109 –111, 114–117, 127 –131, 133, 135, 137, 140, 143–145, 147 f., 154, 215 Salto mortale 42–45, 66 f., 187, 194 –196 Satz der Bestimmbarkeit 209 –212 des Bewusstseins 42 vom zureichenden Grund 175, 177 f. Schema / Schematismus 71, 106–109, 114, 136 Schöpfung 44, 46, 50, 57, 58, 121, 122, 148, 172, 200, 217 –219 scientia intuitiva 69 f. Sinnlichkeit 35, 59, 71, 75 f., 79–81, 83 f., 87 –89, 95 –102, 104, 106 –120, 127–134, 137, 141, 143 f., 152, 154, 206, 213 Skeptizismus 27, 44 f., 54, 83, 92, 141 f., 144, 187, 193 f., 197, 199, 202–208, 209 f., 211–216, 219 f. Außenwelt- 197 empirischer 141 f., 144, 194, 205 f., 211, 215 Hume'scher 44 f., 92, 142, 187, 194, 197, 202–207, 214 Spinoza-Streit 17, 29, 45, 47, 50, 60, 62, 64 –66, 156, 190, 191, 194 f., 223 Spinozismus 15 f., 18 f., 27, 29, 31, 41, 44 f., 47 –49, 51 f., 54 f., 57 –59, 61 –64, 67 –71, 75, 82–85, 117, 122, 125, 156 f., 159, 164, 168 f., 171 f., 175, 179, 183, 187, 189 –194, 196 f., 203, 215 f., 218, 223, 225 f. Spinozismusvorwurf 29, 41, 67–71, 75, 82 –85, 122, 156 f., 164, 169 Spontaneität 26, 95 –98, 103, 105, 111, 114–117, 121, 127–133, 135 –137, 139 f., 142–150, 152 –154, 157, 165, 167, 172 –174, 184 f., 192 f., 212, 214 f., 226 Sprung (s. Salto mortale) Subjekt, absolutes (s. Ich, absolutes)
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Sachregister
Substanz (s. auch Metaphysik, Monismus, Pluralismus) 14, 17, 19, 44, 46 –55, 57, 58, 61 f., 84, 148 f., 157 –172, 174, 176–178, 179, 180–186, 188 f., 192 f., 203, 214, 216 –220, 224 f. Substanzialität 49, 50 f., 159, 166 f., 177, 182, 203, 216 –218, 220 Synthesis 75, 89, 91–93, 102 f., 114, 123, 141 f., 154, 204, 206 –210, 211, 213, 226 Systematizität 23 Systemdenken (s. auch Problemdenken) 15, 23, 24, 25 Systemkritik 171, 196 Talmud 24, 35 Tathandlung 172 Teilbarkeit 58, 162 f., 186 Teleologie 79, 97, 99, 151–155, 165, 199 –201 Theismus 42, 44, 46 f., 122 Theologie 34, 58, 125, 148, 171, 202 Transzendenz 46, 57 f., 74, 115, 217 Urmonade 122, 148 f., 157, 188 Ursache, Final- 55, 57 f., 217 Wirk- 55, 57 f., 167 Urteil, Erfahrungs- 77, 141–143, 204 f. synthetisches a priori 86, 141 f., 209 Wahrnehmungs- 141, 143 Urteilskraft, re ektierende 152 f., 155 teleologische 97, 151 –153, 154, 155 Urwesen 104, 118 f., 122 Vernunft 30 f., 33, 36, 37, 42, 74, 83, 91, 114 f., 118, 122, 123 f., 127, 130 f., 136, 139, 150, 152, 196, 199, 201, 203, 212 f.
Vernunftkritik 71, 118 f., 122 f., 126, 135, 149, 191, 211, 219 Verstand, anschauender 70, 75 –77, 80, 82, 84 f., 97, 98, 101 –105, 109–112, 114 f., 117–119, 123 –125, 131, 140, 153 f., 156, 165 diskursiver 75, 85, 87, 89, 95 –99, 101, 102–104, 109, 152 f., 154 göttlicher 67, 69, 70, 82 –84, 103–105, 117 f., 121, 127, 148, 156, 193, 195 intuitiver (s. auch intellectus archetypus) 18, 73 –75, 82, 85, 97–100, 101, 102 f., 105, 151, 153 f. unendlicher 15, 19, 26, 58 f., 62, 66 f., 69 f., 73 –79, 82, 84 f., 105, 110 –115, 117, 120 f., 122, 123–125, 127 f., 131–140, 143 f., 149 f., 154 f., 157 –159, 163–165, 167, 173 f., 183 f., 185, 192, 194 f., 202, 209, 214, 219 Verstandesbegriff, reiner (s. Kategorie) Vervollständigungsdynamik (s. auch Approximation) 25, 73, 85, 115, 127, 130 f., 135, 139 f., 144, 149 f., 165, 173, 196, 215, 226 f. vita contemplativa 226 f. Wahrnehmung 77, 78, 113, 141, 143, 148, 204–207 Weltseele 15, 26, 27, 39, 58, 63, 76, 183, 199 –204, 206 –208, 216–220 Wiener Kreis 112 Wissenschaftslehre 11, 171, 223 Zeit 42, 50, 77, 83, 107 f., 110, 134, 146, 161, 162, 164, 204, 206 f. Zimzum 50