Die Philosophie J.-P. Sartres: Zwei Untersuchungen zu L'être et le néant und zur Critique de la raison dialectique 9783110861181, 9783110097931


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Vorwort zur Neuausgabe
Vorwort
Inhaltsverzeichnis
Corrigenda
Grundzüge der Ontologie Sartres
Vorwort
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Corrigenda
Sartres Sozialphilosophie
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Die Philosophie J.-P. Sartres: Zwei Untersuchungen zu L'être et le néant und zur Critique de la raison dialectique
 9783110861181, 9783110097931

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Klaus Hartmann · Die Philosophie J.-P. Sartres

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Klaus Hartmann DIE PHILOSOPHIE J.-P. SARTRES Zwei Untersuchungen zu L'être et le néant und zur Critique de la raison dialectique Durchgesehene, um ein Vorwort und ein Register vermehrte 2. Auflage von Grundzüge der Ontologie Sartres in ihrem Verhältnis zu Hegels Logik und Sartres Sozialphilosophie

1983 Walter de Gruyter & Co. · Berlin · New York

CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Hartmann, Klaus: Die Philosophie J.-P. Sartres : 2 Unters, zu L'être et le néant u. zur Critique de la raison dialectique / Klaus Hartmann. — Durchges., um e. Vorw. u.e. Reg. verm. 2. Aufl. von Grundzüge der Ontologie Sartres in ihrem Verhältnis zu Hegels Logik und Sartres Sozialphilosophie. — Berlin ; New York : de Gruyter, 1983.

© Copyright 1983 by Walter de Gruyter & Co., vormals G. J. Göschen'sche Verlagshandlung — J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung — Georg Reimer — Karl J. Trübner — Veit & C o m p . — Printed in Germany — Alle Rechte des Nachdrucks, einschließlich des Rechtes der Herstellung von Photokopien und Mikrofilmen, vorbehalten. Satz und Druck: Hildebrand, Berlin Bindearbeiten: Lüderitz & Bauer, Berlin

Vorwort zur Neuausgabe Durch das Entgegenkommen des Verlages ist es möglich geworden, die beiden vergriffenen Bücher zur Philosophie von J.-P. Sartre, Grundzüge der Ontologie Sartres in ihrem Verhältnis zu Hegels Logik (1963) und Sartres Sozialphilosophie (1966), in einem Nachdruck vereinigt wieder zugänglich zu machen. Nach einer so langen Zeitspanne erhebt sich natürlich die Frage, ob nicht unterdes in Sartres eigener Entwicklung bis zu seinem Tod im Jahre 1980, aber wohl auch in der Entfaltung der Sekundärliteratur und schließlich vielleicht sogar in des Autors eigener Standpunktverschiebung Gründe liegen, die eine Umarbeitung der beiden Bücher zu einem neuen Buch erfordert hätten. Es geht dem Autor hiermit nun so, daß er nicht ernsthaft in Versuchung war, dieses neue Buch zu schreiben. Z u m ersteren Punkt kann in seiner Sicht gelten, daß Sartre über die — als zweites Hauptwerk anzusehende — Critique de la raison dialectique hinaus kein abgeschlossenes philosophisches Werk mehr geschrieben hat. Hier ist Widerspruch möglich, besonders in Hinsicht auf das große Werk über Flaubert, L'idiot de la famille, aber auch im Blick auf viele Äußerungen in Essay- und Interviewform. Sicherlich können die letzteren auf implizite philosophische Standpunkte und Meinungen hin befragt werden, aber eine solche Aufarbeitung der intellektuellen Geschichte Sartres m u ß der Autor anderen überlassen. (Reizvoll wäre wohl am ehesten das Interview Sartres mit Benny Levy 1 gewesen, das Fragen der Moral und der Gewalt anspricht). Was das Flaubert-Werk angeht, so ist dessen Nichtberücksichtigung zu verschmerzen, scheint es doch, daß der im Buch entfaltete Ansatz zu einer Hermeneutik philosophisch nicht mehr erbringt, als im Vorspann zur Critique de la raison dialectique, Question de méthode, grundgelegt ist. Zu Saint Génet, comédien et martyr, muß der Autor gestehen, daß er sich von der philosophischen Relevanz dieses Werkes nicht hat überzeugen können. Philosophisch relevant wäre der in umfangreichen Manuskripten hinterlassene, noch nicht allgemein zugängliche 2. Teil der Critique, wenn nicht seine Sichtung durch Ro-

1

Deutsch in Freibeuter N r . 4 (1980), „Die Linke neu d e n k e n " , S. 37-50, und N r . 5 (1980), „ U b e r Brüderlichkeit und Gewalt und die Bedeutung von Demokratie und H o f f n u n g im linken D e n k e n " , S. 1-22.

VI

Vorwort

nald Aronson zeigte, daß Sartre das selbstgestellte Programm, nach einer strukturellen nun eine historische Anthropologie zu liefern, nicht hat erfüllen können. (Die — wenn auch auf Grund der Sachlage gedämpfte — Erwartungshaltung im zweiten hier vorgelegten Text ist entsprechend zu korrigieren). Bei seiner Entscheidung, kein neues Buch über Sartres Philosophie zu schreiben, soll — dies ist der zweite Punkt — ein Bedauern des Autors nicht bestritten werden, das der Nichtberücksichtigung so mancher Schriften der Sekundärliteratur gilt. Nicht daß er sich in seiner Sicht in Frage gestellt sähe, Bedauern aber doch in dem Sinne, daß zu diesem oder jenem Problem bereichernde Stellungnahmen oder auch konträre Standpunkte hätten eingearbeitet werden können. Einige Sekundärschriften, von denen der Leser in der Meinung des Autors Gewinn haben könnte, seien im folgenden genannt. Zu L'être et le néant liegt mit Gerhard Seels Buch Sartres Dialektik, Bonn 1971, ein sich bewußt so verstehender Gegenentwurf zur Deutung des Autors vor: Sartres Dialektik wird als ein progressiver Implikationszusammenhang nach Art von Wolfgang Cramer verstanden, bei dem die einzelnen Ebenen des Subjekts — Bewußtsein, Mangelstruktur und Wert, Zeitlichkeit — in extrapolativer Manier aufeinander folgen, anstatt bloße Anwendungsgebiete einer abstrakt belassenen Hegeischen Dialektik zu sein.3 Erwähnt seien auch Peter Kampits' Sartre und die Frage nach dem Anderen, Wien-München 1975, Arthur. C. Dantos Jean-Paul Sartre, München 1977 (eine der analytischen Philosophie zugehörige Deutung),4 Wolfgang Jankes, das Existentielle bei Sartre betonende Existenzphilosophie, Sammlung Göschen Nr. 2220, Berlin-New York 1982, und, unter einer Reihe von philosophischen Aufsätzen der Sartre-Sondernummer der Zeitschrift Obliques (Nr. 18-19, Paris, o. J.), der Beitrag von Leo Fretz „Le concept de l'individualité", a. a. O. 221-234, zu Sartres Bewußtseinstheorie.5 2

2

3

4

5

R. Aronson, „Sartre's Turning Point: the Abandoned Critique de la raison dialectique. Volume T w o " , in: The Philosophy of Jean-Paul Sartre, ed. by Paul A. Schilpp, The Library of Living Philosophers vol. XVI, La Salle, 111. 1981, S. 685-708. Siehe Κ. Hartmann, Gerhard Seel, Sartres Dialektik, in: Philosophischer Literaturanzeiger 24, 6 (Dez. 1971), 321-325.. Siehe Κ. Hartmann, „Ein neu gedeuteter Sartre?" in: Neue Zürcher Zeitung, 21.4.1978, Fernausgabe Nr. 91, S. 34. Der Autor erlaubt sich, auf eigene Aufsätze hinzuweisen: „Sartres Phänomenbegriff", in: Phänomenologische Forschungen Nr. 9, Freiburg-München 1980, 163-183; „Freiheit als Negation?", in: Neue Zürcher Zeitung, 10./11.11.1979, Zürcher Ausgabe Nr. 262, S. 67 f. Wieder abgedruckt in: Querschnitt. Kulturelle Erscheinungen unserer Zeit, hrgs. von H. Helbling und M. Meyer, Zürich 1982, 259-263; zu Hegel: „Hegel: A Non-Metaphysical View", in: Hegel. A Collection of Critical Essays, hrsg. von A. Maclntyre, Anchor Books, New York 1972, 101-124; „Die ontologische Option", in: Die ontologische Option, Berlin 1976, 1-30.

Vorwort

VII

Zur Critique denkt der Autor an folgende Schriften: Ingbert Knecht, Entfremdung bei Sartre und Marx, Meisenheim 1975, ein Buch, in dem sich eine besonders klare Analyse der Sartreschen Struktur der Serialität findet und die Beziehung der Critique zu Marx herausgestellt wird; 6 bereichernd ist Raymond Arons Buch Histoire et dialectique de la violence, Paris 1973, in dem ein besonderer Akzent auf Sartres Billigung der Gewalt gelegt, aber auch ein reizvolles Urteil über den Charakter der Theorie in der Critique geboten wird. Es sei zitiert: „La Critique raconte, en une sorte de roman philosophique, l'odyssée de la conscience qui s'aliène dans l'objet, se perd dans le pratico-inerte, la matérialité et la sérialité, s'arrache ensuite à la servitude ou, mieux encore, à la glu qui l'enserre et l'enferme, se reconquiert elle-même par la révolte, pour le combat et enfin, pour vaincre, perd ses raison de vaincre . . . La conscience qui s'est libérée par la révolte retombe peu à peu, par l'intermédiaire de la praxis commune, dans le pratico-inerte." (a.a.O. 109). Eine originelle Stellungnahme zu Sartres Moralauffassung, besonders in der Critique, findet sich in einem Aufsatz von Rudolf Bluhm. 7 Erwähnt seien schließlich die Gesamtdarstellung Sartres von Jorge Martínez Contreras, Sartre. La filosofía del hombre, Mexico 1980, and der schon genannte bedeutende Sammelband der Library of Living Philosophers. 8 Als bibliographische Hilfsmittel sind zu nennen M. Contat u. M. Rybalka, Les écrits de Sartre, Paris 1970, M. Rybalka, Auswahlbibliographie in Bd. XVI der Library of Living Philosophers, 709-729, und F. H . Lapointe, JeanPaul Sartre and His Critics. An International Bibliography (1938-1980), 2. Aufl., Bowling Green, Ohio, 1981 (Sekundärbibliographie). Was eine mögliche Standpunktverschiebung beim Autor angeht, die ihn vielleicht von den hier nachgedruckten Büchern hätte abrücken lassen sollen — der obige dritte Punkt —, so wäre zu sagen, daß sich seine Meinungen zu Sartres Philosophie nicht oder kaum verändert haben; die gegebene Analyse ist immer noch die von ihm bevorzugte. Sein Interesse liegt nach wie vor auf dem Theoriemoment, näher also auf der dialektischen (ontologischen, transzendentalen) Machart der Sartreschen Philosophie, die es zu prüfen gilt; dies im Gegensatz zu hermeneutischen Annäherungen an Sartre, die ein weniger strenges, aber weiteres Feld vor sich haben. Mit diesem 6

7

8

Der A u t o r hat Sartre näher mit Marx in Beziehung gesetzt in Die Mansche Theorie, Berlin 1970 (siehe doniges Register). R. Bluhm, „ Z u m Problem moralischen Argumentierens: Sartre", in: Theorietechnik und Moral, hrsg. von N . Luhmann und St. H . Pfiirtner, Frankfurt 1978, 117-145. Auch in Zusammenhang mit Sartres zweitem H a u p t w e r k erlaubt sich der Autor, auf eigene Aufsätze hinzuweisen: „Praxis: A G r o u n d for Social Theory?", in: Journal of the Britisch Society for Phenomenology 1, 2 (1970), 47-58; „Sartre's Theory of ensembles", in: The Philosophy of Jean-Paul Sartre, a.a.O., 631-660.

VIII

Vorwort

Akzent auf Theorie bei Sartre erscheinen dem Autor die beiden hier zusammen nachgedruckten früheren Bücher als nicht überholte Texte, deren Gedankengänge durch Neufassung zwar reflektierter geraten könnten, dabei aber wohl wenig gewinnen würden. 9 Der vorliegende photomechanische Nachdruck erlaubt nur die Beifügung von Corrigenda sowie die Ergänzung durch ein Register zum ersten Buch; ein Literaturverzeichnis zum zweiten Buch erwies sich wegen der detaillierten Belege in den Fußnoten als entbehrlich. In Kauf genommen werden mußte die in den beiden Teilen unterschiedliche Schrifttype, die getrennte Paginierung sowie der Umstand, daß die zweite Untersuchung in ihrem 1. Kapitel einen Rückblick auf die Philosophie von L'être et le néant und somit eine teilweise Wiederholung, allerdings auf einer höheren Reflexionsstufe, enthält. Andererseits finden sich in diesem Kapitel Ausführungen zu Sartres Freiheitsdeutung, die angesichts der gewählten Perspektive in der ersten Untersuchung ausgespart sind. Klaus Hartmann, im Mai 1983

9

R e f l e k t i e r t c r e G e d a n k e n g ä n g e b e t r e f f e n die M o r p h o l o g i e d e r t r a n s z e n d e n t a l e n o d e r spekulativen M a c h a r t d e r Sartreschen T h e o r i e n . Siehe hierzu Seel, a . a . O . , u n d R. A s c h e n b e r g , Sprachanalyse und Transzendentalphilosophie, Stuttgart 1982, bes. 342 A n m . , 402, 407 f., 414, 419-421, 425 f. Ein A n s t o ß hierzu bei K. H a r t m a n n , „ T h e Analogies and A f t e r " , in: Proceedings of the Third International Kant Congress, D o r d r e c h t 1972, 47-62. Siehe auch ders., „ T r a n s z e n d e n t a l e A r g u m e n t a t i o n . E i n e A b w ä g u n g d e r verschiedenen A n s ä t z e " , in: Transzendentale Argumentation und transzendentales Denken, Stuttgart (erscheint d e m nächst).

Gesamtinhaltsverzeichnis

Vorwort zur Neuausgabe Vorwort Inhaltsverzeichnis, Corrigenda Grundzüge der Ontologie Sartres Vorwort Inhaltsverzeichnis Corrigenda Sartres Sozialphilosophie

V XIII XV XVII Text Seite 1 bis 143 III VII IX Text Seite 1 bis 210

Grundzüge der Ontologie Sartres in ihrem Verhältnis zu Hegels Logik

Vorwort Die vorliegende Studie versucht bei der Interpretation und Analyse von Sartres Hauptwerk, dieses so weit darzustellen, daß auch dem Leser ohne umfassendere Sartre-Kenntnis ein Verständnis möglich sein sollte. Eine nähere Vertrautheit mit Hegel, und in gewissem Maß auch mit Husserl und Heidegger, ist jedoch vorausgesetzt. Ein Wort zur Sekundärliteratur. Die mir bekanntgewordenen Arbeiten bieten keine eingehende Interpretation der Sartresdien Ontologie im Blick auf Hegel. W. Biemels Aufsatz über Hegels und Sartres Dialektik wäre zu nennen; der Autor beabsichtigt allerdings nicht eine Analyse der Ontologie Sartres, sondern hält sich an einen zugespitzten formelhaften Ausdruck der Dialektik, wie ihn Sartre in seinem Werk selbst verwendet. Auch J. Koppers Arbeiten wären anzumerken. Dem Autor geht es aber im wesentlichen um eine Interpretation Sartres von einem an Hegel orientierten Geistbegriff her; der Hauptakzent liegt auf dem Thema der Gemeinschaft. Einige wichtigere Sekundärwerke seien genannt: G. Varet („L'ontologie de Sartre") und M. Natanson („A Critique of Jean-Paul Sartre's Ontology") sehen Sartre von der Husserlschen Phänomenologie her und behandeln seine Philosophie in „L'être et le néant" als neuartige oder abartige phänomenologische Methode. Natanson sieht eine Beziehung zu Hegel1, und zwar zur Hegeischen Phänomenologie. W. Desan („The Tragic Finale") betrachtet Sartre als eigenwilligen Denker in der existenzialistischen Tradition, hat aber kein Verständnis für Sartres Dialektik; er vermutet Bezüge zu Hegel2. ]. Möller („Absurdes Sein?") ist sich der Nähe Sartres zu Hegel bewußt, die apologetische Polemik und die „Überwindung Sartreschen Denkens durch Metaphysik" 4 stehen aber im Mittelpunkt des Interesses. Ein Großteil der Sekundärliteratur stammt von scholastischer oder vordergründig-existenzialistischer Seite und hat sich als wenig hilfreich erwiesen. Es ist daher von eigentlicher Sekundärliteratur, im Gegensatz zu Philosophen in eignem Recht, nur spärlicher Gebrauch gemacht. Ein Wort ferner zur Zitierung Sartres. Das Hauptwerk „L'être et le néant" ist mit „EN" abgekürzt. Wo es auf die Formulierung ankommt, stehen Zitate und Begriffe im französischen Original im Text oder in Fußnoten; sonst zitieren wir in eigner Ubersetzung mit Angabe der Belegstelle. In darstellenden Teilen werden Sartres Ausführungen 1

a. a. O., 73 f.

2

a. a. O., 156, 159.

3

a. a. O., 105 ff., 108.

4

a. a. O., 161.

XIV

Vorwort

oft in enger Anlehnung an den Text mit Angabe der Belegstelle (oft für einen ganzen Absatz gültig) paraphrasiert. W o unsere Wendungen dann Sartres französischen wörtlich gleichkommen, sind sie, als übersetzte Zitate, in Anführung gesetzt. Der Text sollte nicht durch zu viele längere Einschübe im Original belastet oder jeweils an die Zitierung vollständig übersetzter Sätze oder Gruppen von Sätzen gebunden sein. (Für eine Reihe von Termini, wie en-soi, pour-soi usw., scheint es uns ohnehin legitim, zu den deutschen Ausdrücken Ansich, Fürsich usw. zurückzukehren, die die ursprünglichen sind). Schließlich möchte ich an dieser Stelle Herrn Prof. Johannes Thyssen meinen Dank aussprechen für ein wohlwollendes Gewährenlassen und so manchen gütlichen Disput über die Materie dieses Buches. D a n k schulde ich auch Herrn Dr. Rudolf Hoffmann f ü r seine H i l f e bei der Korrektur. B o n n , J a n u a r 1963

Klaus

Hartmann

Inhaltsverzeichnis

CORRIGENDA

XVII

EINLEITUNG

1

I. D I E G E W I N N U N G D E R O N T O L O G I S C H E N E B E N E 1. Die Ausgangsposition 2. Die Argumentation f ü r eine ontologische Fundierung des P h ä n o m e n s . . . . 3. Sein und P h ä n o m e n 4. Das Bewußtsein 5. Die Idee einer ontologisch fundierten Phänomenologie II. DAS A N S I C H S E I N

6 6 11 16 21 30 33

III. H I N F U H R U N G ZUM F U R S I C H S E I N 1. Die regressive Analyse 2. Die N e g a t i t ä t e n 3. N e g a t i v e Bedingungen in der I m m a n e n z 4. Die U n w a h r h a f t i g k e i t

42 43 45 46 49

IV. D A S F U R S I C H S E I N 1. Die Binnenstruktur des Fürsichseins 2. Die unmittelbaren Strukturen des Fürsichseins a) Das Sein des Fürsichseins b) Das Fürsichsein als Mangel c) Das Fürsichsein als T o t a l i t ä t d) Das Fürsichsein als K o m p l e m e n t 3. Die Zeitlichkeit a) Ontologische Vorbetrachtung b) D a s Fürsichsein als zeitliches c) Exkurs über Hegels Zeitauffassung 4. Das Fürsichsein als Transcendieren a) D e r G r u n d b e z u g zum Sein b) Die Artikulation des Seins

57 58 64 64 66 71 73 78 78 81 86 90 90 93

V. D A S F U R - A N D E R E - S E I N 1. Die Begegnung des Andern 2. Die Seinsbczichung zum Andern VI. S A R T R E S O N T O L O G I E IM G A N Z E N U N D I H R ZU HEGEL 1. Die formale Auslegung des Seins bei Hegel 2. Sartres formale Auslegung des Seins 3. Die existenziale Erkenntnistheorie 4. Exkurs über Sartres Verhältnis zur Phänomenologie 5. Ontologie und Metaphysik

98 99 103 VERHÄLTNIS 113 114 113 122 124 126

XVI

Inhaltsverzeichnis

RÜCKBLICK A N H A N G Exkurs über Solger LITERATURVERZEICHNIS

128 132 136

REGISTER

139

Corrigenda

Vorwort, S. XIII, Zeile 14 von unten lies: bewußt 3 S. 11, Zeile 19 von oben lies: usw.". 20 S. 12, Zeile 24 von oben streichen: — S. 13, zur letzten Zeile füge hinzu: Vgl. Hegel, Enzyklopädie §§ 164 u. 237; ders., Logik (WW Bd. 5) 12; ders., Vorlesungen über die Ästhetik (WW Bd. 12 Jubiläumsausgabe) 157. S. 15, Zeile 21 von oben Anführung streichen S, 15, Zeile 23 von oben lies: „sonst wäre es nicht"... „Die S. 15, Anm. 42 füge hinzu: Vgl. Hegel, Vorlesungen zur Geschichte der Philosophie (WW Bd. 19 Jubiläumsausgabe) 575. S. 24, Zeile 10 von unten lies: Vorstellung), S. 28, Zeile 3 von unten lies: „il n'y a S. 29, Zeile 18 von unten lies: auf diese Erfahrung, denn es ,ist' diese Erfahrung" 8 7 S. 34, Zeile 15 von unten lies: nicht ,nicht' das sein, was es nicht ist" S. 34, Zeile 13 von unten lies: „Es ist, und wenn es S. 38, Zeile 23 von oben lies: ungeschiedener. 17 S. 38, Zeile 22 von unten lies: Qualität. Die Qualität S. 38, Zeile 19 von unten lies: m u ß es Sein S. 38, Zeile 18 von unten lies: auch nicht das Sein ist".2* S. 44, Zeile 13 von oben lies: das Negative (statt Ansich) S. 45, Anm. 15 lies: E N 57 S. 51, Anm. 39 lies: E N 91 f. S. 51, Anm. 40 lies: E N 93. S. 52, Zeile 21 von oben lies: soll für sich nur sein, S. 52, Anm. 48 lies: E N 103; 108. S. 53, Anm. 52 lies: Vgl. E N 106. S. 56, Zeilen 12 u. 13 von oben lies: „nicht sein" können, was es ist, und „sein" können, S. 56, Zeilen 12 und 13 von unten lies: „ist, was es nicht ist, und ist nicht, was es ist". 68 S. 57, letzte Zeile lies: Wir S. 58, Anm. 8 lies: E N 221.

XVIII

Corrigenda

S. 63, Anm. 33 lies: E N 221. S. 64, Anm. 35 lies: E N 121. S. 64, Anm. 36 lies: EN 122. S. 65, Anm. 38 lies: Vgl. E N 126. S. 66, Zeile 13 von unten lies: Sartre das Bewußtsein „selbst S. 68, Anm. 52 lies: 140 f. S. 74, Zeile 9 von oben lies: „ich bin das S. 76, Anm. 79 lies: EN 145 f. S. 76, Anm. 82 lies: E N 146. S. 82, Anm. 108 lies: EN 166. S. 83, Zeile 5 von oben lies: indem diese, die S. 84, Zeile 10 von oben Punkte streichen S. 91, Zeile 6 von lies: 'conscience de ...' ... Le Pour-soi S. 95, Zeile 10 von unten lies: Die Qualität ist „das Sein als ganzes, S. 98, Anm. 6 lies: Vgl. EN 288-192. S. 99, Zeile 9 von unten lies: der Andere S. 99, Anm. 12 lies: EN 353 f. S. 101, Anm. 25 lies: E N 336. S. 101, Anm. 26 lies: EN 335-345. S. 107, Zeile 23 von unten lies: „mein Draußen" S. 108, Zeile 6 von unten lies: um zu sein, sich als von einem Bewußtsein im Sein gehalten S. 108, Anm. 58 lies: EN 360-362. S. 122, Zeile 10 von unten lies: Welt für das SubS. 127, Zeile 20 von oben lies: Synthese.29 S. 128, Zeile 16 von unten lies: Philosophie (statt Ontologie) S. 136, nach Zeile 22 von oben ergänze: W. Biemel, Jean-Paul Sartre in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbek 1964. S. 137, Zeile 34 von oben lies: Natanson, M. (nicht M. A.) S. 138, nach Zeile 9 von oben ergänze: Anselmi Cantuariensis Archiepiscopi Opera omnia, ed. F. S. Schmitt, Secovii 1938. S. 138, nach Zeile 16 von oben ergänze: Hegel, G. W. F., Enzyklopädie, hrsg. von J. Hoffmeister, 5 Aufl., Leipzig 1949; Hegel, G. W. F., Vorlesungen zur Geschichte der Philosophie (Jubiläumsausgabe Bd. 19), Stuttgart 1930. S. 138, nach Zeile 31 von oben ergänze: Leibniz, G. W., Nouveaux Essais, Philosophische Schriften, Bd. V, hrsg. von C. I. Gerhardt, Berlin 1882; Locke, J., An Essay Concerning Human Unterstanding, hrsg. von C. Fraser, Oxford 1894; Kierkegaard, S. Α., Der Begriff Angst, übers, von E. Hirsch, Düsseldorf 1952.

EINLEITUNG Die Entstehung von Sartres theoretischen Schriften liegt — mit Ausnahme des Buches über Genet und der neuerdings erschienenen „Critique de la raison dialectique" — weit zurück; die heftige Reaktion ist vorüber. Dabei war diese Reaktion nur zum kleinen Teil eine solche auf die theoretischen Werke. Das H a u p t w e r k „L'être et le néant" wie auch die Schriften über die Phantasie und die Gefühle traten vielmehr hinter dem Interesse f ü r die Romane, Dramen und Essays zurück. Es erschienen bald nach dem Krieg eine Reihe meist französischer Studien, die aber vielfach unter dem Eindruck der von Sartre selbst hervorgerufenen weltanschaulichen Tagesströmung standen. Als Gegenstand der philosophischen Durchdringung scheint Sartre aber nicht annähernd ausgeschöpft; in mancher Hinsicht muß seine an Lösungsvorschlägen zu den großen Problemen der Philosophie so reiche Philosophie überhaupt erst einmal bekanntgemacht werden. Nachdem nun aber das neue umfangreiche Werk über die dialektische Vernunft (und zwar vorerst nur dessen erster Teil) vorliegt, zeigt sich, daß Sartres Interesse f ü r eine theoretische Behandlung philosophischer Probleme anhält. Inwiefern ist es dann überhaupt legitim, das, was sich jetzt als bloßer Teil des philosophischen Werkes erweist, zu untersuchen? Ist nicht alles im Fluß, und müssen wir nicht abwarten, wie sich Sartres Denken weiterentwickelt? Hierzu wäre zu sagen, daß mit dem Erscheinen des neuen Buches über die Dialektik der Vernunft die Position der vorangegangenen Werke als abgeschlossen gelten kann. Sartre hat den dort vertretenen Standpunkt zwar nicht verlassen, so scheint es, erweitert ihn aber zu einer Philosophie der Gemeinschaft und ordnet diesen erweiterten Standpunkt einer marxistischen Orientierung unter. Sein „Existenzialismus" gilt ihm jetzt als eine Grundlage f ü r den Marxismus, soll im Rahmen des Marxismus ein „wahrhaft umfassendes Wissen" vom Menschen aufbauen und sich dem Marxismus einordnen, wenn dieser einmal die „menschliche Dimension", den „existenziellen E n t w u r f " als Grundlage seines anthropologischen Wissens aufgenommen hat 1 . Die Phase des Sartreschen Denkens, mit der wir uns befassen wollen, erscheint jetzt als eine f ü r sich genommen noch nicht der sozial-revolutionären „Praxis" dienstbare Philosophie, und gerade soweit sie das nodi nicht ist, rückt sie näher an die Tradition heran. Sie kann als bisher letzte Metamorphose der Tradition verstanden werden. Es ist nicht alltäglich, wenn sich eine Philosophie ausbildet, die eine Art von „System" darstellt und eine umfassende, viele der traditionel1

Critique de la raison dialectique I, 111.

1

len philosophischen Fragen betreffende Theorie enthält. Allein schon als solches Werk ist E N bemerkenswert. Bemerkenswerter noch wird das Buch, wenn wir bedenken, daß es sich als Fazit aus Husserl, Heidegger und Hegel versteht. Es will, wie der Untertitel sagt, eine phänomenologische Ontologie sein. Darin liegt ein Programm, das als großangelegter Versuch ausgeführt worden ist. Ist E N nun ein Synkretismus aus Husserl, Heidegger und Hegel? Könnte man nicht vielmehr meinen, die in Sartres Philosophie anscheinend zusammengekommenen Elemente seien unvereinbar? Was hat Husserl mit Hegel zu tun? Und auch bei Heidegger ist die Beziehung zu Hegel nicht offenkundig. Wir sehen, das allgemeinere Thema, auf das wir unser Augenmerk richten müssen, wenn es auch unsere Aufgabe übersteigt, ist die „Ehe" 2 , die die Phänomenologie mit der Dialektik eingegangen ist. Hier ist zunächst einzuhalten und vor einer Aufklärung des systematischen Zusammenhangs ein Blick auf Sartres geistigen Werdegang zu werfen, der das Zusammentreten der genannten Philosopheme belegen und zu einem gewissen Grad plausibel machen kann. Wir haben uns den jungen Sartre vorzustellen als gesättigt mit dem Philosophiestoff des französischen Gymnasiums; er kennt die Stoa, die Klassiker Descartes, Leibniz, Spinoza, Kant, Bergson. In seinem Universitätsstudium beeinflussen ihn Philosophen und Professoren wie Alain, J. Wahl, Brunschwicg, R. Aron, Laporte. Sartre erlebt eine Reaktion gegen den Idealismus der Universitätsphilosophie', er empfindet Hunger nach „Realität", sei sie nun sozial-politisch, menschlich-individuell oder sinnlich-konkret. J. Wahls Buch „Vers le concret" beeindruckt ihn, eine Figur wie St. Exupéry reizt ihn, soziales Elend erregt ihn. Er liest Marx, ohne Hegelkenntnis 4 . Die Suche nach „Realität" führt zu einer frühen literarischen Arbeit, die um die Kontingenz des Realen kreist5. Audi die Psychoanalyse interessiert ihn, und schon 1932 hat er eine Theorie bereit, die das Unbewußte in der Psychologie vermeiden soll": auch hier das Thema der Kontingenz, und zwar im Sein des Menschen. Ein wichtiges geistiges Erlebnis wird die Begegnung mit der Husserlschen Phänomenologie. Sie beginnt schon 1932 mit der Lektüre des Husserl-Buches von Lévinas (auf Anregung von R. Aron) 7 ; 1934 verbringt 2

2

Der Ausdruck bei W. Biemel, Das Wesen der Dialektik bei Hegel und Sartre, Tijdschrift voor Philosophie, Bd. 20 (1958), 300.

3

Critique de la raison dialectique 23: „l'idéalisme officiel".

4

ebda. 22.

ä

„Légende de la vérité", 1931. Vgl. S. de Beauvoir, „La force de l'âge" 50. Das Thema kehrt in dem Roman „La nausée" wieder.

6

S. de Beauvoir, a. a. O., 134. Es ist die Lehre von der „Unwahrhaftigkeit" (mauvaise foi). Siehe unten Kap. III, 4.

7

ebda. 141 f.

Sartre ein knappes Jahr in Berlin als Stipendiat des dortigen französischen Instituts 9 . Sartre verspricht sich von Husserl die „Uberwindung des Gegensatzes von Idealismus und Realismus", die „Bejahung der Souveränität des Bewußtseins und der Präsenz der Welt, wie sie sich uns gibt'". In Berlin entsteht der Aufsatz „La transcendance de l'égo" (veröffentlicht 1936), und in dieselbe Zeit haben wir auch die Lektüre Heideggers zu setzen. Nach seiner Rückkehr nach Frankreich schreibt Sartre eine historische Studie über die französischen Theorien zum Problem der Phantasie („L'imagination", veröffentlicht 1936); das nachfolgende systematische Werk „L'imaginaire" (ab 1935 geschrieben, 1940 veröffentlicht) verrät deutlich die phänomenologische Schulung. Die Richtung des Interesses wird verständlich, insofern die Phantasie für Sartres Auffassung von der Phänomenologie als Philosophie der Realität und Konkretion ein interessanter Prüfstein sein mußte. Hier wird das Negative, das von mir außer mir als nicht-seiend Gesetzte, von Satitre entdeckt, und allgemein wird das Bewußtsein als Negatives und seine Beziehung zur Welt als Negation ausgesprochen. Das Weiterdenken der Phänomenologie führt selbst schon auf das spätere große Thema des Negativen. In dem zuletzt genannten Werk ist übrigens Sartres Kenntnis Heideggers zum erstenmal literarisch nachweisbar. Eine Studie über die Gefühle (Esquisse d'une théorie des émotions, 1939 veröffentlicht, Auszug eines schon länger in Arbeit befindlichen Werkes über die Psyche10, das unveröffentlicht geblieben ist) bildet den Abschluß der phänomenologischen Einzeluntersuchungen. Daß Hegel in Sartres Gesichtskreis tritt, bedarf einer Erklärung. Sartre steht von der Universität her durchaus nicht in einer französischen Hegeltradition. Er hat Hegel auf der Universität nicht gelesen". Wir könnten seine Hinwendung zu ihm motivieren aus einem nodi nachwirkenden Interesse an Hegel in Frankreich (repräsentiert etwa durch Werke von Janet, Lévy-Bruhl, Brunschwicg) und aus einem sich wieder anbahnenden Interesse in den 30er Jahren. Wir denken etwa an das HegelSonderheft der Revue de la Métaphysique et Morale 1931, an J . Wahls Hegel-Buch 1929, an Aufsätze von J . Hyppolite und an die Hegel-Vorlesungen Kojèves in den Jahren 1933—39. Ferner ließe sich ein Interesse Sartres an Hegel aus dem schon vorangegangenen Marxstudium plausibel machen. Die eigentliche Hegellektüre dürfte nicht vor 1939 liegen". Erscheint es nach den autobiographischen Bemerkungen Sartres in der „Critique de la raison dialectique" eher so, als ob Hegel als ein Denkinstrument zum Verständnis des Marxismus ins Blickfeld getreten ist", 9

" 12 13

1 0 e b d a . 326. e b d a . 142, 162. » e b d a . 141. C r i t i q u e de la r a i s o n d i a l e c t i q u e I 2 2 : „ H e g e l lui-même nous était i n c o n n u . " S. de B e a u v o i r liest H e g e l erst 1940 ( „ L a f o r c e de l ' â g e " 4 7 0 ) . D i e F r u c h t b a r m a c h u n g H e g e l s f ü r ein vertieftes V e r s t ä n d n i s v o n M a r x w i r d erst in der „ C r i t i q u e " selbst (1960) sichtbar.

3

so müssen wir der Reihenfolge in der Thematik der Sartreschen Werke halber anerkennen, daß Hegel f ü r Sartre zunächst denjenigen Philosophen repräsentiert, der eine Lehre von der Negation und vom Bewußtsein als Negativität bietet. Wir können sagen, daß Sartre Hegel auf dem Wege über die moderne Phänomenologie — und zwar eine schon von ihm weitergebildete „existenzielle" Phänomenologie mit ihrem Akzent auf Freiheit, Negation und Kontingenz — erschlossen hat. Einflüsse Hegels, die in E N aufgenommen worden sind, stellen also, wenn man will, eine — allerdings tiefgreifende — „Überformung" schon vorhandener Sartrescher Positionen dar. Sartres Kritik an Hegel urgiert den vorgefaßten Standpunkt: f ü r Sartre hat Hegel die Kontingenz des Seins, der Realität und des Individuums in einer gedanklichen Totalität überspielt. Sartres Hegelverständnis ist gewissermaßen „ad hoc" gebildet, von seiner phänomenologischen Philosophie her, nicht ist es, wie schon gesagt, einer französischen Hegeltradition verpflichtet. Darüber, daß Hegel Sartre in E N gegenwärtig war, ist im übrigen gar kein Zweifel. Zeugnisse einer Hegelkenntnis finden sich in dem Werk häufig. Sartre zitiert die „Wissenschaft der Logik", die Logik der „Enzyklopädie", die Nürnberger Schriften und die „Phänomenologie des Geistes", und zwar nach französischen Übersetzungen, und setzt sich an zwei ausführlichen und vielen kleineren Stellen mit Hegel auseinander. Das Vorhandensein Hegelscher Gedanken in E N ist also keine theoretische Koinzidenz, ohne daß eine Rezeption vorgelegen hätte. Sartre will Phänomenologe sein, will vom Bewußtsein, vom cogito ausgehen. Aber er will nicht Erkenntnistheoretiker sein, wie Husserl es war, wenn auch unter Ausweitung auf die Idee einer Sinnkonstitution. Sartre glaubt, daß Subjektorientierung und Ontologie vereinbar sind. Er steht damit dem Heidegger von „Sein und Zeit" nahe, von dem ihn aber der Ausgang vom cogito trennt. Indem nun Sartre eine ontologische Erfassung des Bewußtseins und seines Gegenstandes anstrebt, und eine Erfassung des Bewußtseins durch den Substanzbegriff — seit der Wiederentdeckung der Intentionalität durch Brentano und Husserl — nicht mehr überzeugend ist, gelangt Sartre zu Begriffen wie Ansich, Fürsich, Für-Andere, Ansich-Fürsich, Begriffe, die in der Hegeischen Logik ihre Stelle haben. Zunächst dient Hegel hier nur als Hinweis auf den klassischen O r t dieser Begriffe. Es ist erst noch auszumachen, inwieweit Sartres Philosophie der Hegeischen Logik tiefer verpflichtet ist. Halten wir die Absicht Sartres auf Ontologie und die Beibehaltung des cogito fest, so erscheint ein Zusammentreffen von Husserlscher Phänomenologie mit Hegeischen Begriffen, ganz äußerlich gesprochen, als interessanter Versuch einer Synthese und nicht als bloßer Synkretismus. In sie ordnet sich das enge Verhältnis Sartres zu Heidegger mit ein. Die vorliegende Studie ist in der Disposition ganz an Sartres H a u p t werk orientiert. Sie ist im Hauptteil eine kritische Analyse unter dem 4

methodologischen Gesichtspunkt der Hegeischen Dialektik und stellt abschließend einen systematischen Vergleich zwischen Sartre und Hegel an. Wir sind uns der Tatsache bewußt, daß wir in dieser Studie nur die Ansätze und Grundgedanken Sartres behandeln und seine konkreteren Ausführungen zu so wichtigen Themen wie dem Leib, der Psychoanalyse, den konkreten Formen der Beziehungen zum Andern oder der Freiheit unberücksichtigt lassen. Wir sondern also einen engeren ontologischen Bereich von einer anthropologischen Ontologie. Es ergibt sich ferner aus dem Gesagten, daß die vorliegende Studie kein weiterer Beitrag zum Existenzialismus ist. Sie betrachtet Sartres Ontologie als solche und nicht als abstrakte Verschlüsselung einer existenzialistischen Weltanschauung. Entsprechend der genannten Aufgabenstellung ist zunächst zu untersuchen, welcher Art Sartres Ausgangsposition ist. Es ist uns hierbei nicht wichtig, daß eine bestimmte Form der Phänomenologie in Sartres geistigem Werdegang vorangeht; sie ist vielmehr systematischer Ausgangspunkt f ü r den Weg zur Ontologie. Das Werk selbst und unsere Analyse enthalten diese Denkbewegung. Für die Untersuchung der eigentlichen Sartreschen Ontologie erscheint es — zumindest, solange nicht mit einer größeren Vertrautheit mit Sartres Philosophie gerechnet werden kann — nicht sinnvoll, Sartres Systematik eine andere, etwa eine nach einem klassischen Ordnungsprinzip, entgegenzustellen. Wir gliedern daher die Untersuchung in Anlehnung an Sartres Disposition nach den Rubriken „Ansichsein", „Fürsichsein" und „Für-Andere-Sein". Das abschließende Kapitel wird dann versuchen, übergreifende systematische Gesichtspunkte zur Geltung zu bringen. Darstellung, Interpretation und Systematisierung sind nicht streng getrennt. Die Interpretation bringt daher im Interesse der Darstellung mitunter erst einen vorläufigen Standpunkt, der im Laufe der Untersuchung vertieft wird.

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I. D I E G E W I N N U N G D E R O N T O L O G I S C H E N E B E N E 1. D I E A U S G A N G S P O S I T I O N

Sartre gehört in den Kreis der Husserl-Nachfolge; er hat in seinen frühen Schriften Beiträge zu einer wissenschaftlichen Weiterentwicklung der Phänomenologie geliefert. Sartres Bejahung der Phänomenologie beruht, positiv, auf dem Bestreben, Realität dem Subjekt unmittelbar zugänglich zu machen, negativ, auf einer Skepsis gegenüber Auffassungen, die das Gegebene auf ungegebene Entitäten im Subjekt zurückführen wollen. Husserls Theorie der Intentionalität bot sich in ihrer radikalen Kühnheit als Alternative an. Welt ist dem Subjekt unmittelbar gegeben. Sartres Skepsis gegenüber ungegebenen Entitäten wird nun ihrerseits zum Gesichtspunkt einer Überprüfung der Phänomenologie. Der A u f satz von 1936 wendet sich kritisch gegen das Idi als Subjekt-Entität und macht es zum Konstitut des Bewußtseins, während Husserl in seiner Egologie das Ich zum Schwerpunkt gemacht hatte. Der Aufsatz zeigt deutlich ein weiteres Moment, das Sartre mit der Phänomenologie verbindet: die Husserlsche Theorie des Bewußtseinsstroms mit ihrer Annahme von Retentionen und Protentionen, die, ganz wie die Lehre von der Intentionalität, immanente Entitäten vermeidet 1 und eine Einheit des Bewußtseins als nicht-substanziellen Subjekts ermöglicht (eine Theorie, die auch bei Heideggers Konzeption der „ekstatischen" Zeitlichkeit Pate gestanden hat). Somit sind die beiden Bereiche der Phänomenologie, die Intentionalität mit ihrer Phänomenlehre und die Theorie des Bewußtseins, also Objekt- und Subjekttheorie, ins Blickfeld getreten und von Sartre selbständig pointiert. Auch am Anfang von E N stellt sich Sartre auf den Boden einer von ihm radikalisierten Phänomenologie. Er ist also durch eine im wesentlichen vorgegebene wissenschaftliche Ausgangsposition bestimmt. Die Aufgabe des Werkes ergibt sich aus einem Ungertiigen an der Phänomenologie Husserls und auch Heideggers, die andrerseits in wesentlichen Positionen beibehalten wird. Das Ungenügen ist nun nicht mehr von einer Skepsis der geschilderten Art bestimmt: im Gegenteil, es betrifft die Frage, ob die zunächst so begrüßte Phänomenologie einen Zugang zur Realität überhaupt eröffnet. Das Ungenügen betrifft das Problem des Seins in der Phänomenologie. Die Einleitung zu E N nimmt den Leser auf bei einer eigenwilligen Darstellung der phänomenologischen Lehre vom Phänomen — die zum Verständnis übrigens schon vorausgesetzt ist —, um dann hinauszufüh1

6

Wo Husserl bei der Intentionalität immanente Entitäten annimmt — die Empfindungsdaten —, wendet sich Sartre gegen ihn.

ren zu einer ontologisch fundierten Phänomenologie und schließlich zu einer phänomenologischen Ontologie. Sartre beginnt mit einer Diskussion des Phänomenbegriffs und sagt 1 , es sei „ein großer Fortschritt des modernen Denkens, daß das Seiende auf die Reihe seiner Erscheinungen zurückgeführt worden sei", und zwar insofern, als auf diese Weise drei „Dualismen" wegfielen: der von „Innen und Außen" (oder von Ding an sich und Erscheinung), der von „Potenz und A k t " und schließlich der von „Erscheinung und Wesen". Das Phänomen ist das „Relativ-Absolute" ; es muß jemandem erscheinen, ist aber in eignem Recht das, was es ist. Das Phänomen verweist nicht auf etwas hinter ihm, auf ein Absolutes, „es zeigt absolut nur sich selbst an" 3 . Das Schöpferische eines Menschen — etwa das Genie Prousts — ist das „Werk verstanden als Gesamtheit der Erscheinungen der Person" 4 . Ein phänomenales Seiendes, schließlich, ist die „wohlverbundene Reihe seiner Erscheinungen" 5 , die geeinigt sind durch das „Gesetz" oder den „Grund" der Reihe, das Wesen; „es ist selbst eine Erscheinung"'. Es fallen zwei voneinander abweichende Fälle auf: Reihen von Erscheinungen, die eine Bindung miteinander haben (etwa ineinander übergehende perspektivische Ansichten eines Tisches) und Erscheinungen, die (wie die verschiedenen elektrischen Phänomene) nur zusammen „begriffen" werden. In einem Hinweis auf Poincarés Nominalismus, demzufolge eine physische Realität nur eine „Summe seiner verschiedenen Erscheinungen" sei, lehnt Sartre eine so abgeschwächte Einheit der Erscheinungen ab 7 . Das Seiende, das Sartre meint, ist selbst nur Sinnending 8 . 2

E N 11.

3

E N 12.

4

ebda.

5

E N 13.

« E N 12.

7

ebda.

6

Es sei darauf hingewiesen, d a ß Sartre „Erscheinung" (,apparition' u n d .manifestation') und „Abschattung" im Z u s a m m e n h a n g gleichsetzt ( E N 13). Wir notieren (wie auch in folgenden A n m e r k u n g e n ) Husserls abweichende Auffassung. — Z w i schen P h ä n o m e n und Abschattung besteht bei Husserl ein bedeutsamer Unterschied. Das P h ä n o m e n wird in R e d u k t i o n beschrieben als gegenständlicher noematischer Sinn, der um einen Gegenstandspol zentriert ist. Die Absdiattungen sind Weisen, wie sich das Noematisdie darstellt. In ihnen liegt ein Mittel, verschiedene S t a n d p u n k t e gegenüber einem identisch Vermeinten einzunehmen. N o e m a und Abschattungen verhalten sich wie Einheit u n d M a n n i g f a l t i g k e i t (Ideen I, 203). Das N o e m a p r ä t e n d i e r t gegenständliche Einheit. „ A u f f a s s u n g e n " u n d Abschaltungen k ö n n e n wechseln u n d mit ihnen auch noematische Momente. Das N o e m a ist also selbst s t r u k t u r i e r t , variiert in Ü b e r g ä n g e n zu a n d e r n Stoffen, anderen A u f f a s s u n g e n ; aber eine identisch vermeinte gegenständliche Einheit k a n n sich durchhalten (ebda., § 131; auch S. 272). Für Husserl k a n n m a n also nicht sagen, d a ß jede Variation der Abschattungen o d e r Auffassungen ein neues P h ä n o m e n einer Reihe sei. — Sartre dagegen d e n k t sich die Abschattung z w a r auch relativ auf eine Einheit, auf das Ding, aber sie ist „Profil", D i n g in Perspektive, die nur in dem Sinne abs t r a k t ist, als sie aus einer Reihe isoliert ist, in der sie steht. Husserls biegsamere A u f f a s s u n g (mit dem N o e m a zwischen D i n g und Abschattung) macht bei Sartre

7

Es bleibt ein Unterschied zum intuitiven Wesen, das ja keine synthetische Einheit ist, sondern das Identische einer Vielheit. Sartres Radikalisierung des Phänomenbegrifis hat einen nominalistischen Zug, obwohl er sich dagegen verwahrt und das intuitive Wesen bejaht. Die ontologischen Konsequenzen einer Annahme von Wesen, und sei es als Gesetz einer offenen Reihe, werden hier unterdrückt, um die These herauszustellen, daß das Phänomen allein hinreichend sei für die Deskription. Aber offensichtlich hat das Gesetz einen andern Status als das Phänomen. Soll sich das Phänomen notwendig in eine Reihe einordnen, soll die Reihe nicht beliebig sein, so ist das Gesetz notwendig für es". Sartre schildert in der Einleitung einen von ihm im folgenden überschrittenen Standpunkt — insofern ist die Phänomenologie nur Beispiel —, aber er bejaht doch im wesentlichen die skizzierte Phänomenlehre mit Ausnahme der phänomenologischen Auffassung vom Verhältnis von Objektivität und Sein. Für Sartre kommt es in dem vorliegenden Zusammenhang nur darauf an, daß das Phänomen als solches keines „dahinterstehenden" Seienden bedarf. Allgemeiner meint Sartre damit, daß auf der Seite des Objekts keine Seinsunterschaidung notwendig ist. Es scheint, daß ein Monismus des Phänomens an die Stelle der bisherigen Dualismen getreten ist. Es taucht allerdings eine neue Antithese auf, die von endlich und unendlich, da ja das Phänomen in einer Reihe von weiteren Phänomenen steht, die, zumindest im Falle der Wahrnehmung, nie abgeschlossen ist10. Sartre pointiert diese von der Phänomenologie grundsätzlich geteilte Auffassung, um zu zeigen, daß man bei ihr nicht stehen bleiben kann. In ihr liege nämlich, daß „die Realität des Dinges ersetzt" werde „durch die Objektivität des Phänomens", die auf einem „Rekurs auf das Unendliche" beruhe11. einer vereinfachten und schematischen Lehre Platz. Das Phänomen ist „homogen". D a z u paßt, daß Sartre die Hyle, die Empfindungsdaten Husserls, ablehnt. M a g der Unterschied im einzelnen einer der Worte sein, so liegen in Sartres Zuspitzung doch zumindest Konsequenzen für das Problem der gegenständlichen Einheit. Es deutet sich eine Unterschätzung kategorialer Probleme an. * Später, E N 243 f., findet sidi die Behauptung einer vorgängigen Erschlossenheit des Wesens von der Zukunft her. 10 Vgl. Ideen I, 80: „In dieser Weise in infinitum unvollkommen zu sein, gehört zum unaufhebbaren Wesen der Korrelation ,Ding' und Dingwahrnehmung." — Sartre exemplifiziert an den Phänomenen, die für uns eine gegenständliche Welt ausmachen, also Raumdingen mit affektivem und praktischem Sinn. Material für einen systematischen Überblick über die Klassen von intentionalen Gegenständen nach ihrer Gegebenheitsweise wäre aus „L'imaginaire" und „Théorie des ¿motions" zu gewinnen. S o findet sich in „L'imaginaire" die Form der beschränkten Explikation — „quasi-observation" — bei Phantasiegegenständen. — Hier in E N wird der A k zent darauf gelegt, daß das Subjekt auch ein einzelnes Phänomen durch seine wechselnde Perspektive unendlich macht, ja eine einzelne Abschattung ( E N 13). Dies ist nicht einsichtig. Es müßten Abschattungen in Husserls Sinn wiedereingeführt werden. 11

8

E N 13.

Sartre erwägt, ob die Möglichkeit, in der Reihe der Phänomene immer weiterzuschreiten, die „Transzendenz" der Phänomene begründen könne12. Transzendenz wäre nicht definiert durch eine eigene Realität in Raum und Zeit, sondern durch die unendliche Reihe der Erscheinungen. Ein einzelnes Phänomen, für sich genommen, könnte nicht transzendent sein, sondern bliebe subjektiv, eine Affektion des Subjekts. Erst indem ein Phänomen notwendig hinüberweist zu weiteren, gäbe es eine nicht mehr subjektive Reihe, gebunden durch einen Grund, der „nicht mehr von meinem Belieben abhängig ist"; die Phänomene wären nicht mehr Momente meiner selbst, sondern hätten „Objektivität" 13 . Sartre lehnt eine solche Transzendenz als bloße Objektivität ab14. Objektivität läge nur in der Reihe; da diese aber immer unabgeschlossen sei, so wäre Objektivität immer nur aufgegeben. Es ergäbe sich die paradoxe Situation, daß nicht die Anwesenheit der Glieder einer Reihe, sondern „die Abwesenheit ihnen objektives Sein gibt", ihr Sein also in einem Nichts gründet15. Das Dilemma — der Grund für Transzendenz darf 12

E N 13. — Alles hängt hier an der Bedeutung des Wortes. Wir kommen bei der ontologischen Betrachtung des Phänomens auf den Begriff zurüdc. Versuchen wir hier, uns einer authentischen Bedeutung bei Husserl zu vergewissern. Transzendent bezeichnet bei ihm 1) den Gegensatz zum reellen Enthaltensein im Bewußtsein (Idee der Phänomenologie 35); ferner 2) eine Art Gegebenheit, eine nicht selbst schauende Erkenntnis, in der wir über das im wahren Sinne Gegebene hinausgehen (ebda.). Transzendent ist also, was inadäquat gegeben ist, was sich nur durch eine Mannigfaltigkeit darstellen kann (vgl. Ideen I, 287). So wäre z. B. das Allgemeine, da selbstgegeben, nicht transzendent. Transzendentes „erscheint" durch ein Mannigfaltiges in einer anderen, unmittelbaren Gegebenheitsart. So sind „Sehdinge" transzendent gegenüber den erlebten Abschattungen. Nach beiden Bedeutungen ist das dinglich Reale der natürlichen Einstellung transzendent. Eine Anwendung des Begriffes findet sich auch in der Reduktion: „dieses wunderbare Bewußthaben eines so und so gegebenen Bestimmten oder Bestimmbaren . . . das dem Bewußtsein selbst ein Gegenüber, ein prinzipiell Anderes, Irreelles, Transzendentes ist" (Ideen I, 203). In diesem (3.) Sinne ist also auch das Noema transzendent, einmal als nicht reell im Bewußtsein Enthaltenes, und ferner als in einer Mannigfaltigkeit von Abschattungen Dargestelltes. Und noch anders hätte der reduzierte Gegenstand als Einheit einer noematisdien Mannigfaltigkeit (vgl. Ideen I, 207) eine Transzendenz. — Objektivität läßt sich für Husserl aufbauen durch Variation, in der ein Identisches sich bewährt (etwa als das Identische verschiedener Arten intentionaler Erlebnisse, Ideen I § 91).

13

E N 13.

15

ebda. — Dies Argument beruht auf der Annahme, daß es f ü r eine unabgesdilossene Reihe keine relative Objektivität gebe, die ihrerseits positiv begründet ist. Sartre verlangt die Totalität der schlechten Unendlichkeit, und da diese prinzipiell nicht zu haben ist, basiert Objektivität (als nur durch Totalität zu begründen) auf einem Negativen, dem im Hinblick auf Totalität noch Ausstehenden, einem Nichts. Husserl äußert sich zu dieser Frage (Ideen I 297 f.). Es gebe Gegenstände, die prinzipiell nur inadäquat erscheinen. Aber als Idee sei die vollkommene Gegebenheit vorgezeichnet, als System endloser Prozesse kontinuierlicher Erscheinung. Ist eine abgeschlossene Einheit in stetiger Durchlaufung nicht denkbar, so liegt doch die Idee der vollkommenen Gegebenheit einsichtig vor. Diese Idee ist

14

E N 28.

9

nicht negativ, aber audi nicht subjektiv sein — verlangt für Sartre die Annahme eines „Seins der Phänomene" ie , damit Transzendenz verständlich gemacht werden kann. Der Vorteil einer Beschränkung auf Phänomene — die Beseitigung der genannten metaphysischen Dualismen — erweist sich nach Sartres Analyse als illusorisch. Der Gegensatz von endlich-unendlich bringt sie wieder hinein: es erscheint jeweils nur „ein Aspekt des Gegenstandes"; der Gegenstand „ist ganz in diesem Aspekt, aber audi ganz außerhalb". Er hat eine „Potenz" behalten: er kann immer nodi weiter exponiert werden. Das Wesen, schließlich, bleibt „radikal getrennt von der Erscheinung", da es erst „in der unendlichen Reihe manifestiert" wäre". Zwar gehören die dem einzelnen Phänomen gegenüberstehenden Gegensätze keiner anderen Dimension an, sondern werden verständlich durch den unendlichen Progreß innerhalb einer einzigen Dimension, der der Phänomene. Wir haben aber nur die Möglichkeit des Progresses zur Objektivität, fassen aber nicht Realität. Gerade der Gedanke einer unendlichen Reihe von Phänomenen läßt letztere ontologisch unbestimmt. Die von Sartre pointierte Konsequenz des phänomenologischen Standpunkts erweist sich ihm als unbefriedigende Position, die durch die Annahme eines Seins der Phänomene überwunden werden soll.18. Zur Ausgangsposition Sartres — dem für diesen Abschnitt leitenden Thema — gehört auch eine Auffassung vom Subjekt. Hier jedoch will Sartre die Phänomenologie nicht in der Seinsfrage ad absurdum führren, er bejaht vielmehr — vorbehaltlich einer späteren Fassung des Subjekts — einen zentralen Punkt in der phänomenologischen Subjektauffassung, das reelle Sein der Noesis. Wir verzichten daher auf eine Darstellung in diesem Abschnitt und bringen Sartres Position zur Frage des Subjekts im phänomenologischen Zusammenhang im Rahmen der folgenden Argumentation. nicht selbst eine Unendlichkeit. In der transzendierenden Anschauung gibt es keine adäquate Gegebenheit; geben kann es nur die Idee eines transzendenten Gegenständlichen und damit eine apriorische Regel für die Unendlichkeiten. — Damit ist eine positive Objektivität möglich. Husserl verlangt das apriorische Moment, das Sartre in seinem „Wesen" und „Gesetz" andeutet, aber in der Kritik der phänomenologischen Auffassung nitht ins Spiel bringt. 16

E N 15: „l'être du phénomène" (oder: „des phénomènes").

18

Es ist klar, daß Sartre durch die Disjunktion „subjektiv oder unendlidi" Husserls transzendentes Noema, das intentionales Sein hat und nicht reelles, zum Subjektiven rechnet. Handelte es sich nur um ,ein* Sein, so hätte er es bei Husserl finden können. Es madit sich also schon ein anders gedachter Seinsbegriff geltend. (Wir diskutieren das gemeinte Sein in den folgenden Absdinitten). Sicherlich ist für Husserl ein Ubergang vom bloßen Vermeintsein zum Sein der natürlichen Einstellung nur durch Objektivität zu stützen. Für Sartre ergibt sich bei Annahme eines „Seins" des Phänomens, daß die Reihe für Transzendenz entbehrlich ist, denn auch das einzelne Phänomen ist „Fülle des Seins" (EN 28). Transzendenz und Objektivität sind geschieden.

10

17

E N 13 f.

2. D I E A R G U M E N T A T I O N FÜR E I N E O N T O L O G I S C H E DES P H Ä N O M E N S

FUNDIERUNG

Es stellt sich nun die Frage, um die die vorangegangenen Überlegungen kreisten: in welchem Sinn kann man und muß man vom „Sein" des Phänomens sprechen? Man könnte denken, hier liege eine Mystifikation vor; Sartre meine mit „Sein" des Phänomens nur das Wesen der Erscheinung, und dies sei eben, zu erscheinen. Sartre meint aber Sein. Einerseits wird darunter nichts anderes verstanden als das „ist", andrerseits wird an einem „Verhältnis" von Sein und Phänomen festgehalten". Sartre tritt in eine Argumentation ein, in der sich durch ein Ausschließungsverfahren das eine Glied des Verhältnisses, das Sein des Phänomens, bestimmen soll. Vorschnelle Bestimmungen des Seins werden zurückgewiesen und eine idealistische Lösung durch eine reductio ad absurdum — aus dem Argument der Nichtursprünglichkeit eines passiven Seins — ausgeschaltet. Hierbei wird schon ein Blick auf das Subjekt geworfen. Das gesuchte Sein der Erscheinung ist nicht selbst Erscheinung. Wir sagen zwar, daß „das" Sein uns erscheine, und Sartre behauptet eine Enthüllung des Seins „in einem unmittelbaren Zugang, in Erlebnissen wie der Langeweile, dem Ekel usw.". Eine solche Erscheinung wäre ein „Seinsphänomen" (phénomène d'être) 21 ; aber in einem solchen Seinsphänomen ist das Sein nicht selbst Erscheinung 82 . Das Sein im Unterschied zum Phänomen ist audi nicht in einem Übergang zum Wesen zu ergreifen (etwa in einer eidetischen Reduktion). Das Sein ist nicht „Qualität" oder „Sinn des Gegenstandes". Die Unterscheidung von Wesen oder Sinn und Phänomen ist einfach nicht identisch mit der von Sein und Phänomen. Der Gegenstand „verweist nicht auf das Sein als auf eine Bedeutung". Auch ist das Sein nicht „Anwesenheit". Denn, so meint Sartre, „Abwesenheit enthüllt audi Sein"; „Niditdasein ist immer nodi Sein" 23 . Das Sein ist nicht das, worauf das Phänomen zeigt, sondern ist „einfach Bedingung aller Enthüllung" 2 4 . Der Heidegger beigelegte Gedanke, das Dasein könne vermittels seines Seinsverständnisses vom Seienden zum Sein „übergehen", liegt f ü r Sartre auf derselben Ebene wie Husserls Ubergang vom Phänomen zum Wesen: wenn ich den Tisch auf sein Sein (das Tisch-Sein) überschreite, so habe ich wieder nur das „PhänomenSein" (l'être-phénomène) 25 , das seinerseits ein gründendes Sein fordert, nicht das Sein selbst, das die Grundlage (fondement) f ü r es ist. Er18

E N 15: „l'objet ne possède pas l ' ê t r e . . . il est". „ . . . le rapport exact qui unit le phénomène d'être à l'être doit être établi avant tout". 10 E N 14. Vgl. Heideggers Auffassung von der Langeweile in „Was ist Metaphysik?", 5. Aufl., 28. 81 ebda. — Der deutsche Terminus schon bei N . Hartmann, „Zur Grundlegung der Ontologie", 40. 12

Vgl. E N 14.

2S

E N 15.

21

ebda.

25

ebda.

11

reicht wird nur ein Sinn von Sein. Ein solcher Sinn ist ein Seinsphänomen 2 '. Offensichtlich gilt vom Seinsverständnis, daß es den trennenden Bezug zu dem, wovon es Verständnis ist, nidht aufheben kann, nicht mit dem Sein zusammenfällt. Wird also die „Bedingung" oder „Grundlage" f ü r Erscheinung gesucht, so steht für Sartre fest, daß sie nicht Wesen und nicht Sinn, d. h. selbst Erscheinung ist27. Sartre versucht einen apagogischen Gedankengang. Er stellt sich die Frage, ob die bisherige Annahme, daß das Sein Bedingung der Enthüllung von Seiendem sei, nicht einem „ontologischen Realismus" zugehöre, der sich „mit dem Phänomenbegriff nicht vereinbaren" lasse. Könnte nicht das Sein des Phänomens darin liegen, daß dieses einem Subjekt gegeben ist, also in seinem „percipi" 28 ? Die Untersuchung soll zeigen, daß dies nicht möglich ist. Als Voraussetzung für eine solche Untersuchung wird eine Analyse des Subjekts gegeben, in der dieses sich als seinerseits auf ein nicht durch es Begründetes angewiesen herausstellt. Beide, Phänomen und Subjekt, so soll sich erweisen, fordern ein nicht im Subjekt liegendes Sein des Phänomens. Die Zurückführung des Seins der Phänomene auf das percipi ist eine idealistische These. Sartre findet nun, daß die idealistische Position, die Sein auf Erkenntnis reduzieren möchte, um eine Seinssetzung nicht herumkommt, nämlich die der Erkenntnis se'bst. Die Durchbrechung des idealistischen Prinzips läßt dann auch eine nicht-idealistische Lösung in der Frage des Phänomens erhoffen. Soll die Erkenntnis selbst dem Prinzip „esse est percipi" — unterliegen, so fehlt eine Seinsgrundlage, und die nur in ihrem Gegebensein liegende Erkenntnis „fällt ins Nichts". Vom Erkennen oder Wissen kann nicht gelten, daß es auf ein percipi zurückführbar ist29. Mag nun auch das Sein des Phänomens in seinem percipi liegen — 20

27

28

29

12

Das Seinsphänomen ist also nicht eingeschränkt auf einen unmittelbaren Z u g a n g zu „dem" Sein, vielmehr ist jedes P h ä n o m e n in gewisser Weise audi Seinsphänomen. Vgl. N . H a r t m a n n s A p o r e t i k der P h ä n o m e n t r a n s z e n d e n z (Zur G r u n d l e g u n g der Ontologie 164—167). E N 16. — „Percipi" ist Husserls Ausdruck f ü r den ontologischen Status des N o e mas, Ideen I 206. — Neuerdings h a t O. Becker (in „Lebendiger Realismus", p. 4) die Frage einer ontologischen D e u t u n g des P h ä n o m e n s in der Phänomenologie und bei Husserl behandelt. Er gelangt zu einer Ablehnung jeder solchen ontologischen D e u t u n g u n d zu der Folgerung, „ d a ß die ,Welt der reinen P h ä n o m e n e ' ontologisch nicht charakterisiert ist. Nach dem Sein eines reinen Phänomens zu fragen, ist sinnlos. Ein P h ä n o m e n h a t sein Wesen im Erscheinen, nicht im Sein. Was die „reine" Phänomenologie erfassen wollte, w a r dieses Erscheinen, gewissermaßen das E r g l ä n zen des P h ä n o m e n s selbst". V o n hier aus k a n n der ganze Weg Sartres zu einer O n tologie von der phänomenologischen Ausgangsposition negiert werden, zumindest als einer, der sich auf die Phänomenologie beruft. Allerdings zeigt sich (an der genannten Stelle Ideen I 206), d a ß Husserl o n t o l o g i c h e Bestimmungen nicht ausschließt. (Siehe hierzu auch O . Becker, a. a. O., p. 5.). E N 17. — D e r Rückgriff auf die Bezeichnung „percipi" u n d die ausdrückliche N e n n u n g Berkeleys verlangen eine Bemerkung. Berkeley h a t die als u n h a l t b a r

das wird später abgewiesen —, das Sein des Bewußtseins, das percipere, kann es nicht. Somit gibt es im Subjekt eine Seinsdimension, die Sartre „transphänomenal" nennt 30 . Die hier geltend gemachte Einsicht findet Sartre schon bei Husserl, f ü r den das Noema zwar ein „irreelles Korrelat der Noesis", die Noesis jedoch reell sei. In ihrem reellen Status liege, daß sie nicht dem percipi unterworfen ist. Sie gibt sich als immer schon vorher da, bevor eine Reflexion sie trifft. In Übereinstimmung mit Husserl liegt f ü r Sartre im Bewußtsein also eine Seinsdimension, die nicht auf ihrem Gegebensein f ü r ein Subjekt gründet. Das Bewußtsein ist nicht nur ein Wissen, das auf sich selbst zurückgewendet ist, sondern „wissendes Sein" (être connaissant); es ist Bewußtsein, weil es Sein von der Art des Bewußtseins ist, nicht weil es gewußt wird 31 . An diese erste ontologische Kennzeichnung des Bewußtseins als Seinsdimension fügen sich Einsichten aus der Phänomenologie an. Das Bewußtsein ist Intentionalität: „alles Bewußtsein . . . ist Bewußtsein von etwas"; es ist „Setzung eines transzendenten Gegenstandes" 32 . Wir kennen schon Sartres Schilderung des Versuchs einer Begründung der Transzendenz des Gegenstandes aus der Unendlichkeit einer Reihe von Phänomenen. Hier nun wird die Transzendenz des Gegenstandes umgekehrt vom Subjekt her plausibel gemacht aus der Tatsache, daß ein Unendliches nicht „im" Bewußtsein angenommen werden kann. Sartre stützt sich hier auf eine bildliche Erklärung. Ein Gegenstand — gemeint ist ein Raumding — ist etwas Opakes, Trübes, nie zu Ende Durchschautes. Er wäre ein Unendliches, mit dessen Bestandsaufnahme das Bewußtsein nie fertig würde. Gäbe es einen solchen Gegenstand im Bewußtsein, so wäre es in ihm absorbiert und nicht bei sich. Das kann es nur nach dem komplementären Bild, wonach das Bewußtsein durchsichtig ist33. Der Gegenstand muß also aus dem Bewußtsein hinausvcrlegt werden. Dies geschilderte idealistische These bekanntlich nicht vertreten, sondern sagt ganz klar, d a ß es neben den Dingen, deren esse ihr percipi ist, die also Ideen sind, das percipere und G o t t gibt (Prinzipien, §§ 2; 147). A u d i f ü r Berkeley stellt das Subjekt eine eigne Seinsdimension dar, die nicht der Bedingung des Gegebensems f ü r . . . unterliegt. Die These, die Sartre hier angreift, ist ein reiner, systematischer Idealismus, der das Subjekt als Sich-Denken des Denkens irreal setzt. 30

E N 17: „transphénomenal". Das W o r t bedeutet nicht, d a ß etwas „jenseits" des P h ä n o m e n s liegt, wie es die Präposition nahelegt und wie es bei einem zu einfachen Verständnis des, wie noch darzulegen ist, ebenfalls t r a n s p h ä n o m e n a l c n Seins des P h ä n o m e n s scheinen könnte, sondern nur, d a ß etwas nicht durch die Bedingung der Gegebenheit allein ist. (Vgl. E N 29).

31

E N 17.

33

E N 26: „translucidité". Vgl. auch z. B. E N 120. — Das Bild vom durchsichtigen Bewußtsein ist nicht neu. Schopenhauer w e n d e t es auf das Ich an, bestreitet allerdings gerade, d a ß dieses sich „durch u n d durch intim, gleichsam durchleuchtet" sei; vielmehr sei es „ o p a k " (!). Sämtliche Werke (Deussen) II, 220. — W. James spricht von „ d i a p h a n e i t y " (Journal of Philosophy, 1904, 477). Eine Diskussion hierzu bei Desan, „The Tragic Finale", 145.

32

ebda.

13

gilt f ü r alles wissende und erkennende Bewußtsein. Seine Gegenstände sind ihm transzendent 34 . Wir haben noch keine nähere Theorie des Bewußtseins als einer Seinsdimension vor uns; es ist aber klar geworden, daß das Bewußtsein ein „Sein" ist und seine Gegenstände ihm transzendent sind. Wir verfolgen jetzt Sartres Frage, ob mit dem Subjekt das „Sein" gefunden ist, das zur Begründung der Phänomene gefordert war 35 . Auch wenn das Sein des Dinges sich im pereipi erschöpfen sollte, hat das Ding ein anderes Sein als das der subjektiven Impressionen oder einer Synthese von Impressionen; sonst wäre es etwas Noetisches, eine synthetische Handlung. Der intentionale Gegenstand löst sich nicht in reelles Bewußtsein auf, er hat zumindest ein „Sein". Es könnte sich dabei, so scheint es, durchaus um ein intentionales Sein, ein pereipi handeln, nur eben nach dem Gesagten nicht um das Sein des Subjekts selbst". Dies vorläufig anerkannte Sein des pereipi untersucht Sartre nun näher 37 . Von der sprachlichen Form des Wortes angeregt meint Sartre, wenn das Sein des Phänomens im pereipi liege, sei es durch Passivität charakterisiert. Eine Entfaltung dieses Begriffes ergibt, daß schon etwas bestehen muß, damit ein solches passiv Seiendes von etwas bestim mt werden kann, wovon es selbst nicht der Ursprung ist. Fehlt eine solche Grundlage, so handelt es sich um eine Schöpfung des Bewußtseins. Das Geschaffene, Gesetzte aber, das von sich aus ein Nichts ist, wird nicht selbständig, sondern muß im Sein gehalten werden. Damit verbliebe es in der Subjektivität des Schöpfers, hier des Wahrnehmenden. Die Paradoxic der Schöpfung wird hier nur eingeflochten; ein Phänomen ohne selbständiges Sein unterläge aber f ü r Sartre genau dieser Paradoxie. Ein weiteres Argument gegen ein passives Sein ergibt sich aus der Überlegung, daß Passivität wechselseitig sein müsse nach dem Prinzip von actio und reactio: wie eine H a n d , die Druck ausübt, Gegendruck erleidet, so würde 34

Vgl. E N 17 f. — Audi mein affektives Bewußtsein transzendiert. Vgl. „Théorie des émotions" 29. So schon Husserl, Ideen I, 244: „ . . . audi die Gemüts- und Willensakte (sind) ursprünglidi objektivierende . . — Die Trübung des Bewußtseins träte auch durch einen als nidit-unendlidi angenommenen immanenten Gegenstand ein, etwa die Hyle. Das Unendlichkeitsargument für den Aufweis der Transzendenz des Gegenstandes wird so audi vom Subjekt her entbehrlich: jedes Nicht-Durdisichtige ist „draußen". Nidit nur Unendliches ist „undurchsichtig".

» E N 24. 31

14

3

« ebda.

E N 25-27. - Die folgende Argumentation gewinnt ihre Plausibilität daher, daß die Vorstellung eines dinglich-realen Gegenstandes mitschwingt, oder die einer Substanz, die als Substrat für Veränderungen der Qualitäten zugrunde liegen muß. Im Grunde ist die Argumentation aber rein formal, so daß das passive Sein, hier also das intentionale Sein, - da ja formal auch ein „Sein" - zur Begründung des Phänomens genügen müßte. So war ja auch dieses „Sein" oben vorläufig anerkannt. Das Ergebnis ist aber, daß das Sein des Phänomens nidit im passiven Sein liegen kann.

das Bewußtsein im Wirken leidend sein, was nach Sartres Bewußtseinsbegriff, den wir erst noch näher kennenlernen müssen, nicht sein darf®8. Passivität und Relativität sind demnach nur „Seinsweisen*"", können aber das „Sein" nicht tangieren. Es gibt also ein Sein außerhalb seines percipi. Das Bewußtsein, auf das das Phänomen relativ ist, kann das Sein des Phänomens nicht gründen oder selbst ausmachen. Wenn es so schien, als ob ein formales Sein, wie es in einem nur relativen Sein liegt, für das Phänomen genügt, so ist dies jetzt abgewiesen zugunsten eines eigenen, selbständigen, transphänomenalen Seins des Phänomens. Das Phänomen ist als Gegenstand anzusprechen. Das Bewußtsein transzendiert zu einem selbständig seienden Gegenstand hin. Die Grundeinsicht der Phänomenologie, daß das Bewußtsein Bewußtsein von etwas ist, war von Anfang an leitend, es ging nur um den „ontologischen Status" dieses intentionalen Gegenstandes. Die Intentionalität, das Transzendieren des Bewußtseins, würde verfehlt, wenn dieser Gegenstand nur in seinem percipi läge, denn damit wäre er subjektiv geblieben. Nun aber, so scheint es, kann Sartre sagen: „das Bewußtsein ist schon immer auf ein Sein gerichtet, das nicht es ist" 40 . Ein ontologischer Beweis hierfür ist geführt. Die Intentionalität des Bewußtseins, das selbst ein Sein ist, kann jetzt als ein Seinsverhältnis zum Gegenstand angesprochen werden. „Das Bewußtsein muß einen Inhalt haben, der ihm gegeben ist als Gegenstand einer enthüllenden Intention, die nicht auf Subjektives beschränkt bleibt, sonst wäre es nichts... Die Immanenz kann sich nur bestimmen im Zugriff auf ein Transzendentes"41. Es geht Sartre nicht darum, von einem subjektiven Phänomen auf die Existenz objektiver Gegenstände zu „schließen", also um die erkenntnistheoretische Frage, ob ich berechtigt sei, subjektive Phänomene als objektiv real zu setzen. Es handelt sich um ein Seinsverhältnis, ein Verhältnis zwischen dem Bewußtsein als transphänomenalem Sein und dem transphänomenalen Sein als Sein des Phänomens. Die Objektivität kann nicht von der Subjektivität her konstruiert werden. Dabei ist das Sein des Phänomens kein noumenales Sein hinter dem Phänomen: „es ist das Sein dieses Tisches, dieses Tabakpäckchens, der Lampe, und allgemeiner das Sein der Welt. . . . Das transphänomenale Sein dessen, was für das Bewußtsein ist, ist ,an sich"'42. ®8 E N 25 f. - Dies letztere Beispiel ist wenig überzeugend. Als Beispiel aus dem Bereich der Mechanik h i n k t es gerade im entscheidenden P u n k t : eine actio erzeugt nicht; warum sollte sich also ein vom Bewußtsein erzeugtes Phänomen nach der mechanischen Analogie verhalten? Nach ihr bleibt es umgekehrt gerade unverständlich, wieso das Bewußtsein bei Annahme einer Seinsgrundlage im Gegenstand nidit leiden sollte. — Sartre diskutiert auch Husserls H y l e unter dem Gesichtspunkt der Passivität ( E N 26). Sie ist nicht eigentlich passiv, da nidit intendiert, sondern eine neutrale Gegebenheit. 39

E N 2 7 : „manières d ' ê t r e " .

40

E N 2 8 : » . . . la conscience naît portée sur un être qui n'est pas elle".

41

E N 29.

«

ebda.

15

Phänomen und Bewußtsein sind jetzt f ü r Sartre in ihrem Sein begründet. Das Bewußtsein ist „enthüllte Enthüllung der Seienden, die auf der Grundlage ihres Seins vor dem Bewußtsein erscheinen" 43 . Das Sein enthüllt sich selbst nicht „in Person" 44 , sondern ist Grundlage. Es wird nur „in einer Seinsweise ergriffen, die es erscheinen läßt und gleichzeitig verhüllt"; gemeint ist die des Phänomens. „Das Bewußtsein kann das Seiende überschreiten, aber nicht zum Sein selbst hin, sondern nur zum Sinn dieses Seins" 45 . Der dem Bewußtsein enthüllte Sinn des Seins ist selbst Phänomen, Seinsphänomen. Das Seinsphänomen ist „Ruf nach Sein", es fordert Sein f ü r das Phänomen. Das Seinsphänomen ist gleichsam ein Phänomen höherer Ordnung. Als unexpliziertes Vorverständnis ist es immer mitgegeben, aber es ist, f ü r sich genommen, selbst Phänomen. Insofern gilt auch f ü r es, daß es ein Sein hat. Sartre sieht, daß man hier fragen könnte, ob so nicht ein weiteres Sein eingeführt wird, nämlich das des Seinsphänomens, so daß die Erhellung des Seins des Phänomens durch das Seinsphänomen wieder fragwürdig wird, da wiederum ein Sein offen bleibt, das auf seinen Sinn befragt werden könnte. Sartre meint hierzu, dies sei kein neues Sein mit einem neuen Sinn, sondern der Sinn des Seins des Phänomens, der sich im Seinsphänomen ausspricht, gelte auch f ü r das Sein dieses Sinnes, d. h. des Seinsphänomcns 46 . Im Sein liegt demnach eine Allgemeinheit, so daß es sowohl Grundlage des Seienden als audi des Sinnes des Seins ist. Der ontologische Beweis ist nicht beschränkt; er soll von jedem Phänomen, einschließlich des Seinsphänomens, gelten. Die Basis f ü r eine Ontologie ist nunmehr vorgezeichnet: es sind zwei „Typen des Seins" 47 herausgestellt worden, das Sein des Phänomens und das Bewußtsein. Der bisherige Weg, der der Einleitung zu E N , hat uns aber kaum über das reine „ D a ß " eines Seins des Phänomens hinausgeführt. Die weitere Klärung dieses Seins und des Bewußtseins wie auch ihres Verhältnisses zueinander ist nun Sartres Aufgabe. Vorerst ist jedoch noch eine Vertiefung der Gedanken der Einleitung angezeigt.

3. S E I N U N D P H Ä N O M E N

Die Gewinnung der ontologischen Ebene von der Phänomenologie aus hängt an einer Argumentation, in der das Wort „Sein" eine entscheidende Rolle spielt. Versuchen wir uns über dies Sein Klarheit zu verschaffen, das für den ontologischen Beweis maßgebend ist, ohne welchen die ontologische Ebene nicht als „gewonnen", sondern nur als 43 47

16

44 45 E N 30. ebda. ebda. " E N 30. „types d'êtres" (EN 34), besser: „types d'être" (ζ. Β. E N 711; vgl. „manières d'être" E N 27). Das Schwanken zwischen beiden Ausdrücken und die Vermischung von „type" und „région" („régions d'être" E N 34) ist charakteristisch. Vgl. unten S. 40, 118, 120 f., 128.

vorausgesetzt angesehen werden kann! Für die spätere Ontologie ist dies nicht entscheidend. Die Erschließung des Seins von der Phänomenologie her f ü h r t aber zu einer Fassung des Seins, die f ü r die spätere Form der Sartreschen Ontologie mitbestimmend ist. Es liegt in der N a t u r eines Werkes, das vom Standpunkt des Phänomens, also der Gegebenheit, ausgeht und nicht von vornherein Ontologie behandelt, vielmehr erst zu ihr gelangen will, daß es eine Vorstufe überwinden muß, nämlich das Phänomen in seinem ambivalenten Charakter zwischen Subjekt und Sein. Dies äußert sich in E N in der Form, daß Sartre apagogisch eine subjektivistische Auffassung vom Phänomen aufgreift und zeigt, daß sie nicht haltbar ist und man vielmehr zum Sein fortschreiten muß. Damit ist die Ausgangsposition des Arguments, das neutrale Phänomen, selbst aufgehoben. Das oben wiedergegebene Argument hat zwei Stufen: einmal wird behauptet, das Phänomen, selbst wenn es idealistisch interpretiert wird, hat ein Sein, sonst fiele es mit dem Subjekt zusammen; es hat zumindest ein percipi-Sein. Ferner wird behauptet, ein percipi-Sein sei widersinnig und verlange ein eignes, selbständiges Sein des Phänomens, so daß mit dem Phänomen schon das Sein der Welt erschlossen ist. Das percipi-Sein ist ein Daseinsmoment. Das Phänomen muß überhaupt dasein, damit es dem Subjekt gegeben, relativ auf es sein kann. Dies besagt das Argument aus der Passivität. Betrachten wir dies Argument nodi einmal grundsätzlich. Der N e r v des Arguments liegt in dem Gedanken, daß die Beziehung des Phänomens zum Subjekt, das percipi, ein Leiden darstellt, Leiden aber schon ein Bestehendes voraussetzt. Damit wäre nach der klassischen Auffassung gesagt, daß das Phänomen als „Konkretum", als Einheit von Essenz und Existenz, gedacht werden muß. Das Phänomen wäre ein subjektiver Gegenstand. Es ginge seinem Gegebensein vorher (was paradox wäre), oder das percipere setzte beides, Essenz und Existenz. Wir wären bei einer Bildertheorie, die als Alternative zum percipi ein Erzeugen des Phänomens im Subjekt annähme. (Hiergegen wird von Sartre eingewandt, daß das Geschaffene sich nicht vom Schöpfer lösen könne. Es ist aber die Frage, ob das Bewußtsein nicht dies Unikum ist, wo ein solches Erzeugen stattfindet, und das Erzeugte Gegenstand ist f ü r das Bewußtsein, d. h. wo das Phänomen als Vorstellung Konkretum ist, das dem Bewußtsein opponiert sein kann). Sartre fordert als Grundlage f ü r das percipi nicht ein Phänomen als Konkretum, sondern f a ß t das, was schon bestehen müsse, um leiden zu können, als ein „Sein". Ein „Sein" ist vonnöten, um das Phänomen zu „stützen". Damit ist die klassische Auffassung von einer Zusammengehörigkeit von Essenz und Existenz im Konkretum abgelehnt. Als „ontologisches" Argument ist es dann aber eine petitio zu sagen, beim Phänomen bestehe diese Zusammengehörigkeit nicht. Das Argument aus der Passivität enthält bereits die ontologische These, die es zu erweisen gilt, 17

nämlich daß die Existenz getrennt und unabhängig von der Essenz zu denken ist als Ansichsein. Man müßte umgekehrt sagen: um den Schwierigkeiten der Bildertheorie zu entgehen und der phänomenologischen Sachlage gerecht zu werden, muß für das Subjekt und das Phänomen eine neue Ontologie entworfen werden. Versuchen wir, die Sachlage mit Anselms ontologischem Argument zu parallelisieren; Sartres Argument enthält ja eine deutliche Anspielung auf Anselm. Anselm beginnt (im „Proslogion") mit einer Vorstellung von Gott im Bewußtsein. Der Mensch versteht die Vorstellung, das Wort, „Gott", hat sie im Bewußtsein, wenn er dadurch auch noch nicht einsieht, daß Gott ist48. Die These lautet nun, daß, was im Bewußtsein ist, die Gottesvorstellung, dem Inhalt nach es an sich habe, größer zu sein, als alles, was sich denken läßt", d. h. außerhalb des Bewußtseins und in ihm zu sein, sonst wäre das Größte nicht das Größte 50 . Gott läßt sich also gar nicht anders denken denn als existierend51. Das Argument will sagen, daß zunächst etwas im Bewußtsein ist, von dem noch auszumachen ist, ob es nicht noch einen andern „Seinsstatus" hat als den, im Bewußtsein zu sein. Durch den Gedanken, daß es sich bei dem, was da im Bewußtsein ist, um einen Maximalbegriff handelt, wird die Brücke geschlagen zu etwas, das nicht mehr oder nicht nur im Bewußtsein ist, das den „Seinsstatus" des „eigentlichen Seins" hat. Es besteht aber kein Recht, das, was im Bewußtsein ist, und das, was eigentlich ist, als dasselbe auszugeben. Anselm unterscheidet beides zunächst auch, identifiziert es dann aber doch, da er das, was nur Bild von Gott zu sein brauchte, als Sein Gottes im Bewußtsein versteht, und dasselbe, was imBewußsein ist, größer zu denken ist als nur im Bewußtsein. Dies wäre so, als ob Gott — und nicht die Gottesvorstellung — „zumindest" im Bewußtsein wäre, und dann festzustellen wäre, ob er nicht etwas anderes ist oder noch etwas anderes dazu. Gottesvorstellung und Gott sind ontologisch verschieden; nicht ist Gott „zumindest" Vorstellung, und dann auch, durch Argument erschlossen, transzendenter Gott 52 . Ähnlich verhält es sich bei Sartre. Sartre nimmt — der Argumentation halber — ein Phänomen „im" Bewußtsein an mit dem „Seinsstatus" 48

4

Proslogion, c. 2: „ . . . intelligit quod audit, et quod intelligit, in intellectu eius est, etiam si non intelligit illud esse. Aliud enim est rem esse in intellectu, aliud intelligere rem esse . . . " .

' ebda.: „aliquid quo maius nihil cogitari p o t e s t . . . " .

50

ebda.: „ . . . si ergo id quo maius cogitari non potest est solo in intellectu, id ipsum quo maius cogitari non potest est quo maius cogitari potest. Sed certe hoc esse non potest. Existit ergo procul dubio aliquid, quo maius cogitari non valet, et in intellectu et in re".

51

ebda. c. 3: „Sic ergo vere est aliquid quo maius cogitari non potest, ut nec cogitari possit non esse." !

52

Die Interpretation lehnt sich an Geyer an (Uberweg II, Die patristisdie und scholastische Philosophie, 200).

18

des percipi (entsprechend dem esse in intellectu). Dann wird dessen Seinsstatus befragt. Das Ergebnis ist, daß dieser nidit percipi-Sein sein kann; das besagt das Argument aus der Passivität. Dies generelle Argument ersetzt die spezifische Rolle des Maximalbegriffs bei Anselm. Eine Besonderheit des Sartreschen Arguments ist somit, daß, im Gegensatz zu Anselm, das esse in intellectu überhaupt negiert wird; der Seinsstatus des Phänomens ist ein anderer, nicht „auch" ein anderer, wie bei Anselm, wo Gott in intellectu und in re ist. Sartres Argument hebt also seine Prämisse auf. Es gibt außerhalb der apagogisdien Annahme bei Sartre kein esse in intellectu, kein percipi-Sein. In dem Argument liegt der Fehler, daß das Phänomen im Bewußtsein (bei Anselm zugestanden, bei Sartre nur apagogisdi angenommen) als identisch gesetzt wird mit einem gleichnamigen Etwas, das einen andern Seinsstatus hat — Gott ist zumindest in intellectu, das Phänomen ist zunächst percipi —, und doch auch wiederum verschieden gesetzt wird — Gott ist auch außerhalb des Bewußtseins, das Phänomen ist nur außerhalb des Bewußtseins. Etwas ist aber nicht unter Absehung von seinem „Seinsstatus" zu betrachten; es kann nicht mit etwas Gleichnamigem identisch sein, wenn dies einen andern Seinsstatus hat. Dies wäre eine Verletzung der klassischen Lehre von den Seinsprinzipien Essenz und Existenz. Die Vorstellung müßte vielmehr genauso als Konkretum gedacht werden wie die Sache, wovon die Vorstellung Vorstellung ist. Nicht gibt es für die klassische Auffassung eine Vorstellung, die ein anderes Existenzmoment bekommen kann und dasselbe bliebe". Von der Phänomenologie aus ist es naheliegend, an der Identität des Phänomens festzuhalten, und zwar von der Fragestellung aus, was gegeben ist. Das Gegebene ist der fraglose Ausgangspunkt; bestimmt werden muß nur sein Seinsstatus. Ein kritischer Realismus mit seiner Bildertheorie kann nicht in diese Versuchung kommen, hat dann aber mit dem Problem der ungegebenen immanenten Entität zu kämpfen. Sartre möchte mit seinem Argument eine reductio ad absurdum der Bildertheorie geben (also eine Bekräftigung des phänomenologischen Standpunkts) und glaubt damit einen Beweis zu haben für die transzendente Realität des Phänomens. Die Absurdität des „bloßen" Phänomens läßt sich so nicht dartun, und im übrigen erwiese die positive These des Arguments, wie auch bei Anselm, zu viel: nach Anselm könnte jeder Maximalbegriff real sein (etwa die vollkommene Insel)54, bei Sartre jedes Phänomen, auch die Täuschung. 53

In diese Richtung zielt auch Kants Kritik am ontologischen Gottesbeweis. K a n t will sagen: der Begriff ist nur (vollbestimmte) Essenz. Die Existenzfrage ist offen; d. h. es ist offen, ob es ein entsprechendes transzendentes Konkretum oder nur das subjektive Konkretum (Vorstellung) gibt. Eine Essenz als Maximalbegriff fordert an ihr selbst nicht ein transzendentes Existenzmoment. (Vgl. K . d. r. V. B. 627 f.)

54

Es sei denn, wir verstünden den Maximalbegriff mit Hegel als Unendliches, als Begriff, der an u»,d für sich das Sein ist, zu dem wir als subjektiver, endlicher Be-

19

Sartres Argument ist damit nicht einfach Irrtum, sondern petitio von der klassischen Ontologie her. Es behauptet, daß die Seinsprinzipien nicht in der klassischen Weise verbunden gedacht werden müssen. D a s Argument als Argument leistet nicht, was es soll, es ist aber die Urgierung einer neuen Ontologie. D a s Existenzmoment, für das in der geschilderten Weise argumentiert wird, hat eine Sonderstellung erhalten. Die Scheidung in zwei Seinsmomente, Existenz und Essenz, oder, vorsichtiger, in Dasein und Sosein 55 , stellt sich dar als Dasein einerseits und Gegebenheit für ein Subj e k t andrerseits; in dieser Relativität verbirgt sich die Soseinsbestimmung. Das Sosein ist ein Abhängiges, das Daseinsmoment wird demgegenüber als Unabhängiges akzentuiert. Bedeutete es anfangs nur ein triviales Sein — um Phänomen zu sein, mußte ein Phänomen eben „sein" —, tritt es jetzt in eine Gegenstellung zum abhängigen oder relativen Soseinsmoment: es wird Ansichsein. Es besteht nicht für uns, ist es doch gefaßt als Gegenbegriff zu Erscheinung, Phänomen und Gegenstand. O d e r besser: es ist nur „als" Phänomen für uns, es selbst ist transphänomenal, „Sein". W i r sehen, der Weg aus der seinsneutralen Phänomenologie, vom intentionalen Sein zum Sein, beruht auf einer vorgängigen Ontologie. Das von Sartre erreichte Ansichsein bringt mehrere Probleme mit sich, die aber in diesem Zusammenhang nur anzudeuten sind, schon weil die Ebene der Diskussion noch eine vorläufige ist. Sartres Ansichseinsbegriff bedeutet eine Festlegung auf eine „korrelativistische" Position. D a s A n sich ist nicht „ e r k a n n t " , ist nicht das Bestimmte, dem sich das Phänomen anmißt, sondern wird zur Gegebenheit. Wahrheit ist ein Enthüllen, denn, wie wir sehen werden, ist das Ansich auch nicht das Unbestimmte. D i e Fassung des Ansichseins bedeutet eine eigenartige Lösung des RealismusProblems. Sie erfüllt ein Desiderat des Realismus, ist doch das Ansich nicht relativ auf das Phänomen, sondern nur dieses die Weise der G e gebenheit von jenem. Es gibt Ansichsein ohne die Bedingung, Phänomen zu werden 5 '. Sartres Auffassung unterscheidet sich von einem Realismus jedoch, indem eine Repräsentation im Subjekt und die adaequatio abgelehnt werden.

griff uns kraft d e r D i a l e k t i k erheben. V g l . P h i l o s o p h i e d e r R e l i g i o n I I ,

Anhang,

4 8 0 f. 55

N . H a r t m a n n unterscheidet die beiden B e g r i f f s p a a r e : die essentia bringt im a l l g e meinen schon eine Identifizierung m i t i d e a l e m Sein u n d eine A b h e b u n g gegen A k zidentelles m i t sich ( „ Z u r G r u n d l e g u n g d e r O n t o l o g i e " , 9 0 f.), das P a a r

Dasein-

Soscin ist d a g e g e n v o n diesen I m p l i k a t i o n e n unbelastet ( e b d a . 9 2 ) . 56

Die Formulierung

„es g i b t " w i r d v o n S a r t r e allerdings f ü r das

W e r d e n des Ansich in Anspruch g e n o m m e n : „ . . . la c o n n a i s s a n c e , connaissant

l u i - m ê m e ne sont rien sinon le fait

en-soi se d o n n e . . . " E N 2 2 7 .

20

„qu'il y a "

Zum-Phänomenfinalement,

et le

de l'être, que

l'être

Zum Problem der Erkenntnis wären viele Fragen zu stellen: ist mit dieser Theorie nicht zu viel dargetan, wenn jedes Phänomen sein Ansidisein hat? Gibt es keine Täuschung? Läßt sich die Täuschung transzendent interpretieren? Wie steht es mit der immanenten Dimension, der Vorstellungen und Gedanken, Urteile usw. zuzuordnen wären? Eine weitere hierher gehörige Frage betrifft den Sinn: die Identifizierung des Phänomens mit dem Gegenstand oder dem Seienden müßte auch zu einer Revision der diesbezüglichen phänomenologischen Theorie führen. Die Seinsunterscheidung von Seiendem und Sinn beruht ja auf der Ablösbarkeit des Sinnes in der Bedeutung. N u n berücksichtigt Sartre durchaus die Gegebenheit von Sinn, und zwar versteht er ihn wiederum als Phänomen mit einem Sein. Ist dann das Ansich nur ein einziger Seinsbereich, oder gibt es mehrere, einen idealen und einen realen? Diese Fragen lassen sich aus E N nur zum Teil beantworten, sie deuten Schwierigkeiten an, gehen aber in eine andere Richtung als das Werk. Wir finden bei Sartre eine mögliche Konsequenz aus der Phänomenologie, wie sie sich in andrer Form bei N . H a r t m a n n und Scheler findet. Die geschilderte Theorie entspricht dem Hauptgedanken der Intentionalitätstheorie Husserls, daß das Bewußtsein ohne ungegebene Entitäten in der Immanenz „beim" Gegenstand ist. Die Entwicklung hatte die Phänomenologie in der Theorie der Reduktionen wieder zu einer solchen Entität geführt, dem Noema, von dem nun wieder ein „intentionales Sein" behauptet werden konnte, womit die traditionelle Fassung des Gegebenheitsproblems wieder in die N ä h e gerückt war. Sartre will diesen Schritt rückgängig machen. Im Problemkreis „Bewußtsein und Gegenstand" stellt Sartres bisher geschilderte Auffassung eine ontologische Position dar, die in mancher Hinsicht Husserls Position in den Logischen Untersuchungen entspricht. In der lapidaren Form, in der die Intentionalität in der Einleitung zu E N vorgeführt worden ist, kann sie allerdings kaum verbleiben. Wir haben denn auch nur auf der Grundlage dieser Einleitung eine phänomenologische Position, die im Zusammenhang mit dem „ontologischen Beweis" auftrat, isoliert. Die nähere Behandlung des Problemkreises im Werk selbst vollzieht sich in einem anderen Idiom, dem von Negation, Ansich und Fürsich, so daß eine Mischform entsteht, die nach ihrem eignen Charakter zu beurteilen ist. Wir können hier nur fragen, ob die Theorie trotz ihres „Geburtsfehlers" all den Problemen gerecht werden kann, f ü r die die Phänomenologie ihre verfeinerten begrifflichen Werkzeuge geschaffen hat. 4. DAS BEWUSSTSEIN

Wir haben das Bewußtsein schon in einigen elementaren Zügen — als Intentionalität und als Scinsdimension — betrachtet, um den Gedankengang vom Phänomen zum Sein mitgehen zu können: nur für ein seiendes Bewußtsein von etwas (so selbstverständlich dies ist) konnte 21

erwogen werden, ob das Phänomen nicht vielleicht nur Moment des reellen Seins des Subjekts sei. Diese beiden Charakteristika des Bewußtseins sind jedoch noch keine hinreichende Darstellung. Schon das von Sartre verwendete Bild der Durchsichtigkeit deutet auf einen weiteren Punkt. Sartres Hauptthese zum Problem des Bewußtseins ist, daß das Bewußtsein seiner selbst bewußt sein müsse, sonst gäbe es „unbewußtes Bewußtsein, was absurd w ä r e " " . D a s Gegebensein der Intention auf den durch diese gegebenen Gegenstand ist f ü r Sartre eine notwendige Bedingung für ein Bewußthaben des Gegenstandes. Ist dies Bewußtsein vom transzendierenden A k t nun ein weiterer A k t auf diesen A k t ? D a n n wäre dies eine Reflexion, ein A k t mit dem Gegenstand „Bewußtsein" oder „Intention". Reflexion aber kann dies Bewußtsein der Primärintention nicht sein, denn sonst entstünde eine Spaltung des Bewußtseins in Subjekt und Objekt, und ein „letztes G l i e d " bliebe immer ungegeben; es k ä m e zu einem Regreß. D a s intentionale Bewußtsein muß also, nachdem es ontologisch als Seinsdimension in Anspruch genommen ist, audi erkenntnistheoretisch begründet werden; es ist anzugeben, wie Bewußtsein des Wissens, Erkennens usw. ohne Regreß möglich ist. D a s Problem läßt sich für Sartre nur lösen, wenn man annimmt, daß das Bewußtsein nicht „paarig" 5 8 ist. Der Bezug des Bewußtseins zu sich selbst, der als soldier bejaht wird, darf nicht vergegenständlichend oder „setzend" 5 " sein, sondern muß als ein unmittelbarer „nicht-setzender" gedacht werden. Ein solches unmittelbares Bewußtsein ist nicht erkennend" 0 ; es urteilt nicht, nimmt nicht Stellung wie die Reflexion; es ist vielmehr konstitutiv für das setzende Bewußtsein, also auch f ü r die Reflexion. „ J e des setzende Bewußtsein vom Gegenstand ist gleichzeitig nicht-setzendes " 5

E N 18.

58

E N 19.

* E N 19: „eile [la conscience] ne la pose pas [ma perception]". — Für die Begriffe „setzend" (positionnel) und „nicht-setzend" (non-positionnel) ist eine Abhebung von Husserl erforderlich. Für Husserl bedeutet „Setzung" oder „Thesis" einen Charakter der Nocsis, durch den einem N o e m a Wirklichkeit, Wahrscheinlichkeit oder ein sonstiger Seinsmodus zuerkannt wird. (Vgl. Ideen I §§ 90, 103, 114). Setzung bedeutet danach nicht, daß das Bewußtsein sich einen intentionalen Gegenstand opponiert, sich ihm meinend zuwendet, sondern einen schon opponierten Inhalt, den intentionalen Gegenstand, das internum qua intentum, als real usw. nimmt, wobei dies Setzen nicht später ist. Für Sartre gilt eine grundsätzlichere Bedeutung des Begriffes. Danach liegt in ihm das Sich-einen-Gegenstand-Opponieren. Hierin kommt die Fichtcsche Verwendung des Wortes zur Geltung, nur daß im Setzen keine Subjektivierung des Seinsstatus des Opponierten mitgedacht wird. In Husserls „Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins" findet sich allerdings auch ein Sartres Bedeutung verwandter Sinn vom „Setzen". D o r t ist ein Erlebnis „immanent .wahrgenommen' (inneres Bewußtsein), wenn audi natürlich nicht gesetzt, gemeint" (481). So kann das K i n d , das zählt und dem die Reflexion fehlt, nicht „erklären", was es da tut. D a s Addieren erscheint ihm nur als objektiver Sachverhalt an den gezählten Gegenständen. E N 19.

22

Bewußtsein seiner selbst*1." Dies unmittelbare nicht-setzende Bewußtsein von Bewußtsein nennt Sartre das präreflexive cogito (cogito préreflexif)' 2 . Von diesem Begriff aus lassen sich zwei Gedankenrichtungen verfolgen: mit dem präreflexiven cogito ist, wie wir sahen, eine erkenntnistheoretische Erklärung gegeben, wie ein Bewußtsein von intentionalen Gegenständen möglich ist; und ferner ist mit ihm eine strukturelle Einheit behauptet, die zu einer ontologischen Deutung führt. Gehen wir entsprechend unsrer gegenwärtigen Betonung einer noch vorwiegend phänomenologischen Position Sartres zunächst dem ersteren Gedanken nach. Der Gedanke, daß das Bewußtsein sich gegeben sein müsse, da es sonst unbewußt sei, hat eine gewisse Uberzeugungskraft. Einerseits glauben wir, unsrer selbst „innezusein", andrerseits wird damit das Bewußtsein zu einem zweiten Gegenstand neben dem unmittelbaren, auf den wir gerichtet sind, was unsere normale Erfahrung nicht bestätigt. Die Annahme einer Reflexion, um dies „funktionale" Selbstbewußtsein zu erklären, scheint daher einerseits gefordert, andrerseits ausgeschlossen. Das Dilemma ist oft gesehen worden, aber erst Brentano ist zu einer problembewußten These als Antwort auf die Schwierigkeit gelangt". β1

E N 19.

62

E N 20. — Sartre kennzeichnet es als „conscience (de) . . . . " (mit „de" in K l a m mern im Gegensatz z u m „de" ohne K l a m m e r , das den transzendierenden Bezug z u m intentionalen Gegenstand vertritt). Wir bilden Sartres W e n d u n g durch „Bewußtsein (von)" nach. Dies klingt wie eine gröbliche Vereinfachung. Aristoteles trifft schon mit seiner α ί σ θ η σ ι ς , die ζ. B. ein Sehen (όράν) w a h r n i m m t , eine wichtige Unterscheidung. Er f o r d e r t schon einen Unterschied zwischen ihr und dem eigentlichen W a h r n e h m e n (De a n i m a 425 b 12—25). B r e n t a n o w i r d diese Analyse wieder a u f n e h m e n . Wir k ö n nen im folgenden n u r k u r z andeuten, wie die Philosophie der N e u z e i t das T h e m a des Selbstbewußtseins umkreist hat. Die Reflexion als Introspektion blieb lange Zeit das Vorbild f ü r das Verständnis eines Selbstbewußtseins als Bedingung f ü r ein Bewußtsein. Leibniz w e n d e t sich gegen die These, d a ß Reflexion Bedingung f ü r unser Denken und E m p f i n d e n sei ( N o u v e a u x Essais 107 f.); die A l t e r n a t i v e ist f ü r ihn die u n b e w u ß t e Perzeption, v o n der er aber gerade nicht zeigen k a n n , wie sie durch Intensivierung merklich wird, u n d ob sie als gemerkte schon reflektierte ist. Locke h a t die Idee einer begleitenden Reflexion („reflex act of perception accompanying (an action)" (Essay Concerning H u m a n U n t e r s t a n d i n g II, 27, 13) u n d besitzt auch einen Begriff von einem Selbstbewußtsein, das Bedingung für p e r sönliche I d e n t i t ä t ist (ebda. II, 27, 16—19), aber er v e r f ü g t nicht über die theoretischen Mittel, ein solches Selbstbewußtsein von einer eigentlichen Reflexion klar zu unterscheiden. Kant h a t im „ich denke" das f u n k t i o n a l e Selbstbewußtsein in den Blick bekommen, ohne das die Vorstellung „ e n t w e d e r unmöglich, o d e r wenigstens f ü r mich nicht sein" w ü r d e (K. d. r. V. B. 132). Dies „ich denke" ist „reine A p p e r zeption" oder „ursprüngliche A p p e r z e p t i o n " . Es wird f ü r K a n t jedoch aus einer Einheit des Selbstbewußtseins zu einer Bedingung der Einheit von Vorstellungen und somit zu einem transzendentalen U r s p r u n g der kategorialen Formung der Gegenstände der Vorstellungen. Das „ich d e n k e " entgleitet so der p h ä n o m e n o logischen Betrachtung als F a k t u m . Auch bei Fichte finden wir eine V e r b i n d u n g des faktischen mit dem transzendentalen Selbstbewußtsein. Das faktische Selbst-

03

23

Für Brentano64 ist die Vorstellung von einem Objekt, also der psychische Akt, in einem inneren Bewußtsein gegeben. Es gibt nur einen Akt, der aber ein primäres und ein sekundäres Objekt, nämlidi sich selbst, hat; es handelt sich um eine „Verwebung". Die beiden Vorstellungen sind so innig verbunden, daß die primäre innerlich zum Sein der sekundären beiträgt. Brentano sieht auch, daß das sekundäre Objekt zwar im Akt bewußt ist, aber nicht beobachtet sein kann, was Sartres Unterscheidung von „setzend" und „nicht-setzend" entspricht. Er fordert vorstellendes, erkennendes und fühlendes „inneres" Bewußtsein. Sartres präreflexives cogito ist dagegen unbestimmt gelassen. Was die Evidenz der Brentanoschen Auffassung angeht, so stützt er sich nicht von vornherein auf die Absurdität der gegenteiligen Annahme eines unbewußten Bewußtseins — er zeigt vielmehr nur, daß dies sich nicht beweisen lasse —, sondern auf die innere Erfahrung (a. a. O. 176, 179). Auch würde aus der Annahme eines zweiten reflexiven Aktes folgen, daß der Inhalt des primären Aktes ein zweites Mal gegeben wäre, was wiederum der Erfahrung nicht entspricht. Brentano erkennt daraufhin jedem psychischen Akt ein inneres Bewußtsein zu (a. a. O. 218). Die methodische Grundlage für eine solche Bestimmung des Bewußtseins ist nicht deutlich. Eine Reflexion in der Gegenwart wird bestritten (a. a. O. 181), sie wäre auch kaum geeignet, da sie selbst das innere Bewußtsein voraussetzen würde. Die Anmessung der begrifflichen Fassung an die Erfahrung erscheint somit als ein Problem. Eine „strukturelle Evidenz" ist insofern nicht gegeben, als die begriffliche Beschreibung nicht klarmacht, wieso das primäre Objekt nicht doch noch einmal in der sekundären Vorstellung gegeben ist. Dies kann nur auf Grund der Erfahrung abgewiesen werden (a. a. O. 178 f.). Die in der Theorie verwandten Begriffe „Vorstellung", „Objekt", „Bewußtsein" passen nicht genau, sondern müssen für diesen Sonderfall qualifiziert werden — die sekundäre Vorstellung ist eine Vorstellung, die aber nicht die üblichen Charakteristika von Vorstelbcwußtsein ist auf einen G r u n d im absoluten Subjekt z u r ü c k z u f ü h r e n . Sidierlidi geht das absolute Subjekt dem faktischen nicht v o r h e r u n d insofern sind beide dasselbe (vgl. G r u n d l a g e d. W . L. [1794], 17 [Meiner]). Das h i n d e r t aber nicht, d a ß das absolute Subjekt als transzendentale Bedingung ein U n b e k a n n t e s u n d insofern U n b e w u ß t e s , ein logisches H a n d e l n ist. F ü r Hegel liegt das eigentliche Selbstbewußtsein in der Identifikation m i t dem G e g e n s t a n d : „ich w e i ß v o n dem Gegenstande als dem meinigen (er ist meine Vorstellung, ich w e i ß daher d a r i n von m i r " (Enzykl. § 424). Diese A u f f a s s u n g vermeidet einen eigenen Rekurs auf sich als Bewußtsein von etwas. In jedem Transzendieren ist jeweils ein v o r a n gehendes In-Sich-Gegangenscin aufgehoben u n d b e w a h r t u n d jedes Transzendieren ist wieder In-sich-Gehen. - Für K a n t , Fichte u n d Hegel gilt, d a ß ihre Lehren v o m Selbstbewußtsein am transzendentalen Problem orientiert sind u n d d a ß sie das empirische, faktische Selbstbewußtsein durch eine transzendental-logische Theorie „ u n t e r f a n g e n " , also die „seiende" Einheit des Selbstbewußtseins nicht als solche behandeln. *4 „Psychologie v o m empirischen S t a n d p u n k t " Bd. I, Buch 2, K a p . 2 u n d 3.

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lungen hat —; wie dies auch Sartre tut, w e n n er das präreflexive cogito im Gegensatz z u m cogito „nicht-setzend" nennt. D i e Brentanosche A u f f a s s u n g erscheint als ein K o m p r o m i ß : die Bew u ß t h e i t des psychischen Aktes ist wie eine Reflexion zu denken, aber nicht als „eigentliche" Reflexion. So ist auch bei Sartre das Bewußtsein sidi gegeben wie in einem zweiten cogito, gleichsam in einer Reflexion, der allerdings ein entscheidendes C h a r a k t e r i s t i k u m der Reflexion, die O b j e k t i v i e r u n g , abgesprochen w i r d . Sartre v e r t r i t t somit den S t a n d p u n k t einer „Homologie"® 5 zwischen einem Selbstbewußtsein als f o r maler Bedingung des Bewußtseins u n d einer Reflexion als expliziter, aber f ü r ein Bewußtsein nicht konstitutiver F o r m des Selbstbewußtseins. Husserl lehnt seinerseits Brentanos Theorie des „inneren Bewußtseins" ab M . F ü r ihn ist die „kontinuierliche A k t i o n innerer W a h r n e h m u n g " nicht nachzuweisen. W o h l gibt es f ü r ihn innere W a h r n e h m u n g als einen eignen Bewußtseinsbegriff. D i e Unterscheidung, die B r e n t a n o machen will, nämlich d a ß die sekundäre Vorstellung des Aktes nicht beobachtend ist, scheint f ü r Husserl zurückzutreten hinter der Tatsache, d a ß Brentano sie auch als innere W a h r n e h m u n g kennzeichnet, die f ü r H u s serl eine „ p r i m ä r e " I n t e n t i o n ist. Ein terminologisches M i ß v e r s t ä n d n i s ist also an Husserls K r i t i k an B r e n t a n o mitbeteiligt. Husserls Grundbegriff ist der des Erlebnisses. In einem Sinne von „Bewußtsein" (neben dem schon genannten der inneren W a h r n e h m u n g ) ist Erlebnis ein „ H a b e n " ; es besagt, d a ß „gewisse I n h a l t e Bestandstücke in einer Bewußtseinseinheit, im phänomenologisch-einheitlichen Bewußtseinsstrom eines empirischen Ich" sind". Diese ist ihrerseits ein „reelles Ganzes, das sich aus m a n n i g f a l t i g e n Teilen reell zusammensetzt, u n d jeder solche Teil heißt ,erlebt"'" 8 . Im Sinne dieses Bewußtseinsbegriff s scheidet sich das Erlebnis nicht in I n h a l t u n d Erlebnis: „ D a s E m p f u n d e n e z. B. ist nichts anderes als die Empfindung 0 "." D a s Erlebnis k a n n sich „auf einen von ihm zu unterscheidenden Ge65

Vgl. E N 117: „Ce cogito (das präreflexive), certes, ne pose pas d'objet, il reste intraconscientiel. Mais il n'en est pas moins homologue au cogito réflexif en ce qu'il apparaît comme la nécessité première pour la conscience irréfléchie, d'être vue par elle-même". — Es ist bemerkenswert, daß Sartres präreflexives cogito mit dem cogito verwechselt werden konnte. So schreibt Desan (in „The Tragic Finale" 9): Sartre makes a distinction between the prereflexive Cogito, which is ordinary and immediate knowledge (e. g. I know a table, I know Peter) and authentic reflection . . . (e. g. I know that I know the table)." Dies ist zumindest mißverständlidi, denn mit dem Ausdruck „präreflexives cogito" soll dieses gerade vom cogito, dem es innewohnt, noch unterschieden werden und als so unterschiedenes vom reflexiven cogito abgehoben werden. Anlaß könnte eine Stelle wie die E N 118 gegeben haben: „C'est que la conscience préréflexive est conscience (de) soi." Hier erscheint das präreflexive cogito als Einheit von Intention und Selbstgegebenheit, nicht als Moment der Selbstgegebenheit.

M

Logische Untersuchungen V, 356.

" ebda. 352.

1,8

ebda.

«» ebda. 25

genstand" beziehen 70 ; dann ist es intentionales Erlebnis, womit ein dritter Bewußtseinsbegriff gegeben ist. Im intentionalen Erlebnis sind „die Empfindungen und desgleichen die auffassenden A k t e . . . erlebt, abër sie erscheinen nicht gegenständlich; . . . Die Gegenstände andrerseits erscheinen, werden wahrgenommen, aber sie sind nicht erlebt"". Ein von ihm Unterschiedenes ist also im Erlebnis intentional gegenwärtig. Wir „gehen" im betreffenden Akt „ a u f " " . Darin liegt kein Rekurs auf ein Ich' 3 . Die Gegebenheit des intentionalen Gegenstandes liegt im reellen Akt; statt einer Gegebenheit des Aktes gibt es für Husserl nur die Zugehörigkeit zum Strom der Erlebnisse als Bewußtseinseinhek. Das Problem einer Einheit von Bewußtsein und Selbstbewußtsein entspricht somit den zwei „Aspekten" des Erlebnisses: das intentionale Erlebnis bezieht sich auf seinen Gegenstand, und das Erlebnis ist seinerseits Bestandstück in der Komplexion der Erlebnisse, die sich zu einer Einheit konstituiert. Das Problem scheint also gelöst durch das Geltendmadien dieser zwei Aspekte, des intentionalen und des reellen. Die Frage der Bewußtheit der Intention zerlegt sich in ein Aufgehen im Gegenstand einerseits und in die Zugehörigkeit zur sich selbst konstituierenden Einheit des Bewußtseins als Komplexion von Erlebnissen andererseits. In den „Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins" ist die Rede davon, daß jeder Akt „bewußt" sei. „Jedes Erlebnis ist ,empfunden', ist immanent ,wahrgenommen' (inneres Bewußtsein), wenn audi natürlich nicht gesetzt, gemeint . . . " . " Husserl sieht das Regreßargument: „jedes ,Erlebnis* im prägnanten Sinn ist innerlich wahrgenommen. Aber das innere Wahrnehmen ist nicht im selben Sinn ein ,Erlebnis*. Es ist nicht selbst wieder innerlich wahrgenommen... ,Wahrnehmen', das ist hier nichts anderes als das zeitkonstituierende Bewußtsein mit seinen Phasen der fließenden Retentionen und Protentionen . . . Was wir Erlebnis nennen, . . . das alles sind Einheiten des Zeitbewußtseins, sind also Wahrgenommenheiten 75 ." In seinem Aufsatz „La transcendance de l'ego" versteht Sartre Husserls Analysen in den „Logischen Untersuchungen" und in den „Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins" entsprechend in dem Sinne, daß das Bewußtsein sich durch ein Spiel von Retentionen einigt und sich so ständig auf sidi selbst bezieht 76 . In der Formulierung: „eile (la conscience) est purement et simplement conscience d'être conscience de cet objet (objet transcendant)" 77 liegt aber schon eine Uminterpretation Husserls. Die Einheitsbildung im Bewußtseinsstrom ist, besonders was die Jetztphase angeht, nicht identisch mit der letztlich Brentanoschen Auffassung vom präreflexiven cogito, in dem ein cogito '« ebda.

71

ebda. 385.

72

ebda. 376.

73

Vgl. aber Husserls Standpunktänderung in der Idifrage: ebda. 354, 361, 363.

71

a. a. O., 481.

26

75

a. a. O., 481 f.

™ a. a. O., 89.

77

a. a. O., 90.

seiner selbst bewußt ist. Husserl kennt dies bei Sartre auch als rein gegenwärtig angenommene innere Bewußtsein nicht als rein gegenwärtiges 78 . Es scheint uns also, daß sich zwei verschiedene phänomenologische Auffassungen abzeichnen: eine, nach der das Bewußtsein in seinem Gegenstand aufgeht und sich im Zeitbewußtsein einigt, ohne daß ein Beisichsein als gegenwärtig erlebendes ausdrücklich gefordert ist, und eine, nach der ein begleitendes, der Reflexion homologes Bewußtsein f ü r jeden Akt angenommen wird. Sartre steht im frühen Aufsatz der ersteren Auffassung näher, neigt sich aber in E N Brentano zu, so daß eine Verbindung beider Standpunkte entsteht. Bei Husserl findet Sartre eine Auffassung vom intentionalen Bewußtsein, in der der intentionale Gegenstand deutlich von dem unklaren Begriff der „Vorstellung" gelöst ist; reelle und intentionale Sphäre sind voneinander abgehoben. Das Bewußtsein transzendiert, wenn audi Sartre Kritik anmeldet, was den ontologischen Status des intentionalen Gegenstandes angeht. Und ferner findet er bei Husserl eine Theorie des Bewußtseins als zeitlichen. Bei Brentano findet er eine Deutung des Selbstbewußtseins, wenn auch nodi gedacht als „Charakteristikum" der Vorstellung eines Gegenstandes, die auch ohne eine sekundäre Vorstellung „nicht undenkbar" wäre". Sartres neuer Akzent ist ein doppelter. Von der Husserlschen Scheidung von reeller und intentionaler Sphäre schreitet er fort zur Gegenüberstellung von Bewußtsein und Ansichsein. Das Bewußtsein ist jetzt dem seienden Gegenstand gegenüber; als das „andere" Sein steht es zum Gegenstand in einem Seinsverhältnis. Bei Husserl ist dieser Gedanke eines Seinsverhältnisses in der Beziehung des Bewußtseins auf seinen Gegenstand nicht ausgebildet. Das Bewußtsein ist zwar ein Sein, aber Husserl sieht von der Realität seines Korrelats ab. Was das Bewußtsein als solches angeht, so tritt Brentanos Gedanke der Bewußtheit in den Vordergrund: das Bewußtsein hat eine quasi-reflexive Struktur, ist auf sich 78

D i e spätere A u f f a s s u n g Husserls, w o n a c h er ein reines Ich a n n i m m t , kann hier nicht erörtert w e r d e n . D e r neue S t a n d p u n k t b e t o n t den A k t als Strahl mit d e m Ich als A u s g a n g s p u n k t , und ferner ist die K o m p l e x i o n v o n Erlebnissen nun n o d i in einem Identischen fundiert (vgl. Ideen I 109); der Bewußtseinsstrom ist nicht mehr nur synthetisch sich einigende Reihe. — D i e Frage der B e w u ß t h e i t , die nunmehr eine des Ichs w ä r e und die für N a t o r p ein unreduzierbar Letztes ist, w i r d , s o w e i t w i r sehen, in keiner Sartre für E N v o r l i e g e n d e n Schrift Husserls neu a u f gerollt. A l l e r d i n g s ist in Husserls „Erste P h i l o s o p h i e I", p. 111, v o m inneren B e w u ß t s e i n die R e d e : „Auch jenes universale B e w u ß t h a b e n , durch das alles einz e l n e Erleben seinerseits b e w u ß t ist, das s o g e n a n n t e „innere" B e w u ß t s e i n , ist ein w a h r e r W u n d e r b a u feinster intentionaler Strukturen, obschon freilich tief v e r borgener". Auch hier k ü n d i g t sich der G e d a n k e einer deskriptiv k o m p l e x e n Struktur im G e g e n s a t z z u Sartres prinzipiell g e n o m m e n e r einfacher präreflexiver Struktur an. - In dem o b e n g e n a n n t e n A u f s a t z versucht Sartre z u zeigen, d a ß die A n n a h m e eines reinen Ichs ein H i n d e r n i s für die synthetische E i n i g u n g des B e w u ß t s e i n s darstellt. Ein solches Ich w ä r e e t w a s O p a k e s , das den reinen Bezug des B e w u ß t s e i n s zu sich störte (a. a. O . , 89 f.). ™ Brentano, P s y c h o l o g i e v o m empirischen S t a n d p u n k t I, 180.

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zurückgewandtes Sein. Sartre stützt sich auch auf Husserls Analyse des Bewußtseins als eines zeitlichen, das sich in fließenden Synthesen als Einheit konstituiert. Aber diese Einheit ist nodi verschieden von der, die Sartre fordert. Für Sartre sind die protentionalen und retentionalen Bezüge Husserls Schaubezüge und nicht Seinsbezüge, das Husserlsche Bewußtsein ist für ihn nur eines in der Gegenwart 80 . Er nähert sich damit in diesem Punkt der Heideggerschen Auffassung vom „ekstatischen" Dasein. Schließlich gibt es bei Husserl in der Immanenz Bestände wie die Hyle, deren Zugehörigkeit zur Einheit des Bewußtseins für Sartre unverständlich ist. Das Bewußtsein ist durchsichtig, verhält sich zu sich, erscheint sich. Es schließt damit alles andere Sein aus sich aus. Es ist ein eigner Seinstyp. Seine Transphänomenalität liegt darin, selbst das Sich-Gegebensein zu sein statt „ f ü r " einen Erkennenden zu sein. Es hat nicht einen transphänomenalen „Grund", dessen Erscheinung es wäre 81 . Das Bewußtsein ist noch in phänomenologischen Begriffen formuliert als cogito und präreflexives cogito, aber seine Konzeption ist schon geleitet von einer formalen Struktur, der des Fürsichseins. Diese Ebene der Analyse haben wir noch nicht erreicht. Sartre gibt aber auf der von uns abgehobenen Vorstufe einer „ontologisch fundierten" Phänomenologie vorläufige Deutungen dieses Seinstyps. Der strukturelle Akzent, den Sartre dem Bewußtseinsbegriff gibt, zeigt sich in einer Betonung der Einheit. Das Bewußtsein existiert als Zirkel: ich muß schon transzendieren, damit idi mir des transzen dieren den Aktes bewußt sein kann; den transzendierenden Akt kann ich aber nur vollziehen, wenn ich schon Bewußtsein von ihm habe. Beide sind gegenseitige Bedingungen und damit unteilbar Eines. Im Bewußtsein liegt die Einheit und Gleichursprünglidikeit seiner beiden Momente. Das präreflexive cogito ist die Existenzweise eines Bewußtseins von etwas, oder sein Gesetz. Das Bewußtsein ist nicht Substanz, denn in diesem Begriff ist für Sartre ein „minderes Sein", das der Qualitäten, mitgedacht82. Die 80

81

83

28

E N 152. Dies Bewußtsein in der Gegenwart ist bei Husserl aber gerade nicht als gegenwärtiges, im Grunde zeitlos prinzipielles Beisidisein oder Selbstbewußtscin herausgestellt. - Sartres Kritik an Husserl ist ihrerseits angreifbar. Gemeint ist, daß die zeitliche Einheit des Bewußtseins nur eine intentionale ist, also von minderer Seinsart als das Erlebnis als reelles. Sartres Skepsis gegenüber bloß intentionalem Sein empfindet anscheinend diese Form der Einheit des Bewußtseins als ungenügend. Es ist die Frage, ob „ekstatische" Bezüge eine grundsätzlich andere Lösung darstellen. Siehe unten den Abschnitt IV,3 über die Zeitlichkeit. Möller möAte in seiner Kritik einen solchen transphänomenalen Grund annehmen, dessen Phänomen das Bewußtsein wäre. Für ihn gibt es ein transphänomenales Subjektsein, das sich nicht auf Bewußtsein reduzieren läßt. „Absurdes Sein?" 163. Er will so ein gründendes Sein einführen, das Bewußtsein und Welt „übergreift". E N 21, durchgefühlt an der Lust: „il n'ya pas plus d'abord une conscience qui recevrait ensuite l'affection .plaisir' . . . Le plaisir est l'être de la conscience (de) soi et la conscience (de) soi est la loi d'être du plaisir".

Gleidiursprünglidikeit der Bedingungen schließt das aus. Das Bewußtsein ist vielmehr ganz Existenz8®. Es folgt weiter, daß das Bewußtsein nicht durch etwas Äußerliches bestimmt werden kann. Man müßte sich sonst denken, daß eine solche Ursache (eine organische Störung, ein unbewußter Impuls, ein Erlebnis) ein psychisches Ereignis auslöst und dieses dann noch die Bewußtheit dazu hervorbrächte. Damit wäre die präreflexive Bewußtheit eine zusätzliche Qualität, was gegen die Einheit und Gleichursprünglichkeit der beiden Momente verstieße und wieder auf die Substanzauffassung führte. Als von außen Bestimmtes wäre das Bewußtsein eine Sache, ein Unbewußtes 94 . Dagegen haben wir es mit einem einheitlichen unteilbaren Sein zu tun, bei dem weder cogito nodi präreflexives cogito Vorrang haben, wenn es audi in der phänomenologischen Formulierung als eine unsymmetrische Zweiheit auftritt. Das Bewußtsein ist ein Sein, dem es eigen ist, sich zu erscheinen. Das Bewußtsein ist Existenz, sowohl in Anlehnung an die existenzphilosophische Prägung des Subjektbegriffs als audi in einem strikten Sinne, wie wir oben bei der Ablehnung des Substanzbegrifis sahen. Entsprechend ist auch ein Werden, ein Ubergang von Potenz zu Akt nicht denkbar. Das Bewußtsein kann sich nicht vorhergehen. Potenz könnte ja nur heißen, daß eine Bedingung nodi fehlt, die f ü r das Bewußtsein Bedingung ist. Was da vorherginge, wäre ontologisch etwas grundsätzlich anderes und also nicht Potenz von Bewußtsein. Das Bewußtsein existiert nur als diese doppelte Bedingung, oder es ist nicht. Indem es ist, ist es „ein Plenum an Existenz" 85 . Es ist durch sich selbst bestimmt, indem es beide Bedingungen beisteuert. Indem sich nichts anderes an ihm beteiligen kann, existiert es „durch sich selbst" 88 . Es ist „kein Resultat logischer Konstruktion . . . , sondern Subjekt der konkretesten Erfahrung. U n d es ist nicht relativ auf Erfahrung, denn es ,ist' Erfahrung 8 7 ". Dabei ist es „pure Erscheinung, ein völlig Leeres (denn die ganze Welt ist außerhalb seiner)" 88 . M

E N 21: „existence de p a r t en p a r t " .

84

Vgl. „L'imaginaire" 41 u n d die Diskussion von „ m o t i f " u n d „mobile" E N 522 ff. — Wie wir sehen, folgt die These der Bewußtheit aus der Einheit des Subjekts. Sartre steht d a m i t in Gegensatz zu all den Auffassungen, die einen U b e r g a n g von U n b e w u ß t e m zu Bewußtem annehmen, also zur Psychologie, zur Psychoanalyse und zu vielen Philosophemen (z. B. Spinoza, Leibniz, alle Emergenzlehren u n d epiphänomenalistische Theorien). Sartres These ist, d a ß sich ein Übergang vom U n b e w u ß t e n z u m Bewußten nicht verstehen l ä ß t . Die einzige Beziehung, in die das Bewußtsein eintreten k a n n , ist, d a ß etwas „ f ü r " es ist. -

85

E N 22: „un plein d'existence".

«· ebda. 87

E N 23. Sartre v e r w e n d e t den Begriff „conscience" auch f ü r das k o n k r e t e einzelne Erlebnis. Vgl. „L'imaginaire" 11. Wir stoßen hier auf das Problem des Verhältnisses von apriorischer S t r u k t u r u n d faktischem Bewußtsein.

89

ebda.

29

Sartres Begriff der Existenz in seiner existenzphilosophischen P r ä gung stützt sich auf Heidegger. Wie Heidegger will Sartre sagen, daß es dem menschlichen Dasein „um sein Sein gehe". Diese Charakteristik, seine „Existenzialität", das Vorhergehen der Existenz, steht in Gegensatz zu seinem „ W a s - S e i n " als dem, worauf es sich zur Ermöglichung seines Seins entwirft. D e r Mensch ist nicht „einzelnes E x e m p l a r einer abstrakten Möglichkeit" 8 9 , die vorherginge. Diese Fassung des B e w u ß t seins bedeutet gleichsam die Umkehrung der Sachlage beim Phänomen: das Phänomen war „ein Sein, dessen Essenz die Existenz impliziert"; das Bewußtsein ist „ein Sein, dessen Existenz die Essenz setzt" 8 0 . Sicherlich erfüllt das Bewußtsein als Einheit von cogito und präreflexivem cogito noch nicht den existenzphilosophischen Begriff der E x i stenz. D e r Gedanke ist eine Vorwegnahme. Die Möglichkeit einer Ausweitung ist aber in den oben gegebenen ontologischen Bestimmungen schon angelegt. Die definitive Deutung des menschlichen Daseins als F ü r sichsein umgreift den Gedanken des seiner selbst bewußten cogito und der Existenz". 5. D I E

IDEE

EINER

ONTOLOGISCH

FUNDIERTEN

PHÄNOMENOLOGIE

Überschauen wir die bisherige Untersuchung! W i r sagten, Sartre sei von einer vorgefundenen wissenschaftlichen Ausgangsposition, der der Phänomenologie, bestimmt. W i r sehen jetzt, wie weit die Phänomenologie für Sartre maßgebend bleibt. Ihn überzeugt an ihr der Ausgang vom cogito und den Phänomenen; es gibt als meine Gegenstände nur Phänomene. D a s Phänomen ist aber in seinem ontologischen Status suspekt, zumal es bei Husserl auf etwas Irreelles reduziert ist und schließlich zur Leistung des Bewußtseins wird. Sartre findet, daß das Phänomen nicht in der Irrealität verbleiben kann, sondern auf ein Sein gestützt werden muß. E r glaubt, einen „ontologischen Beweis" geben zu können. Sartres K r i t i k an der Phänomenologie ist eine K r i t i k an der bloßen O b j e k t i v i t ä t der Phänomene. Z w a r ist, indem ein objektiver Erfahrungszusammenhang hergestellt ist, Transzendentes für die natürliche Einstellung bei Husserl gesichert, wenn auch nicht im einzelnen F a l l ; für Sartre soll jedoch das einzelne P h ä n o 88

E N 21.

91

T r o t z der von M a x Müller geltend gemachten Unterschiede besteht für uns in Sartres Fassung der Existenz durdiaus eine starke Übereinstimmung mit der in „Sein und Z e i t " (vgl. M a x Müller, „Existenzphilosophie im geistigen Leben der G e g e n w a r t " ) . Es ist klar, daß Sartre nicht von einem Verständnis der Existenz als Ek-sistenz bestimmt ist, das Heidegger (und M a x Müller) schon dem in dem frühen W e r k enthaltenen Begriff untergelegt haben. Sartre hat nichts gemeinsam mit Heideggers Hinwendung zum Sein in der „ K e h r e " . U n d es ist nur verständlich, daß sowohl die übergreifende Orientierung beider D e n k e r als audi das weltanschauliche Pathos völlig verschieden sein müssen, bei Sartre die endlich-absolute Freiheit, bei Heidegger der „Seinsgehorsam".

30

90

E N 29.

men gestützt sein durdi ein „ S e i n " . D a m i t tritt ein ontologisdier Gesichtspunkt in die Phänomenologie ein als verschieden von dem einer Ontologie des Subjekts, den man Husserl zuerkennen könnte. Sartres A b w a n d l u n g des phänomenologischen BewußtseinsbegrifFs liegt in der Einführung der Einheit von cogito und präreflexivem cogito und ihrer ontologischen Deutung als strukturierter Seinstyp. A u f G r u n d der „Realisierung" des Phänomens steht das Bewußtsein dem Ansichsein als dem andern Seinstyp gegenüber. Wit haben eine Einteilung des Seienden nach zwei T y p e n des Seins, von denen der eine, das Bewußtsein, auf den anderen, das Ansidisein, bezogen ist. Die Intention ist ein Seinsverhältnis. Wenn wir in unserer Untersuchung hier eine Zäsur machen, so deshalb, weil wir in dem bisher Dargestellten eine „mögliche" Position, die einer „ontologisdi fundierten" Phänomenologie, erblicken' 2 . Hierunter verstehen wir eine philosophische Position, die Erkenntnisse einer deskriptiven Phänomenologie — etwa die Lehre vom Phänomen, von transzendierenden Akten, vom Zeitbewußtsein — aufnimmt, aber die „Enthaltung" der Husserlschen Phänomenologie ablehnt und damit Subjekt und Gegenstand als T y p e n des Seins betrachtet. Die Beziehung des Subjekts zum Seienden ist positiver A k t . Freilich fehlt auf dieser Ebene bei Sartre eine „positive" Ontologie, die zeigt, wie diese Beziehung in einem übergreifenden Sein gegründet ist. D a s große Thema des Negativen, von dem her Sartre das Problem der Beziehung lösen wird, ist noch nicht im Blick, außer in der Andeutung, daß das Bewußtsein alles Sein von sich ausschließe. Die skizzierte Position Sartres lehnt wesentliche Ziele der Husserlschen Phänomenologie ab. Schon die erste methodische Maßnahme, Erlebnisse und intentionale Gegenstände als „ i n " diesen liegende oder bei Enthaltung von der naiven Setzung vorfindliche zu beschreiben — eine Methode, die schon in den „Logischen Untersuchungen" angewandt, und dann in den „ I d e e n " ausgebaut wird — macht Sartre nicht mit. Sartres A u f f a s s u n g vom Bewußtsein führt zu einer radikaleren Deskription der natürlichen Einstellung; die Immanenzsphäre ist nur eine der Bewußtheit und nicht der Inhalte, es sei denn als reflektierter. Sartre teilt nicht die theoretischen Ziele Husserls, eine Beschreibung der „Leistungen"" 3 der Subjektivität und damit eine Begründung der Wissenschaft zu geben. Für Husserl soll das, was uns fraglose Erfahrung ist, einsichtig werden als Leistung der Subjektivität gerade so, wie es uns gegeben ist. • 8 Wir finden - wenn auch sehr andersartige - Versuche in dieser Richtung bei Scheler („Philosophische Weltanschauung") und bei N . H a r t m a n n („Metaphysik der Erkenntnis", „Zur Grundlegung der Ontologie"). M

So findet sich keine ausgeführte Theorie der kategorialen Anschauung — allerdings ein Hinweis etwa im Beispiel vom Zählen E N 19 f. - und keine eingehende Behandlung des Aprioriproblems.

31

Die Erfahrung wird zunächst auf die Subjektivität reduziert, um dann wieder aufgebaut, als „verstanden" betrachtet zu werden. Dies Verfahren setzt voraus, daß die Evidenzen auf der Ebene des transzendentalen und reinen Egos denen der konkreten Erfahrung überlegen sind und daß in der Rückkehr zur Erfahrung diese in ihrer Rationalität aufgewiesen ist. Daß diese Erkenntnis der transzendentalen Dimension nicht fiktiv ist, liegt für Husserl darin, daß er glaubt, diese Dimension beschreiben zu können in der Reflexion. Gegenüber Husserls Streben nach Rechtfertigung und Begründung der Erfahrung bedeutet Sartres Philosophie, soweit sie Phänomenologie isc, Deskription und Sinnauslegung, wie dies auch in Heideggers „Sein und Zeit" der Fall ist. Sartres Phänomenologie nimmt die ganze Weite der Heideggerschen Beschreibungen in sich auf, ja treibt sie vielfach noch wesentlich weiter. Die Deskription verbindet sich mit einem konstruktiven Motiv — wir haben eine „Struktur", den Zirkel von cogito und präreflexivem cogito bereits kennengelernt —, das in Sartres Ontologie in den Vordergrund rücken wird.

32

II. DAS A N S I C H S E I N Die Voruntersuchung, die die Gewinnung der ontologischen Ebene darlegt, ging von der Intentionalität, der Gegebenheit von Phänomenen für ein Subjekt, aus. Für diese beiden, Phänomen und Subjekt, gewinnt die Einleitung ein „Sein". Die Einteilung des Seienden, die sich damit ergeben hat, ist also die von Subjekt-Sein und Sein des Phänomens. Die Sartresche Ontologie gründet auf dieser Disjunktion; sie ist eine Ontologie der Intentionalität. Sie hat damit audi die Beziehung zwischen den Gliedern der Disjunktion zu erhellen, denn Seiendes des einen Typs, das Subjekt, ist selbst Beziehung auf den andern, das Sein des Phänomens. Aber ebenso verlangt sie eine Explikation dieses dem Subjekt gegenüberstehenden Seins. Die Sartresche Ontologie behandelt im wesentlichen nur diese zwei Themen. Die klassischen kategorialen Titel Substanz, Qualität, Relation, Raum und Zeit fallen auf die Seite des Seins, sie sind aber Phänomenkategorien; die Relation als Negation verstanden ist jedoch primär Prinzip des Subjekts. Die Kategorienlehre tritt bei Sartre völlig zurück gegenüber der genannten Grundeinteilung. Wenn wir im folgenden mit dem Ansichsein beginnen, so werden wir dies nicht ohne einen Vorgriff auf das Fürsichsein tun können. Die Darstellung muß einen Kompromiß finden zwischen der engen Zusammengehörigkeit der beiden Seinstypen und der isolierten Behandlung eines jeden für sich. Wir haben das Sein des Phänomens schon vorwegnehmend „Ansichsein" genannt. Diese Bezeichnung ist aber noch nicht terminologisch. Sie hat erst den Charakter der Abweisung einer Relativität auf das Subjekt. Das Sein des Phänomens ist dessen „Grundlage"; wir charakterisierten es als selbständiges Daseinsmoment. Es „ist", auch wenn sich kein Phänomen zeigt. Für eine Erhellung dessen, was das Sein des Phänomens ist, stützt sich Sartre auf den Gedanken einer Sinnauslegung des Seinsphänomens. Die Auslegung führt allerdings auf etwas ganz anderes als etwa Heideggers Hermeneutik. Es wird nur ein „transzendentaler" Sinn erschlossen, kein material-inhaltlicher. Das Sein wird nicht zur mystischen Instanz — mit analogen Prädikaten wie Geschick, Mögendes, Lichtung usw. —, wenn auch ein so verstandenes Sein Thema der Metaphysik sein mag, die Sartre ja nicht ausschließt. Vielmehr treffen wir auf eine formale Explikation, an die sich einige weitere ontologische und einige bildliche Bestimmungen knüpfen. Die letzteren sind jedoch nur Verbildlichungen von etwas Formalem. 33

Die Charakteristika des Seins faßt Sartre in drei Formeln zusammen: „Das Sein ist es selbst", oder, „das Sein ist an sich"; „das Sein ist, was es ist"; und, „das Ansichsein ist"1. Die erste Formel — „das Sein ist es selbst", oder, „es ist an sidi" — stellt den Gegensatz zum Geschaffen sein heraus, das Sartre ablehnt 2 , und wird dahingehend kommentiert, daß Aktivität und Passivität, Affirmation und Negation vom Sein ausgeschlossen seien. Die genannten Begriffe sind nicht absolute Charaktere: Aktivität und Passivität setzen schon menschliche Verhaltensweisen voraus — der Mensch ist aktiv, indem er sich durch ein Mittel, das damit passiv ist, auf einen Zweck bezieht —; Affirmation und Negation verlangen einen Akt, der etwas von sich scheidet. Beides, Akt und Affirmiertes bzw. Negiertes, bewahren einen Unterschied, andernfalls heben sie sich auf. Das Gegenteil ist beim Ansichsein der Fall: „es ist nicht Bezug zu sich, es ist nur ,sich selbst' (soi)." Aber auch diese Formulierung ist nur approximativ; das Ansich liegt eigentlich „über das ,sich' hinaus". Im Wort „Ansich" und noch im französischen „soi" (es selbst) ist eine Reflexivität mitgedacht, die sprachlich bedingt ist. Das Sein ist Grenzbegriff eines Bezuges zu sich, und nicht nur eines Bezuges, sondern einer „Unendlichkeit von Bezügen der Selbstaffirmation". Es ist „mit sich selbst erfüllt" und somit „sich undurchsichtig" 3 . Ein anderer Ausdruck d a f ü r ist „massiv" 4 . Dies nimmt die zweite Formel — „das Sein ist, was es ist" — auf, wenn sie dies Zusammenfallen mit sich als Identität faßt. Wenn die Synthese des Ansich so innig ist, daß wir es als undifferenziert, unstrukturiert anzusehen haben, so hat es kein Innen und Außen und unterhält „keinen Bezug zu etwas, das es nicht ist"; einmal in dem engeren Sinn eines Bezuges zu etwas, das es erst sein wird oder war, d. h. eines negativen Bezuges zu sich selbst, und dann allgemein zu anderem. „Es kann nicht ,nicht' das andere sein, das es nicht ist", „es setzt sich nicht als anderes eines anderen Seins". Es „erschöpft sich darin, zu sein". Wegen dieser Beziehungslosigkeit ist es nicht zeitlich. „Wenn es zusammenstürzt', kann man nicht einmal sagen, es sei ,nicht mehr'", ohne ein Bewußtsein als Zeugen vorauszusetzen. Es fehlt nicht dort, wo es war. „Es w a r und jetzt ist anderes (autres êtres) 5 ." Das Ansich ist Identisches gerade, weil es nur ist, was es ist, und keine Beziehung zu anderem hat. Der Identitätssatz, der so dem Ansichsein zuerkannt ist, gilt bei Sartre nicht f ü r das Fürsichsein, und wird so zu einem synthetischen, kontingenten Prinzip des Ansichseins. Die dritte Formel — „das Ansichsein ist" — besagt, daß das Ansichsein in eignem Recht ist und „nicht von Möglichem abgeleitet oder auf 1

E N 32—34. „L'être est soi", „l'être est en soi"; „l'être est ce qu'il est"; „l'êtreen-soi est".

2

E N 31 f.

34

3

E N 32 f.

4

E N 33.

5

E N 33 f.

Notwendiges zurückgeführt" werden kann. Es ist kontingent, anthropomorph gesprochen „überzählig" (de trop)'. Das so gekennzeichnete Sein erinnert bis in einzelne Bestimmungen an das parmenideische Sein. Auch dieses ist ein Identisches und Massives, ein Unentstandenes, keiner Notwendigkeit Gehorchendes und Unbedürftiges und damit Unbezügliches'. Seine Kontinuierlichkeit hat bei Sartre die Entsprechung, daß das Ansich „überall" ist®. Aber der Gegensatz zum parmenideischen Sein ist ein anderer als der zu Sartres Ansichsein. Setzt Parmenides das Sein dem natürlichen Werden und Vergehen und dem Schein entgegen, so sind Sartres Bestimmungen des Seins geleitet vom Fürsichsein als Gegenbegrifi, aus einem logischen Verständnis heraus, wie Hegel es in seiner Logik eröffnet. Als Identisches ist Sartres Ansich Gegensatz zum Fürsichsein als einem durch ein Anderes Vermittelten, dem zwar Hegel die „wahre" Identität zuerkennt, nicht jedoch Sartre'. Dem Ansich fehlt so diejenige Identität, die im Nidit-ein Anderes-Sein liegt. Sartres Identität ist nicht einmal „abstrakte Identität", durch ein „relatives Negieren entstanden, das außerhalb ihrer vorgegangen wäre"10. Es ist in ihr keine Bestimmtheit gesetzt. Indem das Ansich kein Anderssein beinhaltet, ist es nicht bedingt oder begründet11, denn hierin läge ein Anderssein im Rahmen einer zugrunde liegenden Identität. Das Ansich ist nicht durch Ineinssetzung mit einem Grund ohne Grund, denn dann wäre es Absolutes, Fürsichsein, sondern wegen des Fehlens des Andersseins. Es ist das unmittelbar Grundlose. Es ist wie Hegels unmittelbares Sein nodi vor allen reflektierenden Bestimmungen. Die Grundlosigkeit ist daher audi nicht ein Nicht-(oder Anders-)SeinKönnen. Möglichkeit muß ganz vom Ansich ferngehalten werden. Das Ansich als kontingentes ist nicht das Bedingte, sondern das Nicht-Bedingte, aber nicht das Unbedingte. Es ist das Grundlose. Es tritt in keine Reflexion ein — wenn wir nicht das Fürsichsein als Reflexion des Ansich betrachten —, sondern ist fixiert als kontingentes Ansidi. Ist aber das Ansich mit diesen abstrakten Bestimmungen nicht selbst zu einem abstrakten geworden? Ist es nicht Hegels unmittelbares Sein? « E N 34. 7

Diels, Fragmente der Vorsokratiker, Parmenides-Fragment 7, 8 : ταΰτω; όγκω; αναρχον; τί . . . χρέος ώρσεν; ούκ έ.ιιδέες; συνεχές.

8

Ε Ν 2 7 0 : „l'être est p a r t o u t " .

ταύτόν τ ' έν

» Vgl. E N 116. 10

Hegel, Logik I I , 30. — Wenn das Prinzip der Identität für Sartre, wie wir oben sahen, synthetisch ist, so heißt das, daß es eine Seinsregion gibt, wo es nicht gilt, daß es also „ i n f o r m a t i v " ist. Für Hegel ist der Satz der Identität „synthetischer N a t u r " , denn er enthält „die Reflexionsbewegung, die Identität als Verschwinden des Andersseins" (Logik I I , 37).

11

E N 3 4 · „sans raison d'etre".

35

Sartre wendet sich ausdrücklich gegen ein abstraktes Verständnis des Ansich. Es verhalte sich nicht zum Phänomen wie das Abstrakte zum K o n kreten 12 . Seine Kritik wendet sich gerade gegen Hegels abstraktes Sein. Bei Hegel sei es eine „Bedeutung des Seienden", das Sein sei aber nicht „Moment des Gegenstandes" oder eine seiner Strukturen, sondern die „Grundlage, auf der sich die Charaktere des Phänomens manifestieren"". Was Sartre ablehnt, ist — wie wir Hegelisch sagen könnten — die „Einbildung der Negation in das Sein" 1 4 . E r meint, die Negation müsse einen „ K e r n " des Seins unangetastet lassen; das Sein „ist", das Nichts „ist nicht" 15 . Hegel versteht Sartre so, daß Sein und Nichts gleichursprüngliche konträre Gegensätze seien, aber das Nichtsein sei kontradiktorischer Gegensatz zum Sein, der damit dem Sein (als Positivem) nachgeordnet sei 1 '. D a s Nichtsein setze eine „ H a n d l u n g des Geistes" voraus. N u n geht auch bei Hegel das Sein voraus, aber der Übergang vom Sein zum Nichts ist für Sartre bei Hegel nur möglich, weil das Nichts schon im Ausgangspunkt, dem Sein, angelegt ist 17 . Hierin liegt der Vorwurf der Trivialität und des, von Sartres Standpunkt aus gesehen, Unrechtmäßigen, denn man könne das Sein nicht dazu bringen, daß es „nicht sei" 1 ". Sartre sieht in seiner Kritik nicht, was Hegel sagen will. Denn das reine, unmittelbare, positive Sein erweist sich ja für ein Denken, das die Logik denkt, als Nichts, also doch das, was Sartre in seiner Kritik fordert. N u r daß die Logik dann dem Denken folgt und die Bestimmungen aufstellt, die sich aus dem gegenseitigen Übergegangensein von Sein und Nichts ergeben, Werden und dann Dasein, Bestimmungen, in denen das Sein bewahrt ist. Auch für Hegel hat das Sein Vorrang, gehorcht einer „Prävalenz des Positiven" 1 8 . Sartre denkt das Sein nach einer andern „ L o g i k " : eine „Einbildung der N e g a t i o n " in es findet nicht statt; dies w ä r e nur eine Vermittlung im Denken. D a s Sein ist Grundlage für eine Negation „ a n " ihm 20 . Sartre faßt das Problem vom Subjekt-Objekt-Gegensatz aus. N u r das Fürsichsein ist eine Einheit von Sein und Nichts; es ist also — vorbehaltlich einer näheren Betrachtung — in der T a t eine Einbildung der N e g a tion in das Sein, die einzige, die Sartre kennt. Kehren wir zurück zum Ansichsein. Sartre lehnt Hegels Übergang zum bestimmten Sein ab, wie wir gesehen haben. D a m i t behält er selbst aber ein nur durch Identität und Kontingenz bestimmtes Sein übrig. Inwiefern ist es nicht das abstrakte Sein Hegels? Hegels Sein ist verstanden 12

E N 49.

13

ebda.

14

15

E N 50 f.

18

E N 50.

" ebda.

Hegel, Logik I, 174 (im Plural). 18

ebda.

'» Der Ausdrude bei Jonas Cohn, „Theorie der Dialektik", 159. Vgl. E N 52: „préséance logique"; ebda, „postériorité du néant". Vgl. E N 52: „il n'y a de non-être qu'à la surface de l'être".

36

als Denkbestimmung", es ist der erste Begriff der Logik. Dies Sein bestimmt sich in der Denkbewegung der Logik zu Wesen und Begriff, und über die Logik hinaus ist es als N a t u r und Geist nochmals näherbestimmt. „Sein" bei Hegel ist also abstrakt nur als „noch nicht" an ihm selbst bestimmt. Das Eingehen in Bestimmung gehört mit zu ihm, nicht ist „Sein" selbst abstrakt. Das Verhältnis kehrt sich also um: Sartres Sein ist nur abstrakt zu denken im Gegensatz zu Hegels sich bestimmendem Sein. Sartre muß das Sein abstrakt denken, da es sich nicht selbst bestimmt. Er meint ein seiendes Sein. Für ein solches Sein kann es keine Bestimmung durch ein Nichts geben, denn das Nichts ist nicht. Indem Sein ist, gibt es noch nicht eine Opposition zu einem Nichts. Soll es Bestimmung des Seins durch Negation geben — dies wird gewissermaßen nur Bestimmung „an" ihm sein —, so muß das Nichts erst „auftauchen". Diese Möglichkeit der Bestimmung des Ansichseins ist f ü r Sartre die Opposition von Subjekt und Objekt; das Fürsichsein ist das Nichts des Seins22. Das Fürsichsein ist die einzige Opposition zum Ansichsein; sie ist damit eine unmittelbare. In ihr ist das Subjekt mit der ganzen Bestimmtheit des Objekts konfrontiert 2 ®. Es ist kein Raum für eine stufenweise Bestimmung des Seins wie bei Hegel. Das Ansich muß selbst Fülle24 sein, um sich schon in der Negation des Fürsichseins als voll bestimmt zu erweisen. Knüpfen wir die Bestimmtheit an die Negation, so ist das Ansichsein allerdings nicht bestimmt, aber es „ist" dennoch all das, was es unter dem Blick der Negation ist. Formal ist diese Fülle, die Simultaneität des ungeschiedenen Inhalts, nicht faßbar. Das Ansichsein enthält keine es zu endlichem, bestimmtem Seienden machenden Prinzipien wie Essenz und Existenz. So erschien es uns oben als bloßes Daseinsmoment. In seiner formalen Fassung reduziert es sich auf Hegels unmittelbares Sein. Das Subjekt seinerseits erscheint formal als Nichts, so daß die Opposition von Subjekt und O b jekt mit dem A n f a n g der Hegeischen Logik zusammenfällt und dort stehen bleibt. Durch sein „Seiendsein" im Gegensatz zum bloßen Gedachtsein tritt es aber voll bestimmt vor die Negation des Subjekts. Beim 21

N u r so ist es verständlich, d a ß Hegel das Sein als Ausgangsbegriff der Logik an die Phänomenologie anschließt, an deren E n d e das reine Wissen in die Einheit von Gegenstand u n d Gewißheit zusammengegangen ist, Unterschiedsloses, U n m i t t e l barkeit ist, „in ihrem w a h r e n Ausdrucke . . . das reine Sein" (Logik I, 62).

22

Für das Verhältnis von Fürsichsein u n d Nichts siehe Abschnitt IV, 1.

23

Vgl. allerdings die Differenzierung in „ G r u n d b e z u g " und „konkrete Abschnitt IV, 4.

24

„plenitude" im doppelten Sinn von „Vollscin" (als Gegensatz zu „decompression" E N 32) und von übergegensätzlicher Bestimmung ( „ G r u n d aller Enthüllung" E N 15; das Fürsich (als N e g a t i o n ) „ f ü g t zum Ansichsein nichts h i n z u " F.N 269).

Negation",

37

Subjekt wird Sartre die formale Analyse weitertreiben können, beim Ansich nicht. Es ist Sein des Phänomens. W i r können das Ansichsein des Seins noch einmal von Hegel her beleuchten. Ansichsein impliziert in seinem Begriff schon eine Negation. D a s Zu-Ende-Denken der Unbestimmtheit des reinen Seins ist schon dessen Betroffensein vom Entgegengesetzten, vom bestimmten Sein. „Seine Unbestimmtheit macht seine Qualität aus" 2 5 , es ist bestimmtes Sein, D a sein, Ansichsein. Bei Sartre ist das denkende „Realisieren" der U n b e stimmtheit nicht, wie bei Hegel, schon sein Fortgeschrittensein zu bestimmtem Sein; es bleibt dem Bestimmten gegenüber neutral, erweist sich aber im Bestimmten schon selbst als Nicht-Unbestimmtheit, sondern als Fülle. Es ist bestimmtes Seiendes „ f ü r " ein Subjekt 2 ". Außerhalb dieser R e l a t i v i t ä t , die es zum Phänomen macht, ist es als Ansichsein unbezüglich fixiert. Die „ L a t e n z " des Inhalts im Ansichsein und die Unmittelbarkeit, mit der es dem Fürsich als Negation konfrontiert ist, wirft ein Licht auf das Verhältnis von Sein und Phänomen. D a s Ansichsein ist gleichsam das subsistierende Sein, der Grund für das endliche Seiende, aber es ist unmittelbar zum Phänomen, nicht durch Seinsprinzipien vermittelt. Ist das subsistierende Sein nur dasjenige, an dem das endliche Seiende teilhat oder aus dem es hervorgeht, während es selbst in eine Einfachheit entrückt zu denken ist, so ist das Sartresche Ansichsein das Zusammenbestehen der Inhalte als ungeschiedener. D i e Qualität rückt so in ein engeres Verhältnis zu ihm. D a s Sein ist zwar nicht „an sich" Qualität, ist aber audi „nicht mehr und nicht weniger als Q u a l i t ä t " . „Die Qualität ist das Sein als Ganzes, das sich in den Grenzen des ,es gibt' enthüllt." „ D a m i t es Qualität ,gibt', muß es einfach Sein für ein Nichts [ B e w u ß t sein] geben, das von sich aus nicht das Sein ist". D a s Bewußtsein bringt aber die Qualität nicht hervor, es erschließt, indem es sich auf ein „Dies" 25

Hegel, Logik I , 77.

28

Dies wäre ein „Realisieren" als konkrete intentionale Beziehung. S o sagt S a r t r e : „connaître, c'est réaliser aux deux sens du terme" ( E N 2 2 8 ) . „Le réel (d. h. die Phänomene) est réalisation" (ebda.).

27

W i r finden Analogien ζ. Β . bei Bergson im Verhältnis von élan vital und F i x i e r tem (Materie und Form), bei Whitehead in seiner frühen Naturphilosophie im V e r hältnis von „event" und „object" (vgl. „The C o n c e p t o f N a t u r e " ) und schließlich sogar bei Wittgensein, wo Elementarsätze sich nicht widersprechen; N e g a t i o n und alle anderen Wahrheitsfunktionen werden erst durch unsere Operationen an den Elementarsätzen eingeführt ( „ T r a c t a t u s " 4 . 2 1 1 ; 5 . 2 ; 5 . 2 1 ; 5 . 2 3 4 1 ) .

28

E N 2 3 6 . — So sagt Thyssen (in „Realismus und moderne Philosophie" 1 2 6 ) : „ D a ß nicht echte Getrennte da sind, bedeutet, wie bei Leibniz, daß der gesamte Weltbestand, soweit er mir jemals soll begegnen können, von vornherein in meiner Reichweite liegt (z. B. wenn idi zum erstenmal die W o l k e n k r a t z e r von N e w Y o r k erblicke, ist das nicht ein mir von diesen als selbständigen Realitäten her K u n d gegebenes, sondern es gehört zu dem mir verfügbaren Ansich, das ich dann als diese O b j e k t e bewußt mache)".

38

richtet, eine bestimmte Ganzheit sich durchdringender Qualitäten. Es „versammelt" sie gewissermaßen. Das Qualitative ist also ein ungeschiedener Bestand des Seins, wenn auch die Qualität als bestimmte, als Q u a lität von . . u n s e r e Einheits- und Diskretsetzung voraussetzt. Das Phänomen ist somit inhaltlich an das Ansich geknüpft. Aber die Schwierigkeiten des Sartreschen Gedankens, das Sein als Identisches und als ungeschiedene inhaltliche Fülle zu betrachten, tritt sofort hervor, wenn wir bedenken, daß nicht überall dieselben Qualitäten erscheinen. Wir können die Vorfindlichkeit bestimmter Qualitäten und Diskreta nicht auf unsere bloße Negation zurückführen. Diskretheit muß irgendwie im Ansichsein angelegt sein. Das Phänomen ist durch seine inhaltliche Verknüpfung an das Ansichsein herangerückt. Es ist diskretes Ansich-Ding (chose) durch seine Gegenstellung zum Fürsichsein. Sein Ansichsein ist seine Realität und seine „Seinsweise" als „massiv". Es ist Nicht-Fürsich. Es hat Identität. Ansich-Dinge sind f ü r Sartre durch „externe" Negation mit anderen verbunden; wir könnten auch sagen: durch ein unwesentliches Andersein. So ist eine Mondsichel ein volles Ansich, sofern nicht ein menschliches Dasein sie vom vollen Mond her als unvollständig versteht. Als solche ist die Mondsichel vollständig, ist, was sie ist. Nicht ist sie, was sie ist, erst vom vollen Mond her, zu dem das Bewußtsein die Beziehung erst herstellen muß 29 . Aber sie ist etwas anderes „nicht". Hier tut sich die ganze Sphäre des Diskreten auf, dessen Diskretheit nicht auf unsere bloße Negation gegründet werden kann. Können wir aber sagen, daß das Ansich, das uns nach den obigen Überlegungen als das Nicht-Diskrete galt, die Diskretheit als solche fundiert? Dieser Gedanke liegt in Sartres These, daß das Ansichsein aufhören kann, daß es zerstörbar ist, überhaupt allgemein, daß etwas vom Sein „herkommt" 30 . Ein Naturereignis, ein Erdbeben ζ. B. bringt etwas in unsere Phänomenwelt hinein, es fundiert die diskrete Erscheinung als diskrete. Es gibt also folgende vier Fälle: 1) ein paradoxes Ansichsein, in dem Bestimmtheit ungeschieden als Fülle vorhanden ist; 2) ein Ansichsein, das Veränderungen unserer Welt fundiert und somit als Fundierung der Diskretheit, nicht nur der qualitativen Inhalte, anzusehen ist; 3) ein Ansichsein, in dem es für die Wissenschaft, d. h. „objektiv" und „in Wahrheit", Diskretheit, O r t und Zeitstelle gibt; und 4) ein Ansich als Phänomen f ü r mich als konkretes Bewußtsein. 29

E N 129 f. Vgl. E N 239.

50

E N 257: „Mais précisément quelque chose vient de l'être: ce que nous appellerons, f a u t e de mieux, abolitions et apparitions". Solches Erscheinen und Verschwinden ist f ü r Sartre ein T h e m a der Metaphysik. Dieselbe Schwierigkeit besteht in der T a t f ü r jede Bewegung. Vgl. E N 260-5. Metaphysisch ist auch das Auftauchen des A n d e r n f ü r mich und die P l u r a l i t ä t von Andern ( E N 358). Siehe unten S. 100 und Abschnitt VI, 5.

39

Die verschiedenen Fälle sind vereinbar von dem Gesichtspunkt aus, daß „für" ein Ansich Anderssein nicht ist. Sartre sieht das Ansich von seiner Struktur her: es hat keine für es konstitutive Beziehung, keine „Seinsbeziehung" zu anderem, es ist neutral gegen den Unterschied von Ansichseiendem und Ansichsein. Pluralität ist nur uneigentlich von ihm auszusagen31. Von uns aus gesehen ist das Ansichsein bestimmt, diskret, aber das Diskrete hat eine konstitutive Beziehung zu anderem Diskretem nur in bezug auf uns. Dem Ansichseienden qua Ansichsein ist sie extern. Die Formulierung des Ansichseins als Identischen ist wiederum neutral gegen Ansichsein und Ansichseiendes: sie kann stehen für die Sich-Selbst-Gleichheit des Ansichseins (obwohl in ihm eigentlich gar kein „was es ist" vorhanden ist), für ein uneigentlich verstandenes Ansichsciendes und für das Ansichseiende für uns, das Phänomen. Die Frage nach dem, was an sich ist, wird abgewiesen zugunsten der Frage, wie das Ansich ist. Und diese Frage wird formal im Sinne einer Seinsweise beantwortet. Wenn das Ansichsein Veränderungen in unserer Welt und allgemein ihre Diskretheit fundiert, dann wollen wir Diskretheit, Stelle und Bestimmtheit von Ansichseienden im Ansichsein setzen. Die Formulierung des Ansichseins als das, was ist, was es ist, scheint zu gestatten, ein „Was" in ihm anzunehmen, aber die Identität ist gedacht als ein Nicht-für-ein-Anderes-Sein, das Was ist ungeschieden von anderem Was, und die Diskretheit, die Basis für eine Stelle und Bedingung für ein Was, ist wieder verloren. Sowie wir andrerseits die Diskretheit ins Ansichsein setzen, ist die Negation nicht mehr auf das Subjekt zurückzuführen, die Umdeutung der Hegeischen Opposition von Sein und Nichts in Sein und Subjekt ist durchbrochen. Genau wie Hegel will Sartre sagen, das Unmittelbare sei das Ungeschiedene, das sich erst durch Negation expliziert. Auch bei Hegel ist der Unterschied im Unmittelbaren nicht „nicht", sondern er ist „an sich", um dann expliziert zu werden. Er „manifestiert" sich erst in der Negation. Da nun aber Sartre von einem „seienden", von Negation nicht zu tangierenden, Sein ausgeht, ist die Frage der „Latenz" von Inhalten eine Frage, die nicht das Auftreten von kategorialen Bestimmungen in einer Dialektik des Denkens betrifft, sondern das, was das Sein an sich, von sich aus, ist. In diesem Konflikt zweier Denkweisen, einer dialektisch-logischen und einer realistisch-ontologischen, rückt Sartres Ansichsein in die Nähe des Kantschen Dings an sich, das ähnlich in einem Konflikt zwischen subjektiver Bestimmung und realem Bestand steht. Der Unterschied zwischen Sartres Ansichsein und Kants Ding an sich 31

40

So spricht S a r t r e selbst vom Sein außerhalb der Beziehung zu uns im P l u r a l : „Mais lui-même (l'être) n'existe pas comme un manque là où il é t a i t : la pleine positivité d'être s'est reformée sur son effondrement. Il était et à présent d'autres êtres sont: voilà tout." E N 34. Vgl. die p a r a d o x e Unklarheit E N 712, wo das einzelne Ansich gegen ein allgemeines Sein gestellt wird.

liegt darin, daß K a n t dessen Opposition zu uns nicht nur „logisch" denkt; seine Beziehung zur Erscheinung ist durch die AfTektion des Subjekts umschrieben. Dadurch ist die Identität von Ding an sich und Erscheinung in Frage gestellt. Sartres Ansichsein ist nur durch Negation vom Phänomen getrennt, die als Explikation verstanden ist; das Phänomen behält seine Identität mit dem Ansich. D a s Subjekt „ f ü g t nichts hinzu" 3 2 . Die U n sicherheit K a n t s in der Frage, ob das Ding an sich plural ist oder nicht, zeigt das Problem in derselben Radikalität; sie entspricht der Tatsache, daß die Negation eine Kategorie des Subjekts ist. D i e Diskretheit ist also im Grunde auf das Subjekt zurückzuführen, und doch ist das Ding an sich der reale Bestand alles Diskreten. Wie K a n t wird Sartre zu einer Urteilsenthaltung geführt hinsichtlich der Frage, was das Ansich sei. Aber sie gehört in einen Hegeischen Zusammenhang. Nicht müssen wir uns des Urteils enthalten, weil wir die Erscheinung nicht überschreiten dürfen; wir befinden uns in einer Ontologie, die vom Ansichsein reden darf. Aber das Ansich ist, wie bei Hegel, das Sein, der logische „ N u l l f a l l " von Bestimmung. Es behält, wie bei Hegel, seine Identität mit dem Bestimmten, ist aber selbst nicht das Bestimmte. Bestimmtwerden ist nicht das Zu-Ende-Denken des Seins, sondern kommt dem Sein faktisch, von einem Anderen seiner, „von außen" zu. Die Paradoxie, daß das logisch gedachte Sein real ist und wegen seiner Identität mit dem Bestimmten nicht unbestimmt sein kann, verweist uns auf das grundsätzliche Problem von Denken und Sein bei Sartre 3 3 .

"

E n 269.

33

E s sei nur hingewiesen a u f v e r w a n d t e Schwierigkeiten beim J a s p e r s s c h e n T r a n s z e n d e n z b e g r i f f . V g l . e t w a „ P h i l o s o p h i e I I I " , K a p . 2, d a s „ f o r m a l e T r a n s z e n d i e ren".

41

III. H I N F Ü H R U N G ZUM FÜRSICHSEIN Sartre hat Ansichsein und ßewußtsein einander gegenübergestellt. Nachdem das Ansich eine Interpretation als Fülle und Identisches gefunden hat, bleibt nun zu fragen nach dem Sein des Subjekts. Nach der Deutung des Ansich muß es ihm allein zufallen, den Kontakt zum Ansich herzustellen. Was für ein Sein muß es sein, um das zu können? Hierzu sind schon zwei wesentliche Momente betrachtet worden: das Bewußtsein ist Intentionalität, also Beziehung auf ein Ansichsein, und es ist Beziehung auf sich, ein Sich-Erscheinen. Diese beiden Momente sind als Einheit zu explizieren. Wir deuteten schon an, daß die Explikation unter einem formalen Gesichtspunkt stehen wird. Das Bewußtsein ist ein Fürsichsein. Es ist damit „Gegenstück" zum Ansichsein. Es tritt aber nicht nur als „strukturell" anderes Sein, als Fürsichsein, dem Ansichsein gegenüber, sondern auch als Gegenstück zum Ansichsein im Sinne von Sein. Das Bewußtsein ist von daher Gegensatz zum Sein und also ein Nichts. Wir trafen oben schon auf diesen Gegensatz beim Vergleich des Ansichseins mit Hegels unmittelbarem Sein. Das Bewußtsein steht damit nunmehr in vier Deutungen vor uns: als Einheit von cogito und präreflexivem cogito, als Existenz, als Fürsichsein und als Nichts. Es sind die beiden letzteren, die jetzt bedeutsam werden. Sie sollen zusammengehen in der Deutung des Fürsichseins als eines Seins, das sein eignes Nichts ist. Für die Interpretation des Bewußtseins als eines Nichts stützt sich Sartre nicht, wie wir es oben vorwegnehmend taten, auf den Gedanken, daß Ansichsein nur durch ein Nichts bestimmt werden könne — so daß eine bestimmte Ontologie „vorausgesetzt" ist —, sondern will phänomenologisch zeigen, daß wir das Bewußtsein als ein Nichts auslegen müssen. In einem mehrfachen Aufweis sollen wir darauf aufmerksam werden, daß Negatives uns begegnet, das nur so seine Erklärung finden kann. Es handelt sich um eine „regressive" Analyse oder einen analytischen „Rückgang" 1 , die vom Konkreten zum „Ursprung" des Negativen zurückschreiten will. Die Auslegung des Bewußtseins als Nichts soll nicht These bleiben, sondern belegt werden. Die Analyse bildet eine gewisse Parallele zur vorangegangenen Erhellung des Ansichseins, dessen Deutung nicht nur These war, sondern als Erhellung des Seinsphänomens gelten sollte. 1

42

E N 83: „régression analytique".

1. D I E R E G R E S S I V E A N A L Y S E

Sartre stellt sich auf den S t a n d p u n k t einer „ k o n k r e t e n " Betrachtung nach A r t der Heideggerschen Daseinsanalytik. In ihr ist ein konkretes Ganzes, ein In-der-Welt-Sein des Menschen erschlossen. W i r brauchen nicht v o n einem zunächst „ f ü r sich" genommenen, abstrakten B e w u ß t sein auszugehen, u n d d a n n versuchen, seine Beziehung z u r Welt a u f z u b a u e n ; die G a n z h e i t des Bezuges w ü r d e nie erreicht. Überdies h a t Sartre f ü r die Betrachtung des Bezuges v o n Mensch u n d Welt in seinem o n t o logischen Beweis ein theoretisches F u n d a m e n t zu erbringen versucht. In dieser k o n k r e t e n Einheit des Bezuges können k o n k r e t e F o r m e n des Bezuges herausgestellt u n d auf die Bedingung ihrer Möglichkeit b e f r a g t werden. Sartre untersucht mehrere menschliche Verhaltensweisen, die uns einen Rückgang auf den „grundlegenden Bezug" 8 erlauben sollen, der zwischen Ansich u n d Fürsich besteht. D i e untersuchten Verhaltensweisen u n d S t r u k t u r e n schreiten zu immer größerem Aufschluß über den eigentlichen Sinn des Bezuges Mensch-Welt f o r t . Sie w e r d e n also i m m e r schon als K o n k r e t i o n e n des grundlegenden Bezuges verstanden. Eine p h ä n o m e n o logische Analyse w ä r e n u n als solche richtungslos u n d w ü r d e das gesuchte Ergebnis k a u m zeitigen. Sie bedarf eines Leitfadens. Sartre findet ihn in der Verhaltensweise des Fragens. D i e W a h l der F r a g e bestätigt aber schon das Vorliegen eines anderen Leitfadens, in dem das Gesuchte, die N e g a t i v i t ä t des Bewußtseins, schon v o r w e g g e n o m m e n ist. D a s G e suchte w i r d in der Frage sinnfällig 3 . In der Frage4 stehe ich v o r einem Seienden, das mir vor aller F r a g e v e r t r a u t ist. Dies ist ein H i n w e i s d a r a u f , d a ß sich die Frage schon „in einem ursprünglichen Bezug des Menschen z u m Ansichsein" hält. D i e Frage steht schon v o r einem Seienden, das sie b e f r a g t in E r w a r t u n g einer A n t w o r t . Sie setzt zwei mögliche A n t w o r t e n v o r a u s : ja u n d nein. Beide A l t e r n a t i v e n sind transzendente, objektive Tatsachen; auch eine negative A n t w o r t ist eine v o m Seienden her gegebene Tatsache. Auf der 2

E N 39: „ r a p p o r t p r i m i t i f " ; E N 149: „relation originelle".

3

Vgl. Heidegger, „Sein und Zeit", 5: „Als Suchen bedarf das Fragen einer v o r g ä n gigen Leitung v o m Gesuchten her." Die Analyse ist also zirkelhaft. D e r U n t e r schied zu Heideggers Frage nach dem Sinn von Sein ist, d a ß Sartre etwas nicht so allgemein Zugestandenes finden will — Sein ist ja in einem Sinne der b e k a n n teste Begriff —, nämlich die N e g a t i v i t ä t des P h ä n o m e n s und schließlich des Bewußtseins als verantwortlich f ü r diese N e g a t i v i t ä t . — Als auf das Bewußtsein sich zurückwendende Analyse erinnert Sartres Rückgang auch an Fichtes Rückgang von der Reflexion des Philosophen zum g r ü n d e n d e n Ich. Die Reflexion ist die explizite, k o n k r e t e Form des Vollzuges, der, nicht explizit, u n b e w u ß t , im Ich zugrunde liegen soll. Entsprechend ist bei Sartre die Frage k o n k r e t e Verhaltensweise, von der aus zu einer g r ü n d e n d e n Dimension zurüdcgeschritten wird. Bei Fichte ist das Gemeinsame der reflektive Bezug, bei S a r t r e ist es die N e g a t i v i t ä t .

4

Vgl. E N 38—40.

43

anderen Seite ist der Fragende im Ungewissen: er weiß nicht, ob die Antwort positiv oder negativ ausfällt. Sartre sieht also „zweierlei Nichtsein": ein „Nichtsein des Wissens" und die „Möglichkeit von Nichtsein im transzendenten Seienden" 5 . Schließlich liegt in der Frage ein A n spruch auf Wahrheit: „es ist so und nicht anders". Dies ist ein „drittes Nichtsein" 6 , das der Limitation. Im Bereich des Seienden in der Welt ist etwas jeweils anderes nicht7. Die Analyse führt also über das Positive hinaus und zeigt, daß das Nichtsein in die Untersuchung miteinbezogen werden muß. Im Sein ist ein Nichtsein entdeckt und ebenfalls im Menschen8. D a s Nichtsein erscheint als eine Komponente des Wirklichen. Aber wenn andrerseits feststeht, daß das Ansich keine negativen Antworten geben kann, liegt das Ansich nicht nur im Urteil? Sartre weist diese These ab®. Ontologisch gesehen wäre das Seiende, als Thema des U r teils, positiv, und das Urteil als psychische Tatsache ebenfalls. D i e N e gation wäre nur von positiven Tatsachen gestützt, aber selbst irreal wie ein noematisches Korrelat, „ein Irreales zwischen zwei vollen Realitäten, von denen keine sie fordert" 1 0 . Sie ist unselbständig und verlangt einen Ursprung in einem Nichts, das ein Strukturmoment des Wirklichen ausmacht. Sartre erwägt weiter, ob die Negation eine Kategorie sein könnte". D a n n wäre sie ein „positiver V o r g a n g " im Geist, der, „von affirmativen Urteilen plötzlich ausgelöst, bestimmte Folgerungen aus diesen Urteilen abstempelte" 1 2 . Die Negation als „Bestreitung des Seins" wäre damit aber verschwunden. Sie könnte freie Erfindung sein, im Gegensatz zu den feststellenden Urteilen, die ihr vorhergehen. D a mit wäre der Zusammenhang mit dem Negierten zerrissen, die Negation wäre irreduzibles Ereignis. Aber im Bewußtsein, auf dessen Ebene wir uns befinden, ist Negation Bewußtsein von Negation. Es kann keine solche Kategorie geben, die „wie eine Sache" im Bewußtsein wäre 18 . D a s „ N i c h t " ist „intuitive Entdeckung". „ N o t w e n d i g e Bedingung für 5

E N 39.

7

J . Wahl hat darauf hingewiesen, daß in der Frage nur die Unbestimmtheit und kein Nichtsein liege; wenn Unbestimmtheit Nichtsein ist und Bestimmtheit auch, sei es kein Wunder, daß wir von Nichts umgeben sind. („Essai sur le néant d'un problème", Deucalion I, 43). Genau dies ist der Fall, solange wir nur ein unbestimmtes Nichts, einen negativen „ F a k t o r " in der Welt suchen. Eine monographische Analyse der Frage könnte nicht in dieser Allgemeinheit bleiben. J . Wahl trifft die Schwierigkeit, die in der Reduktion auf die formalen Begriffe Sein und Nichts liegt. Sie gestatten keine eindeutige phänomenologische Beschreibung.

8

E N 40. — D a s Nichts als Limitation widerspricht nicht dem Gedanken der „externen" Negation, die oben auftrat. Als Negation zwischen uns gegebenen oder von uns gedachten Dingen gehört sie zu deren Bestimmtheit. Ein Dieses ist nicht Jenes (vgl. E N 239). Die externe Negation ist insofern konstitutiv für die Dinge. Der Satz vom Widerspruch gilt in der Welt. Sie ist dennoch „extern" insofern, als das Ding als Ansich sich nicht selbst zu anderen verhält.

» E N 41—46.

44

« E N 40.

10

E N 41.

11

E N 46.

12

ebda.

13

ebda.

das Nein-Sagen ist ein Nichtsein, das ständig Gegenwärtiges in uns und außer uns ist, ein Nichts, das das Sein unsicher macht"14. Mit der Abweisung dieser beiden Einwände kann Sartre nun das Negative als Phänomen in Anspruch nehmen: es gibt eine „Unzahl von Realitäten", die vom Menschen erfahren werden und ein „Nichtsein in sich schließen"15. Hierher gehören „Entfernung, Abwesenheit, Veränderung, Anderssein, Abgestoßensein, Bedauern, Trennung usw.", Tatbestände, die Sartre „Negatitäten" (négatités) nennt". 2. D I E N E G A T I T Ä T E N

Die regressive Analyse erbringt mit den Negatitäten ihren ersten Aufweis: daß uns Negatives begegnet. Der nächste Schritt wird sein, das Negative im Bewußtsein aufzusuchen, auf das die Negatitäten relativ sind. Ohne diesen Gang der Untersuchung aus den Augen zu verlieren, wollen wir die Negatitäten in einigen Beispielen veranschaulichen". Schon in der Frage liegt ein Verstehen des Nichtseins. Dasselbe gilt von der Zerstörung. Sie ist nur möglich, wenn ihr Gegenstand schon innerhalb des Seienden als „zerbrechlich" hervorgehoben ist, worin ein mögliches oder wahrscheinliches Nichtsein steckt. Hierfür ist der Mensch verantwortlich: er unterhält auf dem Boden seines Grundbezuges zum Sein einen „individualisierenden und limitierenden Bezug . . . zu einem bestimmten Seienden", der „diesem die Zerbrechlichkeit vermittelt als Erscheinung der Möglichkeit von Nichtsein." Ein solches Seiendes fordert entweder zur Zerstörung auf, oder zu Schutzmaßnahmen, durch die das Nichtsein in der „bloßen Möglichkeit" gehalten wird. Über ein so als zu schützendes Verstandenes können Naturereignisse zerstörend hereinbrechen, die sonst nicht zerstörend genannt werden könnten". Ein weiteres Beispiel: das VermissenHier gibt es für Sartre eine noch deutlichere Intuition des Nichtseins. Der Ort, wo ich jemanden vermisse, zeigt an ihm selbst, daß der Vermißte fehlt. Ich suche Pierre im Café. Das Café gibt sich als Hintergrund für ein Zentrum, den Gesuchten; es ist als „genichtet" angeschaut20. Das Zentrum, wozu der genichtete Hintergrund den Horizont bildet, ist aber selbst nicht da. Hierin liegt eine zweite Anschauung des Nichts. Schließlich ist die Entfernung21 zu nennen. Ich kann sie verstehen als zwei Punkte, die durch eine Strecke getrennt sind, oder als eine Strecke, die durch Punkte begrenzt ist. Oder sie ist eine Gegebenheit, die idi überwinden muß, um an mein Ziel zu kommen. In allen Fällen ist ein Positives mit Negativität versetzt. » E N 46 f.

15

E N 47.

18

E N 43.

1,1

E N 44—45.

» E N 57.

20

E N 45: „cette néantisation est donnée . .

" E N 4 2 — 4 6 ; 55—57.

» E N 55—57.

45

Sartre will den Begriff der Negatität ganz weit fassen: das Negative ist je nach dem betreffenden Fall nur erforderlich f ü r das „Sich-Abheben der K o n t u r " einer sonst positiven Realität, oder stellt ein eigentliches Nichts dar, das bloß durch einen „Schein von Positivität" verdeckt" ist. Negativität und Positivität erscheinen als „gemischt". Gehen wir über diese vereinfachende Auffassung hinaus, so können wir zwei Fälle unterscheiden: Negatitäten, die als ganze ein negatives Vorzeichen haben, sozusagen affektiv oder pragmatisch negative Gegenständlichkeiten, und solche, die ein Negatives in sich haben, gewissermaßen objektiv negative. Ein Abgelehntes, Beargwöhntes, Entferntes oder Vermißtes kann unter Wahrung wesentlicher Züge zu einem Bejahten, Begrüßten, Nahegebrachten oder Vorgefundenen werden. Husserlsch gesprochen handelte es sich um einen entsprechend tingierten Aktcharakter, der in seinem Korrelat eine Sinnmodifikation bedingt 23 . Das Negative wäre gegenständlich als korrelativ zu einem negativen Akt. Eine Strecke als begrenzte Linie jedoch hätte ein „noematisch" Negatives in sich, oder wäre, mit Sartres Ausdruck, eine „Gestalt". Diese könnte wiederum als ganze affektiv oder pragmatisch akzentuiert sein. Sartre geht es hier nicht um das Spezifische des letzteren Beispiels; er will nur das Gemeinsame herausheben, daß das Negative „Komponente" im Positiven ist24. Das Negative begegnet. 3. N E G A T I V E B E D I N G U N G E N I N DER I M M A N E N Z

Im nächsten Schritt der regressiven Analyse will Sartre einen Aufweis geben f ü r das Negative als ein Nichts in der Immanenz und nicht mehr nur als Gegenständliches. Aber es handelt sich weniger um einen phänomenologischen Aufweis als um ein Argument. Der Gedankengang entspricht dem der Einleitung zu E N , die vom Phänomen zum Sein des Phänomens übergeht. D o r t war zunächst die Sphäre der Phänomene als monistischer Bereich des Seienden vorgestellt worden; hier sind es dieselben Phänomene unter dem Gesichtspunkt der Negativität. Dann 22 24

46

23 E N 57. Vgl. „Ideen I", § 105, § 106. Vgl. E N 52: „deux c o m p o s a n t e s . . . du réel", nämlich „l'être" und „le néant". Das Gegebene als räumliches wird an späterer Stelle (EN 231 f.) konstruiert aus dem „Diesen" im Verhältnis zu anderen Diesen. Das Dieses als allgemeines verbirgt das Problem des räumlich Begrenzten. Es ist selbst schon als Gestalt auf einem Hintergrund von nicht artikulierten Diesen verstanden. (Ähnlich faßt Hegel mit dem Diesen den Baum, das Haus usw. „Phänomenologie des Geistes" 82). Fragt man, wieso die Gestalt als räumlidie erscheint, kann man das Dieses bis zum Punkt reduzieren, und die Gestalt — etwa die Strecke — wäre zu konstruieren aus einem Übergehen von einem Diesen, dem Endpunkt, zum andern. Das gleichzeitige Räumliche wird aufgelöst in das Sukzessive. Damit ist auch die Entfernung als zu überwindende und die Strecke als angeschaute nicht prinzipiell verschieden. Bei einer phänomenologischen — für Hegel: unmittelbaren — Betrachtung im Gegensatz zu einer durch Negativität konstruierenden ist die Gestalt irreduzibel.

folgte dort das Argument f ü r ein gründendes Sein dieser Phänomene; hier gibt Sartre entsprechend eine Argumentation f ü r ein Nichts, das die Negatitäten gründet. Wir haben es sozusagen mit einem meontologischen Beweis an Stelle eines ontologischen zu tun. Betrachten wir kurz dies Vorhaben! Das gegenständliche Negative soll Ausgangspunkt sein f ü r eine Erhellung des Bewußtseins als eines ursprünglichen Negativen. Man kann einwenden, daß die Negatitäten besondere, nach einem willkürlichen Leitfaden ausgesuchte Fälle sind, daß aber darüber hinaus das Bewußtsein Positives vor sich habe, und f ü r diesen Fall sei der Schluß auf ein negatives Bewußtsein nicht zwingend. Man kann einräumen, daß die Erfahrung pragmatisch und affektiv bestimmt sei, so daß ständig ein Negatives mitgegeben ist; das würde aber die grundsätzliche Positivität des Gegebenen nicht umstoßen. Auch die Tatsache, daß jedes Gegebene ein Begrenztes ist, ändert daran nichts. Der analytische Rückgang, der auf das Subjekt als ursprüngliches Negatives schließt, schließt also von einem einseitig verstandenen Gegebenen auf einen Grund d a f ü r . Später, wenn das Bewußtsein als Negatives f ü r aufgewiesen gilt, wird dann das Gegebene in einem neuen Sinn als Negatives erschlossen, und zwar in dem Sinn, daß das Bewußtsein das Gegebene von sich ausschließt, Negativität ist, um Bewußtsein zu sein. Es ist somit nur die Allgemeinheit oder Äquivokation des Begriffes Negativität — näher: die Äquivokation eines phänomenologisch-gegenständlichen Nichts und eines ontologisch Negativen als eines einem Fürsichsein Opponierten —, die dem Gedankengang zugrunde liegt und ihn ermöglicht. Aber folgen wir Sartres Gedankengang! Die Argumentation hat folgende Form". Das Nichts begegnet gegenständlich in der Welt. Es läßt sich aber nicht auf das Ansichsein zurückführen, denn dies ist reine Positivität. Es kann aber auch nicht von einem Nichts ausgehen, denn dies ist nicht. Es kann also nur ausgehen von einem Sein, aber als einem, das ein Nichts unterhält. Dies Sein muß eine Einheit mit dem Nichts darstellen; das Nichts darf dem Sein nicht „zustoßen". Das Problem verschöbe sich dann ja nur auf das Sein, das dies an ihm vollbringt. Es entstünde ein Regreß, da nie ein Nichts von einem positiven Sein ausgeht. Aber auch wenn ein Sein das Nichts in sich unterhielte, könnte dies eine „Transzendenz in der Immanenz" 2 " sein. Sein und Nichts müssen so Zusammensein, daß es dem Sein um sein Nichts geht; es muß „sein eignes Nichts" sein". Das heißt, es handelt sich nicht wieder um eine Negation, um einen nichtenden Akt, der von einem positiven « Vgl. E N 58 f. M

Ein solches w ä r e e t w a transzendent, weil es nicht selbst „die" I m m a n e n z wäre, sondern sie n u r umsdilösse e t w a als Vergangenes o d e r Z u k ü n f t i g e s u n d somit Nichtiges.

" E N 59.

47

Sein ausgeht — was unmöglich ist —, sondern um einen eignen Seinstyp: ein Sein, das dadurch eine Einheit mit dem Nichts bildet, daß es „sein eignes Nichts" ist. Dadurch unterscheidet es sich vom Phänomen, das ja auch eine Verbindung von Sein und Nichts ist. Dies Sein ist die neu erschlossene Disjunktion zum Ansichsein: sein Gegensatz zu ihm ist nicht einfach ein Nichts, sondern eine Einheit von Sein und Nichts. Wir sehen wieder die genannte Äquivokation. Das phänomenologisch Negative — die Negatität — ist dem Sein als positivem nicht einheimisch. Es muß, wie wenn es ein besonderes Produkt wäre, von außerhalb des Seins herbeigebracht werden. Der Produzent ist das Bewußtsein als „ontologisdi" Negatives, das Sein, das sein eignes Nichts ist. Der Gesichtspunkt für die Beziehung von Produkt und Produzent ist die Selbigkeit, die das Bewußtsein als negatives mit seinem Produkt, dem Negativen der Negatität, hat. Die Beziehung von Ursprung und Produkt ist undialektisch. Das Bewußtsein als das „ontologisch" Negative ist aber, so können wir vorwegnehmend sagen, dialektisch: weil es sein eignes Nichts ist, negiert es das Sein; nur so kann es Negativität bleiben. Seine Beziehung zum gegenständlich Negativen ist gerade nicht Selbigkeit, sondern Negation. Die spezifische Negativität des Gegenständlichen als Negatität wird durch weitere dialektische Schritte von diesem „Grundbezug" aus konstruiert. Der Austausch einer Intention mit negativem Aktcharakter (gewissermaßen als Produktion des negativen Korrelats) gegen eine Negation als ontologisches Verhältnis von Fürsichsein und Sein ist die Grundlage für das Zusammengehen von phänomenologischer und ontologischer Analyse bei Sartre. Sartre behandelt, nodi wiederum undialektisch, vor einer ontologischen Analyse des Subjekts, eine negative Voraussetzung für die Intentionalität. Das Subjekt darf nicht zusammenfallen mit dem Intendierten, muß sich vom Sein loslösen. Es klingt hierbei schon der Gedanke an, daß diese Negation auch selbst der intentionale Bezug zum Sein ist, also die kommende dialektische Lösung. Für eine andere Auffassung wäre das jedoch nicht zwingend. (Die übliche Lösung ist, das Subjekt als „reelles" Sein dem „realen" zu entheben, aber seinen Bezug zum Sein positiv zu fassen als Akt.) Sartre sieht die Loslösung in doppelter Weise: sie ist Loslösung (recul)29 vom Sein, das durch diese Loslösung Gegenstand wird, und eine Loslösung (décrochage)2* des Subjekts von sich selbst, so daß es nicht von seiner Vergangenheit kausal determiniert wird. Ohne diese letztere Loslösung wäre das Subjekt mit seinem Sein und damit mit „dem" Sein verschmolzen30. Die „immanente" Loslösung ist zunächst gleichursprüng=9 ebda. 30

48



E N 64.

Das Psychologismus-Problem Husserls stellt sich hier in dieser Form dar.

lidi mit der „intentionalen", deutet aber schon vor auf die „Urzelle" der Negativität des Bewußtseins im „Sich-Gegenwärtigsein". Zunächst ist ihr phänomenologisches Gegenstück die Retention, die Husserl mehr als Verbindung zur Vergangenheit denn als Trennung aufgefaßt hat. Es ist hier nicht notwendig, auf die Unterscheidungen einzugehen, die in diesem Zwischenstadium der Analyse gemacht werden. Sartre behandelt eine psychische Sphäre der Impressionen und Erlebnisse, die „genichtet" werden müssen, damit es zu Wahrnehmung und Phantasie kommen kann. Die Analyse ist ein Zwitter, da sie phänomenologische Entitäten mit der puren Negation verbindet, ja mit einer Mehrzahl von Negationen (im Fall der Phantasie etwa). In der späteren Analyse wird das Psychische zum Ansich formalisiert. Die geschilderten Negationen sind noch Voraussetzungen. Soll das Bewußtsein sein Sein nicht doch in einer positiven Spontaneität haben, so fehlt noch der Grund f ü r die Möglichkeit seines Bezuges zu sich selbst und zur Welt. Aufschluß können wir nur erwarten von einer ontologischen Klärung der Einheit von cogito und präreflexivem cogito. Aber schon auf der Ebene der behandelten vorläufigen Analyse gibt Sartre eine Darstellung der Freiheit31, die später als das eigentliche Sein des Menschen verstanden wird. Ihr wesentlicher Zug ist die Loslösung von der eignen Vergangenheit. Indem sie noch nicht aus ihrem Grund verstanden ist, nennt sie Sartre eine empirische' 2 . Sie ist eigentlich nur Bedingung f ü r Bewußtsein — insofern gerade nicht empirisch —, eine Zäsur, die noch gleichsam „erlitten" ist. Diese Freiheit verweist uns also auf eine Analyse des Bewußtseins als sein eigner Grund. Sartre geht noch näher auf die Freiheit, und zwar auf eine in weiterem Sinne verstandene Freiheit, ein. Er gibt eine monographische D a r stellung ihrer reflexiven Bewußtseinsweise, der Angst", eine Problematik, die wir in unserm Zusammenhang übergehen können. Im Werk hat die Darstellung neben ihrer Bedeutung als anthropologische Beschreibung den Sinn, zu einem weiteren Thema überzuleiten, das zur Aufhellung des Bewußtseins als gründende Dimension beitragen kann. Die Angst erscheint als etwas Zu-Meidendes; der Mensch flieht vor der Freiheit, die ängstigt, hin zu einer Selbstauslegung als „Sein". Es entsteht eine Dialektik, die Sartre Unwahrhaftigkeit (mauvaise foi) nennt. Sie ist der aufschlußreichste phänomenologisch und psychologisch zugängliche34 Aspekt des Bewußtseins, der auf seine Negativität hinweist, ja sie schon exemplifiziert. 4. D I E

UNWAHRHAFTIGKEIT

Sartres Absicht, in einem analytischen Rückgang Aufweise zu geben, die ihren Grund nur in einer negativen Struktur des Bewußtseins finden 31

'

4

32 E N 61—83. E N 62, 83. Vgl. aber unten S. 50.

33

E N 66-83, bes. 66, 71, 75, 77.

49

können, gelangt zu einem Höhepunkt in der Analyse der Unwahrhaftigkeit. Bei ihrer Darstellung nimmt die anthropologische Beschreibung breiten Raum ein; diese wiederum stützt sich auf eine von Heidegger inspirierte Daseinsanalytik. Im Rahmen des von Sartre verfolgten analytischen Rückgangs handelt es sich um den umfassendsten Aufweis: nicht mehr ein Strukturmoment, wie die Loslösung vom Sein als Negation des intentionalen Gegenstandes oder als die der Vergangenheit, sondern die zentrale Struktur des Bewußtseins soll als Bedingung für die konkreten Verhaltensweisen der Unwahrhaftigkeit erschlossen werden. Ein Wort zur Wahl gerade dieses Phänomens! Halten wir fest, daß von Phänomenen auf Bedingungen zurückgegangen werden soll, ohne deren Annahme die Phänomene nicht denkbar sind, so kann wieder, wie oben bei den Negatitäten, gefragt werden, wie weit die vom gewählten Phänomen erschlossene Bedingung verallgemeinert werden kann. Oder, anders gesagt, wie weit das Erschlossene, wenn es ein Negatives ist — und das ist Sartres ganze Absicht —, sich mit einem dialektisch Negativen verbinden läßt. Dies wird bei der Unwahrhaftigkeit der Fall sein. Nur oberflächlich kann es scheinen, als ob das von Sartre gewählte Phänomen sonderbar und gesudit ist. Sartre wählt seine Aufweise so, daß gleichzeitig wesentliche anthropologische Beschreibungen resultieren. Was nicht hindert, daß darin ein persönlich oder weltanschaulich akzentuiertes Bild vom Menschen leitend ist. Die Frage war eine zentrale Verhaltensweise des Menschen, und dazu eine, die in der Philosophie ständig geübt wird; die Negatitäten waren Gegenstände der alltäglichen Welt; und die Unwahrhaftigkeit erweist sich unter Sartres Händen als ein Grundzug des Menschen, als eine ständige Bedrohung. Bei der Unwahrhaftigkeit stellt sich jedoch — in stärkerem Maße, als bei der These vom gegenständlich begegnenden Nichtsein in der Frage und den auf Negatitäten gerichteten Verhaltensweisen der Fall war — das Problem, ob es sich um ein Phänomen handelt. Das Phänomen ist vielleicht ein „verborgenes" 35 Phänomen und nur in Verbindung mit der Deutung überzeugend. Wir stellten bei der Analyse der Negatitäten fest, daß sie bereits unter einem Leitfaden betrachtet wurden, der seinerseits nicht einer phänomenologischen, sondern einer ontologischen Überlegung entstammte. Ebenso gilt dies für die Fassung der Loslösung vom Sein als Intention. Bei unserem jetzigen Thema, der Unwahrhaftigkeit, ist der ontologische Entwurf noch bestimmender, so sehr, daß das Phänomen ohne ihn vielleicht bestreitbar wäre. Das würde für die Absicht des Werkes bedeuten, daß der letzte Schritt des analytischen Rückgangs nicht als Schluß von einem Phänomen auf seine Bedingung getan werden könnte, sondern die behauptete Struktur des Bewußtseins synthetisch, wie in Heideggers Daseinsanalytik, aufgestellt werden müßte. Sartre spricht von nescent) E N 88.

50

einem

„verschwindenden"

Phänomen

(phénomène

eva-

Der Grundgedanke Sartres ist, daß der Mensch „negativ zu sich Stellung nehmen kann" 3 '. Die Unwahrhaftigkeit ist eine der Verhaltensweisen, in denen das geschieht. Die Frage ist nun also, was muß der Mensch, auf seinen Grund befragt, sein, um unwahrhaftig sein zu können? Sartre behauptet das Auftreten von Unwahrhaftigkeit im Zusammenhang mit der Angst vor der Freiheit. Ich spüre Angst und unterdrücke sie. Idi kann zu dem, was ich bin, Abstand nehmen, die Angst „nicht sein", die ich doch bin". Eine weitere Anschauungsgrundlage ist für Sartre der Widerstand des Patienten in der psychoanalytischen Behandlung38. Dieser Widerstand kann nicht im Es liegen, und nicht im Ich, sondern nur in der Zensur. Diese muß aber all die Charakteristika des Wissens und Reagierens haben: wissen, daß der Komplex vor dem Analytiker zurückzuhalten ist, wissen, worauf dieser hinauswill, in einer Synthese beides in Beziehung setzen können. Die Zensur muß — das bedeuten die verschiedenen Momente — dazu ihrer selbst bewußt sein. Als Zensur ist sie Bewußtsein von der Absicht, etwas zu verdrängen, um seiner nidit bewußt zu sein'". Damit hat das Bewußtsein den Charakter der Unwahrhaftigkeit: Ich b i n . . . , um es nicht zu sein. In dieser Wendung drückt sich das Verschwindende des Phänomens aus. Neigen wir nun allgemein dazu, solche „Phänomene" durch das Unbewußte zu erklären — eine Erklärung, die Sartre radikal ablehnt —, so gibt es nach ihm „unendlich viele unwahrhaftige Verhaltensweisen", die sich „im Lichte des Bewußtseins" abspielen und als Beispiele dienen können". In seiner Analyse stützt sich Sartre auf eine grundsätzliche Dualität des menschlichen Daseins, die in verschiedenen Fassungen auftritt. Der Mensch ist Faktizität und Transzendenz, Fürsich und Für-Andere, Vergangenheit und Zukunft. Der jeweilige Doppelaspekt des Menschen Iäßt sich „zu einer gültigen Einheit koordinieren", die Unwahrhaftigkeit ist aber die Kunst, „gleichzeitig ihre Identität und Differenz zu behaupten" 41 . Sie gleitet von einem Aspekt zum andern und vereinseitigt einen davon. So bietet die Unwahrhaftigkeit die Möglichkeit, Vorwürfe abzuwehren, denn ich bin nicht die Faktizität, sondern die Transzendenz, bin über das, was idi getan habe, hinaus42. Umgekehrt ist die Transzendenz durch die Faktizität zum Schweigen zu bringen: ich konnte nicht anders, ich berufe mich auf Faktizität als Entschuldigung43. Ich „bin" Transzendenz oder Faktizität, als ob diese nicht in einem Gegensatz stünden, der idi auch bin. Mein Sein ist in der Unwahrhaftigkeit ein Ansichsein. Ein entsprechendes Schema liegt in der unstabilen Einheit eines anderen Gegensatzes, des von Fürsichsein und Für-Andere-Sein". Ich kann s«

EN 85 .

37

EN 82.

3S

EN 90 f.



EN 92.

41

EN 95.

42

EN 96.

43

EN 97.

44

ebda.

40

EN 98.

51

auf mich mit meinem Blick und auch mit dem des Andern blicken. Beide Aspekte sind von gleicher Berechtigung; es kann wieder ein Spiel zwischen beiden stattfinden. Hierher gehört die Stellungnahme zur Rolle, die man für andere spielt45. Ein weiterer Anwendungsbereich des Schemas wäre ein Spiel mit den zeitlichen Dimensionen oder „Ekstasen": ich will entweder sein, der ich war, oder mich gerade von meiner Vergangenheit distanzieren4*. In den — hier übergangenen — Beispielen und den daraus abstrahierten Schemata liegt, daß die Unwahrhaftigkeit eine negative Stellungnahme zu sich selbst ist, die auf einer Dualität des menschlichen Daseins beruht. Diese Struktur ist dem Bewußtsein unmittelbar, d. h. dem Bewußtsein als instantanen, eigen. Die negative Stellungnahme ist möglich, weil ich jeweils etwas bin, aber auch nicht bin. Sonst wäre idi ein Ansich, ein Ding, und eine solche negative Stellungnahme wäre unmöglich. Andrerseits vereinseitige ich das, was ich sein will, zu einem „ich bin", während ich doch auch ein anderes bin 47 . Dieses Spiel zwischen zwei Aspekten einer Einheit ist nun für Sartre nicht ein Sonderfall, sondern unmittelbare und ständige Bedrohung des menschlichen Entwurfs, denn auch das Gegenstück zur Unwahrhaftigkeit, die Aufrichtigkeit (sincérité) erweist sich ihm als unwahrhaftig 49 . Die Aufrichtigkeit enthält eine Forderung: „der Mensch soll nur sein, was er ist" 4 ". Sie unterstellt dem Menschen also die Identität des Ansichseins als Ideal. Zum Ideal muß es aber einen Gegensatz geben; das dem Menschen vom Ideal zugemutete Sein trifft also nicht ihn selbst. Der Mensch ist kein Ansich; versucht er, sich ein Ansich zu geben — etwa in der Übernahme einer Rolle —, bleibt immer ein Abstand zu ihr. J a schon für das Gefühl gilt, daß ich Abstand zu ihm habe, es unterhalten muß. Das Ideal der Aufrichtigkeit ist also ein unmögliches Ideal. Die Aufrichtigkeit, d. h. das Sich-dem-Ideal-Unterstellen, ist selbst unaufrichtig, unwahrhaftig 50 . Die Aufrichtigkeit braucht die Transzendenz nicht zu ignorieren: sie verlangt etwa das Eingeständnis von etwas Negativem, das ich bin, und erwartet dann eine Sinnesänderung. Sie will, daß das Bewußtsein sei, was es ist, d. h. für sich sei, was es ist —, um sich dann zu ändern, nicht zu sein, was es ist. In einer dialogischen Situation ist die Aufrichtigkeit etwa die Zumutung, daß der andere sich „zur Sache" mache, um dann, wie nach einer Vergebung, frei zu werden. Der Aufrichtige gibt seine Schlechtigkeit zu und hat sich dadurch schon verdient gemacht, ist nicht mehr schlecht. Er gibt sich, „als das, was er ist, um es nicht mehr zu sein" 51 . 45

E N 98—100.

46

E N 103 f. (Analyse des inkriminierten Homosexuellen).

47

E N 107.

52

48

E N 103.

49

E N 98 .

50

E N 98—103.

51

E N 105.

Die Aufrichtigkeit will, daß idi mit meinem Sein „koinzidiere". Ich bin ja „an sich" schon das Ansidi, das ich zu sein habe. Sie ist also der E n t w u r f , mich als Ganzen zum Ansidisein zu machen". Die U n w a h r haftigkeit dagegen will, daß idi „sei", was ich nur „auch" bin (Transzendenz, Freiheit einerseits, Faktizität, Vergangenheit, Objektiviertes andrerseits)5®. Die Aufrichtigkeit ist unwahrhaftig, wenn sie mir den Seinstyp des Ansichseins zusprechen will; sie setzt voraus, daß ich nicht Ansichsein bin, sonst wäre sie nicht Forderung, ahnt aber, daß ich dies nicht erreichen kann. Genau diesen Spielraum, dies Nidit-Ansich-SeinKönnen, dies Sein und auch Nicht-Sein, braucht die Unwahrhaftigkeit. Idi bin das nicht, was ich nicht sein will, aber ich bin es nicht schlechthin nicht, denn dann wäre ich ja „guten Glaubens" 54 . Ebenso bin ich das, was ich nicht bin, aber sein will, nicht schlechthin nicht; es ist meine Möglichkeit. Die Unwahrhaftigkeit setzt also diese zwiespältige Struktur des menschlichen Daseins voraus. Die Unwahrhaftigkeit erscheint jetzt als denkbar, aber es ist noch nicht sinnfällig, daß sie auftritt, daß der Mensch an seine Lüge glaubt 55 . Das Bewußtsein „glaubt" an seine Selbsteinschätzung; dies ist im Französischen schon eine sprachliche Evidenz durch die Ausdrücke „mauvaise foi" und „foi". Der Bezug zu sich selbst ist Glauben, nicht Wissen. N u r so kann in dem E n t w u r f , sich etwas vormachen zu wollen, ein Spielraum zwischen Unwahrhaftigkeit und Wahrheit bestehen. Das Glauben hat nicht die volle wissende Evidenz. Sonst käme es nicht zum unwahrhaften Entwurf 5 6 . Die Möglichkeit, sich für Unwahrhaftigkeit zu entscheiden, muß also aus dem Glauben verständlich gemacht werden. Der Glaube glaubt nicht, echte Evidenz finden zu können, „sagt sich", daß Glauben „ja doch immer Entscheidung sei" usw. Man ergreift diese Art des resignierten Glaubens, „wie man einschläft" 57 . Seine Resignation liegt darin, daß es sich um einen Glauben handelt, der „nicht echt überzeugt sein will" 58 . D a ß es zu diesem Glauben kommt, muß aber noch näher, ohne Analogien zu einem religiösen Glauben, dargetan werden. Sartre geht näher auf die Möglichkeit eines solchen Glaubens ein, der nicht echt überzeugt sein will. Glauben ist etwas Unmittelbares, das durch die Struktur des präreflexiven cogitos sich aufhebt. Das präreflexive cogito wird als Wissen gedeutet: „Glauben ist Wissen, daß man glaubt" 59 , und das wird verstanden als ein Wissen, daß man „nur" glaubt; der Glaube ist also diskreditiert und erschüttert. Sartre gibt zu, daß das präreflexive cogito nicht Wissen ist, sondern nur dem Wissen zugrunde liegt. Trotz52

E N 106.

55

Dieser Teil der Analyse Sartres dient der A u f k l ä r u n g der U n w a h r h a f t i g k e i t selbst — und z w a r einer weiteren Bedingung f ü r sie —, und nicht der Frage nadi der S t r u k t u r des Bewußtseins als G r u n d der NegativitÄt. Wir gehen zur A b r u n d u n g der Darstellung auf das folgende ein.

5

" E N 108.

53

57

ebda.

E N 109.

54

5S

„de bonne foi" F.N 107.

ebda.

59

E N 110.

53

dem, meint er, zerstöre es den Glauben. Gleichzeitig ist Glauben aber nicht ohne präreflexives cogito möglich. Im Glauben liegt also eine Struktur vor, die in sich selbst umschlägt. Der echte Glaube (bonne foi) ist also nie ganz Glaube; echter Glaube wäre ein „Ansich-Ideal" 80 . Sartre denkt nicht an eine Aufhebung des Glaubens ins Wissen, sondern an eine zwiespältige Struktur, einen gestören Glauben (croyance troublée)* 1 . Der Glaube selbst ist unwahrhaftig. Unwahrhaftigkeit ist in ihrem Entwurf „die Ausnutzung dieser Selbstzerstörung des Glaubens auf Grund des Bewußtseins (seiner selbst)"' 2 . Wenn ich weiß, daß idi nicht ganz glauben kann, so „hat auch ein unmöglicher Glaube R a u m " " . Hier ist also die Stelle, wo die Entscheidung zur Unwahrhaftigkeit verständlich werden soll. Der Glaube ist entwertet, und darum kann ich die Gründe, derentwegen er nicht gelingt, verwechseln: den Grund, daß die unmittelbare Überzeugung nicht ausreicht, um zu glauben, und den Grund, daß Glauben seiner Struktur nach nicht gelingt. Ich will glauben, daß ich etwas sei, das ich nicht bin, und komme über die Einsicht in die Unmöglichkeit echten Glaubens dazu, was ich echt nicht glauben könnte, unecht doch zu glauben. Ich habe keine Gegeninstanz des Wissens, das meinen widersprüchlichen Glauben zunichte machen könnte. Will idi etwa glauben, ich sei mutig, so besteht keine wissende, apodiktische Instanz, die mir sagt, daß ich feige sei; ich bin nicht feige im Sinn des Ansidiseins. Die Bezweiflung des Glaubens, mutig zu sein, bedeutet kein Wissen des Gegenteils. Ich weiß natürlich auch nicht, daß ich mutig bin; das würde nach Sartre über die reine reflexive Gewißheit hinausgehen* 4 . Es scheint, daß durch die Zerstörung des echten Glaubens ein Gleichgewicht hergestellt ist zwischen dem, wovon ich loskommen möchte, und dem, zu dem ich hin will. In diesem Feld gibt dann der Wille den Ausschlag, der keinen Anlaß mehr hat, die unwahrhafte Alternative nicht zu wählen. Der Wille zur Flucht vor dem (aus irgendeinem Grunde negativ akzentuierten) „was man ist" wird vermittelt durch diese Zerstörung des Glaubens durch sich selbst. Während der „gute Glaube" der Wille zur Uberwindung der inneren Spaltung des Fürsichseins ist und zum Ansichsein tendiert, ist die U n wahrhaftigkeit der Wille, das Ansich zu fliehen zugunsten einer Spaltung, wobei sie nicht wahrhaben will, daß sie vor etwas flieht (dem sie dann ja Rechnung trüge); sie negiert sich also selbst als negative und strebt im Grunde ein Ansidi an, das „man" sein will*5. Die Analyse der Unwahrhaftigkeit läßt sich als Beitrag zur Anthropologie verstehen. Sie zeigt eine ständige Möglichkeit des Menschen auf. Ihre Analyse ist die Behauptung eines Phänomens und seine Erklärung aus der Einsicht heraus, daß der Mensch keine Bestimmtheit schlechthin „ist" im Sinne des Ansich. Die Unwahrhaftigkeit ist eine „Ausle'» ebda.

" E N 117.

,s

E N 110.

«» ebda.

M

β5

ebda.

54

E N 111.

gung" des Menschen auf Ansichhaftigkeit. Insofern ist Sartres Analyse eine theoretische Erfassung der Uneigentlichkeit Heideggers, nur ist sie nicht als ein Verfallen an die Welt oder die Vielen zu denken, sondern als ein „undialektisches" Verhalten zu sich selbst, ein Verfallen an das Ansich. Sartre entwirft, wenn man will, eine „Gestalt" des Bewußtseins nach A r t Hegelscher Gestalten in der „Phänomenologie des Geistes". Sartres unwahrhaftiges Bewußtsein hat sogar eine engere Parallele zu Hegels Schilderung der „Verstellung"". Der Konflikt, den Hegel zeichnet, ist freilich ein anderer: es ist das Bewußtsein als befriedigt in seiner moralischen Handlung einerseits, aber andrerseits als seinen Gegenstand außer sich hinaus in ein Jenseits setzend. Das Bewußtsein ist tatsächlich moralisch („wahrhaftig"), aber durch die Jenseitigkeit der moralischen Forderung ist es ein Alternieren zwischen sich und einem A n sichsein, das es nicht ist, ja nie sein kann. „Zugleich ist es sich seines Widerspruchs und Verstellens auch bewußt, denn es geht von einem Moment unmittelbar in Beziehung auf dieses selbst zu dem entgegengesetzten über; weil ein Moment keine Realität für es hat, setzt es eben dasselbe als reell, oder was dasselbe ist, um ein Moment als an sich seiend zu behaupten, behauptet es das entgegengesetzte ÄIS das Ansichseiende. Es bekennt damit, daß es ihm in der T a t mit keinem derselben Ernst ist." Der Konflikt ähnelt dem bei Sartres Unwahrhaftigkeit der Aufrichtigkeit. Hegel gibt ihm allerdings einen anderen Akzent: das Verhältnis des Bewußtseins zum Ansich bestimmt sich aus dessen Charakter als Forderung, die aber Unmögliches fordert. Das Bewußtsein durchschaut den Widerspruch und vereinigt die Entgegengesetzten in sich selbst. Es wird Gewissen. Bei Sartre ist dagegen die Verfallenstendenz des Bewußtseins zum Ansichsein herausgestellt. Gerade das Selbst-Sein gilt als das Geforderte und schwer Erfüllbare". Es versteht sich, daß Sartres Darstellung im einzelnen stark von Hegel abweicht, so besonders in der Fassung des Ansichseins, über das das Bewußtsein immer schon hinaus ist. Der Entwurf auf das Ideal ist bei Sartre wegen der Struktur des Menschen als nicht fixierbaren unwahrhaft, bei Hegel wegen der Dialektik des Ideals selbst — auf der Stufe, auf der es auftritt —, während das Bewußtsein weiterschreiten kann zu einer Synthese mit seinem Ansichsein. Auch methodisch ist bei Sartre die N ä h e zu Hegels „Phänomenologie des Geistes" spürbar. Unwahrhaftigkeit, Aufrichtigkeit, Glaube werden personifiziert, ja die ganze Analyse wendet einen reicheren Inhalt auf eine Hegel,

Phänomenologie

des

Geistes,

434

ff.

-

Wir

sehen

hier

davon

ab,

daß

S a r t r e s L e h r e auch e i n e e n g e r e B e z i e h u n g zu K i e r k e g a a r d h a t ; sie stellt sich

dar

als eine v e r e i n f a c h e n d e S y s t e m a t i s i e r u n g der v o n K i e r k e g a a r d u n t e r s c h i e d e n e n

For-

m e n d e r A n g s t (in „ B e g r i f f A n g s t " ) . "

Vgl. Sartres Anmerkung E N

1 1 1 , w o ein E n t f l i e h e n aus d e r U n w a h r h a f t i g k e i t

als

nicht u n m ö g l i c h h i n g e s t e l l t w i r d .

55

systematische Analyse des Bewußtseins an. Insofern kann die Analyse, ähnlich wie entsprechende Hegelsdie Analysen, nicht streng sein. Dem Bewußtsein wird eine Fähigkeit zur Reflexion zugesprochen, die es bei diesem Phänomen am Rande der Unbewußtheit nicht haben kann. Die Bewußtseinsgestalt der Unwahrhaftigkeit hat die Züge eines abstrakten Mythos. Aber zurück zu unserem Zusammenhang! Für die Absicht der regressiven Analyse ist das Wesentliche nicht die Unwahrhaftigkeit als solche, sondern die Erschließung der Bedingung, die allein Unwahrhaftigkeit möglich macht. Die Unwahrhaftigkeit als ein Nicht-ein-Bestimmtes-SeinWollen oder als ein Ein-Bestimmtes-Sein-Wollen setzt voraus oder läßt schließen auf eine Struktur des Bewußtseins. Das Bewußtsein muß „nicht" sein können, was es ist, und sein können, was es nicht ist, damit die undialektische Negation dessen, was ich bin, möglich ist. Das Undialektische ist durch das Dialektische zu begründen. Nicht die Unwahrhaftigkeit ist das Entscheidende — wenn sie auch anthropologisch gültige Beschreibung sein soll —, sondern der Aufschluß für die Struktur des Bewußtseins. Im Rahmen der regressiven Analyse erscheint sie deshalb, weil sie eine negative Struktur des Bewußtseins impliziert und im Sinne des Leitfadens der Analyse am weitesten vordringt, nämlich zum Bewußtsein selbst. Ihre Deutung führt schon auf den formelhaften Ausdruck, der später öfter als Charakterisierung des Fürsichseins wiederkehrt. Unwahrhaftigkeit ist nur möglich, wenn das, was ich bin, in Frage steht, ich es in gewisser Weise nicht bin, und was ich nicht bin, in gewisser Weise bin. Die Formel: das menschliche Dasein (bzw. Bewußtsein) „ist nicht, was es ist, und ist, was es nicht ist""8 ist an späterer Stelle zu erörtern. Hier besagt sie die Einheit eines beliebigen Gegensatzes im Bewußtsein (ζ. B. feige — mutig); das Bewußtsein ist und ist nicht seine Bestimmtheit. Aber auch die existenziale Polarität von Faktizität (Bestimmtheit) und Transzendenz (Offenheit) ist schon mitgemeint. Wenn wir in dieser Hinführung auf das Bewußtsein als Fürsichsein schon eine systematische Aussage sehen wollen, so stellt sie sich hier so dar: das Bewußtsein „ist" eine Bestimmtheit, aber „auch" ihr Gegenteil. Damit ist das Ergebnis der Analyse der Unwahrhaftigkeit erst ein Vorbegriff der eigentlichen ontologischen Deutung des Bewußtseins, wenn es auch schon deren formelhaften Ausdruck erreicht.

« EN 103.

56

IV. DAS F Ü R S I C H S E I N Die regressive Analyse hatte die Aufgabe, die ontologisdie Betrachtung des Bewußtseins als Fürsichsein vorzubereiten, dessen Fassung als Negativität zu motivieren. Es ist nicht ohne weiteres einsichtig, wieso das Bewußtsein als eine Negation seiner selbst verstanden werden muß und die von dieser Basis aus mögliche Analyse seiner Strukturen als zwingend gelten kann. Hieran hängt schließlich die ganze Ausgestaltung der Sartreschen Ontologie. Ohne eine Besinnung auf die Methode, ohne eine Motivierung eines bestimmten Idioms der Analyse, wäre die Richtung einer weiteren Bestimmung des Bewußtseins über die phänomenologischen Bestimmungen hinaus offen und ließe Raum für Willkür. Die regressive Analyse soll den Eindruck der Willkür in der Deutung des Bewußtseins mit den Hegeischen Begriffen der Negativität und des Fürsichseins abwehren. Als so motiviert tritt diese Deutung des Bewußtseins zur vorangegangenen Auffassung hinzu und überholt sie. Selbstverständlich gibt sich die damit entstehende Philosophie nicht als „Deutung" — dies ist ein reflektierter Ausdruck —, sie will vielmehr das Subjekt und seine Beziehung zum Sein ursprünglich erfassen1. Wie wir gesehen haben, motiviert Sartre die Deutung des Subjekts als Fürsichsein von der Phänomenologie her. Er akzentuiert einmal den Charakter des Bewußtseins als Einheit von cogito und präreflexivem cogito, und gibt in der regressiven Analyse Aufweise für ein Verständnis dieser Einheit als Negativität 2 . Diese beiden Gedanken — strukturelle Einheit als Sich-Gegebensein und Negativität — sollen sich vereinigen in der Deutung des Bewußtseins als Fürsichsein. Die Rolle der Negativität ist hierbei vorläufig noch undurchschaut. Das Recht des so gefaßten Subjektbegriffs wird sich in seiner Fruchtbarkeit für ein Verständnis der Bewußtseinsstrukturen, in seiner Eignung für eine umfas1

M a n kann hier an das erinnern, was Hegel gegen Fichte einwendet (Logik I, 71 f . ) : wenn dieser nicht mit dem unmittelbaren Selbstbewußtsein anfange, sondern mit einem reinen Ich, so gehe „gerade der Vorteil verloren, der aus diesem Anfange der Philosophie entspringen soll, daß er nämlich etwas schlechthin Bekanntes sei, was jeder unmittelbar in sich finde, und daran die weitere Reflexion anknüpfen k ö n n e " . D a m i t trete vielmehr „der Nachteil der Täuschung ein, daß von etwas B e kanntem, dem Ich des empirischen Selbstbewußtseins, die Rede sein solle, indem in der T a t von etwas diesem Bewußtsein Fernem die Rede ist". Ähnliches wäre vom Ausgang von der Phänomenologie im Verhältnis zum Ausgang von der Negativität zu sagen. Sartres regressive Analyse ist der Vcrsuch, an die Basis der Phänomenologie anzuknüpfen und phänomenologisch die neue Basis zu rechtfertigen.

2

wir haben

oben

Einwände

gegen

dies Verfahren

angemeldet.

Vgl.

Seite

47 f.

57

sende Ontologie und in seinem Standhalten gegenüber Einwänden erweisen müssen. 1. D I E B I N N E N S T R U K T U R D E S F Ü R S I C H S E I N S

In den vorbereitenden Analysen wurden abgeleitete Negationen aufgewiesen, die zum Bewußtsein gehören; es fehlte — unter dem Leitgedanken, daß das Bewußtsein eine Einheit ist — der Grund oder Ursprung für sie. Dies gilt auch für die aufgezeigten Bedingungen der Unwahrhaftigkeit, die schon an eine Formulierung des Bewußtseins als ganzen herangeführt hatten. Der zunächst überraschende Schritt Sartres ist nun, diesen Ursprung in das instantané Bewußtsein zu setzen, in die Einheit von cogito und präreflexivem cogito. Diese Einheit ist für Sartre die ontologische Ursprungssphäre aller derivierten Strukturen des Bewußtseins. Das Bewußtsein ist ein Sich-Erscheinen, ein Sidh-Gegebensein, und als solches, wie wir schon sahen3, der Reflexion homolog. Ein konkretes Bewußtsein, ein Glauben etwa, ist „Bewußtsein (von) Glauben" 4 , und in dieser Weise ein Sein in absoluter Immanenz. Versuchen wir es zu fassen, so wird es uns zur Zweiheit wie die Reflexion. Es besteht so eine Schwierigkeit der — phänomenologischen — Beschreibung dieser Einheit. Sartre wählt mehrere Wege, um diese Zweieinheit zu formulieren: Bilder, sprachliche Eigentümlichkeiten und die Fassung im Urteil. Bildlich gesprochen ist das Bewußtsein ein „Spiel von Reflexen" (jeu de reflets)5. Es entspricht dem oben genannten Bild von der Transparenz des Bewußtseins. Das Bewußtsein ist „Schein und Widerschein" (reflet-reflétant)' in einer Einheit. Es ist damit etwas Aufgelockertes (décompression d'être)7, eine phantomhafté Zweiheit (dyade fantôme)9. Es dirimiert sich in cogito und einen Zeugen'. Die Sprache gibt uns im Wort „sich" einen Hinweis10. Es wird in ihm eine besondere Beziehung eines Subjekts zu sich selbst ausgedrückt, eine „ideale Distanz" zu sich. Die Sprache umgeht den identischen Ausdruck und bietet damit eine Analogie zu der Identität in der Nicht-Identität, die Sartre „Sich-Gegenwärtigsein" (présence à soi) nennt11. Das Gemeinte findet seine Entsprechung auch im Urteil. Das cogito „ist" präreflexiv gegebenes cogito, oder an einem Beispiel: „das Glauben ist Bewußtsein (von) Glauben". Dies ist kein Identitätsurteil, denn die » S. 25 oben. 5

E N 117.

E N 118. — Das Bild scheint nicht ohne weiteres einsichtig. In der Fassung als „reflet-reflétant" schwingt in „reflétant" das Wort „refléchissant" mit. Sartre will aber die Wechselseitigkeit — entgegen der Unsymmetrie von cogito und präreflexivem cogito — betonen.

• ebda. • E N 117. 58

4

7 10

E N 116. E N 118 f.

8

E N 119.

11

E N 119.

beiden Glieder sind verschieden, und doch sind sie durch die Kopula als Einheit ein und desselben Seins gesetzt. Wir können ein solches Urteil einen spekulativen Satz nennen 1 '. In ihm wird eine Spannung ausgedrückt, die zugleich Einheit ist. Sartre wendet sich dagegen", auf das Fürsichsein einen im logischen Sinn identischen (tautologischen) Satz anzuwenden. Er sieht die logische Form und die ontologische Struktur in Analogie. Das „Sein" des Satzes entspricht dem Ansichsein; diese AnsichIdentität muß also durch die Diversität von Subjekt und Prädikat aufgelöst werden. Das Gemeinte findet schließlich Ausdrude in einer weiteren bildlichen Deutung des Sich-Gegenwärtigseins als Sein mit einem „Spalt". Das Bild läßt an eine Zweiheit von Seienden denken, die von einander getrennt sind, etwa von reellem cogito und reellem präreflexivem cogito. Es urgiert also gerade eine „schlechte" Einheit. Als Spalt „im" Bewußtsein (fissure intraconscientielle) 14 ist es aber Spalt in einer Einheit. Das Trennende ist eine „ideale Distanz", ein „Nichts" (rien). Das trennende Nichts ist kein Bestimmtes (wie etwa eine räumliche Distanz), denn das verstieße gegen die These von der Einheit und Durchsichtigkeit des Bewußtseins; und ferner ist das Bewußtsein „nichts anderes" als das Bewußtsein (von) sich. Der Spalt ist das „reine Negative", das „Nichts" (néant). Dies Nichts ist aber als solches nicht, es wird vom Sein „unterhalten" (est été) 15 . Nur so ist das Sein ein eignes Sich-Gegenwärtigsein. Das Nichts ist das reine Negative als inhärent in einem Sein. Sartre knüpft mit seiner Deutung des Sich-Gegenwärtigseins als Sein mit einem Nichts an an die oben geschilderte Idee der Bestimmung des Ansichseins durch das Nichts". Das im Fürsichsein entdeckte Nichts ist hier in dieser Grundsätzlichkeit verstanden. Das Ansichsein selbst erscheint hier als das Subjekt für die Hervorbringung eines Nichts im „ontologischen Akt" 1 7 . Das Ansidi setzt seine Positivität herab, indem es ein Nichts aufnimmt. Das Fürsichsein ist das Ergebnis der Nichtung des Ansichseins". Das Sartresche Sich-Gegenwärtigsein beinhaltet einen Bezug des Bewußtseins zu sich selbst, wie er mehr oder weniger artikuliert in jedem Ichbegriff liegt. Was gewöhnlich das Sich-Zuschauen des Ichs, oder das Seiner-Selbst-Innesein ist, erhält bei Sartre die Deutung eines cogito, das durch einen Spalt, ein Nichts von seinem präreflexiven cogito ge12

Nach Hegels Vorgang, „Phänomenologie des Geistes" 51.

» E N 117.

14

E N 120.

15

E N 120. Dieser Ausdruck ist verschiedentlich mißverstanden worden. So von M ö l l e r : „es (das Nichts) ist nicht, es ist gewesen". („Absurdes Sein" 45). II est cte ist ein Passiv, kein P e r f e k t . Derselbe Fehler bei N a t a n s o n „A Critique of J . - P . Sartre's O n t o l o g y " 5 9 : „is-was". Ein Beweis liegt in der Stelle E N 3 6 1 : le soi-

16

Kapitel I I , Seite 36 f.

objet pour être

devrait s'éprouver comme été 17

par et pour une

E N 1 2 1 : „acte ontologique".

ls

conscience..."

E N 121.

59

trennt ist. Allgemeiner ist nun ein Selbst ein Sein, das sein eignes Nichts als Negation des Identischen in sich trägt. Das „Sein" ist hier etwa das des Glaubens als ein cogito, das nur mit diesem Nichts Bewußtsein (von) Glauben ist. Diese Struktur ist aber f ü r Sartre nur beim Bewußtsein vorhanden, so daß die Formulierung als „Sein", das sein eignes Nichts ist, zur eindeutigen Bestimmung ausreicht. Das Sich-Gegenwärtigsein ist eine Einheit von Sein und Nichts. N u n ist eine solche Konzeption nodi vage. Ohne eine Explikation verstehen wir nicht, wieso diese Konzeption ein Äquivalent des Sich-Gegenwärtigseins, wieso sie eine Einheit, oder schließlich, wieso sie Ursprung des Negativen in der Welt ist. Ein Nichts als Spalt ist zunächst Trennung, Relation des Andersseins zwischen Seienden. Die Getrennten sollen aber Einheit sein, denn das Bewußtsein ist als Einheit in der Immanenz vorauszusetzen. Die Getrennten sind also nicht „Andere" und die Relation ist keine des Andersseins, denn das Andere steht in einer Identität mit dem Einen. Damit nimmt diese Einheit die Form an, ein Ganzes zu sein, das etwas negiert, das kein Anderes für es ist. Dies ist der logischen Form nach das Hegelsche Fürsichsein' 0 . Hegels Fürsichsein ist eine kategoriale Stufe des bestimmten Seins; es ist das „unendliche Sein" 20 , „absolutes Bestimmtsein". In dem Begriff liegt, daß die Bestimmtheit durch ein Anderes in das Sein selbst aufgenommen und die Differenz ausgeglichen ist. Es ist Vollendung einer Konzeption, die schon früher bei anderem bestimmten Sein angelegt ist, nämlich beim Dasein, näher beim Etwas, das Hegel „Insichsein" nennt, und das endlich ist. Im Fürsichsein wird ein Begriff erreicht, in dem die Selbständigkeit des Andern verschwindet und eingeht in die Einheit des Einen. Das Andere ist „Moment", „Sein-für-Eines" 21 . Dies von Hegel herausgestellte Fürsichsein ist eine Stufe des bestimmten Seins und als solche ein Abstraktion, eine Denkbestimmung. 19

Es ist klar, d a ß wir bei einer Gegenüberstellung des Hegelsdien u n d des Sartreschen Fürsichseinsbegriffs eine K o n z e p t i o n aus Hegels Philosophie isolieren. Wir sehen ab von Hegels übergreifender G e s a m t k o n z e p t i o n des Geistes. W i r vergleichen nur eine „ F o r m " , ein „Schema". H i e r i n liegt eine G e f a h r . Andrerseits ist es interessant festzustellen, ob e t w a Sartre n u r ein „Schema" von Hegel ü b e r n o m m e n h a t . Wir verweisen auf das Schlußkapitel.

20

Hegel, Logik I, 173.

21

ebda., 176: „Dies M o m e n t (das Sein-für-Eines) drückt aus, wie das Endliche in seiner Einheit mit dem Unendlichen oder als Ideelles ist. Das Fürsichsein h a t die N e g a t i o n nicht an ihm als eine Bestimmtheit oder Grenze, u n d d a m i t auch nicht als Beziehung auf ein v o n ihm anderes D a s e i n . . . So machen Für-eines-Sein und das Fürsichsein keine w a h r h a f t e n Bestimmungen gegeneinander aus. I n s o f e r n der Unterschied auf einen Augenblick angenommen u n d hier v o n einem Fürsichseienden gesprochen wird, so ist es das Fürsichseiende als Aufgehobensein des A n dersseins, selbst, welches sich auf sich als auf das aufgehobene A n d e r e bezieht, also für-Eines ist; es bezieht sich in seinem A n d e r n nur auf sidi. Das Ideelle ist n o t w e n d i g für-Eines, aber es ist nicht f ü r ein Anderes; das Eine, f ü r welches

60

Auf Grund des Vergleichs mit Hegels Formbestimmung des Fürsichseins verstehen wir die phänomenologische Einheit des Bewußtseins als eine Einheit des bestimmten Seins. Aber ist Sartres Fürsichsein als Sich-Gegenwärtigsein überhaupt ein Fürsichsein im Sinne der angegebenen Bestimmung Hegels? Ist es nicht nur Dasein, ein Sein „als das Nichtsein in sich schließend"", das „einfädle Einssein des Seins und des Nichts"25? Das Sich-Gegenwärtigsein ist keine „einfache" Einheit von Sein und Nichts als unmittelbare. Das Nichts ist eine Trennung in einer Einheit, eine Opposition von Bewußtseinsmomenten in einer Totalität, und also Fürsichsein. Und doch handelt es sich in der formelhaften Abstraktion nur um ein Nichts, das vom Sein unterhalten ist. Das Sich-Gegenwärtigsein ist also Fürsichsein und auch Dasein, Hegelisch gesprochen Unendliches und Endliches24. (Wir kommen auf das Verhältnis von Fürsichsein und Dasein bei Sartre nodi zurück.) Das Zusammentreffen der beiden Bestimmungen erinnert an Hegels konkretere Konzeption des subjektiven Geistes. Wir finden hier das Doppelte, den Geist als „absolute Negativität"", als „für-sich-seiende Allgemeinheit"2", aber auch als „ D a s e i n i n Stufen der Entwicklung unterscheidet er sich als fürsidiseiender von sich als nur seiendem2". Wir führen Hegels „Geist"-Begriff hier nur an als äußerliche Parallele, um Negativität, als Ausdruck für das Fürsichsein, und Dasein in einer Einheit zu belegen. Geist ist bei Hegel, wie gesagt, eine konkretere Konzeption, die Negativität entsprechend eine bestimmtere, und zwar als „Zurückkommen aus der Natur" 2 ". Für Sartre ist die Negativität ein pures Nichts, und so kommt er dazu, das Fürsichsein spekulativ als „ontologischen Akt" aufzufassen, als ein Sich-Erniedrigen des Positiven durch Aufnahme eines Nichts, oder als Auftauchen eines Nichts im Sein. Damit ist für ihn Sich-Gegenwärtigsein vorhanden. Diese spekulative Deutung lenkt uns auf das Problem der Einheit des Sich-Gegenwärtigseins: der Schritt vom Sein zum Sich-Gegenwärtigscin es ist, ist nur es selbst. — Ich also, der Geist überhaupt, oder G o t t , sind Ideelle, weil sie unendlich sind; aber sie sind ideell nicht, als für-sich-sciende, verschieden von dem, das für-Eines ist. Denn so wären sie nur unmittelbare, oder näher D a sein und ein Sein-für-Anderes, weil das, welches für sie wäre, nicht sie selbst, sondern ein Anderes wäre, wenn das Moment, für-Eines zu sein, nicht ihnen zukommen sollte . . . " . (Wir modernisieren Hegels Schreibweise). 22

ebda. 125.

24

Sartre wendet sich mit Blick auf Hegel dagegen, daß das Sichgegenwärtigscin unendlich sei ( E N 118). Sartre mißversteht hier allerdings Hegels Begriff des U n endlichen, wenn er meint, daß damit das Bewußtsein auf das Ansldi reduziert würde. W i r verweisen auf die Diskussion auf den folgenden Seiten.

25

Hegel, E n z y k l o p ä d i e § 381.

2

« ebda. § 382.

23

27

ebda. 112.

ebda. § 383.

^ Vgl. ebda. § 398.

29

ebda. § 381.

61

ist nur denkbar, indem das Sein hier wie das Hegeische Sein verstanden wird: das Sein steht in Antithese zum Nidits; sie gehen eine Einheit ein, wie in Hegels Dialektik am Anfang der Logik. Die Opposition ist schon die Einheit des Sich-Gegenwärtigseins. Eine solche Vermittlung ist eine Vermittlung von Denkbestimmungen. Nehmen wir das Sein als „seiendes" Sein, so bliebe es untangiert von einem Nidits — es ist ja keine Einheit und in dem Nidits liegt auch keine Anweisung auf Einheit wie in Hegels Geist als Negativität —; das Verhältnis wäre undialektisch. D a ß damit eine Einheit hergestellt ist, bliebe unverständlich. Und ohnehin ist das Sein, das hier gemeint ist, nur das Ansidisein als Seinsweise: etwas in der Seinsweise des Ansich ist Sich-Gegenwärtigsein, indem es ein Nichts in sich aufnimmt, aber es ist damit auch ein dem Ansidisein Opponiertes. Nicht ist „das" Ansidisein Sich-Gegenwärtigsein geworden. Es gibt Sich-Gegenwärtigsein nur als schon konstituiertes Subjekt, das das Sein negiert. Und dies ist auch die Sachlage, der Sartre gerecht werden will. Das Sein soll Oppositum bleiben und „Moment" des Subjekts sein30. Es besteht folgender Konflikt: Sartre faßt das Sich-Gegenwärtigsein als Einheit von Sein und Nichts spekulativ-real auf, die Vermittlung gelingt aber nur im dialektischen Denken. Mit der abstrakten Synthese von Sein und Nidits ist aber die Opposition von Subjekt und Sein nicht einzufangen. D a ß das Sich-Gegenwärtigsein ein daseiendes, einzelnes Endliches ist, wird nur durch ein Spiel zwischen einem Sich-Gegenwärtigsein als Nichts des Seins und als dem Sein opponiertes menschliches Dasein dargestellt. Der SeinsbegrifT ist hierbei äquivok als Denkbestimmung und als reales, besondertes Seiendes. Für Hegel ist das Verhältnis von Fürsichsein (als Form) und Sein vorgezeichnet in der Behandlung des Subjekts als „Begriff", der als Synthese von Wesen und Sein aufgefaßt wird 31 . Das Subjekt ist seiend und hat Seiendes sich opponiert, aber ist dabei schon „Begriff", d. h. Einheit mit dem Opponierten. Das Subjekt durchläuft eine Entwicklung der Assimilation seines ihm opponierten, aber schon mit ihm vereinigten Seins. Für Hegel ist also das Subjekt einmal als bloße Form — Fürsichsein — und zum andern in der Form des Begriffs darstellbar, in der das Verhältnis zum Sein mitausgesprochen ist. Die Negativität bleibt auch nicht in der prekären Fassung als einerseits eins mit dem Sein, andrerseits nicht, sondern sie integriert sich schrittweise dem Sein. so

51

62

Aufschlußreidi ist die Stelle E N 121: „Le niant est la possibilité propre de l'être et son unique p o s s i b i l i t é . . . Le néant étant néant d'être ne peut venir à l'être que par l'être lui-même. Et sans doute vient-il à l'être par un être singulier, qui est la réalité humaine." Hegel, Enzyklopädie § 159: „Der Begriff ist hiermit die Wahrheit des Seins und des Wesens, indem das Scheinen der Reflexion in sich selbst zugleich selbständige Unmittelbarkeit und dieses Sein verschiedener Wirklichkeit unmittelbar nur ein Scheinen in sich selbst ist."

In Sartres Sidi-Gegenwärtigsein bleibt eine Paradoxic bestehen. Es ist Negativität und doch auch Sein, eine Einheit von Sein und Nichts, ein seiendes Fürsichsein sui generis. Lassen wir das Problem der spekulativen Fassung beiseite, so erscheint es uns als eine Struktur, die auf ein konkretes Subjekt „angewandt" wird; Sartre kennt ja nicht eine fortschreitende inhaltliche Dialektik, die zum Subjekt hinführt oder es in seiner weiteren Besonderung zeigt. Die Einheit von Sein und Nichts steht für ein genichtetes psychisches Sein, ein Sich-Ersdieinen. Diese Einheit für sich genommen ist vergleichbar dem Hegeischen Begriff für die Immanenz, der fühlenden Seele32. Sie ist „die einfache Idealität"". Hegel gibt von hier aus eine Evolution zum Geist als Bewußtsein, als über sich zu Gegenständen hinausgehenden'4. Der Geist wechselt von Reflexion in sich zu Bewußtsein und Selbstbewußtsein.Die Stufen sind eine Linie der Sukzession. Dabei läßt sich eine beliebige Stufe als einfach verstehen, als Sein beim Gegenstand, oder als Rückkehr vom Gegenstand zu sich. Im Transzendieren ist das vorhergehende Beisichsein aufgehoben und bewahrt. Es tritt also nicht das Problem auf, wie ein Bewußtsein, indem es Bewußtsein von Gegenständen ist, „gleichzeitig" audi Bewußtsein von sich ist. Ein deskriptives Verständnis, wie das Subjekt als psychisches zu seinem Gegenstand transzendiert und auch bei sich ist, ist bei Hegel ersetzt durch die Sukzession der Schritte, die sich jeweils in der vorgängigen Einheit des Fürsichseins abspielen. Für Sartre ist Transzendieren zum Gegenstand Opposition des Sich-Gegenwärtigseins zum Sein, und so gibt es daher eine Gleichzeitigkeit von Sich-Gegenwärtigsein und transzendierendem Bewußtsein. Das Fürsichsein ist beides, Sidi-Gegenwärtigsein und Bewußtsein. Beide Verhältnisse, das zu sich selbst und das zum Sein, sind ja phänomenologisch eine Einheit und gleichursprünglich. Die dialektische Fassung muß dieser Tatsache Rechnung tragen. Das Fürsichsein ist ein genichtetes Sein und somit „nicht" Ansichsein, das damit als besondertes — als Phänomen und Situation — dasteht. Sartres Fassung als nicht-sukzessive, sondern simultane Einheit zweier Verhältnisse hat somit den Charakter einer formalen Deskription, die sich phänomenologischen Gegebenheiten anpaßt. Andrerseits ist das Sich-Gegenwärtigsein nur Ursprung für eine vollere Struktur in der Immanenz, das Selbst, die in konstruktiven Schritten entwickelt wird. Sartre geht nun zwei Wege, um von der Binnenstruktur des Bewußtseins aus das volle Fürsichsein zu entfalten. Ein Weg, der zuerst beschritten wird, ist die Entfaltung der sogenannten „unmittelbaren" Struktu»» ebda § 403. 53

Vgl. Sartres Ausdruck „dyade f a n t ô m e " E N 119.

54

Vgl. Hegel, Enzyklopädie § 412.

63

ren des Fürsidiseins aus diesem selbst, also gewissermaßen eine „subjektive Logik" des Fürsidiseins als Einheit von Sein und Nichts. Hinzutritt eine Darlegung der Zeitlichkeit des Fürsichseins. Der zweite Weg ist eine Entfaltung der Opposition des Fürsichseins als eines transzendierenden Bewußtseins. Diese Analyse kann das Selbst voraussetzen und ist entsprechend konkret. Den kommenden Analysen ordnet sich ein doppeltes Anliegen zu: Sartre will die Intentionalität auf eine ontologisdie Grundlage stellen, und er will Heideggers Daseinsanalytik in seine Philosophie aufnehmen. Die Analyse der „unmittelbaren" Strukturen erfüllt dies letztere Desiderat. Sie gibt konstruktive Analogien zu Heideggers Existenzialien (Faktizität, Möglichkeit, Worumwillen), konstruktiv insofern, als sie aus dem Sich-Gegenwärtigsein als Ursprung entwickelt werden. 2. DIE UNMITTELBAREN STRUKTUREN DES FÜRSICHSEINS

Das Sich-Gegenwärtigsein ist der Grund des Fürsichseins in seinen verschiedenen Strukturen; diese müssen von ihm aus entwickelt werden. Hierin liegt ein deduktives Moment der Sartreschen Analysen. Sie deduzieren eine Gesamtstruktur aus einem Grund, der damit sich allein als abstrakt erweist. a) Das Sein des Fürsichseins Das Sich-Gegenwärtigsein ist ein Sich-Erscheinen, ein Phantom, aber nicht nichts. D a es der systematische Ursprung aller weiteren Strukturen ist, haben wir schon oben eine vollere ontologisdie Charakteristik von ihm gegeben. Es ergab sich als seiendes Fürsichsein sui generis. Sartre hatte die Seite seines Seins abgeblendet, um sie nunmehr getrennt als ein Strukturmoment zu betrachten. Das Fürsichsein „ist", wenn auch „in der Weise eines Seins, das nicht ist, was es ist, und ist, was es nicht ist" 35 . Sartre bestimmt dies Sein zunächst von der Welt her: der Einzelne war oder ist ein bestimmter in einer Situation. Damit ist das dem Fürsichsein gegenüber „selbständig" Bleibende, sein Ansidisein, nicht auf das Sich-Gegenwärtigsein beschränkt, sondern auf das intentionale Bewußtsein ausgedehnt. Das Fürsichsein ist „Sein bei der Welt" (présence au monde) oder ein „Stehen in Situation" (délaissé dans une situation)". Das Dasein ist, im Anklang an Heidegger, sein Da-sein. Was Sartre meint, haben wir schon gesehen: das Ansichsein ist gleichsam neutral dagegen, ob wir es als „das" Ansidisein fassen, oder als Sein des Fürsichseins. Das Fürsich ist die Negativität, f ü r die Sein ist als Welt und Situation. Insofern ist dies Sein das Ansichsein des Bewußtseins. Das „Ereignis" des Fürsich bedeutet, daß das Ansidi sich als solches verliert und Fürsichsein wird. Wir können dies ein „weites" Fürsichsein nen35

64

EN 122.

se

EN 121.

nen im Gegensatz zum immanenten Sich-Gegenwärtigsein; es ist das Ideell-Werden des Seins durch eine Negativität, die sich in ihm ereignet. Hierbei bleibt das Ansichsein des so Idealisierten bestehen. D a s Ansidisein ist „ideell" Phänomen; sein Sein ist das Ansichsein als „Sein des Phänomens". Andrerseits „ i s t " das Fürsichsein selbst als genichtetes. Auch das Fürsichsein als solches hat ein Existenzmoment, das sich nicht im Ideellen, in der phantomhaften Zweiheit des Sich-Gegenwärtigseins, erschöpft, denn sonst „ w ä r e " es j a nicht. Ein Nichts, eine Negativität, kann nicht für sich bestehen, sie muß vom Sein unterhalten, Negativität eines Seins sein. D a s Fürsichsein ist auf Sein bezogen, aber „sein" Sein ist nicht das Sein der Phänomene — dies ist ihm ja transzendent —, sondern Sein der Immanenz. Es ist ein besondertes Sein gegenüber der Welt. Die beiden Fälle sind im Begriff des Ansidiseins aber zusammengegangen. E s ist in seiner existenziellen Bedeutung die FaktizitätDies bei Heidegger hermeneutisch nahegebrachte Existenzial ergibt sich für Sartre gleichsam aus der Logik des Fürsichseins. Durch das Ansichsein kommt in das Fürsichsein die Charakteristik der Kontingenz, die für Sartre dem Ansichsein eigen ist. D a s Fürsichsein findet sich als ein bestimmtes vor in einer bestimmten Welt. E s „ i s t " all das, es „ist" der und der — „ideell", d. h. als dessen N e gation. Aber es ist nicht Grund d a f ü r . Dies Faktische als Moment des Fürsichseins ist es selbst, aber es ist dennoch nicht in ihm gegründet, wie ein Moment im Ganzen gegründet ist; es ist Ansich. Als „ f ü r " das Fürsich, d. h. als Moment, ist das Faktische schon aufgenommen in seine Deutung 3 8 . Als Ansich, dessen G r u n d das Fürsich nicht ist, ist es selbst grundlos, kontingent. D a s Fürsichsein ist damit, daß es Einheit mit einem Ansich und Bezug zu einem Ansich ist, ebenfalls kontingent. E s ist „ D a sein"". D a s Fürsichsein ist andrerseits Grund seiner selbst, nicht qua Sein, sondern qua Nichtsein oder Bewußtsein 40 . D a s Fürsich ist so verstanden eine geschlossene Sphäre; es lebt in seiner Sinnwelt, ist sein eigner Innenaspekt. Wo Sein ist, ist f ü r das Bewußtsein Sinn. So gehört das Phänomen zur Sphäre des Fürsichseins. Diese Sphäre entspricht dem Hcideggersdien In-der-Welt-Sein. Als Fürsichsein ist das Bewußtsein durch sich selbst bedingt, und also notwendig. Durch sein Ansichsein oder Dasein wiederum ist es kontingent. Es ist eine „faktische Notwendigkeit" 4 1 . D a s Fürsich ist für sein Sein verantwortlich, denn es wählt den Sinn seiner Situation und sich als G r u n d für sich als in Situation, aber es ist auch wieder nicht zu rechtfertigen, insofern es seine L a g e in der Welt und seine Existenz nicht "

E N 125.

38

40

E N 124.

·" E N 126: „nécessité de f a i t " .

E N 126: librement construit.

39

Vgl. unten S. 69 f.

65

wählen k a n n " . Auf dieser Fassung des Verhältnisses von Ansich und Fürsich ruhen die wesentlichen weltanschaulichen Aussagen des Sartreschen Existenzialismus. Das Ansichsein des Fürsichseins ist zunächst bezogen auf das instantané Sich-Gegenwärtigsein. Es ist dessen „Sein". In der Fassung als F a k tizität deutet sich aber ein Hinausgehen über die Instantaneität an. Das Fürsichsein hat an seinem Ansichsein eine Grundlage, von der es sich abhebt, zu der es negativ Stellung n i m m t , die in seinem Rücken liegt. Noch ist das Ansichsein in seinem zeitlichen C h a r a k t e r unbestimmt gelassen; F a k t i z i t ä t ist Gegenwärtiges u n d Vergangenes. Aber in ihrem „SchonSein" 43 liegt ihr zeitlicher C h a r a k t e r , den Sartre in einer eignen Analyse der Zeitlichkeit herausstellen wird. Aber schon als noch nicht spezifisch zeitlich tritt die Faktizität als „Dimension" des Fürsich einer anderen Dimension, seiner Möglichkeit gegenüber.

b) Das Fürsichsein als Mangel Das Fürsichsein ist Negation seines Ansichseins. D a m i t ist es, vom Ansichsein her betrachtet, unvollständig, Mangel an Sein (défaut d'être, manque) 4 4 . Von hier aus soll verständlich werden, d a ß das Bewußtsein dynamisch über sich hinausgreift, um sida zu vervollständigen. D a s Fürsich erstrebt ein Komplement, um „ganz" zu werden. Es t r a n szendiert sich, um seinen Mangel an Sein zu beheben. Sartre exemplifiziert zunächst an der Tatsache, d a ß das Bewußtsein allein Mangel in der Welt feststellt u n d zu einer Vervollständigung hin transzendiert. N u r der Mensch k a n n die Mondsichel als Mangel gegenüber dem vollen M o n d auffassen. Der Mensch ergänzt das Vorhandene (existant) durch ein K o m p l e m e n t (manquant) zu einem G a n z e n (manqué). D e r E n t w u r f des Ganzen geht jeweils voraus. D e r Mensch transzendiert auf eine nicht gegebene Ganzheit, von der her das Gegebene bestimmt ist. D a m i t dies möglich ist, m u ß f ü r Sartre „das Bewußtsein selbst M a n gel sein" 45 . Sartre bringt weiter das Beispiel der Begierde (désir), von H u n g e r u n d Durst. Die Begierde m u ß selbst Mangel sein, sonst, wie Sartre in einer Rückschau auf historische Deutungen zeigt, w ä r e keine Verbindung zwischen der Begierde u n d dem Begehrten herzustellen. Begierde als psychischer Zustand ist rein positiv, der Zustand ist, was er ist. Ein „conatus" produziert, begehrt aber nicht; ein Organismus hat n u r positive Merkmale, auch wenn ihm etwas fehlt. N u r ein Betrachter k a n n von „Begehren" sprechen. F ü r sich selbst ist Begierde n u r gegeben, wenn sie transzendiert, außer sich beim begehrten O b j e k t ist. Begierde ist „ M a n « ebda.

" Vgl. Heidegger, „Sein und Zeit", 327.

44

45

66

E N 128; 130 und passim.

E N 130. — Vgl. Heidegger, „Sein und Zeit", 243.

gel an Sein"; das mangelnde Sein „schwebt der Begierde v o r " " . Die Begierde als Mangel erscheint auf dem „Grund einer Totalität", der Begierde als befriedigter. Sie und das Begehrte erscheinen als Momente, die in der „vermißten Totalität" aufgehen müssen". Begierde ist ein konkretes Fürsichsein und das Fürsichsein als solches ist Mangel. Dieser Gedanke hat eine täuschende Einfachheit. Das Fürsich muß einmal Mangel „sein", d. h. es muß eine Einheit bestehen, in der das Sein defizient ist im Vergleich zu „vollem" Sein. Aber es muß sich auch als Mangel „setzen", es muß „ f ü r es" sein, daß es Mangel ist. Sartre drückt dies aus, wenn er sagt, das Fürsich müsse „sein eigner" Mangel sein". Sartre versucht", das Fürsichsein als Mangel und sein „Sich-Setzen" als Mangel einsichtig zu machen. Das Fürsich negiere von sidi ein gewisses Sein oder eine Seinsweise. „Was es negiert, . . . ist das Ansichsein." Aber dies ist „kein beliebiges Ansich", denn das menschliche Dasein ist vor allem „sein eignes Nichts". „Was es als Fürsich von sich negiert, ist es selbst (soi)." Das Fürsich ist „in seinem Sinn durch diese Nichtung und diese Gegenwart des Genichteten in ihm" bestimmt, nämlich durch „das Selbst als mangelndes Ansich". Da das Dasein „in seinem ursprünglichen Bezug zu sich nicht ist, was es ist, ist dieser Bezug nicht ursprünglich und bekommt seinen Sinn nur aus einem ursprünglichen Bezug, dem Nullbezug oder der Identität". „Das Selbst als das, was es ist, erlaubt dem Fürsich, sich zu ergreifen als nicht seiend, was es ist." Diese positive Beziehung zu sich selbst als Identitätsbeziehung ist als „ständig abwesend" gegeben, muß aber zugrunde gelegt werden. Der Sinn des Fürsichseins als eines „gestörten", nicht-identischen, ergibt sich nur von der ihm vorschwebenden Identität. Dem Fürsich mangelt es selbst an Ansich. Das mangelnde Fürsich ist nicht „das Ansich der Faktizität", sondern das abwesende Ansich des Fürsich als Ganzheit, als „Grund seines Seins und nicht nur seines Nichts". Das Sein des Fürsich ist „Scheitern", aber Scheitern gibt es nur als „Scheitern gegenüber einem Sein, das es verfehlt zu sein", d. h. der Totalität. Die Totalität ist „Koinzidenz mit sich". Das Fürsich ergreift sich als „unvollständiges Sein" im Hinblick auf seine Totalität. Sartre sieht eine Analogie zu Descartes' Schluß vom unvollkommenen Wesen auf das vollkommene 50 . N u r ist das vollkommene Sein kein dem Fürsichsein fremdes, sondern es selbst als Totalität. Diese Argumentation ist näher zu betrachten, enthält sie doch den Grundgedanken f ü r die Erschließung eines vollen, konkreten Subjekts aus einem abstrakten, dem Sich-Gegenwärtigsein. Hier soll, bei aller Abstraktion, die Konstitution des existenzialen Selbst dargetan werden. Das Verständnis ist erschwert, insofern wir es einerseits mit einer logi49

Wir wählen hier dieses W o r t zur Wiedergabe des französischen „ h a n t e r " .

47

E N 130 f.

50

E N 133. Descartes' Meditationen, I I I . Meditation.

4,1

E N 131.

4i

E N 131 f.

67

sehen Argumentation zu tun haben (und insofern Hegel als Vorbild heranziehen können), andrerseits aber ein „seiendes" faktisches Subjekt gemeint ist. Wir finden einen Konflikt zweier Denkweisen. Im übrigen ist die formale Argumentation zu kurz, um verständlich zu sein. Das Fürsichsein ist negativer Bezug zum Ansichsein. Für Sartre ist nun das, was das Fürsich negiert, nicht nur sein „Moment" der Faktizität, sondern auch es selbst als nicht-negiertes, Ganzes. Es bezieht sich also auf sich als ansichseiendes. Dies könnte „logisch" verkürzt so gedacht sein: das Fürsich negiert Ansichsein; es „ist" aber doch als Fürsich, also bezieht es sich auf sich als Ansich-Fürsich (wobei das „Ansich" sein „Sein" als Fürsich ist). Der Bezug zu dem, was es ist — Ansich-Fürsich — geht f ü r Sartre logisch voraus vor dem Bezug zu dem, was es nicht ist. Auch hier gilt die „Prävalenz des Positiven". Untersuchen wir die Parallele in der entsprechenden Hegeischen A r gumentation für den Übergang des endlichen Seins, des Daseins, das noch nicht Fürsichsein ist, zum Sollen und zur Unendlichkeit. Von hier aus können wir ein näheres Verständnis gewinnen. Hegels Übergang vom Etwas zum Endlichen und vom Endlichen zum Unendlichen beruht auf der Dialektik der Grenze und spiegelt sich wider in einer Ambivalenz des Begriffs „Dasein" 51 bzw. „Ansichsein" 52 . Das Etwas (Daseiendes), das einerseits in seiner Bestimmung ( = Ansichsein) beschränkt ist gegen anderes, andrerseits Beschränkung sich gegenüber hat und somit Ansichsein im Sinne des Absehens von Beschränkung ist, hat sein „Dasein" innerhalb der Grenze, und hat gleichzeitig sein „Sein" jenseits der Grenze. Das Ansichsein ist das beschränkte und das unbeschränkte Etwas, das „an sich nichtige" 5 ', einerseits, und das „Ansichseiende" 54 , d. h. das vervollständigte Sein, andrerseits. Die Argumentation ist eine logische: Etwas und Anderes erweisen sich als dasselbe qua unmittelbares Dasein und qua bestimmt durch die Grenze zueinander. Sie sind also das Negative voneinander und identisch miteinander. So ist die Negation der Negation die Position des Etwas als Sein („Insichsein des Etwas", somit nur „Werden an ihm selbst", „Endlichkeit" 55 ). Die Argumentation f ü r das Endliche ist entsprechend gedacht als Dialektik der Schranke. Ist das Hinausgehen über die Schranke zunächst auch nur ein „endliches Hinausgehen" 59 , so ist in ihm der Ubergang ins Unendliche als Zusammengehen mit sich selbst angelegt 57 . Wie steht es nun bei Sartre, wenn wir ihn im Lichte Hegels sehen? Es handelt sich um zwei wesentliche Differenzen: einmal geht es Sartre nicht um Etwas und Anderes (als Formen des Daseins), sondern um Fürsichsein und Ansichsein. Zum andern steht die logische Argumentation im 51

Hegel, Logik I, 134 f.

52

ebda. 140.

53

ebda. 152.

M

ebda. 152.

55

ebda. 137.

5e

ebda. 145 .

57

vgl. ebda. 161.

68

Dienst eines faktischen Subjekts. Das Fürsich ist also als faktisches hier vertreten durch die abstrakte Bestimmung „Dasein". Sartre hat es mit einer Ontologie zu tun und will das faktische Subjekt verstehen, näher, es in seiner existenzialen Seinsverfassung dialektisch konstituieren. Er verwebt die formale Herleitung, die ohne eine Präzisierung ihres dialektischen Gedankengangs ein Wortspiel bleibt, mit der phänomenologischen bzw. „fundamentalontologischen" Sachlage, ist dodi das SidiEntwerfen des Menschen auf Ganzheit eine These der Daseinsanalytik. Insofern Sartre auf dieser aufbaut, liegt kein Gewicht auf der dialektischen Herleitung. Eigentümlich für Sartre ist, daß die Seinsverfassung des faktischen Subjekts mit den begrifflichen Mitteln des qualitativen Seins der Hegelschen Logik dargestellt wird. Das Verhältnis eines Fürsichseins zum Sein (im mehrfachen Sinne als zu seinem eignen Sein [Faktizität und Koinzidenz] und zum Objekt) ist ein bestimmteres Verhältnis, das bei Hegel — ebenfalls schon in der Logik — unter Absehung von der Faktizität als Zeit seine Darstellung findet auf der Ebene des Begriffs, und später, in der Enzyklopädie, auf der Ebene des Geistes (als Begriff von einem Subjekt, das die Bestimmungen der „Äußerlichkeit" in sich aufgenommen hat). Der Anfang der Hegeischen Logik, wenn wir ihn zurecht als Paradigma für Sartre unterstellen, ist also im Sinne Hegels zu unbestimmt. Sartre reduziert das Verhältnis von Subjekt und Sein auf die Verflechtung der abstrakten Bestimmungen „Dasein" und „Fürsichsein". Wie bei Hegels Dasein findet sich in Sartres Fürsichsein ein Doppelsinn von Dasein bzw. Ansichsein: einerseits als „Seinsmoment" des Fürsich (entsprechend dem einen Sinn von „Ansichsein" bei Hegel; das Fürsich ist Positives, das auch nicht ist), andrerseits als Koinzidenz, Synthese, Totalität, „Sein" (entsprechend dem „Ansichsein" im andern Sinn; das Fürsich ist ein Negatives, das durch Hinausgehen über sich Positives wird). Das Fürsich Sartres unterliegt der Dialektik der Grenze. Nun ist das Sein des Fürsich als Totalität bei Sartre vorausgesetzt auf Grund der „Prävalenz des Positiven". Dem Fürsich ist zunächst nicht ein Negatives seiner selbst (entsprechend Hegels Dasein jenseits der Grenze) opponiert; es selbst ist Negatives, Mangel gegenüber seiner Totalität. Das „Sein" des Fürsich ist also nicht „entwickelt" aus einer Dialektik der doppelten Negation. Es ist der vorausgesetzte Orientierungspunkt, den das daseiende, endliche Fürsich erreichte, wenn es logisch, kategorial, fortschreiten könnte (was es nicht kann, da es als endliches definiert, eine ontische Größe, ist). Sartre wird audi den Weg der Vermittlung gehen, wenn er dem Fürsich ein „Komplement" zuordnet58, das erst die Koinzidenz des Fürsich mit sich ermöglichen soll. Dies Komplement wäre das ausstehende „Jenseits" des Fürsich. Damit wäre die Parallele zu Hegels Dialektik des Daseins und der Grenze hergestellt. 58

Siehe unten Abschnitt I V , 2 d).

69

Zunächst im Blick steht bei Sartre jedoch, wie wir gesehen haben, eine dem Fürsich opponierte Totalität, die der des Hegeischen Unendlichen im Gegensatz zum Endlichen entspricht. Das Unendliche ist das Positive, das Ansichsein des Fürsich, dem gegenüber es sich als Mangel bestimmt. Wir sehen bei Sartre eine komplexe Dialektik, die wir in zwei Dialektiken bei Hegel auflösen, eine des Daseins und eine des Fürsichseins, oder eine logische Dialektik, die die Totalität denkt, und eine reale, die endliches Dasein denkt. Der logische Einschlag in Sartres Fürsichsein deutet sich an im bloßen „Vorschweben" der Totalität. Das Problem einer Parallelisierung Sartres mit Hegel liegt in unserm Zusammenhang, wie sich gezeigt hat, in der Verbindung von Fürsichsein und Dasein, oder in der Fassung des Fürsich als eines endlichen, faktischen. Das Fürsich Sartres ist daseiendes; sein Bezug zur eignen U n endlichkeit ist schlecht-unendlich, nicht Verwandlung in eine höhere Stufe der Bestimmung. Die Bestimmung des Daseins wird in eins gesetzt mit Hegels Äußerlichkeit5". Damit entspricht die geschilderte „existenziale" Dialektik der Dialektik der Zeit bei Hegel. Das Außersichsein ist die Art des Fürsich, endlich, daseiend zu sein; nicht hat es, wie das Etwas, ein Seiendes seinesgleichen sich opponiert. Seine Dialektik ist „unipolar""'. Es ist eine Dialektik des endlichen Fürsich mit sich selbst. Z w a r ist „ontologisch", nicht „logisch", ein doppelter Gegensatz vorhanden: der von Fürsich und Sein als Faktizität und Objekt, einerseits, und der von Fürsich und Fürsich als Koinzidenz in der Immanenz, andrerseits. Beide sind aber logisch nivelliert zu einem Gegensatz, entsprechend der Unbestimmtheit der Bestimmungen des qualitativen Seins, in denen Sartre das Subjekt darstellt. Hegel kann auf höherer Ebene, mit einer bestimmteren Dialektik, den mehrfachen Gegensätzen, die bei Sartre zusammenfallen, gerecht werden, wobei allerdings nur an eine kategoriale, nicht an eine zeitliche, Dialektik gedacht ist61. Wie wir schon sahen, stellt Hegel das Verhältnis von Fürsichsein und Sein auf der Stufe des Begriffs und des Geistes dar. Es geht ihm um die Gewinnung einer Totalität, verstanden als Identität von Subjektivität und Objektivität. Das Ansichsein, das das Fürsich gewinnen soll, ist nicht ein subjektives, wie bei Sartre, sondern ein objektives. Mit dieser Opposition kann Hegel die Bewegung zur Gewinnung der Totalität des Subjekts dartun. Er entwickelt sie aus einem Konflikt mit dem Subjekt gegenüber „Anderen"; das Subjekt durchläuft verschiedene Stadien der Identifikation mit dem Ansichsein. Durch die Fassung des Subjekts als Begriff und als Geist — als schon entwickelte Form der Einigung von Subjekt und Objekt — kann Hegel das Über-sich-Hinausgehen des Subjekts zu einem schon in ihm liegenden 5

» Vgl. Hegel, Enzyklopädie § 247.

eo

Ein Ausdruck von J. Cohn, „Theorie der Dialektik", 273.

· ' Vgl. unten IV, 3 c). 70

(„seinem") Andern und damit zu sich selbst verstehen". Als Grundgedanke erscheint uns, daß bei Hegel das Subjekt nur über die Vermittlung mit dem Gegenstand seine Totalität gewinnen kann, und, soweit es sie nicht gewinnt, sie im Hinausgehen zur Objektivität anstrebt. Sartre versucht, vom Subjekt in der Immanenz zu zeigen, wie es als Mangel über sich hinausgeht zu sich als Totalität. In der abstrakten Dialektik Sartres ergibt sich das schon aus der Armut der Bestimmungen. Die Totalität ist eine „logische" Extrapolation des daseienden Fürsidi, das sein „Sein" erreichen will. Man könnte einwenden, daß wir bei dieser Charakterisierung der Dialektik Sartres als einer immanenten übersähen, daß doch auch bei Sartre das Subjekt in einer Opposition zum Gegenstand stehe und sich über ihn mit sich vermittle. Wir behandeln diese Negation in einem späteren Abschnitt 63 , können aber vorgreifend sagen, daß dies Negieren des Seins nicht, wie bei Hegel, eine Identifikation mit dem Gegenstand zum Ziel hat, sondern diesen zum ausgeschlossenen macht. Sicherlich will Sartre dem „In-der-Welt-Sein" gerecht werden; im Fürsichsein ist die unmittelbare Opposition zur Welt angelegt. Aber die „Konstruktion" des Ganzheitsbezuges des Fürsichseins zu sich und überhaupt seiner existenzialen Strukturen bleibt in der Subjektivität und ist dem Inhalt gegenüber formell. c) Das Fürsichsein als

Totalität

Nehmen wir das Transzendieren des Fürsich zu sich als Totalität als dargetan hin. Das Fürsich steht in Beziehung zu einem abwesenden Selbst als seiner Totalität, ist unterwegs zu ihm. Die Totalität ist aber, in U m kehrung der Hegeischen Auffassung, f ü r es nicht erreichbar. Das Fürsichsein kann nicht Ansich-Fürsich werden. Dies wäre eine Koinzidenz mit sich, die kein Anderssein setzt, positiv, „identité à soi" ist64. Sartre macht hier dieselbe Unverträglichkeit von Ansich und Fürsich geltend, wie sie in dem Gegensatz der beiden Seinstypen liegt. Die Erlangung der Totalität, des Ansich-Fürsich, bedeutete die Zerstörung des Fürsich. Die Unerreichbarkeit der Totalität beruht auf einer ontisch-ontologischen Unmöglichkeit. Für den Menschen ist die Totalität ein Grenzbe• 2 Charakterisieren wir das Subjekt auf der Ebene des Begriffs, so können wir es als „subjektiven Zweck" auffassen: die Einzelheit bestimmt „die gegen die Objektivität vorausgesetzte Subjektivität des Begriffs in Vergleichung mit der in sich zusammengeschlossenen Totalität als ein Mangelhaftes" und kehrt sich nadi außen (Enzyklopädie § 207). Oder auf der Ebene des Geistes als „abstraktes Selbstbewußtsein": Dieses ist schon „behaftet mit einem äußerlichen Objekt, formell mit der Negation seiner". Es ist „als diese Gewißheit seiner selbst gegen das Objekt der Trieb das zu setzen, was es an sich ist, - d. i. dem abstrakten Wissen von sich Inhalt und Objektivität zu geben . . ." (ebda. § 425). 63

Siehe unten Abschnitt IV, 4.

M

E N 133.

71

griff oder „Ideal"' 5 . Das Bewußtsein ist so „von Natur aus unglückliches Bewußtsein", ist aber, wie im Fall der kantischen Idee, in diesem Ideal „engagiert"". Das Bewußtsein bezieht sich nicht auf diese Totalität im Sinne eines setzenden Bewußtseins, denn damit würde diese Objekt". Die Totalität „schwebt dem nicht-setzenden Bewußtsein v o r . . . als sein Sinn". Ohne diese vorschwebende Totalität wäre das Bewußtsein nicht Bewußtsein, insofern das heißt: „Mangel sein." Beide Bewußtseinsbegriffe, der des Mangels und der der Totalität, „bilden ein Paar" 68 . Hier zeigt sich, daß, was in der Konstruktion der Strukturen nacheinander deduziert wird aus dem Sich-Gegenwärtigsein, als Ganzes gleichursprünglich ist. Das Fürsich ist eine strukturelle Einheit, die Sartre Selbstheit (ipséité) nennt". Insofern handelt es sich bei der Entwicklung der unmittelbaren Strukturen des Fürsichseins um eine transzendentale Theorie in synthetischer Darstellung, eine Theorie, die die Existenzialien „ableitet". Ihre Paradoxie liegt darin, daß ihr Ausgangspunkt selbst die konkrete Bewußtheit, das Sich-Gegenwärtigsein des Menschen ist. Nach seiner existenziellen Bedeutung verstanden ist die Totalität für Sartre Wert (valeur)70. Die von Sartre beigebrachten Bestimmungen des Selbst als Totalität entsprechen audi den beiden Charakteren, die gewöhnlich dem Wert beigelegt werden: „unbedingt zu sein und nicht zu sein", d. h. unbedingt zu gelten. Der Wert ist das „unbedingte Jenseits für jede Überschreitung" des Seins und damit ein „Jenseits desjenigen Seins, das überschreitet", des Fürsichseins. Er ist unerreichbar, vielmehr „setzt jedes Transzendieren ihn voraus". Der Wert ist die fehlende Totalität (totalité manqué), das Selbst als absolut-seiend, identisch, rein, dauernd, als Grund seines Seins. Er ist der „Sinn" des Überschreitens, der der Freiheit vorschwebt. Er „übt nicht Anziehung auf das Fürsich aus", sondern ist das, was dieses „zu sein hat". „Das Selbst, das Fürsich und ihr Bezug halten sich in den Grenzen einer unbedingten Freiheit... aber gleichzeitig auch in den Grenzen der konkreten Faktizität, insofern das Fürsich . . . nicht Grund seines eignen Seins sein kann' 1 ." In der Fassung der Totalität als Wert liegt die Schwierigkeit, daß Bewußtseinsbestimmungen, die wir als negativ bewerten, ebenfalls zum Wert, d. h. zur Totalität der betreffenden Bewußtseinsbestimmung, gesteigert werden. So schwebt dem Fürsich als Durst ein Selbst als Durst vor als Wert. Der Mangel will gestillt sein, aber als totales Selbst wird er andrerseits nicht beseitigt, sondern gesteigert. Der Durst soll „seinen Charakter als Mangel verlieren und Durst als Sein" werden72. "

E N 140.

"

Alle Negationen in der Immanenz — außer der Reflexion — sind nidit-setzend.

68

E N 134.

M

E N 134.

Dies ist ein Indiz für die Einheit der Strukturen in der Immanenz.

72

· · E N 148.

70

E N 136.

» E N 138.

72

E N 146.

Oben handelte es sich um die Überwindung eines Mangels an „Sein"; das Fürsichsein entwirft sich auf eine Koinzidenz mit sich, in der es Sein und Bewußtsein ist. Mag diese Formulierung als Ausdruck der strukturellen Paradoxie des Ansich-Fürsich gelten, so tritt jetzt f ü r den Mangel jedes inhaltliche Bewußtsein ein. Und allgemein heißt es, der Mensch suche gar nicht die Aufhebung der Begierde, sondern ihre Ewigkeit. Dies ist eine offensichtliche Verwechslung von Struktur und Inhalt. N u r die Tatsache, daß bestimmte Gefühle für einen Mangel stehen, führt dazu, sie mit dem Mangel zu identifizieren, der eine Struktur bezeichnet. Die Verwechslung von Struktur und Inhalt besagt, daß das Fürsich sich anscheinend auf der Grundlage seiner jeweiligen Bestimmtheit zum „Sein" steigern mödite. Das gewählte Beispiel von der Begierde (bzw. vom Durst) suggeriert, daß das Fürsich als so bestimmt unvollkommen sei und als so bestimmt vollkommen sein wolle. Andrerseits will das Fürsich Bestimmtheit überschreiten, negieren (also hier: nicht mehr Durst sein). Der Aussage, das Fürsich wolle Durst ganz sein, muß gegenüberstehen, daß das Fürsich diese seine Bestimmtheit negieren will. Die These Sartres vom „ewigen" Durst, den das Fürsidi sein will, ist irreführend, insofern das Ideal als gleichnamig mit der beschränkenden Bestimmtheit gesetzt wird, die doch überschritten wird. Gerade dies, daß idi meine Bestimmtheit steigern will, ist doch inhaltlich-konkret offen. Die Bestimmtheit ist einerseits „Weise" oder „Sein" des Fürsich, andrerseits seine Beschränkung, sein Nicht-Fürsich-Moment, das überschritten wird. N u r strukturell läßt sich sagen, was das Fürsich will: mit sich koinzidieren. Ist Begierde nicht im schlichten Sinn als Bestimmtheit (etwa Durst), sondern als Struktur gemeint, so hätte der Mensch die Begierde, Begierde „ewig" zu sein. Das hieße dann, daß hier eine „potenzierte" Endlichkeit gefordert ist, die faktische Endlichkeit ist in die Reflexion, in den Entwurf des Menschen, eingegangen. Die Dialektik entspricht der der Äußerlichkeit oder Zeitlichkeit. Sartre kann sich f ü r seine schillernde Auffassung von der Begierde, die auf der Interpretierbarkeit der Dialektik beruht, auf menschliche Urerfahrungen stützen, nach denen der Mensch Steigerung und Befreiung von Begierde sucht. d) Das Fürsichsein

als

Komplement

Das Fürsichsein steht in einer Zweckbeziehung zu sich als Totalität. Diese, sein Worumwillen, ist aber unerreichbar. Es bleibt Mangel an einer Koinzidenz mit sich selbst. Der Entwurf auf seine Totalität verweist es auf eine „Mitte", durch die es sich mit sich zusammenschließen kann. Dies Verhältnis ist bei Sartre in die Analogie des gegenständlichen Mangels gekleidet. Ganz wie im obigen Beispiel von Mondsichel und Mond denkt sich Sartre beim Fürsichsein drei Momente: das Sich-Gegenwärtigsein als das, was Mangel ist; die Totalität oder das Ansich-Fürsich; 73

und das „Komplement" als das, was dem Sich-Gegenwärtigsein mangelt, um Totalität zu sein75. Was in der Zweckbeziehung als Mitte oder Mittel erscheint, ist hier Komplement des Fürsichseins. Nach der Deutung des Fürsich als Mangel ist dies Komplement zu bestimmen. Es muß selbst ein Fürsich sein, denn mit ihm zusammen soll das Fürsich mit sich koinzidieren. „Das Komplement ist ein mangelndes Fürsich, das ich bin." Andrerseits bin ich es nicht „im Modus der Identität", denn dann träte der Fall der unmöglichen Koinzidenz ein. Sartre bestimmt das Komplement von der Totalität her: „ich ,bin* das mangelnde Fürsich nur in der Weise, daß ich das Fürsich zu sein habe, das ich nicht b i n . . . " " . Idi beziehe mich im Rahmen eines vorschwebenden Ideals vom Ansich-Fürsich auf ein abwesendes Fürsich, das ich bin, das mir aber nodi mangelt. Dies je eigne Komplement des Fürsich ist nach seiner existenzialen Bedeutung meine Möglichkeit™. Das Fürsich, das jetzt als eine „ T r i n i t ä t " " erscheint, ist gleichursprünglich in seinen drei Entfaltungen als faktische Gegenwart, als Möglichkeit und als Worumwillen. Die Heideggerschen Existenzialien sind in ihm konstruierend nachgebildet. Im einzelnen zeigen sich in Sartres Lehre Schwierigkeiten. Die gegenständliche Analogie ist fragwürdig. Nach dem Schema ist ein Ganzes ein Kompositum aus Vorhandem und Komplement. Im ganzheitlichen Verstehen des Menschen in der Welt ist ein Komplement allerdings nicht aufweisbar; wir müssen es uns erst vergegenwärtigen. Wenden wir das Schema auf das Fürsichsein an, so ergibt sich, daß das Fürsich, nachdem es sich auf seine Ganzheit entworfen hat, nur den „Summanden" finden muß, der es zur Ganzheit ergänzt. Fände es ihn, so wäre es schon die Ganzheit. Erreicht es ihn nicht, wodurch unterscheidet sich der Fall von dem der bloß „vorschwebenden" Ganzheit? Kann die Analogie ausdrücken, daß die Möglichkeit von dem zu Ermöglichenden verschieden ist? Wir haben oben" schon die Klärungen f ü r das dialektische Verständnis des Komplements gegeben. Mit dieser Konzeption wird der Ubergang zur Totalität vom Sichgegenwärtigsein „entwickelt", der zunächst vorausgesetzt war. Das Komplement folgt der Dialektik des Daseins und der Grenze. Indem das Fürsich Dasein ist, ist sein „Sein" in der Vermittlung mit einem Negativen seiner selbst, dem Komplement des Fürsich, das es noch nicht ist, zu suchen. Dieser Gegensatz erscheint nach der gegenständlichen Analogie zwar als undialektisch — als zwei Positiva —, er ist aber dialektischer Gegensatz, der die Totalität logisch vermittelt durch doppelte Negation. Das Fürsich geht über sich hinaus zu seinem Jenseits, um zu sein. ™ E N 145 .

74

E N 140.

« E N 131.

77

in Abschnitt IV, 2 b), S. 68 ff.

74

75

E N 145: „mon possible".

Dies wäre allerdings (nach der logischen Dialektik des Seins) zu „viel", weil die Totalität als höhere kategoriale Stufe erreicht wäre, was ja f ü r ein endliches Fürsich nicht möglich ist. Die Möglichkeit wäre hier dasselbe wie das vorschwebende Ideal. Die Vermittlung des Fürsidi mit seiner Möglichkeit muß also nach der oben geschilderten komplexen Dialektik gedacht werden. Das Fürsich als auf sich bezogen ist sich äußerlich. H a t es (in der Zeit) die Möglichkeit verwirklicht, so ist es sich noch immer äußerlidi, hat neue Möglichkeiten. Für das endliche Fürsich bleibt die Totalität ein Ideal (einer anderen kategorialen Stufe angehörig), es hat nur Möglichkeit, von der es sich die Totalität verspricht. Wir werden wieder auf die Dialektik der Zeitlichkeit verwiesen, die auf dem Daseinscharakter des Fürsich im Sinne des Sich-Äußerlichseins beruht, in der auch jedes zeitlich Erreichte umschlägt in Negativität. Die existenziale Dialektik, die uns hier beschäftigt, und die Dialektik der Zeitlichkeit, stehen in gewissem Gegensatz und audi in gewisser Komplementarität zueinander. Die letztere, am negativ verstandenen Dasein des Fürsich (seiner Äußerlichkeit) festgemacht, zeigt die schlecht-unendliche Bewegung des Fürsich. Das Ideal, die Totalität, ist in ihr kein Element: es gehört einer höheren kategorialen Sphäre an. Die Untersdicidung von Komplement und Totalität f ü r dasselbe Fürsich ist also selbst ein Konflikt zwischen endlicher (realer, faktischer, äußerlicher) und unendlicher (logischer) Dialektik. Beide fallen unvermittelt in eins78. In der Dialektik von Fürsichsein als Sich-Gegenwärtigsein, Komplement und Totalität bleibt die Schwierigkeit: ist Möglichkeit, wie sie hier verstanden wird, das, was das Fürsich als Mangelndes bestimmt und was immer ausbleibt, wenn auch ihr „Inhalt" Gegenwart werden kann, besteht bei einer solchen Nivellierung von Möglichkeit und Ideal nicht auch eine Nivellierung von Mittel und Zweck? Die Schwierigkeit läßt sidi verstehen als Folge davon, daß wir es, wie wir sagten, mit einer „unipolaren" Dialektik zu tun haben. Sie hat nur ein Anderes für das Fürsich: es selbst. Sartres Dialektik ist eine Dialektik der Immanenz und drückt es an ihr selbst nicht aus, daß es noch eines andern als meiner selbst bedarf, um Möglichkeit zu begründen, so daß idi meiner Ganzheit, die idi als endliches Wesen nicht erreiche, zustreben kann. Sie ist eine Dialektik der Nichtigkeit des Fürsich, einer Nichtigkeit, die nicht auf einem seienden Andern beruht, obwohl die Armut der Bestimmungen Sartres auch dieses Verhältnis zu decken scheint. Das Ansichsein ist aber logisch nicht bestimmt genug, um Mittel sein können. Ist aber nicht das Objekt gerade das Mittel f ü r meinen subjektiv-objektiven Zweck? Damit ist noch einmal der Einwand geltend gemacht, der oben schon angeklungen ist: er richtet sich gegen die Darstellung der Zweckbeziehung des Fürsidi zu sich selbst in der Immanenz. Können die zusammengehörigen Momente von Sich-Gegenwärtigsein, Totalität und Mög78

Vgl. unten S. 85.

75

lichkeit als subjektive sinnvoll sein? Wie tritt die Beziehung des Fürsidi zur Welt in diesen Zusammenhang ein? Das Fürsich ist, schon nach der Analyse der Faktizität als Sein bei der Welt nicht auf seine Subjektivität beschränkt, ist kein weltloses Subjekt. Andrerseits ist der Bezug des Fürsich zu sich ein Bezug in der Immanenz. Mögliches und Ideal wären so nur formal bestimmt. Sie müssen aber mit der Welt zu tun haben, sonst wären sie leer. Die Zweckbeziehung beinhaltet ein Ermöglichen, zu der ein Rekurs auf die Welt gehört, der Gebrauch eines Mittels, eines Zuhandenen. Wie muß aber dies Mögliche verstanden werden, wenn es einerseits Fürsich ist, andrerseits an ein innerweltliches Mittel gebunden ist? Nehmen wir noch einmal Sartres Beispiel vom Durst 79 . Der Durst ist „nie Durst genug"; er will Durst als Sein sein. Dem Fürsidi schwebt ein Selbst als Durst vor. Hierzu mangelt es ihm „an einem Fürsich, das den Durst zum gestillten macht, so daß dieser die Form des Ansich-Seins annimmt". Es bedarf eines vom Ziel auf das Fürsich reflektierenden Aktes des Trinkens. „Das Mögliche des Durstbewußtseins ist das Bewußtsein von Trinken", d. h. abstrakt: der Entwurf eines Fürsich jenseits des Fürsich als Sich-Gegenwärtigsein. Als Fürsich hat sowohl das Sich-Gegenwärtigsein als audi das Fürsich als mögliches sein Korrelat in der Welt. Das Fürsich des Durstes, das gestillter Durst sein will, hat das Glas vor sich; das mögliche Fürsich bedeutet gegenständlich die Verweisung des vollen Glases auf das getrunkene. Die gegenständliche Seite ist Korrelat der subjektiven Strukturverhältnisse, steht ihrerseits in Verweisungszusammenhängen 80 . Mein Ziel ist das gegenständliche Korrelat meiner Möglichkeit 81 . Das mögliche Fürsich ist, so meint Sartre 82 , zwar nur durch ein „Nichts" vom Fürsich getrennt, andrerseits aber durch die ganze Welt, da ja das mögliche Fürsich ein Fürsich bei der Welt ist. Der Entwurf auf Koinzidenz mit sich durchquert die Welt. Der Mensch „muß sich jenseits der Welt mit seiner Möglichkeit vereinigen". Dieser Bezug ist der Zirkel der Selbstheit (circuit d'ipséité). Welt ist „die Gesamtheit des Seins", das von diesem Zirkel „durchquert" wird. Hiermit ist eine Beziehung zwischen Fürsich und Welt vorgezeichnet, die über das bloße Sein „bei" der Welt hinausgeht und zweckhaftes Handeln in der Welt ermöglichen soll. Sartre will also zwei Forderungen gerecht werden. Einmal bezieht sich das Fürsich im zweckhaften Handeln auf die Welt, realisiert Ziele in der Welt um seiner selbst willen, gibt sich aus ihr zu verstehen, was es ist. Andrerseits muß die Ermöglichung meines Seins als Realisierung 80

"

E N 145.

81

W i r bemerken hier, d a ß das Mittel nicht in die Betrachtung einfließt a u ß e r als schon vorgefundenes. Mittel ist einfach Z u h a n d n e s in der Welt, das von einer Mög82 lichkeit her verstanden u n d gebraucht w i r d . E N 148.

76

E N 149; 251.

eines Zwecks in der Welt Bewußtsein d a v o n sein. D a s Mögliche ist die A n t i z i p a t i o n des Fürsich als Bewußtsein v o n Gegenständen der W e l t " . Phänomenologisch sind die beiden Bezüge unterschieden als setzendes u n d nicht-setzendes Bewußtsein. Ich beziehe mich auf mein mögliches Fürsich „präreflexiv", auf mein Ziel in der Welt beziehe ich mich durch ein cogito. Aber da dies das cogito des möglichen Bewußtseins ist, a u d i wieder durch mein präreflexives cogito von diesem cogito 84 . I m Gegensatz e t w a zu Hegel erscheint Sartres Lösung f ü r das Verhältnis v o n Fürsichsein u n d Welt als nur „ f o r m e l l " . Nicht ist der t r a n szendente Gegenpol, die Welt, Gegenstand einer dialektischen Auseinandersetzung. D a s Verhältnis z u r Welt läuft n u r „ p a r a l l e l " mit den subjektiven S t r u k t u r m o m e n t e n . Diese sind, wie w i r sahen, mit inhaltlichen Bestimmungen, wie das Fürsich sie in seiner Welt h a t (etwa D u r s t ) verk n ü p f t ; w a s ich auch immer als jeweilig bestimmter bin, nach der D e u tung der Begierde e n t w e r f e ich mich d a r a u f , es ganz zu sein. Diesem A s p e k t der subjektiven G a n z h e i t steht gegenüber der — ebenfalls in der I m m a n e n z verbleibende — Aspekt, d a ß ich jeweils N e g a t i o n meiner selbst bin, also immer abrücke von meinem jeweiligen Bestimmtsein. H i e r w ä r e also zumindest R a u m v o r h a n d e n u n d der G r u n d angelegt f ü r ein, w e n n auch n u r negativ ausgedrücktes, Sich-Entwerfen auf „neue" Möglichkeiten u n d ein neues, nicht gleichnamiges Ideal, f ü r eine „ W a h l " meiner selbst, wobei die Welt wieder „parallel" z u m Fürsichsein miteinbezogen ist. Beide Aspekte des Fürsich, das Sich-auf-Ganzheit-Entw e r f e n u n d das Sich-Negieren, sind ein dialektischer K o n f l i k t in der äußersten A b s t r a k t i o n : ich bin mein Ansich-Fürsich nicht, d. h. es schwebt mir n u r v o r ; u n d : ich bin nicht, was idi bin — sonst wäre ich Ansich —, bin also immer über mich hinaus. D i e dialektische K o n s t r u k t i o n , die als Ä q u i v o k a t i o n des Ansichbegriffs erscheint, wie wir schon sahen, bleibt in ihrem f o r m a l e n C h a r a k t e r unbefriedigend. Sie formuliert den C h a rakter der Möglichkeit des Fürsidi einerseits als identisch, andrerseits nicht-identisch mit diesem. U m diesen subjektiven Formalismus zu überwinden — u n d um einen solchen handelt es sidi, um eine unipolare Dialektik — m ü ß t e das Verhältnis z u r Welt mehr als bloßes K o r r e l a t v e r h ä l t n i s sein; die Welt m ü ß t e Möglichkeiten „vorgeben", m ü ß t e eine dialektische „ M i t t e " f ü r mich sein. Ich m u ß mich in der Welt erkennen können als was ich sein will. (Wir k o m m e n auf die Frage noch einmal zurück.) D a s Sartresche Fürsichsein ist eigentlich erst in der E n t f a l t u n g der „ u n m i t t e l b a r e n " S t r u k t u r e n ein Fürsichsein, d. h. ein Selbst, das sich auf 85

81

E N 148 f.: „Le possible, en effet, qui est mon possible, est pour-soi possible et comme tel présence à l'en-soi comme conscience de l'en-soi." D e m entspricht bei Husserl, daß idi in Protentionen mich antizipierend auf Gegenstände richten kann. Vgl. „Vorlesungen zum inneren Zeitbewußtsein", § 43. Sartre erweitert diesen Gedanken auf pragmatische Bezüge.

77

sich selbst bezieht. Sich-Gegenwärtigsein, Faktizität, Ganzheit und Möglichkeit machen zusammen ein Strukturgewebe gleichursprünglicher Momente aus, in dem sich das Sich-Gegenwärtigsein als aktuelles Bewußtsein Grund ist f ü r die nicht-aktuellen, „negativen" Dimensionen. Als Negativität ist es Ausgangspunkt f ü r die Konstruktion des Selbst. Was dieses inhaltlich darstellt, ist in Heideggers Existenzialien vorgebildet. Sartres eigner Beitrag ist die Konstruktion**. Ihre Problematik ist deutlich geworden, setzt sie doch die Negativität als Grundlage, eine Grundlage, die keine inhaltlich eindeutige Dialektik ermöglicht, sondern Bestimmtheit aus der Phänomenologie borgen oder Hegeische höhere Stufen der Dialektik miteinfließen lassen muß. Aber wir sind noch nicht am Ende unsrer Analyse. 3. D I E Z E I T L I C H K E I T

Bevor wir das Problem des Transzendierens zur Welt aufnehmen, haben wir eine weitere Struktur in der Immanenz, oder eine weitere Fassung der schon geschilderten Struktur zu betrachten, die der Zeitlichkeit (temporalité). Sie hat ihre Stelle nach der Analyse der unmittelbaren Strukturen des Fürsichseins, so daß beides zusammengenommen eine Darlegung des Fürsich in der Immanenz ausmacht. In gewissem Sinn ist die Analyse der Zeitlichkeit eine Wiederholung des vorhergehenden. In ihrem Verhältnis zu den unmittelbaren Strukturen spiegelt sich das Verhältnis von Sorgestruktur und Zeitlichkeit bei Heidegger. Entsprechend seiner konstruktiven Absicht muß Sartre die Zeitlichkeit als aus dem Begriff des ursprünglichen Fürsich hervorgehend dartun. Sartres Weg dahin ist, in einer phänomenologischen und in einer ontologischen Betrachtung zu zeigen, daß sich die Zeit nicht „verstehen" läßt, wenn sie nicht von einer Struktur her begriffen wird, die die Form des Fürsichseins hat. Dadurch wächst dem Fürsich, dessen Form schon in den Begriffen des Ansich und der Negativität geschildert ist, eine Auslegung als zeitliches zu. Wir beginnen mit der ontologischen Betrachtung. a) Ontologische

Vorbetrachtung

Sartre gibt eine systematisch-ontologische Analyse der Zeit mit Rückgriff auf historische Zeitauffassungen. Die irreversible Sukzession, das Vorher und Nachher der Zeit als allgemein zugestandenes Charakteristikum, ist nicht zu verstehen, wenn das Vorher und das Nachher getrennt gedacht werden, denn es käme zu einer Auflösung der Zeit in eine Unendlichkeit von getrennten augenblicklichen Inhalten8®. 85

81

78

Insofern ist Sartres Theorie des Fürsichseins der Versuch, f ü r Heidegger das zu leisten, was Fichte für Kant geleistet hat: die Kategorien (bzw. Existenzialien) abzuleiten aus einem Grund. E N 176.

Die Assoziationstheorie setzt die Impressionen als nur „extern" miteinander verbunden, aber ohne eine vorgängige Einigung wird die Verbindung unverständlich. Es legt sich also der Gedanke nahe, daß ein „Zeuge" sukzessive Inhalte vereinigt 87 . Soll das Problem nidit für ihn neu entstehen, muß er in beiden Zeitpunkten sein, und das heißt, unzeitlich sein. Dies ist nach Sartre die Descartessdie und die Kantsche Lösung. Die Einheit der Zeit stammt von einem unzeitlichen Wesen, Gott, und seiner creatio continua, oder vom „ich denke". (Bei Descartes wird die Zeit geeinigt durch den im Sein erhaltenen materiellen Inhalt; bei Kant ist die Anschauungsform der Zeit selbst von den Verstandesbegriffen bestimmt). Die zu einigenden Augenblicke sind ihrerseits unzeitlich; eine Rekonstruktion der Zeit gelingt somit nach Sartre nicht. Soll die Zeit reell sein, ist Gott dodi von ihr tangiert — muß auf die Zukunft warten —; er hätte also eine Zeitlichkeit, die sich nur durch ein AußersichSein verstehen ließe. Oder die Zeit wird eine Illusion des endlichen Menschen. Wendet man ein, daß die Zeit bei Kant als Anschauungsform schon eine Einheit sei, so erwidert Sartre, das Entscheidende sei nicht eine totale (angeschaute) Einheit, sondern die innerzeitlichen Beziehungen des Vorher und Nadiher. Die Idee einer Einigung von isolierten nicht-zeitlichen Ansidiseienden ist für Sartre ganz generell unverständlich. Auch die Annahme einer virtuellen Zeitlichkeit ist sinnlos. Unzeitliches bleibt entweder untangiert von der Inbeziehungssetzung, oder es muß in einen neuen Einheitstyp eingehen, den der ekstatischen Einheit. Das Vor und Nach ist für Sartre nur denkbar durch eine Unvollständigkeit des Vor, die auf ein Nach verweist. Ein unzeitliches „ich denke" kann aber diese Seinsänderung nicht hervorbringen 87 '. Es ist unverständlich, wie es Zeitloses in Sukzession verwandeln soll. Die Zeit läßt sich von einem Zeitlosen aus nicht entwerfen und auch einem Zeitlosen nicht aufdrücken. Wir bemerken folgende Schwierigkeit. Die Sukzession muß nicht allgemein zugestanden werden. Das reine unveränderte Dauern eines Dinges, ja auch des Seins insgesamt, ist nicht Zeitlosigkeit, jedenfalls nicht in dem Sinne des Augenblickes. Wir finden eine doppelte Verwendung des Begriffs „Ansich": einerseits ist es dasjenige, das keine Relation kennt, also auch keine Zeit, in der Relationen des Vorher und Nachher stattfinden; es wäre ein Kontinuum, ein Immer-Sein, oder ein immerE N 178 f. — Für die folgenden Überlegungen Sartres vgl. Bergson, „Evolution créatrice" (in Œ u v r e s ) 7 8 7 , 7 9 5 - 8 0 1 , 781. β 7 * Sartre sieht die R o l l e des Kantsdien „ich denke" als notwendige Bedingung, als nicht faktisch, in Gegensatz zum faktischen Bewußtsein (vgl. La transcendance de l'ego 8 5 — 8 7 ) . S o wird ihm das „ich denke" unzeitlich. — Vgl. dagegen Heidegger, der das „idi denke" von der reinen Selbstaffektion her interpretiert ( K a n t und das Problem der Metaphysik, § 34) und sagt: „Zeit und ,ich denke' sind dasselbe" (174). — Sartre hat die mögliche „existenziale" K a n t - I n t e r pretation nicht gesehen. 87

79

währendes Jetzt". Andrerseits ist das Ansich das Diskrete, Isolierte, ja auch der Augenblick, Entitäten also, die als in Sukzession stehend angesehen werden und von denen dann gerade nicht eingesehen werden kann, wieso dies möglich ist. Soll Zeit Sukzession sein, so fallen beide Ansichbegriffe — aus entgegengesetzten Gründen — aus. Sartre diskutiert audi die Kontinuumsauffassung der Zeit8". Er kritisiert an ihr, daß es kein Vorher und Nachher gebe, da keine Zäsuren vorhanden sind. Bei Leibniz werde aus der Zeitfolge eine logische Immanenz. Dagegen sei festzuhalten, daß die Zeit auch ein Trennendes ist. Bergsons Lösung, wonach die Vergangenheit die Gegenwart durchdringt, erscheint Sartre als rhetorisch. Wie kann eine inaktive Vergangenheit sich in der Gegenwart zur Geltung bringen 90 ? Nach unserer obigen Überlegung heißt Sartres Einwand gegen die Kontinuumsauffassung der Zeit, daß sie nur möglich ist beim ersteren der beiden Ansichbegriffe, bei dem die Frage der Bestimmtheit offen gelassen werden muß. Ist nicht Sartres Sein gerade ein solches Ansich? Sartre muß jedoch zugeben, daß es im Sein selbst „Aufhören" und „Erscheinen" gibt. Solche Sukzessionen, meint Sartre, folgten aber weder den Strukturen des Fürsich noch solchen des Ansich; sie gehören daher nicht in die Ontologie; sie sind ein Thema der Metaphysik 91 . Müßte nicht die Ontologie die Bedingung aller Sukzession im Sein aufdecken? Sartre wird hier zu einer solchen Unterscheidung von Ontologie und Metaphysik geführt, wobei die letztere Sukzessionen im Sein studiert, die nicht seiner (im folgenden zu schildernden) „ekstatischen" Zeittheorie gemäß sind. Folgen wir Sartres Intention, eine verstehbare Zeittheorie zu geben — um das handelt es sich im Grunde, wenn er eine metaphysische Seite der Zeit abtrennt —, so haben wir nicht von der Zeit zu reden, sondern von der Zeitlichkeit, die einem ekstatischen Sein zukommt. Die Zeitlichkeit ist eine Einheit, die sich vervielseitigt; sie muß als Seinsbezug innerhalb ein und desselben Seins verstanden werden 92 . „Die Zeitlichkeit muß die Struktur der Selbstheit haben 93 ." N u r ein Wesen mit einer solchen Struktur kann zeitlich sein. Ein solches Wesen ist das Fürsichsein mit seiner ekstatischen Einheit, und, wenn wir f ü r die Zeit die Diskretheit fordern, andrerseits dem Menschen nur das Ansichsein Sartres gegenüber88 8

Vgl. unten Abschnitt IV, 3 c) zu Hegel.

» E N 179—181.

m

Vgl. Bergson, „Matière et memoire", ( Œ u v r e s ) 283, 290, 370.

01

E N 257. Vgl. unten Abschnitt VI, 5.

" 2 E N 181: „la temporalité est une f o r c e dissolvante mais au sein d ' u n acte u n i f i cateur, c'est moins une multiplicité réelle — qui ne saurait recevoir ensuite aucune unité et, p a r suite, qui n'existerait même pas comme multiplicité qu'une quasi-multiplicité, q u ' u n e ébauche de dissociation au sein de l'unité". »» E N 182.

80

setzen, nur das menschliche Dasein". Die innerweltliche Zeit ist vom Fürsidisein abkünftig' 5 . Sartre schließt sich hiermit an Heidegger an™. b) Das Fürsichsein als zeitliches Sartre zeigt parallel zur allgemeinen ontologischen Analyse der Zeit das Unbefriedigende einer Trennung der zeitlichen Dimensionen beim Subjekt. Das Subjekt muß als die Einheit der drei Dimensionen oder Ekstasen verstanden werden. Es ist mit Sartres Ausdruck „diasporique"' 7 , „gestreut". Nach der populären Auffassung ist die Vergangenheit entweder „nicht mehr", oder hat irgendwie ein Schattendasein" 8 . In beiden Fällen ist die Zeit vom Ansichsein her verstanden. Es läßt sich so nicht zeigen — was phänomenologisch evident ist —, daß die Vergangenheit mir angehört. Die Isolierung der Vergangenheit muß aufgegeben werden zugunsten eines Seinstyps, dem Vergangenheit als Ekstase zukommt. Das menschliche Dasein ist offenbar ein solches Sein, das Vergangenheit hat. Sartre analysiert dies „ H a b e n " näher". Es bedeutet keine Vergegenwärtigung des Vergangenen; vielmehr „bin" ich meine Vergangenheit und „bin" sie auch nicht, denn ich „war" sie. Ich habe meine Vergangenheit „zu sein". Das Fürsich ist Negation des Ansichseins, das es ist. Die Vergangenheit spielt jetzt die Rolle des Ansichseins100. Sie ist ein Beispielfall f ü r die Beziehung des Fürsich zu seinem Sein. Damit hat die Vergangenheit auch die Charakteristik der Kontingenz. Sie ist meine Faktizität 101 , ist Substanz 102 , mein Wesen 10 '. Sartre stellt sich die Frage, wie sich die Forderung nach einer Vergangenheit mit dem Faktum eines Anfangs des Menschen in der Geburt verträgt 104 . Die Geburt ist f ü r Sartre das „absolute Ereignis" als „Negation des Ansichseins". Nicht hat ein Fürsich schon immer eine Vergangenheit in dem Sinn, daß ihm es selbst „als zum Ansichsein fixiertes Bewußtsein" vorhergeht; vielmehr verbirgt sich in der Vergangenheit als notwendiges Strukturmoment des Fürsich „ein ursprünglicher Bezug des Fürsich zum reinen Ansichsein" als solchen. Indem die Negation gcM

In Anbetracht seines Ansichseinsbegriffes erwägt S a r t r e nicht die Möglichkeit, den Fürsichseinsbegriff r u m universellen Seinsbegriff zu erheben. Mit dieser A n n a h m e brauchte die Zeit nicht auf den Menschen gegründet zu werden. Whitehead hat in seiner Kosmologie — vgl. „Process and R e a l i t y " — den Versuch gemacht, die Sukzession (process) allgemein im Universum e i n z u f ü h r e n — also ohne O p p o s i t i o n v o n zeitlichem Subjekt u n d unzeitlichem O b j e k t — durch V e r w e n d u n g des Begriffs der „actual e n t i t y " , die Fürsichseinsstruktur hat. M Siehe unten S. 82; 84, A n m . 119, und S. 96. · · Vgl. „Sein und Zeit", § 80. 99 " E N 182. ·» E N 152. E N 156 ff. 100 E]\j J 6 2 : „Le passé c'est l'en-soi que je suis en t a n t que dépassé. 101

ebda.

102

E N 163.

103

E N 164.

104

E N 184—6.

81

sdiieht, ist das Ansich das „Vorher"; das Ansich ist „außer", „hinter" dem Fürsich103. Auf G r u n d der prinzipiellen Identität, die im Begriff „Ansich" zum Ausdruck kommt, kann Sartre das Ansidi der Welt und das der eignen Vergangenheit gleichsetzen. Er sagt daher auch, die eigne Vergangenheit werde ein Seiendes in der Welt10". Die Gegenwart ist nicht nur Gegensatz zur Vergangenheit, die nicht mehr, und zur Zukunft, die nodi nicht ist, als eine Grenze zwischen ihnen, also ein Nichts. Ihre erste Charakteristik ist das Gegenwärtigen, das Sein bei . . . (présence à . . .)10'. „Das Fürsich macht sich zur Präsenz beim Sein, indem es sich zum Fürsich macht 108 ." Das Sein bleibt hiervon unbetroffen. U n d doch handelt es sich nicht um eine bloße Koexistenz zweier Seiender, die nur f ü r einen Dritten, einen Zeugen, in Koexistenz stehen, also nur in „externer" Relation verbunden wären. „Das Fürsich ist ursprünglich Präsenz beim Sein, indem es sein eigner Zeuge f ü r Koexistenz ist109." Für die Zukunft gilt das f ü r die Vergangenheit Gesagte entsprechend. Wieder muß eine Seinsbeziehung angenommen werden und kein Repräsentationsbezug. „Die Zukunft ist, was ich zu sein habe, sofern idi es audi nicht sein kann 110 ." Ist das Fürsich Negation seiner Vergangenheit und des Seins, das es gegenwärtigt — Sartre nennt sie eine „Flucht" —, so ist die Zukunft das Ziel dieser Flucht. Die Zukunft fällt also mit dem Möglichen und dem Ideal des Fürsich zusammen. Sie ist ein dem Fürsich notwendig zugehöriges Moment; es wäre auch nicht Sein bei der Welt, wenn es nicht zukünftig wäre. Das Fürsich ist über das Sein in doppeltem Sinne hinaus: es flieht das Sein, bei dem es ist, und seine Vergangenheit. Sein Ziel ist wiederum doppelt: es flieht hin zu sich als Möglichem und zum Korrelat dieses möglichen Fürsich (être cofutur). Die Zukunft impliziert also ein Ansich in der Zukunft. Dies versteht Sartre als „Sinn" des Ansidi in der Gegenwart; die Welt bekommt eine Zukunftsdimension 111 . So wenig wie Ideal und Möglichkeit in der Deutung des Fürsich als Mangel kann das Fürsich als zeitliches seine Zukunft in die Gegenwart überführen. Die Zukunft steht f ü r die Synthese zum Selbst, wird aber ">5 E N 184. loo E j v j 193 : «Autrement dit, le Pour-soi tombant au Passé comme ex-présence à l'être devenue en-soi, devient un être , et le monde est retenu dans la dimension passée comme ce au milieu de quoi le Pour-soi passé est en soi ». 107

E N 165. Vgl. Heidegger, „Sein und Zeit" 338.

108

E N 165.

111

E N 171 f. Vgl. dieselbe Verweisung in der Welt im Rahmen der Mangelstruktur, oben S. 76. — Der Unterschied zur Phantasie wird so bestimmt, daß ich zwar auch in ihr ein Fürsich zu sein habe, aber eines, das nicht auf dem Grund der Welt, wie sie ist, sondern auf dem Grund einer Nichtung der Welt, gleichsam neben der Welt, entsteht ( E N 172).

82

10

» E N 166.

110

E N 170.

nicht erreicht. Erreicht wird nur ein vom Zukunftsentwurf „designiertes" Fürsich. Die Zukunft als solche „gleitet in die Vergangenheit..."; „das Fürsich als G e g e n w a r t . . . ist wiederum Mangel an einer neuen Zukunft 112 ." Die Zukunft ist von der Vergangenheit verschieden, indem diese die Vergangenheit, das Sein ist, das ich bin ohne die Möglichkeit, es nicht zu sein. Die Zukunft dagegen ist ein Sein, das ich nur sein „kann", d. h. sie ist offen, „zeichnet nur den Rahmen vor" für bestimmte Möglichkeiten. Es gibt eine „hierarchische" Ordnung meiner Möglichkeiten; sie entspricht aber nicht der homogenen Abfolge der Zeit als Folge von Augenblicken113. Sartre stellt sich die Frage nach der ontologischen Bedingung für die Dynamik der Zeit 111 . Ist die Zeitlichkeit bisher nicht nur statisch behandelt, als „Struktur" des Fürsich? Inwiefern hat die Zeitlichkeit reale Bedeutung, wieso dauert ein Fürsich und ist immer neu Gegenwart? Sartre lehnt die Auffassung ab115, wonach Wechsel oder Veränderung ein Bleibendes zur Voraussetzung habe. Hier bestünde ein unüberwindliches Problem der Einheit von Bleibendem und Wechselndem. Die Lösung Sartres ist, daß der Wechsel „absolut" ist, daß das „Wechselnde seinen früheren Zustand im Modus der Vergangenheit" ist. Damit das Fürsidi ein solcher absoluter Wechsel ist, braucht sich in der Welt nichts zu verändern. „Das Fürsich hat ohne Veränderung das, was es ist, in der Form des Gewesenseins zu sein." Die Gegenwart muß vergehen, ein Vorher werden, und eine neue Gegenwart muß auftauchen, die sich als Nachher bestimmt. Beides, Vergehen und Auftauchen, sind interdependent. Das eine zieht das andere nach sich. Die Gegenwart verwandelt die alte Gegenwart in Vergangenheit, aber modifiziert dabei das Ganze; Vergangenheit wird Vorvergangenheit, d. h. die Beziehung von Gegenwart und Vergangenheit wird eine Beziehung im Modus des Ansich. Die Zukunft wird durch diese Modifikation nicht verwirklicht; sie wird ideales Ansich, frühere Zukunft einer Vergangenheit. Die fernere Zukunft verliert u. U. den Charakter, meine Möglichkeit zu sein; sie wird frühere Möglichkeit einer Vergangenheit 119 . Dies Geschehen ließe sich auch verstehen als ein „Ergriffenwerden des Fürsich vom Sein", indem sein Nichts nicht mehr vom Fürsich „unterhalten" werden kann und das Fürsich dem Sein als Qualität anheimfällt. Vergangenheit des Fürsich und Sein der Welt fließen zusammen. Aber dies Zusammenfallen fordert das Auftauchen eines neuen Fürsich. Geschieht dies nicht, so ist es der „Tod", der „Sieg des Ansichseins über das Fürsich" 117 . 1,2

E N 173.

1,6

W i r sehen, S a r t r e r e p r o d u z i e r t

113

E N 174.

1,4

E N 188—196. die H u s s e r l s d i e n

"·'> E N

189.

Unterscheidungen

in den

„Vor-

lesungen z u r P h ä n o m e n o l o g i e des i n n e r e n Z e i t b e w u ß t s c i n s " , •/.. B . die P r o t c n t i o n e n in d e r W i e d e r e r i n n e r u n g . EN

193.

83

Aber haben wir damit die Dynamik in den Griff bekommen? Sind das nicht alles Formulierungen f ü r „statische" Strukturen? Die Frage nach der jeweils neuen Gegenwart ist irreführend, wenn hierbei diese isoliert als Ansich verstanden wird. Wir müssen vom Fürsich ausgehen. Die Erneuerung des Fürsich läßt sich als Spontaneität118 fassen, aber auch dieser Begriff ist verfänglich, wenn die Spontaneität nicht etwas ist, das sich immer wieder aufhebt; sie würde ein Sein. „Ein Fürsich, das sich nicht zeitlich erstreckte, wäre zwar Negation des transzendenten Seins und Nichtung seines eignen S e i n s . . . Aber diese Nichtung würde ein Gegebenes, d. h. sie nähme die Kontingenz des Ansich a n ; . . . das Fürsich wäre nicht mehr Grund seines Nichts;" es „wäre". In seiner Flucht ist das Fürsich „Verneinung der Kontingenz, gerade indem es sich als Grund seines Nichts konstituiert". Dabei wird es kontingent als zurückgebliebenes, vergangenes. So ist die Ganzheit nie erreicht, das Fürsich „ist" nie. Das Argument für eine Dynamik der Zeit, f ü r ein Geschehen, ist, daß die Zeitlichkeit eine weitere Dimension darstellt, in der ein „Sein" des Fürsich aufgehoben werden muß. Das Fürsich „flieht" auch vor sich als gegenwärtigem. Die Gegenwart ist immer schon Übergang zu einer neuen Gegenwart, ist also immer schon genichtete, überschrittene"". Die Dynamik als Setzen einer immer neuen Gegenwart liegt in ihrer Selbstdiremtion. Die Gegenwart ist Negativität, und, um das zu bleiben — sie ist ein „existierendes Prinzip" —, darf sie nicht bleiben, muß sie sich dirimieren. Sartre drückt dies so aus: das Fürsich muß sich negieren, sonst würde es ein Ansich. Das Fürsichsein „flieht" seine Vollständigkeit, verhält sich negativ zu sich als Positivem. Es dirimiert sich als Gegenwärtiges, stößt sich von sich ab, macht das Zurückgelassene zum Ansich, das es nicht ist. Das Ansich ist in beiden Fällen, dem Bezug zur Zukunft und dem zur Vergangenheit, Seinsweise des Fürsich, die negiert ist: im Fall der Zukunft eine Koinzidenz mit sich, die frei, Grund ihrer selbst sein soll; im Fall der Vergangenheit eine Koinzidenz, die pure Kontingenz ist120. Als solche fällt die Vergangenheit logisch mit dem transzendenten Ansich zusammen, das „Umgebung" f ü r das Fürsich ist. Insofern kann Sartre auch, wie wir schon beim Problem des Anfangs sahen, das Ansich als Ansich der Welt und als vergangenes Fürsich identifizieren. Das Ansich der Welt ist immer schon überschrittenes Ansich; insofern koinzidieren vergangenes Fürsich und immer schon zur vergangenen gewordene Welt. Dennoch muß Präsenz beim Ansich vom Bezug zum Vergangenen unter1,8 119

E N 194. Entsprechendes gilt für die Präsenz bei der W e l t . I n s o f e r n ein Ansichscin

„Kor-

relat" der G e g e n w a r t ist u n d G e g e n w a r t i m m e r schon überschritten w i r d , Ü b e r gang zu neuer G e g e n w a r t ist, ist auch das Präsentierte überschritten. D a s Fürsich ist immer über das „ D a " hinaus, das „ D a " ist P e r s p e k t i v e für die neue Präsenz. Vgl. E N 166.

S4

Vgl. E N 164.

schieden werden. Dies findet seinen phänomenologischen Ausdruck im „nicht-setzenden" Charakter der Beziehung des Fürsich auf sich im Gegensatz zum „setzenden" Charakter der Präsenz beim Ansich1*1. (Im Beispiel vom ersten Anfang des Fürsichseins wird dieser Unterschied spekulativ ineinsgesetzt.) Für ein Verständnis der Analyse der Zeitlichkeit in ihrem Verhältnis zur Analyse der „unmittelbaren Strukturen" des Fürsichseins können wir an das bereits oben 1 " Gesagte anknüpfen, wo wir durch Interpretation von Hegel her den Unterschied andeuteten. Unser Gedanke war dieser: in der Analyse der Zeitlichkeit versteht Sartre die Negativität des Fürsich als Äußerlichkeit. Wird an dieser Bestimmung des Fürsich festgehalten und nicht auch „logisch" zur Synthese (Totalität, Ideal) als einem Dritten fortgeschritten, so ist die Negativität als zeitliche verstanden. Das Fürsich ist immer sich selbst voraus und sich als gewesenem Ansich gegenüber. Das Ansich ist Vergangenheit, das Fürsich als von der Gegenwart genichtetes, in eines mit seiner vergangenen Welt. (Die Vergangenheit präsentiert hier „logisch" dieselbe Sachlage wie früher das Ganz-Sein des Fürsich bei den unmittelbaren Strukturen'" 3 .) Das Fürsich nimmt in der Gegenwart sich selbst gegenüber eine Stellung ein; es selbst als „für es" ist Ansichsein, ein Kontingentes in dem Sinn, daß es nicht Grund dafür ist. Die Analyse der Zeitlichkeit liefert die Vervollständigung der Selbstdiremtion des Fürsich, indem nun zu beiden „Seiten" der Gegenwart bzw. des Sich-Gegenwärtigseins eine Fürsichseinstotalität steht. Diese Anpassung an die faktische Zeitlichkeitsstruktur des Subjekts hatte die Analyse des Fürsich als Dasein nicht zeigen können. Wir haben nunmehr eine „fungierende" Zeitlichkeit kennengelernt, eine Struktur des Fürsichseins. Es wären nun auch explizite Phänomene wie Erinnerung, Erwartung und allgemein die Zeit als immanent angeschaute aufzubauen124. Diese Gegebenheiten sind für Sartre Leistungen der objektivierenden — ihre Gegenstände zum Ansich machenden — Reflexion. In ihr erscheint eine psychische Zeit und ein psychisches, seiendes Ego 1 ". Im einzelnen unterscheidet Sartre zwei Arten von Reflexion, eine „réflexion pure" und eine „réflexion complice". Letztere stellt die eigentliche Objektivierung der zeitlichen Vorgänge als psychi121

Vgl. oben die Parallele für Möglichkeit und Ziel in der Welt. — Ein in „setzender" Negation objektiviertes Fürsich ist der Andere. Siehe Kapitel V .

122

S. 7 0 und 75.

123

Zur Unterscheidung des Ansich-Fürsich als Vergangenheit und des Ansidi-Fürsich als Ideal sind inhaltliche, existenziale Bestimmungen erforderlich (Möglichkeit, F a k tizität). Audi bei Hegel hätte die abstrakte Zeit eine Dimension, aber keine bestimmte Richtung.

124

Für die Zeit als „innerweltliche" siehe unten S. 96.

125

E N 209 f. Vgl. „La transcendance de l'ego" 91 ff. 85

scher dar 1 "; die erstere ist aus dieser durch eine „Katharsis" zu gewinnen und ist Bewußtsein der drei zeitlichen Ekstasen als nicht-substanzieller Zeitlichkeit12'. Sartres Theorie der Reflexion kann hier unberücksichtigt bleiben, denn sie ist im wesentlichen eine Anpassung an die phänomenologische Auffassung von der Reflexion, mit der genannten Besonderheit eines zweiten Reflexionsbegriffs. Ihr dialektisches Problem liegt darin, zu zeigen, wie eine Diremtion des Fürsich möglich ist, die so weit geht, daß innerhalb der Einheit des Bewußtseins eine Oppositon von Subjekt und Objekt stattfinden kann. Diese Opposition ist gegenüber der Negation des Fürsich als Negation seiner selbst ein gleichsam „gedehnterer", „weiterer", Bezug zu sich selbst; die äußerste Ausweitung des Bezuges zu sich selbst wird die Beziehung zum Andern darstellen. Die ontologische Darlegung der Möglichkeit des Bezuges zu sich in der Reflexion erscheint allerdings eher als eine ontologische „Formulierung" denn als neue Einsicht in seine Möglichkeit. Sie bildet das phänomenologisch Bekannte nach. c) Exkurs über Hegels

Zeitauffassung

Sartres Zeitauffassung hat eine doppelte Grundlage: die phänomenologischen Analysen Husserls und Heideggers einerseits und Hegels Dialektik des Fürsichseins andrerseits. Wir haben oben in unserer Betrachtung des Husserlschen Bewußtseinsbegriffs auch Sartres Stellung hierzu angedeutet. Sartre macht mit Heidegger den Schritt, das Bewußtsein als Seinsbegrifi zu fassen, als ein „Dasein", das nicht „intentional" mit seiner Vergangenheit und Zukunft geeinigt ist, sondern diese ekstatisch selbst „ist". Die Ekstasen sind bei Heidegger hermeneutisch aus einem Daseins Verständnis gewonnen; sie sind als Existenzialien inhaltlich gefaßt und nicht formal reduziert. In dieser Frage eines formalen Fundaments knüpft Sartre an Hegel an. Hegel ist nun mit seiner Zeitauffassung nicht unmittelbar Vorbild für Sartre. Zwar ist seine Definition der Zeit: „sie ist das Sein, das, indem es ist, nicht ist, und indem es nicht ist, ist""' ähnlich der Sartres für das Dasein oder Bewußtsein: „es ist nicht, was es ist, und ist, was es nicht ist"12". Aber dies ist eine zu oberflächliche Parallele. Hegel ist der Philosoph der Bewegung des Begriffs. Aber diese Bewegung ist nichtzeitliche Bewegung. Sie ist kategoriale Bewegung. Hegel zeigt, wie das Sein unter den übergreifenden Gesichtspunkten des gleichgültigen Bestimmtwerdens (qualitatives Sein), der Einheit in der Reflexion (Wesen) und des Sich-Begreifens (Begriff) alle kategorialen Bestimmungen an sich hervorgehen läßt. Wir können bei Hegel etwa die kategorialen Verhältnisse von Zufälligkeit, Möglichkeit und Notwendigkeit behandelt finden als Bestimmungen der Wirklichkeit. So sieht Hegel, E N 206

86

ff.

127

E N 204

ff.

129

Hegel, Enzyklopädie § 258.

,2

' E N 103, 116.

daß ein Seiendes (auf der Stufe, auf der diese Bestimmungen vorkommen, der der Wirklichkeit) über seine Zufälligkeit hinausgeht, aber an sie gebunden bleibt. Wir finden das Verhältnis von Faktizität und Koinzidenz mit sich (Notwendigkeit) als kategoriales, das sich weiterbewegt zu einer höheren Bestimmung, der der Substanz. Ein Endliches bewegt sich im Rahmen dieser kategorialen Bestimmungen, aber diese zeitliche Bewegung, ein Umschlagen und Sich-Herumtreiben, ist nicht ontologisch eingesehen. Sie verläuft gleichsam „quer" zur dialektischen Fortbestimmung. Verschiedentlich weist Hegel selbst auf sich wiederholende Prozesse hin, die nicht in einer neuen kategorialen Stufe mit sich zusammengehen: so etwa bei der Begierde oder beim äußerlichen Zweck. Die Zeit ist sozusagen der Spielraum f ü r solche Wiederholungen, f ü r ein Herumtreiben zwischen entgegengesetzten Bestimmungen, die im Gang der Dialektik einer neuen kategorialen Synthese Platz machen. Damit ein Wirkliches sich auf seiner Ebene bewegt, muß es, als Reelles, der Sphäre der Äußerlichkeit angehören, in der es dem zeitlichen Außereinander unterliegt. Es ist sich selbst äußerlich, da es nicht mit sich zusammengehen kann in eine höhere Bestimmung. Diese allgemeine Bestimmung der Äußerlichkeit steht gleichgültig den kategorialen Bestimmungen des Wirklichen gegenüber. Äußerlichkeit und Wirklichkeit werden nur „äußerlich" zusammengebracht. Thematisch hat die Zeit ihre Stelle bei Hegel in der Naturphilosophie130. Sie ist die „Negativität, die sich als Punkt auf den Raum bezieht". Als solche ist sie „für sich", setzt aber ihre Bestimmung zugleich in der „Sphäre des Außersichseins" 131 . Sie „eröffnet eine andere Mannigfaltigkeit des Außersichseins" 132 . „Sie ist das Sein, das, indem es ist, nicht ist, und indem es nicht ist, ist; das angeschaute Werden 133 ." Hierin liegt, daß sie als Anschauungsform Einheit des Außersichseins ist. Sie ist aber nicht nur f ü r ein Subjekt; „der Unterschied der Objektivität und eines gegen sie subjektiven Bewußtseins (geht sie) nichts an" 134 . Als Negativität, die f ü r sich ist, ist sie „sich auf sich beziehende Negativität" — ein Nicht-Punkt-Bleiben, Selbstdiremtion —, aber als solche „kontinuierlich", da in dieser Abstraktion noch kein Unterschied ist. Das Reelle entsteht und vergeht nicht „in" der Zeit, „sondern die Zeit ist selbst dies Werden, Entstehen u n d Vergehen, das seiende Abstrahieren .. . Das Reelle ist wohl von der Zeit verschieden, aber ebenso wesentlich identisch mit ihr. Es ist beschränkt, und das Andere zu dieser N e g a t i o n ist außer i h m ; die Bestimmtheit ist also an ihm sich äußerlich, und daher der Widerspruch seines Seins; die A b s t r a k t i o n dieser Äußerlichkeit ihres Widerspruchs u n d der U n r u h e desselben ist die Zeit selbst. D a r u m ist das Endliche vergänglich und zeitlich, weil es nicht, wie der Begriff an ihm selbst die totale N e g a t i v i t ä t ist, sondern diese als sein allgemeines Wesen, z w a r in sich hat, aber ihm nidit gemäß, einseitig ist, d a h e r sich zu derselben als zu seiner Macht verhält" 1 3 5 . 130 132 134

131 Hegel, E n z y k l o p ä d i e §§ 257—259. ebda. § 257. 133 N . H a r t m a n n , „Hegel" 289. Hegel, E n z y k l o p ä d i e § 258. 135 ebda. ebda.

87

Die Zeit ist die „ A b s t r a k t i o n . . . der Unruhe (des Reellen)" 139 . Was in der abstrakten Fassung der Zeit Negation des Raumes als sich imPunkt dirimierendes Fürsich ist, ist hier beim Reellen das Beschränkte als solches. Das Andere — hier formal „das Andere zu dieser Negation" (der Beschränkung) — ist „außer ihm"; die Bestimmtheit „also an ihm sich äußerlich . . D a s Dauern und Werden als konkrete Zeit wäre also die Bezogenheit des Reellen auf sein Anderes, ohne daß es eine Koinzidenz mit ihm und damit eine höhere Bestimmung erreicht. Das Andere ist das Reelle selbst als sich äußerlich. Ein Reelles ist also mit dem modernen Ausdruck „ekstatisch", es selbst als ihm Äußerliches gehört ihm an138. „In der N a t u r " , so sagt Hegel, ist die Zeit „Jetzt". „Die Vergangenheit aber und Zukunft der Zeit als in der Natur seiend, ist der Raum . . E i n e r s e i t s geht „die Zeit der Unterschied der Objektivität und eines gegen dieselbe subjektiven Bewußtseins nichts an", andrerseits, „wenn diese Bestimmungen auf Raum und Zeit angewendet werden, so wäre der Raum die abstrakte Objektivität, diese (die Zeit) aber die abstrakte Subjektivität" 1,10 . N u r im Subjekt „besteht" der Unterschied der zeitlichen Dimensionen Gegenwart, Zukunft, Vergangenheit; „sie sind notwendig nur in der subjektiven Vorstellung, in der Erinnerung und in der Furcht oder Hoffnung""1. „Die Zeit ist dasselbe P r i n z i p als das Ich = Ich des reinen Selbstbewußtseins, aber dasselbe oder der einfache Begriff nodi in seiner gänzlichen Äußerlichkeit u n d A b s t r a k tion 1 4 8 ."

Die Zeit wird also unterschieden in eine dimensionierte Zeit des Subjekts und in ein nunc stans der N a t u r . Das Subjekt ist in einem eminenten Sinn zeitlich. In ihm erscheint die Zeit. Hegel faßt die Dimensionen der Zeit als „das Werden der Äußerlichkeit als solches und dessen Auflösung in die Unterschiede des Seins als des Übergehens in nichts und des Nichts als des Ubergehens in Sein" 143 . „Das unmittelbare Verschwinden dieser Unterschiede in die Einzelheit ist die Gegenwart als Jetzt, welches als die Einzelheit ausschließend und zugleich schlechthin kontinuierlich in die anderen Momente (übergehend), selbst nur dies Verschwinden seines Seins in nichts und des Nichts in sein Sein ist144." „Die endliche Gegenwart ist das Jetzt als seiend fixiert... als die konkrete E i n h e i t . . . 1 4 \" "« ebda.

137

ebda.

13e

Das Reelle k a n n definiert werden als sich „äußerlich", da es im System in die N a tur (als das Anderssein der Idee) fällt. D a d u r c h ist auch das finale M o m e n t des Mit-Sich-Zusammenfallen-Sollens (im Geist) angelegt. Die D i r e m t i o n des Reellen läßt sich aus dem System nicht lösen. 13 · ebda. § 259. — Dies entspricht der Zeitlosigkeit des Ansich bei Sartre.

140

Hegel, E n z y k l o p ä d i e § 258.

141

ebda. § 25 9.

142

ebda. § 258.

ebda.

145

ebda.

144

88

143

Hegel, E n z y k l o p ä d i e § 259.

Hegel hat den Gedanken, daß die Zeit die Zeitlichkeit des Reellen ist. Der Akzent liegt auf einem Werden und Vergehen — das Endliche ist der Negativität wie einer Macht unterworfen; aber darin liegt das strukturelle Moment, daß das Endliche im Werden immer mit dem ihm Äußerlichen als seinem Sein zusammengehen will. Dies Werden ist für Hegel allgemein Charakteristikum der Endlichkeit und nicht Charakteristikum eines gewissen Endlichen mit einer ekstatischen Einheit, des menschlichen Daseins, wenn dies auch in der Affinität der Zeit zur Subjektivität und zum Begriff von Hegel gesehen ist. Die Zeit ist „der Begriff selbst, der da ist"1", und der Geist „erscheint so lange in der Zeit, als er nicht seinen reinen Begriff erfaßt, d. h. nicht die Zeit tilgt" 147 . Hegels Auffassung von der Zeit knüpft also an das Grundschema der Dialektik des Geistes an, sie ist der unvollkommene Begriff. Aber damit ist sie unspczifisch, nicht Zeitlichkeit des Menschen, denn das Grundschema der Dialektik ist ein universelles. So kommt Heidegger zu seiner Kritik an Hegel: „Hegel zeigt die Möglichkeit der geschichtlichen Verwirklichung des Geistes ,in der Zeit' im Rückgang auf die Selbigkeit der formalen Struktur von Geist und Zeit als Negation der Negation. Die leerste, formal-ontologisdie und formal-apophantische Abstraktion, in die Geist und Zeit entäußert werden, ermöglicht die Herstellung einer Verwandtschaft beider. Weil aber doch zugleich die Zeit im Sinne der schlechthin nivellierten Weltzeit begriffen wird, und so ihre Herkunft vollends verdeckt bleibt, steht sie dem Geist als ein Vorhandenes einfach gegenüber. Deswegen muß der Geist allererst ,in die Zeit* fallen'4*."

Ist die Verwandtschaft von Geist und Zeit auf Grund einer formalen Selbigkeit für Heidegger ein Punkt der Kritik, so scheint Sartre gerade hierin eine Anregung empfangen zu haben. Das menschliche Dasein ist zeitlich, weil es Negativität ist. Sartre versucht, Heideggers inhaltlich verstandene Zeitlichkeit mit dieser abstrakten Zeitlichkeit zusammenzudenken. Möglichkeit und Faktizität, Zukunft und Vergangenheit sind Selbstdiremtionen des Fürsichseins, die Selbstdiremtion ist der Grund für die Existenzialzeit. Hierin ist aufgenommen Hegels Gedanke, daß die Zeit die defiziente Form der Unendlichkeit, des sich erfassenden Begriffs ist. Dem Fürsich schwebt seine Koinzidenz mit sich ständig vor. Bei Hegel wie bei Sartre ist das Endlidie vom Unendlichen her zu sehen. Nur kennt Sartre keine kategoriale Dialektik des Geistes, in der dieser sich letztlich „erfassen" kann. Es ist klar, daß Sartre die Mängel der Hegeischen Zeitauffassung teilt, ja sie noch verschärft. Wir sagten, bei Hegel verlaufe die Zeit gleichsam „quer" zur dialektischen Fortbestimmung. Sie ist ihrerseits, wie diese, durch das logische Mittel der Negation dargestellt, und so legt sich diese schlecht-unendliche Progression unvermittelt „über" den jeweiligen Begriff des Reellen, der in der kategorialen Progression seine Stelle hat. 146

Hegel, Phänomenologie des Geistes 558.

147

ebda.

149

Heidegger, „Sein und Zeit" 435.

89

Bei Sartre gibt es nun keine solche inhaltliche Progression, sondern nur existenziale Horizonte und die zeitliche Progression. Aber auch ihm gelingt es offensichtlich nicht, mit dem logischen Mittel der Negation die Zeit abzuheben von andern negativ verstandenen Bezügen, oder die Negation als zureichende Bedingung der Zeitlichkeit aufzuzeigen. Das Unspezifische der Theorie tritt klar zutage. Hegel kann die Zeit noch in eine kategoriale Progression einordnen: sie folgt auf den Raum. Sie ist durch ihre Stelle im System gehalten. Bei Sartre sind die Negationsbezüge nur verschieden „interpretabel". In der Abstraktion der Darstellung ist schließlich auch die Zeitlichkeit als Struktur nicht von der geschehenden Zeit zu trennen. In der Dialektik von Ansich und Fürsich ist das Faktische, Reale nicht anders faßbar. 4. DAS F Ü R S I C H S E I N ALS T R A N S Z E N D I E R E N

Wir sagten oben 1 ", Sartre gehe zwei Wege, den einer Entfaltung des Fürsichseins in einer „subjektiven Logik", und den einer Entfaltung der Opposition des Fürsichseins als eines transzendierenden Bewußtseins. In dieser Zweiheit, in diesem Nacheinander der Untersuchungen, entsteht der Eindruck einer Nachordnung der Intentionalität gegenüber dem Fürsichsein. Dies ist von Sartre nicht beabsichtigt150. Die Konstruktion der Intentionalität weist aber dennoch in diese Richtung. Wir haben schon innerhalb der unmittelbaren Strukturen den Bezug des Fürsichseins zur Welt kennengelernt. Sein „Sein bei der Welt" (présence au monde) lag schon in der Faktizität; es wurde präzisiert als Ekstase der Gegenwart in der Analyse der Zeitlichkeit. Das Transzendieren zur Welt ist also schon in der Instantaneität zu betrachten. Sie ist auch hier wiederum der Ausgangspunkt, der sich dann im folgenden konkretisiert zum vollen Selbst. a) Oer Grundbezug

zum Sein

Nach der spekulativen Darstellung war das Fürsich das Auftauchen eines Nichts im Sein. Das Ansich wurde so Fürsichsein. Das Nichts ist aber noch kein angemessener Subjektsbegrifï. Das zeigte sich schon an der Zweideutigkeit, die in diesem lapidaren Modell lag: das Subjekt ist ein Nichts gegenüber dem Sein, aber es ist auch selbst Sein, denn das Nichts ist als solches nicht, so daß es Negation des Seins, Beziehung zum Sein sein könnte. Das Subjekt ergab sich daher als ein Nichts, das vom Sein unterhalten ist; das Subjekt hat sein eignes Sein, ist ein eigner Seinstyp, ein Sein mit einem Nichts, Sich-Gegenwärtigsein. Gestützt auf den ph仫 S. 63 f. >50 Vgl. E N 165 f.: „ . . . on ne saurait concevoir un type d'existant qui serait Pour-soi pour être en suite présent à l'être".

90

d'abord

nomenologischen Begriff des Bewußtseins konnte Sartre sagen, daß jedes Bewußtsein Bewußtsein von etwas sei, ein Sidi-Gegenwärtigsein also immer Sich-Gegenwärtigsein eines Bezuges zum Sein sei. Ontologisdi war der Bezug als Negation verstanden. Wie läßt sich dieser Bezug nun vom Sich-Gegenwärtigsein aus dartun? Nun nicht mehr als lapidare These, daß das Bewußtsein Negativität sei, sondern als Klärung eines Bezuges von einem seienden Bewußtsein zum Sein? Sartres Ziel muß sein zu zeigen, daß das Fürsich, weil es Negation seiner selbst ist, auch Bewußtsein von etwas ist151. Sartre geht folgenden Gedankengang. Das Sich-Gegenwärtigscin ist eine „phantomhafte Zweiheit" von Schein und Widerschein. Es ist die ideelle Sphäre des Fürsich. Wäre nun jedes der beiden Momente nur „um des andern willen", so fielen sie ins Nichts. Andrerseits, wenn der Schein „etwas" wäre, gäbe es in dieser Sphäre des reinen Sich-Erscheinens ein „Ansich", und das Fürsich wäre zerstört. Soll der Schein Schein von etwas sein'52, aber nicht Ansich sein, so muß er sich durch ein „ihm gegenüber Anderes" bestimmen. Der Schein „reflektiert sich" als Beziehung zu einem Draußen, das er nicht ist. Darin liegt, daß Wahrgenommenes, aber auch Erlebtes (ζ. B. eine Freude) „draußen" an den Dingen erlebt wird153. Die ideelle Sphäre ist leer undenkbar, der Schein muß Schein von etwas sein. Aber ist er nicht nur Schein von psychischem Sein? Zwar hatte Sartre die Idee eines Bewußtseins allein in der Immanenz durch Hinweis auf die phänomenologische Sachlage und durch ontologische Deutung abgewiesen; soll Bewußtsein konstruiert werden, so muß es über sich hinausgelangen. Aber wir bemerken doch eine Schwierigkeit, die gerade den wichtigen Punkt des Verhältnisses von Immanenz und Transzendenz berührt, denn das Subjekt ist beides, genichtetes psychisches Sein und Sein bei der Welt. Sartre will dem Problem entgehen, daß das Subjekt eine Repräsentation des Gegenstandes in sich enthält. Daher faßt er das Sich-Gegenwärtigsein als reine Negativität oder als Phantom. Andrerseits ist das Fürsich ein „Sein" eignen Typs, genichtetes psychisches Sein. Die Lösung soll darin liegen, daß der Schein Negation des Seins ist, von dem er Schein ist, und durch das bestimmt wird, was er nicht ist151. Das Sein umgibt mich, und ich bin nur durch die Negation, mit der mein Sich-Gegenwär151

E N 2 6 9 : „. . . tout se passe en effet comme si le Pour-soi, par sa néantisation mcme, se constituait en .conscience de . . Le Pour-soi par sa négation de soi devient affirmation de l'En-soi".

152

E N 221 : „quelque chose à refléter". Vgl. E N 222.

154

E N 223: „ . . . le pour-soi ne peut ctre que sur le mode d'un reflet se faisant refléter comme n'étant pas un certain être". 91

tigsein alles Sein von sich ausschließt, von ihm getrennt und damit mit ihm verbunden 155 . Welcher Art ist diese Negation? Sie hat eine doppelte Aufgabe. Sie macht, daß Sein für das Fürsich „da" ist; das Fürsich ist ekstatisch in es versenkt 15 '. Das, was in dieser Relation steht, das Subjekt als anschauendes, erkennendes, ist Negation des Seins. Das Subjekt ist damit zunächst allgemein bestimmt. Aber das Fürsich ist auch jeweils die Negation des bestimmten Seins: ist das Sein als „ausgedehntes" enthüllt, so ist das Fürsich sich als „unausgedehnt" gegeben157. Die Enthüllung einer Bestimmtheit des Seins ist begründet in eben derselben Negation, die das Fürsich ist158. Indem durch die Negation des Fürsich ein Ding „da" ist, ist es bestimmtes, oder richtiger, indem „Sein" für das Fürsich „da" ist, ist es bestimmtes Ding. Beides, das Sich-Absetzen des Fürsich und das ZugangHaben zum Sein liegen in der Negation. So ist der Negationsbezug zum Sein einerseits positiver Bezug, Haben von Sein, „Affirmation" 15 ", andrerseits ist er negativer Bezug, indem das Fürsich das Andere nicht ist. Die Negation ist nicht synthetische, bestimmte Negation wie in Hegels kategorialer Dialektik, sondern formelle Negation. Das Fürsich ist transzendierendes Bewußtsein, indem es seine Gegenstände von sich ausschließt. Insofern kommt dem Bewußtsein nur die formelle Identität und abstrakte Allgemeinheit zu. Und doch ist diese Negation für das Bewußtsein konstitutiv; sie ist „interne" Negation 180 . Und zwar auf dieser vorläufigen Ebene der Analyse zunächst abstrakte Beziehung zum Sein; konkret ist erst der Bezug des vollen Selbst, mit Einschluß seiner existenzialen Strukturen, zum Sein. Ist nicht aber der Schein (reflet) doch inhaltlich bestimmt, und also „etwas" für das Bewußtsein? Das Bewußtsein negiert seinen Schein, aber ist damit das Transzendieren vom Subjekt aus dargetan? Ist der immanente Schein nicht als das unmittelbar Gegebene denkbar? Etwa wie in Hegels Darstellung der Immanenz als fühlender Seele161? Würde so nicht das ekstatische Transzendieren zunichte? Man könnte sagen, der Schein stelle eine Vermittlung dar. Einerseits ist er inhaltlich bestimmtes Moment der Immanenz, des Sich-Gegenwärtigseins, andrerseits ist er „reflektiert" auf das Sein „draußen", das das iss Vgl. E N 269: «Mais cet être qui rozeJ? als Kategorienlehre, aber der Begriff des Subjekts muß die Struktur einer prinzipiellen Aneignung besitzen. Für den Standpunkt einer kategorialen Explikation auf Grund ideeller Kongenialität mag die Fassung des Subjekts durch eine dialektische Struktur als Voraussetzung des Prozesses für gesichert gelten — bewahrheitet sie sich dodi in einer solchen subjektiven Dialektik der Stadien gleichsam vom Ende, vom Absoluten her wie in Hegels Phänomenologie des Geistes —, man möchte aber eine Art „Gegenprobe" haben, möchte den Weg zur Aufstellung des dialektischen Begriffs für das Subjekt, das diese Aneignung und Kongenialität ausweist, näher kennen lernen, d. h. den Grundbegriff des Subjekts seinerseits in einer Genealogie betrachten, ihn als ontologische Kategorie (im nicht mehr klassisdi-ontologischen Sinn) hergeleitet sehen. Hegel hat in seiner Logik den Gedanken, daß man nicht nur bei einem eigentlichen Subjekt von einer dialektischen Einheit sprechen kann, sondern daß dies ein Paradigma für jeden Seinsbegriff darstellt. Dabei lassen sich Kategorien so ordnen, daß eine Linie zu zunehmender Synthese d. h. Subjektivität durch sie hindurchläuft. So kann, was für die Ontologie besonders bedeutsam ist, der Begriff des Seins selbst als Subjekt verstanden werden, so daß aus ihm, als Anfang eines Aneignungsprozesses, eine Dialektik des Verhältnisses zu seinem Andern hervorgeht, eine Kette von dialektischen Schritten, in deren Verlauf alles Andere ihm integriert gedacht wird, bis das, was ursprünglich „Sein" war, sich als die „Immanenz" erweist, die wir eben bei der

" Dies ist eine schon vor-dialektisdie Konzeption, etwa bei Aristoteles (cf. De anima 429b31-430a9; Met. 1 0 7 5 a l - 4 , 1072bl7-23).

18

Sartres phänomenologische Ontologie

vom Subjekt ausgehenden Dialektik fanden: das Sein erweist sich als Subjekt, als Geist. Umgekehrt erweist sich das Subjekt so als ontologisch hergeleitet, verstanden, begründet. Wir können uns das Recht dieser These Hegels so klar machen: wenn das Subjekt als Denken sich als alles in sich enthaltend erweist, dann muß man erwarten, daß auch ein Begriff von Sein, das als vom Denken unbetroffen gedacht wird, falsch ist, daß Sein sich mit dem Denken seinem Begriff nach identisch erweist. Der (in der subjektiven Dialektik der Phänomenologie des Geistes geführte) Nachweis, daß Sein und Denken zusammenfallen, erlaubt es, diese Einheit in einem erneuten Anfang als Sein, als Unterschiedslosigkeit, wie sie dem Sein eigen ist, in Anspruch zu nehmen. Nachdem nun aber die Logizität des Seins, seine Denkimmanenz, schon in der vorausgegangenen Dialektik gezeigt worden ist, muß die neue Ebene der Betrachtung die Unvollkommenheit des Seins qua an ihm selbst unbetroffen aufweisen. Im Denken gedacht erweist es sich als zunehmend Anderes mitumfassend, d. h. als dialektisch mit solchem Anderen identisch, bis hin zu einer Bestimmung, die Subjekt oder Geist ist. Ein Weiteres: ein Anfang beim Sein hat die Bedeutung, daß — da ja alle Kategorien Bestimmungen des Seins sein sollen — mit den ersten Bestimmungen des Seins gleichzeitig auch „prinzipiell" Bestimmungen aller höheren, inhaltlich konkreten Kategorien aufgestellt sind. Die ersten Kategorien sind das Prinzipielle, das in den inhaltlich konkreten Kategorien als Prinzipiaten wiederkehrt. Sie regieren alles Weitere, bestimmen eine Architektonik, sind gleichzeitig Prinzipien der Methode der dialektischen Kategorienherleitung. Sie sind Seinsweisen als Prinzipien — Hegel spricht von „qualitativem Sein" — zu konkreteren Prinzipiaten, die in ihrer Art bestimmt gedacht werden können, weil sie von den Prinzipien als Seinsweisen prinzipiiert sind. Wir brauchen diesen ganzen Weg Hegels nicht mitzugehen; es reichen uns für Sartres Philosophie in EN die ersten Schritte, gibt er doch nur eine Prinzipiendeutung von Subjekt und dazu alternativem sonstigem Seiendem, indem er beides von der Seinsweise her sieht. Wenn wir die Begriffe „Sein" und „Fürsidisein" als Weisen des qualitativen Seins betrachten, so ergibt sich ihr Verhältnis nach Hegels Logik so: das Sein als das für sich genommen Unterschiedslose erweist sich unter der Identitätsthese von Sein und Denken als das Negative sich „einbildend", als mit ihm als Anderem identisch, denn beide sind vom Denken aus betrachtet das Leere. Der damit entstandene Begriff ist (unter Vernachlässigung einer Zwischenstufe, der des „Werdens") das, was Hegel „Dasein" nennt, ein Sein, das Negation in sich aufgenommen hat, also zwar ist, aber immer als Seinsweise Eines, das Anderes eines Anderen, eines Daseienden und somit Bestimmten, ist. Das Fürsichsein ist eine weitere Konzeption, die besagt, daß ein solches Dasein sich als mit seinem Anderen zusammenfallend erweist. Oder anders: es gibt einen Begriff, der besagt, daß das Andere des Daseienden „erschöpft" ist, in es ein-

Der Begriff vom Mensdien

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gegangen ist. Damit ist ein einfachster Begriff derjenigen Einheit erreicht, der, als konkreteres Prinzipiat, das Subjekt und den Geist ausmacht10. Für Hegel handelt es sich bei den genannten Begriffen um allgemeinste Seinsbegriffe, denen gegenüber er inhaltlidi reichere, konkretere Kategorien, darunter die des Subjektes und des Geistes, vorsieht, die er aus ihnen herleitet. Für Sartre werden diese Begriffe, so wie sie in ihrer Abstraktheit sind, der Sachlage der Intentionalität, dem Bewußtsein, seiner Entwurfsstruktur und seinem Transzendieren zugeordnet. Wir bemerkten schon, wie der Begriff des Fürsichseins formal all diese Strukturen „deckt". Aber wir bemerken auch sofort eine Schwierigkeit: bei Hegel war gemeint, daß im Fürsichsein als Kategorie das Sein erschöpft gedacht ist, ganz in ihm enthalten ist, kein Oppositum mehr bildet. Dies meint nun Sartre nicht. Obwohl er den Begriff des Fürsichseins wählt, stellt er nicht den Begriff des Subjekts auf als bloßen Prinzipbegriff einer dialektischen Logik, er denkt vielmehr damit ein reales Subjekt. Ein solches ist immer mit dem konfrontiert, was es intendiert, und ebenso mit sich als ausstehendem. Es erschöpft das Sein nicht, indem es selbst ist. Der Sartresche Begriff des Fürsichseins besagt also zwar, daß hier eine Immanenz vorliegt, Fürsichsein, andererseits jedoch, daß das Subjekt endlich ist, durch Anderes bestimmt ist und bleibt. Es steht immer in der Dialektik von Einem und Anderem, die im Fürsichsein als logischem überwunden ist: das Andere steht immer als Ergänzung seiner selbst noch aus, also es selbst als Anderes. In Hegelscher Sprache ist es also Dasein21 (was sich mit Heideggers Ausdruck für das menschliche Subjekt berührt). Logisch betrachtet ist also Sartres Seinstyp „Fürsichsein" ein Doppeltes, Fürsichsein und Dasein, Subjekt in der Endlichkeit. Oder, es ist „Wesen" und nicht „Begriff" 22 . Was unsere Analyse rechtfertigt, ist die Tatsache, daß Sartre eine Dialektik des Subjekts annimmt, so als ob es sich um einen Begriff der Hegeischen Logik handelte; die logischen Verhältnisse sind unentbehrlich zum Verständnis dieses Seinstyps. Die logische Abstraktion ist die maßgebende Darstellungsebene. Das Subjekt als daseiendes Fürsichsein ist Immanenz, in sich gerundet, und dennoch erschöpft es das Sein nicht, ist es endlich, ist es immer mit einem Andern als Sein und einem Andern seiner selbst konfrontiert. Auch Hegel kennt diese Dialektik eines endlichen Fürsichseins innerhalb der kon-

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Uns geht es hier nur um die allgemeine Konzeption, wie Hegels Logik den Begriff des Subjekts und sein Verhältnis zum Begriff des Seins zu denken gestattet. Wir verzichten auf eine kritische Betrachtung der dialektischen Begriffsbewegung als linearen Fortschritts etwa danach, ob die Einführung des Nichts genügt, um Andersheit zu konstituieren, entsprechend ob Hegels Begriff der Negation als Ausdruck der dialektischen Beziehung zu Anderem gerechtfertigt ist u.a.m. und zwar, konkreter, äußerliches Dasein, realphilosophisch Betrachtetes. Wir haben eine „seinslogische" Fassung des Subjekts vor uns.

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kreieren Kategorien 85 , nur ist für Hegel damit eben schon wieder eine konkretere Kategorie konstituiert, während für Sartre die lapidare Fassung mit den abstrakten Begriffen Sein, Dasein und Fürsichsein (die letzteren zu einem Begriff zusammengezogen) und die fixe Opposition von Fürsichsein und Sein maßgebend bleibt. Konkrete Bestimmungen treten von der phänomenologischen Beschreibung her hinzu. Soweit Sartre für den Menschen den Begriff des Fürsichseins in Anspruch nimmt, ist er der dialektischen Logik Hegels verpflichtet und am grundlegenden Theorem der ideellen Immanenz, der ideellen Identität von Subjekt und Objekt qua kongenial im Logos, orientiert. Soweit er ein endliches Subjekt fassen will und sich auf das Theorem des Sich-Absetzens eines endlichen Daseienden von anderem für es Daseienden, also auf die Intentionalität stützen will, soweit diese Betrachtung des Subjekts irreduzibel ist, muß er, ohne die bei Hegel vorangehende Identitätsthese, die ja erst den Fortschritt zu Negation und Andersheit gestattet, um das Recht seiner Theorie zu zeigen, einen eignen Ursprung des Negativen (als Moment des Seinstyps Fürsichsein) aufweisen. Wir müssen daher, nach der gegebenen Verständlichmachung des Sartreschen Subjektsbegriffs von Hegel her, kurz darauf eingehen, welche Begründung Sartre selbst ihm gibt, und dann weiter auch darauf, weshalb die Abstraktion im Gegensatz zu Hegel maßgebend bleibt. Wenn das Subjekt als endliches einem nicht „erschöpfbaren" Sein gegenüberstehend gedacht ist, so sehr dies Sein ihm zugehört, so kann das Subjekt seinem Begriff nach nicht, wie in Hegels Logik aus dem Sein, entwickelt werden; es bleibt ein Seiendes sui generis, wenn auch in Hegelscher Formulierung. Seine Leistung, sein Sich-Absetzen vom Seienden als Gegenstand, erscheint als irreduzible Leistung, die aus ihm hervorgeht. Die Begründung hierfür muß eine undialektische sein. Sie liegt vor in dem, was parallel zum „ontologisdien Beweis" ein „meontologischer Beweis" 24 genannt werden kann: es gibt ein Negatives in der Welt der Phänomene (sog. „négatités" wie Abwesenheit, Entfernung u. a. m.), das auf das Subjekt als seinen Ursprung bezogen werden muß. Das Subjekt ist gleichsam „Produzent" des Negativen, wozu es selbst — angesichts der Alternative des positiven Ansichseins — negativ angesetzt werden muß. Nur durch eine Äquivokation ist damit das Subjekt auch eines, das sich vom Seienden absetzt. In der Begründung des Fürsichseins durch den meontologisdien Beweis liegt eine Absage an eine kategoriale, inhaltliche Dialektik, in der das Subjekt sich mit dem Seienden schrittweise als kongenial erwiese und so Kategorien für es selbst und seine Gegenstände aufgestellt werden könnten. Sartre ist auf die abstrakte, formale Fassung mit Mitteln des qualitativen Seins 23

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etwa Geist als endlicher (Seele, Bewußtsein, Verstand usw.). Cf. Enzyklopädie § 386, und audi § 167f. Cf. die genauere Darstellung in „Grundzüge..." 47 f.

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fixiert. Die abstrakte Fassung gestattet aber an ihr selbst schon eine Herleitung von Strukturen, die alle demselben dialektischen Begriff des Fürsichseins genügen, aber im Grunde gar nicht dialektisch verschieden sind vom „Grund" Die inhaltliche Spezifizität wird von der Phänomenologie hinzugenommen und den abstrakten Ableitungen zugeordnet. Das Subjekt als „Grund" ist Selbstbewußtsein, „présence à soi", in seinen Ableitungen erscheint es als Entwurf von Möglichkeit, Wert und Zukunft und als Vergangenheitsbezug. Die Idee einer Ableitung von Strukturen der Immanenz des Fürsichseins ist allerdings selbst nicht denkbar ohne eine logische Dialektik von Dasein und Fürsichsein: das Fürsichsein bezieht sich ja auf sich, um ganz zu werden, wiewohl es nie ganz „ist". Sartre muß sich also auf Hegeische Rationalität stützen, aber sie konstituiert nur ein Ideal — das Fürsichsein als ganzes, als seiend, eben als Ideal —, hinter dem das konkrete, endliche Fürsichsein zurückbleibt. Die Konzeption hat ihre Plausibilität, ist aber nicht begründet ohne Hinzunahme der Hegeischen (logischen, idealen) Dialektik. Wir sehen die Weiterbildung Heideggers: die Charakteristik des „Daseins", die Heidegger in Existenzialien als Strukturen auslegt, ist rational gemacht, und zwar durch die Reduktion auf den dialektischen Begriff des Fürsichseins als Einheit von Negation und Sein. Das Inhaltliche ist gleichsam zur Ausfüllung des abstrakten Formalismus hinzugenommen; es ist weitgehend dasselbe wie bei Heidegger, allerdings unter Betonung des bei Heidegger unterdrückten aktuellen Selbstbewußtseins; inhaltliche Unterschiede linden sich in den konkreteren Bestimmungen (cf. Sartres Kritik am „Sein zum Tode"). Nun liegt in Heideggers Auffassung des Menschen, die wir dialektisch nachgebildet sehen, auch schon eine Beschränkung, eine Differenz zu unserem normalen Verständnis. Wir denken hier besonders an die Absolutheit der Zentralperspektive „des" Daseins, mit der einhergeht, daß Individualstrukturen (Eigentlichkeit, Mitsein als existenziales Attribut) an die Stelle sozialer Strukturen und echter Pluralität treten. Wir erwarten, schon angesichts der inhaltlichen Kongruenz des Subjektsbegriffs bei Sartre, mehr noch angesichts de,· von ihm vorgenommenen Dialektisierung und Reduktion auf das Fürsichsein als Prinzip, wiederum inhaltlich differente Konsequenzen für ein Gesamtverständnis des Menschen und für darauf aufbauende sozialphilosophische Auffassungen. Wir unterstellen, daß Sartre auf Grund der Reduktion auf dialektischabstrakte Strukturen von den Implikationen dieser Strukturen in ihrer Reduktion und kategorialen Armut oder Nicht-Kategorialität geleitet ist, strenger geleitet ist, als etwa Kierkegaard, der bei einer verwandten dialektischen Deutung des Menschen ethische und religiöse Gehalte einfließen läßt, strenger auch als Heidegger, der mitunter ein persönliches Ethos verallgemeinert, ja dem, zurückprojiziert von seiner Spätphilosophie her, ein Auf» Cf. ebda. 119 f.

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schauen zum Sein als Sinn- und Schicksalsinstanz imputiert werden kann. Die Sartresche Philosophie in E N u n d audi in der Existenzialismus-Schrift bleibt bei den Implikationen der Prinzipien, wobei wir nicht leugnen wollen, daß existenzielle Haltungen auch unmittelbar sich geltend gemacht haben. Wir betrachten hier diese als Konsequenz aus der ontologischen Theorie. Von der abstrakten Prinzipiendeutung der Ontologie her erscheint der Mensch in seinem dialektischen Charakter als Freiheit. Der Mensch ist Freiheit heißt jetzt: er ist Fürsichsein, immer negativ auf sich bezogen, immer über sich hinaus, nie mit sich zusammenfallend, nie sich erreichend. Wir verknüpfen sonst Freiheit mit Werten, auf die sie sich richtet, und mit der Forderung nach einer Theorie ihrer normativen Inhalte; uns interessiert im allgemeinen, ob an den behaupteten Freiheitsbegriff eine Ethik und eine Soziallehre angeknüpft werden können. Gerade angesichts der Abstraktion Sartres ist hier eine differente Konsequenz zu erwarten. Es handelt sich bei Sartre um einen ontologischen Begriff der Freiheit. Seine These ist, daß nur von seinem Begriff des Fürsichseins aus Freiheit ontologisch möglich ist. In einer reductio ad absurdum diskutiert er das Dilemma des traditionellen Determinismus u n d Indeterminismus, die Beispiele für monistische Theorien sind 2 ', und ebenso die dualistische Auffassung von der Freiheit als einem Konflikt des Willens einerseits und von Affekten andrerseits 27 , eine Auffassung, die durch ihre Unverständlichkeit disqualifiziert ist: die unverstandene Beziehung des Willens zum bestimmenden Affekt oder seine gänzliche Unbetroffenheit davon besagen nur eine Verlegung desi Determinismus-Indeterminismus-Dilemmas in den Menschen selbst. Dabei ist f ü r Sartre der Wille immer schon ein reflektierter Entschluß, nachdem ich mich entschieden habe 28 , und kein ursprünglicher praktischer Bezug; er ist eine Rationalisierung, die der Analyse meines Entwurfs in Antriebe und Motive entspricht. Als verselbständigte sind sie falsch, sie sind vielmehr deriviert. U m von Antrieben und Motiven sprechen zu können, muß eine Einheitsstruktur des Fürsichseins zugrundegelegt werden. Der Antrieb ist das subjektive Gegenstück (etwa Ehrgeiz) zum Motiv, das in der Welt gegeben ist, beide gelichtet vom Entwurf des Fürsichseins. Das Fürsichsein ist die ursprüngliche Freiheit, jeder Entwurf und Entschluß ist Leistung dieser Freiheit als existierenden Prinzips. N u n hätten wir zwar einen ontologischen, und zwar, als reduziert auf eine Seinsweise, „existenzialen", „qualitativen" Begriff von Freiheit. Die Freiheit ist die Ganzheit der menschlichen Entwurfsstruktur. Aber wie steht es mit ihrem Inhalt, mit ihrer Konkretion? Sartre sieht das In-der-Welt-Sein der Freiheit nicht als spontane Fulguration an; vielmehr betont er die Situation, in der sich die Freiheit findet 2

» E N 511 ff. E N 516 ff. zu Descartes und Kant. 28 „ . . . les jeux sont faits" E N 527. 27

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(zu spezifizieren nach ihrem Platz, ihrer Vergangenheit und Umgebung, ihrem Konfrontiertsein mit dem Nächsten und ihrem eignen Tod) l *. Dieser Gedanke der Situation ist nur eine Konkretisierung der allgemeinen dialektischen Konzeption: ich bin auf etwas bezogen, das seine Kontingenz hat und dodi von mir gedeutet wird auf meine Ziele hin. Ich kann nicht wählen, Mann oder Frau zu sein oder Freiheit zu sein. Dieser Gedanke, der identisch ist mit dem der Faktizität, abstrakt gesprochen, daß das Subjekt teilhat am Sein als seinem eignen kontingenten Moment, soll den Einwand der Willkür der Sartreschen Freiheit einschränken. Die Freiheit, die ich habe, ist immer eine Freiheit in Situation, also Freiheit, als Mann oder als Frau mein Leben zu leben. Die Freiheit ist immer schöpferisch auf dieser Grundlage, aber sie ist nicht in Beziehung auf das Vorgegebene in der Welt absurd-spontan, ist nicht innerhalb der Welt absurd. Ein Weiteres: diese Beziehung zur Welt, die eine Situation für den Menschen darstellt, denkt sich Sartre als ein Engagement3". Es liegt darin ein voluntaristischer, aktivistischer Zug, der dem formalen Gedanken entspricht, daß das Fürsichsein sich in seinem Uber-Sich-Hinaus-Sein ergänzen will, indem es sich an seinem Ideal, an sich als seiender Freiheit, als Ansich-Fürsich, orientiert. Dies ist nicht ein egoistischer Bezug zu sich selbst im Sinne von La Rochefoucauld, sondern ein ekstatischer Bezug, in dem sich das Fürsichsein unter Bezugnahme auf sein Oppositum ergänzen will. Auf Grund seiner Prinzipiencharakteristik ist der Mensch immer engagiert, zum Engagement verurteilt, auch wenn er sich der Entscheidung enthalten will. Der defiziente Modus der Freiheit ist auch ein Modus der Freiheit. Stellen diese beiden Gedanken, die Situationsbedingtheit des Menschen und sein Engagement, schon so etwas wie eine Sinngebung dar, erwachsen auf dem Boden der Prinzipiendeutung des Menschen? Es liegt ein Ethos der Erfüllung des Prinzips vor, ein Ethos der Eigentlichkeit, das dem Heideggerschen ähnelt, wenn wir vom Horizont der Heideggerschen Spätphilosophie absehen. Dies Ethos erscheint als klare Konsequenz aus dem Prinzip. Für Sartre liegt damit auch, schon eine „Protoethik" vor: der Mensch ist nicht reine Willkür, es gibt schon eine Justiziabilität: er ist gerechtfertigt, wenn er sich in seinem Engagement nicht in der Einschätzung der Situation irrt oder unwahrhaftig ist 31 . Aber dies sind nur negative Kriterien. Als Fürsichsein ist der Mensch immer ein Sich-Absetzen von sich, oder, mit Heidegger, sich selbst vorweg. Sein Engagement steht damit immer wie-

" EN IV, ii, p. 561-638. Dies Wort ist im Französischen weiter und weniger drastisch als bei seinem terminologisch gewordenen Gebrauch im Deutschen. Es steht für ein Midi-Angehen, ein Sich-Eingelassen-Haben oder ein Sidi-Binden. Es ist einerseits „délaissement" in eine Situation, andrerseits ein Befaßt-Sein mit dem Gegenstand eines Entwurfs. 3 1 L'existentialisme est un humanisme (Paris, Nagel, 1957), 80. Cf. E N p. 85-111.

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der in Frage. K a n n nun Sartre einen positiven normativen Entwurf theoretisch darstellen, d. h. v o m Begriff des Menschen her begründen? Bisher handelt es sich nur um die Weise, wie der Mensch als Fürsichsein sein E n t wurf „ist". D e r E n t w u r f ist strukturell gedacht als eine Bewegung des Menschen zur Ergänzung seiner selbst u n d gleichzeitig als ein Sich-Absetzen von seinem Bestand, seinem Sein. Es bleibt dabei ganz unberührt, was das jeweilige Inhaltliche ist, das einerseits negiert, andrerseits e n t w o r f e n wird. K a n n es hier ein „ W o h i n " des Transzendierens, d. h. Zwecke der Freiheit als menschlicher Freiheit geben? Aber a u d i wenn das der Fall wäre, ist eine solche Zwecksetzung nicht wiederum der dialektischen S t r u k t u r des SichAbsetzens von sich selbst unterworfen, d a der G r u n d des Zwecks der endliche Mensch ist? K a n n ich nicht immer „anders", bin ich nicht konstitutionell unstabil? Ist dies Anders-Können eine konkrete Konsequenz aus der dialektischen Seinsweise des Menschen? V o r der Frage nach den positiven n o r m a tiven Inhalten stellt sich also noch diese Vorfrage. Sartre entwickelt hierzu eine eigne Theorie, die Theorie der Urwahl32. Danach ist der Mensch im allgemeinen durch sein Sein u n d durch das Ü b e r greifen seines E n t w u r f s auf seine ganze Z u k u n f t gebunden, seine Kontingenz bedeutet ein Sich-Schon-Gewählthaben. Er ist prinzipiell frei f ü r N e g a t i o n seiner selbst, aber das Umstoßen alles Bisherigen ist eine faktische Frage, nämlich inwieweit der Mensch zu sich so radikal Stellung nimmt (etwa in der Angst oder in der „réflexion pure") 3 3 , d a ß er eine bisherige K o n t i n u i t ä t negiert. Wir haben also eine A r t K o n s t a n z a n n a h m e , nicht unähnlich dem, was K a n t in der Religionsschrift „Gesinnung" nennt im Unterschied zu Wille und Willkür, nämlich einen dispositionellen Willen. Frühere E n t w ü r f e sind f ü r den Menschen gleichsam eine Situation, die seine Freiheit m i t b e s t i m m t M . H i e r m i t ist die Grundlosigkeit der Freiheit als P r i n z i p eingeschränkt auf einen stetigen Gebrauch der Freiheit, aber nach wie vor ist diese Freiheit grundlos in dem Sinne, d a ß sie keinen Bestimmungsgrund außerhalb ihrer eignen N e g a t i v i t ä t hat. K o m m e n wir nun zu der Frage nach dem Wohin u n d W o z u der Freiheit, zur Frage nach einem positiven normativen Inhalt, einem mit dem Begriff des Menschen gesetzten positiven Bestimmungsgrund des Engagements, so finden wir uns in Sartres Theorie wiederum verwiesen auf die Dialektik des Fürsichseins. Als was das endliche Subjekt sich auf seine Ganzheit entwirft, hängt anscheinend von seinem konkreten, tatsächlichen Bestand u n d seiner Situation ab, seiner Faktizität, die es transzendieren will (etwa wenn ich Durst habe, will ich ganz Durst sein) 35 . H i e r erscheint also der Zweck als die

M 33 34 35

EN EN Cf. EN

539; 531-4. 201-6. die Analyse zu Leibniz EN 546-8. 132, 145 f.

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Steigerung der Endlichkeit (nämlich des beschränkenden Prädikats) statt als Steigerung der Endlichkeit zur Unendlichkeit oder Ganzheit (als Struktur). Ein konkreter Bestand ist Ausgangspunkt f ü r eine E x t r a p o l a t i o n des Zwecks. Es besteht eine Verwechslung v o n S t r u k t u r u n d I n h a l t " . O d e r , wenn wir sagen, der E n t w u r f ginge v o r a n u n d erschließe als Gegenstück einen negativ akzentuierten faktischen Bestand, so w ä r e der Entwurf des Zwecks nicht mehr v o m Subjekt in seiner S t r u k t u r d e u t u n g her verständlicher Zweck, sondern ein erfundener Z w e c k " . Bleibt m a n bei der Strukturdeutung, so läßt sich kein konkreter Zweck f ü r den Menschen begründen, es lassen sich nur konkrete vorausgesetzte Zwecke der qualitativen oder existenzialen Dialektik des Fürsichseins u n t e r w o r f e n denken. Auch inhaltlich-anthropologisch gefaßte Bedürfnisse u n d Zwecke sind nicht mit der Analyse zu v e r k n ü p f e n . D e r Bezug zur Welt ist nur der einer Korrelation zur subjektiven, immanenten Dialektik des Subjekts mit sich selbst als Fürsichsein. Die Welt ist nicht inhaltlich als Ermöglichung des Menschen aufzuzeigen. Was positive n o r m a t i v e Zwecke angeht, so läßt sich das Subjekt nicht als ihr Grund dartun, noch ist es so geartet, d a ß sie Bestimmungsgrund f ü r es wären. Eine Theorie solcher Bestimmungsgründe ist auf der Ebene von E N nicht möglich. W i r verstehen das jetzt, schärfer als bei Heidegger, aus der Reduktion des Menschen auf existenziale oder qualitative Seinsbestimmungen im Gegensatz zu der (ebenfalls dialektischen) Theorie Hegels, die unter Ansetzung eines über das endliche Subjekt hinausliegenden Geistbegriffs das endliche Subjekt in einer Bezogenheit auf die mit dem Geistbegriff gegebenen höheren Gestaltungen entwickelt. D a m i t wird Hegels Theorie positiv normativ. U m g e k e h r t macht bei Sartre die Beschränkung auf Seinsweisen eine normative Theorie der mit dem Menschen etwa gesetzten höheren Gestaltungen u n d Zwecke unmöglich. (Wir kommen darauf im Zusammenhang mit der Existenzialismus-Schrift noch einmal zurück.) Das Gesagte hält sich noch im R a h m e n einer Prinzipienfassung „des" Menschen 38 . N u n ist der Mensch jedoch auf der Welt nicht allein. Schon Heidegger, trotz seiner Sartre so v e r w a n d t e n Zentralperspektive des Daseins, hatte das „Mitsein" als Existenzial geltend gemacht. K ö n n t e es nicht sein, d a ß von dem Bezug des Menschen zu anderen Menschen her sich dem Menschen über seine zentrale Subjektivität hinausgehende Bestimmungsgründe ergeben? Indem w i r diesen P u n k t untersuchen, t u n wir einen ersten Schritt in Richtung auf Sozialphilosophie.

»« Cf. „Grundzüge . . . " 73. ' 7 Cf. EN 132 f., 145 f., 549 („invention spontanée", gesagt von der Entscheidung zwischen Adiaphora). 58 Cf. L'existentialisme est un humanisme 83: „la liberté comme définition de l'homme ne dépend pas d'autrui".

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3. Der Andere Die Entwicklung eines ontologisdien Subjektsbegriffs bei Sartre gibt zunächst nodi keinen Hinweis auf eine Erfassung des Andern und seines Verhältnisses zu einem zentralen Subjekt, geschweige denn einen Hinweis auf soziale Strukturen, die mit dem Menschen gesetzt wären. Der Mensch ist nur prinzipienmäßig erfaßt, durch eine Seinsweise, aber darin liegt nichts, was ein Junktim mit anderen Menschen enthielte3®. Es besteht ein Junktim mit dem Sein, das für das Subjekt ist, also mit der Welt der Phänomene; aber das ist nicht gleichbedeutend mit der Erfassung anderer Menschen durch die ontologische Theorie. Die Prinzipienbestimmung des Menschen wäre erfüllt auch ohne andere Menschen. Der Andere ist kontingent. Auch das Sein ist an ihm selbst kontingent, aber für das zentrale Subjekt, für mich, ist es, als für mich notwendig, in Prinzipienimplikation gesichert. Der Andere ist aber für mich nicht notwendig, damit In-der-Welt-Sein sei. Läßt sich ein kontingenter Anderer, eine kontingente Pluralität von Menschen, in den Ansatz beim Fürsichsein einbeziehen? Dieses Problem stellt sich für jede begründende, transzendentale Philosophie. Ein Weg wäre, den Andern als Implikat höherer kategorialer Stufen des Geistigen und Sozialen zu sichern. Das würde bedeuten, daß der Andere durch das Prinzip der Differenz, des Einen und Anderen, also des Daseins, auf der jeweiligen kategorialen Stufe erfaßt wäre. Die Paargestalt von Herr und Knecht in der Phänomenologie des Geistes ist so Gestalt des Geistes in der Differenz, und so ständig auf den einzelnen Stufen der Philosophie des Geistes. Dieser Weg der kategorialen Implikation des Andern ist für Sartre nicht möglich, denn er müßte zu solch höheren Gestalten erst vom Menschen als verendlichtem Prinzip aus gelangen können. Wir wir gesehen haben, hat er keine Möglichkeit, von einem Vernunft- oder Geistbegriff her eine kategoriale Dialektik und damit solche dualen Gestalten des Geistes zu entwickeln. Er lehnt das von seiner Auffassung von Ontologie her sogar ab. Es geht ihm also um einen kontingenten Andern als vom Subjekt aus einerseits hinzunehmenden, andrerseits zu sichernden und zu begründenden 40 . 38 40

Cf. E N 342. — Zu dem ganzen Abschnitt cf. Theunissen, Der Andere, 187-230. Für das folgende s. E N 275-364. Cf. dazu „ G r u n d z ü g e . . . " 98-112. — Theunissen betrachtet das, was wir eine „Vorfrage" nennen, die Theorie der Begegnung, als „Versuch einer Uberwindung der transzendentalen Intersubjektivitätstheorie" und als Erfassung der Unmittelbarkeit des begegnenden Anderen (Der Andere 187). Das, was für uns die Hauptfrage ist, erscheint dann als Rüdekehr zur Transzendentalphilosophie in pejorativem Sinn (ebda. 225 ff., auch 235). Diese Stellungnahme wird daraus verständlich, daß Theunissen die sozial-ontologisdie Lehre vom Dialog im Auge hat als eine, die die Erfassung der unmittelbaren Wirklichkeit des Anderen und des „Zwischen" gestattet, während wir eine transzendentalphilosophische Behandlung des Problems, wenn audi nidit im Husserlschen konstitutionstheoretisdien Sinne, bejahen und im übrigen glauben, damit auch Sartres Intention zu entsprechen.

Der Andere

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Sartre stellt sich zunächst eine Vorfrage: wie begegnet mir überhaupt der Andere? Hier liegt ja ein Problem, insofern als mir im Phänomen, in der Gegebenheit, das Spezifische des Anderen, daß er eine Subjektivität ist, nicht erscheint. Entsprechend sind hier Einfühlungstheorien entwickelt worden, bei denen aber die Gewißheit, daß es sich um einen Andern handelt, nie die Wahrscheinlichkeit übertrifft, wie Phänomene sie haben. Sartre will dagegen das immer von uns schon Zugestandene klären, daß wir nicht nur vermutliche Menschen als „Objekt-Andere" vor uns haben, sondern „Subjekt-Andere", von denen wir betroffen sind. Seine These ist, daß der Andere mir einmal als Objekt erscheint, ich ihn aber schon als Subjekt verstehe, und in meiner Welt dem schon Rechnung getragen ist, indem ich um ihn einen Raum seiner Bewandtnisbezüge einräume. Dann aber kann der Andere mir auch als Subjekt — nun nicht „erscheinen", denn das hieße ja eben, daß er für midi Objekt wäre, sondern von mir erlebt werden, und zwar, wenn ich mich angeblickt erlebe. Ich erlebe dann eine Umwandlung meiner selbst zu einem Sein für ihn. Ich kann nun mich so umgewandelt erleben, auch wenn kein eigentliches Gesicht, das mich fixiert, diese Umwandlung ausgelöst hat; ein offenes Fenster kann dieselbe Reaktion in mir hervorrufen. Ich erlebe mich praktisch immer in einem Raum fremder Subjektivitäten, denen gegenüber ich Objekt bin. Gemäß der Prinzipienallgemeinheit, in der dies alles spielt, ist der SubjektAndere für mich nicht ein (gegebenenfalls) Plurales, sondern „pränumerisch" 41 , „das" andere Subjekt, das mich zum Objekt macht (ζ. B. die Zuhörerschaft im Hörsaal, die erst zur Vielheit für midi wird, wenn ich ihren Blick aushalte und sie zum Objekt mache, sie zählen will usw.). Es besteht also eine Implikation zwischen mir und dem Anderen, die kontingent vermittelt ist, aber sich theoretisch nicht von einer apriorischen Offenheit unterscheidet, die in deri konkreten Begegnung (auch der irrtümlichen) ein Geschehen auf meiner Seite zum Inhalt hat. Der Andere ist mir apodiktisch gegeben, d. h. so wahr idi mein Objektwerden erlebe. Der zugehörige Andere zu diesem Objektwerden (etwa im Erlebnis der Scham) kann dabei aber auch nicht-existent sein, und insofern besteht ein gleitender Übergang zur apriorischen Offenheit. Ich impliziere ein mögliches Faktum. Diese von der phänomenologischen Beschreibung ausgehende Auffassung führt Sartre nun weiter in einer ontologischen Fundierung, d. h. er will zeigen, daß ein durch das Prinzip des Fürsichseins gedeutetes Subjekt Grund oder doch „Unterpfand" sein kann für eine Seinsbeziehung zum Andern, obwohl es nicht seinem Begriff oder Prinzip nach eine solche Beziehung hat. Wie läßt sich aber die Beziehung zum Andern dann gründen? Wir müssen die Beziehung zum phänomenologisch schon gesicherten Anderen zunächst ganz so denken wie die des Fürsichseins zum Sein, die ja darin liegen soll, daß es das Sein „nicht ist". Ich beziehe mich auf den Andern, indem ich ihn „nicht 41

C f . 8 4 unten.

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Sartres phänomenologische Ontologie

bin". Idi bin meinerseits der, den der Andere nicht ist. Damit ist in einer neutralen, „objektiv-ontologischen" Perspektive ein Auftreten des Andern für midi umschrieben. Ich bin damit in einer neuen Dimension, eben der gegenüber dem Anderen, idi selbst. Wir haben selbst zu sein nidit nur, indem wir das Sein nicht sind, sondern audi, indem wir den Andern abweisen. Das Fürsichsein impliziert also den Andern durch Negation, reißt sich von ihm los, und damit „gibt es" ihn für midi. Das Fürsich begrenzt sich gegen den Andern, impliziert ihn in einem Limitationsverhältnis. In dieser Limitation ist der Andere auch „gegeben", aber das ist nidit eng, für einen konkret vorfindlichen Anderen, zu verstehen: es ist ja meine Leistung, daß idi midi „nidit" den Andern sein lasse. Dies kann im konkreten Fall, oder im Falle des Irrtums oder allgemein apriorisch gemeint sein. Die Sachlage geht über in eine logisdie, eben das Verhältnis der Limitation oder der Dialektik der Grenze mit dem Andern als ergänzendem Horizont. Der Andere ist nicht nur „nicht Idi", sondern audi wiederum meinesgleichen. Ich negiere ihn in der Limitation als einen, der mich negiert, beide sind wir Fürsidisein. Ich negiere den Andern als ein abzuweisendes Idi-selbst. Weiter negiere ich, indem idi den Anderen als einen negiere, der midi negiert, ihn als einen, für den ich bin. Er ist für mich ein Subjekt-Anderer. Ich realisiere, daß dasselbe wie für midi auch für den Andern gilt. Wir begrenzen und begegnen uns gegenseitig. Meine einseitige Subjektorientierung ist beibehalten und doch auch aufgegeben. Dies alles ist nun nicht nur ein logisches Realisieren, ein logisches Verhältnis der Limitation, sondern innerhalb des logischen Ganzheitshorizonts ein Zurückbleiben im Gegensatz. Beide sind wir faktisch. In meinem Nidit-derAndere-Sein liegt sein Nicht-Ich-Sein, denn er ist ja prinzipienmäßig dasselbe wie ich, und ich liege als faktischer Anderer prinzipiell in seinem Bereich. Aber im Gegensatz zur gelingenden logischen Dialektik schließen wir uns als faktische aus. Idi und er bleiben unserer prinzipiellen Zentralorientierung verhaftet. Die Bedingung, daß all dies nicht doch nur ein apriorischer Horizont der Ganzheit oder der bloßen Limitation bleibt, ist also, daß eine fremde Negation meiner selbst wirklich vom Andern an midi „ergeht". Sie ist die eine kontingente Bedingung neben der anderen, daß ich meine Negation des Andern ergehen lasse. Es ist also eine mir transzendente, faktisdie Bedingung im Andern miterforderlich 42 . Damit ist aber für Sartre die logische Wechselseitigkeit des Limitationsverhältnisses verändert. Er sagt sich: wenn idi den Andern negiere, ist er für mich Objekt. Meine faktisdie Negation trifft also gar nicht den Andern als einen, der midi negiert, also Subjekt ist, sondern nur als Objekt. Sartre urgiert hier, wie bei der phänomenologischen Beschreibung, das alternierende Verhältnis, daß entweder ich Subjekt und der Andere Objekt, oder idi ObKritisch hierzu „Grundzüge . .

111.

Der Andere

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jekt und der Andere Subjekt ist. Es ist also keine logische Limitation oder Wechselseitigkeit, sondern eine faktisch alternierende. Soll nun aber dodi die Beziehung zum Andern für midi als faktisches Fürsidisein, das auf Andere bezogen ist, eine Seinsbeziehung sein, eben eine Seinsbeziehung zum Subjekt-Andern, so muß auch die Limitation als prinzipielle in Geltung bleiben: mein Idi-selbst liegt doch darin, daß ich nicht der Andere bin und mich so auf ihn beziehe. Mache ich ihn nun faktisch zum Objekt, dann ist er nicht für mich. Idi muß also den Andern, den ich in einer auf ihn direkt gerichteten Negation nicht erreiche — er bietet sich nicht als Subjekt —, indirekt negieren, indem idi die Subjektfunktion des Andern dort negiere, wo sie mir zugänglich ist, nämlich, indem ich mein von ihm zum Objekt gemadites Ich negiere. Idi bestimme mich als mich selbst durch Abhebung von diesem vom Andern zum Objekt gemaditen Ich. Damit grenze ich midi in eins gegen den Andern (auf den idi midi implikativ oder konkret begegnend beziehe) und gegen mein Sein-für-Andere (auf das idi midi damit auch als auf meines beziehe) ab. Folglich ist mein Ich-Objekt, mein Sein-fürAndere, Unterpfand meines Selbstseins als Nicht-der-Andere-Seins. Dies Ich-Objekt, oder mein Sein-für-Andere, ist einerseits meines, andrerseits ist es das, was für den Andern ist. Es ist ein Objekt für den Andern, aber idi „bin" es, indem ich es nicht bin, da idi Fürsidisein (und also mit Sein verstridtt) bin. Als „was" dies ist, das ich bin und nicht-bin, entgeht mir, da es nur für den Andern ist, d. h. ihm gegeben ist. Für den Andern ist es „thetisch", gegenständlich, für midi dagegen ist es nur „erlebt", nichtthetisdi. Idi bin ein Sein, das aber nicht für mich Phänomen wird, sondern für ein anderes Fürsidisein. Idi bin diese Einheit von Sein — eben Sein-fürAndere — und Fürsidisein. Dies Sein-für-Andere ist der ontologische Grund für meine Seinsbeziehung zum Andern; sonst könnte es ihn geben ohne daß idi eine Seinsbeziehung zu ihm hätte. Im Sein-für-Andere ist die gegenseitige Begrenzung von Subjekten trotz der gegenseitig ausschließenden und vergegenständlichenden Beziehung ermöglicht. Es gibt also doch eine Anweisung im eignen Sein — wenn audi nicht im Begriff — des Menschen auf den Andern, aber nicht ein Junktim im anfangs erwogenen Sinn, sondern im Sinn einer transzendental-ontologischen Konstruktion. Das Sein-für-Andere ist die Stelle, die midi das Betroffensein von fremder Negation erleben lassen muß, wo sich eine fremde Negation umsetzt in etwas mir Erlebbares, Verinnerlidites43, ein Gefühl der Scham z. B. Der Leib wird für dies Sein-fürAndere angesetzt, und die ontologische Grundlegung wird für nähere Klärungen phänomenologische Beschreibungen hinzunehmen. Entsprechend dem alternierenden Verhältnis zwischen mir und dem Andern muß die bisher betrachtete Sachlage, mein Ich-Selbst-Sein durch Realisieren und Erleben eines Subjekt-Anderen, übergehen können in den umgekehrten " Cf. unten 71 Anm. 8.

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Sartres phänomenologische Ontologie

Fall eines Transzendierens des Andern durch mich, indem idi ihn zum Objekt mache und die erstere Sachlage für ihn entsteht. Den Übergang denkt Sartre sich wiederum logisch begründet so: ich muß die Negation, durch die der Andere mich negiert und die also nicht von mir abhängt, negieren. Damit daß ich mein Negiertsein durch ihn, mein Sein-für-Andere, negiere, bin ich aber gerade ich selbst: ich reiße midi vom Andern (d.h. von seiner Negation an mir) los, indem ich meine „Begrenztheit" durch ihn negiere. Im Negieren meiner Grenze (im Sinne einer Freiheitsbeschränkung) bin ich Fürsichsein, dasselbe wie der Andere. Aber idi gelange nicht etwa, im Sinne Hegels, zu einer Einheit mit ihm und damit zu einer höheren Ganzheit, idi mache nur mich wieder zum Subjekt und den Andern wieder zum Objekt. Dies MichErgreifen, dies Negieren meines Negiertseins, ist, wie Sartre sagt, ein „explizites" Bewußtsein meiner selbst als die Möglichkeit habend, den Andern zu negieren. Das logisch-strukturelle „ich bin nicht mein Sein-für-Andere" muß explizit gemacht werden können, ein faktisches Wollen sein. Logisch sind beide Fälle zu verwechseln, und so ist durch die logische Struktur ein wechselseitiger Übergang oder richtiger: eine Simultaneität und Limitation beider Intentionsrichtungen gezeigt; nur faktisch aktiviere idi ein von mir aus orientiertes Limitationsverhältnis, also ein Ausschließungsverhältnis zum Andern. Das formale Nachdenken über diese Sachlagen kann das faktische Moment als Faktum eines Logischen nur behaupten. Das faktische Umschlagen ist also kein logisches, kein Progreß der Dialektik, sondern eben ein faktisches Umschlagen im gegebenen Fall innerhalb des logischen Rahmens, das affektiv erlebt wird, gefühlsbedingt ist je nach der Situation. Hierher gehören die inhaltlichen Bestimmungen von Furcht (in der es mir um mein Objektsein geht), Scham (in der ich gehindert bin, reines Subjekt zu sein), Stolz (in dem ich den Andern als Subjekt anerkenne, aber mich verantwortlich fühle für mein Objektsein, den Andern durch mein Objektsein beeinflussen will, ihn also als Subjekt übergreife, so daß er Objekt wird und der Sinn meines Verhaltens durchkreuzt ist). Wir haben hier einige Beispiele, wie die formale Deutung der Beziehung Ich-Anderer ein inhaltliches Verständnis unserer menschlichen Erfahrung bestimmt. Dies ist ebenso der Fall in den Schilderungen der „relations concrètes avec l'autrui" 44, die deutlich ein auf Grund der ontologisdien Theorie différentes Verständnis des Menschen in seiner Beziehung zum Andern, in einer Proto-Sozialität, zeigen. Das Wesentliche und Differente, das sich aus der vorgeführten Theorie ergibt — die wir hier nicht weiter auf ihre Dignität als Grundlegungsversuch betrachten wollen — , ist die These, daß die Sozialität des Menschen grundsätzlich ein Antagonimus ist. J e zwei, eine Zentralsubjektivität und die Andern als pränumerische, sind sich entgegengesetzt. Die These ist, daß ich, indem ich zum Objekt gemacht werde, nicht aktive 44

E N III, iii, 431-503.

Der Andere

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Subjektivität bleibe, sondern mein Subjektivitätspotential erst wiedergewinnen muß (alternierende Wechselseitigkeit). Dieser Gedanke kann sich auf Erfahrungen berufen, die in phänomenologischen Beschreibungen ihren Niederschlag gefunden haben. Als allgemeine ontologische These ist das differente Ergebnis schwerlich zu akzeptieren: trotz der Pluralität der Subjekte sollen Subjekt- und Objektcharakteristik des Menschen disjunktiv auf mich und den Andern verteilt sein. Das Prinzip des Menschen ist gewissermaßen in zwei Modifikationen, in Zentralperspektive und in gegenständlicher Perspektive, angesetzt, dialektisch verbunden durch ein neutral orientiertes, logisches Limitationsverhältnis; beide Perspektiven sind wechselseitig. Mit seiner These vom prinzipiellen Antagonismus der Subjekte scheidet Sartre alle eingespielten InterSubjektivitäten von der Untersuchung aus: Anerkennung im Gespräch, aber auch Gemeinsamkeiten der Bedeutungssphäre. Wohl aber ist er in der Lage, mit seinem Schema menschliche Lagen zu erfassen, die dem Antagonismus entsprechen: es sind die genannten Situationen von Paaren. So feinsinnig diese Analysen auch sein mögen, sie stellen nur einen vom Ansatz beim Prinzip geleiteten und durch dessen kategoriale Armut bedingten Ausschnitt der zwischenmenschlichen, sozialen Wirklichkeit dar. Es handelt sich um eine Sozialphilosophie von Paaren. Der soziale Bereich ist der einer Pluralität von Freiheiten, die sich je vom Zentrum eines Subjekts aus polarisieren in Subjektfreiheit und Objektfreiheit, und das heißt Unfreiheit. Im immer möglichen Umschlagen der Polarisierung ist ein Unterpfand der grundsätzlichen Gleichartigkeit der Vielen gegeben. Logisch sind sie in ihrem Limitationsverhältnis gleich, sind Menschen. Aber die jeweilige Orientierung gestattet keine objektiv-ontologische Betrachtung des Sozialen nach strukturierten Gebilden (die als kategorial zu leistende Begründungsaufgabe nicht in den Blick treten kann). Wir können von einem Individualismus sprechen oder von einer individualistischen Sozialphilosophie: es ist nur davon die Rede, wie der Mensch als Freiheit von anderer Freiheit betroffen ist oder wie er sie betrifft. Es gibt, das sieht Sartre schon in EN, Gruppierungen von Freiheiten als Objekten für eine Subjektivität, ein Wir-Objekt — etwa das Zusammengehörigkeitsgefühl der Zuhörer, die einem Vortragenden ausgeliefert sind. Es gibt „laterale" Beziehungen von Menschen als Objekten einer fremden Freiheit, wenn auch die Begründung für diese lateralen Beziehungen als vom betroffenen Einzelnen aus orientiert nicht theoretisch befriedigend behandelt ist. Sartre rührt damit schon an das Entfremdungsphänomen als Form der Sozialität, und zwar spezifisch als „laterales" Phänomen, denn grundsätzlich ist der Prototyp von Entfremdung für ihn die frontale Konfrontation im Zum-Objekt-Gemacht-Werden durch den Andern. Wir sehen voraus, daß für Sartre maßgebende Konzeptionen für den sozialen Bereich sein werden eine absolute Freiheit des Einzelnen (und vielleicht auch absolute Freiheit in Gemeinschaft, was er in E N noch nicht zeigen kann; er lehnt ja das sog.

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Sartres phänomenologische Ontologie

Wir-Subjekt ab, wenn audi die „équipe" schon eine Rolle spielt)45 und eine entfremdete Freiheit (individuell entfremdet durch den konfrontierenden Anderen oder sozial entfremdet durch ein laterales Verhältnis zu Anderen gegenüber einem objektivierenden Andern).

4. Das Verhältnis zum Andern als

Identifikation

Sartres Grundgedanke für die Deutung der Sozialität ist in EN der Antagonismus, die notwendige Entfremdung durch den Andern und notwendige Entfremdung des Andern durch mich. Aber auch für diese Entfremdung meiner selbst in Objektposition für einen Andern muß gelten, daß ich frei bin; idi verliere ja meine ontologische Charakteristik nur faktisch (auf der Grundlage meines notwendig-faktischen Seins), aber nicht prinzipiell, als Fürsidisein. Wir sahen ja, wie die logische Analyse eine Limitation bei beiderseitiger Identität ausweist und die wechselseitige Polarisierung eine Sadie des Faktischen, wenn audi notwendig-Faktischen, bleibt. Es stehen sich gegenüber notwendig-faktisdie Einschränkung (prinzipielles Betroffenwerdenkönnen im Rahmen der apriorischen Implikation) und prinzipielle Freiheit, Fürsichsein. Es gibt ex definitione keine Umstände, unter denen meine prinzipielle Freiheit nicht wäre, etwa im Gefängnis, in der Beschämung oder wie und wo auch immer. Eine Einschränkung meiner prinzipiell gewahrten Freiheit ist nur durch das Objektivierungstheorem (u. U. für eine Pluralität) dargestellt, und das ist wiederum notwendig-faktisch und universell. So wenig eine nicht-entfremdete Gemeinsamkeit mit Anderen aufgezeigt ist in ihrer Möglichkeit — etwa Freundschaft, Aktionsgemeinschaft —, so wenig auch die Struktur, bei der eine Gemeinsamkeit mit Andern eigentlich entfremdend wäre (was eben nicht universell, durch notwendig-faktische Objektivierung gezeigt werden kann). Es gibt zu viel, aber nur faktische, Entfremdung bei Sartre. Wir suchen eine Vermittlung von sozialen Gebilden und Strukturen mit der Freiheit. Irgendwie muß ein bestimmtes Gegenüber meine Freiheit einschränken oder audi erfüllen können, eine bestimmte Struktur der Beziehungen muß einen nicht trivialen Unterschied machen, der Unterschied muß positiv formulierbar sein, es muß eine kategoriale Theorie der sozialen Verhältnisse als freier oder entfremdeter gegeben werden. Freiheit und Sozialität, möglicherweise entfremdende Sozialität, müssen inhaltlich-konkret, aber doch in begründeter Weise, in Beziehung gesetzt werden. Es reicht nicht zu sagen, daß die Freiheiten der Anderen mir die Lage unhaltbar machen können4*, also andere Freiheit ' ggf. negativ zu sehen, oder, wie der frühe Marx, positiv, davon zu sprechen, daß „dem Menschen in der Gesell45

E N 303, 495-502. " Cf. Matérialisme et révolution, in Situations I I I (Paris, N R F , 1949) 209.

Das Verhältnis zum Andern als Identifikation

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schaft die gegenständliche Wirklichkeit als Wirklichkeit der menschlichen Wesenskräfte, als menschliche Wirklichkeit und darum als Wirklichkeit seiner eignen Wesenskräfte wird" 4 7 . Es müßten vielmehr Sozialformen in Kontinuität mit dem Prinzip der Freiheit entwickelt werden, aus deren Struktur die Wahrung der Freiheit bzw. die Entfremdung verständlich werden. Der prinzipielle Antagonismus der Freiheiten und das Ineinander von entfremdeter Freiheit und aktiver Freiheit reichen dafür nicht aus. Sartre will allerdings auch eine nicht-antagonistische, solidarische Beziehung von Freiheiten zueinander ansetzen. So heißt es in der ExistenzialismusSchrift: „ . . . je ne puis prendre ma liberté pour but, que si je prends également celle des autres pour but" 4 e . Ist das ein ethischer Gedanke, sollte das so sein — vor der eben zitierten Stelle heißt es: „ . . . mais dès qu'il y a engagement, je suis obligé de vouloir en même temps la liberté des autres" —, oder liegt hier eine strukturelle Einsicht in ein soziales Verhältnis zu Andern, das nichtantagonistisch ist? Sartre meint irgendwie einen prinzipiellen Begriff von Freiheit, unter den meine Freiheit und die Freiheit Anderer fallen, und der hier undeutlich auch für eine gemeinschaftliche Freiheit zu gelten hat 4 *. Kann Sartre für eine solche gemeinschaftliche Freiheit mehr als Appell bieten? Wie wir gesehen haben, erkennt die Sartresdie Freiheitslehre dem Menschen absolute Freiheit auf der Grundlage des Faktischen zu. Den Schritt zu einer konkreteren Freiheit, in der auch Andere als Bestimmungsgrund für mich eintreten können, macht Sartre in der Existenzialismus-Schrift durch den Gedanken der prinzipiellen Identität Anderer und meiner selbst qua Freiheiten50. Die Freiheit Anderer, indem sie prinzipiell mit meiner identisch ist, muß genauso mein Ziel sein wie meine. Der Gedanke klingt an, daß ich mir sonst widerspräche, denn das Ziel meiner Freiheit involviert logisch die Freiheit der Andern als mein Ziel. In recht anderem Sinne sagt Sartre, daß meine Wahl, indem sie mich engagiert, auch die ganze Menschheit engagiere51; der Andere hängt in seiner Freiheit von mir ab, wie auch idi von der Freiheit Anderer abhänge52. Hier handelt es sich um ein faktisches Verhältnis. Beide Gedanken scheinen zusammenzukommen im Gedanken der Verantwortung: was der Mensch auch tut, „il est impossible qu'il ne prenne pas une responsabilité totale en face de ce problème" M . Damit will Sartre den Vorwurf der Willkür seiner Freiheitsauffassung und die Identifizierung mit dem acte gratuit Gides abweisen. Aber was heißt Verantwortung? Sie 47

Marx Werke (Cotta) I, 600. L'existentialisme est un humanisme 83. 4 * Cf. die Kritik von Lukacs, Existentialisme ou Marxisme (Paris, Nagel, 1961) 129 ff. (Die deutsche Ausgabe war mir leider nicht zugänglich.) 50 Lukacs spricht a.a.O. 131 von einem „bond miraculeux". M L'existentialisme est un humanisme 74. » ebda. 83. - ebda. 75. 48

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Sartres phänomenologische Ontologie

ist hier ein ontologisdier Begriff und besagt im Grunde nur, daß idi an den Weiterungen meiner Wahl „sdiuld" bin54. Man möchte sagen: ich hätte die Weiterungen voraussehen und sie mit zum Bestimmungsgrund meiner Wahl machen müssen. Aber etwas Normatives ergibt sich doch nur, wenn die Weiterungen für mich freiheitsdifferent sind, idi also einen Beurteilungsmaßstab für eine gemeinschaftliche Freiheit habe. Die Rede von der Verantwortung besagt also für die Frage freier Gemeinschaft nichts; im Gegenteil, sie kann Heideggersdie „Entschlossenheit" sein55. Wir kommen zur ersteren Idee zurück, daß fremde Freiheit mein Bestimmungsgrund sein soll wie meine eigne. Der Gedanke erinnert uns an eine Kantische Position, besonders an diejenige Formulierung des kategorischen Imperativs, wonadi idi andere Personen immer nur als Selbstzweck betraditen soll 5 '. In diesem Gedanken liegt keine Anweisung für eine soziale Struktur, es ist ein ethischer Gedanke. Aber steht auch nur er Sartre überhaupt offen? Kann Sartre eine normative Konzeption ethischer Art von seinem ontologisdien Prinzipienbegriff überhaupt entwickeln? Man könnte meinen, nach Sartres ontologisdier Klärung des Verhältnisses zwischen mir und dem Andern sei jeder gerade durdi das Verhältnis zum Gegen-Idi er selbst; der Andere als identisch mit mir in seiner Freiheit wäre gerade Voraussetzung für midi. Aber dies ist sozusagen nur eine „objektivontologisdie" oder logisdie Sachlage, die nun faktisdi orientiert von mir und vom Andern aus gesehen werden muß. Die Identität mit dem Andern als ebenso relevanter Bestimmungsgrund für midi wie idi selbst — diese Identifikation — scheint für Sartre immer durch die faktische, jemeinige Orientierung verhindert zu sein. Nur wenn ich im Einklang mit der Theorie über meine Orientierung hinaus dem Gemeinsamen, worin wir, idi und der Andere, identisch sind, gemäß handeln könnte und zu handeln hätte, midi einordnen könnte in eine neutrale Perspektive, in der idi und der Andere Freiheiten sind, stünde Sartres Prinzipiendeutung dem Gedanken des kategorischen Imperativs nahe. Der Mensdi ist endlich, faktisdi, mit Sein beschwert, an seine situierte Orientierung gebunden, so wie er bei Kant als Sinnenwesen gekennzeichnet ist. Soweit idi nun Vernunftwesen bin, würde Kant sagen, ist der Andere für midi Selbstzweck. Dies „qua Vernunftwesen" ist eine Norm gegenüber dem, was der Mensdi „ist". Für Sartre ist diese Norm zwar ein apriorischer Horizont, wir bleiben aber als endliche hinter ihm zurück. Wie steht es aber mit der Verbindlidikeit der Norm als solcher? Diese horizonthafte Identität meiner selbst mit dem Anderen ist nidit im Sinne einer Norm gefaßt: das, worin wir koinzidieren, ist unser Seinsprinzip, das Für54

55 M

Cf. die Analyse in Hegels Rechtsphilosophie §§ 115-118. Cf. audi Heideggers Schuldbegriff in Sein und Zeit 283 f., 285, 287. Sein und Zeit 297. Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Akademie-Ausgabe Bd. IV, 429.

Das Verhältnis zum Andern als Identifikation

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sichsein oder die Freiheit, und im Begriff der Freiheit liegt nicht schon ihre Vernunft, die Kant einführt und in der ein Geltungsmoment liegt". Sartre geht in der Existenzialismus-Schrift allerdings über das ontologische Verständnis des Menschen hinaus: im Handeln, das Andere betrifft, soll idi den Andern als Freiheit, d. h. in dem, worin er sich erfüllt, ernstnehmen, wenn audi Sartres Freiheit nidit die Allgemeingültigkeit der Vernunft bei sich hat. Im Zusammenbestehen der Freiheiten ist jede von der des Anderen konkret abhängig, die Vereinbarkeit ist keine geistige, nach einem allgemeingültigen Gesetz™, sondern als Realsystem von Pluralitäten vorzustellen (so wenig dafür strukturelle Bedingungen in bestimmten sozialen Ordnungen angegeben sind). Es bleibt bei einem vom Standpunkt der Freiheit unbegründeten Sollen. Das Verhältnis zwischen Menschen kann nidit-antagonistisdi sein, sofern wir uns der Norm unterwerfen, vorausgesetzt, wir könnten es, aber die Norm der Freiheit ist in ihrer Verbindlichkeit letztlich nicht einzusehen. Es handelt sich um eine ethische Idee ab extra. Man kann nicht einmal sagen, der Mensch „unterliege" einer Norm (der der Vernunft oder der Freiheit), denn er ist nicht durch einen kategorialen Begriff, wovon er eine relative Exemplifikation wäre, gefaßt. Der Mensch ist bei Sartre nicht normativ bestimmt wie in der Kantischen und Hegeischen Philosophie. Ließe sich nun aber — wir kommen noch einmal darauf zurück — von dem mit der Seinsweise des Menschen gegebenen Begriff her ein damit kontinuierlicher expliziter Begriff des Sozialen aufstellen? Führt ein Ernstnehmen der Freiheit als so ausgelegte Norm auf eine strukturierte soziale Ordnung? Ist mit der Freiheit ein konkreter Freiheitsbegriff angelegt? Sartre denkt ganz offensichtlich an einen konkreten Freiheitsbegriff, wenn er etwa von der Einschränkung der Freiheit durch Tyrannei oder Ausbeutung spricht und Auflehnung empfiehlt. Wie beide, die prinzipielle und die konkrete Freiheit, zusammenhängen, wird aber nicht deutlich. Die prinzipielle Freiheit besitzen alle. Aber wie muß ich handeln, aber wie audi die Andern, damit die konkrete Freiheit im Zusammenleben mit Anderen auf meiner Seite und auf der Seite der Andern erfüllt ist? Sartre stellt eine solche konkrete Freiheit als möglich hin: er meint, daß mit seinem Freiheitsbegriff, wonach der Mensch sich den Sinn des Lebens erst selbst gebe, audi die Möglichkeit besteht, eine menschliche Gemeinschaft zu schaffen5'. Sartre steht hier an der Nahtstelle von Ethik und Sozialphilosophie: er stellt sich vor, daß es durch Respektierung und Beförderung fremder (populär oder frühmarxistisch verstandener) Freiheit Gemeinschaft geben könne. Aber was müßte ich tun, was müßten alle tun, wie müßte das Verhältnis aller zu allen strukturiert sein, damit es freie Gemeinschaft gibt? Wäre sie nur der empirische Erfolg des Appells? 57

Cf. Grundlegung, a.a.O. 453. Cf. Kants „Reidi der Zwecke" Grundlegung, a.a.O. 433. 5 ® L'existentialisme est un humanisme 90. 58

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Sartres phänomenologische Ontologie

Wir verstehen mit Sartre bislang ein Zusammenbestehen von Freiheiten ohne Entfremdung nicht. Aber genau ein solches Zusammenbestehen müßte verstanden werden, müßte begründbar sein, gerade wenn eine Philosophie die Hegeische Lösung für eine Theorie von sozialen Gebilden unter einer mit dem Begriff des Menschen kontinuierlichen Kategorie des Geistes ablehnen muß auf Grund ihres am endlichen Einzelnen festgemachten Grundbegriffs. (Hegel diskutiert von einem abstrakten Begriff des Menschen als Vernunft aus nur die Ethik, und nicht audi die, wie man bei Sartre sehen wird, in gewisser Weise auch mögliche, wenn audi abstrakte und daher für Hegel falsche, Sozialtheorie.) Es fehlt die Konzeption einer höheren Integration, in die sich alle einordnen; es gibt keine Konzeption eines strukturierten Ganzen, die Pluralität ist strukturlos. Die Sartresche Lehre in EN und in der Existenzialismus-Schrift beschränkt sich auf ein Urgieren der Einzelfreiheit. Nach der letzteren Schrift soll die Freiheit wie sich selbst so audi andere Freiheit zum Bestimmungsgrund nehmen, es ist aber nicht zu sehen, wie sie von daher einen Inhalt bezieht (ethische Inhaltslosigkeit) und wie sie, durch andere Freiheiten mitbestimmt, selbst frei ist, wie sie als Gegenstand fremder Freiheit frei ist' 0 (soziale Strukturlosigkeit). Angesichts des Fehlens eines höheren mit dem Prinzipienbegriff des Menschen kontinuierlichen Begriffs für soziale Pluralität ist zu fragen, was für eine auf der Einzelfreiheit aufgebaute Philosophie auf diesem Gebiet überhaupt möglich ist. Statt auf dem Wege über die idealistische Integrationsidee müßte von den Einzelfreiheiten her gezeigt werden, wie sie Gegenstand fremder Freiheit sein können und doch frei bleiben. Anders gesagt: es muß eine „relative" Freiheitsbeschränkung verständlich gemacht werden, wie sie etwa in lateralen Bindungen zu Anderen liegt, und zwar nicht nur als Korrelat eines ethischen Appells, sondern als strukturiertes Gebilde. Ein solches Gebilde, oder vielleicht mehrere subsidiäre Gebilde in einem Gesamtgebilde, müssen vom Einzelnen her konstruierbar sein, wenn der transzendentale Ansatz beibehalten werden soll. Ein solches Sozialgebilde müßte die Einheit eines sich selbst stabilisierenden Ganzen haben, das nicht zugrundegeht, wenn Einzelfreiheiten ihm nicht entsprechen. (Hier wäre, gleichsam als Abstraktion des normativen Sozialverhältnisses, eine Theorie des Rechtsverhältnisses erforderlich.) Und es wäre dann die Frage, ob das Verhältnis des Einzelnen zu einem solchen Sozialgebilde auf Grund des Ansatzes beim Einzelnen nur negativ als relative Freiheitsbeschränkung zu fassen wäre und nicht auch als Erfüllung seiner Freiheit im Sinne Hegels. Und doch müßte ein solches Sozialbegilde vom Einzelnen her konstruierbar sein. Wir sehen allerdings sofort, daß die Formulierung des Problems äußerst abstrakt ist, geht sie dodi nur von der faktischen Pluralität von Prinzipienfreiheit aus, als ob die Menschen nur darauf hin zu betrachten seien, wie sie Die Formulierung in Matérialisme et révolution, a.a.O. 218.

Das Verhältnis zum Andern als Identifikation

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ihre interpersonalen, gesellschaftlichen und staatsrechtlichen, Verhältnisse ordnen. Für eine auf einem ontologischen Begriff vom Menschen aufgebaute Philosophie, und erst recht für eine Philosophie, die soziale Gebilde begründen will, ist es klar, daß noch mehr dazu gehört: das Verhältnis des Menschen zu Natur und Welt'1. Auch hierin koinzidieren die Menschen ja, sind gemeinsam von Natur und Welt abhängig. Freiheiten kollidieren auch in der Natur, auf Grund des Bedürfnisses, eines Moments, das in EN nicht zur Geltung kommt. Bei Hineinnahme dieses Aspekts müssen wir also eine Modifikation der Abstraktion der bisher geschilderten Philosophie Sartres erwarten. Wenn vom Bedürfnis her, sogar unter Verzicht auf eine dialektische Fassung des Menschen und unter Verzicht auf eine transzendentale Fragestellung eine soziale Struktur aufzubauen ist (wie es etwa Aristoteles oder der Utilitarismus tun), so könnte eine transzendental aufbauende Sozialphilosophie dahinter wohl nicht zurückstehen. Kann sie, statt durch Erweiterung auf kategoriale Dialektik und höhere Einheitsbegriffe, durch Hinzunahme dieser Konkretion ihre Aufgabe lösen?

«l C. unten 191.

II. Sartres Rezeption und Kritik des Marxismus Wir haben in unserer Interpretation Sartres zuletzt die Erwartung ausgesprochen, daß eine Theorie des Sozialen das reine Person-Person-Verhältnis überwinden müsse, das in E N und, in ethischer Wendung, in der Existenzialismus-Sdirift vorliegt, daß vielmehr auch das Verhältnis des Menschen zur Natur, sein Bedürfnis, das durch die Natur befriedigt werden muß, und die Kollision der Menschen in der Natur werde Berücksichtigung finden müssen. Es ist nun sicherlich möglich, Sartres über das Bisherige in dieser Richtung hinausschreitende Theorie in C R D rein systematisch anzuknüpfen. Aber wir tun wohl doch gut, aus dieser systematischen Intention herauszugehen und auf eine bedeutsame philosophische Beeinflussung Sartres einzugehen, die das Weitere erhellt. Die kantianisierende ethische Lehre in der Existenzialismus-Schrift erhält eine sozialphilosophische Note — im Sinne einer größeren Bestimmtheit der ethischen Maxime und der strukturellen Konzeption des anzustrebenden Sozialen — durch eine vorgegebene Quelle: durch den Marxismus und seine Deutung der sozialen Verhältnisse der Neuzeit im Sinne von Klassenverhältnissen. Hinzu kommt Sartres eigne Anschauung, die ja, besonders, soweit sie durch den Marxismus geschärft ist, eine soziale Situation vorfindet, die unter dem Gesichtspunkt der Freiheit negativ beurteilt werden kann. Es versteht sich, die Forderungen lassen sich mit einem so abstrakten Freiheitsbegriff wie dem Sartreschen beliebig hoch treiben, die Polemik gegen die „Verhältnisse" ist nie zu begütigen. Sartre ist, biographisch gesehen, von der sogenannten sozialen Frage schon in jüngeren Jahren stark beeindruckt worden. Seine Beunruhigung darüber führte ihn nicht zu einer karitativen Haltung oder Betätigung, sondern zur Bejahung des Marxismus. Schon der frühe Aufsatz „La transcendance de l'ego" enthält Hinweise darauf 1 , und E N wie die Existenzialismus-Schrift geben sich als völlig vertraut mit entsprechenden marxistischen Begriffen und Denkschemata 2 . Der Essay „Materialismus und 1

2

Sartre wendet sidi gegen den Idealismus und sagt von ihm (a.a.O. 122 f.), daß er eine Philosophie sei, wo das Leiden, der Hunger, der Krieg „se diluent dans un lent processus d'unification des idées" und spricht vom historischen Materialismus als von einer „hypothèse de travail . . . féconde". Nadi der an die Existenzialismus-Schrift anschließenden Diskussion erscheint die Revolution als eine Aufgabe, die zu gegebener Zeit fällig ist, wie z. B. Marxens Kommunistisches Manifest zu seiner Zeit notwendig war. Sartre findet

Sartres Rezeption und Kritik des Marxismus

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Revolution" (wie die Existenzialismus-Schrift von 1946) enthält in einem zweiten Teil dann sogar eine „Philosophie der Revolution"', die sich zum Teil als Monographie liest — mit dem Ziel, den Revolutionär auf seine Voraussetzungen zu untersuchen — , aber dann dodi eine deutliche Parteinahme für die Arbeiterklasse im Sinne des Marxismus erkennen läßt 4 . Durch eine solche, für uns noch vage Einbeziehung der marxistisch gedeuteten Sozialsphäre bekommt die Situation, in der Freiheit bestehen kann und in der sie den Imperativ, andere Freiheiten anzuerkennen, verwirklicht, eine neue Note. Der terminus a quo der Freiheit ist jetzt inhaltlich angereichert. Das dem ethischen Imperativ entsprechende Ziel — eben die gegenseitige Anerkennung der Freiheiten, das ungeschmälerte Freiheit-Bleiben trotz Vergegenständlichung durch und Konfrontation mit Anderen 5 — muß von der klassengesellschaftlichen Situation her, die diesem allgemeinen Imperativ nicht entspricht, erst errungen werden. Die soziale Zielvorstellung ist eine Negation der Negation. Hiermit hat sich Sartre grundsätzlich Marx angeschlossen. Das Ziel ist die Beseitigung der Privilegien, eine klassenlose Gesellschaft, eine menschliche Ordnung, die Sartre „Antiphysis" nennt', wo also der Mensch sich selbst seine eignen Gesetze gibt und weder die Natur noch der Mensch in Gestalt des Andern, in einer der Natur analogen Weise, die Freiheit beschränkt. Die Freiheiten sollen „im Besitz ihres Schicksals sein" 7 . Wir sehen: diese Zielvorstellung besitzt nach wie vor keine Kontur, sie ist einfach ein abstrakter Gedanke, der der abstrakten Ethik in der Existenzialismus-Sdirift entspricht. Und ganz ähnlich erscheint uns ja auch die Zielvorstellung der Marxschen Frühschriften. Wir kennen alle die Stelle in der Deutschen Ideologie vom Jagen, Fischen, Viehzucht-Treiben und Kritisieren 3 , wo Marx sogar die Organisation der Arbeit als Zusammenarbeit der Menschen beiseiteschiebt. Marx denkt an eine Existenz des Menschen als Gattungswesen, zu dem gerade gehört, gesellschaftlich zu existieren: „Das Individuum ist das gesellschaflliche Wesen . . . Das individuelle und das Gattungsleben des Menschen sind nicht verschieden „Der Mensch verliert sich nur dann nicht in seinem Gegenstand, wenn dieser ihm als menschlicher oder in seiner Zeit (d. h. 1946) revolutionäre Parteien schon vor und will lieber Begriffe klären und auf die verschiedenen revolutionären Parteien einwirken (L'existentialisme est un humanisme 105). Für die politische Einstellung Sartres und ihre Wandlungen siehe Zehm, Historische Vernunft. Cf. audi Matérialisme et révolution, a.a.O. 225, und Entretiens sur la politique, Paris 1949. 3 Matérialisme et révolution, a.a.O. 176-225. 4 Cf. ebda. Cf. Zehm, Historische Vernunft 135-45. 5 Matérialisme et révolution, a.a.O. 218. * Matérialisme et révolution, a.a.O. 192. 7 ebda. 210. 8 Marx-Engels Werke (Dietz) 3, 33. • Marx, Werke I (Cotta) 597.

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gegenständlicher Mensch wird. Dies ist nur möglich, indem er ihm als gesellschaftlicher Gegenstand und er selbst sich als gesellschaftliches Wesen, wie die Gesellschaft als Wesen f ü r ihn in diesem Gegenstand wird" 1 0 . Aber: die Einordnung in eine dem programmatischen Bild vom Menschen in seiner Abstraktion gegensätzliche Wirklichkeit, eine von da her gesehen ungerechte Klassengesellschaft akzentuiert das Ziel als Ziel eines geschichtlichen Prozesses. Das Soziale erscheint als eine Leistung des handelnden Menschen, und zwar, insofern die Unterdrückung herrscht, als Leistung des Revolutionärs. Er hat einen negativen Entwurf der Gesellschaft und überschreitet die gegebene Situation der Unterdrückung. Hier ist nun (angesichts der an Marx inspirierten Deutung der Situation) zunächst f ü r das H a n d e l n ein deutlicherer Begriff des ethisch Gebotenen vorhanden: dem Revolutionär ist doch recht klar vorgezeichnet, was er tun muß. Er hat eine Zielvorstellung von der Freiheit oder der Pluralität von Freiheiten, die nicht mehr entfremdet sind, so abstrakt sie auch sein mag, und von daher ergeben sich Imperative f ü r die Gegenwart, Mittel zu ihrer Verwirklichung. Im Negativen, in dem, was zu beseitigen ist, ist der Imperativ konkret: die Kapitalisten müssen umgebracht werden usw. In dieser Figur des Revolutionärs, die, wie gesagt, einerseits im Sinne einer Monographie behandelt wird, aber doch andrerseits auch Sartres eigne Forderung ausdrückt, verkörpert sich eine Einheit von Sozialem und Ethischem. Die ethische Forderung ist identisch mit einer Praxis der sozialen Umgestaltung, gelichtet vom Ziel her, inhaltlich präzisiert durch die Situationsanalyse nadi Marxscher Art. Der Inhalt der Praxis kann angegeben werden, wenn auch das Ziel abstrakt und letztlich die Praxis selbst ist 11 . N u n findet Sartre eine ausgeführte Lehre vom gesellschaftlichen Prozeß aus der Klassensituation zu einem von der Freiheit bestimmten ethischen Ziel schon vor im eigentlichen Marxismus. Hier handelt es sich nicht nur einfach um die ethische Impressionabilität des Revolutionärs, sondern um eine Theorie des gesellschaftlichen Prozesses, den historischen Materialismus, wonach sowohl die Genese der Klassensituation wie audi ihre Aufhebung einer Gesetzlichkeit folgt. An dieser vorgefundenen Theorie gelangt Sartre zu einer eignen klareren sozialphilosophischen Position. Er fragt sich: ist der Materialismus die passende Philosophie f ü r eine solche Bewegung von der Unterdrückung zum Ziel der gegenseitigen Anerkennung der Freiheiten, oder f ü r die Genese der vorhergehenden Entfremdung in der Klassengesellschaft? Wir müssen zur Klärung auf Sartres Marxismus-Kritik u n d dazu auch auf den Marxismus selbst kurz eingehen. Im historischen Materialismus findet sich die Vorstellung, daß es eine vom Wesen, Prinzip oder Gesetz des Menschen her verständliche Entwick10 11

ebda. 600. Cf. die Kritik von Habermas, Theorie und Praxis (Neuwied 1963), 299-302.

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lung in der Geschidite gebe. Hegel hatte eine Sinngebung der Geschichte vom Geistbegriff her geliefert: die Geschichte stellte danach eine Abfolge von Stufen, von Prinzipiaten des Prinzips des Menschen als Vernunft oder Freiheit dar; sie führt zu einer dem Geistbegriff am besten entsprechenden menschlichen Gestaltung, dem Staat als objektiver Existenz der Freiheit. Freiheit ist also als vollendet angesehen im Staat, und zwar in demjenigen Staat, in dem Alle ihre Freiheit im Mitkonstituieren der objektiven, kategorial kongenialen „Vergrößerung" des Geistes in den Vielen haben. Von dieser allgemeinen Idee der Sinngebung der Geschichte ist Marx mitbestimmt. Aber er sieht in der Geschichtsdeutung Hegels eine Deutung im Element des bloßen Denkens. M a r x hat sehr früh den Gedanken, daß die (Hegeische) Philosophie „verwirklicht" werden müsse (so schon im Anhang zur Dissertation). Die nachhegelische Zeit könne nur eine Epoche des „Weltlidi-Werdens" der Philosophie, die vollendet ist, sein 12 . Vor aller geschichtlichen Adaptation Hegels und Übernahme der Gedanken der Hegeischen Geschichtsphilosophie liegt damit ein systematisches, grundsätzliches Umdenken seiner Philosophie: Marx gelangt dazu, das transzendental und kategorial bestimmte Ziel der Hegeischen Philosophie, die ja, von der Gesdiichtsphilosophie abgesehen, systematischen Charakter hat, zu ersetzen durch ein anthropologisches und ontologisches, und zwar auf Anregung Feuerbachs hin. Der Mensch ist jetzt nicht bestimmt durch eine der Gestalten des Geistes (als dialektischen Begriffs und Prinzips), deren Abfolge innerideelidi eingesehen werden muß aus transzendentalen Gründen. Marx scheint dies transzendentale Motiv gar nicht mehr zu verstehen; er meint ontologisierend, Hegel habe den Menschen nur als denkenden (und also nicht vollwirklichen, sondern als einseitig entfremdeten) Menschen behandelt 1 3 . Das transzendentale Verfahren Hegels erscheint Marx als entfremdete Deutung der Arbeit 1 4 , mit welcher Auffassung Marx Hegel gleichzeitig lobt und kritisiert, aber mißversteht. Es ist ja umgekehrt: Hegel gibt der Arbeit die Deutung, eine Gestalt des Geistes zu sein — vgl. unsere früheren Ausführungen über die „Aneignung" —, d. h., er begründet einen Begriff der Arbeit mit der transzendentalen dialektischen Methode, und darüber hinaus gibt er eine mit der transzendentalen Methode nahegelegte Gesamtdeutung des Menschen als Selbsterzeugung, nicht speziell Selbsterzeugung durch die Arbeit — das wäre schon eine anthropologische Arretierung beim Menschen als arbeitendem —, sondern als Selbsterzeugung auf Grund der ideellen Kongenialität mit dem Sein, als Selbsterzeugung also, die auf den verschiedenen Stufen ihre verschiedene Gestalt hat und über den Menschen in anthropolo12

Marx, Frühschriften (ed. Landshut) 17. Cf. Marx, Werke I (Cotta) 103. Cf. ferner A. Ruge in Deutsche Jahrbücher 1841, 594, zitiert bei Zehm, Historische Vernunft 183. » Siehe Marx Werke I (Cotta) 643, 647 ff., 652 ff. 14 ebda. 645 f. (Arbeit als Selbsterzeugung des Menschen.)

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gischer Arretierung hinausgeht. Das Schwergewicht f ü r eine anthropologisdiontologisierende Betrachtung des Menschen im Sinn v o n Feuerbach u n d dem f r ü h e n M a r x liegt demgegenüber beim Menschen mit seinen Bedürfnissen, Wesenskräften u n d seiner Bezogenheit auf eine reale N a t u r . D e r A n g e l p u n k t ist die materielle Ermöglichung des Lebens durch Praxis — Bedürfnisbefriedigung, Vergegenständlichung — u n d die Selbsterzeugung, das darin E r f ü l l u n g H a b e n , Freiheit-Sein, im Unterschied zur E n t f r e m d u n g als Verdinglichung, als Nidit-Fürsich-Sein. Entsprechend diesem grundsätzlichen ontologisierenden Ansatz v e r w a n delt sich die These für die Geschichte v o n einer transzendental geleiteten Ideenabfolge in eine Abfolge von Verkehrsformen oder gesellschaftlichen Verhältnissen des Menschen je nach seinen P r o d u k t i v k r ä f t e n u n d P r o d u k tionsverhältnissen, d. h. Eigentumsverhältnissen 1 5 . Die Marasche Auffassung der Geschichte k a n n nicht, wie die Hegeische Geschichtsphilosophie, v o m Staat ausgehen — er w ä r e ja etwas ontologisch Unselbständiges, „Ideelles", und, in Marxscher U m d e u t u n g als O r g a n der Gesellschaft, etwas Späteres, das nicht die maßgebende Ebene der Gesdiichte sein k a n n . M a r x m u ß sich eine individualmenschliche u n d gattungsmäßige Genese, also eine v o n einer P l u r a l i t ä t v o n Individuen ausgehende Entwicklung, denken. (Auch Hegel hat in seiner Philosophie Stufen u n d Gestalten, die vor einer Bildung wie dem Staat liegen, nur gehören sie f ü r ihn nicht in die Geschichte — zu der K o n k r e t i o n gehört, und Leben ohne Staat ist abstrakt — , sondern in eine systematische Theorie der Geistgestalten: so entwickelt e t w a die P h ä n o m e n o logie des Geistes Begriffe von sittlicher Gemeinschaft u n d , in anderem A n schnitt, auch die Rechtsphilosophie. Dies ist aber nicht gemeint als zeitliche Genese, sondern eben als systematische, als transzendentaler A u f b a u einer Kategorienlehre). M a r x denkt sich — in einer teils unterstellten, teils historischen Vorgeschichte 1 ' — einen einsichtigen, oder als einsichtig, d. h. sinngesetzlich gemeinten, P r o z e ß der Arbeit des Menschen an der N a t u r (Vergegenständlichung) u n d der E n t f r e m d u n g auf G r u n d der Arbeitsteilung, des Marktes, der Entstehung der W a r e n f o r m , der Geldwirtschaft, der Eigentumskonzentration, der „Konsolidation unseres eignen P r o d u k t s zu einer G e w a l t über uns" der Klassengegensätze usw. 18 . D i e Geschichte erscheint d a n n — w e n n beide Gesichtspunkte berücksichtigt w e r d e n : das ontologische Schwergewicht der materiellen Bedingtheit des Lebens u n d das Sinngesetz der Freiheit — als ein gerichteter P r o z e ß der 15

Cf. Deutsche Ideologie, Marx-Engels Werke (Dietz) 3, 36; 45 ff. Cf. Deutsche Ideologie, Marx-Engels Werke (Dietz) 3, 28 ff. " ebda. 33. 18 Der Akzent liegt in der Deutschen Ideologie auf der Rolle der Arbeitsteilung; später erhält die Ware und ihre Dialektik größere Bedeutung. Cf. Zur Kritik der politischen Ökonomie, Marx-Engels Werke (Dietz) 13, 15-48; Kapital I, Marx-Engels Werke 23, 49 ff; 181 ff. 16

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Produktionsverhältnisse 1 '. Geschichte ist also nidit gedacht als Abfolge von systematischen Stufen von Geistgestalten, sondern als ein ökonomisch-gesetzliches Geschehen. Dennoch ist dies Gesetz nicht einfach ein blindes Kausalgesetz, sondern ein Sinngesetz: die sidi wandelnden Verhältnisse des Menschen zu seiner Umwelt und zu seinesgleichen, mit ihren Entfremdungen (eine Konzeption, die ja einen dialektischen Subjektbegriff voraussetzt), sind vom Menschen her gesetzt und als solche einsichtig: es ist „die eigne Tat des Menschen", die „ihm zu einer fremden, gegenüberstehenden Macht wird, die ihn u n t e r j o c h t . . . " 20. Fordert der historische Materialismus einen gesellschaftlichen Entfremdungsprozeß als Vorgeschichte, so muß er, als Theorie des realzeitlichen P r o zesses der Produktionsverhältnisse, auch Prognose21 sein. Hier ist nach der entwickelten Dysteleologie des zeitgenössischen Zustandes von den marxistischen Theoretikern zu zeigen, wie über diesen Zustand im Sinne eines einsehbaren Prozesses hinausgeschritten wird zu einer Korrektur, zu einer Lösung, die, obwohl wieder unter materiellen Gesichtspunkten und Gegebenheiten fortschreitend, einem Sinngesetz gehorcht, nämlich zu einer Aufhebung der Entfremdung des Menschen führt. Wir sahen schon, daß — indem die Genese und überhaupt die historische Theorie an einzelnen realen Menschen festgemacht ist — auch die Hegeische Idee einer Integration der Einzelnen im Staat und eines geschichtlichen Kulminierens der Staaten in einer optimalen Form (die dem Weltgeist entspricht), nicht als Zielvorstellung anwendbar ist. Diese Integration wäre nur in einer kategorialen Dialektik auf der Grundlage des Geistes einsichtig (wobei denn auch Hegels Geschichtsphilosophic selbst schon als Grenzüberschreitung der Transzendentalphilosophie erscheint). Für den historischen Materialismus ist die Zielvorstellung demgegenüber ein Verhältnis der vielen Einzelnen zueinander. Der Prozeß ist also zwar geleitet von einem übergreifenden Sinngesetz oder einem Geistbegriff, aber doch gebunden an die Realität der Einzelnen. Die Zielvorstellung beinhaltet einfach die Vereinbarkeit der Vielen ohne Entfremdung, ist also eine abstrakt bleibende Prinzipiatvorstellung des Prinzips des Menschen, eine Vorstellung von menschlicher Gemeinschaft als Beisichsein-im-Andern, eine unstrukturierte Sozialvorstellung. Als solche ist sie, sozial gesehen, eine Utopie. Der Prozeß im Unterschied von der Zielvorstellung ist recht konkret zu schildern, sowohl für die Genese der Entfremdung, wo in der zeitgenössischen Gegenwart deskriptives Detail zur Verfügung steht, als auch für überschaubare historische Perioden und eine näher auszudenkende Entwicklung der " C f . Zur Kritik der politischen Ö k o n o m i e a.a.O. 8 f. (hier schon deutlich als U n terbau-Überbau-Theorie). 20 Deutsche Ideologie, a.a.O. 33. 21 Dies Problem der Prognose tritt bei der Hegelschen Geschichtsphilosophic nidit a u f ; sie kulminiert ja schon zu H e g e l s 2 e i t .

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kapitalistischen Wirtschaft, f ü r eine ebenfalls auszudenkende Rebellion der Arbeiter usw. Zu bedenken ist hierbei immer, d a ß es sich u m eine geschichtliche Lehre u n d nicht um eine systematische Soziallehre oder Sozialphilosophie handelt. (Wir kommen an H a n d von C R D näher auf diesen Gegensatz zurück). D e r historische Materialismus, oder der Marxismus auf dem Sektor der Geschichte, hat allerdings die Zielvorstellung zu konkretisieren versucht. Aber es sind wiederum Vorstadien (die D i k t a t u r des Proletariats, das Absterben des Staates, die G e w ö h n u n g des sozialistischen Menschen usw.), Details, die um ein Ziel gravitieren, das unbeschrieben ist. Sieht man näher zu, was der G r u n d f ü r den historischen P r o z e ß ist, so zeigen sich gewisse Schwierigkeiten. Einerseits ist der P r o z e ß geleitet gedacht v o m Sinngesetz des Geistes (als Beisichsein, N e g a t i o n im Anderssein, N e g a t i o n der N e g a t i o n als gesetztes Beisichsein im Andern). Andererseits w i r d der P r o z e ß ja getätigt von entfremdeten Individuen in ihrer materiellen Bedingtheit oder gar bestimmt v o m Schwergewicht materieller F a k t o r e n . D e r P r o z e ß m u ß seinem D u k t u s nach 2 2 zunächst dysteleologisch verlaufen, also in dialektischer Opposition gegen das Sinngesetz, u n d das bedeutet ja wohl, d a ß die Individuen in dieser Phase nicht durch das Sinngesetz motiviert sind. Anders als bei Hegel, bei dem die soziale Wirklichkeit in Stadien der Zerrissenheit oder D i f f e r e n z sich nicht als seiende von sich aus zur höheren H a r m o n i e u n d Einheit entwickeln muß, sondern bei dem der P r o z e ß geleitet ist v o n einer anstehenden höheren Kategorie, deren Wirksamkeit f ü r das Reale als „List der V e r n u n f t " erscheint — , ergibt sich im historischen Materialismus ein Auseinanderfallen von irreduziblem Akteur des historischen Prozesses u n d Prinzip des historischen Prozesses. D a s Gesetz des Prozesses w i r d Gesetz nichtmenschlicher Faktoren, oder von Menschen als F a k t o r e n in nicht-menschlicher Eigenschaft, ein Gesetz, das rein ökonomisch ist. U n d doch soll eine Dialektik u n d eine Teleologie das G a n z e durchwirken. W i r sehen übrigens dabei, d a ß auch das als Seiendes Irreduzible nicht in seiner Spezifizität e r f a ß t ist, in seiner Spezifizität keinen Unterschied macht, keine A b w a n d l u n g e n f ü r verschiedene Gesellschaften u n d K u l t u r e n zuzulassen scheint. Es handelt sich u m ein Schema 23 . Sartre betrachtet die D i g n i t ä t dieser Lehre als Theorie 2 4 . Er sieht, d a ß die theoretische Situation seit M a r x erschwert ist, da f ü r ihn das Sein nicht a u f h e b b a r ist ins Wissen, also irreduzibel bleibt. Wie k a n n m a n aber von etwas Irreduziblem sagen, d a ß es einer dialektischen Gesetzlichkeit unterliegt? D a s Denken, das die W a h r h e i t der Geschichte denkt, k a n n sein transzendentales Konstituieren des Gegenstandes angesichts der Irreduzibilität nicht mehr behaupten, aber welchen andern G r u n d haben wir, u m einzu22 23

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Cf. unten 93, 182, 191. Cf. Marxens Verlegenheit in der Frage, ob Rußland die Industrialisierung überspringen und sofort zum Kommunismus übergehen könne. S. Brief an Vera Zasulitsdi, Marx Werke (Cotta) III, 2, 1060 f. CRD 118-20.

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sehen, wie die Wahrheit der Geschichte sich selbst bestimmt? Man kann von Marx her nicht zeigen, was es im Zusammenhang mit der Geschichte heißt, die Wahrheit der Geschichte zu haben. Sartre hebt die Besonderheit der Wahrheitsfrage im Fall der Unterstellung einer Dialektik heraus: in der Naturwissenschaft ist der Wissenschaftler offen für das, was sich bietet, er präjudiziert nichts; er sucht Rationalität, Zusammenhang, Einheit in den Phänomenen. Soll es sich aber um Dialektik handeln, dann ist die Situation anders: die Dialektik behauptet, daß die Erkenntnis dialektischer Natur ist — das Subjekt ist einbezogen —, und daß die Bewegung des Gegenstandes selbst dialektisch ist. Sie ist gesetzgebend, normativ, sie sagt, wie die Welt als Geschichte und als sozialer Bereich sein muß, damit ihre dialektische Erkenntnis möglich ist — hier ist eine Lösung antizipiert, von der wir uns bei Sartre selbst noch nicht überzeugen konnten —, und erhellt wechselseitig Bewegung der Sache und unsere Gedanken über sie. Das Problem liegt darin, daß das Sein als irreduzibel angesetzt wird. Wie kann eine und dieselbe Bewegung die beiderseitigen Prozesse bestimmen? Sartres Forderung ist also die nach einer Korrektur, nämlich, daß das Prinzip des historischen Prozesses nicht vom Prozeß getrennt werden darf — es dürfen nicht wirtschaftliche Faktoren als solche sein, die die Akteure der Geschichte sind, die Einzelnen müssen in ihrer Bedeutung für den Prozeß berücksichtigt werden. Allerdings ist dies zunächst nur eine Forderung, die in einer eignen Theorie einzulösen ist. Bevor wir auf Sartres eigne Theorie eingehen, werfen wir jedoch noch einen Blick auf eine noch radikalere Lehre, den sog. dialektischen Materialismus und Sartres Kritik dazu. Der dialektische Materialismus ist einmal eine Verallgemeinerung der Gesetzesidee des historischen Materialismus — das Seiende ist dialektisch gesetzlich —, zum andern enthält er eine metaphysische These, nämlich, daß, wenn das Seiende dialektisch-gesetzlich bestimmt ist, das Bewußtsein ein Epiphänomen des Seienden, und Erkenntnis daher eine Seinsbeziehung und ein Reflex, eine Widerspiegelung von Prozessen im Seienden ist. Diese These stammt von Engels, aber auch Marx hat sich ihr mehr oder weniger angepaßt; seine geschichtliche Thematik weist auf den dialektischen Materialismus wie auf eine Radikalisierung der Prinzipien des historischen Materialismus voraus, er vertritt ihn aber nicht thematisch. Verständlicherweise steht so Marx, trotz seines geschichtlichen Determinismus, Sartre näher als Engels. Die nach der Lehre des dialektischen Materialismus im Seienden herrschende dialektische Gesetzlichkeit ist, als verallgemeinert für alle Prozesse im Seienden geltende These, ganz arm: es sind die Gesetze des Umschlagens von Quantität in Qualität und umgekehrt, von der Durchdringung der Gegensätze und von der Negation der Negation 25 . Es ist eine dem Menschen fremde Gesetzlichkeit, der er als Epiphänomen des so bestimmten Seienden gehorcht. Für die 15

Engels, Dialektik der Natur, Marx-Engels Werke (Dietz) 20, 348.

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Geschichte heißt das, daß die Kluft zwischen Akteur und Prinzip der Geschichte radikal geworden ist. Das teleologische Prinzip selbst, an sich ein Sinngesetz des Menschen oder des Geistes, ist jetzt verfremdet zu einer Behauptung über das Sein (und zwar im Gesetz von der Negation der Negation). Der historische Materialismus erscheint jetzt als eine Ausdehnung und Anwendung des dialektischen Materialismus 2 '. Der Mensch ist damit eine Funktion eines Naturprozesses geworden, einem radikal fremden Prinzip unterworfen. Diese Lehre des dialektischen Materialismus hat unwillkommene Konsequenzen für den Marxismus selbst: etwa die Unterstellung, daß der Mensch für die Beförderung des Kommunismus nichts zu tun brauche, da dieser von selbst, mit dialektischer Gesetzmäßigkeit, k o m m t " , in dem Sinne, wie die Gegensätze, wovon die subjektive Entfremdung Widerspiegelung ist, sich „dialektisch" werden aufheben müssen —, oder daß die geistigen Führer des Kommunismus mit ihrem Wissen nichts ausrichten können angesichts der materiellen Bedingtheit des Menschen. (Selbstverständlich sind hier Verfeinerungen und Auswege gesucht worden 28 , maßgebend ist aber die innere Konsequenz der Position.) Man kann auch umgekehrt zeigen, daß die These des deterministischen Verlaufs pragmatisch günstig ist, weil sie die nichtkommunistische Gesellschaft ängstigt und so selbst ein politischer, determinierender Faktor ist. Auch eine vielfach als willkommen erachtete Konsequenz ist, daß der dialektische Materialismus eine metaphysische Untermauerung des Ideologiegedankens darstellt, daß nämlich das Bewußtsein Gedanken hege, die den geschichtlichen bzw. Naturprozessen seiner Zeit und Lage entsprechen (die Philosophie einer bestimmten Epoche ist etwa Reflex des Kapitalismus), so daß eine Auseinandersetzung innerhalb des Denkens überflüssig erscheint. Auch Marx ist von diesem Aspekt des Materialismus, insofern er einen Uberbau und eine Basis unterscheidet und die Basis als ontologisdi primär audi maßgebend sein läßt für das Denken, bestimmt; der Gedanke tritt denn auch schon früh, in der Deutschen Ideologie, auf 2 ". In seiner eignen dreimal vorgetragenen philosophischen Kritik am dialektischen Materialismus 30 geht Sartre auf die grundsätzliche Absurdität dieser Position ein. Sein zentraler Einwand (in der frühen Position von „Materialismus und Revolution") ist, daß die Lehre das Denken zerstöre31. Ontolo26

27

28 29 30

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So Stalin, Uber dialektischen und historischen Materialismus, ed I. Fetsdier (Frankfurt, Diesterweg, 1957, 3. Aufl.) 58. ebda. 68, wo von „völlig natürlicher und unvermeidlicher Entwicklung" die Rede ist. Cf. ebda. 91 ff. Cf. a.a.O. 37 ff. Matérialisme et révolution, a.a.O., C R D 30-2, 115-35, Marxisme et existentialisme (zusammen mit R. Garaudy, J. Hyppolite, J.-P. Vigier, J. Orcel), Paris (Plön) 1962, 1-26, 81-3. a.a.O. 143 f., 173, 183.

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gisdi gesprochen: das Denken ist nicht verstanden als etwas, das sich „absetzen" und so Stellung nehmen und erkennen kann. Gültigkeitstheoretisdi (transzendental) gedacht: es gibt keine Autonomie der Wahrheitsfindung und Vergewisserung des Denkens, es muß einem Fremden hörig sein. Die Kritik ist vom Grundproblem in E N her geleitet, geht aber in der Wahrheitsfrage schon darüber hinaus. Entsprechend f ü r den praktischen Bereich: idi kann nach dieser Lehre nicht einsehen, was idi tun soll, ja wie ich überhaupt etwas soll tun können; ich kann nicht einmal freier Akteur sein 52 . Statt dessen ist es eine fremde Gesetzlichkeit, die mich forttreibt. Der dialektische Materialismus ist so f ü r Sartre ein Mythos, wenn er als die Metaphysik des historischen Materialismus auftritt oder überhaupt als Metaphysik einer Theorie des dem Menschen angeblich gemäßen Sozialen 33 . Sartre läßt es übrigens— das ist hinzuzunehmen — in „Materialismus und Revolution" nicht dabei bewenden, den dialektischen Materialismus philosophisch streng abzuwehren: er gibt — im zweiten Teil der Schrift — eine feinsinnige Auslegung, wieso es plausibel ist, daß die Arbeiter diesen Mythos ergriffen haben 34 — wenn überhaupt unterstellt werden kann, daß der dialektische Materialismus nach der jeweiligen eignen Einsicht der Proletarier ergriffen wird —, daß er also eine „Hermeneutik" der eignen Lage darstellt in dem Sinn, daß der Arbeiter als entfremdeter Mensch seine Lage in verdinglichter Form entwirft. D e facto ist der dialektische Materialismus von außen induziert und es mag offen bleiben, ob er dem „Daseinsverständnis" des Arbeiters entspricht, oder nur populär ist, weil er einfach ist, und sein Determinismus Mut macht, paradoxerweise. Wichtiger ist in Sartres Kritik, wie sie in C R D gegeben wird, die Vertiefung der theoretischen Schwierigkeit, die wir schon anläßlich des historischen Materialismus erörtert haben, die aber im dialektischen Materialismus wiederkehrt: wie kann das Denken zeigen — d . h . wie kann es (transzendental würden wir sagen) begründen —, daß das Sein sich nach seinem Gesetz dialektisch bewegt, das nunmehr noch weiter von einem Sinngesetz entfernt ist, obwohl es von daher entwickelt und dann verfremdet wurde? Der Monismus des Seins im Sinne von Geschichte ist schon bei M a r x dualistisdi. Das Sein ist irreduzibel auf das Denken, es besteht eine Antinomie von Sein und Wahrheit. Diese Sachlage erscheint Sartre noch verschärft durch Engels. Engels legt die Dialektik in die Natur. Es handelt sich um einen Materialismus des Äußeren mit einer Dialektik, die dem Menschen von außen zukommt. Es 32 33

34

ebda. 183, 205 f., 213. Sartre konnte hierin an Lukacs anknüpfen (Geschichte und Klassenbewußtsein, Berlin 1923, 15 ff., 32 f.) und audi an Merleau-Ponty (Les aventures de la dialectique, Paris N R F 1955, 45, 49). ebda. 196-206. Cf. Habermas, Theorie und Praxis, 331 f.

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gibt eigentlich nur einen Bereich, den der Naturgeschichte; Denken ist nur Widerspiegelung. Wieder gilt das schon Gesagte: es müßte ein Skeptizismus herrschen. Die Vergewisserung des Denkens gelingt nicht, die Vernunft kann sich keine Gründe für Wahrheit geben. Engels will die dialektischen Gesetze aus der Natur (worin die Geschichte mitumfaßt sein soll) ableiten, d. h. aber dann nicht durch Deduktion, sondern durch Induktion. Damit, auch wenn sich solche Gesetze finden ließen, blieben sie kontingent und somit nur wahrscheinlich. Durch die Übertragung der Gesetze auf die Natur sind sie für den Menschen irrational — d. h. sind nicht transzendental justiziabel; sie werden vielmehr als irrationale Seinsgesetze auf den Menschen als Naturstück rückübertragen (in der Widerspiegelungstheorie). Das Ganze ist eine metaphysische Hypothese. Und doch wird sie dogmatisch als Wahrheit vertreten. Also, folgert Sartre, haben wir es mit einem dogmatischen Idealismus zu tun, der einen Dualismus impliziert. Dies ist der neue Akzent von CRD. Die These, als ein Erkanntes, ist Gegenstand des „reinen" Bewußtseins, eine Wahrheit, ein Wissen, getrennt vom Sein und von der Praxis, ein Idealismus. Von hier läßt sich der Aufgabenstellung des Werkes, wie sie sich im Titel ausspricht, ein Sinn geben. CRD ist, in Parallele zur Kantischen Auffassung von „Kritik", Distanzierung von der dogmatischen Metaphysik, allerdings nun nicht als Lehrcorpus oder Naturanlage, sondern spezieller von der dialektisch-materialistischen Metaphysik, die von Sartre gerade als losgelöstes Denken begriffen wird, wie auch, in Parallele zu Hegel, Distanzierung vom analytischen und positivistischen Verstandesdenken, und Neuaufbau einer Theorie der Begründung (nunmehr nicht der Erkenntnis, sondern der Praxis). Die Sartresche Kritik ist so Kritik der Vernunft im Sinne eines genetivus objectivus (Kritik am dialektischen Materialismus und am Positivismus) und eines genitivus subjectivus (Selbsterkenntnis der praktischen Vernunft) 35 . Statt dogmatischer Metaphysik hat Dialektik, wenn es sie geben soll — und dies ist für Sartre gefordert für eine begründende Sozialtheorie — eine Begründung im Subjekt zu geben, entweder in Hegelscher, absoluter Weise, oder von einem menschlichen Subjekt aus, das als endliches dem Sein konfrontiert ist. Das Problem ist dann, wieso eine solche Dialektik verbindlich ist für irreduzibles Seiendes. Für Sartre ist das möglich, wenn die Dialektik praktisch ist, ihren Ursprung im Subjekt als praktischem hat, nur für den Bereich der Praxis, anthropologisch-sozial und historisdi gilt 3e , wenn es also offen ist, was die Wirklichkeit des Seins und der Geschichte ist, weil sie erst gemacht wird 37 . Rückschließend von hier aus kann man dann sagen, die

" Cf. zum Thema der Kritik C R D 134, 141, 147 f., 151. Ferner Kopper, a.a.O. 352, 371; Liditheim, a.a.O. 232, 246; Waidenfels, a.a.O. 30. 3 « Cf. C R D 129. 57 Cf. C R D 121: „L'originalité de Marx c'est d'établir irréfutablement contre Hegel que l'Histoire est en cours, que l'être reste irréductible au Savoir et, tout

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dialektisch-materialistische Theorie v o n Engels ist, schon w e i l sie Sache des theoretischen, theoretisch betrachteten Bezuges des Menschen zur Welt ist, eine Metaphysik. Sartre vindiziert die D i a l e k t i k der Praxis. Wir sehen an diesem Gedankengang, d a ß Sartre — w i e ja nach der existenzialen D i a l e k t i k v o n E N schon deutlich w a r — eine kategoriale T h e o rie der D i a l e k t i k für das Erkennen ablehnt: jetzt aber nicht nur gemeint im Sinne unseres U n v e r m ö g e n s , D i a l e k t i k inhaltlich zu gestalten, sondern auch im Sinne einer klischeehaften A b w e r t u n g soldier Dialektik als „idealistisch": D i a l e k t i k gibt demnach keine Garantie, d a ß das fremde Seiende so ist, wie ich es entwickle. (Wie sich zeigt, besitzt Sartre keinen klaren Begriff v o m transzendentalen Charakter e t w a der Hegeischen D i a l e k t i k ; in die Ablehnung einer solchen D i a l e k t i k geht bei ihm der G e d a n k e mit ein, daß eine Gesetzlichkeit — die D i a l e k t i k — , die aus dem D e n k e n stammt, aber dem Seienden imputiert wird, eine „parallele" Realdialektik fordert) 3 3 . W o h l aber soll für den Bereich des Praktischen inhaltlich bestimmte D i a l e k t i k möglich sein, da sie die Bestimmungen im Seienden erst setzt. D i a l e k t i k soll also in jedem Fall sein — w i r w ü r d e n sagen: w e i l Begründung verlangt ist — ; schon E N kannte eine existenziale D i a l e k t i k des Subjekts, die eine Begründung der Strukturen des Subjekts ermöglichen sollte, und z w a r eines Subjekts mit Vorrang des Praktischen, e t w a im Sinne Heideggers. N u n aber soll D i a lektik für die soziale Sphäre inhaltlich konkretisierbar sein. Auf diese Zielsetzung müssen w i r uns jetzt einstellen 3 9 . à la fois, de vouloir conserver le mouvement dialectique dans l'être et dans le Savoir. Il a raison pratiquement". 38 Halten wir uns an die Sache Transzendentalphilosophie und nicht an den Terminus — zu dem wir oben kurz Stellung genommen haben —, so zeigt sich bei Sartre trotz feinsinniger Ausführungen zur Methode (CRD 115-162) eine gewisse Naivität gegenüber der Eigenart der Transzendentalphilosophie. Er sieht die Aufgabe einer Rechtfertigung der Erkenntnis (s. die Kritik am dialektischen Materialismus), aber die bisherige Philosophie, die eine Rechtfertigung von Erkennen und Handeln versucht hat (er diskutiert Hegel C R D 18-20), bleibt für ihn verbunden mit einer Bevorzugung des Denkens oder des Geistigen, die von seinem ontologischen Standpunkt aus (wie audi f ü r Marx) eine Einseitigkeit ist. Sartre entwirft selbst eine Transzendentalphilosophie, ohne auf die methodische Verwandtschaft mit transzendentalen Philosophemen anders zu reflektieren als im Sinne einer Kritik am Idealismus oder auch, als Gegenposition, am Materialismus. Das Problem der transzendentalen Begründung ist wesentlich als das Problem gefaßt, „die" Dialektik (als Gesetzlichkeit der Praxis) zu retten. Cf. unten 57. Umgekehrt gilt Sartre der dialektische Materialismus Engels' als „transzendental" C R D 128. " Wie oben schon klar geworden sein wird, verfolgen wir also die Ausweitung der Sartreschen Fragestellung auf das — inhaltlich bestimmte, gesellschaftliche — Soziale im Unterschied zu Theunissens Perspektive auf das Dialogische. Sartre ist demnach von einem — wenn wir Theunissens Akzent zustimmen wollen — unmittelbaren Verständnis des Verhältnisses Ich-Anderer, wie wohl immer schon mit transzendentaler Intention, übergegangen zu einer transzendentalen Fragestellung in bezug auf das gesellschaftliche Soziale.

III. Vorbegriff der Critique de la raison dialectique Rekapitulieren wir Sartres Fazit aus seiner Auseinandersetzung mit dem Marxismus. Er bejaht ihn als Analyse der modernen sozialen Situation mit ihren Klassengegensätzen und ihrer Entfremdung, er bejaht das dem Menschen unterstellte Sinngesetz der sozialen Freiheit und also auch die Dynamik des Sozialen, der eine Sozialphilosophie Rechnung tragen muß. Er lehnt dagegen ab die dogmatische Dialektik des Marxismus, die dem Menschen die Verfügung über sein Sinngesetz, seine Subjektivität, nimmt und ihn zum Gegenstand einer Notwendigkeit macht. Gerade vom Menschen als Subjekt in Situation müßte gezeigt werden, daß er seinem Sinngesetz gemäß zu einer sozialen Freiheit gelangen und sein Schicksal selbst gestalten kann. Man möchte vielleicht sagen, hier zeige sich der Voluntarismus des Sartreschen Existenzialismus, der uns nötigen will, an eine teleologische Entwicklung der sozialen Wirklichkeit von der Entfremdung zur Freiheit zu glauben. Eine Entwicklung, die, als des Appells bedürftig, doch wohl nur eine Eventualität ist. Der Wunsch scheint hier der Vater des Gedankens zu sein. Aber Sartre denkt differenzierter. Hier ist nicht eine Eventualität im Blick, sondern apriorische Fundamente einer Möglichkeit. Auf der Ebene von apriorischen Fundamenten hatte schon Hegel zu zeigen versucht, daß Freiheit sich Bahn bricht, mit dem Prinzip dés Geistes Freiheit auch im sozialen Bereich gesetzt ist, wenn auch Hegel darunter etwas anderes versteht als Sartre oder Marx. Aber Hegels Geschichtsphilosophie lehnt Sartre als eine zu bequeme, da idealistische, Vorwegnahme des Gewünschten ab Andrerseits kann eine ungute Trennung von Sinngesetz, das deterministisch im Sinne einer ökonomischen oder gar Naturdialektik wirken soll, und Subjekten, die nun nur noch als Objekte des Gesetzes verstanden sind, so wie das im Marxismus nach Sartres Auffassung der Fall ist, ebenfalls nicht anerkannt werden, denn der Mensch ist, ontologisdi verstanden, Subjekt, Freiheit, und soll es einen Weg zur sozialen Freiheit geben, so muß der Mensch als Instanz vernünftiger Praxis die Möglichkeit dazu einsehen. Er muß seine in ihm als Freiheit gelegene Konstitutivität im Bereich des Praktischen tätigen und verstehen können. In Anpassung an Marxens Insistenz auf einem Materialismus meint Sartre, es müßte ein historischer Materialismus, „d. h. ein Materialismus von innen" sein*. > Cf. CRD 120 f. ! CRD 129.

Vorbegriff der Critique de la raison dialectique

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Das Sinngesetz, das soziale Relevanz haben soll, ist akzeptiert, aber es muß jetzt gleichsam angesichts der Pluralität der Menschen „polyzentristisdi" von den einzelnen Subjektivitäten ins Werk gesetzt werden, es muß als Ergebnis von „Entwurfskollisionen" 3 wirklich werden. Machen wir uns klar, was das bedeutet. Jeder Mensch hat von ihm aus orientiert einen Ausblick auf die Welt der andern Menschen. Sie sind f ü r ihn seine Gegenspieler (wenn wir von der theoretisch angesetzten Situation in E N ausgehen), die ihrerseits ihn einordnen in ihren Ausblick auf ihre Welt. Ein Ins-Werk-Setzen des Sinngesetzes der gegenseitigen Anerkennung und der gemeinsamen Freiheit müßte bedeuten, daß es, von einzelnen Zentren bewirkt, Zusammenschlüsse gibt, möglicherweise verschieden hohe, verschieden strukturierte „ensembles". Wie ist das möglich? In Sartres Sprache: man muß zeigen, wie eine „Totalisierung" von Einzelnen zu einer Ganzheit der Freiheit, zu einer Freiheitsgestalt 4, die jeden Einzelnen in seinem Ausblick auf die Anderen einbegreift, möglich ist. Vergleichen wir das mit einer auf dem Begriff des Geistes als Freiheit aufgebauten Sozialphilosophie wie der Hegelsdien Rechtsphilosophie, so kann man von einem dialektischen Nominalismus5 und dialektischen Realismus* sprechen. Es geht um keine begriffliche, kategoriale Progression, in der gezeigt würde, daß Freiheit höhere Gestalten haben kann, die über den Einzelnen hinausgehen, sondern um ein Ins-Werk-Setzen, um Praxis von vielen einzelnen Zentren aus, die uns zunächst als geschichtliche Totalisierung erscheint. Apriorische Fundamente f ü r eine solche Totalisierung in der Realität, die, wie die Hegeische Rechtsphilosophie, der Geschichte voraufgehen, wie überhaupt die Konzeption soldier Fundamente im Zusammenhang der Sartresdien Philosophie, harren noch der Klärung. Die Realsetzung des Sinngesetzes und der geforderten Dialektik als Weg zur sozialen Freiheit hat ihr prinzipielles Moment, das wir schon im Zusammenhang mit Sartres Begriff vom Menschen in E N unter dem Gesichtspunkt der Irreduzibilität und Endlichkeit betrachtet haben. Sartre greift aber auch das Moment des Individuellen auf, das damit (im Gegensatz zu Hegel und Marx) erschlossen sein soll. So lautet die Kritik etwa am Marxismus von hier aus nicht nur, daß der Mensch dort als irreduzible Subjektivität übergangen sei, sondern audi der Individualität und dem Detail nach. Der Mensch muß als Akteur des Sozialgeschehens in die Sozialphilosophie wieder Eingang finden, und zwar nicht nur prinzipiell als irreduzible Subjektivität, sondern als Individuum. In gewisser Weise ist die Ablehnung des dialektischen Materialismus die Entsprechung zur prinzipiellen Einsicht in die unabdingbare und daher auch von der Theorie zu berücksichtigende Subjektivi-

' C R D 68 „affrontement des projets". 4 Cf. unten 69 Anm. 2. 5 C R D 132. « C R D 133.

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Vorbegriff der Critique de la raison dialectique

tat des Menschen; die Kritik am historischen Materialismus die Entsprechung zur Insistenz auf individuellen Einzelheiten und Umständen im geschichtlichen Prozeß (soweit der historische Materialismus nicht auch schon das Prinzip der menschlichen Subjektivität verletzt).

1. Das

Verstehen

Die in C R D aufgenommene, aber schon 1957 separat publizierte, Abhandlung Question de méthode ist diesem Aspekt des Individuellen und der Forderung nach seiner Berücksichtigung gewidmet 7 . Der Grundgedanke ist hier, daß man eine Entwicklung um so eher „verstehen" könne, je mehr man das Individuelle berücksichtige 8 . Sartre denkt an die Unvergleichlichkeit Napoleons, die Erklärungswert für die Geschichte habe, an Kindheitseinflüsse, wie sie für Flauberts dichterische Produktion bedeutsam sind, oder an sonstige Umstände, die, wie Sartre f ü r die französische Revolution zeigt, im Vergleich zur schematischen marxistischen Interpretation wichtige Aufschlüsse geben können. Ein solches Verstehen ist geleitet von Sartres Auffassung vom Menschen und stellt eine Erweiterung dar, die Sartre zur Methode erheben möchte. Danach müssen wir im Verstehen in zwei Richtungen vorgehen, uns einmal „regressiv" auf die Faktizitäten, die Umstände, das Erlebte und Vorgegebene richten, und zum andern „progressiv" auf die Entwürfe, die jemand auf Grund des Vorgegebenen tätigt, in denen er sich vergegenständlicht Gerade zu diesem von einem Begriff des Menschen — nach seinen Dimensionen von Faktizität und Entwurf — geleiteten Verstehen fühlt sich der Existenzialismus berufen. Er erscheint als eine Disziplin, die der Realität des Menschen als Subjekt in Situation gerecht werden kann. Die menschliche Realität — „réalité humaine", Sartres Übersetzung für Heideggers „Dasein" — verlangt einen verstehenden Rekurs auf ihre Konkretion, der sich vom Wissen unterscheidet 10 , und der Existenzialismus bietet das Instrumentarium dafür. Sartre denkt also zwar an ein Verstehen von individuellen Ereignissen und Personen in individueller Konkretion. U m faßbar zu sein, müssen aber allgemeinere Perspektiven herangetragen werden. Verstehen besagt gerade, etwas in eine Hierarchie von Bedingtheiten einstellen, die nach unten immer allgemeiner werden. Entsprechendes gilt f ü r die Dimension des Entwurfs. So hat ein historisches Ereignis — etwa der Aufstand von Kronstadt im Jahre 1921 — f ü r sich genommen eine konkreteste Bedeutung, die es zu ver7 8 9

10

Die Schrift steht so noch nicht auf der Höhe der Theorie von CRD. Schon E N diskutiert das Verstehen 548. Ein anderes Verständnis der Begriffe „regressiv" und „progressiv" wird im Hauptteil von C R D gelten. Cf. C R D 134. Cf. C R D 107 f.

Das Verstehen

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stehen gilt, die verschieden und kontinuierlich ist mit dem weiter vorlaufenden Verständnis, das dies Ereignis in einen Gesamtentwurf der Geschichte einstellt 11 . Verstehen ist aber nidit nur ein gemäßes Eingehen auf geschichtliche Konkretion und Individualität, gleichsam von außen, sondern es ist, zufolge der Koinzidenz von Subjektivität und Individualität, der Zugang zu Existenz überhaupt, die jeder selbst ist. Es ist wiederum kein Wissen: was wir über Existenz sagen — im Gegensatz zu dem, was wir verstehend vollziehen —, wird von Sartre abgeschwächt zum bloßen Hinweis und zur Bezeichnung f ü r etwas Nicht-Wißbares. Die Frage, die sich von hier aus ergibt, ist, ob Existenz etwa philosophisch gar nicht begriffen werden kann (etwa mit den Mitteln der Hegeischen Logik oder mit Sartres Prinzipbegriffen), ob also auch die folgende Theorie des Sozialen, die den Menschen als Einzelexistenz und Einzelpraxis zum Grund hat, auf „Verstehen" angewiesen ist. Dies bejaht Sartre ausdrücklich 12 . Es geht ihm um eine „existenzielle Grundlegung der Theorie" 13 und er sieht seine Lehre als Synthese von Kierkegaard, Marx u n d Hegel. Hierin liegt eine interessante Konsequenz f ü r die Beurteilung Sartres, soweit wir dafür nur „Question de méthode" heranziehen. Die Schrift negiert im Grunde Theorie (es sei denn eine lockere Theorie des Verstehens selbst) und weist dem Existenzialismus die Aufgabe eines Verstehens zu, nicht unähnlich dem geisteswissenschaftlichen Verstehen, das Dilthey und seine Nachfolger gefordert und geübt haben 14 . Sartre erwägt den Vorwurf, daß das Verstehen (etwa eben des Aufstandes von Kronstadt) kein praktischer Bezug sei, bestreitet das aber 15 ; der Historiker entbinde die zukünftige Geschichte. Das Verstehen wäre also schon einem Gesamtentwurf verpflichtet, in dem wir Jetzige stehen; ja, es soll unseren Entwurf mitbedingen. Dennoch ist Verstehen ein kontemplativer und in diesem Sinne theoretischer, nicht praktischer Bezug zur Welt oder zu einem Detail in ihr. Wir haben nichts handelnd zu tun mit Verstehensobjekten der Vergangenheit. Sicherlich, wenn Verstehen von Konkretem in Frage steht, muß nach beiden Seiten hin, nach der „regressiven" der Bedingtheiten und nach der „progressiven" des Entwurfs, orientiert an unserem Entwurf in der Gegenwart, ein finales Verständnis leitend sein. Soweit nun aber der Existenzialismus die Realität des Individuellen verstehen, ihr „gerecht" werden will, hätte er entsprechend wenig mit der Praxis zu tun, und soweit er mit der Praxis in der Gegenwart zu tun haben möchte, müßte er auf das Individuelle verzichten. So könnte er Bedingungsfaktoren der Vergangenheit, etwa den Aufstand von Kronstadt, nur als 11 12 13 14 15

Cf. C R D 67 Anm. C R D 108. C R D 108: „fondement existentiel de la théorie". Ein Hinweis auf die deutsche geisteswissenschaftliche Schule findet sich C R D 96. C R D 67 Anm.

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Vorbegriff der Critique de la raison dialectique

Allgemeines, auf seine Funktion in der Entwicklung zur Freiheit Deutbares, etwa als „einen" Aufstand für die Freiheit der Arbeiterklasse, aufnehmen. Der Existenzialismus — mit welchem Wort Sartre seine Position in „Question de méthode" bezeichnet, wenn er sie mit dem Marxismus konfrontiert (so auch schon in der Existenzialismus-Schrift) — erscheint uns im jetzigen Zusammenhang als dodi nur vage philosophische Methodenlehre zur Erfassung der Individualität des Menschen und der geschichtlichen Konkretion, vielmehr, wenn wir die Ausführungen zur Methode in „Question de méthode" als wenig ergiebig erachten, eher als Appell zum Eingehen auf das Individuelle. Er ist aber nicht schon von daher prädestiniert, in der Sozialphilosophie als Theorie eine Rolle zu spielen. Vielmehr ist er, obwohl Sartre protestiert", Aufruf zum Verstehen, zum Gerechtwerden, zur Kontemplation, so sehr hier immer ein Überschreiten der Gegenwart auf einen Zukunftshorizont hin, eben den des zu Verstehenden, vorliegt. Aber wir wissen, Sartre will auch Theorie des Sozialen, Theorie der Praxis, in Allgemeinheit mit dem Menschen begründete und begründbare Theorie der sozialen Freiheit und der geschichtlichen Totalisierung. Es ist klar, er möchte hier zwischen dem Hauptteil von CRD, der drei Jahre später erschienen ist, und „Question de méthode" keine Trennung, so deutlich auch der Akzent auf Verstehen in dem früheren Werk eine Abhebung des kontemplativen und von der Theorie (im Sinne eines Begreifens von allgemeinen Strukturen) abgekehrten Aspekts vom späteren Hauptteil gestattet. In jedem Fall soll aber für das ganze Werk die Einsicht gelten, daß die zu gebende Theorie auf dem Verstehen des Subjekts beruht. Verstehen ist so das Gegenstück zum Denken in der Hegeischen (und dodi wohl auch Marxschen) Theorie, die Instanz der Einsicht und der Rechtfertigung dessen, was zu begründen ist. Dies ist ein wichtiger Punkt. Wir sehen voraus, daß sich damit der Eindruck eines Zusammenfallens der Schilderung der konkreten „verstehenden" Praxis und der ebenfalls anscheinend nur „verstehenden" Theorie der Praxis ergeben wird.

2. Die Idee einer strukturellen

Anthropologie

Kehren wir zu Sartres Aufgabe, eine Sozialphilosophie zu geben — er sagt vorsichtiger und präziser, eine „théorie des ensembles pratiques" (Untertitel des Werkes) — zurück, so wäre von ihm nunmehr darzutun, wie Gemeinschaft „entwickelt", „begründet" oder, mit dem abschwächenden Ausdruck, „verstanden" werden kann. Wenn es nun letztlich auf die allgemeinen Bedingungen der Möglichkeit sozialer Freiheit, als aus einem Grund gesetzt, ankommt, und somit auf transzendentale Theorie, und wenn der Gedanke 14

C R D 133 (schon im Hauptteil): „La dialectique comme logique vivante de l'action ne peut apparaître à une raison contemplative".

Die Idee einer strukturellen Anthropologie

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des Verstehens im Sinne eines Individualverstehens für Zwecke der Theorie abgewiesen werden kann", Verstehen vielmehr nur als qualifiziertes Äquivalent des Denkens von allgemeinen Strukturen in Frage kommt l e , taucht als Vorbild die Hegeische transzendentale Theorie auf, die vom Subjektbegriff als Geistbegriff aus „höhere" Gestalten des Sozialen entwickelt. Wir haben Sartres Ablehnung dieser Theorie schon berührt: für ihn ist der Mensdi sinnbegabt und kontingent, während die Hegeische Dialektik in seinen Augen die Entwicklung schon als fertige oder logisch vorweggenommene ansieht. Es muß vom realen und einzelnen Menschen in Situation ausgegangen werden. Aber wäre das nicht ein Votum für eine Theorie im Medium der Geschichte? Der Hinweis auf die Hegeische Philosophie erinnert uns daran, wenn es dessen überhaupt bedurft hätte, daß es zwei Aufgaben gibt, eine, wie sie Hegel in der Rechtsphilosophie (und den entsprechenden Abschnitten der Philosophie des Geistes) zu lösen versucht, und eine, wie sie sich in der Geschichtsphilosophie (Hegels, aber audi des historischen Materialismus) stellt. Für Marx ist die Sozialphilosophie ganz übergegangen in Dynamik, in Theorie des geschichtlichen Sozialgesdiehens. Für Sartre trennen sich diese beiden Aufgaben wieder, wie für Hegel: es gibt einen Bereidi der Theorie des Sozialen, in dem nodi nidit von Gesdiidite die Rede ist, in dem — in einer von Sartre so genannten strukturellen Anthropologie" — nur die verständlich zu machenden, d. h. zu begründenden Gemeinsdiaftsformen entwickelt werden, ganz gleidi, ob sie historisch in der Folge ihrer transzendentalen Entwicklung abgelaufen sind. (Wie wir nodi sehen werden, können beide Folge der Anlage der strukturellen Anthropologie nach gar nicht kongruent sein)80. Und es gibt eine Geschichtsphilosophie, die Sartre allerdings nicht so nennt, deren Aufgabe es wäre, sicherzustellen, „qu'il y a une histoire humaine avec une vérité et une intelligibilité" Wir müssen diese Konzeption einer strukturellen Anthropologie verstehen lernen. Sie soll Fundierung für eine Theorie der Gesdiidite sein, vorerst aber geht uns an, was sie an ihr selbst ist. Wie wir schon wissen, ist sie eine Theorie der sozialen Strukturen, gedacht als Strukturen, die durch die menschlidie Praxis gesetzt und begründet gedacht werden können, und zwar 17

Wir sehen also Question de méthode nicht, wie Zehm (Historische Vernunft 185), als eine methodische Fundamentierung für C R D an. Ebenso differieren wir damit von Lichtheim, der in Question de méthode „the key to Sartre's performance" (a.a.O. 227) sieht. " Wir halten Zehms Auffassung von Sartres Verstehen, das er undialektisch nennt und mit Husserl in Verbindung bringt (a.a.O.), für abwegig. 10 C R D 156: „anthropologie structurelle"; die Gesamtaufgabe „anthropologie structurelle et historique" 105, 156 u. ö. M Cf. unten 175 f., 182 f., 186 f., 195 f. 21 C R D 156. Diese Gesdiichtsphilosophie, als ein II. Teil des Werkes, das als ganzes den Titel „Critique de la raison dialectique" trägt, ist bisher (Sommer 1965) noch nicht erschienen. Unsere Abkürzung „CRD" vernachlässigt diesen Umstand.

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Vorbegriff der Critique de la raison dialectique

ist sie solche Theorie auf der Ebene einer „formellen Einsichtigkeit" 22 im Gegensatz zu dem in „Question de méthode" geforderten individualisierenden Verstehen. Sartre fordert, daß der Einzelne berücksichtigt werden müsse, aber das heißt jetzt wieder nur in Allgemeinheit, d a ß das Irreduzible (wenn auch prinzipienmäßig als Sein Erfaßbare) und das Rationale gleichermaßen berücksichtigt werden müssen. Die strukturelle Anthropologie muß den Einzelnen nach seiner Unabdingbarkeit als existierendes Subjektprinzip und nach seiner Situiertheit in der Welt u n d mit Anderen begreifen oder verstehen. Das Insistieren auf dem Einzelnen und der realen Pluralität von Einzelnen bedeutet jetzt nicht einen Appell an das Verstehen in concreto, sondern eine Basis der Theorie. Aber es bedeutet auch wiederum mehr als in E N , wo Subjektprinzip u n d Kontingenz eine Theorie des Andern ermöglichten, und zwar als „pränumerischen", eine Theorie der bloß prinzipiellen Dualität Idi-Anderer. Über die prinzipielle Dualität hinaus kommt jetzt soziale Pluralität und Partikularität hinein 23 . C R D ist also Theorie des Sozialen. Es muß sich in Allgemeinheit aufzeigen lassen, wie der Mensch in sozialen Verbänden steht, wie er sie und sie ihn bestimmen, in welchen Verbänden und warum er in gerade diesen „frei" ist und in welchen nicht, in welchen er also entfremdet ist; wie die verschiedenen sozialen Verbände auf Grund ihrer Strukturen zueinander stehen, wie sie verständlich in einander überführbar gedacht werden können usw. Anders ausgedrückt: C R D ist apriorische Lehre24 von den sozialen Verbänden, Gebilden 25 oder „ensembles", und offensichtlich bedarf ein Apriori der Begründung. Es ist nach dem Bisherigen klar, daß Sartre als Grund f ü r die apriorische Lehre von der Sozialität den Menschen in der Fassung als ontologisches Prinzip ansetzen wird. Die Theorie muß die sozialen Aprioritäten von diesem Grund aus dartun. Wir sehen weiter, daß die Methode, mit der sie diese Begründung und Entfaltung leistet, ihrerseits gerechtfertigt und apriori sein muß, und zwar, wie wir schon rein verbal wissen, wird es sich um ein dialektisches Verfahren handeln, mit der schon gekennzeichneten Qualifikation als „verstehende" Methode.

22 23

24 M

C R D 153: „intelligibilité formelle". Cf. unten 83, 85, 125, 162 f., 189. Cf. ferner Kopper, der Pluralität und Partikularität nidit näher berücksichtigt (cf. etwa a.a.O. 375); nach ihm handelt es sich um Freiheit, die „für sich selbst in das Bestehen gebunden" ist. Damit scheint der soziale Aspekt, den Sartre gerade in C R D eröffnet, wieder reduziert. C R D 117 f. Wir verwenden damit einen Begriff von v. Wiese (System der allgemeinen Soziologie, 3. Aufl., Berlin, 1955, 114), schon oben und im folgenden häufig adaptiert als „Sozialgebilde".

Das Problem des Grundes

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3. Das Problem des Grundes Sartre, von einer Diskussion der dogmatischen Dialektik als Engelsscher Naturdialektik am Anfang des Hauptteils von C R D h e r k o m m e n d " , stellt das Problem nicht sofort als transzendentales, sondern fragt, ob es ontologische Bereiche gibt, wo das Gesetz des Seins, und, korrelativ, des Erkennens, „dialektisch" genannt werden kann 27 , während wir den transzendentalen Charakter von C R D schon vorweggenommen haben, aber andrerseits nicht „die" Dialektik als Zugestandenes und Zu-Bestätigendes betraditen. Sartre gelangt von seiner Frage aus zur transzendentalen Position, indem er fordert, daß die Dialektik selbst als Regel der Welt und des Wissens einsichtig sein müsse28, und sieht sich damit auf das Problem des Grundes verwiesen". So viel ist klar: wir dürfen die geforderte Theorie nicht einfach als einen Formalismus ansehen, der gleichsam von außen bestimmten Wirklichkeiten unterstellt würde. Vielmehr geht es um Begründung, und zwar um eine transzendentale Begründung: der G r u n d der Theorie ist f ü r Sartre an die Einsichtigkeit geknüpft 3 0 . Damit ist er aber nicht ein transzendentales, „reines" Denken — Logos in einer Fassung, die sich durch die Ermöglichung einer begründeten Kategorienlehre definiert, wie bei Hegel —, sondern verstehende Praxis eines daseienden Subjekts. Insofern erscheint das Denken, das die Theorie in Anspruch nimmt, als eine explizite reflektive Erfahrung einer Einzelpraxis 31 ; transzendentale Begründung erscheint erschlossen durch Reflexion auf Leistungen einer Einzelpraxis, die für jede Praxis, auch die reflektierende, u n d gegebenenfalls theoretisierende, konstitutiv sind. Das einzelne Subjekt muß also Subjekt der verstehenden Praxis, Objekt der Reflexion und Prinzip des Verfahrens sein. Erst so ist die Theorie nicht mehr Unterstellung von außen, dogmatische Dialektik, die einem gewissen Seinsbereich dialek-

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C R D 115-135. C R D 136. C f . oben 49 Anm. 38; ferner die Frage nach der Dialektik bei Gurvitch, Dialectique et Sociologie. S. unten, A n m . 30. C R D 137: „Premièrement, la dialectique elle-même comme règle du monde et du savoir, doit être intelligible, c'est-à-dire . . . comporter sa propre intelligibilité". C R D 137: „En second lieu, si quelque fait réel . . . se développe dialectiquement, la loi de son apparition et de son devenir doit être — du point de vue de la connaissance — le pur fondement de son intelligibilité. N o u s ne considérons pour l'instant que l'intelligibilité originelle". D i e ganze Fragestellung, w i e w e i t Dialektik im Seinsbereidi des Sozialen „anwendbar" ist oder allein in der Lage ist, e t w a die Bewegung in diesem Bereich zu erfassen — eine Fragestellung, w i e sie e t w a Gurvitch vertritt (cf. Dialectique et Sociologie 218 f.) — ist bei Sartre durch eine transzendentale Fragestellung überwunden. C f . Sartres eigne Stellungsnahme zu Gurvitch C R D 130. C R D 140: „Quand, en effet, je dis que l'expérience doit être réflcxive, j'entends

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Vorbegriff der Critique de la raison dialectique

tische Gesetzlichkeit imputiert, sondern durch ein Subjekt f ü r ein Subjekt gerechtfertigt; erst so ist der Gegenstand der Theorie nicht nur ein als O b jekt Betrachtetes. Die Einzelpraxis ist (mit unsern Worten) transzendentales Subjekt als Grund der verstehenden Praxis und als Instanz der Explikation in der verstehenden Theorie der Praxis. Mit dieser Auffassung ist zwar die notwendige Gründung der Dialektik im Subjekt behauptet, aber eine Konzeption vertreten, in der die Ebene der verstehenden Theorie und die Ebene des verstehenden Subjekts, worüber die Theorie Theorie ist, zusammenfallen. Eis gibt anscheinend keine Instanz der „höheren" Wahrheit, des transzendentalen Denkens, der gegenüber ein Subjekt in seiner Einzelheit zurückbleibt u n d von dort her eine N o r m empfängt (etwa wie in der Anlage der Hegeischen Phänomenologie des Geistes, wo ein philosophisches Bewußtsein = transzendentales Denken ein in seinem Dasein befangenes Bewußtsein auf Begriffe bringt). Kurz, es gibt keine Autonomie der dialektischen Vernunft. Die Theorie gilt vielmehr, auch wenn dieser Anlage in der Durchführung der Theorie zuwidergehandelt wird, als Explikation des jeweiligen Subjekts, als Reflexion seiner selbst auf sich. Das transzendentale Subjekt ist transzendental-ontologisch gedacht, als existierendes Prinzip. Es ist so kein unterstelltes reines Subjekt oder Denken. Sartre fordert vielmehr, daß die dialektische Vernunft als die Instanz, die Gebilde der Praxis (soziale und geschichtliche) verständlich macht, sich der „apodiktischen Erfahrung" 32 als der Erfahrung eines Existierenden darbiete. Dabei soll das „organisierende und schöpferische Denken" nicht seinerseits ein „letztes unverstehbares Faktum der menschlichen Spezies" 33 sein; die Praxis ist vielmehr (mit einem Ausdruck aus E N ) „sich selbst transparent u n d . . . gibt das Modell und die Regeln ab f ü r volle Verstehbarkeit" (sc. von Weiterem), wenn Sartre das auch nur als Forderung, damit die Theorie möglidi sei, hinstellt. Es ist aber nicht zu sehen, wie eine Rechtfertigung gelingt, denn sie dürfte ja wohl nicht nur aus den durch einen solchen Grund gesetzten Konsequenzen geführt werden 34 . Die Auffassung von der Transzendentalität des Subjekts ist, indem sie auf die Reflexion eines Subjekt auf sich als existierendes Prinzip verwiesen ist, in gewisser Weise Cartesianisch bzw. phänomenologisch. Transzendentalphilosophie gewinnt hier ihre Aufschlüsse über den G r u n d als dialektische Vernunft in „kritischer Erfahrung" 3S. Der Grund als existierendes Prinzip weist sich aus durch seine eigne Verstehbarkeit. Er ist in diesem Sinne selhst-

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qu'clle ne se distingue pas plus de la totalisation en cours dans la singularité de ses moments que la réflexion ne se distingue pas de la praxis humaine". C R D 137. C R D 148. C R D 150. Cf. die Kritik an Kant 136. — Cf. unten 66 Anm. 58, 179, 180. C R D 140.

Das Problem des Grundes

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gründend, besitzt „intelligibilité originelle" 3 e , ist „intelligibilité indépassable" Dieses Sich-Selbst-Gründen der dialektischen Vernunft als Praxis, dies unhinterdenkliche Grund-Sein, ist in Sartres Fassung ein Kompromiß: die Praxis ist sich selbst transparent und soll soziale Strukturen begründen; aber ist sie auf Grund dieses phänomenologischen Moments für sich selbst einsichtiger Grund f ü r das, was sie begründet? Die phänomenologische Idee der Transparenz und Apodiktizität ist nicht bruchlos mit der Idee der dialektischen, auf Prinzipien aufbauenden Begründung zu verbinden, die ja wohl in der expliziten Theorie (wenn auch nicht im unmittelbaren Verstehen der konkreten Praxis, das hinnehmend erscheint) prinzipienmäßige Entfaltung sein soll. Abgesehen von dem Problem, daß der Grund f ü r die Theorie nicht im reinen Denken liegt, sondern in einem seienden Subjekt, erhebt sich das Problem des Verhältnisses von Theorie und Praxis. Gerade durch die Art der Grundlegung, also durch den f ü r die Grundlegung nötigen Rekurs auf ein seiendes Subjekt, kommt Sartre, so scheint es, darauf, f ü r die Grundlegung den Primat der Praxis zu behaupten. (Oder anders: scheint eine praktische Philosophie dasjenige zu sein, was er an seine Grundlegung anschließen möchte und anschließen kann.) Denn ein seiendes Subjekt ist primär praktisch, oder in eins praktisch und verstehend. U n d so wird die Grundlegung selbst eine Sache der Praxis. Demgegenüber ist aber geltend zu machen, daß transzendentale Rechtfertigung nicht selbst praktisch ist, sondern Rechtfertigung von Theorie und Praxis durch das Denken; sie ist als Grundlegung beiden Bereichen vorgeordnet. N u r dann ist eine Theorie streng selbstgründend. Im andern Fall muß die Theorie f ü r ihren Grund auf „kritische Erfahrung" rekurrieren, muß für ihre Einsichtigkeit auf „Verständlichkeit" f ü r eine Praxis podien 38 . Die Verstehbarkeit und Einsichtigkeit des Grundes der dialektischen Vernunft, darf f ü r Sartre nicht in einer Mehrheit von dialektischen Gesetzen liegen — etwa in Engels' drei dialektischen Gesetzen 3 * —, wie ja schon eine Abstraktion zu reinen Gesetzen, oder einem reinen Gesetz des Denkens abgelehnt wird. Der Grund muß einer sein. Konsequent denkt sich Sartre dieses Eine, das Prinzip der Dialektik und existierendes Prinzip sein muß, als Akt der Totaltsierung, als Stiftung von Einheit im Vollzug (acte en cours)". Es 3β

C R D 137. Siehe das zweite Zitat oben 57, Anm. 29. C R D 132. ** Cf. die Nähe zum Ansatz bei Cramer, Theorie des Geistes. Cf. ferner unten 76, 181, 184, 197, Anm. 34, 199. 39 C R D 137. 40 C R D 138. — Der Begriff „Totalisierung" findet sich schon bei Proudhon, De la Création de l'Ordre, §§ 246, 286, 300. Hinweis auf Proudhon bei Gurvitch, Dialectique et Sociologie 173. 37

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Vorbegriff der Critique de la raison dialectique

ist ein soldier Akt, durch den etwas f ü r uns als Einheit dasteht. Er ist nicht nur eine an K a n t erinnernde Synthesis, sondern gedacht als Einigung in der Praxis, im Leben und Erfahren. Mit diesem Begriff der Totalisierung ist allerdings nur ein Formales aufgezeigt: ein Beliebiges wird geeinigt zu einem Korrelat der Praxis, ist aber damit nicht als kategorial Expliziertes dargetan. (Die Sachlage ist ähnlich wie in Sartres Analyse des „Transzendierens" in EN".) Diese Deutung der verstehenden Praxis als dialektische Totalisierung hat einen nominalistischen Zug: die Einheitsstiftung bleibt formal, ein Ganzmachen von solchem, was sonst nur Ansichseiendes, gegen Ganzheit Indifferentes, wäre. Für die Deutung als praktisches In-der-Welt-Sein ist eine Sinnverleihung selbstverständlich mitgedacht (wie bei Heidegger u n d in E N ) , aber für die soziale Sphäre, die ja aus ontologisdi Selbständigen besteht, gibt der Begriff der Totalisierung einen Hinweis, daß keine kategorialen Einheitssetzungen aufgestellt werden, sondern immer die Vielheit des Aggregats bestimmend bleibt. Totalisierung als verstehende Praxis eines seienden Subjekts ist nur Stiftung von Einheit als Struktur. Allerdings muß Sartre doch der Praxis Bestimmungen vindizieren, die sie als dialektische Vernunft setzt. Dies kann nun aber nicht aus dem Grund des reinen Denkens in einer logischen Dialektik geschehen, und so denkt er sich, daß der Akt der Totalisierung Universalien „hervorbringt" 4 2 , die die Totalisierung erhellen. Die Praxis „se donne ses propres lumières" 4 3 . Sartre denkt hier an „Universalien der Dialektik — Prinzipien und Gesetze der Einsichtigkeit" 44, und Begriffe von dialektischen Einheiten, die denn wohl als in einer allgemeingültigen Ordnung stehend genommen sind, denn von der Praxis, die sie hervorbringt, werden sie wiederum „singularisiert" u n d „verinnerlicht". Die Dialektik und ihre Einheitsbegriffe und Gesetze sind gleichsam apriorischer Horizont45 f ü r die Konkretion. Das konkrete Allgemeine Hegels ist jetzt das vereinzelte Allgemeine. Wir sehen einen eigentümlichen Kompromiß zwischen einer Theorie der existenzialen (oder qualitativen) Dialektik und einer Theorie der inhaltlichen Bestimmungen (für die wir entweder eine kategoriale Dialektik fordern, oder andernfalls phänomenologisch vorgehen). Sartre kann aus dem Prinzip des Subjekts keine inhaltlichen Bestimmungen entwickeln — und auch keine formalen Bestimmungen einer Logik der Dialektik —, und so läßt er solche Bestimmungen aus der Selbsterfahrung der Praxis her41 42

43 44 45

Cf. E N 229 f. (der Ausdruck „totalisation" 230) und „Grundzüge . . . " 93 f. C R D 140: „ . . . elle (la totalisation) produit les universels qui l'éclairent et elle les singularise en les intériorisant (de cette façon, en effet, tous les concepts forgés par l'histoire, y compris celui d'homme, sont des universaux singularisés et n'ont aucun sens en dehors de cette aventure singulière)". C R D 133, 176 u. ö. C R D 141. Cf. unten 64, 185.

Das Problem des Grundes

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vorgehen. Der vorgebliche Ursprung in der Praxis ist nicht der ausweisende Ursprung für die Theorie der Gültigkeit dieser Bestimmungen. In E N war diese Spaltung in logische Gesetzlichkeit und seiendes Prinzip als Ursprung der Gesetzlichkeit nicht so deutlich (wenn auch hier schon das Sich-NichtSelbst-Gründen der Dialektik als logischer merklich wurde und zu einer ontologischen Begründung führte — im „meontologisdien" Beweis). Hier in C R D ist es klarer, daß für Sartre die Dialektik nicht kraft einer sich selbst gründenden Logik der Dialektik gültig ist, sondern kraft eines seienden Subjekts, das sidi als gewisse Begriffe ausbildend erfährt. (Der Bereich der heranzuziehenden Begriffe ist denn hier auch weiter, mit der — wie auch immer begründeten — qualitativen Dialektik von E N wäre nicht viel erreicht.) In der Theorie von C R D , also in der Entfaltung der strukturellen Anthropologie, wird allerdings doch eine größere Stringenz sichtbar werden, als sie die in Ansatz gebrachte Begründung erwarten läßt. Sartre möchte mit seiner Begründung der dialektischen Vernunft auch die historische Relativität berücksichtigen1" und geht so weit, die Dialektik für eine historische Wahrheit zu erklären. Sicherlich ist jeder, der die genannte kritische Erfahrung vornimmt, situiert, auch der Philosoph. Und so ist die historische Relativität eine Relativität der „Fassung" und „Erfahrung" der Dialektik durch das verstehende Subjekt in seiner Verinnerlichung. So kann die Kritik der dialektischen Vernunft nicht auftreten, bevor nicht bestimmte Philosopheme die Dialektik aufgestellt und bevor nicht Mißbräuche den Begriff der dialektischen Rationalität verdunkelt haben 47 . Es fehlt allerdings eine klare Absetzung der Dialektik als Explikation in einem geschichtlich relativen Werk, oder in einer geschichtlich relativen Erfahrung, von der Dialektik als transzendentalem Grund der Praxis und damit auch der geschichtlichen Erfahrung. Sartre gibt so der historischen Relativität zu viel zu48, was — wenn wir eine Anpassung an historisch-materialistische Gedanken für zu vordergründig halten — verständlich ist von der Seinsgebundenheit der dialektischen Vernunft her, ihrer notwendigen Inkarnation, die für Sartre zu ihrem Prinzip gehört. Entsprechend vermißt man eine — auf dieser Basis nicht zu gebende — Argumentation für die Allgemeingültigkeit und Verbindlichkeit des Grundes der dialektischen Vernunft qua Grund und nicht qua seiend, wozu eine transzendental-logische Theorie in der Lage wäre. Das Werk als Theorie hält sich allerdings nicht an diese Selbstrelativierung, sondern entwickelt Strukturen in ungeschichtlicher Grundsätzlichkeit.

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C R D 141-6. C R D 141. C f . Zehm, Historische Vernunft 177.

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Vorbegriff der Critique de la raison dialectique

4. Die Entfaltung des Grundes Wir haben Sartres Theorie des Grundes in einer kritischen Überschau kennengelernt. Für ihn bedeutet die Grundlegung, daß die Theorie festgemacht sein muß am einzelnen Subjekt als transzendental-ontologischem Grund; die Begründung wird zur kritischen Erfahrung, und nur das einzelne Subjekt erfährt sidi als Instanz des Verstehens. Die Theorie gestattet keine Begründung aus dem Grund des reinen Denkens, sondern fordert den Rekurs auf das existierende Subjekt. Von einem solchen Ausgangspunkt müssen nun alle Sdorine zur Begründung sozialer Strukturen begriffen werden können, wenn die Theorie gelingen soll4*. Nun ist klar, daß ein einzelnes individuelles Subjekt als seiendes in einem irreduziblen Gegensatz steht zu Gestalten der Pluralität, von denen aber andrerseits gilt, daß sie von dort als ihrer Instanz der Rechtfertigung aus begründbar sein müssen. Das apriori aus dem Einzelnen als Prinzip Zu-Begründende überschreitet ihn seinem Sein nach. In EN war darüber hinaus ein kontingentes und doch begründetes (pränumerisches) Paarverhältnis dargetan worden. Die Orientierung von einem Zentralsubjekt aus konnte erhalten bleiben, indem dieselbe Orientierung dem Andern imputiert wurde. Hier in CRD muß eine spezifische, partikuläre Pluralität verstanden werden und a fortiori auch ihre Irreduzibilität als spezifische, partikuläre Pluralität. Sartres These ist, wie wir schon wissen, daß die Subjekte von ihren jeweiligen Zentren aus, „polyzentristisch", durch Totalisierung von ihrer je eignen Orientierung aus soziale Gebilde konstituieren können, in denen sie frei oder entfremdet sind der apriorischen Möglichkeit nach. Es muß ein menschliches Gemeinschaftswerk verstanden werden, ein Werk ohne einen einzelnen Urheber — dies ist der Aspekt des Zustandekommens als wirklich, der Aspekt des Seins —, und doch muß das betreffende Sozialgebilde vom Einzelnen als vereinzeltem Prinzip aus verstanden werden können — dies ist der Aspekt der Vernunft —, sowohl in concreto als in der Theorie. Das einzelne Subjekt ist in irgendeine Partikularität verstrickt, aber es soll gleichzeitig prinzipiell die Rationalität des polyzentristischen Prozesses gewährleisten, einerseits zu seinem Teil mitkonstituieren und andrerseits das Ganze aus sich heraus verstehen, in concreto und als Grund der Theorie. In einem lockeren Sinn von Verstehen, einem Verstehen in concreto, ist das trivial. In einem strengeren Sinn, dem der Begründung in der Theorie, ist eine Forderung aufgestellt, die als erfüllbar aufgezeigt werden muß. Nun weiß der Philosoph schon, worauf er hinauswill, wohin der vom Grund aus aufzubauende Gang der Begründung führen muß, nämlich zu sozialen Gebilden, in denen dem Prinzip des Einzelsubjekts, der Freiheit oder dialektischen 4

' Es sollte nidit mehr möglich sein, wie Lichtheim hierbei von „logical treadmill" (a.a.O. 233), „logical steam-engine", „machinery" (239) zu spredien.

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Vernunft, entsprochen oder widersprochen ist. Hierin, in diesem Prinzip, müssen die Einzelnen und das Gemeinsame koinzidieren. Es ist dann aber klar, daß ein Unterschied zu machen ist zwischen dem Objekt des Verstehens oder der Begründung — ein Einzelner, eine Gemeinschaft, ein geschichtlicher Vorgang, der Gesamtentwurf der Geschichte —, ferner dem, der das Verstehen leistet als Einzelsubjekt, und dem Prinzip des Verstehens oder der Begründung. Das Verstehen ist einerseits zu differenzieren in Prinzip der Rationalität und existierendes Prinzip, andrerseits ist es doch eines, die Vernunft der Einzelnen als Allgemeines, explizit gemacht also als „die" Vernunft, wie sie der Philosoph geltend macht, wie immer gebunden an die Vereinzelung der Vernunft, die er selbst darstellt. Die Vernunft ist das Prinzip für ein rationales Verstehen. (Es entsteht eine ähnliche Sachlage wie in Hegels Phänomenologie, wo der Philosoph als Zuschauer auf dem Standpunkt der Wahrheit steht und eine anfängliche Form der Wahrheit als Ausgangspunkt für die Entwicklung schildert, die ihm im Prinzip eins sind.) Der Philosoph kann sich über seine Verhaftetheit in der Einzelheit erheben, er hat nicht nur subjektiv orientiertes intentionales Verstehen (compréhension), sondern er begreift jegliche praktische Realität (intellection)50. Rationalität als solche, Begreifen für sich genommen, würde nach ihrem eignen Gesetz in der Sphäre des Logos bleiben und, in unserem Zusammenhang, Einzelnen und Sozialität unter einen übergreifenden Begriff stellen, von dem aus beide begreifbar sind, wie es Hegel mit seinem Geistbegriff tut. Hegels Philosophie des Geistes, und näher die Rechtsphilosophie, sind in der Tat ein Versuch zu zeigen, wie bei Ansetzung eines solchen Begriifs des Geistes der Mensch als sich zur Sozialität entfaltend — als objektiver Geist — begriffen, d. h. transzendental einsichtig erfaßt werden kann. Die sozialen Gestalten sind für Hegel immer größere Annäherungen der Existenz des Geistes an seinen Begriff. Wir denken hier besonders an die Abschnitte „Gesellschaft" und „Staat" in der Rechtsphilosophie, wo gezeigt wird, wie der Mensch in eine Differenz der Pluralität tritt und daraus eine Einheit in der Pluralität, den Staat, bildet. Es ist klar: hier ist der Tatsache, daß Geist oder Vernunft nur existent sind in Individuen, insofern nicht Rechnung getragen, als die Pluralität nur durch den logos-immanenten Prinzipiengedanken der Differenz (Dasein, Äußerlichkeit) berücksichtigt ist. Die Dialektik schreitet an ihr selbst (im Bereich des Logos) fort und gelangt zur Einheit. Die Entwicklung ist eine Bewegung des Begriffs, was nicht heißt, daß die Partikularität der Vielen sich nicht als Illustration einfügte. Dies ist für Sartre einfach nicht „konkret" 51. Die Trennung von Wissen und Existenz (wie sie nach Sartre im Marxismus besteht) soll behoben wer50 51

C R D 160-2. C f . Marxens Forderung des Weltlidi-Werdens der Philosophie (cf. oben 41), was den Glauben an das Vollendetsein der Philosophie bei Hegel voraussetzt. Sartres Stellung zur bisherigen Philosophie ist die einer K r i t i k am Idealismus,

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den, und dodi, oder gerade deshalb, soll auch nicht einfach eine „idealistische" Theorie gegeben werden, bei der der Einzelne nur unter den Geistbegriff „subsumiert" wird, aber nicht sichtbar ist, wie er handelnd, eigenzentriert, das Soziale und geschichtliche Ziel mitbefördert und erreidit (er wäre in der idealistischen Philosophie vielmehr einer List der Vernunft unterworfen). Das „Sidi-Machen" der Freiheit oder Vernunft im Sozialen ist vom Sein her, ontologisdi, gedacht, und also muß soziale Freiheit von der Pluralität der Einzelnen her gefaßt werden. Die Begründung des Sozialen muß der Tatsache gerecht werden, daß die Sozialität nur als Einigung Selbständiger, als Vereinigung, als „Totalisierung", nicht als begriffliche Synthese, gedacht werden kann. Eine solche Totalisierung erfolgt de facto von vielen Zentren aus, für die die Andern jeweils Objekte sind. (Auch an höhere Stufen, Totalisierungen von Totalisierungen, ist zu denken52.) So ist für Sartre der „Seinsbereich" des Sozialen dialektisch strukturiert, die Dialektik seine Gesetzlichkeit. Aber indem dieser Begriff der Totalisierung in einer Transzendentalphilosophie verwendet wird, ist schon anerkannt, daß bei aller Berücksichtigung der seienden Pluralität eine Finalität herrschen soll, eine Rationalität, die normativ ist für die Gestaltung des Sozialen, was gleichzeitig heißt: die im Verstehen der faktischen Sozialgebilde wirksam ist. Trotz der Rücksicht auf Existenz und Pluralität soll eine transzendentale Theorie (mit von der Theorie in Anschlag gebrachten kontingenten Subjekten) möglich sein. Die Schritte der Theorie erscheinen als „Madien" durch seiende Einzelne. Es bleibt dabei eine Spannung von Wissen und verstehender Praxis als einzelner Existenz. (Sartre meint, das Verhältnis von Theorie und Praxis sei selbst dialektisch.) Die transzendental-ontologische Theorie kommt nicht aus ohne einen Horizont der dialektischen Vernunft. Madien wir uns noch einmal klar, daß wir es mit einer „strukturellen Anthropologie" zu tun haben, wo die Praxis, als „Machen", nur transzendental gemeint ist, ontisdi aber reversibel bleibt: es handelt sich um „conditions statiques de la possibilité d'une totalisation" 53. Diese Praxis, dies „Madien", dies praktische Innestehen in einer sozialen Struktur, das eine konkrete Verständlichkeit besitzt und doch gleichzeitig als ein transzendental Konstituiert-Sein-Lassen gemeint ist, entspricht dem dialektischen Nominalismus, von dem schon die Rede war. Dazu paßt, daß Totalisierung und nicht kategoriale Einheit dargetan werden soll, daß die Vielheit nominalistisdi irreduzible Pluralität behält 54 .

52 55 54

und so ist die Forderung nadi Konkretheit ohne das Argument, daß die einzige Fortsetzung der Philosophie nach ihrer Vollendung die Praxis sein könne. So gibt er denn audi wiederum Philosophie, Sozialphilosophie. CRD 152: „atomisme en second degré". C R D 155. Inhaltlich ist dazu ein Korrollar, daß Sartres Theorie, als transzendental-ontologische, nicht, wie transzendentale Theorie des Sozialen sonst, Theorie des

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Auf den möglichen Einwand, es handle sich nur um ein dialektisches „Verstehen" und nicht um dialektische Gesetzlichkeit eines „Seinsbereichs" in Sartres Sinn, ist zu antworten, daß einerseits Gestalten, Sozialgebilde, dialektische Struktur auch als nicht fortschreitende haben, und daß andrerseits das Fortschreiten in der strukturellen Anthropologie zwar zunächst ein Fortschreiten des Verstehens ist und erst in der geschichtlichen Dimension (wenn für sie die Dialektik erhärtet werden kann) als irreversible Seinsgesetzlichkeit zu denken ist, aber schon innerhalb der strukturellen Anthropologie zwischen dem Verstehen der Theorie und verstehender Praxis (als Gegenstand der Theorie) so wenig unterschieden wird, daß der Eindruck einer „exemplarischen" Realbewegung entsteht und Sartre eine dialektische „Seinsgesetzlichkeit" — eben für unter dem normativen Gesichtspunkt der Freiheit mögliche Bewegungen der Praxis — meint. Ein entsprechender suggestiver Eindruck findet sich in Hegels Philosophie des Geistes und Rechtsphilosophie, wo „Entwicklungen" dargestellt sind (ζ. B. die Gesellschaft im Ubergang zu Armut, Proletariat, Auswanderung usw.). Bei Hegel handelt es sich jedoch um eine Suggestion innerhalb der Illustration 55 , während die Dialektik plötzlich anders, nämlich begrifflich, logisch, fortschreitet, etwa nach der Entwicklung der Gesellschaft die Korporation und dann den Staat als höheren Geistbegriff einführt. Bei Sartre hat die „Illustration" als Wirklichkeit stärkeres Gewicht, Realbewegung und Begriffsbewegung sind schwerer zu trennen, was in Zusammenhang steht mit der schon gezeigten Eigentümlichkeit der Grundlegung des transzendentalen Verfahrens selbst5®. Bisher haben wir in Abstraktion das Problem des Grundes (als existierendes Prinzip und als übergreifende dialektische Vernunft) und das ontologische Verständnis der dialektischen Bewegung als exemplarischer Realbewegung betrachtet. Wie ist nun aber eine Entfaltung der Strukturen als methodisches Verfahren zu denken? Es muß sich in jedem expliziten transzendentalen Verfahren um eine lineare Abfolge handeln, um eine Genealogie, in der das Spätere vom Früheren her erschlossen, verstanden, begründet ist, so wahr Mehreres zu begründen ist und nicht sofort zu einer Konkretion übergegangen werden kann, deren Mehrfältigkeit unbegriffen bliebe. Das nähere Fortschreiten werden wir in den folgenden Kapiteln, die den einzelnen sozialen Strukturen gewidmet sind, behandeln. Hier ist nur auf eine allgemeine Charakteristik dieses Fortschreitens hinzuweisen. Wir erwarten, daß eine Entfaltung von der einzelnen Praxis aus zurückgreift auf andere

55 M

Rechts ist (Fichte, Hegel). Vielmehr steht Sartre Marxens und Engels' Deduktionen des Sozialen, als eines ursprünglichen praktischen Verhältnisses von Einzelnen, das dann auch eine Rechtsordnung haben wird, näher. Die geistige Einheit (etwa eben das Recht) ist sekundär, abhängig von praktischen Strukturen der Pluralität. Cf. unten 188 f. Cf. oben 63 f. und unten 131, 186 f., 188 f., 192.

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Einzelne (die als kontingent vorausgesetzt werden können), somit plurale, „laterale" Strukturen aufweist, und daß sich aus dieser Differenz die Einheit des Prinzips, also eine „gelingende" Freiheitsstruktur in der Pluralität herstellt, in Entsprechung zur Hegeischen Theorie des objektiven Geistes. Dies ist in großen Zügen durchaus der Fall, aber damit treffen wir nicht das für Sartre Spezifische. Sartre denkt zunächst an Konstitute, die vom Einzelnen aus verstanden werden können (in einer „dialectique constituante"); dann an Konstitute, die ein Gegenprinzip des Seins, der Verfestigung, der Rückwirkung auf den Menschen, involvieren — es handelt sich also nicht, wie bei Hegel, um eine logos-immanente Differenz (bzw. um eine Realdifferenz, die durch eine logos-immanente Differenz als erfaßbar gilt), sondern um ein kontingentes Realprinzip, das in einer „Antidialektik" verstanden wird; und schließlich an Konstitute, die nur von mehreren Einzelnen als Gliedern einer Gemeinschaft (Gruppe) verstanden werden können („dialectique constituée" 57 ). Die Dialektik überschreitet den Einzelnen als ontologisdi Selbständigen. Sie ist eine „mensdiliche Konstruktion". Im Gegensatz zur Hegeischen Dialektik, die Kategorien und Gestalten in einer Logosimmanenz entwickelt, muß eine Theorie wie die Sartresche das Thema der Kategorien des Sozialen anders behandeln. Sie will ja konstituiert denken, was unter dem Gesichtspunkt der Realität „immer schon" vorliegt und zur Situation des Subjekts gehört. Sartre kann also sagen, die Abfolge der Schritte, die Gemeinschaft oder Kollektive konstituieren, sind, obwohl sie der Praxis des Einzelnen nachfolgen, „Rückgang" zur vollen Erfassung der Situation, die immer schon „ist". So ist die ganze Bewegung von CRD (das ja nur einen I. Teil darstellt) „regressiv" 58 in einem Sinn, der, wie schon angedeutet, nidit identisch ist mit dem Sinn des Wortes in „Question de méthode". Regressiv ist die Theorie, soweit sie von einem abstrakten Ausgangspunkt, der Einzelpraxis, ausgehend gleichsam die volle soziale Konkretion aufdeckt und analysiert 5 ". „Progressiv" wäre dann die Theorie der Geschichte, in der ein Verstehen gerichteter Totalisierung, also einer Abfolge von Totalisierungen vorangegangener Totalisierungen, geschildert und möglicherweise als einem Sinngesetz unterworfen dargetan werden könnte60. Was von C R D (im I., aber auch in einem ausstehenden II. Teil) erwartet werden kann, ist eine „formale" Verstehbarkeit. Jedes " C R D 154, 376 f. C R D 134, 143, 155. Diese regressive Theorie ist im Sinne transzendentaler Systemtheorie dennoch „progressiv", von einem sidi gründenden Grund aus vorwärtsschreitend, nicht von Zugestandenem zurückschreitend. Cf. unten 112, 130 f., 187 ff. 5 9 C R D 143, 155, 178. — Cf. dazu Marx, Zur Kritik der politischen Ökonomie (Nachlaß), Marx-Engels Werke (Dietz) 13, 631 ff. Cf. C R D 134, 155, 156, 160. 58

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strukturelle Stadium ist eine Möglichkeit des Sozialen, eine begründete Struktur. Die strukturelle Anthropologie präjudiziert so anscheinend nicht die Geschichte, sondern liefert vielmehr „Prolegomena einer jeden künftigen Anthropologie" β1 . Bei dem geschilderten Verfahren ist bemerkenswert, was sich audi schon auf der abstrakten Ebene zeigt, auf der wir es hier betrachten, daß die Konkretion als Abschluß der Bewegung der strukturellen Anthropologie einerseits ein letztes darstellbares Konstitut, eine soziale Struktur sein muß, andrerseits die soziale Konkretion in ihrer Vielfachheit, in ihrer Vollständigkeit (als Gegenbegrifï zur abstrakten Unvollständigkeit des Einzelnen und intermediärer Stufen) erreicht werden muß, unter dem Gesichtspunkt, daß die Verstehensbewegung ja nicht Begriffe aufstellen, sondern die soziale Wirklichkeit als verstehbar dartun will, und diese ist plural, pluralistisch, eine Simultaneität von Strukturen. (Das widerspricht nur scheinbar Hegels „höherer" Einheit (des Staates), denn audi in ihr müßte die Simultaneität (qua real) von sozial Pluralem gedacht werden. Der Aspekt der simultanen Realität ist aber nicht relevant für Hegels Kategorienlehre). Der Begriff des Abschlusses bzw. der Konkretion enthält somit, wie der des Grundes und der Methode, noch einmal ein Problem, das mit der transzendental-ontologischen Anlage der Theorie gegeben ist. (Wir wollen hier nur auf dies Problem hinweisen; wir kommen an späterer Stelle darauf zurück.) Wir haben jetzt einen Vorbegriff von dem, was Sartre sich in seinem Werk vorgenommen hat, einen Vorbegriff im Sinne einer Antizipation auf der Ebene der abstrakten systemtheoretischen Charakteristik. Ein Letztes ist zu erwähnen: die Lehre von CRD versteht sich als bezogen auf den Marxismus, den Sartre bejaht. CRD wäre also die tiefer begründete Soziallehre, die nach Sartre nicht im Wettbewerb zum Marxismus stehen soll, sondern ihn, der sich nicht selbst begründet, fundiert 62 . Also nicht „neben" — wie Lukacs von EN meint, wenn er von einem dritten Weg des Existenzialismus neben Idealismus und Marxismus spricht —, sondern „vor" dem Marxismus stehend, als Grundlegung, die integriert werden soll, will sich C R D verstehen. Diese Frage berührt das Problem, inwieweit hier dodi ein Zugestandenes, von anderswoher Feststehendes — eben der Marxismus — maßgebend ist. Es scheint aber, daß, was im Marxismus These ist, in der Theorie von C R D neu entwickelt wird, so daß die Grundlegung kein bloßer Zweckansatz ist, nur um das Gewünschte zu entwickeln. Wir verweisen auf die spätere Diskussion des beiderseitigen Verhältnisses. Jetzt haben wir uns der positiven Durchführung der Theorie in C R D selbst zuzuwenden.

61 ,ä

C R D 153. S. unten 174 f. C R D 134, 108. Cf. unten 193 f.

IV. Die Prinzipien 1. Die Praxis Was wir „positive Durchführung" nannten, muß nun die zum Bereich des Sozialen gehörigen Inhalte, Gestalten, Strukturen, Wirklichkeiten, Themen umfassen, die die Theorie verstehen und begründen soll. Als erstes Thema in Sartres Durchführung finden wir die Praxis. Sie galt in der systemtheoretischen Betrachtung als Prinzip der Sozialgebilde und der Theorie, und zwar einerseits als autarker Grund, andrerseits als koordiniert mit einer Pluralität von Praxeis und einem kontingenten Gegenprinzip der Materie. Nunmehr wird die Praxis monographisches Thema. Das müßte bedeuten, daß nun der Mensch als Seiendes, das Praxis ist, noch einmal genauer betrachtet wird — und das ist auch durchaus der Fall, genauso, wie es auch für die anderen Prinzipien zur Porträtierung in exemplarischer Anschaulichkeit kommt —, aber der Mensch als Praxis soll ja in transzendentalem Verständnis als Grund, oder Prinzip für weitere soziale Strukturen gelten. Stellt uns die Betrachtung der Praxis als eines Seienden auch die Praxis als Grund noch einmal deutlicher vor? Und wenn ja, ist ein Anhalt für die dann erforderliche Betrachtungsart vorhanden, wenn nach dem Früheren die Praxis selbst transzendentales Prinzip ist? Machen wir uns die gemeinte Differenz an der Folie Hegels klar. Bei Hegel fällt die Theorie des Grundes und der transzendentalen (dialektischen) Methode nicht zusammen mit den monographischen Themen des Erkennens und Handelns (welch letzteres bei Hegel übrigens aufgegliedert erscheint als Trieb, Begierde, Wollen, und, konkreter, als Arbeit, künstlerisches Schaffen usw.). Die Geistgestalten des Handelns und Erkennens treten auf als schon in einer Genealogie der Begründung stehend, nachdem das Denken als sich selbst gründend vorausgegangen ist und konkrete Realkategorien erreicht hat. Die transzendentale Betrachtung des Konkreten ist so schon in Antezedentien des Konkreten festgemacht. Bei Sartre hingegen fällt der Grund unter eine Realkategorie, Praxis ist Grund und. monographisches Thema, Grund und Seiendes, Prinzip und Prinzipiat, nicht also derivierter Begriff in einer Kategorienlehre, die einen davon verschiedenen Grund hat, sondern irreduzibles existierendes Prinzip 1 . 1

Cf. dieselbe Sachlage schon in EN. S. „ G r u n d z ü g e . . 1 2 0 f. Cf. audi Gurvitdi, Dialectique et Sociologie 160, 171 (zu CRD 119), 174.

Die Praxis

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Das Fortschreiten von diesem konkreten G r a n d aus wird somit audi auf der H ö h e der monographischen Konkretion stehen. Die Praxis ist jetzt, wenn wir das terminologisch differenzieren sollen, Prinzip, aber auch „Ausgangspunkt" f ü r verständliche Praxis, verständliche Entfaltung. Damit ergibt sich der schon angedeutete suggestive Eindruck der Konkretion der Sartresdien Transzendentalphilosophie. Die Gesetzlichkeit, die die transzendentale Betrachtung unterstellt und die wir schon als eine dialektische kennen gelernt haben, geht der monographischen Betrachtung voraus, wenn Sartre sie audi f ü r eine Auslegung der kritischen reflektiven Erfahrung der Praxis selbst hält. Dialektische Prinzipbegriffe müssen sdion im voraus ihre Verbindlichkeit haben: wir kennen sie als qualitative Seinsbegriffe, wie sie Sartre auch in E N zur Anwendung bringt (in welchem Zusammenhang wir die Herkunft dieser Begriffe schon kritisch befragt haben). Aber Sartre will in der monographischen Betrachtung der Praxis (doch nicht nur in ihr, sondern in der Betrachtung auch der prinzipiellen Pluralität, weiter des Gegenprinzips der Materie und der Verknüpfung zu prinzipiellen Gestalten 1 ) allererst sicherstellen, daß Dialektik oder verständliche Begründung ihr Recht hat. Wir erinnern uns, daß die Ansetzung der Praxis als Grund f ü r die Dialektik in den systemtheoretischen Überlegungen Sartres noch hypothetisch war 3 . D a eine Rechtfertigung der Praxis als Grund nunmehr auf der H ö h e der Konkretion steht, scheint sie durch Beschreibung gegeben werden zu können, unter Hineinnahme gewisser konkreter Umstände, die bisher nicht in die Betrachtung einbezogen worden waren (audi in E N nicht). Aber sehen wir näher zu. Zunächst erwarten wir eine Parallele und Wiederaufnahme des Begriffs vom Menschen in E N ; auch dort liegt ja schon eine Fassung des Menschen unter dem Gesichtspunkt eines Primats der Praxis vor, wie ihn jede existenzphilosophische Deutung erwarten läßt. Von der Heideggerschen Phänomenologie waren Strukturen des In-der-Welt-Seins in die abstrakte dialektische Grundlegung im Fürsichsein miteinbezogen worden — Bewandtnisverstehen, Erhellung der Situation vom Entwurf her, der ein Ganzsein-Können verspricht usw. Dies alles wird weiterhin bejaht 4 , andrerseits finden wir aber eine Verbindung alles diesen mit einer realistischen, ja materialistischen Deutung. Sartre gibt nicht mehr eine „immanente", vom Bewußtsein als Grund ausgehende und phänomenologisches Detail darin einpassende Deutung, derzufolge der Bezug zur Welt jeweils nur Korrelat von internen Strukturen des Subjekts ist, sondern betont, daß der Mensch als Praxis inmitten des Seien1

3 4

Wir verwenden den Begriff „Gestalt" im Hegelsdien Sinne. Cf. Phänomenologie des Geistes (Meiner) 476-8. Sartre versteht den Begriff von der Gestaltspsychologie her und lehnt ihn daher für lebendige Praxis, besonders im Zusammenhang mit dem späteren Gebilde der Gruppe, ab (CRD 507). C R D 147: „S'il doit y avoir, en effet, une raison dialectique . . Cf. die Analyse des bewandtnishaften Verstehens im Beispiel vom ö f f n e n des Fensters C R D 96 f.

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Die Prinzipien

den gesehen werden muß. (Das war auch in EN in gewisser Weise der Fall, aber das Seiende war dort nur prinzipiell — als Ansidhsein — Bezugspunkt des Subjekts, und „für es" war dann Welt als Korrelat. Jetzt ist das Seiende in seiner natur-ontologischen, regional-ontologischen Bestimmung mit dem Subjekt in eine Ebene gebracht. Wir können auch sagen, die abstrakte Transzendentalität von EN gibt einer realistisch-ontologischen Betrachtung Raum, ohne ihrerseits aufgegeben zu werden.) Sartres jetziger Grundgedanke ist, daß der Mensch Bedürfnis ist5. Als Bedürfnis verstanden geht es ihm um eine immanente selbstische Totalität, die ihm mangelt, andrerseits aber ist das Mangelnde, das Negativische, etwas Äußerliches, Mechanisches, ζ. B. Nahrung. Der Bezug, der im Bedürfnis gesetzt ist, ist univok, d. h. nicht überlagert von einem Gegenbezug, der von der Materie ausginge, ist also Bezug der Innerlichkeit, effektuiert von einem subjektiven Zentrum für es selbst. Bedürfnis nun erscheint Sartre als Negation der Negation, insofern es einen Mangel verrät, aber als Positives, insofern es auf die Erhaltung des Organismus gerichtet ist. (Die doppelte Negation als Affirmation hat also hier ihre erste Exemplifikation, ja ihren Grund.) Das Bedürfnis des Organismus prägt dem Anorganischen eine biologische Valenz auf, während der Organismus in sich eine Angewiesenheit auf NichtOrganisches zeigt, und Sartre sieht hier einen ersten Widerspruch von organischem und anorganischem Seienden, von Innerlichkeit und Äußerlichkeit, die dennoch in einer Einheit des Bedürfnisbezuges stehen. Der Grundgedanke ist dabei noch gar nicht spezifisch auf den Menschen gemünzt, wir stehen vielmehr bei „Organismus" und „Leben 1 ". Das Bedürfnis ist Bindung eines Organismus zur umgebenden Materie. Es totalisiert sich und die Umgebung, der Organismus findet sein „Sein" im Unbelebten als Lösung und Beibehaltung eines Widerspruchs, nämlich desjenigen der beiden mit einander verstrickten ontologischen Status von Organizität und Äußerlichkeit. Die Opposition der beiden Status ist nicht nur von der absoluten Position des Subjekts aus gedacht, sondern auch als „zwei Status derselben Materialität" 7 im gemeinsamen Feld der Realität. Die Vereinbarkeit von Ontologie und Subjektphilosophie ist nicht mehr auf einen Prinzipienkonnex beschränkt (wie in EN), sondern in regional-ontologischer Konkretion in Anschlag gebracht. Der Organismus ist nicht nur mit der Natur verknüpft, indem ihm als Organischem etwas Anorganisches fehlt, sondern auch selbst homogen mit der Natur: er ist den Naturkräften unterworfen, ist verletzlich und gefährdet, indem er selbst äußerlich ist, durch seinen Leib selbst Werkzeug zum Eingreifen in die Natur ist oder sich dazu macht. Durch die Praxis (die hier

C R D 166: „(le besoin) c'est le premier rapport totalisant de cet être matériel, un homme, avec l'ensemble matériel dont il fait partie". • Cf. Hegels Enzyklopädie § 216 ff., bes. § 219. 7 C R D 166.

5

Die Praxis

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nodi nicht terminologisch auf den verstehenden Menschen festgelegt ist) wird die Äußerlichkeit zur Verinnerlichung6, zur immanenten Ganzwerdung des Organismus überschritten. Es besteht eine Einheit von Bedürfnis, organisdier Funktion und Praxis. Aber ist Praxis von Funktion schon unterschieden? Sartre möchte nicht nur vom bloßen Organismus, sondern vom Menschen handeln, wenn audi nodi als Organismus betont, und so Ansdiluß gewinnen an den Marxsdien Praxisbegriff'. Ist dieser Übergang verständlich zu machen? Sartre macht den Übergang an der Zeit klar. Auch die Zeit ist (im Gegensatz zu einer bloßen Zeitlichkeit als immanenter Struktur) regional-ontologisch ausgestaltet: der Organismus muß sich erneuern. Die repetitive Organismuszeit wird aber aufgebrochen durch das Fehlen oder die Knappheit (rareté) des Erwarteten und Benötigten10. Sie bekommt dadurch die Dimension der Möglichkeit und des Zieles, das an die Stelle des bloß zu erleidenden Schicksals tritt. Damit ist Aktion als Außenwendung der Funktion der Bedürfnisbefriedigung (fonction extériorisée) auf Grund eines Fehlens oder einer Bedrohung erschlossen, wenn auch nun Praxis an ein solches enger gefaßtes Bedürfnis gebunden erscheint. Der Organismus richtet sich nach außen, Funktion geht über in Aktion, zur Veräußerlidiung der Immanenz, wenn wir diese Verstehensbewegung mitmadien. In diesem realistisch-ontologischen Rahmen ist nun audi die frühere Dialektik von EN darstellbar: die Negation des Menschen durch die Materie und der Materie durdi den Menschen ist zwar — das ist Sartres Pointe — eine Dialektik in der Materie, aber nicht eine Dialektik der Materie oder der Natur, wie bei Engels. Der Mensch muß Negation oder Freiheit sein, damit es eine Dialektik in der Materie, eine Widerständigkeit der Materie, einen 8

Die Verinnerlichung (intériorisation) ist das realdialektische Analogon zur Hegelschen Bestimmtheit als subjektiver und damit ideeller Synthese. Sie besagt nicht, daß ein neuer kategorialer Inhalt dialektisch konstituiert ist — der reale Einzelne bleibt irreduzible Grundlage —, sondern, daß ein Subjekt ein Fazit zieht, durch seine Bezüge qualifiziert ist. Dies aber doch in dialektischer Weise. Der Prototyp für die Verinnerlichung ist das Annehmen einer Objektivierung durdi den Andern (zu E N s. oben 29). Die Konzeption der Verinnerlichung dient dann aber allgemein zur Fassung eines dialektischen Verhältnisses, in dem ein Subjekt bestimmt ist durch sein Sein, seine Äußerlichkeit, sein Oppositum. Unser gegenwärtiger Zusammenhang des Bedürfnisses ist ein Beispiel. Entspechend gibt es bei Sartre Wiederveräußerlichung (réextériorisation) oder Außenwendung, das Sidi-Anweisen eines Subjekts auf das Seiende auf Grund seines verinnerlichten Mangels oder sonstigen Bestimmtheit. Die Konzeption deckt ein Sich-Realisieren des Subjekts im Seienden wie auch ein Projizieren seiner negativen Bestimmtheit in das Seiende und die anderen Menschen. Die Anschaulichkeit der beiden Konzeptionen läßt eher an ein subjektives Geschehen denn an Dialektik denken. Cf. Nauta, a.a.O. 148 ff., der eine Linie zur Psychoanalyse zieht. • etwa in der 1. These gegen Feuerbach. 10 C R D 168.

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Die Prinzipien

Widerspruch in ihr gibt. Die Materie als solche unterliegt dem Prinzip des Ansidiseins, wie es in EN dargelegt worden war. In einem gewissen Gegensatz zu E N wird nun die Rolle des Subjekts als Negation wesentlich von der Einheit und Ganzheit her gesehen und nicht so sehr sein Sich-Absetzen betont. Die Negation hat ihre Einsiditigkeit nicht aus einer obersten Prinzipiendifferenz von Ansichsein und Fürsichsein, oder aus dem meontologisdien Beweis, das Subjekt äst nicht primär Sein mit Negation, wobei die dialektische Einheit nicht so recht dargetan werden konnte und Hegeische Begriffe unbegründet übernommen wurden —, vielmehr ist die Einheit jetzt vorangehend und die Negation hat ihre Einsiditigkeit von ihr her. Die Negation ist Gegenkraft (force opposée)11 im Verhältnis zu einer ursprünglichen Kraft der Integration und zu einer zukünftigen Totalität. Letztlich ist schon der Organismus Negation, primäre Negation, und zwar Negation der Äußerlichkeit seiner selbst als Negativem gegenüber der subjektiven Einheit. Die Negation kann nur innerhalb und durch diese Einheit erscheinen, aber sie ist damit partielle Bestimmung des Ganzen, insofern sie sich für sich setzt, eine Partikularisierung bedeutet. Die Partikularität der Negation (als Ausgehen auf ein Detail) ist Hindernis der Wiedertotalisierung des Ganzen. Die Negation ist sich bewegender Bezug (rapport en cours) zwischen dem gesetzten (bisherigen) Ganzen und der setzenden (neuen) Totalisierung, d. h. Partikularisierung, Bevorzugung eines Bestimmten, im Hinblick auf eine neue Ganzheit. Von hier aus erscheint die Negation als Negation der Negation, als Affirmation, als Negation des Negativen als eines Partiellen und Affirmation des neuen Ganzen. Die neue Einheit ist Liquidation der Partikularität oder Anpassung daran durch Einstellung in eine neue Ordnung. Versuchen wir eine transzendentale Kritik. Die Analyse Sartres sieht die Negation als eine geheimnisvolle Kraft an, die zwischen Negation und doppelter Negation, zwischen Partikularität und Ganzheit, zwischen Bestimmung und Einordnung der Bestimmung in eine Finalität des Ganzen schwebt, ohne für all dies ein theoretisches Gerüst anzubieten. Sartre meint jedoch, die Bezüge, die hier behauptet sind, seien einsichtig. Ja er meint, von hier aus ließe sich eine „dialektische Logik der Negation" 11 , ein „abstraktes System von Sätzen" 13 aufstellen, die „an ihnen selbst echte Einsiditigkeit" hätten, obwohl eine solche „Logik" doch angesichts der Begründung aus einem existierenden Grund nachfolgend ist. Wäre diese Einsichtigkeit dann 11

12 1S

C R D 170: „En un mot l'intelligibilité du négatif comme structure de l'être ne peut apparaître qu'en liaison avec un processus de totalisation en cours; la négation se définit comme force opposée à partir d'une force première d'intégration et par rapport à la totalité future comme destin ou comme fin du mouvement totalisateur". C R D 170. C R D 171.

Die Praxis

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dodi a u t o n o m einsichtig, oder handelt es sich bei einer solchen Schematisierung, wie Sartre sie ja selbst nach dem Obigen anwendet, eher um eine Abstraktion v o m konkreten Bedürfnis u n d v o m konkreten H a n d e l n ? Sartres Darstellung k a n n anscheinend das G a n z e — das Bedürfnis u n d eine finale Beziehung zu einem neuen G a n z e n — als explikabel in Anspruch nehmen, ohne ein „idealistisches" System voraussetzen zu müssen, nach dem es gedacht würde. Wie steht es mit dieser Abstraktion an ihr selbst? D e r Sthlüsselbegriff der Totalisierung ist nicht ein voraussetzungsloser u n d letzter Begriff, vielmehr hat er logische Fundamente, u n d Sartres These von der Einsichtigkeit der abstrakten Reduktion einer konkreten Praxis scheint unbegründet. Diese Abstraktion fällt nicht eo ipso zusammen mit dem logischen F u n d a m e n t . Der Begriff der Totalisierung ist v e r w u r z e l t im Begriff des Fürsichseins, u n d konkreter in einer Konzeption, in der Fürsichsein u n d Äußerlichkeit in Einheit gedacht sind (Hegels Begriff des „Begriffs" u n d des „Geistes"). W i r d diese Konzeption kategorial entfaltet, so läßt sich auch die A r t von Bewegung u n d Ganzheit verstehen, die in der Praxis vorliegt. Fragt m a n dagegen bei Sartre: ist das G a n z e als U r s p r u n g u n d Ziel der Totalisierung ein Subjektives? oder ein Objektives? oder beides „dialektisch" vereinigt? so ist man um eine A n t w o r t verlegen. Sartres K o n z e p t i o n will dem zweifachen Gegensatz gerecht werden, in dem das Subjekt steht, nämlich zu ύώ selbst und zur Natur als koordiniertem Seienden. Das Leben in der Hegeischen Realphilosophie ist das passende P a r a d i g m a . W ä h r e n d nun f ü r Hegel das Leben v o m Geist her als vorerst relative Einheit mit dem Oppositum „ N a t u r " u n d also als subjektive T o t a l i t ä t begreiflich ist, w i r d bei Sartre in eigentümlicher Abstraktheit unter V e r k ü r z u n g der Einsichtigkeit Hegelscher Prägung beides, N a t u r u n d Subjektivität, als Ganzes und Unganzes in eins gedacht. Die konkreten Leistungen des Organismus sollen in dieser Fassung beschlossen sein: so ist mit der Begegnung von Mensch bzw. Organismus u n d N a t u r unmittelbar eine Bewandtnisordnung der N a t u r gesetzt, der Bezug schafft ein passives „Bild" des Zieles des bedürftigen Subjekts in der Materie (entsprechend der N e g a t i o n als Transzendenzbeziehung in EN) 1 4 , eine passive Totalität. Aber wieso ist N e g a t i o n Partikularisierung? Wieso f ü h r t Partikularisierung zu einem neuen Ganzen? Die logischen H i n t e r g r ü n d e hierf ü r sind verdeckt. In der Abstraktion z u m Schema als einer „Logik der Totalisierungen" 15 ist die Bewegung zur neuen T o t a l i t ä t u n d die Negation als Verhältnis der T o t a l i t ä t zu sich selbst und z u m Oppositum, und somit auch als Bestimmung, nicht autonom einsichtig. Das Verhältnis von Inhalt und formaler Abstraktheit ist nicht unähnlich dem in E N , w o die phäno-

14 15

Cf. EN 229 f. CRD 171.

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Die Prinzipien

menologische Analyse des Bewußtseins und seiner intentionalen Gegenstände trotz des Vorrangs der abstrakten Ontologie maßgebend blieb. Die Dialektisierung war dort nodi ärmer, handelte es sidi doch um eine Dialektik der „immanenten" Strukturen als purer Entfaltung des Fürsichseins im Dasein. Hier in CRD ist jetzt eine Dialektik behauptet zwischen dem Subjekt und inhaltlidi Bestimmten, aber dem Subjekt gegenüber Fremdem, der Natur (auch ihm selbst als Natur), deren Zusammenhang mit dem Subjekt im Bedürfnis nicht dialektisch eingesehen ist, sondern nur etwas anthropologisch Bekanntes ausdrückt. Mit der bisher exponierten Dialektik ist erst eine grundsätzliche unruhige Einheit beider Seiender, des Subjekts und der Natur, aufgestellt, ähnlich dem Transzendenzbezug in EN. Sartre meint nun weiter, daß die passive Totalität, die die Materie für den Menschen bietet, sich näher bestimmt unter der direkten Einwirkung des Menschen oder auf Grund der Gesetze der Äußerlichkeit". Die Korrespondenz von Subjekt und äußerer, passiver Totalität wird durch die Zweckbeziehung — die eine zweite Negation involviert, als gleichsam explizitere Fassung des ursprünglichen Bezuges17 — bestimmt und dynamisch überschritten. Hier tritt nun die der Totalität entgegengesetzte Rolle des schon Partikulären hervor: sei es, daß der Mensch die passive Totalität bestimmt durch den Gebraudi eines Details als Mittel — der Mensch bestimmt in seiner Welt „Bereiche", privilegierte Objekte 18 —, sei es durch die Eigengesetzlichkeit des pluralen Details innerhalb der passiven Totalität. Die Praxis, die sidi jetzt nach ihrem eigentlichen Begriff nahelegt, wird, ohne daß ein dialektischer oder logischer Schritt vollzogen würde 19 , bestimmter, beschränkter angesetzt, und das heißt doch wohl, wird selbst äußerlich. Es ist eine engere partielle Ganzheit in der Natur, auf die die Praxis sidi jetzt bezieht. Damit hat die Materie eine innere Scheidung erfahren; Negation ist ihr eingebildet. Der Mensch setzt das Ganze und die Zerreißung des Ganzen in ein partielles Ganzes und das Übrige, das damit audi Bestimmung erhalten hat. Damit will Sartre ein Schema für die Arbeit gewonnen haben. Die Arbeit schafft einmal ein Milieu, eine ganzheitliche Umgebung, in der sie sich abspielt, dann aber bedeutet sie Negation, Ausgrenzung eines Detailbereichs, der sich vom Ganzen in der Äußerlichkeit immer mehr trennt und verselbständigt, wobei die Praxis sidi auch besdiränken lassen muß, d. h. ihrerseits dem Gesetz der Äußerlichkeit und Trennung unterliegt. Das Ziel der Arbeit ist dann allerdings die Zurückführung des geschaffenen Objekts ins Innere des Ganzen, zusammen mit den anderen ausgegrenzten Sektoren

' · C R D 172. " Cf. E N 231 f. 18 C R D 173. w Cf. demgegenüber Hegels Ausführungen über Mittel und Zweck Enzyklopädie §§ 206-11; 359-60.

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unter einem neuen Gesichtspunkt der Ganzheit. Diese Rückführung ist eine Negation der Negation, d. h. Negation des Bestimmten und insofern NichtGanzen, die nach dem abstrakten Schema nicht als Schritt von der einfachen, ersten Negation unterschieden werden kann. Die Negation der Negation wäre nun nur wieder unbestimmt, es sei denn eben, sie findet im Rahmen einer Totalität statt, in der die partielle Totalität das Ganze mitbestimmt, so daß sie nicht bloße Rückkehr zum Ausgangspunkt, erneute Unbestimmtheit ist, sondern Wendung zu einem totalisierenden neuen Ziel, das die überschrittene Totalität neu organisiert. Das neue Ziel trägt dem schon Besonderten Rechnung, schafft eine Einheit in der Differenzierung. Sartre folgt also dem Hegeischen Gedanken der Einheit nach Besonderung als höherer, nächster Einheit. Es ergibt sich ein neuer Typ der Integration des Pluralen. Es geht nicht nur um ein wieder undifferenziertes Feld, sondern darum, im pluralen Feld materiale Elemente zu finden, die die organische Einheit wiederherzustellen erlauben, die es potentiell enthält. Sartre schließt also, die Arbeit sei „völlig dialektisch". Sie ist ein Konflikt zwischen dem Bezug der Innerlichkeit, der den Organismus mit der Umgebung einigt, und der Ordnung der Äußerlichkeit. Der Organismus macht sich selbst „inert" 20 . Er hat aber ein Ziel, das ihn wiederherstellen soll, d. h. aus der Verschränkung mit der Äußerlichkeit befreien soll. Dies letztere Moment, die Rückkehr, ist allerdings eher ein schlecht-unendlicher Progreß einer „totalisation en cours" oder eines „processus totalisateur", denn sie gelangt ja nur zu einer neuen passiven Totalität in der Materie. Es müssen hier jedoch „fonction" und „action" unterschieden werden. Die Funktion wäre repetitiv, die Aktion dagegen irgendwie qualitativ aufsteigend oder absteigend: vielleicht, daß sie an einem neuen „Niveau" des Lebens arbeitet, vielleicht, daß sie sich selbst immer tiefer verstrickt, bis zur Veräußerlichung des Menschen zur Maschine der Maschine (wozu Sartre dann allerdings die Gesetzmäßigkeit des Weges dahin erst aufzeigen muß). Der Zweck ist endlicher Zweck, aber dodi auch prinzipieller, qualitativer Zweck der Praxis. Die geschilderte Dialektik ist für Sartre die „Logik der Arbeit"". Dialektik ist für ihn nichts anderes als Logik der Arbeit, soweit Arbeit nicht den defizienten Modus völliger Entfremdung angenommen hat 22 . Die Dialektik ist eine verstehende: sie ist nicht in dem Sinn materialistisch, daß sie das Auftreten von Organischem auf Grund von Unorganischem dialektisch begreifen will. (Sartre hält es allerdings für denkbar, daß die Naturwissenschaft einmal eine Erklärung für die Beziehung zwischen Anorganischem und Organischem herausfinden könnte.23) Sah Sartre in EN einen obersten ontologischen HiaS. unten 100. C R D 174. 2 2 Der Begriff „Arbeit" (travail) wird später pejorativ verwendet. Cf. etwa C R D 256, 270. « C R D 175. 20

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tus von Sein und Fürsichsein, so daß die Existenz von Subjektivem nur durch den „ontologischen Akt", als „surgissement", gedacht werden konnte, so heißt es jetzt: wenn Subjektives, wenn Organisches existiert, dann ist die Dialektik der Typ ihrer Einsichtigkeit. Die regional-ontologische Inhaltlichkeit des Organischen ist dabei dann eine vorgefundene, nicht transzendental in ein kategoriales System eingestellte. Sartres Dialektik hat in der Praxis als Prinzip der Einsichtigkeit die Möglichkeit, das, was beim Engels'schen Materialismus irrationales Gesetz irt, etwa ein Gesetz wie das der Durchdringung der Gegensätze, verständlich zu machen24, so wenig auch die Berufung auf die Einsichtigkeit des abstrakten Schemas überzeugt. Die Rationalität und Einsichtigkeit des Fundaments der Dialektik, eben des Subjekts als Praxis, bleibt, wie wir schon nach Früherem wissen, für eine transzendental-kritische Betrachtung prekär. Die dialektische Analyse ist nachfolgend, formuliert eine „praktische Intuition", hat nicht aus einer eignen, autonomen Quelle Notwendigkeit. Die Rationalität ist eine, für die die Angemessenheit der Formulierung in einer Dialektik in Frage steht; nicht das Denken ist Grund der Rationalität, sondern die Praxis, der sich die denkende Reflexion nur anmißt. Insofern wäre die Dialektik der Praxis oder der Arbeit nicht nur nicht apodiktisch — so lange die Intuition und ihre Formulierung geschichtlich mitbestimmt ist —, sondern nicht einmal im strengen Sinn einsichtig; die Praxis definiert vielmehr, was als einsichtig gelten kann. Die dialektische Formulierung dieses Grundes der Einsichtigkeit ist nicht selbst zwingend, denn das hieße ja, sie nach einer Einsiditigkeit des Denkens und der logos-immanenten Begründung zu beurteilen. Im Denken hat das, was für Sartre Fundament der Rationalität ist, nodi eine Genealogie, eine Herleitung und Einsichtigmachung; für Sartre ist dagegen das Denken nachfolgender Ausdrude für die Praxis als Grund. Dennoch scheint die Formulierung der Dialektik der Praxis orientiert an einer durch das Denken gerechtfertigten und in ein Realverständnis versetzten Dialektik. Sie steht so vor uns als bloß übernommen und nicht als tragend. Wir müssen mit der geforderten Toleranz hinsiditlidi der lockereren Gedankenführung an die weiteren Schritte herangehen. Bemerken wir nur abschließend, daß für ein monographisches Verständnis der Arbeit, also der Praxis in der Konkretion der Arbeit, Sartres Analyse doch sehr abstrakt bleibt. Es kann hier auf dieser Stufe seiner Analyse nicht unterschieden werden zwisdien einer Mittel-Zweck-Beziehung im allgemeinen und eigentlicher Arbeit in einer Gesellschaft, in der es ja erst soetwas gibt. Es geht ihm um eine „Logik der Arbeit", oder um einen Prinzipbegriff, der, wie wir gesehen haben, immerhin eine größere Spannweite hat als der Subjektbegriff in EN. Die konkrete Situation der Praxis als Arbeit setzt aber weitere Stufen, z. B. die Erschließung von Pluralität, voraus, und so bleibt 24

C R D 175 f.

Reziprozität

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die Praxis als Einzelpraxis hier ein Kompromiß zwischen Konkretion und abstrakter Prinzipiendeutung. Dies ist ein der transzendental-ontologischen Darstellung und Begründung eigentümliches Problem: insofern ein Seiendes im sozialen Raum Thema ist, müßte die Konkretion des übrigen Seienden, das es als Individuum bestimmt, miterfaßt sein; demgegenüber ist es zwar Grund, aber doch nur eine Abstraktion, ein für sich genommen Unselbständiges, das zur Konkretion weiterer Sdiritte bedarf. Wir kommen auf dies prinzipielle Problem zurück. Die transzendentale Stilisierung gibt aber doch einiges Differente, ein bestimmtes Verständnis von Praxis und, spezifischer, von Arbeit her. Sartre ist nicht entscheidend an der These der Wiedererkennung im Gegenstand, an der Vergegenständlichung im frühmarxschen und Hegeischen Sinn orientiert, obwohl er das mitmeint (s. den späteren Abschnitt über die „träge Materie"), sondern am Bedürfnis, an der Abstellung eines Mangels, am Muß, das durch das Bedürfnis gesetzt ist (s. den späteren Abschnitt über die „Knappheit"). Eine so verstandene Praxis ist aber kontinuierlich zu denken mit Sartres Freiheitsbegriff, den er audi in C R D nicht aufgibt. Die Freiheit wird den neuen negativischen Aspekt einer Bindung an das Materielle auch auf höheren Stufen sozialer Gebilde behalten, oder anders ausgedrückt, Sartre wird sie nur innerhalb des Arbeitslebens in ihrer Freiheit oder Unfreiheit behandeln, wozu später, in nicht-entfremdeten Gebilden jedoch auch die Herrschaft als Weise der Freiheit treten wird.

2.

Reziprozität

Wir haben eine erste thematische Struktur, die Praxis als Einzelpraxis, kennengelernt. Sie ist nicht nur Prinzip, sondern es »gibt" sie, wenn sie auch in der Schilderung abstrakt geblieben war in dem Sinne, daß es immer eine Situation gibt, ohne die sie nicht „ist". Für die Einzelpraxis als monographisches, deskriptives, anthropologisches Thema griff Sartre zurück auf den Organismus und das Leben, und entwickelte aus dieser Verstrickung des Organischen mit dem äußerlichen Anorganischen die Grundstruktur einer Dialektik der Praxis, die für ihn einer „Logik der Arbeit" gleichkommt. Wir müssen die regional-ontologische Sphäre des Organismus als Vorbild für die Arbeit nicht in dem Sinne für verbindlich halten, daß alle weitere Entwicklung der Sozialität von der Praxis her auf diese Sinngebung bezogen bleibt. Die Dialektik ist nicht eine der Natur, sondern des Menschen. Es ist jetzt Sartres Aufgabe, auf der Ebene der menschlichen Praxis menschliche Sozialität zu entwickeln, sie in Schritten von ihrem Grund, der Praxis, aus zu entfalten. Wir haben dabei jeweils das doppelte Interesse Sartres zu beachten, einerseits die monographische, deskriptive Analyse der Situation des Menschen mit anderen Menschen, andrerseits die Genealogie des Verstehens, wobei keine strenge Deduktion, sondern, wie schon gesagt, nur eine lockerere

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Gedankenführung zu erwarten ist. Im Sinne einer transzendentalen Genealogie muß in der Beziehung des Menschen zu Andern eine auf die Praxis folgende zweite systematische Stufe angesetzt werden; es ist die Stufe der Wechselseitigkeit oder Reziprozität2S. D a m i t meint Sartre, wie wir schoñ aus E N wissen, das Verhältnis eines Menschen zu einem Anderen, das gleichzeitig ein Verhältnis dieses Andern zu ihm ist. Es handelt sich also um eine Beziehung zueinander, die nicht eigentlich Einheit, Ganzheit oder Totalisierung auf dem Wege zu einer Ganzheit ist, denn sie hat und behält zwei Zentren. Sie ist eine Struktur, die es „gibt", wie die Einzelpraxis, aber schon einer Verständlichmachung bedarf, und von der aus höhere und komplizierter strukturierte Sozialgebilde verständlich werden sollen. Die systematische Dignität dieser Stufe leuchtet ein, wenn wir bedenken, daß jede begründende, transzendentale Sozialphilosophie von ihrem Grund aus die Brücke zum Andern schlagen muß. Sartre kann, wie er es auch in E N tut, die kontingente Existenz Anderer ansetzen, ohne sie ableiten zu müssen 26 . Damit ist auch ein Bezug anzusetzen (im „Blick", in Weisen der Implikation), wenn auch schon auf das theoretische Problem hinzuweisen war, das hierin liegt". In C R D tritt nun die Reziprozitätsstruktur mit neuer Akzentuierung auf. Akzentuiert wird jetzt die Gemeinsamkeit. Ich und der Andere stehen sich — wie nach Früherem selbstverständlich ist — nicht wie Atome gegenüber, etwa im Sinne einer liberalistischen Wirtschaftsauffassung, wie sie auch Hegel am Anfang des „Systems der Bedürfnisse" in der Rechtsphilosophie beschwört, und erst recht nicht sind sie isolierte Objekte f ü r eine von außen sie modulierende Gesetzlichkeit im Sinne des Materialismus, sondern sie sind Gemeinsamkeit mit zwei Zentren. Wir kennen nun aber die These zur Reziprozität aus E N : ich madie den Andern zum Objekt und er mich, jeder ordnet den Andern in seine Möglichkeitsbezüge ein. Die Gemeinsamkeit ist wechselseitige Eingemeindung, je intentionale Einheit, die gerade, weil sie von zwei Zentren aus urgiert wird, nicht ontologische Einheit wird. Im Gegenteil, es handelt sich um einen Antagonismus. Eine gelingende Einheit, ein „Wir-Subjekt", ist wegen der Polyzentrizität oder, zunächst, Dualität der Subjekte nicht möglich. Sartre hatte diese lapidare These in E N allerdings schon erweitert zur Lehre von einer Gemeinschaft f ü r einen Dritten, so daß die beiden, die 25

24 27

D a der Begriff „réciprocité" in C R D stärker terminologisch ist (als Ausdruck für eine soziale Beziehung neben anderen) bevorzugen wir hier den Ausdruck „Reziprozität" statt „Wechselseitigkeit" (s. oben 28). — Sdion Simmel stellt die „Zweierverbindung", und zwar als eine, auf die sich die objektiven Gebilde aufbauen, in seiner Soziologie heraus (Soziologie, Leipzig 1908, 76, 80-93). Hinweis auf die Vorläuferschaft Simmeis (und auch Vierkandts) bei Theunissen, Der Andere 6. Fidite in der „Grundlage des Naturrechts", § 3, stellt sich genau diese Aufgabe. S. oben 28 f., und „Grundzüge . . . " 111.

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sonst eine alternierende Reziprozität bilden, ein „Wir-Objekt" darstellen. Es ist klar, daß eine Philosophie, die „Sozial"-Philosophie sein soll, nun entweder von Sozialität nur als entfremdeter sprechen könnte, im Sinne eines von einem Dritten induzierten Selbstverständnisses als Objekt, oder von Gemeinsamkeit als Antagonismus, es sei denn, sie kann über den A u f weis dieser beiden Strukturen hinausgehen. In C R D zeigt sich nun einerseits ein Festhalten an dieser Position von EN* 8 , andrerseits eine Weiterentwicklung. So ist bedeutsam die Betonung der materiellen Nähe als Gemeinsamkeit des Ortes 8 *, also eine Beziehung der Äußerlichkeit als antagonistischen und verbindenden Moments 30 , was in E N nicht im Blick war 31 , aber jetzt ein wesentliches Moment der Reziprozitätsstruktur ist 32 . Der Gedanke des Andern als apriorischen Gegenpols tritt zurück zugunsten eines Realverständnisses einzelner erscheinender Andrer. Mit der Position von E N schon angebahnt ist der Gedanke, daß ein Dritter eine Konjunktion zwischen Menschen schaffen kann; er erhält jetzt aber einen anderen Akzent. Die These ist jetzt die, d a ß der Dritte instrumental ist f ü r Reziprozität. Die Gemeinsamkeit kann danach ein „Wir-Objekt" sein, eine Gemeinsamkeit des Objekt-Seins f ü r einen Dritten, aber gemeint ist jetzt auch, daß sich aus einem solchen prinzipiellen Dreier-Verhältnis ein Zweier-Verhältnis als Gemeinsamkeit herstellt. N u n ist es ja klar, daß Menschen sich nicht immer in Gegenwart eines Dritten begegnen, und so sagt Sartre, daß Reziprozität als eine „objektive und diffuse Möglichkeit" erlebt werde 33 ; jeder beliebige kann Dritter sein f ü r beliebige Gruppierungen. Ist der Dritte als solcher „Horizont" dann nicht aber überflüssig? Seine strukturelle Rolle bei der Reziprozität muß allererst aufgezeigt werden. Einerseits ist die Reziprozität ohne einen Dritten darstellbar, wenn auch mit dem Vorbehalt, daß sie zu einem synthetischen Gesamt gehört, in das der Dritte einbezogen ist. Auch wenn ein Dritter eine katalysatorische Funktion f ü r die Reziprozität hat, gibt diese sich so, als hätte sie schon vorher bestanden 34 . Der Dritte „entdeckt" sie für sie selbst 35 , während 28 2S 30 31

32 33

34 35

z . B . C R D 186. C R D 186: „même résidence materielle". C R D 198. Sartre spricht von „dispersion" und „adhérence". Hier war ja ein gleitender Übergang vom erscheinenden zu nur vermeinten oder vorzustellenden Anderen angesetzt. Vgl. oben 27. Cf. C R D 186. C R D 188. Was in E N vom Andern galt, gilt in C R D vom Dritten, daß er notwendig-faktischer Horizont ist. — Schon bei Simmel ist die Rolle des Dritten im Verhältnis zu einer Zweierverbindung im Blidc (Soziologie 93-126). Hinweis darauf bei Theunissen, Der Andere 220, ebenso auf Litt, Individuum und Gemeinschaft, 2. Aufl. Berlin 1924, 111-114. C R D 189. C R D 195, 187.

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sie andrerseits, als Zweier-Formation, jeder Dreier-Formation vorangeht 3 '. Inhaltlich unterscheidet Sartre jetzt positive und negative Reziprozität. Positive Reziprozität ist charakterisiert durch gegenseitige Leistung, Austausch, gegebenenfalls ein gemeinsames Ziel", gegenseitige Anerkennung. Spätere Stellen, in denen die Entfremdung Thema ist, zeigen rückblickend, daß Reziprozität überhaupt als wesentlich positive Beziehung verstanden wird, in der die Person geachtet ist38. Das zeigt sich darin, daß es auf der Stufe der Reziprozität zwischen Menschen keine Forderung, keinen Imperativ gibt", und also keine Uber- und Unterordnung. Zur negativen Form der Reziprozität gehören Kampf, Betrug usw.40, aber auch hier ist nicht der Antagonismus von E N wieder aufgenommen, vielmehr ist audi negative Reziprozität ein Modus eines prinzipiell Positiven. Umgekehrt handelt es sich auch im positiven Fall nicht um ein Wir-Subjekt. Es gibt zwar Solidarität*1, aber es bleibt eine Pluralität der subjektiven Zentren. Andrerseits soll nun doch der Dritte maßgebend sein. Es kommt dabei nicht darauf an, daß er ein beobachtendes Subjekt ist42. Ein ethnologisches Beispiel ist das vom Gastgeschenk, das fremde Stammesangehörige bringen, um nicht feindlich empfangen zu werden, wobei der Dritte die Instanz wäre, die den gehörigen Wert des Geschenks beglaubigt43. Durch den Dritten sind sich die beiden Seiten eines reziproken Verhältnisses eben erst als reziprok entdeckt. Die Dreier-Relation ist die „reale" (konkrete) Beziehung der Menschen untereinander 44 ; die Menschen stehen immer in einer Gesellschaft, in der es Dritte gibt, für die sie sind. Vermittelt durch den Dritten schließen sich die reziproken Glieder für sich ab, sind nunmehr für sich gegen den Dritten. Eine „Quasi-Totalität" ist dennoch Voraussetzung für die Reziprozität. Und sahen wir diese immer schon gewährleistet durch ein beliebiges Außenverhältnis, beliebige Dritte, so erweitert Sartre den Gedanken, wenn er eine solche Quasi-Totalität mit der Materie in Beziehung setzt. Auch das Verhältnis zur Materie ist ein solches Außenverhältnis, das bloße Person-Person-Verhältnis von EN ist um eine Dimension erweitert. Es kann sich etwa um eine Situation handeln, hinter der, bei Hinzunahme größerer Konkretion, Dritte stehen, etwa das gemeinschaftliche oder aufeinander abgestimmte Arbeiten mit einem Werkzeug, hinter dem Hersteller, Besitzer, Arbeitgeber usw. stehen. Mit dem für das ganze Werk typischen Akzent 36

C R D 189. CRD 207. 38 Cf. etwa C R D 207, 253. »» ebda. 40 C R D 192. 41 C R D 194. 42 C R D 182 fi. mit dem Beispiel vom bourgeoisen Sommerfrischler, der zwei Arbeiter beobachtet. 43 C R D 187 f. 44 C R D 189. — Cf. Theunissen, Der Andere 234 ff. 37

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auf der Praxis als Arbeit spricht Sartre von einer Quasi-Totalität, die die Materie als Gegenstand der Arbeit (matière ouvrée) darstellt 45 . Die Arbeit der gegenseitig Verbundenen ist „eingeschrieben" in die Materie, ihre Einheit ist eine der Materie. Aber damit ist nur wiederum ein Außenverhältnis wie das eines personalen Dritten zur Reziprozität behauptet. Die Materie stellt Forderungen und Aufgaben, an ihr selbst und auf Grund von zu unterstellenden Dritten, die dann vermittelt durch die Gegenstände eine Forderung, einen Imperativ, an die Einzelnen in Reziprozität stellen 4 '. Dieser Imperativ als Zwang ist so nur eine Vorwegnahme von konkreteren sozialen Verhältnissen: der Dritte erscheint als Instanz des Zwanges — etwa im Beispiel vom Zeitnehmer in der Fabrik 4 '; er ist Exponent des ganzen entfremdenden sozialen Systems. Die beiden, prinzipiell genommen, die die reziproke Gemeinschaft bilden, unterwerfen sich — ebenfalls in Vorwegnahme konkreterer Entfremdungsverhältnisse —, dem Imperativ; das Ziel, durch den Dritten bekräftigt, verwandelt das Paar in eine konjugierte Struktur, sie arbeiten gemeinsam. Die beiden Personen verinnerlichen den Imperativ und sind so der Urtyp einer Struktur, die Sartre „Gruppe" nennt. Sartre relativiert schließlich das Verhältnis von Drittem und Paar — das ja nicht reziprok ist, wie das innerhalb des Paares, sondern eine Objektivierung des Paares durch den Dritten darstellt: die jeweilige Vorherrschaft des Dritten ist kontingent; es kann auch ein Sich-Abwechseln geben48, eine Kommutativität innerhalb der Dreierstruktur (trinité). In diesem Verhältnis kommt es aber zu keiner Totalisierung als höherem Einheitstyp, wie er etwa für gemeinschaftliche Aktion erforderlich wäre; es gibt nur ein Gewebe von Reziprozitäten, die „rotieren" können. Hier ist der systematische Ort für Privatbeziehungen. Die Gesellschaft als Inbegriff dieser Beziehungen erscheint als „substance gélatineuse", ohne daß es eine übergreifende Totalisierung gäbe. Sie ist gleichzeitig lebendiges Milieu, das uns mit allen verbindet, und mechanische Indifferenz, die uns von allen trennt, wenn die Arbeit (sie) getan ist4*. Sartre meint daher, wenn es eine weitere Integration geben soll, so könne sie nicht von der Vielheit der Zentren ausgehen, sondern von der Materie. Daher muß die Dialektik den Weg über die Entfremdung gehen. Die geschilderte Stufe der Reziprozität ist im Vergleich zur Praxis schon eine komplizierte Struktur und gibt manche Probleme auf, die wir noch einmal zusammenfassend unter transzendentalem Gesichtspunkt diskutieren müssen. Als Struktur der gegenseitigen Anerkennung ist sie, nach Sartres 45

CRD « CRD 47 CRD 48 CRD 4 » CRD 4

191. 193. 195 f. 197. 198 f.

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Position in EN, eine Quadratur des Zirkels. Menschen sollen als auf einander bezogen und dodi selbständig verstanden werden. Sie sind als selbständige in der Reziprozität gar nicht interdependent — das könnten sie nur sein, wenn in der Reziprozität eine über die Selbständigkeit als Person hinausreichende Einheit, eine kategoriale Einheit behauptet wäre, der gegenüber sie „Momente" sind. Wir hätten dann eine Hegeische Situation, wo eine Beziehung von Personen zur Konstitutierung einer neuen kategorialen Charakteristik führt: Herr und Knecht werden Selbstbewußtsein, und qua Selbstbewußtsein ist die Beziehung der einen Person zur anderen Person, die ihrerseits Selbstbewußtsein gewinnt, konstitutiv. Eine solche Gegenseitigkeit, die durch einen den Einzelnen dadurch zuwachsenden Gehalt zu kennzeichnen wäre, gibt es bei Sartre nicht. Es ist eine unmittelbare Beziehung50. Die Beziehung ist ein Bezug der Innerlichkeit, der Einzelne verinnerlidit seine Beziehung zum Andern 51 , aber mehr als eine solche formale Aussage läßt sich nicht machen. Es gibt keinen apriorischen Inhalt für diese Beziehung, sondern nur eine Reihe von möglichen, dadurdi faßbaren Inhalten wie Kampf, Anerkennung usw. In ihrer Formalität ist die Beziehung irreduzibel, nicht weiter einsichtig zu machen, da ja gezeigt werden müßte, wie der Einzelne den Anderen unter Beibehaltung seiner eignen Subjektivität anerkennt, und angesichts einer solchen Konfrontation von absoluten existierenden Prinzipien hatte EN ja den universalen Antagonismus behauptet. Hinzutritt, wie wir gesehen haben, ein weiterer Gedanke, die Rolle des Dritten für die Reziprozität. Dies Motiv ist, wenn man von den konkreten Beispielssphären zurückgeht auf das Prinzipielle, festgemacht an dem Gedanken, daß der Dritte durch seine Objektivierung die einzelnen in Reziprozität Stehenden zu einer Einheit als Objekt, also zu einer „Einheit des Seins" im Sinne von Objekt-Sein, macht. Dies ist der in EN schon behandelte Fall des „Wir-Objekts". Die fremdvermittelte Einheit wird verinnerlicht, der Einzelne bezieht sie auf sich. Es kann sogar zu einer „falschen Totalität" kommen, die die Selbständigkeit der auf einander Bezogenen zerstört 52 . Eigentlich erreichen die Einzelnen, als reziprok zueinander und Objekte für den Dritten, dadurch zwar Homogeneität, aber nicht Reziprozität. Diese involviert anscheinend eine gleichzeitige Denaturierung der Beziehung als einer Beziehung zwischen Subjekten, wodurch sie in dem entsprechenden Maße gerade wieder unmöglich wird. Die Struktur hat eine „Unruhe" (inquiétude). 50

CRD 189: „La formation binaire, comme relation immédiate d'homme à homme . . 51 CRD 186: „ . . . mais cette pluralité d'extériorité est intériorisée en ce sens qu'elle qualifie en intériorité chaque processus dialectique .. " CRD 194.

Reziprozität

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Sartre geht dem Konflikt von Subjektivitätsverhältnis in der Anerkennung und entfremdetem Verhältnis von Subjektivitäten als Objekten für einen Dritten einmal dadurch aus dem Wege, daß er die Rolle des Dritten für katalysatorisch hält. Die durdi den Dritten entdeckte Beziehung der Einzelnen zu einander schließt sich gegen ihn ab, ihre Solidarität bedarf seiner nicht. Aber damit wäre wiederum die unmittelbare innerliche Beziehung unverstanden. In einer davon unterschiedenen Gedankenkette tritt die Materie als Gegenstand der Arbeit in den Vordergrund. In einem Vorgriff auf konkretere Verhältnisse erscheint sie als Forderung, der Dritte zu unterstellen sind, und von hier aus wird Reziprozität zur Gemeinsamkeit der Arbeit; die Einzelnen werden zur équipe, zum Prototyp der Gruppe 11 . Hinzutritt der Gedanke der gemeinschaftlichen Objektivation, als QuasiTotalität, in der Materie. Die letztere Fassung der Reziprozität mit ihrem Gewinn an Verständlichkeit ist schon spürbar der betreffenden Beispielsphäre verpflichtet, nämlich der einer Arbeitswelt, in der es Zwang gibt, Zwang Werkzeuge richtig zu behandeln, Zwang, Arbeit zu leisten usw. Sind diese Umstände für eine Fundamentalanalyse Voraussetzung, obwohl sie dodi im Sinne der Genealogie später entwickelt werden, oder haben wir einen zentralen Gehalt der Reziprozität herauszuschälen? Wäre dann die Reziprozität nodi einsichtig? Diese Frage ist bedeutsam, da die Struktur der Reziprozität, als Prinzip für menschliche Pluralität, Grundlage ist für alles Weitere54, wenn sie audi noch nicht das letzte zu exponierende Prinzip ist und auch die Materie eine Prinzipienfunktion angewiesen bekommt. Es ist für die philosophische Bemühung Sartres entscheidend, ob diese wichtige Stufe ihrerseits begründet erscheint, andrerseits als Begründung für weitere, kompliziertere Formen der Sozialität bestehen kann. Die Stufe der Reziprozität ist nicht aus dem Subjektprinzip „abgeleitet", sondern ist eignes Prinzip, Prinzip der Kontigenz der Pluralität von Subjekten. In ihr verschränken sich also Subjektprinzip und Pluralität. In formaler Abstraktion ist hierüber keine Aussage zu machen. Das Novum der Reziprozität als Dreierstruktur müßte in einer „Logik" eingesehen werden können, ähnlich wie Sartre selbst für die Einzelpraxis von einer I.ogik spricht, die aber auf eine Intuition eben dieser Praxis gestützt wurde. In gewisser Weise hatte EN eine „Logik" der Paare gegeben, die je vom Einzelnen orientiert, polarisiert zu denken war; hier in CRD versucht Sartre aber gerade über die alternativen Perspektiven dieser „Logik" hinauszukommen 55 . In einem Sinn von Reziprozität, dem des losen Zusammenhangs der Gesellschaft und beliebiger Gruppierungen (adhérence indéfinie), ist der Gedanke, daß einander konfrontierende Subjekte nicht nur aus55

54 55

Zum Begriff der équipe cf. E N 303, 495-502; sie ist dort psychische, nicht ontologische Einheit von Subjekten (496). — Forderung: „exigence". Cf. C R D 179, 182, 186, 198. Cf. „Dualität" oben 56 und unten 85, 125.

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schließend zu einander stehen; sie sind nicht absolute Orientierungszentren, sondern haben eine gemeinsame Ebene, auf der sie sich anerkennen oder stören können. Sartre zeigt das durch den Gedanken der Überformung der Subjekte durch ein Objekt-Sein von der Hand eines Dritten, das verinnerlicht wird. Irgendwie ist das „Vorschweben" (hanter)5® dieser fremdvermittelten Einheit menschlich plausibel, wenn auch die „Logik" dieser Verinnerlichung (neben der unmittelbaren Verinnerlidiung des Andern) problematisch bleibt. In einer weiteren Fassung, bei der die Materie als konstitutives Moment eintritt, wird die Reziprozität zwar mit ihrem Verhältnis zum Dritten kontinuierlidi gedacht — die Materie ist audi ein Außenverhältnis —, gleichzeitig tritt jedoch der Gedanke der Forderung der Materie und des dahinter stehenden Dritten hinzu. Diese Deutung ist, wie wir gesehen haben, ein Vorausgreifen auf den Sinngehalt späterer, konkreterer Stufen; sie ist wiederum menschlich plausibel, und wir werden später die dann hinzutretende theoretische Begründung im Prinzip der Materie verfolgen. Von unserem Zusammenhang aus gesehen haben wir es in jedem Fall mit Reziprozität in einem recht andern Sinn zu tun. Man könnte sagen, Sartre möchte zwei verschiedene Dinge unter dem Titel der Reziprozität zeigen: einmal die Gemeinschaft zweier (oder eines pränumerischen Paares)57 und zum andern ihre Entfremdung. Zwischen beiden Momenten wird ein Junktim behauptet. Unter Gemeinschaft wird etwas verstanden, was seinerseits angelegt ist auf (und ermöglicht ist durch) die Beziehung zu einem Dritten, der die Gemeinschaft zu einer homogenen aber entfremdeten macht. Gleichzeitig bietet sich hier die Möglichkeit, die Entfremdungsgeschichte, wie Marx sie schildert, in eine Fundamentalanalyse einzubringen. Diese Konzeption ist komplexer als die einer bloßen Opposition (Reziprozität als Antagonismus) von Subjekten oder als ein bloßes „laterales" Verhältnis von Entfremdeten unter dem Blick des Dritten. Darüber hinaus spielt ein Verhältnis zur Natur hinein. In der Reziprozität als alternierender Wechselseitigkeit in E N bestand ein Konfliktverhältnis, das in der Welt sein Korrelat hat — eine gegenseitige, alternierende Eingemeindung der Gegenstände als Möglichkeitsobjekten oder Mitteln für den Einzelnen. In einer Reziprozität als Konjugation durch den Dritten besteht gegebenenfalls (hier liegt der Vorgriff auf Späteres, wenn dies eine begründete Möglichkeit sein soll) eine Identität des Objekts der Praxeis, die Einzelnen arbeiten am Selben. 56

5 7 Cf. oben 27. Das klingt paradox, wir benötigen aber ein Wort, C R D 194. das zum Ausdruck bringt, daß es Bildungen gibt, bei denen mehr als zwei in Reziprozität stehen können (wobei jeweils für Einen ,der' Andere plural sein kann), ohne daß eine spezifischere soziale Einheit angesetzt werden muß. In C R D ist es nicht nur der pränumerische „Andere", sondern die pränumerische Reziprozität, die einem Andern als pränumerischen Dritten gegenübersteht.

Reziprozität

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Wir sehen den Gegensatz zur Hegeischen Gestalt von Herr und Kneàìt. Audi hier ist neben zwei Personen die Natur oder Materie mitberücksichtigt, aber es ist eine reine Reziprozität, ohne den Dritten. Die Materie spielt hier eine Rolle in der Entfremdung (und Befreiung) des Knechts, während der Herr nur mittelbar auf sie bezogen ist. (Bei Sartre ist der Dritte auf die Arbeitenden unmittelbar, auf deren Ziel nur mittelbar bezogen58.) Die Dialektik zwischen Herr und Knecht, die ein Person-Person-Verhältnis ist, wird durch eine „Sonderdialektik" zwischen Knecht und Materie tangiert, und letztlich in der Identität von Herr und Knecht als Exemplaren des Selbstbewußtseins aufgehoben. Gemeinsam ist, daß die Entfremdung (bei Hegel durch den Herrn, dem auf der Seite des Knechts dessen Vorziehen des Lebens gegenübersteht; bei Sartre durch den Dritten) sich mit Anerkennung vermittelt. Aber die Situation ist bei Hegel keine eigentlich plurale soziale Situation, sondern eine duale™, als Verhältnis eines Menschen zu einem (auf „kategoriale Kongenialität" hin betrachteten) „Dritten" (dem Herrn) ohne einen Zweiten (Kollegen) —, insofern gerade zunächst nicht reziprokes oder nur unvollkommen reziprokes Verhältnis. Sowie es reziprok wird, löst es sich im kategorialen Begriff des Selbstbewußtseins auf. Sartre stellt sich die schwierigere Aufgabe, in der Bezogenheit auf einen Dritten plurale Gebilde, hier zunächst die lapidare Zweier-Reziprozität und die équipe, zu verstehen, also das auch bei Hegel scheinbar vorkommende Verhältnis von Personen als einander konfrontierend oder opponierend als mögliche koordinierte Gemeinsamkeit darzustellen, die aber für ihn letztlich ohne Entfremdung durch einen Dritten nicht denkbar ist. Die schwierigere Aufgabe, in eine Fundamentalanalyse zurückverlegt, eröffnet jedoch den Ausblick auf Übernahme der Marxschen Entfremdungslehre. Es handelt sich um eine grundsätzlich andere und neue dialektische „Gestalt", einen zweiten Prinzipienbegriff (nach dem Urprinzip der Praxis). Sie ist wesentlich bestimmt durch die Berücksichtigung der Pluralität, insofern nicht ihrerseits aus einem letzten Prinzip, dem Subjektprinzip der Praxis, nur hergeleitet. Wir sehen vielmehr eine Irreduzibilität der Gestalt, was sich schon zeigt in der Mehrfältigkeit der Bezüge innerhalb der Struktur: ein Miteinander, ein Miteinander für einen Dritten, eine Beziehung auf die Materie, ein Geeinigtsein in der Materie. Die Gestalt ist reicher als jedes einzelne Verhältnis und somit irreduzibel, eignes Prinzip. Sie ist selbst definiens der Verstehbarkeit, wie im Fall der Praxis, nunmehr der Verstehbarkeit von Pluralität, die ihre eigne Rationalität zusätzlich zur Rationalität der Praxis besitzt. Fragen wir schließlich im Unterschied zur transzendentalen Theorie nach dem differenten monographischen, deskriptiven Gehalt, so ist das Wesent58 5i

C R D 195. Cf. oben 56, 83 und unten 125.

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liehe schon gesagt worden. Das Prinzip der Reziprozität enthält die Paradoxic von pluraler Freiheit in sich und ist somit angelegt auf die Fundierung von Entfremdungsstrukturen, die aus ihm — zusammen mit dem folgenden Prinzip der Materie — verstanden werden. Es braucht kaum noch einmal betont zu werden, daß, wie für die Praxis selbst, so audi hier bei der Reziprozität eine Tendenz besteht, nur von der Perspektive der Arbeit her soziale Gemeinschaft zu sehen. Es bleibt so kein Raum, Reziprozität zu entfalten als mitmensdiliche Beziehungen der Freundschaft, der Familie usw. Die Bestimmung der Gesellschaft — nicht als Gesamtheit der konkreten wirtschaftlichen und arbeitsmäßigen Interdependenzen, sondern als vages Miteinander Gewisser — wird in formaler Abstraktion allerdings gefaßt. Es sind Privatbeziehungen nach getaner Arbeit; Inhalte kategorialer Art werden der Reziprozität nicht zugeordnet. Es ist aber zuzugeben, daß Sartre hier im Negativen die Grenzen dessen aufzeigt, was in einer Transzendentalphilosophie verlangt werden kann. Reziprozitäten, denen nicht ein konstitutiver kategorialer Inhalt für Weiteres unterstellt werden kann — etwa wie bei Hegel der Familie für die Gesellschaft und den Staat —, so z. B. Beziehungen der Freundschaft, des nachbarschaftlichen Nebeneinanders usw., lassen sich nicht „tiefer" verstehen, ihnen kann nur konkret-menschlicher Inhalt zugeordnet werden"0. Damit soll jedoch nicht gesagt sein, daß für den Bereich des Sozialen nur das Arbeitsleben eine transzendentale Durchführung gestattet oder audi nur primär verlangt.

3. Die

Knappheit

Die Reziprozität hat sich uns dargestellt als ein erster Gemeinschaftsbegriff, der aber eine gewisse Vagheit besitzt, auf redit verschiedene soziale Gebilde zutrifft. In ihm als solchem liegt nodi keine Möglichkeit, andere, spezifischere soziale Gruppierungen zu verstehen. Reziprozität besagt ja an ihr selbst, ohne Vorgriff auf konkrete Situationen des Arbeitslebens, beliebige lose Zusammenhänge, die von Dritten zusammenbegriffen werden. Sartre kommt nun auf den Vorgriff zurück und führt jetzt thematisch den Gedanken ein — er wird gleichsam „gesetzt", während er vorher nur miteingeflossen war —, daß menschliche Gemeinschaft nicht nur ein interpersonales Verhältnis ist, sondern durch die umgebende Materie oder Natur bestimmt wird. Und zwar in zweierlei Hinsicht: einmal ist gedacht an die Materie als das, auf das sich Praxis bezieht, zum andern ist gedacht an die Tatsache, daß das zum Leben Notwendige, Materie als Gegenstand des t0

Hier kommen wir an eine Grenze der Transzendentalphilosophie, w o eine Fassung des Sozialen vom Dialogischen her weitere Aufschlüsse, oder doch zumindest eine größere Offenheit für die soziale Wirklichkeit, ermöglicht. Wir verweisen auf Theunissen, Der Andere, Zweiter Teil.

Die Knappheit

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Bedürfnisses, knapp ist. Betrachten wir in der Reihenfolge von C R D zunächst den letzteren Punkt. Die Knappheit ist ein kontingenter Umstand, der für unsere Welt maßgebend ist. Die Praxis als Prinzip für alle sozialen Gebilde soll grundlegend bleiben, und somit müßte es möglich sein, eine Sozialtheorie auf ihr aufzubauen, aber Sartre sieht die Strukturlosigkeit der bisher von der Praxis her erschlossenen Gebilde und sucht in der Knappheit ein universelles Apriori, das weitere Strukturen verstehen läßt. Sie wird als ein Koeffizient verstanden, der alle Praxis in unserer Welt mitbestimmt. Die Darstellung in C R D folgt der so spezifizierten Praxis, wenn Sartre audi in Aussicht stellt, daß sich in der Folge die universellen (gemeint ist: nicht an die Kontingenz der Knappheit geknüpften) Beziehungen von Praxis und Materie herausschälen, werden, gleichsam als reine Theorie gegenüber einer bedingten Theorie' 1 . Dazu wird es jedoch in C R D nicht kommen. Die „reine" Theorie hat denn audi wenig Interesse für Sartre, da seine strukturelle Anthropologie als Fundierung der Geschichte gedadit ist und die Knappheit ihm als eine Bedingung für Geschichte ersdieint; nur in ihrem Rahmen spielt sidi Gesdiidite ab. Jedoch ist sie nicht zureichende Bedingung für Geschichte, denn, wie Sartre sieht, gibt es Gesellschaften, die repetitiv sind, stehen bleiben, obwohl sie unter dem Regime der Knappheit leben' 2 . Knappheit bedeutet, daß es in einer Gesellschaft nicht für alle reicht. Damit ist eine Beziehung zwischen den Menschen einer solchen Gesellschaft, die faktisch abgegrenzt gedadit ist, gestiftet: jeder sieht im Andern einen Rivalen, jeder ist, bezogen auf die Gesamtheit, ein Überzähliger (excédentaire), jeder sieht im Andern denjenigen, der ihn als Überzähligen sieht. Allgemein gesprochen: jeder sieht im Andern den Andern". Die Überzähligen sind in dieser Struktur nicht bestimmte; strukturell lassen sie sich auf dieser Stufe nicht auszeichnen. Es handelt sich um eine rotierende Struktur' 4 , jeder ist für jeden überzählig. (Um von „jedem" reden zu können, ist, wie schon angedeutet, an eine faktisch abgegrenzte Gesellschaft zu denken, letztlich an die Menschheit, die der Knappheit unterliegt.) Es ist von hier aus möglich, daß sich eine Gruppe bildet, die bestimmt, wer die Überzähligen sein sollen. Hierzu wäre allerdings eine Spontaneität, eine Aktion, erfordert, die von der Knappheit und den bisher exponierten Prinzipien her noch nicht verstanden werden kann. In einer konkreten Gesellschaft sind die „Knappgehaltenen" immer schon bestimmt durch eine soziale Hierarchie, aber in CRD handelt es sich um die Ordnung des Verstehens, « l C R D 202. «* C R D 203 f. " S. die grundlegende Analyse C R D 204-8. — Inhaltlich statt transzendental orientiert spricht Schaff von „Malthusianismus" und „Sozialdarwinismus", Marx oder Sartre? 47. M C R D 2 0 5 : „ . . . la totalisation par la rareté est tournante".

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und so geht die Universalität der Knappheit, aus der sich dann Bereidie der Auskömmlichkeit aussondern, voran. Trotz dieser Universalität ist für Sartres Gedanken wesentlich, daß die Prägung der Menschen durch die Knappheit als Andere der Anderen nidit in der Natur des Mensdien liegt, sondern in der materiellen Negation. Die neue Beziehung ist eine modifizierte ReziprozitätAuch in der Reziprozität als soldier gab es keine Einheit von Mensdien als Subjekten, wenn der Trennung auch eine ursprüngliche Unverschiedenheit zugrundeliegt, die sich in Anerkennung und Verstehen äußert; der Andere wird, ob im positiven Fall der Zusammenarbeit, oder im negativen Fall der Auseinandersetzung, als Mensch und somit mit mir identisch angesetzt. Jetzt, in der neuen, durch die Knappheit modifizierten Beziehung der Reziprozität als Andersheit der Menschen gegeneinander, ist der andere Mensch für midi einerseits zwar mit mir identisch, andererseits aber „Gegenmensch" (contrehomme), ein Mensch, der mich mit dem Tod bedroht. Es kommt zur Verinnerlidiung dieser Einschätzung dijirch den Anderen, zu einer „objektiven Struktur meines Seins" 6 '. Ich bin real gefährlidi für die Anderen, und, indem eine Totalität gegeben ist, durch die Negation, daß nicht alle befriedigt werden können, bin idi audi für mich selbst, als Teil dieser Gesamtheit, gefährlich für die Andern. Ich bin ein Anderer so wie der Andere. AndrerSein wird zur universellen Charakteristik für jeden. Der Bezug zum Andern ist damit ein Bezug der Äußerlichkeit"7. Eigentlich, so könnte man einwenden, wäre die Charakteristik der Reziprozität die einer Beziehung der Innerlichkeit. Sartre will aber sagen, daß die Knappheit, als gegenseitige Übertragung der Andersheit auf jeden, die Reziprozität verwandelt. Eigentlich müßte jeder Andere hödist bedrohlidi für midi sein, mich im tiefsten tangieren in meiner Innerlichkeit, aber es ist, so argumentiert Sartre, nur ein möglidier Anderer, der eine Gefahr ist, kein bestimmter; in der Totalität der Gesellschaft gibt es beliebige Zusammenfassungen von Überzähligen, die ihrerseits alle Andern negieren, die Disjunktionen sind äußerlich, die Totalisierung ist „falsch", die Menschen sind wie Moleküle*8. Damit erscheint die Materie als knappe als Grund für eine Abbildung ihrer selbst im Medium des Sozialen, als Siegel (sceau) auf den Mensdien. Der Mensch verinnerlidit die Negation durdi die Materie und ist so „l'homme de rareté"6®. (Das hindert nicht, daß das Verstehen der Praxis Anderer erhalten bleibt70 und daß in konkreteren Formen dieser

65

CRD CRD CRD 68 CRD "· CRD 7 » ebda. 66

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208. 206. 207. 207 f. 207.

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Struktur audi die innerliche Beziehung zum Andern als Bedrohung in den Vordergrund treten kann.) Die Konzeption der Andersheit entspricht der der „Rolle" in E N , in der der Mensch sein Konfrontiert-Sein mit Andern verinnerlicht, eine Andersheit, die aber (zumindest in der Fundamentalanalyse) in C R D nicht mehr als frei übernommen erscheint, sondern als induziert von der Knappheit. Man könnte auch sagen, sie stehe f ü r das „Gesetztsein" der negativen, antagonistischen Reziprozität, die Verinnerlichung zum „Sein" der Rivalität in jedem, und damit f ü r die neue universelle Ebene des äußerlichen Bezuges der Menschen zueinander. Diese Struktur der Andersheit ist ein Prototyp, ist „abstrakte grundlegende Matrix f ü r alle Formen der Verdinglichung menschlicher Beziehungen" 71 . Entfremdung ist gedacht als Dreierverhältnis, und insofern kontinuierlich mit der schon im vorigen Abschnitt vorweggenommenen Struktur: ein Drittes, die Materie — hier als fehlende, als Knappheit — bestimmt und modifiziert die Bezüge der Reziprozität. Sartre betrachtet einige Konsequenzen — von hier aus verstehbare Konstitute —, die mit der Struktur der Andersheit auf Grund der Knappheit erschlossen sind. Wir weisen auf sie nur kurz hin. So sieht er die Ethik als Erhellung der Praxis unter den durch die Andersheit gegebenen Umständen an; sie setzt die Andersheit voraus, insofern sie das „Böse" und den „Bösen" f ü r ihre Wertungen benötigt 72 . Eine andere mit der Andersheit erschlossene Struktur ist die Gewalt. Sie will sich immer verstehen als Gegengewalt gegen den Andern, der gegen mich Gewalt üben will, und ist somit ein Versuch, die Struktur der Andersheit zu sprengen. Im Prinzip wird die Verdinglichung durch Gewalt und Kampf überwunden — sie ist insofern kein konstantes Schicksal —, aber sie läßt sich nur partiell beseitigen und stellt sich wieder her 73 . Sartre möchte die Auswirkung der Knappheit auch noch in anderem, positivem Sinne sehen. Er stellt sie mit der Gefährdung allgemein gleich — im Beispiel von der Bedrängnis der chinesischen Bauern durch die Mongolen 74 —, die zu einer solidarischen Aktion führen kann. Die Totalisierung durch die Gefährdung erscheint jetzt als verschieden von der Prägung der Einzelnen als Andere der Anderen, die sich in der G r u n d analyse der Knappheit ergab, sie ist Totalisierung zum aktiven Team. Es wird auch deutlich, daß das gemeinsame Betroffensein eine Einigung des Ortes hervorruft, von dem die Gefährdung ausgeht, und auf den die gemeinsame Aktion zielt 75 . Das erwähnte Beispiel ist ein höherstufiges, ein Fall 71 72 73 74 75

C R D 208. Verdinglichung: „réification". C R D ebda. C R D 209 f. C R D 210 f. C R D 211: „L'unité négative de la rareté intériorisé dans la réification de la réciprocité se réexteriorise pour nous tous en unité du monde comme lieu commun de nos oppositions . .

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von Rivalität zwischen ganzen Gesellschaften, durch die die Knappheit oder Gefährdung bedingt ist, eine Situation, in der Solidarität und gemeinsame Aktion verständlich werden soll. Allerdings ist jetzt die Knappheit als Gefährdung, wenn sie gemeinsame Aktionen von Menschen als solidarischen Subjekten hervorrufen kann, nicht mehr eindeutig. Es liegt ein Vorgriff auf spätere Strukturen vor. Ferner sieht Sartre die Knappheit nicht nur als Knappheit an dem zum Leben Notwendigen, sondern weitet die Konzeption aus auf sekundäre Knappheiten. So kann in einer Gesellschaft die Knappheit am Produkt — worin schon eine positive, aktive Einstellung der Gesamtheit zur Knappheit liegt, der Knappheit begegnet wird durch Produktion — übergehen zu einer Knappheit an Arbeitskräften, weiter zu einer Knappheit an Werkzeugen, ja zu einer Knappheit an Verbrauchern der Überproduktion 7 6 . Es ist f ü r Sartre „völlig logisch", daß in einer gegebenen Gesellschaft gewisse Gruppen von der Konsumtion ausgeschlossen sind, obwohl keine Knappheit an Produkten besteht, diese vielmehr aus Überfluß vernichtet werden. Sartre hat hiermit die Thematik des Marxismus erreicht und versucht sie auf der bisher erreichten Stufe der Abstraktion von der Knappheit her zu erfassen. Seine These ist, vorgetragen in einer eignen Betrachtung über „Knappheit und Marxismus" 77 , daß der Marxismus soziale Vorgänge oft unverstehend schildere oder Hypothesen aufstelle, die nicht auf ein Prinzip zurückgeführt seien. Sartre zitiert einen Text von Marx 7 8 , in dem dieser auf die unterschiedlichen Folgen der Expropriation hinweist: die römischen Bauern wurden nach ihrer Enteignung nicht Lohnarbeiter, sondern ein faules Proletariat. Trotz der Analogie mit Fällen, in denen die Expropriation zur Lohnarbeit führt, hatte die Entwicklung angesichts des unterschiedlichen Milieus ein unterschiedliches Resultat. Aus dem Vergleich der verschiedenen Entwicklungen läßt sich aber nach Marx ein Schlüssel f ü r die Phänomene gewinnen. Sartre macht dagegen geltend, daß hier ein Verstehen nur der Abweichung von dem, was in den einzelnen Fällen analog ist, erreicht wird, das Gemeinsame aber seinerseits fundierungsbedürftig ist, erst verstanden werden muß. Sartre greift ferner die zentrale Doktrin von der Entstehung der Klassen auf. Der Marxismus bietet hier, in den Thesen von Engels, ein positivistisches Gesetz an: wenn eine gewisse Uberproduktion entstanden ist und die Produktion Warenform annimmt, vergrößern sich die Ungleichheiten in der Gesellschaft und es kommt zu Klassen 7 '. Aber ein solches Gesetz 70 77 78

70

C R D 213 f. C R D 214-221. C R D 214 f.: Marxens nicht abgesandter, sondern später von Engels Vera Zasulitsdi zugestellter Brief an Midiailowski von 1877. In: Nicolai-On, Histoire du développement économique de la Russie, Paris 1902, 507-9. Cf. Maximilien Rubel, Marx et le socialisme populiste russe, Revue socialiste, Paris Mai 1947. Engels, Anti-Diihring, Marx-Engels Werke (Dietz) 20, 150 f.

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ist unhistorisch, meint Sartre, u n d erklärt nicht, wieso dieser P r o z e ß in manchen Gesellschaften sich beschleunigt abspielt, in manchen aber praktisch gar nicht stattfindet. D i e Geschichte m u ß ihre eigne Einsichtigkeit beisteuern. Sartre macht weiter aufmerksam auf eine zur genannten Theorie der Klassenentstehung gegensätzliche These v o n Engels 80 , wonach die Gesellschaft (bei einem das Erforderliche um wenig übersteigenden Ertrag) sich in Klassen teilt nach dem Gesetz der Arbeitsteilung u n d eine befreite Klasse die gemeinsamen Angelegenheiten der Gesellschaft besorgt. Diese E r k l ä r u n g ist nach Sartre historisch (obwohl sie sich als Gesetz gibt); Engels sieht hier, d a ß eine K n a p p h e i t — an Zeit — der Entwicklung zugrundeliegt. Aber Engels widerspricht sich selbst, wenn er einerseits die Bildung der herrschenden Klasse aus der neuen F u n k t i o n erklärt u n d andrerseits a n f ü h r t , d a ß die Sklaverei die M e h r z a h l der Freien v o m Arbeitszwang teilweise befreie. Er widerspricht auch der Marxschen These, d a ß bäuerli