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German Pages 238 [231] Year 1973
DIE PERSÖNLICHKEIT IM SOZIALISMUS
SAMMLUNG
AKADEMIE-VERLAG
30
PHILOSOPHIE
DIE PERSÖNLICHKEIT IM SOZIALISMUS
AKADEMIE-VERLAG-BERLIN 1972
Russischer Originaltitel: Licnost' pri socializme Verlag Nauka Herausgegeben von der Akademie der Wissenschaften der UdSSR bearbeitet von einem Redaktionskollegium unter der Leitung von F. V. Konstantinov Übersetzt und bearbeitet von Ingrid Mayer
Erschienen im Akademie-Verlag G m b H , 108 Berlin, Leipziger Straße 3—4 Copyright 1972 b y Akademie-Verlag G m b H Lizenznummer: 202 • 100/235/72 Herstellung: IV/2/14 V E B Druckerei „Gottfried Wilhelm Leibniz", 445 Gräfenhainichen/DDR • 3683 Bestellnummer: 7530 • ES 3 B 2 Preis: 1 2 , E D V : 751 883 5
Inhaltsverzeichnis
Vorwort zur russischen Ausgabe I. Mensch — Gesellschaft —
7 Persönlichkeit
L . N . MITBOOHTN Methodologische Probleme der Persönlichkeitsforschung . .
13
P. E . KRJAZEV Persönlichkeitsbildung als sozialer Prozeß
37
V . P . TUGABINOV Die Dialektik von Sozialem und Biologischem beim Menschen
52
K . K . PLATONOV Die psychische Struktur der Persönlichkeit
61
P. M. EGIDES Die Persönlichkeit als soziologische Kategorie
76
S . S . BATENIN Kriterien für die Höherentwicklung der Persönlichkeit . . .
89
G. M. ANDREEVA Der Mensch als Gegenstand der soziologischen Forschung A. A. ZVORYKEN Methoden der Persönlichkeitsforschung I I . Die sozialistische
Gesellschaft und die
. 103 116
Persönlichkeit
M. I. PETROSJAN Zur Theorie der Persönlichkeit im Sozialismus
133
M. T . JOVTSCHTJK Zur geistigen Freiheit der Persönlichkeit
149
5
L. A. MAEGOLTN Die Freiheit der Berufswahl
163
E . G. BALAGUSCHKHÎ Persönlichkeit und Familie
170
A. I. DEMIDOVA Soziale und individuelle Faktoren des Glücks
181
III. Persönlichkeit
und sittliche
Eziehung
L . M. ABCHANGEL'SKIJ Die sittliche Erziehung der Persönlichkeit
197
I. A. BUTJMKM Die menschliche Würde
209
N. D. TABUNUV Zur sozialen Verantwortlichkeit des Menschen
221
Vorwort zur russischen Ausgabe
Das Persönlichkeitsproblem spielt in der philosophischen und soziologischen Forschung heute eine zentrale Rolle. Das ist kein Zufall, denn in ihm vereinigen und spiegeln sich bestimmte Seiten des ökonomischen, politischen und geistigen Lebens der Gegenwart. Obgleich von grundsätzlicher Bedeutung, berührt dieses Thema doch die unmittelbaren Interessen aller gesellschaftlichen Klassen und Schichten, ja das Schicksal jedes einzelnen Menschen. Es ist Gegenstand harter ideologischer Auseinandersetzung zwischen den beiden gegensätzlichen Weltanschauungen. Die bürgerliche Philosophie besitzt trotz der Vielfalt der voneinander abweichenden Auffassungen und Konzeptionen, die sich dem Anschein nach nicht selten gegenseitig ausschließen, ein allgemeinverbindliches methodologisches Fundament. In den Arbeiten bürgerlicher Theoretiker wird der Mensch vorwiegend in anthropologischer bzw. physiologischer Sicht begriffen, während seine gesellschaftlichen Beziehungen und Verhältnisse als lediglich subjektiv gefaßte Vorstellungen, Wertungen, Ansichten erscheinen. Dieses Vorgehen macht eine wissenschaftliche Erörterung des Persönlichkeitsproblems unmöglich. Bürgerliche Wissenschaftler behaupten das Primat der einzelnen Persönlichkeit gegenüber der Wirklichkeit, und daher sehen sie einen wichtigen Zusammenhang zwischen dem Persönlichkeitsproblem und der Umformung der eigentlichen inneren Welt des Menschen. Daher verstehen sie auch die Freiheit der Persönlichkeit nicht als soziales, sondern als individuelles Problem und führen sie auf den permanenten Gegensatz von Persönlichkeit und Gesellschaft zurück. Damit soll nahegelegt werden, daß nicht nur die bürgerliche Gesellschaft, sondern jegliche soziale Organisation persönlichkeitsfeindlich und daß dieser Antagonismus ewig und unaufhebbar sei. Der Kern solcher Auffassungen liegt, wie Karl Marx bemerkte, darin, daß die soziale und geistige Unterdrückung, zu der die bürgerlichen Verhältnisse das Individuum verurteilen, als zeitlose „Individualität und Eigenart dieses Individuums" aufgefaßt wird. Der Marxismus hat eine wissenschaftliche Auffassung vom Persönlichkeitsproblem erarbeitet und dieses organisch mit der revolutionären Umgestaltung der Gesellschaft verbunden. Er hat eine erste materia7
listische Deutung für die prozeßhafte Formung der Persönlichkeit gegeben und die zugrunde liegenden sozial-historischen Quellen bloßgelegt. Er hat schließlich das wirkliche Wesen des Menschen, das Ensemble aller gesellschaftlichen Verhältnisse zu sein, enthüllt. Damit wurde das Persönlichkeitsproblem in den gesellschaftlichen Entwicklungszusammenhang gestellt, wurden die objektiven Wege zu seiner Erforschung gewiesen. In der Verbindung von produktiv-praktischer und wissenschaftlich-erkennender Tätigkeit, in der Überwindung sämtlicher Formen von sozialer Unterdrückung und von Klassenantagonismus, in der Beseitigung des Gegensatzes von körperlicher und geistiger Arbeit sieht der Marxismus die allseitige harmonische Entwicklung der Persönlichkeit begründet. „Wenn der Mensch von den Umständen gebildet wird", schrieben Marx und Engels, ;) so muß man die Umstände menschlich bilden." 1 Die Große Sozialistische Oktoberrevolution h a t die russischen Werktätigen von Ausbeutung und Unterdrückung befreit und die objektiven Schranken für die freie, allseitige Entwicklung aufgehoben. Damit ist die Menschheit, wie Lenin bemerkte, „jetzt in ein neues Entwicklungsstadium eingetreten . . ., das überaus glänzende Perspektiven eröffnet" 2 . Die ein halbes Jahrhundert alte Geschichte der Sowjetunion legt deutlich Zeugnis ab für den Humanismus der kommunistischen Weltanschauung und die Überlegenheit der sozialistischen Ordnung, deren Grundprinzip heißt: „Alles im Namen des Menschen, alles zum Wohle des Menschen." Der volle und endgültige Sieg des Sozialismus in der UdSSR, der im heroischen Kampf und durch die harte Arbeit des Sowjetvolkes unter Führung der kommunistischen Partei errungen wurde, h a t die Erziehung des Menschen der kommunistischen Gesellschaft zur Tagesaufgabe gemacht. In dieser Hinsicht gibt es noch sehr viel zu tun. „Die Erziehung der allseitig entwickelten Persönlichkeit ist ein langwieriger und komplizierter Prozeß, der von den materiellen und kulturellen Lebensbedingungen abhängt, von der Gründlichkeit und dem Elan der ideologischen Arbeit." 3 Es liegt auf der Hand, daß die Bewältigung dieser Aufgabe das tiefe wissenschaftliche Eindringen in das Persönlichkeitsproblem voraussetzt. Die sowjetischen Philosophen und Soziologen haben in den letzten Jahren große Aufmerksamkeit auf die Untersuchung jener vielfältigen Prozesse 1
2
3
8
F. Engels/K. Marx, Die heilige Familie, oder Kritik der kritischen Kritik, in: K. Marx/F. Engels, Werke, Bd. 2, Berlin 1957, S. 138 W. I. Lenin, Lieber weniger, aber besser, in: Werke, Bd. 33, Berlin 1966, S. 486 50 let Velikoj Oktjabr'skoj Socialisticeskoj Revoljucii, Tezisy CK K P S S (50 Jahre Große Sozialistische Oktoberrevolution, Thesen des ZK der KPdSU), Moskva 1967, S. 46
gewandt, die die Situation der Persönlichkeit in der sozialistischen Gesellschaft betreffen. Mit Hilfe konkret-soziologischer Methoden wurde der Einfluß verschiedener sozialer Bedingungen und Faktoren auf die Entwicklung der Persönlichkeit aufgedeckt. Die konkreten Möglichkeiten ihrer schöpferischen Vervollkommnung wurden geprüft und die Probleme formuliert, die sich aus der Beziehung von gesellschaftlichen und individuellen Interessen ergeben. Zugleich standen die Hebung der sozialen Verantwortung des Menschen und die Erziehung der jungen Generation zur Diskussion. Diese und andere Fragen kamen auf dem Symposium „Der Mensch in der sozialistischen und in der kapitalistischen Gesellschaft", das das Institut für Philosophie der Akademie der Wissenschaften der UdSSR im März 1966 für die gesamte Sowjetunion veranstaltet hat, vorrangig zur Sprache. Dabei zeigte sich, daß das Interesse der Wissenschaftler verschiedenster Fachdisziplinen, aber auch der Praktiker, an diesem Problem groß ist und ständig zunimmt. Diesem Buch liegen die Vorträge einiger Teilnehmer am Symposium zugrunde. Doch kann es keinesfalls Anspruch darauf erheben, den ganzen zu diesem komplexen Problem gehörigen Fragenkreis zu erfassen, noch weniger, diese Fragen zu lösen. Außerdem werden hier viele Probleme auf neue Weise gesehen und einige voneinander abweichende Meinungen dargelegt. Es lag nicht in der Absicht des Redaktionskollegiums, solche Unterschiede zu eliminieren, weil gerade sie für den Leser von Interesse sein können, ihm Denkanregungen geben und seine schöpferische Mitwirkung an der Lösung der Probleme ebenso stimulieren, wie sie die Aufmerksamkeit der wissenschaftlichen Öffentlichkeit zu erregen vermögen. Die Vielfalt der behandelten Probleme deutet auf die Vielfalt der Aspekte, die sich für die Untersuchung des Persönlichkeitsproblems ergeben. Es unterliegt keinem Zweifel, daß diese das gemeinsame Bemühen vieler Wissenschaftler und eine ganze Serie von philosophisch-soziologischen Arbeiten erforderlich macht. An der Diskussion über die Materialien des Buches beteiligten sich die wissenschaftlichen Mitarbeiter des Instituts für Philosophie der Akademie der Wissenschaften der UdSSR, denen das Redaktionskollegium herzlich dankt. Große Hilfe bei der verlegerischen Fertigstellung des Buches erwies uns N. I. Pankratova. Das Redaktionskollegium dankt den Lesern im voraus für Hinweise und Bemerkungen zu dem vorliegenden Buch.
L . N . MITROCHIN
Methodologische Probleme der Persönlichkeitsforschung
Das Persönlichkeitsproblem wird in der Gegenwart immer mehr als eine aktuelle Richtung der philosophischen Forschung mit großer Perspektive anerkannt. Probleme dieser Art tauchen etwa bei der Beschäftigung und Polemik mit einer Reihe bürgerlicher philosophischer und soziologischer Konzeptionen auf: mit dem Existentialismus, dem Personalismus und dem Neofreudismus. Bei Durchsicht der betreffenden Literatur zeigt sich, daß wir in der Lage sind, die Problematik der idealistischen Strömungen exakt zu erfassen, niveauvoll zu kritisieren und ihnen gehaltvolle positive Auffassungen entgegenzusetzen. Doch die Hauptsache bleibt noch zu tun: Es gilt, ein Forschungsprogramm zu Persönlichkeitsproblemen aufzustellen, das seine „innere" Logik besitzt und sich nicht an dem Schema der kritisierten Konzeptionen orientiert, und eine detaillierte dialektisch-materialistische Methodologie zu erarbeiten, auf deren Grundlage das Problem sich lösen läßt. Diese Aufgabe harrt noch ihrer Bewältigung. Das Interesse am Persönlichkeitsproblem ist nicht zufällig; es ergibt sich aus der Entwicklung des Marxismus-Leninismus selbst. Der Marxismus ist vor allem die Wissenschaft von der Gesellschaft, und die „menschlichen Probleme" fesselten die Aufmerksamkeit seiner Begründer seit jeher stark. Es ist nicht vertretbar, vom Humanismus Marx' und davon zu sprechen, daß die Beschäftigung mit dem „Problem des Menschen" eine erste (frühe) Periode seiner schöpferischen Tätigkeit darstelle. Diese Probleme traten zu verschiedenen Zeiten in unterschiedlicher Weise in Erscheinung. Darin liegt ein Charakteristikum des Marxismus, der organisch mit dem revolutionären Kampf des Proletariats verbunden ist. Marx, wie später auch Lenin, stand in erster Linie vor der Aufgabe, die Unvermeidlichkeit der proletarischen Revolution wissenschaftlich zu begründen sowie ihren Inhalt, ihre Strategie und Taktik darzulegen. Die Schöpfer des wissenschaftlichen Kommunismus distanzierten sich nachdrücklich von schöngeistigen, utopischen Träumereien von einer „idealen" Wunschpersönlichkeit und Gesellschaft. Der Gang der Geschichte, die objektiven Gesetzmäßigkeiten der sozialen Entwicklung, die innere Struk-
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tur der Gesellschaft, das Aufeinandereinwirken und die Wechselbeziehung der verschiedenen sozialen Gruppen und Instutionen, vor allem der Klassen, die Strategie und Taktik der proletarischen Bewegung, Rolle und Platz der politischen Parteien usw. — darin besteht der „makroskopische" Querschnitt durch die Gesellschaft, auf den sie ihre Sozialkonzeption gegründet haben. Bekanntlich formulierten das erste und das zweite Programm der bolschewistischen Partei vorrangig die Aufgabe, die Ausbeuterklassen zu liquidieren, eine sozialistische Basis, sozialistische Produktionsverhältnisse, zu schaffen sowie eine Kulturrevolution durchzuführen. Erst als diese programmatischen Forderungen erfüllt waren, stellte sich die Aufgabe, den Menschen der kommunistischen Gesellschaft, eine hochentwickelte, harmonische Persönlichkeit zu erziehen. Es wurde das wichtigste Problem, das ohne tiefgründige, umfassende philosophische und nicht zuletzt soziologische Bearbeitung nicht zu lösen ist. Doch blieb die Verletzung der sozialistischen Demokratie und Gesetzlichkeit in der Zeit des Personenkultes nicht ohne Einfluß auf die Untersuchung der aktuellen Entwicklungsprobleme der Gesellschaft. Die Arbeiten aus dieser Zeit beschränkten sich nicht selten auf Kommentare und wiesen ein ungenügendes theoretisches Niveau auf. Auch das Persönlichkeitsproblem wurde häufig einseitig aufgefaßt. Die Aktualität der Persönlichkeitsforschung resultiert auch aus der Logik des ideologischen Kampfes. Das „menschliche Problem", das Schicksal der Persönlichkeit, ist eines der zentralen Themen der modernen Sozialwissenschaft. Gerade in dieser Sphäre ist eine scharfe Auseinandersetzung zwischen der wissenschaftlich-materialistischen und der idealistischen Weltanschauung im Gange. Es kommt nicht darauf an, daß bürgerliche Autoren das Problem des Menschen für „das wichtigste" halten. Seine aktuelle Bedeutung h a t es unabhängig von ihren Wünschen und Absichten erhalten. Gesellschaftliches Gewicht aber kann nur eine Konzeption erlangen, die eine Antwort gibt auf die sich aus der geschichtlichen Entwicklung ergebenden Lebensfragen. Das Persönlichkeitsproblem ist heute nicht zufällig eines der aktuellen Themen der bürgerlichen Sozialwissenschaft geworden. Schon am Ende des vergangenen Jahrhunderts forderten viele philosophische Idealisten dazu auf, endlich mit der „abstrakten Metaphysik" Schluß zu machen, die von den Nöten des „Menschen auf der Straße" so weit entfernt sei wie der Himmel von der Erde, und sich den dringlichen „menschlichen Fragen" zuzuwenden. Diese rückten in den Mittelpunkt der Tätigkeit einiger einflußreicher philosophischer und soziologischer Schulen; beispielsweise der „Lebensphilosophie", des Pragmatismus, des philosophischen Anthropologismus und des Personalismus. Die Ursachen dafür liegen in den Ent-
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wicklungsbesonderheiten der Epoche des Imperialismus, die auch dem Einzelschicksal des Menschen ihren Stempel aufdrücken. Der Mensch verwandelt sich unter diesen Bedingungen immer mehr in ein entmündigtes Werkzeug und Opfer der gesellschaftlichen Entwicklung. Der Wesenszug des heutigen Kapitalismus, um den es sich dabei handelt und der von bürgerlichen Autoren gewöhnlich unter dem Begriff „Entpersönlichung" oder „Entfremdung" des Menschen gefaßt wird, ist von sowjetischen Wissenschaftlern bereits umfassend analysiert worden1, so daß ich mir eine ausführliche Darlegung dessen ersparen kann. Angemerkt sei lediglich, daß davon alle gesellschaftlichen Sphären betroffen sind, die ökonomische wie die politische und die ideologische. Es entstehen gigantische Monopolverbände, die sich die Organe der Staatsmacht unterwerfen; sie machen sich immer mehr unabhängig von der öffentlichen Meinung, von den Interessen der Mehrheit der Bevölkerung, der nichts anderes übrigbleibt, als sich der bereits „gemachten", „fertigen" Politik anzupassen. Schließlich büßt der Mensch seine Selbständigkeit im Bereich des „geistigen" Lebens immer mehr ein. Es entsteht ein weitverzweigtes, raffiniert angelegtes System der sozialen Narkotika und der Manipulierung nicht nur des „äußeren" menschlichen Schicksals, sondern auch des „Innenlebens" der Menschen, auf das die ausgefeilte ideologische Manipulierung es immer direkter abgesehen hat. Nebenbei bemerkt, setzt das reibungslose Funktionieren der monopolisierten Massenkommunikationsmittel und der sozialen Institutionen, welche die öffentliche Meinung in der heutigen bürgerlichen Gesellschaft regulieren und dirigieren (Reklame, Presse, Radio, Fernsehen), voraus, daß die Gesetzmäßigkeiten der Entstehung von individuellen Überzeugungen, sozialen und Wertorientierungen, des Bedarfs an bestimmten Waren usw. ständig verfolgt werden. Man kann insofern von einem „sozialen Auftrag", einem gesellschaftlichen Bedürfnis nach Persönlichkeitsforschung sprechen. Der Mensch steckt also in einer komplizierten, bürokratischen Hierarchie sozialer Institutionen, die ihm eine bestimmte Art und Weise des Verhaltens und der Tätigkeit, ein Denk- und Wahrnehmungsschema für die Umwelterscheinungen aufnötigen. Die Persönlichkeit erscheint lediglich als personalisierter Ausdruck der spontan sich bildenden Formen, Typen, der Organisation der menschlichen Gesamttätigkeit, als Träger einer ihr „von außen" zugewiesenen Rolle. Es geht eine „Vermassung", eine „Entpersönlichung" der menschlichen Beziehungen und Eigenschaften vonstatten; sie verwandeln sich in unpersönliche funktionale Einheiten der Produktion und des Verbrauchs. 1
Vgl. etwa J. A. Zamoskin, Krizis burzuaznogo individualizma i licnost* (Die Krise des bürgerlichen Individualismus und die Persönlichkeit), Moskva 1966
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In der letzten Zeit wird der Schleier der klangvollen Ideen und Symbole, welche die Wahrnehmung der gesellschaftlichen Umwelt des Kapitalismus steuern und regulieren, immer häufiger und offenkundiger durch die katastrophalen Folgen der privatkapitalistischen Verhältnisse zerrissen, die in das Schicksal von Millionen Menschen eingreifen und ihr Leben zerstören. Dazu gehören Krisen, Kriege, die Freisetzung rechtsgerichteter Kräfte, Aggressionen. Sogar die Errungenschaften des menschlichen Verstandes, deutliches Symbol für die Größe des Menschen, machen sich immer häufiger als blinde, grausame Mächte geltend. Der technische Fortschritt erscheint als „technologisch bedingte Arbeitslosigkeit", Maschinen eignen sich Ruhm und Macht des Menschen an. In der Wasserstoffbombe — einer Bedrohung der menschlichen Zivilisation — verkörpern sicli alle jene Dämonen, die von der bürgerlichen Gesellschaftsordnung hervorgebracht wurden. Diese Erscheinungen rufen vor allem unter den kleinbürgerlichen Schichten und der Intelligenz ein Gefühl der Hilflosigkeit und des Ausgeliefertseins hervor. In philosophischen und soziologischen Untersuchungen finden solche Stimmungen, die ein Wesensmerkmal der sozialen Ideologie und Psyche geworden sind, in bestimmter Weise Ausdruck. Der Gedanke von der Hoffnungslosigkeit des menschlichen Daseins, von der unlöslichen inneren Tragödie des Menschen ist ein Lieblingsthema der bürgerlichen Theoretiker geworden. 2 Das Leben selbst bringt ein bitteres Paradoxon hervor: J e mehr sichtbare „äußere" Erfolge der Mensch bei der Bezwingung der Natur erringt, desto ohnmächtiger wird er hinsichtlich der Lösung seiner „inneren", „menschlichen" Probleme. In den Abhandlungen bürgerlicher Wissenschaftler ist daher ein realer Gehalt nachweisbar, der die wirkliche Situation des Menschen unter dem bürgerlichen System reflektiert, vor allem aber eine indirekte, erzwungene Anerkennung der Objektivität der gesellschaftlichen Entwicklungsgesetze (was jedoch die bürgerlichen Ideologen nicht daran hindert, ihre traditionellen Ausfälle gegen die Marxisten, die diese Gesetzmäßigkeiten offen anerkennen, fortzusetzen). Die gängigen bürgerlichen Persönlichkeitskonzeptionen lassen sich daher unschwer auf die reale gesellschaftliche Problematik zurückführen. Immerhin maß schon Marx dem die Bedeutung eines methodologischen Prinzips bei, das die Spezifik des wissenschaftlichen Herangehens an verzerrte ideologische Formen ausmacht. Hier nun 2
So ist beispielsweise zu lesen: „Unser Jahrhundert ist das Jahrhundert der Selbsterkenntnis. In der Tat hat der Mensch nie zuvor so viele Fragen über sich selbst gestellt. Er hat zwar Raketen in den Kosmos geschickt und die Grenzen der Himmelseroberung erreicht, aber er hat den Kontakt mit seiner eigenen Welt verloren." (Man Alone. An Alienationin Modern Society, New York 1962, S. 3 — Rückübersetzung aus d. Russ.)
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handelt es sich um den umgekehrten Vorgang: Die erwähnten Konzeptionen sollen aus der „Selbstzerstörung" der tatsächlichen Grundlagen abgeleitet und als sozial bedingte, „natürliche" Frucht des Kapitalismus begriffen werden. Die Abgrenzung der marxistischen Auffassung von der bürgerlichen t r i t t in der Gegenwart immer öfter als Polemik des Marxismus mit dem Existentialismus, einer in kapitalistischen Ländern verbreiteten und einflußreichen philosophischen Persönlichkeitskonzeption, in Erscheinung. In den vergangenen Jahren sind seriöse Arbeiten erschienen, die diese Richtung kritisch analysieren. 3 Hier soll lediglich auf einige Momente eingegangen werden, die für unser Thema von Bedeutung sind. Die Verfasser behaupten verschiedentlich, der Existentialismus sei das „letzte Wort" bürgerlichen Denkens, die charakteristische Form der „Philosophie des Menschen im Atomzeitalter". Die Sache hat aber noch eine andere Seite: Seinem Grundgehalt nach reproduziert der Existentialismus einen höchst traditionellen Typ der unwissenschaftlichen, mythologischen Systeme. Die großen Philosophen der Vergangenheit formulierten ihr Ideal in der Regel als Ausdruck einer unabhängigen, außerhalb des Menschen liegenden Wahrheit. Schon Piaton nannte den Philosophen einen leidenschaftslosen Wahrheitssucher, der über den vergänglichen menschlichen Leidenschaften und Nichtigkeiten des Alltags steht. Den Wert philosophischen Wissens sah man darin, daß es frei schien von jeglicher Subjektivität, von den Vorurteilen und Kategorien des individuellen (nichtphilosophischen) Bewußtseins. Erinnern wir uns etwa an Bacon, der die Wichtigkeit der Distanz gegenüber „Idolen" jeder Art hervorhob, oder an Spinoza, der sich um die Ausarbeitung einer dem Forschungsgegenstand adäquaten Methode bemühte. So ein Herangehen stellte auch an den Aufbau der philosophischen Konzeptionen bestimmte Anforderungen. Es entstanden durchgeformte Systeme, die ihre innere, rational begründete Logik besaßen und in denen Begründungen und Schlußfolgerungen miteinander wechselten, die in ihrer Gesamtheit darauf abzielten, die objektiven, vom erkennenden Subjekt unabhängigen Gesetzmäßigkeiten des untersuchten Gegenstandes aufzudecken, zu beschreiben und gedanklich zu reproduzieren. (Es geht um das Ideal. In idealistischen Konzeptionen wurde dieses Ideal bekanntlich auf unwissenschaftliche, verzerrte Weise dargestellt.) Es gab jedoch noch eine andere Art, die Gesetzmäßigkeiten der äußeren Welt widerzuspiegeln: die mythologische Methode der Religion. Nach 3
2
Vgl. etwa: Sovremennyj ekzistencializm (Der moderne Existentialismus), Moskva 1966; E. Solov'ev, Ekzistencializm i naucnoe poznanie (Existentialismus und wissenschaftliche Erkenntnis), Moskva 1967 Mayer
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außen hin gibt sich auch die religiöse Konzeption (z. B. das Christentum) als eine „Theorie" der objektiven Prozesse, als ein Ensemble von Grundsätzen, die nach den Gesetzen der Logik voneinander abgeleitet sind. Doch widerspiegelt die Religion keine objektiven sozialen (oder natürlichen) Gesetzmäßigkeiten, die unabhängig sind vom menschlichen Bewußtsein, sie artikuliert vielmehr die subjektive Seite des Geschichtsprozesses, das Massen- und Alltagsbewußtsein. Religiöse Konzeptionen sind nicht nur nicht frei von „Idolen", sie leben sogar von diesen. Das Geheimnis des Einflusses der Religion liegt nicht in ihrer strengen Logik oder ihrer theoretischen Sachlichkeit, sondern in der Eignung, der realen gesellschaftlichen Psyche und Ideologie adäquat Ausdruck zu geben und dem unmittelbaren Erleben wie der wechselnden sozialen Erfahrung der Menschen zu entsprechen. Die Hinwendung der neuesten Strömungen der bürgerlichen Philosophie zu den „menschlichen Problemen" war verbunden mit dem Abgehen von den rationalistischen Traditionen der Vergangenheit und dem Ersatz der wissenschaftlichen Forschungsmethodik durch die Methode religiöser Konzeptionsbildung. Ein besonders charakteristisches Beispiel dafür ist der Pragmatismus. Er läßt sich im Grunde darauf reduzieren, daß der Inhalt der philosophischen Schlüsselkategorien (Realität, Forschung, Wahrheit) zu den Erlebnissen der Menschen in Beziehung zu setzen sei. Die Pragmatiker halten jene Methode für absolut, bei der bestimmte psychische Zustände des erkennenden Subjektes von diesem losgelöst und „ontologisiert" werden, um dem Subjekt als äußere, ihm entfremdete Wesenheiten entgegenzutreten. Diese Methode findet sich auch in existentialistischen Konzeptionen. Der Existentialismus tritt als detailliert ausgearbeitetes philosophisches System auf, das die Lehre vom Sein, von der Erkenntnis, eine bestimmte Interpretation der Gesellschaft, der Persönlichkeit, der Moral usw. enthält. Doch formuliert der Existentialismus nicht die objektiven, außerhalb des Menschen existierenden Gesetzmäßigkeiten von Natur und Gesellschaft in ihren wesentlichen Zusammenhängen und ihrer Differenziertheit, nicht die Beziehungen von Ursache und Wirkung, von Wesen und Erscheinung, sondern die spezielle sozial-psychische Erfahrung von Menschen, die in einer „verkehrten Welt" leben. 4 Der Existentialismus reproduziert das Erleben eines Menschen, für den jede Tätigkeit, sobald sie gesellschaftlichen Charakter annimmt, sich in gegenständlicher Form darstellt, also ein zwischenmenschliches Moment 4
Dies ist überzeugend dargelegt in dem Artikel von M. K. Mamardasvüi, Kategorija social'nogo bytija i metod ego analiza v ekzistencializme Sartra (Die Kategorie des sozialen Seins und seine Analysierungsmethode im Existentialismus Sartres), in: Sovremennyj ekzistencializm, S. 49—204
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erhält, als ein „menschenfeindliches" Tun, das ihm von außen aufgezwungen, die Herrschaftssphäre des unpersönlichen „man" bildet. Als Erscheinungswelt des wahren „Ich", der wirklichen menschlichen Persönlichkeit, wird der Bereich des Unterbewußtseins angesehen, das keiner äußeren Motivierung bedarf und keine Reaktion auf „äußere" Forderungen darstellt. Das oben Gesagte erlaubt es, auf eine Frage einzugehen, die im Zusammenhang mit dem Persönlichkeitsproblem häufig aufgeworfen wird. Es geht um eine Art „Symbiose" von Marxismus und Existentialismus. Besonders klar ist sie formuliert in der bekannten Feststellung Jean-Paul Sartres: „Von dem Tage an, da der Marxismus sich der Untersuchung der menschlichen Dimension (d. h. der Untersuchung des existenziellen Entwurfs) zuwendet und die Grundlegung des anthropologischen Wissens aufnehmen wird, hat der Existenzialismus keine Existenzberechtigung m e h r . " 5 Es handelt sich also um die Rechtmäßigkeit der Ersetzung der marxistischen durch die existentialistische Methode. Eine andere Variante dieses Gedankens ist die „Ergänzung" des Marxismus durch die „existentialistische Problematik". Das erscheint mir illusorisch. Zweifellos widerspiegelt die existentialistische Konzeption reale, typische Prozesse, die die gesellschaftliche Ideologie und Psyche im Kapitalismus charakterisieren. Daher enthalten die existentialistischen Systeme eine reale, „diesseitige" Problematik, die die Beachtung der Wissenschaftler verdient. Doch ist das keine „existentialistische Problematik", die sich unterscheidet von der auf existentialistischer Seite vorgeschlagenen lösung. Es ist viel komplizierter. Die „existentialistische Problematik" ist, für sich genommen, die mystifizierte, verzerrte Form einer realen Problemstellung. Diese wird nicht außerhalb des forschenden Verstandes gefaßt, nicht als „theoretisches" Problem verstanden, das die Untersuchung der objektiven gesellschaftlichen Gesetzmäßigkeiten erforderlich macht. Die Aufgabe beschränkt sich auf die Fixierung einer bestimmten unmittelbaren sozialen Erfahrung. Bei einer solchen Problemstellung ist keine wissenschaftliche „Alternativ"Lösung zu erwarten, so wie es z. B. unmöglich ist, das Problem der Erbsünde wissenschaftlich zu lösen. Ein gangbarer Weg wäre es, über die existentialistische Fragestellung hinauszugehen und in den absonderlichen Vorstellungen die reale Grundlage jener Stimmungen und Erlebnisse zu finden, die der Existentialismus artikuliert, um auf dieser Basis schließlich Richtung und Inhalt der 5
J.-P. Sartre, Marxismus und Existenzialismus, Versuch einer Methodik, Reinbek bei Hamburg 1964, S. 143; vgl. auch J.-P. Sartre, Critique de la raison dialeetique, Paris 1960, S. 111
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wissenschaftlichen Forschung festzulegen. Die kritische wissenschaftliche Analyse hat sich nicht einfach mit der von existentialistischer Seite vorgeschlagenen Lösung zu beschäftigen, sondern mit der Formulierung und Lösung des Problems als Ganzen. Hier verdient ein wesentliches Merkmal der existentialistischen Persönlichkeitskonzeption hervorgehoben zu werden. Gewöhnlich wird der Existentialismus, wie übrigens auch christliche Konzeptionen, dafür kritisiert, daß er den Menschen von der Gesellschaft isoliert, den bedingenden Einfluß des sozialen Milieus nicht beachtet usw. Nimmt man dies ernst, so scheint es, als gäbe es einerseits eine Art zeitlosen „existentialistischen" und andererseits einen konkret-historischen Menschen, einerseits einen sozialen und andererseits einen (nichtsozialen) religiösen. Diese Dichotomie ist höchst naiv. Nur bürgerliche Atheisten können den „vernünftigen" Weltanfang der „Unvernunft" der Religion gegenüberstellen. In ihren Augen war die Religion ein außergesellschaftlicher Faktor, ebenso wie die religiösen Gefühle außergesellschaftlich schienen. Der Marxismus begreift die Religion als eine soziale Erscheinung und die Antithese von religiösem und sozialem Menschen als Entgegensetzung verschiedener Typen, die auf die reale irdische Erfahrung zurückgehen. Der existentialistische („religiöse") Mensch, der die Tragik seines Seins schmerzlich empfindet und die „Individualität in sich selbst" sucht, ist im Grunde ein historisch konkreter Mensch, der bestimmte soziale Beziehungen repräsentiert. Doch diese geschichtliche Konkretheit — und darin liegt die existentialistische Fehldeutung der realen Probleme — wird unterderhand in das Modell eines abstrakten Menschen verwandelt, der ursprünglich bestimmte anthropologische Züge besaß, während die Stimmungen, Gefühle, das Weltempfinden des bürgerlichen Menschen als ewig und naturgegeben erklärt werden. Insofern offenbart sich der Existentialismus, der klar und präzise den Zustand des „zerrissenen Bewußtseins" wiedergibt, als Apologie der Verhältnisse, aus denen er hervorgegangen ist. Weit verbreitet ist die Ansicht, der Hauptmangel des Idealismus liege heute in der Negation der sozialen Bedingtheit der Persönlichkeit, in der Negation dessen, daß der Mensch ein gesellschaftliches Wesen ist. Es erscheint daher geraten, bei der Analyse der idealistischen Persönlichkeitsauffassung die soziale Natur des Menschen zu betonen und sie im Gesamtzusammenhang des gesellschaftlichen Lebens zu untersuchen. Doch weist auch dieses Herangehen deutliche Mängel auf: Es läßt einen wesentlichen, in gewissem Sinne paradoxen Umstand außer acht: Die Vorstellung vom isolierten, außergesellschaftlichen Menschen ist eine verzerrte Art der 20
Interpretation seines sozialen Wesens. Sowohl Emile Dürkheim als auch Max Scheler und Karl Mannheim versuchten die Natur des Menschen und der menschlichen Erkenntnis in eben dieser Weise zu verstehen, und sie wandten sich damit gegen den herrschenden Empirismus. Etwas anderes ist es, daß das „Soziale" in ihren Arbeiten zu einer Art formaler Struktur, zu einer Institution, zu Symbolen und Vorstellungen wurde, die nur den äußeren Hintergrund, die Basis, die Bedingung für das Wirken der mit einem Willen begabten menschlichen Persönlichkeit bilden. Der fundamentale Unterschied zwischen der objektiven und der subjektiven Persönlichkeitsauffassung wird auf keinen Fall durch die Anerkennung irgendwelcher vom Menschen unabhängigen sozialen Kräfte, einer Sphäre der zwischenmenschlichen Beziehungen verwischt, wie sie in der modernen philosophischen und soziologischen Literatur der kapitalistischen Länder häufig anzutreffen ist. Gerade solche Konzeptionen können subjektivistisch begründet sein. Das ist zu bedenken, wenn man sich mit der umfangreichen bürgerlichen Literatur, die Anspruch auf eine soziologische Persönlichkeitskonzeption erhebt, beschäftigt. Das klassische Beispiel dafür ist das Buch David Riesmans „The Lonely Crowd" 6 , das bürgerliche Autoren einhellig als den Modellfall für „Soziologismus" ansehen, für das Bestreben also, eine Typologie der modernen Persönlichkeit zu schaffen, welche die Entwicklungsbesonderheiten der heutigen Gesellschaft maximal berücksichtigt. Riesman unterzieht das heutige amerikanische System einer scharfen, schonungslosen Kritik; er gibt eine präzise Schilderung des übermächtigen Einflusses ideologischer Schablonen und Standards. In seiner Terminologie erscheint dieser Prozeß als Wandel von der Psyche des „Jahrhunderts der Produktion" zum Weltgefühl des „Jahrhunderts des Konsums", von dem Menschen, der sich selbständig in der Gesellschaft orientiert und seine geistige Welt aufbaut, zu dem von außen geleiteten Individuum. Unter diesen Umständen, bemerkt der Autor, komme es bei der „sozialen, Mobilität. . . weniger darauf an, was man ist und was man t u t , als darauf, was die anderen von einem denken — und welche Geschicklichkeit man aufbringt, andere zu lenken und sich selbst lenken zu lassen" 7 . Die Unterschiede zwischen den einzelnen Persönlichkeiten werden ersetzt durch die Unterschiede in der Bewertung jener Gegenstände, deren sie sich bedienen. Die Gewißheit einer aussichtsreichen Position in der Gesellschaft wird nicht aus der Entwicklung gewerblicher Fähigkeiten gewonnen, sondern aus der Ausbildung einer Summe von Verbraucherqualitäten und der Art ihrer Äußerung. In ihren Beziehungen zueinander lassen sich die Menschen 6
D. Riesman, Die einsame Masse, Hamburg 1958 i Ebenda, S. 60
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von dem Ruf leiten, den eine Ware hat. Tugend wird gleichgesetzt mit der Fähigkeit, eine neue Mode mitzumachen, Ethik mit der „Erziehung des Verbrauchergeschmacks", und von der Kultur erwartet man in erster Linie eine „Orientierung des Käufers". Kurz gesagt, die „geistige Welt" ist nicht die Sphäre, in der sich die schöpferische Persönlichkeit selbst ausdrückt, sondern ein Mittel zur Schaffung von Sozialprestige. Das Verhalten ist dem Bemühen untergeordnet, die Zustimmung der anderen zu erhalten; der Mensch wird der „Schatten seiner Firma", ein „lebensfroher Roboter", wie R. Mills es genannt hat. Von derselben Art sind, wie Riesman zeigt, auch das Bildungssystem, die Kultur und die politischen Ideen. In der Polemik mit den Freudisten und Neofreudisten formuliert Riesman klar die Aufgabe, die „ökonomisch-soziale Notwendigkeit" der von ihm analysierten Prozesse zu enthüllen. „Wir begannen", schreibt er, „mit der industriellen Gesellschaft. . . Wir setzen voraus, daß das für den individuellen Charakter Folgen hat, die sich im Verlust oder in der Verminderung der früheren sozialen Funktionen in Produktion und Forschung darstellen, wie es die Veränderungen in der Sphäre des Konsums und der individuellen Beziehungen zeigen." 8 Es handelt sich hier also um die verbreitete bürgerliche Manier, „soziale Krankheiten" als eine Art Anomalien, als „abweichendes" Verhalten bestimmter Menschengruppen zu interpretieren. Dies legt die Frage nach dem Ausgangspunkt der Bewertung, dem „normalen" Verhalten, nahe. Was darunter verstanden wird, liegt auf der H a n d : ein Weltgefühl, das der Periode des schöpferischen Privatunternehmertums und des freien Marktes entspricht, jener Zeit also, in der die traditionellen bürgerlichen Werte entstanden. Aber Riesman beginnt nicht mit der Analyse der Sozials t r u k t u r und der historisch konkreten „Produktionsweise des Bewußtseins", die auch die spezifischen Merkmale seines Untersuchungsobjektes, des „amerikanischen Charakters", geprägt hat. Da er die Interview-Methode benutzt, geht seine Analyse nicht über subjektive Gehalte hinaus, in denen sich die objektiven sozialen Gesetzmäßigkeiten lediglich widerspiegeln. Er versucht also, in den Grenzen einer gesellschaftlichen Ideologie, die von spontan entstehenden Vorurteilen, Stimmungen und Illusionen lebt, typische Schemata und Modelle zu entdecken. Die objektiven Gesetzmäßigkeiten reflektieren sich im Massenbewußtsein, in der bürgerlichen Ideologie jedoch nur annähernd und verzerrt. Daher kann jeder Versuch, diesen Vorgang zu „rationalisieren", in ihm eine „ökonomisch-soziale Notwendigkeit" zu entdecken, nur die Katalogisierung illusorischer Vorstellungen über diese „Notwendigkeiten" zur Folge haben. Es unterliegt beispielsweise keinem Zweifel, daß in dem von 8
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The Llonely Crowd, New York 1959, S. XVI (Rückübersetzung aus d. Russ.)
Riesman vorgeschlagenen und inzwischen klassisch gewordenen Schema der Evolution sozialer Charaktere, die als Wandlung vom „traditions-geleiteten" zum „innen-geleiteten" Typus verstanden wird, die Veränderungen der sozialen Psyche beim Übergang vom Feudalismus zum Privatunternehmertum und zum Monopolkapitalismus erfaßt sind. Als Beschreibung dieses Prozesses aus psychologischer und ideologischer Sicht ist die Untersuchung Riesmans ernsthafter Beachtung wert. Sein Anspruch auf eine wissenschaftliche Aufhellung dieser Entwicklung ist jedoch nicht begründet. Welcher Methode Riesmans Konzeption ihre Entstehung verdankt, zeigt sich auch an der Art und Weise, wie er jene „sozialen Kräfte" und „sozialen Institutionen" interpretiert, die er mit den typischen Veränderungen im „amerikanischen Charakter" in Verbindung bringt. In einer großen Gesellschaft erzeugen die Institutionen bei den Individuen den entsprechenden Charakter, schreibt er. Diese These läßt sich natürlich wissenschaftlich vertreten, wenn man sich die Situation und den gesellschaftlichen Zusammenhang zwischen den Menschen vergegenwärtigt, die den „sozialen Charakter" des Individuums formen. Doch wie bemerkt, ist die Methode Riesmans eine andere: Er will die verallgemeinerte subjektive Vorstellung dieser Gesetzmäßigkeit „rationalisieren". Ein Mensch, der in einer privatkapitalistischen Umwelt lebt, empfindet die Rolle der Gesellschaft bei der Formung seines Charakters auf ganz bestimmte Weise: als äußeres Hindernis für die Erreichung seiner individuellen, „inneren", „natürlichen", „gesetzmäßigen" Ziele. Dem entspricht auch das Schema des Autors: Aus einer „festliegenden Menge von Reaktionen", zu denen die Menschen fähig sind, so verdeutlicht er seinen Gedanken, können die Institutionen einige herausgreifen und stabilisieren, andere, rebellischere Anwandlungen dagegen auf verschiedene Weise unterdrücken. Daher das uns bekannte Modell: die „aktive" Persönlichkeit, die ihre Ziele nicht ohne Verluste durch Überwindung „fremder", „träger" sozialer Institutionen verwirklicht. Wie Riesman schreibt, ist er nicht der Ansicht, daß das Individuum eine Kopie seiner sozialen Rolle sei. Im Gegenteil, zwischen dem individuellen Streben und den Anforderungen der Institutionen, deren Teil es sei oder denen es sich entfremdet fühle, könnten große Spannungen auftreten. Darin liegt die Eigenart der idealistischen Interpretation der Persönlichkeitsproblematik: Analysiert werden nicht objektive Erscheinungen, welche die „Entpersönlichung" der Gesellschaft bedingen, sondern ihre Widerspiegelung im Bewußtsein. Die spontan entstehenden Illusionen und Vorurteile erhalten den Schein unabhängiger und den Menschen beherrschender Wesenheiten. Die konkret-historischen Bedingungen, welche die Schärfe des Persönlichkeitsproblems verursachen, werden dadurch aus dem 23
Modell des abstrakten Menschen eliminiert, sie gehen in den Erörterungen über die „unverständliche" Natur des Menschen unter. Die marxistische Persönlichkeitskonzeption entwickelte sich im Zusammenhang mit einer immer konsequenteren Abgrenzung von subjektivistischen Auffassungen, von abstraktem Anthropologismus. E s war dies der Prozeß des Aufdeckens neuer, wesentlicher sozialer Gesetzmäßigkeiten und der Formulierung einer streng wissenschaftlichen Forschungsmethode. In konkreter, deutlich zu verfolgender Form ist dieser Vorgang in die schöpferische Biographie von Marx eingegangen, von seinen Frühwerken angefangen. Daher seien diese Werke — wenn auch nur kurz — erwähnt, sei der Versuch unternommen, den Inhalt der Kategorie „Entfremdung" zu bestimmen, die in der Entwicklung der Ansichten von Marx eine so maßgebliche Rolle gespielt hat. Das ist auch darum von Bedeutung, weil die „Entfremdung" zum Lieblingsterminus bürgerlicher Wissenschaftler avanciert ist, zu einer Art universellen Etiketts, das sie jeder heutigen Gesellschaft anheften möchten. „Heutzutage wird der Terminus ,Entfremdung' von Philosophen, Psychologen und Soziologen zur Bezeichnung jener ungewöhnlichen Vielfalt von psycho-sozialer Zerrüttung verwandt, die den Verlust seiner selbst, den Zustand der Angst, der Verzweiflung, der Desorientierung, der Entpersönlichung, Hoffnungslosigkeit, der sozialen Desorganisation, der Einsamkeit, der Automatisierung, Ohnmacht, Sinnlosigkeit, der Isolierung, des Pessimismus und den Verlust des Glaubens oder der Werte einschließt." 9 Als Träger von „Entfremdung" fungieren „Frauen, Produktionsarbeiter, Beamte, Gelegenheitsarbeiter, Künstler, Selbstmörder, geistig minderbemittelte Menschen, Süchtige, die junge Generation insgesamt und minderjährige Verbrecher, insbesondere Wähler, Nichtwähler, Konsumenten, das Auditorium der Massenkommunikationsmittel, Menschen mit widernatürlichem Geschlechtsverhalten, die Opfer von Vorurteilen und Diskriminierungen, voreingenommene Bürokraten, politische Radikale, Menschen mit physischen Gebrechen, Emigranten, Flüchtlinge, Vagabunden und Einsiedler" 1 0 . Die Erscheinungen, welche die bürgerlichen Autoren unter den Begriff „Entfremdung" rechnen, haben bei aller Verschiedenheit etwas miteinander gemein. Es handelt sich um eine besondere Stimmung, ein ganz bestimmtes Weltgefühl des Menschen. Entfremdung bedeutet, so schreibt Erich Fromm, „daß der Mensch sich nicht als Mittelpunkt seiner Welt fühlt, nicht als Urheber seiner eigenen Handlungen, sondern daß sein Tun und dessen Folgen zu seinem Beherrscher geworden sind, dem er sich 9 10
Man Alone, S. 12/13 (Rückübersetzung aus d. Russ.) Ebenda, S. 13 (Rückübersetzung aus d. Russ.)
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unterordnet und den er möglicherweise sogar anbetet. Der entfremdete Mensch verliert den K o n t a k t zu sich selbst und zu jedem anderen." 1 1 Durch eine solche Auffassung wird die Entfremdung in eine überzeitliche Charakteristik des Weltempfindens des Menschen verwandelt, und der Terminus selbst erhält eine belletristische, rein moralisierende Note. Die bürgerlichen Wissenschaftler anerkennen durchaus die Priorität von Marx bei der Beschreibung und Analyse der Entfremdungsprozesse in der kapitalistischen Gesellschaft. Es erscheint gegenwärtig nicht ein ernst zu nehmendes Buch zu diesem Problem, das nicht auf seine Arbeiten Bezug nähme. Es ist auch bekannt, daß viele bürgerliche Theoretiker sich den Frühschriften von Marx zuwenden, um sie ihres revolutionär-kritischen Gehalts zu berauben und das konkret-historische, klassenmäßige Herangehen in ein abstrakt-humanistisches Moralisieren aufzulösen. Eine solche Adaption des Marxismus erklärt sich allerdings nicht immer aus bewußter Ignoranz; sie ist eine Entstellung, die dem bürgerlichen Bewußtsein mit seinen Normen und Traditionen schlechthin entspricht. Die Polemik um diese Frühschriften, die in letzter Zeit im Mittelpunkt der Auseinandersetzung zwischen der dialektisch-materialistischen und der idealistischen Auffassung vom Menschen stehen, hat keine primär theoretischen Ursachen. Wenn man die betreffenden Arbeiten im Zusammenhang mit der Entwicklung des Marxismus sieht und sie mit den späteren vergleicht, so läßt sich ihr geschichtlicher Platz genau bestimmen. Zunächst ergibt sich allerdings etwas Bemerkenswertes: Die grundsätzliche Einschätzung dieser Werke bringt in „Umkehrung" die Reaktion auf andere, weiterreichende und politisch aktuellere Fragen sowie auf das Verhältnis zum Marxismus überhaupt zum Ausdruck (auch zu seiner weiteren Ausarbeitung nach dem Tode Lenins) und letzten Endes zur Praxis des sozialistischen Aufbaus, zur Realisierung der Ideen des wissenschaftlichen Kommunismus. Die Polemik h a t infolgedessen weniger eine wissenschaftliche als vielmehr eine antisozialistische Färbung. Sowjetische Wissenschaftler haben in den letzten Jahren eine ganze Anzahl von Arbeiten veröffentlicht, in denen die Frühschriften von Marx und ihre wirkliche Rolle für die Entstehung der dialektisch-materialistischen Gesellschaftsauffassung gründlich analysiert wurden. 1 2 Es genügt daher, auf einige Gesichtspunkte hinzuweisen. 11 12
Ebenda, S. 56 (Rückübersetzung aus d. Russ.) Vgl. L. N. Pazitnov, U istokov revoljucionnogo perevorota v filosofii (An den Quellen des revolutionären Umschwungs in der Philosophie), Moskva i960; V. Keselava, Mif o dvuch Marksach (Der Mythos von den zwei Marx), Moskva 1963; T. I. Ojzermann, Problema otcuzdenija i burzuaznaja legenda o marksizme (Das Entfremdungsproblem und die bürgerliche Legende vom Marxismus), Moskva 1965
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Schon in seinen Frühschriften bemüht sich Marx, die ökonomisch-politischen Bedingungen der Entfremdung aufzudecken. Er versteht unter Entfremdung nicht ein Phänomen des Bewußtseins und Selbstbewußtseins, sondern eine besondere Weise des realen Zusammenhangs zwischen den Individuen, eines Zusammenhangs, der bedingt ist durch die Spezifik der bürgerlichen Produktionsweise. Es sind Beziehungen, bei denen sich die Ergebnisse der menschlichen Tätigkeit versachlichen und sich über ihren Schöpfer stellen, sich gegen ihn wenden. Entfremdung ist ein spezifisches Moment der kapitalistischen Ausbeutung, ein Produkt der bürgerlichen Form der Arbeitsteilung. Für Marx ist die Kategorie „Entfremdung" also nichts Ahistorisches, sondern er bezeichnet damit die Situation der Individuen in der bürgerlichen Gesellschaft. Er legt deren innere Dialektik bloß, und daher ist es für ihn gänzlich inakzeptabel, die Lage des Menschen als Polarität der beiden Abstraktionen „Persönlichkeit" und „Gesellschaft" zu fassen, innerhalb deren sich das Denken der bürgerlichen Wissenschaftler für gewöhnlich bewegt. Marx unterscheidet genau zwischen „Entfremdung", „Verdinglichung" (ovescestvlenie) als dem historisch begrenzten Charakter der sozialen Beziehungen und jener „Vergegenständlichung" (opredmecivanie), welche die objektive gesellschaftliche Notwendigkeit als universelle Form, als Entwicklungsmodus der Gesellschaft kennzeichnet. Noch etwas ist wichtig. Marx versteht den „Entfremdungs"-Prozeß nicht als Verlust bestimmter Züge, die der Mensch vorher besaß, wie etwa beim christlichen Mythos vom Sündenfall. Er versteht darunter das Hervortreten der Widersprüche in der Gesellschaft seiner Zeit vom Gesichtspunkt seiner eigenen Entwicklungstendenz. Daher macht sich bei der weiteren Ausarbeitung des Marxismus immer stärker das relativ Ahistorische dieser Kategorie bemerkbar. 13 In den folgenden Arbeiten („Die heilige Familie", „Die deutsche Ideologie" u. a.) konkretisiert und bereichert Marx diesen Begriff. Er verwendet besondere Aufmerksamkeit darauf, die sozialen Bedingungen zu enthüllen und zu analysieren, die den „entfremdeten" Zustand des Individuums hervorrufen (z. B. die bürgerliche Form der Arbeitsteilung). Die Aufhebung der Entfremdung kann nach Marx nur im Resultat der revolutionären Umwälzung der Gesellschaft geschehen, in deren Verlauf das Privateigentum und die kapitalistische Arbeitsteilung abgeschafft werden und die Menschen ihre gesellschaftlichen Verhältnisse unter eigene Kontrolle nehmen. Diese Logik, diese Tendenz des Denkens von Marx ist schon in seinen Frühschriften nicht zu verkennen. 13
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Vgl. J . A. Levada, Social'naja priroda religii (Das soziale Wesen der Religion), Moskva 1965, S. 2 4 - 3 6
Bekanntlich hält sich der heutige Antikommunismus mit Vorliebe dabei auf, dem angeblich antihumanistischen, streng klassengebundenen, pragmatischen Marxismus die scheinbar wahrhaft humanistischen bürgerlichen Sozialkonzeptionen entgegenzustellen. Wir sollten keinesfalls unterschätzen, welchen Einfluß solche Methoden auf die Massen haben können, die den Marxismus nicht selten nur aus solchen leichtfertigen „kritischen" Interpretationen kennenlernen. Das Verhältnis zu abstrakt-humanistischen Konzeptionen ist heute besonders problematisch geworden. Es gibt eine Reihe breiter progressiver Bewegungen (für den Frieden, gegen den Rassismus, gegen Kolonialherrschaft), deren Programm in herkömmlichen Begriffen formuliert ist und sich im Rahmen idealistischer oder religiöser Vorstellungen bewegt (der Mensch „im allgemeinen", der Mensch „an sich" etc.). Es wäre falsch, darin bürgerliche Böswilligkeit zu sehen. Solche Auffassungen widerspiegeln konkrete Klassenantagonismen, sie fixieren das Ergebnis des Wirkens objektiver sozialer Gesetzmäßigkeiten, deren Existenz irgendwelche „Fortschrittsformeln", utopische Projekte oder Appelle zu moralischer Selbstvervollkommnung nicht aufheben. Deshalb kann von echtem, nicht nur verbalem Humanismus allein ein Programm zeugen, das über bloßes Mitgefühl mit den Menschen hinausgeht und ihr tragisches Schicksal nicht nur beschreibt, sondern die realen Wurzeln der sozialen Mißstände aufdeckt und Wege zu ihrer Überwindung zeigt. Ohne Zweifel kann die Forderung abstrakter Menschenliebe bei der Formung des Klassenbewußtseins eine nicht geringe Rolle spielen. Mit der „unbestreitbaren" Idee von der Würde des Menschen „an sich" zieht sie die verschiedensten sozialen Gruppen in ihren Bann. Der praktische Kampf offenbart jedoch sehr schnell die Unhaltbarkeit solcher abstrakten Problemstellung. Eine demokratische Bewegung hat nur dann eine Perspektive, wenn ihre Denkweise zu einer klassengebundenen Weltanschauung, zum nüchternen Begreifen der objektiven gesellschaftlichen Entwicklungsgesetze fortschreitet. Darin liegt der Maßstab für die Bedeutung wie für die Beschränktheit des abstrakten Humanismus. Das Wirken der ausländischen Humanisten, der Philosophen, Soziologen, Schriftsteller, Theologen, die mit fortschrittlichen sozialen Kräften zusammengehen, verdient hohe Wertschätzung, auch dann, wenn sie die marxistische Weltanschauung nicht teilen. Es wäre naiv, darauf zu warten, daß sie von heute auf morgen zum Marxismus kommen. Aber zugleich dürfen wir nicht vergessen, daß die Versuche, den wirklichen, revolutionären Inhalt des Marxismus mit Hilfe von Formeln und Erörterungen über den Menschen „an sich" zu eliminieren, reaktionär sind. Darin liegt eine Dialektik, welche die realen Schwierigkeiten bei der Formulierung einer wissenschaftlichen Persön27
lichkeitsauffassung widerspiegelt. Diese Dialektik müssen wir im Auge behalten, wenn wir die verschiedenen Interpretationen der Frühwerke von Marx beurteilen. Es wäre nicht richtig — und doch wird es leider häufig getan —, das Besondere der Marxschen Frühschriften nur darin zu sehen, daß es ihnen an „Reife" mangelt, daß sie Einflüsse von Hegel und Feuerbach aufweisen, die „später überwunden" wurden. Das trifft zwar zu, doch offenbaren die Frühschriften darüber hinaus Marx' Herangehen an das Problem des Menschen. Bekanntlich hat Marx in der Folgezeit vor allem die ökonomische und die politische Seite seiner Lehre ausgearbeitet. In den Frühschriften aber (der „Heiligen Familie" und der „Deutschen Ideologie") wird das Persönlichkeitsproblem aus allgemeiner philosophischer Sicht untersucht. Bei der Analyse der Lage des Menschen im Kapitalismus entwickelte Marx ein bestimmtes theoretisches Instrumentarium, mit dessen Hilfe er diese Lage fixiert, und leitete aus dieser Analyse wesentliche Kategorien und Thesen ab. In den späteren Werken der Klassiker erhalten diese Thesen ihre entwickeltere, eigentlich marxistische Form. Natürlich behalten auch die Frühschriften von Marx ihre ganz spezielle Bedeutung, aber diese ist nicht daran gebunden, daß sie bei bürgerlichen Wissenschaftlern eine stark entstellte, tendenziöse Auslegung erfahren. Erst durch Marx' materialistische Geschichtsauffassung, durch den Begriff der sozialökonomischen Gesellschaftsformation und die Erkenntnis vom „naturgeschichtlichen" Charakter der gesellschaftlichen Entwicklung wurde die Soziologie eine wirkliche Wissenschaft, die sich von subjektiven Methoden löste, ebenso wie auch von der Identifikation der objektiven sozialen Gesetzmäßigkeiten mit jener Form, die sie im Bewußtsein der am Geschichtsprozeß unmittelbar Beteiligten annehmen. Vor Marx verstand man unter der Formung der Persönlichkeit die Aufgabe, bestimmte Maßnahmen zu ergreifen und Bedingungen zu schaffen, damit der Mensch sich die Werte von Kultur und Geschichte aneignen könne. Das richtete sich auf die Tätigkeit besonderer „Erziehungs"-Einrichtungen, auf spezielle „erzieherische" Mittel, mittels deren man auf den Menschen einwirken und ihn auf „das Leben" vorbereiten wollte. Daher wurde das Problem des Menschen letzten Endes in die Hände der Pädagogen gelegt. Erst der Marxismus erlaubte eine wissenschaftliche Erklärung der Persönlichkeitsbildung, er enthüllte die komplizierte Vielfalt von objektiven Faktoren, die das Individuum prägen und es als sozialen Typus formen. Dadurch wurde das Persönlichkeitsproblem zur gesellschaftlichen Entwicklung in Beziehung gesetzt, ließen sich die objektiven Methoden seiner Analyse bestimmen. Bekanntlich werfen bürgerliche Wissenschaftler dem Marxismus immer 28
wieder vor, er ignoriere die Rolle der Überbauerscheinungen für die Persönlichkeitsbildung und reduziere alles auf den „ökonomischen Faktor". Es erübrigt sich eigentlich, diese Behauptung richtigzustellen. Um einer Kritik dieser Art zu begegnen, führen wir nicht selten die verschiedensten gesellschaftlichen Faktoren auf, die tatsächlich auf den Menschen einwirken. Das sind sowohl Staat wie Kunst wie Familie wie Geschichtstraditionen usw. Doch geht eine solche Aufzählung nicht über das metaphysische Schema einer Faktorentheorie hinaus. Der Gedanke, daß „verschiedene" Faktoren den Menschen beeinflussen, ist zu trivial, um ein spezifisches wissenschaftliches Herangehen zu begründen. Worauf es ankommt, ist, die grundlegenden, ausschlaggebenden Gesetzmäßigkeiten herauszufinden, jene Folgerichtigkeit und Rangordnung, in denen sich der Einfluß der verschiedenen „Erziehungs"-Faktoren auf den Menschen zeigt, unabhängig davon, in welchem Umfang und in welcher Form er sich dessen bewußt wird. Es besteht immer die Gefahr, jene Maßnahmen, deren „erzieherischer" Gehalt sozusagen mit Händen zu greifen ist, in ihrem Einfluß auf den „natürlichen" Entwicklungsprozeß des Menschen zu überschätzen. Es gibt darüber hinaus eine große Zahl von Faktoren, welche die Sphäre und die Art der menschlichen Tätigkeit charakterisieren und die seine Charakterbildung weitaus stärker beeinflussen als die besten „Erziehungs"maßnahmen. Wir sprechen schon gar nicht davon, daß der Mensch selbst die Rangordnung dieser Faktoren durchaus nicht immer klar empfindet. Manchmal leitet er seine Ansichten aus einzelnen Erscheinungen her, in denen ethische, ästhetische, soziale, politische oder andere Ideale direkt artikuliert werden (z. B. aus schöngeistigen Büchern oder Kunstwerken), während sie doch in Wirklichkeit nur seine allmählich angesammelte soziale Erfahrung auf den Begriff bringt. Daraus erklärt sich, nebenbei bemerkt, die strikte Forderung an die Soziologen, zwischen der subjektiven Meinung auch der an bestimmten Ereignissen unmittelbar Beteiligten und den objektiven Gesetzmäßigkeiten zu unterscheiden, die sich in solchen Meinungen reflektieren. Anderenfalls werden die realen Prozesse, die bei der Bildung der gesellschaftlichen Ideologie und der individuellen Überzeugungen vor sich gehen, nur vernebelt. Es erhebt sich nun die Frage, welchen Inhalt die marxistische „Philosophie des Menschen" hat und welchen Platz die dialektisch-materialistische Persönlichkeitskonzeption in der marxistischen Theorie einnimmt. Die Grundfrage dabei ist folgende: Ist es notwendig, die allgemeine Struktur des Marxismus durch einen speziellen Bereich, eine philosophische Anthropologie, zu ergänzen? Anders ausgedrückt: Sollte eine „marxistische Anthropologie" geschaffen werden, welche die von den idea29
listischen Schulen aufgeworfenen Probleme „positiv" beantwortet? Nach meiner Ansicht besteht dazu keinerlei Veranlassung. Eine idealistische Anthropologie stellt nicht nur die unwissenschaftliche Lösung bestimmter Probleme dar, sondern auch deren verkehrte Formulierung. Die Entstehung der marxistischen Gesellschaftstheorie war mit dem Verzicht auf Betrachtungen über den Menschen „an sich" verbunden. Marx sah die Aufgabe darin, die spekulativen Erwägungen durch die Untersuchung der „wirklichen menschlichen Beziehungen", die Analyse der Tätigkeit des konkret-historischen Menschen zu ersetzen. Die wissenschaftliche Auffassung vom Menschen kann sich also nur darauf gründen, daß Tätigkeit und Bewußtsein des Menschen in bestimmten sozialen Strukturen soziologisch analysiert werden. Des öfteren wird die „Philosophie des Menschen" mit Problemen der Moral in Verbindung gebracht, wobei der Akzent auf dem individuellen sittlichen Bewußtsein liegt. Adam Schaff zum Beispiel setzt an die erste Stelle die Fragen nach dem Sinn des Lebens, nach dem Glück des Menschen und seiner moralischen Verantwortung, nach seinem Verhalten in moralischen Konfliktsituationen usw. In der sowjetischen Fachliteratur haben solche Themen noch fast gar keine Rolle gespielt. Sie sind teils in der Belletristik, teils bei der Polemik mit bestimmten idealistischen und religiösen Auffassungen aufgeworfen worden. Doch fallen sie strenggenommen in den Kompetenzbereich der Ethik, weil sie bestimmte Besonderheiten der ethischen Fragestellung aufweisen. Nach meiner Ansicht steht im Mittelpunkt der wissenschaftlichen Persönlichkeitsforschung die konkrete Analyse der realen Beziehungen, die sich in unserer Gesellschaft entwickelt haben, eine Analyse, die deren objektive Entwicklungstendenzen bloßlegt, ebenso wie den Charakter und die Art der Einbeziehung der Persönlichkeit und ihrer Tätigkeit in die gesellschaftliche Gesamttätigkeit, den Einfluß der Umweltbedingungen auf die Aktivität des Menschen, den Mechanismus der Persönlichkeitsbildung, die soziale Tendenz dieses Prozesses usw. Hier haben wir es folglich mit Problemen zu tun, die heute bei der Entwicklung der sozialistischen Gesellschaft eine direkt praktische Bedeutung erlangen. Ihre Dringlichkeit ergibt sich auch daraus, daß der Mechanismus des Werdens der kommunistischen Persönlichkeit in unserer populärwissenschaftlichen Literatur nicht selten außerordentlich simplifiziert dargestellt wird. Aber gerade hier darf es keinerlei Momente des Subjektivismus geben, keinerlei Neigung, objektive Prozesse durch die Darstellung dessen zu ersetzen, wie sie im Wunschfalle ablaufen könnten. Die Aufgabe, die unsere Gesellschaft zu bewältigen hat, besteht in der Formung der harmonischen, allseitig entwickelten Persönlichkeit. Dieser Begriff bedarf einer exakten inhaltlichen Bestimmung. Unter der Formung 30
einer „reichen" menschlichen Persönlichkeit verstand Marx vor allem die Herstellung solcher sozialen Verhältnisse, in denen die gesellschaftliche Tätigkeit des Menschen mit seiner eigentlichen individuellen Lebenstätigkeit zusammenfällt, in denen das Individuum der Schöpfer seiner sozialen Beziehungen ist und sich als solcher weiß. Marx definiert den Kommunismus als planmäßige und bewußte „Produktion der Verkehrsform selbst". Das Ideal der „harmonisch entwickelten Persönlichkeit" entspringt also nicht einem abstrakten Moralisieren, es ist kein Konglomerat verschiedener „edler" und hoher menschlicher Eigenschaften, die in dieser oder jener Weise in der Geschichte eine Rolle gespielt haben. Es ist in erster Linie durch jene Erfordernisse bedingt, die der Aufbau des Kommunismus an seine Schöpfer stellt. „Der reiche Mensch", bemerkt Marx, „ist zugleich der einer Totalität der menschlichen Lebensäußerung bedürftige Mensch. Der Mensch, in dem seine eigne Verwirklichung, als innere Notwendigkeit, als Not existiert." 1 4 Daher liegt die Erklärung für die Entwicklung einer „allseitig entwickelten" Persönlichkeit vor allem in jenen objektiven Zusammenhängen und Beziehungen, die das Individuum mit anderen Menschen eingeht, jener Form, in der die Einbeziehung der individuellen Tätigkeit in die Tätigkeit der ganzen Gesellschaft sich vollzieht. Das läuft hinaus auf die Untersuchung der Denkmethodik und des Denkresultats des Menschen bezüglich seines Platzes in der Gesellschaft, auf die Analyse seiner geistigen Welt. Daraus läßt sich eine wichtige Schlußfolgerung ableiten: Unter der Herausbildung einer „reichen", „harmonischen", „allseitig entwickelten" Persönlichkeit, die sich den gesellschaftlichen Reichtum aneignet, ist nicht die Organisierung eines Systems zur Verteilung verschiedener ethischer, kultureller und sonstiger Werte unter die Menschen zu verstehen, denen nur übrigbleibt, sie so vollständig wie möglich aufzunehmen. Das wäre das bürgerlich-bürokratische Denkschema, in dem das „Volk" nur als Objekt für hochherzige philanthropische Anwandlungen fungiert. Das gesellschaftliche Wesen des Menschen läßt sich nur in dessen aktiver Tätigkeit, nur in der direkten Teilnahme am gesellschaftlichen Schaffensprozeß aneignen ; erst dadurch bildet sich ein bestimmter sozialer Persönlichkeitstyp heraus. In diesem Zusammenhang bedarf das Begriffspaar „Persönlichkeit und Gesellschaft" einer Präzisierung. Es ist wichtig, daß „Gesellschaft" nicht verstanden wird als irgendeine dem Menschen äußerliche Substanz, als etwas, was neben dem Individuum existiert. Woher eine derartige Vorstellung kommt, ist klar: Sie bezieht sich auf das, was Marx mit dem Ter14
K. Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte aus dem Jahre 1944, in: Ä. Marx ¡F. Engels, Werke, Ergänzungsband, Erster Teil, Berlin 1968, S. 544
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minus „Entfremdung" des Individuums bezeichnet hat, auf die Diskrepanz zwischen dem individuellen und dem Gattungs-, dem gesellschaftlichen Wesen. Die Abstraktion einer so verstandenen „Gesellschaft" widerspiegelt die besondere Lage des Menschen in der privatkapitalistischen Umwelt und die spezifisch bürgerliche Auffassung, nach der die gesellschaftliche Tätigkeit des Menschen nicht mit seiner individuellen Tätigkeit zusammenfällt, sondern ihr entgegensteht. In idealistischen Theorien ist gerade dieses Schema häufig anzutreffen. Bei einer solchen Art der Betrachtung wird das eigentliche Problem verzerrt. Zunächst werden die Seiten einer bestimmten Erscheinung voneinander losgelöst und absolut gesetzt, werden die inhaltlichen Zusammenhänge zwischen ihnen entleert, um anschließend den Versuch zu unternehmen, diese „Beziehung" aufs neue zu knüpfen. Marx hat gerade davor gewarnt. Er hob hervor, es sei „vor allem zu vermeiden, die Gesellschaft' wieder als Abstraktion dem Individuum gegenüber zu fixieren" 1 5 . Der Kern des Problems liegt in der Aufgabe, das Verhältnis des Individuums zu anderen Individuen zu klären. Vorläufig aber ist dies eine allgemeine, unvollständige Formulierung. Die Gesellschaft ist nicht nur eine Menge von Individuen, die sich im Zustand chaotischer Bewegung befinden, wie etwa Gas- oder Flüssigkeitsmoleküle. Unabhängig von ihrem Wollen und Wünschen entstehen bestimmte soziale Beziehungen und Institutionen, die den Rahmen bilden für die Stellung, die Beschaffenheit und die Tätigkeit des einzelnen Menschen. Daher handelt es sich bei der Formung einer „harmonischen" Persönlichkeit im Grunde um die Herstellung bestimmter Beziehungen zwischen den Menschen, Beziehungen, durch welche „die Individuen . . . einander machen, physisch und geistig" 1 6 . Das abstrakte Schema „Persönlichkeit — Gesellschaft" erweist sich also als Beziehung des Menschen zu anderen Menschen, als Inhalt der für das betreffende Individuum charakteristischen gesellschaftlichen Aktivität. Hier erhebt sich ein wichtiges Problem. Es betrifft den bekannten Satz von Marx, daß das menschliche Wesen das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse sei. Offensichtlich ist es möglich, sich bei der Feststellung der verschiedenen gesellschaftlichen Kontakte und Beziehungen des Individuums zu seinen Mitmenschen die Summe ihres Einwirkens vorzustellen und auf diese Weise sozusagen die Züge der konkreten menschlichen Persönlichkeit zu rekonstruieren, die sich aus diesen sozialen Bedingungen ergeben haben. Doch würde ein solches Verfahren den tatsächlichen Mechanismus der 15 E b e n d a , S. 538 16 K. Marx / F. Engels, S. 37
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Die deutsche Ideologie, i n : Werke, B d . 3, Berlin 1958,
Entstehung individueller Persönlichkeitsmerkmale offenbar sehr vereinfachen. Es handelt sich hierbei schließlich nicht um das Modell irgendeiner „tabula rasa", auf welche die Umwelt automatisch „persönlichkeitsbildende" Tupfen aufträgt, nicht um eine mechanische Reproduktion und Vermenschlichung äußerer Einflüsse. Es kann sich vielmehr nur darum handeln, daß diese Einflüsse in Übereinstimmung mit der individuellen Erfahrung, mit den Kulturtraditionen, den persönlichen Neigungen und Zielen des Menschen aktiv verarbeitet werden. Die Anerkennung dessen, daß der Mensch seine Persönlichkeitsmerkmale nur durch aktive „äußere" Tätigkeit erwirbt, setzt die Anerkennung seiner „inneren", subjektiven Aktivität voraus, durch die er sich selbst formt. In unseren philosophischen Arbeiten ist das Problem der schöpferischen Aktivität meist im Zusammenhang mit der Rolle der Volksmassen in der Geschichte dargestellt worden. Die bekannte Feststellung Marx', daß „die tälige Seite abstrakt im Gegensatz zu dem Materialismus von dem Idealismus . . . entwickelt" 1 7 wurde, gilt auch für das Persönlichkeitsproblem. Der Existentialismus zum Beispiel hebt das aktive, rastlose, willensmäßige Element im Menschen, seine aggressive Eigeninitiative hervor, durch die er sein Selbst formt, verschiedene „Projekte" entwirft und dabei ständig eine „Auswahl" trifft, den Zustand der „Freiheit" demonstriert usw. Der Mensch erscheint hier als eine in sich geschlossene Persönlichkeit, als gleichsam zusammengeschmiedet, zu einem Knoten verschweißt durch die Aktivität seines Bewußtseins, das die äußeren Einwirkungen auf bestimmte Art ordnet und modifiziert. Zugleich ist jedoch festzuhalten, daß diese „tätige" Seite in der anthropologischen Konzeption jeder konkrethistorischen Bestimmtheit ermangelt. Dem gegenständlich sich äußernden Bewußtsein und Verhalten fehlt jeder von der Persönlichkeit unabhängige objektive Gehalt, es ist ein leeres, „äußerliches" Manipulieren, das, ebenso wie das Ritual von Götzendienern, nur im Zusammenhang mit der individuellen psychischen Erfahrung einen Sinn bekommt. Und doch erfaßt diese Konzeption, wenn auch in mystifizierter Form, eine reale Gesetzmäßigkeit: das Moment der „sich selbst regulierenden" Willenstätigkeit, der Psyche, des Bewußtseins des Menschen. Das gleiche zeigt sich in der christlichen Auffassung von der Willensfreiheit. Die wissenschaftliche Bearbeitung des Persönlichkeitsproblems verlangt, daß eine Theorie der menschlichen Tätigkeit vorliegt, in der die subjektive Aktivität des Individuums, seine Fähigkeit zur Akkumulation und Modifikation äußerer Einwirkungen, tiefgründig erklärt wird. Dennoch ist eine Theorie dieser Art nicht als anthropologische Konstruktion zu betrachten. Sie soll im Gegenteil den Nachweis erbringen für das konkret-historische 17
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K. Marx, Thesen über Feuerbach, in: K. Marx / F. Engels, Werke, Bd. 3, S. 5 Mayer
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Wesen und die soziale Bedingtheit der subjektiven Aktivität des Menschen: Das ist nur zu erreichen, wenn das Forschungsobjekt — die Persönlichkeit als „Atom", als „Monade", deren Zusammenhalt auf der Tätigkeit des Bewußtseins und Selbstbewußtseins beruht, auf der geistig-willensmäßigen Struktur, der allgemeinen Tendenz der Psyche usw. — vorher auf seine inhaltlichen Elemente hin zergliedert und deren Abhängigkeit, deren „Vermittlung" durch äußere soziale Bedingungen und Verhältnisse aufgedeckt wird. Grenzen und „Substrat" der selbstorganisierten Tätigkeit des Menschen müssen ebenso bekannt sein wie Charakter und Kennzeichen des „Auswählens", wenn das reale Bild der Persönlichkeit synthesehaft rekonstruiert, der Mechanismus der Persönlichkeitsbildung, die Verarbeitung äußerer Einwirkungen usw. erkundet werden sollen. Auf jeden Fall ist diese Art „makroskopischen" Schnitts durch die Gesellschaft, diese Art des Herangehens an die „menschlichen Probleme" von größter Wichtigkeit sowohl für die positive Darlegung des Themas überhaupt als auch für die Kritik an idealistischen Spekulationen. Dieses Vorgehen setzt auch die Ausarbeitung einiger problemrelevanter Kategorien voraus, so etwa des Begriffs „Notwendigkeit", der schon bei Marx eine Rolle spielt, wie der Begriffe „Fähigkeit" und „Bedürfnis". Es erübrigt sich, ihre große Bedeutung hervorzuheben. Sie bilden das Gerüst der bekannten Leitsätze über den Sozialismus und Kommunismus. Dennnoch ist hier noch viel zu tun. „Bedürfnis" wird nicht selten allein auf die Sphäre des individuellen Konsums bezogen, und infolgedessen scheint es bei der Verwirklichung des Prinzips „Jedem nach seinen Bedürfnissen" lediglich auf die Vergrößerung des Warenangebots anzukommen. Viel hängt auch ab von der Klärung solcher Begriffe wie „persönliche Interessiertheit", „moralisches Stimulans", „Freizeit" u. a. (Natürlich müssen diese Kategorien auch unter objektivem Gesichtspunkt untersucht werden, als Forderungen, die sich gesetzmäßig aus bestimmten sozialen Bedingungen ergeben.) Bei der Analyse der tatsächlichen sozialen Beziehungen, die sich in unserer Gesellschaft herausgebildet haben, sollte erläutert werden, daß die Einbeziehung des Menschen in die Gesellschaft darin besteht, ihn an der Tätigkeit eines bestimmten Kollektivs zu beteiligen, das zugleich die Form, die Sphäre, die Bedingung und Voraussetzung seiner individuellen Tätigkeit bildet. Der Mensch wird sich seiner individuellen Eigenschaften nur dadurch bewußt, daß er zusammen mit anderen eine bestimmte Tätigkeit ausübt. „Erst in der Gemeinschaft [mit Andern h a t jedes] Individuum die Mittel, seine Anlagen nach allen Seiten hin auszubilden; erst in der Gemeinschaft wird also die persönliche Freiheit möglich . . . In der wirklichen Gemeinschaft erlangen die Individuen in und durch ihre Assoziation zugleich ihre Freiheit." 1 8 18
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K. Marx / F. Engels, Die deutsche Ideologie, in: Werke, Bd. 3, S. 74
Es ist also die Logik unseres Problems selbst, die uns zur Bestimmung der Merkmale „wirklicher Gemeinschaftlichkeit" im Unterschied zur scheinbaren veranlaßt. Marx bemerkt dazu in der „Deutschen Ideologie": „In den bisherigen Surrogaten der Gemeinschaft, im Staat usw. existierte die persönliche Freiheit nur für die in den Verhältnissen der herrschenden Klasse entwickelten Individuen und nur, insofern sie Individuen dieser Klasse waren. Die scheinbare Gemeinschaft, zu der sich bisher die Individuen vereinigten, . . . war . . . für die beherrschte Klasse nicht nur eine ganz illusorische Gemeinschaft, sondern auch eine neue Fessel." 19 Marx stellt den Surrogaten der Gemeinschaft die „wirkliche Gemeinschaft" gegenüber: „Bei der Gemeinschaft der revolutionären Proletarier dagegen, die ihre und aller Gesellschaftsmitglieder Existenzbedingungen unter ihre Kontrolle nehmen, ist es gerade umgekehrt; an ihr nehmen die Individuen als Individuen Anteil. Es ist eben die Vereinigung der Individuen . . ., die die Bedingungen der freien Entwicklung und Bewegung der Individuen unter ihre Kontrolle gibt, Bedingungen, die bisher dem Zufall überlassen waren und sich gegen die einzelnen Individuen . . . verselbständigt hatten." 2 0 Diese Charakteristik hat nichts Abstraktes; ihre Bedeutung für das praktische Leben ist empirisch offenkundig. Es handelt sich um folgenden einfachen Zusammenhang: Eine bestimmte Gemeinschaft von Menschen, sei sie auch noch so „gefestigt" und „geschlossen", gewährleistet für sich genommen noch nicht die Formung „reicher" Persönlichkeiten. Es ist auch denkbar, daß eine solche Gemeinschaft mit ihrer Tätigkeit lediglich das Verhalten von Menschen integriert, vereinigt, die ihre Lebenstätigkeit nicht frei und schöpferisch äußern, so daß die Persönlichkeit des Menschen sich dabei nicht entfaltet, sondern im Gegenteil unterdrückt wird. Dies ist zum Beispiel in religiösen Gemeinschaften und Vereinigungen der Fall. Marx stellt an die erste Stelle den Charakter der Beziehungen innerhalb einer Gemeinschaft, die Fähigkeit ihrer Mitglieder, die Bedingungen ihrer Existenz unter Kontrolle zu halten. Fehlt diese Fähigkeit, so ist das auch durch noch so intensive Versuche, sie anzuerziehen, nicht auszugleichen. Daher auch ist das Programm der „human relations", eine Modeerscheinung der kapitalistischen Welt, so illusorisch. Das Kollektiv als Ganzes und jedes seiner Mitglieder muß also über einen bestimmten Bereich verfügen, den es souverän beherrscht und in dem es seine Existenzbedingungen aktiv zu beeinflussen vermag. 2 1 Dies zu betonen ist auch deshalb wichtig, weil es 19 Ebenda 20 Ebenda, S. 74/75 21 Es wäre in diesem Zusammenhang sehr aufschlußreich, bestimmte Mängel der Bewegung für kommunistische Arbeit zu untersuchen, Mängel, die sich daraus ergeben haben, daß die „innere" Selbstbewegung der Arbeitskollektive in einer Reihe von Fällen formalen äußeren Anforderungen und Vorschriften untergeordnet wurde. S*
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uns den einzigen inhaltlichen Maßstab gibt, um zwischen den verschiedenen Individuen zu unterscheiden und Vergleiche zu ziehen. Marx h a t bekanntlich darauf hingewiesen, daß im Kapitalismus das Unterscheidungskriterium für Persönlichkeiten nicht von deren eigentlicher Lebenstätigkeit ausgeht, sondern sich auf die vom Menschen in Besitz genommenen Gegenstände beschränkt. E r formulierte die Aufgabe, daß die Menschen ihre Unterscheidungsmerkmale selbst entwickeln sollten, indem sie in aktiver, schöpferischer Lebenstätigkeit auf ihre Fähigkeiten einwirken und sie entfalten. Wenn die Rede ist von der sozialen Bedingtheit dieser und jener menschlichen Eigenschaften, von der Entstehung und Entwicklung seiner inneren Bedürfnisse, dann sollten auch seine eigenen Beziehungen zu anderen Menschen, seine jeweilige soziale Erfahrung zur Sprache kommen. Der formende Einfluß gesellschaftlicher Faktoren auf die Persönlichkeit mißt sich daran, wie diese organisch in die eigentliche Lebenssphäre des Menschen eingehen. (Das gilt selbstverständlich auch für ideologische, kulturelle u. a. Werte.) Das Verständnis für den wirklichen Mechanismus der Persönlichkeitsbildung beruht auf der Analyse der zwischenmenschlichen Beziehungen im Sozialismus. Man gewinnt es nicht durch das mechanische Deduzieren aus Grundprinzipien der sozialistischen Produktion. Wichtig ist vor allem das aufmerksame und systematische Studium des wirklichen Lebens, der t a t sächlichen menschlichen Beziehungen, der Tätigkeit verschiedener sozialer Institutionen. Darin wird die bestimmende Rolle konkreter sozialer Untersuchungen für die Bearbeitung dieses Problems offenkundig, Untersuchungen, mit deren Hilfe ein reales Bild mit all seinen Nuancen und seiner Kompliziertheit möglich wird. Nur eine Formulierung und Lösung des Persönlichkeitsproblems, bei der von dessen wirklichem Inhalt und nicht von einer separaten Sphäre abstrakter Kategorien ausgegangen wird, kann die tatsächlichen Gesetzmäßigkeiten erfassen und idealisierte Vorstellungen ausschließen, kann auf ihre praktische Durchsetzung einwirken, statt sie nur „philosophisch" zu sanktionieren; nur eine derartige Lösung vermag die Herausbildung und praktische Durchsetzung kommunistischer Beziehungen, die Formung der kommunistischen Persönlichkeit zu stimulieren.
P . E . KRJAZEV
Persönlichkeitsbildung als sozialer Prozeß
Die Formung von Persönlichkeiten im Laufe der gesellschaftlichen Entwicklung ist ein objektiver und gesetzmäßiger Prozeß. Formulierungen wie: „Die Persönlichkeit ist das Produkt der gesellschaftlichen Verhältnisse" reichen nicht aus, sie zu charakterisieren. (Die gesellschaftlichen Verhältnisse selbst sind, wie Lenin bemerkte, „das Produkt der Tätigkeit lebendiger Persönlichkeiten", „aus deren Handlungen diese Verhältnisse ja hervorgehen" 1 .) Bei der oben zitierten Formulierung, die zu Recht auf die Abhängigkeit der Persönlichkeitsbildung von den gesellschaftlichen Bedingungen verweist, wird zugleich gewissermaßen von der Spontaneität dieses Prozesses, von der „Eigenbewegung" der Persönlichkeit abgesehen, eben davon, daß diese sich auch selbst schafft. Andererseits führen die übermäßige Betonung der Selbstschöpfung und deren Verabsolutierung (wie sie für den Existentialismus charakteristisch ist), die Loslösung des Gedankens von der Eigengesetzlichkeit dieses Prozesses von der Entwicklung der gesellschaftlichen Verhältnisse zum subjektiven Idealismus. Der historische Materialismus schließt eine mechanistische Kausalitätsauffassung aus, wie sich auch hinsichtlich der dialektischen Wechselwirkung zwischen dem Menschen und seiner Umwelt, zwischen Persönlichkeit und Gesellschaft zeigt. Die Persönlichkeit ist nichts Übergesellschaftliches, sondern das individuelle Dasein der gesellschaftlichen Verhältnisse. Letztere sind die Basis der erwähnten Wechselwirkung. Angesichts dessen läßt sich sagen: Die Persönlichkeit ist im gleichen Maße das Produkt der gesellschaftlichen Verhältnisse, wie diese das Produkt des Wirkens der Persönlichkeit sind. Das gesellschaftliche Wesen der Persönlichkeit erlaubt es nicht, die Gesellschaft als eine einfache Summe von Individuen, als Produkt des Handelns von gänzlich selbständigen Einzelmenschen aufzufassen. Sie ist kein summarisches, sondern ein integratives, geschlossenes System. 2 Sie beruht 1 W. I. Lenin, Der ökonomische Inhalt der Volkstümlerrichtung und die Kritik an ihr in dem Buch des Herrn Struve, i n : Werke, B d . 1, Berlin 1965, S. 422 bzw. 419 2 Vgl. V. G. Afanas'ev, Problema celostnosti v filosofii i biologii (Das Ganzheitsproblem in der Philosopliie und in der Biologie), Moskva 1964
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auf Produktionsverhältnissen, welche die Tätigkeit der Persönlichkeiten objektivieren. Wenn diese Produktionsverhältnisse sich auf privates Eigent u m an den Produktionsmitteln gründen, so spaltet sich die Gesellschaft zwangsläufig in antagonistische Klassen, und infolgedessen bilden auch die Individuen Klassen. Lenin sah die enorme Bedeutung der Marxschen Theorie vom Klassenkampf darin, daß sie „die Methoden dieser Zurückf ü h r u n g des Individuellen auf das Soziale mit völliger Genauigkeit und Bestimmtheit festlegt. Erstens h a t diese Theorie den Begriff der sozialökonomischen Formation h e r a u s g e a r b e i t e t . . . Zweitens wurden die H a n d lungen der ¡lebendigen Persönlichkeiten' im Rahmen jeder sozialökonomischen Formation — Handlungen, die unendlich mannigfaltig sind und keine Systematisierung zu vertragen scheinen — verallgemeinert und auf die Handlungen von Personengruppen zurückgeführt, . . . auf die H a n d lungen der Klassen . . ., deren Kampf die Entwicklung der Gesellschaft bestimmte."3 Unter diesen Bedingungen objektiviert also die Klasse die Persönlichkeitsentwicklung des Individuums. Es entsteht ein klassenbestimmter Persönlichkeitstyp. Die Persönlichkeit repräsentiert das individuelle Dasein ihres Klassenwesens. Es wäre jedoch falsch, anzunehmen, daß der Zusammenhang zwischen Klasse und Persönlichkeit ein mechanischer sei, daß jedes Mitglied der Klasse automatisch deren sämtliche Merkmale verkörpere. Die Persönlichkeit ist kein direktes und unvermitteltes P r o d u k t der Klasse, und diese d r ü c k t der Persönlichkeit nicht einfach den Stempel ihres Wesens auf. Der Marxismus schließt solche Schemata aus, denen die Idee einer fatalistischen Vorherbestimmtheit a n h a f t e t . Marietta Saginjan schildert in ihren „Englischen Briefen", wie sie in London eine armenische Familie mit dem anglisierten Namen E p r e c h e m j a n kennenlernte: „Wir setzten uns an den Tisch, der mit armenischen Speisen und Getränken besetzt war, ganz als ob wir nicht in London wären, sondern in Jerewan. Aber was in Jerewan nicht an einem Tisch denkbar gewesen wäre: Drei Söhne saßen da mit ihren Familien — der erste der H e r r aller der Herrlichkeiten vor uns, ein Londoner Lebensmittelkaufmann; sein Bruder Felix, mit schwarzem Künstlerbart und einer Nelke im Knopfloch, Mitglied der konservativen Tory-Partei und ein sehr bekannter Musikkritiker, u n d der dritte, F r a n k , Physiker und Kommunist, Assistent von Professor Bernal." 4 Angesichts solcher Erfahrungen k o m m t B. T. Malysev zu dem überraschenden Schluß, d a ß vom S t a n d p u n k t der Soziologie „niemand im3
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W. I. Lenin, Der ökonomische Inhalt der Volkstümlerrichtung und die Kritik an ihr in dem Buch des Herrn Struve, in: Werke, Bd. 1, S. 424, 425 und 426 AA. Saginjan, Anglijskie pis'ma (Englische Briefe), in: Literaturnaja gazeta vom 19. März 1966
Stande ist, das so ungewöhnliche' Verhalten der konkreten, lebendigen Menschen zu erklären" 5 . Angesichts individueller Abweichungen von den „Forderungen der Klasse", Situationen, „die es in jeder Geschichtsepoche gibt", macht er genaugenommen bewußt, daß sich hinter den Fakten eine bestimmte Gesetzmäßigkeit verbirgt, die jedoch angeblich nicht soziologisch zu erklären sei. Nach seiner Ansicht ist die Persönlichkeit weder unter den Gegenstandsbereich des historischen Materialismus noch der politischen Ökonomie, noch anderer Gesellschaftswissenschaften zu rechnen, weil diese Disziplinen „die menschliche Persönlichkeit jeweils nur von einer bestimmten Seite her tangieren. Mehr noch, um bestimmte Persönlichkeitsmerkmale zu untersuchen, gehen sie vom Wirken der Gesetze gesellschaftlicher Organisationen (? — P. K.) aus. So ist etwa eine gesellschaftliche Klasse entstanden und tritt in Aktion. Ihre inneren Gesetze sind von ganz bestimmter Art. Daraus wird der Schluß gezogen: Die Mitglieder dieser Klasse, einzelne Menschen, die zu ihr gehören, werden sich den Forderungen der Klasse gemäß verhalten. Vom Standpunkt der statistischen Gesetze ist dieser Schluß völlig gerechtfertigt und wissenschaftlich begründet." 6 Die erwähnten Abweichungen von den „Forderungen der eigenen Klasse" jedoch gehen — so Malysev — die Soziologie schon nichts mehr an. Sie fallen vielmehr in den Kompetenzbereich der Psychologie, weil diese sich mit dem Wirken nicht der sozialen, sondern der persönlichkeitsbezogenen Gesetze befaßt: „Alles Persönliche funktioniert nach seinen individuellen Gesetzen." 7 Auf den ersten Blick ist diese Interpretation verlockend: Die Soziologie untersucht die Entwicklungsgesetze der Gesellschaft, die Psychologie die der Persönlichkeit. Daß es die Psychologie mit der Persönlichkeit zu tun hat und diesbezügliche Gesetzmäßigkeiten formuliert, ist nicht zu bestreiten. Aber die Entwicklungsgesetze der menschlichen Psyche und der individuellen psychischen Struktur sind nicht erschöpfend und allumfassend. Die Situation, von der Marietta Saginjau berichtet, ist nicht einmalig. Denken wir nur an den Bürgerkrieg, als Brüder, Väter und Söhne sich mit ihren politischen Überzeugungen gegenüberstanden und in verschiedenen Lagern standen. Das ist nicht allein von der Psychologie, von den „persönlichen Gesetzen" her erklärbar. Es wäre simpel, zu behaupten, daß die Mitglieder einer Klasse sich auch „den Forderungen ihrer Klasse gemäß verhalten müssen". Denn wie wäre dann die Spaltung der Arbeiterklasse zu erklären, die von den rechten Sozialdemokraten in verschiedenen Ländern betrieben wird? Unter dem B. T. Malysev, Celoveceskaja lienost' i ee p r o j a v l e n i j a (Die menschliche Persönlichkeit und ihre Äußerungen), Moskva 1964, S. 47 e E b e n d a , S . 46 ' E b e n d a , S . 47 5
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Gesichtspunkt der „statistischen Gesetze" (Soziologie) wird dieses Verhältnis als eine Art automatische Abhängigkeit der Persönlichkeit von der Klasse vorgestellt; unter dem Aspekt der „persönlichkeitsbezogenen Gesetze" (Psychologie) löst sich die Persönlichkeit im Grunde von der Klasse, weil von der Voraussetzung ausgegangen wird, daß ihre F o r m u n g und E n t wicklung keinerlei sozialen Gesetzen unterworfen ist. Klassenbedingtheit und Spontaneität der Persönlichkeitsbildung werden voneinander getrennt, s t a t t als dialektische Einheit begriffen zu werden. Die Persönlichkeit f o r m t sich durch Tätigsein. Ihr Handeln im Rahmen einer Klasse ist seinem Wesen nach sozial widersprüchlich. Im engeren Sinne h a t es zwei zusammengehörige Seiten: eine operativ-technische und eine sozial-verhaltensmäßige. Beide durchdringen einander. So f ü h r t zum Beispiel die hohe Qualifikation eines Teils der Arbeiter zur E n t s t e h u n g einer sozialen und beruflichen Zwischenschicht, die sich von den unqualifizierten Arbeitern abhebt. Bekanntlich warendieenglischenTrade-Unionsursprünglich die Berufsverbände der hochqualifizierten Arbeiter. B e k a n n t ist weiterhin, daß dieser Teil der Arbeiter, die sogenannte Arbeiteraristokratie, die soziale Basis f ü r den Opportunismus in der Arbeiterbewegung bildete. Noch deutlicher k o m m t die enge Verbindung zwischen den beiden Seiten der Tätigkeit zum Vorschein, wenn es sich u m antagonistische Klassen handelt, wie etwa Bourgeoisie und Proletariat. Die gesamte operativ-technische Tätigkeit, die unter kapitalistischen Bedingungen mit Arbeit verbunden ist, obliegt der u n t e r d r ü c k t e n Klasse, während die Leitung das Monopol der Herrschenden ist. Der Sozialismus, der den Klassenantagonismus liquidiert, überwindet auch diese Funktionsteilung. Im entwickelten Kommunismus, wenn die Spuren der sozialen Ungleichheit gänzlich verschwinden, werden auch sämtliche Überbleibsel dieser Trennung von ausführenden und leitenden Funktionen überwunden, und die Persönlichkeit wird durch ihre Tätigkeit auf vielfältige Art mit dem gesellschaftlichen Leben verbunden sein. Im Verlauf der Tätigkeit e n t s t e h t und entwickelt sich nicht n u r der soziale Inhalt, sondern auch die soziale F o r m der Persönlichkeit. 8 Ihre soziale S t r u k t u r bildet sich als Synthese jener Tätigkeitsweisen, in die sie einbezogen ist. Wenn diese Synthese, d. h. die soziale Form, die einen konkrethistorischen sozialen Gehalt besitzt, einmal entstanden ist, t r i t t sie in jeder einzelnen Tätigkeitsart und in jeder einzelnen H a n d l u n g relativ selbständig hervor. So wie ein Künstler, der eine dramatische Gestalt auf seine höchst individuelle Weise interpretiert, so verwirklicht ein Mensch, der 8
Vgl. P. E. Krjazev, Licnost' kak sociologiceskaja kategorija (Die Persönlichkeit als soziologische Kategorie), in: Filosofskie zapiski (Philosophische Aufsätze), Krasnojarsk 1962
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seinen Stil gefunden hat, in jeder Handlung seine Tätigkeit, prägt sie durch sein Wesen, seine Erfahrung, sein Wissen. Die sittliche Erfahrung eines Menschen widerspiegelt sich auf bestimmte Weise in der Arbeitstätigkeit wie im revolutionären Kampf, in der Familie wie im Alltag. An unsere Überlegungen zum Verhältnis von Persönlichkeit und Klasse anknüpfend, können wir sagen: In dem Maße, wie die Persönlichkeit an der Tätigkeit ihrer Klasse teilnimmt, formt sie ihr eigenes Klassenwesen, dessen wichtigste Seiten ihr sozialer Inhalt und ihre soziale Form sind. Nicht jeder Sklave oder Proletarier wird automatisch ein Revolutionär, weil er zur unterdrückten und daher revolutionären Klasse gehört. „Der Sklave, der sich seiner Sklavenstellung bewußt ist und gegen sie kämpft, ist ein Revolutionär. Der Sklave, der sich seiner Sklaverei nicht bewußt ist und in schweigendem, unbewußtem und stummem Sklavenleben dahinvegetiert, ist einfach ein Sklave. Der Sklave, dem der Speichel zusammenläuft, wenn er selbstzufrieden die Reize des Sklavenlebens beschreibt und über den gütigen und lieben Herrn in Entzücken gerät, ist ein Knecht, ein Lakai." 9 Der Revolutionär, der Sklave und der Lakai sind drei Persönlichkeitstypen ein und derselben Klasse; ihre objektive Lage ist die gleiche. Aber die Tatsache allein, daß jedes Individuum dieser Klasse in seiner persönlichen Entwicklung durch die gesellschaftlichen Existenzbedingungen der Klasse objektiviert ist, macht es noch nicht zum Revolutionär. Darin liegen nur günstigere objektive Möglichkeiten, ein Revolutionär zu werden, sich die revolutionäre Erfahrung seiner Klasse anzueignen oder, anders gesagt, günstigere Möglichkeiten, im aktiven revolutionären Kampf den sozialen Inhalt und die soziale Form eines Revolutionärs zu gewinnen. (Revolutionär kann auch der Angehörige einer anderen Klasse werden, wenn er sich auf die Position der revolutionären Klasse begibt.) Doch diese Möglichkeit verwirklicht sich nicht im Selbstlauf. Außerdem darf man nicht außer acht lassen, daß die gegnerische, d. h. die reaktionäre Klasse möglicherweise einen entgegengesetzten Einfluß auf den Revolutionär ausübt. Von großer Bedeutung für die Persönlichkeitsbildung sind die subjektiven Klassenkräfte, der Bewußtseinsgrad und die Organisiertheit der Klasse wie auch jedes ihrer Mitglieder. Hier vollzieht sich eine komplizierte Wechselwirkung von Klasse und einzelnem, der sein Klassenprofil ausbildet, seine Selbständigkeit als Persönlichkeit gewinnt, die Möglichkeit nämlich, in jeder beliebigen Situation im Sinne der Klasse zu entscheiden. Auf der Stufe dieser Selbständigkeit, die dem Entwicklungsgesetz unterworfen ist, erhält die Wechselwirkung von Klasse und Persönlichkeit einen aktiveren 9 W. I. Lenin, Graf Heyden zum Gedächtnis, in: Werke, Bd. 13, Berlin 1963, S. 41
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Charakter, denn der spontane Entwicklungsprozeß der letztgenannten ist relativ selbständig geworden. Auch der Einfluß des einzelnen auf die Klasse v e r s t ä r k t sich. Die F o r m u n g und Entwicklung der Persönlichkeit besteht darin, daß der einzelne sich praktische soziale Erfahrungen aneignet. Die soziale E r f a h rung bringt in jeder konkreten geschichtlichen E t a p p e zum Ausdruck, in welchem Grade der Mensch die Herrschaft über die N a t u r k r ä f t e und die objektiven Mächte der gesellschaftlichen Entwicklung errungen hat. Diese E r f a h r u n g ist objektiv fixiert in den Produktionsinstrumenten, in Wissenschaft, Kunst, in den gesellschaftlichen Beziehungen selbst. Der Mensch wird nicht als Ingenieur, als Arzt, als Physiker oder Philosoph geboren. E r besitzt nach den Worten von A. N. Leont'ev bei seiner Geburt n u r eine Fähigkeit: nämlich die, sich menschliche Qualitäten anzueignen. Wenn die soziale E r f a h r u n g in der geschichtlichen Abfolge der Generationen auch einen Einfluß auf den biologischen Mechanismus der Vererbung ausübt, so doch offenbar n u r in bezug auf die Aneignung menschlicher Fähigkeiten. Dies betrifft die mögliche Vervollkommnung des Komplexes von Anlagen und ihrer physiologischen S t r u k t u r unter dem Einfluß der gesellschaftlichen Erfahrung. In dieser Beziehung vermag die kommunistische Gesellschaft die günstigsten Bedingungen zu schaffen. Selbst wenn man von den konkret-historischen Gegebenheiten absieht, ist die Aneignung der sozialen Lebenserfahrung durch das Individuum in sich widersprüchlich: Sie repräsentiert die dialektische Einheit von Vergegenständlichung (Objektivierung) und Aneignung (Subjektivierung) seines sozialen Wesens. So entwickelt der Mensch im Arbeitsprozeß nicht n u r seine Fähigkeiten, er vergegenständlicht sie auch in den Produkten seiner Tätigkeit, etwa in neuen Produktionsinstrumenten und -mittein. Gegenüber der nachfolgenden Generation stellen die letztgenannten objektive, zu Gegenständlichkeit gewordene menschliche Fähigkeiten, menschliche Erfahrungen d a r ; die Benutzung dieser Gegenstände bedeutet zugleich die Aneignung schon vorhandener Erfahrungen. Das aber berührt nicht n u r das Verhältnis zwischen den Generationen; dieser Prozeß ist ein ständiger infolge des Wechsels der Tätigkeit, der in seiner ökonomischen F o r m eine der wesentlichen Seiten der Produktionsverhältnisse bildet. Zugleich betrifft das nicht nur die Arbeitsinstrumente und -mittel; es gilt f ü r die ökonomische wie für die politische, f ü r die sittliche wie f ü r die ästhetische E r f a h r u n g des gesellschaftlichen Lebens, daß sie objektiviert und subjektiviert wird. Marx schrieb, daß jedes menschliche Verhältnis zur Welt der Gegenstände eine „Aneignung der menschlichen Wirklichkeit" bedeute. 1 0 10
K. Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte aus dem Jahre 1844, in: K. MarxjF. Engels, Werke, Ergänzungsband, Erster Teil, S. 539/40
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Auf diese These gestützt, schlußfolgerte A. N. Leont'ev: „Dies ist ein Prozeß, in dessen Resultat das Individuum die geschichtlich gewachsenen menschlichen Fähigkeiten und Funktionen reproduziert." Und weiter: „Die Fähigkeiten und Funktionen, die der Mensch im Laufe dieses Prozesses entwickelt, sind psychische Neubildungen, gegenüber denen die erblichen, natürlichen Mechanismen und Prozesse nur notwendige innere (subjektive) Bedingungen darstellen, die ihre Entstehung erst ermöglichen; sie bestimmen jedoch weder ihre Zusammensetzung noch ihre spezifische Q u a l i t ä t . " 1 1 Der Prozeß von Vergegenständlichung und Aneignung ist ein spezifisch menschlicher; durch ihn haben sich die Menschen aus der Tierwelt erhoben. Marx h a t sein Wesen enthüllt; dies ist für das Verständnis der F o r m u n g und Entwicklung der Persönlichkeit von außerordentlicher Bedeutung. Die Menschen entfalten ihr Wesen nicht nur nach außen hin, indem sie die N a t u r und die gesellschaftlichen Verhältnisse selbst verändern, sondern sie eignen es sich auch aktiv an, machen es zu ihrem Inneren, zum Wesen der Persönlichkeit. Die Differenzierung der Persönlichkeiten h ä n g t — soweit man sie u n t e r dem Aspekt allgemeiner soziologischer Analyse f a ß t — davon ab, inwieweit sich das menschliche Individuum unter bestimmten Bedingungen seine sozialen Wesenskräfte angeeignet hat. Insofern ist Persönlichkeit das Maß, in dem sich das Individuum unter jeweils konkret-historischen Verhältnissen sein soziales Wesen aneignet. „Der Mensch", schrieb Marx, „eignet sich sein allseitiges Wesen auf eine allseitige Art an, also als totaler Mensch . . ." 1 2 Dieser Satz verweist auf die gesamtgeschichtliche Tendenz zur allseitigen Entwicklung der Persönlichkeit. Diese Tendenz ergibt sich aus dem universellen Charakter der menschlichen Tätigkeit, aus dem Wesen der Arbeit, der Grundlage aller Tätigkeit. Die menschliche Tätigkeit läßt sich nicht auf die Umgestaltung der N a t u r reduzieren; in ihre materielle Spare gehört auch die Umgestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse. Die Einbeziehung des Individuums in solche vielseitige Tätigkeit ist der Ausgangspunkt seiner allseitigen E n t wicklung als Persönlichkeit. Dieses Problem muß aber auch unter konkret-historischem Aspekt bet r a c h t e t werden. Es ist erstens nicht zu übersehen, daß die Universalität der menschlichen Tätigkeit in den Anfängen der Menschheit erst sehr schwach ausgeprägt war. Und zweitens bringt in den entwickelten sozialökonomischen Formationen, die auf dem Privateigentum beruhen, die 11
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A. N. Leont'ev, Ob istoriceskom podchode v izucenii psichiki celoveka (Zum geschichtlichen Herangehen an die Erforschung der menschlichen Psyche), in: Psichologiceskaja nauka v SSSR (Psychologie in der UdSSR), Bd. 1, Moskva 1959, S. 23 K. Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte aus dem Jahre 1844, in: K. Marx)F. Engels, Werke, Ergänzungsband, Erster Teil, S. 539 43
menschliche Tätigkeit antagonistische Widersprüche zum Ausdruck. Schon infolge der Teilung der Gesellschaft in feindliche Klassen kann die der einen Klasse angehörende Persönlichkeit nicht in jene Tätigkeit einbezogen werden, mit der sich die Persönlichkeit der anderen Klasse befaßt. Mehr noch, das Privateigentum entfremdet die unterdrückte Klasse ihrer Arbeitstätigkeit und dadurch zugleich dem menschlichen Wesen. In der Arbeit formt der Mensch daher sein Gesicht nicht, er verliert es. Dem Sklaven wurde seine Selbständigkeit als Persönlichkeit offen genommen: Man konnte ihn kaufen und verkaufen, ja sogar töten. Im Kapitalismus finden wir eine versteckte, aber darum nicht weniger grausame und hinterhältige Sklaverei vor. Gekauft und verkauft wird nicht mehr der Mensch, wohl aber seine Arbeitskraft. Sie wird von denen verkauft, die sie besitzen, aber n u r für so lange, wie sie zur Arbeit gebraucht wird. Was aber ist Arbeitskraft? Es ist die Gesamtheit der Fähigkeiten, welche die Persönlichkeit des Menschen ausmachen. Gerade diese Fähigkeiten werden an den Kapitalisten verkauft. Als ihr Eigentümer verwandelt er sie in Instrumente zur Kapitalvermehrung. Marx schrieb, daß das Kapital den Arbeiter seiner Persönlichkeit beraube, da es seine Arbeit zum Ferment des Kapitalzuwachses mache. Auf die das Individuum verkrüppelnden kapitalistischen Formen der Arbeitsteilung wollen wir hier nicht eingehen. Doch wie verhält es sich unter diesen Umständen mit der Formung und Entwicklung der Persönlichkeit der Unterdrückten und vor allem mit der geschichtlichen Tendenz zu allseitiger Entwicklung? All dies besitzt hier einen deutlich ausgeprägten Klassencharakter. Hauptsphäre der Formung und Entwicklung der proletarischen Persönlichkeit wird der Klassenkampf, der mit der objektiven geschichtlichen Aufgabe des Proletariats verbunden ist. Gerade in der bestmöglichen Erfüllung seiner historischen Mission, im ökonomischen, politischen und ideologischen Klassenkampf also, entfaltet sich das revolutionäre Wesen des Proletariats als Klasse. Soweit es sich um den Klassenkampf handelt — in dem allein der Proletarier sein Profil erhalten kann —, ist es begründet, von der konkret-historischen Form allseitiger Entwicklung der Persönlichkeit zu sprechen. Wenn also ein Proletarier sich aktiv am ökonomischen Kampf, d. h. am Kampf um den günstigeren Verkauf seiner Arbeitskraft beteiligt, aber noch nicht das Bewußtsein erlangt hat, daß es unvermeidlich ist, für die Vernichtung des Kapitalismus als Gesellschaftsordnung zu kämpfen, während ein zweiter Proletarier bereits an der politischen Auseinandersetzung mit der Bourgeoisie teilnimmt und ein dritter, der sich die revolutionäre Theorie des Marxismus-Leninismus zu eigen gemacht hat, nicht nur aktiv im ökonomischen und politischen Kampf steht, sondern sogar an der Entlarvung der antikommunistischen Ideologie, der Ideologie der rechten Sozialdemokra44
ten teilhat — was läßt sich dann über die Unterschiede beispielsweise zwischen dem ersten und dem dritten Proletarier sagen? Für alle drei gilt zunächst, daß sie sich — wenn auch in unterschiedlichem Maße — ihr Klassenwesen angeeignet haben. Der dritte hebt sich vom ersten dadurch ab, daß er sein revolutionäres proletarisches Wesen allseitig angenommen hat und es durch die aktive allseitige Teilnahme an der gesellschaftsverändernden Tätigkeit weiterentwickelt. Wenn wir so an dieses Problem herangehen, dürfen wir zu Recht schlußfolgern, daß die Persönlichkeit das Maß ist, in dem das menschliche Individuum sich sein soziales Klassenwesen (in der kommunistischen Gesellschaft sein gesellschaftlich-kommunistisches Wesen) allseitig zu eigen macht. Die revolutionäre Partei der Arbeiterklasse darf diese Gesetzmäßigkeit auf keinen Fall ignorieren. Da der Arbeiter sein revolutionäres Wesen nur durch Tätigsein, durch den Klassenkampf gewinnt, hängt viel davon ab, eine größtmögliche Zahl von Menschen in den revolutionären Kampf einzubeziehen und sie dabei zusammenzuschließen, zu organisieren und zu stählen. „Erst der Kampf erzieht die ausgebeutete Klasse", schrieb Lenin, „erst der Kampf gibt ihr das Maß ihrer Kräfte, erweitert ihren Horizont, steigert ihre Fähigkeit, klärt ihren Verstand auf, stählt ihren Willen." 13 Allerdings hat die allseitige Entwicklung der Persönlichkeit, ebenso wie die der Menschheit im ganzen, ihre Vorgeschichte und ihre eigentliche Geschichte. Diese beginnt dann, wenn die befreite Arbeit zur wichtigsten Sphäre für die Entwicklung der menschlichen Fähigkeiten wird. Die Arbeit zu befreien verlangt, daß die Produzenten der materiellen Güter die Produktionsmittel und Arbeitsprodukte gemeinschaftlich in Besitz nehmen. Die Eigentumsverhältnisse, die Grundlage der Produktionsverhältnisse, sind ökonomische Aneignungsbeziehungen. Dabei handelt es sich entweder um private oder aber um gesellschaftliche Aneignung. Der Kapitalismus verschärft den Widerspruch zwischen dem gesellschaftlichen Charakter der Produktion und der privaten Form der Aneignung auf das äußerste und weist dadurch zugleich den Ausweg aus dieser Lage: den revolutionären Übergang zur gesellschaftlichen Form der Aneignung. Dabei bedeutet die „Aneignung einer Totalität von Produktionsinstrumenten . . . die Entwicklung einer Totalität von Fähigkeiten in den Individuen selbst" 1 4 . Beim revolutionären Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus erfährt das soziale Wesen der Persönlichkeit eine qualitative Veränderung. Die Kategorie der Allseitigkeit wird reicher und erhält einen neuen Inhalt. Die Persönlichkeit befreit sich in jeder Hinsicht — in ökonomischer, politischer, 13
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W. I. Lenin, Ein Vortrag über die Revolution von 1905, in: Werke, Bd. 23, Berlin 1957, S. 249 K. Marx/F. Engels, Die deutsche Ideologie, in: Werke, Bd. 3, S. 68
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sozialer und geistiger. Das Verschwinden der antagonistischen Gegensätze, die freie Arbeit, die aktive Beteiligung an der Schaffung neuer gesellschaftlicher Beziehungen, die Nutzung der wissenschaftlichen und kulturellen Errungenschaften — alles das sind neue Bedingungen für die allseitige Entwicklung der Persönlichkeit. Aufbau des Kommunismus bedeutet, ungewöhnlich hochentwickelte gesellschaftliche Verhältnisse zu schaffen. Daher erhält erst in dieser Gesellschaft die Aneignung seines sozialen Wesens durch das Individuum ein neues Maß: die allseitig und harmonisch entwickelte Persönlichkeit. Beim Aufbau des Kommunismus wird dieser Persönlichkeitstyp Wirklichkeit. Die sozialistischen Verhältnisse, ständige Quelle für die allseitige Entfaltung der Persönlichkeit, machen nicht automatisch aus jedem Individuum einen neuen Menschen. „Der neue Mensch", heißt es im Programm der K P d S U , „formt sich durch seine aktive Teilnahme am Aufbau des Kommunismus, durch die Entwicklung der kommunistischen Prinzipien im wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Leben sowie unter dem Einfluß des gesamten Systems der Erziehungsarbeit der Partei, des Staates und der gesellschaftlichen Organisationen . . . " 1 5 Die Formung und Entwicklung der Persönlichkeit repräsentiert, als Aneignung seines sozialen Wesens durch das Individuum verstanden, eine ganz spezifische Wechselwirkung von Allgemeinem und Einzelnem in den gesellschaftlichen Beziehungen, deren Subjekt nicht nur die Klasse oder die Gemeinschaft ist, sondern auch die Persönlichkeit. Wenn das Allgemeine durch das Einzelne existiert, so haben wir es hier mit einem System zu tun, bei dem das Allgemeine (das selbst aus der Wechselwirkung der menschlichen Individuen hervorgeht) vom Einzelnen, d. h. vom Individuum, in jedem Moment seines gesellschaftlichen Lebens aktiv angeeignet wird. Anders ausgedrückt, bewegt sich die Persönlichkeit in einem System von gesellschaftlichen Beziehungen und hat selbst an ihrer Gestaltung teil, aber zugleich ist diese Schöpfung, diese aktive Vergesellschaftung auch eine aktive Aneignung, d. h. Besonderheit der gesellschaflichen Verhältnisse (des Allgemeinen) durch das Individuum und in ihm (als dem Einzelnen), dank der es Persönlichkeit wird. In der Persönlichkeit nehmen die gesellschaftlichen Verhältnisse ihre individuelle Form an. Die Entwicklung der Persönlichkeit ist als Spaltung des Einheitlichen in einander wechselseitig bedingende Gegensätze, als Prozeß von Vergesellschaftung und Besonderung in ihrer Einheit zu bezeichnen. Die Metaphysiker zerreißen diese innere Einheit, deren materielles Fundament die I5 Programm der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, in: Einheit, Sonderheft August 1961, S. 74 46
Produktionsweise ist. Sie haben nur das Individuum als solches im Auge und beziehen die Vergesellschaftung der Menschen lediglich auf das Bewußtsein, den Verstand. Die Idee wird zur Grundlage der gesellschaftlichen Beziehungen erhoben. Marx unterzog die Konzeption vom „vereinzelten einzelnen", deren sozialökonomischer Boden das Privateigentum und der bürgerliche Individualismus sind, der Kritik und schrieb, der Mensch sei „im wörtlichsten Sinne ein zoon politikon, nicht nur ein geselliges Tier, sondern ein Tier, das nur in der Gesellschaft sich vereinzeln kann" 1 6 . Diese Individualisierung ist die Form, in der sich die Persönlichkeit ihr gesellschaftliches Wesen aneignet, und deshalb ist sie nicht denkbar ohne ihren Gegensatz, die Vergesellschaftung, als jene Form, in der sich die Teilnahme der Persönlichkeit an der Herstellung oder revolutionären Umgestaltung von gesellschaftlichen Verhältnissen vollzieht. Vergesellschaftung und Individualisierung sind die beiden einander durchdringenden Seiten der sozialen Selbstbehauptung der Persönlichkeit in der Gesellschaft. Ihre Widersprüchlichkeit ermöglicht die ständige Bereicherung des sozialen Inhalts und der Aktivität der sozialen Form einer jeden Persönlichkeit. Die Vergesellschaftung läßt sich als sozialer Gehalt der Persönlichkeit interpretieren, während die Individualisierung, Besonderung, deren soziale Form bildet. So verwirklicht sich also die gesellschaftliche, tätige Natur des Menschen, die aus der ökonomischen Basis jeder Gesellschaftsformation entspringt, in Form der Einheit von Vergesellschaftung und Individualisierung. Das ist das allgemeinste soziologische Gesetz der gesellschaftlich bedingten Formung und Entwicklung von Persönlichkeiten. Mit Hilfe dieses Gesetzes läßt sich der gesellschaftliche Inhalt des Selbstbewußtseins der Persönlichkeit mit seiner individuellen psychischen Struktur verstehen. Woher bezieht dieses Selbstbewußtsein seine Bestätigung? Erstens aus dem Anschluß des einzelnen an andere Menschen, d. h. aus den gesellschaftlichen Zusammenhängen und Beziehungen, die ihn objektiv umgeben - also aus seinem tatsächlichen Platz im System der jeweiligen konkret-historischen gesellschaftlichen Verhältnisse. Zweitens aus der tätigen Individualisierung, d. h. jener, die sich vermittels der gesellschaftlich notwendigen Tätigkeit vollzieht, aus der Aneignung ihres sozialen Wesens durch die Persönlichkeit also. Das Selbstbewußtsein ist folglich die aktive Widerspiegelung des gesellschaftlichen Wesens. Moralischen Charakter tragen solche Formen des Selbstbewußtseins wie Pflicht, Ehre, Gewissen etc. Wenn die Persönlichkeit ihre individuelle K r a f t zutiefst als Teil der sozialen Kräfte, der Kraft ihrer Klasse, empfindet, so ist das der 16 K. Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, Einleitung, S. 6 47
Ausgangspunkt ihres politischen Bewußtseins, ihrer politischen Reife. J e besser der Mensch seine gesellschaftliche Rolle erfaßt, desto höher sind die ideellen Motive seines Tuns. Das Gesetz der Einheit von Vergesellschaftung und Individualisierung der Persönlichkeit wirkt in der gesamten Geschichte, nur tritt es gemäß den sich verändernden allgemeinsoziologischen Gesetzmäßigkeiten in den verschiedenen ökonomischen Gesellschaftsformationen auf unterschiedliche Weise in Erscheinung. Am Anfang der menschlichen Geschichte, in der Epoche der Urgesellschaft, dominierte die Vergesellschaftung gegenüber der Individualisierung. Ursprünglich ging der Mensch in einer Gemeinschaft gleichsam auf, die man noch nicht ein Kollektiv nennen kann, weil ein Kollektiv die ausgeprägte Selbständigkeit der Persönlichkeit und folglich eine höhere Stufe der Gentilordnung voraussetzt: „Der Stamm blieb die Grenze für den Menschen, sowohl dem Stammesfremden als auch sich selbst gegenüber . . ," 1 7 Historisch gesehen, kann man sagen, daß hier der Entstehungsprozeß der Persönlichkeit seinen Ausgang nahm. In der antagonistischen Klassengesellschaft gewinnt dann die Tendenz zur Vereinzelung immer mehr die Oberhand; ihren Höhepunkt erreicht sie im bürgerlichen Individualismus. Im Sozialismus und Kommunismus verlagert sich der Akzent in der Dialektik von Vergesellschaftung und Individualisierung wiederum auf die Vergesellschaftung, doch auf neuer Grundlage und unter sozialökonomischen Bedingungen, welche die allseitige Entwicklung der Persönlichkeit als geschichtlich neue Form ihrer Individualisierung uneingeschränkt ermöglichen. Die Individualisierung der Persönlichkeit, die im Sozialismus und Kommunismus vonstatten geht und der das gesellschaftliche Eigentum an den Produktionsmitteln zugrunde liegt, bedeutet also die Negation des bürgerlichen Individualismus, weil sie die Gemeinschaftlichkeit zu ihrer Bedingung hat. Allseitige Entwicklung heißt in diesem Fall, daß sich das Individuum auf umfassende Weise die Erfahrung des sozialistischen und kommunistiscnen Aufbaus zu eigen macht und sie durch seine aktive Teilnahme am Arbeitsplatz sowie am politischen, kulturellen und sittlichen Leben der Gesellschaft noch vermehrt. Eine derartige Besonderheit des Wesens der sozialistischen Verhältnisse im Individuum setzt dessen aktive Lebenstätigkeit in der Gemeinschaft voraus. Die Dialektik von Vergesellschaftung und Individualisierung äußert sich in der zum Kommunismus sich wandelnden sozialistischen Gesellschaft deutlich in zwei einander bedingenden Tendenzen: Erstens stellt der Sozia17
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F. Engels, Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats, in: K. Marx/F. Engels, Werke, Bd. 21, Berlin 1962, S. 97
lismus, da er den Antagonismus von Persönlichkeit und Gesellschaft abschallt, einen qualitativen Sprung in der Entwicklung und Bereicherung der gesellschaftlichen Kontakte und Beziehungen der Persönlichkeit dar. Die weitere Entwicklung in dieser Richtung führt dazu, daß sich im Kommunismus „auf der Grundlage der Einheit der gesellschaftlichen und persönlichen Interessen . . . die Beziehungen zwischen Persönlichkeit und Gesellschaft harmonisch gestalten" 1 8 werden. Die sich entwickelnde Einheit von gesellschaftlichen und individuellen Interessen fördert die Aktivität der Persönlichkeit beim kommunistischen Aufbau. Zweitens hebt sich durch die Bereicherung der gesellschaftlichen Kontakte und Beziehungen der Persönlichkeit, durch die Zunahme ihres geistigen Reichtums und die Entfaltung ihrer Talente jede Individualität von jeder anderen ab, gewinnt an Originalität und Profil. In dieser Tendenz liegt die Selbständigkeit der Persönlichkeit begründet, welche die wachsende Verantwortung jedes einzelnen für das Schicksal der Gemeinschaft und der gesamten Gesellschaft einschließt. Diese beiden Tendenzen können und müssen im Prozeß ihrer dialektischen Wechselwirkung, im „ K a m p f " der Gegensätze, eine positive Rolle spielen, aber unter der Bedingung, daß ihre Einheit eingehalten wird. Die bewußte Durchsetzung der objektiven Gesetzmäßigkeiten unserer Gesellschaft erfordert die ständige Regulierung dieser dialektischen Einheit. Die Regulierung dieser wie auch ähnlicher Gegensätze (z. B. der Einheit von zentraler Planung und lokaler Initiative, der Verbindung von Einzelleitung und kollektiver Lenkung u. ä.) hat nichts mit subjektiver Willkür zu tun. Sie muß sich an den objektiven Bedürfnissen, Interessen und Zielen des sozialistischen Systems orientieren. In der dialektischen Einheit der Gegensätze muß stets die bestimmende Seite definiert werden, ohne sie jedoch zu verabsolutieren. Bei der Einheit von gesellschaftlichen und persönlichen Interessen etwa geben die gesellschaftlichen den Ausschlag; sie reflektieren die Erfordernisse der sozialistischen Gesellschaft im Hinblick auf ihr Entwicklungsziel. Doch sie verlieren diese aktive Rolle für den Fall, daß sie die individuellen Interessen verletzen. Die letztgenannten wiederum dürfen nicht bis zur Unterschätzung der gesellschaftlichen Interessen aufgebauscht werden. Bekanntlich hat die Gemeinschaftlichkeit der sozialistischen Gesellschaft objektiv eine maßgebliche Bedeutung. Wirkliche Gemeinschaft jedoch, die Bedingung für die Entfaltung der Persönlichkeit, hat weder mit der Unterdrückung noch mit der Verletzung der individuellen Selbständigkeit etwas zu tun. 18
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Programm der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, in: Einheit, Sonderheft August 1961, S. 42 Mayer
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Das übermäßige Aufbauschen des „Kollektivwillens", wie es sich beispielsweise in der „Uberorganisation" der Erziehungsarbeit äußert, bedingt zwangsläufig die Willenlosigkeitdes einzelnen. Es kann dazu führen, daß das Kollektiv nicht gefestigt wird, sondern sich ein Konformismus verbreitet, eine Haltung des Sichanpassens an den Gruppenstandard, die alles andere ist als Gemeinschaftlichkeit, sondern im Gegenteil die Zerstörung echter Gemeinschaftsbeziehungen bewirkt. 19 Umgekehrt hat auch die Selbständigkeit der Persönlichkeit, ihre Freiheit, ihr Maß, jenseits dessen jener Anarchismus beginnt, der das Kollektiv zerstört und dadurch die Bedingungen für Selbständigkeit und Freiheit der Persönlichkeit aufhebt. Diesem objektiven dialektischen Widerspruch kann man nicht ausweichen. Er läßt sich auch nicht durch die „Liquidierung" einer seiner Seiten aus der Welt schaffen. Man muß ihn vielmehr als eine Quelle der Entwicklung handhaben. Das erfordert die bewußte, geschickte und feinfühlige Regulierung des Maßes für die Einheit der Gegensätze. Es kommt darauf an, Tendenzen zur Verletzung dieses Maßes auf jeder der sich „bekämpfenden" Seiten des Gegensatzes rechtzeitig zu erkennen und darauf hinzuwirken, daß jede dieser Seiten ein Maximum an Positivem in sich trägt und überlebte Elemente abstößt, die sich im Laufe der Zeit sowohl in den Formen der Vergesellschaftung als auch in denen der Individualisierung ansammeln. Das Alte wird überwunden durch dialektische Negation, die in gewissem Sinne die Funktion erfüllt, einen Komplex von Widersprüchen zu lösen. Der dialektische Charakter der Formung und Entwicklung der Persönlichkeit, der in der sozialistischen Gemeinschaft auf besondere Weise in Erscheinung tritt, muß in der Erziehungsarbeit, in ihrer Methodik unbedingt berücksichtigt werden. „Würdig unserer Epoche und unserer Revolution kann nur die organisatorische Aufgabe sein, eine Methode zu schaffen, die allumfassend und einheitlich ist, gleichzeitig aber jedem Einzelmenschen die Möglichkeit gibt, seine Eigenarten zu entwickeln und seine Individualität zu bewahren." 2 0 Das Kernproblem dieser Methode ist das Verhältnis der Erziehung jeder einzelnen Persönlichkeit und des gesamten Kollektivs. Wir werden nicht müde, die Bedeutung und die Notwendigkeit der Erziehung des einzelnen Menschen zu betonen, wir fordern immer wieder, sich mit jedem Menschen zu beschäftigen. Das alles ist wichtig und richtig, ja es trifft sogar einen wunden P u n k t der Erziehungspraxis. Und doch kann die individu19 Näheres über den Konformismus siehe I. S. Kon, Licnost' kak sub-ekt obäcestvennych otnocenij (Die Persönlichkeit als Subjekt der gesellschaftlichen Verhältnisse), Moskva 1966 20
A. S. Makarenko, Das Ziel der Erziehung, in: Werke, Fünfter Band, Berlin 1956, S. 351
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eile Arbeit, die gewissermaßen unter vier Augen verläuft, insgesamt gesehen (unter bestimmten Bedingungen und für einen gewissen Zeitabschnitt kann sie das Entscheidende sein) nicht das Hauptmerkmal kommunistischer Erziehung bilden. Wenn wir diese Seite der Methode verabsolutieren, laufen wir Gefahr, den Menschen das Selbstbewußtsein von Individualisten statt von Mitgliedern einer Gemeinschaft anzuerziehen. Die objektive Quelle des Selbstbewußtseins einer Persönlichkeit ist nicht ihr eigenes Ich, sondern das Kollektiv, die Gesellschaft. Sich seiner selbst bewußt werden bedeutet, das Wesen jener gesellschaftlichen Verhältnisse zu begreifen, deren individueller Repräsentant die Persönlichkeit ist. Dieses Erkennen jedoch kann niemals aus der einfachen Betrachtung kommen; es entsteht durch die aktive Tätigkeit des einzelnen in der Gesellschaft. Im dialektischen Prozeß von Vergesellschaftung und Individualisierung des Menschen hat unter sozialistischen Verhältnissen die Vergesellschaftung, d. h. die Entwicklung der Gemeinschaftlichkeit, die bestimmende Rolle inne. Das bedeutet für die Erziehungsmethode, die Arbeit mit dem Kollektiv, seine Festigung und Entwicklung und die Erziehung des einzelnen durch das Kollektiv in den Mittelpunkt zu stellen. Makarenko hat des öfteren betont, daß niemand auf der Ansicht beharren dürfe, er sei von der Gemeinschaft unabhängig, daß jeder Fehltritt mit der Meinung des ganzen Kollektivs konfrontiert werden müsse und daß sich nur dadurch die Lebenserfahrung des letzteren vergrößere. Wenn darauf aber auch der methodische Akzent liegt, so darf diese Orientierung doch niemals verabsolutiert werden. Tun wir dies und verzichten wir auf die dem untergeordnete individuelle Arbeit, so verfallen wir in alte Fehler. Die Dialektik von Vergesellschaftung und Individualisierung spiegelt sich also in der Methode kommunistischer Erziehungsarbeit direkt wider, in der Einheit von gemeinschaftsbezogener und persönlichkeitsbezogener Einflußnahme, wobei das Kollektiv als Hauptobjekt und -Subjekt der Erziehung den Ausschlag gibt.
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V . P . TÜGAEINOV
Die Dialektik von Sozialem und Biologischem beim Menschen
Die uns umgebende Wirklichkeit hat eine quasi dreidimensionale Struktur: Natur — Mensch — Gesellschaft. Der Mensch ist das Mittelglied dieser Dreiheit; er stellt die Beziehung zwischen der Natur und den gesellschaftlichen Verhältnissen her. Die Gesellschaft ist nämlich keine bloße Gesamtheit von Menschen, sondern ein besonderes System von Beziehungen zwischen ihnen, eine besondere Bewegungsform. Die Gesetze dieser Bewegungsform sind Gesetze der Verhältnisse zwischen den Menschen, sind Gesetze der gesellschaftlichen Tätigkeit. Sie prägen die Umwelt, in der das Individuum lebt und tätig ist, und das soziale Wesen des Menschen. Daher können sie auch nicht mit den En twicklungsgesetzen des Individuums zusammenfallen. So unterliegen zum Beispiel die Entstehung, die Entwicklung und der Zerfall jeder sozialökonomischen Formation wie auch jeder Klasse und jedes Staates besonderen Regeln, die von denen der menschlichen Individualentwicklung abweichen. Das kommt daher, daß der Mensch nicht nur von den Gesetzen der gesellschaftlichen Entwicklung geprägt wird, sondern auch von denen der Natur. Er verkörpert die Verbindung von zweierlei Determination, der biologischen und der gesellschaftlichen. Die dialektische Einheit dieser beiden Sphären bedingt auch die Struktur der Gesellschaft. Wäre der Mensch kein lebendiger Organismus, brauchte er nicht Nahrung, Kleidung, Wohnung, so gäbe es keine materielle Produktion, die dem gesamten gesellschaftlichen Leben zugrunde liegt. Würde der Mensch nicht geboren und stürbe er nicht, so hätte die Familie nicht entstehen können. Auch die Formen des geistigen Lebens sind in gewissem Maße an die biologische Natur des Menschen gebunden — an die sinnliche Wahrnehmung, an das Vorhandensein von psychischen Rezeptoren und Analysatoren. Was die These des Marxismus vom gesellschaftlichen Wesen des Menschen angeht, so gilt es zu bedenken, daß sie als Gegenkonzeption zu der damals vorherrschenden nur biologischen Interpretation des Menschen aufgestellt wurde. Außerdem haben die Begründer des Marxismus selbst des öfteren betont, daß dem ersten geschichtlichen Akt, der den Grundstein für die Gesellschaft legt, der gesellschaftlichen Produktion, die biologischen Bedürfnisse des Menschen zugrunde liegen. 52
Es unterliegt keinem Zweifel, daß der Mensch alles, was ihn vom Tier unterscheidet, der Gesellschaft verdankt. Das heißt aber nicht, daß er seine biologischen Merkmale verloren hätte. Dieser biologische Ursprung ist vielmehr nur „verdeckt", d. h. in veränderter Form aufbewahrt. Doch bleibt dieser Ursprung immer ein biologischer, er gehört ein für allemal zum Menschen hinzu und gibt der gesellschaftlichen Struktur ihre Prägung. Engels' Satz, daß die Philosophie die Wissenschaft von den allgemeinsten Gesetzen der Natur, der Gesellschaft und des menschlichen Denkens sei, schließt die Anerkennung der dreidimensionalen Struktur der Wirklichkeit ein. Zwar h a t der Mensch in diese Formulierung nur mit seinem „Kopf", seinem Denken Eingang gefunden. Aber wenn die Philosophie als Wissenschaft ein Bereich des Denkens ist, so gehört der Mensch doch ohne Frage vollständig zu ihrem Forschungsgegenstand. Im Marxismus ist unwiderlegbar nachgewiesen, daß man den Menschen nicht allein biologisch interpretieren darf. Die Kritik der Klassiker des Marxismus-Leninismus am „anthropologischen Prinzip" in der Philosophie war sowohl in bezug auf die reinen Anthropologen als auch in bezug auf jene Theoretiker, denen immer wieder Irrtümer dieser Art unterlaufen, vollauf berechtigt. Auch heute noch fordern vor allem solche Strömungen der bürgerlichen Philosophie und Soziologie zur Kritik heraus, die eine Biologisierung des Menschen repräsentieren, wie Pragmatismus, Freudismus u. a. Die Erkenntnis vom sozialen Wesen des Menschen und die Ablehnung jeglicher „Robinsonaden" beim Studium des Menschen, seiner Biologisierung, ist eine große Leistung des Marxismus. Sie fand ihre Bestätigung nicht nur im gesellschaftlichen Leben, sondern auch in der Entwicklung von Biologie, Medizin, Genetik und anderen Wissenschaftsbereichen. Das gibt uns aber nicht das Recht, in den entgegengesetzten Fehler zu verfallen, der ebenso zu Einseitigkeit und Metaphysik führt: Es geht nicht an, den Menschen nun als ausschließlich gesellschaftliches, körperloses Wesen aufzufassen, das einzig und allein sozialen Gesetzmäßigkeiten unterworfen ist. In den letzten Jahren hat sich die bedenkliche Tendenz gezeigt, die Verschiedenheit von Natur und Gesellschaft überzubetonen. So verschwand aus dem Programm der Philosophie-Lehrveranstaltungen das Thema „Natur und Gesellschaft", in dem der Prozeß des Übergangs von einer Bewegungsform der Materie zur nächsthöheren zu behandeln war. Es ist deshalb zu begrüßen, daß das Thema in das letzte Hochschulprogramm wieder aufgenommen wurde. Auch in vielen Lehrbüchern und wissenschaftlichen Untersuchungen tauchte dieses Thema nicht mehr auf. Diese Fehlorientierung kommt offenbar daher, daß zwei Probleme durcheinandergebracht wurden: die Spezifik der Bewegungsformen und der Zusammenhang zwischen ihnen, ihre dialektischen Übergänge und Wechselbezie-
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hungen. Die Ablehnung des anthropologischen Prinzips in der Philosophie wurde in diesem Fall auf die anthropologischen Wissenschaften ausgedehnt. Sie fielen in gewisser Weise der völligen Mißachtung durch die Philosophen anheim. Statt den Anthropologismus in der Philosophie einfach zu negieren, sollten wir der marxistischen Lehre vom Menschen den ihr gebührenden Platz einräumen und sie der Handhabung dieses Problems in der bürgerlichen Philosophie entgegensetzen. Wenn wir darauf verzichten, das Problem des Menschen zu untersuchen, so verzichten wir im Grunde auf die diesbezügliche Auseinandersetzung mit der bürgerlichen Ideologie. Es gibt in der Philosophie keine „marxistischen" und „nichtmarxistischen" Probleme; es gibt nur eine marxistische und eine nichtmarxistische Handhabung dieser Fragen. Auf die Bearbeitung dieser oder jener Fragestellung zu verzichten heißt, sich in die ideologischen Auseinandersetzungen nicht einzumischen, sich mit bürgerlichen Auffassungen abzufinden und unseren ideologischen Kontrahenten freie Hand zu lassen. Wir sind aufgefordert, den einseitig biologischen und animalischen Auffassungen vom Menschen ebenso wie den Entfremdungs- und mystifizierenden Theorien immer aufs neue die marxistische Konzeption entgegenzuhalten, die von der Einheit von Mensch und Gesellschaft ausgeht und das kommunistische Ideal vom Menschen wissenschaftlich untermauert. Engels bemerkte, daß die Menschen vor drei geschichtlichen Aufgaben stehen: Es gelte, die Herrschaft über die äußere Natur, über die eigenen gesellschaftlichen Verhältnisse und über sich selbst zu erringen. Die menschliche Zivilisation löste und löst die erste Aufgabe seit alters her. Die zweite wird zusammen mit der ersten im Sozialismus bewältigt. Die dritte ist, für sich genommen, gerade erst definiert, und es sind die ersten Schritte zu ihrer Lösung getan. Wirkliche, volle Macht über seine innere Welt und sein Verhalten kann der Mensch erst in der kommunistischen Gesellschaft gewinnen, wenn er zu uneingeschränkter Freiheit, zu Wohlstand und Glück gelangt. Zur Lösung dieses Problems können viele Wissenschaften beitragen: die Physiologie der höheren Nerventätigkeit, die Genetik, Psychologie, Pädagogik, die allgemeine Anthropologie u.a. An der marxistischen philosophischen Theorie vom Menschen aber ist es, die sichere theoretische Grundlage für die Entwicklung dieser Disziplinen zu erarbeiten. Dabei müssen die marxistischen Philosophen vor allem eine Frage lösen: Gibt es wirklich den „Menschen an sich"; gibt es die Wissenschaften vom Menschen also zu Recht? Kann man vom „Menschen an sich" sprechen oder besser konkret vom sozialistischen bzw. bürgerlichen Menschen als völlig verschiedenen sozialen Typen und dementsprechend von einer der bürgerlichen entgegengesetzten sozialistischen Anthropologie? 54
Die Antwort darauf hängt davon ab, ob die Menschen ungeachtet der unterschiedlichen sozialen Verhältnisse, in denen sie leben, irgend etwas gemeinsam haben. Was die biologischen Wissenschaften angeht, die den menschlichen Organismus erforschen, so ist die Frage ohne weiteres zu bejahen. Auch Psychologie und Pädagogik weisen trotz bestimmter Unterschiede in der Psyche von Menschen, die verschiedenen sozialen Systemen angehören, und besonders in den Grundsätzen und Methoden ihrer Erziehung viel Gemeinsames auf. Es genügt, auf die Tatsache zu verweisen, daß der Internationale Psychologenkongreß in Moskau im Jahre 1966 die Feststellung traf, es gebe viele äußerst wichtige Gesetzmäßigkeiten der Psyche des Menschen von heute, die allgemeine Bedeutung besitzen. Während die bürgerliche Philosophie der Gegenwart verzerrte, unwissenschaftliche Konzeptionen vom Menschen aufstellt, tun sich einige bürgerliche Psychologen mit wertvollen Teilforschungen auf diesem Gebiet hervor. Offenkundig sehen sich die Psychologie und einige andere Wissenschaften genötigt, Allgemeinmenschliches und Spezifisches (das sich aus den unterschiedlichen Lebensbedingungen in verschiedenen sozialen Systemen ergibt) miteinander abzustimmen. Die Klassiker des Marxismus-Leninismus wandten sich seinerzeit gegen eine abstrakte Vorstellung vom Menschen, gegen den Begriff „der Mensch schlechthin", und gegen die ebenso abstrakte Auffassung von der Gesellschaft, die „Gesellschaft an sich". Sie forderten, an diese Dinge konkrethistorisch heranzugehen. Sie prägten den Begriff der sozialökonomischen Formation und begriffen den Menschen demgemäß als das Produkt einer bestimmten Gesellschaftsformation und Klasse. Das war ein gewaltiger Fortschritt in der Gesellschaftswissenschaft, und kein Marxist kann daran vorübergehen. Ist es aber richtig, deshalb zu behaupten, es gäbe keine Gesellschaft an sich, keinen Menschen an sich, keine Persönlichkeit an sich und überhaupt keinerlei „an sich", sondern lediglich Besonderes? Anerkennen wir nicht schon, wenn wir von der Urgesellschaft als einer Gesellschaft sprechen, ebenso von der Feudalgesellschaft usw., einen allgemeinen Begriff von Gesellschaft, eine „Gesellschaft an sich" als Realität, als etwas real Gemeinsames, das allen konkret-historischen Gesellschaften eigen ist? Waren die Klassiker des Marxismus-Leninismus denn Nominalisten, haben sie allgemeine Bestimmungen in Frage gestellt? Das ist durchaus nicht der Fall. Denken wir etwa an den Satz von Marx, das Konkrete verkörpere die Einheit von Allgemeinem, Besonderem und Einzelnem. Und Lenin schrieb in seinem Fragment „Zur Frage der Dialektik", das Einzelne existiere nur in dem Zusammenhang, der zum Allgemeinen führt, das Allgemeine existiere nur im Einzelnen und durch das Einzelne, und jedes Einzelne sei auf die eine oder andere Weise Allgemeines. In anderem Zusammenhang
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bemerkte Lenin, „daß jeder, der an spezielle Fragen herangeht, ohne vorher die allgemeinen gelöst zu haben, unweigerlich auf Schritt und Tritt, ohne sich dessen bewußt zu sein, über diese allgemeinen Fragen ,stolpern' wird. Und wenn man in jedem einzelnen Falle blindlings über sie stolpert, so heißt das seine Politik zu den schlimmsten Schwankungen und zur Prinzipienlosigkeit verurteilen." 1 Der Begriff „Mensch" hat verschiedene Komponenten. Die wichtigste ist der Begriff „Persönlichkeit". Setzt man sie zueinander ins Verhältnis, so muß man zwischen Umfang und Inhalt unterscheiden. Dem Umfang nach stimmen sie überein, das heißt, nach der marxistischen Persönlichkeitsauffassung sind alle Menschen Persönlichkeiten, unabhängig von Rasse, Geschlecht und Nationalität. Aus diesem Grund ist die marxistische Persönlichkeitstheorie konsequent demokratisch und internationalistisch. Ihrem Inhalt nach aber unterscheiden sich die Begriffe „Mensch" und „Persönlichkeit" in dreierlei Hinsicht erheblich voneinander: 1. Der Mensch ist eine Totalität, die Persönlichkeit ein Teil, eine Komponente dessen. 2. Der Begriff „Mensch" bezeichnet immer etwas Biosoziales, jener der Persönlichkeit aber die gesellschaftliche Seite des Menschen, die Gesamtheit jener Eigenschaften, die er im Laufe der gesellschaftlichen Entwicklung ausbildet. 3. Der Mensch ist der materielle Träger der Persönlichkeit, diese wiederum bringt die gesellschaftliche Qualität des Menschen zum Ausdruck, genauer gesagt, die Gesamtheit seiner gesellschaftlichen Qualitäten. Zeigt sich in der Persönlichkeit also das „rein gesellschaftliche" Wesen des Menschen? Reine Erscheinungen gibt es nach Lenin weder in der Natur noch in der Gesellschaft. Und wenn die Persönlichkeit eine Komponente des Menschen darstellt, so heißt das, daß sie in gewissem Grade auch die biologische, nicht allein die gesellschaftliche Natur widerspiegelt. So besitzt der Mensch viele Talente und Fähigkeiten von Natur aus, d. h. als Anlagen; die gesellschaftlichen Verhältnisse haben daran lediglich insofern einen Anteil, als sie sie fördern oder unterdrücken. Trotzdem ist die Charakterisierung des Menschen als doppelt, biosozial determiniertes Wesen kaum auf die Persönlichkeit anwendbar. Die Formung und Entwicklung der Persönlichkeit wird durch gesellschaftliche Faktoren, vor allem durch das gesellschaftliche Sein, bedingt. Das macht die Besonderheit des Begriffs „Persönlichkeit" gegenüber einer anderen Komponente des Begriffs „Mensch" aus: gegenüber dem Begriff des Individuums. Der Inhalt dieses Begriffs ist klar: Individuum bedeutet „einzelner Mensch". Das Individuum ist der Sonderfall einer Eigenschaft, welche die ganze Natur besitzt, der Eigenschaft der Diskretheit, der Be1 W. I. Lenin, Die Stellung zu den bürgerlichen Parteien, in: Werke, Bd. 12, Berlin 1959, S. 492
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Sonderheit. In bezug auf die Gegenstände der unbelebten Natur sprechen wir nicht von Individuen, sondern von soundso viel Stück oder Exemplaren, um den Menschen von den Dingen zu unterscheiden. Damit ist der eigentlich menschliche Inhalt des Terminus „Individuum" aber auch schon erschöpft. Denn dieser Begriff hat nichts spezifisch Soziales an sich. Doch enthält er auch nichts speziell Biologisches, wie P. E. Krjazev meint, der schreibt: „. . . zum Wesen des Menschen gehört allein das soziale, das Natürliche dagegen gehört zu einem anderen Begriff — dem des ,menschlichen Individuums'." 2 Der Terminus „Individuum" findet sowohl in den biologischen als auch in den Gesellschaftswissenschaften Anwendung, weil das Individuum, wie erwähnt, einen sowohl biologischen wie sozialen Ursprung besitzt, die sich ohne Zweifel in ständiger Veränderung befinden. Die moderne Biologie und Psychologie haben nachgewiesen, daß diese Veränderungen auch die biologische Beschaffenheit des Menschen betreffen. Es steht allerdings außer Zweifel, daß die biologische Veränderung erheblich langsamer vonstatten geht als die gesellschaftliche, d. h. als der Persönlichkeitswandel. Der dynamische Charakter der Persönlichkeit, ihre Veränderlichkeit, die von der Gesellschaftsordnung, der Klassenzugehörigkeit, vom Bildungsniveau und von anderem abhängt, ermöglichtes, zielgerichtet auf die Eigenschaften der Persönlichkeit einzuwirken, d. h. den Menschen gemäß den gesellschaftlichen Bedürfnissen zu erziehen. Die bewußte Vervollkommnung der persönlichkeitsprägenden Züge und Merkmale bei der Entwicklung jener Eigenschaften, die aus der alten Gesellschaft herrühren, setzt deren exakte Analyse voraus. Aus dem bisher Dargelegten wird ersichtlich, daß die marxistische Persönlichkeitstheorie hohe praktische Relevanz besitzt. Und dabei stoßen wir auf das Problem des Wertes von Mensch und Persönlichkeit. Der Gesellschaft kommt es schließlich auf die Erziehung und Ausprägung solcher Persönlichkeitsmerkmale an, die für sie von Nutzen sind. Es sei hier nur auf einen Aspekt dieses gewichtigen Problems eingegangen. Bürgerliche Wissenschaftler behaupten nicht selten, die marxistische Ideologie negiere den Wert der Persönlichkeit an sich, ihren „Eigenwert". In den Augen der Marxisten sei nur die Gesellschaft als Ganzes von Wert; dem einzelnen Menschen dagegen könne man nur insofern einen Wert zubilligen, als er der Gesellschaft, genauer gesagt, dem Aufbau des Kommunismus, Nutzen bringt. Diese Interpretation des marxistischen Standpunktes ist falsch. In marxistischer Sicht hat die Persönlichkeit durchaus sowohl einen „Eigenwert" oder, wie wir sagen, einen absoluten Wert als auch einen rela2
P. E. Krjazev, Einige soziologische Fragen der Persönlichkeitsbildung, Voprosy filosofii, H e f t 7/1966, S. 14
in:
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tiven, der sich aus der differenzierenden Einschätzung ihrer Bedeutung für die Gesellschaft ergibt. Daß die Persönlichkeit einen absoluten Wert besitzt, bedeutet, der Marxismus anerkennt den Wert der Persönlichkeit als solcher, unabhängig von allem Sonstigen, er anerkennt den Wert des Menschen als Mensch. Es ist kein Zufall, daß der Sozialismus sich immer wieder am konsequentesten gegen die Unmenschlichkeit des Imperialismus, gegen Aggressionskriege und Rassismus, gegen Apartheid und Kolonialismus, gegen Faschismus und jegliche Gewaltanwendung, gegen die Erniedrigung des Menschen wendet. Die sowjetische Strafgesetzgebung sieht die strenge Ahndung von Anschlägen auf das Leben, die Gesundheit und die Würde jeder Persönlichkeit vor. Die These vom absoluten Wert der Persönlichkeit ist Ausdruck unseres Humanismus. Die Politik der Sowjetunion ist eine Politik des konsequenten sozialistischen Humanismus, der den aktiven Kampf gegen alle Verbrechen an der Menschlichkeit und für die menschliche Würde einschließt. Der relative Wert der Persönlichkeit ergibt sich aus ihrer differenzierenden Bewertung je nach dem konkreten Nutzen für die Gesellschaft. Denn die Persönlichkeit lebt mit anderen Persönlichkeiten zusammen, deren Interessen nicht zugunsten des einzelnen ignoriert werden können. Daher der relative Wert neben dem absoluten. Der „Eigenwert,, der Persönlichkeit schließt die gesellschaftliche Bewertung ihrer Tätigkeit keinesfalls aus. Einige bürgerliche Theoretiker wollen beweisen, daß die Negierung des Wertes der Persönlichkeit aus dem Wesen des Marxismus selbst, aus der Auffassung vom Verhältnis zwischen Mensch und Gesellschaft herrühre. Als „Begründung'' führen sie die bekannte These von Marx an, daß das menschliche Wesen das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse sei. Marx selbst, so behaupten sie, gestehe damit zu, daß er die Persönlichkeit auf die Gesellschaft zurückführe. Damit aber unterstellen sie Marx einen ihm fremden Gedanken. Seine These richtete sich gegen die „Robinsonaden" in der Persönlichkeitsauffassung, d. h. gegen die Ansicht, die Persönlichkeit sei ein isoliertes, der Gesellschaft fernstehendes Wesen. Zugleich zielte sie auf das ahistorische Herangehen an dieses Thema, d. h. gegen mystifizierende Vorstellungen von Persönlichkeit. Marx' Formulierung enthält die realistische Idee, daß die Persönlichkeit nichts Mystisches ist, sondern ein gesellschaftliches Wesen und daß ihre maßgeblichen Eigenschaften, Besonderheiten und Äußerungen das Produkt ihrer Gesellschaft, ihrer Zeit und ihrer sozialen Position sind. In diesen Gedanken von Marx liegt eine konsequente Anwendung des Materialismus auf die Theorie vom Menschen. Jede Erscheinung ist determiniert; der Mensch ist durch die gesellschaftlichen Verhältnisse determiniert. Diesem Grundsatz hält weder die idealistische Vorstellung von der menschlichen Indeterminiertheit stand, die auf die Herauslösung des Men-
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sehen aus dem natürlichen Zusammenhang alles Seienden zurückgeht, noch •die mystische Idee von seiner göttlichen „Determiniertheit'". Mit dem Marxschen Satz soll die Persönlichkeit keinesfalls in der Gesellschaft „aufgelöst" werden, wie man aus dem Begriff „das menschliche Wesen" entnehmen könnte. Wenn vom Wesen die Rede ist, betonte Lenin, so heißt das nicht „das Ganze". Jede Gesellschaft ist ein Bestandteil, ein Aspekt oder das Wesen des Einzelnen. Jedes Allgemeine erfaßt alle übrigen Dinge nur annähernd. Jedes Einzelne geht unvollständig in das Allgemeine ein. Das, was den einzelnen Menschen auszeichnet, begreift eine Vielfalt von Besonderem (von klassenbedingten, nationalen, beruflichen, altersund geschlechtsbedingten Merkmalen) sowie von Individuellem in sich ein. Daher schließt die erwähnte These die relative Selbständigkeit, Autonomie der Persönlichkeit in der Gesellschaft nicht aus, sondern setzt sie voraus. Diese relative Selbständigkeit äußert sich auf vielerlei Weise. So kann es sein, daß Bewußtsein und Verhalten des einzelnen Menschen seiner Klassenlage widersprechen. Die Einzelpersönlichkeit kann, was ihr Entwicklungsniveau angeht, hinter dem allgemeinen Niveau zurückbleiben, sie kann ihm aber auch weit voraus sein. Die Gesellschaft, die der Tätigkeit der Persönlichkeit bestimmte Möglichkeiten einräumt und Grenzen setzt, kann die Persönlichkeit nicht gänzlich daran hindern, in ihrer Tätigkeit eigene Wege zu gehen. Sie setzt nur die allgemeinen Bedingungen dafür, aber letzten Endes muß der Mensch seine Probleme selbst lösen. Unsere Gesellschaft kann beispielsweise nicht darüber beschließen, ob ein Mensch nach Beendigung der Mittelschule studieren soll oder nicht und was er studieren soll usw. Die Unterschiede der Menschen bezüglich des Charakters und des Entwicklungsgrades ihrer Fähigkeiten und Talente, bezüglich ihrer persönlichen Interessen und Neigungen werden von den gesellschaftlichen Entwicklungsgesetzen nur indirekt und unvollständig bestimmt. In vieler Hinsicht hängen sie vom eigenen Werdegang sowie von genetischen Faktoren ab. Daher läßt sich die Persönlichkeit nicht völlig aus den Gesetzen der gesellschaftlichen Entwicklung, d.h. aus den Gesetzen von Massenbewegungen erklären. Sie wird nicht total von der Gesellschaftsordnung geprägt. Die bürgerlichen Theoretiker verwandeln die relative Autonomie der Persönlichkeit, die sie absolut setzen, in metaphysischer Manier in deren völlige Unabhängigkeit von der Gesellschaft. Die Negierung dieser relativen Selbständigkeit wiederum und die daraus folgende Negierung der Eigenständigkeit des Problems des Menschen führen zu Entstellungen und Fehlurteilen bei der Untersuchung und Lösung zahlreicher sozialer Probleme, insbesondere in bezug auf die Erziehung. Im gesellschaftlichen Leben wie in der Wissenschaft besitzt das Problem des Menschen heute eine besondere Aktualität. Theoretische Grundlage 59
seiner Untersuchung sind der historische Materialismus und der wissenschaftliche Kommunismus, die mit diesem Thema zugleich eine Weiterentwicklung erfahren. Das Problem des Menschen ist eng mit allgemeinen „traditionellen" Fragestellungen der marxistisch-leninistischen Theorie verbunden, aber nicht auf diese zu beschränken. Die Bearbeitung des Persönlichkeitsproblems ist ein wichtiger Aspekt der weiteren Vervollkommnung der sozialistischen Verhältnisse, der Formung und Entwicklung des neuen, kommunistischen Menschen.
K . K . PLATONOV
Die psychische Struktur der Persönlichkeit
Die Persönlichkeit ist der konkrete Mensch als Subjekt der Erkenntnis und Veränderung der Welt, der die rechtlichen, sittlichen und ethischen Normen seiner Gesellschaft, seiner Klasse (und mitunter auch einer kleinen Gruppe) repräsentiert. Die Persönlichkeit hält diese Normen ein und verteidigt sie, oder aber sie verletzt sie. Sie ist der Gesellschaft voraus oder hinter ihr zurück; sie verhält sich fortschrittlich oder reaktionär; sie wird erzogen und erzieht; sie baut auf und zerstört. Die Persönlichkeit ist aber nicht nur das Subjekt der Erkenntnis, sondern auch ihr Objekt. Es gibt nicht eine einzige Wissenschaft vom Menschen, von der Gesellschaft und der menschlichen Tätigkeit, die sich nicht in dieser oder jener Hinsicht mit ihr beschäftigte. Dazu gehören z. B. Rechtswissenschaft, Ethik, Ästhetik, Geschichte, Pädagogik, Medizin und vor allem natürlich die Soziologie. „ . . .der materialistische Soziologe", bemerkte Lenin, „der bestimmte gesellschaftliche Verhältnisse der Menschen zum Gegenstand seiner Untersuchungen macht, erforscht damit auch die realen Persönlichkeiten, aus deren Handlungen diese Verhältnisse ja hervorgehen." 1 Für keine Wissenschaft aber ist die Persönlichkeit als Forschungsgegenstand so wichtig wie für die Psychologie, und keine befaßt sich mit ihr so vielseitig (wenn auch nicht erschöpfend). Daher wird die Psychologie gelegentlich sogar die Wissenschaft von der Persönlichkeit genannt. Die sowjetische Psychologie kann diese Bezeichnung von ihrer Entstehung an in Anspruch nehmen. Zwar muß gesagt werden, daß die Bearbeitung dieser Thematik viele Jahre lang unter individualpsychologischem Gesichtspunkt erfolgte; denn in dieser Zeit fand die Sozialpsychologie so gut wie keine Beachtung. Letzten Endes sind aber alle Versuche, sich auf die Erforschung der „Persönlichkeit an sich" zu beschränken, scholastisch und unfruchtbar. Außerhalb des gesellschaftlichen Zusammenhangs und ohne das Grundprinzip, die gesellschaftliche Bedingtheit der Persönlichkeit, zu begreifen, kann die Psychologie deren Wesen weder adäquat untersuchen noch er1
W. I. Lenin, Der ökonomische Inhalt der Volkstümlerrichtung und die Kritik an ihr in dem Buch des Herrn Struve, in: Werke, Bd.l, S. 419
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kennen. Denn „das menschliche Wesen ist kein dem einzelnen Individuum innewohnendes Abstraktum. In seiner Wirklichkeit ist es das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse." 2 Es ist aber gleich hinzuzufügen: Der ungerechtfertigte Gebrauch dieses Satzes als erste Voraussetzung eines Syllogismus, als dessen zweite die nicht weniger zutreffende These angesehen wird, daß das Wesen des Menschen die Persönlichkeit sei, hat manche Philosophen 3 und Pädagogen zu einer irrigen Schlußfolgerung geführt. Sie wurde von N. K . Goncarov in einem für die Pädagogik höchst bedeutungsvollen Vortrag vor der Generalversammlung der Pädagogischen Akademie der R S F S R im März 1965 so formuliert: „Marx hat die Persönlichkeit des Menschen als das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse definiert." 4 Diese Ansicht ist nicht nur deshalb falsch, weil Marx die Persönlichkeit nicht so definiert hat, sondern auch deshalb, weil darin die Neigung einiger Soziologen, Psychologen und Pädagogen deutlich wird, die biologisch bedingte Substruktur der Persönlichkeit aus deren begrifflicher Fassung auszuklammern. Diese Tendenz aber ist charakteristisch für die vulgärsoziologische Interpretation der Persönlichkeit. Eine ähnliche Konsequenz weist der eigentümliche soziale Behaviorismus auf, der in dem gesamten Tun der Persönlichkeit immer nur die prompte und vor allem unvermittelte Reaktion auf entsprechende soziale Stimuli sieht. Demnach läßt sich der Einfluß, den die Umgebung, darunter auch die sozialen Bedingungen, auf das Verhalten und die Formung der Persönlichkeit ausübt, in die Formel „Stimulus — Reaktion" fassen. Und wenn die Formel „biologischer Stimulus — biologische Reaktion" der Biologisierung der Persönlichkeit zugrunde liegt, so entspricht der vulgären Soziologisierung die äußerlich davon abweichende, in der T a t aber ebenso behavioristische Formel „sozialer Stimulus — soziale Reaktion". Eben daher rührt das geflügelte W o r t : „ E s gibt keine schlechten Schüler, es gibt nur schlechte Lehrer." Daher rührt auch die Unterschätzung der Fähigkeiten und die gänzliche Mißachtung der Erbanlagen bei der Person2 3
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K. Marx, Thesen über Feuerbach, in: K. Marx / F. Engels, Werke, Bd. 3, S. 534 Vgl. B. T. Malysev, Celoveceskaja liönost' i ee projavlenija (Die menschliche Persönlichkeit und ihre Äußerungen); V. G. Afanas'ev, Celostnaja struktura celoveieskoj licnosti (Die ganzheitliche Struktur der menschlichen Persönlichkeit), in: Problemy issledovanija sistem i struktur (Probleme der Untersuchung von Systemen und Strukturen), Konferenzmaterialien, Moskva 1965, S. 175—176; P. E. Krjazev, Einige soziologische Fragen der Persönlichkeitsbildung, in: Voprosy filosofii, Heft 7/1966 N. K. Goncarov, Nekotorye teoreticeskie predposylki sistemy vospitatel'noj raboty v skole (Zu einigen theoretischen Voraussetzungen der systematischen Erziehungsarbeit in der Schule), in: Sovetskaja pedagogika, Heft 5/1965, S. 31
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lichkeitsbildung. Die vulgärsoziologische Interpretation der Persönlichkeit entwickelte sich im Kampf gegen deren Biologisierung, in einer Auseinandersetzung, die, wie es häufig geschieht, nicht frei war von Überspitzungen und die noch heute außerordentlich aktuell ist. Für die marxistischen Psychologen sind solche Ansichten über den Menschen, die sich speziell auf die maßgebende Rolle des Unterbewußten, der Instinkte und biologischen Bedürfnisse berufen, nicht akzeptabel. Ihre Vertreter sind die Freudisten und Neofreudisten aller Schattierungen. Sie sind ausgesprochen anti-evolutionär und ahumanistisch. Mehr oder weniger haben das schon viele bürgerliche Philosophen anerkannt, darunter S. Finkelstein, N. O'Connor, J . Clayton und andere. Für sie ist der Freudismus der „Feind Nr. 1". Der innere Zerfall der Lehre Freuds hat schon zu Zeiten Max Adlers seinen Anfang genommen. Es sollte aber nicht vergessen werden, daß der Freudismus in letzter Konsequenz immer zur Biologisierung des Menschen und folglich auch der Persönlichkeit führt. Die sowjetischen Psychologen wenden sich gegen eine solche Biologisierung, in welcher offenen oder versteckten Form sie auch immer auftreten möge. Das heißt nicht, daß sie die biologischen Faktoren der Persönlichkeit geringachteten oder ignorierten. In den letzten zehn Jahren ist die Pawlowsche Lehre von den Typen des Nervensystems als eine Möglichkeit zur Untersuchung der psychischen Eigenarten der Persönlichkeiten recht erfolgreich weiterentwickelt worden. In der philosophischen Literatur allerdings läßt sich die Neigung beobachten, die biologischen Eigenschaften des Menschen allein zu seinem Organismus in Beziehung zu setzen. Die sowjetischen Psychologen stellen durchaus nicht in Abrede, daß die Persönlichkeit über Merkmale verfügt, die biologisch bedingt sind. B. M. Teplov h a t das sehr treffend formuliert. Für ihn existieren neben dem Typus des höheren Nervensystems als Eigenschaft des Organismus „jene typologischen Merkmale des Nervensystems, welche die natürliche Grundlage für die individuell-psychischen Unterschiede darstellen, sowohl hinsichtlich des Charakters (Temperament) als auch hinsichtlich der Fähigkeiten" 5 . Mit anderen Worten, es geht ihm um die biologisch determinierten Eigenschaften der Persönlichkeit. 5
B. M. Teplov, Issledovanie svojstv nervnoj sistemy kak put' k izuceniju individual'no-psichologiceskich razlicij (Die Untersuchung der Eigenschaften des Nervensystems als Weg zur Erforschung der individuell-psychischen Unterschiede), in: Psichologicöskaja nauka v S S S R (Psychologie in der UdSSR), Bd. II, Moskva 1960, S. 41; vgl. auch B. M. Teplov, Problemy individual'nych razliüj (Probleme der individuellen Unterschiede), Moskva 1961; Tipologiceskie osobennosti vyssej nervnoj dejatel'nosti (Typologische Eigenarten der höheren Nerventätigkeit), Bd. I —IV, Moskva 1956—1960
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Von großer theoretischer und praktischer Bedeutung sind für die Psychologie Untersuchungen über die typologischen Besonderheiten im Ausbildungsprozeß und ihre Äußerungen in Gestalt des individuellen Arbeitsstils 6 sowie die Untersuchung pathologischer Veränderungen der Persönlichkeit 7 . Doch deren biologisch bedingte Substruktur ist ihrer sozial bedingten Substruktur, die als ganze stärker ins Gewicht fällt, untergeordnet. Persönlichkeit ist der Mensch als Bewußtseinsträger. Daher sind das Persönlichkeits- und das Bewußtseinsproblem eng miteinander verknüpft; doch sie fallen nicht zusammen. Das Bewußtsein ist die höchste Form der Widerspiegelung der Welt, eine Form der menschlichen Psyche, die sich darin aber nicht erschöpft. Wo das Bewußtsein fehlt (beim Tier, beim Kind in seiner Frühentwicklung), kann man auch nicht von Persönlichkeit sprechen, sondern lediglich von individuell-psychischen Eigenarten. Die Entwicklung und Erziehung des Bewußtseins ist zugleich die der Persönlichkeit. Erkrankungen der Persönlichkeit sind Erkrankungen ihres Bewußtseins. Es ist kein Zufall, daß auf der Allunionstagung zu philosophischen Fragen der Physiologie der höheren Nerventätigkeit und der Psychologie bei der Erörterung des Bewußtseinsproblems im Grunde das Persönlichkeitsproblem zur Sprache kam. 8 Noch deutlicher zeigte sich das auf dem Allunionssymposium zu Problemen des Bewußtseins. 9 Darin äußert sich die Einheit von Persönlichkeit und Bewußtsein, die jedoch nicht im Sinne ihrer Identität, der Reduzierbarkeit der Persönlichkeit auf ihr Bewußtsein zu verstehen ist. Eine Persönlichkeit ist immer ein konkreter Mensch mit allen seinen psychischen Kräften und Eigenschaften, die seine praktische Tätigkeit steuern. 6
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Vgl. V. S. Merlin, Ocerk teorii temperamenta (Studie zur Theorie des Temperaments), Moskva 1964 Vgl. K. K. Platonov, Licnost' kak central'naja problema medicinskoj psichologii, psichoterapii i psichogigieny (Die Persönlichkeit als Zentralproblem der medizinischen Psychologie, Psychotherapie und Psychohygiene), in: Pogranicnye sostojanija. Trudy IV Vsesojuznogo s-ezda nevropatologov i psichiatrov (Grenzzustände. Arbeiten des IV. Allunionskongresses der Neuropathologen und Psychiater), Moskva 1965; B. V. Zejgarnik, Ob öksperimental'nom issledovanii izmenenija liönosti u psichiöeskich bol'nych (Zur experimentellen Untersuchung der Veränderung der Persönlichkeit von Geisteskranken), in: Grenzzustände. Arbeiten des IV. Allunionskongresses der Neuropathologen und Psychiater Vgl. Filosofskie voprosy fiziologii vysäej nervnoj dejatel'nosti i psichologii (Philosophische Probleme der Physiologie der höheren Nerventätigkeit und der Psychologie), Moskva 1963, S. 626 Vgl.: Problemy soznanija. Materialy simpoziuma (Probleme des Bewußtseins. Symposiumsmaterialien), Moskva 1966, S. 16; 1 3 0 - 1 3 2 ; 1 8 6 - 2 1 6 ; 2 2 8 - 2 3 9
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Der erwachsene Mensch aber besitzt ein Bewußtsein, das Ziele setzt, die er anstrebt, und das jene realen gesellschaftlichen Verhältnisse widerspiegelt, in denen er lebt oder aus denen er ausgeschlossen ist, jene Verhältnisse, die ihn geformt haben. Man kann daher sagen, eine Persönlichkeit ist ein Mensch, der im sozialen Entwicklungsprozeß sein „Ich" aus dem „NichtIch" ausgesondert hat und der sich des eigenen Zusammenhanges mit dem letzteren nicht nur bewußt ist, sondern mit seiner zielgerichteten Tätigkeit auch aktiv darauf Einfluß nimmt. (Im übrigen sind die Begriffe „Ich" und „Persönlichkeit" nicht identisch.) Höchste Form des Bewußtseins ist das Selbstbewußtsein, d. h. die Erkenntnis seiner selbst als einer Persönlichkeit. Dieses Selbstbewußtsein ist das Hauptmerkmal der Persönlichkeit. Unbewußtes Handeln, das sich etwa aus fest eingewurzelten Gewohnheiten ergibt, impulsives, intuitives Verhalten, mag es auch auf bewußte Tätigkeit zurückgehen, ist demgegenüber sekundären Ursprungs. Der Mensch wird nur dadurch eine Persönlichkeit, daß er zu anderen Menschen in Beziehung tritt. Daher geben die objektiven gesellschaftlichen Verhältnisse, die sich im menschlichen Bewußtsein reflektieren, für die Persönlichkeitsbildung den Ausschlag. Das erklärt auch, warum sich die Persönlichkeit und ebenso die persönlichen wie die zwischen den Persönlichkeiten bestehenden psychischen Beziehungen nicht losgelöst von der Erforschung und der praktischen Veränderung der objektiven gesellschaftlichen Verhältnisse untersuchen und noch weniger beeinflussen lassen. Die Versuche bürgerlicher Sozialpsychologen, bei der Veränderung der Persönlichkeit anzusetzen und erst danach an die Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse zu gehen, führen daher zu nichts. Die sowjetischen Psychologen wenden marxistisch-leninistische Methoden a n ; sie gehen also den umgekehrten Weg (und überschreiten damit in der Regel die Grenzen der Psychologie). 10 Die im Programm der KPdSU formulierte Aufgabe, die Persönlichkeit allseitig und harmonisch zu entwickeln, hängt aufs engste mit dem psychologischen Prinzip der Totalität der Persönlichkeit zusammen. Die sowjetischen Psychologen machen schon seit langer Zeit Anstrengungen, mit funktionalistischen Auffassungen des Persönlichkeitsproblems fertig zu 10
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Zu den psychischen Beziehungen der Persönlichkeit, auf die Klinik angewandt, vergleiche V. N. Mjasiscev, Licnost' i nevrozy (Persönlichkeit und Neurose), Leningrad 1960. Die Beziehungen zwischen Persönlichkeiten wurden erörtert auf dem Symposium zur Sozialpsychologie, das im Ramen des 2. Kongresses der Gesellschaft der Psychologen (1963) stattfand. (Vgl.: Problemy obscestvennoj psichologii [Probleme der Sozialpsychologie], Moskva 1965; Licnost' i trud [Persönlichkeit und Arbeit], Moskva 1965; Trud i razvitie licnosti [Die Arbeit und die Entwicklung der Persönlichkeit], Leningrad 1965) Mayer
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werden, Auffassungen, denen zufolge die Persönlichkeit als ein Ensemble einzelner, einander nebengeordneter psychischer Prozesse oder Fähigkeiten (Wahrnehmung, Aufmerksamkeit, Denken, Wollen usw.) zu betrachten sei. Die Totalitätsauffassung der Persönlichkeit aber hat nichts zu tun mit der Ansicht, die Persönlichkeit sei amorpher Natur. Bei der Überwindung der Schwächen des Funktionalismus (in der Praxis als Psychotechnik auftretend), der die Persönlichkeit in eine Reihe von Elementen zerlegt, ohne die Zusammenhänge zwischen ihnen oder gar das Ganze zu sehen, bewältigt die sowjetische Psychologie zugleich die Mängel der Gestaltpsychologie, die im Gegensatz zum Funktionalismus zwar das Ganze anerkennt, dafür aber dessen einzelne Elemente und ihre Verbindung aus den Augen verliert. Die gegenwärtig in der Sowjetunion durchgeführten Forschungen gehen von der Strukturiertheit der Persönlichkeit aus und verfolgen den Zweck, deren konkrete Strukturen und Substrukturen in Erfahrung zu bringen. Eine Gemeinschaftsuntersuchung, die der Sektor Psychologie am Institut für Philosophie der Akademie der Wissenschaften der U d S S R in dem Moskauer Werk „Stankolinija" veranstaltet hat, bot Anhaltspunkte dafür, im Verlauf verschiedenster Untersuchungen die These von der dynamischen funktionalen Struktur der Persönlichkeit zu überprüfen und zu präzisieren, und bestätigte darüber hinaus die „Nützlichkeit der Theorie von der Struktur der Persönlichkeit" und die Richtigkeit der Ansicht, daß „die funktionale Analyse der Persönlichkeit ihrer Strukturanalyse unterzuordnen sei"". In der Auffassung über diese Struktur stützen wir uns auf Festlegungen, die sich in der Philosophie eingebürgert haben; N . F. Ovcinnikov hat sie vor nicht langer Zeit präzisiert. Nach seiner Definition stellt die Struktur „eine Einheit von Elementen, ihren Zusammenhängen und ihrer Ganzheit" dar. 12 Unter den Psychologen ist in den letzten Jahren viel von der „Struktur der Persönlichkeit" die Rede. Aber was sie unter diesem Begriff fassen, ist eigentlich keine wirkliche Struktur, sondern eine bloße Aufzählung von Gesichtspunkten, die noch aus der Funktionalpsychologie
herrühren:
„Temperament", „Charakter", „Fähigkeiten", manchmal auch „Gerichtetheit". Auf eine Frage soll noch eingegangen werden: Warum wird hier von Struktur
und Substrukturen
gesprochen und nicht von System und Sub-
systemen, wie es A . A. Zvorykin tut? Mir scheint, bei aller Ähnlichkeit werden die Begriffe „Struktur" und „ S y s t e m " doch nicht immer richtig gebraucht. Wenn man V. I. Sviderskij darin beipflichtet, daß die Struktur 11 12
Licnost' i trud (Persönlichkeit und Arbeit), S. 356 N. F. Ovcinnikov, Struktura i simmetrija (Struktur und Symmetrie), in: Probleme der Erforschung von Systemen und Strukturen, S. 13
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die Art und Weise des Zusammenhangs von Elementen ist 13 , und zugleich der zitierten Präzisierung N. F. Ovcinnikovs zustimmt, so kann man I. S. Alekseev recht geben, der die Ansicht vertritt, daß „es die Aufgabe jeder wissenschaftlichen Forschung ist, eine Art System von Kenntnissen über den untersuchten Gegenstand zu schaffen. Die strukturelle Untersuchung hat ein System von Kenntnissen über die Struktur des Forschungsobjekts zu liefern." 1 4 Demzufolge halte ich die Struktur für eine Erscheinung der objektiven Dialektik. Im System der subjektiven Dialektik — der Begriffe von Persönlichkeit und von den Beziehungen zwischen Persönlichkeiten — muß sich die Struktur der Persönlichkeit und der objektiven zwischenmenschlichen Beziehungen widerspiegeln. Daher reizt es zum Widerspruch, wenn V. G. Afanas'ev in seinen Thesen zum Thema „Die ganzheitliche Struktur der menschlichen Persönlichkeit", unter die er Charakter, Temperament, Gefühle, Gewohnheiten u. a. rechnet, unvermutet schreibt: „Die menschliche Persönlichkeit als Ganzes ist ein bewegliches dynamisches System." 1 5 Zvorykin ersetzt den Begriff „Persönlichkeitsstruktur" durch den Systembegriff, Afanas'ev bringt sie durcheinander. Auch I. I. Ljachov ist im Unrecht, wenn er in seinem Überblick über die zehn Formen der Strukturiertheit von der organischen (genauer: biologischen) Form unvermittelt zur sozialen übergeht und die Struktur der Persönlichkeit und des Bewußtseins dabei außer acht läßt. 16 Die Strukturiertheit der Persönlichkeit sollte weder ignoriert noch lediglich deklariert werden. Es ist an der Zeit, sie in Struktur und Substruktur zu erschließen und ihre Verbindungen mit den sozialpsychologischen Phänomenen festzustellen. Elemente der Struktur der Persönlichkeit sind deren verschiedene Eigenschaften. Diese psychischen Züge und ihre Verknüpfungen sind von so außerordentlicher Vielfalt, daß man davon spricht, die Persönlichkeit sei unwiederholbar. In der russischen Sprache gibt es nach bisherigen Angaben etwa 1500 Wörter zur Bezeichnung solcher Charakterzüge. Viele von ihnen lassen sich allerdings nicht mit einem einzigen Begriff charakterisieren; die 13
14
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5-
V. I. Sviderskij, 0 dialektike e l e m e n t o v i struktury (Zur Dialektik von Elementen und Struktur), M o s k v a 1963, S. 11 I. S. Alekseev, Ob e l e m e n t a r n o j kletocke sistemno-strukturnogo i s s l e d o v a n i j a ( E l e m e n t a r e F r a g e n der strukturellen Systemuntersuchung), i n : P r o b l e m e der E r f o r s c h u n g v o n S y s t e m e n und Strukturen, S . 29 V. G. Afanas'ev, Celostnaja struktura celoveceskoj licnosti (Die ganzheitliche S t r u k t u r der menschlichen Persönlichkeit), i n : Probleme der U n t e r s u c h u n g v o n S y s t e m e n und S t r u k t u r e n , S. 178 1. I. Ljachov, S t r u k t u r n o s t ' — vseobscee i suscestvennoe s v o j s t v o materii (Die S t r u k t u r i e r t h e i t als allgemeine und wesentliche E i g e n s c h a f t der Materie), i n : Vestnik MG U (Mitteilungsblatt der Moskauer StaatlichenUniversität), Nr. 1/1965
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Menge ihrer Verbindungen aber, ganz abgesehen von ihrer Ausgeprägtheit; ist gänzlich unübersehbar. Der psychologischen Untersuchung ist diese große Mannigfaltigkeit deshalb zugänglich, weil die Persönlichkeit nicht n u r eine allgemeine S t r u k t u r besitzt, sondern auch spezielle Strukturen, die Konkretisierungen der allgemeinen darstellen. Vermittels der speziellen S t r u k t u r e n lassen sich verschiedene „Typen von Persönlichkeiten" fixieren. Es ist von großer Wichtigkeit, daß sich die moderne marxistische Psychologie dieser Typen ann i m m t , nachdem schon Theophrast im 3. J h . v. d. Z. mit seinem T r a k t a t „Charaktere" den Grundstein dazu gelegt 17 und diesbezüglich bisher n u r in La Bruyiere 1 8 (17. Jh.) einen Nachfolger gefunden h a t . Am stärks ten zeigt sich dieser spezifische Charakter in der individuellen S t r u k t u r . Zur Strukturanalyse gehört die Präzisierung nicht n u r der t y p i schen und der individuellen, sondern auch der allgemeinsten S t r u k t u r , wie sie jede beliebige Persönlichkeit besitzt, die fortgeschrittene wie die reaktionäre, die harmonisch wie die nur bedingt entwickelte, die Persönlichkeit m i t wie die ohne Ausstrahlungskraft. Diese Aufgabe besteht im Auffinden von Substrukturen solcher Art und Menge, als nötig und hinreichend sind, u m alle Persönlichkeitselemente zu erfassen. Bei den meisten Lehrbuchautoren taucht, wenn es sich u m die Psyche der Persönlichkeit handelt, die traditionelle Vorstellung von Temperament, Charakter und Fähigkeiten a u f ; gelegentlich wird noch der Begriff „Gerichtetheit" hinzugefügt. Diesen Merkmalen wird der Anschein des Nebeneinanderbestehens bar jeglicher struktureller Verknüpfungen gegeben. Darin offenbart sich der Einfluß eines noch nicht überwundenen Funktionalismus. Es ist notwendig und hinreichend, Persönlichkeiten durch vier Substrukturen oder, wie sie auch genannt werden, „Persönlichkeitsaspekte" zu charakterisieren, deren jeder wiederum seine Substrukturen besitzt. (Die Psychologie h a t diese längst zu verhältnismäßig selbständigen psychischen Phänomenen gemacht, die Eigenschaften der Persönlichkeit darstellen.) Die Bezeichnungen f ü r diese vier Unterstrukturen sind n u r bedingt richtig; sie treffen ihr Wesen nicht völlig. Dieses läßt sich besser durch die Unterstrukturen zweiten Grades erfassen, wie sie im folgenden in Klammern g e n a n n t werden. Die erste S u b s t r u k t u r bilden die ausschließlich sozial bedingten Charaktereigenschaften der Persönlichkeit (Tendenz, moralische Eigenschaften und Beziehungen); die zweite die individuell gewonnene E r f a h r u n g (Kenntnisse, 17 18
Vgl. Theophrast, Charaktere, hrsg. u. erkl. von P. Steinmetz, München 1960 Vgl. J. de la Bruyere, Die Charaktere oder die Sitten des Jahrhunderts, 4. Aufl., übertragen und herausgegeben von G. Hess, Leipzig 1970
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Ansichten, Können, Gewohnheiten sowie persönliche Kultiviertheit). Die dritte Substruktur betrifft die individuellen Besonderheiten einzelner psychischer Vorgänge (d. h. bestimmter Formen der Widerspiegelung) und die vierte biologisch bedingte Persönlichkeitsmerkmale (Temperament, Instinkte, krankhafte organische Veränderungen und Eigenschaften). Wird auch nur eine dieser Unterstrukturen in Theorie oder Praxis außer acht gelassen, so sind Einseitigkeiten in der Persönlichkeitsauffassung die unvermeidliche Folge. (Es ist festzustellen, daß die Untersuchung der moralischen Eigenschaften bei der Persönlichkeit des Erwachsenen äußerst schleppend vorangeht. Das erste Buch zu diesem Thema 19 erschien erst sieben Jahre nach einer Konferenz, die der gleichen Frage gewidmet war.) Die Zahl der Substrukturen kann nicht niedriger sein als vier, weil sich sonst nicht alle Elemente bzw. Grundmerkmale der Persönlichkeit erfassen ließen. Doch reicht diese Menge auch vollauf hin, alle denkbaren Merkmale aufzunehmen. Es sollte jedoch bedacht werden, daß das Wesen der Struktur nicht nur (und nicht so sehr) in den Elementen und Substrukturen liegt als vielmehr in den Relationen zwischen ihnen als einem einheitlichen Ganzen. Daher hat die Unterscheidung der vier Substrukturen auch ganz und gar nichts zu tun mit der Polyfaktorentheorie der Persönlichkeit (Cattle, Guilford, Eysenck u. a.), in welcher der quantitative Einfluß einer Reihe unabhängiger Faktoren hervorgehoben wird, welche die Persönlichkeit formen, während der wechselseitige Zusammenhang von deren einzelnen Substrukturen keine Beachtung findet. In letzter Instanz wird eine Persönlichkeit als ganze durch das komplizierte qualitative Zusammenwirken von nur zwei Faktoren — dem sozialen und dem biologischen — geprägt, wobei der soziale der bestimmende ist. Die Erkenntnis der dynamischen Struktur einer konkreten Persönlichkeit, die Erkenntnis der Hierarchie ihrer Substrukturen und schließlich ihrer verschiedenen Grundmerkmale gestattet es, den Zusammenhang dieser Faktoren zu verstehen (nicht nur zu deklarieren, wie es leider noch häufig geschieht). Der Funktionalismus mit seinem platten metaphysischen Denken neigt dazu, entweder die biologischen oder die sozialen Momente in der Psyche der Persönlichkeit überzubewerten. Aber sogar dann, wenn die Vertreter dieser Denkrichtung die Haltlosigkeit einer Biologisierung oder vulgären Soziologisierung der Persönlichkeit anerkennen, versperren ihnen die Schranken ihrer Denkweise den Zugang zur Erkenntnis der konkreten Wechselwirkung beider Faktoren. Statt dessen beschränken sie sich darauf, ihre Distanz zu 19
Vgl.: 0 certach licnosti novogo rabocego (Über die Persönlichkeitsmerkmale des Arbeiters heute), Moskva 1963
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der diskreditierten „Zweifaktorentheorie" zu betonen. Es ist aber nicht damit getan, anzuerkennen, daß diese beiden Faktoren voneinander unabhängig sind und nicht parallel wirken. Es gilt, ihre Wechselbeziehung nicht nur zu akzeptieren, sondern darüber hinaus zu klären, worin sie besteht. Der Funktionalismus ist dazu nicht in der Lage, aber die Strukturauffassung der Persönlichkeit führt dahin. Tatsächlich sind von jenen Grundzügen der Persönlichkeit, die zur ersten und zweiten Substruktur gehören, lediglich die Mechanismen der psychischen Nerventätigkeit biologisch bedingt. Die ebenfalls biologisch determinierten Anlagen der Persönlichkeit, die zur dritten Substruktur gehören, haben sich im Prozeß ihrer Entwicklung sozial verändert. Anders die Persönlichkeitsmerkmale der vierten Substruktur. Auch sie können zwar durch die Wechselwirkung mit den Merkmalen der ersten beiden Gruppen modifiziert werden, doch an sich sind sie biologisch bestimmt und angeboren. Diese Feststellungen gelten den Substrukturen und Elementen der Persönlichkeit, wie sie sich einzeln und gesondert darbieten. Doch eine Struktur besteht nicht nur aus Elementen, sondern auch aus Zusammenhängen zwischen ihnen. Keine einzige Eigenschaf t der Persönlichkeit läßt sich von den übrigen trennen. Daher sind alle ihre Züge, wenn auch in unterschiedlichem Grade, sowohl sozial als auch biologisch bedingt. Am deutlichsten treten jene Merkmale, die zur ersten Substruktur gehören (und insofern auch die Rolle der sozialen Determiniertheit der Persönlichkeit), im Charakter hervor. Der Charakter ist keine fünfte Unterstruktur; er bildet vielmehr einen Teil der allgemeinen Struktur. Doch besteht er aus stark ausgeprägten und sehr eng verknüpften Persönlichkeitsmerkmalen, die daher in den verschiedenen Tätigkeitsformen zwangsläufig besonders sinnfällig in Erscheinung treten. Jeder Charakterzug ist gleichzeitig ein Merkmal der Persönlichkeit. Diese Beziehung ist jedoch nicht umkehrbar. Darum bildet der Charakter keine zusätzliche Substruktur, sondern lediglich einen besonders deutlich ausgeprägten Teil der allgemeinen wie der individuellen Struktur. Auch die Fähigkeiten sind keine fünfte Gliederungsform. Sie bezeichnen die Struktur der Persönlichkeit unter dem Aspekt ihres Zusammenhanges mit den Anforderungen einer bestimmten Tätigkeit. Wenn wir von Fähigkeiten sprechen, haben wir immer eine ganz konkrete Tätigkeit im Auge. Eine Befähigung zu einem x-beliebigen Beruf gibt es nicht. Das ist der Grund, warum neben die vier (und nur vier) Substrukturen erster Ordnung noch die 2wei (und nur zwei) allgemeinen Qualitäten der Persönlichkeit zu setzen sind. Der Charakter meint die Persönlichkeit in ihrer Tendenz, in ihrer Aktivität überhaupt; die Fähigkeiten deuten auf die Tendenz, die bestimmte dynamische Potenz der Persönlichkeit und deren Realisierung. 70
In der philosophischen Literatur steht das Verhältnis der Begriffe „Mensch", „fndividuum", „Subjekt", „Persönlichkeit" zur Diskussion. Die Anthropogenese untersucht den biologischen wie den gesellschaftlichen Ursprung des Menschen. Die Wissenschaft vom Menschen gehört sowohl zur Biologie als auch zur Gesellschaftswissenschaft. Sie stellt eine Grenzdisziplin dar, die in beiden theoretischen Bereichen verwurzelt ist. Das gilt für die gesamte Wissenschaft vom Menschen ebenso wie für ihre Einzel- und Teildisziplinen; denn der Mensch ist ein Ganzes. Sogar die Anatomie und die Embryologie haben neben den biologischen auch soziale Aspekte. Ein Individuum ist ein einzelner Mensch in der Gesellschaft, die jedoch nicht die Summe der Individuen darstellt. Die Klassiker des Marxismus haben diesen Begriff sehr häufig gebraucht, und sie verstanden darunter — in Übereinstimmung mit dem Ursprung des Wortes (vom lateinischen „unteilbar") — Einmaligkeit. Für Marx war die Grundlage des Lebens der Gesellschaft die „gesellschaftlich bestimmte Produktion der Individuen" Der Mensch ist in dem Maße Subjekt, in dem er Persönlichkeit ist; ein Organismus kann nicht Persönlichkeit sein. Individuum ist der Mensch als Organismus wie als Persönlichkeit. In Anbetracht der Zwiespältigkeit des Begriffs „Individuum" schrieb Marx über die Menschen: „als atmende Individuen stehn sie nur als Naturkörper zueinander in Beziehung, nicht als Personen" 2 1 . Und an anderer Stelle: „Der erste zu konstatierende Tatbestand i s t . . . die körperliche Organisation dieser Individuen und ihr dadurch gegebenes Verhältnis zur übrigen Natur." 2 2 Aber ein Individuum muß nicht ein Mensch sein. In der Biologie und in der Logik findet dieser Begriff als Synonym für die Termini „Einzelwesen" und „einzelnes Objekt" Verwendung. Die Zwiespältigkeit, die der Begriff in bezug auf den Menschen besitzt, fehlt ihm dort gänzlich. Daher ist der Begriff „Individuum" weiter als der der Persönlichkeit, mit dem er nicht selten identifiziert wird. Das gilt auch für den Terminus „Individualität", in den nicht nur Persönlichkeitsmerkmale, sondern auch individuelle körperliche Kennzeichen eingehen. Angesichts der nachdrücklichen Erklärung Lenins, daß .„Individualitäten' nicht nur in der geistigen, sondern auch in der physischen Welt existieren" 23 , kann man nicht ganz mit V. P. Tugarinov einverstanden sein, wenn er schreibt: „Individuelle Unterschiede sind Unterschiede, welche die Nei20
K. Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, Einleitung, S. 5 21 Ebenda, S. 154 22 K. Marx / F. Engels, Die deutsche Ideologie, in: Werke, Bd. 3, S. 21 23 W. I. Lenin, Der ökonomische Inhalt der Volkstümlerrichtung und die Kritik an ihr in dem Buch des Herrn Struve, in: Werke, Bd. 1, S. 426
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gungen der Menschen, ihre Bedürfnisse, Talente u. ä. betreffen" 2 4 , ohne dieses „und ähnliches" auszuführen. In einem Sonderabschnitt seines psychologisch gehaltvollen Buches definiert Tugarinov den Begriff „Individualität" überdies als Kennzeichen der Persönlichkeit, wobei er eingangs bemerkt: „Der Begriff Persönlichkeit' wird meist zu dem der Individualität in Beziehung gesetzt." 2 5 Käme Individualität nur Persönlichkeiten zu, so wäre das „mündliche Porträt" der Kriminalisten ein Unding, ebenso wie jedes Porträt. Daher muß es als Inkonsequenz erscheinen, wenn P. E. Krjazev schreibt: „Der Mensch ist ein gesellschaftliches Wesen. Sein Wesen ist nicht natürlich-gesellschaftlich, sondern nur gesellschaftlich", um kurz danach zu äußern: „Das menschliche Individuum ragt aus der Masse der biologischen Individuen durch seine biosoziale Struktur heraus." 2 6 Während Krjazev dem Verfasser dieser Zeilen zu Unrecht vorwirft, die Begriffe „Persönlichkeit" und „menschliches Individuum" miteinander zu identifizieren, stellt er selbst die Begriffe „Mensch" und „Individuum" einander gegenüber, die sich doch n u r wie Allgemeines und Einzelnes zueinander verhalten. Er ersetzt die Persönlichkeit, die ein kompliziertes, aber durchaus konkretes Attribut des Menschen im allgemeinen wie des konkreten, einzelnen menschlichen Individuums ist, durch einen ihrer soziologischen Aspekte. Es liegt auf der Hand, daß nach Ansicht Krjazevs von keinerlei Persönlichkeitsstruktur die Rede sein kann. Schon gar nicht zustimmen kann man folgender Persönlichkeitsdefinition: „Der konkrete Mensch mit all seinem geistigen Gehalt, seinen physischen Eigenschaften, psychischen Besonderheiten, seiner individuellen Bedeutung in der Gemeinschaft und seiner Rolle in der gesellschaftlichen Arbeit stellt eine Persönlichkeit dar." Nach dieser Definition (und ähnlichen) ist der Terminus „Persönlichkeit" im Grunde überflüssig, weil er völlig dem Terminus „Mensch" gleichgesetzt wird, weil jegliche Differenzierung entfällt. Nicht zufällig sieht ihr Urheber sogar in „Größe, Gewicht und Brustumfang" 27 Persönlichkeitseigenschaften. Es gibt noch einen anderen, nicht weniger wichtigen, aber bedeutend weniger beachteten Gesichtspunkt. Rubin stein h a t ihn sehr treffend und tiefgründig dargelegt: „. . . die Eigenschaften der Persönlichkeit können keineswegs auf ihre individuellen Besonderheiten reduziert werden. Sie schließen 24
V. P. Tugarinov, Licnost' i obsceslvo (Persönlichkeit und Gesellschaft), Moskva 1965, S. 71 25 Ebenda, S. 139 3« P. E. Krjazev, Einige soziologische Fragen der Persönlichkeitsbildung, in: Voprosy filosofii, Heft 7/1966, S. 15 27 N. F. Fedenko, Ocerki po psichologii licnosti sovetskogo voina (Studien zur Psychologie der Persönlichkeit des Sowjetsoldaten), Moskva 1966, S. 9, 38—40
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sowohl das Allgemeine als auch das Besondere, als auch das Einzelne ein. Eine Persönlichkeit ist um so bedeutender, je stärker das Allgemeine, individuell gebrochen', in ihr vertreten ist. Die individuellen Eigenschaften der Persönlichkeit sind nicht dasselbe wie die Persönlichkeitseigenschaften des Individuums, das heißt die Eigenschaften, die es als Persönlichkeit kennzeichnen." 2 8 Diese Gedanken Rubinsteins sind von großer theoretischer und praktischer Wichtigkeit. In Pädagogik, Recht, Medizin und Kunst h a t das sogenannte individuelle Herangehen längst Eingang gefunden, und es erweist sich sowohl in diesen Bereichen der Praxis als auch in der psychologischen Theorie häufig de facto als Orientierung auf die Persönlichkeit des Menschen. Ein solches Herangehen zielt auf die Totalität der Persönlichkeit desjenigen Menschen, zu dem man in irgendwelche objektiven Beziehungen tritt, und zwar unter minderer oder stärkerer Berücksichtigung aller ihrer Kompliziertheit und ihrer individuellen Besonderheiten, anders ausgedrückt, unter Berücksichtigung ihrer individuellen dynamischen funktionalen Struktur. Beim individuellen Herangehen werden sämtliche konkreten Besonderheiten, die in dem jeweiligen Fall, auf den jeweiligen Menschen zutreffen, in Betracht gezogen. Wenn das individuelle Herangehen das persönlichkeitsorientierte mit einschließt, so ist es weitreichender. Es kann aber auch ohne das auskommen, nämlich dann, wenn es sich nur auf bestimmte Eigenarten des betreffenden Individuums bezieht. Dann geht es nicht darauf aus, die ganze Persönlichkeit zu erfassen, sondern ist enger angelegt. Zwischen der Struktur einer Persönlichkeit und der Art ihrer Ausbildung besteht ein direkter Zusammenhang: Die Formung der ersten Substruktur geschieht vor allem durch Erziehung; die der zweiten durch Vermittlung von Kenntnissen und Erfahrungen; die vierte bildet sich durch Übung heraus. Die dritte Substruktur dagegen braucht zu ihrer Entstehung alle drei Faktoren. Alle diese Einflüsse auf die Persönlichkeit wirken aber nicht unvermittelt, sondern über die Relationen, die zwischen den Substrukturen und einzelnen Zügen der Persönlichkeit bestehen. In voller Übereinstimmung mit S. L. Rubinstein gehen wir davon aus, daß äußere Einflüsse immer nur mittels der inneren Bedingungen auf den Menschen einwirken. „Bei der Erklärung beliebiger psychischer Erscheinungen tritt die Persönlichkeit' als das zu einem Ganzen verbundene Insgesamt der inneren Bedingungen zutage, durch die alle äußeren Einwirkungen ,gebrochen' werdenZ'29 2« S. L. Rubinstein, Sein und Bewußtsein, Berlin 1962, S. 281 29 Ebenda, S. 280. — Vgl. auch K. K. Platonov, Vidy formirovanija licnosti i ee struktura (Aspekte der Persönlichkeitsbildung und Persönlichkeitsstruktur), in: Obucenie i razvitie. Materialy k simpoziumu (Ausbildung und Entwicklung. Materialien zu einem Symposium), Moskva 1966, S. 30
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In dieser Auffassung von Persönlichkeit und von der Determiniertheit ihres Verhaltens liegt nicht nur die Erklärung und Begründung für das Prinzip, persönlichkeitsorientiert an die ideologisch-erzieherische Arbeit heranzugehen; in ihr liegt auch der Schlüssel für seine Handhabung. Das psychologische Prinzip der Einheit von Bewußtsein und Tätigkeit, das Rubinstejn zu Beginn der dreißiger Jahre begründete, war für die Entwicklung der sowjetischen Psychologie von großer Bedeutung. Da diese aber vom Prinzip der Einheit von Persönlichkeit und Bewußtsein ausgeht, wurde die Einheit von Bewußtsein und Tätigkeit als Prinzip der Einheit von Persönlichkeit und Tätigkeit fixiert. Die Ubereinstimmung der Persönlichkeit mit ihrer Tätigkeit tritt am deutlichsten im Charakter und in den Fähigkeiten zutage. Doch ist damit nur jenes Prinzip deutlicher formuliert, das besagt, daß sich die Persönlichkeit immer in der Tätigkeit und nur in dieser offenbart und herausbildet. In dem Grundsatz der Einheit von Persönlichkeit und Tätigkeit liegt auch die theoretische Begründung für die „Methode der Verallgemeinerung unabhängiger Charakteristika", die aus der Untersuchung der Persönlichkeit in ihren verschiedenen Tätigkeitsweisen gewonnen wurden. Diese Forschungsmethode ist die wichtigste der bisher üblichen praktischen Verfahren zur Untersuchung der Persönlichkeit. 30 Sie trägt zum Verständnis dessen bei, warum die künstliche, die „Labor"tätigkeit bei der Testanalyse so häufig zu Fehlurteilen führt, während das natürliche Experiment und die Beobachtung der Persönlichkeit in ihrer gewohnten Tätigkeit, beim Lernen oder beim Spiel weitaus verläßlichere Resultate erbringen. Das ist auch der Grund dafür, daß die sowjetischen Psychologen schon in den dreißiger J a h ren übereinstimmend darauf verzichteten, die Fähigkeiten der Persönlichkeit mit Hilfe von Tests ausfindig zu machen. Darauf ist etwas näher einzugehen, weil gegenwärtig neben einer verstärkten Aufmerksamkeit für die experimentelle Untersuchung von Persönlichkeitsqualitäten, die zu begrüßen ist, auch Rückfälle in alte, längst erkannte Fehler zu beobachten sind. Ohne auf die Anwendung von Tests zu verzichten, lehnen die sowjetischen Psychologen doch die Testierungsmethode (metod testirovanija) ab. Ein Test ist eine einzelne Methode. Der Begriff „Testierung" aber bezeichnet nicht nur ein methodisches, sondern darüber hinaus ein methodologisches Herangehen. Es dient der Feststellung beruflicher Fähigkeiten mit Hilfe des formalen Abwägens der richtigen und der falschen Ergebnisse von Tests. Die Testierung erfaßt die Persönlichkeit nur an ihrer Oberfläche, während eine wissenschaftliche Methode sich darin bewährt, daß sie in das Wesen der Erscheinungen eindringt. Den marxistischen Psychologen können die 30
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Vgl.: Licnost' i trud (Persönlichkeit und Arbeit), S. 66 — 74
pragmatischen Zufallstreffer einiger Tests nicht befriedigen, wenn sie ihm zugleich die Einsicht in das Wesen der zutage getretenen Persönlichkeitseigenschaften verwehren. Das Abgehen von der Testierungsmethode erklärt sich aus der Fixierung noch eines weiteren psychologischen Grundprinzips — der der Entwicklung der Persönlichkeit. Als Persönlichkeit wird der Mensch nicht geboren, er entwickelt sich dazu. Dies geschieht aber nicht durch passives Reagieren auf die Umweltein Wirkungen, sondern durch eine Erziehung, die sowohl vom Erzieher selbst wie vom Erzogenen Aktivität verlangt. Hinter der These, daß die Persönlichkeit sich am günstigsten im Prozeß ihrer Entwicklung und Veränderung untersuchen lasse (mitunter auch als Prinzip der dynamischen Persönlichkeitsanalyse bezeichnet), steckt weiter nichts als eine spezifizierte Anwendung der allgemeinen dialektischen Methode. Nach diesem Grundsatz ist die Formung von Persönlichkeiten wesentlicher als ihre Beschreibung oder Bewertung, und ihre Erforschung vermittels des bildenden und formenden Experiments verspricht demnach den größten Erfolg. Die an diesem Prinzip orientierte Untersuchung und Bewertung von Persönlichkeiten betrachten die sowjetischen Psychologen nicht als Selbstzweck, sondern als Mittel zu zielgerichteter Menschenbildung. Sie verfolgen die allseitige und harmonische Entwicklung der menschlichen Persönlichkeit nicht nur, sie unterstützen sie in allen Bereichen der sowjetischen Wirklichkeit, von der Kinderkrippe bis zur Auswahl und Ausbildung der Kosmonauten. Die Erkenntnis von der Strukturiertheit der Persönlichkeit trägt dazu bei, deren Individualität über die Wechselbeziehung mit den verschiedenen Substrukturen tiefgründiger zu erfassen.
P . M. E G I D E S
Die Persönlichkeit als soziologische Kategorie
Es gehört zur Ausarbeitung der marxistischen Persönlichkeitstheorie, daß dieser Begriff auch als soziologische Kategorie untersucht wird. Man kann darin aber nur dann eine allgemein-soziologische Kategorie sehen, wenn der reale Entwicklungsprozeß der Persönlichkeit als eine objektive Notwendigkeit, als Gesetzmäßigkeit im sozialen Entwicklungsprozeß verstanden wird. Meint man mit Persönlichkeit aber eine bloße menschliche Eigenschaft, so besteht keine Veranlassung, sie als eine solche Kategorie aufzufassen; denn die allgemeine Soziologie (der historische Materialismus) hat nicht menschliche Eigenschaften, sondern gesellschaftliche Entwicklungsgesetze zum Gegenstand. Erst wenn feststeht, daß die Persönlichkeit (licnostnost') nicht nur das Produkt bestimmter gesellschaftlicher Verhältnisse ist, sondern selbst ein notwendiges Verhältnis zwischen Mensch und Gesellschaft, das zur Weiterentwicklung der Gesellschaft unerläßlich ist, erst dann kann man den Begriff „Persönlichkeit" wirklich als allgemein-soziologische Kategorie betrachten. Bevor diese Frage nicht gründlich untersucht ist, läßt sich das Persönlichkeitsproblem nicht wissenschaftlich lösen. Die Frage nach dem Wesen der Persönlichkeit hängt mit der Frage nach ihrem Werden, ihrer Genesis, zusammen. Manche Wissenschaftler vertreten die Ansicht, Persönlichkeiten habe es schon in der Urgesellschaft gegeben. Sie beziehen sich darauf, daß die Ethnographen und Historiker bei den Mitgliedern der Stammesgesellschaft einen Sinn für Würde, für Verantwortung, für Tapferkeit festgestellt haben. 1 Engels hat dies in seiner Arbeit „Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des S t a a t s " aufgegriffen. Aber sie lassen dabei das soziologische Herangehen von Marx und Engels an das Persönlichkeitsproblem in der Urgesellschaft, das für die generelle Bestimmung der Persönlichkeit von Wert ist, außer acht. In dieser Gesellschaft, schreibt Engels, war der Mensch dem Stamm, der Gens 1
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Vgl. L. H. Morgan, Die Urgesellschaft, Untersuchungen über den Fortschritt der Menschheit aus der Wildheit durch die Barbarei zur Zivilisation, Stuttgart 1 8 9 1 ; iV. N. Miklucho-Maklaj, Tamo Russische Reisetagebücher, Berlin 1950
und ihren Einrichtungen „unbedingt Untertan", sie waren für ihn „heilig und unantastbar, waren eine von Natur gegebne höhere M a c h t . . : " 2 In der Gentilordnung hat „in den meisten Fällen . . . jahrhundertelanger Gebrauch bereits alles geregelt" 3 . Für die persönliche Initiative blieb kein Raum. Um von Persönlichkeit zu sprechen, ist das Gefühl der Würde, der Verantwortung nicht hinreichend, ebensowenig wie Individualität, wenn auch ohne sie keine Persönlichkeit möglich ist. Die Persönlichkeit hat da ihren geschichtlichen Ausgangspunkt, wo die bedingungslose Unterordnung des einzelnen unter die Gemeinschaft, das völlige Aufgehen in der Gemeinschaft aufhört. Sie tritt erstmalig zu dem Zeitpunkt auf, wo sich die Gemeinschaft aus ihrem Urzustand löst (die Forderung nach unbedingter Unterordnung, das Aufgehen des Menschen in der Gemeinschaft kennzeichnet eine primitive Gemeinschaftlichkeit), wo der Mensch die Nabelschnur, die ihn mit der Urgemeinde verbindet, durchtrennt und die Gesellschaft ihm eine gewisse Selbständigkeit, Unabhängigkeit, Handlungsfreiheit zubilligt. Gerade weil die Urgesellschaft ihm alles das nicht geben konnte, war sie „dem Untergang geweiht" 4 . Der Umstand, daß „die Gentilverfassung . . . eine äußerst unentwickelte Produktion" voraussetzt und daß der „ S t a m m . . . die Grenze für den Menschen (blieb), sowohl dem Stammesfremden als auch sich selbst gegenüber" 5 , offenbarte die beiden Seiten des einen historischen Prozesses, dessen Dialektik darin besteht, daß die erste Seite (die Unentwickeltheit der Produktion), als die ursprüngliche, von der zweiten (dem Fehlen von Persönlichkeiten) rückwirkend beeinflußt wurde und also die zweite nicht nur bestimmte, sondern auch von ihr bestimmt wurde. In der Urgesellschaft herrschte soziale Freiheit, Freiheit von Ausbeutung, von Klassenunterdrückung, von staatlichem Zwang. Aber es gab keine Freiheit zu selbständigem Handeln, keine Freiheit von der bedingungslosen Unterordnung unter die Gemeinschaft, von der totalen Bevormundung auf allen Lebensgebieten, keine Freiheit, sich selbst auszudrücken, und keine relative Unabhängigkeit des einzelnen — es fehlte also die Freiheit der Persönlichkeit. Die Gentilordnung war so beschaffen, daß Persönlichkeiten sich in ihr nicht entwickeln konnten. Die Frage, ob es in der Urgesellschaft Persönlichkeiten gegeben habe, geht nicht allein die Erkenntnis etwas an, sondern hat prinzipielle Bedeutung: Außerhalb des Sozialismus-Kommunismus ist die feste Übereinstimmung von sozialer Freiheit und Freiheit der Persönlichkeit — der Freiheit zur Selbstäußerung, an der man die Überwindung der Entfremdung erkennt —, F. Engels, Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des S t a a t s , i n : K. Marx / F. Engels, Werke, B d . 21, S. 97 5 Ebenda 3 E b e n d a , S . 96 4 Ebenda, S. 97 2
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die wechselseitige Durchdringung von Gemeinschaft und Persönlichkeit nicht möglich. Die Fürsprecher eines „Kasernen-Sozialismus" dagegen postulieren in Wahrheit die Rückkehr zur primitiven Gemeinschaftlichkeit ohne Persönlichkeiten, dafür aber mit der bedingungslosen Unterordnung des Menschen. Sie postulieren eine Kreisbewegung, keine Spirale, und versuchen ihre Version von Gemeinschaft auch noch idealisch zu verklären. Sie machen alle Anstrengungen, die völlige Unterordnung des „ I c h s " des Menschen, sein absolutes Aufgehen im Kollektiv, den schrankenlosen Gehorsam gegenüber den geltenden Regeln, den Standards, Schablonen und dem zum Gott erhobenen Führer aufrechtzuerhalten, sie wollen den Menschen in ein Klischee pressen, ihn entmenschlichen und in einen Roboter verwandeln, der stumpfsinnig das ihm eingegebene Programm absolviert. Die Genesis der Persönlichkeit hängt eng mit dem Zerfall der Urgesellschaft zusammen (im Grunde sind das zwei Seiten eines Prozesses). Doch fand das Bedürfnis der Menschen nach relativer Selbständigkeit, nach persönlicher Freiheit zur Weiterentwicklung der Produktivkräfte infolge der entfremdeten Arbeit seinen „logischen Kulminationspunkt" in dem Streben nach der Freiheit, Privateigentum zu besitzen. Dies wiederum bewirkte das Gegenteil; es nahm der Mehrheit ihre Freiheit, d. h., es hatte die ökonomische wie geistige Abhängigkeit der Arbeitenden zur Folge, ebenso wie den totalen Individualismus (der ökonomische Individualismus erzeugte den geistigen). An der Schwelle zur Zivilisation strebten die Gentilgenossen vor allem nach der „Befreiung von dem Anrecht der Gentilgenossenschaft an die Parzelle, das ihnen eine Fessel wurde. Die Fessel wurde sie los — aber bald nachher auch das neue Grundeigentum . . . Wie der Hetärismus und die Prostitution die Fersen der Monogamie, so klammert sich von nun an die Hypothek an die Fersen des Grundeigentums. Ihr habt das volle, freie, veräußerliche Grundeigentum haben wollen, nun wohl, ihr habt's — tu l'as voulu, George Dandin!"6 Allein schon die Herausbildung von Persönlichkeiten (wie auch der monogamen Familie) deutete darauf hin, daß die Beziehung zwischen Mensch und Gesellschaft sich zugunsten einer gewissen relativen Selbständigkeit des einzelnen gewandelt hatte. Die antagonistische Gesellschaft als Zwischenstadium in der Geschichte der Menschheit war eben keine überflüssige, unergiebige Phase. Das gilt nicht nur für die Entwicklung der Produktivkräfte, sondern auch für das Werden der Persönlichkeit, wenngleich dies anfangs einen formalen Charakter trug. Gab es in der Urgesellschaft (soziale) Freiheit, aber keine Persönlichkeiten, so entwickeln sich in den antagonistischen Ordnungen Persönlichkeiten, « Ebenda, S. 162 78
aber die soziale Freiheit fehlt (die Freiheit von Ausbeutung und Unterdrückung). Daher rührt auch die Entfremdung der Persönlichkeit. Unter den Bedingungen kapitalistischer Entfremdung verwandelt sich die Freiheit in ihr Gegenteil: Der Mensch wird Sklave einer „Freiheit" der Entfremdung, welche die Persönlichkeit zerstört. Dem Sozialismus als qualitativ neuer Etappe in der gesellschaftlichen Entwicklung (und daher auch in der Entwicklung der Persönlichkeit) entspricht eine im sozialen Sinne freie Persönlichkeit. Der echte Sozialismus kehrt nicht zu dem urgesellschaftlichen Zustand zurück, wo es noch keine Persönlichkeiten gab. Er drängt nach vorn, durch das Positive, das wir der antagonistischen Gesellschaft verdanken, zur echten, nicht mehr entfremdeten Persönlichkeit, zur wirklichen sozialistischen Gemeinschaftlichkeit. Folglich ist auch die These „Alle Menschen sind Persönlichkeiten" nicht ganz zutreffend. Sie werden es vielmehr erst von einem bestimmten geschichtlichen Zeitpunkt an, nämlich mit dem Zerfall der Urgesellschaft. Diesem Sachverhalt muß auch die Definition des Begriffs „Persönlichkeit" Rechnung tragen, d. h., es muß dabei ein Unterschied gemacht werden zwischen den Kategorien „Persönlichkeit" und „Mensch". In soziologischer Sicht bezeichnet „Persönlichkeit" eine Beziehung zwischen Mensch und Gesellschaft, die das Ergebnis der vorangegangenen Entwicklung der Gesellschaft und die Notwendigkeit weiteren Fortschritts ausdrückt. „Persönlichkeit" deutet auf den Grad von Autonomie, von relativer Selbständigkeit und Selbstbestimmung, auf den Spielraum zwischen Mensch und Gesellschaft, zwischen dem einzelnen und anderen Menschen in Ökonomie (Produktion und Bedarf), Verwaltung (solange es Staaten gibt: Politik), im Alltag und im geistigen Leben (intellektuell, sittlich, ästhetisch), ein Spielraum, der objektiv notwendig und hinreichend ist zur Entfaltung jener menschlichen Potenzen, deren die Gesellschaft in einem bestimmten geschichtlichen Stadium bedarf. Persönlichkeitsein als das Verhältnis der Autonomie, des Spielraums zwischen Mensch und Gesellschaft wie zwischen einzelnen Menschen ist nicht einseitig; es meint nicht nur eine Geste der Gesellschaft gegenüber dem einzelnen. Die Gesellschaft gibt dem Individuum vielmehr so viel, als unter den jeweiligen geschichtlichen Bedingungen notwendig ist, damit dieses wiederum der Gesellschaft das für ihre Entwicklung Erforderliche geben kann. So betrachtet, ist der persönliche Spielraum, die persönliche Autonomie keine Freiheit von der Gesellschaft, sondern in der Gesellschaft. Der Begriff „Persönlichkeit" nun bezeichnet den gleichen Gegenstand wie der Begriff „Mensch", nur bereits mit einem höheren, eben persönlichkeitsgeprägten Bezug auf die Gesellschaft. (Gewöhnlich spricht man vom Verhältnis zwischen Persönlichkeit und Gesellschaft, während doch das Persönlichkeitsein selbst eine Beziehung zwischen Mensch und Gesellschaft ist.) 79
Dies ist nur zu verstehen, wenn man historisch an das Problem herangeht. Bevor ein bestimmtes Entwicklungsniveau der Produktivkräfte erreicht war, konnte die Gesellschaft nur dadurch bestehen, daß zwischen ihr und jedem ihrer Mitglieder, wie auch unter den Mitgliedern in ökonomischer Hinsicht wie im Alltag und in der Intimsphäre ein Zustand absoluter Verschmelzung herrschte. Das heißt, es gab zwischen Individuum und Gesellschaft keinerlei Spielraum, weder einen materiellen (ökonomischen) noch einen geistigen. Alles Tun des Menschen war absolut festgelegt; anderenfalls wäre es der Untergang der Gesellschaft gewesen. Auf einer bestimmten Entwicklungshöhe der Produktivkräfte entsteht jedoch das objektive Bedürfnis, eine gewisse Selbständigkeit und Selbstbestimmung zu erlangen. In ökonomischer Hinsicht kommt das darin zum Ausdruck, daß die Gentilgenossen den Drang zum privaten Wirtschaften, zur wirtschaftlichen Absonderung entwickeln, in bezug auf das Eheleben in dem Bestreben, separate Familien zu gründen, deren Status ihnen eine gewisse Unabhängigkeit gegenüber den Regulierungsmechanismen der Gesellschaft sichert. Insbesondere beim historisch konkreten Herangehen offenbart sich der Unterschied zwischen Persönlichkeit und Individualität. Diese läßt sich auch dem Menschen der Urgesellschaft nicht absprechen: Bei allem Aufgehen in der Gemeinschaft unterscheidet sich jedes Mitglied der Gentilordnung durch seine Eigenschaften, durch spezifische, nur ihm eigene individuelle Besonderheiten und Fähigkeiten von den anderen. Aber einen Spielraum zwischen Mensch und Gesellschaft, d. h. eine persönliche Autonomie, gibt es zu jener Zeit noch nicht. Daher ging auch die Entwicklung der Individualität, der individuellen Fähigkeiten nur sehr langsam voran, die Fähigkeiten kamen nicht zur Entfaltung, und das blieb wiederum auf das Entwicklungstempo der Urgesellschaft nicht ohne Einfluß. Auf einem bestimmten Entwicklungsniveau wird der Mangel an Persönlichkeiten, Ausdruck der primitiven Produktionsverhältnisse, zur Fessel der gesellschaftlichen Weiterentwicklung. Die Dialektik dessen liegt darin, daß die Gemeinschaft der Menschen sich nur weiterentwickeln kann, wenn ihre Bindung bereits eine gewisse Schwächung erfahren hat, wenn der Mensch gegenüber der Gemeinschaft eine gewisse Autonomie erlangt hat. 7 Persönlichkeitsein als Ausdruck solcher Autonomie besitzt sowohl sittliche als auch ästhetische und psychologische Aspekte; sie äußern sich in der 7
Solche Autonomie ist bekanntlich nicht außerhalb der Gemeinschaft möglich, ebensowenig aber beim völligen Aufgehen des Menschen in ihr. Daher scheint mir, gerade der Terminus „Autonomie" bringt das Wesen der Persönlichkeit adäquat zum Ausdruck.
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Intimsphäre ebenso wie im Rechtsbewußtsein (in der Forderung nach Unantastbarkeit der Persönlichkeit und Unverletzlichkeil der Wohnung) und in den Alltagsbeziehungen (z. B. im Wunsch nach eigenem Wohnraum). Aber mit der Entwicklung des Privateigentums und des damit verbundenen Klassenantagonismus, mit der gesellschaftlichen Arbeitsteilung u. a. entwickelt sich auch die objektive Möglichkeit, daß die einen Menschen ihre Individualität auf Kosten der anderen entfalten, daß die Persönlichkeit bestimmte Fähigkeiten ausbildet, andere dagegen nicht. Damit entsteht die Teilpersönlichkeit (in der Entwicklung der Persönlichkeit reproduziert sich gewissermaßen die Teilung der Arbeit): Ein Teil der Menschen, die Ausgebeuteten, bildet vor allem auf dem Gebiet der materiellen Produktion Fertigkeiten aus (diese Menschen entwickeln sich als Produktivkräfte), während die Möglichkeiten zur Entfaltung der intellektuellen, ästhetischen, organisatorischen Potenzen bei dem anderen Teil der Gesellschaft, den Mitgliedern der herrschenden Klasse, liegen. Das korrespondiert mit der Teilung der Arbeit in körperliche und geistige, industrielle und landwirtschaftliche, mit der Differenzierung der Berufe. Die Zersplitterung der Persönlichkeit, hervorgerufen durch die Unterdrückung des Menschen durch den Menschen, bewirkt ihre Entfremdung und letzten Endes ihre Zerstörung. Das läßt sich nur in einer gänzlich neuartigen sozialökonomischen Formation, der kommunistischen, aufheben. Doch besteht die Dialektik des sozialen Fortschritts zugleich darin, daß die Entfaltung der menschlichen Wesenskräfte auf einem bestimmten geschichtlichen Niveau überhaupt nur vermittels der ungleichmäßigen, „gespaltenen" Entwicklung der Persönlichkeit, vermittels ihrer Zersplitterung und Entfremdung möglich ist. Demzufolge lassen sich in der geschichtlichen Entwicklung der Persönlichkeit drei Hauptetappen unterscheiden, die dem dialektischen Gesetz der Negation der Negation folgen: erstens die Etappe ungegliederter, persönlichkeitsloser Gemeinschaftlichkeit (oder gemeinschaftlicher Persönlichkeitslosigkeit) während der Gentilordnung; zweitens die Etappe des Persönlichkeitseins bis hin zur Gemeinschaftslosigkeit, zum Individualismus, d. h. die Etappe des persönlichkeitsgerichteten Individualismus (oder des individualistischen Persönlichkeitseins), die der der antagonistischen Gesellschaft entspricht; drittens die Etappe der persönlichkeitsgerichteten Gemeinschaftlichkeit (oder des gemeinschaftsgerichteten Persönlichkeitseins) der kommunistischen Formation. Die Entwicklung des persönlichkeitsorientierten Individualismus führt in der Konsequenz zur Trennung von Mensch und Gesellschaft und zur Entpersönlichung. Hier liegt auch der logische Schlußpunkt aller Konzeptionen von der Willensfreiheit (Bentham, Stirner, Nietzsche, die Pragmatiker und Existentialisten). 6
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Die Auflösung u n d Nivellierung der Persönlichkeit, das Prinzip der Gleichmacherei u n d die Zerstörung der I n d i v i d u a l i t ä t widersprechen d e m Wesen der kommunistischen Gesellschaft n i c h t n u r in ihrer zweiten, sondern auch in ihrer ersten P h a s e zutiefst. Dieser Gesellschaft k o m m t es vielmehr gerade auf den besonderen persönlichen Beitrag jedes einzelnen, auf die E n t f a l t u n g der individuellen Fähigkeiten an. Die bürgerlichen Ideologen nehmen den metaphysischen S t a n d p u n k t ein, d a ß persönliche Freiheit u n d Gemeinschaftlichkeit m i t e i n a n d e r u n v e r e i n b a r seien. Der Begriff „persönlichkeitsorientierte Gemeinschaftlichkeit" ist f ü r sie eine ebensolche contradictio in a d j e c t o wie die Q u a d r a t u r des Kreises. In Wirklichkeit aber liegt gerade in solcher A r t Gemeinschaftlichkeit die Bedingung f ü r die E n t w i c k l u n g und Blüte jeder Persönlichkeit, während der bürgerliche Individualismus n u r deren Scheinfreiheit widerspiegelt. E s gehört zur Kompliziertheit des Geschichtsprozesses, d a ß er keine reinen Triaden k e n n t (gemeinsame Persönlichkeitslosigkeit - individualistisches Persönlichkeitsein - gemeinschaftliches Persönlichkeitsein). Die letzte S t u f e b e w a h r t alles Positive der beiden ersten in sich auf. Bei der Herstellung einer höheren Synthese jenes Positiven der beiden ersten S t u fen (in der These u n d Antithese) sind aber je nach den objektiven geschichtlichen Bedingungen auch andere zeitweilige Verbindungen möglich, die Abweichungen von der werdenden sozialistischen Gemeinschaftlichkeit darstellen. In diesem Z u s a m m e n h a n g m u ß einmal ausgesprochen werden, wie schädlich der Kasernen-Kollektivismus ist. Die W a n d l u n g von der Gemeinschaft der Kaserne zur Gemeinschaft von Persönlichkeiten wird so künstlich aufgehalten. D a d u r c h werden S u b j e k t i v i s m u s u n d Personenkult genährt. Die Dogmatiker t r a c h t e n diesen Z u s t a n d , wo Gleichförmigkeit, Langeweile u n d geistige Nivellierung herrschen, zu legalisieren u n d zu verewigen, u n d sie glauben auch noch, dies sei der H ö h e p u n k t der Entwicklung, u n d erheben die Forderung, die sozialistischen L ä n d e r sollten den Weg zur größtmöglichen E n t f a l t u n g der Persönlichkeit, den W e g der persönlichkeitsgericht e t e n Gemeinschaftlichkeit m e i d e n ; denn dies sei eine A r t Revisionismus. Auf solche Z u m u t u n g e n eingehen w ü r d e S t a g n a t i o n , Verfall, j a Verzicht auf gesellschaftlichen F o r t s c h r i t t bedeuten. V o m entwickelten Sozialismus erwarten wir auch entwickelte gemeinschaftsorientierte Persönlichkeiten, denen das Gebaren der Kaserne ebenso fernliegt wie das individualistische. Bei der E n t w i c k l u n g der Persönlichkeit als sozialer Erscheinung lassen sich drei S t u f e n fixieren: erstens die e n t f r e m d e t e , „gespaltene" Persönlichkeit; zweitens die progressive Persönlichkeit; d r i t t e n s die von einer Idee beherrschte Persönlichkeit. Die „gespaltene", e n t f r e m d e t e Persönlichkeit n i m m t am gesellschaftlichen Leben einen gewissen Anteil, allerdings n u r d a n n , wenn dies ihrem m o m e n -
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tanen Wohlergehen unmittelbar von Nutzen ist. Häufig zeigt sie eine geradezu philisterhafte Indifferenz gegenüber den gesellschaftlichen Problemen, ein Sichzurückziehen auf sich selbst, wenn nicht gar eine konträre Haltung zur Gesellschaft, verbunden mit der Parteinahme für konservative bzw. sogar reaktionäre Kräfte. Die Verwirklichung des tätigen menschlichen Wesens ist in diesem Falle nicht der Sinn des Lebens, sondern lediglich ein Mittel dazu, und das Verhältnis zwischen den Mitteln und dem Sinn des Lebens steht, wie alle übrigen Verhältnisse auch, auf dem Kopf. Die progressive Persönlichkeit hat die Fähigkeit erworben, sich für den Fortschritt der Gesellschaft persönlich verantwortlich zu fühlen (denn soziale Verantwortlichkeit ist kein Charakterzug der Persönlichkeit an sich, sondern sie setzt ein bestimmtes Niveau voraus). Sie ist ein gesellschaftlich aktiver Mensch, der bewußt dazu beiträgt, die herangereiften sozialen Erfordernisse zu realisieren. Die Persönlichkeit, die sich von einer großen Idee leiten läßt, ist ein Mensch, der sein Persönlichkeitsein vor allem dazu gebraucht, seine individuellen Potenzen im Kampf für die gesellschaftliche Umgestaltung im Interesse des Glücks des Volkes und der ganzen Menschheit maximal zu nutzen. Eine Persönlichkeit von solchem Rang hat Entfremdung und Selbstentfremdung hinter sich gelassen; sie sieht den Sinn des Lebens vor allem in der Verwirklichung ihres tätigen menschlichen Wesens. Eine Persönlichkeit dieser Art ist ein Revolutionär, bei dem man das Wort „Mensch", bildhaft gesprochen, mit Großbuchstaben schreiben muß. In der antagonistischen Klassengesellschaft ist der Typ der entfremdeten, gespaltenen Persönlichkeit am weitesten verbreitet. Alle progressiven Bewegungen aber, alle Revolutionen fanden ihre Führer und Inspiratoren in Persönlichkeiten, die einer bestimmten Idee folgten, welche vor allem von progressiven Persönlichkeiten getragen wurde. Feststellungen solcher Art sind natürlich nicht starr, wie überhaupt nichts in absolut reiner Form existiert. Es kann vorkommen, daß progressive Persönlichkeiten und mitunter sogar jene, die einer großen Idee anhängen, noch gewisse Merkmale der entfremdeten Persönlichkeit an sich haben, während die entfremdete Persönlichkeit sich unter günstigsten Bedingungen zur progressiven bzw. sogar einem Ideal folgenden Persönlichkeit entwickeln kann. Aber es bleibt dem Sozialismus, derpersönlichkeitsgerichteten Gemeinschaft, vorbehalten, die Massen zu progressiven Persönlichkeiten zu erziehen und eine wachsende Zahl von Menschen zu Persönlichkeiten, die einer großen Idee folgen. Eine der wichtigsten Aufgaben aus dem Programm der KPdSU besteht darin, alle Menschen auf jenes Niveau zu heben, das im Kommunismus das alltägliche sein wird. Die Entstehung und Entwicklung von Persönlichkeiten ist für den gesellschaftlichen Fortschritt objektiv notwendig. Die antagonistische Gesell-
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Schaft braucht entfremdete, individualistische Persönlichkeiten, sie braucht die Entwicklung der Scheinpersönlichkeit einer Minderheit auf Kosten des Persönlichkeitseins der unterdrückten werktätigen Mehrheit. Anders im Sozialismus. In der Periode der Diktatur des Proletariats, in der Entstehungsphase des Sozialismus, finden wir in der Entwicklung der Persönlichkeit folgende Dialektik: 1. über die Begrenzung auf einzelne Persönlichkeiten zur Entwicklung von Persönlichkeiten im Massenumfang; 2. über die zeitweilige Begrenzung auf die Herausbildung einzelner charakteristischer Züge der Persönlichkeit zur Schaffung der materiellen Bedingungen für die massenhafte Entwicklung von Persönlichkeiten als Bedingung der weiteren umfassenden Entfaltung aller Seiten der Persönlichkeit ; 3. über die Auseinandersetzung mit dem Individualismus zur Ausbildung wirklichen Persönlichkeitseins. Es ist durchaus kein Kennzeichen der Diktatur des Proletariats, daß die Persönlichkeit völlig in der Gemeinschaft aufgeht. Die Periode der Revolution, des Bürgerkrieges, des Aufbaupathos der Fünfjahrpläne förderte Persönlichkeitsqualitäten wie den revolutionären, kämpferischen und den Arbeitsenthusiasmus, organisatorische Fähigkeiten, soziales Verantwortungsbewußtsein und sittliche Kräfte zutage, und darin lag zugleich ein gewisser Spielraum für die persönliche Initiative, wenn es auch die Zeit damals nicht erlaubte, daß sich alle schöpferischen, erkenntnisbezogenen und ästhetischen Fähigkeiten der Menschen entfalteten. J e weiter die Entwicklung der sozialistischen Gesellschaft aber fortschreitet, desto dringlicher wird die allseitige Entfaltung der Persönlichkeit. Ohne umfassende, maximale Ausbildung der Schöpferkräfte aller Bürger ist die sozialistische Gesellschaft gegenwärtig nicht mehr in der Lage, sich rasch vorwärtszuentwickeln und den Übergang zur höheren Phase, dem Kommunismus, zu vollziehen. Nur wenn alles dafür Notwendige getan wird, h a t der Sozialismus keinen Stillstand zu befürchten. Wer ein subjektivistisches Verhalten an den Tag legt, vergrößert diese Gefahr und fügt dem Aufbau des Kommunismus Schaden zu. Die Gesellschaft braucht die höchstmögliche Entwicklung der Persönlichkeit ebenso wie jeder einzelne. Zur Aufdeckung der schöpferischen Potenzen eines jeden Individuums gehört unbedingt der Spielraum zum Kräftewettstreit zwischen einzelnen Persönlichkeiten wie zwischen den Kollektiven. Gleichzeitig ist die maximale Entwicklung der Persönlichkeit, das Kräftemessen und der Wettstreit auf geistigem Gebiet nur unter der Voraussetzung möglich, daß sich die Demokratie in allen gesellschaftlichen Lebenssphären sukzessive erweitert und vertieft. Manchmal wird die Notwendigkeit schöpferischer Entwicklung der Persönlichkeit immer noch als frommer Wunsch behandelt. Tatsächlich aber ist es ein dringliches objektives Bedürfnis der Weiterentwicklung des Sozia-
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lismus, daß die Bedingungen für die bestmögliche Entfaltung der Persönlichkeit, für eine wissenschaftlich begründete, weitreichende Freiheit in ihrer Entwicklung geschaffen und alle Hindernisse dafür aus dem Wege geräumt werden. Die allseitige, harmonische Entwicklung der Persönlichkeit ist das Gesetz des Fortschreitens des Sozialismus, das Gesetz des Hinüberwachsens in den Kommunismus. Damit erscheint auch die These, die Persönlichkeit sei der höchste Wert, in einem bestimmten Licht. Gewöhnlich versteht man darunter das Ziel einer wahrhaftfreien Gesellschaft, deren Bestimmung es ist, die volle Entfaltung aller Persönlichkeiten zu sichern. Damit haben wir das Problem jedoch nur zum Teil erfaßt. Andererseits nämlich ist die allseitige Entwicklung der Persönlichkeit für die Gesellschaft auch als objektiv notwendige Bedingung ihres weiteren Fortschreitens von Bedeutung; ohne sie kann die Gesellschaft keinen Schritt vorwärts tun. Im Hinblick auf die Schaffung realer Bedingungen für die Entwicklung der Persönlichkeit, für die ständige Erhöhung ihres Niveaus, hat der Sozialismus viel erreicht: Er hat das Privateigentum abgeschafft, eine qualitative Wandlung im sozialpolitischen Bewußtsein der Werktätigen bewirkt, eine Kulturrevolution durchgeführt und kann große Erfolge in der Bildungs- und Aufklärungsarbeit vorweisen. Das Verbot jeder Rassen- und nationalen Diskriminierung, die Befreiung der Frau, die Trennung der Kirche vom Staat und der Schule von der Kirche, das Recht zu atheistischer Propaganda sowie die Zunahme des materiellen Wohlstandes des Volkes — das sind grundlegende, tiefgreifende Veränderungen, welche die Entwicklung der sozialistischen Persönlichkeit erst möglich machen. Für die Weiterentwicklung des Sozialismus und den allmählichen Ubergang zum Kommunismus bedarf es nicht nur der Hebung vieler Persönlichkeiten oder der Mehrheit aller Bürger auf das höchstmögliche Niveau. Es geht vielmehr um jeden einzelnen. Das aber setzt voraus, daß alle Hindernisse einer umfassenden Demokratisierung des gesellschaftlichen Lebens beiseite geräumt und alle noch so belanglosen Äußerungen von Subjektivismus, die dem oben formulierten Gesetz zuwiderlaufen, überwunden werden. Die Schaffung der günstigsten Entwicklungsbedingungen für die Persönlichkeit ist keine Schrulle von Individualisten, Revisionisten oder bürgerlichen Renegaten, wie die Maoisten gegenwärtig meinen, sondern eine objektive Forderung, ohne welche die weitere Entwicklung des Sozialismus und der allmähliche Übergang zum Kommunismus nicht denkbar sind. Ungebildete und kurzsichtige Dogmatiker ergehen sich in der Spekulation, die Demokratie und die Entwicklung der Persönlichkeit schadeten der Disziplin. In Wahrheit hängt dies alles organisch zusammen und bedingt sich wechselseitig. Und gegenwärtig, wo es auf die Erhöhung der Selbstän-
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digkeit jedes Kollektivs, jedes Betriebes ankommt, wo von der Initiative und Schöpferkraft jeder einzelnen Persönlichkeit der Erfolg des Gesamtprojekts abhängt, ist die Gewährleistung der günstigsten Bedingungen zur weiteren Ausprägung aller wesentlichen Persönlichkeitsqualitäten von größter Bedeutung. Solche Qualitäten sind persönliche Würde einschließlich der sozialen Verantwortung, kommunistische Überzeugung, Menschlichkeit, ein bewußtes (nicht blindes) Verhältnis zur Gesellschaft und zu sich selbst, Prinzipienfestigkeit, Ehrgefühl, Aufrichtigkeit, Tatkraft, eine aktive Haltung und revolutionärer Enthusiasmus. Es liegt auf der Hand, daß die ökomonische Reform, die das Septemberplenum des ZK der KPdSU 1965 und der X X I I I . Parteitag eingeleitet haben, einerseits eine ständig zunehmende Zahl aktiver, prinzipienfester Persönlichkeiten (leitender wie nicht leitender) erforderlich macht, während sie andererseits zu ihrer Heranbildung beiträgt. Nicht egoistische Geschäftemacher brauchen die sozialistischen Kollektive, sondern Arbeiter, die Aktivität mit tiefer kommunistischer Überzeugung verbinden. Ebenso unumgänglich ist es für die weitere Entwicklung, daß nicht oder wenig geeignete Menschen in verantwortlichen, führenden Positionen durch besser geeignete, begabte Persönlichkeiten ersetzt werden. Es gehört zur Verwirklichung der erwähnten ökonomischen Reform, zur Verstärkung der schöpferischen Initiative, daß jeder Werktätige Unzulänglichkeiten furchtlos kritisieren kann. Überall sollte eine Atmosphäre herrschen, die eine gründliche und umfassende konstruktive Kritik erleichtert und eine der Komponenten persönlicher Freiheit bildet, jenes Maß für den Spielraum der Persönlichkeit, das deren Wesen ausmacht. Nach dem oben charakterisierten Gesetz kommt es darauf an, die sozialistische Persönlichkeit auf ein höheres Niveau zu heben. Gegenwärtig gibt es immer noch sehr erhebliche Entwicklungsunterschiede. Das geht deutlich aus der Analyse der Lebensauffassung der Menschen hervor. Es ist nicht damit getan, die Persönlichkeiten in fortgeschrittene und zurückgebliebene zu unterteilen, wie es gewöhnlich geschieht. Darüber hinaus muß der Grad ihrer Entwicklung in der sozialistischen Gesellschaft fixiert werden. Die verschiedenen Entwicklungsstadien, die sich dabei feststellen lassen, stehen in organischem Zusammenhang vor allem mit der Erziehung zum Gemeinschaftssinn, in dem auch die Lebensauffassung der Persönlichkeit zum Ausdruck kommt. Schon bei der Herausbildung dieses Gefühls empfindet die Persönlichkeit, daß die materiellen und geistigen Werte nur durch die Arbeit im Kollektiv und vermittels des Kollektivs gesichert werden können, wenngleich sie den Sinn des Lebens und das Glück auf dieser Stufe meist noch außerhalb des Arbeitskollektivs sucht. Dabei betrachtet sie die Gemeinschaft eher als Mittel ihres eigenen materiellen Wohlergehens denn als Zweck. Doch ist es gerade die Arbeit in der sozialistischen
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Gemeinschaft, durch welche die Persönlichkeit zu einer immer tieferen Bindung an die Gemeinschaft kommt. Und wenn die Arbeit auch zunächst noch hauptsächlich als Mittel zum Leben angesehen wird, so erscheint sie doch nicht mehr als drückende Last. Das erste Stadium wird allmählich vom zweiten abgelöst. Dessen Hauptmerkmal besteht darin, daß die Persönlichkeit sich am Erfolg der Gemeinschaft als ganzer interessiert zeigt. In dieser zweiten Phase bemüht sich das Kollektivmitglied nicht mehr nur darum, mehr zu produzieren, sondern auch in besserer Qualität. Darin äußert sich die Sorge jedes einzelnen um die Erhöhung der Arbeitsproduktivität und die Rentabilität der gemeinschaftlichen Produktion im ganzen. Auch die Angehörigen wissenschaftlicher Kollektive mit Lehr- und Erziehungsaufgaben bekunden in diesem Stadium eine immer wachsende Aufmerksamkeit für das Niveau ihrer Arbeit. Von da aus erreicht die Persönlichkeit die dritte Stufe der Gemeinschaftlichkeit, wo sich ihre Sorge um die Tätigkeit des ganzen Kollektivs nicht nur in untadeliger eigener Arbeit ausdrückt, sondern auch im aktiven Einsatz dafür, daß alle gut arbeiten. In dieser Phase von Gemeinschaftshaltung erwacht in der Persönlichkeit nicht nur das Streben nach gegenseitiger kameradschaftlicher Hilfe in der Arbeit und nach dem Austausch von Erfahrungen. Zugleich erreicht ihr Verantwortungsbewußtsein eine solche Höhe, daß sie bereits ohne Kontrolleur arbeiten kann und die Verantwortung für das fertige Produkt selbst übernimmt. Das vierte Stadium von Gemeinschaftlichkeit besteht darin, daß der Persönlichkeit der Einsatz für den Erfolg des Kollektivs selbst ein inneres Bedürfnis wird, daß sie dabei Glück empfindet, Begeisterung und Enthusiasmus und wiederum Glück über den Enthusiasmus und daß ihr der Einsatz für das Wohl der Allgemeinheit eine immer größere Befriedigung gibt. In der Gemeinschaftlichkeit findet die Persönlichkeit auf dieser Stufe also die höchste Sinnerfüllung ihres Daseins. Von einem Mittel zur Befriedigung der eigenen Bedürfnisse wird diese selbst zum Bedürfnis, von einem Existenzmittel zum eigentlichen Sinn des Lebens. Damit ist zugleich jenes Niveau von Persönlichkeitssein erreicht, wo sich alles einer Idee unterordnet, wo Schöpfertum und Kämpfertum eine Einheit bilden. Darin aber liegt das Wesentliche der allseitig und harmonisch entwickelten Persönlichkeit. Das Sicherheben zu immer tieferer Gemeinschaftlichkeit, das nur unter Ausschöpfung aller jener Potenzen und Möglichkeiten denkbar ist, die in den niederen Phasen dieser Entwicklung ausgebildet wurden, kennzeichnet eine Gesetzmäßigkeit des Persönlichkeitwerdens im Sozialismus. Man könnte es das Gesetz der sich ständig vertiefenden Gemeinschaftlichkeit nennen. Wenn also die umfassende Entfaltung der Persönlichkeit eine 87
Gesetzmäßigkeit des weiteren Fortschreitens der sozialistischen Gesellschaft darstellt, so unterliegt sie gleichzeitig selbst bestimmten, nur ihr eigenen Gesetzen. Dabei besagt die genannte Gesetzmäßigkeit durchaus nicht, daß die Persönlichkeit sich in der Gemeinschaft auflöst. Im Gegenteil, um der gemeinsamen Sache nach besten Kräften dienen zu können, muß sie zu größtmöglicher Selbstverwirklichung finden, was wiederum einen bestimmten Grad von persönlicher Autonomie und Bewegungsfreiheit voraussetzt. J e bewußter die Persönlichkeit den Sinn ihres Daseins mit der Gemeinschaft, mit dem Einsatz für das große Ganze verbindet, desto weniger unterliegt sie einem Standard, desto deutlicher offenbart sie ihr Selbst, ihre Originalität. Der wissenschaftlich organisierte Sozialismus, jener Sozialismus also, der eine wissenschaftliche Grundlage besitzt und durch eine unaufhaltsam sich entfaltende Demokratie gekennzeichnet ist, sichert eine echte Blüte der Persönlichkeit, ihre allseitige, harmonische Entwicklung, die bestmögliche Befriedigung ihrer materiellen und geistigen Bedürfnisse und die Verwirklichung ihrer Fähigkeiten und Schöpferkräfte. Ihre Energie, ihr Wissen und ihre Fähigkeiten in den Dienst dieses humanistischen Ideals zu stellen, darin liegt für die sozialistische Persönlichkeit der höchste Daseinszweck.
S . S . BATENIN
Kriterien für die Höherentwicklung der Persönlichkeit
Die wissenschaftliche Klärung dieses Problems hängt unmittelbar zusammen mit der Lösung solcher Fragen wie der Klassifikation der Persönlichkeit und der Analyse der Hauptetappen ihrer Entwicklung, mit der genaueren Bestimmung der Begriffe „Allseitigkeit und Harmonie der Entwicklung der kommunistischen Persönlichkeit", mit der Festlegung der methodologischen Bedeutung der Kategorie „Persönlichkeit" für die Psychologie, die Sozialpsychologie, die Ethik und andere Wissenschaften, die sich mit einzelnen Seiten von deren Entwicklung beschäftigen. Alle diese Fragen bedürfen noch gründlicher Bearbeitung. Die Maßstäbe für die Entwicklung der Persönlichkeit können äußerst vielfältig sein. In Anbetracht der Vieldeutigkeit dieses Begriffs hat jeder dieser Maßstäbe ein bestimmtes Gewicht. Ausschlaggebende Bedeutung aber kann nur jener erlangen, der zumindest zwei prinzipiellen Anforderungen gen ü g t : erstens der Objektivität des Inhalts, anderenfalls ist er nicht wissenschaftlich zu nennen, und zweitens muß eine einheitliche strukturell-genetische Persönlichkeitsdefinition zugrunde liegen, sonst kann er nicht das Hauptkriterium für die geschichtliche Entwicklung der Persönlichkeit sein. Unter Objektivität des Inhalts sind die Ideale der Persönlichkeit, ihr Verhalten, ihre Erfolge (hinsichtlich des Wissenserwerbs, der Aneignung von Gewohnheiten, der Anstrengung des Willens zur Erreichung von Zielen usw.) zu verstehen. Wenn man die Ideale und das Verhalten der Persönlichkeit untersucht, sollte man vor allem das Gesellschaftssystem sowie jene Ideale berücksichtigen, die im Bewußtsein bestimmter Klassen verankert sind. Denn jede Persönlichkeit ist durch ihre soziale Umwelt geprägt und offenbart gegenüber dieser ihre individuellen Eigenschaften. Gesellschaft und Persönlichkeit sind ihrem konkreten gesellschaftlichen Charakter nach untrennbar. Jedes gesellschaftliche System formt einen bestimmten Persönlichkeitstypus. Der Sieg einer neuen sozialen Ordnung kulminiert in der Entstehung einer neuen Art von Persönlichkeit. Die Sklavenhaltergesellschaft bringt einen qualitativ anderen Persönlichkeitstypus hervor als beispielsweise die bürgerliche Ordnung, ganz abgesehen vom Kommunismus. In den antagonistischen Gesellschaftsformationen unterscheiden sich die Persönlichkeiten der gegensätzlichen Klassen
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nach Weltanschauung, sozialer Psyche und Moral ganz wesentlich voneinander. Unter allen Kennzeichen, nach denen sich die Persönlichkeiten der verschiedenen Epochen und Klassen voneinander unterscheiden, gibt es immer eines, das die Eigenart des konkreten sozialen Inhalts der jeweiligen Geschichtsepoche am deutlichsten und konzentriertesten zum Ausdruck bringt. Im antiken Rom war dieser Grundzug, diese Dominante der Persönlichkeit nach Ansicht V. P. Tugarinovs das Staatsbürgersein, in der Periode der bürgerlichen Revolution in Frankreich war es die Freiheit. Und in der Zeit des Sturm und Dranges in Deutschland lag dieses Hauptmerkmal in der Individualität. 1 In Moral, Psyche und Ideologie der Persönlichkeit der heutigen bürgerlichen Gesellschaft, die durch die Beziehung von Kauf und Verkauf sowie die Konkurrenz geprägt ist, dominiert das Ideal der persönlichen Bereicherung. Es bildet den entscheidenden, gesellschaftlich sanktionierten, allgemeinen Maßstab zur Einschätzung der Fähigkeiten und des Wertes des Menschen. Die Persönlichkeit der sozialistischen Gesellschaft dagegen zeichnet sich durch Charakterzüge wie Gemeinschaftsgeist, Verantwortungsbewußtsein gegenüber der Gesellschaft, Bewußtheit und soziale Aktivität aus. Der Mensch wird aber nicht nur durch jene konkrete geschichtliche Umwelt determiniert, in der er sich entwickelt, sondern auch durch die darin lebendige soziale Erfahrung, die in der vorangegangenen Geschichte der Menschheit aufgespeichert worden ist. Daher weisen die Persönlichkeiten der verschiedenen Epochen und Klassen bei aller Verschiedenheit auch Merkmale auf, die auf ihre allgemeine soziale und menschliche Natur hindeuten. Der Mensch eines neuen Zeitabschnitts überwindet mit seinen neuen Eigenschaften nicht nur viele Persönlichkeitszüge der vorangegangenen Epoche, er trägt zugleich zur Entwicklung jenes Allgemeinen bei, das ihm als Angehörigen der menschlichen Rasse eigen ist. Historisch betrachtet, verkörpert die Persönlichkeit jeder neuen Epoche einen neuen Schritt in der progressiven Entwicklung der menschlichen Gattungsmerkmale. Der geschichtlich zu betrachtende Fortschritt der Persönlichkeit tritt in der Entwicklung der vielfältigen und komplizierten Beziehungen zwischen dem Menschen und der ihn umgebenden Welt, in der Entwicklung seiner Psyche, seines geistigen Lebens in Erscheinung. Der Fortschritt der Persönlichkeit liegt auch in der Entwicklung ihrer Sittlichkeit. Einer der wesentlichen Faktoren dieser Entwicklung ist die Vertiefung des Humanismus im Bewußtsein und Verhalten der Menschen. 1
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Vgl. V. P. Tugarinov, S. 96
L i c n o s t ' i obscestvo (Persönlichkeit und Gesellschaft),
Weiterhin äußert sich der Fortschritt der Persönlichkeit in der Entwicklung ihres Freiheitsbewußtseins und im aktiven Streben nach Freiheit. F ü r die vom Privateigentum geprägten Beziehungen der Menschen in den Klassengesellschaften ist der Widerspruch zwischen der persönlichen Freiheit und der Freiheit des Kollektivs, der Klasse, der Gesellschaft kennzeichnend. Dennoch hat sich der Freiheitssinn von Epoche zu Epoche vertieft, wurde der Freiheitskampf aktiver und selbstloser. Die geschichtliche Entwicklung der Persönlichkeit zeigt sich auch in deren Selbstbewußtsein, im Steigen der Effektivität und Produktivität ihrer Tätigkeit und in vielen anderen Momenten des menschlichen Lebens. Man kann also feststellen, daß sich diese Höherentwicklung immer auf mehreren Ebenen Vollzug. Jede Seite, jeder Aspekt dieser geschichtlichen Entwicklung h a t ihren Maßstab. Doch die Persönlichkeit ist nicht die bloße Summe der sie konstituierenden Elemente oder Seiten, sondern ein unteilbares Ganzes mit einer gesetzmäßigen Struktur. Deren Elemente stehen zueinander und zum Ganzen in einer bestimmten Relation. Es lassen sich darunter wesentlichere und weniger wesentliche Merkmale der Bewertung ihrer geschichtlichen Entwicklung bestimmen, entscheidend aber k a n n n u r jenes Merkmal sein, das die Totalität der Persönlichkeit widerspiegelt, ihr Wesen in sich verkörpert. Das Wesen der Persönlichkeit prägt die Struktur; es bildet den konzentriertesten Ausdruck ihrer historischen Entwicklung. Die Persönlichkeit besitzt verschiedene Merkmale. Sie verfügt z. B. über Individualität. Darüber hinaus weist sie Züge ihrer Epoche, ihrer Klasse auf. Aber diese Merkmale sind ihrem Gehalt nach durch ihre Individualität und ihre Epoche begrenzt. Das tiefste Wesen der Persönlichkeit ist ihr Gattungswesen. Es ist nicht zeitlich festgelegt und gehört nicht einzelnen Personen oder Gruppen an, sondern der gesamten Menschheit. Es charakterisiert nicht eine bestimmte Periode, sondern die ganze Menschheitsgeschichte. Es repräsentiert die allgemeine Spezifik der menschlichen Rasse. Daher liegt das Hauptkriterium der Persönlichkeit im Gattungswesen des Menschen, und daher verbindet dieses Kriterium nicht nur alle Stufen der geschichtlichen Entwicklung der Persönlichkeit, sondern es prägt auch alle ihre übrigen Seiten und ist f ü r ihre Gesamtentwicklung charakteristisch. Der Mensch besitzt zwei grundlegende Gattungsmerkmale: ein biologisches und ein soziales. Beide bilden eine Einheit, sie durchdringen und bedingen einander. Ihre wechselseitige Abhängigkeit macht sich in der gesamten Lebenstätigkeit des Menschen bemerkbar, insbesondere aber in seinem Verhältnis zur Gesellschaft. Eine nicht unwesentliche Rolle spielen dabei solche naturbedingten Merkmale wie die biologische Begrenztheit des menschlichen Organismus und seine individuellen psycho-physischen Besonderheiten.
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Die gesellschaftliche Umwelt verfügt über eine große, im Laufe der Geschichte ständig zunehmende Menge an Informationen der verschiedensten Art. Infolge seiner natürlichen Grenzen vermag der Mensch sie nur unvollständig aufzunehmen. Er kann sich daher auch nicht die gesamte gesellschaftliche Erfahrung aneignen. Verschiedene Persönlichkeiten, die aus den gleichen sozialen Verhältnissen kommen, verhalten sich zu diesem im Geschichtsprozeß angesammelten gesellschaftlichen Reichtum ganz unterschiedlich. In bezug auf ihre spezifizierten Interessen und auf den Grad ihrer Ausprägung sind neben der Erziehung die psycho-physischen Besonderheiten der Persönlichkeit von großer Bedeutung. Der Charakter der Beziehungen zwischen Persönlichkeit und Gesellschaft hängt weiter von den alters- und geschlechtsbedingten Merkmalen sowie von anderen biologischen Faktoren der ersteren ab. Aber alle naturgegebenen Unterschiede der Menschen treten im gesellschaftlichen Leben vor allem als Unterschiede in ihren Bedürfnissen und im Charakter ihrer Arbeitstätigkeit in Erscheinung, Unterschiede, die bei der Bildung und Entwicklung der Gesellschaft bereits eine wichtige Rolle gespielt haben. „Die Verschiedenheit ihres Bedürfnisses und ihrer Produktion gibt nur den Anlaß zum Austausch und zu ihrer sozialen Gleichsetzung in ihm; diese natürliche Verschiedenheit ist daher die Voraussetzung ihrer sozialen Gleichheit im Akt des Austauschs und dieser Beziehung überhaupt, worin sie zueinander als produktiv treten." 2 Es wäre ebenso einseitig und falsch, den biologischen Faktor in der gesellschaftlichen Entwicklung des Menschen zu ignorieren wie ihn zu absoluteren. Zunächst einmal ist dieser Faktor selbst kein rein natürlicher, naturgebundener. Er hat sich im Geschichtsprozeß unter dem Einfluß der sozialen Lebensbedingungen allmählich immer stärker gewandelt. Das widerspiegelt sich darin, daß die gesamten Funktionen des menschlichen Organismus und seiner einzelnen Organe sich letztlich nicht nur aus dem Wirken der biologischen Entwicklungsgesetzmäßigkeiten erklären, sondern auch aus sozialen Gesetzen. Von Epoche zu Epoche wurden die sozialen Merkmale des Menschen immer maßgeblicher. Sozial bedingt sind auch jene menschlichen Handlungen, die unmittelbar aus biologischen Bedürfnissen herrühren. Die Eigenschaften des Menschen kommen nicht darin zum Ausdruck, daß er seine Bedürfnisse befriedigt, sondern darin, wie er es tut, wie er sich zu seiner Umwelt, seinen Mitmenschen, zu sich selbst verhält. Ihrem konkreten Inhalt nach erwachsen diese Qualitäten weniger aus seiner biologischen Natur als vielmehr aus seinem sozialen Sein, aus der Beziehung zu anderen Menschen und durch sie. Auch das Bewußtsein seiner selbst erwirbt'der Mensch weniger auf Grund seiner biologischen Entwick2
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K. Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, S. 154
lung als vielmehr dadurch, daß er sich seines Verhältnisses zu anderen Menschen bewußt wird. So liegt also innerhalb der Einheit von biologischer und sozialer Bestimmtheit des Menschen der Akzent auf der sozialen Seite. Sie prägt das menschliche Wesen, weil sie sein spezifisch Menschliches bestimmt. Die soziale Kraft des Menschen rührt aus der Spezifik der gesellschaftlichen Verhältnisse selbst. Das Verhalten des Tieres bewegt sich in den Grenzen der erblichen Merkmale sowie der eigenen Erfahrung. Die Beziehungen zwischen den Menschen aber sind komplizierter; denn: „Jedes (Individuum — S. B.) dient dem andren, um sich selbst zu dienen; jedes bedient sich des andren wechselseitig als seines M i t t e l s . D e r Mensch erreicht seine Ziele also nur in der Kooperation mit anderen Menschen und durch diese; jeder Mensch braucht den anderen und ergänzt ihn zugleich im gegenseitigen Austausch. Folglich ist die Gesellschaft das Medium, in dem und dank dem die Menschen sich wechselseitig bereichern. Die Gesellschaft aber basiert auf den Qualitäten der menschlichen Tätigkeit, die sie selbst erzeugt h a t : einmal auf der Fähigkeit des Menschen, sein Tun zu objektivieren, die Resultate seiner Tätigkeit von sich loszulösen und sie anderen Menschen zu übereignen; zum anderen macht sie sich seine Fähigkeiten zunutze, aufgespeicherte Erfahrungen zu übernehmen. Diese beiden Besonderheiten der Tätigkeit des Menschen hängen fest miteinander zusammen und bilden in ihrer Einheit die Grundlage seines gesellschaftlichen Wesens. Die sozialen Bindungen des Menschen beruhen auf dieser Tätigkeit, die zwei Hauptmerkmale besitzt: Einerseits geht sie nicht nur auf den Einfluß des physischen Bedürfnisses zurück und dient nicht nur dessen direkter Befriedigung, sondern sie bringt das tätige Wesen des Menschen zum Ausdruck. Andererseits offenbart sie umfassend und unmittelbar das qualitativ neue Verhältnis des Menschen zur Natur. 'In der Arbeit wirkt der Mensch nicht nur physisch auf den Naturgegenstand ein, durch sie realisiert er in diesem Gegenstand auch sein Ziel und verwirklicht darin seine Fertigkeiten. Infolgedessen entsteht in der Arbeit ein neuer Gegenstand, der sich von dem Ausgangsobjekt dadurch unterscheidet, daß er neben den natürlichen auch soziale Eigenschaften aufweist. Der Gegenstand ist „als Sein für den Menschen, als gegenständliches Sein des Menschen, zugleich das Dasein des Menschen für den andern Menschen, seine menschliche Beziehung zum andern Menschen, das gesellschaftliche Verhalten des Menschen zum Menschen" 4 . Gleichzeitig wird der vom Menschen hergestellte Gegenstand nur zum „Sein für den andern Menschen", wenn dieser ihn sich aneignet, und zwar nicht 3 4
Ebenda, S. 155 F. Engels!IC. Marx, Die heilige Familie, in: K. Marx/F. Engels Werke, Bd. 2, S. 44
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nur als natürlichen Gegenstand, sondern vor allem in seinem menschlichen, sozialen Gehalt. Diese Seite der menschlichen Lebenstätigkeit ist nicht weniger wichtig als die erste. Sie macht die Spezifik der sozialen Formung des Menschen deutlich. In verschiedenen Arbeiten, nicht zuletzt auch in den Beiträgen dieses Sammelbandes, wird überzeugend nachgewiesen, daß soziale Eigenschaften nicht erblich sind. 5 Der Mensch ist seiner Natur nach ein gesellschaftliches Wesen. Das ist aber nicht so zu verstehen, als ob er bereits bei seiner Geburt alle die gesellschaftliche Erfahrung aufnimmt, welche die vorangegangenen Generationen angesammelt haben. Weder Wissen noch Arbeitsfertigkeit sind angeboren, das Kind empfängt sie nicht schon von seinen Eltern. Seine gesellschaftliche Natur besteht darin, daß es die in vielhundertjähriger Entwicklung geformten Organe erbt, die der Aneignung dieser sozialen Erfahrung dienen. Um aber ein gesellschaftliches Wesen zu werden, reichen diese Organe allein nicht aus. Alle seine spezifisch menschlichen Eigenschaften erwirbt der Mensch nur bei der Aneignung der sozialen Erfahrung, die sich vermittels materieller Medien formt und festigt: in der Sprache, in den Ergebnissen der Wissenschaft und den Werken der Kunst, in der Entwicklung der Arbeitswerkzeuge und in anderen kulturellen Medien materieller und geistiger Art. Indem der Mensch sich mit Hilfe der materiellen Kommunikationsmittel soziale Erfahrungen aneignet, reproduziert er sich nicht bloß als Mensch, sondern entwickelt seine Fähigkeiten weiter; denn z. B . die Produktionsinstrumente sich aneignen heißt, wie schon oben bemerkt, sich nicht nur mit ihrer natürlichen, sondern vor allem mit ihrer menschlichen Beschaffenheit vertraut machen, d. h. die Fähigkeiten zu ihrer Nutzung ausbilden und die Gedanken nachvollziehen, die darin materialisiert sind. Hier liegen Ausgangspunkt und Ursache für die Entwicklung der natürlichen Fähigkeiten des Menschen. Reichtum und Vielfalt des materiellen wie geistigen Lebens der Menschen liegen in deren wechselseitiger Kommunikation. Durch sie wird jener materielle und geistige Reichtum in einem bestimmten Maße zum Besitz eines jeden Menschen. E r bildet den Reichtum seiner Gedanken- und Gefühlswelt, seiner Lebenserfahrung und seiner Arbeitsfertigkeiten. Die individuellen Fähigkeiten, die sich auf dieser Grundlage entwickeln und sich in den materiellen Kommunikationsmitteln vergegenständlichen, werden Allgemeinbesitz. Das Vermögen des Menschen, sich in seiner Tätigkeit zu objektivieren, ist aber nicht mit seiner Selbstentfremdung zu verwechseln, wie es bürgerliche Theoretiker gelegentlich tun. Zur Selbstentfremdung kommt es nur 5
Vgl. A. N. Leont'ev, Problemy razvitija psichiki (Probleme der psychischen Entwicklung), Moskva 1965
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bei antagonistischen Gesellschaftssystemen. Daß der Mensch sich in seiner Tätigkeit objektiviert, ist dagegen Inhalt und Bedingung seiner eigentlichen Entwicklung. Indem er Gegenstände und Ideen produziert und sie zum Gemeineigentum m a c h t , bereichert er seine gesellschaftliche Umwelt und bei deren Aneignung entwickelt er sich wiederum selbst weiter. Der Entwicklungsgrad der Persönlichkeit h ä n g t also in erster Linie vom Ausmaß seiner sozialen Bindungen zu anderen Menschen ab. Der Mensch entwickelt sich u m so mehr, je reicher die Beziehungen sind, die er mit der Gesellschaft eingeht. Es handelt sich dabei nicht nur um eine quantitative Fragestellung. Die Ausdehnung der gesellschaftlichen Bindungen des einzelnen bewirkt eine qualitative Veränderung seines sozialen Lebens und seiner gesellschaftlichen Rolle. Betrachtet man die soziale Entwicklung der Persönlichkeit unter dem Gesichtspunkt der Geschichte, so entspricht sie dem Entwicklungsgrad der Gesellschaft selbst, dem Grad der von der Menschheit angehäuften sozialen Erfahrung und dem System der gesellschaftlichen Beziehungen, in denen der Mensch lernt, ein Mensch zu sein. Die Persönlichkeit der Urgesellschaft war fest an ihre Gemeinschaft, die Gens, gebunden und durch die Exogamie auch an den S t a m m . Zu jener Zeit beschränkten sich die sozialen Beziehungen der Menschen in der Regel auf die Familie und die Gens sowie den Stamm, und sie wurden durch spontan entstehende Bräuche und Traditionen geregelt. Die Verbindung zwischen den Stämmen war außerordentlich Jose. Ein gelegentliches Zusammenwirken auf kriegerischem oder wirtschaftlichem Gebiet kam n u r bei benachbarten S t ä m m e n vor. Die Vorstellungen und Interessen des Menschen der Urgesellschaft waren die der Gruppe, der er angehörte. Das soziale Wesen dieser Menschen war daher durch die innerhalb der Gens bestehenden Verhältnisse geprägt. In den folgenden Gesellschaftsformationen s t ü t z t sich das soziale Leben bereits auf größere geschichtliche Erfahrungen und wird ausgedehnter. Die Beziehungen zwischen den Völkerschaften werden enger und dauerhafter, als es die Beziehungen zwischen den Stämmen waren. Der ökonomische und kulturelle Austausch gewinnt f ü r die innere Entwicklung jeder Völkerschaft und jedes Staates immer größere Bedeutung. Der Mensch steht also in einem System entwickelter sozialer Beziehungen und m a c h t sich die Erfahrungen früherer Generationen zunutze. Bei der Entstehung und Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise istdieser Prozeß soweit fortgeschritten, daß die internationalen Beziehungen sich n u n m e h r m i t Notwendigkeit aus den inneren Bedingungen jeder Nation ergeben und f ü r deren Entwicklung unerläßlich sind. Auf dieser Stufe repräsentiert die Menschheit ein einheitliches, komplexes System von Nationen und nationalen Beziehungen. Die Entwicklung der P r o d u k t i v k r ä f t e im Kapitalismus ist dadurch charakterisiert, daß „schon die in weltge-
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schichtlichem, statt in lokalem Dasein der Menschen vorhandne empirische Existenz gegeben ist". Mit dieser „universellen Entwicklung der Produktivkräfte", schrieben Marx und Engels, ist „ein universeller Verkehr der Menschen gesetzt. . ., daher einerseits das Phänomen der,Eigentumslosen' Masse in Allen Völkern gleichzeitig erzeugt (allgemeine Konkurrenz), jedes derselben von den Umwälzungen der andern abhängig macht, und endlich wehgeschichtliche, empirisch universelle Individuen an die Stelle der lokalen gesetzt h a t " 6 . Das soziale Wesen des Menschen ist seinem konkreten Inhalt nach also nicht unveränderlich; vielmehr wird es mit der geschichtlichen Ausweitung seiner gesellschaftlichen Bindungen ständig reicher. In der Erhöhung des Grades der Vergesellschaftung und in der so verstandenen Universalit ä t der Persönlichkeit liegt das Hauptkriterium für ihre geschichtliche und individuelle Entwicklung. Dieser Maßstab ist objektiv. Die sozialen Bindungen der Persönlichkeit existieren unabhängig von ihrem Bewußtsein, von ihrem Wollen und Wünschen. Der Mensch geht diese Bindungen ein, bevor er sich dessen bewußt wird. Man darf diese sozialen Beziehungen aber auch nicht als rein äußerliche ansehen. Dadurch, daß sie die Persönlichkeit formen, gehen sie in ihre Gefühle, in ihr Denken ein. Alle Gedanken und Gefühle des Menschen sind ihrem Grundinhalt nach gesellschaftlich bedingt. Das heißt nicht, daß es sich ausschließlich um soziale Gefühle handelte; denn soziale Bedingtheit der Gefühle und soziale Gefühle sind nicht dasselbe. Viele ästhetische, religiöse und sogar sittliche Gefühle sind trotz ihrer sozialen Bedingtheit nicht als soziale Gefühle zu bezeichnen. Die letzteren reflektieren die Beziehung des einzelnen zu sozialen Gemeinschaften (dazu gehört z. B. das Verantwortungsgefühl, der Gemeinschaftssinn, das staatsbürgerliche Empfinden u. a.). Historisch betrachtet, kommt die Ausdehnung der direkten wie der vermittelten Beziehungen der Persönlichkeit in der Entwicklung ihrer sozialen Gefühle zum Ausdruck. Das gilt z. B. vom Verantwortungsgefühl. Es entwickelte sich von der Verantwortlichkeit gegenüber der Gens über die Verantwortlichkeit gegenüber dem Staat, dem Volk und der Nation zur Verantwortung gegenüber der ganzen Menschheit. Dem Gemeinschaftssinn liegt das Sozialgefühl zugrunde, aber es ist nicht mit ihm identisch. Seinem objektiven Gehalt nach ist es tiefer, seinem geschichtlichen Ausmaß nach weiter. Der Gemeinschaftssinn ist vorwiegend persönlichkeitsgebunden; er richtet sich auf eine bestimmte Menschengruppe. Das Sozialgefühl ist dagegen unpersönlich und vielleicht deshalb auch weniger vernunftbestimmt. Der Gemeinschaftsgeist setzt nicht nur 6
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K. Marx / F. Engels, Die deutsche Ideologie, in: Werke, Bd. 3, S. 34 und 35
voraus, daß die Mitglieder der betreffenden Gruppe gemeinsame Interessen haben, sondern auch, daß sich diese Interessen von denen anderer Gruppen unterscheiden. Als allgemeine Eigenschaft ist das Sozialgefühl inhaltlich objektiver; es reagiert nicht auf die spezifischen, zufälligen bzw. subjektiven Momente in den Gruppenbeziehungen. Ebenso wie der Gemeinschaftssinn rührt das Sozialgefühl nicht von irgendeinem angeborenen Instinkt her, sondern es entsteht bei der Aneignung von gesellschaftlicher Erfahrung. Der Gemeinschaftsgeist des Menschen bezieht sich auf konkrete Menschengruppen, zu denen der einzelne in seinem Leben in Beziehung tritt, während sein Sozialgefühl auf der Geschichte der Menschheit, auf dem Entwicklungsgrad ihres materiellen und geistigen Lebens beruht. Der Einfluß der Gemeinschaft auf den einzelnen kann äußerst positiv, aber auch ganz negativ sein. Die Gesellschaftlichkeit des Menschen aber entwickelt sich nur in einer Richtung. Jeder neue Schritt in der Aneignung sozialer Erfahrung bereichert die Persönlichkeit, trägt zu ihrer Entwicklung bei, und so hört der Mensch nie auf, ein gesellschaftliches Wesen zu sein, sogar wenn irgendwelche Umstände ihn von der Gesellschaft trennen. Der geschichtliche Vergesellschaftungsprozeß des Menschen ist sehr kompliziert und widersprüchlich. Dafür gibtes zumindest drei Ursachen: Erstens war der Prozeß der Vergesellschaftung von dem der Individualisierung, des Selbständigwerdens der Persönlichkeit begleitet. Individualität zeigt sich daran, in welchem Maße der Mensch sich die soziale Erfahrung angeeignet hat, welcher Art diese Erfahrung ist und welchen gesellschaftlichen Wert seine daraus gewonnenen Fähigkeiten besitzen. Im Prozeß des ständigen Erfahrungsammelns wurden die individuellen Unterschiede zwischen den Menschen immer prägnanter, was die Intensität und Vollständigkeit der Nutzung dieser Erfahrungen angeht. Die einen eigneten sich diese Erfahrung gründlicher an und vermochten infolgedessen auch ihre Fähigkeiten vollständiger zu entwickeln; die anderen hatten diese Möglichkeit nicht, was weniger auf subjektive Gründe zurückzuführen ist als vielmehr auf soziale, besonders in der Epoche der Klassengesellschaften. Individualität besitzt schon die Persönlichkeit der Gentilordnung. Doch trat die Vielfalt der Individualitäten zu dieser Zeit noch nicht so deutlich als das Besondere einer Persönlichkeit gegenüber allen anderen und gegenüber der Gemeinschaft in Erscheinung. Die Persönlichkeit hob sich nicht bewußt von ihrer sozialen Gruppe ab; in ihrem Bewußtsein unterschied sie nicht zwischen sich selbst und dieser; schon gar nicht stellte sie sich der Gruppe entgegen. Zur damaligen Zeit trug das Besondere der Menschen untereinander nicht so sehr persönlichen als vielmehr Gruppencharakter. Dennoch geht es hier nicht um Beziehungen zwischen den Gentes und Stämmen, sondern um die Beziehungen zwischen den Gruppen innerhalb einer Gentilgenossenschaft. 7 Mayer
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Die Gens zerfiel in verhältnismäßig selbständige Gruppen, deren jede ihre Pfliehtauffassung, ihre Normen und geheiligten Riten hatte. Anisimov h a t überzeugend nachgewiesen, daß innerhalb der australischen Gens „der bestehenden Gesellschaft gemäße Untergliederungen nach Geschlecht und Alter entstanden, die durch die Entwicklung einer natürlichen Arbeitsteilung sozial bedingt waren. Die Frauen, denen das Sammeln und andere Arbeiten oblagen, stellten die eine Hälfte der Gemeinschaft dar; die Männer, deren Sache die Jagd und die Herstellung von Waffen war, die andere. Auf jeder Seite bildeten sich drei Altersgruppen: Kinder und Halbwüchsige, die noch keine Reifemerkmale aufwiesen; Erwachsene, die das Recht zur Familiengründung und zur Teilnahme am öffentlichen Leben besaßen; alte Leute, die das gesamte wirtschaftliche und gesellschaftliche Leben der Totem-Gruppe leiteten." 7 Mit dem Übergang von der Gentilordnung zur Klassengesellschaft bleibt die Teilung in Gruppen nicht nur erhalten, ihr sozialer Charakter prägt sich vielmehr noch stärker aus. Die Beziehungen zwischen den gesellschaftlichen Hauptgruppen (Klassen) werden antagonistisch. Darüber hinaus setzt innerhalb der Gruppen selbst eine verstärkte Individualisierung der Persönlichkeit ein. Die sozialökonomische Grundlage der entstehenden Besonderheit und relativen Selbständigkeit der Persönlichkeit liegt erstens in der Entwicklung neuer Produktionsmittel, die es erlaubten, individuell zu wirtschaften; zweitens in der Entwicklung des Produktenaustausches, in dem, wie Marx bemerkte, ein Mensch dem anderen gegenübertritt, und drittens in der E n t stehung des Privateigentums an den Produktionsmitteln. Das Privateigentum h a t die sozialen Bedingungen der Persönlichkeitsbildung entscheidend verändert. Es schloß die Möglichkeit aus, den materiellen und geistigen Reichtum der Gesellschaft gleichmäßig unter alle zu teilen, und begünstigte die Persönlichkeitsentfaltung ausschließlich der Mitglieder der besitzenden Klasse. Es förderte in gewissem Maße die Ausprägung der Individualität und Selbständigkeit der Persönlichkeit und erzeugte bei dieser zugleich die Illusion, sie sei unabhängig von der Gesellschaft und ihre individuelle Freiheit werde durch ihren Reichtum garantiert, wie der Grad dieser Freiheit durch dessen Größe. So führten die antagonistischen Verhältnisse die Menschen einerseits zu gemeinsamem sozialem Leben zusammen, während sie sie andererseits voneinander isolierten und in Gegensatz zueinander brachten. Unter privatkapitalistischen Bedingungen fanden die Besonderheit, Individualität und Selbständigkeit der Persönlichkeit innerhalb der Ausbeuterklasse ihren 7
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A. F. Anisimov, Duchovnaja zizn' pervobytnogo Leben in der Urgesellschaft), Moskva 1966, S. 170
obscestva
(Das
geistige
Ausdruck im Individualismus, dessen Kehrseite nach einer Bemerkung des amerikanischen marxistischen Philosophen Howard Selsam der Menschenhaß ist. Dem Wesen und der Tendenz nach steht die Vergesellschaftung des Menschen nicht im Widerspruch zu seiner Individualisierung. Sie bilden vielmehr die beiden miteinander zusammenhängenden und einander ergänzenden Seiten des einen Prozesses der Entwicklung der menschlichen Gattung. Eine Gesellschaft ist desto vollkommener, je mehr Originalität und Selbständigkeit jedes ihrer Mitglieder besitzt und je enger und vielfältiger die Beziehungen zwischen diesen sind, d.h., je größer die Vielfalt und Einheitlichkeit der Gesellschaft ist. Die zweite Besonderheit des widersprüchlichen Vergesellschaftungsprozesses der Persönlichkeit hängt mit der Teilung der Arbeit zusammen. Diese ist — von der Trennung von körperlicher und geistiger Arbeit bis zur engen Spezialisierung auf ein bestimmtes Gebiet — eine progressive Erscheinung; denn sie förderte in hohem Grade die Ansammlung von gesellschaftlicher Erfahrung in ökonomischer und geistiger Hinsicht und die Vertiefung der zwischenmenschlichen Kontakte sowohl innerhalb eines Volkes, eines Staates und einer Nation als auch zwischen diesen. Gleichzeitig aber engte die Arbeitsteilung in der auf dem Privateigentum beruhenden Gesellschaft die Sphäre der sozialen Tätigkeit des Menschen immer mehr ein. Sie führte insbesondere zur engen, einseitigen Aneignung der gesellschaftlichen Werte und zur beschränkten, einseitigen Persönlichkeitsentwicklung. Ohne sich ein Maximum an gesellschaftlichem Reichtum aneignen zu könneil, ist die Persönlichkeit aber nicht in der Lage, ihre Fähigkeiten vielseitig zu entfalten. In der antagonistischen Gesellschaft bewirkt die Arbeitsteilung die Entfremdung des Arbeiters von seiner Tätigkeit. Die eng spezialisierte, mechanisch-monotone Arbeit, deren Produkt nicht dem Arbeiter selbst gehörte, sondern dem Kapitalisten, ist „dem Arbeiter äußerlich, d. h. (gehört) nicht zu seinem Wesen", so daß er sich in ihr „nicht bejaht, sondern verneint, nicht wohl, sondern unglücklich fühlt, keine freie physische und geistige Energie entwickelt, sondern seine Physis abkasteit und seinen Geist ruiniert" 8 . Der ideologische Einfluß, den die herrschenden Klassen auf die Persönlichkeit des Arbeiters ausüben, wirkt nicht weniger zerstörerisch als die ökonomische Unterdrückung. Doch betrifft die Entfremdung und Selbstentfremdung der Persönlichkeit im Kapitalismus nicht nur die körperlich Arbeitenden. Sie ist dem gesell8
K. Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte aus dem Jahre 1844, in: K. Marx / F. Engels, Werke, Ergänzungsband, Erster Teil, S. 514
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schaftlichen System der bürgerlichen Verhältnisse überhaupt wesenseigen und zerstört jegliche Persönlichkeit. Die Beziehungen der Konkurrenz, des Kaufs und Verkaufs erstrecken sich unter diesen Bedingungen auch auf fast alle Arten von geistiger Tätigkeit. Das System der kapitalistischen Beziehungen selbst erzeugt das Ideal des persönlichen Erfolges, der am materiellen Reichtum des Menschen gemessen wird. Die auf dieses höchste Ideal orientierte Persönlichkeit nimmt ihre Beziehungen zu anderen Menschen verzerrt wahr und entwickelt einen einseitigen Standpunkt zum gesellschaftlichen Leben. Ihre eigene Entwicklung sieht sie lediglich darin, geschäftstüchtig zu werden, um im „Geldmachen" erfolgreich zu sein. Dabei wird sie ihrer sittlich-psychischen Haltung nach zum Individualisten und Egoisten, sie verliert die Möglichkeit, ihre Fähigkeiten, ihre Individualität vielseitig zu prägen. Sie büßt das Gefühl für persönliche Würde ein oder empfindet es zumindest falsch. Die Bourgeoisie hat das „gleiche Recht eines jeden auf persönlichen Erfolg" propagiert. Die Heuchelei dieser Losung ist augenscheinlich: Die Gesellschaft, die auf dem Privateigentum an den Produktionsmitteln beruht, vermag dieses Recht nicht jedem zu garantieren; denn im Konkurrenzkampf unterliegt die Mehrheit, und gerade davon hängt der „persönliche Erfolg" einer Minderheit ab. Die dritte Besonderheit der widersprüchlichen Entwicklung der Persönlichkeit in der antagonistischen Gesellschaft besteht darin, daß sich der neue geschichtliche Menschentypus in der Auseinandersetzung mit dem bestehenden Gesellschaftssystem herausbildet. Die Persönlichkeit des Bürgers formte sich im Kampf gegen den Feudalismus für die Etablierung des bürgerlichen Systems. Als dann aber die Bourgeoisie nach der Errichtung ihrer Herrschaft nur noch um die Stabilisierung ihrer gesellschaftlichen Ordnung bemüht war, konnte sie zur geschichtlichen Entwicklung der Persönlichkeit nichts mehr beitragen. Die dann folgende Entwicklung der bürgerlichen Persönlichkeit war durch die Verschärfung ihrer inneren Widersprüche gekennzeichnet, die ihre Zersetzung einleitete. In der Auseinandersetzung mit dem Kapitalismus formt sich eine neue Persönlichkeit. Zwar können die Formen dieses Kampfes variieren, und nicht aus jeder Art von Widerstand gegen die zersetzende Wirkung des kapitalistischen Systems wächst eine neue Persönlichkeit hervor. Kleinbürgerliche Reaktionen darauf tragen nicht selten den Charakter anarchistisch-individualistischer Revolten. Die Persönlichkeit des revoltierenden Anarchisten ist ein ebensolches Nebenprodukt des bürgerlichen Systems wie die des Lakaien. Ihre Tragödie liegt darin, daß sie die objektive Notwendigkeit, die soziale Organisation nicht erkennt, die hinter der kapitalistischen Gesellschaftsstruktur steht und den Menschen diszipliniert. Deshalb bekämpft der Anarchist mit der kapitalistischen Disziplin zugleich
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jegliche gesellschaftliche Organisation. Er gerät dabei in Widerspruch zur Gesellschaft überhaupt und stellt sich ihr entgegen. Der Arbeiter im Kapitalismus wird nicht dadurch eine progressive Persönlichkeit, daß er für den Bourgeois arbeitet, dessen Willen ausführt und sich von ihm als Mittel zur Erreichung seiner Ziele benutzen läßt, sondern dadurch, daß er sich dem bewußten, aktiven Klassenkampf anschließt, der einen qualitativ neuen sozialen Charakter besitzt, da in ihm die Klasseninteressen des Proletariats mit der objektiven Tendenz der gesellschaftlichen Entwicklung verschmelzen. Die Persönlichkeit des revolutionären Kämpfers verkörpert eine höhere Stufe der Vergesellschaftung. In ihr sind die Schranken überwunden, die das privatkapitalistische System zwischen den Menschen und zwischen Mensch und Gesellschaft errichtet hat. Im Kampf gegen diese Ordnung bildet die Persönlichkeit ihren Gemeinschaftssinn, ihre Klassensolidarität aus. Das Anwachsen ihrer Vergesellschaftung zeigt sich deutlich an der Überwindung des bürgerlichen Nationalismus und Chauvinismus, an der Erweiterung und Vertiefung der internationalen Beziehungen und an dem sich daraus entwickelnden Internationalismus. Der revolutionäre Kampf, dessen Aufgaben weniger destruktiver als vielmehr vor allem konstruktiver Art sind, fordert von der Persönlichkeit, sich die Errungenschaften der Weltkultur gründlicher als bisher anzueignen. Dadurch werden die Interessen des Revolutionärs vielseitiger, wird sein Freiheitsstreben bewußter. Dabei schließen der Massencharakter der proletarischen Bewegung und die Verschmelzung der einzelnen Persönlichkeit mit der kämpfenden Klasse die Möglichkeit individueller Entfaltung nicht nur nicht aus, sondern sie werden sogar zum Ausgangs- und Bezugspunkt solcher Entwicklung. Doch repräsentiert der Typus des Revolutionärs lediglich den Auftakt zur Herausbildung eines neuen geschichtlichen Persönlichkeitstypus. Dieser wird zwar im Kampf gegen das kapitalistische System begründet, kann sich unter diesen Bedingungen aber noch nicht voll entfalten. Es gilt zu berücksichtigen, daß der Kapitalismus durch das gesamte System der auf dem Privateigentum beruhenden Verhältnisse, durch seine Ideologie und Propaganda einen negativen Einfluß auf das Bewußtsein der kämpfenden Proletarier ausübt, so daß Widersprüche in ihrem Handeln weitgehend daraus zu erklären sind. Der Kapitalismus behindert die Entwicklung der individuellen Fähigkeiten, er beschränkt die Möglichkeit, sich den ganzen sozialen Erfahrungsschatz zu eigen zu machen. Nur durch seine Vernichtung und den Aufbau einer neuen, der kommunistischen Gesellschaft vermag sich die Persönlichkeit endgültig von der Herrschaft der spontanen sozialen Mächte frei zu machen, die ihrer allseitigen und harmonischen Entwicklung im Wege stehen. Der Sozialismus ist die erste Gesellschaftsordnung der Geschichte, welche
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die Formung eines neuen Persönlichkeitstypus bewußt zu einer sozialen Hauptaufgabe erhebt. Mit dem Aufbau eines Systems neuer gesellschaftlicher Beziehungen werden alle Bedingungen für ihre Lösung geschaffen. Der Sozialismus hebt vor allem die Gebundenheit des Menschen an seine soziale Herkunft auf. Er gibt jedem einzelnen die Möglichkeit, sich den ganzen materiellen und geistigen Reichtum der Gesellschaft anzueignen. Er überwindedt ieUngleichheit in den Beziehungen zwischen den Staaten und Nationen und begründet feste Freundschaftsbeziehungen zwischen ihnen. Durch die Lösung der sozialen Widersprüche hebt der Sozialismus weitestgehend, der Kommunismus sogar gänzlich die Widersprüche im Bewußtsein des einzelnen Menschen auf. Die Persönlichkeit wird nahezu totaler Repräsentant der neuen gesellschaftlichen Interessen, die zugleich ihre eigenen sind. Im Hinblick auf die Vergesellschaftung als Kriterium der Persönlichkeitsentwicklung heißt das, daß die kommunistische Persönlichkeit über bedeutend tiefere und umfassendere soziale Erfahrungen verfügt als irgendeine andere Persönlichkeit, weil ihre Kontakte zu der Gesellschaft, in der sie lebt, und zur ganzen Menschheit unbegrenzt reich und vielfältig sind. Diese Beziehungen beeinflussen den Menschen so günstig, daß soziale Gefühle wie die gesellschaftliche Disziplin und Verantwortlichkeit und die staatsbürgerliche Einstellung für ihn selbstverständlich werden und sein Verhalten den Charakter wirklicher sittlicher Freiheit annimmt. Jeder Mensch ist dazu berufen und in der Lage, seine Kräfte und Fähigkeiten allseitig zu entfalten, bemerkten Marx und Engels. Der Mensch solle sich nicht nur in einem begrenzten Sinne reproduzieren, sondern in seiner Totalität. Aber erst die kommunistische Ordnung weckt in jedem einzelnen das echte Streben nach Universalität, nach der Fülle des Lebens, nach vielfältiger, harmonischer Entwicklung von Verstand und Gefühl und schafft, was das Wichtigste ist, die notwendigen Voraussetzungen für die Entfaltung und Äußerung seiner individuellen Fähigkeiten und Qualitäten. Wenn wir vom Kriterium der Vergesellschaftung ausgehen, so verstehen wir unter der allseitig und harmonisch entwickelten Persönlichkeit einen Menschen, der in der Lage ist, ein Maximum dessen aufzunehmen, was ihm die Gesellschaft geben kann, und der infolge der reichen Entwicklung seiner individuellen Fähigkeiten wiederum die Gesellschaft nach Kräften bereichert. Die verschiedenen Fähigkeiten der kommunistischen Persönlichkeit entwickeln sich nicht auf Grund irgendwelcher einseitigen Aneignung von sozialer Erfahrung, sondern nur durch ihre umfassende Beherrschung. Der harmonische Charakter dieser Entwicklung ist der Maßstab für die Ausgewogenheit des Einflusses, welchen die verschiedenen Bereiche des gesellschaftlichen Lebens auf die Persönlichkeit ausüben. Daher wird die allseitig und harmonisch entwickelte Persönlichkeit der kommunistischen Gesellschaft dem Kriterium der Vergesellschaftung am besten gerecht.
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G . M . ANDREEVA
Der Mensch als Gegenstand der soziologischen Forschung
Die soziologische Analyse des Menschen gehört genaugenommen zu den allgemeinen Aufgaben der Soziologie, die als Wissenschaft von der Gesellschaft auch Wissenschaft vom Menschen ist. Doch spielt bei dem Verhältnis von Mensch und Gesellschaft — ebenso wie bei der Frage nach der Methodo • logie der Erforschung beider — noch eine Reihe spezieller Gesichtspunkte eine Rolle. Geschichte und Charakter der Soziologie zeugen nicht nur von dem Suchen nach einer Antwort auf die „ewige" Frage, wie der einzelne und die Gesellschaft zueinander stehen, sondern auch von der Berechtigung eines eigenen Standpunktes, von dem Recht, sich von der rein philosophischen Fragestellung(nach der Natur, dem Wesen des Menschen) wie vom Herangehen der einzelnen Sozialwissenschaften (politische Ökonomie, Ethnographie u. a.) abzugrenzen. Diese beiden Seiten der Frage haben zweifellos einen direkten Bezug zur Persönlichkeitstheorie, genauer gesagt, zur Methodologie der Persönlichkeitsforschung. Besonders kraß tritt diese Problematik in Erscheinung, wenn wir sie im Hinblick auf die Praxis des empirischen soziologischen Forschens zu lösen versuchen. Was die allgemeine soziologische Theorie angeht, so hängt die Auffassuag vom Menschen als Objekt der soziologischen Analyse naturgemäß vor allem von der Orientierung der verschiedenen philosophischen Schulen ab. Die neokantianische Soziologie hat das Problem daher anders gehandhabt als die positivistische, und der Marxismus nimmt dazu wiederum eine andere Stellung ein. Soweit es sich um die allgemeine theoretische Auffassung des Problems handelt, liegen die philosophischen Grundsätze der Methodologie exakt und definitiv fest. Wenn jedoch die Praxis der empirischen Forschung zum wichtigsten Faktor der soziologischen Analyse wird, kommt noch ein weiterer Gesichtspunkt hinzu. Wie werden die Aufgaben für die Untersuchung des Menschen in den methodologischen Ausgangssätzen der verschiedenen soziologischen Theorien formuliert? Welchen Wert hat das Resultat der empirischen Einzeluntersuchung für die Schaffung eines einheitlichen Bildes vom Menschen? Und 103
was vermag die empirische Forschung schließlich für das Studium des Menschen zu leisten? Die Antwort auf diese Fragen hängt ollenkundig weitgehend von den konkreten gesellschaftlichen Bedingungen ab, unter denen die Untersuchung stattfindet. Die Sozialstruktur sowie die objektive Situation der Persönlichkeit im gesellschaftlichen Beziehungsgefüge wirken sich letztlich nicht nur auf die Methodologie aus, sondern beeinflussen auch den Charakter der empirischen Untersuchungen. Insofern ist zu prüfen, wie einerseits die wichtigsten methodologischen Prinzipien der bürgerlichen Soziologie bei der Analyse der Persönlichkeit im Kapitalismus gehandhabt werden und welche Seiten der marxistischen Soziologie andererseits bei der Erforschung der Persönlichkeit im Sozialismus eine Weiterentwicklung erfahren. Es hat sich in der empirischen Soziologie seit längerem eingebürgert, das Sozialverhalten des Menschen für den Forschungsgegenstand zu halten. Die Untersuchung des Verhaltens wird als wichtigste Aufgabe angesehen, ob es sich nun um die neopositivistische Schule handelt oder um den Standpunkt der strukturell-funktionalen Analyse — die zwei äußerlich diametralen Konzeptionen in der bürgerlichen Soziologie der Gegenwart. Auf welche Art von empirischem Vorgehen auch die Wahl fällt, auf das statistische oder das experimentelle, das Auswahlverfahren oder das typologische, welchen Charakter die Untersuchung selbst infolgedessen auch annimmt, ob sie „survey" — Übersicht — oder „case-study" — Zufallsstudie —ist, immer werden dabei, wenngleich mit unterschiedlicher Deutlichkeit, bestimmte Seiten, Momente und Merkmale des Verhaltens fixiert. Inwieweit aber kann man die der empirischen Forschung zugängliche Verhaltensbeschreibung als Objekt der Soziologie überhaupt betrachten? In bezug auf die Persönlichkeitstheorie erhält diese Frage auch noch folgenden Sinn: In welcher Beziehung steht die empirische Beschreibung des individuellen Verhaltens zur Interpretation des einzelnen als Persönlichkeit? Der Neopositivismus identifiziert Wesen und Funktion der empirischen Sozialforschung mit den allgemeinen Aufgaben der Soziologie; der logische Bezug zur Konzeption des sozialen Behaviorismus ist dabei nicht zu verkennen. Eine ähnliche Definition der Soziologie tragen G. Lundberg, C. Shrag und 0 . Larsen vor: „Die Soziologie untersucht das soziale Verhalten von Individuen und Gruppen. Das soziale Verhalten ist dadurch bedingt, daß die Menschen zusammenleben und zueinander in Beziehung t r e t e n . " 1 Die Anhänger des sozialen Behaviorismus sind der Ansicht, daß in der Beobachtung des menschlichen Verhaltens der einzige Zugang zur Erkenntnis 1
G. Lundberg / C. Shrag / A. Larsen, Sociology, New York 1954, S. 13 (Rückübersetzung aus d. Russ.)
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der sozialen Wirklichkeit liege und daß das Verhaltensstudium daher die einzige Methode zur objektiven Untersuchung dieser sozialen Wirklichkeit sei. Infolgedessen sind sie vor allem bemüht, die angeblich objektiven Grundlagen des Verhaltens aufzuspüren und dieses damit einer objektiven, exakten Analyse zu unterziehen. Die empirischen Untersuchungen, denen diese Auffassung zugrunde liegt, gehen von der Analyse konkreter Verhaltensweisen in Relation zu bestimmten Umweltfaktoren aus. Der spezielle Terminus „attitude" (Position, Beziehung) läßt sich durchaus auch als besondere Verhaltensäußerung interpretieren. Die Analyse dieser „Position", z. B. durch A. S. Stouffer, ist der wichtigste Bestandteil aller empirischen Untersuchungen in der Soziologie. Das entspricht auch der Forderung nach Logik in der Sozialforschung, wie sie der Neopositivismus formuliert hat. Im Hinblick auf die Beschreibung einzelner Verhaltensweisen fällt die Möglichkeit der Verifikation in der Soziologie am meisten ins Auge. Nach Ansicht G. Lundbergs „sind die Ziele der Wissenschaft in allen Bereichen gleich, und zwar richten sie sich auf verifizierbare Verallgemeinerungen hinsichtlich der Folgerichtigkeit der Erscheinungen" 2 . Solche Verallgemeinerungen aber lassen sich nur aus dem unmittelbar Gegebenen gewinnen. Für die Soziologie ist dieses unmittelbar Gegebene in der Tat das Verhalten der Individuen. Bei einer Untersuchung dieser Art sind auch die Forderungen des Operationalismus ohne weiteres zu berücksichtigen. G. Lundberg meint, daß gerade darin die Möglichkeit zur Absage der„neuen" Soziologie an den traditionellen soziologischen Subjektivismus liege; denn „die einzige Form, irgend etwas objektiv zu definieren, ist die Definition in den Termini des Operationalismus" 3 . Die genaue Festlegung der Operationen, die zur Analyse einer bestimmten sozialen Erscheinung nötig sind, ist augenscheinlich auch nur in einer sozialen Untersuchung möglich, die eine Fixierung des Einzelnen, unmittelbar Wahrzunehmenden, anstrebt, d. h. eben in einer Verhaltensanalyse. In gewissem Sinne schließt eine solche Verhaltensbeschreibung tatsächlich eine Charakteristik jener objektiven Faktoren ein, die das Verhalten prägen. Aber hier erhebt sich die Frage: Was sind „objektive" Faktoren der sozialen Wirklichkeit? Der soziale Behaviorismus hat einen sehr einseitigen Begriff von diesen „objektiven" Faktoren des menschlichen Verhaltens. Das Attribut „objektiv" erhält dabei genaugenommen eine bloß negative Bestimmung: Es seien solche Faktoren, die sich nicht auf die „subjektiven" Momente im Verhalten 2 G. Lundberg, Foundation of Sociology, New Y o r k 1939, S . 149 (Rückübersetzung aus d. Russ.) 3 Ebenda, S. 58 (Rückübersetzung aus d. Russ.)
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zurückführen lassen, auf „Auffassungen", „Stimmungen" des betreffenden Menschen. Ganz davon abgesehen, daß es nicht angeht, sämtliche Faktoren, die auf die innere Subjektivität des Menschen Bezug haben, bei der Charakterisierung einer Persönlichkeit zu ignorieren, verzichtet der Behaviorismus bei aller scheinbaren „Objektivität" des Herangehens auch darauf, deren objektive Existenzbedingungen zu analysieren. Wenn die erwähnte Kennzeichnung der „objektiven" Faktoren noch einen Sinn hat, soweit es sich um das Verhalten des einzelnen handelt, so wird es kompliziert, wenn die gesellschaftliche Gesamttätigkeit der Menschen zur Debatte steht. Es erscheint am einfachsten und ist auf den ersten Blick verführerisch, die objektive Basis dieser Tätigkeit durch einfache Summierung, Integration der objektiven Verhaltensgrundlage der Individuen ermitteln zu wollen. Das liefe jedoch zwangsläufig auf einen Mechanizismus hinaus, wie er denn im allgemeinen in der Methodologie des Neopositivismus auch vorherrscht. Gerade dieser Mechanizismen wegen greifen die Anhänger der funktionalen Analyse bekanntlich die Neopositivisten an. Die Anfechtbarkeit einer derart einseitigen Interpretation des „Objektiven" in der Soziologie zeigt sich besonders deutlich, wenn es sich um die Wechselbeziehung von individuellem Verhalten und sozialer Tätigkeit der Gesellschaft handelt. Der Begriff „objektive Grundlagen" des menschlichen Tuns bezeichnet unter diesem Gesichtspunkt etwas gänzlich anderes. Das gesellschaftliche Leben der Menschen ist die Gesamtheit des vielfältigen Tuns und Handelns, der mannigfaltigen Beziehungen von realen Individuen. Aber nur ein bestimmter Teil dieser Beziehungen bildet die objektive Grundlage aller übrigen Handlungen und Verhältnisse (objektiv insofern, als sie dem Menschen erst nach ihrer Entstehung zu Bewußtsein kommen). Es sind dies die Produktionsverhältnisse, die sich in der Sphäre der Tätigkeit der Menschen, der Grundvoraussetzung ihrer Existenz, herausbilden. Das vielfältige menschliche Tun und Lassen in seiner objektiven Bedingtheit wirklich erklären heißt also, es aus den Produktionsverhältnissen erklären, es aus ihnen „ableiten". Das ist jedoch nicht damit getan, daß man den wirklichen Reichtum aller menschlichen Lebensäußerungen auf diese primären Verhältnisse zurückführt. Es kommt vielmehr darauf an, die Vielfalt von deren Formen aus diesen Verhältnissen abzuleiten und damit den Menschen als soziales Wesen zu charakterisieren. Das Verhalten der einzelnen Individuen ist ein wichtiger Faktor in dem komplizierten Netz der gesellschaftlichen Beziehungen. Jede individuelle Handlung ist das unverwechselbare Resultat des komplizierten Zusammenspiels von tief erliegenden Faktoren und Lebensumständen des betreffenden Mitgliedes der Gesellschaft. Die empirische Verhaltensforschung geht auf die Beobachtung solcher Erscheinungen aus. In diesem Sinne liefert sie der
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Wissenschaft Faktenmaterial. Zur theoretischen Bearbeitung dieses Materials aber gehört unbedingt, daß man sie erklärt, und das ist nur möglich, wenn man den Rahmen des Verhaltens überschreitet. Der Forscher muß dabei also nicht nur das Verhalten als solches ins Auge fassen, sondern auch jene Faktoren, durch die es bedingt ist. Der Forschungsgegenstand gewinnt dadurch erheblich an Umfang. Der Neopositivismus hingegen, gebunden an das Gebot, nichts zu analysieren, was jenseits der Sphäre des unmittelbar Gegebenen liegt, verbietet es, über empirische Untersuchungen hinauszugehen, und sieht im Verhalten das einzige Objekt für soziologische Analysen. Diese Forschungshaltung hat nur den Schein des Konkreten für sich. In Wirklichkeit ergibt sich dabei ein recht abstraktes Bild vom Verhalten eines Menschen, nämlich lediglich eine Charakteristik der formalen Verhaltensstruktur, wodurch im Grunde das Studium des Individuums, wie es wirklich ist, behindert wird. Um so mehr rückt dabei eine auch nur annähernd konkrete Analyse des Persönlichkeitstypus, der einer bestimmten Gesellschaftsordnung entspricht, aus dem Blickfeld. Eine davon abweichende Auffassung repräsentiert die funktionalistische Strömung in der Soziologie, deren Anhänger dem Neopositivismus vor allem den Vorwurf der Beschränktheit machen. Sie betrachten die Elemente der gesellschaftlichen Struktur in ihrem dialektischen Zusammenhang mit dem Ganzen, und das schließt nicht nur die Analyse des speziellen individuellen Verhaltens ein, sondern auch die Untersuchung jener Struktur, in die der einzelne eingebettet ist. In diesem Verfahren spielt die Konzeption der „Referenzgruppe" (einer Gruppe, mit der ein Vergleich angestellt wird) eine große Rolle. Robert Merton 4 wies darauf hin, daß bei der Untersuchung des individuellen Verhaltens über die Analyse der sozialen Gruppe hinaus, welcher der Betreflende direkt angehört, auch jene Gruppe Aufmerksamkeit verdiene, auf die er sich „bezieht", deren Verhaltensweise er sich zum Vorbild nimmt. Die Referenzgruppe nun dient als Mittel zur Verhaltensinterpretation: Mit ihrer Hilfe läßt sich das Verhalten des einzelnen nicht nur zu seiner unmittelbaren sozialen Gruppe in Beziehung setzen, sondern auch zu höheren sozialen Strukturen. Dadurch gewinnt die Analyse der Verhaltensweisen, die der Terminus „attitude" bezeichnet, an Vollständigkeit. Strittig bleibt jedoch folgende Frage: Kann die Analyse als abgeschlossen gelten, wenn der Mensch als ihr Objekt nicht nur im Hinblick aufsein individuelles Verhalten fixiert ist, sondern darüber hinaus auch in seiner Beziehung zu einer bestimmten sozialen Struktur? H a t der Soziologe den Menschen damit in seiner ganzen Kompliziertheit und in der Vielfalt seiner < Vgl. R. Merton,
Social Theory and Social Structure, New York 1964, S. 2 3 0
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Beziehungen erfaßt? Wird die Persönlichkeit dadurch nicht n u r formal, sondern in ihrem Wesen aus der Gesamtheit ihrer sozialen Verhältnisse erklärt? Der Funktionalismus verfügt über gewisse Möglichkeiten zur weiteren Vertiefung dieser Analysen. Diese betreffen die gründliche Charakterisierung des Verhaltens als bestimmtes soziales Handeln und können der Ausarbeitung und konkreten Bestimmung der Persönlichkeitsstruktur dienlich sein. T. Parsons hat daher durchaus recht, wenn er meint, die positivistische Auffassung vom sozialen Verhalten der Menschen bewege sich auf einem derart niedrigen Abstraktionsniveau, daß sie bestenfalls eine Charakteristik der formalen Verhaltensursachen geben könne. Er h a t auch damit recht, daß eine wirklich fundierte Erklärung eine Theorie voraussetzt, die, auf hoher Abstraktionsstufe stehend, die Gesetze der gesellschaftlichen Realität aufzudecken vermag. Allerdings bringt auch die konkrete Abstraktionsvariante, die Parsons in seiner Konzeption von der „sozialen Handlung" vorträgt, keine Lösung dieses Problems. Eine Theorie, die sich bewußt darauf beschränkt, ein „Begriffsschema" 5 zu sein, und sich vorwiegend die formale Klassifikation des empirischen Materials angelegen sein läßt, kann zwar eine gewisse Verhaltenstypologie begründen, wie sie für die soziologische Analyse des Menschen unentbehrlich ist. Doch diese Typologie (bei Parsons die bekannten fünf „Wert "paare) besitzt derart formalen Charakter, daß sie kaum dazu angetan ist, das wirkliche Wesen der gesellschaftlichen Verhältnisse zu erschließen. Was nun die Struktur der Persönlichkeit anbelangt, so fügt eine solche Analyse der „Handlungs"komponenten ihr zwar gewisse Gesichtspunkte hinzu, aber dies betrifft wiederum nur die formale Seite der Struktur, denn der Mechanismus des Handelns der Persönlichkeit wird außerhalb der wirklichen sozialen Bedingungen, dieden Inhalt dieses Handelns determinieren, gesucht. Das vorgetragene Abstraktionsniveau bleibt Gerüst, aufgerichtet irgendwo neben dem entstehenden Gebäude, das soziale Wirklichkeit heißt. Überdies stellt Parsons selbst nicht in Abrede, daß auch er das Verhalten als einzigen Gegenstand der soziologischen Analyse betrachte, zwar auf besondere Weise interpretiert, auf besondere Weise beschrieben, aber doch als einzigen Gegenstand. Er notiert: „Die Soziologie hat es mit der Beobachtung und Analyse des menschlichen Sozialverhaltens zu tun, d. h. mit der Wechselwirkung einer Vielzahl menschlicher Wesen und Formen, die unter verschiedenen Bedingungen eingegangen wird, und mit den Determinanten dieser Formen und Beziehungen." 6 5
6
T. Parsons, The Position of Sociological Theory, in: American Sociological Review, Jg. XIII, Apiil 1948, S. 164 T. Parsons, Psychology and Sociology, in: For a Science of Social Man, New York 1959, S. 70 (Rückübersetzung aus d. Russ.)
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Wie aber zeigen sich diese „Determinanten"? Das Verhalten (die „Handlung") ist nach Parsons durch verschiedene subjektive Momente bestimmt. Natürlich muß auch diese Seite der Determination Beachtung finden, aber die Frage nach den Determinanten anderer Art, um deren Erfassung sich auch der Behaviorismus vergeblich bemüht h a t : nach den objektiven Verhaltensdeterminanten, bleibt dabei ungelöst. Bei allem Unterschied in der Verhaltensauffassung des Behaviorismus (Verhalten als Reaktion auf Stimuli aus der Außenwelt) und des Funktionalismus (das Verhalten ist durch das Bewußtsein des Individuums motiviert, stellt keine bloße Reaktion auf einen äußeren Stimulus dar) bleiben beide Richtungen auf das Verhalten festgelegt, besteht zwischen ihnen diesbezüglich eine prinzipielle Übereinstimmung. Als Objekt der empirischen Forschung fungiert in ihnen nicht der Mensch, sondern lediglich sein Verhalten. Inwieweit ist die Extrapolation des Objekts der empirischen Forschung auf das Objekt der soziologischen Wissenschaft überhaupt gerechtfertigt? Nicht zufällig nehmen die empirischen Untersuchungen in der Soziologie häufig den Charakter sozialpsychologischer Studien an: Die Grenze zwischen ihnen ist bislang höchst relativ. Wenn aber für die Sozialpsychologie in ihrer klassischen Form das Verhalten den gesetzmäßigen und grundlegenden Forschungsgegenstand bildet, so ist es für den Soziologen lediglich das äußere Gerüst jener komplizierten Prozesse, die das gesellschaftliche Leben ausmachen. Das Verhalten des Individuums bietet keine Erklärung dafür, wie die soziale Wirklichkeit beschaffen ist, es muß vielmehr aus seinem Zusammenhang mit dieser erklärt werden. Ebensowenig liegt im Verhalten der Persönlichkeit die Erklärung für ihr Wesen, sondern dieses tritt im Verhalten in Erscheinung. Die eigentliche Natur der Persönlichkeit ist aus ihren objektiven Existenzbedingungen zu entwickeln. Es ergibt sich die Schlußfolgerung, daß die empirische Forschung kein einheitliches Bild des Menschen zu begründen vermag. Auch die bloße Anerkennung dessen, daß sie sich mit theoretischer Analyse verbinden muß, bringt das Problem der Lösung nicht näher. Der Ausweg liegt offenbar darin, daß im Inhalt der Theorie selbst methodologische Prinzipien angelegt sein müssen, die den empirischen Untersuchungen, in denen Verhaltensweisen beschrieben werden, nicht von vornherein ihren Sinn nehmen und sie verselbständigen, sondern die ihnen einen festen Platz im Konzept soziologischer Analyse des Menschen zuweisen. Von grundlegender Bedeutung ist dabei der Gedanke von Marx, daß man den Menschen nicht als Ausgangspunkt der soziologischen Untersuchung betrachten dürfe, sondern in gewissem Sinne als ein „Fazit", als Resultat der gegebenen sozialen Wirklichkeit, daß das Wesen des Menschen kein Abstraktum sei, sondern „das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse".
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Das schließt nicht aus, daß der Mensch und insbesondere sein Verhalten für den Soziologen eine reale empirische Voraussetzung darstellt. „Die Voraussetzungen, mit denen wir beginnen", heißt es in der „Deutschen Ideologie", „. . . sind die wirklichen Individuen, ihre Aktion und ihre materiellen Lebensbedingungen . . . Diese Voraussetzungen sind . . . auf rein empirischem Wege konstatierbar." 7 Der Soziologe h a t es mit Menschen zu tun, mit ihren Handlungen und mannigfaltigen Lebensäußerungen. Hinter diesen Gegebenheiten muß der Wissenschaftler, noch bevor er die Analyse überhaupt beginnt, die ganze gesellschaftliche Wirklichkeit sehen, die das bedingt, was an der Oberfläche sichtbar wird. Jede empirisch wahrgenommene Verhaltensweise jedoch ist Ausdruck eines unter der Oberfläche wirkenden objektiven Gesetzes. Marx wies bei jeder Gelegenheit darauf hin, daß es in den Gesellschaftswissenschaften „das Richtige zu sein (scheint,) mit dem Realen und Konkreten, der wirklichen Voraussetzung zu beginnen . . . Indes zeigt sich dies bei näherer Betrachtung [als] falsch." 8 Das Konkrete, real Gegebene ist naturgemäß immer das, was direkt im Gesichtskreis des Wissenschaftlers liegt. In der Soziologie sind das Individuen, Menschen, die unter bestimmten Bedingungen und Umständen handeln. Ihre Handlungen, ihr Tun bilden, so kommt es bei Marx zum Ausdruck, eine „Einheit des Mannigfaltigen", was in diesem Fall bedeutet, daß jedes Tun des Individuums das Produkt vieler komplizierter gesellschaftlicher Zusammenhänge und Verhältnisse ist. Der Wissenschaftler, der ein Konkretum vor sich hat (einen Verhaltensakt, eine Handlung), ist verpflichtet, darauf die Maßstäbe des Denkens anzuwenden. Und im Denken erscheint das Konkrete „als Prozeß der Zusammenfassung, als Resultat, nicht als Ausgangspunkt, obgleich es der wirkliche Ausgangspunkt und daher auch der Ausgangspunkt der Anschauung und Vorstellung ist" 9 . Empirische Untersuchung heißt natürlich nicht bloße Betrachtung, denn zugleich h a t es der Soziologe mit unmittelbarem Faktenmaterial zu t u n ; daher bildet das Konkrete hier naturgemäß den Ausgangspunkt. Der grundsätzliche Unterschied in der Auffassung über Rolle und Platz dieser Forschungen in der Soziologie äußert sich darin, wie das gedankliche Bild dieses Konkreten zustande kommt, ob es (in diesem Falle irgendeine Verhaltensweise) als Ausgangspunkt auch in der Wirklichkeit selbst betrachtet wird oder als Ergebnis, als Synthese tieferliegender gesellschaftlicher Zusammenhänge. Nur im zweiten Falle fügen sich die empirischen Forschungen organisch in den Gesamtprozeß der soziologischen Analyse ein und stehen in voller 7
K. Marx / F. Engels, Die deutsche Ideologie, in: Werke, Bd. 3, S. 20 K. Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, Einleitung, S. 21 9 Ebenda, S. 21/22 8
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Übereinstimmung mit der soziologischen Theorie. Aber gerade darum verliert das Objekt solcher Forschungen, das Verhalten der Individuen, den Anschein von Selbständigkeit und wird Bestandteil des allgemeineren Objekts soziologischer Analyse — des Menschen, der in der ganzen Komplexität seiner Beziehungen mit der Gesellschaft genommen wird, des Menschen als Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse. Soziologische Analyse des Menschen ist daher kein Moment der Erforschung der Gesellschaft selbst, sondern beide sind zwei Seiten ein und der selben Sache. Das Bild des Menschen muß in der soziologischen Forschung unbedingt auch ein „Bild" der Gesellschaft sein. Die Analyse der allgemeinen Gesetze der gesellschaftlichen Entwicklung bildet auch nicht nur eine Komponente soziologischer Analyse, sondern ist Grundlage und Voraussetzung der empirischen Sozialforschung überhaupt. Alles das steht in unmittelbarer Beziehung zur Persönlichkeitsforschung. Die Soziologie soll nicht nur Aussagen über die allgemeine, abstrakte Struktur der Persönlichkeit machen, etwa in der Art eines psychologischen Schemas, sondern eine konkrete inhaltliche Analyse vorlegen. Die Analyse der vielfältigen gesellschaftlichen Bedingungen ist darin nicht einfach enthalten; sie ist vielmehr die Sache selbst, gesehen unter einem bestimmten Gesichtspunkt. Nur so ist soziologische Persönlichkeitsforschung möglich, denn „das Wesen der .besonderen Persönlichkeit'", schrieb Marx, ist „nicht ihr Bart, ihr Blut, ihre abstrakte Physis, sondern ihre soziale Qualität" 1 0 . Seitdem die empirische Untersuchung des Problems des Menschen in der Soziologie Bürgerrechte erworben hat, entstand eine gewisse Voreingenommenheit gegenüber der Erforschung „allgemeiner Gesetze". In seiner krassesten Form unterstellt dieses Vorurteil jeglicher Beschäftigung mit solchen allgemeinen Gesetzen eine Unterschätzung des schöpferischen, volitiven Moments im Verhalten des Individuums. Aber hier liegt ein Mißverständnis vor. Jede einzelne Handlung (jeder „Verhaltensakt") des Menschen ist notwendig durch seinen Willen, seine Emotionen und Absichten determiniert, doch das Resultat dieser einzelnen Handlungen muß nicht unbedingt dem beabsichtigten entsprechen. Es zeigt sich vielmehr, daß die einzelne Handlung durch jene allgemeinen Ergebnisse des Verhaltens objektiv bestimmt ist, die das gesellschaftliche Leben ausmachen. Möglicherweise läßt sich die erwähnte Voreingenommenheit auch so deuten: Die empirische Forschung richtet sich nicht auf die gesamte Gesellschaft, sondern auf genau abgegrenzte Teilbereiche davon — soziale Gruppen ver10
K. Marx, Aus der Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie. Kritik des Hegelschen Staatsrechts (§§ 2 6 1 - 3 1 3 ) , in: K. Marx / F. Engels, Werke, Bd. 1, Berlin 1957, S. 222
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schiedenen Charakters, Individuen und ihr Verhalten. Folglich steht für die empirische Untersuchung der Mensch im Mittelpunkt der Forschung. Die makrosoziologische Analyse der allgemeinen Gesetze läßt diesen Akzent unter den Tisch fallen, sie nimmt dem Bild des Menschen seine Bedeutung. Von da ist es nicht weit zur Unterbewertung des Menschen, der Persönlichkeit und ihres Schicksals. Methodologische Befragungen in der Soziologie geraten in diesem Fall in Gefahr, direkt für ideologisch-polemische Zwecke benutzt zu werden, für die traditionell-bürgerliche Anschuldigung, der Marxismus bringe der Persönlichkeit zuwenig Aufmerksamkeit entgegen. Doch geht auch dieses Schema von einer völlig falschen Alternative aus: entweder Untersuchung des Menschen in seinen individuellen Lebensäußerungen oder Studium der Gesellschaft mit ihren „allgemeinen Gesetzen". Der „materialistische Soziologe, der bestimmte gesellschaftliche Verhältnisse der Menschen zum Gegenstand seiner Untersuchung macht", schrieb Lenin, „erforscht damit auch die realen Persönlichkeiten, aus deren Handlungen diese Verhältnisse ja hervorgehen." 1 1 Persönlichkeiten zu untersuchen, heißt aber vor allem ihre Handlungen zu erklären: „Die ganze Geschichte besteht ja aus Handlungen von Persönlichkeiten, und Aufgabe der Gesellschaftswissenschaft ist es, diese Handlungen zu erklären . . ." 1 2 Dieses Herangehen h a t nichts mit einer „antihumanistischen" Nuancierung der Methodologie zu tun. Im Gegenteil, in der Analyse der allgemeinen Gesetzmäßigkeiten des Geschichtsprozesses, in der Aufdeckung des Mechanismus der Wechselwirkung von allgemeinen Gesetzen und einzelner Persönlichkeit liegt jene methodologische „Norm" für die Forschung, die den humanistischen Gehalt der Persönlichkeitstheorie garantiert. Wie sich die Persönlichkeit wirklich befreien kann, ist nur dann herauszufinden, wenn die objektiven Tendenzen der gesellschaftlichen Entwicklung, in welchen das Schicksal der Individuen beschlossen ist, erkannt sind und ausgenutzt werden. Auch von der Unterschätzung des Bewußtseins, des Willensfaktors im Handeln des Individuums, kann hier keine Rede sein. Die Erkenntnis, daß das menschliche Wesen das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse ist, steht in keiner Weise der Anerkennung dessen im Wege, daß der Mensch zugleich auch das Subjekt dieser Verhältnisse ist. Es handelt sich dabei einfach um die notwendige „Subordination" verschiedener Determinanten und ihre Beziehung zueinander. Die Auffassung der psychischen Bestimmungsfaktoren selbst gewinnt dadurch beträchtlich an Tiefe. Sie erscheinen nicht als einfachste psychische Merkmale, wie sie jedem Handeln zukommen, 11
W. I. Lenin, Der ökonomische Inhalt der Volkstümlerrichtung und die Kritik an ihr in dem Buch des Herrn Struve, in: Werke, Bd. 1, S. 419 « Ebenda, S. 410
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sondern werden auch in ihrer Korrelation mit dem eigentlichen Inhalt der menschlichen Handlungen erfaßt. Dabei wird von der Voraussetzung ausgegangen, daß die Konkretheit soziologischer Analysen nicht darin besteht, zunächst möglichst viele einzelne Verhaltensäußerungen zu beschreiben und sie dann zu summieren und zu interpretieren. Konkretheit heißt in diesem Falle vielmehr, daß jede einzelne Verhaltensweise (bei der eine empirische Untersuchung ansetzen kann) von vornherein nicht isoliert genommen wird, nicht an sich und nicht einmal nur in ihrem Bezug zur nächsten sozialen Gruppe, der das Individuum angehört, sondern daß es aus der Sicht der Gesamtheit der realen gesellschaftlichen Verhältnisse interpretiert wird. Zur wirklichen Erklärung des Individualverhaltens gehört nicht nur die Analyse seiner formalen Ursachen, nicht das bloße „Hinzufügen" seiner objektiven Determinanten, nicht allein die Feststellung der funktionalen Zusammenhänge, sondern das Aufspüren der tiefsten Ursachen dieses Verhaltens, die in der Gesamtheit der jeweiligen sozialen Verhältnisse liegen. Ganz offenkundig sind auch mit dieser theoretischen Position noch nicht alle methodologischen Schwierigkeiten bewältigt, die bei der Persönlichkeitsanalyse auftreten. Eine Aufgabe von großer Wichtigkeit besteht für die marxistische Soziologie insbesondere darin, von den allgemeinen Begriffen der Soziologie zu Bestimmungen zu kommen, die für die empirische Forschung praktikabel sein können. „Persönlichkeit" ist einer dieser Begriffe, die nicht ohne weiteres in solche Bestimmungen umzusetzen sind. Bekannt sind die Versuche, die bürgerliche Soziologen in dieser Richtung unternommen haben, so etwa die von Paul Lazarsfeld 13 . Sie haben zu nichts geführt. In den letzten Jahren haben die marxistischen Soziologen ähnliche Anstrengungen gemacht, und zwar unter Wahrung der oben dargelegten allgemeinen methodologischen Grundsätze. Dazu zählt z. B. die Untersuchung des Verhältnisses junger Arbeiter zu ihrer Tätigkeit, die das soziologische Labor der Leningrader Universität unter Leitung von A. G. Zdravomyslov und V. A. Jadov angestellt hat. Die Leningrader Soziologen haben festgestellt, daß die Persönlichkeitsstruktur jedes Arbeiters ein „Prisma" besonderer Art bildet. Durch dieses Prisma haben sie den Einfluß der sozialistischen Gesellschaft auf das Verhältnis des Arbeiters zu seiner Tätigkeit untersucht. Darunter fallen allgemeine soziale Faktoren (ökonomische, soziale, politische, ideologische Merkmale der sozialistischen Gesellschaft) ebenso wie besondere soziale Umstände (die soziale Bindung des Individuums, seine Arbeits- und Lebensbedingungen, seine direkte Umgebung 13
Vgl. P. Lazarsfeld, Methodological Problems of Empirical Sociological Research, in: Transactions of the Fourth World Congress of Sociology, vol. II, New York
1959 8
Mayer
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usw.). Diese Momente werden durch die subjektive Welt des Individuums, durch seine Psyche gebrochen. In der Forschung bleibt so die Einheit von objektiven und subjektiven Merkmalen der Persönlichkeit gewahrt, wobei es insbesondere auf das soziologische, nicht psychologische Herangehen ankommt (denn Gegenstand der Forschung sind die gesellschaftlichen Verhältnisse, nicht einzelne Verhaltensweisen einzelner Individuen). Dabei besteht auch die Möglichkeit, konkrete Untersuchungen durchzuführen, weil sie den Versuch darstellen, die allgemeinen Termini in die Sprache der empirischen Forschung zu übersetzen. Naturgemäß machen solche Versuche die Weiterentwicklung der Theorie wie der Methodologie erforderlich. Ein solches Herangehen setzt voraus, daß zwischen Soziologie und Philosophie einerseits und Soziologie und einzelnen Gesellschaftswissenschaften andererseits enge Kontakte bestehen. Die Auffassung, daß die allgemeine soziologische Theorie (und nur sie kann die notwendige Synthese von empirischem Material und seiner wirklichen Aufarbeitung sichern) unvermeidlich „Verbindungskanäle" zur Philosophie ziehe (T. Parsons) 14 oder sogar „halbphilosophischen Charakter" trage (R. König) 15 bzw. einer eigenen „philosophischen Grundlage" bedürfe (G. Gurvitch) 16 , findet bei den verschiedenen Strömungen der bürgerlichen Soziologie sichtlich immer mehr Anerkennung. In der marxistischen Soziologie nun gründet sich die Beschäftigung mit dem Menschen fest auf jene Bestimmungen, die der historische Materialismus als allgemeine soziologische Theorie bereit hat. Insbesondere ist die Persönlichkeitstheorie an die philosophische These verwiesen, daß der Mensch das Produkt und das Subjekt der gesellschaftlichen Verhältnisse sei. Das bildet kein Hindernis für die Praxis der empirischen Forschung, aber es gibt ihr verständlicherweise eine gewisse Orientierung. So kam etwa in der bereits erwähnten Untersuchung der Leningrader Soziologen zum Ausdruck, daß die Wissenschaftler beim Aufspüren ganz bestimmter konkreter Persönlichkeitsäußerungen (in diesem Falle hinsichtlich der Einstellung zur Arbeit) bewußt von den Grunderkenntnissen der marxistischphilosophischen Persönlichkeitsauffassung ausgegangen sind. Die Erforschung des Menschen ist in ihrem Inhalt und sogar in ihrem Gegenstand vielfältig, und zwar deshalb, weil sie auf verschiedene Seiten der Totalität des Menschen abzielt. Ein Teil dieser Forschungen trägt sehr speziellen Charakter (z. B. auf dem Gebiet der Kriminologie oder in bezug auf die Familie) und fällt damit in der Regel den verschiedenen gesellschaftswissenschaftlichen Disziplinen zu. Daneben macht sich jedoch immer 14 15 16
Vgl. T. Parsons, The Structure of Social Action, New York 1964, S. 21 Vgl.: Transactions of the Fourth World Congress of Sociology, vol. II, S. 282 Vgl. Cahiers internationaux de sociologie, v. X V , Paris 1953, S. 4
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deutlicher die Notwendigkeit bemerkbar, komplexe Sozialforschungen zu betreiben, bei welchen der Soziologe mit dem Psychologen, dem Ökonomen, dem Ethnographen u. a. zusammenarbeitet. Hier entsteht das Bild vom Menschen, wenn man so sagen kann, auf „synthetische" Weise, unter Berücksichtigung verschiedener Sphären und Aspekte seines Handelns. Das Material dieser Untersuchungen, aus der Sicht der allgemeinen soziologischen Theorie interpretiert, vermag uns, wie sich zeigt, der Schaffung eines einheitlichen Bildes vom Menschen als Objekt soziologischer Analyse ein Stück näherzubringen. Jede Gesellschaftswissenschaft kann an der Bewältigung dieser Aufgabe mitwirken. Die Orientierung auf die Analyse spezifischer Seiten der menschlichen Tätigkeit muß nicht zu solchen einseitigen Modellen wie dem „ökonomischen Menschen", dem „politischen Menschen", dem „psychologischen Menschen" usw. führen. In der bürgerlichen Soziologie standen Modelle dieser Art bekanntlich in einem geschichtlichen Zusammenhang mit der unterschiedlichen Methodologie verschiedener Soziologenschulen. Die eigentliche Aufgabe der Soziologie besteht jedoch darin, das reale Bild eines realen Menschen zu prägen, der einer bestimmten Gesellschaft angehört und auf vielfältige konkrete Weise in den verschiedensten gesellschaftlichen Sphären sein Leben äußert, seine Persönlichkeit dynamisch entwickelt. Die empirische Sozialforschung, die sich an der marxistischen soziologischen Theorie orientiert und ihr Material für ihre Weiterentwicklung zur Verfügung stellt, sollte maßgeblich an der Lösung dieses Problems beteiligt sein.
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A. A. ZVOBYKTN
Methoden der Persönlichkeitsforschung
Zunächst zum Begriff „Persönlichkeit" selbst. Die verschiedenartigen Definitionen, die ausländische Wissenschaftler gegeben haben, lassen sich folgendermaßen zusammenfassen: 1. beschreibende Definitionen, in denen die Persönlichkeit durch willkürliche Aufzählung einzelner ihrer Seiten charakterisiert wird. Der Begriff wird hier in rein subjektivem Sinne gebraucht. Jeder bezeichnet damit die Züge, die er für wichtig hält. 1 2. Definitionen, die individuelle Besonderheiten akzentuieren. Gewöhnlich sind dies Eigenschaften, die sich auf die besondere Art individueller Wahrnehmung, Beurteilung und Reaktion des Menschen auf die Umwelteinflüsse beziehen.2 Manchmal wird unter „Persönlichkeit" die positive Originalität des Individuums verstanden3, d. h. jene Merkmale, durch die es sich vor anderen Menschen auszeichnet, nach seinen Aufgaben, nach der Intensität des Einflusses4, den es auf andere ausübt, oder nach dem Eindruck auf sie. Dementsprechend kann die Persönlichkeit als „aggressiv", „nachgiebig"» „grausam" usw. charakterisiert werden; es handelt sich in diesem Falle um das Urteil ihrer Mitmenschen.5 Als Ausdruck von Persönlichkeit gelten die „Selbständigkeit des Menschen, die Festigkeit seiner Wertmaßstäbe und Ansichten, die Eigenart seiner Gefühle, seine Willensstärke, seine Gesammeltheit und Leidenschaftlichkeit". Das bedeutet also, daß nicht alle Menschen, sondern nur ganz bestimmte als Persönlichkeiten anzusehen sind. 3. Definitionen, in denen moralische, moralisch-rechtliche oder moralisch-geistige Gesichtspunkte dominieren. Diese Variante ist wohl die verbreitetste, und sie besteht in der Akzentuierung der geistigen, intellektuellen und moralischen Qualitäten des Menschen. Nach allgemeiner Auffassung entstammt 1 Vgl. C. S. Haü / G. Lindzey, Theories of Personality, New York 1957, S. 8 Vgl. R. Jolivet, Vocabulaire de la philosophie, Paris 1957, S. 143 3 Vgl. A. Lalande, Vocabulaire technique et critique de la philosophie, Paris 1960, S. 757 4 Ebenda, S. 758 5 C. S. Hall / G. Lindzey, Theories of Personality, S. 8 2
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diese Richtung der christlichen Religion, speziell dem Katholizismus. 6 Im letzteren war der Begriff „Persönlichkeit" juristisch geprägt. Im gleichen Sinne verwandte Hegel den Terminus zur Fixierung seiner äußerst abstrakten Vorstellungen von Moral, indem er den Menschen als Gesetzgeber betrachtete. 7 Die christliche Auffassung von der Persönlichkeit als absolutem moralischem Wert spielt auch für die Ethik Kants, für den der Mensch als Vernunftwesen sein eigener Richter ist, eine große Rolle. 8 Hegel diente der Begriff zur Entwicklung allgemeinster Moralvorstellungen. Die gleiche abstrakte Persönlichkeitsdefinition findet sich in der neuhegelianischen Ethik. 4. Die subjektive Definition beruft sich auf das maßgebliche Interesse für die eigene Person. A. Comte gründete darauf seine Entgegensetzung von Persönlichkeit und Gesellschaft. 9 5. Verhaltensdefinitionen. Die Anhänger dieser Richtung erfassen die Persönlichkeit unter dem Gesichtspunkt der Einmaligkeit ihres individuellen Verhaltens und heben jene Verhaltensmerkmale hervor, durch die sich der Mensch von anderen abhebt. 1 0 „Persönlichkeit", schreibt Cattell, „ist das, was es ermöglicht, das Verhalten eines Menschen in einer bestimmten Situation vorauszusagen . . . Persönlichkeit hängt mit dem Gesamtverhalten des Menschen in seinen inneren und äußeren Erscheinungsformen zusammen." 1 1 6. Psychologische Persönlichkeitsdefinitionen gehen darauf zurück, daß die Persönlichkeit als eine psychische Funktion aufgefaßt wird, mittels deren das Individuum sich als einheitliches Wesen begreift. 12 Es gibt noch mehr Definitionen, nach denen „Persönlichkeit" als objektive Form verstanden wird, welche mit der objektiven Bedeutung des Begriffs „Persönlichkeit" in der Psychologie bzw. mit der psychologischen Bedeutung des Terminus „Identität der Persönlichkeit" in Korrelation steht. Das subjektive „Erkennen der Identität der Persönlichkeit" ist die Ausdrucksform für die Existenz einer objektiven Persönlichkeit. Dieser Terminus bezeichnet den Begriff genauer, wenn man die subjektive Seite der Persönlichkeit auf deren höchster Bewußtseinsstufe, auf der eine soziale Abgrenzung nach „Ich" und „Nicht-Ich" vonstatten geht, im Auge hat. 1 3 Die psychologische Definition der Persönlichkeit bildet die Voraussetzung für die strukturelle. So schreibt Allport: „Persönlichkeit ist die dynamische 6 7 9 10 11
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Vgl. Dictionary of Philosophy und Psychology, Massachusetts 1957, S. 282 8 Vgl. ebenda Vgl. ebenda Vgl. A. Lalande, Yocabulaire technique et critique de la philosophie, S. 757 Vgl. C. S. Hall / G. Lindzey, Theories of Personality, S. 9 R. B. Cattell, Personality, a Systematic Theoretical and Factual Study, New York 1950, S. 2/3 Vgl. A. Lalande, Vocabulaire technique et critique de la philosophie, S. 757 Vgl. Dictionary of Philosophy and Psychology, S. 282
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Organisation des Individuums mit psychologischen Systemen, die seine unikale Einstellung auf die Umwelt prägen." 1 4 Die psychologische Definition h a t für pathologische Fälle Bedeutung, wo der Mensch nicht nur kein Bewußtsein seiner selbst als Persönlichkeit erlangt, sondern wo in seinem kranken Bewußtsein die Vorstellung Platz greift, in ihm existierten mehrere Persönlichkeiten nebeneinander, die sich voneinander nach Charakter, Empfindung und Erfahrung unterscheiden und von denen jede die andere als Komplizen oder als Usurpator empfindet. 1 5 7. Die strukturelle Definition der Persönlichkeit knüpft quasi an die psychologische an. Eysenck bemerkt dazu: „Persönlichkeit ist die Gesamtsumme der realen oder potentiellen Verhaltensmodelle eines Organismus, die durch die Umwelt bedingt sind. Sie entstehen und entwickeln sich über die funktionale Wechselwirkung der vier Grundsektoren, von denen diese Verhaltensmodelle herrühren: des Erkenntnissektors (Bildung), des Willenssektors (Charakter), des emotionalen Sektors (Temperament) und des somatischen Sektors (Körperbeschaffenheit)." 16 8. Die boisoziale Definition kommt der strukturellen nahe. Der Hauptrepräsentant dieser Richtung, G. Murphy, faßt den Menschen als biologischen Organismus auf, der mit seiner natürlichen und gesellschaftlichen Umwelt in Wechselwirkung steht. Für Murphy ist die Persönlichkeit das Produkt eines bipolaren Prozesses, dessen einer Pol im Organismus liegt, während sich der andere in der Umwelt befindet. „Der Mensch", schreibt er, „ist die zentrale Zone, ein organisierter Bereich im größeren Bereich, eine Zone zeitlich unbegrenzter Wechselwirkung, wechselseitigen Austausches von schwindender und neu entstehender Energie." 1 7 9. Die biophysische Persönlichkeitsdefinition. Murray und Kluckhon sind der Ansicht, daß der Begriff „Persönlichkeit" jener hypothetischen Gehirnstruktur vorbehalten sei, deren Prozesse in inneren und äußeren Erscheinungen zutage treten und das Leben des Menschen prägen. Daher sei die Persönlichkeit, so bemerken sie, „keine Serie von biographischen Faktoren, sondern etwas Allgemeineres, das diese Faktoren hervorbringen" 1 8 . An anderer Stelle schreibt Murray: „Die Persönlichkeit ist der lenkende Teil des Kör14
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G. W. Allport, Personality, a Psychological Interpretation, New York 1937, S. 48 (Rückübersetzung aus d. Russ.) Vgl. The Encyclopedia Americana, New York 1944, S. 282 H. J. Eysenck, Dimentions of Personality, London 1947, S. 25 (Rückübersetzung aus d. Russ.) G. Murphy, Personality, a Biosocial Approach to Origins and Structure, New York 1947, S. 7 (Rückübersetzung aus d. Russ.) H. A. Murray j C. Kluckhon, Outline of a Conception of Personality, in: Personality in Nature, Society and Culture, New York 1953, S. 30 (Rückübersetzung aus d. Russ.)
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pers, die Institution, die von der Geburt bis zum Tode sich wandelnde funktionale Operationen ausführt." 1 9 Soweit eine — bei weitem nicht vollständige — Charakteristik der verschiedenen Gesichtspunkte, unter denen „Persönlichkeit" gefaßt wird. Jede Definition erfaßt real existierende Momente, diese oder jene Seite der Erscheinungen, die zum Persönlichkeitsein in Beziehung stehen. Daher entspricht ein großer Teil von ihnen den verbreiteten Vorstellungen über bestimmte Merkmale der Persönlichkeit. Aber zugleich ist nicht zu übersehen, daß jede dieser Definitionen eine oder mehrere Seiten hypertrophiert und verabsolutiert und insofern einer wirklich tiefgreifenden, wissenschaftlichen Charakteristik der Persönlichkeit hinderlich ist. Denn beschreibende Persönlichkeitsdefinitionen, die erstens nur äußere Erscheinungsformen tangieren und diese Erscheinungsformen zweitens in willkürlicher, subjektivistischer Manier auswählen, lassen sich kaum wissenschaftlich nennen. Das gleiche gilt für jene Definitionen, in denen bestimmte individuelle Besonderheiten verabsolutiert werden. Definitionen dieser Art, so wichtig sie an sich sind, vermögen das Persönlichkeitsproblem keinesfalls in seiner ganzen Bedeutung zu erfassen. Die moralisch, moralisch-rechtlich oder moralisch-geistig akzentuierten Bestimmungen haben in bestimmten Geschichtsepochen zwar positiv gewirkt, insofern sie den Wert des Menschen betonten, doch sind auch sie keine eigentlich wissenschaftlichen; denn sie lassen die Frage nach der Herk u n f t des moralischen Fundaments der Persönlichkeit unbeantwortet bzw. suchen die Lösung größtenteils in den Dogmen der Religion. Die subjektiven Definitionen, deren Wert darin liegt, daß sie das entscheidende Moment, die „Selbsterkenntnis", hervorheben, beschränken sich damit doch auf eine einzige Komponente, die noch dazu eine rein äußerliche ist. Definitionen solcher Art finden in psychologischen Persönlichkeitsauffassungen eine Weiterentwicklung. Verhaltensbetonte Definitionen sind rein pragmatischen Charakters. Sie beschränken sich auf die Analyse des äußeren Tuns und Lassens des Menschen und laufen im Grunde ebenfalls auf eine Beschreibung hinaus, die sich auf die Besonderheiten der Persönlichkeit richtet. Auch sie sind eine Vorstufe zur psychologischen Bestimmung des Begriffs. Die letztere geht einen Schritt weiter als die beiden vorweg genannten. Jedoch f ü h r t sie den Begriff „Persönlichkeit" auf psychologische Kategorien zurück, ohne dabei in Rechnung zu stellen, welche Rolle die Gesellschaft f ü r die Formung der Persönlichkeit und ihr Auftreten spielt. 19
H. A. Murray, Towards a Classification of Interaction, in: T. Parsons, Towards a General Theory of Action, Cambridge 1951, S. 436 (Rückübersetzung aus d. Russ.)
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Weitaus vollständiger als die psychologische ist die strukturelle Variante; denn dabei wird der Begriff „Persönlichkeit" nicht nur um seine physiologische Komponente erweitert (somatischer Faktor), sondern gleichzeitig findet die Rolle der Umwelt dabei die erforderliche Beachtung. Von den psychischen Momenten geraten nur der Wille (der mit dem Charakter identifiziert wird) und die Emotionalität ins Blickfeld. Der Begriff „Umwelt" bleibt unentfaltet. Von der strukturellen Definition gehen zwei Richtungen aus. Die eine ist, wie schon bemerkt, die biophysische, die den Persönlichkeitsbegriff auf körperliche Prozesse zurückführt, das gesellschaftliche Moment dabei ignoriert und damit eine operative Definition unmöglich macht. Die andere ist die biosoziale Richtung; nach ihr ist die Persönlichkeit zu Recht als Einheit von Biologischem und Sozialem aufzufassen. Doch bleibt der Charakter der sozialen Umwelt dabei offen, so daß sich nicht bestimmen läßt, was eine Persönlichkeit eigentlich ausmacht. Die bislang vollständigste und adäquateste Definition haben die sowjetischen Wissenschaftler vorgelegt. Vor allem sei auf die „Große Sowjetenzyklopädie" verwiesen. „Persönlichkeit", heißt es da, „ist der Mensch als gesellschaftliches Wesen, als Subjekt der Erkenntnis und der aktiven Veränderung der Welt. Persönlichkeit sein kann nur der Mensch als vernunftbegabtes Lebewesen, das über die Sprache und die Fähigkeit zu arbeiten verfügt. In ihrer inneren Beschaffenheit ist die Persönlichkeit Untersuchungsgegenstand der Psychologie. Dieses geistige Gesicht stellt die geschichtlich gewordene Gesamtheit der wesentlichsten, verhältnismäßig invariabien psychischen Eigenschaften dar: Charakterzüge, Temperament, Fähigkeiten, Neigungen und Interessen." 2 0 Man kann einer Charakteristik, in der die subjektiven Seiten der Persönlichkeit akzentuiert werden, die Zustimmung nicht verweigern, einer Charakteristik, die deren aktiven Charakter, die Persönlichkeitsattribute Verstand, Sprache, Arbeitsfähigkeit hervorhebt, das psychische Wesen der Persönlichkeit darlegt und jene psychischen Merkmale berücksichtigt, welche die Persönlichkeit prägen: Charakterzüge, Temperament, Fähigkeiten, Begabungen, Neigungen, Interessen. Dennoch hat diese Definition verschiedene Mängel. Erstens fehlt ihr die exakte Abgrenzung der Begriffe „Persönlichkeit" und „Mensch". (Viele Faktoren, die in der Definition des Begriffs „Persönlichkeit" in der „Großen Sowjetenzyklopädie" auftauchen, finden sich in dem Artikel zum Stichwort „Mensch" im gleichen Werk wieder.) Zweitens fällt an dieser Definition eine eigenartige Standardisierung und Formalisierung der Persönlichkeit auf; deren Einmaligkeit und individuelle Besonderheit findet dagegen 20 Bol'saja Sovjetskaja Enciklopedija, 2. Aufl., Bd. 25, S. 304
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keine Erwähnung. Drittens bleibt dabei die Genesis der Persönlichkeit offen, auch finden die physischen, physiologischen, psychischen und gesellschaftlichen Faktoren, die eine Persönlichkeit ausmachen, keineBerücksichtigung. In der „Philosophischen Enzyklopädie" wird Persönlichkeit definiert als menschliches Individuum, Produkt der gesellschaftlichen Entwicklung, Subjekt der Arbeit, des gesellschaftlichen Austausches und der Erkenntnis, das durch die konkret-historischen gesellschaftlichen Lebensbedingungen determiniert ist. 2 1 In dieser Begriffsbestimmung wird zwischen den Termini „Persönlichkeit" und „menschliches Individuum" unterschieden. Der Begriff „menschliches Individuum" bezeichnet lediglich die Zugehörigkeit zur menschlichen Rasse, nicht auch konkrete sozialpsychologische Merkmale. Ein Unterschied wird hier auch zwischen „Persönlichkeit" und „Individualität" gemacht. Mit dem Terminus „Individualität" operiert die Psychologie, wenn sie die Gesamtheit der ererbten und ontogenetisch entstandenen physischen und psychischen Besonderheiten eines Menschen kennzeichnen will. In der „Philosophischen Enzyklopädie" wird betont, daß der Persönlichkeitsbegriff auf die Totalität des Menschen als Einheit seiner individuellen Besonderheiten und seiner sozialen Funktionen abziele. Eine Definition dieser Art, die psychologische und psychophysiologische Merkmale der Persönlichkeit voneinander trennt, entleert den Begriff und bleibt in gewisser Beziehung hinter der in der „Großen Sowjetenzyklopädie" gegebenen Definition zurück. Nach meiner Ansicht ist Persönlichkeit die bei jedem Menschen anders geartete Verbindung von anthropologischen (erblichen), psychischen, kulturellen, intellektuellen und sozialen Komponenten, die untrennbar mit der konkreten Lebenslage des einzelnen zusammenhängen und sich als Einheit von somatischen Momenten, Emotionalität, Typ des Nervensystems (Temperament), Erkenntnisvermögen, Wille, Begabung, Charakter, Kultur, Weltanschauung und Bedürfnissen darstellen und in den Emotionen und Ansichten, im Verhalten, in Handlungen und Tätigkeiten zum Ausdruck kommen. Zum Persönlichkeitsein gehören ebenso das Streben des Menschen, seine Ideale und Interessen, ja der ganze Reichtum seiner Innerlichkeit und seines äußerlichen Lebens. Nur auf Grund so einer Auffassung von Persönlichkeit, die sich auf den ganzen Menschen bezieht, ist eine strukturelle, eine Systemanalyse möglich. Diese Einsicht setzt sich bei den sowjetischen Wissenschaftlern immer mehr durch. Dem gleichen Problem galt auch ein Vortrag, den V. G. Afanas'ev auf dem Symposium „Persönlichkeit und Gesellschaft" (1966) gehalten hat. Doch sind wir auf dem Gebiet bisher noch nicht über die ersten Schritte hinausgekommen. 22 21 V g l . F i l o s o f s k a j a E n c i k l o p e d i j a , B d . 3, M o s k v a 1964, S . 196 22
V g l . R. I.Öoeiev,
Persönlichkeit
und G e s e l l s c h a f t
(Bericht),
in:
Voprosy
filosofii, H e f t 8 / 1 9 6 6
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U m die hier dargelegte Persönlichkeitsdefinition zu begründen, soll nun auf einige Gesichtspunkte näher eingegangen werden: erstens auf die Individualität und Einmaligkeit der Persönlichkeit; zweitens auf das Verhältnis von Biologischem, Psychophysiologischem und Sozialem; drittens auf die Rolle der konkreten Lebenslage bei der Persönlichkeitsbildung, und viertens wird ein erster Versuch zur Typologie der Persönlichkeit unternommen. Erstens. Wenn wir die gesellschaftliche Bedingtheit der Persönlichkeit an die erste Stelle rücken, so dürfen wir darüber nicht vergessen, daß jede Persönlichkeit Individualität und Einmaligkeit besitzt. Die Persönlichkeit und ihre Welt lassen sich mit einem Kometen vergleichen, der aufstrahlt und verglüht, während er die Schichten der Atmosphäre durcheilt. Die Profiliertheit einer Persönlichkeit hängt von deren Besonderheiten sowie von der Umwelt ab, nur ist die Umwelt, durch welche die Persönlichkeit geprägt wird, unendlich vielgestaltiger als die Luft, durch die der Komet seine Bahn zieht, und die Wechselwirkung von Umwelt und Persönlichkeit unvergleichlich tiefgreifender als die von Komet und Luft. Mit der Unwiederholbarkeit und Eigenart der Persönlichkeit befassen sich bis heute viel mehr Dichter und Schriftsteller als Gelehrte. L. S. Sobolev äußerte in seinem Vortrag auf dem Schriftstellerkongreß der R S F S R in bezug auf seine Kollegen: „Wir dringen, jeder auf seiner Lebensbahn, in ihre geheimnisvollen Tiefen (in die Tiefen der Welt, des Lebens auf unserem Planeten) ein, und wenn wir in uns einen der Ewigkeit gegenüber momentanen Hochspannungsblitz von Verstand und Fähigkeiten, Begeisterung genannt, entzündet haben, versinken wir schon wieder im Strudel der Zeit. Doch der von unserer Energie erzeugte Beitrag dazu, was das Wesen der Kunst ausmacht, bleibt. Und so gering er auch sein mag, so ist er für den gigantischen Organismus doch lebensnotwendig. Manchmal über Jahre, manchmal über Jahrhunderte." 2 3 Auf seine Weise hat J . Jewtuschenko in dem Gedicht „Uninteressante Menschen gibt es nicht" von der Individualität und Unwiederholbarkeit des einzelnen geschrieben. Es endet mit den Worten: „Was wissen wir vom Bruder und vom Freund, / von ihr, die nah uns ist und ferne t r ä u m t ! / Vom eignen Vater, Gesicht gegen Gesicht, / wissen wir, alles, wissend, nichts. / Die Menschen gehen fort. . . Dann sind sie fort. / Ihre Welten sind ein toter leerer Ort. / Und jedes mal, und denk ich dein, / möchte ich über dieses Ende schrein." 24 Wir sind, wie Jewtuschenko treffend ausdrückt, nicht imstande, das Innenleben auch uns nahestehender Menschen ganz zu erkennen. Mit dem Tode eines Menschen stirbt auch seine ureigene innere Welt. J a sogar uns selbst 23 24
Literaturnaja gazeta vom 4. März 1965 J. Jewtuschenko, Das dritte Gedächtnis, Berlin 1970, S. 75
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kennen wir nicht genau, weil wir unser Wesen uns und anderen gegenüber immer nur in bezug auf eine bestimmte Situation äußern. Bisweilen erheben sich Einwände gegen die Ansicht, daß die Persönlichkeit sich durch Individualität und Einmaligkeit auszeichne. Man hält dagegeD, jedes beliebige Ding der unbelebten wie der belebten N a t u r sei individuell geprägt und unwiederholbar, ganz gleich, ob Stein, Pflanze oder Tier. Das s t i m m t zwar, aber es ist nicht das Charakteristische dieser Dinge. Mehr noch, f ü r deren Verständnis sind nicht ihre Besonderheiten von Wichtigkeit, sondern es ist das Allgemeine, das ihren Wert bestimmt. Was die Persönlichkeit angeht, so k o m m t es darauf an, daß sie sich von ihrer Umgebung a b h e b t und eine eigene, n u r ihr gehörige geistige Welt schafft. Die Auffassung von der Individualität und Einmaligkeit der Persönlichkeit scheint auf die Unmöglichkeit hinzudeuten, einen wissenschaftlichen Zugang zu ihr zu finden; denn das bedeutet, daß man vom Individuellen und Unwiederholbaren (Einzigartigen) absieht und sich auf das Typische und Allgemeine orientiert. In der T a t t u n sich hier Schwierigkeiten auf. Aber m a n kann die Persönlichkeit auf zweierlei Weise angehen: erstens m i t den Mitteln der Kunst, deren Bedeutung f ü r die Erkenntnis gerade des Individuellen, Einmaligen immens ist. Dostojewski beispielsweise h a t f ü r das Verständnis der Persönlichkeit mehr getan als viele Philosophen, Soziologen und Psychologen. Zweitens wird die Persönlichkeit von der Wissenschaft erforscht, allerdings zugunsten einer gewissen Vereinfachung bei der Erfassung ihrer wichtigsten Bestimmungen. In diesem Falle läßt sich das Besondere (Gruppenbezogene) wie das Allgemeine herausheben. Dabei eröffnet sich die Möglichkeit, die Vorstellung von der Typologisierung der Persönlichkeit, ihrer Modellierung sowie die Vorstellung der strukturellen, der Systemanalyse zu verwirklichen. Zweitens. In bezug auf die Relation von Biologischem, Psychophysiologischem und Sozialem gibt es verschiedene S t a n d p u n k t e : 1. Die Persönlichkeit p r ä g t die Gesellschaft, die Kultur. Die psychophysiologischen Besonderheiten des einzelnen haben darauf keinen wesentlichen Einfluß. 2. Die Persönlichkeit wird von ihr immanenten biologischen Faktoren, von Erbanlagen gelenkt, an denen die Gesellschaft nichts zu verändern vermag. Es lohnte sich nicht, darauf einzugehen, wenn sich in der L i t e r a t u r nicht die Tendenz zeigte, die genotypischen Züge der Persönlichkeit auszuklammern und diese lediglich als einen Komplex von gesellschaftlichen Beziehungen zu interpretieren. Diese Ansicht, die auf überholten Positionen beh a r r t , h a t P. E . K r j a z e v vorgetragen. 2 5 Krjazev b e t o n t die Wichtigkeit dessen, den eigentlichen Begriff „Persönlichkeit" zu definieren, und erklärt, 25
Vgl. P. E. Krjazev, Einige soziologische Fragen der Persönlichkeitsformung, in: Voprosy filosofii, Heft 7/1966
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das Wesen des Menschen sei ein nur gesellschaftliches, kein natürlich-gesellschaftliches. 26 Indem er auf die alte Persönlichkeitsdefinition zurückgreift, die den Begriff allein aus den sozialen Verhältnissen herleitet, verknüpft Krjazev die psychophysiologischen Eigenarten mit dem Begriff „menschliches Individuum" und erklärt, nur das menschliche Individuum weise eine biosoziale Struktur auf; sie mache es zum Gegenstand vieler Natur- und Gesellschaftswissenschaften. E r fährt fort: „Was nun die Persönlichkeit anlangt, so hat sie rein sozialen Charakter, repräsentiert das individuelle Dasein der gesellschaftlichen Verhältnisse und wird daher nur von Gesellschaftswissenschaften erforscht." 2 7 Diese Auffassung widerspricht der gesamten Entwicklung der modernen Wissenschaften. Zeitgemäß sind dagegen die Versuche, das Problem komplex anzugehen, von psychophysiologischer und sozialer Seite. 2 8 Marx hat vor der Entgegensetzung von Individuum und Gesellschaft gewarnt. E r betonte, das Individuum sei „das gesellschaftliche Wesen". „Seine Lebensäußerung — erscheine sie auch nicht in der unmittelbaren Form einer gemeinschaftlichen, mit andern zugleich vollbrachten Lebensäußerung — ist daher eine Äußerung und Bestätigung des gesellschaftlichen Lebens."2® Unter Bezugnahme darauf fassen viele Marxisten die Persönlichkeit einseitig als Ausdruck bloß gesellschaftlicher Faktoren auf. Sie übersehen die erblichen, die physiologischen Merkmale des Menschen ebenso wie den U m stand, daß sich die Gesellschaft in jedem einzelnen auf andere, spezifische Weise darstellt, und zwar eben deshalb, weil die sozialen Beziehungen, die einen Menschen charakterisieren, auf einer bestimmten biologischen und physiologischen Grundlage entstehen. Marx war aus polemischen Gründen genötigt, die Aufmerksamkeit auf die gesellschaftliche Bestimmtheit des Menschen zu lenken, aber er sprach zugleich davon, daß der Mensch „ein besondres Individuum ist, und grade seine Besonderheit macht ihn zu einem Individuum und zum wirklichen individuellen Gemeinwesen" 3 0 . Wie bildet sich so ein „besondres" Individuum? Was für eine Besonderheit macht es zum Individuum? Es gibt keinen Zweifel, daß Marx darunter j e n e immer nur einem bestimmten Menschen eigenen Züge verstand, die mit dessen körperlicher — biologischer und physiologischer — Beschaffenheit 2« Ebenda, S. 15 27 Ebenda, S. 16 28 Vgl. B. G. Anan'ev, Vaznaja problema sovremennoj pedagogiceskoj antropologii (Ein wichtiges Problem der gegenwärtigen pädagogischen Anthropologie), in: Sovetskaja pedagogika, Heft 1/1966, S. 33 — 53 29 K. Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte aus dem Jahre 1844, in: I\. Marx / F. Engels, Werke, Ergänzungsband, Erster TeiJ, S. 538/39 30 Ebenda, S. 538 124
zusammenhängen und auf die sich die spezifische psychische Struktur des Menschen gründet, in der seine physiologische wie gesellschaftliche Bestimmtheit zum Ausdruck kommt. Alle Persönlichkeitsforschung muß daher von diesen beiden Gesichtspunkten ausgehen — der Naturbedingtheit der Persönlichkeit, die bei jedem Menschen auf besondere Art in Erscheinung tritt, und ihrer eng damit verbundenen gesellschaftlichen Determiniertheit. Drittens. Bei der Charakterisierung der Persönlichkeit wird in der Regel auf die geschichtlich gewachsene Gesamtheit der wesentlichsten, verhältnismäßig konstanten psychischen Eigenschaften und Charakterzüge, auf Temperament, Fähigkeiten, Talente, Neigungen, Interessen etc. Bezug genommen. So wichtig dieser Hinweis auch ist, so beschränkt er sich doch nur auf eine Seite des Persönlichkeitseins. Dabei kommt es vor allem darauf an, die Einheit von zutiefst individueller geistiger Lebenssphäre und Umwelt im Auge zu haben. Der Mensch wird durch seine Umwelt geprägt; er äußert sein Wesen in der Wechselwirkung mit ihr. Nur durch die Untersuchung der geistigen Welt des Individuums wie des umgebenden Milieus kann man sich eine Vorstellung von den möglichen Persönlichkeitsäußerungen bilden. Wenn wir die Persönlichkeitsentwicklung lenken wollen, so läßt sich dies nicht so sehr auf didaktischem Wege als vielmehr durch zielgerichtete Veränderung der Umwelt und Schaffung günstiger Lebensbedingungen erreichen. Hier macht sich der Einfluß der gesellschaftlichen Gegebenheiten auf die Persönlichkeit gleichsam ein zweites Mal bemerkbar. Wenn diese Bedingungen vorher als ein Faktor Erwähnung fanden, der die Persönlichkeit formt und vermittels dessen die besonderen biologischen, die Erbfaktoren in der sozialen Psyche des Individuums und in seinen sozialen Bestrebungen ihren Niederschlag finden, so tritt die gesellschaftliche Umwelt nun als die konkrete Lebenslage in Erscheinung, die das Handeln des einzelnen unter jeweils konkreten Bedingungen determiniert. Hier offenbart sich zugleich die Einheit von Mensch und sozialer Umwelt. Umwelt, das ist die Heranführung des Menschen an das System kultureller Werte, über welches die betreffende soziale Gruppe, Klasse, Gesellschaft verfügt. Umwelt, das ist der Prozeß intellektueller Formung der Persönlichkeit; sie kann den Menschen in einen speziellen Kulturbereich einführen, in die Wissenschaft, die alle Lebenssphären durchdringt. Sie kann sich aber auch verzerrt in den Köpfen der Menschen widerspiegeln, z. B. als Religion. Umwelt, das heißt auch Heranführen des Menschen an die Ideologie, die Weltanschauung der Gesellschaft. Und schließlich sind Umwelt jene konkreten Situationen, in die der Mensch gerät, in denen er Entschlüsse faßt und handelt und sich als besondere Persönlichkeit bestätigt. 125
Aus dem Leben wie aus der Literatur ist bekannt, daß die Persönlichkeit in komplizierten Lebenslagen oft ungewöhnliche Entscheidungen trifft. Menschen, die Mut und moralische Integrität besitzen, verhalten sich manchmal wie Feiglinge und Egoisten; Menschen mit mittelmäßigen Anlagen dagegen können Qualitäten entwickeln, an die vorher nicht zu denken war. Viertens. Nachdem von der Einmaligkeit jeder Persönlichkeit, von der komplizierten Verbindung von Aktuellem und Ererbtem (Genotypischem) und davon die Rede war, daß die Persönlichkeit sich in ihrer Wechselbeziehung mit der Umwelt offenbart, erhebt sich die Frage, ob eine Typologie der Persönlichkeit denkbar ist, ob es einen Sinn hat, all das Komplizierte und Unwiederholbare, das die Persönlichkeit auszeichnet, auf irgendwelche Gruppen zurückzuführen und jede Persönlichkeit als Repräsentant einer solchen Gruppe zu betrachten, die allgemeine Charaktereigenschaften, Züge, Tendenzen usw. aufweist. Wie schon bemerkt, liegt in dieser Art des Herangehens eine Vergröberung des Wesens der Persönlichkeit. Sie kann nur zu einer ersten, annähernden Bestimmung ihres wirklichen Reichtums führen; aber sie gestattet, gewisse allgemeine Züge des Menschen theoretisch und praktisch besser zu erfassen. Eine Persönlichkeitstypologie trägt dazu bei, sich für den richtigen Beruf zu entscheiden bzw. sich die bereits ausgeübte Tätigkeit tiefer anzueignen und den Lebensweg richtig zu wählen. Zur Erziehung und Selbsterziehung ist eine solche Typologie unerläßlich, ebenso aber auch für das Glück jedes Menschen. Indem der Mensch sich selbst erkennt, seine Fähigkeiten und Anlagen entwickelt, seine körperlichen und psychischen Schwächen überwindet, seinen Intellekt schärft, sein Kulturniveau erhöht und seine staatsbürgerlichen Qualitäten vertieft, t u t er etwas für sein Glück, für die Erreichung seiner Ziele. Die Zeit ist vorüber, da der Mensch an die Vorbestimmtheit seines Schicksals glaubte, da er für sich selbst nur eine Maxime k a n n t e : Als was man geboren und aufgewachsen ist, das bleibt man auch zeit seines Lebens. Theorie und Praxis legen Zeugnis ab von den großen Möglichkeiten, die Persönlichkeit zu verändern, vor allem in der Wechselbeziehung mit der jeweiligen Umwelt. Ein Hemmnis dafür bildet der voluntaristische Standpunkt, dem zufolge die genotypischen Merkmale unberücksichtigt bleiben können und die Persönlichkeit allein durch die gesellschaftlichen Verhältnisse geformt werden kann, ohne daß dabei in Rechnung gestellt wird, welchen Anteil sie selbst an ihnen hat. Die Kenntnis der Persönlichkeitstypologie nutzt auch dem einzelnen selbst, sie wirkt sich auf seine Berufswahl, auf seine Erziehung und Entwicklung aus. Von solchen Typologien gibt es nicht wenige, je nach den Kriterien, die zugrunde gelegt werden. Große Bedeutung h a t die Typologisierung nach
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Berufen erlangt. Am deutlichsten ist sie bei der Gruppierung nach Berufskatalogen (professiogramma) ausgeprägt. In den USA gibt es für 4000 Berufe solche ^Professiogramme". Jedes Schema gliedert sich in sechs Punkte: 1. Berufsausbildung (Zeitdauer); 2. Tauglichkeit für den Beruf; 3. Charakter der nervlichen Anspannung; 4. Neigungen; 5. physischer Kraftaufwand; 6. Arbeitsbedingungen. Nach diesen Merkmalen lassen sich die Menschen in verschiedene Gruppen einteilen und ihre beruflichen Eignungen feststellen. In diesem Falle kann aber nur bedingt von Typologie und Eignung die Bede sein. Eine zweite Art der Typologisierung nach Berufsmerkmalen ist, die Menschen bestimmten Tests zu unterziehen. Weite Verbreitung haben in den USA die GATB-Tests gefunden. Sie dienen zur Feststellung allgemeiner Fähigkeiten. Man kennt zwölf solche Tests. F ü r acht von ihnen braucht man lediglich Bleistift und Papier, die restlichen vier werden mit einfachsten Hilfsmitteln durchgeführt. Dabei wird nach neun Gesichtspunkten vorgegangen: dem allgemeinen geistigen Niveau, der Sprachbeherrschung, dem Gedankenreichtum, dem Orientierungsvermögen, dem Formempfinden, den spezifischen Fähigkeiten von Büroangestellten, der motorischen Koordination und der Fingerfertigkeit. Für jeden P u n k t gibt es Noten. Aus Spezialtabellen, von Experten aufgestellt, sind die Normen für die einzelnen Berufe ersichtlich. Selbstverständlich sind all diese Methoden unvollkommen. Die untersuchten Faktoren werden nicht differenziert betrachtet. Es sind solche darunter, die in verhältnismäßig kurzem Training zu entwickeln sind, und kompliziertere. Allen Tests aber mangelt es an der Auffassung des Menschen als ganzheitliche Persönlichkeit und an der Berücksichtigung bestimmter Besonderheiten seiner Psyche. So kann z. B. die von Pawlow hervorgehobene Effektivität der bedingten Reflexe die Bewertung modifizieren. Ein Mensch kann für eine bestimmte Tätigkeit ungeeignet sein, dennoch wird diese Tätigkeit, sofern tiefere Interessen und Bestrebungen damit verbunden sind, gänzlich anders ablaufen als ohne solche bedingten Reflexe, die als Interesse erscheinen. In allen diesen Verfahren gibt es jedoch viel Nützliches und Vernünftiges. Massenkontrollen haben ergeben, daß die Arbeitseffektivität von Menschen, die nach der GATB-Methode ausgewählt wurden, erheblich höher liegt als die beliebiger anderer. Dieses System, mit dem sich die Eignung eines Menschen für eine bestimmte Tätigkeit graduell erfassen läßt, ist auch noch in anderer Hinsicht von Bedeutung. Angenommen, man prüft mit diesem Verfahren Menschen, die ihre Leistungsnorm regelmäßig nicht erreichen. An Hand der gewonnenen Fakten läßt sich für einzelne Gruppen der Ausbildungscharakter festlegen und auf diese oder jene Weise eine Erhöhung der Qualifikation erreichen, nicht generell, aber für jede Gruppe gemäß den
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Resultaten der Tests, gar nicht zu reden von der Neuverteilung der Kader entsprechend geeigneten Tätigkeiten. Während diese Richtung der Persönlichkeitstypologie beim Beruf ansetzt, gehen andere von bestimmten Persönlichkeitsmerkmalen aus. Einige davon seien hier genannt. Der deutsche Psychologe Ernst Kretschmer gründet seine Typologie auf die physische Konstitution, die, wie er betont, den Besonderheiten von Temperament und Charakter entspricht. E r unterscheidet zwischen dem pyknisclien, dem asthenischen und dem athletischen Typ und fixiert ihre psychischen Merkmale. Seine Typologie ist viel und von verschiedensten Seiten kritisiert worden. Sie hat jedoch für sich, daß zwischen äußeren physischen Gegebenheiten und psychophysiologischen Besonderheiten in einer Anzahl von Fällen eine direkte Relation hergestellt werden kann. Eine weitere Typologisierungsvariante ist die Einteilung der Menschen nach dem Temperament (Sanguiniker, Choleriker, Phlegmatiker, Melancholiker) oder nach Typen des Nervensystems, wie Pawlow sie fixiert hat, der nachwies, daß die Typen des Nervensystems im wesentlichen mit denen des Temperaments übereinstimmen. Wie belangvoll die genannten Kriterien einer Typologisierung aber auch sein mögen, so haben wir es doch nur mit Gruppen von Menschen, nicht von Persönlichkeiten, zu tun, denn die Persönlichkeit ist, wie bereits bemerkt, bedeutend reicher. Die breit angelegte Untersuchung der Persönlichkeit nach unserer Methode eröffnet Möglichkeiten für eine zutreffendere Typologisierung. Eine Zwischenform stellt die Typologisierung nach Arten und Typen des Handelns der Persönlichkeit dar. Wir kennen mehrere solche Klassifikationen. Holland nennt sechs typische Eigenschaften von Menschen. Sie seien 1. realistisch; 2. intellektuell; 3. sozial; 4. normal; 5. energisch; 6. künstlerisch. Jeder Typ zeichnet sich durch gewisse Besonderheiten bezüglich Verstand, Charakter und Temperament aus. Der Wert dieser Typolog'e liegt darin, daß sie berufliche Fähigkeiten einbezieht, die von den Menschen der verschiedenen Typen am besten erworben werden können. Aber auch hier sind einige kritische Bemerkungen angebracht, weil diese Typologisierung, die übrigens in den USA die weiteste Verbreitung gefunden hat, sich nicht auf die eingehende Untersuchung der Persönlichkeit gründet. Sie hilft allenfalls den Schulabgängern, ihren Platz in der Gesellschaft zu finden und zu erkennen, welchen Tätigkeitsarten ein Verhaltenstyp entspricht. Wenn es daneben auch andere Bestrebungen gibt, so jene, festzulegen, worauf die Aufmerksamkeit zu lenken sei, um in dem gewählten Tätigkeitsbereich erfolgreich zu sein, auch wenn die subjektiven Voraussetzungen dazu nicht die günstigsten sind. 128
Zur fundierten Ausarbeitung einer Persönlichkeitstypologie gehört auch die vergleichende Beobachtung der Menschen nach bereits vorliegenden Methoden. Es handelt sich vor allem darum, die Merkmale, die den verschiedenen Persönlichkeitstypen zukommen, besser zu erfassen und zugleich, soweit nötig, das gesamte System der Persönlichkeitstypologie zu vertiefen und weiterzuentwickeln. Unsere Methodik erlaubt nicht nur, den einer bestimmten Gruppe angehörenden Menschen genauer zu charakterisieren, sondern auch, die Entwicklung einzelner Persönlichkeitstypen von der Jugend bis ins Alter sowie ihre mögliche Verhaltensweise in bestimmten Grenzsituationen zu verfolgen. Besonders wichtig sind solche Untersuchungen im Hinblick auf die Jugend. In letzter Zeit ist in der Presse häufig von Berufswahl die Rede, von der Wahl der Ausbildungsstätte, von den diesbezüglichen Fehlern der jungen Menschen. Es wurde eine Diskussion darüber eröffnet, ob man den gewählten Beruf an den Nagel hängen und, der bewußt gewordenen Neigung folgend, einen anderen ergreifen solle oder ob man in dem falsch gewählten Beruf nach Wegen zur Entfaltung seiner Persönlichkeit, zur Entwicklung von Schöpfertum suchen solle. Was zu diesem Thema geäußert wurde, ist sicherlich gut und richtig; aber wäre es nicht vernünftiger, die in bezug auf die Typologisierung gesammelten Erfahrungen zu verallgemeinern, den Pädagogen Methoden zur Persönlichkeitsforschung — mögen sie auch heute noch unvollkommen sein — an die Hand zu geben und diese Methoden in engem Zusammenhang mit der weiteren Untersuchung der Anforderungen, welche die einzelnen Tätigkeiten stellen, zu praktizieren? Dieses Vorgehen könnte Fehlentscheidungen bei der Berufswahl entgegenwirken und deutlich machen, welche beruflichen Qualitäten und Eigenschaften die Jugend sich aneignen muß. Es werden beträchtliche Mittel für die Ausbildung und Umschulung der Kader bereitgestellt. Wenn nur ein kleiner Teil dieser Mittel für die Ausarbeitung einer Persönlichkeitstypologie in Verbindung mit der Berufswahl zur Verfügung gestellt würde, wäre es möglich, in drei bis fünf Jahren das schwerwiegende Problem der Wahl des Lebensweges im wesentlichen zu regeln. Gleichzeitig ließe sich die Auswahl der Menschen für eine bestimmte Tätigkeit verbessern, würde eine höhere Arbeitseffektivität erreicht, eine höhere Befriedigung in der Arbeit, und das Interesse für die Arbeit würde steigen. Die schöpferischen Momente der Tätigkeit könnten sich entfalten, und die Lebensbedingungen einer großen Anzahl von Menschen ließen sich günstiger gestalten.
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Mayer
M. I. PETBOSJAN
Zur Theorie der Persönlichkeit im Sozialismus
Die Frage nach der Persönlichkeit in der sozialistischen Gesellschaft ist von den neuen sozialen Beziehungen und Verhältnissen nicht zu trennen. Sie kann nicht abstrakt behandelt werden. Es reicht nicht aus, diese Beziehungen und Verhältnisse lediglich anzuerkennen. Vielmehr sind sie als ständiger dialektischer Prozeß zu analysieren, der durch das jeweilige Niveau der sozialistischen Entwicklung bedingt ist. Wird die Natur der sozialistischen Gesellschaft, ihre Dialektik, ignoriert, so ergeben sich theoretisch fehlerhafte, unwahre Thesen und Folgerungen, insbesondere ein mechanistisches Ubertragen von Begriffen und Merkmalen der bürgerlichen Gesellschaft auf den Sozialismus, abstrakte Auffassungen von der Persönlichkeit, welche die Realität in ihrer ganzen Kompliziertheit nnd Widersprüchlichkeit außer acht lassen. In der Sicherung wirklichen Wohlstandes und der freien, allseitigen Entwicklung für alle Mitglieder der Gesellschaft sahen die Begründer des wissenschaftlichen Kommunismus einen gesetzmäßig fortschreitenden Prozeß. Lenin stützte sich auf die Gesetzmäßigkeit der gesellschaftlichen Entwicklung und das Niveau der sozialistischen Verhältnisse, als er schrieb, daß „erst mit dem Sozialismus die rasche, wirkliche, wahrhafte Vorwärtsbewegung der Massen auf allen Gebieten des öffentlichen und persönlichen Lebens, zunächst unter Teilnahme der Mehrheit der Bevölkerung und später der gesamten Bevölkerung, einsetzen wird" 1 . Darin ist zugleich die Warnung davor enthalten, die Probleme der Persönlichkeit subjektivistisch aufzufassen und lösen zu wollen. Lenin hebt besonders den Begriff der Mehrheit bzw. der Gesamtheit der Bevölkerung hervor, wenn er betont, daß sich diese wirkliche Massenbewegung anfangs „unter Teilnahme der Mehrheit der Bevölkerung und später der gesamten Bevölkerung" vollzieht. Das Leben zeigt, daß der wirkliche Wohlstand und die allseitige Entwicklung aller Mitglieder der Gesellschaft ein Prozeß ist, der vor allem durch die Schaffung der materiell-technischen Basis des Kommunismus, durch die Herausbildung sozialistischer Beziehungen, die zu kommunil W. I. Lenin,
S t a a t und R e v o l u t i o n , i n : Werke, B d . 25, Berlin 1960, S . 486
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stischen werden, und durch die Entwicklung der sozialistischen Demokratie bestimmt ist. Es wäre naiv, zu meinen, daß das unkompliziert und ohne Widersprüche vor sich geht. Und doch haben nicht wenige so gedacht und geschrieben. Wir erinnern nur deshalb daran, weil sich daraus eine unrichtige Auffassung von der Dialektik der Wechselbeziehungen zwischen der sozialistischen Gesellschaft und der Persönlichkeit ergeben hat. Bei uns sind Bücher, Broschüren, Artikel erschienen, in denen die Einheit von Persönlichkeit und Gesellschaft, von individuellen und gesellschaftlichen Interessen als widerspruchsfrei und konfliktlos dargestellt wurde. Andere Autoren vertraten den Standpunkt, daß diese Einheit mit dem Übergang zum Kommunismus zur völligen Verschmelzung von persönlichen und gesellschaftlichen Interessen führe. Gegenwärtig zeigt sich immer klarer, daß die Übereinstimmung von Persönlichkeit und Gesellschaft, von individuellen und gesellschaftlichen Interessen im Sozialismus nichtantagonistische Widersprüche einschließt, ja daß in einzelnen Fällen auch antagonistische möglich sind. Solche Widersprüche sind zweifellos nicht zufällig, sondern durch das Entwicklungsniveau der Produktivkräfte, der gesellschaftlichen Verhältnisse und des Bewußtseins bedingt, das in der ersten Phase der kommunistischen Gesellschaft erreicht wird. Die Lage des einzelnen Individuums im Sozialismus, die Möglichkeit, seine Fähigkeiten frei von sozialen Antagonismen zu entwickeln, sind nicht durch seine Klassenzugehörigkeit, seine Nationalität oder Rasse geprägt, sondern ausschließlich durch seine Arbeit und seine persönlichen Qualitäten. Das ist ein grandioses, wahrhaft humanistisches Ergebnis der Geschichte. Dennoch gibt es in der ersten Phase des Sozialismus noch Klassenunterschiede, wesentliche Unterschiede zwischen geistiger und körperlicher Arbeit, zwischen Stadt und Land, sind die sozialen Lebensbedingungen noch verschieden, und es existiert noch ökonomische Ungleichheit. Das wirkt sich auf die Entwicklungsbedingungen verschiedener Bevölkerungsgruppen negativ aus und erzeugt bestimmte Widersprüche zwischen den individuellen und den gesellschaftlichen Interessen. Die Objektivität der wissenschaftlichen Forschung zum Persönlichkeitsproblem im Sozialismus hängt in vieler Hinsicht nicht nur davon ab, daß die Errungenschaften der vergangenen fünfzig Jahre tiefgründig analysiert werden, sondern auch davon, daß der Charakter, die Bedeutung und die Dynamik der bestehenden und sich entwickelnden Widersprüche adäquat erfaßt werden, daß Wege zu ihrer Lösung gefunden und die Bedingungen zur besseren Nutzung der Vorzüge des Sozialismus untersucht werden. Die Ignorierung der Widersprüche zwischen persönlichen und gesellschaftlichen Interessen, und mehr noch ihre Verabsolutierung, f ü h r t zu 1?4
falschen Schlußfolgerungen und Behauptungen. Prüfen wir das am Einfluß des modernen wissenschaftlich-technischen Fortschritts auf die Entwicklung der Persönlichkeit. Die sozialen Folgen solchen Fortschritts haben das Problem des Humanismus erweitert, ihm besondere Schärfe verliehen und neue Fragen aufgeworfen. Viele davon sind auch im Sozialismus von großer Bedeutung. Die Fragen nach Charakter und Inhalt der Arbeit, nach ihren physiologischen und psychischen Aspekten, nach der Arbeitszeit, dem Grad der Beanspruchung, nach Inhalt und Tendenz der geistigen Kultur, nach dem Einfluß demographischer Prozesse, die sich aus der Standortverteilung der Produktivkräfte ergeben, auf das Leben, die Familie usw. müssen neu gestellt werden. Eine ganze Reihe wichtiger Probleme ist leider noch ungenügend erforscht. Besondere Beachtung verdienen nach unserer Ansicht jene Fragen, welche die Berufstätigkeit der Frauen betreffen: das beruflich-technische Niveau der Arbeiterinnen, die Bedingungen ihrer geistigen Entwicklung und viele andere. Nicht selten wird der philosophisch-soziologische Aspekt des wissenschaftlich-technischen Fortschritts auf die Kritik am technokratischen Szientismus beschränkt, auf die von bürgerlichen Ideologen viel propagierte antihumanistische Konzeption, nach welcher der Antagonismus zwischen Kapitalismus und Sozialismus im Ergebnis des wissenschaftlichtechnischen Fortschritts verschwindet und sich eine einheitliche „Industriegesellschaft" entwickelt. In diesem Zusammenhang möchte ich auf eine Frage eingehen, die der jugoslawische Philosoph Rudi Supek in seinem Artikel „Der technokratische Szientismus und der sozialistische Humanismus" in der Zeitschrift „Praxis" aufgeworfen hat. „Ein optimistisches und apologetisches Verhältnis zur Technik", schreibt Supek, „ist in den sozialistischen Ländern zum Bestandteil des offiziellen ,Diamat' geworden, was verständlich wird, wenn man die Anstrengungen der sozialistischen Länder bedenkt, die hochentwickelten kapitalistischen Länder in technischer und ökonomischer Hinsicht einzuholen . . . Dabei taucht die Frage auf", fügt Supek hinzu, „ob die sozialistischen Autoren nicht von der humanistischen Problematik absehen, die diese Entwicklung mit sich bringt, unabhängig davon, ob es sich um sozialistische oder kapitalistische Länder handelt." 2 Doch das Verhältnis zum technischen Fortschritt kann in den kapitalistischen Ländern nicht das gleiche sein wie in den sozialistischen. Im ersten Fall ist das Problem des Menschen und des technischen Fortschritts durch soziale Antagonismen vermittelt, im zweiten nicht. Diesen prinzipiellen Unter2
R. Supek, Der technokratische Szientismus und der sozialistische nismus, i n : P r a x i s , H e f t 2/1967 (Rückübersetzung aus d. Russ.)
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schied, der in der sozialen Natur der Gesellschaft begründet ist, darf man nicht übersehen; denn er prägt die Ziele des wissenschaftlich-technischen Fortschritts, den Charakter der zwischen diesem und den Werktätigen auftretenden Widersprüche und die Möglichkeiten ihrer Lösung. Man kann die Rolle des wissenschaftlich-technischen Fortschritts für die Entwicklung der Persönlichkeit also nicht unabhängig davon klären, ob es sich um das kapitalistische oder das sozialistische System handelt. Hier besteht ein direkter Zusammenhang. Daher h a t die optimistische Haltung, welche die Autoren sozialistischer Länder zum technischen Fortschritt einnehmen, durchaus nichts mit einem Verkennen der humanistischen Problematik zu tun. Damit sind nicht oberflächliche, gedankenlos apologetische Auffassungen über den technischen Fortschritt gemeint, welche die sich entwickelnden Widersprüche zwischen diesem und den unmittelbaren Interessen der Persönlichkeit oder bestimmten Menschengruppen ignorieren. Solche Widersprüche haben im Sozialismus keinen antagonistischen Charakter. Die Forschung h a t die Aufgabe, sie gründlich und umfassend zu untersuchen und Möglichkeiten ihrer Lösung zu formulieren. Die Abhängigkeit des wissenschaftlich-technischen Fortschritts vom sozialen Wesen der Gesellschaft bedeutet nicht, daß im Sozialismus keinerlei Widersprüche in der Volkswirtschaft auftreten. Solche Widersprüche stehen insbesondere mit körperlichen und psychischen Momenten, mit der teilweisen Befreiung der Arbeitskraft in Beziehung. Dabei entsteht eine Vielzahl anderer komplizierter Fragen. Die sich aus dem wissenschaftlich-technischen Fortschritt ergebende humanistische Problematik ist sehr umfangreich. Sie fordert die Philosophen, Soziologen, Physiologen, Psychologen und Wissenschaftler anderer Bereiche immer stärker, sie verlangt, daß die Wissenschaftler aus den sozialistischen Ländern zu verschiedensten Aspekten dieser Problematik gemeinsame komplexe Forschungen unternehmen. Vieles ist noch zu erarbeiten. Doch diese Tatsache gibt keinem das Recht, zu behaupten, die sozialistischen Wissenschaftler ignorierten solche humanistische Problematik. Die Widersprüche zwischen individuellen und gesellschaftlichen Interessen, die der Sozialismus erzeugt, stehen in der Regel mit Faktoren wie dem wesentlichen Unterschied zwischen körperlicher und geistiger Arbeit, zwischen Stadt und Land, mit Fragen der Arbeitsteilung, mit falsch verstandenen nationalen Interessen in Zusammenhang. Zwischen Persönlichkeit und Gesellschaft können Widersprüche auftreten, wenn die Menschen auf Erscheinungen wie den Bürokratismus stoßen. Solche Widersprüche rühren nicht in jedem Falle von objektiven Entwicklungsgesetzmäßigkeiten des Sozialismus her. Sie werden auch durch die Folgen falschen Handelns verursacht, durch Fehler in der Lenkung sozialer Prozesse, in der Organisation und Leitung von Industrie und Landwirt-
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Schaft, bei der Standortverteilung der Produktivkräfte, der Arbeitsorganisation, der Leitung des geistigen Lebens der Gesellschaft usw. Um das Problem des Menschen im Sozialismus schöpferisch zu behandeln, bedarf es einer umfassenden Analyse, in der die Kompliziertheit und Widersprüchlichkeit der gesellschaftlichen Prozesse berücksichtigt wird. In diesem Zusammenhang sei auf zwei Extreme aufmerksam gemacht: Die einen sprachen bereits vor dreißig Jahren, der sozialen Realität ungeachtet, von der vollen Freiheit und Entfaltung der Persönlichkeit in der sozialistischen Gesellschaft. Die anderen dagegen sprachen und sprechen noch heute von der totalen Entfremdung des Menschen in der gegenwärtigen Entwicklungsetappe des Sozialismus und behandeln das Problem des Menschen im wesentlichen unter diesem engen Blickwinkel. Da sie die Entfremdung mit der Existenz des Staates in Verbindung bringen, sehen sie in ihr das zentrale Problem des Marxismus und des Sozialismus. Auf diesem Standpunkt beharrt eine Reihe von Autoren aus sozialistischen Ländern, insbesondere G. Petrovic, R. Supek und M. Markovic u. a. in Arbeiten, die in dem in New York erschienenen und von E. Fromm redigierten Sammelband „Socialist Humanism" veröffentlicht wurden. 3 Ich bin ebensowenig wie andere sowjetische Philosophen der Auffassung, daß die Entfremdung des Menschen mit der Vergesellschaftung der Produktionsmittel und dem Sieg des Sozialismus automatisch aufgehoben sei. Die volle Überwindung ihrer verschiedenen Formen ist, was den sozialen Aspekt des Problems angeht, als gesetzmäßiger Prozeß aufzufassen, der mit der allmählichen Entwicklung des Sozialismus in Beziehung steht. In der Übergangsperiode und in der niederen Phase des Kommunismus treten Reste von „Entfremdung'' des menschlichen Wesens in der ökonomischen, politischen und geistigen Sphäre des gesellschaftlichen Lebens in Erscheinung. Sie sind durch den gegenwärtigen Stand der gesellschaftlichen Arbeitsteilung und die schon erwähnten Widersprüche unserer Gesellschaft bedingt. Offenbar trifft es nicht immer zu, daß die Entfremdung aus Überbleibseln der kapitalistischen Vergangenheit herrührt. Entfremdung des menschlichen Wesens kann auch in anderem Zusammenhang auftreten. Denn wenn dieses Problem in philosophischer Sicht die Dialektik von Wesen und Existenz, die Möglichkeit zu schöpferischer menschlicher Lebenstätigkeit und ihre Realität widerspiegelt, so ist die Entfremdung im Sozialismus in ökonomischer und politischer Beziehung ebenso wie in moralischer mit der Dialektik von individuellen und gesellschaftlichen Interessen verknüpft. Unter den konkret-historischen Bedingungen des Personenkults und der Verletzung der sozialistischen Demokratie, wie sie in China heute ab3
Socialist Humanism, hrsg. von E. Fromm, New York 1965
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schreckende Formen angenommen haben, können Entfremdungserscheinungen auch im Sozialismus auftreten. Doch ist diese Möglichkeit nicht absolut zu setzen, nicht als Gesetz, das sich automatisch aus der Existenz des sozialistischen Staates ergibt. Nicht daraus kann in der sozialistischen Gesellschaft Entfremdung, besonders in sozialpolitischer und ideeller Form, entstehen, sondern allein aus dem Verstoß gegen die demokratischen Grundlagen des Staates, gegen die Leninschen Prinzipien der sozialistischen Demokratie in Gesellschaft und Partei. Bei jenen Philosophen und Soziologen, die aus der Existenz des sozialistischen Staates mechanisch auf Entfremdung schließen, findet dieses wesentliche, prinzipielle Moment keine Berücksichtigung. Bekanntlich h a t Lenin die umfassende Demokratisierung der Gesellschaft und die Überwindung jeglichen Bürokratismus als entscheidendes Instrument zur Formung der sozialistischen Persönlichkeit angesehen. Doch ist der Bürokratismus keine unveränderliche Größe, keine ein f ü r allemal gegebene, den Sozialismus charakterisierende Konstante. Er ist in gewisser Weise an konkret-historische Entwicklungsbedingungen des Sozialismus gebunden, an bestehende Traditionen, an das Niveau der gesellschaftlichen Arbeitsteilung, der gesellschaftlichen Beziehungen, der sozialistischen Demokratie usw. Dieser Entwicklungsstand aber ist sowohl in der Sowjetunion als auch in den anderen sozialistischen Ländern auf den verschiedenen Etappen der sozialistischen Gesellschaft unterschiedlich. Das Problem des Menschen ist kein abstrakt-scholastisches. Es berührt nicht nur philosophisch-ethische Fragen, sondern auch einen ganzen Komplex sozialökonomischer, politischer, rechtlicher, sittlicher und vieler anderer Probleme, die konkret-historisch zu analysieren sind. Wenn der Sozialismus auch ohne Zweifel einheitlich ist und allgemeine Züge besitzt, so weist er doch hinsichtlich der Bedingungen und des Niveaus seiner Entwicklung von Land zu Land und darüber hinaus von Etappe zu Etappe innerhalb ein und desselben Landes Unterschiede auf. All dies zwingt zu konkreter und gründlicher Analyse. Den Begriff „ E n t fremdung" mechanisch auf die sozialistische Gesellschaft zu übertragen, bringt der wirklich konkreten Untersuchung negativer Erscheinungen im Sozialismus, die seiner Natur fremd sind, keinen Nutzen. Historische Analogien sind relativ, und lediglich nach der Analogie zu urteilen zeitigt grobe Irrtümer. Es ist unsere Pflicht, Mängel und Widersprüche aufzudecken, die sich aus der Verletzung sozialistischer Prinzipien ergeben, ohne uns dabei eng an die Kategorie „Entfremdung"zu binden. Wenn wir fiktive Widersprüche verwerfen, so ist es dennoch unsere Aufgabe, bei Untersuchungen der allseitigen Entwicklung des Menschen die unter bestimmten konkret-historischen Bedingungen auftretenden realen Widersprüche aufzudecken, Widersprüche, die mit dem Entwicklungs-
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niveau der Produktivkräfte, mit den spezifischen Folgen des technischen Fortschritts im Sozialismus ebenso wie mit verschiedenen Seiten der sich entwickelnden gesellschaftlichen Beziehungen in Zusammenhang stehen. Wir sind verpflichtet, die Ursachen solcher Widersprüche zu analysieren und ihre Lösung zu fördern, grundsätzliche Hemmnisse und unbewältigte Probleme aufzuspüren und Mittel und Wege zur besseren und effektiveren Nutzung der Möglichkeiten unserer Gesellschaft ausfindig zumachen. Ich halte die Kategorie „Entfremdung" für eine der wichtigsten Kategorien des historischen Materialismus, aber es ist m. E. falsch, das Problem des Menschen im Sozialismus auf die Frage der Entfremdung zu reduzieren, die Analyse der sich entwickelnden Verhältnisse im Grunde auf sie zu beschränken und das komplizierte, vielschichtige Problem des Menschen in den Rahmen dieses — wenn auch sehr weitgefaßten — Begriffs zu pressen. Lefebvre, Marcuse und anderen folgend, haben einige Wissenschaftler des Auslands den Begriff „Entfremdung" zum zentralen Problem des Marxismus und des Sozialismus erhoben. Eine solche Fragestellung ist abstrakt; sie vermag die Ideale der marxistischen Philosophie und des Sozialismus nur unvollständig auszudrücken. Der Begriff des Zentralen im Problem des Menschen verbindet sich nicht nur mit der Überwindung bestimmter Widersprüche zwischen Persönlichkeit und Gesellschaft, sondern auch mit konstruktiven, positiven Aufgaben. Marx hat das in der „Heiligen Familie" hervorragend zum Ausdruck gebracht, als er die Freiheit des Menschen definierte und davon sprach, daß der Mensch frei ist „nicht durch die negative Kraft, dies oder jenes zu meiden, sondern durch die positive Macht, seine wahre Individualität geltend zu machen" 4 . Vom kommunistischen Ideal her gesehen, bildet nicht das Entfremdungsproblem den Mittelpunkt der marxistischen Philosophie, des marxistischen Humanismus und daher des Sozialismus, sondern die Totalität, die Ganzheitlichkeit (celostnost') des Menschen. Diese Kategorie steht in Beziehung zu der Aufgabe, „die menschlichen Kräfte als Selbstzweck allseitig zu entwickeln". Marx verwendete sie in unterschiedlicher Weise, unter den verschiedensten Aspekten. Sie widerspiegelt das kommunistische Ideal eines freien, allseitig entwickelten Menschen und bedarf unbedingt der gesonderten theoretischen Ausarbeitung. Die Erforschung des Persönlichkeitsproblems im Soziaiismus darf sich nicht auf eine allgemeinphilosophische Konzeption, auf allgemeine Behauptungen über allseitige Entwicklung beschränken, sie kann nicht bei allgemeinen theoretischen Leitsätzen über die Persönlichkeit als Produzent und Konsument materieller Güter, bei ihrer allgemeinen geistigen Ent< F. Engels!K.
Marx, Die heilige Familie, i n : K. Marx/F.
Engels Werke, B d . 2, S. 138
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wicklung stehenbleiben. Ich gehe kaum fehl in der Auffassung, daß die Fehler, die bei der philosophischen Erörterung etwa der Entwicklungsgesetzmäßigkeiten des gesellschaftlichen Bewußtseins, insbesondere des Zurückbleibens des Bewußtseins mancher sowjetischer Bürger hinter dem sozialen Sein, begangen wurden, auf das Außerachtlassen der realen Prozesse, der aktuellen Schwierigkeiten und Widersprüche zurückzuführen sind. So wurden bekanntlich asoziale Verhaltensweisen unter der sowjetischen Jugend in der Vergangenheit sehr häufig allein aus allgemeinen Ursachen erklärt: aus Überbleibseln des Kapitalismus im Bewußtsein der Menschen und aus Schwächen in der politischen Erziehungsarbeit. In Wirklichkeit lag eine der ernstesten Ursachen solcher Erscheinungen, insbesondere in mittleren und Kleinstädten, in der ungeregelten Arbeitstätigkeit einiger Jugendlicher, die auf Fehler in der Standortverteilung der Produktion zurückging (der Aufbau hochenergetischer, wenig arbeitsextensiver ökonomischer Objekte in einigen Industriezentren ohne Berücksichtigung der realen Arbeitsressourcen und ihrer Zusammensetzung, die ungenügende wirtschaftliche Entwicklung der kleinen und mittleren Städte usw.). Große Bedeutung dafür h a t der Beschluß des ZK der KPdSU und des Ministerrates der UdSSR über „Maßnahmen zur Erweiterung der Ausbildung und zur Beschaffung von Arbeitsplätzen in der Volkswirtschaft für jene Jugendlichen, die im J a h r e 1966 die allgemeinbildende Schule beendet haben". Man könnte einwenden: Das sind aber doch ökonomische Fragen! Das trifft zweifellos zu. Aber die Problematik ist eben komplex. Nicht von ungefähr h a t Marx sie in den „Ökonomisch-philosophischen Manuskripten aus dem J a h r e 1844" und einem in so klassischem Sinne ökonomischen Werk wie dem „Kapital" detailliert und umfassend analysiert. Bei der Untersuchung dessen, wie sich die Persönlichkeit in der gegenwärtigen Etappe formt und bildet, haben wir nicht immer die Kompliziertheit ihrer geistigen Entwicklung, die besonderen Schwierigkeiten und Widersprüche dieser Sphäre berücksichtigt. So läßt sich nicht übersehen, welchen Einfluß plötzlich auftretende soziale Prozesse, politische Umschwünge und Veränderungen auf das Bewußtsein der Jugend ausüben, deren Lebenserfahrung noch gering ist. Wenn man bedenkt, daß auch die Alteren solche Ereignisse nicht immer sofort und vollständig begreifen, so sind die Reaktionen bestimmter Schichten der Jugend auf gewisse Erscheinungen des Lebens nicht verwunderlich. Nicht immer werden in unserer Literatur auch jene Widersprüche aufgegriffen, die in Verbindung stehen mit den wachsenden geistigen Bedürfnissen, mit der politischen Kultur der Menschen, der Zunahme ihres Selbstbewußtseins und ihrer Aktivität als Staatsbürger und andererseits 140
mit der mangelhaften Erklärung sozialer Prozesse in der Presse und in der mündlichen Propaganda, mit der Entstellung der lebendigen Wahrheit oder mit primitiven Interpretationen komplizierter sozialer Vorgänge, mit der Ausbildung der ästhetischen Neigungen und der Minderwertigkeit mancher literarischer und künstlerischer Werke. Wie schon bemerkt, finden wir auch Widersprüche, die mit nationalen Beziehungen zusammenhängen. Der sozialistische Internationalismus ist aus dem Bild der Persönlichkeit nicht wegzudenken. Darin zeigen sich die großen Erfolge der Politik unserer Partei: der ökonomischen und kulturellen Blüte der Sowjetrepubliken, der Freundschaft der Sowjetvölker und ihrer immer engeren und vielfältigeren gegenseitigen Annäherung im Verlauf der fünfzig Jahre seit Bestehen der Sowjetmacht. Und doch werden nationalistische Bestrebungen zuwenig beachtet, studieren wir nicht ihre Ursachen, ja bemühen uns nicht selten, sie zu übersehen, und bestreiten verschiedene Äußerungen von Nationalismus, die aus dem Unverständnis für die Wechselbeziehungen der nationalen Interessen und der Interessen der gesamten Union herrühren. Wir müssen diese Dinge zur Kenntnis nehmen, um auf die zukünftige Entwicklung des sozialistischen Internationalismus im Bewußtsein und Handeln der Sowjetmenschen Einfluß zu nehmen. Wir treten jetzt in einen neuen Abschnitt der Entwicklung unserer sozialistischen Gesellschaft ein. Die Direktiven des X X I I I . Parteitages eröffnen große Perspektiven für die Entwicklung der Volkswirtschaft, für den beschleunigten wissenschaftlich-technischen Fortschritt, für den weiteren Aufschwung von Industrie und Landwirtschaft, von Wissenschaft und Kultur, für die Erhöhung des materiellen Wohlstands der Menschen. Auf dieser Grundlage werden sich sozialistische Beziehungen entwickeln, wird sich die sozialistische Demokratie entfalten und vervollständigen, werden sich höhere und günstigere Bedingungen für die Entwicklung der Persönlichkeit ergeben. Damit werden zweifellos auch neue Fragen und Aspekte für die Theorie der Persönlichkeit entstehen. In der Mehrzahl der in der Sowjetunion veröffentlichten wissenschaftlichtheoretischen Arbeiten wird das Persönlichkeitsproblem hauptsächlich unter dem Gesichtspunkt der allgemeinen Gesetzmäßigkeiten des Sozialismus dargelegt. Doch ist die Beziehung von Persönlichkeit und Gesellschaft auch bei engstem Zusammenhang beider durch verschiedene gesellschaftliche Mikrostrukturen vermittelt, durch Kollektive verschiedenen Charakters (gesellschaftlich-politische, wissenschaftlich-kulturelle), durch Organisationen und Vereinigungen zur schöpferischen und sportlichen Betätigung, durch die Familie, die Schule und Gemeinschaften anderer Art. Dieses Merkmal der Persönlichkeitsentwicklung muß in unserer
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Literatur in vollem Maße berücksichtigt werden. Bisher liegen jedoch keinerlei ernst zu nehmende philosophisch-soziologische Forschungen vor, die dieses wichtige Moment des Verhältnisses von Persönlichkeit und Gesellschaft aufgegriffen hätten. Die Aufmerksamkeit der Wissenschaftler war in den letzten Jahren vorwiegend auf das Arbeitskollektiv gerichtet. Mit der Beziehung von Persönlichkeit und Gemeinschaft ist ein ganzer Komplex von Fragen verbunden, die für die gegenwärtige ideologische Auseinandersetzung große Bedeutung haben; dazu gehört auch das Problem der Freiheit der Persönlichkeit. 5 Bei bürgerlichen Ideologen findet die Beziehung zwischen den gesellschaftlichen Mikrostrukturen und der Persönlichkeit in letzter Zeit immer mehr Beachtung. Das zeigen zum Beispiel die Kongresse der Anhänger des „sozialen Katholizismus", französischer Kirchenfunktionäre, an denen auch katholische Laienkreise beteiligt sind. So erörterte der Kongreß schon im Jahre 1960 das Thema „Die Sozialisation und die menschliche Persönlichkeit", die vielfältigen und intensiven Beziehungen des einzelnen zu anderen Menschen, zu gesellschaftlichen Gruppen und der Gesellschaft als Ganzes, die sich im Prozeß der ökonomischen, sozialpolitischen und kulturellen Entwicklung erweitern. Die katholischen Theoretiker vertreten die Ansicht, daß der Mensch zum Mittelpunkt der sozialen Verhältnisse werde und daß die Sozialisation zur Milderung der Klassenwidersprüche beitrage. Sie haben sich der Rolle der „Bindeglieder" zwischen Staat und Persönlichkeit zugewandt: den Organen der lokalen Selbstverwaltung, den Berufsverbänden, ökonomischen und kulturellen Organisationen usw., in denen sie ein wesentliches Element der auf christliche Ideen gegründeten bürgerlichen Demokratie sehen. Wie zu erwarten, stellt man diese Demokratie dem Sozialismus entgegen, der die Persönlichkeit angeblich unterdrückt und depersonalisiert. Die Rolle der gesellschaftlichen Mikrostrukturen, die Gefahr der Entpersönlichung, die Autonomie der Persönlichkeit standen auch in den Sektionen des VI. Internationalen Soziologenkongresses zur Debatte. Wir zitieren häufig Marx' und Engels' Bemerkung: „Erst in der Gemeinschaft [mit Andern hat jedes] Individuum die Mittel, seine Anlagen nach allen Seiten hin auszubilden; erst in der Gemeinschaft wird also die persönliche Freiheit möglich." 6 O f t aber gehen solche Gedanken nicht über allgemeine Thesen hinaus. Die Klassiker haben den Gemeinschaftsbegriff im weitesten Sinne verwendet. Das wird daraus ersichtlich, wie sie 5 6
Vgl. den Beitrag v o n M. T. Jovcuk K. Marx / F. Engels, Die deutsche Ideologie, in: Werke, Bd. 3, S. 74
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fortfahren: „In den bisherigen Surrogaten der Gemeinschaft, im Staat usw. existierte die persönliche Freiheit nur für die in den Verhältnissen der herrschenden Klasse entwickelten Individuen und nur, insofern sie Individuen dieser Klasse waren. Die scheinbare Gemeinschaft, zu der sich bisher die Individuen vereinigten, verselbständigte sich stets ihnen gegenüber..."7 Sie konfrontieren die illusorische Gemeinschaft mit der wirklichen, in der „die Individuen in und durch ihre Assoziation zugleich ihre Freiheit" erlangen. 8 In diesem Fall begreifen sie in den Begriff der Gemeinschaft die Gesellschaft und den Staat ein und sprechen gerade in diesem Sinne von der Möglichkeit persönlicher Freiheit. Offenkundig muß man also zwischen großen und kleinen Kollektiven unterscheiden. „Gemeinschaft" ist ein philosophischer Begriff, der verschiedenartige Vereinigungen von Menschen bezeichnet, die sich nach Umfang, Profil und Entwicklungsniveau unterscheiden und sich nicht nur auf bestimmte sozialökonomische und politische Zusammenhänge gründen, sondern auch auf gemeinsame Arbeit und verschiedenste gemeinsame Interessen und Ziele. Wir haben noch zuwenig untersucht, welche Bedeutung das Kollektiv für den zur Entwicklung der Persönlichkeit unerläßlichen Reichtum an zwischenmenschlichen Beziehungen besitzt, für die Mannigfaltigkeit der sozialen Zusammenhänge und für die darauf beruhende Vielseitigkeit der persönlichen Interessen. Eben dadurch aber wird die Herausbildung des Sozialen (social'nost') im Individuum als entscheidender Faktor im historischen Werden der Persönlichkeit bestimmt. Die theoretische Analyse der Rolle des Kollektivs erhält in der gegenwärtigen Etappe des kommunistischen Aufbaus auch deshalb besonderes Gewicht, weil das Verhältnis von persönlichen und gesellschaftlichen Interessen immer stärker durch die Interessen des Arbeitskollektivs vermittelt wird. Diese Beziehung muß gründlich wissenschaftlich analysiert werden. Es ist bedauerlich, daß wir dem Zusammenhang zwischen der von der Gemeinschaft repräsentierten Möglichkeit zu allseitiger Entwicklung des einzelnen und dessen persönlicher Freiheit bisher so ungenügend, ja im Grunde fast überhaupt nicht nachgegangen sind. Von theoretischem Interesse ist die marxistische Analyse des Verhältnisses von Persönlichkeit und Gemeinschaft auch in bezug auf die Auseinandersetzung mit der bürgerlichen Ideologie. Es gehört zur herkömmlichen propagandistischen Manier des Antikommunismus, Gemeinschaft und Persönlichkeit einander entgegenzusetzen und verleumderische Anschuldigungen über die Unterdrückung des einzelnen durch die Gemeinschaft 7
Ebenda
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zu erheben. Solche Behauptungen darf man nicht mit Stillschweigen übergehen, um so weniger, als sie nicht selten von Vertretern der progressiven bürgerlichen Intelligenz geäußert werden, die den sozialen Charakter der Gemeinschaft im Sozialismus, den neuen Beziehungstyp von Kollektiv und Persönlichkeit und die Rolle der Gemeinschaft für die Entwicklung der Persönlichkeit nicht voll erfaßt haben. Aus dem Gesagten geht hervor, wie wichtig wissenschaftliche Forschungen über die Beziehung von Persönlichkeit und Gemeinschaft sind, über die Funktion des Kollektivs für die Ausbildung und Befriedigung vielfältiger individueller Interessen und Bedürfnisse, für die Formung der Persönlichkeit und ihre allseitige Entwicklung, Untersuchungen zum Verhältnis von Arbeitskollektiv und Persönlichkeit hinsichtlich der Beziehungen von gesellschaftlichen und individuellen Interessen, zum Zusammenhang von Kollektivität und Individualität usw. Bei der Analyse der verschiedenen Seiten dieses Problems dürfen wir nicht über die Anzeichen von Primitivismus hinwegsehen, die in unserer propagandistischen Literatur über die Rolle der Gemeinschaft auftreten, insbesondere in bezug auf die Wirksamkeit der Brigaden der kommunistischen Arbeit. In der Theorie wie in der Praxis gibt es immer noch Versuche, die Tätigkeit der Menschen pedantisch zu reglementieren, sich grundlos und ungerechtfertigt in ihr persönliches Leben einzumischen und ihnen ohne Rücksicht auf ihre geistigen Eigenheiten, ihre Lebenserfahrung und Neigungen standardisierte Verhaltensnormen aufzuzwingen. Solche Dinge haben nichts mit dem Wesen des Sozialismus und mit der wahren Rolle des Kollektivs gemein. Soll das Problem des Menschen unter den Bedingungen des Sozialismus wissenschaftlich erforscht werden, so verlangt dies die Analyse eines ganzen Komplexes theoretischer Fragen im Hinblick auf die Bestimmung des Kriteriums fortschreitender Entwicklung des Menschen, auf die Bestimmung des Begriffs „kommunistische Persönlichkeit" und deren geistiger Welt, auf die Dialektik von Individuum und Persönlichkeit u.a. Gewöhnlich benutzen wir den Terminus „allseitig und harmonisch entwickelte Persönlichkeit". Doch darin kommt nicht deutlich genug zum Ausdruck, was die kommunistische Persönlichkeit als höchsten historischen Entwicklungstyp des Menschen ausmacht. Der Terminus „allseitige Entwicklung" entstand im Marxismus als Gegensatz dazu, was Marx die Zersplitterung des Menschen nannte, seine Verwandlung in eine „Teilfunktion der gesellschaftlichen Arbeitsteilung", in ein lebendiges, mit Bewußtsein begabtes Anhängsel der Maschine und als Gegensatz zu dem, was die kapitalistische Arbeitsteilung hervorgebracht hat. Im Begriff der allseitigen Entwicklung drückt sich die Idee
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der „Ganzheit" des Menschen im Sinne der Einheit seines physischen und geistigen Werdens aus. Im Programm unserer Partei wird dieser Begriff weitergeführt zu der Vorstellung von einem neuen Menschen, der geistigen Reichtum, moralische Sauberkeit und physische Vollkommenheit harmonisch in sich vereinigt. Aber auch diese Begriffe sind noch sehr allgemein. Sie bedürfen der Analyse, der inhaltlichen Bestimmung, die sich auf die theoretische Verallgemeinerung der prozeßhaften Entwicklung der kommunistischen Persönlichkeit stützt. Der Mensch kann moralisch sauber sein, ohne hohe sittliche Reife zu besitzen. Diese wird durch das Wachsen des menschlichen Selbstbewußtseins, durch den Sinn für Persönlichkeit, durch die Würde und Ehre des Menschen geprägt, die mit der Tendenz des sittlichen Bewußtseins, mit dem Charakter der Ideale und Ziele organisch verknüpft sind. Dabei sei darauf hingewiesen, daß der Begriff „Kriterium des sittlichen Fortschritts" in unserer ethischen Literatur unzulänglich ist. Er läuft auf die Einheit, die Unterordnung der persönlichen Interessen unter die der Gesellschaft hinaus. Die Vereinigung von persönlichen und gesellschaftlichen Interessen, unter Umständen sogar die Unterordnung der persönlichen unter die gesellschaftlichen, zählt ohne Zweifel zu den Grundfragen der Moral, des Kriteriums sittlichen Fortschritts. Aber das Problem erschöpft sich nicht in diesem Grundsätzlichen, wie es gelegentlich scheinen mag. Eine derartige Auffassung entleert und simplifiziert die sittliche Problematik und entstellt das sittliche Ideal des Sozialismus. Die geistigen Kontrahenten des Marxismus-Leninismus berufen sich gerade auf eine solcherart vulgarisierte Problemstellung in unserer Literatur, wenn sie der kommunistischen Moral Asketismus vorwerfen und behaupten, sie ignoriere all das, was die individuelle Welt des Menschen, seine Interessen, sein Glück usw. ausmacht. Was den Begiff „geistiger Reichtum" betrifft, so meint er sowohl ausgeprägten Intellekt wie umfassende Bildung und hohe Kultur, zu der auch die ästhetische gehört. Geistiger Reichtum ist ein wesentliches und notwendiges Merkmal der allseitig entwickelten Persönlichkeit. Für sich genommen aber bringt er nicht das Wesen dieser Persönlichkeit zum Ausdruck, die ohne wissenschaftliche Weltanschauung, ohne kommunistische Ideologie, ohne ein hochentwickeltes Selbstbewußtsein, ohne wahrhaft humanistische sittliche Überzeugungen und Grundsätze nicht denkbar ist. Es geht nicht um eine Summe von Kenntnissen und Fähigkeiten schlechthin, sondern um deren organische Einheit, gewissermaßen eine besondere geistige „Legierung", die sich auf eine hohe soziale Qualität des Menschen in Übereinstimmung mit seinen individuellen Eigenarten und Talenten gründet. Der Begriff „kommunistische Persönlichkeit" muß 10
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auch deren schöpferische Aktivität, ihre revolutionär-verändernde Tätigkeit enthalten. Einige der genannten Bestimmungen finden sich in der Literatur der sozialistischen Länder. So sprechen die DDR-Philosophen Gutzmann und Kallabis vom „freie(n) Mitglied der sozialistischen Gemeinschaft, das in, durch und für die Gemeinschaft seine individuellen Kräfte unaufhörlich und nach allen Seiten hin entwickelt und betätigt, das heißt schöpferisch an der materiellen Produktion sowie am gesamten sozialen, politischen und geistigen Leben der Gesellschaft teilnimmt, es mitgestaltet und dessen Handlungen durch die wachsende Einsicht in die objektiven Entwicklungsgesetze der Natur und Gesellschaft und durch die sozialistische Moral bestimmt werden" 9 . Dennoch ist der präzise wissenschaftliche Terminus „kommunistische Persönlichkeit" an die Definition des Kriteriums des Fortschritts im historischen Werden des Menschen gebunden, die noch aussteht. Es hieße offene Türen einrennen, wollte man gerade beim gegenwärtigen Stand der Forschung zum Problem des Menschen die Berechtigung und Notwendigkeit dieses Kriteriums nachweisen. Wie ist das Kriterium des Fortschritts in der Entwicklung des Menschen zu fassen? Der Ausgangspunkt muß offensichtlich die Dialektik von Individuellem und Sozialem sein. 10 Maßstab des gesellschaftlichen und individuellen Fortschreitens ist die Entwicklung der Sozialität in ihrer organischen Einheit mit der Genesis des Menschen als Individuum, mit der Individualität der Persönlichkeit. Einige Psychologen haben Einwände gegen die Richtigkeit des Begriffs „Sozialität" und insofern gegen das Entwicklungsniveau des Sozialen als wesentliche und entscheidende Komponente des Kriteriums des historischen Werdens der Persönlichkeit erhoben. Jeder Mensch ist ein soziales Wesen, meinen sie und erheben diese Binsenwahrheit zu ihrem Hauptargument. Jedes Individuum ist ein soziales Wesen, auch der krasseste Individualist, Egoist oder Menschenfeind. Doch schon diese Tatsache verdeutlicht, daß nicht jedes Individuum - als soziales Wesen - das Bewußtsein und Empfinden des Sozialen besitzt, gar nicht davon zu reden, daß nicht jeder sich in seinem Verhalten von diesem Bewußtsein leiten läßt. Um bei der oben erwähnten Kategorie von Menschen zu bleiben, ließe sich sagen, daß sie, obwohl soziale Wesen, auf einer niedrigen Stufe der Sozialität stehen. Mit der sowjetischen Psychologie ist dieser Gedanke vom Entwicklungsniveau der Sozialität durchaus vereinbar. „Eine Persön9 E. Gutzmann)H. Kallabis, Über Wesen und soziale B e d e u t u n g der sozialistischen Gemeinschaftsarbeit, Berlin 1961, S. 210/11 Tugarinov 1® Vgl. den Beitrag v o n V. P.
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lichkeit ist um so bedeutender, je stärker das Allgemeine, individuell gebrochen', in ihr vertreten i s t " 1 1 , schreibt S. L. Rubinstein. Wenn wir in Betracht ziehen, daß der Begriff „Allgemeines" sich nicht auf die biologische Natur des Menschen beschränkt, sondern zu seinen Besonderheiten als gesellschaftliches Wesen in Beziehung steht, so ist der Begriff der Sozialität 12 , der Ausprägungsgrad des Sozialen, Gesellschaftlichen im Bewußtsein und Handeln als bestimmend für das Kriterium der geschichtlichen Entwicklung des Menschen zur Persönlichkeit und zu ihrer „Bedeutung" anzusehen. Die kommunistische Persönlichkeit, die bei der Entwicklung des Sozialismus entsteht, wird sich durch einen hohen Grad von Sozialität (anders gesagt, durch ein hohes Niveau des Sozialen im Menschen) auszeichnen: durch die Ubereinstimmung ihrer individuellen Interessen mit denen der Gesellschaft, durch Gemeinschaftssinn, Internationalismus, ein ausgeprägtes Persönlichkeitsbewußtsein, Verantwortlichkeit und andere Merkmale, die sich in hohen Idealen und Zielen, in aktiver, schöpferischer Tätigkeit, in der Einheit von Überzeugung und Handeln auf der Grundlage wissenschaftlicher Weltanschauung und hoher Bildung äußern. Zugleich wird die Persönlichkeit durch unwiederholbare Originalität und eine reich entwickelte subjektive Welt, durch ausgeprägte individuelle Besonderheiten charakterisiert sein. Marx gebrauchte im Hinblick auf den zukünftigen Menschen den Begriff des „persönlichen Individuums". Mir scheint, dieser Ausdruck verdeutlicht die Einheit von Sozialem, Persönlichem und Individuellem, die der Sozialismus herzustellen vermag. Entgegen den erfundenen Anschuldigungen des heutigen Antikommunismus, daß der Sozialismus die Persönlichkeit als Individuum unterdrücke, hat gerade diese Gesellschaftsordnung die Fähigkeiten und Talente von Millionen Werktätigen geweckt und die Bedingungen zur Entfaltung ihrer Individualität hervorgebracht. Angesichts der großen Erfolge in der geistigen Entwicklung von Millionen Menschen, welche die sozialistische Gesellschaft nicht nur in der Sowjetunion, sondern auch in den anderen sozialistischen Ländern erzielt hat, werden wir solche Verleumdungen auch in Zukunft zurückweisen. Es wäre jedoch nicht richtig, wollten wir es dabei belassen, das Problem der Nivellierung und Depersonalisierung der Persönlichkeit nur unter dem Gesichtspunkt des Kampfes gegen den Antikommunismus, gegen seine n S. L. Rubinstein, Sein und Bewußtsein, S. 2 8 1 1 2 Der Begriff ( ) S o z i a l i t ä t " ist nicht identisch mit d e m Begriff „ S o z i a l i s a t i o n " , der unter den Soziologen in kapitalistischen wie sozialistischen L ä n d e r n heute viel benutzt wird. Der letztere dient zur Bezeichnung der zunehmenden K o n t a k t e der Persönlichkeit m i t verschiedenartigen sozialen Mikro- oder, wie sie gelegentlich genannt werden, Zwischenorganisationen. 10*
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Phantasien von der Vermassung der Menschen im Sozialismus anzugehen. Denn wir dürfen dabei nicht übersehen, welche Gefahren von schablonenhafter Behandlung der Bedürfnisse und Neigungen des einzelnen es gibt, welche Gefahr des Primitivismus, der Simplifizierung, der Unkultiviertheit. Wir müssen auch jede Möglichkeit der Entpersönlichung scharf bekämpfen. In den letzten Jahren hat sich das philosophische Denken in den sozialistischen Ländern, wie schon bemerkt, immer mehr dem Problem des Menschen zugewandt. Von der tatsächlichen Entwicklung und Formung des neuen Menschen angeregt, analysieren die Marxisten dieser Länder eine Reihe wichtiger Teilaspekte dieses Problems, insbesondere philosophisch-anthropologische. Im Zusammenhang mit konkret-soziologischen Forschungen sind neue Fragen aufgeworfen worden. Die Mängel in der bisherigen marxistisch-leninistischen Konzeption vom Menschen wurden zum Anlaß genommen, eine marxistische „Philosophie vom Menschen", eine „philosophische Anthropologie" zu fordern. Die sowjetischen Philosophen befassen sich seit vielen Jahren ernsthaft mit diesen Fragen. Wir brauchen natürlich auch exakte Untersuchungen zu biologischen, anthropologischen,psychologischen, physiologischen, ethischen und anderen Aspekten des Problems. Daß diese in der Sowjetunion wenig bearbeitet sind und manchmal falsch angefaßt wurden, ist bekannt. Dogmatische Einflüsse auf die Gesellschaftswissenschaften haben zur vulgärsoziologischen Handhabung dieses Problems geführt. Man reduzierte die Faktoren, die das Wesen des Menschen prägen und seine Entwicklung beeinflussen, im Grunde auf die Produktions- und Klassenverhältnisse. In den letzten zehn bis zwölf Jahren wurden viele Fragen in der sowjetischen Philosophie auf neue, schöpferische Weise gestellt. Man schenkt dem Studium der Dialektik von Persönlichkeit und Individuum große Aufmerksamkeit, ebenso Fragen der individuellen Welt des Menschen, seinen psychologischen und physiologischen Eigenschaften, dem Erbfaktor usw. Bei aller Bedeutung vermögen die Begriffe „Philosophie des Menschen" und „philosophische Anthropologie" schwerlich alle diese Aspekte der Problematik zu erfassen. Das Problem des Menschen ist kompliziert, vielseitig und komplex. Es erfordert sowohl komplexe Forschungen seitens benachbarter Wissenschaften als auch das gründliche Studium seiner einzelnen Seiten und Momente durch verschiedene Wissenschaftsdisziplinen. Neben der allgemeinen theoretisch-philosophischen Arbeit über das Persönlichkeitsproblem im Sozialismus brauchen wir Analysen der sich konkret vollziehenden Prozesse in ihrer ganzen Vielfalt, die auf konkret-soziologischen Forschungen beruhen.
M. T . JOVÖUK
Zur geistigen Freiheit der Persönlichkeit
Es hat die Marxisten immer beschäftigt, wie das Problem des Menschen zu fassen ist, worin sein Wesen, seine Freiheit und der Sinn seines Lebens besteht, wie sich die Persönlichkeit formt und entwickelt u. a. — Fragen, die die sog. Philosophie des Menschen betreffen. Eine befriedigende Antwort auf das Problem des Menschen gelang keiner jener idealistischen Richtungen, die für sich in Anspruch nehmen, es als erste aufgeworfen und gelöst zu haben: dem Existentialismus sowenig wie der „philosophischen Anthropologie", dem Personalismus sowenig wie dem Neofreudismus oder irgendwelchen anderen. Menschliche Freiheit und allseitige Entwicklung, das Wechselverhältnis von Persönlichkeit und Gesellschaft, sowohl in antagonistischen Formationen als auch im Sozialismus, sind zentrale Themen der marxistischen Philosophie. Lenin und die Leninisten haben sich wiederholt damit befaßt. Die kommunistische Weltbewegung, die Völker der sozialistischen Länder streben danach, diese Probleme praktisch und theoretisch zu lösen. Die Sorge um den Menschen, um die Freiheit der Persönlichkeit und ihre allseitige Entwicklung wird deutlich im Programm der K P d S U spürbar, dessen Devise „alles im Namen des Menschen, alles zum Wohle des Menschen" den realen sozialistischen Humanismus der Gegenwart kennzeichnet. Geistige Freiheit hat verschiedene Seiten, eine gnoseologische, eine psychologische, eine soziologische, eine ethische, ästhetische u. a. Ich möchte hier hauptsächlich auf den soziologischen Aspekt eingehen, und zwar auf die sozialistische Gesellschaft in der Sowjetunion bezogen. Die geistige Freiheit der Gesellschaft wie des Menschen ist eine historisch bedingte,. veränderliche Größe. Im Sozialismus entwickelt sie sich als komplizierter, widersprüchlicher Prozeß des Aufbaus und der Festigung der neuen Gesellschaft im Kampf gegen die alte, bürgerliche Welt mit ihren Mächten und Traditionen. Die sowjetische Philosophie stützt sich bei der Analyse des geistigen Lebens der sozialistischen Gesellschaft, das Wachstum der geistigen Freiheit des Menschen eingeschlossen, auf die Grunderkenntnisse des Marxismus-Leninismus. Wenn von der gesellschaftlichen Entwicklung die
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Rede ist, auch von der geistigen Freiheit, so geht es nicht an, nur das Schema des „ökonomischen Determinismus" zu benutzen, ohne die Gesamtheit der Entwicklungsfaktoren in Rechnung zu stellen, insbesondere das Streben, den Willen, die Tätigkeit der Menschen, d. h. den subjektiven Faktor im weitesten Sinne des Wortes, was auch in der gegenwärtigen Geschichtsepoche nicht bedeutet, daß der objektive, vor allem ökonomische Faktor seine bestimmende Funktion verlöre. Ebenso falsch wäre es, sich darauf zu beschränken, daß das Schicksal der Persönlichkeit und ihre geistige Freiheit gesellschaftlich bedingt sind, wenn auch die revolutionäre Umwandlung der Gesellschaft zum Sozialismus und Kommunismus für die Persönlichkeit den Ausschlag gibt. Die Zukunft der Gesellschaft hängt in vieler Hinsicht vom Tun der Menschen, von ihrer gegenwärtigen Lage und den Perspektiven ihrer weiteren allseitigen Entwicklung ab, zu der auch die Entwicklung ihrei Freiheit gehört. Im Sozialismus und Kommunismus verwirklicht sich die These von Marx, daß die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist. Sie wird Leitsatz der praktischen und theoretischen Tätigkeit der marxistisch-leninistischen Partei. Zugleich entstehen auch im Sozialismus nicht selten recht scharfe Widersprüche zwischen Persönlichkeit und Gesellschaft, die neue, spezifische Formen annehmen und bisweilen als Konfliktsituationen erscheinen, aber im Prozeß der Herausbildung sozialistischer Verhältnisse gelöst werden. Wenn es im Wesen des Sozialismus und noch mehr des Kommunismus liegt, daß die Freiheit, das Glück und die allseitige Entwicklung der Persönlichkeit das höchste Maß sind, so heißt das nicht, daß die Gesellschaft dies schnell, automatisch, kampflos und ohne Schwierigkeiten und Opfer erreicht. Vielmehr ist die Errichtung der neuen, freien Gesellschaft, die dem Menschen die geistige Freiheit bringt, ein langwieriger, komplizierter, widersprüchlicher Prozeß. E r wird nicht nur durch viele ungünstige objektive Faktoren erschwert (z. B. durch die Herrschaft des Kapitalismus über einen bedeutenden Teil der Welt, durch Reste technisch-ökonomischer Zurückgebliebenheit u. a.), sondern auch durch subjektive Momente, wie Fehler, Entstellungen und Irrtümer. Beim Aufbau des Sozialismus wird die den antagonistischen Gesellschaftsformationen eigene Entfremdung der Wesenskräfte des .Menschen allmählich überwunden. Diese h a t sich besonders im System der Arbeitsteilung und in der begrenzten Möglichkeit zur schöpferischen Nutzung der geistigen und physischen Potenzen des Menschen gezeigt, in der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen, im Antagonismus von körperlicher und geistiger Arbeit, in der Existenz einer herrschenden „Elite", die den werktätigen Massen als fremde Macht gegenübertrat, in der Entfremdung des Menschen von den Resultaten seiner praktischen
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Tätigkeit und seines kulturellen Schaffens, in der Herrschaft religiöser und anderer unwissenschaftlicher Vorstellungen mit Fetischcharakter, welche die aktiv gestaltende Rolle des Menschen negieren usw. Der Prozeß, in dem die Überreste der Entfremdung in der Epoche der Errichtung des Sozialismus ausgemerzt werden, ist langwierig. Er verläuft als harter Kampf gegen die Mächte und Traditionen der alten Ordnung, gegen bürokratische Entstellungen und kleinbürgerlich-anarchistischen Individualismus. Entfremdung und menschlicher Wert sind polare soziale Kategorien. Das heißt aber nicht, daß es außerhalb der Entfremdung keine menschlichen Werte geben kann. Werte sozialer, heuristischer, künstlerischer, ethischer und anderer Art bleiben erhalten und werden sich zu einer Zeit, da die Entfremdung verschwunden sein wird, das heißt im Kommunismus, noch mehr entfalten und reicher werden. Entfremdung bedeutet Verlust der inhaltlichen Werte des menschlichen Lebens. In der Übergangsperiode vom Kapitalismus zum Sozialismus und in gewissem Maße auch noch in der niederen Phase des Kommunismus treten Überreste von Entfremdung im ökonomischen, politischen und geistigen Bereich des gesellschaftlichen Lebens auf. Das berechtigt jedoch nach meiner Ansicht nicht zu der Behauptung, daß der Sozialismus eine neue Form von Entfremdung des menschlichen Wesens darstelle, daß die Vergesellschaftung der Produktion, die Abschaffung der Ausbeutung, die allmähliche Veränderung des Charakters der Arbeit und des alten Systems der Arbeitsteilung, die den Menschen zum Organ einer bestimmten Funktion gemacht haben, die Grundlagen dieser Entfremdung nicht beseitigt hätten. Noch weniger zutreffend ist die Auffassung, die Entfremdung sei deshalb ewig und unüberwindlich, weil dem Menschen immer die ;) außermenscliliche Welt", die Natur also, gegenüberstehe. Auch diejenigen sind im Irrtum, die meinen, die Arbeit des Menschen bleibe auch im Sozialismus unfrei, sie könne keine Freude und Befriedigung bringen. Ebenso unhaltbar ist die Auffassung, daß die Existenz des Staates auch in der Periode des Übergangs zum Kommunismus unvereinbar sei mit der Freiheit des Menschen, daß die Arbeiterklasse, solange ein sozialistischer Staat besteht, die Produktion nicht direkt leite und daß sie die führende Rolle nur mittelbar innehabe. Manchmal hört man die Meinung, die Entwicklung der modernen Technik und die damit verbundene Organisation der Produk tion auf wissenschaftlicher Grundlage, die unter verschiedenen sozialökonomischen Bedingungen, auch unter sozialistischen, vonstatten geht, mache es dem Individuum fast unmöglich, in der Arbeit sein Ziel zu finden. Nach dieser Auffassung unterscheidet sich die Automatisierung der Produktion im Sozialismus von der kapitalistischen lediglich in quantitativer Hinsicht.
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Die daraus abgeleitete Schlußfolgerung, die sozialistischen Verhältnisse seien für den Menschen nicht von hohem Wert, vielmehr sei dieser höchst relativ, da der Sozialismus im gegenwärtigen Entwicklungsstadium noch keine volle Humanisierung der menschlichen Beziehungen zu erreichen vermöge, widerspricht der objektiven Wahrheit unseres Lebens. Offenbar machen die Vertreter solcher Auffassungen über die Freiheit des Menschen und die Entfremdung einen Fehler: Sie operieren mit Begriffen, ohne zu bemerken, daß das Leben, die Geschichte deren Inhalt erheblich verändert hat. Nehmen wir den Begriff „Entfremdung". Die Kritiker des Marxismus beharren darauf, daß diese Kategorie, die in den Frühschriften von Marx (besonders in den "ökonomisch-philosophischen Manuskripten aus dem Jahre 1844") dargelegt wurde, im Marxismus der Vergessenheit anheimgefallen sei, während sie doch nach ihrer Ansicht immer die zentrale Kategorie der marxistischen Philosophie war und bleiben wird, im Sozialismus ebenso wie im Kapitalismus. Tatsächlich aber sind die Marxisten-Leninisten weit davon entfernt, diese Kategorie zu verwerfen. Sie geben ihr vielmehr eine genauere wissenschaftliche Bestimmung, die über die der Marxschen Frühwerke hinausgeht. Marx, Engels, Lenin und die Leninisten haben nachgewiesen, daß der Sturz des Kapitalismus und der Übergang zum Sozialismus die Grundlagen der Entfremdung des Menschen vom Arbeitsprozeß, von den Produktionsmitteln und dem Produkt der Arbeit, von den geistigen Faktoren der materiellen Produktion und von den verschiedenen Seiten des menschlichen Wesens aufhebt. Lenin hat sich zum Begriff ^Entfremdung" nicht direkt geäußert; denn Marx und Engels hatten schon andere Formulierungen für die prozeßhafte Überwindung der Entfremdung gefunden, die exakter und adäquater waren (sozialistische Revolution, kommunistische Umgestaltung der Gesellschaft, Beseitigung des Gegensatzes von körperlicher und geistiger Arbeit, Kulturrevolution usw.). Doch gehört der Gedanke, die Entfremdung des eigentlichen Wesens des Menschen, sowohl des natürlichen wie des sozialen, zu überwinden, weiterhin zum ideologisch-theoretischen Instrumentarium des Marxismus-Leninismus und h a t darin neue Formen angenommen. In der sozialistischen Gesellschaft, insbesondere beim Übergang zum Kommunismus, entstehen und entwickeln sich neue gesellschaftliche Verhältnisse, neue Oualitäten und Züge des Menschen, die nicht in das Prokrustesbett der alten Begriffe zu zwängen sind, zu denen auch der Begriff der Entfremdung gehört. Es entstehen philosophischsoziologische Termini, oder sie gewinnen neue inhaltliche Bestimmungen, z. B. der Begriff der allseitigen, harmonischen Entwicklung der Persönlichkeit, der Ganzheit des Menschen, seines geistigen Lebens und seiner Freiheit. Der hochentwickelte neue Mensch formt sich beim Aufbau des Kommu-
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nismus. Er ist nicht nur Objekt und Ziel der gesellschaftlichen Entwicklung, sondern zugleich ihr Subjekt, der Schöpfer einer neuen, freien Ordnung. In dieser konstruktiven, schöpferischen Tätigkeit des sich formenden neuen Menschen liegt der höchste Wert unserer Zeit. In der Geschichte der Philosophie und des sozialen Denkens ist das Problem der geistigen Freiheit des Menschen auf verschiedene Weise dargestellt worden: a) Individualistische Konzeptionen bestanden auf der Befreiung des Menschen von den geistigen Fesseln, die seinen Interessen und der Entwicklung seines Intellekts angelegt waren (z. B. die bürgerlich-humanistischen Theorien der Renaissance und der Epoche der bürgerlichen Revolutionen, die sich gegen die geistige Oberherrschaft der Kirche wandten). Aus solchen zu ihrer Zeit progressiven Konzeptionen wurden später nicht selten bürgerlich-egoistische und kleinbürgerlich-anarchistische Lehren, die der Gesellschaft den Ich"-Kult oder den Kult der starken Persönlichkeit, die über der Allgemeinheit steht, entgegensetzten. b) Die Ideologen der Aufklärung erkannten die Abhängigkeit des geistigen Lebens des Menschen von der Gesellschaft an und begriffen die Veränderung des sozialen Milieus als notwendige Bedingung für die Freiheit der Persönlichkeit und ihre intellektuelle Entwicklung. Sie forderten die Vervollkommnung der Persönlichkeit des Menschen, ohne bereits reale Mittel und Wege zur Umgestaltung der Gesellschaft und zur sozialen, politischen, geistigen usw. Freiheit des Menschen bestimmen zu können. c) Die Vertreter reaktionärer kontemplativ-mystischer und pessimistischer Theorien ignorierten die sozialen Probleme und den Klassenkampf. Sie predigten, der Mensch solle sich von den „irdischen Leidenschaften" frei machen und sich in die Selbstbetrachtung versenken. Sie verzichteten auf die rationale, wissenschaftliche Erklärung des menschlichen Strebens und Wollens und rühmten das Irrational-Intuitive am Menschen. Der Marxismus-Leninismus h a t solche falschen und begrenzten Konzeptionen von geistiger Freiheit überwunden; er löst dieses Problem wissenschaftlich. Er führt den Nachweis, daß die bewußte revolutionäre Umgestaltung der Gesellschaft, die Errichtung des Sozialismus und Kommunismus den Menschen und seine geistige Welt von der Herrschaft der spontanen Mächte der Natur und der gesellschaftlichen Entwicklung befreit. In der gegenwärtigen Epoche gibt es um das Problem der menschlichen Freiheit eine äußerst harte Auseinandersetzung. Die Kritiker des Kommunismus haben ein ganzes Gebäude von Lügen und Fehlinformationen errichtet. Sie beschuldigen den Marxismus und den Kommunismus, die
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Freiheit des Menschen, besonders die geistige, zu unterdrücken, seine geistige Welt zu mißachten und die Persönlichkeit völlig in der Gemeinschaft aufgehen zu lassen. In Wirklichkeit läßt sich der MarxismusLeninismus durchaus nicht, wie seine Gegner behaupten, auf die philosophische These reduzieren, Freiheit sei die Einsicht in die Notwendigkeit. (Das ist zwar das Wichtigste am Begriff der Freiheit, die objektive Wahrheit, aber doch nicht die ganze Wahrheit.) Der Marxismus-Leninismus weist nach, daß die volle Freiheit nur in der sozialistischen Gesellschaft und ihre höchste Stufe im Kommunismus erreicht werden kann und daß sie das Resultat der aktiven Tätigkeit der Gesellschaft und jedes einzelnen Menschen ist, die sich auf der Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnis der Gesetzmäßigkeiten der objektiven Welt und ihrer Beherrschung vollzieht. Freiheit im philosophischen Sinne ist nach meiner Auffassung die zielgerichtete und bewußte Äußerung des Wesens des Menschen als Mitglied der sozialen Gemeinschaft und zugleich als Individuum. Sie ist maßgeblich durch die geschichtlich bestimmte soziale Ordnung bedingt. Unter geistiger Freiheit des Menschen verstehen wir die Gesamtheit seiner Ansichten, seines Wollens und Tuns, welche die gesetzmäßig sich entwickelnde objektive Wirklichkeit widerspiegeln und in welchen bewußt gesetzte Ideale und Bestrebungen und ein bestimmtes Verhältnis zur Welt sich ausdrücken. Sowohl die Freiheit im weitesten Sinne wie die geistige Freiheit machen eine geschichtliche Entwicklung durch. Freiheit verwirklicht sich dialektisch: Einerseits hängt der Grad menschlicher Freiheit vom Charakter und von der Entwicklungsstufe der jeweiligen Gesellschaft ab, vom Bemühen der Gesellschaft um die Befriedigung der materiellen und geistigen Bedürfnisse der Persönlichkeit, um die Erfüllung ihres Strebens, ihrer Ideale und moralischen Prinzipien — das heißt von der Freiheit der Gesellschaft. Andererseits beruht die freie Entwicklung der Gesellschaft, wie Marx glänzend nachgewiesen hat, auf der freien Entwicklung jedes ihrer Mitglieder. Das bedeutet nun nicht, daß das Glück der Gesellschaft die einfache, arithmetische Summe des „glücklichen Lebens" ihrer Mitglieder sei, doch ohne das Glück der einzelnen (als Vielheit) ist das der Gesellschaft undenkbar. Der Marxismus-Leninismus sieht das Hauptkriterium menschlicher Freiheit in der Schaffung einer Gesellschaftsordnung, die dem Menschen sowohl das Joch der Ausbeutung abnimmt und ihm die Möglichkeit zu freier Arbeit gibt als auch große demokratische Piechte verleiht, eine gesellschaftliche Ordnung, welche die Voraussetzungen für ein Leben in Frieden schafft, dem Menschen zur Befriedigung seiner materiellen und geistigen Bedürfnisse verhilft, Vertrauen in die Zukunft gibt und seine
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individuellen Fähigkeiten und Talente entfaltet. So eine soziale Ordnung ist der Kommunismus. E r allein vermag dem Menschen die volle Freiheit zu sichern, die geistige eingeschlossen. Die Gewinnung geistiger Freiheit ist untrennbar mit dem Kampf für die geistige und politische Befreiung verbunden, j a sie hängt maßgeblich von seinem Ausgang ab. Ihre Anfänge liegen noch im Kapitalismus: im Verlauf des opfervollen bewußten Kampfes der proletarischen Revolutionäre für die Befreiung der Menschheit von allen Formen der Knechtschaft, zu denen auch die geistige — als religiöse wie als „irdische" — zählt, im Kampf für die Befreiung des Menschen und seiner geistigen Welt von allem Schmutz der antagonistischen Gesellschaft. Die geistige Freiheit festigt sich in der Ubergangsperiode vom Kapitalismus zum Sozialismus und in der sozialistischen Gesellschaft. In der höheren Phase des Kommunismus wird sie vollständig und allseitig realisiert. Die sich bei der Errichtung des Sozialismus und beim Übergang zum Kommunismus entwickelnde geistige Freiheit des Menschen sowie die Freiheit seiner kulturellen Tätigkeit kommen nach unserer Ansicht auf folgende Weise zum Ausdruck: Die Gesellschaft als Ganzes (und jedes ihrer Mitglieder) löst sich von der geistigen Unterjochung durch die Ausbeuterklassen, vom Druck der Religion, der reaktionären Gutsbesitzer- und Bourgeoisideologie, vom Rassismus, Chauvinismus und Militarismus. Die für Ausbeuterordnungen charakteristische Verfolgung der Anhänger revolutionärer und sozialistischer Ideale, die Unterdrückung des progressiven gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Denkens — des Materialismus, Atheismus, der Freigeisterei — findet ein Ende. Im Prozeß der sozialistischen Revolution, des Aufbaus und der Entwicklung der sozialistischen Gesellschaft erwirbt der Mensch seine wenn auch noch nicht vollständige, geistige Freiheit dadurch, daß er sich des geistigen Unrats der alten Ordnung entledigt — der durch das Privateigentum geprägten Ansichten und Gewohnheiten, der nationalistischen Vorurteile, des Müßiggangs, der Amoralität und ähnlicher „tierischer Reste". Was ihn mehr und mehr frei macht, ist das Bewußtsein seiner Befreiung von der Herrschaft der spontanen Mächte der Natur und der Gesellschaft, das zunehmende Bewußtsein der Freiheit seiner gesellschaftlich nützlichen Arbeit, die sich in der Form kameradschaftlicher Zusammenarbeit und gegenseitiger Hilfe vollzieht, das Vertrauen in die menschliche Vernunft und das Bewußtsein der Unüberwindlichkeit der Schöpferkräfte des Menschen. Im Sozialismus erhalten die werktätigen Klassen sowie jeder einzelne Mensch allmählich die Möglichkeit, sich auf dem Gebiet der Bildung, der Wissenschaft und der Kunst frei zu betätigen. Damit ist die Freiheit gemeint, unabhängig von ständischen, nationalen, rassischen, eigentums-
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bedingten, religiösen und ähnlichen Beschränkungen Bildung zu erwerben. Es ist die Freiheit, die von der Menschheit geschaffenen geistigen Güter zu nutzen, sich ein Urteil über die geistigen Werte zu bilden und zwischen ihnen zu wählen (obwohl die Freiheit der Wahl in der niederen Phase des Kommunismus infolge bestimmter sozial-historischer Bedingungen bisweilen zwangsläufig noch eingeschränkt ist). Geistige Freiheit im Sozialismus bedeutet, daß der Mensch durch die Überwindung des in der Vergangenheit herrschenden Gegensatzes zwischen körperlicher und geistiger Arbeit auch die ihm aufgezwungene enge berufliche Spezialisierung überwindet und nach und nach die Freiheit zur Entwicklung seiner Fähigkeiten und Begabungen auf verschiedenen Gebieten des gesellschaftlichen Lebens gewinnt. Beim Überwinden der Beschränktheiten und der Stagnation der alten Arbeits- und Lebensbedingungen, die der allseitigen Entwicklung der Persönlichkeit im Wege stehen, erwirbt er im Sozialismus und beim Übergang zum Kommunismus allmählich die Freiheit der Berufswahl wie auch die Freiheit, sich daneben — auch im Bereich der geistigen Produktion — Tätigkeiten zu widmen, die seinen Neigungen und seinem Streben entgegenkommen und seine vielseitige Entwicklung fördern. Diese geistige Freiheit entwickelt sich im Prozeß weitester, allseitiger Demokratisierung des gesellschaftlichen und politischen Lebens, d. h. bei der Verwirklichung der sozialistischen Prinzipien. Unter diesen Bedingungen lassen sich Erscheinungen überwinden, die dem Wesen des Sozialismus und den Interessen des Menschen fremd sind. Dazu gehören der Personenkult, Verletzungen der Gesetzlichkeit, der Bürokratismus, die Abschwächung der Rolle der Volksmassen und ähnliches, was sich eingebürgert h a t und die demokratischen Vorzüge und Potenzen des Sozialismus einschränkt. Ist der Aufbau des Kommunismus mit einer ständigen, alle Sphären des gesellschaftlichen und individuellen Lebens erfassenden Demokratisierung verbunden, so bestimmen die Menschen mehr und mehr selbst ihr Schicksal. Sie sind vom Bewußtsein ihrer freiwillig übernommenen Verantwortung für das Wohlergehen des Volkes und der Gesellschaft und von der entscheidenden Rolle des Volkes bei der Gestaltung eines neuen Lebens erfüllt. Und schließlich entwickelt sich die geistige Freiheit des Menschen im Sozialismus auf der Grundlage des Meinungsstreits in der Wissenschaft, der Philosophie, in Literatur und Kunst sowie im gesellschaftlichen Denken. Im Sozialismus und insbesondere beim Übergang zum Kommunismus wird nach und nach die Freiheit des wissenschaftlichen, künstlerischen, ganz allgemein geistigen Schaffens erworben, das mit dem Bewußtsein jedes Schaffenden verbunden ist, daß er für sein Tun dem Volk, der Gesellschaft gegenüber freiwillig die Verantwortung übernommen hat. Echtes
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menschliches Schöpfertum kann den Interessen des Volkes und der Gesellschaft nicht entgegenstehen, auch nicht dem Interesse an geistiger Freiheit. Dies ist das freie Bewußtsein der Verantwortlichkeit jedes Wissenschaftlers, Schriftstellers, Künstlers, jedes Geistesschaffenden dafür, daß die geistige Freiheit des Individuums nicht in Egoismus, in anarchische Willkür umschlägt, sich nicht gegen die Interessen des Volkes, gegen den Willen der überwältigenden Mehrheit der Menschen kehrt, daß sie der Gesellschaft und dem einzelnen nicht Ansichten und einen Geschmack aufzwingt, die dem Sozialismus fremd sind und die Realisierung der vollen und geistigen Freiheit des Menschen behindern. In dem Entwicklungsstadium, das die sozialistische Gesellschaft erreicht hat, gibt es noch viele ungelöste Probleme, auch solche, die das geistige Leben des Menschen betreffen. Wenn die sozialistische Gesellschaft als Ganzes die geistige Freiheit in ihren Hauptzügen verwirklicht hat, so gilt das durchaus nicht für jedes Individuum, jede Persönlichkeit. Das hängt damit zusammen, daß in der ersten Phase des Kommunismus noch keine volle Gleichheit in den Arbeits- und Lebensbedingungen, in der Verteilung der materiellen und geistigen Güter, in der kulturell-technischen E n t wicklung hergestellt ist und hergestellt werden kann. Daher sind in dieser Phase noch nicht alle Menschen gleichermaßen von materiellen Sorgen frei, haben sie noch nicht die übernommenen schweren Bedingungen unqualifizierter, monotoner Handarbeit überwunden. Damit sind den Möglichkeiten, ein bewußtes, schöpferisches Verhältnis zur Arbeit zu erreichen, noch Grenzen gesetzt. Diese niedere Etappe des Kommunismus gibt dem Menschen auch insofern noch keine volle geistige Freiheit, als nicht jeder Mensch die Möglichkeit hat, den Beruf, den Arbeitsplatz und Charakter seiner Tätigkeit, die Arbeits- und Lebensbedingungen und die geistige Tätigkeit, die seinen Neigungen entspricht, frei zu bestimmen. Es bleiben also gewisse Mißverhältnisse bestehen, insbesondere zwischen den erreichten gesellschaftlichen Möglichkeiten einerseits und den Lebensidealen und dem Streben der Persönlichkeit nach einer Tätigkeit, die ihren Fähigkeiten und Neigungen voll entspricht, andererseits. Es gibt im Sozialismus noch eine andere Art von Überresten der „Entfremdung" des menschlichen Wesens. Mitunter wird der Mensch in seiner geistigen Welt von fest verwurzelten, manchmal fetischisierten, unwissenschaftlichen Vorstellungen beherrscht, die seine geistige Freiheit, seine Aktivität einengen und ihn der Wirklichkeit entfremden. Dazu gehören religiöse Vorurteile, Aberglauben, die Furcht vor den spontanen Mächten der Natur und andere Überreste der bürgerlichen Gesellschaft, besonders aus der Sphäre des menschlichen Bewußtseins und Verhaltens. Sie zu überwinden ist kompliziert und langwierig. 157
Angesichts der scharfen Widersprüche und des ideologischen Kampfes zwischen der sozialistischen und der kapitalistischen Welt, angesichts der aggressiven Politik der imperialistischen Mächte ist der Mensch in der sozialistischen Gesellschaft seines friedlichen Lebens nicht sicher. Da der Sozialismus bisher erst in einigen Ländern gesiegt hat, besteht für den Menschen noch nicht die volle Möglichkeit, alle seine Anstrengungen auf den friedlichen Aufbau, auf die Aneignung der materiellen Güter und der geistigen Werte der Gesellschaft zu konzentrieren. Er muß ständig mit dem Ausbruch eines neuen Krieges, mit der Anwendung der Atomwaffen usw. rechnen. Ohne einen dauerhaften Frieden zwischen den Völkern, der den Krieg unmöglich macht, ist der Mensch auch in der sozialistischen Gesellschaft nicht verschont von den seine Freiheit begrenzenden Einflüssen der „äußeren Notwendigkeit", von der schweren Sorge und gewissen Opfern für die Sicherheit seines Landes und der sozialistischen Staatengemeinschaft. Der geistigen Freiheit sind in der niederen Phase des Kommunismus auch darum noch Grenzen gesetzt, weil der Gedankenwelt des Sozialismus noch die reaktionäre Ideologie des Imperialismus gegenübersteht, mit der versucht wird, sie von innen zu zersetzen. Sie beeinflußt das Denken und Verhalten nicht weniger Mitglieder der sozialistischen Gesellschaft und ist dazu angetan, die Grundlagen der sozialistischen Weltanschauung zu untergraben und zu zerstören. Die sozialistische Gesellschaft, die sich die geistige Freiheit aller ihrer Mitglieder und den Schutz ihres Bewußtseins vor dem Einfluß der imperialistischen Reaktion und den Überbleibseln des Kapitalismus angelegen sein läßt, kämpft daher gegen das Eindringen der imperialistischen Ideologie und die Propagierung reaktionärer Ansichten und Theorien, gegen die Verbreitung amoralischer und dekadenter Kunstwerke sowie anderer Mittel, mit denen im nichtsozialistischen Sinne auf den Menschen eingewirkt werden soll. Ungehinderter Meinungsstreit, volle Freiheit des Schaffens in Wissenschaft, Philosophie und Kunst sowie im ganzen gesellschaftlichen Denken sind das Ergebnis des Aufbaus des Kommunismus und seines Sieges im Weltmaßstab. Diese volle Freiheit des Geistes wird möglich, wenn die Gesellschaft gegenwärtig, in der niederen Phase des Kommunismus, konsequent das Prinzip der Parteilichkeit in der Ideologie befolgt und wenn sie, der wissenschaftlichen Weltanschauung des Marxismus-Leninismus folgend, einen unversöhnlichen Kampf gegen die reaktionäre Ideologie des Imperialismus führt, der die Freiheit und das Leben der Menschen bedroht. Es irren jene, die meinen, das größte Hindernis für die geistige Freiheit im Sozialismus sei, daß der Marxismus als Ideologie auftrete, und er müsse
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sich davon frei machen (weil sie Ideologie zu Unrecht als unwissenschaftliches, falsches Bewußtsein verstehen), um, so die einen, eine Wissenschaft zu werden oder, so andere, ein humanistisches Ideal. Unabhängig von ihren subjektiven Absichten setzen solche Theoretiker die Bedeutung des Marxismus herab, der als revolutionäre Ideologie immer eine wissenschaftliche und humanistische Lehre war und sein wird. Ihr Auftreten gegen die marxistisch-leninistische These von der Unmöglichkeit der friedlichen Koexistenz gegensätzlicher Ideologien zeigt, daß sie die Gefährlichkeit einer ideologischen Abrüstung der Arbeiterbewegung in der scharfen Auseinandersetzung zwischen dem sozialistischen und dem kapitalistischen System nicht erkannt haben. In der gegenwärtigen Geschichtsetappe ist der unversöhnliche Kampf der sozialistischen gegen die bürgerliche Ideologie ein Entwicklungsgesetz der Gesellschaft und ihres geistigen Lebens. Auf der Position der marxistisch-leninistischen Ideologie geführt, sichert gerade er die wachsende geistige Freiheit für die Hauptmasse der Menschen, die den Sozialismus und Kommunismus aufbauen. Er schützt die geistige Welt des Volkes und jedes einzelnen vor fremden, feindlichen Einflüssen. Erst nach dem vollen Sieg des Kommunismus, wenn die kommunistische Uberzeugung zum Hauptmerkmal und -kriterium der geistigen Freiheit jedes Menschen geworden ist, wird die Beschränkung der Formen und Erscheinungen des geistigen Lebens überflüssig. Der Marxismus -Leninismus hat die Mittel und Wege zur Entwicklung des geistigen Lebens und zur vollen geistigen Freiheit des Menschen im Kommunismus wissenschaftlich fixiert. Dazu gehören das enorme Anwachsen der gesellschaflichen Produktivkräfte und die Erzielung von Uberfluß, die völlige Überwindung der sozialen Schranken zwischen den Menschen, das Verschwinden der wesentlichen Unterschiede zwischen Stadt und Land, zwischen geistiger und körperlicher Arbeit. Geistige Freiheit bedeutet die umfassende Demokratisierung des gesamten gesellschaftlichen und politischen Lebens, die Entwicklung des sozialistischen Staates zur kommunistischen Selbstverwaltung der Gesellschaft. Dazu gehören die Zunahme der Freizeit und ihre sinnvolle Nutzung, die Aneignung der von der Menschheit geschaffenen geistigen Werte, die freie Höherentwicklung der Geisteskultur sowie die Bereicherung der Schatzkammer der Weltkultur. Dazu zählen ebenso die Ausprägung des kommunistischen Bewußtseins und die Überwindung der Überreste des Kapitalismus im Denken und Verhalten der Menschen, die Erziehung allseitig gebildeter und allseitig entwickelter Menschen, die geistigen Reichtum, moralische Reinheit und körperliche Vollkommenheit in sich vereinen. Im Programm der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, das die Mittel und Wege zur Erlangung voller menschlicher Freiheit in der sozia159
listischen Gesellschaft fixiert hat, wird hervorgehoben, daß der Übergang zum Kommunismus gleichbedeutend ist mit der größtmöglichen Entwicklung der Freiheit der Persönlichkeit und der Rechte der Sowjetbürger. Der Kommunismus bringt den Werktätigen große Rechte und Möglichkeiten. „Der Kommunismus ist eine Ordnung, in der die Fähigkeiten und Talente, die besten sittlichen Eigenschaften des freien Menschen zur Blüte gelangen und voll zur Entfaltung kommen." 1 Der Marxismus-Leninismus unterscheidet zwischen der Situation des Menschen und seiner — auch geistigen — Freiheit in der niederen und in der höheren Phase des Kommunismus. Er sieht in der Gewinnung voller geistiger Freiheit einen langwierigen, komplizierten und widersprüchlichen Prozeß. Die Kommunistische Partei der Sowjetunion und die kommunistische Weltbewegung haben sich mit jenen Beschränkungen von Demokratie und Freiheit im Sozialismus auseinandergesetzt, die nicht der historischen Notwendigkeit entsprachen, sondern sich aus dem Personenkult, aus Abweichungen vom Marxismus-Leninismus herleiteten. Die Marxisten treten entschieden der Behauptung entgegen, solche Erscheinungen seien im Sozialismus gesetzmäßig, seien ihm wesenseigen. Unzutreffend ist die These bürgerlicher Marxismuskritiker, die Sowjetunion habe zwar auf naturwissenschaftlichem und technischem Gebiet große Erfolge erzielt, doch in ihrem geistigen Leben (in Literatur, Kunst, Philosophie, Gesellschaftswissenschaften, in der geistigen Kultur insgesamt) herrschten Stagnation und Dogmatismus, gälten geistige und sittliche Werte wenig. Daraus wird der falsche Schluß gezogen, das in der Sowjetunion (und in anderen sozialistischen Ländern) existierende „Modell" des Sozialismus sei nicht humanistisch und daher für die Menschheit nicht akzeptabel. Die bürgerlichen Ideologen setzen ihre Hoffnung darauf, daß die sozialistische Gesellschaft (die sie als eine Variante der „Industriegesellschaft" bzw. der „modernisierten Gesellschaft" betrachten) den Weg der sogenannten Intellektualisierung beschreitet und von den revolutionären Idealen abgeht. Sie rechnen mit dem Entstehen eines Konflikts zwischen der älteren und der jüngeren Generation sowie mit der Loslösung der sozialistischen Länder voneinander und dem geistigen Zerfall der kommunistischen Weltbewegung. Sie hoffen weiter darauf, daß im Ergebnis der von ihnen propagierten friedlichen Koexistenz auf geistigem Gebiet „Breschen" in das Bewußtsein der sozialistischen Menschen geschlagen werden und eine „Synthese" der sogenannten westlichen m i t der östlichen Denkungsart stattfindet (mit der letzteren ist die sozialistische 1
Programm der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, in: Einheit, August 1961, Sonderheft, S. 42
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Weltanschauung gemeint), eine Entideologisierung, bei welcher der Kommunismus seine für den „Menschen des Westens" unannehmbaren Züge verliert, eine „Konvergenz", eine Angleichung von Sozialismus und Kapitalismus, die auch den geistigen Bereich erfaßt. Während die bürgerlichen Ideologen die geistige Freiheit des Menschen im Sozialismus negieren, preisen sie die geistige Freiheit des Individuums zugleich als höchsten Wert, vorgebend, sie sei in den kapitalistischen Ländern verwirklicht. Ohne auf den grundlegenden Unterschied zwischen der geistigen Freiheit im Sozialismus und der scheinbaren, illusorischen Freiheit im Kapitalismus einzugehen, wo der Mensch und seine Geistes weit in der Regel vom Geldbeutel und von der herrschenden Denkweise abhängen, sei hier nur an die Worte Lenins erinnert, der in dem Artikel „Parteiorganisation und Parteiliteratur" schrieb, daß die Sozialisten nicht für eine „klassenfreie Literatur und Kunst" kämpfen, sondern dafür, der „heuchlerisch freien, in Wirklichkeit aber mit der Bourgeoisie verbundenen Literatur die wirklich freie, offen mit dem Proletariat verbundene Literatur gegenüberzustellen. Das wird eine freie Literatur sein, weil sie nicht einer übersättigten Heldin, nicht den sich langweilenden und an Verfettung leidenden ,oberen Zehntausend' dienen wird, sondern den Millionen und aber Millionen Werktätigen, die die Blüte des Landes, seine Kraft, seine Zukunft verkörpern." 2 Die sowjetischen Menschen haben sich längst entschieden: Sie folgen bewußt und freiwillig ihrer kommunistischen Überzeugung, in der sich die wissenschaftliche Wahrheit mit dem aktiven Kampf für die revolutionäre Umgestaltung der Welt verbindet. Die Parteilichkeit von Ideologie, Kunst, geistiger Kultur und geistigem Leben besteht vor allem darin, daß die Wissenschaftler und Kulturschalfenden, die Mitglieder der sozialistischen Gesellschaft von der Lebenswahrheit und Kraft der Ideologie und Politik der kommunistischen Partei durchdrungen sind. Dabei weisen sie jene Interpretationen der geistigen Freiheit im Sozialismus zurück, die genaugenommen die Prinzipien der Klassengebundenheit und der Parteilichkeit verwerfen und dazu auffordern, der Marxismus solle aufhören, eine Ideologie zu sein, und sich mit Unterstützung der modernen Theorie des „normativen Humanismus" und ähnlicher bürgerlicher Anschauungen „erneuern". Die sowjetischen Kommunisten können sich ebensowenig wie alle wirklichen Anhänger des Marxismus-Leninismus mit sektiererisch-bürokratischen, dem sozialistischen Humanismus feindlichen Konzeptionen einverstanden erklären, wie sie z. B. in China gepredigt werden. Die kommunistische Weltbewegung verurteilt jene kleinbürgerlich-anarchistischen und links2
W. I. Lenin, Parteiorganisation 1958, S. 33/34
und
Parteiliteratur,
in:
Werke,
B d . 10,
Berlin 11
Mayer
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sektiererischen Auffassungen und Handlungsweisen, welche die Gruppe Mao Tse-tungs in China verbreitet hat. Sie führen zur Zerstörung der kulturellen Werte, die der Mensch zu seinem Wohl und Glück geschaffen hat, sie negieren den sozialistischen Humanismus und die geistige Freiheit der Menschen, sie machen ihr Leben arm. In der sozialistischen Gesellschaft entwickelt sich die geistige Freiheit des Menschen im Laufe des von der Partei geführten Kampfes gegen die Reste subjektivistisch-bürokratischer Einschränkung des geistigen Lebens und pragmatischer Einengung der Wissenschaft sowie des Kampfes gegen den kleinbürgerlich-anarchischen Individualismus, der in Wissenschaft, K u n s t und geistigem Leben zu Unstimmigkeiten und Schwankungen führt. Die Kontinuität der revolutionären Traditionen der internationalen Arbeiterklasse, die Wahrhaftigkeit der geschichtlich erprobten marxistisch-leninistischen Ideologie, die Zurückweisung der Konzeption von der friedlichen Koexistenz der sozialistischen und der bürgerlichen Ideologie (bei Erweiterung der wissenschaftlichen und kulturellen Kontakte zwischen Ländern mit verschiedener sozialer Ordnung) sind lebensnotwendige Bedingungen zur Weiterentwicklung des geistigen Lebens der sozialistischen Gesellschaft und der geistigen Freiheit des Menschen. Die wichtigste Bedingung für die volle Aneignung der geistigen Werte, welche die Menschheit hervorgebracht hat, insbesondere der Erkenntnisse des Marxismus-Leninismus, ist deren schöpferische Weiterführung, die auf dem Marxismus-Leninismus basierende Ausarbeitung und Lösung neuer Probleme, die das Leben der Gesellschaft, der Klassenkampf, das Fortschreiten der Wissenschaft, der materiellen und geistigen Bedürfnisse des Menschen mit sich bringen. Die errungene und sich im Sozialismus ständig entwickelnde geistige Freiheit der Persönlichkeit wirklich zu verstehen setzt die aktive, schöpferische Tätigkeit des sozialistischen Menschen in allen Bereichen seines Lebens, so auch im geistigen, voraus. Sie ist verknüpft mit der bewußten, freiwillig übernommenen Verantwortung des einzelnen für die Übereinstimmung seiner Tätigkeit mit dem höchsten Ziel der schaffenden Menschheit, der Errichtung und dem Sieg der kommunistischen Gesellschaft.
L. A. Makgolin Die Freiheit der Berufswahl
Seit der Entstehung der gesellschaftlichen Arbeitsteilung ist die berufliche Spezialisierung ein Charakteristikum jeglicher Arbeitstätigkeit. Sie drückt eine der wesentlichsten Beziehungen von Gesellschaft und Individuum aus. Die Möglichkeit der freien Berufswahl ist eines der Kriterien gesellschaftlichen Fortschritts. Die Freiheit der Berufswahl stellt eine Bedingung und Erscheinungsform der sozialen Freiheit dar und steht mit verschiedenen Seiten der gesellschaftlichen Verhältnisse in Verbindung. Die Faktoren, die ihre praktische Realisierung bedingen, lassen sich in drei Gruppen einteilen: in ökonomische, soziale und individuelle. Der Entwicklungsgrad der Produktivkräfte und die darauf beruhende interdisziplinäre und beruflich-technische Arbeitsteilung gehören zur ersten Gruppe. Sie prägen die Berufsstruktur sowie den Charakter der in der Gesellschaft ausgeübten Berufe. Die wichtigsten sozialen Faktoren, welche die Freiheit der Berufswahl entscheidend beeinflussen, sind die Formen des Eigentums an den Produktionsmitteln, die Klassenstruktur der Gesellschaft sowie der Grad der geistigen Freiheit und das Niveau der politischen Demokratie. Das Vorhandensein oder Fehlen ständischer, kastenbedingter, rassischer, nationaler und anderer Beschränkungen. die den Grad der Freiheit der Persönlichkeit schlechthin bezeichnen, wirkt zugleich auch auf die Freiheit der beruflichen Spezialisierung des Menschen. Die genannten objektiven (ökonomischen und sozialen) Faktoren prägen das gesellschaftliche Bedürfnis nach bestimmten Berufen. Jedoch sind auch die individuellen Verschiedenheiten der Menschen von nicht geringer Bedeutung. Die marxistische Philosophie und Psychologie gehen in dieser Frage von der bestimmenden Rolle der Arbeit aus. Die bekannte Bemerkung von Marx, daß der Mensch mit der Bezwingung der äußeren Natur zugleich sein eigenes Wesen verändere, steht in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Prozeß der Formung und Entwicklung der menschlichen Fähigkeiten. Jede gesellschaftliche Entwicklungsetappe besitzt ihre eigene Berufsstruktur, die dem jeweiligen Grad der gesellschaftlichen Arbeitsteilung gemäß ist. Es liegt auf der Hand, daß sich die konkreten Fähigkeiten letztlich nur im Verlauf der Lebenstätigkeit des Individuums, seiner Mitwirkung in einem bestimmten Bereich von Produktion, Wissenschaft,
h-
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Kultur formen können. Dabei spielen das soziale Milieu, in dem sich der Mensch und seine Familie befinden, und der Lebensweg, den er einschlägt, eine große Rolle. Die physiologische Grundlage der individuell-psychischen Eigenheiten des Menschen ist bisher nur ungenügend erforscht worden. Jedoch erlauben es die Untersuchungen, die B. M. Teplov, A. N. Leont'ev u. a. angestellt haben, von natürlichen individuellen Eigenschaften des Menschen zu sprechen, aus denen sich unter entsprechenden Bedingungen im Prozeß der Arbeitstätigkeit Fähigkeiten entwickeln. „Wenn wir auch bestreiten, daß die Fähigkeiten als angeborene Besonderheiten des Menschen aufzufassen sind, so sind wir doch weit entfernt, zu bestreiten, daß der Entwicklung der Fähigkeiten in der Regel bestimmte angeborene Besonderheiten und Anlagen zugrunde liegen." 1 Neigungen und natürliche Anlagen des Menschen bilden die Grundlage f ü r die Formung der individuellen Fähigkeiten. Die Marxisten verweisen auf die Notwendigkeit, das in Rechnung zu stellen, doch wenden sie sich zugleich gegen die Biologisierung des Menschen, gegen die Leugnung seiner sozialen Natur, gegen Theorien, die besagen, daß die berufliche Tätigkeit dem Menschen vorbestimmt sei, wie etwa die bürgerliche Auffassung, daß die natürliche Anpassungsfähigkeit des Menschen den Maßstab seiner Fähigkeiten bilde, und andere. Freie Berufswahl bedeutet auch Übereinstimmung der beruflichen Tätigkeit des Menschen mit seinen individuellen Eigenschaf ten. Die Neigungen des Menschen reichen immer über die Anforderungen eines bestimmten Berufs hinaus. Jede konkrete Fähigkeit gibt dem Individuum die Möglichkeit, sich eine ganze Reihe einander benachbarter Spezialisierungen anzueignen. Ein Mensch, der viele Fähigkeiten besitzt, kann den Anspruch erheben, aus einer verhältnismäßig breiten Skala von Berufen zu wählen. Die Berufsstruktur der Gesellschaft bildete sich schon in den vorkapitalistischen Etappen der Arbeitsteilung aus. Doch erst unter den Bedingungen der kapitalistischen Produktion entstand das Problem der freien Berufswahl. Bis dahin war der Lebensweg eines Menschen in der Regel schon durch seine Abstammung, etwa von Pflügern, Viehzüchtern oder Handwerkern, vorgezeichnet. Die kapitalistische Arbeitsteilung und die juristische Freiheit des Arbeiters zerstörten das System der traditionellen „Familien"berufe. Ja, in einer Gesellschaft, die auf der maschinellen Großproduktion beruht, ist der Berufswechsel sogar unumgänglich. Die freie Wahl der Arbeit wurde ein soziales Problem, das der Kapitalismus nicht lösen konnte. Obwohl dieser eine starke materielle Basis, ein entwickeltes System der 1
B. M. Teplov, Problemy individual'nych razlicij (Probleme der individuellen Unterschiede), S. 11
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gesellschaftlichen Arbeitsteilung schuf, übernahm er doch bis zu einem gewissen Grade die alten Schranken eigentumsbedingter, nationaler, kastenbedingter und ähnlicher Ungleichheit und fügte ihnen neue hinzu. Das soziale Unvermögen, das Problem der freien Berufswahl zu bewältigen, ist ein Ausdruck der antagonistischen Widersprüche im Kapitalismus. Der technische Fortschritt, die komplexe Mechanisierung und Automatisierung sind objektive Bedingungen f ü r das Anwachsen der Qualifikation der Mehrheit der Arbeiter, f ü r die Zunahme der geistigen F a k toren in ihrer Arbeit. Da der Unternehmer nach höherem Mehrwert strebt, h a t er ein gewisses Interesse daran, daß die Fähigkeiten und Neigungen seiner Arbeiter mit den Anforderungen ihrer Berufe übereinstimmen. Die allgemeinbildenden und die Berufsschulen der entwickelten kapitalistischen Länder haben in bezug auf das Aufspüren der beruflichen Neigungen der Jugendlichen bestimmte Erfahrungen gesammelt. Der S t a a t und die großen Firmen finanzieren verschiedene Institutionen, die berufliche Eignungen ausfindig machen. Doch k a n n im Kapitalismus auch die Arbeit auf einem äußerlich frei gewählten Gebiet Ausbeutung und E n t fremdung nicht ausschließen. Tatsächlich gibt die soziale Lage des Menschen, sein Platz auf der Stufenleiter der kapitalistischen Gesellschaft nach wie vor den Ausschlag f ü r die Erlangung einer bestimmten Stellung. Schwierigkeiten f ü r die Berufswahl bereitet der besitzlosen großen Mehrheit der Werktätigen auch die Unerreichbarkeit einer Bildung, die den Wünschen des einzelnen entspricht. Eine Schranke f ü r die freie Berufswahl bildet im Kapitalismus der Konflikt zwischen der Persönlichkeit und der Gesellschaft. E r s t der Sozialismus erzeugt bislang nicht gekannte Bedingungen f ü r die freie Berufswahl. „Der Sozialismus . . . schafft erstmalig die Möglichkeit, . . . im Massenumfang . . . die Mehrheit der Werktätigen wirklich auf ein Tätigkeitsfeld zu führen, auf dem sie sich hervortun, ihre Fähigkeiten entfalten, j e n e Talente offenbaren können, die das Volk, einem unversiegbaren Quell gleich, hervorbringt und die der Kapitalismus zu Tausenden und Millionen zertreten, niedergehalten und erdrückt h a t . " 2 Das Prinzip des Sozialismus „ J e d e r nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seiner Leistung" offenbart die rechtlichen Grundlagen der Beseitigung jener sozialen und politischen Schranken, die den antagonistischen Formationen eigen sind. Im Sozialismus werden die sozialökonomischen Ursachen der entfremdeten Arbeit überwunden, entwickelt sich ein System der Allgemein- und Fachbildung. Diese Bildung ist kostenlos, und das h a t große Bedeutung f ü r die freie Berufswahl. 2
W. /. Lenin, Wie soll man den Wettbewerb organisieren?, in: Werke, Bd. 26, Berlin 1961, S. 402
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Die Wahl eines Berufes, der den Neigungen und Fähigkeiten des einzelnen entspricht, ist in der Sowjetunion nicht mehr nur eine Angelegenheit des einzelnen, sondern findet das Interesse der ganzen Gesellschaft. In Nishni Tagil, einem der größten Industriezentren des Landes, wurden 925 Industriearbeiter schriftlich befragt. Es ging um die Liebe zum Beruf und das Interesse an einem beruflichen Wechsel bzw. am Erlernen eines zweiten Berufs. Eine zweite Umfrage wurde bei 316 Eltern von Schülern der letzten Klasse angestellt. Sie sollten darauf antworten, zu welchem Beruf sie ihren Kindern raten. Eine dritte Befragung schließlich richtete sich an die Schulabgänger und verfolgte den Zweck, ihre Lebenspläne in Erfahrung zu bringen. Etwa die Hälfte aller Schüler, die im Jahre 1964 die städtischen Mittelschulen beendeten, nämlich 532, beantworteten die Fragen. So erhielten wir über 1700 Fragebogen, sowohl von Menschen mit reicher Lebenserfahrung und langer Berufspraxis als auch von Jugendlichen, die sich erst für einen Beruf entscheiden müssen. Aus den Antworten der Eltern ergab sich eindeutig, daß sie die von ihren Kindern gewünschten Berufe für durchaus erreichbar halten. Vergleichen wir die Antworten auf zwei der gestellten Fragen: „Welchen Beruf halten Sie für den besten für Ihr Kind, die Möglichkeit seiner Weiterbildung dabei eingeschlossen?" und „Welchen Beraf halten Sie überhaupt für den interessantesten?" Um zu vermeiden, daß sich Geschlechtsunterschiede (Vater einer Tochter, Mutter eines Sohnes) auf die Ergebnisse auswirkten, zogen wir nur Antworten von Vätern mit Söhnen und von Müttern mit Töchtern zum Vergleich heran. 67,3% der befragten Väter von Söhnen gaben auf beide Fragen gleichlautende Antworten. Bei den Müttern von Töchtern liegt dieser Prozentsatz mit 75,4 sogar noch höher. Für die besten Berufe halten die Eltern: Arbeiter - 18,7%; A r z t - 1 6 , 8 % ; Pädagoge 13,5%; Ingenieur — 9,5%; Angestellter im Dienstleistungsbereich — 3 , 5 % ; andere Berufe — 10,4%; keine Antwort gaben 27,6%. Unsere Gesellschaft, die schon beträchtliche Erfolge erzielt hat bei der Abschaffung der schweren körperlichen Arbeit und bei der Beseitigung der wesentlichen Unterschiede zwischen körperlicher und geistiger Arbeit, konnte dadurch auch jenes Hemmnis in der Berufswahl, das aus schweren Arbeitsbedingungen herrührt, in erheblichem Maße überwinden. Das ist eine der Ursachen für das wachsende Ansehen jener Berufe, die sich auf die direkte Produktion materieller Güter beziehen. In dieser Hinsicht sind auch die Lebenspläne der Absolventen der Mittelschule aufschlußreich. Die befragten 532 Abgänger wollen auf folgenden Gebieten arbeiten: in der Schwer- und Mittelindustrie 219 (als Ingenieur, qualifizierte Arbeiter, in der Forschung); 44 interessieren sich für eine Tätigkeit in der Leichtindustrie (als Weberinnen, in der Trikotagenbranche, als Textiltechnologen, Modegestalter usw.). Auf dem Gebiet der Volks166
bildung und im Gesundheitswesen möchten 130 Jugendliche arbeiten, im Handel (als Fachmann für Warenkunde, Verkäufer) 46 Schulabgänger, dem Kunstschaffen (als Künstler, Regisseure usw.) wollen sich 16 von ihnen zuwenden. 18 Jugendliche entschieden sich für andere Berufe, die nicht in diese Aufstellung gehören. Der in unserem Lande erreichte wissenschaftlich-technische Fortschritt, der den Gesichtskreis der sowjetischen Werktätigen weitet, führt also dazu, daß die jungen Menschen und ihre Eltern Berufe wählen, die in ihrer Mehrzahl direkt in der Sphäre der Industrieproduktion liegen, wenn sie auch von den großen Möglichkeiten der heutigen Jugend sprechen, sich für einen ihren Neigungen entsprechenden Beruf zu entscheiden. Zugleich aber bleiben im Sozialismus, der ersten Phase der kommunistischen Gesellschaft, noch bestimmte Grenzen der freien Berufswahl erhalten, wenn sie auch einen völlig anderen sozialen Charakter haben als die in der antagonistischen Gesellschaft bestehenden. Zu ihnen zählen in erster Linie die noch existierenden Unterschiede im Schwierigkeitsgrad der Arbeitsvorgänge. Einige Tätigkeiten erfordern eine stabile Gesundheit und einen hohen physischen Kraftaufwand, was manchen Menschen die Entscheidung erschwert und eine Ursache für Unzufriedenheit mit dem Charakter der Tätigkeit ist. Aus einer Befragung von Schülern, die zwei Berufe erlernt haben: Beruf
Schlosser für Kontrollund Meßapparaturen und automatisches Einrichten Reparaturschlosser
insgesamt Befragte
zufrieden mit dem Beruf
unzufrieden mit dem Beruf
50 49
45 19
5 30
Der Beruf eines Schlossers für Kontroll- und Meßapparaturen ist qualifizierter, interessanter und anziehender. Sehen wir uns Zahlen aus einer anderen Befragung an. Hier handelt es sich um die Eltern von Schülern der letzten Klasse. Die Arbeiter haben den Wunsch, daß ihre Kinder auch Arbeiter werden, nur sollen sie hinsichtlich ihrer Qualifikation und ihres Bildungsniveaus höher stehen als sie selbst. Ein Arbeiter z. B., der mehrere Spezialisierungen beherrscht, möchte, daß sein Sohn Maschinist auf einer Diesellok wird; ein Schlosser sieht seinen Sohn als Mechaniker usw. Wie aus den Fragebogen hervorgeht, wollen viele Arbeiter (12%), daß ihre Kinder Ingenieure werden. Nur 7,8% der Befragten sprechen sich für Berufe aus, die ihren eigenen in etwa entsprechen. Der Charakter der Produktivkräfte, die in einem bestimmten ökonomischen Gebiet anzutreffen sind, beeinflußt Formung und Entwicklung
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der Fähigkeiten der Jugendlichen. In Nishni Tagil z. B. wollen 46°/Q jener Abgänger der Mittelschulen, die schon genaue Vorstellungen von ihrem künftigen Beruf haben, in der Schwerindustrie arbeiten. Dies erklärt sich zu einem großen Teil daraus, daß sie in einer S t a d t von Bergleuten, Metallarbeitern und Maschinenbauern leben. Neben objektiven Bedingungen ü b t auch die Umgebung des jungen Menschen einen gewissen Einfluß auf ihn aus. Von wesentlicher Bedeutung für die Berufswahl im Sozialismus ist der materielle Anreiz, obwohl nur 1,6% der befragten Eltern ein hohes Einkommen als einziges Motiv der Berufswahl angegeben haben. In den meisten Fragebogen erscheint ein gutes Einkommen lediglich als ein Anreiz unter mehreren, zu denen z. B. die Neigung zu einer bestimmten Tätigkeit, die individuellen Interessen u. a. gehören. Auch bei der Entscheidung über die Weiterbildung kann die materielle Sicherstellung eine gewisse Bedeutung erlangen, obwohl die sowjetische Regierung einen großen Teil der Kosten einer mittleren und Hochschulbildung übernimmt. Bestimmte überkommene Anschauungen wirken ebenfalls auf die Berufswahl ein, z. B. Reste eines entfremdeten Verhältnisses zur Arbeit. Solche Faktoren können gleichfalls die richtige Berufswahl behindern. Schließlich hängt sie auch von den Erfordernissen der Produktion und von der Notwendigkeit ab, in der Volkswirtschaft und Kultur bestimmte Proportionen zu wahren, sonst kann es zur Divergenz von persönlichen und gesellschaftlichen Interessen kommen. Soziologen, Pädagogen und Fachleute verschiedenster Produktionsbereiche stehen vor einer Reihe von Problemen, deren Lösung eine größere Freiheit in der Berufswahl ermöglichen wird. Von Bedeutung sind dabei das System der Kaderausbildung, die Schaffung günstiger Proportionen zwischen der Anzahl der Spezialisten f ü r die Produktion und ihrer Ausbildung sowie richtigen, wissenschaftlich begründeten Proportionen zwischen hoher und mittlerer technischer Bildung. Auf dem Plenum des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Sowjetunion vom September 1965 und auf dem X X I I I . Parteitag der Kommunistischen Partei der Sowjetunion wurde hervorgehoben, d a ß wesentliche Veränderungen in der Standortverteilung der P r o d u k t i v k r ä f t e im Lande notwendig seien. Werden neue Industriebetriebe hauptsächlich in den Großstädten errichtet und dort der größte Teil der Bildungseinrichtungen konzentriert, so erschwert das nicht nur die Nutzung der zusätzlichen Arbeitsreserven der Kleinstädte und Siedlungen, sondern auch die freie Berufswahl und den beruflichen Einsatz der dortigen J u g e n d . Große Bedeutung f ü r die volle Freiheit der Berufswahl h a t die Vervollk o m m n u n g des Lohngefüges, die Beseitigung ungerechtfertigt hoher
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Unterschiede in der Entlohnung bei einigen Berufen und Berufsgruppen. Das ist besonders wichtig für die Überwindung der Fluktuation der Arbeiter. Auf die richtige Berufswahl wirkt sich auch die Verbesserung des Systems der Arbeitserziehung in der Schule aus. Erfahrungen aus der Vorbereitung der Oberschüler auf ihr Berufsleben besagen, daß die Schule der polytechnischen Bildung bisher noch nicht voll gerecht wird. Sie soll dem Lernenden nicht nur eine Allgemeinbildung vermitteln, sondern ihm auch helfen, sich über seine besonderen Neigungen klarzuwerden. Dabei kommt es darauf an, daß die Berufsbildung, die Vermittlung neuer Spezialkenntnisse mit dem Tempo der sich entwickelnden Produktion Schritt hält. Die allseitige und harmonische Entwicklung der Persönlichkeit äußert sich in der Heranführung der Menschen an die gesellschaftliche Arbeit, wie z. B. an eine Tätigkeit zur Wahrung der öffentlichen Ordnung. Das Problem der Berufswahl wird auch in der kommunistischen Gesellschaft eine große Rolle spielen, bleibt doch die Arbeitsteilung, wenn auch in wesentlich veränderter Gestalt, erhalten. Das hohe sozialökonomische Entwicklungsniveau der kommunistischen Gesellschaft hat nicht die Aufhebung jeglicher Arbeitsteilung zur Voraussetzung. Wahrscheinlich wird der Mensch der Zukunft hei aller Breite seiner Interessen und seiner schöpferischen Tätigkeit eine bestimmte Spezialisierung aufweisen, die eine grundlegende und entscheidende Sphäre bei der Anwendung seines Wissens und Könnens bildet. Im Kommunismus ist es notwendig, die Neigungen und Fähigkeiten der Menschen zielstrebiger zu nutzen, denn die Entwicklung von Produktion, Wissenschaft und Kultur wird Spezialisten auf neuen Gebieten erfordern. In den verschiedenen Entwicklungsetappen des Kommunismus werden trotzdem gewisse Unterschiede zwischen den Berufen erhalten bleiben. Berufe, die hinsichtlich ihrer Kompliziertheit und ihres schöpferischen Gehalts differieren, einerseits und individuelle Unterschiede zwischen den Menschen andererseits bewirken, daß auch in der kommunistischen Gesellschaft Forderungen erhalten bleiben, die für die Berufswahl unerläßlich sind. Was jedoch nicht bleiben wird, sind die Begrenzungen der Freiheit der Berufswahl. Im Kommunismus wird die freie Wahl des Berufs das hohe Prinzip „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen" zur Geltung bringen. Die Gesellschaft wird von jedem Menschen alles erhalten, was er ihr geben kann, wenn er in dem Beruf arbeitet, der seinen Neigungen am meisten entspricht. Die Tätigkeit auf einem Gebiet, das sorgfältig ausgewählt wurde und mit den Neigungen und Interessen des einzelnen übereinstimmt, eröffnet der schöpferischen, allseitigen und harmonischen Entwicklung der Persönlichkeit große Möglichkeiten.
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E . G . BALAGUSCHKCST
Persönlichkeit und Familie
Der Aufbau des Kommunismus bringt große Veränderungen in den Familienbeziehungen mit sich, die man als eine unerläßliche Bedingung für das Wachsen des geistigen Reichtums der Persönlichkeit, für ihre allseitige und harmonische Entwicklung ansehen kann. Wir können bei der Beschäftigung mit den sozialen Problemen der Persönlichkeit, mit der Entwicklung und Vervollkommnung des geistigen Bildes vom Menschen der Gegenwart die Probleme der Familie, der Kindererziehung und unseres täglichen Lebens nicht ignorieren, weil die ganze Kompliziertheit der Veränderung der Persönlichkeit und die Persönlichkeit selbst unverständlich bleiben, wenn ihre Wechselbeziehung mit den Familienverhältnissen und dem Alltagsleben nicht berücksichtigt und aufgedeckt wird. Dieses gewichtige Problem hat eine lange Geschichte. Die gegenwärtige Epoche verlieh ihm einen neuen Inhalt und neue Bedeutung. In der Periode des Kampfes um die Verteidigung der sozialistischen Ordnung in unserem Land ging es bei dieser Frage in erster Linie um die Befreiung der Persönlichkeit von den historisch beschränkten Formen der Ehe und Familie, d. h. von jenen Beziehungen, die Merkmale einer bürgerlichen, patriarchalischen, feudalaristokratischen und sogar stammesbezogenen Lebensweise tragen. Trotz aller Verschiedenheiten spielten doch materielle, wirtschaftlich-ökonomische Erwägungen und Interessen bei der Eheschließung unter den Besitzenden in der Regel eine große, ja die entscheidende Rolle. In der Familie wurde die Freiheit der Persönlichkeit mit Füßen getreten. Besonders den Ehefrauen und Müttern waren drückende Pflichten auferlegt. Die nicht gleichberechtigte ökonomische Stellung, die beschwerliche Hausarbeit, all das machte die Frau im wahrsten Sinne des Wortes zur Sklavin. Die Apologeten der patriarchalischen Ordnung, ob sie nun zum Lager der vorrevolutionären russischen Monarchisten gehören oder zu den bürgerlichen Ideologen der Gegenwart, neigen zur Idealisierung solcher Art von Familienleben. Sie behaupten, daß sich das Schicksal der Frau nach dem Gebot der Natur oder nach der göttlichen Vorsehung (was der Sache nach nichts anderes ist) ausschließlich in der häuslichen Sphäre erfülle. Die Frau
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kann und darf folglich keine freie, gleichberechtigte Persönlichkeit sein. Diese Ansichten sind in der zeitgenössischen bürgerlichen Literatur sehr verbreitet. So bezeugt der westdeutsche Soziologe W. Fahrn — in der Absicht, die heutige bürgerliche Moral zu charakterisieren —, daß jeder vierte der vor der Eheschließung stehenden Bundesbürger in seiner Braut vor allem die künftige Hausfrau sehe. 1 Die Mädchen denken ähnlich. Sogar Studentinnen äußern nicht selten solche Ansichten von der Ehe. Nicht ohne Grund bemerkt der Autor, hier komme wieder das Ideal unserer Mütter und Großmütter durch: der Mann als Hüter und Bewahrer des Hauses. 2 Viele bürgerliche Ideologen, insonderheit amerikanische, sind davon überzeugt, daß der gegenwärtige soziale Fortschritt an der uralten Bestimmung der Frau, Hausfrau zu sein, nichts Grundsätzliches ändert. Sie gestehen zu, daß die technische Entwicklung bei der weiteren Modernisierung unseres Alltags eine große Rolle spielen wird. Doch zugleich vermuten sie, daß die Hauswirtschaft in ihrer privateigentumshaften, isolierten Form erhalten bleiben und nach wie vor die Domäne der Frau sein wird. Nach marxistischer Auffassung gibt es einen wissenschaftlich begründeten Weg zur Lösung dieses sozialen Problems, der in der Befreiung der Persönlichkeit vom patriarchalischen und bürgerlichen Familienleben liegt. Die Frau erlangt ihre Gleichberechtigung im öffentlichen Leben und in der Familie auf der Grundlage der sozialökonomischen, politischen und kulturellen Umwälzung der gesellschaftlichen Verhältnisse. Der seit dem Bestehen der Sowjetmacht eingeschlagene Weg zur sozialistischen Umgestaltung der Familien- und Alltagsbeziehungen hat sich als richtig erwiesen ; wir haben auf diesem Gebiet große Erfolge zu verzeichnen. In der sozialistischen Gesellschaft verlieren die materiellen Erwägungen ihre Bedeutung für die familiären Beziehungen. Diese gründen sich auf gegenseitige Zuneigung, Freundschaft und Achtung. Das Verhältnis zwischen der Familie und dem einzelnen nimmt immer stärker den Charakter gegenseitiger geistiger und sittlicher Anregung an. Im Sozialismus lassen sich bei der Veränderung der Beziehung von Familie und Persönlichkeit also zwei Tendenzen beobachten, die eine progressive, humanistische Entwicklung sichern. Das ist erstens die Befreiung der Persönlichkeit von jenen Fesseln des familiären Alltags, die der patriarchalischen Lebensweise und eigennützigen materiellen Überlegungen entspringen. Häusliche Pflichten hören auf, eine Bürde zu sein, und Reste der Ungleichheit zwischen den Geschlechtern werden gänzlich überwunden. Und das ist zweitens die Entfaltung der Persönlichkeit in einer festen Familien1 2
Vgl. W. Fahrn, Moral heute. Eine Sittengeschichte, München 1964, S. 15 Vgl. ebenda
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gemeinschaft, ihre harmonische Entwicklung, basierend auf der Herausbildung kommunistischer Beziehungen innerhalb der Familie und im häuslichen Alltag. Der vorliegende Beitrag behandelt in erster Linie diese Tendenz. Wie schon bemerkt, haben die gesellschaftlichen Verhältnisse im Sozialismus zur Folge, daß materielle Erwägungen bei der Eheschließung wegfallen. Etwas anderes ist die materielle Sicherheit der Familie; sie sollte sowohl in Anbetracht der Gestaltung des häuslichen Lebens als auch in Anbetracht der Pflege und Versorgung der Kinder nicht unterschätzt werden. Die individuellen Bedingungen zwischen den Familienmitgliedern werden vor allem durch das Gefühl gegenseitiger Zuneigung und durch geistige Übereinstimmung gefestigt. Die Bedingungen zur Herausbildung humaner Gefühle und Beziehungen zwischen den Menschen sind im Sozialismus sehr viel anders als im Kapitalismus. Zahllose Forschungen und Beobachtungen von Soziologen, Medizinern, Publizisten stellen das unter Beweis. Eine Gruppe von Professoren, die 1966 in den USA mit einer Gemeinschaftsarbeit unter dem bezeichnenden Titel „Sexuelle Renaissance" an die Öffentlichkeit getreten ist, hat dargelegt, daß während der letzten zehn J a h r e in den kapitalistischen Ländern eine noch stärkere Verletzung der von Gesetz und offizieller Moral geforderten Formen in den Beziehungen der Geschlechter, ein Zerfall von Ehe und Familie festzustellen ist. Angesichts dessen entwickelten objektivistisch orientierte bürgerliche Soziologen eine Theorie, nach der die Situation in der amerikanischen Familie zur Norm erklärt und sogar ihre Übereinstimmung mit dem Wesen der ehelichen Beziehungen konstatiert wird. Bestimmend für die Ehe seien nicht Liebe und Freundschaft, sondern die Beziehungen „gut aufeinander eingespielten Geschlechtspartner". Zur sittlichen Grundlage der Ehe werden Sexualität, Erotik und gegenseitige gefühlsmäßige und körperliche Attraktivität der Ehegatten erklärt, nicht die Liebe. Auch den materiellen Überlegungen wird ein wichtiger Platz eingeräumt. In der kapitalistischen Ordnung ebenso wie in ihrem geistigen Ausdruck, der individualistischen Eigentümermoral, ist die Ungleichheit der Geschlechter fest verankert. Diese Ordnung begünstigt ein simplifizierendes, von utilitaristisch-konsumbezogenen Erwägungen bestimmtes Herangehen an die intimen Beziehungen von Mann und Frau, bei dem die menschliche Persönlichkeit zum Objekt geschlechtlicher Neigungen herabgewürdigt und das hohe Gefühl der Liebe auf seine physiologische Grundlage reduziert wird. Die Abscheulichkeit und der Schmutz der bürgerlichen Ehe, die von kalter Berechnung und sozialer Ungleichheit herrühren, haben unausweichlich zur Folge, daß jene Ideale und sittlichen Werte, die den Inhalt 172
und die Quelle der Liebe bilden, in den Augen der Menschen herabgesetzt und diskreditiert werden. Der Sozialismus dagegen schafft die stabile soziale Grundlage für die Veredelung der Gefühle und des Verhaltens der Geschlechter. Die kommunistische Moral und die neuen sittlichen Beziehungen, die sich in der Gesellschaft entwickelt haben, erziehen die Menschen im Geiste hoher und schöner Ideale und machen es zugleich möglich, daß der geistige Gehalt der Beziehungen zwischen den Geschlechtern wächst und sie sittlich reicher werden. Das ist ein wichtiges Moment der allseitigen Entwicklung der Persönlichkeit in der Periode des kommunistischen Aufbaus. Dieser wesentliche Prozeß hält sich nicht in emotionalen Grenzen, sondern hat eine weitergehende Bedeutung. Es handelt sich um die Entfaltung und Bereicherung des sozialkulturellen Inhalts der individuellen Beziehungen; dies ist ohne Zweifel eine wichtige Voraussetzung und ein Faktor zur Herausbildung der harmonisch entwickelten kommunistischen Persönlichkeit. Bevor wir auf die Bedeutung der Liebe in den familiären Beziehungen eingehen, ist die Frage interessant, welche sittlichen Motive die Persönlichkeit zur Eheschließung bewegen. Ende des Jahres 1965 wurde in den Moskauer Lichatschow-Automobilwerken eine schriftliche Befragung veranstaltet, um die der Eheschließung zugrunde liegenden Motive zu erfahren. Die Arbeiter sollten ihre Meinung äußern erstens zur Eheschließung unter dem Einfluß materieller Erwägungen ; zweitens zu einer Eheschließung aus wirklicher Liebe, die das Bewußtsein der künftigen familiären Verpflichtungen einschließt. Drittens war als Ehemotiv eine Liebe zu bewerten, die nicht mit ernsthaften Vorstellungen über das bevorstehende gemeinsame Leben und die damit sich ergebenden familiären Pflichten verknüpft ist, sondern sich auf eine recht flüchtige, oberflächliche Zuneigung beschränkt. Es gingen 436 Antworten ein, hauptsächlich von Männern, sowohl ledigen als auch verheirateten; dieser Un terschied machte sich übrigens in den geäußerten Ansichten kaum bemerkbar. Für die materiellen Überlegungen sprachen sich 6 % der Arbeiter aus, zugunsten ernsthafter Liebe und sittlicher Verantwortlichkeit für die Familie 87%. Etwa 7 % meinen, die Liebe an sich, auch eine oberflächliche, reiche als Motiv für eine Eheschließung durchaus hin. Fast neun Zehntel der Befragten stimmen also darin überein, daß es sich um eine Liebesheirat handeln muß, und erkennen gleichzeitig die Verantwortung und die Verpflichtungen an, die bei der Gründung einer Familie übernommen werden. In vielen Zusatzbemerkungen wiesen die Befragten auf die Bedeutung der materiellen Seiten in einer Ehe und Familie hin; denn die ökonomischen und die Wohnbedingungen bilden ein wesentliches Moment des familiären Glücks, und ihre Bedeutung ist dabei nicht geringer als die der Liebe. 173
Wirkliche Liebe hat einen großen sittlichen Einfluß auf den jungen Menschen. Sie führt ihn zu einer kritischen Haltung gegenüber sich selbst, zu seiner Arbeit, seinem Verhalten und seinen Beziehungen zu anderen Menschen ; sie zwingt ihn zu ernsthafterem Nachdenken über die Zukunft, die berufliche Weiterbildung, zur Entwicklung und Vertiefung seiner geistigen Interessen und seines allgemeinen Kulturniveaus. Die verschiedenen Formen der geistigen und sittlichen Beeinflussung von Mann und Frau in der Ehe wurden mit Hilfe von speziellen Fragebogen in einer Reihe von Moskauer Betrieben untersucht. In den LichatschowAutomobilwerken ergab sich, daß in 41% von 264 Arbeiterfamilien die Eheleute ineinander ein nachahmenswertes Vorbild, ein sittliches Ideal sehen. Bei 32% der Fälle erwacht ein Gefühl der Verantwortung gegenüber der Familie. Bei 26% ist im Verhalten des Mannes eine Besserung zu beobachten, bei 21% eine Wendung zum Guten seitens der Frau. Bei 14% der Fragebogen blieb die Frage nach der gegenseitigen Beeinflussung der Eheleute unbeantwortet, doch geben uns gewisse Zusätze Aufschluß über die Gründe dafür. „Wir sind beide dieselben geblieben, die wir waren", ist in einer Reihe von Fragebogen zu lesen. Lassen solche Bemerkungen auf Gleichgültigkeit gegenüber den Beziehungen des einzelnen zu seinen Familienangehörigen schließen? In der Regel nicht. Wir sollten bedenken, daß nicht jedem der sittliche Einfluß der familiären Beziehungen bewußt wird, und das betrifft vor allem jene, die als reife Menschen mit ausgeprägtem Charakter, festen Uberzeugungen und Gewohnheiten eine Ehe eingehen. Auch solche Menschen unterliegen jedoch sittlichen Einwirkungen durch die Familie, nur verändert sich ihr geistiger Habitus langsamer, mitunter erst im Laufe ihres Ehelebens. Der geistige Einfluß der Familie auf den einzelnen ist in Form und Inhalt verschieden. Die sittliche Erziehung wird daher auch nicht überall gleich gut bewältigt. Manchmal tragen die innerfamiliären Beziehungen wesentlich dazu bei, daß der einzelne bestimmte Mängel und Schwächen zu überwinden vermag. Von noch größerer Wichtigkeit sind solche Beziehungen, bei denen die Eheleute einander geistig und sittlich befruchten. In einer Atmosphäre tiefer Freundschaft und Achtung geben sich Mann und Frau im Verhalten und in den Beziehungen zu anderen Menschen gegenseitig ein Beispiel, verkörpern sie ein Ideal von Güte und Schönheit. Ein kulturvoller, wohlerzogener Mensch, der fortschrittliche Ansichten vertritt und unter seinen Kollegen wie in der Familie Autorität besitzt, ist ein lebendiges Beispiel für gewissenhafte Arbeit, für ein sittlich hochstehendes Verhalten und ein gutes Verhältnis zu seinen Mitmenschen. Er repräsentiert den fortgeschrittenen Menschen unserer Epoche, den Erbauer des Kommunismus. Was die sozialen Folgen der zweiten technischen Revolution betrifft, so beschäftigen sich die bürgerlichen Soziologen immer häufiger mit einer 174
Frage, die bereits am Ausgang des vorigen Jahrhunderts im Zusammenhang mit der Entwicklung der Großindustrie und dem massenhaften Eintritt der Frau in diese Sphäre aufgetreten ist: mit der Frage, welche grundsätzlichen Veränderungen in den Beziehungen von Individuum und Familie vonstatten gegangen sind und ob diese Veränderungen nicht letzten Endes zur Schwächung, ja zum allmählichen Absterben der familiären Bindungen führen. Heute werden die Stimmen jener bürgerlichen Publizisten und Soziologen immer lauter, die auf den tiefen Widerspruch zwischen der sich aus den heutigen Arbeitsbedingungen, der Kommunikation, den Dienstleistungen ergebenden Lebensweise einerseits und den überkommenen Formen von Ehe und Familie andererseits verweisen. So schreibt der bekannte westdeutsche Publizist Joachim Bodamer: „Die technische Welt und der Eros als eine Macht, welche allein die sexuellen Beziehungen zweier Menschen zu vergeistigen und dadurch in den Rang einer dauernden personalen Begegnung zu erheben vermag, schließen sich gegenseitig ihrem Wesen nach aus . . . Es gibt keinen entschiedeneren Gegensatz als Leidenschaft und rationalisierte Maschinenweit.'^ Die Soziologen berufen sich auf umfangreiches Material, um zu belegen, daß es in der bürgerlichen Familie der Gegenwart, in der Ehe, in den Beziehungen zwischen den Geschlechtern tiefe Widersprüche gibt. Registriert werden besonders Isolierungserscheinungen und Entfremdung der Eheleute sowie das Schwinden des Interesses füreinander. Als eklatanten äußeren Ausdruck dieses Zustands bezeichnen die Soziologen die Tatsache, daß die Ehepartner nicht das Bedürfnis empfinden, nach der Arbeit nach Hause zu gehen, weil die Atmosphäre dort fremd und langweilig ist, weil es keine Herzlichkeit gibt und kein gegenseitiges Verstehen. Das deutet auf den innerlichen Zerfall der Familie, auf den Verlust von Freundschaft, Liebe, individuellem Glück hin und bereitet den Menschen großes seelisches Leid. Die Ursache dafür wird gewöhnlich im Unvermögen einzelner Menschen gesucht, Arbeit, berufliche Interessen und Familie, Liebe, Freundschaft und Sympathie miteinander zu vereinbaren. 4 Den eigentlichen Charakter dieser Erscheinung haben Marx und Engels schon vor über hundert Jahren enthüllt, als sie darauf hinwiesen, daß das Bindeglied der bürgerlichen Ehe die Langeweile und das Geld seien, und konstatierten, daß diese Art Ehe sich unausweichlich in Auflösung befinde. 5 3
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J. Bodamer, Der Mann von heute. Seine Gestalt und Psychologie, Stuttgart 1956, S. 90 Vgl. W. Fahrn, Moral heute, S. 1 8 8 - 1 9 5 Vgl. K. Marx ¡F. Engels, Die deutsche Ideologie, in: Werke, Bd. 3, S. 164
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Die bürgerliche Lebensweise preßt die familiären Interessen in den engen Rahmen von Alltag und Konsum. Die geistige Atmosphäre in der Familie ist daher unvermeidlich inhaltsleer und vom gesellschaftlichen Leben getrennt. Das bedeutet sogar für jene Menschen eine Belastung, die nicht im politischen und kulturellen Leben der kapitalistischen Gesellschaft stehen. Gleichzeitig führt die Inhaltslosigkeit des familiären Lebens zur geistigen Verarmung der Liebe, zum Fehlen eines tiefen sittlichen Gehalts in den Gefühlen der Ehepartner zueinander, der mit den großen gesellschaftlichen und kulturellen Idealen korrespondiert. Eine Liebe, die nur aus Erotik und Sexualität besteht, könne kein Fundament für eine eheliche Gemeinschaft sein, resümiert W. Fahrn zu Recht seine Untersuchungen. 6 Im Sozialismus besteht kein Gegensatz zwischen der gesellschaftlichen Sphäre der menschlichen Tätigkeit und den persönlichen Beziehungen im Alltag, in der Familie, ein Gegensatz, wie er infolge des entpersönlichenden Charakters der Arbeit in der Ausbeutergesellschaft, unter dem Einfluß der antagonistischen Formen sozialer Entfremdung im Kapitalismus herrscht. Zum Sozialismus gehört die untrennbare Wechselwirkung und Übereinstimmung zwischen der produktiven, gesellschaftlichen Tätigkeit des Menschen und den Bedingungen seines persönlichen Daseins. Ihre materielle Grundlage liegt darin, daß das persönliche Eigentum auf dem gesellschaftlichen Eigentum an den Produktionsmitteln beruht, was eine bestimmte Form der persönlichen Interessiertheit der Bürger an den Ergebnissen ihrer Arbeit bedingt. Für die Entwicklung der familiären Beziehungen spielt die Wechselwirkung von gesellschaftlichem und persönlichem Leben eine große Rolle; insbesondere gil t das für die Erweiterung des geistigen Horizonts der Familie, für die Bereicherung ihrer gesellschaftlichen Interessen und Ideale. Eine solche Wechselwirkung liegt in hohem Maße dann vor, wenn etwa die Begeisterung für Rationalisatoren- und Erfindertätigkeit in der Familie eine Resonanz findet. Ernsthafte schöpferische Tätigkeit läßt sich häufig nicht auf die Arbeitszeit beschränken: Das Nachdenken, das Ausreifen einer schöpferischen Idee geht auch in der Freizeit weiter. Die ökonomische Aufgabe wird auch zu Hause gelöst. Dadurch, daß die Angehörigen dem Rationalisator in seiner angespannten Arbeit moralische Unterstützung und Hilfe erweisen, wird die Sphäre der individuellen Beziehungen reicher, gehaltvoller und wesentlicher. Wir wollen aus dem reichen Material, das uns zu diesem Thema vorliegt, das Beispiel eines Reparaturschlossers aus der Moskauer Weberei Nr. 2 herausgreifen, der einige Rationalisierungsvorschläge für den Bau einer Schwebevorrichtung zum Transport von Einzelstücken einreichte. Die Frau 6 Vgl. W. Fahrn,
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Moral heute, S . 195
dieses Arbeiters, die zu der Zeit Hausfrau, vorher aber Mechanikerin in einem Betrieb war, nahm daran lebhaftesten Anteil. Sie teilte mit ihrem Mann nicht nur das Verständnis für die Wichtigkeit der erfolgten Rekonstruktion der Betriebsabteilung und das diesbezügliche materielle und moralische Interesse. Sie empfand die Begeisterung und den Enthusiasmus, von denen er in seiner schöpferischen Arbeit erfüllt war, voll nach. Sie erwies ihm wirkliche Hilfe und machte sich sogar mit Einzelheiten der Überarbeitung bestimmter Rationalisierungsvorschläge vertraut. Eine solche moralische Hilfe und Unterstützung für die schöpferische Arbeit des anderen findet sich nicht nur in Familien, wo die Eheleute gleiche oder verwandte Berufe ausüben. Interesse für die Tätigkeit des Partners läßt sich auch da beobachten, wo diese von der eigenen gänzlich verschieden ist. Eine der Voraussetzungen dafür ist eine breite Allgemeinbildung, entscheidend jedoch ist der Wunsch, am Streben und an den Interessen seines Nächsten teilzuhaben. Das führt dazu, daß die zwischenmenschlichen Beziehungen, die aus der produktiven gesellschaftlichen Tätigkeit erwachsen, die Familiengemeinschaft reicher machen. Gänzlich anders sind die Einflüsse der kapitalistischen Wirklichkeit auf die Familie beschaffen. In dieser Gesellschaftsordnung h a t der Widerspruch zwischen Persönlichem und Gesellschaftlichem zur Folge, daß der Spießbürger die intime Welt der Familie manchmal als Ver teidigungsinstrument, als Zuflucht vor der Herzlosigkeit empfindet, von der das staatsmonopolistische System beherrscht wird. „Die weitgehende Unpersönlichkeit sowohl des beruflichen als auch des öffentlichen Lebens verstärkt gleichzeitig das . . . Bedürfnis nach Vertrautheit und Intimität. Aus der von vielen Menschen, besonders in Großstädten, erlebten unpersönlichen Kälte der Umwelt strebt der einzelne in die Wärme des kleinen Kreises" 7 , schreibt die westdeutsche Familiensoziologin Renate Mayntz. Unter solchen Bedingungen erscheint die berufliche Arbeit und die gesellschaftliche Aktivität des Menschen (die bewußt gewordenen Aufgaben des Klassenkampfes eingeschlossen) nicht als der grundlegende Ausdruck der Persönlichkeit in ihrer sozialen Bedeutung, nicht als Mittel zur Mehrung des Reichtums der Persönlichkeit, sondern als ihr fremde und feindliche Sphäre. Daher sucht der Mensch „das Bedürfnis nach Eigenbestimmung und Persönlichkeitsentfaltung . . . in der Familie zu befriedigen" 8 . Wenn man aber bedenkt, wie begrenzt die Freizeit der Werktätigen ist, und vor allem, daß sie unter bürgerlichen Verhältnissen im Konsumentensinne genutzt wird, so wird offenkundig, daß die Hoffnung auf die Entfaltung der Persönlichkeit des Menschen in der Familie, ohne die Sphäre der be7
R. Mayntz, Die moderne Familie, Stuttgart 1955, S. 29 8 Ebenda, S. 29/30 12
Mayer
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ruflichen und gesellschaftlichen Tätigkeit und ohne den Bereich der Kultur» nichts weiter ist als eine Illusion. Die reale Darstellung dieses Traumes bezeichnet lediglich ein kleinbürgerliches Glück, das sich schon im vorigen Jahrhundert als geistige Beschränktheit und Langeweile entpuppt hat. Die Interessen der heutigen sowjetischen Familie sind kompliziert und mannigfaltig. Die Fragebogen, welche die Arbeiter des LichatschowWerkes ausgefüllt haben, zeugen von der Vielfalt der Formen von Gemeinschaftlichkeit, die in der sozialistischen Familie auftreten. In 5 2 % der Familien hilft man sich gegenseitig bei der Erziehung der Kinder; in 50°/o bei der Hausarbeit. Bei 4 7 % wird das Haushaltsbudget gemeinsam verwaltet. Gemeinschaftliche Erholung und Entspannung gibt es in 3 9 % der Familien. Bei 3 3 % der Befragten ist von dem Interesse für die berufliche Arbeit der Familienmitglieder die Rede, bei 2 5 % von einem Interesse f ü r gesellschaftliche Tätigkeit. Interesse für die Kunst bezeugen 22%. An erster Stelle steht in den Arbeiterfamilien also die gegenseitige Hilfe bei der Erziehung der Kinder und bei der Befriedigung der materiellen Bedürfnisse des Alltags. Dem Inhalt der Beziehungen zwischen den Ehepartnern entsprechend, lassen sich die befragten Familien in drei Gruppen einteilen: In der ersten dominieren die gegenseitige Hilfe bei der Hausarbeit und bei der Erziehung der Kinder, die gemeinschaftliche Verwaltung des Familienbudgets sowie die gemeinsame Erholung. Zu dieser Gruppe gehören aber auch jene Familien, auf die nur eins dieser Merkmale zutrifft. Die zweite Gruppe umfaßt Familien, in denen ein gemeinschaftliches Interesse für die Kunst, für die berufliche Arbeit der Familienmitglieder und für ihre gesellschaftliche Tätigkeit besteht. Zur dritten Gruppe schließlich sind solche Familien zu zählen, in denen Beziehungen sowohl aus der ersten wie aus der zweiten Gruppe auftreten. Die Familienkollektive der ersten Gruppe verbindet ihre Orientierung auf die alltäglichen Lebensinteressen. Sie machen 4 7 % der Gesamtmenge aus. Die in der zweiten Gruppe zusammengefaßten Familien zeichnen sich durch ihre Orientierung auf gesellschaftliche Interessen aus. Zu ihnen gehören 7 % der Befragten. In der dritten Gruppe (39%) sind die Interessen zwischen dem häuslichen Alltag und der gesellschaftlichen Sphäre geteilt. Die angeführten Daten zeigen den starken Zug der jungen Arbeiter zum gesellschaftlichen Leben, zur Produktionsarbeit, zur Kunst. In 4 6 % der Familien (zweite und dritte Gruppe) bilden diese Interessen die Grundlage der Gemeinschaftsbeziehungen. Darüber hinaus ist die familiäre Gemeinschaft vor allem durch Alltagsinteressen, durch die Sorge um die Erziehung der Kinder charakterisiert. Nur bei einem kleinen Teil der Familien sind die Gemeinschaftsbeziehungen hauptsächlich an Interessen gesellschaftlichen Inhalts gebunden. Das gilt besonders f ü r junge, noch kinderlose Ehen. 178
Im Sozialismus bildet die Familie eine dauerhafte Gemeinschaft, die, wie sich zeigt, eine breite Skala von individuellen und gesellschaftlichen Interessen umfaßt. Es ist daher vollauf berechtigt, das Familienkollektiv als eine wirkliche Lebensgemeinschaft zu bezeichnen, die aus der Liebe zueinander und aus geistiger Übereinstimmung entstanden ist. Unmittelbar auf die Realisierung der Interessen gerichtet, die den zwischenmenschlichen Beziehungen zugrunde liegen, bildet das familiäre Kollektiv die notwendige Grundlage dafür, daß die Tätigkeit des Menschen Früchte trägt, und fördert zugleich das Wachstum der Persönlichkeit, ihre geistige Welt, ihr Streben, ihr Verhältnis zu den Mitmenschen. Völlig anders in Inhalt und Charakter sind die Beziehungen innerhalb der bürgerlichen Familie, selbst dann, wenn sie auf gegenseitigem Verständnis und gegenseitiger Hilfe beruhen. Dieses Verhältnis ist häufig durch den äußeren Zwang zu innerfamiliärer Solidarität in einer für die Familienmitglieder schwierigen Zeit bedingt. „Gerade die gefühlsmäßige Verbundenheit mit anderen Menschen in der Familie gibt dem einzelnen den inneren Halt, dessen er in einer Zeit der äußeren Lebensbedrohung, der Aufgeteiltheit und Zersplittertheit des gesellschaftlichen Lebens besonders bedarf." 9 Die alte bürgerliche Lebensregel Mein Haus ist meine Burg" hat sich unter den neuen Verhältnissen offensichtlich verändert. Die familiären Beziehungen erinnern jetzt häufig an eine n Verteidigungsgemeinschaft" gegen die Unbilden des Daseins. In diesem Falle kann nicht die Rede sein von wirklichen Gemeinschaftsbeziehungen. Solche Verbindungen, die einem Kollektiv nur von ferne ähneln, erweisen sich als durch äußere Umstände diktierte pseudogemeinschaftliche Beziehungen und tragen das unauslöschliche Mal des Individualismus der bürgerlichen Persönlichkeit. Die in der kapitalistischen Gesellschaft existierende Form familiärer Bindung der Menschen bildet eine Barriere, die das persönliche Leben vom gesellschaftlichen trennt, wogegen unter sozialistischen Bedingungen die Familiengemeinschaft, da sie auf gesellschaftlich belangvolle Ziele und Ideale orientiert ist, ein Bindeglied zwischen diesen beiden Lebenssphären darstellt. So steht die sozial-historische Entwicklung der Familie in engem wechselseitigem Zusammenhang mit der Veränderung der Persönlichkeit, mit dem Auftreten und der Lösung von (den Bedingungen ihres Entstehens und ihrem Inhalt nach) verschiedenartigen sozialen Problemen des Menschen, des einzelnen und der Gesellschaft. J e mehr die Familie von patriarchalischer Ungleichheit, materiellen Erwägungen und ökonomisch-produktiven Funktionen frei wird (was erst in der sozialistischen Gesellschaft möglich 9 Ebenda, S. 29 12'
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ist), um so eher findet der Mensch in ihr jene Gemeinschaftsbeziehungen, deren er für seine soziale Formung, für seine allseitige Entwicklung und für eine fruchtbare Tätigkeit bedarf. Die kapitalistische Ordnung hemmt den historischen Entwicklungsprozeß der Familie. Sie konserviert zwangsläufig jegliche Art von Abhängigkeit, welche die Beziehungen zwischen den Eheleuten, zwischen Eltern und Kindern an materielle Erwägungen und ähnliche sekundäre Rücksichten bindet. Sie behindert das Streben nach höherer Vergesellschaftung des Lebens oder gestattet doch nur seine einseitige, widersprüchliche Verwirklichung. Sie erzeugt schließlich verzerrte Formen von Kollektivität (Surrogate der Gemeinschaft) in den innerfamiliären Beziehungen. Man kann heute vor der tiefen Widersprüchlichkeit von Wohlstand, Glück und progressiver Entwicklung der Familie im kapitalistischen System nicht mehr die Augen schließen. Eine repräsentative Versammlung westdeutscher und österreichischer Politiker, Ökonomen und Soziologen, die Probleme der Familie in der kapitalistischen Welt erörterte, kam nicht umhin, festzustellen, daß die Marktwirtschaft vom System her familienfeindlich sei. 10 Dennoch neigen viele bürgerliche Soziologen dazu, von einem reaktionär-utopischen Standpunkt an den Zusammenhang von kapitalistischer Ordnung und Familie heranzugehen, und erwarten, daß sich zwischen ihnen eine irgendwie geartete harmonische Übereinstimmung herstellt. Dabei wird der Familie die Rolle eines Rettungsankers im menschenfeindlichen Ozean der bürgerlichen Wirklichkeit zugewiesen. So meint der seriöse westdeutsche Soziologe Wurzbacher — und er nimmt dabei den Wunsch für die Wirklichkeit —, daß die Familie unter den gegenwärtigen kapitalistischen Verhältnissen „die soziale Institution ist, die wohl am meisten auf ganzheitliche Persönlichkeitsentfaltung des Einzelnen zielt und am harmonischsten die sozialschöpferische Spannung zwischen Freiheit und Bindung verwirklicht (d. h., die Persönlichkeit soll ihre Interessen abstimmen mit den Bedingungen, in denen sie zu existieren gezwungen ist, mit den unmenschlichen Normen der bürgerlichen Wirklichkeit — die Red.), ganz im Gegensatz zu jenen Tendenzen, die das außerfamiliäre Leben beherrschen" 1 1 . Theoretisch gesehen, geht dieser reaktionäre Utopismus mit der metaphysischen Trennung von Familie und Gesellschaft einher, mit der E n t gegensetzung einer vermeintlichen idealen Harmonie in den familiären Beziehungen und dem zutiefst widersprüchlichen Charakter aller übrigen Erscheinungen der bürgerlichen Wirklichkeit. 10
Familienpolitik in der Industriegesellschaft, hrsg. von der Politischen Akademie Eichholz e. V., Bonn 1964, S. 6 11 In: K. Salier, Die Biologie der Familie, Rudolstadt 1960, S. 99
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A . I . DEMEDOVA
Soziale und individuelle Faktoren des Glücks
Seit jeher träumen die Menschen vom Glück, streben danach und kämpfen, um es zu erlangen. Die Ideologen der verschiedenen Völker, Klassen und Gruppen haben diesen uralten Menschheitstraum in den Rang eines ewigen Daseinsproblems erhoben und versucht, dafür im Rahmen der jeweils gegebenen historischen Bedingungen eine Lösung zu finden. Bei der theoretischen Erörterung dieses Themas stießen gegensätzliche Auffassungen aufeinander. Idealisten und Theologen, die die Interessen der herschenden Klassen verteidigten, erkannten sehr wohl, daß politische Freiheit wie materieller Wohlstand für die Masse der Werktätigen unerreichbar sind. Daher reduzierten sie das Glück auf die sittliche oder geistige Befriedigung im religiösen Sinne. Die Materialisten dagegen verbanden ihre Glücksvorstellungen auf die eine oder andere Weise mit der Befriedigung der lebenswichtigen Bedürfnisse des Menschen, mit der Entwicklung seiner intellektuellen und physischen Kräfte. Meinungsverschiedenheiten zwischen den Materialisten bezogen sich hauptsächlich auf die unterschiedliche Interpretation der Bedürfnisse und der Art und Weise ihrer Befriedigung. Viele progressive Denker versuchten zu ergründen, wie das soziale Unglück zu beseitigen sei, das in jahrtausendelanger Herrschaft des Privateigentums entstanden war. Die arbeitenden Menschen, die mit ihrer Lage unzufrieden waren, träumten von einem freien und glücklichen Leben. Dieser Traum begleitete die Unterdrückten in ihrem schweren Kampf; er fand sich in der Literatur als das Märchen vom glücklichen Menschen wieder und in der Philosophie als die Utopie einer glücklichen Gesellschaft. Marx, Engels und Lenin haben, anders als ihre Vorläufer, vom Glück der Menschen nicht nur geträumt, sondern ihr Leben dem Kampf für seine Verwirklichung gewidmet. Eine notwendige Voraussetzung des Glücks sahen sie darin, die Menschen von jenen Leiden zu befreien, die von den Mächten der Gesellschaft und der Natur herrühren. Als Mittel zu solcher Befreiung erschienen ihnen erstens die Umgestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse nach gerechten und humanen kommunistischen Grundsätzen und zweitens die maximale Entwicklung der Produktion, die Beherrschung der Naturk r ä f t e zum Nutzen der Gesellschaft, wodurch die relativ vollständige Be-
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friedigung der vernünftigen materiellen und geistigen Bedürfnisse aller Menschen sowie die freie Entwicklung und gesellschaftliche Nutzung ihrer Fähigkeiten möglich werden. Die marxistischen Theoretiker konstatierten, daß die Bourgeoisie, zum Unterschied von Sklavenhaltern und Feudalherren, das Recht jedes Menschen auf Glück formal anerkennt. Doch sei selbst das schönste bürgerliche Recht nur eine Deklaration. Gleiches Recht auf Glück verlangt entsprechende materielle Bedingungen, doch „da sorgt die kapitalistische Produktion dafür, daß der großen Mehrzahl der gleichberechtigten Personen nur das zum knappen Leben Notwendige zufällt, respektiert also die Gleichberechtigung des Glückseligkeitstriebes der Mehrzahl kaum, wenn überhaupt, besser, als die Sklaverei oder die Leibeigenschaft dies t a t " Daher vermochte die Bourgeoisie die Werktätigen weder mit Hilfe der Religion, die ein Glück nach dem Tode in Aussicht stellt, noch mit der Verkündigung der formalen bürgerlichen Gleichheit, die das Recht eines jeden auf Glück anerkennt, davon zu überzeugen, daß die Freiheit des kapitalistischen Unternehmertums ihnen das Glück garantiert. „Wer verbürgt dem Arbeiter", schrieb Friedrich Engels, „daß der gute Wille zur Arbeit hinreichend ist, um Arbeit zu bekommen, daß Ehrlichkeit, Fleiß, Sparsamkeit, und wie die vielen von der weisen Bourgeoisie ihm empfohlenen Tugenden alle heißen, für ihn wirklich der Weg zum Glücke sind? Niemand. Er weiß, daß er heute etwas h a t und daß es nicht von ihm selbst abhängt, ob er morgen auch noch etwas h a t ; er weiß, daß jeder Wind, jede Laune des Arbeitgebers, jede schlechte Handelskonjunktur ihn in den wilden Strudel zurückstoßen kann, aus dem er sich temporär gerettet hat und in dem es schwer, oft unmöglich ist, oben zu bleiben." 2 Doch seitdem der Kapitalismus existiert, versuchen seine Apologeten immer wieder, die Werktätigen von den Vorzügen und dem Nutzen des Privatunternehmertums zu überzeugen. Die heutigen bürgerlichen Ideologen greifen zu reaktionären Ideen und versuchen, die Völker in ihrem Kampf für Freiheit, Frieden, Sozialismus und wahrhaftes Glück zu entwaffnen. J e nachdem, ob sie das Problem des persönlichen Glücks positiv oder negativ beantworten, lassen sich die gegenwärtigen bürgerlichen Konzeptionen grundsätzlich in optimistische und pessimistische untergliedern. Optimistisch sind jene Theorien, die offiziell von den bürgerlichen Regierungshäuptern verbreitet werden, so etwa Johnsons Doktrin der ^großen Gesellschaft", aber auch die Konzeptionen der führenden Ideologen und Propagandisten, wie z. B. Rostows. Ihre Grundidee ist, daß in der bür1
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F. Engels, Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie, in: K. Marx / F. Engels, Werke, Bd. 21, S. 288 F. Engels, Die Lage der arbeitenden Klasse in England, in: K. Marx/F. Engels, Werke, Bd. 2, S. 258/59
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gerlichen Gesellschaft jeder Mensch glücklich werden kann. Als politische Bedingung solchen allgemeinen Glücks betrachten sie die bürgerliche Freiheit und Demokratie. Die unerläßlichen Faktoren individuellen Glücks — materieller Wohlstand, Prosperität, „Solidarität", Achtung gegenüber den geistigen Werten (vor allem den religiösen) — sind nach ihrer Ansicht im entwickelten Kapitalismus durchaus erreichbar, weil sich im Stadium der „Industriegesellschaft", der „Gesellschaft des Massenkonsums" das Wesen des Kapitalismus angeblich gewandelt habe, so daß er „transformiert" und ein „Volkskapitalismus" geworden sei. Die Verkündigung des Prinzips der „Lebenskunst", der Möglichkeit, durch Geschäftstüchtigkeit und Profit glücklich zu werden, ist der Versuch der Bourgeoisie, den Verstand der Werktätigen zu vernebeln und sie vom Kampf für freie Arbeit, Frieden und wirkliches Glück abzuhalten. Ein eigenartiger „Optimismus" zieht sich durch die religiöse Ideologie der Gegenwart, den Neothomismus und die katholische Soziallehre. Dem Anschein nach beschränken sich die Neothomisten auf außerirdische Fragen, tatsächlich aber befassen sie sich mit allen sozialen Lebenssphären und versuchen nach Kräften, Einfluß auf die geistigen und politischen Geschehnisse zu gewinnen. Zum Unterschied von den religiösen Dogmatikern des Mittelalters akzeptieren sie die Möglichkeit und Realität irdischen Glückes, wenn auch der Mensch nach ihrer Ansicht das höchste Glück erst nach seinem Tode von Gott empfangen kann. In letzter Instanz trägt die optimistische Tendenz der gegenwärtigen bürgerlichen Ideologie den Stempel der Pseudowissenschaftlichkeit, der Apologetik. Die bürgerliche Gesellschaft ist außerstande, jedem Menschen wirkliches Glück zu geben, weil in ihr die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen ebenso bestehenbleibt wie die ungeheure Ungleichheit im Hinblick auf die Entwicklung und Nutzung der menschlichen Fähigkeiten. Wenn bestimmte Schichten der Werktätigen zu materiellem Wohlstand kommen, so bleibt ihnen immer die Sorge, daß dieser Wohlstand, der mit schwerer Arbeit verbunden ist und manchmal auch mit dem Verlust gültiger sozialer Ideale, sich in einer unbeständigen Welt als ebenso unbeständig erweisen kann. Angesichts des Fehlens hoher gesellschaftlicher Ideale und angesichts einer Zukunft ohne echte Perspektive sehen viele Menschen einen Ausweg nur noch in einem tragischen Entschluß. Der Kapitalismus vermag die Hauptbedingung für das allgemeine Glück •der Menschen nicht zu realisieren: wirkliche Gleichheit, freie, allseitige Entwicklung jedes einzelnen und Nutzung seiner Fähigkeiten. In noch viel stärkerem Maße trifft dies auf die Lage der Werktätigen in den unterdrückten, kolonialen und abhängigen Ländern zu. Die Unsicherheit menschlichen Daseins im Kapitalismus — Krisen, Arbeitslosigkeit, Kriege, Unbeständigkeit der politischen Situation, aber auch die
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unter diesen Bedingungen zwangsläufig auftretende Reaktion auf den illusorischen, verlogenen Optimismus der offiziellen Ideologen — n ä h r t pessimistische Glückskonzeptionen in der bürgerlichen Philosophie. Nach diesen ist das Glück unerreichbar oder zumindest höchst vergänglich. Solche pessimistischen Theorien sprechen von der F u r c h t vor der Zukunft, von der natürlichen Verdammnis und der Ohnmacht des einzelnen. Von solcher Art sind die apokalyptischen Lehren, welche die Unausweichlichkeit eines nahen Weltuntergangs oder des Untergangs der „westlichen Zivilisation" prophezeien, sowie auch gewisse religiöse, zyklische u n d antitechnizistische Theorien. In der existentialistischen Philosophie herrscht die F u r c h t vor dem Tode. Ähnlich dem Stoiker der Zerfallsperiode des römischen Imperiums, Marc Aurel, sind die Existentialisten der Ansicht, das Beste am Leben sei seine Kürze. Der französische Existentialist Albert Camus, der das Leben und die Welt f ü r eine unbegreifliche Absurdität hält, r ä t der Menschheit, ihre Angst durch den M Sprung in den T o d " zu überwinden. Die pessimistischen Urteile über das Glück, die sich in der bürgerlichen Philosophie finden, sind weit davon entfernt, das Problem wirklich zu lösen. Die Ideologen erkennen nicht, wo f ü r den Menschen der reale Ausweg aus dem Zustand der Verdammnis liegt, weil sie dessen Tragödie im Kapitalismus nicht aus der gesellschaftlichen Lebensweise herleiten, sondern aus der in alle Ewigkeit unvollkommenen N a t u r des Menschen. In der revolutionären Umgestaltung der kapitalistischen Gesellschaft, in der Beseitigung der antagonistischen Klassengegensätze und im Aufbau des Kommunismus sehen die Marxisten die wichtigsten sozialen Bedingungen f ü r wirkliche Gleichheit und freie Arbeit, f ü r die Herausbildung und Befriedigung der sinnvollen Bedürfnisse der Werktätigen. Es h a t sich gezeigt, daß in der komplizierten Entwicklung der Menschheit zu einer glücklichen Z u k u n f t kein Weg an der sozialistischen Revolution vorüberführt. Sie ist der einzig mögliche und konsequente Schritt dazu, wenn sie auch oft das Opfer der besten Vertreter des revolutionären Volkes verlangt. Die Mühsal des Sieges und seine Resultate würdigend, schrieb Lenin: „Aber wir können m i t Recht stolz darauf sein und sind stolz darauf, daß uns das Glück zuteil geworden ist, den Aufbau des Sowjetstaates zu beginnen und d a m i t eine neue Epoche der Weltgeschichte einzuleiten, die Epoche der H e r r s c h a f t der neuen Klasse, die in allen kapitalistischen Ländern unterd r ü c k t ist und die überall zu neuem Leben, zum Sieg über die Bourgeoisie, zur D i k t a t u r des Proletariats, zur Erlösung der Menschheit vom Joch des Kapitals, von den imperialistischen Kriegen vorwärtsschreitet." 3 3
W. I. Lenin, Zum vierten Jahrestag der Oktoberrevolution, in: Werke, Bd. 33, S. 35
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Der Sieg der Oktoberrevolution hat die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen beseitigt und nicht nur die Produktionsmittel in die Hände der Werktätigen gegeben, sondern ihnen auch den Zugang geöffnet zu allen geistigen Reichtümern, welche die Menschheit hervorgebracht hat. Die ganze, riesenhafte Arbeit der kommunistischen Revolutionäre diente einem Ziel: einer größtmöglichen Zahl von Menschen möglichst viel Gutes und möglichst große Freude zu geben. ) ; Es wäre sinnlos, die Macht zu ergreifen", schrieb Anatolij Lunacarskij, „wenn wir die Menschen nicht glücklich machten. Die Machtergreifung dient gerade dazu, den Menschen Glück zu geben." 4 Der Inhalt des persönlichen Glücks wird im wesentlichen durch den Charakter der Beziehungen zwischen dem einzelnen, dem Kollektiv und der Gesellschaft, durch den Reichtum aller menschlichen Beziehungen geprägt. Neue gesellschaftliche Verhältnisse bringen neue Ideale, neue Bedürfnisse und zugleich die Möglichkeiten ihrer Realisierung hervor. Die sozialistische Wirklichkeit hat die materiellen und geistigen Bedürfnisse der Menschen erhöht. Die Kultur entwickelte sich besser denn je; es wuchs das Bedürfnis des einzelnen nach Aneignung von Wissen, nach geistiger Entwicklung, nach Vervollkommnung aller seiner Fähigkeiten; es wuchs das Bedürfnis, seinem Volk maximal zu nützen, alles Schöne für die Heimat zu schaffen und sie hochzuhalten. All das hat die allgemeine Vorstellung vom Glück der Sowjetmenschen beträchtlich reicher gemacht. „Wir haben gelernt", schrieb Makarenko, „glücklich zu sein in jenem höchsten Sinne, da man auf das Glück stolz sein kann. Wir haben gelernt, glücklich zu sein, wenn wir arbeiten und schaffen, siegen und kämpfen. Wir haben gelernt, glücklich zu sein im Wissen . . . , bei der Erholung . . ., in dem Gedanken an unser Land, weil dieses Land jetzt uns gehört und nicht mehr unseren Herren." 5 Der Sozialismus löst den uralten Widerspruch zwischen dem Glück des einzelnen und den Interessen der Gesellschaft. Die sozialistische Umgestaltung der Gesellschaft und der Aufbau des Kommunismus dienen dem Zweck, die realen Möglichkeiten dafür zu schaffen, daß alle Menschen glücklich leben können. Dieses Ziel erschien im Programm der Kommunistischen Partei der Sowjetunion in Verbindung mit Frieden, Arbeit, Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit als das höchste kommunistische Ideal. Die Bearbeitung des Persönlichkeitsproblems ist in der marxistischen Philosophie daher direkt verbunden mit der Unter4
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A. V. Lunacarskij, Z.'idaöi prosvesöenija v sistenie sovetskogo stroitel'stva (Die Aufgaben der Aufklärung im System des sowjetischen Aufbaus), in: A. V. Lunacarskij, Onarodnom obrazovanii (Über die Volksbildung), Moskva 1958, S. 274 A. S. Makarenko, Glück, in: Werke, Siebenter Band, Berlin 1963, S. 43
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suchung dessen, worin das wirkliche Glück des Menschen besteht und welche individuellen und sozialen Faktoren es konstituieren. In den letzten Jahren sind verschiedene marxistische Arbeiten zu den ethischen Aspekten des Glücks erschienen. 6 Doch läßt sich Glück keinesfalls auf sittliche Befriedigung beschränken; denn dabei bleiben die Gesamtheit der materiellen und geistigen Bedürfnisse, ihre Entwicklung und Befriedigung außer acht. Das Thema Glück hat weitergehende sozialpolitische, aber auch psychologische Aspekte, ohne die es sich nicht verstehen, geschweige denn als einzelner und im gesellschaftlichen Maßstab praktisch bewältigen läßt. In jeder konkret-historischen Situation wird das Glück des Menschen sowohl von objektiven Bedingungen als auch von subjektiven Faktoren bestimmt. Zu den objektiven Bedingungen zählen in der sozialistischen Gesellschaft die Sicherung des Friedens gegen die Drohung eines thermonuklearen Krieges, der Grad der Herrschaft über die Naturkräfte, die Entwicklungsstufe des materiellen und geistigen Lebens, die reale Möglichkeit zu allseitiger Entwicklung der menschlichen Fähigkeiten und deren Nutzung, eine hohe Arbeitskultur, die dazu beiträgt, daß die Arbeit allmählich zum ersten Lebensbedürfnis wird. Die Gesellschaft beeinflußt das Glück des Menschen in dem Grade, wie der Mensch von ihr abhängt. Doch gibt es eine Vielzahl von individuellen Lebensfragen, die nicht die Gesellschaft löst, sondern der einzelne selbst. Der Weg zum Glück und sein Erfolg werden vom Reifegrad der betreffenden Entscheidung, vom aktiven Handeln des Menschen bestimmt. Daher sind die persönlichen Qualitäten des Menschen — als subjektive Faktoren — zweifellos von Bedeutung für die Größe und Dauerhaftigkeit seines Glücks. Zu ihnen gehören das Vermögen, günstige objektive Bedingungen zu nutzen, das individuelle Bewußtsein, die persönlichen Fähigkeiten und Gefühle, Temperament und Lebenserfahrung wie auch die Zielstrebigkeit und die Stärke des Willens. Sie tragen in erster Linie dazu bei, die mit den Interessen der Gesellschaft abgestimmten Ziele des einzelnen auf optimale Weise festzulegen und den geeigneten Weg zu ihrer Realisierung zu finden. Es geht nicht an, das Glück zu suchen, ohne zu wissen wo; denn sonst — um mit Jean-Jacques Rousseau zu sprechen — kann es geschehen, daß man daran vorbeigeht, und wir haben ebenso viele Chancen, es zu finden, wie es dabei Irrwege gibt. 6
Vgl.: 0 kommunisticeskoj etike (Uber kommunistische Ethik), Leningrad 1962, S. 202—205; F.B. Sadykov, Kommunisticeskaja nravstvennost' (Kommunistische Sittlichkeit), Nowosibirsk 1963, S. 127—159; S. S. Utkin, Osnovy marksistsko-leninskoj 6tiki (Grundlagen der marxistisch-leninistischen Ethik), Rostow 1962
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Allerdings stimmen die persönlichen Ziele der Menschen manchmal mit den gesellschaftlichen nicht überein bzw. entsprechen ihnen nicht immer. Das kann zu verwerflichen Handlungen und zur Anwendung unzulässiger Methoden führen, um individuelles Glück zu finden. Die Normen des kommunistischen Lebens sichern die Interessen und das Wohlergehen aller Kollektive und aller einzelnen. Diesen Normen zu folgen heißt, die besten Bedingungen für die freie Entwicklung aller Mitglieder der Gesellschaft zu schaffen. Je höher ein Mensch in sittlicher Beziehung steht und je besser seine persönlichen Ziele und Verhaltensweisen dem gesellschaftlichen Fortschritt gerecht werden, desto mehr trägt er zum Glück der anderen und zu seinem eignen bei. Zum Glück gehören also unbedingt bestimmte objektive Bedingungen; aber ebenso wichtig ist, daß die Menschen mit diesen Bedingungen etwas anzufangen verstehen. Daher wird die Aufgabe, den Kommunismus aufzubauen, durch die Erziehung der Menschen gelöst, die imstande sind, große materielle und geistige Werte zu schaffen, und zugleich auf deren vernünftige Nutzanwendung ihr Glück gründen. Die harmonische Verbindung des gesellschaftlichen mit dem individuellen Glück setzt nicht nur deren dialektische Einheit voraus, sondern ebenso den Unterschied zwischen ihnen. Ihre Einheit liegt darin, daß bestimmte soziale Bedingungen nötig sind, damit jeder Mensch glücklich ist. Sie bedeutet aber auch, daß das Glück eines Menschen nicht allein seine persönliche Angelegenheit ist; es wird zum Anliegen aller. In der sozialistischen Gesellschaft kann der Mensch jedoch nicht allen seinen Neigungen folgen, sondern nur jenen, die progressiven Charakter haben. Daher geht es nicht an, in dieser Gesellschaftsordnung persönliche Ziele und ein individuelles Glück anzustreben, die den Aufgaben des kommunistischen Aufbaus entgegenstehen. Das führt letzten Endes zum Konflikt mit der Gesellschaft und bringt statt Glück Unglück. Persönliches Glück im Sozialismus ist der Prozeß der Befriedigung aller vernünftigen Bedürfnisse des Menschen, die letzten Endes den Fortschritt der Menschheit, das gesellschaftliche Glück fördern und die dem Menschen zugleich ein starkes Gefühl der Freude, der physischen und geistigen K r a f t , das Bewußtsein seiner gesellschaftlichen Bedeutung und Nützlichkeit geben. Das Glück eines jeden Menschen hängt vom Grad des gesellschaftlichen Fortschritts ab, wie jede Gesellschaft zugleich den Maßstab ihres Wertes darin findet, inwieweit sie allen Menschen Gleichheit, Freiheit, Wohlergehen und Glück bringt. Obwohl der Sozialismus die Menschen von allen Formen der Ungleichheit und Unterdrückung befreit, verfolgt er nicht das Ziel, für alle absolut gleiche Lebensbedingungen zu schaffen. In der Auseinandersetzung mit dem liberalen Professor M. Tugan-Baranowski über das Problem der Gleich-
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heit hob Lenin hervor, daß der Sozialismus sich durchaus nicht dieAufgabe stelle, die individuellen Fähigkeiten der Menschen wie auch die Gesamtheit ihrer Lebensbedingungen auf ein völlig einheitliches Niveau zu heben. Der Sozialismus geht keinesfalls darauf aus, eine wie auch immer beschaffene Herrschaft gleichartiger, stereotyper Menschen zu begründen, wie das unsere ideologischen Kontrahenten meinen. Er ermöglicht die maximale Entwicklung der individuellen Anlagen und Talente jedes Menschen, damit jeder gemäß seinen Fähigkeiten, seinem Streben, seinen Idealen und Zielen glücklich sei. Nicht gleichförmige, sondern profilierte, vielseitig entwickelte, begabte Menschen erzieht die neue Gesellschaft. Es versteht sich, daß auch deren Vorstellung von Glück nicht genormt ist. Das gemeinsame Ziel aller Werktätigen ist der Aufbau des Kommunismus. Diese gemeinsame Aufgabe ist ein wesentliches Moment der persönlichen Ziele jedes Sowjetbürgers geworden. Insofern läßt sich sagen, daß die Interessen des einzelnen und der Gesellschaft übereinstimmen. Doch das seinem Inhalt nach gemeinsame Ziel verwirklicht sich in einer unbegrenzten Vielfalt individueller Formen. Die persönlichen Ideale jedes einzelnen haben, wenngleich sie diesem Ziel entsprechen, einen individuellen, nur ihm eignen Charakter. Daher die Verschiedenheit der Pläne und Ziele der Individuen und ihrer Vorstellungen vom Glück. Was ist von der so häufig gebrauchten Redewendung „Jeder wird auf seine Weise glücklich" zu halten? In gewissem Sinne trifft sie zu. Denn sie meint, daß jeder Mensch seinen besonderen, nur ihm eigenen Charakter, seine speziellen Neigungen und Fähigkeiten, seine durchaus einmalige Bedürfnisstruktur besitzt. Was den einen glücklich macht, mag dem anderen nicht genügen, und was den einen kaum berührt, bedeutet für den anderen die Erfüllung. Man kann nicht über individuelles Glück sprechen, ohne die Entwicklung der gesellschaftlichen und individuellen Bedürfnisse des Menschen im weitesten Sinne zu berücksichtigen. Diese sind vielfältig und vielbedeutend; ihr Charakter ist immer historisch konkret. Von ihrer materiellen und geistigen Befriedigung hängt die Fülle oder Beschränktheit des Glücks ab, die Zufriedenheit oder Unzufriedenheit mit dem Leben. Das alles kompliziert die Analyse und Verallgemeinerung des Glücksbegriffs und legt die Ansicht nahe, es gebe kein objektives Kriterium für das Glück des Menschen. Eine solche Ansicht aber ist nicht nur falsch, sie kann auch Schaden anrichten. Der Verzicht auf ein soziales Kriterium für individuelles Glück kann zur Rechtfertigung eines religiösen, bürgerlichen oder kleinbürgerlichen Glücksideals führen. Die Kommunisten messen das Glück stets an der gesellschaftlichen Relevanz der Ziele und Ideale des einzelnen. Den genialen fortschrittlichen Denkern und Kämpfern Marx, Engels und Lenin, wie auch ihren Kampf-
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genossen und Nachfolgern, ließ der tiefe Schmerz über das massenhafte Unglück, das Mitgefühl mit dem Elend der Mehrheit, das Bewußtsein des eigenen Vermögens, für das Glück der Menschen zu kämpfen, und der Glaube daran, daß es einen Weg zur Befreiung der Menschheit vom Druck des Kapitals gibt, keine Ruhe. „Wenn man ein Ochse sein wollte", schrieb Marx an Sigfrid Meyer, „könnte man natürlich den Menschheitsqualen den Rücken kehren und für seine eigne Haut sorgen." 7 Der Kampf für die Befreiung der Werktätigen wurde ihre Lebensaufgabe. Marx, den viele Schwierigkeiten und Entbehrungen gleichgültig ließen, ging unaufhaltsam den eingeschlagenen Weg. Eben darum erklärte er seiner Tochter, Glück bedeute Kampf. Auch Lenin, der immer bereit war, Verständnis für jegliche Lebensbedingungen aufzubringen, und der einen genialen Blick für die Tendenzen der geschichtlichen Entwicklung besaß, vermochte sein Dasein nicht von der Befreiung des Volkes zu trennen. „Das ist eben mein Schicksal", schrieb er an Inès Armand. „Ein Waffengang nach dem andern — gegen politische Dummheiten und Banalitäten, gegen den Opportunismus usw. So geht das seit 1893. Daher auch der Haß der Hohlköpfe. Nun, ich würde trotzdem mein Schicksal nicht gegen einen f r i e d e n ' mit den Hohlköpfen eintauschen." 8 Die wirklichen Kämpfer für die Sache des Volkes, für seine Freiheit, nahmen viele Entbehrungen auf sich, weil sie in dem bevorstehenden gerechten Sieg das allgemeine Glück erkannten, das ihr Kraftquell und der Stimulus ihrer Tätigkeit geworden war. „Ein heller Strahl für die anderen sein", schrieb Feliks Dzierzynski, „selbst Licht ausstrahlen — das ist das höchste erreichbare Glück für den Menschen. Dann fürchtet der Mensch weder Leiden noch Schmerz, weder Kummer noch Not. Dann hört der Mensch auf, den Tod zu fürchten, obgleich er erst dann lernt, das Leben wirklich zu lieben." 9 Wenn wir sagen, daß man ohne Arbeit und Kampf nicht glücklich werden kann, so dürfen wir nicht vergessen, daß der Kampf kein Selbstzweck ist, sondern ein Mittel, um glücklich zu werden. Wir müssen also auch die Ergebnisse des Kampfes berücksichtigen. Der Kampf kann erfolglos sein und eine bittere Niederlage bringen. Er kann aber auch zum gegenwärtigen Zeitpunkt oder in der Perspektive siegreich sein. Diesen Sieg kann sich der Kämpfer oder ein anderer, in dessen Namen er errungen wurde, zu7
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Marx an Sigfrid Meyer in New York, in: K. Marx / F. Engels, Werke, Bd. 31, Berlin 1965, S. 542 W. I. Lenin, An Inès Armand, in: Werke, Bd. 35, Berlin 1966, S. 237 F. Dzierzynski, Dnevnik. Pis'ma k rodnym (Tagebuch. Briefe an die Angehörigen), Moskva 1958, S. 179/80
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nutze machen. Alle diese Unterschiede sind zu beachten, wenn wir den Kampf, als individuelles oder gesellschaftliches Glück verstanden, analysieren. Ein persönliches Glück ist f ü r den Kämpfer nur dann möglich, wenn sein Kampf mit einem Sieg endet, den er mit Gefühl und Verstand empfinden kann. Wenn der Kampf gefahrvoll ist, wenn der Kämpfer sein Leben riskiert und manchmal auch für eine Idee, für die Sache aller oder um der Rettung eines ihm nahen Menschen willen bewußt in den Tod geht, so kann man dies kaum ein persönliches Glück nennen; denn er selbst geht zugrunde. In diesem Falle wird der Mensch ein Held, um seinen Mitmenschen Unglück zu ersparen. Ein Leben, das man dem Verrat, dem Verlust der eigenen Würde, der Ehre und des Gewissens verdankt, bringt mehr Unglück als der Tod. „Lieber stehend sterben als auf Knien leben!" — mit dieser Devise sind die standhaften Helden gestorben. Eine solche Selbstaufopferung findet, sofern es keinen anderen Ausweg gibt, ihre moralische Rechtfertigung. Doch vermag diese Kampfform nicht so sehr dem Kämpfer Glück zu bringen als vielmehr jenen anderen, für die er sein Leben gab. Wir halten das Andenken jener hoch, die sich im Kampf für Fortschritt und Glück der kommenden Generationen freiwillig geopfert haben. Das höchste Ziel und das wichtigste Merkmal der Tätigkeit der Kommunisten liegt darin, einer größtmöglichen Zahl von Menschen den höchsten denkbaren Nutzen und das höchste Glück zu bringen. So gewinnt ihr Lebensziel große gesellschaftliche Relevanz, an der sich die Fülle, die Maßstäbe und der Inhalt des persönlichen Glücks bestimmen. Zweifellos bietet das Leben jedes Menschen Raum für den Kampf, f ü r Heldentaten und Heroismus. Doch nicht immer muß dabei das Leben aufs Spiel gesetzt werden. Denn Leben, Gesundheit, Arbeitsfähigkeit sind hohe Werte, ohne die man nicht von wirklichem Glück sprechen kann. Hunderte von Menschen sind glücklich in ihrer tagtäglichen ehrlichen Arbeit, sie erfreuen sich verdienter Achtung, wenn sie auch keine Helden und keine überragenden Persönlichkeiten sind; bei weitem nicht alle Menschen vollbringen Heldentaten. Doch es steht außer Zweifel, daß es kein Glück gibt ohne ein fortschrittliches Lebensziel und ohne die tagtägliche Arbeit dafür. Der Kommunismus erfordert nicht, die individuellen Glücksideale zu standardisieren und einzugrenzen. Sie sind zahllos und mannigfaltig, aber das bedeutet nicht, daß sie dem allgemeinen Ziel, den Kommunismus aufzubauen, entgegenstehen. Unsere Gesellschaft strebt nach der Verwirklichung des kommunistischen Ideals, weil nur dieser Weg zur Überwindung der gesellschaftsfeindlichen, egoistischen Bedürfnisse führt, die unter dem Einfluß der vom Privateigentum geprägten Ideologie der bürgerlichen Welt entstehen.
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Die primitiven kleinbürgerlichen Ideale resultieren aus dem Abrücken von unseren gemeinsamen Zielen. Ihre Anhänger versuchen auf verschiedene Weise, soviel wie möglich von der Gesellschaft zu nehmen, während sie ihren eigenen Anteil am Wohl der Gesamtheit so niedrig wie möglich halten. Egoisten und Habsüchtige stehlen den anderen ihr Glück, aber letzten Endes machen sie auch sich selbst unglücklich. Ihr so begründetes Wohlleben hat keinen Bestand. Menschen, die kleinbürgerliches Streben überwinden, gewinnen Abstand zu ihrem bisherigen Lebensideal. Diejenigen, die auf Kosten der anderen nur um ihr persönliches Wohlergehen besorgt sind, können in der Sowjetgesellschaft ebensowenig glücklich werden wie die Tagediebe. Die Gesellschaft verurteilt eine rein konsumgerichtete Auffassung vom Glück und eine demgemäße Haltung, die sich mit der Verletzung moralischer und oft auch rechtlicher Normen verbindet. Daher sind Glücksideale, die sich gegen die Gesellschaft richten und an den allgemeinen Interessen vorbeigehen, den Sowjetmenschen fremd. Bei der Analyse aller Aspekte des Glücks ist auch zu berücksichtigen, daß sich die Persönlichkeit in einem bestimmten emotional-psychischen Zustand befindet. Erstens: Der Mensch prägt sein Glücksideal, er bestimmt danach sein Lebensziel, er stellt sich Aufgaben, die zu diesem Ziel hinführen, und löst sie. Zweitens: Er wägt seine Erfolge und Mißerfolge ab und erlebt dabei Freude oder Enttäuschung. Man kann keinen Menschen glücklich nennen, der das Glück nicht selbst empfindet und erlebt. Das individuelle Glück als eigenes Erleben wird vom Menschen emotional und bewußt bewertet. Die emotionale Seite liegt in der direkt gefühlsmäßigen, positiven Reaktion auf diese oder jene Erscheinung oder Sache, die von einem angenehmen seelischen Zustand begleitet ist: von Kraftgefühl, Freude, Erregung oder Begeisterung. Das sind beispielsweise die Gefühle der Befriedigung und des Genusses, die aus einer gern getanen Arbeit und ihren Ergebnissen erwachsen, aus der Schönheit der Natur, aus einem geordneten Leben, aus Kunstwerken; die Freude des Wiedersehens mit Freunden, Angehörigen und einem lieben Menschen, das Gefühl gegenseitiger Freundschaft oder Liebe, das tiefe Sichverstehen und das Sichbeistehen in schwierigen Lebenslagen, die Freude, die Erwachsene über die Entwicklungsfortschritte ihrer Kinder empfinden, usw. Eine wesentliche Bedingung dafür, daß ein Mensch diesen positiven Seelenzustand kennenlernt, ist, daß er nicht unter körperlichen Gebrechen leidet. Das emotionale Glückserleben ist eng verbunden mit dem verstandesmäßigen, bewußten Moment der Selbsteinschätzung. Während der Mensch die Umstände wahrnimmt und erlebt, die solches Glücksgefühl bedingt oder hervorgerufen haben, wird er sich in gewissem Maße zugleich des Wesens seiner Emotionen bewußt, bewertet sie im Hinblick auf sich selbst und auf die Gesellschaft. Zweifellos hängt der Grad der Rationalität
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solcher Bewertung vom Entwicklungsgrad aller Seiten des individuellen Bewußtseins ab. Daraus erklärt sich auch, daß verschiedene Menschen ein und dasselbe Gefühl völlig unterschiedlich werten. Im praktischen Streben nach dem Glück und seiner Bewahrung p r ü f t der Mensch dessen moralische Berechtigung, seine Übereinstimmung mit den Interessen der Kollektive und der Gesellschaft. Überdies r u f t Glück durchaus nicht immer schlechthin positive Gefühle hervor. Der revolutionäre Kampf gegen den Zarismus war mit schweren Prüfungen und großen Gefahren verbunden. Doch ihre vernünftige Lebensauffassung und die Gewißheit des Sieges gab den Revolutionären die Kraft, ihre Gefühle im Namen des Ziels und der Gerechtigkeit ihrer Sache der Vernunft unterzuordnen. Komplizierte Lebenslagen erfordern das Bewußtsein dessen, daß man sich so und nicht anders verhalten muß, um die K r a f t und den Weg zur Überwindung der bestehenden Schwierigkeiten zu finden. Die rationale Bewertung h a t daher ausschlaggebende Bedeutung für die Wahl eines Zieles, für die Festlegung des Weges und folglich auch für die Erlangung wirklichen menschlichen Glücks. Es ist zu beachten, daß die vernunftgemäße Wertung häufig in Widerspruch zur emotionalen gerät, so daß Willensanstrengungen nötig sind, um zu einer Entscheidung zu kommen. Bei einer streng logischen Bewertung kann die emotionale Befriedigung gelegentlich an positivem Gewicht verlieren. Umgekehrt erlebt man das Glück tiefer, wenn die positive Wertung durch den Verstand mit der zustimmenden Reaktion der körperlichen, sittlichen, ethischen Gefühle zusammengeht. Die widersprüchliche Verbindung verschiedener Seiten und Komponenten des Glücks nötigt den Menschen, sich über die Beurteilung gesellschaftlicher Ereignisse und der eigenen Tätigkeit im Kampf um das Glück Gedanken zu machen. Das Unglück einzelner h a t häufig subjektive Gründe, die damit zusammenhängen, daß sie die objektiven Bedingungen ihres Glücks nicht richtig einzuschätzen und vernünftig zu nutzen und ihre eigenen Fähigkeiten nicht zu dem gestellten Ziel ins Verhältnis zu setzen vermögen. Leider heißt das nicht, daß man dem Unglück immer entgehen könnte. Die sozialistische Gesellschaft schafft zwar die sozialen Bedingungen zum Glücklichsein, doch ist sie nicht imstande, alle objektiven und subjektiven Ursachen des Unglücks auf einmal auszumerzen. Solange das kapitalistische System existiert, wird es auch die Drohung eines Krieges geben, und das zwingt die Sowjetregierung, materielle und geistige Werte zur Verteidigung des Vaterlandes aufzuwenden. Der von den Faschisten entfesselte zweite Weltkrieg brachte unbeschreibliche Not und Leiden, an die die Sowjetmenschen bis zum heutigen Tage denken. Wir haben den Sieg über den Faschismus teuer bezahlt. Millionen Menschen kamen in der Blüte ihrer
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Jahre um oder wurden zu Krüppeln. Solche Verluste sind nicht zu ersetzen. Bis heute sind unheilbare Krankheiten und das zu frühe Sterben naher Menschen eine wichtige objektive Ursache für das Unglück; auch die kommunistische Gesellschaft kann sie nicht gänzlich abschaffen. Dennoch wird in unserer Gesellschaft viel dafür getan, die objektiven und subjektiven Gründe des Unglücks der Gesellschaft wie der einzelnen zu beseitigen. Dieses progressive, tief humanistische Wirken der Kommunisten bringt die Ideologen der Bourgeoisie in Unruhe. Der österreichische Theoretiker Oscar Pollak, der sich als „modernen Humanisten"bezeichnet, macht den Kommunisten den Vorwurf, ihre Führung zwinge viele Menschen zu ihrem Glück, auch wenn sie es gar nicht wollen. 10 Doch die Kommunisten zwingen niemanden zu seinem Glück und setzen es niemandem fertig vor. Bekanntlich gibt es keinen, der nicht glücklich sein will. Es war noch nie einfach, das zu erreichen. Nach marxistischer Auffassung ist das Glück kein geheimnisvolles Geschenk des Schicksals, das völlig dem Zufall unterliegt und der wissenschaftlichen Analyse verschlossen bleibt. Es läßt sich ebenso theoretisch untersuchen wie praktisch erlangen. Die objektiven sozialen Bedingungen des Glücks, welche die sozialistische Gesellschaft schafft, kann jeder Mensch in seinem täglichen aktiven Tun nutzen. Der Inhalt des Glücks der Sowjetmenschen ist allmählich reicher, seine Erlangung komplizierter geworden, doch bleibt es immer mit Arbeit und Kampf verbunden. Daher verlangt die von der Partei gestellte Aufgabe, das Glück zu erlangen, die Lösung von Problemen nicht nur sozialökonomischer Art, sie verlangt auch die Erziehung allseitig entwickelter, aktiv-schöpferischer Persönlichkeiten. Das Glück entsteht in der sozialistischen Gesellschaft bei der tagtäglichen Erzeugung materieller und geistiger Werte f ü r die Gesellschaft, bei der Befriedigung der ständig wachsenden materiellen und geistigen Bedürfnisse eines jeden Menschen. 10
Vgl. 0. Pollak, Der neue Humanismus. Geist und Gesellschaft an der Zeitenwende, Wien — Köln — Stuttgart — Zürich 1962, S. 50. Vgl. auch R. Winzer, Marksistsko-leninskoe ponimanie ccast'ja i nekotorye voprosy vospitanija molodezy v GDR, Avtoreferat kandidatskoj disertacii (Der marxistischleninistische Glücksbegriff und einige Fragen der Jugenderziehung in der D D R , Autorreferat der Dissertation), Moskva 1966, S. 3
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L . M . AKCHANGEL'SKIJ
Die sittliche Entwicklung der Persönlichkeit
Die Persönlichkeit zeichnet sich aus durch individuelle psychische und andere geistige Merkmale, die sich unter dem Einfluß der äußeren Umgebung gebildet haben, letztlich durch die Gesamtstruktur der gesellschaftlichen Verhältnisse, von den ökonomischen bis zu den von der Ökonomie am weitesten entfernten ideologischen Beziehungen. Unser Problem ist daher aufs engste mit der sittlichen Erziehung verbunden, ohne sich jedoch darauf zu reduzieren. Die Aneignung sittlicher Normen durch den einzelnen Menschen vollzieht sich nicht nur durch die individuelle, sondern auch durch die Klassenerfahrung, nicht nur durch die individuelle Psyche, sondern auch die der Klasse. Folglich berührt die Formung der sittlichen Persönlichkeit die Interessen einer ganzen Reihe von Wissenschaften, so der Soziologie, der Ethik, der Pädagogik und der Psychologie. Im vorliegenden Beitrag sollen einige Kriterien formuliert werden, nach denen sich der Begriff „sittliche Persönlichkeit" und die Grundtendenzen der sittlichen Entwicklung des Menschen im Sozialismus bestimmen lassen. Der Begriff „sittliche Persönlichkeit" ist nicht aus der Selbsterkenntnis des Menschen, aus seiner „inneren Freiheit" oder seiner sittlichen Würde abzuleiten, wie es in der idealistischen Ethik geschieht. Aus der vom Marxismus begründeten Auffassung, daß die Persönlichkeit bei all ihrer Individualität den Stempel der sozialen Beziehungen trägt, das „Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse" ist, folgt, daß der Mensch sittliche Eigenschaften besitzt, in denen sich die sittlichen Anschauungen und Normen der gesellschaftlichen Umwelt widerspiegeln. Dabei ist zu beachten, daß die Persönlichkeit nicht nur das Objekt, sondern auch das Subjekt der gesellschaftlichen Beziehungen ist. Davon ausgehend, können wir das Wesen der benutzten Grundbegriffe bestimmen : 1. Die sittliche Entwicklung der Persönlichkeit ist nicht als sich selbst genügende Eigenvervollkommnung des Menschen zu verstehen, sondern als ein komplizierter, dialektischer Prozeß. Indem sich der Mensch die Forderungen der Moral zu eigen macht, die sich aus den Bedingungen des gesellschaftlichen Seins ergeben, wandelt er sie in individuelle moralische Qualitäten um.
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2. Die moralischen Eigenschaften der Individuen sind nichts anderes als die der Form nach individuelle Konkretisierung der Moralnormen einer Klasse oder der gesamten Gesellschaft. Sie charakterisieren nicht nur die Hauptmerkmale des individuellen Moralbewußtseins (Ansichten, Überzeugungen, Gefühle), sondern zugleich die konkrete moralische Praxis der Menschen (ihr Verhalten, ihre Handlungen und die zwischen ihnen bestehenden Beziehungen). 3. Da nicht alle Moralnormen, die eine Klasse hervorbringt, den gesellschaftlichen Interessen entsprechen und also sittlich sind, ist nicht jede individuelle Aneignung dieser Normen als sittliche Entwicklung des Menschen zu interpretieren. Auf die individualistische Moral des Privateigentümers bezogen, bedeutet dieser Prozeß den moralischen Niedergang der Persönlichkeit. 1 Die sittliche Entwicklung des einzelnen erfordert die Aneignung jener Normen, die sowohl für die Gesellschaft als auch für den Betreffenden von objektivem Wert sind, die den gesellschaftlichen Fortschritt und den geistigen Reichtum des Individuums befördern. Dieses Moment läßt sich nach unserer Ansicht auch als objektives Kriterium für die moralische Vervollkommnung der Persönlichkeit verstehen. Die kommunistische Moral enthält Forderungen verschiedenen Grades. Normen, wie Aufmerksamkeit gegenüber den Mitmenschen, einfachste gegenseitige Hilfeleistungen, Normen, die Verleumdung, Boshaftigkeit, Intrigen und anderes niedriges Verhalten ausschließen, sind elementare sittliche Forderungen, sind das Einmaleins des Verhaltens und zugleich die Anfangsstufe der sittlichen Entwicklung der Persönlichkeit. Überlieferte Normen, die in Jahrhunderten entstanden sind und einen gewissen allgemeinmenschlichen Inhalt aufweisen, haben zwar durch die sozialistischen Verhältnisse eine Veränderung erfahren, besitzen aber nach wie vor eine relative Selbständigkeit. In der letzten Zeit ist festzustellen, daß die öffentliche Meinung größere Aufmerksamkeit als vorher darauf wendet, allen Sowjetmenschen eine äußere Kultur 2 anzuerziehen. Aber so not1
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So läßt sich etwa der bürgerliche Individualismus nur dem Mechanismus seiner Realisierung nach auf den Bereich der Moralnormen beziehen, weil er sich auf die öffentliche Meinung und auf offizielle Wertungen stützt und demgemäße Überzeugungen, Gefühle und Gewohnheiten postuliert. Doch sobald er zu dem fortschrittlichen sozialen und wirklich humanistischen Persönlichkeitsideal in Widerspruch gerät, erweist er sich als ein Paradoxon: eine amoralische Sittlichkeit. In der „Literaturnaja gazeta" ist dazu eine Diskussion geführt worden, ausgelöst durch den Artikel V. Kozevnikovs „Sovetskij ètiket" („Sowjetetikette") vom 16. August 1966.
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wendig das auch ist, so genügen diese elementaren Verhaltensnormen allein noch nicht, um die sittliche Entwicklung der Persönlichkeit in der sozialistischen Gesellschaft zu gewährleisten. Zu den inhaltlich reicheren und schwerer einzuhaltenden Moralnormen, welche die sozialistische Lebensweise hervorbringt, gehören die ehrliche Arbeit zum Wohle der Heimat, die Sorge für die Erhaltung und Mehrung des sozialistischen Eigentums, Gemeinschaftsgeist, menschliche Beziehungen im gesellschaftlichen und persönlichen Leben. Eine noch höhere Stufe repräsentieren jene Forderungen, die unmittelbar mit dem kommunistischen Persönlichkeitsideal verbunden sind, wie die Treue zur Idee des Kommunismus, die freiwillige, uneigennützige Sorge um das allgemeine Wohl, die Solidarität mit Gleichgesinnten, Menschlichkeit und staatsbürgerliches Verhalten. Der Begriff der kommunistischen Sittlichkeit u m f a ß t im weitesten Sinne die Summe aller moralischen Normen und Forderungen, die in der sozialistischen Gesellschaft Gültigkeit haben. Insofern sind die überlieferten graduellen Abstufungen der moralischen Postúlate relativ und dürfen auf keinen Fall verabsolutiert werden. Gleichzeitig widerspiegeln die Forderungen der kommunistischen Moral im eigentlichen Sinne des Wortes ohne Zweifel den höchsten sittlichen Fortschritt der Gesellschaft u n d die dementsprechende sittliche Entwicklung des neuen Menschen. Wenn wir zwischen den moralischen Forderungen der sozialistischen und denen der kommunistischen Gesellschaft einen Unterschied machen, so stellen wir sie einander doch nicht entgegen. Im Leben der sozialistischen Gesellschaft hängen sie unmittelbar zusammen und wirken aufeinander ein. Es kann sich nur um den Ausdehnungsradius bestimmter Normen, um die Tiefe ihres Eindringens in die moralische Praxis der Gesellschaft handeln. Diese ist gerade auch durch die sittliche Entwicklung einzelner Menschen bedingt, die als Träger des Moralbewußtseins der Gesellschaft anzusehen sind. Die kommunistische Moral wurde in den revolutionären Kämpfen des Proletariats geboren; sie festigte sich im Verlauf der sozialistischen Umwälzung und tritt unter den gegenwärtigen Bedingungen, beim Aufbau des Kommunismus, in eine neue Entwicklungsphase ein. Die zahllosen Äußerungen des Mutes und der Standhaftigkeit der proletarischen Revolutionäre, des individuellen und Massenheroismus derer, welche die junge Sowjetrepublik in den Jahren des Vaterländischen Krieges verteidigten, der grenzenlose Enthusiasmus der Teilnehmer an den ersten kommunistischen Subbotniks offenbaren das Wesen einer Sittlichkeit höheren Typus. Sie besteht in der freiwilligen, bewußten und uneigennützigen Unterordnung unter das allgemeine Wohl, das höchste Ideal, die kommunistische Idee.
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Dieses grundlegende, wesentlichste Merkmal der neuen Moral ist der Ursprung der höchsten moralischen Werte, das Maß der sittlichen Entfaltung der Persönlichkeit geworden. Eben auf diese Kriterien stützte sich Lenin, als er auf die persönlichen Qualitäten des proletarischen Revolutionärs einging. Mit großer Wärme schrieb er über I. V. Babuskin, der für die Sache der Arbeiter selbstlos sein Leben gab: „Alle, die ihn kannten, liebten und schätzten ihn, dem jede Phrase fremd war, wegen seiner Energie, wegen seiner aufrichtigen und konsequenten revolutionären Haltung und seiner leidenschaftlichen Ergebenheit für unsere Sache." 3 Die Festigkeit der revolutionären Überzeugungen sah Lenin als das Fundament an, das dem Mut, der Standhaftigkeit, der Furchtlosigkeit, durch die sich die revolutionären Proletarier von der feigen und inkonsequenten bürgerlichen Demokratie abheben, ihren qualitativ neuen Inhalt gibt.4 Mehr als hundert Jahre seit der Gründung des ersten Bundes der Kommunisten, ein halbes Jahrhundert sozialistischer Sowjetstaat, zwei Jahrzehnte Entwicklung des sozialistischen Lagers — das sind die praktischen Beweise für die Kraft und Festigkeit der Prinzipien der revolutionären Sittlichkeit. Die Ergebenheit gegenüber der proletarischen Sache bildet die sittliche Grundlage der revolutionären Traditionen der sozialistischen Gesellschaft, durch die Generationen von kommunistischen Kämpfern miteinander verbunden sind. Bekanntlich muß man die besten Traditionen sorgfältig bewahren und entsprechend den Bedingungen der Gegenwart weiterentwickeln. J e t z t ist diese Wahrheit besonders aktuell geworden: Die Bevölkerung unseres Landes besteht zur Hälfte aus Menschen unter 26 Jahren. Jeder zweite Betriebsarbeiter ist jünger als 30 Jahre. Von 1960 bis 1964 haben allein die mittlere spezielle Tagesschule jährlich durchschnittlich 316 700 Absolventen verlassen. Die sittlichen Ideale der Väter zu übernehmen ist die erste Bedingung für die sittliche Persönlichkeit unserer Zeitgenossen. Doch sollten die revolutionären Traditionen niemals mechanisch angeeignet werden. Der XV. Kongreß des Komsomol rief die Jugend auf, vor allem dem Geist der Traditionen, ihrem Wesen treu zu bleiben: der hohen staatsbürgerlichen Aktivität, der revolutionären Überzeugung, der Unversöhnlichkeit gegenüber allem, was dem kommunistischen Ideal fremd ist. Das heißt, die sittliche Entwicklung der sozialistischen Persönlichkeit ist niemals durch eine dogmatische und formale Aneignung der Prinzipien der kommunistischen Moral zu erreichen. 3
W. I. Lenin, Iwan Wassiljewitsch Babuskin (Nekrolog), in: Werke, Bd. 16, Berlin 1957, S. 367 < Vgl. W. I. Lenin, Paul Singer, in: Werke, Bd. 17, Berlin 1962, S. 7 6 - 7 9
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Die kommunistische Sittlichkeit basiert auf dem bewußten Verhältnis zu den gesellschaftlichen Interessen. Sie setzt also die Fähigkeit voraus, sich gemäß den jeweiligen Bedingungen, gemäß der konkreten Situation von sittlichen Grundsätzen leiten zu lassen. Blindes Befolgen, Dogmatismus und Starrheit der Ansichten sind unserer Moral fremd. „Man m u ß selbst einen Kopf auf den Schultern haben, u m sich in jedem einzelnen Fall zurechtzufinden" 5 , erklärte Lenin in bezug auf die schöpferische Anwendung der marxistischen Ideologie unter konkreten Bedingungen, und das läßt sich ohne Einschränkung auch auf die kommunistische Moral anwenden. Unsere sittlichen Forderungen, Normen und Kategorien vertiefen u n a u f hörlich ihren Inhalt und bewahren zugleich ihre ursprüngliche prinzipielle Bedeutung. Die sittliche Entwicklung der Persönlichkeit bedingt daher die Erziehung zur Einfühlsamkeit, zu einem Gespür f ü r die objektiven Veränderungen der Moral, zu der Fähigkeit auch, die herangereiften Erfordernisse der Zeit wahrzunehmen und auf das Neue, Fortgeschrittene zu reagieren. Bei dieser Gelegenheit sei auf die Erhöhung der moralischen Forderungen hingewiesen, die von der sozialistischen Gesellschaft an den einzelnen gestellt sind, auf die Vertiefung des gesellschaftlichen Inhalts der moralischen Motive, die Richtung und Inhalt der menschlichen Tätigkeit, die Beziehung der Persönlichkeit zum gesellschaftlichen Leben, die Aneignung der K u l t u r und die Fähigkeit zur Nutzung der Freizeit bestimmen. Die Entwicklung des Bewußtseins der gesellschaftlichen Pflicht, das Anwachsen der eigenen moralischen Verantwortung für die übernommene Aufgabe, f ü r die Angelegenheiten der Gemeinschaft und der ganzen Gesellschaft, das, was man die E r h ö h u n g der Gewissenhaftigkeit, das Wachsen des Verantwortungsbewußtseins, d. h. des staatsbürgerlichen Bewußtseins im weiten Sinne des Wortes nennen könnte — widerspiegelt das hohe Niveau des Moralbewußtseins in der sozialistischen Gesellschaft. Staatsbürgerliches Bewußtsein steht gegen Prinzipienlosigkeit, gegen eine spießerhafte Einstellung zum Leben, gegen flache, konsumorientierte Ideale, denen ein bestimmter Teil der Bevölkerung, auch der J u g e n d , in dieser oder jener Weise noch anhängt. Allen Werktätigen die höchsten Kriterien der sittlichen Entwicklung nahezubringen ist ein wesentlicher F a k t o r zur moralischen Vervollkommnung der ganzen Gesellschaft. Die Bewältigung dieser Aufgabe verlangt den konsequenten Kampf gegen die bürgerliche Ideologie und Moral. Die kommunistische Partei k ä m p f t entschieden gegen politisches Wortgeklingel, Prahlsucht, Sensationsgier und Geltungsdrang. Demgegenüber er8
W. I. Lenin, Der „linke Radikalismus", die Kinderkrankheit im Kommunismus, in: Werke, Bd. 31, Berlin 1959, S. 54
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scheint die Betonung der Sachlichkeit, einer überaus wertvollen praktischen und moralischen Eigenschaft, als eine der dominierenden Tendenzen bei der sittlichen Erziehung der Sowjetmenschen. Wir haben vom staatsbürgerlichen Bewußtsein als dem höchsten Maßstab für die moralische Vervollkommnung der sozialistischen Persönlichkeit gesprochen. Es schließt die besten revolutionären Traditionen ein und äußert sich in Arbeitsinitiative und gesellschaftlicher Aktivität, in der Unversöhnlichkeit gegenüber Mängeln und Überresten des Alten. Staatsbürgerliches Bewußtsein setzt folglich Sachlichkeit voraus und äußert sich darin. Wenn das staatsbürgerliche Bewußtsein auf die soziale Tendenz der menschlichen Tätigkeit verweist, so widerspiegelt die Sachlichkeit als eine seiner Seiten die Einheit von Denken und Praxis. Das sozialistische Bewußtsein verleiht offensichtlich auch einer individuellen Eigenschaft wie der Sachlichkeit einen neuen Inhalt. Die sittliche Entwicklung der Persönlichkeit läßt sich nicht nur an deren Beziehung zur Gesellschaft und ihren Interessen messen, sondern auch an jenen Eigenschaften, die im unmittelbaren Umgang mit anderen Menschen in Erscheinung treten. In dieser Sphäre ist die Menschlichkeit das Maß der moralischen Reife. Der Inbegriff des Ideals der Menschlichkeit ist für alle Zeiten Wladimir Ujitsch Lenin geworden. Sein ungewöhnliches Feingefühl, seine Aufmerksamkeit und Sorge für die Menschen, seine große Einfachheit und Bescheidenheit sind das Vorbild für das Verhalten eines Kommunisten. Herzlosigkeit und Mangel an Vertrauen gegenüber den Mitmenschen sind nicht mit der sozialistischen Persönlichkeit vereinbar. Die Überwindung der Folgen des Personenkultes und die weitere Entwicklung der sozialistischen Demokratie in den letzten Jahren haben eine merkliche — wenn man so sagen darf — n Erwärmung" der Atmosphäre in den Kollektiven, die Entwicklung unkonventioneller Beziehungen und echter, aufrichtiger Sorge um den Menschen bewirkt. Diese Tendenz setzt sich aber nicht widerspruchslos durch. Schwierigkeiten bereiten Reste von Bürokratismus, eine bisweilen inkonsequente Verwirklichung der Prinzipien der Demokratie, noch vorhandene administrative Willkür, Fälle von Unterdrückung der Kritik. Diese wenn auch seltenen Erscheinungen begünstigen das Entstehen von Passivität, die Abschwächung des staatsbürgerlichen Bewußtseins, sie rufen die Neigung hervor, sich vom aktiven gesellschaftlichen Leben fernzuhalten. Gleichzeitig ist die Fähigkeit, sich von Schwierigkeiten und Widersprüchen nicht unterkriegen zu lassen, nicht zum Sklaven mißlicher Umstände zu werden, sondern aktiv an ihrer Beseitigung zu arbeiten, ein entscheidendes Kriterium für die Festigkeit der sittlichen Überzeugungen, für die moralische Stabilität und Reife eines Menschen. Staatsbürgerliches Bewußtsein und Menschlichkeit als die beiden allgemeinsten sittlichen Eigenschaften, die alle anderen in sich einschließen, und 202
die Fähigkeit, sich von ihnen in den komplizierten und sich verändernden Lebensumständen leiten zu lassen — darin liegt nach unserer Ansicht der konkrete Maßstab für die sittliche Entwicklung der Persönlichkeit in der sozialistischen Gesellschaft. Die moralische Entwicklung der Persönlichkeit ist unter sozialistischen Bedingungen von ihren Grundlagen und ihrem Ausgangspunkt her mit der Aneignung sowohl der einfachsten Normen des Gemeinschaftslebens als auch der höchsten sittlichen Ideale verbunden, die aus den Erfordernissen des heutigen gesellschaftlichen Fortschritts erwachsen und die Richtung für die geistige Vervollkommnung der sozialistischen Persönlichkeit festlegen. Die kommunistischen Ideale fixieren die Ziele der Erziehung und Selbsterziehung, sie werden für jeden Menschen lebenswichtige Orientierungspunkte. Das sittliche Bewußtsein ebenso wie das politische, wissenschaftliche und ästhetische ist Ausdruck nicht nur der schon bestehenden gesellschaftlichen Lebensbedingungen, sondern es widerspiegelt zugleich die Tendenzen ihrer Entwicklung. Die sittliche Entwicklung der Menschen gründet sich auf Verhaltensvorbilder, die aus dem Leben, dem Kampf für eine bessere Zukunft hervorgegangen sind. Die stimulierende Wirkung der Ideale zeigt sich daran, daß sie sich ständig gleichsam über die Wirklichkeit erheben, die sie erzeugt hat. Die Ideale bringen sich entwickelnde Verhaltensnormen zum Ausdruck, die man auf jede nur mögliche Weise in alltägliche, weitverbreitete, massenhafte Lebensnormen umwandeln muß. Die Klasseninteressen und -bedürfnisse prägen den Inhalt des sittlichen Ideals; von ihnen hängt es ab, ob sich das Verhältnis von Ideal und Wirklichkeit günstig oder ungünstig gestaltet. Eines der charakteristischen Symptome für die moralische Krise der heutigen kapitalistischen Welt ist der Widerspruch zwischen den Idealen des bürgerlichen Individualismus und den Gesetzen, Regeln, Sanktionen und Festlegungen, die das bürgerliche System zur Sicherung seiner Existenz formuliert. 6 Die sittliche Entwicklung des sozialistischen Menschen verläuft in einer der bürgerlichen Ordnung entgegengesetzten Richtung. Unter dem Einfluß der gesellschaftlichen Beziehungen und des Systems der kommunistischen Erziehung bestimmen die Ideale des Kommunismus die gesamte Struktur der Überzeugungen, Gefühle und anderen persönlichen Eigenschaften des Menschen sowie die inneren Beweggründe des Verhaltens. Von den Idealen zu den Überzeugungen und Gefühlen, von den Überzeugungen zum Handeln 6
Vgl. Ju. A. Zamoskin, Krizis burzuaznogo individualizma i licnost' (Die Krise des bürgerlichen Individualismus und die Persönlichkeit), Moskva 1966, S. 3 7 - 4 0
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— so verläuft offenbar einer der realen K a n ä l e , über die die sozialistische Gesellschaft auf die sittliche Entwicklung der Persönlichkeit einwirkt. Gleichzeitig gibt es auch den umgekehrten Weg, sich Ideale anzueignen — über die Praxis. D a s Ziel aber bleibt d a s gleiche: Die kommunistischen Ideale werden Richtlinie des Verhaltens. Die Einheit der individuellen und gesellschaftlichen Interessen, die den vielfältigen sittlichen Beziehungen im Sozialismus zugrunde liegt, schließt Widersprüche zwischen den Idealen und den sozialistischen Normen aus, welche die gesellschaftlichen Beziehungen regulieren. W a s die sittlichen Normen angeht, so repräsentieren sie ihrem Wesen nach die Einheit (aber nicht die I d e n t i t ä t ! ) von idealen Forderungen und typischen Zügen im praktischen Verhalten der Menschen, im Bewußtsein und in den sittlichen Beziehungen, die Einheit von Sein und Sollen. 7 Die Besonderheiten der sittlichen Entwicklung des Menschen in der sozialistischen Gesellschaft, die hier allgemein erörtert wurden, sind auch ausschlaggebend für die Wege zur Erforschung der entsprechenden realen Prozesse. Sie umfassen sowohl die Analyse des sittlichen Bewußtseins wie der sittlichen Alltagspraxis, die der wichtigste Gradmesser f ü r die moralische Reife eines Menschen ist. „ N a c h welchen Kennzeichen haben wir d a s reale 5 Sinnen und Trachten' realer Persönlichkeiten zu beurteilen? E s versteht sich, daß es nur ein solches Kennzeichen geben k a n n : die Handlungen dieser Persönlichkeiten. Und d a nur v o m gesellschaftlichen R i n n e n u n d Trachten' die Rede ist, so muß m a n noch hinzufügen: die gesellschaftlichen Handlungen der Persönlichkeiten, d. h. die sozialen Tatsachen." 8 D a s Tun, d a s Verhalten, die T ä t i g k e i t sind der entscheidende Maßstab f ü r d a s sittliche Niveau einer Persönlichkeit. Dieses Niveau ist für verschiedene Gruppen von Menschen, die alle im Sozialismus leben, verschieden. Woraus erklärt sich d a s ? Welche F a k t o r e n fördern eine Entwicklung des Menschen, die den höchsten Vorstellungen von Sittlichkeit entspricht? U m darauf Antwort geben zu können, muß m a n den soziologischen G e s a m t z u s a m m e n h a n g der Persönlichkeitsentwicklung berücksichtigen. Die sittliche Vervollkommnung des Menschen ist durch die G e s a m t s t r u k t u r der gesellschaftlichen Verhältnisse determiniert. Der Einfluß des gesellschaftlichen Seins auf die sittlichen Eigenschaften des einzelnen ist immer in bestimmter Weise durch dessen Weltanschauung, seinen B i l d u n g s g r a d , durch die Art seiner Interessen etc. vermittelt. Deshalb ist d a s Moralbewußtsein des Menschen ein wesentliches Kennzeichen seiner individuellen 7
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Vgl. L. M. ArchangeV skij, Kommunisticeskie n r a v s t v e n n y e n o r m y i ich stanovlenie (Die sittlichen Normen des K o m m u n i s m u s und ihre Genesis), i n : Filosofskie nauki, H e f t 3/1967 W. I. Lenin, Der ökonomische Inhalt der Volkstümlerrichtung und die K r i t i k an ihr in dem Buch des Herrn S t r u v e , i n : Werke, B d . 1, S. 419
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Kultur. Das erweist sich deutlich an jenen Personen, die gegen die einfachsten Normen sozialistischen Zusammenlebens verstoßen. In der Stadt Gorki wurden 1815 Personen überprüft, die in einen Ernüchterungsraum eingeliefert worden waren. Es zeigt sich, daß 7 8 , 7 % von ihnen nur eine Vierbis Siebenklassenbildunghatten. Die Hälfte war jünger als dreißig Jahre. Sie hätten also lernen können, doch sie haben es nicht getan. Der ungenügenden Bildung entspricht die Primitivität ihrer geistigen Interessen: Über die Hälfte der Befragten interessiert sich nicht für Zeitungen, für Radio oder Feinsehen; nur 2 7 % gehen ins Kino, ins Theater, in Sportstadien. Sie ziehen es vor, ihre Zeit mit Kartenspielen und Domino zu vertun. Das erklärt weitgehend ihr antigesellschaftliches Verhalten. Ihre Ungeschliffenheit hindert sie an der Beschäftigung mit kulturellen Werten. Diese Grenzen lassen sich nicht nur durch die Verstärkung der gesellschaftlichen und juristischen Sanktionen durchbrechen, sondern auch durch die Erhöhung des allgemeinen Bildungs- und des Kulturniveaus der Betreffenden. 9 Die Analyse der konkreten sittlichen Entwicklung des Menschen setzt vor allem die Kenntnis der altersbedingten und sozialen Psyche der Persönlichkeit voraus, in der sich typische Besonderheiten der Umwelt widerspiegeln. Die sittliche Entwicklung verläuft in unserer Gesellschaft unter dem Einfluß von Familie, Schule, Arbeitskollektiv. Jeder dieser Faktoren ist für die Psychologie und die Pädagogik Gegenstand gesonderter Untersuchungen. Beim ethisch-soziologischen Herangehen werden die Ergebnisse solcher psychologischen und pädagogischen Forschungen miteinander abgestimmt und verallgemeinert, um so mehr, als jeder der genannten Faktoren einige allgemeine Funktionen besitzt. Das soziologische und das pädagogisch-psychologische Herangehen ist jedoch nicht gegeneinander austauschbar. Denn Psychologie und Pädagogik beschäftigen sich mit den psychischen Prozessen oder mit den Erziehungsmethoden. Soziologie und Ethik jedoch interessieren deren Anfang und Ende, d. h. die sozialen Wurzeln und die Ergebnisse der Persönlichkeitsentwicklung. Über die sittliche Entwicklung der Schülerpersönlichkeit kann man urteilen, wenn man die Lebensziele und die Interessen der Schuljugend studiert. Untersuchungen dieser Art sind in den letzten Jahren in den Schulen von Swerdlowsk, Leningrad und Nowosibirsk durchgeführt worden. 10 9
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In diesem Zusammenhang sind jene Maßnahmen von Bedeutung, die auf Grund des Erlasses des Obersten Sowjets der UdSSR vom 26. Juli 1966 „Zur Erhöhung der Verantwortung für das Halbstarkentum" getroffen worden sind. Vgl.: 2iznennye plany molodézy. Sociologiceskie isledovanija, vypusk 1 (Die Zukunftspläne der Jugend. Soziologische Untersuchungen, Teil 1), Swerdlowsk 1966; Obscestvennyj ínteres i lißnost', Sociologiéeskie isledovanija, vypusk 2 (Gesellschaftliches Interesse und Persönlichkeit. Soziologische Untersuchun-
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Die Entscheidung für ein Ideal und seine individuelle Aneignung ist beim Schüler in der Regel verbunden mit der Festlegung seines ferneren Lebensweges, mit der Wahl eines Berufs, mit der Formung von Interessen und Bedürfnissen im Hinblick auf eine bestimmte Tätigkeitsart. Die sittlichen Ideale der Schüler werden durch die Enthüllung ihrer Lernmotive, ihres Bildungsstrebens offenbar. Die konkreten Lebensvorstellungen und -ziele (z. B . Hochschulbildung zu erwerben, einen bestimmten Beruf auszuüben usw.) sind immer in irgendeiner Weise durch die Interessen und den sittlichen Habitus der Persönlichkeit motiviert. Daher kann die Erforschung der Triebkräfte des jungen Menschen, die seine Berufswahl und mehr noch seine weit in die Zukunft reichende Lebenskonzeption prägen, dem Verständnis der Ausgangsmomente für die sittliche Entwicklung der sich formenden Persönlichkeit sehr dienlich sein. Diese Untersuchungen geben uns die Möglichkeit, eine gewisse Evolution in der Aneignung der in unserer Gesellschaft gültigen Ideale von Seiten der Schüler zu beobachten, und das ist für die Aufhellung des Charakters der sittlichen Entwicklung in der gegenwärtigen Etappe von nicht geringer Bedeutung. Die Mehrheit derer, welche die 5. bis 8. Klasse besuchen, zeigt Verständnis für die gesellschaftliche Bedeutung des Lernens, weil sie anerkennt, daß Bildung der Entwicklung der individuellen Fähigkeiten und ihrer besseren Nutzung dient. Dieses Motiv ist natürlich entsprechend dem Alter der Schüler unterschiedlich ausgeprägt und konkret. Achtklassenschüler formulieren es recht abstrakt und knapp, die Absolventen der Mittelschule begründen ihre Berufswahl schon ganz konkret. Die 15- bis 16jährigen haben gewöhnlich Schwierigkeiten bei der ausführlichen und fundierten Motivierung ihrer Berufswahl. Die Lebensvorstellungen der Mittelschulabgänger weisen einen deutlichen staatsbürgerlichen Gehalt auf, sie haben stabile moralische Beweggründe. In den Antworten dieser Jugendlichen zeigt sich klar der Zusammenhang von Lebenskonzeption und sittlichen Idealen der Persönlichkeit. Von 5000 befragten Zehnklassenschülern Swerdlowsks verband 9 8 % die Berufswahl mit dem Wunsch, „den Menschen soweit wie möglich zu nützen". Die Erreichung dieses Zieles wird vor allem durch die Anziehungskraft jener Berufe begründet, die der Entwicklung der Fähigkeiten Raum geben: der medizinisch-biologischen Berufe, des Ingenieur- und Konstrukteurberufes, des Physikers; schließlich aber auch durch den direkten gesellschaftlichen Nutzen der Arbeit. Bei der Entscheidung für den Beruf des Arztes, des Lehrers u. ä. geben jene Motive den Ausschlag, die auf deren unmittelbare gesellschaftliche gen, Teil 2), Swerdlowsk 1967; Molodez' i socializrn. Tezisy dokladov (Jugend und Sozialismus. Thesen von Vorträgen), Moskva 1967, S. 15—20
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Bedeutung verweisen: „Ich möchte die Menschen gesund machen" oder „Der Pädagoge erzieht den Menschen der Zukunft. Ich werde Pädagoge" — in solchen Äußerungen zeigt sich der Grundcharakter der Motive in dieser Gruppe von Antworten. Die Aufrichtigkeit der die Motive der Berufswahl betreffenden Antworten wurde geprüft durch Fragen nach den ästhetischen Neigungen und Vorbildern, die der junge Mensch dringend braucht, um nach ihnen sein Leben einzurichten. Die auswählende Analyse zeigt, daß solche Vorbilder künstlerische Gestalten oder auch Zeitgenossen sind, die sich durch eine hohe staatsbürgerliche Aktivität, durch Edelmut und Menschlichkeit auszeichnen. Die Schüler lassen sich meist durch die Größe der Charaktere, den Reichtum der geistigen Welt von Literatur- und Filmhelden beeindrucken. In den Herzen der Oberklassenschüler nehmen die Helden der Filme „Neun Tage eines Jahres", „Mein lieber Mensch", „Ein Menschenschicksal", „Der Vater des Soldaten", die Helden der Schauspiele „Irkutsker Geschichte", „Mein armer Marat" sowie der Werke von Ostrowski, Schoiochow, Simonow, A. Tolstoi, Juri German und anderen die ersten Plätze ein. Die hohen sittlichen Maßstäbe der sowjetischen Jugend, die Anziehungskraft der Ideale, die ihr Streben beherrschen, schließen jedoch auch eine Reihe von Widersprüchen nicht aus. An erster Stelle ist der Widerspruch von Wort und Tat zu nennen. Für die Jugend ist er charakteristisch wegen ihrer noch ungenügenden Charakterfestigkeit und Selbstständigkeit, ihres Mangels an Fähigkeit, sich zur Erfüllung der selbstgesetzten Ziele und Pläne zu organisieren und zu mobilisieren. Daher ist gerade die Jugend auf die konkrete Hilfe der Alteren angewiesen. Beim Studium der Lebenspläne und -ideale der Jugend stößt man auch auf die Neigung zu leerer Phrasendrescherei, auf lehrbuchhafte Vorstellungen vom Leben, von Literatur und Kunst. Es wird auch deutlich, daß die ethischen Ansichten vom Sinn des Lebens, von Würde und Pflicht nicht allzu tief sind, und darin zeigt sich offenkundig eine gewisse Ignoranz gegenüber solchen Fragen in der schulischen Erziehungspraxis. Es sind auch andere negative Dinge zu beobachten: die Neigung, sich ohne jede Notwendigkeit auf „hohe" ethische Kategorien zu berufen. Das führt zur Herabsetzung der Wertbegriffe und zu ihrer Verwandlung in überflüssige Schablonen. Die Beliebtheit der Freizeitbeschäftigungen und der Charakter der diesbezüglichen Interessen sind bei den Schülern durch die objektiven Möglichkeiten bedingt, die in der Umwelt gegeben sind. Nach den Angaben G. I. Dracevas 11 , welche die Entwicklung der Schülerpersönlichkeit in der 11
Vgl. G. I. Draceva, Social'naja sreda i formirovanie licnosti. A v t o r e f e r a t k a n d i d a t s k o j disertacii (Das soziale Milieu und die F o r m u n g der Persönlichkeit. Autorreferat der Dissertation), Swerdlowsk 1967, S. 14 — 17
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Stadt, in einer Arbeitersiedlung und in einem Dorf zu Vergleichszwecken untersucht hat, stehen Lektüre, Kino und Sport überall an erster Stelle. Wesentlich schlechter sieht es mit dem Besuch von Theatern und Museen aus, besonders in den Arbeitersiedlungen und auf dem Lande. Die gesellschaftliche Aktivität der Dorfschüler liegt erheblich niedriger (38 bzw. 53% sind gesellschaftlich tätig). Sehr verschieden bewerten die Schüler bestimmte menschliche Schwächen. Wenn für die dörfliche und die Siedlungsjugend das Trinken das verbreitetste Laster ist, so für städtische das Halbstarkentum. Die Dorfbewohner stoßen seltener als die Städter auf Diebstahl und Heuchelei. In der sittlichen Erziehungsarbeit müssen diese milieubedingten Unterschiede beachtet werden. Sie sind daher konkret zu untersuchen. Ich habe mich auf einige Aspekte beschränkt, die in der Literatur bisher zu kurz gekommen sind. Andere Fragen, z. B. nach dem Einfluß des Arbeitskollektivs auf die sittliche Prägung der Persönlichkeit, verdienen gesonderte Aufmerksamkeit.
I. A. BLJUMKIN
Die menschliche Würde
Die Kategorie der menschlichen Würde ist ein theoretischer Grundbegriff des Humanismus. Ihre detaillierte Ausarbeitung hat daher große Bedeutung für die wissenschaftliche Untersuchung des Problems des Menschen. 1 Diese Kategorie birgt eine Reihe von Bedeutungen in sich: 1. Wert des Menschen überhaupt (menschliche Würde) ; 2. Wert einer konkreten Persönlichkeit (persönliche Würde) ; 3. Wert des Menschen als Repräsentant einer bestimmten Gemeinschaft von Menschen (Würde des Arbeiters, des Kolchosbauern usw.) ; 4. Wert einer bestimmten Gemeinschaft von Menschen (nationale Würde, Kollektivwürde) ; 5. Bewußtsein und Gefühl individueller Würde; 6. Entwicklung eines Wertbewußtseins nach außen hin, Selbstachtung (würdevolles Verhalten) ; 7. ist sie ein Synonym für Ehre. Jede menschliche Persönlichkeit erscheint auf diese Weise als Träger von drei Arten der Würde oder, was dasselbe ist, von drei Wertkategorien (vgl. die Bedeutungen 1, 2, 3), die zueinander in enger Wechselbeziehung stehen. Die Würde eines jeden Menschen liegt in seinen geistigen und physischen Eigenschaften, die vom Standpunkt der Bedürfnisse der gesamten Gesellschaft bzw. einer bestimmten Klasse oder Gesell schaftsschicht wertvoll sind. Diese individuellen Eigenschaften stellen zusammengenommen das dar, was man gemeinhin als die persönliche Würde bezeichnet. 2 1
Vergleiche die vom Verfasser durchgeführte Untersuchung über die Verwendung des Begriffs „ W ü r d e " im heutigen Sprachgebrauch anhand erläuternder Wörterbücher der russischen und anderer europäischer Sprachen sowie der Analyse von Pressematerialien und Umfragen. ( I n : I. A. Bljumkin, Gest', dostoinstvo, gordost' [Ehre —Würde — Stolz], Moskva 1963; vgl. auch I. A. Bljumkin, Kategorii dostoinstva i cesti v marksistskoj étike [Die Kategorien „ W ü r d e " und „ E h r e " in der marxistischen Ethik. Autorreferat der Dissertation], Moskva 1964)
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Diese Begriffsbestimmung charakterisiert die persönliche Würde im engsten und ganz strengen Sinne des Wortes ; sie erlaubt damit, ihre spezifischen Züge hervorzuheben. Dennoch wird der Begriff „individuelle Würde" m a n c h m a l in weiterem Sinne gebraucht, wobei er gleichzeitig mehrere Bedeutungen der Kategorie „ W ü r d e " erfaßt. So spricht man beispielsweise von der persönlichen Würde und hat dabei nicht nur die wertvollen geistigen und physischen
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Mayer
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Die persönliche Würde bezeichnet den einmaligen, individuellen Wert einer Persönlichkeit. Jede Persönlichkeit tritt mit anderen Menschen in vielfältige Beziehung, und diese Bindungen verleihen ihr einen bestimmten Wert und eine bestimmte Würde (Kollektiv-, Klassen-, Berufswürde usw.). Diese besondere Würde kann man offenbar als Summe jener Eigenschaften der Persönlichkeit betrachten, die ihre Zugehörigkeit zu einer gegebenen Gemeinschaft von Menschen bedingen und den Bedürfnissen dieser Gemeinschaft entsprechen. In der individuellen Würde erschöpfen sich die Werte der Persönlichkeit nicht. Der Mensch besitzt auch unabhängig von seinen individuellen Eigenschaften, seiner sozialen Stellung, Klassen- und Berufszugehörigkeit usw. einen bestimmten Wert. Einen solchen Wert stellt auch die menschliche Würde dar. Sie tritt als Gattungsbegriff auf und macht damit den Wert des Menschengeschlechts und jedes einzelnen Menschen deutlich. Die menschliche Würde ist ihrem Wesen nach eine gesellschaftliche Erscheinung; denn nur dank seiner gesellschaftlichen Produktionstätigkeit wurde der Mensch der höchste Wert, vermochte er sich aus der Tierwelt herauszulösen. Außerhalb der Gesellschaft ist der Mensch jeglicher Würde beraubt; denn diese kann sich nur in der Gesellschaft verwirklichen. Schließlich formte sich die Idee von der Würde des Menschen in den Köpfen der Menschen als Widerspiegelung jener besonderen Stellung, die der Mensch in der materiellen Welt innehat. Worin besteht diese Stellung? In der Welt existieren Tausende der verschiedensten Werte. Der Mensch ist nicht nur einer davon, sondern ein ganz besonderer: Er selbst ist der Schöpfer der materiellen und geistigen Werte. Naturobjekte, die nicht das Werk von Menschenhand sind, stellen nur insofern Werte dar, als sie dazu geeignet sind, die Bedürfnisse der Menschen zu befriedigen. Außerhalb der menschlichen Gesellschaft, außerhalb der Relation zu den Bedürfnissen der Menschen behalten die Naturobjekte und -erscheinungen alle ihre objektiven Eigenschaften bei; sie hören aber auf, Werte darzustellen. Der Mensch und die menschliche Gesellschaft bilden gleichsam das F u n d a m e n t der Werte. Deshalb kann es in der menschlichen Gesellschaft keinen größeren und bedeutsameren Wert geben als den Menschen selbst. Er ist mit nichts anderem vergleichbar. Der Begrifi }1 menschliche Würde" wurde vor nicht allzulanger Zeit formuliert und in den Sprachgebrauch eingeführt. Die Geschichte der PhiloEigenschaften einer Persönlichkeit insgesamt im Auge, sondern auch das Bewußtsein ihres Wertes und das dementsprechende Verhalten (Bedeutungen 2, 5, 6). Der Begriff „persönliche Würde" kann auch alle drei Arten des Wertes umfassen, als deren Träger die menschliche Persönlichkeit auftritt (Bedeutungen 1, 2, 3).
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Sophie und Ethik belegt, daß in der Sklavenhalter- und Feudalordnung die Vorstellungen von menschlicher Würde überwiegend religiösen und mystifizierten Charakter trugen. Sie fanden ihren Ausdruck in der christlichen Idee, daß Gott den Menschen nach seinem Bilde geschaffen habe u n d daß alle Menschen vor G o t t gleich seien. Natürlich konnten keine rationalen Auffassungen von der Würde des Menschen in einer Gesellschaft entstehen, in der die Masse der Bevölkerung keinerlei menschliche Grundrechte und Freiheiten besaß, praktisch also jeglichen menschlichen Wertes ber a u b t war. Die Idee von der menschlichen Würde als eines bedeutenden Werts und von der besonderen Bestimmung des Menschen s t a m m t im wesentlichen von den Ideologen des aufstrebenden Bürgertums, den Humanisten des 14. — 18. J h . (Petrarca, Bracciolini, Pico della Mirandola, K a n t , Fichte u. a.). Die Bedeutung ihrer Auffassung über menschliche Würde bestand in der Anerkennung des Wertes und der hohen Bestimmung jedes Menschen, unabhängig von seiner sozialen H e r k u n f t und Standeszugehörigkeit. Dieser Gedanke findet seinen deutlichsten Ausdruck in der Ethik K a n t s , der schrieb: Würde. ) ( l m Reiche der Zwecke h a t alles entweder einen Preis oder eine Was einen Preis hat, an dessen Stelle kann auch etwas anderes als Äquivalent gesetzt werden; was dagegen über allen Preis erhaben ist, mithin kein Äquivalent verstattet, das h a t eine Würde . . . Nun ist Moralität die Bedingung, unter der allein ein vernünftiges Wesen Zweck an sich selbst sein k a n n ; weil nur durch sie es möglich ist, ein gesetzgebend Glied im Reiche der Zwecke zu sein. Also ist die Sittlichkeit und die Menschheit, sofern sie derselben fähig ist, dasjenige, was allein Würde h a t . " 3 Somit ist die Würde, nach Kant, ein innerer, unabhängiger Wert, und das, was Würde besitzt, steht über jeglichem anderen Wert und läßt keinerlei Vergleich zu. Ungeachtet ihrer abstrakten F o r m war die Kantsche Bestimmung der menschlichen Würde theoretisch sehr gehaltvoll (sie ist die tiefgründigste und vollständigste Begriffsbestimmung der vormarxschen Philosophie) und f ü r ihre Zeit politisch progressiv. Die Verkündigung des inneren, unabhängigen Wertes des Menschen, das Postulat, sich ihm gegenüber nicht n u r als zu einem Mittel zu verhalten, sondern als zu einem Zweck, war objektiv gegen Leibeigenschaft und feudale Privilegien, gegen jegliche Versklavung und Erniedrigung des Menschen gerichtet. Die antifeudalistische Tendenz der humanistischen Vorstellungen von der W ü r d e des Menschen, die bei K a n t unter der Hülle philosophischer Abstraktion verborgen war, t r a t bei den französischen Materialisten u n d bei 3
I. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, in: Sämtliche Werke, hrsg. von K. Vorländer, Dritter Band, Leipzig 1920, S. 60/61
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den Aufklärern und Demokraten im 18. J h . offen zutage. Sie verbanden die menschliche Würde direkt mit der Gewährung seiner natürlichen Rechte und betrachteten die Freiheit als unumgängliche Bedingung für die Bewahrung und Entwicklung der menschlichen Würde. „ Auf seine Freiheit verzichten, heißt auf sein Menschsein, auf die Menschenrechte, ja selbst auf seine Pflichten verzichten. Wer auf alles verzichtet, für den ist keine Entschädigung möglich." 4 Die von den vormarxistischen Humanisten geprägten Vorstellungen über die menschliche Würde trugen also historisch progressiven Charakter. Sie bildeten den Ausgangspunkt des marxistischen Begriffs von der Menschenwürde. Der Marxismus befreit die Idee der menschlichen Würde von der Begrenztheit des bürgerlichen Humanismus. E r verwirft das abstrakte, unhistorische Herangehen an diese Problematik, das darin liegt, den Wert des Menschen und seine „natürlichen" Rechte als etwas von Ewigkeit her der menschlichen Persönlichkeit Eigenes aufzufassen. Der MarxismusLeninismus hat nachgewiesen, daß die menschliche Würde konkrethistorisch ist, daß sie Klassencharakter trägt und daß die Züge des abstrakten „Menschen schlechthin", von dem bei den vormarxistischen Philosophen die Rede war, sich bei näherer Betrachtung als die Züge des bourgeoisen Eigentümers erwiesen haben. 5 Die von ihnen verkündete hohe Bestimmung des Menschen bedeutete objektiv nichts anderes als die Forderung nach einem n Platz an der Sonne" für die neue Klasse, das Bürgertum. Mit der Übernahme der Macht durch die Bourgeoisie offenbart sich der krasse Gegensatz zwischen den humanistischen Idealen, die von den Ideologen in der Periode des Kampfes gegen den Feudalismus formuliert wurden, und dem antihumanistischen Charakter der kapitalistischen Gesellschaftsordnung. Infolgedessen verliert die bürgerliche Philosophie einerseits das Interesse am Problem der Menschenwürde und bezeichnet es als Pseudoproblem. (Schon Schopenhauer äußerte sich ironisch über „leere Phrasen von Menschenwürde", die nicht aus exakten Begriffen, sondern aus Vorurteilen hervorgehen.) Auf der anderen Seite lenken jedoch einige Schulen der bürgerlichen Philosophie ihre Aufmerksamkeit verstärkt auf Fragen des Humanismus, der Persönlichkeit und der Würde. Das erklärt sich daraus, daß die offiziellen bürgerlichen Ideologen der Gegenwart und mit ihr viele Philosophen der Masse der Bevölkerung in den 4 5
J . - J . Rousseau, Der Gesellschaftsvertrag, Reclam, Leipzig, S. 12 Zum Beispiel wurde das Recht auf Eigentum im Grundsatzdokument der Französischen Bürgerlichen Revolution von 1789, der „Deklaration über die Rechte des Menschen und Staatsbürgers", den „natürlichen und unveräußerlichen" Rechten des Menschen zugerechnet.
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kapitalistischen Ländern einzureden suchen, der Sozialismus zerstöre die Würde des Menschen und nur der Kapitalismus garantiere Recht und Freiheit der Persönlichkeit. Die antikommunistische Tendenz eines derartigen „ H u m a n i s m u s " steht außer Zweifel. Darüber hinaus erwächst das Interesse einiger moderner Philosophen und Soziologen der Bourgeoisie an den Problemen des Humanismus bekanntlich aus ihrem ehrlichen Bestreben, sich dem verstärkten Antihumanismus der kapitalistischen Gesellschaftsordnung und besonders solchen Auswüchsen wie Faschismus, Militarismus, der Drohung einer atomaren Katastrophe, aber auch den menschenfeindlichen Folgen der wissenschaftlich-technischen Revolution entgegenzustellen. Nur wenige bürgerliche Philosophen, wie Bertrand Russell und J e a n - P a u l Sartre, versuchen, aktiv gegen die Unmenschlichkeit des Kapitalismus zu protestieren, ohne aber dabei die Rechtmäßigkeit dieser Gesellschaftsordnung selbst in Frage zu stellen. I m Grunde verharren sie auf denPositionen eines abstrakten bürgerlichen Humanismus. Die moderne bürgerliche Philosophie und Ethik strebt danach, bei der Lösung der Frage nach der Würde des Menschen den dringlichen Problemen der Gegenwart auszuweichen und sie in die Sphäre philosophischer Spekulation und religiös-mystischer Konstruktionen zu verweisen. Sehr häufig wird die menschliche Würde als idealer, sich selbst genügender W e r t einer abstrakten, außerhalb von Zeit und R a u m existierenden Persönlichkeit gefaßt. Einige bürgerliche Philosophen stellen die direkte B e h a u p t u n g auf, daß die Würde des Menschen nur auf der Grundlage eines tiefen Glaubens an Gott entstehen und sich entwickeln könne und daß der Wert des Menschen unabhängig von der Religion nicht existiere. So heißt es z. B. in dem Buch des Österreichers E . Gutwenger, das sich m i t der Analyse der ethischen Werte b e f a ß t : „Wo das Göttliche negiert wird, wird auch das göttliche Bild im Menschen negiert. D a m i t werden die ethischen Akte, die das Gefüge der Hingabe besitzen, zu einem Unding und hören auf, Sinn u n d Bedeutung zu haben. Die Negierung Gottes wirft den Menschen k o n s e q u e n t auf den Egoismus zurück. Ein atheistischer Humanismus k a n n n u r in unlogischen Köpfen festnisten. Der große Ring des Seins ist n u r d a n n geschlossen, wenn der Mensch als Geschöpf aus Gott hervorgeht und zu ihm zurücktendiert." 6 Der Versuch, das Problem der menschlichen Würde m i t dem christlichen Dogma vom göttlichen Ursprung des Menschen und von der Unsterblichkeit der Seele in Verbindung zu bringen, kennzeichnet auch den Vortrag, den 6
E. Gutwenger, Wertphilosophie mit besonderer Berücksichtigung des ethischen Werts, Innsbruck 1952, S. 205
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der französische Philosoph G. Marcel auf dem X I I I . Internationalen Philosophenkongreß gehalten hat und der den Titel trägt „Der existentialistische Aspekt der menschlichen Würde" 7 . Die marxistische Philosophie holt dieses Problem vom Himmel auf die Erde herunter und weist nach, daß die Verteidigung der Würde des Menschen mit den Beziehungen der Gesellschaft zum Menschen und umgekehrt in Zusammenhang steht. Aus der Anerkennung des Menschen als höchster, mit nichts vergleichbarer Wert ergibt sich unausweichlich die Anerkennung bestimmter ökonomischer, politischer, juristischer und ethischer Rechte des Menschen. Dazu gehört das Recht auf Befriedigung seiner materiellen und geistigen Bedürfnisse, das Recht auf Arbeit, auf freie und gleiche Entwicklung aller, die Freiheit von Ausbeutung und Diskriminierung, das Recht, so zu leben, wie es einem das Gewissen vorschreibt, und das Recht auf Glück. Die Frage nach der menschlichen Würde betrifft in erster Linie die Rechte des Menschen und ihre reale Verwirklichung. Die Würde des Menschen zu respektieren und zu wahren heißt, gleichzeitig auch die Lebens- und Grundrechte des Menschen zu respektieren und zu verteidigen und also nicht nur in Worten, sondern mit seiner Tat den Menschen als höchsten Wert zu behandeln. Der Sozialismus anerkennt den Menschen nicht nur in seiner Ideologie als höchstes Wesen, sondern auch auf ökonomischem, politischem und juristischem Gebiet. Das findet in der sozialistischen Wirklichkeit seine adäquate konkrete Ausprägung. Der Sozialismus beseitigt das Privateigentum an den Produktionsmitteln, die Ausbeutung und die Unterdrückung. Hauptziel der Produktion wird die maximale Befriedigung der Bedürfnisse der Menschen, die das ständige Wachstum des Wohlstandes der Werktätigen bewirkt. Die Befreiung der Arbeit und ihre Umwandlung in freie Tätigkeit für das Allgemeinwohl erhebt der Sozialismus zum Maßstab für den Wert des Menschen. Er machte den entscheidenden Schritt zur Verwandlung der Arbeit in das erste Lebensbedürfnis jedes Menschen. Die Befreiung der Menschen von jahrhundertealter Diskriminierung im Hinblick auf Herkunft, Geschlecht, Nationalität und Rasse, die Beseitigung des Gegensatzes zwischen Stadt und Land, zwischen körperlicher und geistiger Arbeit, der sich für alle öffnende Zugang zu den Schätzen der Geisteskultur führt in steigendem Maße zu gleichen Entwicklungsmöglichkeiten für die Anlagen und Fähigkeiten jedes Mitglieds der sozialistischen Gesellschaft und damit zur Erhöhung seines persönlichen Wertes. Im 7
Vgl. M. B. Mitin, Ergebnisse des XIII. Internationalen gresses in Mexiko, in: Voprosy filosofii, Heft 11/1963
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Philosophenkon-
Rechenschaftsbericht des ZK der K P d S U an den X X I I . Parteitag wurde vermerkt, daß „die Partei der weiteren Festigung von Gesetzlichkeit und Rechtsordnung und dem Schutz der Rechte der Staatsbürger große Bedeutung beimißt. Recht, Freiheit, Ehre und Würde des sowjetischen Menschen werden von Staat und Gesellschaft sicher geschützt." 8 Sozialismus und Kommunismus sichern der Welt den Frieden, und das hat für die Herausbildung und Verteidigung der menschlichen Würde enorme Bedeutung. Ein räuberischer Krieg nivelliert den Wert des Menschen, nimmt ihm seine Würde. Ein gerechter Befreiungskrieg erhöht die Würde des "Volkes, das ihn führt. Häufig ist er das einzige Mittel zur nationalen Wiedergeburt, zur Erlangung der Freiheit und zur Verteidigung von Ehre und Würde der unterdrückten Völker. Aber es darf nicht vergessen werden, daß die Würde der Menschen selbst in Fällen dieser Art nicht durch den Krieg gehoben wird, sondern erst durch das große Ziel, dem dieser Krieg dient. Deshalb ist der Kampf der Länder des sozialistischen Lagers für einen dauerhaften Frieden und für den vollständigen Ausschluß des Krieges aus den Beziehungen zwischen den Völkern ein Kampf für die Verteidigung der hohen und unerschütterlichen Werte menschlichen Lebens und menschlicher Persönlichkeit. Schließlich bildet auch die in der Sowjetunion herrschende marxistischleninistische Ideologie eine wichtige Voraussetzung für die Gewährleistung und Entwicklung der menschlichen Würde. Sie erzieht die Sowjetmenschen auf vielfältige Weise und mit den verschiedensten Mitteln zum Bewußtsein der eigenen Würde und des Stolzes. Theorie und Praxis des Kommunismus haben bewiesen, daß die menschliche Würde keine abstrakte Idee darstellt, sondern Ausdruck realer gesellschaftlicher Beziehungen ist, daß die hohe Bestimmung des Menschen nur durch die Schaffung einer Gesellschaft des realen Humanismus, des Kommunismus also, verwirklicht werden kann. Bislang haben wir unter der menschlichen Würde nur ein Produkt und einen Ausdruck bestimmter gesellschaftlicher Beziehungen verstanden. Aber menschliche Würde ist zugleich etwas jedem Menschen Eigenes, sofern er in das System dieser Beziehungen eingeschlossen ist. Offenbar läßt sich die menschliche Würde auch als Gesamtheit aller jener Eigenschaften bestimmen, die die menschliche Persönlichkeit als Höhepunkt der biologischen und sozialen Evolution auf unserem Planeten auszeichnen. Zu diesen Eigenschaften zählen vor allem die Fähigkeit des Menschen zu arbeiten und das ihm eigene Bedürfnis nach Arbeit sowie Verstand, 8
Materialy X X I I c-ezda K P S S (Materialien des X X I I . Parteitages der K P d S U ) ,
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Schöpfertum und die wesentlichsten menschlichen Emotionen. Dennoch stehen diese Eigenschaften nicht frei im Raum, sie existieren in einzelnen Persönlichkeiten, äußern sich in ihrer individuellen Würde, aber auch in der Würde des Menschen als Repräsentant bestimmter sozialer Gruppen. Im Zusammenhang damit erhebt sich das bedeutsame Problem der Wechselbeziehung von individueller und allgemeiner Würde. Wie bereits ausgeführt, trägt die menschliche Würde konkret-historischen Klassencharakter. Ausgehend von den konkreten Eigenschaften, von der persönlichen Würde der Menschen der verschiedenen historischen Epochen, der verschiedenen Klassen und sozialen Gruppen, wird deutlich, daß sie sich von Klasse zu Klasse und von Epoche zu Epoche verändert. Als Verallgemeinerung fungiert die Idee von der Würde des Menschen als gesellschaftliches oder Klassenideal. Sie spiegelt nicht nur wider, wie der Mensch ist, sondern auch, wie er sein soll. Jede Klasse und die gesamte Gesellschaft fordert von ihren Mitgliedern, denen sie die einen oder anderen Rechte gewährt, daß sie ihrerseits bestimmte gesellschaftliche Verpflichtungen erfüllen und daß die persönliche Würde eines jeden Individuums dem in der betreffenden Gesellschaft gültigen Ideal vom Menschen entspricht. Auf diese Weise ü b t die Idee der menschlichen Würde als Ideal vom Menschen eine starke Rückwirkung auf die tatsächliche Entwicklung der Würde aus und fördert das Wachstum des Wertes jedes einzelnen Menschen. J e höher das Ideal vom Menschen, das eine bestimmte Gesellschaft oder Klasse propagiert, desto größere Anforderungen werden an die einzelne Persönlichkeit gestellt, desto mehr muß sie selbst auch dazu beitragen, das Recht, sich im vollen Sinne des Wortes Mensch zu nennen, zu verdienen. Die organische Verbindung von individueller und menschlicher Würde wird in der Ausbeuterordnung von Grund auf gestört. Das hat unversöhnliche Konflikte zur Folge. Faulenzerei, Habgier, Verachtung der körperlichen Arbeit, Grobheit und Grausamkeit gegenüber den arbeitenden Menschen, wie sie in diesem Milieu an der Tagesordnung sind, stehen in Widerspruch zu den allgemeinmenschlichen Moralnormen, zu den in Jahrhunderten gebildeten Vorstellungen über den Wert des Menschen. Im engen Sinne des Wortes ist die einzelne Persönlichkeit das Subjekt der menschlichen Würde. Jedoch ist es möglich, daß auch eine beliebige reale Gemeinschaft von Menschen diesen Wert repräsentieren kann. In der gegenwärtigen Epoche, angesichts des Kampfes der Völker f ü r Sozialismus und Frieden, gegen nationale und Rassendiskriminierung, erhalten solche Begriffe wie M Landeswürde", n W ü r d e des Volkes", „nationale Würde" eine besondere gesellschaftliche und politische Bedeutung, da sie vor allem eine Anerkennung des hohen Wertes eines jeden Landes,
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Volkes, einer jeden Nation und Rasse zum Ausdruck bringen. Hier treten als Subjekt der menschlichen Würde ganze Völker und Nationalitäten auf. Die Anerkennung des gleichen menschlichen Wertes aller Nationen und Völkerschaften gehört zum festen Bestand der Ideologie des proletarischen Internationalismus, der die Freundschaft und Brüderlichkeit aller Völker ebenso wie die Unversöhnlichkeit gegenüber Erscheinungen des nationalen und Rassenhasses verkündet. Der friedlichen Außenpolitik der sozialistischen Staaten liegt auch die Anerkennung des Rechtes eines jeden Volkes auf Freiheit und Unabhängigkeit, die Anerkennung der Bedeutung eines jeden Landes und Volkes in internationalen Angelegenheiten, unabhängig von seinem ökonomischen und militärischen Potential, von der Bevölkerungszahl, der Größe des Territoriums usw. zugrunde. Im Sozialismus, der die Bedingungen für die Entwicklung echter Gemeinschaftlichkeit schallt, erhalten auch solche Begriffe wie Kollektivwürde, Berufswürde usw. einen realen Inhalt. Diese Termini können als Analogon zur persönlichen Würde aufgefaßt werden und den Wert einer konkreten Gemeinschaft, die Gesamtheit ihrer gesellschaftlich wesentlichen Eigenschaften bezeichnen. Häufig werden sie aber zur Markierung jenes Wertes einer bestimmten Gemeinschaft von Menschen benutzt, den diese mit anderen, gleichgearteten Kollektiven gemein hat. Nehmen wir z. B. den Wert verschiedener Berufe. In der Gegenwart erlangt die Überwindung der Überreste geringschätziger Einstellung zu einzelnen Berufen praktische Bedeutung für die völlige Realisierung des Programms der Partei, in dem es heißt: „Jegliche Arbeit zum Nutzen der Gesellschaft, sei sie körperlich oder auch geistig, verdient Ehre und Wertschätzung." 9 Die Anerkennung der Würde des Menschen prägt nicht nur die Vorstellung von den Rechten der Persönlichkeit, sondern auch eine bestimmte Achtung vor dem Menschen seitens der Gesellschaft. Die Achtung ist ein unerhört kompliziertes und vielschichtiges Bewußtseinsphänomen. Entsprechend den drei Arten der Würde, deren Träger die menschliche Persönlichkeit ist (individuelle, spezielle und menschliche Würde), existieren auch drei Typen der Achtung vor dem Menschen: 1. die Achtung vor einer bestimmten Persönlichkeit, vor der ihr eigenen Würde und ihren Verdiensten im Hinblick auf die Gesellschaft. Diese Art der Achtung zeigt sich in der öffentlichen Aufmerksamkeit gegenüber dem Betreffenden. 2. die Achtung vor einem Menschen als Vertreter einer bestimmten Gemeinschaft von Menschen (einem Revolutionär, Arbeiter, 9 Materialy X X I I c-ezda KPSS (Materialien des X X I I . Parteitages der KPdSU), S. 410
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Lehrer, Arzt, Kosmonauten usw.) und 3. die Achtung vor dem Menschen selbst. Dieser dritte Typus ist auch mit der Anerkennung der menschlichen Würde verbunden. Auf der Anerkennung des Menschen als höchstes Wesen und der daraus folgenden Achtung ihm gegenüber beruht eine ganze Reihe grundlegender, allgemeinmenschlicher Normen der Sittlichkeit sowie Regeln wirklicher Höflichkeit und Lebensart, ohne die eine Gesellschaft nicht auskommen kann. Deshalb läßt sich sagen, daß die Auffassung von der menschlichen Würde verschiedenste ethische Normen und ihnen entsprechende sittliche Beziehungen der Gesellschaft zum Menschen und der Menschen zueinander hervorbringt. Die genannten drei Typen von Achtung sind eng miteinander verflochten, ja häufig nicht voneinander zu trennen. In der Erziehungsarbeit jedoch muß man die Unterschiede zwischen ihnen unbedingt berücksichtigen. In der Erziehung und im praktischen Leben legen wir den Akzent auf die Beurteilung eines Menschen nach seinen Taten, seiner Arbeit, nach der Erfüllung seiner gesellschaftlichen Pflichten, d. h. nach seiner persönlichen Würde, die auch das Maß der Achtung ihm gegenüber bestimmt. Dabei darf jedoch die Erziehung zur Anerkennung des Menschen als Vertreter einer bestimmten Gemeinschaft (Achtung gegenüber verschiedenen Berufsgruppen) und vor allem die Achtung vor dem Menschen selbst nicht zu kurz kommen, wie es leider noch häufig geschieht. Mir scheint, daß in der Erziehungspraxis die Aufmerksamkeit unbedingt immer wieder auf die Achtung gegenüber dem Menschen gelenkt werden muß. In diesem Zusammenhang geht es auch um die Erziehung zu Höflichkeit, Zuvorkommenheit, Ehrerbietung und Taktgefühl, die im Verhalten gegenüber allen Menschen, unabhängig davon, ob wir ihre Verdienste kennen oder nicht, gewahrt werden müssen. 1 0 Und man braucht dabei keine Rückfälle in einen abstrakten Humanismus zu befürchten, um so weniger, als in unserer Gesellschaft die überwältigende Mehrheit der Menschen durch ihre Taten solche Achtung in höchstem Maße verdient hat. Was das individuelle Bewußtsein anbelangt, so drückt sich die Erkenntnis von der menschlichen Würde in dem Bewußtsein und Gefühl der eigenen Würde, des Stolzes aus (der nichts anderes ist als das entwickelte Gefühl der 10
Es gibt z. B. keinen Grund dafür, solche sog. goldene Regel wie „Handle so, wie du willst, daß es mit dir geschehe" (oder „Was du nicht willst, daß man dir tu', das füg auch keinem andern zu") der religiösen bzw. bürgerlichen Moral zu überlassen. Von ihrer Abstraktheit befreit und in das System des kämpferischen sozialistischen Humanismus einbezogen, kann und sollte diese Regel in unserer Gesellschaft zu einer Norm werden, an der jeder sein Handeln mißt. Vgl. {A. F. Siskin, Der Mensch ist der höchste Wert, in: Voprosy filosofii, Heft 1/1965)
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eigenen Würde). Charakteristisch ist dafür die Verbindung des Bewußtseins der eigenen Würde wie auch der menschlichen Würde überhaupt mit dem Bewußtwerden des eigenen Wertes als Repräsentant eines bestimmten Kollektivs, einer Gemeinschaft von Menschen. Die Bedeutung der genannten Eigenschaften kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Karl Marx schrieb nicht umsonst, das Proletariat habe „seinen Mut, sein Selbstgefühl, seinen Stolz und seinen Unabhängigkeitssinn noch viel nötiger als sein B r o t " 1 Unter den gegenwärtigen Bedingungen hat die Propagierung der marxistischen Auffassung von der eigenen Würde und vom Stolz als außerordentlich wichtige menschliche Eigenschaften enorme Bedeutung. Ohne die Verbreitung dieser Qualitäten ist die revolutionäre Umwandlung der Gesellschaft und die Befreiung der Menschheit von Ausbeutung und Unterdrückung unmöglich. Besonderes Gewicht erlangt dies dadurch, daß sämtliche Spielarten der bürgerlichen Ideologie hinter der Maske schöner Phrasen über die menschliche Persönlichkeit und Würde den Gedanken von der Nichtigkeit des Menschen vertreten, seinen Stolz verurteilen, Demut und Unterwerfung predigen. So ist z. B. in der amerikanischen „Enzyklopädie der Religion und Ethik" ein ziemlich langer Artikel über den Stolz zu finden, der auf die Verurteilung des Stolzes abzielt, da er den Dogmen des Christentums widerspreche. Nachdem der Stolz darin als „egoistische Leidenschaft oder Eigenliebe" definiert wird, kommt der Verfasser zu dem Schluß, daß „der Stolz einer Persönlichkeit oder Nation ein gegen die Gesellschaft gerichtetes Gefühl ist, das dem Recht der menschlichen Natur die Achtung versagt". 1 2 Die Herausbildung des Bewußtseins der eigenen Würde ist eine der wichtigsten Aufgaben bei der Erziehung der Sowjetmenschen. Die Wichtigkeit dessen rührt vor allem daher, daß das Bewußtsein der persönlichen und der allgemeinen menschlichen Würde und ein Sinn für Stolz zu den Grundeigenschaften gehören, die das sittliche Antlitz des Menschen prägen. Außerdem setzt die Erhöhung der Aktivität des ganzen sowjetischen Volkes und jedes einzelnen Sowjetmenschen beim Aufbau des Kommunismus voraus, daß die Überreste der Psyche des „kleinen Mannes", des unpolitischen Verhaltens und des Nichterkennens der eigenen K r a f t überwunden werden. Ohne im einzelnen auf diesbezügliche Erziehungsmethoden einzugehen, sei nur auf die propagandistische Notwendigkeit verwiesen, die Bedeutung 11
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K. Marx, Der Kommunismus des „Rheinischen Beobachters", in: K. Marx/ F. Engels, Werke, Bd. 4, Berlin 1959, S. 200 Encyclopedia of Religions and Ethics, Bd. 10, Edinburgh — New York 1952, S. 275—278 (Rückübersetzung aus d. Russ.)
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dieser Eigenschaften im gesellschaftlichen und persönlichen Leben ausführlich darzulegen. Wie die vom Autor durchgeführte Fragebogenanalyse ergab, h a t ein Teil der sowjetischen Menschen darüber recht unklare Vorstellungen. So halten manche Menschen den Stolz immer noch f ü r eine negative Eigenschaft der Persönlichkeit. In Zusammenhang d a m i t m u ß auch unbedingt die Kritik an der Religion und besonders an der religiösen Moral v e r s t ä r k t werden, die den Gläubigen weiterhin einzureden sucht, der Stolz sei eine negative Eigenschaft, und d a m i t zu Unterwerfung und Gehorsam a u f r u f t . 1 3 Somit wird das Problem der menschlichen Würde, das schon von bürgerlichen Humanisten aufgeworfen wurde, in der marxistischen Philosophie weiterentwickelt und anhand der dialektisch-materialistischen Geschichtsauffassung und des Prinzips der proletarischen Parteilichkeit wissenschaftlich gelöst. Der Marxismus-Leninismus h a t theoretisch u n d praktisch bewiesen, daß die Verteidigung der menschlichen Würde und die t a t sächliche Gewährleistung der Rechte des Menschen nur über die Verwirklichung der sozialistischen Revolution und den Aufbau einer neuen Gesellschaftsordnung ohne Ausbeutung und Unterdrückung möglich sind. Die Lösung des Problems der menschlichen Würde liegt in der Bewältigung der Grundaufgaben der Arbeiterklasse, im Sieg der sozialistischen Revolution und im Aufbau des Kommunismus. 13
So schreibt z. B. die Zeitschrift „Bruderbote": „Die häßlichsten Züge des Menschen sind Grobheit und Stolz. Wir wissen, daß der Stolz den schönsten Engel zugrunde gerichtet und in einen Teufel verwandelt hat. Doch vor uns steht Christus, der uns aufruft, von ihm Demut und Unterwerfung zu lernen. Diese wunderbaren Eigenschaften sind schwer zu erlangen. Immer wieder erwachsen Stolz und Hoffart in uns. Doch das Gelöbnis des Wortes Gottes lautet fest und klar: ,Wir werden Ihm gleich sein/ In der Demut und Unterwerfung erreichen wir das ,Maß Christi'." (A. V. Karev, Nasledie cerkvi [Das Vermächtnis der Kirche], in: Bratskij vestnik, Nr. 6/1963, S. 62)
N . D . TABTTNOV
Zur sozialen Verantwortlichkeit des Menschen
Zu einer allseitigen Erforschung des menschlichen Problems gehört auch die Klärung der Frage, über welche sozialen Eigenschaften der Mensch verfügen muß, um in vollem Maße als Persönlichkeit auftreten zu können. Solchen Eigenschaften muß man die Bewußtheit und das Gefühl der Verantwortung vor dem Kollektiv und der Gesellschaft für alles, worauf sich die Kompetenzen, Vollmachten und der Einfluß des Individuums erstrecken, zurechnen. Die Begründer des Marxismus haben der Erziehung und Selbsterziehung der Persönlichkeit zu gesellschaftlicher Verantwortlichkeit höchste Bedeutung zugemessen. Um sein langes Schweigen zu erklären, schrieb Marx in einem Brief an Sigfrid Meyer, er habe sich die ganze Zeit über am Rande des Grabes befunden. „Ich mußte also jeden arbeitsfähigen Moment benutzen, um mein Werk fertigzumachen, dem ich Gesundheit, Lebensglück und Familie geopfert h a b e . " 1 Man wird in der Geschichte wohl kaum ein überzeugenderes Beispiel einer wissenschaftlichen Heldentat, ein Zeugnis von einer ähnlichen Auffassung der Verantwortlichkeit gegenüber der Menschheit finden. Die Notwendigkeit der Erziehung und Selbsterziehung der Persönlichkeit ist in unseren Tagen noch aktueller, vor allem deshalb, weil unter den gegenwärtigen Bedingungen die Beziehungen der einzelnen Persönlichkeit zu ihrer sozialen Umwelt wesentlich reicher geworden sind. W. I. Lenin schrieb über diese Tendenz, die sich schon im Kapitalismus deutlich abzeichnete, daß der Kapitalismus kraft seiner Widersprüche „alle einzelnen Elemente und Klassen der Gesellschaft zur Vereinigung zwingt, und zwar zu einer Vereinigung nicht mehr im engen Rahmen einer Dorfgemeinde oder eines Kreises, sondern zur Vereinigung aller Angehörigen der entsprechenden Klasse in der gesamten Nation und sogar in verschiedenen S t a a t e n " 2 . Die Vertreter kleinbürgerlicher Romantik kritisierend, fügte 1
Marx an Sigfrid Meyer in New York, in: K. Marx / F. Engels, Werke, Bd. 31, S. 542 ^W. I.Lenin, Zur Charakteristik der ökonomischen Romantik, in: Werke, Bd. 2, Berlin 1963, S. 210 221
er hinzu, daß „doch gegenwärtig höchstens Menschen, die ganz mit Blindheit geschlagen sind, die gewaltige Bedeutung dieser Beziehung in Abrede stellen können" 3 . In unserer Zeit sind Persönlichkeit und Gesellschaft durch weitaus mehr Fäden miteinander verbunden als in der Vergangenheit. Jedoch handelt es sich nicht nur um eine Erweiterung dieser Bindungen. Wesentlicher ist die Veränderung ihrer Qualität, die besonders unter sozialistischen Verhältnissen inhaltlich reicher geworden ist. Der wissenschaftlich-technische Fortschritt h a t die physischen und geistigen Fähigkeiten des Menschen und seine Möglichkeit, auf die Umwelt einzuwirken, vervielfacht. Das weist auf die wachsende Rolle des Individuums im gesellschaftlichen Leben und auf die wachsende soziale Verantwortung des einzelnen gegenüber der Gesellschaft hin. Die gesellschaftlichen Interessen beim Aufbau des Kommunismus in unserem Lande erfordern es, das schöpferische Potential buchstäblich jedes einzelnen Menschen in Bewegung zu setzen und seine Aktivität, seine Verantwortung für das Gemeinwohl zu erhöhen. Sie stellen die Persönlichkeit vor die Notwendigkeit, sich maximal an der Erfüllung der gemeinschaftlichen Aufgaben, die vom ganzen sowjetischen Volk und von allen seinen Kollektiven gelöst werden, zu beteiligen. Im Beschluß des X X I I I . Parteitages der KPdSU heißt es nicht zufällig: „Von allen Kollektiven und von jedem Arbeiter wird eine verstärkte Verantwortlichkeit, eine Festigung seiner Disziplin und die Entwicklung zur Selbständigkeit gefordert." 4 Daß die Verantwortung der Persönlichkeit gegenüber der Gesellschaft wächst, hängt nicht zuletzt mit der Kompliziertheit der internationalen Lage zusammen. Bis heute ist die Bedrohung durch einen Raketen- und Atomkrieg nicht beseitigt. Unter solchen Bedingungen „darf man die Möglichkeit kommender Prüfungen, die dem sowjetischen Volk erneut auferlegt werden können, nicht aus den Augen verlieren" 5 . Daher besteht eine der wichtigsten Äußerungen sozialer Verantwortung des sowjetischen Menschen darin, daß er unermüdlich für den Frieden kämpft, ohne dabei eine Schwächung der Verteidigungsbereitschaft und der Kampffähigkeit seines Landes zuzulassen. Schon immer h a t das Problem der sozialen Verantwortung des Menschen für seine Handlungen und sein Auftreten die Aufmerksamkeit auf sich gelenkt. Seine wissenschaftliche Erforschung jedoch h a t sich in der Regel auf die Betrachtung einzelner Formen — der politischen, juristischen, 3
Ebenda Materialy X X I I I c-ezda KPSS (Materialien des X X I I I . Parteitages der KPdSU), S. 282; vgl. auch S. 80 und S. 177 5 Ebenda, S. 78 4
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moralischen Verantwortung — beschränkt. Dadurch wurde der Inhalt des ursprünglichen Begriffes zwangsläufig eingeengt und die Frage nach den Beziehungen zu seinen verschiedenen Grenzbereichen gar nicht erst gestellt. Die dramatischen Ereignisse des zweiten Weltkrieges haben das Interesse bürgerlicher Soziologen und Ethiker an dieser Fragestellung verstärkt. Nach dem Krieg fanden in London (1945), Brüssel (1957) und New York (1958) Symposien statt, die speziell der Thematik moralischer Verantwortung 6 gewidmet waren. Seitdem ist eine umfangreiche Literatur dazu erschienen. Auch Künstler (wie z. B. der progressive amerikanische Kunstschaffende Stanley Kramer mit seinem Film „Der Nürnberger Prozeß") bemühen sich um eine moralisch-psychologische Lösung dieses Problems. In der zeitgenössischen marxistischen Literatur ist die Kategorie der Verantwortung am stärksten von den Rechtswissenschaftlern untersucht worden. Jedoch beschränken sie den Terminus „Verantwortlichkeit" auf das Strafmaß für eine begangene Tat, die durch das gültige Gesetz des jeweiligen Staates oder durch internationales Recht zu ahnden ist. 7 In der philosophisch-ethischen Literatur wird die Kategorie „Verantwortung" — mit wenigen Ausnahmen — nur in Zusammenhang mit den Kategorien „Pflicht" und „Gewissen" behandelt. 8 Dabei tritt nicht immer die Spezifik der Verantwortung in ihrer Wechselbeziehung mit anderen ethischen Begriffen hervor. Außerdem gibt es noch den Versuch, die Verantwortung nur als „umfassenden Ausdruck der sittlichen Seite gesellschaftlicher Beziehungen" aufzufassen. 9 Es ist kein Zufall, daß diese Kategorie bei den Vertretern der verschiedensten Gesellschaftswissenschaften Beachtung findet. Die Verantwortung ist vor allem eine soziologische Kategorie, die sich in den verschiedenen Sphären gesellschaftlichen Lebens und Wirkens des Menschen spezifisch ausdrückt. Es ist durchaus gerechtfertigt, ihre verschiedenen Formen zu untersuchen, man kann jedoch nicht den ganzen Inhalt des Begriffs „soziale Verantwortung" auf eine ihrer Erscheinungsweisen zurückführen. 6
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Vgl. A. P. Cermenina, Zum Problem der Verantwortung in der modernen bürgerlichen E t h i k , i n : Voprosy filosofii, H e f t 2/1965 Vgl. M. Ja. Rapoport, K voprosu ob otvetstvennosti za prestuplenija p r o t i v celovecestva (Zur F r a g e der Verantwortlichkeit f ü r Verbrechen gegen die Menschlichkeit), i n : Vestnik L G U (Mitteilungsblatt der Leningrader Staatlichen Universität), H e f t 5/1965 Vgl. auch A. F. Siskin, Osnovy marksistsko-leninskoj etiki (Grundlagen der marxitisch-leninistischen E t h i k ) , Moskva 1961, S . 204—209; I. Popelova, Eltika (Ethik), M o s k v a 1965, S. 5 9 3 - 5 9 6 W. Weiler, Zur Kategorie Verantwortung, i n : Deutsche Zeitschrift f ü r Philosophie, H e f t 8/1965, S . 993
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Um Wesen und Inhalt der sozialen Verantwortung herauszustellen, ist unbedingt vom Charakter der Wechselbeziehung zwischen Individuum und Gesellschaft auszugehen. Gesellschaftliche Beziehungen bestimmen die Verhaltensweise eines Menschen und die Möglichkeit des Sichentscheidens in einer konkreten Situation. J e nach dem Charakter der Gesellschaftsordnung können diese Möglichkeiten für das Individuum günstig sein, sie können die Freiheit in der Wahl der Lösungen aber auch wesentlich einschränken. In der antagonistischen Klassengesellschaft weichen die Beziehungen des Individuums zu den verschiedenen Klassen und sozialen Gruppen sehr voneinander ab. Indem die Persönlichkeit im Interesse einer Klasse, einer sozialen Gruppe handelt, gerät sie freiwillig oder gezwungenermaßen in Widerspruch zu den Interessen anderer Klassen und sozialer Gruppen. Außerdem legen die herrschenden Klassen dem Individuum mittels verschiedener Sanktionen, von moralischem bis hin zu physischem Zwang, Fesseln an und streben danach, es in Gehorsam und Unterwerfung zu halten. Jede Klasse und soziale Gruppe macht die Persönlichkeit auf ihre Verantwortung gerade ihr gegenüber aufmerksam. Worin besteht aber nun die wirkliche soziale Verantwortung der Persönlichkeit? Den wichtigsten Hinweis zur Lösung dieser Frage finden wir in folgender Feststellung Lenins: „. . . vom Standpunkt der Grundideen des Marxismus stehen die Interessen der gesellschaftlichen Entwicklung höher als die Interessen des Proletariats — die Interessen der ganzen Arbeiterbewegung in ihrer Gesamtheit höher als die Interessen einer einzelnen Arbeiterschicht oder einzelner Momente der Bewegung . . ," 1 0 Aus der Leninschen These geht hervor, daß die Persönlichkeit dazu verpflichtet ist, in all ihrem Tun und Handeln zuerst von den Interessen der gesellschaftlichen Entwicklung auszugehen und in einer Gesellschaft mit antagonistischen Interessen von den Interessen derjenigen sozialen Kräfte, welche die Zukunft der Menschheit verkörpern. Den Kern dieser Kräfte stellt in der bürgerlichen Gesellschaft die Arbeiterklasse dar. Wenn die Marxisten allen ehrlichen Menschen aus dem bürgerlichen Lager nahelegen, auf die Position der Arbeiterklasse überzugehen, lassen sie sich nicht von pragmatischen Erwägungen leiten, sondern von der wissenschaftlich begründeten These, daß die Interessen der Arbeiterklasse objektiv mit dem realen gesellschaftlichen Entwicklungsprozeß übereinstimmen, genauer gesagt, die Tendenz mit ihm gemein haben. In Übereinstimmung mit den Erfordernissen der gesellschaftlichen Entwicklung zu handeln, gebietet der Persönlichkeit auch die gesellschaftliche 10
W. I. Lenin, Entwurf eines Programms unserer Partei, in: Werke, Bd. 4, Berlin 1955, S. 230
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Pflicht. Aber im Unterschied zur sozialen Verantwortung sind die Forderungen der gesellschaftlichen Pflichtauffassung weniger bestimmt; sie weisen eher auf die Richtung des Verhaltens hin als auf dessen konkretes Maß. So existiert z. B. kein Terminus wie „die halbe Pflicht" oder „die Viertelpflicht", obwohl gerade das konkrete Maß der gesellschaftlichen Pflichterfüllung wesentliche praktische Bedeutung besitzt. Die soziale Verantwortung t r i t t als spezielles Maß, als Maßstab der gesellschaftlichen Pflicht zutage. Sie fordert von der Persönlichkeit, in jeder konkreten Situation die optimale Verhaltensvariante auszuwählen. Das Wesen der sozialen Verantwortung besteht in der Verpflichtung der Persönlichkeit, sich für eine Verhaltensweise zu entscheiden, die den Bedürfnissen der gesellschaftlichen Entwicklung am besten entspricht. Der objektive Inhalt des Begriffs „soziale Verantwortung" liegt im realen Verhalten 11 der Persönlichkeit im Hinblick auf die Erfordernisse der gesellschaftlichen Entwicklung. Ob ein bestimmtes Handeln verantwortungsbewußt oder verantwortungslos ist, hängt nicht davon ab, was die Persönlichkeit selbst darüber denkt oder glauben möchte, sondern ausschließlich davon, ob dies Auftreten den Interessen der fortschrittlichen Kräfte, der ganzen Gesellschaft und der Zukunft der Menschheit entspricht oder nicht. Der objektive Inhalt der sozialen Verantwortung wird auch in subjektiver Form sehr häufig (besonders in der antagonistischen Klassengesellschaft) unterschiedlich beurteilt. Ob die Einschätzung mit dem Charakter des Verhaltens einer Persönlichkeit, einer sozialen Gruppe usw. übereinstimmt, sich also als wahr erweist, hängt in erster Linie davon ab, von welcher Klassenposition und von welchen gesellschaftlichen Kräften her diese Einschätzung erfolgt. Angesichts des verlogenen, inhaltsleeren Geschwafels von Vertretern der herrschenden Schicht der USA, die behaupten, sie empfänden höchste Verantwortung für die Nation, schrieb C. Wright Mills: „Die Leute in führenden Kreisen sind keine respektgebietenden Persönlichkeiten. Ihre Machtstellung entspricht nicht moralischen Qualitäten. Ihr großer Erfolg beruht nicht auf V e r d i e n s t e n . . . . Sie gebieten über eine Machtfülle, wie die 11
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In der marxistischen Literatur werden nicht selten ohne zwingende Notwendigkeit Kategorienpaare identifiziert: Objektives und Subjektives auf der einen Seite mit Materiellem und Ideellem auf der anderen, was zu dem Fehlschluß führt, es sei nicht gerechtfertigt, die Kategorie des Objektiven auf Erscheinungen aus der Sphäre des Überbaus anzuwenden. Wie kunstgerecht unsere ideologischen Gegner diesen Fehler auszunutzen, wird überzeugend in dem Artikel von H. Klotsch „Zum Problem der Objekt-SubjektDialektik", in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Heft 10—11/1965, S. 1 1 9 6 - 1 2 1 2 , dargelegt. Mayer
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Weltgeschichte sie bisher nicht kannte. Ihr Erfolg wurde möglich in einem System organisierter Verantwortungslosigkeit." 12 Die progressiven Kräfte der Gesellschaft sind nicht daran interessiert, die Wahrheit bewußt zu entstellen; sie sind jedoch nicht gegen unfreiwillige Verirrungen gefeit. Das richtige Abschätzen der Verantwortung ist letzten Endes nichts anderes als eine adäquate Widerspiegelung der Übereinstimmung des Verhaltens einer Persönlichkeit mit den Bedürfnissen der gesellschaftlichen Entwicklung. Das Verhalten der Persönlichkeit ist die Resultante vieler Faktoren: objektiver, der Persönlichkeit gegenüber äußerlicher, die mit dem Charakter der sozialen Umwelt zusammenhängen, und subjektiver, die von persönlichen Eigenschaften des Menschen abhängen. Den größten Einfluß auf die Verhaltensweise des Individuums übt die soziale Umwelt aus. Abgesehen von den Belangen der gesellschaftlichen Entwicklung gehört zu den objektiven Faktoren auch der Charakter der sozialen Sanktionen: die Reaktion der Gesellschaft auf das Verhalten der Persönlichkeit (Mißbilligung, Strafe, Lob, anspornende Belohnung usw.). Die Gesellschaft erwartet von der Persönlichkeit, daß sie für ihr Verhalten „Rede und Antwort steht" (da liegt auch der etymologische Ursprung des Wortes „Verantwortung"). Es ist nur natürlich, daß sich der Charakter der sozialen Sanktionen in der Klassengesellschaft infolge ihrer Heterogenität und ihres Antagonismus durch äußerste Widersprüchlichkeit auszeichnet. Das soziale Milieu bedingt lediglich verschiedene Möglichkeiten des individuellen Verhaltens. Welcher von ihnen der Mensch den Vorzug gibt, hängt in bedeutendem Maße von seinem Selbstbewußtsein und Willen ab. „Das Bewußtsein ist die höchste Form der Selbstbestätigung. . . ." 13 , der Persönlichkeit. Der sowjetische Psychologe S. L. Rubinstejn schrieb: „Ohne Bewußtsein, ohne die Fähigkeit, bewußt einen bestimmten Standpunkt einzunehmen, gibt es keine Persönlichkeit." 1 4 Mittels ihres Bewußtseins vermag die Persönlichkeit eine Situation von allen Seiten einzuschätzen und verschiedene Varianten für mögliche Lösungen zu durchdenken, um schließlich ein optimales Verhalten festzulegen und in Anbetracht des Charakters der sozialen Sanktionen dessen mögliche Folgen abzuschätzen. Nicht immer erlauben es die Umstände dem Menschen, die Folgen seines Verhaltens vorauszusehen (hier sind die unmittelbaren Folgen gemeint, nicht sehr fernliegende Konsequenzen). Das enthebt ihn jedoch nicht der Verantwortung für sein Auftreten. An die soziale Bedeutung ihres Verhaltens zu denken und ihre Folgen abzu12
C. W. Mills, The Power Elite, New York 1957; deutsch: Die amerikanische Elite. Gesellschaft und Macht in den USA, Hamburg 1962, S. 410 13 L. Feuerbach, Das Wesen des Christentums, Reclam, Leipzig, S. 65 W S. L. Rubinstejn, Sein und Bewußtsein, S. 283
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schätzen ist nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht jedes Mitglieds unserer Gesellschaft. Unsere ideologischen Gegner interpretieren den Marxismus so, als nehme er dem Menschen kraft seines sozialen (vor allem seines ökonomischen) Determinismus die persönliche Verantwortung ab, entstellen ihn bewußt oder verfallen doch unabsichtlich in diesen Fehler. Der existentialistische deutsche Philosoph Karl Jaspers hat in einer ganzen Reihe von Werken, darunter auch in dem Buch „Die Atombombe und die Zukunft der Menschheit", der marxistischen Lehre vom sozialen Determinismus den Vorwurf gemacht, sie rechtfertige jede beliebige Handlungsweise des Menschen, sofern er nach einem streng vorgegebenen sozialen Programm handle. Beruht denn aber die existentialistische Auffassung der Persönlichkeit nicht auf der Ansicht, daß der Mensch für jeden seiner Schritte voll verantwortlich sei? Der Mensch ist kein blindes Spielzeug in der Hand des Schicksals, der Vorsehung, äußerer Umstände oder gesellschaftlicher Bedingungen. Marx hat konstatiert, daß „die Umstände von den Menschen verändert" 1 5 werden, und deshalb kann man ein verantwortungsloses Verhalten des Menschen nicht allein der sozialen Umwelt zur Last legen. Die Möglichkeit, eine Entscheidung zu treffen, und folglich auch der Grad der Verantwortung hängt, abgesehen von der moralischen Haltung der Persönlichkeit, auch von ihrem Platz in der sozialen Hierarchie ab. Es versteht sich, daß diese Stellung in der sozialistischen Gesellschaft durch andere Faktoren bestimmt wird als in der bürgerlichen. In der einen wie in der anderen gibt es jedoch soziale Schlüsselpositionen, in denen die Persönlichkeit sich in die Lage versetzt sieht, einen stärkeren Einfluß auf ihre Umwelt auszuüben als viele andere Menschen. Zum Beispiel ist in der sozialistischen Gesellschaft der Einfluß eines Leiters auf sein Kollektiv bei weitem nicht dem eines einfachen Kollektivmitglieds gleichzusetzen. Daraus ergibt sich, daß auch der Grad ihrer sozialen Verantwortung nicht gleich ist. Zieht man daraus die Schlußfolgerungen, so muß man feststellen, daß die soziale Verantwortung eine soziologische Kategorie zur Bewertung dessen ist, inwieweit es der Persönlichkeit gelingt, die jeweils optimale Verhaltensvariante zu finden. Solcher Bewertung liegen die Bedürfnisse der gesellschaftlichen Entwicklung und der Charakter der sozialen Sanktionen (in der antagonistischen Gesellschaft der Sanktionen progressiver Kräfte) zugrunde. In dieser Definition wird der objektive Inhalt der Kategorie (wie die Persönlichkeit die jeweils optimale Verhaltensvariante praktiziert hat) 15
K. Marx,
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Thesen über Feuerbach, in: K. Marx/F.
Engels, Werke, Bd. 3, S. 5
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hervorgehoben, wird ihre subjektive Form (die soziale Wertung) ausgedrückt sowie auf ihr Wahrheitskriterium (die Übereinstimmung der Verhaltensbewertung mit dem Verhalten selbst und dieses wiederum in seiner engen Relation zu den Bedürfnissen der gesellschaftlichen Entwicklung) hingewiesen. Schließlich wird das spezifische Merkmal dieses Begriffes in Betracht gezogen : der Charakter der sozialen Sanktionen; Die soziale Verantwortung der Persönlichkeit äußert sich auf verschiedene Weise. Die wichtigste ist die politische Verantwortung, die eine hohe politisch-gesellschaftliche Aktivität erfordert. Man darf die Zurückhaltung des Menschen gegenüber dem politischen Leben in keiner Weise gutheißen. Einerseits ist auch das Politik, und andererseits schwächt die schweigende Gleichgültigkeit der Persönlichkeit angesichts komplizierter politischer Fragen stets die Kräfte des Fortschritts. Menschen dieses Typus meinte B. Jasienski, als er einem seiner Romane folgendes Epigraph voranstellte: „Fürchte nicht die Feinde — schlimmstenfalls können sie dich töten ; fürchte nicht die Freunde — schlimmstenfalls können sie dich verraten. Fürchte aber die Gleichgültigen — sie töten und verraten nicht, aber nur mit ihrem stillen Einverständnis bestehen in der Welt Verrat und Mord." 1 6 Unsere Zeit fordert von jedem einzelnen mit Nachdruck, sich um die Politik zu kümmern. Der hervorragende französische Physiker und bekannte Politiker Paul Langevin h a t dies ausgezeichnet verstanden. Als Grund für seine aktive Teilnahme am gesellschaftlichen Leben, die sogar auf Kosten seiner wissenschaftlichen Arbeit ging, gab er a n : „Meine wissenschaftliche Arbeit können früher oder später auch andere leisten. Aber wenn man sich nicht mit Politik befaßt, wird die Wissenschaft bald überhaupt aufhören zu existieren." 17 Mit der politischen Verantwortung eng verbunden ist die juristische, die in der Pflicht des einzelnen besteht, herrschende Gesetze und Rechtsnormen einzuhalten; anderenfalls werden gegen ihn materielle (Strafe) und politische (Verlust oder Einschränkung der staatsbürgerlichen Rechte) Sanktionen erhoben. Mit einer breiteren Sphäre der Wechselwirkung von Individuum und Gesellschaft haben wir es bei der moralischen Verantwortung zu tun. Im Sozialismus fällt sie in der Tendenz mit der politischen und juristischen zusammen und unterscheidet sich von ihnen nur in Umfang und Charakter 16
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B. Jasienski, Die Verschwörung der Gleichgültigen, zitiert nach W. Oserow, Die Verschwörung der Gleichgültigen. Einige Bemerkungen über zeitnahe Literatur und einen neuen Roman von Bruno Jasienski, in : Kunst und Literatur, Heft 1/1957, S. 39 Zitiert nach M. Saskolskaja, Frédéric Joliot-Curie, Moskva 1959, S. 156 (Rückübersetzung aus d. Russ.)
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der jeweiligen sozialen Sanktionen. Von dieser Einheit moralischer, politischer und juristischer Verantwortung in unserer Gesellschaft legen die Schlußworte des Eides der sowjetischen Streitkräfte ein beredtes Zeugnis ab: „Wenn ich diesen meinen heiligen Eid verletze, soll mich die Härte der sowjetischen Gesetze, der allgemeine Haß und die Verachtung der Werktätigen treffen." 1 8 Auch anhand der Berufe der Menschen lassen sich Arten von Verantwortung klassifizieren. Wir sprechen von der Verantwortung des Arbeiters, Arztes, Lehrers, Künstlers und anderer. Begriffe, die mit dieser Art Verantwortung verbunden sind, zeugen von den hohen Erwartungen, die das Volk in die Vertreter der verschiedenen Berufe setzt. Die Erziehung und Selbsterziehung zu sozialer Verantwortlichkeit ist von hoher gesellschaftlicher und staatlicher Bedeutung und eine Angelegenheit der Ehre für jeden Sowjetmenschen. Ihr Erfolg hängt sowohl von der Vervollkommnung des Gesamtsystems der gesellschaftlichen Beziehungen und deren weiterer Demokratisierung als auch von der Erhöhung des Selbstbewußtseins und der schöpferischen Aktivität jeder Persönlichkeit ab. Besonders wichtig sind für die Jugend Erziehung und Selbsterziehung zu sozialer Verantwortung. Die Jungen und Mädchen sollen aus den Händen der älteren Generation die Stafette der Errichtung der kommunistischen Gesellschaft übernehmen. Das Bewußtsein der Verantwortung der Jugend gegenüber der Gesellschaft ist desto höher, je stärker sie die Kontinuität der Geschichte empfindet, je eher sie dazu befähigt wird, das Beste in sich aufzunehmen, was Generationen vor ihr geschaffen haben, und deshalb in der Lage ist, den sozialen Werten neue hinzuzufügen. Wenn das Mißverhältnis zwischen abstrakt aufgenommenen Ideen und dem Verhalten des Individuums auch nicht den Lebensnerv der Gesellschaft berührt, so wirkt sich dieser „Zwiespalt" beim Menschen doch in erster Linie für ihn selbst verhängnisvoll aus. Völlig anders ist die Sachlage, wenn die Persönlichkeit sich verantwortungslos zu Problemen verhält, die das Schicksal großer Kollektive von Menschen, der Gesellschaft oder sogar der Menschheit betreffen. Unter den gegenwärtigen Bedingungen ist das wichtigste Problem für die ganze Menschheit die Erhaltung des Friedens auf der Welt, die Verhinderung eines Kernwaffenkonflikts zwischen den beiden gegensätzlichen gesellschaftspolitischen Systemen. Im Kampf für den Frieden und gegen einen ungerechten Krieg äußert sich die Kraft des einzelnen in der organisierten Tätigkeit der Massen. 18
Ustav vnutrennej sluzby Vooruzennych Sil Sojuza S S R der Streitkräfte der Sowjetunion), Moskva 1960, S. 191
(Dienstreglement
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Wenn der einzelne seine Stimme erhebt, um gegen die Kriegstreiber zu protestieren, wenn er seine Handlungen mit den Aktivitäten der anderen verbindet, so vermag er viel für die Erhaltung des Friedens zu leisten. Ihre Gleichgültigkeit gegenüber dem Schicksal des Friedens und ihre Abneigung, aktiv für seine Erhaltung aufzutreten, begründen einige Vertreter der bürgerlichen Gesellschaft damit, sie seien doch nur „kleine Leute" und nicht in der Lage, einen Einfluß auf die Politik auszuüben. Dies sei das Privileg der Regierungen, die über die notwendigen Informationen und die Macht zu entsprechenden Entscheidungen verfügen. In unseren Tagen sind die gesellschaftlichen Beziehungen zweifelsohne noch komplizierter geworden. Das Paradoxe besteht gerade darin, daß auf das Individuum eine Kaskade von Informationen niedergeht, so daß es ständig sein eigenes Unvermögen empfindet, sich in der Kette der Kausalbeziehungen zurechtzufinden und die richtige Verhaltensweise zu bestimmen. Aber das bedeutet nicht, daß der Mangel an erschöpfenden Informationen dem Menschen die Möglichkeit nimmt, Stellung zu den Problemen von Krieg und Frieden zu beziehen. Der Krieg ist letztlich nichts anderes als die Fortführung der Politik mit den Mitteln der Gewalt. Wenn der einzelne das Wesen der Politik begreift, so kann er auch ausreichend über das Wesen eines Krieges, seinen Charakter und seine Ziele urteilen. Auch der außenpolitische Kurs dieses oder jenes Staates kann der breiten Öffentlichkeit nicht verborgen bleiben. Für jeden unvoreingenommenen Menschen steht z. B. fest, daß die politischen und militärischen Führer der USA, die den verbrecherischen Krieg in Vietnam entfesselt haben, ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit begehen. Deshalb besteht die soziale Verantwortung jedes ehrlichen Menschen heute darin, mit allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln den Befreiungskampf des vietnamesischen Volkes zu unterstützen, damit der Frieden in Südostasien wiederhergestellt wird. Die soziale Verantwortung verpflichtet einen Menschen mit reinem Gewissen dazu, sich nicht an einem ungerechten Krieg zu beteiligen, sondern aktiv gegen ihn zu kämpfen. Besonders ernst ist dieses Problem für einen militärisch geschulten Menschen. Heutzutage hält der Militärangehörige einen gefesselten Blitz in Händen, der „heller ist als tausend Sonnen". Ist er im Recht, wenn er einem Befehl folgt, dessen Ausführung sich gegen die Interessen der Menschheit richtet? Die scheinbar rein berufsgebundene Fragestellung erweist sich so als Teil der allgemeinen Problematik, als konkreter Ausdruck der sozialen Verantwortung der Persönlichkeit. Das Gewissen der Menschen läßt es nicht mehr zu, unmenschliche Grausamkeiten und Verbrechen gegen die Menschlichkeit durch die Berufung auf den „Befehl von oben" zu rechtfertigen. Denn gerade dieses Argument
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brachten die faschistischen Verbrecher zu ihrer Entlastung vor. Unbedenkliche Befehlsausführung wird auch von denen verlangt, die in den modernen imperialistischen Armeen dienen. Angesichts der Willkür ihm bekannter Kommandeure
war
der
Wehrbeauftragte
des
Bonner
Bundestages,
Helmuth Heye, gezwungen, in der westdeutschen Zeitschrift
„Quick"
einzugestehen: „Solche Kommandeure streben in erster Linie danach, den Willen des Soldaten zu brechen und ihn durch den Befehl zu ersetzen. Mit diesen Methoden erziehen wir keine selbständigen Menschen, sondern Roboter." 1 9 Die bürgerliche Propaganda versucht, den Sinn für soziale Verantwortung, das Gewissen, aus dem Bewußtsein des Soldaten auszumerzen und ihm einzureden, ein Soldat brauche keinen Wert auf die öffentliche Meinung zu legen. Ein amerikanisches Presseerzeugnis, „ D e r ideale Soldat", belehrt die jungen Wehrpflichtigen: „Junger Mann! Ein guter Soldat versucht niemals festzustellen, was gut und was schlecht ist. Wenn man ihm befiehlt, auf seine Mitbürger, Freunde, Nachbarn zu schießen, so wird er diesem Befehl ohne Zögern nachkommen. Wenn ihm befohlen wird, in eine Menge von armen Leuten, die um Brot auf die Straße gegangen sind, zu schießen, wird er sich nicht weigern, den Befehl auszuführen." 20 Empörend sind die verleumderischen Erklärungen einiger bürgerlicher Theoretiker, die der Sowjetarmee gerade jene Praktiken anlasten, die nur den Armeen bürgerlicher Staaten eigen sind. Beispielsweise behauptet der englische Militärhistoriker General James Füller in seinem Buch „ T h e Conduct of W a r 1789 — 1961", die marxistisch-leninistische Wissenschaft und Praxis anerkennten „keinerlei moralische Erwägungen als Faktoren in der Politik des sozialen Lebens" und verwandelten deshalb „den Krieg in ein tierisches Gemetzel, in dem alles erlaubt ist" 21 . In Wirklichkeit kennt die Geschichte keinen Fall, wo die sowjetischen Streitkräfte einen ungerechten Krieg geführt oder ohne soziale und militärische Notwendigkeit Gewalt angewendet hätten. Befreit der Befehl von oben einen Soldaten etwa von der Verantwortung für seine Teilnahme an einem ungerechten Krieg? Die fortschrittlichen Denker
sind immer
entschieden
gegen
die kastenbestimmte
Verant-
wortungslosigkeit des Soldaten aufgetreten. Einer der ersten, die mit allem Nachdruck die Frage nach der Verantwortlichkeit des Soldaten für die Erfüllung eines Befehls gestellt haben, war das Mitglied linker
W Zitiert nach der Zeitschrift „Za rubezom", Nr. 30/1964, S. 24 Zitiert nach V. A. Petrov, Vooruzennye sily N A T O (Die Streitkräfte der NATO), Moskva 1962, S. 89 21 J. Füller, The Conduct of War 1789-1961, London 1961, S. 203 (Rückübersetzung aus d. Russ.)
20
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Kreise in der deutschen Reformationsbewegung Sebastian Franck (1499—1542). In seinem „Kriegsbüchlein des Friedens" wies Franck nach, daß der Befehl des Kommandeurs dem Soldaten nicht die Verantwortung für seine Teilnahme an einem ungerechten Krieg abnimmt. Die Idee von der Verantwortung des Soldaten für Verbrechen gegen die Menschlichkeit wurde in den Arbeiten der fortschrittlichen Denker weiter ausgebildet und fand schließlich ihren Niederschlag im Urteil des Nürnberger Internationalen Militärgerichtshofes. In Artikel 8 dieses Urteils heißt es: „Die Tatsache, daß der Verurteilte auf Anordnung der Regierung oder gemäß dem Befehl seines Vorgesetzten gehandelt hat, befreit ihn nicht von der Verantwortung für sein Tun und kann nicht als strafmildernder Umstand gelten . . . " 2 2 Das Urteil des Nürnberger Militärgerichtshofes wurde die juristische Grundlage, nach der man die faschistischen Verbrecher wegen ihrer Verbrechen gegen den Frieden, wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zur Verantwortung zog. Gerät der Mensch in einen Konflikt zwischen einem Befehl, der ihn zu antihumanistischem Handeln nötigt, und seinem sozialen Verantwortungsbewußtsein, so ist er verpflichtet, dem Befehl zuwiderzuhandeln und möglicherweise sogar selbst Maßnahmen zu ergreifen, die zur Verhinderung der Befehlsausführung notwendig sind. Verständlicherweise ist das unter den Bedingungen der Subordination und des Terrors für einen im Kriegsdienst stehenden Menschen sehr schwer und nicht ohne Gefahren. Desto mehr imponiert uns der Mut jener amerikanischen Soldaten, die sich geweigert haben, an dem verbrecherischen Krieg gegen das vietnamesische Volk teilzunehmen, und dafür von einem amerikanischen Gericht verurteilt wurden. Einer dieser Soldaten bemerkte während der Verhandlungen, er und seine Freunde hätten sich nicht aus pazifistischen Gründen geweigert, in Vietnam zu kämpfen. „Wir können nicht Teilnehmer eines solchen Krieges sein", erklärte er, „weil dies ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit ist, ähnlich dem Kriege, den die Nazis geführt haben." 2 3 Nur in Armeen, die zum Schutz der Interessen des Volkes geschaffen wurden, ist eine echte Basis für die Ubereinstimmung der Forderungen des Kommandeurs und der sozialen Verantwortung der Persönlichkeit gegeben. Bei gerechten Kriegen entfällt die Notwendigkeit, die Massen der Bevölkerung über Gründe und Ziele des Krieges im unklaren zu lassen. Lenin, der die grundsätzlich verschiedene Auffassung der bürgerlichen und der sozialistischen Regierung über die Information der Militärdienstpflichtigen hervorhob, schrieb: „Nach bürgerlichen Begriffen kann dann 22 23
Njurnbergskij proces (Der Nürnberger Prozeß), Bd. 1, Moskva 1954, S. 16 Prawda vom 3. Juli 1966
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von Stärke gesprochen werden, wenn die Massen den Befehlen der imperialistischen Regierungen gehorchen und blindlings zur Schlachtbank gehen. Die Bourgeoisie hält nur dann einen Staat für stark, wenn er mit der ganzen Macht des Regierungsapparats die Massen dorthin zu dirigieren vermag, wohin es die bürgerlichen Machthaber wollen. Unser Begriff von Stärke ist ein anderer. Nach unseren Begriffen ist es die Bewußtheit der Massen, die den Staat stark macht. Er ist dann stark, wenn die Massen alles wissen, über alles urteilen können und alles bewußt tun." 24 Diese Bemerkung Lenins behält auch unter den gegenwärtigen Bedingungen ihren vollen Wert. Die sowjetischen Kämpfer, denen die Gerechtigkeit der Politik des Sowjetstaates bewußt ist, sehen ihre soziale Verantwortung darin, die Befehle ihrer Kommandeure so gut und so exakt als möglich auszuführen. Dazu ist es nicht nötig, daß sie bis in die Details hinein alle Pläne und Absichten ihrer Vorgesetzten kennen. Charakter und Bedingungen der Kampfhandlungen schließen eine solche Möglichkeit praktisch aus. Außerdem ist es vom militärischen Standpunkt nicht zweckmäßig, alle Untergebenen in vollem Umfang mit den Plänen der Kommandeure bekanntzumachen. Aber auch in solchem Falle ist der Kämpfer einer Armee in den sozialistischen Ländern kein gedankenloses Instrument eines fremden Willens. Einer der Helden des Romans von A. Krön „Ein Haus und ein Schiff", der Offizier Seljanin, sagt: „Betrachtungen anstellen ist gut, wenn man über alles informiert ist. Das war so im 19. Jahrhundert, als jeder Bürger über Politik urteilen konnte; jetzt ist alles streng geheim . . . Unsere Zeit duldet keine Varianten: Entweder man glaubt und ordnet sich unter, oder man gerät bei jeder beliebigen Wendung der Dinge außer Kurs. Ich meinerseits glaube. Daß jeder Soldat Fragen stellen kann, hat keinen Sinn. Ich stelle solche Fragen auch nicht. Man kann mir jederzeit ein Blatt Papier bringen und sagen: ,Das ist Ihr Artikel, Ihre Deklaration, Ihre Erklärung, so ist es notwendig, der Wortlaut ist zu bestätigen' — ich werde unterschreiben, ohne das Papier gelesen zu haben. Ich bin Soldat und habe keinen Standpunkt außer dem offiziellen. Alle abstrakten Themen habe ich meinem Staat überantwortet und schäme mich keineswegs, daß ich nur ausführendes Organ bin." 2 5 Die zwingende Notwendigkeit, auch bei unvollständiger Information eine bestimmte Haltung einzunehmen, ist das eine; ein seelenloses Instrument, ein Roboter sein, sein Recht zu denken aufgeben ist etwas ganz anderes. Ohne vollständig über die Absichten seiner Vorgesetzten
W. I. Lenin, Schlußwort zur Rede über den Frieden; 26. Oktober (8. November), in: Werke, Bd. 26, Berlin 1961, S. 246 » Zvezda, Nr. 9/1964, S. 19 24
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im Bilde zu sein, weiß der Kämpfer der Sowjetarmee doch, d a ß seine Interessen m i t dem allgemeinen Kurs seiner Regierung übereinstimmen und in den vom militärischen S t a n d p u n k t notwendigen Grenzen auch m i t der Absicht seines Kommandeurs. Schon in den ersten J a h r e n der Sowjetm a c h t bemerkte M. V. Frunze: „Unser Rotarmist ist ein vollberechtigter Bürger der Republik . . . E r vermag den Sinn und Geist der militärischen Regeln und der erteilten Anordnungen durchaus zu erfassen." 2 6 Die Marxisten haben die Armee nie f ü r eine ideale Organisationsform des gesellschaftlichen Lebens gehalten, sie sind niemals f ü r einen KasernenSozialismus eingetreten. Daß unsere sozialistische Gesellschaft über Streitkräfte verfügt, ist eine durch äußere U m s t ä n d e bedingte Notwendigkeit. Diese Notwendigkeit ist jedoch von besonderer Art. Die Sowjetarmee erfüllt eine verantwortungsvolle soziale F u n k t i o n : Sie schützt die friedliche Arbeit unseres Volkes, seine Freiheit und Unabhängigkeit u n d verteidigt im Bündnis mit den Armeen der anderen sozialistischen Länder deren Interessen. Die Erfüllung dieser Aufgabe ist f ü r die sowjetische Gesellschaft im ganzen und f ü r jeden einzelnen Menschen von großer Bedeutung. Deshalb ist auch die Ableistung der Militärdienstpflicht in unserem Lande f ü r jeden jungen Menschen eine ehrenvolle Verpflichtung. Der Dienst in der Armee ist die Sphäre, in der die Jugendlichen u n t e r spezifischen Bedingungen eines ihrer Rechte auf soziale Verantwortung gegenüber der H e i m a t verwirklichen können. Die Sorge der J u g e n d u m die Verteidigung der Errungenschaften des Sozialismus und die F o r t setzung der Sache der Väter ist d a m i t die Vorsorge f ü r ihr eigenes Schicksal. Daß buchstäblich alle sowjetischen Menschen f ü r den Frieden eintreten und den leidenschaftlichen Wunsch haben, m i t den anderen Völkern in Frieden zu leben, steht f ü r alle unvoreingenommenen Menschen außer Zweifel. Wir wissen aber aus praktischer Erfahrung, daß es zu wenig ist, den Frieden zu wollen, man m u ß auch in der Lage sein, ihn zu verteidigen. Schon mehrmals m u ß t e n die sowjetischen Streitkräfte gegen die imperialistischen Aggressoren das Schwert ziehen, und das beweist, d a ß unsere Armee, bildlich gesprochen, ihrem Wesen nach eine große Idee ist, die sich bewaffnet h a t , eine K r a f t , welche die Gerechtigkeit auf der Welt garantiert. Diesen Gedanken jedem jungen Menschen nahezubringen ist eine dankbare Aufgabe f ü r alle gesellschaftlichen Organisationen. Außerordentlich groß ist dabei die Rolle der Literatur- und Kunstschaffenden. Mehr als alle anderen können sie d a f ü r etwas t u n , daß im Bewußtsein neuer Generationen ewig das Feuer der Verehrung f ü r die Helden b r e n n t . 26
M. V. Frunze, Izbrannye proizvedenija (Ausgewählte Werke), Moskva 1965, S. 262
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Die Werke der Kunst machen uns bewußt, daß es für den Menschen keine höhere Verantwortung gibt als die Verantwortung gegenüber der Heimat. Alle Sowjetmenschen sind als aktive Verteidiger unseres Landes, als Kämpfer für den Frieden in der ganzen Welt bereit, die Worte zu wiederholen, mit denen sich N. Gribadov an die Heimat wendet: „Und ich, bis zu der Stunde, da der Tod/Den letzten Stern in meinen Augen löscht,/Bin dein Soldat und harr' deiner Befehle./Führe mich, Sowjetrußland, ob zu Arbeit, zu großen Taten, in den Tod — ich geht" 2 7 Die hohe soziale Verantwortung ist jener Orientierungspunkt im Leben, der den Menschen davon abhält, vom Wege treuen Dienstes an seinem Volk auf den Abweg des Kompromisses mit seinem Gewissen zu geraten. 27
N. Gribacev, Izbrannye proizvedenija v trech tomach (Ausgewählte Werke in drei Bänden), Bd. 1, 1960, S. 19
Für die Lösung von Problemen der Persönlichkeitsforschung im Sozialismus, namentlich für eine konkrete empirische Sozialforschung in den nächsten Jahren, ist eine fruchtbare Zusammenarbeit von Spezialisten und Praktikern verschiedenerWissenschaftszweige (Philosophie, Soziologie, Psychologie, Biologie, Ökonomie, Ethik, Pädagogik) unumgänglich. Eine fundierte Grundlage, um weitergehende Forschungen auf soziologischem Gebiet anzuregen, bieten die vielfältigen theoretischen Problemstellungen und methodologischen Ansätze der Beiträge, die auf der einheitlichen Grundlage des historischen Materialismus beruhen. Die in diesem Sammelband vereinigten Arbeiten untersuchen Fragen [der Persönlichkeit im Sozialismus von unterschiedlichen Positionen her und nehmen zu bürgerlichen Theorien, Existentialismus, Neofreudismus sowie Theorien nordamerikanischer und westdeutscher Soziologen Stellung. In Vorbereitung: Die „Frankfurter Schule" im Lichte des Marxismus.