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German Pages 360 Year 2015
Schriften zur Literaturwissenschaft Band 38
Die Performativität der Satire bei Karl Kraus Zu seiner „geschriebenen Schauspielkunst“
Von
Eiji Kouno
Duncker & Humblot · Berlin
EIJI KOUNO
Die Performativität der Satire bei Karl Kraus
Schriften zur Literaturwissenschaft Im Auftrag der Görres-Gesellschaft herausgegeben von Bernd Engler, Volker Kapp, Helmuth Kiesel, Günter Niggl
Band 38
Die Performativität der Satire bei Karl Kraus Zu seiner „geschriebenen Schauspielkunst“
Von Eiji Kouno
Duncker & Humblot · Berlin
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Die Erstveröffentlichung dieses Buches erfolgte 2010 unter dem Titel „Geschriebene Schauspielkunst – Die Performativität der Satire bei Karl Kraus und ihr historischer sowie sprachkritischer Hintergrund“ als Waseda-University-Monograph Nr. 27 durch Waseda-University-Press (Tokio) Alle Rechte vorbehalten
© 2015 Duncker & Humblot GmbH, Berlin
Fremddatenübernahme: Textforma(r)t Daniela Weiland, Göttingen Druck: CPI buchbücher.de, Birkach Printed in Germany ISSN 0720-6720 ISBN 978-3-428-14435-8 (Print) ISBN 978-3-428-54435-6 (E-Book) ISBN 978-3-428-84435-7 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706
Internet: http://www.duncker-humblot.de
Meiner Familie
Vorwort Das vorliegende Buch beruht auf meiner Dissertation, »Geschriebene Schauspielkunst« – Die Performativität der Satire bei Karl Kraus und ihr historischer sowie sprachkritischer Hintergrund, die im November 2009 von der WasedaUniversität in Tokio angenommen wurde. Sie wurde 2010 in Tokio veröffentlicht und 2011 von der Japanischen Gesellschaft für Germanistik mit dem Preis für deutschsprachige Forschung ausgezeichnet. Für die vorliegende Ausgabe wurde die Dissertation überarbeitet. Mein ganz besonderer Dank gilt Prof. Dr. Eberhard Scheiffele, der als Doktorvater meine langjährigen Untersuchungen immer geduldig und mit großem Interesse unterstützt und mit unzähligen wertvollen Ratschlägen gefördert hat. Die Entfernung von Europa nicht als Nach-, sondern eher als Vorteil für die Beschäftigung mit dem umstrittenen Satiriker Karl Kraus anzusehen – darin bestand mein Projekt. Es fand auch unter folgenden Unterstützern ein sehr großzügiges Verständnis: Prof. Dr. Günter Zobel, Prof. Dr. Josef Fürnkäs und Jens Ostwald M. A. Für ihre Hilfe möchte ich mich von Herzen bedanken. Die ursprüngliche Motivation zu dieser Forschung verdanke ich zahlreichen germanistischen Vorgängern in Japan, unter denen ich Prof. Masaki Aizawa, Prof. Dr. Mutsumi Hayashi†, Prof. Yasuhiko Satō, Prof. Dr. Muneto Sonoda† und Prof. Yasumitsu Kinoshita besonders verbunden bin. Prof. Dr. Jürgen Fohrmann, Prof. Dr. Helmut J. Schneider und Prof. Dr. Volker Beeh bin ich für ihre freundliche Hilfe während meines Studiums in Deutschland sehr zu Dank verpflichtet, ebenso wie Prof. Dr. Sigurd Paul Scheichl, Prof. Dr. Christian Wagenknecht, Prof. Dr. Helmut Arntzen, Prof. Dr. Erika Fischer-Lichte und Prof. Dr. Sybille Krämer, die mich zur Karl-Kraus- sowie zur Performativität-Forschung stark ermutigt haben. Nicht zuletzt möchte ich mich bei Dr. Florian R. Simon vom Verlag Duncker & Humblot bedanken, der diese Publikation ermöglicht hat. Nara, im September 2014
Eiji Kouno
Inhaltsverzeichnis Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 I.
Die gegenwärtige Szene der Kraus-Rezeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13
II. Zielsetzung unserer Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 A. Zwischen Publizistik und Bühne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 I.
Wider die »affectirte Beziehung zur Kunst« bei den ›Jung-Wienern‹ . . . . . . . . . 19 1. Widersprüchliche Parteinahme für den Naturalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 2. Ein Blick hinter die Kulissen der Wiener Moderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21
II. Die Konfrontation der Fackel mit der Theatralität der Presse-Meldung . . . . . . . 25 1. Kritik am Eingriff der Presse in den künstlerischen Bereich . . . . . . . . . . . . . 25 2. Wider die Theatralisierung der Öffentlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 III. Die Sprache als Gewalt im Spannungsfeld von Rassismus und Doppelmoral . . 31 1. Das gewählte Ideal der jüdischen Assimilation in einer Umbruchszeit . . . . . 31 a) Angesichts des Dilemmas der assimilierten Juden . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 b) Das Potential der Sprache für die ›Akkulturation‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 2. Verteidigung von »Geist« und »Sinnlichkeit« gegenüber der Strafjustiz . . . 37 a) Satire und Strafgesetz. Berührungspunkte und Unterschiede . . . . . . . . . . 37 b) Das Hineinspielen der Sprache in die Geschlechterfrage . . . . . . . . . . . . . 42 IV. Der Gedanke über den Stil: Eine sowohl ethische als auch ästhetische Frage . . 45 1. Der Einfluss des Presse-Mediums auf die Situation der Satire . . . . . . . . . . . 45 2. Die Polemik gegen Maximilian Harden als Ausgangspunkt von Kraus’ gezielter Sprachkritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 B. Kritische Übernahme von Techniken Heinrich Heines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 I.
Vorstufen der Entstehung von ›Heine und die Folgen‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 1. Der Heine-Essay als herausforderndes Manifest . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 2. Die Ästhetik der Wiener Moderne und Heines Stil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 3. Der Streitpunkt. Das »Sprachproblem« bei zwei Satirikern . . . . . . . . . . . . . 62 a) Das Problem des Stils im Zusammenhang mit dem Schauspielerischen . 62 b) Der Künstlers als »Diener am Wort« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65
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Inhaltsverzeichnis II. Ausbruch aus der romantischen Ästhetik der Satire . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 1. Parallele Entwicklung der Heine-Kritik und des eigenen Stil-Diskurses . . . . 68 2. Die Strategie des Stils im Krausschen Aphorismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 a) Kraus und Heine als rhetorische Schriftsteller. Konvergenzen, Diver genzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 b) Das Zusammenwirken von Pathos und Witz beim Aphorismus . . . . . . . . 76 3. Die Verbundenheit der Krausschen Ästhetik der Satire mit der Materialität des sprachlichen Mediums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 a) Eine Neubestimmung des Primats der Form vor dem Stoff . . . . . . . . . . . 80 b) Eine typographische Strategie und die »Materialästhetik« der Satire . . . 84 III. Legitimation der Satire als Kunstim Gegenzug zur Herrschaft der Presse . . . . . 89 1. Zu Kraus’ »Spracherotik« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 a) »Lust und Qual« bei dem »Abenteuer« der Arbeit am Wort . . . . . . . . . . 89 b) Der Antagonismus von Chaos und Kosmos in der Satire . . . . . . . . . . . . . 92 2. Theatralische Usurpation der Stelle eines »großen Satirikers« . . . . . . . . . . . 96 a) Das Paradox der »Präformiertheit der Gedanken« beim mimischen Zitat 96 b) Eine literarische Usurpation auf der pragmatischen Ebene der Sprache . 100 3. Tragweite der Sprachauffassung im Heine-Essay . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 a) Das Bild des Laufs im Begriff »Ursprung« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 b) Das Kernproblem des Kommunikativen bei der Krausschen Sprachauf fassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108
C. »Geschriebene Schauspielkunst« – Satire, Performativ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 I.
Die Entdeckung des Sprachsatirikers Nestroy . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 1. Gegen die Inszenierung der Zeitgeschichte durch die Presse . . . . . . . . . . . . 114 2. Aktualisierung von Nestroys satirischer Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 a) Das Zusammenwirken von Pathos und Witz bei Nestroy als Vorbild der Krausschen Satire . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 b) Die Theatralität des satirischen Textes bei Kraus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 3. Zum performativen Zug der Krausschen Satire . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 a) Kraus’ »Reinszenierung« verborgener Gewalttätigkeit der Presse . . . . . . 129 b) Aspekte der Performativität im Blick auf die Kraussche Satire . . . . . . . . 135
II. Zur Herkunft der Satire aus der Theaterpraxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 1. Theatrale Textdarstellung als literarischer Entwurf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 a) Kraus’ Ansicht von der Verbundenheit von literarischen und schauspie lerischen Elementen bei Nestroy . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 b) Kraus’ Prosa: Monologe mit operettenhaften Zügen? . . . . . . . . . . . . . . . 146
Inhaltsverzeichnis
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2. Der »iterabilisierende« Aspekt der Performativität bei der Krausschen Satire 150 a) »Grubenhund«. Fiktionale Elemente der »geschriebenen Schauspielkunst« 150 b) Performative Iteration: Zur Strategie des Zitierens bei Kraus . . . . . . . . . 154 3. Sprachlicher Mimus. Zur Komik der Krausschen Satire . . . . . . . . . . . . . . . . 160 a) Das Mimische und der Mimus: Die Herkunft der Satire aus dem »Schauspiel« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 b) Das Moment des Komischen in der »geschriebenen Schauspielkunst«. Zum Appell-Charakter der performativen Wiederholung . . . . . . . . . . . . . 164 4. Satire und Mimesis in performativer Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 a) Suspendierung der Grenze zwischen Faktizität und Fiktionalität . . . . . . . 168 b) Probleme der Satire-Auffassungen im Zusammenhang mit der Mimesis 173 Exkurs: Performativität und das Problem der Fiktionalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 III. Zur performativen Umgestaltung der Satire im Spannungsfeld der Aisthesis . . . 180 1. Die Sprache als Ideal. Kraus’ Wiederbelebung des aisthetischen Moments der Satire . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 a) Gegen die Ästhetisierung der Satire. Das Problem der Aggressivität bei Kraus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 b) Zum literaturhistorischen Hintergrund des Krausschen Entwurfs der Satire als literarischer Form . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 Exkurs: Performativität im Problemkreis des Erhabenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 2. Sinn und Sinnlichkeit bei der »geschriebenen Schauspielkunst«. Die Schrift als Ereignis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 a) Die »graphische Anordnung« des operativ zur Schau gestellten Zitat materials . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 b) Materialität der Schrift und performative Pädagogik . . . . . . . . . . . . . . . . 206 3. Der »korporalisierende« Aspekt der Performativität bei Kraus . . . . . . . . . . . 211 a) Sagen und Zeigen. Kraus’ Eigenposition im Wechselspiel von Herme neutik und Performanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 b) Ethik der »Responsivität« und »korporalisierende Performativität« . . . . 216 D. Der Leseabend als Ritual. Zur Performance-Ebene der Krausschen Satire . . . . 223 I.
Die eigene Stimme. Entwurf einer alternativen ›Schauspielkunst‹ . . . . . . . . . . . 223 1. Die Spezifik des sprachlichen Ereignisses bei Lesungen . . . . . . . . . . . . . . . . 223 2. Attraktive Performance auf Grund der Vorkenntnis der Texte beim Publikum 226
II. Die ›sinnliche‹ Verkörperung des Sinnes im affektiven Bannkreis der Stimme . 229 1. Kraus’ Entwurf einer »Sprechkunst«. Seine Beziehung zur Performativität der Stimme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 2. Kraus’ Position in einer verwandelten Situation der Sprachmedien . . . . . . . 233
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Inhaltsverzeichnis III. Beifall und Verdächtigung angesichts der ›rätselhaften‹ Identität des Satirikers 236 1. Sozialer Widerhall auf Kraus’ Lesungen als eine rituelle Performance . . . . . 236 2. Das Potential der transformierenden Wirkung der Krausschen Lesungen . . . 242 IV. Die orale Performance der Satireund ihr Bezug zum Ethischen . . . . . . . . . . . . 245 1. Die »Persönlichkeit« in der aisthetischen Performance: Kraus’ Entwurf einer Erziehung des Publikums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 2. Die performative Annäherung ans Ideal der Satire durch das Zusammenwirken von Schrift und Stimme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249
E. Aspekte der Performativität in der Antikriegstragödie Die letzten Tage der Menschheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254 I.
Schriftstellerische sowie rezitatorische Strategie im ›Kriegstheater‹ des Ersten Weltkriegs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254 1. Das Leitprinzip »Wort und Tat«. Zur Sprachproblematik in der Kriegsfackel 254 a) Angriff auf die sprachliche Herrschaft der Presse im Mechanismus der Kriegspropaganda . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254 b) Der andere Krieg. Die sprachliche Ebene der Antikriegs-Satire . . . . . . . . 257 2. Die Lesungen – eine Aktion gegen die mediale Verarbeitung von Kriegsereignissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 a) Multisensorisierung der Satire durch Annäherung an das Mimetische . . 261 b) Der Grund der Satire in aisthetischer Sicht: die ›Aura‹ . . . . . . . . . . . . . . 265 3. Mehrdimensionale Entwicklung des Performativen in der Krausschen Satire 268 a) Vorladung zum sprachlichen Weltgericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 268 b) Das Metatheater eines mitschuldigen »Zeugen« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273
II. Vier Erscheinungsformen der performativen Metatheatralik in der Antikriegs tragödie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 1. Die Herrschaft der »universalisierenden« Macht der Phrasen . . . . . . . . . . . . 277 a) Die Darstellung der anonymen Masse der Zeitungsleser im Hinterland . 277 b) Opposition der Sprache gegen den Krieg, optisch, akustisch . . . . . . . . . . 280 2. Iterabilisierung der sprachlichen Gewalt durch die Kriegsberichterstattung . . 283 a) Über das Dokumentartheater hinaus: Ansätze zur Problematisierung der Simulation bei Kraus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 b) Gegen die Anästhesie beim »tragischen Karneval« . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 3. Anklage und Trauer auf dem ›Schlachtfeld der Sprache‹ . . . . . . . . . . . . . . . 291 a) Das Prinzip einer performativen Antikriegssatire in den Äußerungen des Nörglers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 b) Der »Nörgler« als halbfiktiver Agent der Heldin Sprache . . . . . . . . . . . . 295
Inhaltsverzeichnis
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4. Neukonzeption der »Tragödie« durch eine performative »Korporalisierung« des Welttheaters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 a) Kraus’ Versuch einer Eingliederung der Sprache ins Kraftfeld sinnlicher Ganzheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 b) Satirische Strafe der Menschheit durch eine multisensorisch wieder belebte Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 304 III. Der »Ursprung« als Ziel des »Epigonen«: Performative Annäherung an das Göttliche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 308 1. Gott im Welttheater einer performativen Satire . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 308 2. Über die Negativität der Satire hinaus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312 3. Kraus’ Dichtung als Hintergrund seines Welttheaters . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315 4. Das »Ja« des Satirikers im Spannungsfeld des Performativen . . . . . . . . . . . . 321 Schlussbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 330 Zur Zitierweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 330 1. Schriften von Karl Kraus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 330 2. Sekundärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331 a) Literarische Texte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331 b) Wissenschaftliche Texte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 334 3. Nachschlagewerke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353 Abbildungsnachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 356
Einleitung I. Die gegenwärtige Szene der Kraus-Rezeption Das Werk von Karl Kraus ist wie das anderer berühmter Autoren heute digital verfügbar. Nach dem Ablauf des Urheberrechts der Krausschen Werke 2007 wurde seine Zeitschrift Die Fackel, in der die meisten seiner Werke veröffentlicht wurden, sowohl als DVD publiziert als auch online zugänglich gemacht.1 Diese Editionen zeichnen sich dadurch aus, dass sie den Wortlaut der Fackel nicht nur in einer kompilierten, sondern der originalen Fassung wiedergeben, und zwar sogar mit Faksimiles all ihrer Seiten. Diese Hypertext-Versionen mit praktischen Suchfunktionen erweitern also nicht nur die Möglichkeit der Kraus-Lektüre, die bisher meistens nur auf der von Christian Wagenknecht herausgegebenen Suhrkamp-Ausgabe beruhte, sondern erfüllen eine Werktreue, die über die semantische Ebene hinausgeht: Es gilt als sinnvoll, die »druckgraphische Gestaltung der Hefte« zu überliefern, die u. a. in »Schriftgröße, Art der Hervorhebungen, Trennungssymbole[n] und [der] Zahl der Spalten« besteht.2 Auf der literarischen Ebene ist für die gegenwärtige Rezeption von Kraus charakteristisch, dass man die originale Art und Weise der Veröffentlichung seiner Schriften quasi optisch nachvollziehen kann. Auf der theatralen Ebene ist andrerseits bemerkenswert, dass eines seiner Dramen in den letzten Jahren öfters zu seiner eigentlich »einem Marstheater« (Bd. 10, 9) zugedachten, im Prinzip also für unmöglich gehaltenen Aufführung kommt: die Antikriegstragödie Die letzten Tage der Menschheit. Trotz ihres riesigen Ausmaßes geht sie bald mit Ensemble, bald im Ein-Mann-Theater, über die Bühne.3 Die Beliebtheit kulminierte in jener Vorstellung von Johann Kres 1
Die Internet-Datenbank (http://corpus1.aac.ac.at/fackel/) wurde von der Österreichi schen Akademie der Wissenschaften (ÖAW), die DVD-Ausgabe vom Verlag Zweitausendeins veranstaltet. Außerdem gibt es auch eine Werkausgabe in der Digitalen Bibliothek, die auf der Suhrkamp-Ausgabe der Krausschen Schriften beruht; s. dazu Köllerer, in: Literatur und Kritik, S. 32. 2 Man kann sogar die unterschiedlichen Rottöne des Titelblattes einzelner Ausgaben erkennen. Die DVD-Ausgabe bietet auch derartige Faksimiles, jedoch nur in Schwarzweiß; s. dazu Köllerer, in: Literatur und Kritik, S. 33 f. Solch ein Versuch der Wiedergabe der Originalseiten wurde schon in dem auch von der ÖAW unterstützten Buch gemacht; s. dazu Welzig (Hrsg.). Die Internet-Datenbank ist ein Nachfolgeentwurf dieses ›Wörterbuchs‹. 3 Als Beispiele sind etwa folgende zu nennen: Werner Schneyder (1995, Inszenierung in dessen eigener Kurzfassung am Theater in der Josefstadt in Wien); Peter Eschberg (1995, Inszenierung mit seinem Ensemble am Frankfurter Schauspiel); Erwin Steinhauer (1995, Lesung im Rabenhof in Wien); Justus Neumann (1995, Clown-Solo mit Musik in Wien); Hermann Wiedenroth (1996, Lesung aus ausgewählten Szenen in Augsburg); Oliver Schrader (2000, Lesung); Erich Schaffner (2001, Lesung); Jörg Hube (2002, Lesung). Darüber hinaus
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Einleitung
nik, einem u. a. am Bremer Tanztheater tätigem Chefchoreographen und Ballettmeister aus Österreich, die von 1999 bis 2005 erfolgreich wiederholt wurde. Bei dieser Inszenierung ist zunächst ihr Ort hervorzuheben, denn sie fand nicht in einem Theatergebäude, sondern in der größten Bunkerruine Deutschlands, dem ›Valentin‹ am Bremer Hafen, statt.4 Jeweils nur 300 Zuschauer, die per Schiff dorthin kamen, wanderten wie bei einem Prozessionstheater durch lautstarke Spektakel eines virtuellen Kriegs, die der weiträumige Bunker ermöglichte und die etwas über zwei Stunden dauerten. Die Zahl der Szenen wurde auf rund 40 reduziert, wobei der Schwerpunkt weniger auf die Texte als auf die Bilder gelegt wurde, wie es für Kresniks »Choreographisches Theater« von Anfang an charakteristisch gewesen ist.5 Auch thematisch war diese Aufführung von seiner Manier stark geprägt. So hat er die Erinnerung an den Ersten Weltkrieg, den Kraus zum Anlass seines Schaffens nahm, auch mit der an den Zweiten Weltkrieg sowie an den Kosovo-Krieg (1998–2000) in Verbindung gebracht und – dem Original entsprechend – das Motiv der Medienkritik genau in den Vordergrund gerückt.6 Diese politische Tendenz und die sie verkörpernde multisensorische Inszenierungsart von Kresnik stießen auf manche Kritik,7 kultivierten jedoch ein aktuelles Potential des Krausschen Dramas. Diesen technisch-medialen (Internet-Fassung) und physischen (Aufführungsweise) Rezeptionsweisen gemeinsam ist nun, dass sie sich nicht auf die semantische Ebene beschränken, auch wenn sich ihre Verbreitung zweifellos v. a. Krausschen Themen wie der Pressekritik und der Kriegsverurteilung verdankt. In beiden Fällen soll den Rezipienten die ›interaktive‹ Möglichkeit gegeben werden, an diesem Ereignis teilzunehmen. So hat jeder seine eigene Weise des Zugangs. Er kann sein eigenes Erlebnis haben, ohne das ihm Dargebotene als etwas Fertiges und Abgeschlossenes einfach nur passiv aufzunehmen. In diesem Sinne handelt es sich hier um eine ›Szene‹, in der Autor und Rezipient einander gleichsam begegnen. Eine These der vorliegenden Arbeit ist, dass diese Sachlage nicht aus einer zufäl nahm der Österreichische Rundfunk 1997 seinen seit 1974 suspendiert gewesenen Plan einer Gesamtaufnahme des Stücks wieder auf und realisierte ihn als ein 22 Stunden und zwölf Minuten dauerndes Hörspiel. Parallel damit wurde sogar eine ausgegrabene Aufnahme wieder veröffentlicht, die 1947 anhand einer von Stephan Hermlin für Radio Frankfurt bearbeiteten Fassung gemacht wurde. Als pazifistisches Stück erwarb das Drama wieder Ruhm, als seine zehnstündige »Marathon Lesung« 2000 anlässlich des Weltfriedenstag in Berlin stattfand. Auch die argentinische Theatergruppe »El Periférico de Objetos« spielte 2002 bei ihrem Gastspiel in Wien, mit Auszügen aus dem Stück, auf die amerikanische Politik nach dem terroristischen Angriff vom 11. 9. an. 4 s. dazu v. a. Theater Bremen (Hrsg.). 5 Die »Optimist« / »Nörgler«-Szenen fielen dabei charakteristischerweise aus. 6 Kresnik sagte dazu: »Viele Szenen sind nicht mehr wichtig. Ich brauch’ heute nicht den Ersten Weltkrieg erklären, das ist Quatsch. Man muß die Situationen über den Journalismus rausfiltrieren, den Krieg, die Deportationen, Vernichtung.« – s. dazu Musik, in: Rheinischer Merkur. 7 Hans Haider kommentierte z. B.: »Für Karl Kraus hätte eine Sprach-, eine Kammerspielbühne genügt.« – s. dazu Haider, in: Die Presse, S. 15.
II. Zielsetzung unserer Untersuchung
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ligen Idee des einen oder anderen Herausgebers bzw. Regisseurs resultiert, sondern gerade aus dem Wesen der Arbeit von Karl Kraus als Satiriker. In dieser Perspektive scheint auch der Unterschied zwischen seiner schriftstellerischen und schauspielerischen Tätigkeit überbrückbar zu sein. Er arbeitete bekanntlich nicht nur als Fackel-Herausgeber und Dramatiker, sondern auch als schauspielerisch agierender Vorleser seiner eigenen und anderer Werke. Bislang ist aber die Beziehung zwischen beiden Richtungen nur ansatzweise erforscht worden. Diese Forschung ist umso nachholungsbedürftiger, als er selber zwei Aspekte seiner Arbeit in Verbindung bringt: Wenn ich vortrage, so ist es nicht gespielte Literatur. Aber was ich schreibe, ist geschriebene Schauspielkunst. (Bd. 8, 284 bzw. F 336 / 37, 41)
Hier ist weder eine hierarchische Beziehung zwischen Schriftlich-Visuellem und Mündlich-Akustischem noch ihr einfach gleichwertiger Funktionswechsel formuliert. Vielmehr ist auf eine Verschränkung zweier Vorgehensweisen als Basis der Krausschen Arbeit verwiesen, von der ausgehend wir seine bis heute fortdauernde Präsenz verstehen können. In welcher Beziehung steht sie aber zu seiner eigenen satirischen Diktion?
II. Zielsetzung unserer Untersuchung Karl Kraus gilt als ein repräsentativer Satiriker im deutschen Sprachgebiet, und er selbst war sich dessen bewusst, dass er in einer bestimmten Tradition der Satire stand. Die Herkunft der Satire ist aber nicht eindeutig geklärt. Etymologisch wird der Name auf die lateinischen Nomina satura (Füllung, Gemisch) bzw. satura lanx (bunte Schüssel, Allerlei) zurückgeführt. Dieser Ansicht nach geht sie zum einen auf die römische Spottdichtung zurück, die seit ihrem Begründer Gaius Lucilius (180?–102 v. Chr.) fast immer in Versen abgefasst wurde. In der späteren Poetik wurden vor allem die Satiren von Horaz (65–8 v. Chr.) und Juvenal (60?–128?) als Vorbild der heiter-ironischen und der ernst-aggressiven Lehrdichtung betrachtet, was dazu beitrug, dass man die Satire vom Pasquill eines Archilochos (680?–645? v. Chr.) unterschied. Zum anderen wurde die Satire jedoch mit dem griechischen Satyrspiel identifiziert, wobei auch ihr Bezug zur Komödie Aristophanischer (450?–388? v. Chr.) Provenienz von Belang ist. Darüber hinaus gibt es noch eine andere Traditionslinie, die vom griechischen Philosophen Menippos von Gadara (erste Hälfte des 3. Jh. v. Chr.) herrührt. Diese war durch eine Mischung von Vers und Prosa, das so genannte Prosametrum, charakterisiert und wurde von Petronius (20?–66) und Lukian (125?–180?) vertreten. Seit ihrer Wiederbelebung in der Renaissance schrieben zahlreiche Autoren wie z. B. Rabelais (1494?–1553?), Swift (1667–1745), Voltaire (1694–1778) und, nach Kurt Krolop,8 auch Kraus Werke, die als menippeische Satiren klassifiziert werden können. 8
Krolop, in: Kaszyński / Scheichl, S. 60.
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Einleitung
In der Theorie über die Satire wird von der Frühzeit bis zur Gegenwart immer wieder die Frage nach ihrem Thema und seiner Darstellungsweise aufgeworfen. Sittliche Mangelhaftigkeit der Personen sowie Missstände der Gesellschaft anvisierend, gibt der Satiriker seiner Kritik oder gar seiner Empörung ästhetisch Ausdruck, so dass dieser Angriff einem als gut angesehenen, an Normen gebundenen Zweck dienen kann. So versucht heute Jürgen Brummack, die Satire als »ästhetisch sozialisierte Aggression«9 zu definieren. Da hierbei aber stets das Vorhandensein einer außersprachlichen realen bzw. wirklichen Welt, in der etwa ein Laster der Lächerlichkeit preisgegeben oder ein Übel bestraft werden soll, als Ausgangspunkt vorausgesetzt ist, steht die Beziehung der Satire als Kunst zu dieser Welt im Brennpunkt. So verlangt Klaus Lazarowicz von der Satire einen »wenigstens fingierten Bezug zur empirischen Realität« oder einen »Sprung aus dem Nexus der historisch-empirischen Realität in die Zone der Fiktionalität«.10 Daraus resultiere eine »totale Verkehrtheit der Welt«,11 die der Satiriker zur Anschauung bringe. Diese Ansicht teilt Helmut Arntzen, indem er gleichzeitig betont, dass »[…] aus der satirischen Darstellung ex negativo sich das Neue, Andere abheben [könne]«.12 Doch auch diese Versuche einer ästhetischen Legitimation der Satire, die seit Schillers Betrachtung über die Satire im Sinne der »sentimenta lischen« (reflektierenden) Dichtung fortgesetzt worden sind, ändern nichts an der Forderung, dass die Satire in die reale Welt mehr oder weniger aktiv eingreifen soll. Freilich ist die satirische Darstellungsart auch in Zeichnung, Foto, Film u. a. zu finden. Was aber die literarische Satire anbetrifft, handelt es sich immer um die Frage, welche Funktion ihre Sprache in einer bestimmten Situation hat. Unter diesem Aspekt liegt es nahe, die Satire eben in einem engen Zusammenhang mit der Performativität der Sprache zu sehen. Dieser Begriff stellt die Nomenform des Adjektivs »performativ« dar, das der englische Sprachphilosoph John L. Austin zur Bezeichnung eines Typs der sprachlichen Äußerung verwendet hat. Seiner Ansicht nach spricht man etwas »performativ« aus, wenn man damit zugleich das in die Tat umsetzt, was in derselben Äußerung gemeint ist. Solch einer selbstbezüglichen Äußerung schreibt Austin die Macht zu, in die Situation einzugreifen und sie gegebenenfalls zu ändern. Sie gilt weder als wahr noch als falsch, sondern nur als gelungen (happy) oder als nicht gelungen (unhappy), und unterscheidet sich in diesem Punkt von der »konstativen« Äußerung, die sich auf die Feststellung eines tatsächlichen Sachverhalts beschränkt.13 Im Sinn der Sprechakttheorie könnte man auch in der satirischen Äußerung einen Sprechakt sehen. Da jedoch bei der Entstehung eines Sprechaktes auch andere, außersprachliche Bedingungen eingehalten werden sollten und unter diesem Aspekt die Opposition »performativ / konstativ« sich letzten Endes als unhaltbar erwiesen habe, 9
Brummack, in: DVLG, S. 282. Lazarowicz, S. 59, 183. 11 Lazarowicz, S. 315. 12 Arntzen, in: Barck u. a., S. 348. 13 Austin, S. 35 ff. 10
II. Zielsetzung unserer Untersuchung
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führte Austin andere Begriffe ein, um seine Aufmerksamkeit nur auf das Sprachliche zu konzentrieren.14 Dagegen fand der Begriff »performativ« in Judith Butlers Theorie über Gender eine neue, einflussreiche Verwendung. Er bezeichnet den Prozess, dass die geschlechtliche Identität durch den erzwungenen Geschlechterdiskurs sowie die damit zusammenhängende körperliche Disziplin erst sozial konstruiert wird.15 Dadurch hat Butler die Möglichkeit eröffnet, durch den seither zum Nomen ausgeformten Begriff »Performativität« verschiedene Themen wie Macht, Gewalt, Kraft, Bewegung, Körperlichkeit sowie Materialität u. a. zu erörtern, die zwar im engen Zusammenhang mit der Sprache stehen, aber auf ihre semantische Ebene nicht reduzierbar sind. Ein Charakteristikum der Performativität sehen Sybille Krämer und Marco Stahlhut in dem »Antiessentialismus«: »Es gibt soziale, sexuelle, ethnische, geschlechtliche Differenzen tatsächlich – nur eben nicht als ontologische Essenzen, biologische Wesensmerkmale, phänomenologisch Gegebenes, vielmehr als in Praktiken erworbene Schemata.«16 Durch eine derartige Sichtweise, die z. B. in Gender-Studies, Soziologie, Ethnologie, Anthropologie, Psychologie, Geschichtswissenschaft zu finden ist, ist nach Uwe Wirth in dem Begriff von der performativen Sprachäußerung eine »kulturwissenschaftliche Wende« herbeigeführt worden, deren Merkmal eine Öffnung der Grenze zwischen dem sprachtheoretisch geprägten Begriff der »Performanz« und dem neueren, eine theatrale Gattung benennenden Begriff der »Performance« ist.17 Unter dem kulturwissenschaftlichen Geschichtspunkt handelt es sich um einen performative turn, im Unterschied zu dem in den 1970er Jahren in den Geisteswissenschaften vollzogenen linguistic turn bzw. semiotic turn.18 Während beim letzteren ›kulturelle Texte‹ auf ihre Struktur hin analysiert, entziffert, gedeutet und dadurch die Geisteswissenschaften als Kulturwissenschaften neu definiert wurden, bahnte sich in den 1990er Jahren ein Wechsel der Forschungsperspektiven an: Das Interesse verlagerte sich nun stärker auf die Tätigkeiten des Herstellens, Produzierens, Machens und auf die Handlungen, Austauschprozesse, Veränderungen und Dynamiken, durch die sich bestehende Strukturen auflösen und neue herausbilden. Zugleich rückten Materialität, Medialität und interaktive Prozeßhaftigkeit kultureller Prozesse in das Blickfeld. Damit verlor die Metapher »Kultur als Text« beträchtlich an Erklärungswert und die 14
Austin, S. 112 ff. Neu eingeführt wurde dabei die begriffliche Triade von »lokutionär / illokutionär / perlokutionär«. 15 Butler (1991), S. 198 ff. 16 Krämer / Stahlhut, S. 46. 17 Wirth, in: Wirth, S. 9 ff., 39 f. Die »Performanz« im Sinne der individuellen Sprachverwendung wird in der Sprachtheorie seit Noam Chomsky als Gegenbegriff zur »Kompetenz« benutzt, die allgemeine Sprachfähigkeit bedeutet. Die »Performance«, die im AmerikanischEnglischen etwa ›Machen‹, ›Aufführung‹, ›Ausstellung‹, ›Darstellung‹, ›Vorführung‹ umfasst, bezeichnet als Term die in den 1960er Jahren aus der bildenden Kunst hervorgegangene radikale Kunstart. Im Folgenden werden beide Begriffe im Allgemeinen synonym verwendet; s. dazu C. I. 3. 18 Fischer-Lichte, in: Fischer-Lichte, S. 9.
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Einleitung Metapher »Kultur als Performance« begann ihren Aufstieg. Mit ihr trat eine Begrifflichkeit in den Vordergrund, die dem Theater entliehen ist – Inszenierung, Spiel, Maskerade, Spektakel, Verkörperung.19
Hier überschneiden sich Philologie und Theaterwissenschaft, und das gab Anlass zu unterschiedlichen interdisziplinären Forschungsprojekten.20 Wichtig ist, dass solch ein Denkstrom auf die Betrachtung über den performativen Aspekt der Sprache eine belebende Rückwirkung ausübt: Nun wird etwa der schriftliche Satz oder die mündliche Rede selbst als Ereignis angesehen und ihre Materialität sowie deren Beziehung zur sinnlichen Wahrnehmung eingehend erforscht.21 Es soll hier untersucht werden, in welcher Weise wir sowohl die schriftstellerische als auch die schauspielerische Tätigkeit von Karl Kraus in ihrer Einheit erfassen können, indem wir von der Performativität der Satire bei ihm sprechen. In seiner satirischen Praxis und seiner Theorie der Satire finden sich häufig Züge, die mit den Errungenschaften aus dem Anstoß des Begriffs »performativ« parallelisiert werden könnten. Die Art seiner Pressekritik und seine daraus entstandenen Sprachgedanken sind typische Beispiele dafür. Um diese Züge zu präzisieren, versuchen wir also, »Performativität« im weiteren Sinn des Begriffs direkt auf seine Satire anzuwenden, wobei wir freilich auch frühere Versuche, diesen Begriff in die Literaturwissenschaft einzuführen, berücksichtigen.22 In Kapitel A und B gehen wir zunächst mehreren Spuren nach, die zu Kraus’ Bezeichnung seiner Schriften als »geschriebene[r] Schauspielkunst« hinführen, damit wir alsdann, ab Kapitel C, ihre Performativität eingehend erörtern können.
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Fischer-Lichte, in: Fischer-Lichte, S. 9. Als Beispiele sind zu nennen: die »Performance Studies«, die der Theaterwissenschaftler Richard Schechner unter Mitwirkung des Ethnologen Victor Turner vorantrieb, und das Projekt »Die Kulturen des Performativen«, das die Theaterwissenschaftlerin Erika FischerLichte an der Freien Universität Berlin durchführte. 21 s. dazu Mersch, in: Kertscher / Mersch, S. 69 ff. 22 s. dazu Wirth, in: Wirth, S. 25 ff. 20
A. Zwischen Publizistik und Bühne I. Wider die »affectirte Beziehung zur Kunst« bei den ›Jung-Wienern‹ 1. Widersprüchliche Parteinahme für den Naturalismus Es ist die Auseinandersetzung mit der Wiener Moderne, die die Vorgeschichte der Fackel bestimmt und durch die sich Kraus’ spezielle Kunstauffassung entwickelt hat. Dabei fällt vor allem auf, dass er seinen Lebenslauf als Spielleiter und Dramatiker, als Schauspieler sowie Rezitator, eröffnet hat: 1891 inszenierte er als Gymnasiast sein eigenes Stück In der Burgtheaterkanzlei. Ein humoristisches Imitationsintermezzo als eine Programmnummer in einer Wohltätigkeitsakademie in Baden bei Wien und spielte selbst mit.1 Erfolgreich hielt er dann 1892 eine Lesung mit Gedichten von Detlev von Liliencron, Arno Holz u. a. und fing im gleichen Jahr an, für verschiedene Zeitungen und Zeitschriften im deutschsprachigen Raum Beiträge, vorwiegend Dramenkritiken sowie Theaterberichte, zu schreiben. Diese schriftstellerische Tätigkeit währte von 1893, als sein Gastspiel in der Hauptrolle bei einer Räuber-Aufführung missglückte, bis 1899. 1893 rezitierte er noch Hauptmanns Drama Die Weber (1892),2 trat aber danach erst wieder 1910 vor dem Publikum auf. Was seine Ansicht über das Drama angeht, hat er in seinen ersten Rezensionen nacheinander zwei damals berühmte, jedoch sehr verschiedene Werke positiv beurteilt: Gerhart Hauptmanns Die Weber und Hugo von Hofmannsthals Gestern (1891). Er trat in Anlehnung an Michael Georg Conrad, den Herausgeber der Zeitschrift Die Gesellschaft (1885–1901) in München, eine Zeitlang für den deutschen Naturalismus ein, zeigte jedoch durch seine positive Einschätzung auch ästhetizistischer Werke großes Verständnis für die moderne Dichtung der Zeit. Sein eigenartiges Kriterium formuliert er in der Rezension über Gestern: Jede Schule, jede Kunstrichtung hat, wie er [Hermann Bahr, Anm. d. Verf.] sagt, Loris gleich als den ihren bezeichnet. Man sollte sich aber nicht den Genuß einer echten Dichtung durch Klassifizierung derselben trüben. Naturalistisch ist sie sicher, schon die Studie ist das Naturalistische, und jedes gute Werk muß naturalistisch, muß natürlich sein. (FS 1, 15)3 1
Schick, S. 23. Diese Lesung von Die Weber wiederholte Kraus »unter großem Beifall« in Ischl, München und Wien; s. dazu Schick, S. 30. 3 Außerdem heißt es kurz vor dieser Stelle, die Sprache dieses Dramas sei »so natürlichungezwungen« (FS 1, 15). Auch beim Hauptmannschen Drama schätzt Kraus, dass es »urkräftig und dabei schlicht und natürlich in der Sprache« sei (FS 1, 11). 2
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A. Zwischen Publizistik und Bühne
Im Gegensatz zu diesem positiven Urteil mit zwei gleichgesetzten Adjektiven steht etwa der Vorwurf, den Kraus gegen eine damalige Tendenz des Burgtheaters erhob: »Die meisten unserer Schauspieler sind nach wie vor Pose in Geberde und Wort« (FS 1, 21). Auch über die Gedichte Felix Dörmanns als eines ausgesprochenen Vertreters der »Decadence« schrieb Kraus: »Wie krankhaft ist da alles, wenn man von der Pose abstrahirt!« (FS 1, 89 f.). Bekannter ist aber, dass Kraus 1893 in seinem Essay ›Zur Ueberwindung des Hermann Bahr‹ Bahrs Manifest Die Überwindung des Naturalismus von 1891 angegriffen4 und die unter dessen Einfluss stehende »›Kaffeehausdekadenzlitteratur‹« (FS 1, 109)5 provokativ verspottet hat. Dabei verweist er auch auf Bahrs manipulierenden Eingriff in die Wiener Theaterverwaltung und versucht zu verdeutlichen, »[…] wie korrumpierend Hermann Bahrs ganz absurde Sensationsriecherei und Originalitätshascherei auf junge Talente einwirk[e]« (FS 1, 105).6 In methodischer Hinsicht ist in diesem Essay neben der parodistischen Schreibweise, die sich schon im Titel zeigt, auch die Drucktechnik zu beachten. Sowohl Ausrufezeichen nach einer Interjektion des Lachens wie etwa unmittelbar nach einem Bahr-Zitat [»Hahaha! Wer lacht da?!« (FS 1, 106)] oder Sperrdruck [»H e r r m a n n B a h r h a t d e n S y m b o l i s m u s ü b e r w u n d e n « (FS 1, 108)] machen in optischer Weise klar, worum es kritisch geht. Zur Zeit seiner Beiträge über zeitgenössische Kultur teilte Kraus in mehreren deutschen Zeitschriften seinen Entwurf einer »Satyrenanthologie« mit. Durch diese Anthologie sollte ein »Scherflein zur Verbreitung moderner Litteraturbestrebungen« beigetragen werden (FS 1, 65).7 Dabei ging er davon aus, es gebe in Deutschland nach dem Tod Goethes doch noch »die echten Dichter«, insbesondere »eine ganze Reihe wirklicher Satyriker«, die nur »leider« nicht bekannt würden, weil sie »den Fehler« hätten, »jung zu sein und zu den berüchtigten ›Jüngsten‹ zu gehören, die der Philister nicht kennen [wolle], weil sie oft ihre Begabung dazu benütz[t]en, ihn zu geißeln« (FS 1, 65). Als Beispiele solcher Satiriker nannte er dann Frank Wedekind u. a. und rief seine Leser diesmal parteiisch an:
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Schon in der Rezension über Gestern steht: »[…] bei uns, in Österreich an eine Überwindung des Naturalismus denken, wäre schneidende Ironie, ein lustiges Paradoxon. Den Naturalismus, den wir noch nicht haben, schon nicht mehr haben: es hieße: weggeben, was man nicht besitzt und wir, wir haben litterarische Schulden! Nein, vorher die starren Fesseln der Konvention und Schablone abstreifen und die Tyrannei überwinden, die sich die Kritik und autoritatives wie metaphysisches Ästhetikertum über die Köpfe angemaßt hat, dann den Naturalismus gewinnen, ihn lange, recht lange besitzen, ihn durchleben, bis man zu Höherem reif ist – […]« (FS 1, 16). 5 Diese Bezeichnung stammt, nach Kraus, von Michael Georg Conrad. 6 s. dazu Lorenz, S. 100: »Was die taktisch-organisatorische Seite des Theaterwesens im Zeichen Jung-Wiens betraf, so betrieb Bahr routiniert die Politik der Einflußnahme qua Zeitungswesen und veröffentlichter Meinung. Auch scheute er keine Intrige, wenn es sich um die personelle Besetzung einflußreicher Posten im Kulturleben handelte. So beispielsweise favorisierte Bahr in der Öffentlichkeit den umstrittenen Burgtheaterdirektor Max Burckhard, von dem er sich eine Förderung der Jung-Wiener erhoffte.« 7 Diese Satire-Anthologie blieb schließlich aus.
I. Wider die »affectirte Beziehung zur Kunst« bei den ›Jung-Wienern‹
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Unsere Anthologie soll ein Gesammtbild dessen geben, was heute auf dem Gebiete der Satire, der sozialen Satire geleistet wird. Wer nicht Einwohner der Weltstadt Philisteria ist, möge sich beteiligen! (FS 1, 71)
Diese Teilnahme eines Satirikers an der Moderne-Bewegung erinnert uns an Jonathan Swifts satirische Schrift The Battle of the Books (1904), mit der dieser die französische Debatte zwischen dem Antike- und dem »Moderne«-Lager (La Querelle des Anciens et des Modernes) am Ende des 17. Jahrhunderts, mit der die Moderne-Bewegung als solche einsetzte, verhöhnt hat.8 Denn sowohl Swift als auch Kraus waren nicht eindeutig konservativ, sondern vielmehr gegenüber den Leuten kritisch, die ihnen als philiströs vorkamen.9 Zwar stand im Fall der Wiener Moderne nicht die Vorbildlichkeit der antiken Literatur im Brennpunkt des Interesses, aber die Kunst / Natur-Opposition blieb ein zentrales Problem. Damit hat sich Kraus auf seine Weise beschäftigt, indem er, wie in seiner Rezension von Hofmannsthals Gestern, Ästhetizismus und Naturalismus als gleichrangig wertet, sodass er z. B. »naturalistisch« mit der positiven Bezeichnung »natürlich« gleichsetzt und damit, zumindest im Urteil seiner Wiener Zeitgenossen, aufwertet. Wie Gilbert J. Carr erörtert, deutet dieser Standpunkt einen Widerspruch Kraus’ als Satiriker an, weil ›naturalistische Satire‹ ein Paradox enthält: »The satirist cannot simply reproduce nature, […] without intimating that what he depicts is a ›verkehrte Welt‹.«10 Während der Naturalist versuche, die Rolle des Künstlers auf eine »honestly, scientifically recording reality« zu beschränken, habe Kraus das Bewusstsein einer »Entfernung von der Natur« beim sentimentalischen Dichter (Schiller) auch als sein eigenes satirisches Thema angesehen.11 Während Kraus’ Begeisterung für den Naturalismus seit 1894 nachließ, entwickelte sich, so Carr, unter dem Einfluss von Peter Altenberg und Oscar Wilde seine eigene intensive Form des Ästhetizismus.12 2. Ein Blick hinter die Kulissen der Wiener Moderne Betrachten wir nun, worin genau der Konflikt zwischen der Kunstauffassung von Kraus und der der Jung-Wiener eigentlich bestand. In Die Überwindung des Naturalismus schreibt z. B. Hermann Bahr über die durch den Impressionismus bewirkte ästhetische Wende:
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s. dazu Swift, S. 519 ff. In Swifts Satire, in der verschiedene Bücher personifiziert werden und einen – Homers Ilias travestierenden – Krieg gegeneinander führen, vertritt der Erzähler zwar die Sache des Antikelagers, entpuppt sich jedoch durch seine allzu überspitzte Attacke gegen die »Modernen« als recht beschränkt. 10 Carr, in: Carr / Sagara, S. 105. 11 Carr, in: Carr / Sagara, S. 105, 119. 12 Carr, in: Carr / Sagara, S. 104. 9
22
A. Zwischen Publizistik und Bühne Die Natur des Künstlers sollte nicht länger ein Werkzeug der Wirklichkeit sein, um ihr Ebenbild zu vollbringen; sondern umgekehrt, die Wirklichkeit wurde jetzt wieder der Stoff des Künstlers, um seine Natur zu verkünden, in deutlichen und wirksamen Symbolen.13
Indem Bahr hier die »Natur« als inneres Leben anspricht und sie der »Wirklichkeit« als Außenwelt entgegensetzt, rechtfertigt er »das Projekt der Erschaffung einer künstlerischen Gegenwelt«, die Charles Baudelaire Les paradis artificiels nannte.14 Diesen Standpunkt des Ästhetizismus versteht Peter Bürger als »Radikalisierung der Autonomiedoktrin« bzw. als »Tilgung der politischen Gehalte (im Sinne aufklärerischer Verständigung über die moralisch-politischen Normen gesellschaftlichen Handelns) zugunsten einer Konzentration auf die Form«, wobei man aber sehen müsse, […] daß die Transformation politischer Gehalte in wirkungsorientierte Reizmomente zugleich den Weg freimacht sowohl für eine Politisierung des Ästhetizismus, wie D’Annunzio sie vornimmt, als auch für dessen marktkonforme Verwendung.15
Dass die Bahrsche »Mystik der Nerven«, wie er seine postnaturalistische Position genannt hat,16 den letzteren Weg einschlug, bezeugt seine Tätigkeit als »Promotor«17 der Wiener Moderne. Das Potential der kulturellen bzw. ästhetischen Moderne, das durch »radical antibourgeois attitudes«18 charakterisiert war, konnte sich in Wien wegen mehrerer Gründe nicht entfalten. In der überwiegend katholischen Donau-Monarchie, die bis Kriegsende ihre Völker und deren publizistische Vertretungen durch ein veraltetes Rechtssystem und durch Zensur fesselte, war das künstlerische Subjekt, das einen »kompensatorischen Rückzug aus der äußeren Wirklichkeit des Lebens in die Wirklichkeit der Kunst«19 vollzogen hat, weniger an der Außen- als an der Innenwelt interessiert. Diese Tendenz wurde durch zwei damals sehr einflussreiche wissenschaftliche Theorien verstärkt: Durch Ernst Machs empiristische Empfindungslehre, die »in ihren Konsequenzen über die prinzipielle Gleichwertigkeit aller Erinnerungs- und Wahrnehmungsqualitäten zu einem generellen Wert-Relativismus« führte, und durch Sigmund Freuds Psychoanalyse, welche den »Realitätsstatus des Traums neu formuliert[e]«.20 Der antimetaphysische Grundcharakter ihrer Gedanken entsprach auch der Kunstphilosophie Nietzsches, die Kunst und Literatur »ganz eindeutig als Substitut, als Korrektur, als Surrogat an die Stelle der unertragbar gewordenen Realität« treten ließ.21 Daraus resultierte eine Situation des Fin de siècle, für die Hofmannsthals berühmtes Wort galt: »Heute scheinen zwei Dinge modern zu 13
Bahr, in: Wunberg, S. 86. Lorenz, S. 53. 15 Bürger, in: Bürger u. a., S. 15 f. 16 Bahr, in: Wunberg, S. 87. 17 Wunberg, in: Dietrich, S. 195. 18 Calinescu, S. 42. 19 Lorenz, S. 53. 20 Wunberg, in: Dietrich, S. 192 f. 21 Wunberg, in: Dietrich, S. 222. 14
I. Wider die »affectirte Beziehung zur Kunst« bei den ›Jung-Wienern‹
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sein: die Analyse des Lebens und die Flucht aus dem Leben.«22 Freilich versuchten Hofmannsthal und manche andere immer wieder aus diesem Dilemma herauszukommen, waren dabei jedoch manchen oft als reaktionär-antimodern betrachteten Werten verfallen: Katholizismus, Nationalismus, barocker Anschauung der Welt als Theater u. a. Die Vorgeschichte zu diesen Verhältnissen erklärt Roger Bauer sozialgeschichtlich: Da den Wiener Intellektuellen, bürgerlich und oft genug jüdischen Ursprungs, eine reelle Assimilation an die aristokratische Oberschicht verwehrt war, verblieb ihnen nur der Ausweg einer Als-Ob-Assimilation, im Geistigen und Künstlerischen. Indessen erwies sich bei dieser Gelegenheit, daß jene Oberschicht selbst in einer obsoleten Vergangenheit lebte. Die Bewunderung mußte in stilisierte Träumerei umschlagen.23
Ein Ergebnis dieses Verlaufs war eine narzisstische Lebensfremdheit, die Bahr mit der für Wien charakteristischen Theaterkultur in Verbindung setzte: »Der Wiener braucht immer ein Beispiel. Dazu geht er ins Theater. Es ist kein Abbild des Lebens. Das Leben ist sein Nachbild.«24 Hier wird das »Leben« von der Wirklichkeit zu einer bloßen Metapher allzu leichtsinnig, also ohne jeden Konflikt, degradiert. Es ist dieser »Verfall des Ästhetizismus«,25 den Kraus zunächst durch Zusammenwirken mit dem sozial engagierten deutschen Naturalismus bekämpft hat, nachdem er mit Jung-Wienern eine Zeitlang freundschaftlich verkehrt hatte. Deshalb bedeutete der Abriss des Cafés Griensteidl 1897, des beliebtesten Stammcafés der Jung-Wiener, für Kraus eine gute Gelegenheit, dieses Ereignis als Zeichen einer Selbstauflösung dieser Schule zu betrachten und die ganze Gruppe mit einem Schlag zu treffen. So hat er einen Essay als ›Die demolirte Literatur‹ betitelt und den Lauf der Moderne-Bewegung in Wien seit ihrem Anfang bei der Ibsen-Aufführung kurz und bündig so zusammengefasst: Die moderne Bewegung, die vor einem Jahrzehnt vom Norden ausging, hat hier nur rein technische Veränderungen hervorgerufen. Von der inneren Wirkung neuen Styls, der das Stoffgebiet erweitern half und sociale Probleme ins Rollen brachte, ist unsere junge Kunst verschont geblieben, die geradezu in der Abkehr von den geistigen Kämpfen der Zeit ihr Heil sucht. Wenn Gedankenarmuth in Stimmungen schwelgen will, muss das Wienerthum für die Farbe herhalten, und der Localpatriotismus erwacht zu neuem, sensitiverem Dasein. (FS 2, 284 f.)
Diesem introvertierten, politisch uninteressierten Künstlertum schreibt Kraus nun »eine affectirte Beziehung zur Kunst« (FS 2, 285) zu. Wie Brygida Brandys bemerkt, enthält dieses Pamphlet wohl »zu viel Persönliches«,26 obwohl darin keine der betreffenden Personen mit Namen genannt sind. In diesem Sinne können wir nach Stefan Straub die Möglichkeit nicht ausschließen, dass es sich hier 22
Hofmannsthal, in: Hirsch, S. 293. Bauer, in: Bauer u. a., S. 215. 24 Zitiert nach: Zeller, S. 20. 25 Kosler, in: Text + Kritik, S. 54. 26 Brandys, in: Kaszyński / Scheichl, S. 127. 23
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A. Zwischen Publizistik und Bühne
weniger um eine Satire als um eine reine Polemik handle, eine »Literaturgattung«, welche »durchaus auch außerliterarische Ziele verfolg[e]«.27 Wenn aber allgemein für Literarizität Selbstreferenz konstitutiv ist, so können wir festhalten, dass dieser Essay schon im Titel ein selbstbezügliches Moment aufweist. Kraus behauptet nämlich, dass es zum Wesen der Literatur gehört, »demolirt« werden zu können. Dies betrifft nichts als ihr sozusagen materielles Medium, als dessen Beispiel wir im weiteren Sinne das Café selbst ansehen können. In der Tat macht Kraus in diesem Essay auffälliger Weise auf die wortlose Kommunikation zwischen den im Café gleichsam gastierenden Literaten und der Bedienung aufmerksam, wie z. B. dem alten Kellner Franz, der »[…] einem Passanten, der nach zwanzig Jahren wieder einmal auftauchte, dieselbe Zeitung unaufgefordert in die Hand gab, die jener als Jüngling begehrt hatte« (FS 2, 278). In einem anderen Fall, in dem Kraus die passiv-affirmative Haltung der Jung-Wiener mit der aktiv-kritischen Haltung ordinärer Jugendlicher kontrastiert, ist ebenfalls von medienfähigen Lokalitäten die Rede: Während im ganzen Lande wilder Aufruhr tobte, während vor dem Universitäts- und Landesgerichts-Gebäude die Jugend der Stadt mit Polizei und Militär um einen Schimmer der Freiheit kämpfte, hielt sich nicht weit davon unser geistiges Wien in einem Concertsaal verschanzt, setzte der Führer unserer litterarischen Jugend seine Kunstanschauungen auseinander, las Wurstelpraterskizzen und kopirte die Ausrufe der Praterschreier. (FS 2, 132)
Für uns ist von Belang, dass Kraus hier gewissermaßen hinter die Kulissen der Szene schaut, die zu schildern er sich zur Aufgabe macht. Eine Stelle, die den gerade zitierten Sätzen vorangeht, macht seine Zuschauerposition ersichtlich: Der Satiriker wird erst wieder arbeitsfähig, wenn sich die ihm gewohnte alltägliche Lächerlichkeit mit dem Ungewöhnlichen, Großen vermengt; denn dann erscheint sie um so lächerlicher. (FS 2, 132)
Hier handelt es sich mithin um ein anderes ›Theater‹, das wir von der durch Jung-Wiener wie Bahr metaphorisch poetisierten Bühne des Lebens unterscheiden müssen. Denn es gilt bei jenem, hinter die Kulissen zu schauen, während bei diesem verhüllt wird, was hinter den Kulissen wirklich geschieht. Dieser Sachverhalt zeigt sich klarer, wenn wir uns nun der Presse zuwenden, dem damals einflussmächtigsten Printmedium, mit dem sich Kraus lebenslang auseinandergesetzt hat.
27
Straub, S. 29.
II. Die Fackel und die Theatralität der Presse-Meldung
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II. Die Konfrontation der Fackel mit der Theatralität der Presse-Meldung 1. Kritik am Eingriff der Presse in den künstlerischen Bereich Die literarische Moderne war »ein europäisches Phänomen«, so betont Gotthart Wunberg, und zwar »in sehr viel stärkerem Maße als andere Epochen zuvor«, da die Zunahme der Kommunikationsmittel, besonders der Printmedien, und die Entwicklung von Eisenbahn und Automobil die Möglichkeit von Informationsaustausch sowie gesellschaftlichem Verkehr im In- und Ausland erheblich verstärkt habe.28 Arntzen weist darauf hin, dass es das Wiener kommerzielle Pressewesen war, dem die Literatur der Wiener Moderne ihr Wachstum in hohem Maße verdankte.29 Kraus verspottet z. B. Hermann Bahr als »Tagschreiber, der als Litterat überhaupt nicht mehr ernst zu nehmen [sei], der im Dienste eines Tagesblattes kritzeln [müsse], was ihm zum Kritzeln gegeben [werde]« (FS 1, 108). In der Tat war Bahr nicht nur bei der Deutschen Zeitung sowie bei dem Neuen Wiener Tagblatt tätig, sondern gab selbst die Wochenzeitung Die Zeit heraus, um die Jung-Wiener beruflich zu fördern.30 Auch manch andere Zeitungen boten ihnen Foren, unter denen die Neue Freie Presse, für deren Feuilleton-Teil die Exponenten der JungWiener ihre Beiträge schrieben, das berühmteste war. Diesen Teil hat die Presse, von der sich die Neue Freie Presse 1864 schied, ihrem Vorbild, der Pariser Reklamezeitung Presse, nachgeschaffen und in Wien eingeführt.31 Demnach wurde die Kunstautonomie, eine Grundbedingung der literarischen Moderne, durch diese Abhängigkeit von der Presse unterminiert. Es ist eben dieser Sachverhalt, den Kraus in seiner eigenen Zeitschrift unumwunden bloßgestellt hat. Obwohl er selbst einige Zeit für die Neue Freie Presse geschrieben und sich sogar »des besonderen Wohlwollens«32 ihres Herausgebers Moriz Benedikt erfreut hatte, lehnte er dessen Einladung in die Feuilletonredaktion ab und gründete 1899 Die Fackel. Während damalige satirische Zeitschriften in Deutschland vorwiegend illustriert und am »Familiennutz« orientiert waren,33 wurde in der Fackel in ihrer frühen Periode auf Illustrationen völlig verzichtet,34 und sie war, wie Friedrich Je naczek ausführt, »sozialethisch« ausgerichtet.35 Dabei hat Kraus verschiedene 28
Wunberg, in: Dietrich, S. 184 f. Arntzen, S. 37. 30 Lorenz, S. 98 f. 31 Wandruszka, S. 15 ff. 32 Wandruszka, S. 118. 33 Bekannt waren v. a. der Kladderadatsch in Berlin und Die Fliegenden Blätter in München. Der Simplicissimus in München, für den Kraus auch Beiträge schrieb, war ausnahmsweise auch für provokativ politische Inhalte offen; s. dazu Rösch, in: Mix, S. 272 ff. 34 Eine Ausnahme ist die Zeichnung einer lodernden Fackel, die bis zur Nummer 81 auf dem Umschlagblatt und bis zur Nummer 300 zwischen Hauptartikeln zu finden war. Zur Streichung der Umschlagsillustration s. »Mittheilungen des Verlages« (F 83, 30 ff.). 35 Jenaczek, S. 9. 29
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A. Zwischen Publizistik und Bühne
kaschierte Missstände im soziokulturellen Bereich aufgedeckt, wie etwa an der Börse, im Bankfach, in medizinischen Kreisen, an den Universitäten, nicht zuletzt auf seinem eigenen Aktionsfeld, der Publizistik. Er berichtet z. B. in dem Essay ›Die Unabhängigen‹ über sein »geistiges Vorleben« (F 1, 4), in dem es sich um »das schmutzige Cartell journalistischer Theaterpaschas« (F 1, 6) gehandelt habe, wobei er mit diesem aus dem Türkischen hergeleiteten Wort auf den feudalistischen Charakter anspielt: Nicht Censur des Staatsanwalts habe ich gefürchtet, vielmehr die intimere eines Chefredacteuers, die, wenn ich socialen Ekels voll, einmal in das schändliche Hausierertreiben unserer Literaten, in die Zusammenhänge von Theater und Journalistik hineinfahren wollte, mit weicher Sorglichkeit all’ den Ärger in fernere Regionen abzulenken bemüht war. (F 1, 5)
Gemeint ist hier der redaktionelle Zwang der Neuen Freien Presse, den Kraus selber als »Maulkorb« erlebt und »in den Papierkorb« geworfen habe, wie er ein Motiv zur Fackel-Gründung wortspielerisch erklärt (F 1, 5). Trotz seines öffentlichen Interesses räumt er ein, dass sein Standpunkt in seiner persönlichen Erfahrung wurzele: Der unpersönliche Anticorruptionismus dient der Wiener Journalistik als Deckmantel für eigene, bereits vorhandene oder erst noch zu übende Corruption. Der s a c h l i c h e Kampf gegen die Corruption ist aber in Wahrheit der p e r s ö n l i c h e , den ich in der ›Fackel‹ führe. (F 57, 25)
Es ist nun bemerkenswert, dass dieser »Kampf gegen die Corruption« im Besonderen der Beziehung der Presse zur Theater- sowie Schauspielerproblematik galt. In der ersten Nummer der Fackel gibt es noch einen Essay, in dem es unmittelbar darum geht: ›Die Vertreibung aus dem Paradiese‹.36 Dort heißt es: Eine Presse, die außerhalb jeglichen politischen Einflusses gestellt ist und die im Drange der Verhältnisse sich genöthigt sah, ihren Freisinn zum Freikartensinn umzugestalten, versorgt in eigener Regie den Theatermarkt und wacht mit Argusaugen, dass kein Berufener eindringe. (F 1, 14)
Hier wird mit dem Wortspiel »Freikartensinn« sowie dem Ausdruck »Argusaugen« darauf angespielt, dass die Neue Freie Presse, eines der damals einflussreichsten liberalen Blätter, auch nach dem Zurücktreten der liberalen Wiener Stadtregierung, im soziokulturellen, hier besonders theaterbetrieblichen Bereich, weiterhin in führender Position blieb. Dabei deckte Kraus jene »Versippung zwischen Theater und Presse« auf, die in seiner Sicht »bald zum Ruin beider Institutionen führen« müsse (F 5, 3). In seinem Kampf scheute er nicht einmal den Rechtsstreit vor Gericht, wie die Anklage von Bahr und von Bukovics gegen Kraus 36
In der ersten Nummer der Fackel folgt einem programmatischen Vorwort der Essay ›Die Unabhängigen‹. Dann folgen sieben kürzere Notizen des Autors, an die der Essay ›Die Vertreibung aus dem Paradies‹ anschließt. Am Ende des Heftes stehen zwei Kolumnen. Bezeichnenderweise ist in beinahe allen Artikeln ein Thema behandelt, das etwas mit der Bühne bzw. mit Schauspielern zu tun hat.
II. Die Fackel und die Theatralität der Presse-Meldung
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bezeugt.37 Das Problem erschöpft sich jedoch nicht mit dem Eingriff der Presse ins Theater. Wie der metaphorische Gebrauch des Wortes »Regie« an der eben zitierten Stelle zeigt, schreibt Kraus der Presse selbst ein Theaterelement zu. Kraus wiederholt später einen solchen Vergleich, wobei er den Nepotismus unter Autoren und Kritikern nachweist und seine Absicht bekundet, dem gutgläubigen Publikum zu helfen, ihnen auf die Schliche zu kommen: […] Und diese saubere Gesellschaft treibt ihr Gewerbe unter den Augen eines Publicums, welches das journalistische Ergebnis der erbärmlichsten theatralischen Schacherpolitik immerzu als Orakel aufnimmt. Aus unmittelbarer Anschauung könnte es jedesmal klar und deutlich erkennen, wie die Sache gemacht wird, und mit raschem Entschlusse, wenn es sich im Zwischenact organisierte, den Bund der Autoritäten auseinanderjagen. (F 1, 15)
An einer anderen Stelle in der ersten Nummer der Fackel spricht er auch von einer »einfache[n] Verstärkung des theatralischen Nachrichtendienstes« (F 1, 9), als deren Ergebnis wir ein wie ein »Orakel« fungierendes Wort verstehen können. Diese Anwendungen des Adjektivs »theatralisch« auf den publizistischen Bereich hängen mit seiner Erkenntnis zusammen, dass sich die Beziehung zwischen Publizistik und Bühne in der modernen Zeit entscheidend verändert habe: Seitdem die bodenwüchsige Vorstadtposse verblichen ist, müssen wir das Wiener Theater einem regelrechten Speculantenthum preisgegeben sehen. Journalistische Schmarotzer, die eben erst aus dem Kehricht der öffentlichen Meinung emporgetaucht sind, Operettenwucherer und Coulissiers, die, wenn schon nicht dem Gerichtssaal, so doch der Gerichtssaalrubrik entsprungen sind, tummeln sich auf der Scene, die einst Nestroy und einem herrlich verwienerten Offenbach gehört hat. (F 1, 15)
Wie zu Ludwig Anzengrubers »Volksstück« bemerkt wird, ließ die Tradition des Alt-Wiener Volkstheaters schon nach dem Tod Nestroys beträchtlich nach, indem sich jene »Abwanderung des Publikums zur Operette und anderen modernen Darbietungen« ereignete, die »einen Funktionswechsel der Theaterunterhaltungen« anzeigte.38 Diesen »anderen modernen Darbietungen« ordnet Kraus nun auch die Presse zu, deren Anziehungskraft die der »Vorstadtposse« überboten habe. Dieser Machtwechsel zwischen einer körperlich gespielten alten Volkskunst und einer Erfindung der neuzeitlichen Drucktechnologie würde zweifelsohne einen Anhaltspunkt für die Antwort auf die Frage geben, warum er sich in dem programmatischen Vorwort zur ersten Nummer der Fackel »kein tönendes ›Was wir bringen‹«, sondern »ein ehrliches ›Was wir umbringen‹« als »Leitwort gewählt« (F 1, 1) hat.
37 Bei diesem Streit wurde Kraus von Herman Bahr und Emmerich Bukovics, Theaterdirektor am deutschen Volkstheater, wegen seiner Behauptung, Bukovics habe jenen bestochen (vgl. F 43, 16 ff. u. a.), angeklagt. Kraus verlor 1901 den Prozess. Vgl. auch den Adam und EvaSkandal, bei dem es um den Journalisten und Librettisten Julius Bauer und seine »Clique« ging (F 172, 6 ff. u. a.). 38 Aust / Haida / Hein, S. 213.
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2. Wider die Theatralisierung der Öffentlichkeit Ein zeittypisches Phänomen der modernen Gesellschaft ist nach Jürgen Habermas die Entstehung der »Sphäre der zum Publikum versammelten Privatleute«,39 die zwischen zwei voneinander strikt getrennten Bereichen, dem öffentlichen und dem privaten, vermittelt. Habermas bezeichnet sie als »die bürgerliche Öffentlichkeit«,40 die anfänglich vor allem auf Zeitungen und andere Publikationen angewiesen war und dadurch als »literarische Öffentlichkeit«41 organisiert wurde, um dann politisch zu fungieren und zur Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft beizutragen. Im Verlauf dieser Entwicklung spielten auch Institutionen wie das Kaffeehaus oder das Theater eine immer größere Rolle.42 In der Josephinischen Aufklärung war auch in Wien eine bürgerlich-literarische Öffentlichkeit zustande gekommen,43 ging dann aber in der neoabsolutistischen Zeit enorm zurück. Das Zeitungswesen vergrößerte sich zwar massenhaft, wirkte aber nicht mehr als Forum der bürgerlichen Öffentlichkeit. Obwohl »die übergreifende Frage der Funktion von Zeitungen bei der Modernisierung der ›Öffentlichkeit‹ in einem unhomogenen politischen System bisher kaum behandelt worden«44 ist, kommt dem Thema ›Presse und Öffentlichkeit‹ in der Kraus-Forschung eine zentrale Bedeutung zu. Wie Helmar Schramm behauptet, gingen mit »dem kulturgeschichtlichen Wandel von Öffentlichkeitsbildern der Neuzeit« die »Entgrenzungen von ›Theater‹« einher: Theatralische Darstellungen erlangen, verbreitet durch immer weiter reichende Medientechnik, durch großangelegte Veranstaltungen in Politik, Sport, Musikkultur eine ungeheure Vielfalt und rhetorische Tiefenwirkung auf ein Massenpublikum. Theatralische Wirkungsstrategie, genau erprobt und verfeinert im experimentellen Spielraum der »Kunst«, wird übertragen auf ganz andere Ebenen des öffentlichen Lebens.45
Auch Habermas weist auf diesen Sachverhalt hin, wenn er z. B. die »Präsentation des Führers oder der Führungsgarnitur« erörtert, die in der massenmedial manipulierten Öffentlichkeit mit der Werbung eine zentrale Rolle spiele.46 Auf diese heuristische Erweiterung des Theaterbegriffs reagierte die Theaterwissenschaft, wie Erika Fischer-Lichte bemerkt, mit der Einführung des Begriffs »Theatralität«, der bereits um 1910 in Manifesten und Proklamationen der historischen Theateravantgarde (Georg Fuchs, Nikolaj Evreinov u. a.) eine herausragende Rolle gespielt hat.47 Heutzutage wird dem Begriff »Theatralität« die Funktion zugetraut, anthropologische und ästhetische Perspektiven dadurch zusammenzuführen, dass 39
Habermas (1990), S. 86. Habermas (1990), S. 69 ff. 41 Habermas (1990), S. 88 ff. 42 Habermas (1990), S. 92 f., 100 f. 43 Bruckmüller, S. 334 f. 44 Scheichl / Duchkowitsch, S. 7. 45 Schramm, in: Barck u. a., S. 233. 46 Habermas (1990), S. 321. 47 Fischer-Lichte, in: Fischer-Lichte, S. 277 f. 40
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»[…] er das Kunsttheater als ein Modell ausweist, mit dessen Hilfe sich kulturelle, diskursive und künstlerische Prozesse in verschiedenen Gesellschaftsbereichen analysieren und aufeinander beziehen lassen«.48 Wir können annehmen, dass Kraus bereits nach jenem Konzept, das im Zusammenhang mit dem Begriff »Öffentlichkeit« eine Anwendung des Terminus »Theatralität« auf die Problematik der Presse-Meldung möglich macht, verfuhr. In der Tat ist im ersten Satz des Vorwortes zu Nr. 1 der Fackel die Öffentlichkeit so charakterisiert, wie es nach Kraus’ Ansicht unter dem Einfluss der Theatralität von Presse-Meldungen ›ausgebildet‹ wurde. In einer Zeit, da Österreich noch vor der von radicaler Seite gewünschten Lösung an acuter Langeweile zugrunde zu gehen droht, in Tagen, die diesem Lande politische und sociale Wirrungen aller Art gebracht haben, einer Öffentlichkeit gegenüber, die zwischen Unentwegtheit und Apathie ihr phrasenhaftes oder völlig gedankenloses Auskommen findet, unternimmt es der Herausgeber dieser Blätter, der glossierend bisher und an wenig sichtbarer Stelle abseits gestanden, einen Kampfruf auszustoßen. (F 1, 1)
Hier weisen die Adjektive »phrasenhaft« und »gedankenlos« auf die passive Gutgläubigkeit der Leser hin, wie gleichsam auf die eines Theaterpublikums, dessen Meinungsbildung unter dem prägenden Einfluss theatralisch dargebotener Dichterworte stehe. Seine wegen der Wirkung der massenmedialen Zeitungen49 nur retardierte Erkenntnis von der drohenden Krise wird durch das O xymoron »acut[e] Langeweile« sowie den Gegensatz »zwischen Unentwegtheit und Apathie« angedeutet. Kraus’ »Kampfruf« gilt der Öffentlichkeit solch eines Publikums, etwa wenn er in medizinischen Kreisen »manches« findet, das »[…] dem Cliquenthum auf allen anderen Gebieten unserer weiten Öffentlichkeit erschreckend ähnel[e]« (F 4, 2). Darauf folgend vollzog er jedoch einen Perspektivenwechsel, der auch damit zusammenzuhängen scheint, dass er wegen eines Gegenangriffs »überfallen und blutig geschlagen« (F 5, 1) wurde. Solches geschah mir für einen Artikel, den ich geschrieben hatte, um an einem abnormalen Einzelfall die fast groteske Verkommenheit unserer Theaterzustände aufzuzeigen. Seitdem ich mir in freier Selbstbestimmung – ich möchte sagen: Selbstverdammung – den undankbaren Beruf erwählt, als Rächer des wehrlosen und an jedem Tage insultierten Ge schmackes der Wiener Öffentlichkeit einer von ihrer Allmacht trunkenen Clique die Wahrheit zu sagen, ist kein so rein sachlicher Artikel aus meiner Feder geflossen. (F 5, 1)50
Demnach bestand das Problem in jener Verbindung von »Öffentlichkeit« und »Clique«, die sich per definitionem ausschließen. Kraus’ Schreibweise bei seiner Beschäftigung mit diesem Problem war zwar »rein sachlich«, thematisch ging es aber um den »Geschmack«, ein ästhetisches Kriterium in der Moderne-Diskus-
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Warstat, in: Fischer-Lichte / Kolesch / Warstat, S. 362. Die Neue Freie Presse ist z. B. schon in den 1880er Jahren dank ihrer schwunghaften technologischen Renovierung zu einem richtigen Massenmedium geworden. 50 Gemeint ist hier der Essay ›Die Vertreibung aus dem Paradiese‹ in der Nr. 1 der Fackel. 49
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sion. Gleichwohl wollte er nicht als dessen distanzierter Befürworter auftreten, sondern als sein engagierter »Rächer«. Hierin können wir einen entscheidenden Unterschied zwischen Kraus und den Jung-Wienern bemerken. Sein künstlerisches Interesse kreiste nicht um sein subjektives Selbstbewusstsein, sondern wurzelte in dem klaren Bewusstsein von der gründlich veränderten sozialen Situation der Literatur. Er hat sich nämlich von Anfang an mit den Problemen der Presse als des damals repräsentativen Massenmediums beschäftigt, das auch die literarische Produktion und ihren Umlauf industriell bedingte. Dabei handelte es sich offenbar vornehmlich um eine öffentliche Meinung, die sich v. a. der Presse verdankte und doch dadurch auch getäuscht wurde. Denn diese Öffentlichkeit war von der Aufklärung abgeirrt, wenn sie durch die Presse »theatralisch« manipuliert wurde. Mit anderen Worten, stand er selbst in dem intersubjektiven Raum zwischen Medium und Publikum, und versuchte, dies an jenem zu »rächen«. In seiner frühen Kritik stellte er den autoritären Mechanismus der Presse immer wieder bloß und verlangte, diese solle ihren Warencharakter nicht literarisch verhüllen, sondern offen zeigen,51 und nicht mit dem Pronomen »wir« eine Allgemeingültigkeit simulieren. Es galt, »der gläubigen Oeffentlichkeit« (F 85, 1) eine Warnung vor dem schädlichen Einfluss der Presse zukommen zu lassen. Nachdem seine Hoffnung auf eine Pressereform durch juristische Mittel gescheitert war, schrieb er einen deutlichen Appell an seine Leser: Freundlicher Leser! Der du noch immer die Zeitung für ein von geheimnisvoller Macht Erschaffenes, aus pythischem Munde Weisheit Kündendes, beim Morgenkaffee plötzlich Daliegendes hältst, der du vom Offenbarungsschauer dich angeweht und der Ewigkeit näher fühlst, wenn Löwy oder Müller im Wir-Ton leitartikeln – besinne dich, dass all dein Respect nur der Namenlosigkeit gilt […] (F 98, 4)
Obwohl hier nicht von einem »Orakel«, sondern von »Offenbarung« die Rede ist, wird die Wirkungsweise der Presse noch immer mit der einer mythischen Macht verglichen. Sie wird aber durch das allzu menschliche Beispiel zweier Journalisten gleichsam ›entmythologisiert‹. Als ihr Merkmal gilt nun die »Namen losigkeit«, d. h. verantwortungslose Anonymität, die sonst von der Scheinsolidarität durch geschickten Gebrauch von »wir« verhüllt sei. Kraus’ praktische Ratschläge verschärfen sich dann so: […] Werde m i s s t r a u i s c h , und einer von Druckerschwärze fast schon zerfressenen Cultur winkt die Errettung. Lasse den Zeitungsmenschen als Nachrichtenbringer und commerciellen Vermittler sich ausleben, aber peitsche ihm den frechen Wahn aus, dass er von einer Kanzel herab zu versammeltem Volke spreche und berufen sei, geistigen Werthen die Sanction zu ertheilen. Nimm das gedruckte Wort nicht ehrfürchtig für baare Münze! Denn deine Heiligen haben zuvor für das gedruckte Wort baare Münze genommen. (F 98, 4) 51
Wegen dieser Forderung setzt sich Kraus mit Maximilian Harden, jenem berühmten Berliner Publizisten, der damals noch sein intimer Berater war, schon in der zweiten Nummer der Fackel auseinander, was später zu einem viel ernsteren Zwiespalt führte (s. dazu A. IV.).
III. Die Sprache als Gewalt
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Die Pointe dieser Stelle ist ein Wortspiel mit der Redensart »etwas für bare Münze nehmen«, was »etwas für ganz wahr halten« bedeutet. Der Kontext veranlasst nun den Leser dazu, die metaphorisch gemeinte Wendung ganz wörtlich zu nehmen. Und dann heißt sie: »gut verdienen«. Dieser ironische Sprachgestus deutet aber gleichzeitig an, dass sich Kraus mit dem Problem der Öffentlichkeit nicht vom soziologisch normativen Standpunkt wie Habermas’ aus beschäftigt hat, der die neuzeitliche bürgerliche Öffentlichkeit so beschreibt: So exklusiv jeweils das Publikum sein mochte, es konnte sich niemals ganz abriegeln und zur Clique verfestigen […] Die diskutablen Fragen werden »allgemein« nicht nur im Sinne ihrer Bedeutsamkeit, sondern auch der Zugänglichkeit: alle müssen dazugehören können.52
Kraus übernahm die Aufgabe, ein eben derartiges allgemeines Prinzip im einzelnen Fall zu widerlegen. Auf diese Weise konnte er seinen eigentümlichen Standpunkt als Satiriker nach und nach bestimmen.
III. Die Sprache als Gewalt im Spannungsfeld von Rassismus und Doppelmoral 1. Das gewählte Ideal der jüdischen Assimilation in einer Umbruchszeit a) Angesichts des Dilemmas der assimilierten Juden Richten wir unser Augenmerk auf die Frage, welche konkreten öffentlichen Verhältnisse den Hintergrund für derartige pressekritische Äußerungen darstellten, so können wir keinesfalls die damalige sogenannte Judenfrage außer Acht lassen. Denn »viele, vielleicht die meisten der bekanntesten Vertreter der Wiener Kultur des Fin de siècle – mit Ausnahme der bildenden Kunst und der Architektur –« waren jüdischer Abstammung. So auch die »Eigentümer oder Herausgeber der großen Tageszeitungen der liberalen Presse«.53 Dies betrifft aber auch Kraus selber, der aus einer Familie so genannter assimilierter Juden stammte und in einem Zeitalter eines sich immer mehr verschärfenden politischen Antisemitismus lebte. Wenden wir uns nun kurz jener paradoxen Entwicklung der jüdischen Publizistik in Wien zu, welche die Redaktionsgeschichte der Neuen Freien Presse seit ihrer Vorgängerin, der Presse, vertritt, die als »Leitfaden für die Problematik der emanzipierten deutschen Judenschaft überhaupt« betrachtet werden könnte.54 Eigentlich müsste es eine große Errungenschaft für die säkularisierten Juden gewesen sein, dass sie das Zeitungswesen im deutschsprachigen Raum zu einem 52
Habermas (1990), S. 98. Beller, S. 12, 47. 54 Andics, S. 314. 53
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großen Teil bestimmten und so die »Sprachghettos«55 endgültig verließen. In der liberalen Gesinnung solcher Juden ist jene humanistisch-aufklärerische Idee, die sich die Verwirklichung einer deutsch-jüdischen Symbiose zum Ziel setzte, seit der Zeit Moses Mendelssohns überliefert worden. Überdies ist ihr Wirkungsbereich dank des technischen Fortschrittes des Druckes sowie des Transportes schon lange außerordentlich groß gewesen. Indessen war die Öffentlichkeit, der das Massenmedium Presse ein Forum bieten sollte, in diesem Fall sowohl von innen durch die »Clique« (F 5, 1) als auch von außen durch die nationale Bewegung in den einzelnen Völkern des Habsburger Kaiserreichs sowie den damit zusammenhängenden »Sprachkonflikt«56 unversöhnlich zerstritten. Wenn eine Zeitung wie die Neue Freie Presse im kulturellen Bereich auch einflussreich bleiben wollte, konnte sie in einer Situation, in der sich einzelne ethnische Gruppen – unter Mitwirkung ihrer jeweiligen Presseorgane – zu eigenen Nationen als »imaginären« politischen Gemeinschaften57 organisierten bzw. zu organisieren trachteten, keine Maßnahmen ergreifen. Dieses Dilemma hat Theodor Herzl innerhalb der Redaktion der Neuen Freien Presse am eigenen Leib erfahren. Diese führende Persönlichkeit der zionistischen Bewegung war dort als Feuilletonchef tätig, obwohl er mit Moriz Benedikt, der an der jüdisch-liberalen Idee der Assimilation festhielt, in schroffer Feindschaft lebte.58 Diesen Grundsatz teilte Herzl zunächst, gab ihn aber anlässlich der Dreyfus-Affäre nach langem Zögern preis. Darüber hinaus ist zu erwähnen, dass die Gattung Feuilleton selbst, die als verfeinerte kleine Sprachkunst »die Spitzenleistung der Juden in der Wiener Journalistik«59 gewesen ist, gleichzeitig als »Ausdruck einer Krise der bürgerlichen Öffentlichkeit« betrachtet werden kann. Denn in dem Maße, in dem das ›kulinarische‹ Moment in Gestalt einer witzigen Anekdote oder eines Wortspiels in den Vordergrund trete, werde, so Karlheinz Rossbacher, das sachbezogene, aufklärerische Räsonnement zur Nebensächlichkeit degradiert.60 Kraus kannte sich als Mitarbeiter der Neuen Freien Presse in diesen Verhältnissen aus. Im klaren Bewusstsein der Grenze, an die das Streben der jüdischen Assimilierung stieß, gründete er 1899 die Fackel und trat in demselben Jahr aus der jüdischen Gemeinde aus. Gleichzeitig hat sein eigenes Projekt jüdischer Assimilation begonnen, indem ihm daran »gelegen« war, »[…] alle retardierenden Momente der Assimilation zu verdammen« (F 11, 5). Daraus ergab sich auch seine
55
Toury, in: Grab, S. 90. s. dazu Toury, in: Grab, S. 82. 57 Anderson, S. 33 ff. Bekanntermaßen behauptet Anderson hier, dass sich der moderne Nationalstaat auch insofern der Verbreitung der Zeitung innerhalb des Landes verdankt hat, als sie durch ihren Charakter als »one-day best-sellers« einen Massenritus des Konsums ermöglichte. 58 Wandruszka, S. 113 ff. 59 s. dazu Andics, S. 318 f. 60 Rossbacher, S. 83. 56
III. Die Sprache als Gewalt
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Kritik an der »Schamlosigkeit des Corruptionshandels« (F 33, 11).61 Allerdings schreibt er auch: Nur muthiges Säubern in den eigenen Reihen, nur das Ablegen der Eigenthümlichkeiten einer Rasse, die durch die vielhundertjährige Zerstreuung längst aufgehört hat, eine Nation zu sein, kann all der Qual ein Ende machen. Die goldenen und die zeitungspapiernen Gitter, die heute noch das Ghetto umschließen, müssen fallen. Durch Auflösung zur Erlösung! Sonst sieht das vielberufene zwanzigste Jahrhundert Excesse ärgerer Art. (F 23, 7)
Wie die Adjektive »golden« und »zeitungspapieren« andeuten, hat er eine radikale Reform herkömmlicher geschlossener Territorien der Wirtschaft sowie der Publizistik als besonders dringend angesehen. Die Presse galt sogar als »Urgrund aller Uebel« (F 56, 9). Denn je auffälliger die Juden, wie in der Neuen Freien Presse bei der Dreyfus-Affäre, ihr eigenes Recht behaupteten, desto stärker wurde die Feindseligkeit gegen sie. In dieser widerspruchsvollen Situation veröffentlichte er bis etwa 1903 in der Fackel verschiedene kulturpolitische Beiträge, die bald von Sozialdemokraten wie Wilhelm Liebknecht geschrieben wurden, bald von Rassisten wie Houston Stewart Chamberlain, der die Überlegenheit der »arischen« Rasse verkündete. Diese expliziten Tatsachen, besonders seine Annäherung an den deutschen Konservatismus, haben oft den Eindruck erweckt, als ob es dabei um eine Identitätssuche ginge, die mit dem »jüdischen Selbsthass« vergleichbar wäre.62 Wir müssen jedoch z. B. seine Aussagen bei der Kritik an der Hermann Bahrschen Theaterclique beachten, dieser sei »ein Renegat ins Ghetto« und leihe »dem Treiben der geschäftig wimmelnden Schmöcke seine arische Repräsentanz« (F 69, 6). Diese negative Beurteilung des nicht-jüdischen Schriftstellers Bahr deutet an, dass sich Kraus auch bei der Rassenproblematik die Beziehung zwischen Presse und Theater im Grunde angelegen sein ließ und diese für wichtiger hielt als jene. Diese Annahme wird durch den Gebrauch des Namens »Schmock« im Plural bestärkt; so heißt ein gesinnungsloser Journalist in Gustav Freytags Komödie Die Journalisten (1854). Außerdem können wir an einem sich daran anschließenden Satz erkennen, worauf es bei dieser Kritik an zwei sozialen Medien offenbar ankam: Bahr sei »[…] der bedenkenloseste Missbraucher jener Gewalt, die da Presse heiß[e]« (F 69, 7). b) Das Potential der Sprache für die ›Akkulturation‹ Das Thema »Presse und Gewalt« hat Kraus schon früh im Zusammenhang mit der Theaterproblematik behandelt. In dem Essay ›Eine Krone für Zion‹, den 61 Kraus schreibt dem »Einfluss der Corruption« sowie dem Charaktermangel des »Wienerthum[s]« die Schuld daran zu, dass der Antisemitismus in Wien ärger geworden sei als in Berlin, obwohl andere Ursachen beiden Städten gemeinsam gewesen seien (F 33, 11). Neben dem Zeitungs- sowie Theaterwesen wurden auch die Arbeitsfelder der assimilierten Juden wie Verkehrs-, Schul- bzw. Versicherungswesen u. a. kritisiert. 62 Ein Beispiel für diese Auffassung findet sich bei Gilman, S. 139 ff.
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er ein halbes Jahr vor der Gründung der Fackel publizierte, weist er z. B. auf die nach seiner Meinung wechselseitige Abhängigkeit von Zionismus und Antisemitismus hin: Erst einige Artikel, die im zionistischen Hauptorgan erschienen, vor allem der »Mauschel« betitelte, haben die insgeheim von beiden Gruppen ersehnte Verständigung wieder gebracht, der Ruf »Hinaus mit den Juden!« verpflanzte sich aus dem Lager der jüdisch-nationalen Studentenschaft in jene Regionen, deren immer breite politische Trägheit gerade dieser bequemen Parole aufnahmsfreudiges Verständnis entgegenbringt, und alsbald sah man wieder die jüdischen Antisemiten mit einem bei den arischen nie erhörten Eifer dem über alle kleinlichen Differenzen gemeinsamen Ziel zusteuern. (FS 2, 299)
Hier ist der Sachverhalt thematisiert, dass eine »Parole« der Presse ihre Leser zu einer gewaltsamen Zielstrebigkeit auffordert, die für eine andere Nation Invasion bedeutet. Einer derartigen Propaganda schreibt Kraus auch die Zwietracht zwischen ins Heilige Land ausgewanderten Juden und der damaligen Bevölkerung Palästinas zu: »Die den Hunger gemeinsam haben sollten, werden nach nationalen Merkmalen getrennt und gegeneinander ausgespielt« (FS 2, 301). Wichtig ist nun, dass er die zionistische Bewegung als das »Nationspielen« bezeichnet, das vom »schwärmerisch geschminkte[n] Judenthum« aufgeführt werde (FS 2, 311), bzw. als »ein[e] neuestens organisiert[e] politisch[e] Radautruppe« (F 1, 4), die in Mitteleuropa ein »unerfreuliche[s] Schauspiel« (F 11, 6) biete. Hier ist nämlich von der als minderwertig betrachteten Theatralität einer nationalpolitischen Kolonialbewegung selbst ironisch die Rede. Zu erwähnen ist auch, dass Herzl Autor beliebter Salonkomödien war und unmittelbar nach der Dreyfus-Affäre das Tendenzstück Das neue Ghetto (1891) verfasste.63 Überdies weist Kraus in der Theaterkritik über Das neue Ghetto auf Herzls Einfluss auf die Jung-Wiener hin: Bietet uns die sociale Frage in der Wirklichkeit schon zu effectvolle Ensemblescenen, um nicht bei bühnenmäßiger Behandlung zu verblassen, so hat hier das Judenproblem auch bei denjenigen, welche ihm theilnahmslos gegenüberstehen, seine dramatische Schuldigkeit gethan, weil es noch Spielraum für innere Actionen übrig läßt und weil dieses Partikelchen des Weltleids seinen ehrlichen Gestalter [Herzl, Anm. d. Verf.] fand. (FS 2, 153)
Die soziale Situation um den Zionismus wird hier mit einer Theateraufführung mit »effectvolle[n] Ensemblescenen« verglichen, wobei Kraus es ironisch positiv bewertet, dass das »Judenproblem« es Herzl erlaubt habe, den jüdischen Anteil am »Weltleid« auf der Bühne darzustellen. Dass mit den »innere[n] Actionen« JungWiener Sympathisanten des Zionismus64 gemeint sind, lässt sich aus einer Passage des Essays ›Eine Krone für Zion‹ schließen:
63 Trotz seines gespannten Verhältnisses zur Redaktion seit seiner Hinwendung zum Zionismus wurde ihm all diese Jahre hindurch eine Sonderstellung in der Neuen Freien Presse eingeräumt, die es ihm ermöglichte, hier weiterhin zu publizieren und im Dienste der zionistischen Bewegung Reisen zu machen; s. dazu Wandruszka, S. 115 f., 134. 64 Ihr typisches Beispiel ist Richard Beer-Hofmann, der in seinem Roman die Hauptfigur schließlich zum Judentum konvertieren lässt; s. dazu Beer-Hofmann, Der Tod Georgs (1900).
III. Die Sprache als Gewalt
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Erst der kleingeistige Zionismus, dessen politische Linie mühelos bis zum nahen Endpunkte der realen Unmöglichkeit zu verfolgen ist, hat es diesen Herren, die bisher ausschliesslich mit ihren Nerven beschäftigt waren, ermöglicht, sich auch als Zeitgenossen zu fühlen. Erstaunlich rasch haben sie den Schmerz des Judenthums, den tausendjährigen, bewältigt, der ihnen jetzt zu tausend ungeahnten neuen Posen verhilft. (FS 2, 304 f.)
Die für die Literatur der Wiener Moderne charakteristische Löschung der Grenze zwischen Traumwelt und Wirklichkeit ist an dieser Stelle auf den Zionismus übertragen. Demnach handelt es sich hier auch um eine Kritik an dem gewalttätigen Potential des literarischen Subjektivismus seit der Romantik, dessen tatsächlicher Misserfolg von Kraus verspottet wird: »[E]s zeigt sich, wie schwer heute der palästinensische Boden mit allen technischen Behelfen der Romantik und mit dem ganzen Apparat einer modernen construirten Sehnsucht zu bewirthschaften ist« (FS 2, 307). Auffällig ist nun, dass diese Kritik an der »modernen construirten Sehnsucht« in der Fackel weitergeführt wurde, und zwar einhergehend mit der Schätzung eines Dramatikers ganz anderen Typs als Herzl. In dem Essay ›Der Zerrissene. Causa Herzl contra Nestroy‹, der anlässlich des 100. Geburtstages von Nestroy geschrieben wurde, versucht Kraus, diesen gegen eine »Schimpfrede« (F 88, 13) Herzls zu verteidigen, der als einziger »[…] in den Chorus der Säcularlobredner nicht [habe] einstimmen« (F 88, 12) wollen. Zunächst schreibt Kraus Herzls Abneigung gegen Nestroy dessen satirischer Begabung zu, die auch posthum eine schädigende Wirkung auf ein Zeitphänomen wie den Zionismus ausüben könne: Erfasst er als der einzige so sehr die polemische Kraft Nestroys, dass er sie wie eine lebendige fürchtet? Dass er fühlt, wie sie heute an der Erbärmlichkeit seiner liberalen Umgebung, an dem heiligen Ernst der zionistischen Pläne Schaden anrichten könnte? Jener grausame Spötter hat ja – in der Holofernes-Parodie – ein Herrn Herzl sympathisches Milieu nicht geschont und irgendwo anders den noch nach fünfzig Jahren beleidigenden Ausspruch gethan: »Zum Luftschlösserbauen braucht man nicht einmal einen Grund, und in einem Luftschloss hat selbst die Hausmeisterwohnung eine paradiesische Aussicht«. (F 88, 12 f.)
Mit der »Holofernes-Parodie« ist Nestroys Posse Judith und Holofernes. Travestie in einem Acte von 1849 gemeint, mit der er Hebbels Stück Judith von 1840, die tragische Dramatisierung einer jüdischen Legende aus den Apokryphen mit einer weiblichen Hauptrolle, parodiert hat.65 Kraus findet zum einen in dieser Parodie ein Potential, auf den Zionismus anzuspielen, vergleicht diesen zum anderen mit dem von Nestroy karikierten Versuch, Luftschlösser zu bauen. Diesen indirekten Spott können wir als eine Variation seines Manifests ansehen, mit dem er das Publikum dazu ermutigt, sich trotz aller ihm bewusster Schwierigkeiten erneut für das Ideal einer jüdischen Assimilation zu entscheiden und mit Geduld daran festzuhalten:
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Später bespricht Kraus beide Stücke noch ausführlicher; s. dazu E. I. 2.
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A. Zwischen Publizistik und Bühne Es ist hier nicht die Gelegenheit und wohl auch überflüssig, die Assimilationslehre gegen die Uebergriffe der Jüdischnationalen in Schutz zu nehmen und wider die Starrheit der zionistischen Köpfe die Wandlungsfähigkeit des jüdischen Stammes auszuspielen. Aber ich möchte den Herren, die es nur an sich selbst noch nicht versucht haben, den Rath geben, doch endlich einmal den Anfang zu machen. Der widerhaarigste Zionist müsste sich in wenigen Jahren unschwer zum Europäer civilisiren lassen. Der unumstössliche Glaube an die Anpassungsfähigkeit des jüdischen Charakters ist die beste Orthodoxie: man lasse ihn nur erst einmal den – Glauben der Väter werden. Bestimmt, in allen umgebenden Culturen unlösbar aufzugehen und dennoch immerdar Ferment zu bleiben, erweist sich diese Wesensart stärker als ihre übereifrigen Verkünder. Nicht sie hat sich der Antisemitismus als Kampfobject ausgesucht, sondern die sie begleitenden Nebenumstände. (FS 2, 309)
Kraus traut es der »Wandlungsfähigkeit des jüdischen Stammes« sowie der »Anpassungsfähigkeit des jüdischen Charakters« zu, nicht nur die Assimilation an die deutsch-österreichische Gesellschaft zu vollbringen, sondern als »Ferment« verändernde Einwirkungen auf diese auszuüben. Wir müssen beachten, dass auch diese Fähigkeiten beide mit Theater zu tun haben, wie Kraus später unter Berufung auf Nestroy als Wiener Volkskomiker tatsächlich andeutet. Diese Ansicht wird dadurch bestätigt, dass Kraus Nestroy im Kontrast zu Herzl wie folgt beschreibt: Er hat die moderne Presse nicht gekannt, und war dennoch ein Satiriker; er hat sie nicht gekannt, und darum preist sie ihn heute beruhigt als solchen. (F 88, 12)
Stellen wir nun die These auf, dass Kraus durch seine bewusste Zugehörigkeit zur Tradition der Nestroyschen Satire darauf abgezielt hat, in der ihn umgebenden Öffentlichkeit eine Akkulturation66 zu bewirken. Dagegen blieb Herzl für ihn ein zwischen zwei Kulturen »Zerrissener«, mit welcher Bezeichnung er nicht nur auf Titel einer Nestroyschen Posse anspielt, sondern offensichtlich auch auf das Problem der jüdischen Identität.67 Ein symptomatischer Fall findet sich bei jener Theaterkritik eines Redakteurs der Neuen Freien Presse namens Friedrich Schütz, der einer Aufführung des Oscar Wildeschen Dramas Salome (1893) am Deutschen Volkstheater in Wien eine antisemitische Implikation vorwarf. Wie Kraus bemerkt, lag Schütz daran, aufzuweisen, dass Wilde »die ›historische Wahrheit‹« der Figuren beleidigender Weise verzerrt und dass die Regie »›diese Hebräer[…]‹« habe »›[…]mauscheln‹« lassen (F 150, 6 ff.). Da war eine andere Erscheinungsform jenes überempfindlichen Solidaritätsgefühls der liberalen Juden zu bemerken, das Kraus als großes Hindernis für die Assimilation ansah. Diesmal übte Kraus wieder durch Parallelisierung von Tatsache und Fiktion eine Gegenkritik an solch einer Pedanterie, indem 66 Der Terminus »Akkulturation« wird im Sinne der »Übernahme von Elementen einer fremden Kultur durch den Einzelnen oder eine Gruppe« (s. dazu Wissenschaftlicher Rat der Dudenredaktion, 3. Aufl., S. 86) in den Cultural Studies häufig benutzt. 67 Kraus’ Einstellung zu Herzl als Zionisten hat sich anlässlich der Veröffentlichung von dessen Tagebüchern in eine positive Richtung geändert (s. dazu F 649 / 56, 137 f.). Als Dramatiker wurde er schon früh geschätzt (s. dazu F 88, 14).
III. Die Sprache als Gewalt
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er behauptete, »[…] die infernalische Lust, mit der Herr Schütz das tote Dichterhaupt insultier[e]«, sei »so ungleich perverser als der saugende Kuß der Salome, daß auch durch die Reihen der abgesagten Feinde modernen Kunstschaffens Abscheu und Entsetzen« gegangen sei (F 150, 2). Das Drama Salome wird von ihm als »ein Meisterstück« geschätzt, »[…] das an kondensierter Stimmung und rhythmischem Einklang von Handlung und Sprache kaum seinesgleichen in der Weltliteratur« habe (F 150, 6). Anlass der Kritik an Schütz war u. a. auch, dass dieser Wilde wegen dessen homosexueller Veranlagung angriff (F 150, 2 ff.). Das rassistische Vorurteil gegen dieses Drama war demnach von einem geschlechtlichen gegen Wildes Privatleben begleitet. Kraus’ Verteidigung des irischen Dichters markiert eine neue Phase von seiner Tätigkeit. Seit etwa 1904 hat er sich offenbar seltener mit öffentlichen als mit privaten Themen beschäftigt und sich dementsprechend in der Judenfrage immer häufiger gewisser »Incognito-Strategien«68 bedient. Der thematische Schwerpunkt verlagerte sich dabei von der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Rasse auf das Geschlechtliche, was ja menschliche Identität noch tiefgreifender bestimmen kann. Wie kam es im Zusammenhang mit den von ihm bis dahin behandelten Themen dazu? 2. Verteidigung von »Geist« und »Sinnlichkeit« gegenüber der Strafjustiz a) Satire und Strafgesetz. Berührungspunkte und Unterschiede Bei Kraus’ späteren Texten zur Judenfrage bemerkt man, dass er mitunter auch sexuelle Normen der Juden kritisch thematisiert hat. Es war z. B. für ihn eine Begleiterscheinung der »größten Kulturscheußlichkeiten« (F 150, 3), dass der Theaterkritiker Schütz der Zuchthausstrafe für die Homosexualität Wildes nachdrücklich zustimmte. Solch eine konservative Einstellung zur Sexualität sei auch bei »Herrn Herzl und allen ethischen Richtern der Frau« (F 142, 16) aufgetaucht, als diese auf Frank Wedekinds Erdgeist (1895) und Die Büchse der Pandora (1904) überwiegend negativ reagierten. Bezeichnenderweise wurden beide Fälle durch Theaterstücke veranlasst, deren Hauptrolle eine außerhalb der Gesellschaftsordnung lebende femme fatale ist. Es handelt sich dabei außerdem um die juristisch und sozialmoralisch unterstütze Homophobie bzw. Misogynie im publizistischen Lager.69 Von diesen Verhältnissen können wir jedoch einen noch wichtigeren Hinweis auf die mehrfach widerspruchsvolle Situation erhalten, mit der sich die damaligen Juden konfrontiert sahen: Nicht nur dass es auch bei ihnen als rassistisch Diskriminierten eine sexuelle Diskriminierung gab, sondern auch dass ihre Iden 68
Wagner, in: Literatur + Kritik, S. 392. Im Zusammenhang damit ist die psychoanalytische Bemerkung erwähnenswert, dass Herzl tatsächlich eine misogyne Tendenz gehabt habe; s. dazu Wagner, in: Leser, S. 167 f. 69
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A. Zwischen Publizistik und Bühne
tität mit der der Frauen sowie der Homosexuellen in Verbindung gebracht wurde.70 Diese Identitätsverwirrung scheint beim jüdischen Philosophen Otto Weininger in der äußerst radikalen Form des Selbstmords Ausdruck gefunden zu haben.71 Auf der alltäglichen Ebene waren es aber vorwiegend Frauen, Kinder und Homosexuelle, die unter den gesellschaftlichen Vorurteilen zu leiden hatten, und zwar gerade auf der ›Bühne‹ der Presse sowie der des Gerichtshofs. Bevor wir dieses Problem eingehend erörtern, sollen Kraus’ ambivalente Stellungnahmen zum Gesetz, genauer gesagt zum Strafgesetz, überblickt werden.72 Einerseits forderte er von der Rechtspflege, dass sie die Presse von »passive[r] Erpressung« (F 95, 6) abschrecke, von einer Erpressung nämlich, die durch als solche gesetzmäßige Berichterstattung oder durch Totschweigen in der Zeitung auf Personen bzw. Organisationen ausgeübt werden kann. Den juristischen Zustand in Österreich schildert er wie folgt: Seit Jahren wird in Parlamentskreisen, hoffend und bangend, von einer bevorstehenden P r e s s r e f o r m gesprochen. Die wahre Pressreform, die wir zum Wohl einer verschüchterten, in Furcht vor der Druckerschwärze erzogenen Oeffentlichkeit herbeisehnen, ist die R e f o r m d e s S t r a f g e s e t z e s . (F 95, 6)
Andrerseits erkannte Kraus auch, dass dieser Entwurf von vorneherein deshalb aussichtslos war, weil sich durch das Wachstum des Presse-Mediums die Sozialbedingungen von Grund auf geändert hatten. Mit Bezug auf einen Kindesmord durch die Eltern, die verurteilt wurden, obwohl ihre Schuld nicht völlig nachgewiesen war, schrieb er: Die Organe der öffentlichen Meinung – ich vertrete nur die meine – stimmen dem Schuldspruch begeistert zu. Die entsetzlichen Schilderungen der Leiden des Kindes, in denen sie sich ergangen hatten, waren ja nicht zum wenigsten die Ursache gewesen, warum er gefällt wurde. Ich sah auch beim ernstesten Anlass die Sensationslust der Reporter am Werke. Mich ekelte der Anblick der Humanitätsberauschten: aber allzuscharf wollte ich mit ihnen diesmal nicht ins Gericht gehen. Denn heute, wo die Oeffentlichkeit des Processes nicht in der Zulassung von hundert Zuschauern, sondern in der Veröffentlichung durch die Zeitung besteht, hat sich das Wesen der Abschreckung, die die Justiz bezweckt, geändert. Nicht so sehr die Strafe, die schließlich verhängt wird, wirkt abschreckend, als vielmehr das Bekanntwerden des Thatbestandes, wie er im Process sich enthüllt. (F 28, 3)
Der wortspielerische Gebrauch der Redewendung »mit jemandem scharf ins Gericht gehen« deutet hier ironisch Kraus’ Distanzierung zur Justiz an. An einer 70
Braun, in: Zeitschrift für Germanistik, S. 14. Der jüdische Philosoph Otto Weininger hat 1903 im Sterbehaus Beethovens Selbstmord begangen, nachdem er sein Buch Geschlecht und Charakter (1903) veröffentlicht hatte. Darin hat er den angeblich »weiblichen Charakter« der Juden sowohl unter dem antisemitischen als auch dem misogynen Gesichtspunkt erörtert. 72 Kraus, der sich 1892 an der juristischen Fakultät der Universität Wien immatrikuliert hatte und das Studium bald aufgab, schrieb 1900: »[…] meine Neigung für die Besprechung juristischer Dinge ist im Wachsen« (F 33, 20 f.). Seitdem verkehrte er mit den Juristen Franz von Liszt und Heinrich Lammasch und nannte in der Fackel oft ihre Namen. 71
III. Die Sprache als Gewalt
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anderen Stelle findet er »beklagenswerth«, dass »die Interpreten des Gesetzes nicht dessen Willen, sondern dem Wink der Zeitungsmacht, die sich ungestraft leider so oft über das Gesetz gestellt hat, gehorchten« (F 99, 1). Der Primat der Justiz vor der Publizistik war in Kraus’ Augen ins Wanken geraten, da die Presse als »Vierte Gewalt«73 so einflussreich geworden war, dass ihre initiative Einwirkung sogar zum Gerichtshof gelangte. Nachdem 1902 ein Entwurf zur Pressgesetzesreform vorgelegt worden war, der »[…] im Bereich des Pressordnungs- bzw. »Pressgewerberechts« eine Reihe vor allem kommerzieller und betriebsbezogener Erleichterungen« brachte, gab Kraus zu, dass die Pressereform »zweifach verfrüht« sei: »[…] weil wir ein Strafgesetz haben, das man auf die Presse nicht anwenden kann, und weil der moderne Geist die juristischen Formeln für die Machtentsetzung der Presse noch nicht gefunden hat, die seine wichtigste Culturaufgabe ist« (F 130, 4).74 So war nun »jene unheilvolle Allianz von Presseöffentlichkeit und Gerichtsöffentlichkeit« zustande gekommen, »die beide auf den Strich der öffentlichen Meinung [gehen würden], der den Spekulationen auf Instinkte Vorschub leisten [lasse], statt auf Sammeln und Verwertung von Fakten und Informationen aus zu sein«.75 Dementsprechend richtete sich Kraus’ Kritik immer mehr gegen diese Komplizenschaft von Publizistik und Justiz, die wir als eine Wienerische Spielart des Strukturwandels der Öffentlichkeit im Sinne Habermas’ ansehen können: In der sich auflösenden Monarchie litt »der moderne Geist« an dem Paradox, dass zwei für die moderne Gesellschaft unentbehrliche Organe, Presse und Gericht, nicht immer zur Emanzipation, sondern eher zur weiteren Unterdrückung der Menschen beitrugen. Gerade die Sexualjustiz, mit der sich Kraus bis 1907 in zahlreichen Essays intensiv beschäftigte, war es nun, bei deren Verhandlungen diese Problematik unverhüllt zutage trat. Denn dort wirkte die patriarchalische Voreingenommenheit derer, die Urteile fällten, mit der Sensationsmache der Journalisten, die über Prozesse berichteten, zusammen. Ein Beispiel dafür hat Kraus schon 1902 im Essay ›Sittlichkeit und Kriminalität‹ erörtert, in dem es um einen »Doppelprocess wegen Ehebruchs«, nämlich um »seine Führung und seine journalistische Behandlung« (F 115, 3) geht.76 Er macht auf die Tatsache aufmerksam, dass dabei die 73 Diese Bezeichnung wurde in der so genannten liberalen Theorie der Presse, die ihre Blütezeit im 19. Jahrhundert erlebte, gebräuchlich, wobei die Presse neben die legislative, exekutive und judikative Gewalt gestellt wurde; s. dazu Kunczik / Zipfel, S. 73. 74 In der gleichen Nummer der Fackel steht außerdem: »Daß Österreich nicht ohne die ›Neue Freie Presse‹ regiert werden kann, ist ein altes ministerielles Wahrwort« (F 130, 5). Auch die Ohnmächtigkeit des bestehenden Strafgesetzes kommentierte Kraus an einer anderen Stelle ironisch: »Das Charakteristische der österreichischen Strafrechtspflege ist, daß man nicht weiß, ob man sich mehr über die richtige oder über die falsche Anwendung des Gesetzes entrüsten soll« (F 163, 9). 75 Müller-Dietz, in: Müller-Dietz, S. 371. 76 Von Belang ist hier die Tatsache, dass der redaktionelle Teil der damaligen Massenblätter »fast nur aus Gerichtsberichterstattung bestanden und als Lockmittel für den kommerziellen Anzeigenteil gedient hat.« – s. dazu Müller-Dietz, in: Müller-Dietz, S. 371.
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Ehebrecherin einseitig schwer bestraft und ihr Privatleben zur Befriedigung des skandalsüchtigen Publikums angeprangert wurde, während man die Misshandlung durch ihren Ehemann stillschweigend übersah. Diese Begünstigung des betreffenden Ehemanns schreibt er der Sachlage zu, dass sowohl die Journalistik als auch die Rechtspflege »der brutalen Männermoral unserer Tage« (F 115, 22) untergeordnet sei. Dagegen behauptet er die »Unverträglichkeit« (F 115, 23) von Sittlichkeit und Kriminalität und setzt sich für einen »Verstand« (F 115, 7) ein, der folgenden Wertmaßstab anerkennt: Das »Rechtsgut der Sittlichkeit« ist ein Phantom. Mit der »Moral« hat die criminelle nichts, hat nur die Gerichtsbarkeit des Bezirksklatsches zu schaffen. Was die Justiz hier erreichen kann, ist der Schutz der Wehrlosigkeit, der Unmündlichkeit und der Gesundheit. Auf diese noch arg verwahrlosten Rechtsgüter werfe sich die Sorge, die heute das Privatleben von staatswegen belästigt. (F 115, 7 f.)
Nach Kraus durften Moral bzw. Sittlichkeit nicht dem »Rechtsgut« zugeordnet werden. Von dieser Opposition gegen das moralisierte Strafgesetz leitete er auch die Forderung her, dass der intime Bereich des Sexuallebens nie unter die Kontrolle der Justiz fallen dürfe. Wo dieses Prinzip übertreten wurde, sah er verkehrte Ergebnisse: Die Zudringlichkeit einer Justiz, die die Beziehungen der Geschlechter reglementiert, hat stets noch entweder der ärgsten Unmoral, die vom Strafgesetz nicht zu fassen ist, oder schweren Vergehungen und Verbrechen Vorschub geleistet. (F 115, 8)
Gemeint ist hier z. B. jenes vorgebliche Verbot der Prostitution im damaligen Wien, das hintergründig die als Laster zu betrachtenden Phänomene wie Erpressung oder Krankheitsansteckung nicht vermindert, sondern vielmehr befördert habe. Reinhard Merkel bemerkt, dass diese Kritik Kraus’ an dem bestehenden Strafgesetz sowie an der heuchlerischen ›Doppelmoral‹ im Zeichen der liberalen Strafgesetzreform stand.77 Es geht jedoch zu weit, mit Merkel zu behaupten, Kraus habe in diesem Fall seine satirische Kunst nur dazu benutzt, das damalige mangelhafte Strafgesetz zu komplementieren.78 Auch hier stellt er hohe literarische Ansprüche. So hat er das Bild vom Pressedienst als einer »Prostitution der Feder«, die weit minderwertiger und strafbarer sei als die »Prostitution des Leibes« (F 143, 9), mehrfach variiert. Oder er leitet »Erpressung« mit einer rhetorischen figura etymologica von »Presse« her (F 159, 7). Dieser literarische Anspruch gibt sich auch da zu erkennen, wo er seinem Essay ›Sittlichkeit und Kriminalität‹ mehrere Stellen aus Shakespeares König Lear und Maß für Maß als Mottos voranstellt, um deren Inhalt mit dem zeitgenössischen Geschehen in Parallele zu setzen (F 115, 1 f.). Vor allem 77
Merkel, S. 232. s. Merkel, S. 360 f. Bei seiner These beruft sich Merkel auf Lichtenbergs Definition der Satire als »Complement der Gesetze« sowie Schillers Bestimmung der »strafenden Satire« (S. 318 ff.). Vgl. dazu C. III. 1. 78
III. Die Sprache als Gewalt
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hat er bezeichnenderweise schon 1903, als sein Interesse für die Strafgesetzgebung auffällig zunahm, anlässlich der Veröffentlichung von zwei Gedichten Frank Wedek inds in der Fackel, sein Programm so erklärt: Die ›Fackel‹ will öfter, als sie’s bisher tat, dem literarischen Ausdruck starker, dem Philisterverständnis unbequemer und durch Cliquengunst nicht entwerteter Persönlichkeiten ein Plätzchen gönnen. (F 143, 26)
Infolgedessen waren da zunehmend Beiträge von Peter Altenberg, Strindberg, Heinrich Mann, Lasker-Schüler u. a. zu lesen. Hier können wir feststellen, dass sich Kraus damals nach seiner »sozialethischen Periode« wieder explizit dem Bereich der modernen Literatur genähert hat. In deren Tradition hat sich ja eine »eigene Moralität« entwickelt, die sich »[…] stolz von der bürgerlichen abheb[e], auch und gerade wenn letztere die ästhetische Moralität mit Prozessen und Unsittlichkeitsnachweisen verfolg[e]«.79 Was das zentrale Thema in diesem Strom betrifft, müssen wir beachten, dass damals die »[…] »sexuelle Frage« zur Frage nach dem Stellenwert des Weiblichen in der Kultur überhaupt angewachsen«80 war. Die Zeit der heftigen Auseinandersetzung über die »Judenfrage« war auch die Zeit der Frage nach dem Geschlechtscharakter der Frau, mit der sich bis 1911 außer Kraus fast alle Fackel-Beiträger beschäftigten. Als sich Kraus auch der Frage über das Weibliche zuzuwenden begann, wurde, so Kraus ironisch, »der moralische Niedergang der ›Fackel‹« zu einer »Tatsache«, »die sich nicht mehr verschleiern« lasse: »[…] mein Kampfesmut nahm eine bedenklich ästhetische Wendung« (F 185, 1). Kraus distanzierte sich auch von seinen antikorruptionistischen Anhängern und kritisierte an »[…] dem häßlichen Undank der Wiener Öffentlichkeit, die mir hundertmal bewiesen hat, daß sie am Kampf bloß den Lärm, an der Enthüllung bloß den Skandal liebt und für den Aufwand ethischen Ernstes und stilistischer Kraft nicht das geringste Verständnis hat« (F 185, 7 f.). Trotzdem war diese erneute Einstellung für ihn keine Änderung seines eigentlichen Programms: Ästhetischer Sinn hat vor der sittlichen Entrüstung Recht und Anteil an der Ergründung von »Übelständen«. Er blickt tiefer und gibt auch der flüchtigen Erscheinung die Perspektive auf Ewiges. (F 185, 8) Ich schmeichle mir, ein genug objektiver publizistischer Richter zu sein, um ein Justizverbrechen trotz solcher Erfahrung zu verurteilen. (F 186, 20)
Er versuchte demnach eine Metaposition zu beziehen, von der aus er an der bestehenden Justiz Kritik üben konnte, und zwar seinerseits auf juristische Weise. Schon in dieser Hinsicht können wir nicht annehmen, dass seine Verteidigung der strafgesetzlich verurteilten Frauen ein bloßes »Komplement« für das Strafgesetz dargestellt hätte. Im Essay ›Sittlichkeit und Kriminalität‹ forderte er, dass »neben der irdischen Gewalt, die straft, auch dem Vertreter der überirdischen, die zuspricht, Spielraum bleibe« (F 115, 6). Im einleitenden Vortrag zur privaten Auf 79
Vietta / Kemper, in: Vietta / Kemper, Dirk, S. 27. Wagner, S. 8.
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führung der Wedekindschen Büchse der Pandora, die er 1905 selber veranstaltete, lobte Kraus außerdem »eine vollendete Ehrenrettung der Unmoral« (Bd. 3, 20), die er als Wedekinds Leistung ansah. b) Das Hineinspielen der Sprache in die Geschlechterfrage Die Öffnung der ›Büchse der Pandora‹, was metaphorisch auf den damaligen Aufschwung der ›sexuellen Frage‹ in verschiedenen Bereichen anspielt, bedeutete für Kraus kein eindeutiges Unheil: »Daß der Freudenquell in dieser engen Welt zur Pandorabüchse werden muß: diesem unendlichen Bedauern scheint mir die Dichtung entstammen« (Bd. 3, 20). Es kommt ihm schließlich auch hier auf die »Dichtung« an. So stellt Kraus das verkehrte Ergebnis einer naturwidrigen Anwendung des moralisierenden Strafgesetzes in einen Zusammenhang mit der Sprachproblematik. Er hat z. B. eine Frau Hervay verteidigt, die wegen einer Doppelehe angeklagt und publizistisch angeprangert wurde und deren Mann, ein Beamter, sich wegen dieses Skandals ums Leben brachte. Dabei weist er auf das im Gesetzartikel gebrauchte altlateinische Wort »Bigamie«, das Doppelehe bezeichnet, ironisch hin: »Die Gegensätzlichkeit zwischen der Pathetik der Namen und der Erbärmlichkeit der Dinge ist der humoristische Grundzug unseres Strafrechts« (F 168, 5). Darüber hinaus findet er die »Kluft zwischen kleiner Ursache und großer Wirkung« durch »Moralheuchelei« und »Feigheit einer Presse« überbrückt, die dafür sorgen sollten, »daß die sexuelle Verfehlung, deren einer angeklagt ist, nicht beim richtigen Namen genannt werde« (F 200, 1 f.). Zu solch einer »sexuellen Heuchelei« gehöre etwa die Tendenz, »von den ›geheimen‹ Krankheiten« (F 165, 10) zu sprechen. Solche Beispiele verdeutlichen nicht nur, was für Diskrepanzen zwischen dem publizistischen bzw. juristischen Wort und seinem Gegenstand bestanden, sondern, wie die geschlechtlichen »Vergehen, die in anderen Himmelsstrichen keine sind« (F 200, 1), unter der Kontrolle der Presse- sowie Gerichtssprache ins Verbrechen kategorisiert werden mussten. In diesem Sinne geht es hier um die Sprache als Gewalt, die ein vermeintliches Verbrechen erst zu einem echten macht. Es ist dieser Punkt, in dem sich das Problem der Sexualjustiz unter der theatralen Perspektive mit der Judenfrage deckt, deren Kern Kraus im Scheincharakter der rassischen Identität sah81: Hier wird das Primat des Männ 81 Bei seinem Vergleich der Berichte über den Prozess gegen Frau Hervay sowohl in den jüdischen als auch antisemitischen Pressen kommentiert Kraus z. B. das Wort »Arier«: »[…] ohne Anführungszeichen sollte das dumme Wort nicht mehr gebraucht werden« (F 168, 17). Die Theatralität publizistischer Verkehrtheit wird in der folgenden Bemerkung thematisiert: »Die antisociale Tendenz der Journaille muß sich nachgerade auch dem blödesten Auge offenbaren. Dort zumal, wo das Missverhältnis zwischen Ursache und Wirkung, zwischen Scriblerlaune und Gefährdung von Existenzen am crassesten ist: auf dem Gebiete des Bühnenwesens« (F 133, 1). Das Wort »Journaille«, französierende Neubildung nach ›Kanaille‹ am Anfang des 20. Jhs., bedeutet »verantwortungslose, sensationshungrige, verleumderische Tagespresse sowie die Gesamtheit der in dieser Art tätigen Journalisten« (Pfeiffer, S. 764).
III. Die Sprache als Gewalt
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lichen unterlaufen und dementsprechend das Weibliche positiv umgewertet; eine Sprache, in der die geschlechtliche Hierarchie als etwas Selbstverständliches zum Ausdruck kommt, wird hinterfragt. Diesen Standpunkt Kraus’ dokumentiert die Endpassage des Essays ›Der Fall Hervay‹, in der er den Selbstmord des Ehemannes anders erklärt: … Ist der verführte deutsche Hans eine tragische Figur? Nicht als Opfer der Verführerin, wohl aber als das Opfer seiner Erziehung. […] Man hat ihnen die Medizin immer nur als Gift bezeichnet. Und so sterben sie an dem Glauben, vergiftet zu sein. Die Liebe darf ihre sozialen Ansprüche nicht enttäuschen; sonst brechen sie unter ihr zusammen. Zuerst glückliche Gefangene ihrer Sinne, beginnen sie sich plötzlich den Schlaf aus den Augen zu reiben, erinnern sich an die ethische Mission der Frau als Fortpflanzerin von Beamtengeschlechtern und verwünschen die holde Unorthographie der Frauenliebe, die da »genus« mit zwei s schreibt. (F 165, 12)
In Form einer Kritik an der Erziehung ist hier wiederum die »brutal[e] Männermoral unserer Tage« (F 115, 22) thematisiert, wobei es sich um das zweideutige, in diesem Punkt auch an Wagners Tristan und Isolde (1865) erinnernde »Medizin«Motiv handelt. Gleichzeitig ist impliziter Weise auch die Ungerechtigkeit behauptet, die Definition des Geschlechtlichen so weit zu vereinfachen, dass es auf die Fortpflanzung beschränkt wird. In diesem Punkt scheidet sich der Weg Kraus’ von dem Freuds und Nietzsches. Zwischen Freud und Kraus kam von 1904 bis 1908 eine Allianz zur Lostrennung des Geschlechtlichen vom Fortpflanzungsprinzip sowie zur Verteidigung seiner Mannigfaltigkeit zustande. Kraus teilte aber Freuds Neigung zu patriarchalischen Gedanken wie in dessen Ödipus-Theorie nicht.82 An Nietzsche erinnert Kraus’ ironische Bewunderung: »Oh über das Raffinement der christlichen Sündenlehre!« (Bd. 1, 185). Von Nietzsches Misogynie war er jedoch nicht beeinflusst. Vielmehr sah er die »Sinnlichkeit« bzw. »Sexualität« des Weibes und den »Geist« des Mannes als von Natur aus komplementäre Momente an: Fort mit der Schamhaftigkeit, die die körperliche und geistige Gesundheit der Völker seit fast zwei Jahrtausenden untergräbt! Auch die geistige. Denn die Natur hat dem Weib die Sinnlichkeit als den Urquell verliehen, an dem sich der Geist des Mannes Erneuerung hole. Die Gründer der Normen aber haben das Verhältnis der Geschlechter verkehrt, die habituelle Sexualität der Frau in die Konvention geschnürt und die funktionelle Sexualität des Mannes schrankenlos ausarten lassen. So ist die Anmut vertrocknet und der Geist. Der Frau sind Würde und Bewußtheit vorgeschrieben, dem Mann ein tierisches Sichausleben gestattet. Darum kanalisiert er den herrlichen Wildstrom weiblicher Sinnlichkeit für seine uninteressanten Bedürfnisse, und sein Gehirn geht leer dabei aus. Es gibt noch Sexualität in der Welt, sie ist aber nicht triumphierende Entfaltung einer Wesenheit, sondern die erbärmliche Entartung einer Nebenfunktion. Die Natur des Weibes ist geknebelt, und die Schweinerei des Mannes dominiert. Naturalia sunt turpia, und darum stehen die turpia im Flor. (F 211, 27 f.)
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s. dazu Timms, S. 163 ff.
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Aus diesem Verständnis über »das Verhältnis der Geschlechter«, auf dessen Verkehrung Kraus durch eine Umgestaltung des lateinischen Sprichwortes »Naturalia non sunt turpia« (das Natürliche ist nicht schändlich) anspielt, resultiert auch, dass er die sexuelle Emanzipation der Frau mit Elan unterstützt hat, obwohl er der sozialen Gleichberechtigung im feministischen Sinne nicht zustimmte. In seiner Reaktion auf Otto Weiningers Buch Geschlecht und Charakter (1903), die er in einem Aphorismus festgehalten hat, betont er außerdem, dass er »Frauenverehrer« und, wie er andeutet, ein »zur Erkenntnis der Anderswertigkeit des Weibes« aufgestiegener »Denker« sei (F 229, 14). Weiningers »Versuchung«, »verschiedene Werte mit dem gleichen intellektuellen und ethischen Maß zu messen«, konnte Kraus nicht zustimmen (F 229, 14). Diese Tatsache ist insofern bemerkenswert, als er zur Homosexualität eines Oscar Wilde ja eine eher wohlwollende Einstellung hatte. Mit dieser hängt nämlich ein künstlerisches Schaffensprinzip, das Kraus offensichtlich auch auf sich selber bezieht, zusammen. Er formuliert es, indem er nun ein neues Element der Geschlechtertheorie, die »Phantasie«, einführt: Das Weib kann Sinnlichkeit auch zum Weib führen. Den Mann die Phantasie auch zum Mann. Hetären und Künstler. »Normwidrig« ist der Mann, den Sinnlichkeit, das Weib, das Phantasie zum eigenen Geschlecht führt. Der Mann, der mit Phantasie auch zum Mann gelangt, steht höher als jener, den nur Sinnlichkeit zum Weib führt. Das Weib, das Sinnlichkeit auch zum Weib führt, höher, als jenes, das erst mit Phantasie zum Mann gelangt. Der Normwidrige kann Talente haben, nie eine Persönlichkeit sein. Der andere beweist seine Persönlichkeit schon in der »Perversität«. Das Gesetz aber wütet gegen Persönlichkeit und Natur, gegen Werte und Defekte. Es straft Sinnlichkeit, die das Vollweib zum Weib und den Vollmann zum Mann und das Halbweib zum Weib führt. (F 241, 3 f.)
Was hier in facettenreicher Variation thematisiert ist, können wir als die Schöpferkraft der Perversität auffassen. Dies widerlegt den Anschein, dass Kraus eine konservative Dichotomie zwischen Männlich-Geistigem und Weiblich-Sinnlichem beibehalten hätte. Die Rolle des Geistigen, das man dem Körper und dessen Wollust entgegenzusetzen pflegt, hat er zwar betont. Bei seiner Kritik am moralisierenden Gesetz z. B. befürwortet er den rationalen Wertmaßstab. Hier lobt er jedoch »Hetären und Künstler«, ohne einmal den »Geist« zu erwähnen. Außerdem schreibt er »das Mißverhältnis zwischen Tat und Strafe« bei der Sexualjustiz der »Phantasiearmut« (F 200, 1) zu und parallelisiert die Phantasie und die Sinnlichkeit auch da, wo er schreibt: »[…] die freie Sinnlichkeit des Weibes ist der volle Wert, durch den es die Natur entschädigt [habe], als sie dem Mann die Phantasie [gegeben habe]« (F 237, 22). Demnach scheint er nach seiner »ästhetischen Wendung« eine konträre Position eingenommen zu haben, bei der »die holde Unorthographie der Frauenliebe« gegen das bestehende Strafgesetz verteidigt werden konnte, wohingegen sich der Gegensatz zwischen den »Talenten« und »Persönlichkeiten«, deren literarischem Ausdruck die Fackel öfter »ein Plätzchen gönnen« (F 143, 26) wollte, verschärfte. Um diesen Sachverhalt zu erhellen, spüren wir nun seinem Gedankengang nach, durch den sich sein Selbstbewusstsein als Satiriker im engen Zusammenhang mit den bisher behandelten Themen entwickelt hat.
IV. Der Gedanke über den Stil
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IV. Der Gedanke über den Stil: Eine sowohl ethische als auch ästhetische Frage 1. Der Einfluss des Presse-Mediums auf die Situation der Satire Wir haben bisher Kraus’ frühere Arbeit vorwiegend unter dem inhaltlichen Aspekt der ›Sozialethik‹ betrachtet. Wie aber zahlreiche Wortspiele bereits gezeigt haben, stellen die formalen Elemente dieser Texte keine Nebensache dar, sondern sie haben vielmehr einen geradezu konstitutiven Charakter. Zum Gegenstand seiner Kritik gehörten z. B. schon von Anfang an auch die »Sprachschändungen und Gedankenlosigkeiten« der »Wiener Blätter« (F 11, 26), die er auch wortspielerisch »Stilblütenkranz« (F 42, 14) nannte und in der Sparte ›Antworten des Herausgebers‹, später in den ›Glossen‹, kritisch kommentiert hat. Seiner Angabe nach habe seine Feder manchmal eher »sogar auf die stilistischen Reize eines kleinen Übelstandes« reagiert als »auf die ethischen Forderungen eines größeren« (F 226, 23 f.). Gemeint sind hier z. B. bestimmte Formulierungen, »drollige Wendungen der Presse« (F 232 / 33, 13), die er auch mit Hilfe von Leserzuschriften gesammelt habe und kritisch kommentiere. Zum »Verständnis für die ethischen Ziele der ›Fackel‹«, so schreibt er über diesen Sachverhalt, »gesellt sich Gott sei Dank auch die Anerkennung ihrer ästhetischen Forderungen« (F 226, 24). Z. B. führt er eine Wendung eines Theaterreferenten der Neuen Freien Presse als Beispiel für eine Stilblüte an, wobei er die betreffende Stelle gesperrt drucken ließ: Eine Hundert-Guldennote in Zehn-Guldennoten umzuwechseln, bot geradezu unabsehbare Schwierigkeiten, e s s e i d e n n , dass der Besitzer geneigt gewesen wäre, seine Taschen mit hundert Silbergulden zu füllen. (F 53, 30)
Kraus macht hier auf die Diskrepanz, die zwischen der geschliffenen Wendung »es sei denn« und dem alltäglichen Thema liegt, aufmerksam. Er betont, solche Kommentare seien nicht »kleinlich«, weil es sich dabei darum handle, »die Schuld der Journalistik an der sprachlichen Uncultur, die über uns hereingebrochen ist, nachzuweisen«: Könnte man dies in einem Lande, dessen ganzes Geistesleben von der Tagespresse besorgt wird, besser als durch Citate aus dem führenden Blatt thun, dessen ethische wie formale Haltung dem Publicum noch immer eine Art Offenbarungsglauben einflößt? (F 53, 30)
Hier bemerken wir Kraus’ Vorhaben, »die literarische Bildung« (F 232 / 33, 7) der Neuen Freien Presse zu demaskieren: »Wenn unsere Presse sich als das gäbe, was sie wirklich ist, als Element der capitalistischen Weltordnung wohl sein muss, um wie viel besser stünde es um uns!« (F 28, 6). Im engen Zusammenhang damit müsse man außerdem beachten, dass in dieser Zeitung trotz ihrer Behauptung, »ein unverfälschtes Bild der Tagesgeschichte«83 zu liefern, mit der »Feuilleto 83
Neue Freie Presse, 1. September 1864, Nr. 1, S. 1. Zitiert nach: Wandruszka, in: Fischer, S. 231.
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A. Zwischen Publizistik und Bühne
nisierung« »fast aller Sparten« in Wirklichkeit das »Streben nach einem hohen literarischen und geistigen Niveau« einhergegangen sei: Jeder Redakteur und Mitarbeiter fühlte sich verpflichtet, durch womöglich fremdsprachige Zitate und Redewendungen seine umfassende Bildung zu erweisen, oder wo sie nicht vorhanden war, vorzutäuschen.84
Das Hauptmerkmal dieser Sachlage, aus der sich ein »Wirklichkeitsverlust des Lesers«85 und deshalb auch eine »Krise der bürgerlichen Öffentlichkeit«86 ergaben, war für Kraus nichts als die »Phrase«, die in Österreich »eine Großmacht« (F 11, 6) geworden sei. Sein Interesse an sprachlichen Details wie »Stilblüten« (F 195, 21, u. a.) können wir auch seinem Entwurf zuordnen, den er bekanntlich schon im Vorwort zur ersten Nummer der Fackel formuliert hat: »Was hier geplant wird, ist nichts als eine Trockenlegung des weiten Phrasensumpfes, den andere immerzu national abgrenzen möchten« (F 1, 1 f.). Den Grund jedoch, warum er dabei die Strategie der »Citate« (F 53, 30) angewandt hat, können wir auch mit seiner Erkenntnis der wegen des Presse-Mediums völlig geänderten Situation um die Satire in Verbindung bringen. Schon in einer frühen Schrift vor der Gründung der Fackel hat Kraus behauptet, heute erscheine »die seichte Ironisierung der Thatsache antiquirter als die Thatsache selbst« und deshalb solle zunächst »die eingewurzelte Phraseologie des Reporters und durch sie hindurch erst der Gegenstand getroffen werden.« (FS 1, 240 f.) Diese Notlage, die eine »unproductive, wiederholende Satire« (FS 1, 242) nach sich gezogen habe, hat er an einer anderen Stelle so beschrieben: Die großen und die kleinen Ereignisse, die uns seit einiger Zeit geboten werden, verrathen immer deutlicher die Tendenz, jedwede satyrische Nachhilfe überflüssig zu machen. […] Die Wirklichkeit hat den Humor in eigene Regie übernommen, verschwenderisch streut sie jene Wirkungen aus, welche ihr der Beobachter ehedem selbstthätig abgewinnen mußte, und dem Spott, der ihr auflauerte, liefert sie sich von selbst an den Hals. Es genügt heute in den meisten Fällen, die Thatsachen wörtlich und mit Quellenangabe zu citiren, und die Stenographen unserer Vertretungskörper haben sich zu beliebten Satyrikern entwickelt. (FS 2, 166)
Kraus fand in der »Wirklichkeit« schon einen vollendeten »Humor«, der keine Gestaltung durch den Satiriker mehr brauche. Weil aber dabei zumindest »die Thatsachen wörtlich und mit Quellenangabe« zitiert werden müssen, können wir verstehen, dass es sich hier um eine theatralische Art des Berichtens der Presse handelt, die als »Regie« wirkt. Zur Erläuterung seiner eigenen Beziehung zu diesen Verhältnissen beruft er sich später auf eine berühmte Juvenal-Stelle: Ich ringe nach Worten und bekenne wieder einmal die Ohnmacht satirischer Betrachtung, die sich vergebens müht, den grandiosen Humorcontrasten der Wirklichkeit literarischen 84
Wandruszka, S. 132. Lorenz, S. 29. 86 Rossbacher, S. 83. 85
IV. Der Gedanke über den Stil
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Ausdruck aufzuzwingen. Denn das difficile est satiram non scribere ist allemal eine hochmüthige Ausrede derer gewesen, denen es schwer fiel, eine Satire zu schreiben. Wo aber das Leben dem übertreibenden Humoristen nichts mehr übrig gelassen hat, wo es Pointen sprüht und Antithesen druckreif gestaltet, da ist alles andere leichter als eine Satire schreiben. Und so bleibt dem Unglücklichen, von dessen Temperament man’s dennoch erwartet und in dessen Antlitz man die jedem Ereignis entsprechende Hohnfalte sehen will, nichts übrig, als trocken zu erzählen, wie alles sich begeben hat. (F 118, 1)
Gleichzeitig sieht er jedoch trotz dieser Betonung der Ohnmacht sein Ziel, die »Leser« aufzuklären (F 118, 2), als »erreichbar« an. Demnach dürfen wir seine Ironie nicht übersehen, die hier durch eine tatsächlich »übertreibende« Diktion angedeutet ist. Das heißt aber auch, dass an dieser Schreibweise selbst etwas bemerkbar ist, was zur Leseraufklärung dienen sollte, ohne dass es deutlich gesagt würde. Kraus behandelt ein Thema, das zum Verständnis für diese Schreibweise aufschlussreich ist. Während er nämlich einerseits zugibt, dass er in Wien »zum Diener der Aktualität bestellt, zum abhängigsten Journalistendasein verurteilt« (F 232 / 33, 1) sei, verwahrt er sich andrerseits gegen diese Situation: »Ich bin nämlich Schriftsteller und nicht Aufdecker« (F 226, 23). Er hat sogar allgemeine Solidarität mit seinen Anhängern abgelehnt: Ich will nicht, daß die Talentlosigkeit mir zu Dank verpflichtet ist, und weise die in geheimen Circularen enthaltene Berufung auf die »Kampfschriftenliteratur«, die das Ansehen der ›Neuen Freien Presse‹ erschüttert habe, mit der Indignation des Missverstandenen zurück, der sich neben den Pflichten ethischer Säuberung auch ein Recht auf ästhetische Reinlichkeit gewahrt wissen will und der grimmiger als den Feind einen compromittierenden Bundesgenossen hasst. (F 118, 4 f.)
Die Unwissenheit über dieses Nebeneinander von ethischer und ästhetischer Richtung in seiner Tätigkeit, welches er hier offensichtlich für sich in Anspruch nimmt, schreibt er dem Glauben an seine »Skandalsucht« sowie einem »stoff liche[n] Interesse« (F 232 / 33, 44) bei den Lesern zu. Darüber hinaus weist er auf den primären Widerspruch hin, dass auch er ein Printmedium benutzt: Die ›Fackel‹ vermag gegen die corrosivische Gewalt der Druckerschwärze nur wieder mit Hilfe der Druckerschwärze anzukämpfen […] (F 122, 2)87
Doch betont er, dass es sich bei ihm nicht um ein Gewerbe handle: Wer so lange das Mißtrauen gegen Druckerschwärze gepredigt hat, mag es sich schließlich als persönlichsten Erfolg anrechnen, daß auch seine Meinung als geschwärzt verdächtigt wird. (F 185, 2)
87 Es ist bemerkenswert, dass Kraus diesen Widerspruch mit einer klassischen logischen Aporie ausführt: »Hat’s doch schon, wie ein alter logischer Witz zu erzählen weiß, einem Kreter nicht geholfen, zu versichern, dass alle Kreter lügen: mit solchem Einwand meiner Mühsal zu begegnen, ist gerade für die, die mir Aufklärung danken und die zum Ekel vor der periodischen Literatur endlich reif sind, verlockend, sobald diese oder jene Einzelheit ihren persönlichen Aerger weckte« (F 122, 2).
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Es sind diese immanenten Widersprüche, die 1905 bei seiner »ästhetischen Wendung« ersichtlich geworden sind. Daran anschließend hat er angefangen, Aphorismen in der Fackel zu veröffentlichen und seine Essays für die Buchausgabe umzuarbeiten. Was die literarischen Werke anderer Autoren anlangt, druckte er mehrmals Übersetzungen von kurzen Aufsätzen sowie von Aphorismen Oscar Wildes in der Fackel ab und hob besonders hervor, dass er in Wedekinds Büchse der Pandora eine »Sprache« entdeckt habe, welche die »verblüffendste Verbindung von individueller Charakteristik und aphoristischer Erhöhung darstell[e]« (F 182, 7). Charakteristisch für diese Vorliebe ist etwa die Absage an eine überladene, umständliche Schreibweise; dabei ist sein Grundsatz, »[…] daß man nicht den Eindruck der Vollständigkeit wecken [dürfe] und der Phantasie des Lesers noch reichlich Spielraum lassen [müsse]« (F 110, 10). Gleichzeitig wird der kurzen Form die Möglichkeit zugetraut, eine ernüchternde Gegenwirkung auf die Herrschaft der »orakelnden Pythia« (F 110, 10 f.) der Presse-Meldung auszuüben: »[…] man wird in Wien sehen, daß wirklich nur das bißchen Stil übrigbleibt, wenn das stoffliche Interesse des Tages verflogen ist« (F 232 / 33, 44). Hier kommt es mithin auf den »Stil« an, der infolge seiner Herkunft von dem lateinischen »stilus« im Sinne des Griffels zum Schreiben nach dem Mittelalter als »Schreibart« gegolten habe.88 Dementsprechend rekapituliert er, warum er seine »stilistische Unzulänglichkeit noch immer für berechtigt halte, Sprachkritik an der Tagespresse zu üben« (F 210, 28): Denn ich vertrete eine Sache, so gut ich kann, und trete für Form und Inhalt mit dem Namen eines Schriftstellers ein, der da er ein Mensch ist, irren kann und darf. Die Tagespresse aber gibt sich als Hort der Offenbarungen, und nur jener Suggestion der Unfehlbarkeit, die von der geheimnisvoll anonymen Macht auf die Gehirne ausgeht, gilt meine Kritik ethischer wie sprachlicher Korruption. Daß nicht alle Leser der ›Fackel‹ meine Ziele erfassen, führe ich auf die systematische Herabsetzung ihrer Fassungskraft durch die Tagespresse zurück, und auf die sprachliche Verlotterung durch die Reporterstilistik muß ich das geringe Verständnis für eine Schreibweise zurückführen, die sich in jeder Zeile um die Kongruenz von Form und Gedanken, um den restlosen Ausdruck der leisesten Begriffsschattierung bemüht. (F 210, 28)
Hier wird der Stil als ethische und zugleich ästhetische Angelegenheit an gesprochen. Der Presse werden ihre autoritäre Anonymisierung des Stils und die daraus resultierende »Suggestion der Unfehlbarkeit« als Kennzeichen einer ethischen Korruption vorgeworfen. Dagegen nimmt Kraus eine gewissenhaft sorgfältige »Schreibweise« und das Verständnis des Lesers dafür als gleichsam ästhetische Tugend in Schutz. Diesem Standpunkt entspricht auch der Anspruch auf das »stilistische Gepräge einer Persönlichkeit« (F 172, 10), das Kraus etwa bei einem Schriftsteller namens Julius Bauer vermisste. Diese Angewiesenheit auf die
88
Gauger, in: Stickel, S. 7, 9.
IV. Der Gedanke über den Stil
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Schriftlichkeit wird sogar zu einem gerichtlichen Kriterium erhoben, das der Motivierung der Fackel selbst zugrunde zu liegen scheint: Weil unser öffentlicher und mündlicher Strafprocess die Popularklage nicht kennt, habe ich ja zum Zwecke der ö f f e n t l i c h e n , s c h r i f t l i c h e n P o p u l a r k l a g e die ›Fackel‹ gegründet. (F 46, 20)
Die »Popularklagen« waren damals als »Forderungen oder Klagerechte« definiert, »deren Durchsetzung im Wege des Civ.Prz. erfolgt, obgleich sie nicht ein privates Recht des einzelnen, sondern ein gemeinsames Interesse aller Bürger geltend machen«.89 Diese Definition scheint in der Tat für viele Essays Kraus’ zu gelten, in denen es um die allgemeinen Probleme um die zersplitterte Öffentlichkeit geht. Diese »Klagen« hat er meistens gegen die Presse und in manchen Fällen auch gegen die Sexualjustiz selbst beim Metagericht der Fackel eingereicht, wobei bezeichnender Weise zum Prinzip der Mündlichkeit eine bewusste Distanz gewahrt wurde.90 Von seiner Beurteilung der Verbundenheit einer Person mit ihrem Stil wurde dabei nicht selten als Argument Gebrauch gemacht. Hier können wir eine radikalisierte Variation des Verständnisses von Stil finden, gemäß der bekannten Maxime »Le style, c’est l’homme même«.91 2. Die Polemik gegen Maximilian Harden als Ausgangspunkt von Kraus’ gezielter Sprachkritik Ein auffälliges Beispiel der oben genannten ›Gerichtsverhandlungen‹ ist die Polemik gegen Maximilian Harden. Die von diesem herausgegebene Berliner Zeitschrift Die Zukunft hat sich Kraus besonders in Hinsicht auf ihre »Auseinandersetzung mit den Korruptionisten der Presse«92 zwar zum Vorbild der Fackel genommen, aber schon in der zweiten Nummer der Fackel gegen Hardens Hochschätzung der stilistischen Züge der Wiener Presse gewendet. Dabei hat er den mit der »Persönlichkeit« semantisch verwandten Begriff »Charakter« in dessen abgeleiteter Form dem »Talent« entgegengesetzt: […] Berlin liegt uns nicht weiter als Ihnen Wien, und sollte nicht am Ende aus der gleichen Entfernung die Charakterlosigkeit wie Talent wirken? Oh, wir haben journalistische Dynastien, in denen sich dieses Talent in gerader und auch in ungerader Linie vererbt […]«. (F 2, 12)
Die Spannung zwischen ihnen verstärkte sich während Kraus’ Beschäftigung mit der Sexualjustiz. Für ihn blieb Hardens publizistische Bemühung, »[…] die Politik literaturfähig zu machen« bzw. »[…] der politischen Kritik durch metaphorische Umschreibungen zur Gleichberechtigung neben der literarischen Kritik 89
Holtzendorff, S. 90. s. dazu B. II. 3. a) sowie C. III. 3. a). 91 Buffon, Discours sur le Style. 92 Weller, S. 31, 343 ff. 90
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zu verhelfen«,93 unannehmbar, da er von der Presse vor allem deren »vorläufige Amerikanisierung« forderte, nämlich ihre »[…] Annoncierung der Käuflichkeit, die jeden Zweifel ausschließ[e] und das Offenbarungsmysterium der Druckerschwärze verscheuch[e]« (F 136, 18). Hinzu kam der Unterschied in der Auffassung der Geschlechterfragen: Harden wirkte bei Kraus’ Verteidigung der sexualmoralisch Verfolgten nicht mit, sondern versuchte vielmehr, den homosexuellen Skandal zwischen dem Grafen Eulenburg und Moltke zum Zweck seines politischen Angriffes gegen Kaiser Wilhelm II. zu nutzen.94 Diese Affäre, die Kraus »ein[en] Sieg der Information über die Kultur« (F 234 / 35, 78) nannte, war ausschlaggebend dafür, in dem umfangreichen Essay ›Maximilian Harden. Eine Erledigung‹ (1907) Harden schuldig zu sprechen: Ich bedarf keiner Information, um ein Bild der geistigen und sittlichen Verfassung des Herrn Maximilian Harden zu entwerfen. »Daß einer ein Mörder ist, beweist nichts gegen seinen Stil«: auf diesen Standpunkt einer absoluten Ästhetik darf sich ein Ethiker wie er nicht stellen. Ich gehe in der Schätzung stilistischer Vorzüge weiter und mache sie zum Maßstab moralischer Werte. Daß einer ein Mörder ist, muß nichts gegen seinen Stil beweisen. Aber der Stil kann beweisen, daß er ein Mörder ist! (F 234 / 35, 55)
Der »absolute[n] Ästhetik« wird hier das endgültige Vorrecht vor einer »relative[n] Ethik« (F 136, 18) eingeräumt, wie Kraus sie Harden zuschrieb. Was dabei unter »stilistischen Vorzügen« zu verstehen ist, können wir als das Potential des Stils auffassen, als Beweis für die »geistige und sittliche Verfassung« eines Schriftstellers zu fungieren, ganz abgesehen davon, welchen Inhalt er behandelt. Mit anderen Worten: Kraus hält das formale »Wie« des Satzes für wichtiger als das inhaltliche »Was«. Dieses Interesse für äußerliche Züge des Satzes, die außer der »Information« zu finden sind, zeigt sich auch an einer anderen Stelle: »Ich suche hinter der unscheinbarsten journalistischen Äußerung eine Physiognomie« (F 232 / 33, 2). Nach Gaugers Definition ist der Stil »nichts rein Sprachliches«, sogar »nicht einmal etwas primär Sprachliches«, weil dazu »drei Arten von Elementen« gehörten, nämlich inhaltliche, nicht-sprachlich formale und wirklich sprachliche. Zum »zweiten Element« führt er aus: »Nicht-sprachlich formale Elemente von Stil, die stark zu ihm beitragen, wären z. B.: Pathos, Feierlichkeit, Leichtigkeit, Tempo, Umständlichkeit und so fort.«95 Unter dieser Perspektive bemerken wir in der Tat, dass Kraus außer den inhaltlichen und sprachlich formalen Elementen auch das nicht-sprachlich Formale thematisiert. So heißt es z. B. von Hardens Stil:
93
Weller, S. 361, 365. Weller zufolge dachte Harden »in Bildern« und sein Stil, der »oft von Metaphern überladen, ja überfrachtet war«, wurde als »jiddischer Sprachbarock« bezeichnet (S. 361): »Seine Sprache hatte eine publizistische Doppelfunktion: formale Aufwertung der politischen Kritik und […] Ausübung eines permanenten Zwangs auf die Leser« (S. 367), die »eine schmale Oberschicht« (S. 362) bildeten. 94 s. dazu Weller, S. 105 ff. Harden habe »keine politische Grundkonzeption« gehabt, sei aber begeisterter »Bismarckianer« gewesen. 95 Gauger, in: Stickel, S. 20. Als »sprachlich« gelte dasjenige, das »Sprache, Sprachbesitz, ›langue‹« realisiere.
IV. Der Gedanke über den Stil
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In der literarischen Persönlichkeit lebt der Gedanke von der Form, und die Form vom Gedanken. In Herrn Harden vegetieren sie armselig nebeneinander, die Meinung fristet ihr Dasein von der kläglichen Gewissheit, daß sie die andern nicht hatten, und die unbestreitbare Eigenart des Ausdrucks besteht von Gnaden der Indolenz, mit der die deutsche Sprache im Zeitungsdienst jegliche Notzucht zu ertragen gelernt hat. (F 234 / 35, 57 f.)
Diese Auseinandersetzung mit der Stil-Problematik eröffnete eine neue Phase der Krausschen Arbeit, bei der das Thema der Sprache in den Vordergrund rückte. Wie können wir nun dieses Argument im Kontext der sprachkritischen Tradition charakterisieren? In ihrer Forschung zur Verbindung zwischen Sprach- und Pressekritik in der deutschsprachigen Literatur hat Johanna Bertsch auch Kraus in die Reihe der Autoren von Gustav Freytag bis Martin Walser eingeordnet und seine Beziehung zu den Wiener Feuilletonisten Ferdinand Kürnberger und Daniel Spitzer gezeigt. Diese hätten schon vor Kraus eine praktische Kritik an der phraseologischen Sprachkonvention der Presse geübt, nachdem sich die »Sprachkritik« im 19. Jahrhundert von der allgemeinen Sprachwissenschaft getrennt hatte, die vom Purismus der Sprachgesellschaften im 17. Jahrhundert herkam.96 Wir müssen aber Kraus insofern von seinen Vorläufern unterscheiden, als bei ihnen die Sprache weniger ein ethisches und ästhetisches als ein allgemein kulturelles und politisches Thema gewesen zu sein scheint. In diesem Punkt ist er vielmehr mit dem Sprachphilosophen Fritz Mauthner vergleichbar, der sich im Rahmen Kantischer Erkenntnistheorie mit dem Thema der Sprache leidenschaftlich beschäftigte, wobei es sich bei Mauthner auch um die »Macht« der Worte handelte.97 Wie Dieter Kimpel bemerkt hat, stand Kraus »dem transzendentalen sprachphilosophischen Ansatz« nicht fern, weil wir annehmen können, dass die Realität auch für ihn »immer schon eine sprachlich vermittelte« gewesen ist.98 Hier sind jedoch auch einige Unterschiede zu beachten, besonders der, dass Mauthner eine allgemeine Theorie der Sprachskepsis entwickelte, indem er, selbst Journalist, an der Presse nicht ihren konkreten Sprachgebrauch, sondern v. a. ihre Neigung zu »Wichtigtuerei« bzw. »Geschwätzigkeit« kritisierte.99 Diese unkritische Haltung dem eigenen Medium gegenüber war, wie im Kapitel A. II. gezeigt wurde, Jung-Wienern gemein, während Kraus bewusst einen sprachkritischen Standpunkt einnahm und sich auf Schopenhauer und Nietzsche als seine pressekritischen Vorgänger berief. Etwa schreibt er: »Schopenhauer würde die Kritik, welche die ›Fackel‹ zeitweise auch an der sprachlichen Gemeinheit der Zeitungen übt, gewiss nicht kleinlich finden. Eher aussichtslos« (F 136, 23). Er zitiert aus Schopenhauers Parerga und Paralipomena II (1851), in der dieser »die Verhunzung der Grammatik und des Geistes der Sprache durch nichtswürdige Tintenkleckser« heftig kritisiert hat (F 105, 25 f.).100 96
Bertsch, S. 17 ff., 40 ff., 56 ff. Mauthner, S. 151 ff. 98 Kraus (1972), S. 59. 99 Bertsch, S. 73. 100 s. dazu Schopenhauer, in: Löhneysen, S. 623. Was Nietzsche betrifft, zitiert Kraus aus dem Kapitel ›Vom Vorübergehen‹ im dritten Teil von Also sprach Zarathustra (1885), in dem die Presse angeprangert wird (F 110, 20). 97
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Kraus’ Verteidigung galt allerdings nicht nur der deutschen Sprache als einem Kulturschatz, sondern ebenso dem Publikum als dem Opfer der Pressesprache. Demnach besteht Kraus’ frühere Position im Bereich des Sprachdenkens darin, dass er sich mit der Sprache als ethischem sowie ästhetischem Thema im engen Zusammenhang mit den Problemen der Presse beschäftigt hat, wobei er weder in eine Sprachskepsis noch in einen, zumal misogynen, Kulturelitismus geriet. Nicht zu vergessen ist dabei freilich sein bewusster Gestaltungsversuch des satirischen Stils. Schon in der ersten Nummer der Fackel kommentiert er z. B. die Werke Julius Bauers: Sein Witz entspringt nicht dem launigen Erfassen einer Situation und gehört somit nicht auf die Scene; sein Witz entspringt aber auch keinem Gefühl, keinem Zorn, keiner Meinung – somit gehört er nicht auf Druckpapier. Herr Bauer wäre nicht einmal fähig, seine eigene Missgunst, mit der er jüngeren Gesellschaftswitzlingen begegnen soll, schriftstellerisch zu gestalten. (F 1, 18 f.)
Hier können wir Kraus’ Stolz auf seinen eigenen witzigen Stil, der gleichzeitig zur »Szene« und zum »Druckpapier« gehören solle, schon in indirekter Weise formuliert finden. Dieses Konzept des Stils war zwar anspruchsvoll, dies jedoch in einem anderen Sinne als bei Harden, der auch Schauspieler-Redner war,101 sowie als bei Bahr, der seine Ansicht über den Stil so formuliert hat: Es ist die Pflicht des Stils, die Stammesangehörigen des Künstlers zu versammeln und im voraus die Fremden zu vertreiben, welche von einer anderen Rasse des Geistes und darum für ihn unverständige und unverständliche Barbaren sind, mit welchen er keine Gemeinschaft über welche er keine Gewalt haben kann.102
Zu diesem Verraten der Lust zur Herrschaft über das begrenzte Publikum bildet Kraus’ Erklärung des Pflichtgefühls zur Aufklärung für die Öffentlichkeit einen auffälligen Kontrast: »Um in solchen Schlachten zu bestehen, muß die Menschheit lernen, sich über den Journalismus zu informieren« (F 234 / 35, 78). Im Folgenden untersuchen wir nun, in welcher Weise seine ethischen und ästhetischen Gedanken über den Stil zu seiner berühmten Kritik an Heinrich Heine geführt haben.
101 Maximilian Harden war ein Mitarbeiter von Otto Brahm, dem Begründer der Berliner ›Freien Bühne‹, und früher selber Schauspieler, dann einer der einflussreichsten Theaterkritiker in Berlin. Darüber hinaus spricht man von Harden als einem »Mann der Pose« bzw. einem »Meister der rhetorischen Techniken«, der es verstanden habe, »mit schauspielerischer Suggestivkraft das Publikum ganz auf sich zu konzentrieren.« Für ihn seien Rede und Schrift »das Werkzeug der Staatsmannskunst« gewesen, wie das folgende Zitat von ihm zeige: »Worte bauen den Körper politischer Tat«. – s. dazu Weller, S. 61 f., 106. 102 Bahr, in: Wunberg, S. 76.
B. Kritische Übernahme von Techniken Heinrich Heines I. Vorstufen der Entstehung von ›Heine und die Folgen‹ 1. Der Heine-Essay als herausforderndes Manifest Nach seiner »ästhetische[n] Wendung« veröffentlichte Kraus in der Fackel immer mehr kultur- sowie literaturkritische Essays. Im Essay ›Die chinesische Mauer‹ von 1909, der seinem zweiten Essayband von 1910 den Titel lieh, behandelte er z. B. rassistische Tendenzen in der Reaktion auf den Mord einer weißen Frau durch einen chinesischen Mann in New York und verspottete dabei die »große chinesische Mauer der abendländischen Moral« (Bd. 2, 292). Im gleichen Jahr lobte er im Essay ›Peter Altenberg‹ die »künstlerisch[e] Natur« (Bd. 2, 188) dieses Dichters, während er z. B. im Essay ›Literatur‹ an der »Geistlosigkeit« (Bd. 3, 42) in feuilletonistischer Literaturkritik und im Essay ›Schrecken der Unsterblichkeit‹ an der phrasenhaften Banalisierung Schillerscher Sentenzen Kritik übte. Der Essay ›Heine und die Folgen‹ (im Folgenden »Heine-Essay«) von 1910 nimmt nun in dieser neuen Orientierung eine besondere Position ein. Er ist vor allem in thematischer sowie formaler Hinsicht vielschichtig, auch deshalb, weil mehrere seiner Kernsätze aus Selbstzitaten bestehen. Zum einen kommen sie von den Aphorismen her, die er in der Fackel veröffentlicht und in seinem ersten Aphorismenband Sprüche und Widersprüche von 1909 aufgenommen hat, zum anderen von Essays wie ›Um Heine‹ von 1906, der eine Vorstufe zur Polemik gegen Maximilian Harden von 1907 bildet. Überdies wollte Kraus bei seiner ersten Lesung in Wien im Mai 1910 den Heine-Essay lesen, dessen Arbeitstitel »Gegen Heinrich Heine (Aphorismen zum Sprachproblem)« (F 300, Rückseite des Titelblattes) war.1 Entscheidend war aber, dass Kraus in diesem Essay seinen satirischen Vorgänger, der ja auch jüdischer Herkunft war, offen angriff, was eine Sensation auslöste. Seitdem gilt dieser polarisierende Essay als repräsentativ für Kraus’ Werk. Der Heine-Essay platzte jedoch in eine Situation hinein, in der im deutschen Sprachgebiet bereits überaus parteiische Debatten pro oder contra Heine geführt wurden. Einerseits wurde die Heine-Beliebtheit, die in Österreich beim 1
Kraus hat schon im Januar 1910 in Berlin, wohin überzusiedeln er damals plante, seine »Leseabende« angefangen. Eine Wiener Lesung wurde im Juni wiederholt. Der Heine-Essay wurde dann im November 1910 in München als Broschüre veröffentlicht und erst im September 1911 in der Fackel abgedruckt.
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B. Kritische Übernahme von Techniken Heinrich Heines
›Heine-Kult‹ der Kaiserin Elisabeth ihr frühes Beispiel fand, durch die vom Wiener Männergesangverein initiierte Debatte über die Errichtungswürdigkeit eines Heine-Denkmals im deutschsprachigen Raum auf ihren Höhepunkt geleitet.2 Andrerseits wurde auch die antisemitisch-deutschnationalistische Verleumdung Heines fortgesetzt. Aus Anlass des 50. Todestages des Dichters 1906 schrieb Adolf Bartels seine Schmähschrift Heinrich Heine, auch ein Denkmal.3 Dieser Zwiespalt verschärfte sich besonders in Wien als dem »Assimilationszentrum«4 der Juden in eine politische Richtung, weil Heine dort unter dem liberalen jüdischen Bürgertum als »der erste große jüdische Dichter in Deutschland« galt5 und in der Presse zahlreiche Artikel über ihn veröffentlicht wurden, unter denen es auch Max Nordaus Festschrift vom zionistischen Standpunkt aus gab.6 Der Name Heine war demnach in Wien schon zu sehr mit politischen Implikationen geladen, als dass der Heine-Essay neutral und sensationsfrei hätte akzeptiert werden können. In der früheren Phase wendete sich aber Kraus’ Kritik nicht gegen Heine, sondern hauptsächlich gegen den Diskurs über ihn in der liberalen Presse wie in der Neuen Freien Presse, in der Heine, so Kraus, etwa »als ein jüdisches NationalHeiligthum vertheidigt« (F 45, 22) werde. António Sousa Ribeiro fasst dies prägnant so zusammen: Es ist sehr bezeichnend, daß die Erwähnungen Heines in den ersten Jahren der Fackel durchweg in den Zusammenhang der Auseinandersetzung mit der Heine-Rezeption gehören. Gegenstand der Polemik sind Heines Epigonen und die philiströse Heine-Verehrung der liberalen bürgerlichen Schichten; den Autor selbst streift die Kritik kaum. Im Gegenteil, er wird gegen seine Anhänger verteidigt – in den ersten Jahren wird die Kraussche Beschäftigung mit Heine durchaus noch von der Figur der Rettung beherrscht.7
Z. B. wehrt sich Kraus gegen die Etikettierung des Schriftstellers Julius Bauer als »Nachfolger Heinrich Heines« (F 1, 18) bzw. Rudolf Lothars als eines »Heine der Wiener Kritik« (F 193, 20). Ein Reklamegedicht »im Heine-Metrum« (F 60, 10) ist zwar schon 1900 spöttisch kommentiert und im Essay ›Um Heine‹ von 1906 ist ein Auftakt zur Kritik an Heine deutlich festzustellen, aber noch im gleichen Jahr, 1906, direkt nach der Zitation einer kritischen Bemerkung von Heine über Goethe, bemerkt Kraus in Klammern: »Nebenbei auch wehe dem, der so respektlos von Heine sprechen wollte« (F 208, 13). Kraus’ Äußerungen zu Heine bis Ende 1908 zeigen, dass seine Stellungnahme zu ihm längere Zeit von einer gespannten Ambivalenz bestimmt war. Es ist also zu fragen, worin die Umorientierung in Kraus’ Bewertung Heines zwischen 1908 und 1910 eigentlich bestand. Dabei ist freilich zu bedenken, dass 2
Goltschnigg, S. 40 ff. Ribeiro, in: Opitz, S. 104 sowie Peters, in: Peters, S. 119 ff. 4 Borries, S. 37. 5 Lensing, in: Gelber, S. 96. 6 Goltschnigg, S. 45 ff. 7 Ribeiro, in: Opitz, S. 103. 3
I. Vorstufen der Entstehung von ›Heine und die Folgen‹
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er mit der Veröffentlichung des Heine-Essays zugleich eine strategische Aktion plante. Das ›Nachwort‹ zu diesem Essay, das er der Fackel-Version als ›Vorwort‹ beifügte, fängt mit Sätzen an, in denen er sich hyperbolisch über das vorgebliche Misslingen seines Vorhabens beklagt: Die tiefste Bestätigung dessen, was in dieser Schrift gedacht und mit ihr getan ist, wurde ihr: sie fand keine Leser. Ein Gedrucktes, das zugleich ein Geschriebenes ist, findet keine. (Bd. 4, 211)
Es lässt sich also fragen, was in dem Heine-Essay »getan« werden sollte. Bemerkenswert ist, dass es der Krausschen Angabe nach der »Wille« dieser Schrift war, »Leser zu schaffen«: »[…] und das könnte ihr nur gelingen, wenn sie Leser findet« (Bd. 4, 213). Dieser »Wille« habe sich jedoch durch ihre Broschüreform nicht erfüllt, d. h. sie habe »den Jammer des deutschen Schrifttums« (Bd. 4, 213) aus getragen, um endlich in der Fackel gedruckt zu werden: »Hier, im vertrauten Kreis, wird sie wenigstens den Versuch machen, zu mehr tauben Ohren zu sprechen, als in der großen deutschen Öffentlichkeit zu haben sind« (Bd. 4, 213). Darüber hinaus schreibt er im Bericht über seinen zweiten »Wiener Leseabend«, zu dessen Programm wiederum der Heine-Essay gehörte: »Sie [Die Lesungen, Anm. d. Verf.] sollen der Verbreitung meiner Bücher dienen, die in Deutschland unbekannt sind und in Österreich als bekannt vorausgesetzt werden« (F 313 / 14, 47). Dieses für Kraus charakteristische Konzept eines Wechselspiels von Schreiben und Sprechen erhellt, dass er diesen Essay als eine Art Manifest aufgefasst hat. Er betont seine Unabhängigkeit: Diese Schrift indes, so weit entfernt von dem Verdacht, gegen Heine ungerecht zu sein, wie von dem Anspruch, ihm gerecht zu werden, ist kein literarischer Essay. (Bd. 4, 213)
Unter dieser Perspektive muss der Leser nicht nur »gefunden«, sondern erst »geschaffen« werden. Eine andere Passage des ›Nachwortes‹ zum Heine-Essay scheint solch eine Intention zur »Ausbildung« des Lesers zu belegen: Nicht eine Wertung Heine’scher Poesie, aber die Kritik einer Lebensform, in der ein für allemal alles Unschöpferische seinen Platz und sein glänzend elendes Auskommen gefunden hat, wurde hier gewagt. […] Hier ist irgendwie die Sprache von allem, was sie einzuwickeln verpflichtet wurde, gelöst, und ihr die Kraft, sich einen bessern Inhalt zu schaffen, zuerkannt. (Bd. 4, 214)
Der auf solch einem Selbstverständnis beruhende Heine-Essay hatte z. B. zur Folge, dass ihn Franz Pfemfert, Herausgeber der Berliner expressionistischen Zeitschrift Die Aktion, »eine böse Schrift« nannte, für die Adolf Bartels Beifall klatschen werde: »Als eine peinliche Provokation wird sie von denen empfunden werden, die Karl Kraus schätzen.«8 Darauf erwiderte Kraus: »Ich hab’s riskiert«9 und nahm mit Stolz dieses Risiko auf sich: »[…] wenn Herr Bartels eine 8
Zitiert nach dem Nachdruck in der Fackel Nr. 315 / 16, S. 50. Dieses Wort ist eine Anspielung auf den Wahlspruch des kämpferischen Humanisten Ulrich von Hutten: »Ich hab’s gewagt!« – s. dazu Büchmann, S. 70. 9
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B. Kritische Übernahme von Techniken Heinrich Heines
Zeile von meiner Heine-Schrift verstehen sollte, so ziehe ich sie ganz zurück« (F 315 / 16, 50). Hier zeigt sich, dass Kraus im Heine-Essay von seinem eigenen aufklärerischen Gesichtspunkt aus ein bewusst herausforderndes Gegenbild Heines darzubieten versuchte und dieses Vorhaben auf eine »Kraft« der Sprache begründete, die von jeglicher parteiischen Lektüre abweichen sollte. Nichtsdestoweniger ist die Rezeption dieses Essays immer wieder in die Werturteilsfrage, ob denn Kraus’ Bewertung Heines gerecht ist oder nicht, verwickelt gewesen. In ihrer ausschließlich auf diesen Essay konzentrierten Monographie versucht z. B. Mechthild Borries, der »künstlerische[n] und moralische[n] Diffamierung eines Schriftstellers durch einen anderen« zu widersprechen, und wirft Kraus sein »regressives« Denkverhalten vor, dem trotz aller »eklatante[n] gedankliche[n] Abweichungen« im Grunde »der den Revolutionär auszeichnende Plan einer progressiven Neuordnung« fehle.10 Mit einer derartig politideologisch motivierten Interpretation ist Dietmar Goltschniggs Monographie vergleichbar, in der Kraus ein »sozialpsychologisch[er] Mechanismus« des jüdischen Selbsthasses zugeschrieben wird: In seinem radikalen »Entjudungs«-Prozeß projizierte er [Kraus, Anm. d. Verf.] sein eigenes Judentum auf Heine. Mittels dieses advokatorischen Kniffs brauchte er dann, um den Juden in sich endgültig zu vernichten, auf dem Altar der Assimilation sich nicht selber zu opfern, sondern richtete stellvertretend sein – aller antisemitischen Verunglimpfung zum Trotz! – populäres alter ego, den verhaßten »Pariser Spottvogel«, hin und mit ihm auch sogleich dessen ganzes Werk.11
Die Arbeiten von Borries und Goltschnigg sind repräsentativ für die Verteidigung Heines gegen den für unrecht gehaltenen »Angriff« Kraus’. Nun ist für beide Arbeiten charakteristisch, dass die stilistischen Probleme des Heine-Essays lediglich am Rande, und zwar mit einer bezeichnenden Nonchalance, berücksichtigt werden. So schreibt Borries: Wir werden den Verdacht nicht los, daß sich Kraus des Stoffes Heine zuweilen nur bedient, um im Glanz des entfachten aphoristischen Feuerwerks seine verabsolutierte Sprachkritik vorzuführen. Was bleibt, das Gefühl, die Zauberkunststücke eines Wortvirtuosen erlebt zu haben, die man bestaunt und – vergißt.12
Bei Goltschnigg heißt es: Der suggestive Effekt dieses nahezu die ganze »Fackel« durchziehenden Strafprozesses beruht auf der brillanten Sprachkunst und der bestechenden, demagogischen, unverkennbar an Heine selber geschulten, polemischen Rhetorik, mit der die Angriffe vorgetragen wurden.13
10
Borries, S. 97, 99. Goltschnigg, S. 81 f. 12 Borries, S. 87. 13 Goltschnigg, S. 84. 11
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Die hier angedeuteten Probleme des Stils vom Heine-Essay verdienen aber eine genauso eingehende Untersuchung wie sein Inhalt. Wie erwähnt, stellt er einen Text dar, der sich vor allem durch seine äußerlichen Umstände, nämlich seinen Entstehungsprozess sowie seine Veröffentlichungsweise hervorhebt, wobei die Vermutung nahe liegt, dass sich die Brisanz dieses Essays seinem Charakter als Lesetext verdankt hat. Einen Anhaltspunkt zu diesem Problem können wir in einer Passage aus dem damaligen Bericht über den Vortrag des Heine-Essays in der Arbeiter Zeitung finden, den Kraus in der Fackel nachdruckte: Das alles trägt Kraus in einer Sprache vor, die von Geist und Witzen geradezu funkelt. Vielleicht zu sehr, als daß ein starker und sich einbohrender Eindruck entstehen könnte. […] Indem Kraus darauf verzichtet, dem Leser auch den gedanklichen Prozeß zu bieten, ihm nur das Ergebnis vorlegt, den Gedanken nicht beweist, sondern herrisch aufnötigt, zwingt er die Leser zwar in den Bann seiner Sprachkunst, entläßt sie aber ohne jenes tiefe Behagen, das sich nur beim Mitdenken, das auch ein Miterleben ist, einstellen kann. (F 303 / 04, 36)
Hier scheint die Ansicht Borries’ und Goltschniggs vorweggenommen zu sein, obwohl der Heine-Essay damals noch nicht gedruckt war. Es wird jedoch auf die Notwendigkeit hingewiesen, mit diesem Essay mitzudenken und dadurch etwas mitzuerleben. Was für eine Perspektive öffnet sich, wenn wir diese Aufgabe bei der Lektüre übernehmen? Im Folgenden wird versucht, diese Frage zu beantworten und dadurch das kritische Potential des Heine-Essays auszuloten. Dabei handelt es sich aber nicht um eine Verteidigung Kraus’. Untersucht werden soll vielmehr, auf welche »Kraft« der Sprache in der bisherigen Forschung immer wieder, wenn auch nur flüchtig, aufmerksam gemacht worden ist. Wir werden uns erst dann über die ideologische Voreingenommenheit diesem Text gegenüber hinweghelfen, wenn wir uns diese »Kraft« bewusst machen. Zu diesem Zweck scheinen die Kontextualisierung des Essays, die Goltschnigg zu Heines Verteidigung durchgeführt hat, oder die diskursanalytische Überprüfung zeitgenössischer Texte aus unterschiedlichen Bereichen, mit der Ruth Esterhammer Kraus’ Vorhaben Gerechtigkeit widerfahren lassen möchte, zwar in bestimmten Punkten eminent aufschlussreich zu sein, jedoch völlig unzulänglich zum Verständnis des Essays als eines literarischen Textes.14 Denn auch diese neueren Versuche der Annäherung an den Heine-Essay verfehlen seine Kraft der Sprach-Ebene, die zwar nicht deutlich zum Ausdruck kommt, aber im Stil einzelner Sätze nachspürbar ist. Wie später gezeigt wird, gilt dies besonders für die Stelle, an der die Sprache selbst mit der Sprache thematisiert wird. Diesem Wendepunkt Kraus’ zum »Sprachproblem« entsprachen außerdem einige bemerkenswerte Wendungen auf der biographischen Ebene in seinem Sozialsowie Privatleben. Im April 1911, fünf Monate nach der Veröffentlichung des 14 Unter der ›Kontextualisierung‹ des Heine-Essays wird eine chronologische Untersuchung der Fackel-Texte verstanden, in denen Kraus den Namen Heines explizite nennt (Goltschnigg, S. 17 ff.); s. dazu auch Esterhammer.
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B. Kritische Übernahme von Techniken Heinrich Heines
Heine-Essays in Broschürenform, ließ er sich heimlich katholisch taufen.15 Im Dezember des gleichen Jahres, drei Monate nach dem Abdruck des Heine-Essays in der Fackel, fing er an, alle Beiträge für diese Zeitschrift allein zu schreiben. Dieser Essay war die letzte längere Schrift, die er neben den Texten seiner Mitarbeiter in der Fackel veröffentlichte. Inzwischen veranstaltete er immer öfter Lesungen. Der Heine-Essay kennzeichnet in diesem Sinne offensichtlich eine bedeutende Übergangsphase im Krausschen Schaffen. Im Folgenden sollen die Vorstufen zum Heine-Essay untersucht werden. 2. Die Ästhetik der Wiener Moderne und Heines Stil Vier Jahre vor der Veröffentlichung des Heine-Essays nahm Kraus’ wachsendes Interesse an Heine schon im Essay ›Um Heine‹ vom März 1906 greifbare Gestalt an. Die Grundlinie dieses vorangehenden Essays wurde in der vorigen Nummer der Fackel verkündet, in der Kraus »die Wiener »Intellektuellen«« kritisch erwähnt, »[…] die sich im Fall Heine wirklich mehr für eine nationale als für eine Angelegenheit der Kunst erhitz[t]en« (F 198, 19 f.). Die Kritik an dieser »ganze[n] Armut liberaler Ästhetik« (F 199, 1) bildet tatsächlich das Hauptmotiv des Essays ›Um Heine‹. Kraus’ Distanzierung von der parteiischen Heine-Rezeption gilt aber auch der Opposition, die sich ebenfalls an der damaligen Debatte über die Frage eines Heine-Denkmals beteiligte. Im einleitenden Teil heißt es: Wie viel Unaufrichtigkeit und Kulturlosigkeit doch dieser Kampf um Heine in Aktion bringt! […] Man wird plötzlich gewahr, daß jene Fehler, die die Feinde an Heine tadeln, seine ureigentlichsten Vorzüge und daß jene Vorzüge, die die Freunde loben, seine ureigentlichsten Fehler sind. (F 199, 1 f.)
Diese chiastisch zugespitzte Bemerkung veranschaulicht eine politisch wertneutrale Stellungnahme zu Heine. Dagegen wendet er Heine als »dem Erzeuger eines Geschlechts pointenlausender Zierbengel, als dem Bereiter jener geistreichen Vorwände für schlechte Absichten« sein Augenmerk zu, für jene Absichten, die der »[…] literarische Aufputz der modernen Tagespresse darstell[e]« (F 199, 6). 16 Dementsprechend treten in diesem Essay poetologische Themen in den Vordergrund.
15 Der Architekt Adolf Loos war sein Taufpate. 1921 trat Kraus wegen der Unterstützung der Salzburger Kirche für Hofmannsthals und Reinhardts Theaterprojekt der konservativen katholisierenden, so genannten Salzburger Festspiele aus der Kirche aus. Näheres dazu s. E. III. 1. 16 Gemeint ist hier Heines journalistische Tätigkeit. Bekanntlich hat er zur Entfaltung des deutschen Feuilletons durch seine kulturpolitischen Berichte beigetragen und dadurch den geistreichen Plauderstil französischer Feuilletonisten wie Jules Janin und Saint-Beuve nach Deutschland vermittelt (s. dazu Drews, in: Weimar, S. 582 ff.). Am Einfluss Heines auf den deutschen Journalismus hat bereits 1858 Ludwig Philippson in der Allgemeinen Zeitung des Judentums Kritik geübt (s. dazu Lensing, in: Gelber, S. 96).
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Zuerst kommt das Problem der »Sangbarkeit eines Gedichtes«, die »stets ein Verdachtsgrund gegen seine Bedeutung als lyrisches Kunstwerk« (F 199, 2) gewesen sei: »Verschmäht es die Heine-Verehrung nicht, sich auf die Beliebtheit der Lorelei-Musik zu stützen? Dann ist am Ende Goethes: ›Füllest wieder Busch und Tal‹ oder ›Über allen Gipfeln …‹ schlechtere Lyrik als: ›Ich weiß nicht, was soll es bedeuten‹« (F 199, 2). Dieser antithetische Vergleich zwischen Goethe und Heine scheint zwar unter dem Einfluss des »im 19. wie noch im 20. Jahrhundert weithin herrschende[n] klassische[n] Kunstbegriff[s]« zu stehen, der »sich innerhalb der Heine-Wertung verhängnisvoll« ausgewirkt habe.17 Kraus begründet dann jedoch seinen »Vergleich[ ] zweier Standpunkte« (F 199, 2) wiederum antithetisch, wobei weniger die Treue zu »den Maßstäben der an idealistischer Ästhetik sich orientierenden Kriterien«18 als die Gültigkeit einer bestimmten Schreibart thematisiert wird: Wer die Seelenstimmung des Lyrikers auf der Suche nach Symbolen und Bildern und beim Anknüpfen von Beziehungen zur Außenwelt zu betreten wünscht, wird Heine für einen größeren Lyriker halten als Goethe, Lenau, Mörike, Storm, die Droste und Liliencron. Wer aber die andere, ich möchte sagen: die induktive Methode für die ausschließlich lyrische hält, wer das Gedicht als Offenbarung des im Anschauen der Natur versunkenen Dichters und nicht der im Anschauen des Dichters versunkenen Natur begreift, wird sich bescheiden, Heine als geistreichen und formgewandten Bekleider seiner Stimmungen zu schätzen. (F 199, 2 f.)
Diese Bejahung der »induktiven Methode« des Lyrikers sowie die darin implizierte Verneinung der »deduktiven Methode« bei Kraus können wir als Weiterführung von Kraus’ früherer Kritik an der ästhetizistischen Kunstauffassung etwa bei Hermann Bahr betrachten, bei der die »Außenwelt« auf den bloßen »Stoff des Künstlers« reduziert worden sei.19 Dieses Motiv wird in diesem Essay mit der Kritik an einer Schreibart in Verbindung gebracht, die als »das Einkleiden fertiger Stimmungen« (F 199, 3) bezeichnet wird. Hier taucht neben dem bei ihm von früh an behandelten allgemeinen Problem der Ästhetik erneut die Stilproblematik auf, mit der er sich schon in der Harden-Polemik intensiv befasst hat. Sein vorwiegend stilistisches Interesse zeigt sich schon an seiner Thematisierung der »Seelenstimmung des Lyrikers« bzw. der »Stimmungen« in HeineGedichten. Von seinem Standpunkt der »Affektpoetik« aus definiert Burkhard Meyer-Sickendiek die Stimmung als »längerfristige emotionale Tönungen des Erlebens, die sich nicht durch eindeutige Reiz-, Situations-, Tätigkeits- und Bedürfnisbezüge, sondern vielmehr durch repetitive und zum Teil unbewußte emotionale Prozesse auszeichnen«, und führt als Beispiel der dadurch geprägten Dichtung die
17
Borries, S. 16. Borries, S. 16. Als Maßstäbe werden genannt: »›Echtheit‹, ›Harmonie‹, ›Unmittelbarkeit‹, ›Reinheit der Gattungen‹ etc«. 19 s. dazu A. I. 2. 18
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Hofmannsthals u. a. im Gefolge der Romantik an.20 Diesen emotionalen Bestandteil der Dichtung können wir den »nicht-sprachlich formale[n] Elemente[n]« des Stils21 zuordnen. So gesehen, sind aus diesem Essay folgende Passagen auch als Ausdruck der Ansicht Kraus’ über den Stil herauszuheben: Erst Heines »echt jüdischer Zynismus und französelnde Frivolität« – mit denen er bekanntlich die lyrische Stimmung »zerreißt« – scheinen mir die Disharmonien zwischen dem Dichter und der Anschauungswelt in Wohlklang aufzulösen. (F 199, 3 f.) Der Witz, der blitzendem Denken den Donner des Temperaments verbindet, hat ihm nicht geeignet, dessen beispiellos graziöse Feder Pathos zu Tränen destilliert und den Humor zum Lächeln gedämpft hat. (F 199, 6)
Wendungen wie »beispiellos graziöse Feder«, »zu Tränen destilliert« oder »zum Lächeln gedämpft« charakterisieren die »schöne«, anmutige Schreibart, wogegen Ausdrücke wie »Disharmonien«, »blitzende[s] Denken«, »Donner des Temperaments«, »Pathos« und »Humor« die dynamisch-leidenschaftliche. Diesem antithetischen Vergleich entspricht darüber hinaus in der oben angeführten Passage der Gegensatz zwischen der Versunkenheit der Natur im Anschauen des Dichters und der Versunkenheit des Dichters im Anschauen der Natur: Jene lässt Kraus Heine als »geistreichen und formgewandten Bekleider« schon fertiger Stimmungen vertreten, diese anscheinend »Goethe, Lenau, Mörike, Storm, die Droste und Liliencron« (F 199, 3). Dieses Schema können wir jedoch nicht einfach auf den Kontrast zwischen der modernen feuilletonistischen Lyrik und der klassischen Erlebnis lyrik reduzieren. Denn es handelt sich hier auch um den Vergleich zweier grundverschiedener Arten der poetischen Sprache, nämlich darum, ob sie dem Dichter nur als passives Zeichen zur Verfügung steht oder ob sie an der dichterischen Gestaltung eines Inhalts aktiven Anteil nimmt. In diesem Sinne ist im Essay ›Um Heine‹ das »Sprachproblem« schon vorweggenommen. Über die damalige Heine-Mode im Allgemeinen berichtet Kraus in diesem Essay nicht immer in einem abwertenden Ton, sondern eher nüchtern: […] je höher in unseren Tagen die Wogen journalistischer Begeisterung schlagen, umso deutlicher wird das Bestreben, Heine als den Vater aller Feuilletongeister zu kompromittieren. (F 199, 5)
Im Vergleich zu »dem Konfetti-Stil einer Gedenkrede«, die Ludwig Hevesi, ein sehr einflussreicher Journalist, damals gehalten habe,22 behält er sich außerdem die negative Beurteilung Heinescher Prosa vor, die er als »die Übung eines stilistischen Bombenwerfers« bezeichnet, »[…] der der Urfeuilletonist in seinen persönlichsten Attacken nicht gewesen ist« (F 199, 5 f.) [Hervorhebung durch d. Verf.]. 20 Meyer-Sickendiek, S. 19, 22. Dem Autor nach begreife die Affektpoetik »literarische Gattungen, d. h. übergeordnete Textformen als Medien, in denen sich menschliche Affekte artikuliert, transformiert oder kanalisiert haben.« 21 s. dazu A. IV. 2. 22 Weiteres über Ludwig Hevesi s. B. I. 3. b).
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Schließlich wird Heine sogar der Verantwortung für seine eventuellen »Folgen« enthoben: Aber der Ahnherr hat’s nicht verschuldet, wenn wir die erschreckende Familienähnlichkeit plötzlich entdecken: In träumerischer Kaffeehausnische sitzt Jüngstdeutschland […] (F 199, 6)
Verspottet wird hier das Heine-Epigonentum, dessen Entstehung in Deutschland sich schon um 1830 der später »als ›Heinomanie‹ diffamierten Reproduzierbarkeit Heinescher Verse« verdankt habe.23 Gleichzeitig scheint hier aber auch die ohnmächtige Introvertiertheit karikiert zu sein, die Kraus bei den ästhetizistischen, aber auch kommerziell orientierten Jung-Wiener »Kaffeehausliteraten« fand. Deshalb ist es kein Wunder, dass es trotz aller Neutralität am Ende des Essays heißt: Sprechen wir trotzdem getrost den deutschen Philistern die Denkmalswürdigkeit im Fall Heine ab! Wir wollen nicht ungerecht gegen ihn werden, weil uns seine Grazie amora lischer Tugend heute im Zerrbild journalistischer Verkommenheit entgegentritt, weil seine künstlerischen Vorzüge an den Nachfolgern als sittliche Mängel wirken, an seinen künstlerischen Mängeln eine Generation schmarotzt, die noch immer unter Heines Tränen lächelt. (F 199, 6)
Kraus’ Kritik an Heine war demnach 1906 noch nicht gravierend, begann sich aber bereits zu verschärfen. In diesem Punkt zeigt sich am Essay ›Um Heine‹ Kraus’ Vorwegnahme der Heine-Bewertung der nachfolgenden Generationen ersichtlicher als am Heine-Essay. Adorno lokalisiert z. B. die so genannte »Wunde Heine« in dessen Gedichten, die als »prompte Mittler zwischen der Kunst und der sinnverlassenen Alltäglichkeit« bezeichnet werden.24 Der »Warencharakter« der Lyrik Heines sowie das damit zusammenhängende »Scheitern der jüdischen Emanzipation«25 bei ihm werden in Essays Kraus’ zumindest teilweise thematisiert. Eine auch gesellschaftliche Relevanz des Dichterischen, wie Heine sie in Frankreich kennen lernte und für Deutschland anstrebte, impliziert aber nicht nur die Annäherung der Lyrik an deren ›Verkäuflichkeit‹; darin war auch die Möglichkeit enthalten, zwischen der ästhetischen und der bürgerlich rationalen Moderne zu vermitteln. Dies ist eben ein Thema, das, von Adorno eher beiläufig erwähnt,26 von Habermas nachdrücklich erörtert wird, freilich ohne Hinweis auf Kraus: Heine entwickelt schon eine große Sensibilität für die durchs Medium der bürgerlichen Öffentlichkeit reflektierte, durch Tages- und Wochenpresse zugleich gebrochene und akzelerierte Wirkungsweise literarischer Produkte.27 23
Borries, S. 18. Adorno (1990), in: Tiedemann, Bd. 11, S. 96. 25 Adorno (1990), in: Tiedemann, Bd. 11, S. 97 f. 26 Adorno (1990), in: Tiedemann, Bd. 11, S. 96. 27 Habermas (1990), in: Habermas, S. 145 f. In dieser Abhandlung ist Kraus nur einmal in einer Fußnote erwähnt, und zwar als Verfasser seines Heine-Essays (S. 249). 24
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Hier führt Habermas ein positives Bild Heines vor, indem er auf eine geschichtliche Ebene der Heine-Problematik hinweist, in der Heine als potentieller Weg bereiter für einen neuen Typus des Intellektuellen in Deutschland angesehen werden kann. Heine wohnte dem Anbeginn einer neuen Epoche bei, in der Schriftsteller und Gelehrte sich an die Öffentlichkeit wandten, »[…] einige ihrer Werke mit politischen Wirkungsabsichten schon erzeugten, Worte als potentielle Taten verstanden«.28 Was hat dann Kraus zu seiner Verurteilung Heines geführt? 3. Der Streitpunkt. Das »Sprachproblem« bei zwei Satirikern a) Das Problem des Stils im Zusammenhang mit dem Schauspielerischen Bis Ende 1907 hat Kraus während seiner Beschäftigung mit dem Thema der Sexualjustiz und bei seiner Auseinandersetzung mit Harden seine ästhetisch-ethische Stil-Theorie entwickelt. In der zweiten Fackel-Nummer des Jahrgangs 1908, im Essay ›Maximilian Harden. Ein Nachruf‹, wurde Heine kritisch erwähnt: Bei Heine war mir die Kreuzung der lyrischen mit der satirischen Ader immer verdächtig […]. (F 242 / 43, 47)
Vier Monate später heißt es dann im Essay ›Girardi und Kainz‹ über den Journalisten und Dramatiker Bernhard Buchbinder und den Schauspieler und Dramatiker Johann Nestroy: Ich halte […] jenen für einen szenischen Handlungsgehilfen und diesen für den tiefsten satirischen Denker, den die Deutschen nach Lichtenberg gehabt haben (in seiner Nähe den Namen Heine zu nennen, empfinde ich als Blasphemie). (F 254, 5 f.)
An diesen beiden Textstellen zeigt sich deutlich, dass Kraus damals begann, Heines Werk in Beziehung auf die Satire zu thematisieren. Die letztere Passage ist auch darin bemerkenswert, dass hier die Entgegensetzung von ›Heine und Nestroy‹ erkennbar ist, die sowohl dem Heine-Essay von 1910 als auch dem als dessen Pendant anzusehenden Essay ›Nestroy und die Nachwelt‹ von 1912 zugrunde zu liegen scheint. In einem Aphorismus von 1908 wurde Heine jedoch als schriftstellerisches Gegenbeispiel zu Harden, wenn auch mit Vorbehalt, im positiven Sinne erwähnt. Es handelt sich dabei um einen Satz, den Harden »über die diplomatischen Fähig keiten« des Fürsten Philipp zu Eulenburg geschrieben hat (Bd. 8, 121), dessen homosexuelle Veranlagung er angriff: »Es fehlte ihm an Sitzfleisch und Ernst«
28
Habermas (1990), in: Habermas, S. 146.
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(F 256, 27).29 Kraus behauptet, dass hier Harden das Substantiv »Sitzfleisch« nur auf dessen metaphorischer Ebene im Sinne von der »Gelassenheit« gebrauchte und den Witz nicht wahrnahm, der auf der buchstäblichen Ebene zwischen dem »Sitzfleisch« und dem damit gepaarten Substantiv »Ernst« entstand, weil der Name eines sexuellen Partners von Eulenburg auch »Ernst« war. Dazu schreibt Kraus: »Hätte Heine diesen Satz geschrieben, so hätte er auch gleich hinzugefügt: natürlich nicht in jedem Sinne der Worte« (Bd. 8, 121).30 »Heine hätte den Witz gemacht oder er hätte wenigstens sofort gemerkt, daß der ernstgemeinte Satz ein Witz sei, was auf das nämliche schöpferische Verdienst hinausläuft« (Bd. 8, 121). Im Vergleich mit Harden wird hier Heine nicht nur eine relative Schätzung zuteil, sondern er scheint sogar mit Kraus selber beinahe identifiziert zu werden, wenn er über seine eigene Position so schreibt: Nun gibt es nichts, was das schriftstellerische Können empfindlicher bloßstellt als die Möglichkeit, im Leser Vorstellungen zu erzeugen, die man nicht bezweckt hat. Besser nicht zum Ausdruck bringen, was man meint, als zum Ausdruck bringen, was man nicht meint. Der Schriftsteller muß alle Gedankengänge kennen, die sein Wort eröffnen könnte. Er muß wissen, was mit seinem Wort geschieht. Je mehr Beziehungen dieses eingeht, um so größer die Kunst; aber es darf nicht Beziehungen eingehen, die dem Künstler verborgen bleiben. (Bd. 8, 121 f.)
Diese selbstbezügliche Bemerkung gewährt einen Einblick in die Frage, auf welch methodischem Bewusstsein Kraus’ Arbeit am Stil beruht, und auch, welch ein Widerspruch im Heine-Essay besteht. Kraus entwickelte seine Theorie nicht immer in Feindschaft gegen Heine, richtete sie jedoch letzten Endes kritisch gegen ihn. Ein ähnlicher Sachverhalt ist auch in einem Aphorismus zu finden, der ebenfalls 1908 veröffentlicht und in den Schlussteil des Heine-Essays aufgenommen wurde: Heine ist ein Moses, der mit dem Stab auf den Felsen der deutschen Sprache schlug. Aber Geschwindigkeit ist keine Zauberei, das Wasser floß nicht aus dem Felsen, sondern er hatte es mit der anderen Hand herangebracht, und es war eau de Cologne. (F 264 / 65, 19)
Ein halbes Jahr später vergleicht Kraus Stilisten seines Typs mit Moses und solche des Typs Harden mit einem auftrumpfenden ›Bildungsphilister‹.
29
In der Schriften-Ausgabe ist dieser an einigen Stellen abgeändert. Einige Sätze wurden hinzugefügt. Z. B. steht das Verb des hier zitierten Satzes im Präsens und erscheint Hardens Name nur als die Initiale »H« (Bd. 8, 121). 30 An diesen Satz anschließend bemerkt Kraus jedoch kritisch: »Es wäre eine niedrige Pointe gewesen, im Stil jener Niedrigkeiten gegen Platen, von denen man kaum begreifen kann, daß sie den literarischen Ruhm ihres Autors nicht erstickt haben« (Bd. 8, 121). Gemeint ist hier jene Anspielung Heines an der Homosexualität Platens, der über dessen jüdische Herkunft gespottet hatte. Im Heine-Essay werden Heine und Harden in ihrer Homophobie miteinander verbunden.
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B. Kritische Übernahme von Techniken Heinrich Heines Der eine schlägt auf den Fels der nüchternen Prosa, und Gedanken brechen hervor. Der andere schwelgt im Ziergarten seiner Lesefrüchte und in der üppigen Vegetation seiner Tropen. (F 279 / 80, 12)
In dem langen Aphorismus mit dem Titel »Stil«, aus dem die letztere Passage zitiert ist, wird Heine schon eindeutig negativ kommentiert, und zwar diesmal wegen seiner Beziehung zur Bildung, die mit der Hardens, der hier einfach »Publizist« genannt wird, verglichen wird. Kraus zufolge gehören beide zu den Literaten, denen »die Bildung nicht Material, sondern Selbstzweck« (F 279 / 80, 7) sei. Daraus resultiere »jene ästhetisierende Sucht« (F 279 / 80, 8), mit der Harden z. B. die »Balkanwirren« als »Hämuskomödie« umschrieben habe. So eine Tendenz nennt Kraus den »Fluch unserer Zeit«, denn […] die Erörterung von Balkanwirren ist eine Angelegenheit des täglichen Hausbrauches und hat mit der Kunst, also auch mit der Literatur als der Kunst des Wortes, nicht das geringste zu schaffen. Der Verschweinung des praktischen Lebens durch das Ornament, wie sie Adolf Loos nachgewiesen hat, entspricht jene Durchsetzung des Journalismus mit Geistelementen, die zu einer katastrophalen Verwirrung führt. (F 279 / 80, 8)
Der zweite Satz in dieser Passage wird in den Heine-Essay aufgenommen, in dem aber das Adjektiv »katastrophal« im Komparativ steht (Bd. 4, 188). An dieser kleinen Änderung können wir den gesteigerten Bedeutungsgrad dieses Motivs erkennen, welches auch im Drama Die letzten Tage der Menschheit im Mittelpunkt steht. Wie konsequent sich dieses Motiv bei Kraus behauptet hat, von den frühen Schriften über den Heine-Essay bis hin zu diesem Riesendrama, zeigen die daran anschließenden Sätze, in denen das frühere Ziel der Fackel, »eine Trockenlegung des weiten Phrasensumpfes« (F 1, 2), erneut herausgestellt wird: Die Phrase ist das Ornament des Geistes. Anstatt nun die Presse geistig trocken zu legen und die Säfte wieder der Literatur zuzuführen, aus der sie »gepresst«, der sie erpreßt wurden, steuert die demokratische Welt auf eine Renovierung des geistigen Zierrats hin. Die Phrase wird nicht abgeschafft, sondern in den Wiener Werkstätten des Geistes modernisiert. Feuilleton, Stimmungsbericht, Schmucknotiz – dem Pöbel bringt die Devise »Schmücke dein Heim!« auch die geistigen Schnörkel ins Haus. Ein halbes Jahrhundert lebten sie von Heine, aber dieser Zauberer, der der Talentlosigkeit zum Talent verhalf, steht nicht zu hoch über der Entwicklung, die er verschuldet hat. (F 279 / 80, 8)31
Darüber hinaus finden wir in diesem Aphorismus auch ein neues Motiv, das nun mit dem der Kritik an der Phrase als einem »Ornament des Geistes« deutlich verbunden ist. Als ein Beispiel des ornamentalen Stils von Harden zitiert Kraus dessen »Anruf« beim Tod des berühmten Berliner Schauspielers Adalbert Matkowsky: »›Freut euch und strählt die Miauzer!‹« (F 279 / 80, 9). Er kom mentiert: Welche Sprache ist das? Er will sagen, Matkowsky, der letzte Löwe sei tot, die anderen seien bloß Katzen. »Streichelt eure Katzen!« dem Publikum zuzurufen, dazu langt das 31
Diese Passage wurde in abgeänderter Form in den Heine-Essay aufgenommen (Bd. 4, 189).
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Temperament nicht; darum muß das Ornament helfen. »Strählt die Miauzer!« Es könnte als Schlagwort bleiben. Ein stilistischer Miauzer preist die Löwenkraft, ein Artist literarischer Mätzchen beschreibt die Urgewalt des größten Tragöden, ein publizistischer Kainz beklagt den Tod Matkowskys. (F 279 / 80, 9 f.)
Matkowsky war ein Schauspieler, dessen »Urkraft« und »vulkanisches Temperament« Kraus hoch schätzte, während er den Schauspieler Kainz »nervös« nannte und dessen »dünne […] Persönlichkeit« missbilligte (F 200, 18 f.). Nehmen wir nun an, dass die Termini »Temperament« sowie »Persönlichkeit« mitsamt »Charakter« zur gleichen semantischen Wortgruppe gehören,32 so zeigt sich, dass Kraus seine Kritik an Harden auch hier unter dem Gesichtspunkt übte, von dem aus der Akt des Schreibens mit dem der schauspielerischen Kunst zur Deckung gebracht wird. In dieser Perspektive können wir auch folgenden Aphorismus, in dem Kraus das aus Heines satirischem Versepos Atta Troll (1842) stammende Wort »Kein Talent, doch ein Charakter!«33 doppelt umformt, in einem theaterbezüglichen Sinne interpretieren, zumal er hier die Leute, an die er sich wendet, wie ein Redner selbst direkt anspricht: »Seit Heine wird nach dem Leisten: »Ein Talent, doch kein Charakter« geschustert. Oho, meine Herren, so fein unterscheiden wir nicht! Ein Talent, w e i l kein Charakter!« (F 266, 21).34 b) Der Künstlers als »Diener am Wort« Von 1908 bis 1910 schrieb Kraus noch mehrere Texte über Heine, aus denen er dann einige Stellen in den Heine-Essay einmontiert hat. Vieles davon gehört aber zu einem anderen Themenkreis als dem des Stils sowie dessen Beziehung zum Schauspielerischen. Bei diesen Aphorismen rückt das Schlüsselwort »Sprache« unmittelbar in den Vordergrund. Der folgende kann als ein repräsentatives Beispiel angesehen werden: »Heine hat das Höchste geschaffen, was mit der Sprache zu schaffen ist. Höher steht, was aus der Sprache geschaffen wird« (F 267 / 68, 41). Die hier andeutungsweise thematisierte, als auf die instrumentale Funktionalität unreduzierbar betrachtete Schöpfungskraft der Sprache selbst wird nun mit für Kraus charakteristischen erotischen Metaphern, die mit einer Personifizierung der Sprache zur Frau zusammenwirken, in einem anderen Aphorismus bildlich veranschaulicht: 32 Im Mittelpunkt steht dabei der Begriff »Persönlichkeit«, der etymologisch mit dem Schauspiel zusammenhängt; s. dazu D. IV. »Charakter« wird als »ein ethischer Begriff« angesehen, der traditionell »den Willensaspekt der Persönlichkeit« bedeute, während »Temperament« als »das subjektive Klima« definiert werde, »das von der angeborenen physiologischen und kinetischen Ausstattung bestimmt« sei; s. dazu Allport, S. 54 f. 33 s. dazu Heine, Atta Troll (Caput XXIV, V. 48) – s. Heine (1981), in: Briegleb, Bd. 1, S. 563. Dieses Wort selbst ist eine scherzhafte Nachbildung einer berühmten Sentenz aus Goethes Torquato Tasso: »Es bildet ein Talent sich in der Stille, / Sich ein Charakter in dem Strom der Welt« (V. 304 f.) – s. Goethe (1993), in: Borchmeyer/Huber, S. 576. 34 In den Schlussteil des Heine-Essays ist der letzte Satz dieses Aphorismus einmontiert, wobei »Talent« mit »Artist« gleichgesetzt wird (Bd. 4, 209).
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B. Kritische Übernahme von Techniken Heinrich Heines Ich beherrsche die Sprache nicht; aber die Sprache beherrscht mich vollkommen. Sie ist mir nicht die Dienerin meiner Gedanken. Ich lebe in einer Verbindung mit ihr, aus der ich Gedanken empfange, und sie kann mit mir machen, was sie will. Ich pariere ihr aufs Wort. Denn aus dem Wort springt mir der junge Gedanke entgegen und formt rückwirkend die Sprache, die ihn schuf. Solche Gnade der Gedankenträchtigkeit zwingt auf die Knie und macht allen Aufwand zitternder Sorgfalt zur Pflicht. Die Sprache ist eine Herrin der Gedanken, und wer das Verhältnis umzukehren vermag, dem macht sie sich im Hause nützlich, aber sie sperrt ihm den Schoß. (F 272 / 73, 48)
Dieser Aphorismus von 1909 steht im engen Zusammenhang mit dem folgenden von 1908: »Er beherrscht die deutsche Sprache – das gilt vom Kommis. Der Künstler ist ein Diener am Wort« (F 251 / 52, 44). In diesen Aphorismen erscheint der Name Heine nicht, jedoch in dem thematisch ähnlichen von 1909, in dem Heine endgültig die Schuld an seinen »Folgen« zugeschrieben wird: »Der Urquell des Übels bleibt jener Heine, der der deutschen Sprache so sehr das Mieder gelockert hat, daß heute alle Kommis an ihren Brüsten fingern können« (F 285 / 86, 49).35 Der berühmte, eben ausführlich zitierte Aphorismus über Kraus’ eigenes Verhältnis zur Sprache (F 272 / 73, 48) ist für uns in zweierlei Hinsicht von Belang. Erstens schließt jener Aphorismus, der auf diesen folgt und am Ende dieser Fackel-Nummer steht, den gesamten Heine-Essay ab. O markverzehrende Wonne der Spracherlebnisse! Die Gefahr des Wortes ist die Lust des Gedankens. Was bog dort um die Ecke? Noch nicht ersehen und schon geliebt! Ich stürze mich in dieses Abenteuer. (F 272 / 73, 48)
Zweitens. Das antithetische Satzpaar am Beginn (»Ich beherrsche die Sprache nicht; aber die Sprache beherrscht mich vollkommen.«) wurde, wie Kraus nachwies, von einem nicht namentlich genannten Literaten in dessen Nekrolog auf den durch Suizid verstorbenen, von Kraus selbst als »Sprachornamentiker« (F 298 / 99, 55) bezeichneten Ludwig Hevesi plagiiert, und zwar kurz vor der ersten offiziellen Lesung des Heine-Essays: »Er [Hevesi, Anm. d. Verf.] beherrschte die Sprache – nicht sie ihn« (F 298 / 99, 55). Dagegen erhob Kraus in der Glosse ›Herrscher, Diener und Diebe am Wort‹ Einwände. Mein Bekenntnis: »Ich beherrsche die Sprache nicht, aber die Sprache beherrscht mich vollkommen« (das schon in Berlin Verwirrung gestiftet hat), müssen ja die Reporter nicht verstehen, dürfen es für ein Armutszeugnis halten, das es auch tatsächlich vom Standpunkte des Fortkommens eines Kommis ist, von dem perfekte Beherrschung sogar mehrerer Sprachen verlangt wird. Aber dann sollen sie den, der den Satz gesagt hat, verachten und nicht den Satz sich für ihre Zwecke beibiegen. […] Beherrschen kann man viele Sprachen; dienen nur einer. (F 298 / 99, 55)
Diese »dienende« Beziehung zur Sprache nennt Kraus seine »Sprachreligion« (F 298 / 99, 55), um deren Ausführung willen er den Heine-Essay verfasst haben 35 Von der Glosse, aus der dieser Aphorismus stammt, wurden noch einige weitere Sätze in den Heine-Essay aufgenommen (Bd. 4, 190).
I. Vorstufen der Entstehung von ›Heine und die Folgen‹
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dürfte.36 In der Tat sträubt sich diese Sprachauffassung gegen das alltägliche Sprachverständnis; die Möglichkeit, die Sprache zu »beherrschen«, wird lediglich zu einer Angelegenheit von »Reportern«, von Leuten, die sich als ganz unabhängig vorkommen, ohne zu merken, dass sie nur Handlungsgehilfen (»Kommis«) sind, nämlich von journalistischen Nachfolgern Heines, erklärt und somit in Frage gestellt. Dagegen verpflichte sich Kraus als »Künstler« dazu, der Sprache sorgfältig zu »dienen«: Der »Diener am Wort« werde aber nicht nur einseitig von der Sprache als der »Herrin des Gedankens« unterworfen, sondern er gehe mit ihr ein erotisches Verhältnis ein, bei dem er den »Gedanken« und damit auch »Wonne«, »Lust« empfange. Hier wird der Akt des Schreibens metaphorisch je mit einem religiösen, gesellschaftlichen und erotischen verglichen, was eine Weiterentwicklung der Krausschen Sprachauffassung sowohl in ästhetischer als auch in ethischer Hinsicht bezeugt. Wenn Kraus jedoch das »Sprachproblem« unter so verschiedenen Aspekten in den Mittelpunkt rückt, wird das Bild des Dichters Heine derart vereinfacht, dass man den Eindruck einer Fiktion bekommt; dann sieht es fast aus, als hätte Heine allein die Probleme um die Wiener Presse verschuldet. Solch eine zuspitzende Art, an die Dinge heranzugehen, entspricht Waltraud Wende-Hohenbergers Bestimmung der Satire als eines »Darstellungsmodus der Literatur«, der »auf die Verzerrung der gesellschaftlichen Wirklichkeit« angelegt sei.37 Während der Satiriker im Allgemeinen mit Hilfe dieses Darstellungsmodus »[…] die als mangelhaft empfundene außersprachliche Wirklichkeit mit einem im Text realisierten fiktiven Ideal konfrontieren und kritisieren« könne,38 bezieht sich bei Kraus sowohl die »Wirklichkeit« als auch das »Ideal« auf die Sprache selbst. Unter dieser spezifischen Bedingung der im doppelten Sinne sprachbezüglichen Satire scheint Kraus einen bestimmten Aspekt der Problematik Heines, nämlich dessen Beziehung zur Sprache, hervorzuheben. In diesem Zusammenhang ist die Bemerkung Karlheinz Fingerhuts zu beachten, dass bei Heines Philister-, Typ-, Personal- und Politiksatire das Prinzip »Grausamkeit, aber verbunden mit Grazie« als »Stilideal einer Schreibweise« erkennbar sei, »die in die prosaische Gegenwart [passe], ohne ihre Bezüge zur poetisch-romantischen Vergangenheit zu leugnen«.39 Dagegen vertritt Kraus nach Helmut Arntzen einen Typ der Satire, den erst satirischer Stil und satirische Struktur konstituierten, wobei alles sich zum Stilelement schicke, »was den Widerspruch und die Negation in sich [trage] oder zu ihrem Ausdruck helfen [könne]«.40 Im Fall von Kraus scheinen schon seine Äußerungen über die sprachliche Arbeit insofern einen Widerspruch zu enthalten, als er schreibt, der Schriftsteller müsse alle durch sein Wort zu eröffnenden Gedankengänge ken 36
s. dazu Schick, S. 61. Wende-Hohenberger, in: Meid, S. 331. 38 Wende-Hohenberger, in: Meid, S. 332. 39 Fingerhut, S. 52. 40 Arntzen (1971), in: Arntzen, S. 159 f. Als solche »sehr allgemein« bestimmte Stilelemente werden hier u. a. genannt: Ironie, Parodie, Paradoxon, Witz, Pointierung, Wortspiel. 37
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B. Kritische Übernahme von Techniken Heinrich Heines
nen (Bd. 8, 122), während nach seinen Worten der Künstler doch »ein Diener am Wort« (F 251 / 52; 44) ist. Es muss nun untersucht werden, welche konkrete Theorie und Praxis Kraus im Heine-Essay sowie in damit zusammenhängenden Texten entwickelt hat.
II. Ausbruch aus der romantischen Ästhetik der Satire 1. Parallele Entwicklung der Heine-Kritik und des eigenen Stil-Diskurses In den einleitenden Sätzen des Heine-Essays kommen bereits einige zentrale Motive vor und sind stilistische Mittel eingesetzt, die diese Schrift insgesamt charakterisieren: Zwei Richtungen geistiger Unkultur: die Wehrlosigkeit vor dem Stoff und die Wehrlosigkeit vor der Form. Die eine erlebt in der Kunst nur das Stoffliche. Sie ist deutscher Herkunft. Die andere erlebt schon im Stoff das Künstlerische. Sie ist romanischer Herkunft. Der einen ist die Kunst ein Instrument; der andern ist das Leben ein Ornament. In welcher Hölle will der Künstler gebraten sein? (Bd. 4, 185)
Hier setzt Kraus seine Beschäftigung mit dem Problem des Stils in einem neu eingeführten antithetischen Schema fort, nach dem die Begriffe »Stoff« und »Form« verwendet werden, um Charakteristika der »deutschen« und der »romanischen« Kulturen einander antithetisch entgegenzusetzen. Das Provokative von negativen Bezeichnungen wie »geistige Unkultur«, »Hölle« wird noch übertroffen von der Antwort, die Kraus selbst auf die Frage »In welcher Hölle will der Künstler gebraten sein?« gibt: »Er möchte doch wohl unter den Deutschen wohnen« (Bd. 4, 185). Erst nach den Ausführungen zu diesem Problem, die den ganzen ersten Abschnitt füllen, wird Heine erwähnt, und zwar als »ein gefährlicher Vermittler« zwischen »Kunst und Leben« bzw. als »Parasit an beiden«, von dessen »groß[er] Erbschaft« der Journalismus »bis zum heutigen Tage leb[e]« (Bd. 4, 186). Von einer Kultur gestimmt, die im Lebensstoff schon alle Kunst erlebt, spielt er [Heine, Anm. d. Verf.] einer Kultur auf, die von der Kunst nur den stofflichen Reiz empfängt. Seine Dichtung wirkt aus dem romanischen Lebensgefühl in die deutsche Kunstanschauung. Und in dieser Bildung bietet sie das utile dulci, ornamentiert sie den deutschen Zweck mit dem französischen Geist. […] Und selbst im Stil der modernsten Impressionsjournalistik verleugnet sich das Heinesche Modell nicht. Ohne Heine kein Feuilleton. Das ist die Fran zosenkrankheit, die er uns eingeschleppt hat. (Bd. 4, 186)
Hier wird Heine die Schuld gegeben an einer – wie Kraus meint – Pervertierung des Horazischen »utile dulci«,41 und damit an jener sich immer mehr ausbreitenden Lockerung der »Moral des deutschen Sprachgefühls« (Bd. 4, 186), die 41
Horaz: De arte poetica (Das Buch von der Dichtkunst), V. 343; s. dazu Horaz, S. 250.
II. Ausbruch aus der romantischen Ästhetik der Satire
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er bei »Beobachter[n]« (Bd. 4, 190), »Ästhet[en]« (Bd. 4, 190; 193), »Reporter[n]« (Bd. 4, 191) und »Journalisten« (Bd. 4, 193) vorzufinden glaubt. Wenn Kraus hier lediglich auf der stilistischen Ebene argumentiert, ist schon hinreichend ersichtlich, was er für die »Folgen« Heines gehalten und worin er »die wahre Richtung des Angriffs« (Bd. 4, 213) gesehen hat. Außerdem legt diese allzu deutliche Lokalisierung des Problems erst recht nahe, dass Kraus die Wiener Presse unter einem äußerst kritischen Aspekt thematisiert hat.42 Diese gleichsam genealogische Zurückführung der Dominanz der feuille tonistischen Tendenz in der Wiener Presse auf ihren von Kraus behaupteten Ursprung in der Heineschen »romanisch« orientierten Schreibart wird jedoch nicht weiter präzisiert. Dadurch wird vielmehr die »Physiognomie« (F 232 / 33, 2) des journalistischen Stils noch konkreter gemacht, indem Kraus den Grund untersucht, warum »das Heinesche Modell« als »Trick« (Bd. 4, 187) bzw. als »Technik« (Bd. 4, 208) auf die kommenden »Talente« vererbt werden konnte. Er schreibt: Mit Paris nun hatte man nicht bloß den Stoff, sondern auch die Form gewonnen. Aber die Form, diese Form, die nur eine Enveloppe des Inhalts, nicht er selbst, die nur das Kleid zum Leib ist und nicht das Fleisch zum Geist, diese Form mußte nur einmal entdeckt werden, um für allemal da zu sein. Das hat Heinrich Heine besorgt, und dank ihm müssen sich die Herren nicht mehr selber nach Paris bemühen. (Bd. 4, 188)43
Hier können wir die »Wehrlosigkeit vor der Form« (Bd. 4, 185) exemplifiziert finden. Bei diesem Zustand handelt es sich, wie Kraus formuliert, um das »übersichtlich[e] Nebeneinander von Form und Inhalt, worin es keinen Zwist gibt und keine Einheit« (Bd. 4, 186). Die »Form« in diesem Sinne wird mit dem »Kleid« verglichen, das jeweils beliebig an- und ausgezogen werden kann. Demnach sind damit vor allem die phrasenhaften Wendungen der Presse gemeint.44 In einem späteren Aphorismus wird die Phrase mit einer ähnlichen Metapher charakterisiert: »Die Phrase ist das gestärkte Vorhemd vor einer Normalgesinnung, die nie gewechselt wird« (Bd. 8, 224). In diesem Satz ist die automatisierte Beziehung zwischen »Form« und »Inhalt« veranschaulicht, bei der immer derselbe, oft vorurteilsvolle Wortsinn durch immer üppigere, oft ›schönere‹ Formulierungen gegeben wird. Kraus wirft Heine sowie dessen Nachfolgern vor, die literarische Form, die nach seiner Ansicht eine deutliche Prägung durch eine »Persönlichkeit« tragen 42 Dementsprechend war die durchaus umstrittene Dichotomie »deutsch« / »romanisch« keineswegs definitiv gemeint. Dies belegt folgende Passage aus dem Aufsatz ›Zwischen den Lebensrichtungen‹ von 1917, den Kraus nach seinem Kriegserlebnis als ›Schlusswort‹ zum Heine-Essay verfasst hat: »Daß es nicht allein um ›deutsch-romanisch‹, sondern um ›deutschweltlich‹ geht, zeigt sich, indem die bunte Welt auf Farbe dringt« (Bd. 4, 219). 43 Ein Aphorismus bezieht sich auf ein verwandtes Thema: »Es gibt zwei Arten von Schriftstellern. Solche, die es sind, und solche, die es nicht sind. Bei den ersten gehören Inhalt und Form zusammen wie Seele und Leib, bei den zweiten passen Inhalt und Form zusammen wie Leib und Kleid« (Bd. 8, 111). 44 In Bezug auf überschwängliche Heine-Verehrung war schon vor dem Heine-Essay von »Stilblüten« die Rede. Z. B.: »Um aber wieder zum Grabe Heines zurückzukehren, das jetzt von berufeneren Händen mit Stilblüten bestreut wird […]« (F 46, 28).
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B. Kritische Übernahme von Techniken Heinrich Heines
muss, zu dem journalistischen Zweck zu missbrauchen, indem sie ein subjektives »Erlebnis« wie selbstverständlich »verallgemeinern« (Bd. 4, 190). Schließlich ist und war alle Verquickung des Geistigen mit dem Informatorischen, dieses Element des Journalismus, dieser Vorwand seiner Pläne, diese Ausrede seiner Gefahren, durch und durch heineisch – […]« (Bd. 4, 191)
Wichtiger als die Kritik an Heine war jedoch für Kraus die Kritik an den »Folgen« Heines, insbesondere an der immer stärkeren Ausbreitung dieser Tendenz durch die »Presse als eine soziale Einrichtung«: […] weit schändlicher als diese Aufführung der Literatur im Triumph dieses Raubzugs, weit gefährlicher als dies Attachement geistiger Autorität an die Schurkerei, ist deren Durchsetzung, deren Verbrämung mit dem Geist, den sie der Literatur abgezapft hat und den sie durch die lokalen Teile und alle andern Aborte der öffentlichen Meinung schleift. (Bd. 4, 189)
Für Kraus war Heine »ein Original«, »dessen Nachahmer besser sind« (Bd. 4, 193). Trotzdem erschöpft sich die Heine-Problematik bei Kraus keinesfalls in seinem wohlbekannten Anspruch, die Literatur gegen den Journalismus zu schützen und den letzteren im Namen der ersteren moralisch zu verurteilen. In seiner Beschäftigung mit dem Heineschen Stil, die den größten Teil des Heine-Essays ausmacht, können wir zugleich ex negativo etwas von seinen eigenen ästhetischen Prinzipien erkennen. Mit der Kritik an der zeitgenössischen Wiener Presse eng verbunden ist vor allem die negative Beurteilung der Lyrik Heines, die sich – im Vergleich mit ›Um Heine‹ – noch verschärft. »Was ist denn Lyrik im Heineschen Stil […]?«, so fragt Kraus in der Tat kurz vor einem längeren Selbstzitat aus diesem Essay und antwortet dann selbst: […] das ist Stimmung oder Meinung mit dem Hört! Hört! klingelnder Schellen. Diese Lyrik ist Melodie, so sehr, daß sie es notwendig hat, in Musik gesetzt zu werden. Und dieser Musik dankt sie mehr als der eignen ihr Glück beim Philister. (Bd. 4, 196)
Die so eingeschätzte Affinität der Lyrik von Heine zu »allem Komfort der Neuzeit« (Bd. 4, 193) wird nicht nur ihrer Musikalität, sondern auch ihrer semantischen Leichtfasslichkeit zugeschrieben: »Es ist in der Tat nichts anderes als ein skandierter Journalismus, der den Leser über seine Stimmungen auf dem Laufenden hält. Heine informiert immer und überdeutlich« (Bd. 4, 199). Diese Ansichten belegt Kraus diesmal mit mehreren Beispielversen v. a. aus Heines Gedichtbänden Buch der Lieder (1827) und den Neuen Gedichten (1844). Diese Stellen sind außerdem auch durch eine autobiographische Diktion charakterisiert, bei der das deiktische Personalpronomen »ich« am häufigsten in diesem Essay benutzt wird. Kraus distanziert sich dabei von der »pietätvoll[en]« (Bd. 4, 194) Heine-Beliebtheit unter der damaligen Jugend: Kein Autor hat die Revision so notwendig wie Heine, keiner verträgt sie so schlecht, keiner wird so sehr von allen holden Einbildungen gegen sie geschützt, wie Heine. Aber ich habe
II. Ausbruch aus der romantischen Ästhetik der Satire
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nur den Mut, sie zu empfehlen, weil ich sie selbst kaum notwendig hatte, weil ich Heine nicht erlebt habe in der Zeit, da ich ihn hätte überschätzen müssen. (Bd. 4, 194)45
Dieser Versuch einer »Revision« nimmt nun an Selbstreferenz in dem Maße zu, in dem Kraus zunehmend weniger die Liebesgedichte als die ironischen bzw. humoristischen Gedichte Heines bespricht. Da heißt es z. B.: […] Und wie die Sachlichkeit, so das Gefühl, so die Ironie: nichts unmittelbar, alles handgreiflich, aus jener zweiten Hand, die unmittelbar nur den Stoff begreift. Im Gestreichel der Stimmung, im Gekitzel des Witzes. (Bd. 4, 199) Lyrik und Satire – das Phänomen ihres Verbundenseins wird faßlich –: sie sind beide nicht da; sie treffen sich in der Fläche, nicht in der Tiefe. (Bd. 4, 200) Dieser Witz aber, in Vers und Prosa, ist ein asthmatischer Köter. Heine ist nicht imstande, seinen Humor auf die Höhe eines Pathos zu treiben und von dort hinunter zu jagen. Er präsentiert ihn, aber er kann ihm keinen Sprung zumuten. (Bd. 4, 201)
Von derartiger Kritik nimmt Kraus nur das Gedicht ›An die Engel‹ im Romanzero aus, weil da »wohl der beste Helfer«, nämlich »das Erlebnis des Sterbens«, »am Werke« gewesen sei, »um die Form Heines zur Gestalt zu steigern« (Bd. 4, 205). Auf diese gewiss an Spannungen reiche Annäherung Kraus’ an Heine folgt eine schroffe Auseinandersetzung, sobald er dessen Prosa thematisiert. Für ihn be deutet diese »Witz ohne Anschauung und Ansicht ohne Witz« (Bd. 4, 193). Als Quellen dienen nun Die Bäder von Lucca im 3. Teil der Reisebilder (1830) und Ludwig Börne. Eine Denkschrift (1840). Beim ersteren spottet Heine über Platens homosexuelle Veranlagung, was in der Sicht von Kraus eine Vorwegnahme des sensationslüsternen Verhaltens von Harden darstellt und »[…] allein dem stofflichen Interesse an den beteiligten Personen und dem noch stofflicheren Vergnügen an der angegriffenen Partie ihren Ruhm verdank[e]« (Bd. 4, 203). In diesem Fall können wir die »Wehrlosigkeit vor dem Stoff« (Bd. 4, 185) exemplifiziert finden. Zwischen solch einer Einstellung zum Erotischen und zum Stil bei Heine sieht Kraus charakteristischerweise, hier unter Hinweis auf den Schriftsteller Moritz G. Saphir, einen kausalen Zusammenhang: Schlechte Gesinnung kann nur schlechte Witze machen. Der Wortwitz, der die Kontrastwelten auf die kleinste Fläche drängt und darum der wertvollste sein kann, muß bei Heine ähnlich wie bei dem traurigen Saphir zum losen Kalauer werden, weil kein sittlicher Fonds die Deckung übernimmt. (Bd. 4, 203 f.)
45 Wegen ihrer Beliebtheit unter der Jugend wurde Heine übrigens mit Hofmannsthal verglichen: »Die Heine und Hofmannsthal erhalten sich eine Zeitlang, weil sie als Jugendliebe in den leeren Herzen jener Platz haben, die es [das Niveau, Anm. d. Verf.] ganz sicher noch besser treffen würden. […] Er [Hofmannsthal, Anm. d. Verf.] wird spüren, wie binnen einer Stunde heute gerade der veralten kann, dem der Mund von neuen Rhythmen übergeht« (F 351 / 53, 27 f.).
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B. Kritische Übernahme von Techniken Heinrich Heines
Welcher Stil zu erstreben ist, erläutert Kraus dann noch genauer, nachdem er auf einen Satz aus Heines Schrift gegen Börne angespielt hat: Auf Schritt und Tritt möchte man redigieren, verkürzen, vertiefen. […] Die Teile ohne Fassung, das Ganze ohne Komposition, jener kurze Atem, der in einem Absatz absetzen muß, als müßte er immer wieder sagen: so, und jetzt sprechen wir von etwas anderm. Wäre Heine zum Aphorismus fähig gewesen, zu dem ja der längste Atem gehört, er hätte auch hundert Seiten Polemik durchhalten können. (Bd. 4, 204)
Dass diese Abgrenzung von Heine das Konzept der eigenen Schreibart als positiven Gegenentwurf impliziert, tritt hier überdeutlich zutage. Bei solchen Passagen stellt sich ferner heraus, dass der Heine-Essay aus recht diversen Textsorten besteht und die Kritik an Heine demnach unter unterschiedlichen Aspekten und mit je unterschiedlicher Intensität erfolgt. Zumindest eine Parallelität können wir dabei erkennen: Einerseits dient diese Kritik an Heine einer weiteren Zuspitzung seines Angriffs auf die Wiener Presse, deren ethische Verwerflichkeit er schon an ihrem heineisierenden Stil aufzeigen will. Andrerseits impliziert sie bereits einige von Kraus’ eigenen Stilkriterien. Aus diesem Grund lässt sich annehmen, dass Kraus, von seiner klaren Bewusstheit einer Ähnlichkeit zwischen seiner und der Heineschen Schreibart ausgehend, versucht hat, den eigenen Standpunkt demjenigen Heines nachdrücklich entgegenzusetzen.46 In der Tat scheint sich diese vergleichende Perspektive auf einer tieferen Ebene zu eröffnen, als bisher angenommen wurde. 2. Die Strategie des Stils im Krausschen Aphorismus a) Kraus und Heine als rhetorische Schriftsteller. Konvergenzen, Divergenzen Nach Arntzen ist Kraus’ Arbeit für die Satire repräsentativ, die sich durch ihren Stil sowie ihre Struktur unterscheidet von der »üblichen Kritik und Polemik«, die »ein Thema mit Hilfe der Sprache behandeln will, statt es in ihr erst darzustellen.«47 Dieses Primat der formal-stilistischen Elemente bei Kraus ist in der Forschung anerkannt. Unter den früheren Monographien sind etwa die Petra Kipphoffs über Kraus’ aphoristischen Stil, die Andreas Dischs über seine dichterische Form und Idee sowie die von Christian Wagenknecht über dessen Wortspiele beispielhaft.48 Von der damit zusammenhängenden Themenwahl aus neuerer Zeit 46 Schon damals hat man Kraus häufig mit Heine verglichen. Er selber nennt das Beispiel eines antisemitischen Publizisten: »Einmal schrieb er, daß ich mit Heine zwar manchen Charakterzug gemein habe, daß mir aber ›dessen Witz mangle‹. Herr Masaidek kann das um so besser beurteilen, als er nicht nur eigenen Witz, sondern wirklich auch den Heine’s besitzt« (F 168, 22). 47 Arntzen (1971), in: Arntzen, S. 160. 48 Kipphoff, Disch, Wagenknecht (1975).
II. Ausbruch aus der romantischen Ästhetik der Satire
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verdient namentlich der Vorschlag Rüdiger Zymners Beachtung, dass man nicht mehr nur einzelne Stilelemente, sondern auch »die werkübergreifende Rolle von angewandter Rhetorik« beim Krausschen Werk in Betracht zielen solle.49 Dieser Gesichtspunkt ist aufschlussreich, wenn wir die historische Tatsache berücksichtigen, dass es im Lauf des 18. Jahrhunderts zur »Instrumentalisierung einzelner Bereiche«50 der traditionellen Rhetorik kam: Während demnach die rhetorica utens, die Anweisung zur praktischen Rede- und Schreib übung, sich in der Stilistik als rein technisches Anwendungswissen verselbständigt, gehen die rhetorischen und systematischen Aufgaben mehr und mehr auf die Gebiete der Ästhetik und Poetik über, die freilich die zweckgebundene rhetorische Prosa nur am Rande oder gar nicht behandelt.51
Diese »Verödung der Alten Rhetorik als Wissensbereich«52 stellt nicht den einzigen Grund für die forschungsgeschichtliche Vernachlässigung der rhetorischen Elemente in den Schriften Kraus’ dar. Wie Zymner bemerkt, scheint es ebenso schwer zu sein, die formalen Eigenschaften der Krausschen Arbeit gänzlich auf den Bereich der Rhetorik zu reduzieren, wie ihnen bloß durch die Mittel der Poetik bzw. Stilistik, der neuzeitlichen Nachfolgedisziplin der Rhetorik, auf den Grund zu gehen.53 Die Textvielfalt sowie die Multidimensionalität einzelner Texte Kraus’ würden keinen Versuch zulassen, sie einfach unter einem Aspekt zusammenzufassen. Der rhetorische Zug zeigt aber am ehesten eine gewisse Verwandtschaft der Heineschen mit der Krausschen Schreibart. Denn Heine sah sich, wie Eberhard Scheiffele erkannt hat, »[…] nicht als rhetorischen Schriftsteller, der den Gegenstand der Rede ins Literarische transponier[e], sondern als einen, der schreib[e], wie ein Redner sprechen würde.«54 Heines Texte stellen demnach einen Grenzfall zwischen den Arbeitsbereichen, dem des Schreibens und dem des Sprechens, dar. Einige Stellen im Heine-Essay zeigen, dass dies für Kraus zugleich gilt und nicht gilt. An diesem Berührungs- sowie Scheidepunkt, der im Folgenden zuerst unter 49 Zymner, in: Griffel, S. 35. Solch einen Gesichtspunkt übernahm Stocker in ihrer jüngst erschienenen Monographie, und zwar sogar in Hinblick auf Kraus’ Lesungen der Nachkriegszeit (Stocker, S. 11 ff.). 50 Ueding / Steinbrink, S. 139. 51 Ueding / Steinbrink, S. 139. Die »Trennung der Stilistik von der Rhetorik« habe zur Folge gehabt, dass die letztere nunmehr »entweder als Lehre von der Auffindung und Anordnung des Stoffes aufgefaßt [werde] […] oder nur noch für die mündliche Rede zuständig erschein[e]« (S. 138). 52 Ueding / Steinbrink, S. 139. 53 Am Beispiel einer ›Sprachlehre‹ mit dem Titel ›Bis‹ (Bd. 7, 18) kommentiert Zymner dieses Problem wie folgt: »[N]icht diskursive, sondern intuitive Deutlichkeit ist das übergreifende Argumentationsprinzip; der Leser soll eben nicht lediglich über einen grammatischen Sachverhalt informiert, sondern zu einer Stellungnahme gegen die Sprachverwendung ›des Österreichers‹ überredet werden. Für die scharfsinnigen, ja spitzfindigen sprachlichen Techniken, mit denen dies geschieht und die für jede einzelne Formulierung die Feinwaage der sprachlichen Kompetenz fordern, bieten uns Literatur- und Sprachwissenschaft eigentlich keinen bequemen Begriff an« (Zymner, in: Griffel, S. 36 f.). 54 Scheiffele, in: Scheiffele, S. 232.
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B. Kritische Übernahme von Techniken Heinrich Heines
Berufung auf die »literarische Rhetorik«55 umrissen wird, soll noch ersichtlicher gemacht werden, worin die Heine-Problematik für Kraus bestand. Augenfällig ›rhetorisch‹, nämlich in einem gleichsam mündlichen Stil formuliert, ist z. B. die folgende Stelle im einleitenden Teil des Heine-Essays: Glaubt mir, ihr Farbenfrohen, in Kulturen, in denen jeder Trottel Individualität besitzt, vertrotteln die Individualitäten. Und nicht diese mediokre Spitzbüberei der eigenen Dummheit vorgezogen! Und nicht das malerische Gewimmel auf einer alten Rinde Gorgonzola der verläßlichen Monotonie des weißen Sahnenkäses! (Bd. 4, 185)
Hier können wir in der offensichtlich imperativischen Anredeform die Absicht erkennen, »ein[e] affektisch[e] Zustimmung des Situationsmächtigen zur Parteimeinung des Redners«56 herzustellen. Damit verbunden sind hier antithetisch entgegengesetzte Metaphern, deren »Bildspender« v. a. der kulinarische Bereich ist.57 Diese Metaphern können insofern als »kühn« bezeichnet werden, als es zwischen ihnen und den »Bildempfängern«, der französischen sowie der deutschen Sprachkultur, eine weite Spanne gibt,58 und sie scheinen dadurch den Effekt der Verfremdung zu verstärken, was eigentlich die Hauptfunktion der Tropen ist.59 Ähnlich steht es mit Kontaminationen wie »Utiliteratur« (Bd. 4, 186) aus »Utilität« und »Literatur«.60 Solche Wortspiele tragen durch die zu erwartende Verfremdung dazu bei, die Spekulation auf einen möglichen Gebrauchswert von Literatur zu geißeln. Die meisten anderen Tropen dienen auch diesem Zweck, v. a. der HeineKritik. In der folgenden Passage z. B. schließen sich einige Wort-Tropen zu Gedanken-Tropen zusammen. … Was will die einsame Träne? Was will ein Humor, der unter Tränen lächelt, weil weder Kraft zum Weinen da ist noch zum Lachen? Aber der »Glanz der Sprache« ist da und der hat sich vererbt. Und unheimlich ist, wie wenige es merken, daß er von der Gansleber kommt, und wie viele sich davon ihr Hausbrot vollgeschmiert haben. Die Nasen sind verstopft, die Augen sind blind, aber die Ohren hören jeden Gassenhauer. So hat sich dank Heine die Erfindung des Feuilletons zur höchsten Vollkommenheit entwickelt. (Bd. 4, 206)
Hier ist das auf Heine bezogene Motiv »Träne« mit dem französische Esskultur andeutenden Motiv »Gansleber« verknüpft, dann wird der Gedanke auf einer bildlichen Ebene weiter entwickelt: Er war seinen Nachfolgern mit schlechtem Beispiel vorangegangen. Er lehrte sie den Trick. Und je weiter das Geheimnis verbreitet wurde, umso köstlicher war es. Darum verlangt die Pietät des Journalismus, daß heute in jeder Redaktion mindestens eine Wanze aus Heines 55 Dies können wir als eine Erscheinungsform der »linguistischen Modifikationen der Rhetorik« ansehen; s. dazu Ueding / Steinbrink, S. 168. 56 Lausberg (1963), S. 36 (§ 68). 57 Zu »Bildspender« sowie »Bildempfänger« s. Weinrich, in: Weinrich, S. 298 ff. 58 s. Weinrich, in: Weinrich, S. 298 ff. 59 Lausberg (1963), S. 65 (§ 174). 60 Näheres zu Kontamination und Interferenz als wortspielerischen Methoden s. Wagenknecht (1975), S. 21, 39 ff.
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Matratzengruft gehalten wird. Das kriecht am Sonntag platt durch die Spalten und stinkt uns die Kunst von der Nase weg! (Bd. 4, 207)
Diese Bildlichkeit können wir in dem Sinne als allegorisch bezeichnen, dass hier der gemeinte Gedanke »durch einen anderen Gedanken« ersetzt ist, »[…] der zum gemeinten Gedanken in einem Ähnlichkeits-Verhältnis steht«.61 Aus der Tatsache jedoch, dass Kraus die allegorische Manier Heinescher Lyrik kritisch kommentiert hat (Bd. 4, 196 f.), ergibt sich die paradoxe Folge, dass Kraus von einem rhetorischen Mittel, das zu verwenden er Heine vorwarf, selbst Gebrauch macht. Auch alle oben betrachteten tropischen Elemente sind für die Schriften Heines charakteristisch.62 Als beiden Satirikern gemeinsam gilt darüber hinaus auch die Vorliebe für die Hyperbel, bei Kraus z. B. »Ohne Heine kein Feuilleton.« (Bd. 4, 186), und die dieser rhetorischen Figur inverse Litotes, wie bei Kraus z. B.: »[…] der Zauberer [Heine, Anm. d. Verf.], der der Unbegabung zum Talent verhalf, steht gewiß nicht allzuhoch über dieser Entwicklung« (Bd. 4, 188). Selbst Beispiele für die berühmte Heinesche Ironie fehlen bei seinem Kritiker nicht. Etwa: Wenn die Heine-Nachahmer fürchten mußten, daß man sie entlarven könnte, so brauchten sie nur Heine-Fälscher zu werden und durften getrost unter seinem Namen en gros produzieren. (Bd. 4, 206)
Solche Passagen zeigen, dass ironischer Weise Kraus auch, zumindest teilweise, an dieser »furchtbaren Entwicklung« Anteil gehabt hat. Warum aber Kraus trotz dieser Ähnlichkeiten in mehreren Details konsequent den Unterschied zwischen sich und Heine bzw. dessen Nachfolgern behauptet hat, lässt sich anhand seiner Auffassung über den Stil als gestalteten »Gedanken« erklären, einen Gedanken, der, so Kraus, dem üblichen rhetorischen Prinzip der »gemeinverständlichen Beredsamkeit« nicht nur ausweichen, sondern gerade widersprechen solle. Im Heine-Essay sowie in einigen seiner später als Aphorismen publizierten Auszüge ist solch eine Eigenschaft des »Gedankens« bildlich geschildert: »Ein Feuilleton schreiben heißt auf einer Glatze Locken drehen; aber diese Locken gefallen dem Publikum besser als eine Löwenmähne der Gedanken« (Bd. 4, 188). »Der Witz der Tagesschriftsteller ist höchstens das Wetterleuchten einer Gesinnung, die irgendwo niedergegangen ist. Nur der Gedanke schlägt ein, dem der Donner eines Pathos auf dem Fuße folgt« (Bd. 8, 125). »Meinungen sind kontagiös; der Gedanke ist ein Miasma« (Bd. 8, 237). Hier ist der »Gedanke« mit einem schwer zugänglichen, lebensgefährlichen Naturphänomen verglichen, das im Rahmen der Kantischen Ästhetik nicht als die Ursache des Schönheits-, sondern als die des Erhabenheitsgefühls gilt.63 Noch genauer gesagt, wird der Begriff »Gedanke« oft dem der »Meinung« als einer »Ware« (F 180 / 81, 4) entgegen-, jedoch einer Art Witz gleichgestellt. So heißt es schon in einem frühen Essay über den Schauspieler Girardi und den Schriftsteller Julius Bauer: 61
Lausberg (1963), S. 140 (§ 423). s. dazu Scheiffele, in: Scheiffele, S. 233 ff. 63 s. dazu Kant, S. 88 f., 110. 62
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B. Kritische Übernahme von Techniken Heinrich Heines In den Linien, die der theatralische Handwerker [Bauer, Anm. d. Verf.] vorzeichnet, lassen sich Gestalten formen. Was aber soll der Künstler mit Situationen anfangen, die die Sucht nach einem Silbenscherz geboren hat? Für Herrn Bauer’s Witze müssen Dekorationen angeschafft werden. Nie entstand ihm aus einer Anschauung ein Gedanke; im Anfang war der Kalauer. (F 172, 7)
Die Struktur dieser Argumentation kommt der jener Missbilligung des Hardenschen Stils – Mangel an der »Persönlichkeit« – nahe; zwischen »Gedanke« und »Meinung« unterscheidet Kraus wiederum mit Bezug auf das Schauspielerische, bei dem der »Wortwitz«, der »als Selbstzweck verächtlich« sei (Bd. 8, 114), unter Mitwirkung von »Pathos« (Bd. 8, 115) »der Abbreviatur einer witzigen Anschauung« (Bd. 8, 114 f.) zu dienen habe: Gelingt es dem Autor, einander entlegene Zeiterscheinungen, Gegenständliches und Hintergründliches, in einem Zuge so zusammenzufassen, daß der Gedanke ein abgekürzter Essay ist, dient der Sprachwitz selbst pathetischer Empfindung als Kompositionselement. (Bd. 8, 115)
Diesem Prinzip, »Gedanken« möglichst knapp zu formulieren, entspricht nun jene Bevorzugung des Aphorismus vor »Aufsätzen« (Bd. 8, 238), welche auch für die Komposition des Heine-Essays charakteristisch ist. b) Das Zusammenwirken von Pathos und Witz beim Aphorismus Nachdem Kraus 1906 seine ersten Aphorismen in der Nr. 198 der Fackel veröffentlicht hatte (›Um Heine‹ in Nr. 199), schrieb er immer mehr Aphorismen, bis er den Heine-Essay zunächst als »Aphorismen zum Sprachproblem« entwarf. Die einzelnen Sätze dieses Essays stellen in der Tat weniger Bestandteile eines logisch systematisierten Ganzen als aphoristisch mehr oder weniger selbständige Sinneinheiten dar.64 Die Gedankenführung dieser »Schrift« (Bd. 4, 211) ist reich an Unterbrechungen und häufig sprunghaft. Dabei werden einige aphoristische Thesen in verschiedenen Varianten wiederholt, wie es der »Klimax« (Bd. 4, 186), einem Stilmittel der pathetischen, leidenschaftlichen Rede, gemäß ist.65 Schon die allgemeine Tendenz der Krausschen Prosaform ist durch Formelemente wie Wortspiel und Redefigur bestimmt, die u. a. zur Verkürzung des Ausdrucks dienen.66 Daraus resultiert die von Kraus beabsichtigte Mehrdeutigkeit so mancher Gedankeninhalte seiner Aphorismen: Ein Aphorismus braucht nicht wahr zu sein, aber er soll die Wahrheit überflügeln. Er muß mit einem Satz über sie hinauskommen. (Bd. 8, 117) 67
64
s. dazu Disch, S. 83. s. dazu Scheichl, in: Strelka, S. 167 ff. 66 s. dazu Wagenknecht (1975), S. 47 f. 67 Ein anderer Aphorismus lautet: »Der Aphorismus deckt sich nie mit der Wahrheit; er ist entweder eine halbe Wahrheit oder anderthalb« (Bd. 8, 161). 65
II. Ausbruch aus der romantischen Ästhetik der Satire
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Wer Meinungen von sich gibt, darf sich auf Widersprüchen nicht ertappen lassen. Wer Gedanken hat, denkt auch zwischen den Widersprüchen. (Bd. 8, 111)
Eine augenfällige Durchführung dieser Theorie, die selbst aphoristisch formuliert ist, können wir z. B. in folgenden Aphorismen aus früherer Zeit finden: Eine kunstlose Wahrheit über ein Übel ist ein Übel. Sie muß durch sich selbst wertvoll sein. Dann versöhnt sie mit dem Übel und mit dem Schmerz darüber, daß es Übel gibt. (Bd. 8, 131) Wes das Herz leer ist, des geht der Mund über. (Bd. 8, 156) Die Deutschen – das Volk der Richter und Henker. (Bd. 8, 159) Man glaubt gar nicht, wie schwer es oft ist, eine Tat in einen Gedanken umzusetzen! (Bd. 8, 162)
Außer im ersten Aphorismus, in dem Kraus als Satiriker seinen Standpunkt festlegt, handelt es sich hier um die Bearbeitung eines Sprichworts, eines geflügelten Wortes und einer phrasenhaften Wendung. Diese in den Aphorismusband Sprüche und Widersprüche aufgenommenen Aphorismen68 zeigen deutlich die für Kraus charakteristische Methode, die Wolfgang Mieder so charakterisiert: […] die anscheinend leicht wortspielerische Verdrehung von Redensarten ergibt neue Einsichten, die zur Aufdeckung und Entblößung des fragwürdigen Wertsystems dienen.69
Die Pointe solcher Aphorismen ist aber nicht selbstverständlich, da sie meist überraschende Neudefinitionen und Paradoxa enthalten. Dabei solle der Leser selbst mit den »gedankliche[n] Schwierigkeiten« (Bd. 8, 123) des Verfassers konfrontiert und dazu angereizt werden, dessen »Sachen zweimal« zu lesen (Bd. 8, 165). In diesem sprachlich eingerichteten »Appell zum selbsttätigen Auffüllen« der Leerstellen70 können wir die Hauptmerkmale des Aphorismus verwirklicht finden, die bei Kraus mit denen des »Gedankens« parallelisiert waren. Im Heine-Essay wird nun Heine einerseits die aphoristische Schreibweise, mit der Kraus seinen eigenen Stil kennzeichnet, abgesprochen: »Er konnte hundert Seiten schreiben, aber nicht die Sprache der hundert ungeschriebenen Seiten gestalten« (Bd. 4, 209). Andrerseits deutet aber die positive Bewertung eines Gedichts im Romanzero an, was für einen Stil Kraus selbst angestrebt hat: Der Tod konzentriert, räumt mit dem tändelnden Halbweltschmerz auf und gibt dem Zynismus etwas Pathos. Heines Pointen, so oft nur der Mißklang unlyrischer Anschauung, stellen hier selbst eine höhere Harmonie her. Sein Witz, im Erlöschen verdichtet, findet kräftigere Zusammenfassungen. (Bd. 4, 205 f.) 68 Nach Petra Kipphoff weist dieser Band, wie sein Titel andeute, die meisten Antithesen und die meisten »manipulierten Sprichwörter« unter Kraus’ Aphorismen auf; s. dazu Kipphoff, S. 126. 69 Mieder, in: Muttersprache, S. 100. In dieser Abhandlung sind 150 Beispiele von »Redensartenbearbeitungen« angegeben. 70 Fricke, S. 9.
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B. Kritische Übernahme von Techniken Heinrich Heines
Kraus hat bei Heine jenes stilistische Potential in einem für ihn unzulänglichen Maße anerkannt, das er selbst, parallel zu seiner Kritik am journalistischen Stil, erschlossen hat. Dabei geht es darum, einen Stil zu erzeugen, der durch »verdichtete« Kürze sowie durch zur »Gestalt« (Bd. 4, 205) gesteigerte Form charakterisiert werden kann und der, durch »Pathos« und »Witz« wirkend, dem Publikum keine allgemeinen Informationen auf angenehme Weise serviert, sondern der ihm dabei hilft, die geäußerten »Gedanken« jeweils zu dechiffrieren. Diese schriftstellerische Einstellung können wir zwar mit dem rhetorischen Moment der obscuritas71 in Beziehung bringen, aber nicht mit dem der perspicuitas, das bei der Heineschen Praxis der dispositio dominant gewesen zu sein scheint.72 Wenn für Kraus wie für Heine Rhetorik und Aufklärung trotzdem so eng zusammengehören,73 lässt sich vermuten, dass sich beides hier wie dort nicht wie das Mittel zum Zweck zueinander verhält, sondern eine Sprachkraft anderer Art eingesetzt wurde als bei einer auf Überredung erpichten Rhetorik. Wie in der erwähnten Bearbeitung von Redewendungen durch Kraus gezeigt wurde, zeichnet sich dessen Stil ja dadurch aus, dass er scheinbar gar nicht beabsichtigt, den Leser anzuziehen, sondern vielmehr, diesen von sich fernzuhalten, indem er es vermied, »[u]ngewöhnliche Worte zu gebrauchen« (Bd. 8, 123). Bemerkenswert in diesem Zusammenhang sind Kraus’ Kommentar über die Beziehung zwischen Kunst und Logik sowie seine an den Stilistik-Experten Richard M. Meyer gerichtete Gegenkritik. Eine Verständigung zwischen der Logik und der Kunst gibt es nicht, denn die Logik versteht alles, nur nicht das eine, daß es der Kunst nicht darauf ankommt, verstanden zu werden. Daß es sich ihr nicht darum handelt, dem Leser einen Gedanken zu »beweisen«, weil ein Beweis kein Gedanke ist; und daß sie den Gedankenprozeß mit Ausschluß der Öffentlichkeit durchführt, weil die Zumutung, die Leser, alle Leser auf einmal, »mitdenken« zu lassen, eine trostlose demokratische Forderung ist. (F303 / 04, 36 ff.)74 Ein Literaturprofessor meinte, daß meine Aphorismen nur die mechanische Umdrehung von Redensarten seien. Das ist ganz zutreffend. Nur hat er den Gedanken nicht erfaßt, der
71 s. dazu Lausberg (1963), S. 53 (§ 132). Für den »Gedanken« im Sinne von Kraus würde nicht obscuritas als »Fehler«, sondern obscuritas als »Lizenz« gelten, die »dem Publikum, das sich dadurch geehrt fühlt, ein gewisses Maß an Mit-Arbeit am Werk des Künstlers« zutraue: »[D]er Künstler gibt seinem Werk gewisse Dunkelheiten mit und überläßt dem Publikum die Ausführung des Endstadiums des Werks: die daraufhin zustandekommende Klarheit des Werks ist so Frucht der Arbeit des Publikums« [Lausberg, 1963, S. 53 (§ 132)]). 72 s. dazu Lausberg (1963), S. 52 f., 29 ff. Die perspicuitas bestehe »in der intellektuellen Verständlichkeit der Rede.« Außerdem gehöre eine Realisierungs-Sphäre von ihr, die Klarheit der Gedanken, »in den Bereich der inventio und der auf die Gedanken bezüglichen dispositio.« 73 Scheiffele, in: Scheiffele, S. 232. 74 Diese Passage stammt aus dem Kommentar zum Bericht der Arbeiter-Zeitung über die erste Wiener Lesung Kraus’, in dem es heißt: »[…] aber Selbstzweck darf der sprachliche Glanz und Prunkt doch nicht sein; mehr als das Material, aus dem der Künstler sich die Form seiner Gedanken holt, darf die Sprache nicht werden« (Zitiert nach F 303 / 4, 36).
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die Mechanik treibt: daß bei der mechanischen Umdrehung der Redensarten mehr herauskommt als bei der mechanischen Wiederholung. […] (Bd. 8, 332)75
Das Gegenteil der Logik war für Kraus weder Rhetorik noch Stilistik, sondern »Kunst«, bei deren Erläuterung er die Gleichstellung von Lyrik und Satire bzw. das Zusammenwirken von Pathos und Witz als konstitutives Element erörtert hat.76 Er verstand sich nun nicht mehr nur als »Schriftsteller«, sondern mehr und mehr als »Künstler«. Diese nicht mehr nur poetologische, sondern – im weiteren Sinne – ästhetische Position ist aber auch durch ihre kritische Abhängigkeit von der Konvention der Umgangssprache sowie durch ihre herausfordernde Einbeziehung der Rezeptionsebene auf der Seite des Lesers zu kennzeichnen. Diese Tendenz würde einen Vergleich zwischen Kraus und Dilthey zulassen, weil dieser in seiner ästhetischen Vorstudie zur Hermeneutik »das Genießen des Kunstwerkes« als »eine Handlung der Seele« dem »Schaffen des Künstlers« gleichgestellt hat, wobei der »Stil« als »eine Art und Weise der einheitlichen Handlung« bzw. als »eine innere Linienführung« galt, die in jedem Kunstwerk wirksam seien.77 Welche Position die Sprachproblematik in Diltheys Gedanken einnahm, kommentiert Habermas wie folgt: Dilthey unterscheidet die kulturellen Wertsysteme von den Systemen der äußeren Organisation der Gesellschaft. Aber jede Form der Interaktion und der Verständigung zwischen Individuen ist durch eine intersubjektiv verbindliche Verwendung von Symbolen vermittelt, welche in letzter Instanz auf die Umgangssprache verweist. Die Sprache ist der Boden der Intersubjektivität, auf dem jede Person schon Fuß gefaßt haben muß, bevor sie in der ersten Lebensäußerung sich objektivieren kann – sei es in Worten, Einstellungen oder Handlungen.78
Freilich scheint das Problem des »Verstehens« bei Kraus nicht direkt mit der Interpretation sowie Hermeneutik im Zusammenhang zu stehen, die in ihrem philosophischen Endstadium »auf die Natur des menschlichen Lebens schlechthin«79 zielt. Wir können jedoch mit Recht annehmen, dass er seine »Spracherlebnisse« (F 272 / 73, 48 sowie Bd. 4, 210) keineswegs als bloßes Pendant seiner Pressekritik, sondern als »vorbegrifflich[e]« Angelegenheit betrachtet hat, die, wie das »Erlebnis« bei Dilthey, nach Bollnow nur als Glied jenes »umfassenden Zusammenhangs von Erleben, Ausdruck und Verstehen« bestehen kann, durch den man »Leben«
75 Über dieses Thema schreibt Kraus auch: »Eine Antithese sieht bloß wie eine mechanische Umdrehung aus. Aber welch ein Inhalt von Erleben, Erleiden, Erkennen muß erworben sein, bis man ein Wort umdrehen darf!« (Bd. 8, 164). Über Richard M. Meyer s. auch F 339 / 40, 53 sowie F 389 / 90, 14. 76 Die Worte »Rhetorik« und »Redner« benutzte Kraus meist im negativen Sinne, wie z. B.: »Der Feuilletonist alten Stils arbeitete mit den Klischees der Rhetorik, der neue arbeitet mit den Klischees der Plastik.« (F 281 / 82, 48) Er schrieb auch von Harden als »ein[em] gewandt[en] Redner« (F 281 / 82, 48). 77 Dilthey, in: Misch, Bd. 6, S. 271. 78 Habermas (1968), S. 198. 79 Bollnow, S. 211.
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allererst erreicht.80 Dabei deutet Kraus’ Beziehung zur Rhetorik an, dass sich seine Theorie und Praxis der Sprache eben an ihrer »Intersubjektivität« orientiert. Prüfen wir diese Verhältnisse, indem wir nun seine Arbeitsweise sowie die ihr zugrunde liegende ästhetische Ansicht noch genauer untersuchen. 3. Die Verbundenheit der Krausschen Ästhetik der Satire mit der Materialität des sprachlichen Mediums a) Eine Neubestimmung des Primats der Form vor dem Stoff Im Heine-Essay finden sich manche Stellen, an denen es zur Verschränkung von Stilistik im engeren Sinn und Ästhetik zu kommen scheint. Kraus fragt z. B.: »Was ist es, das ihnen [den Journalisten, Anm. d. Verf.] Hoffnung auf die Fortdauer macht?«, und antwortet selbst: »Das fortdauernde Interesse an dem Stoff, den sie ›sich wählen‹« (Bd. 4, 192). Was er dieser journalistischen Abhängigkeit vom »Stoff« entgegenhält, hat nicht nur mit Lakonismus, Witz und Pathos-Effekt zu tun: Der Künstler gestaltet den Tag, die Stunde, die Minute. Sein Anlaß mag zeitlich und lokal noch so begrenzt und bedingt sein, sein Werk wächst umso grenzenloser und freier, je weiter es dem Anlaß entrückt wird. Es veralte getrost im Augenblick: es verjüngt sich in Jahrzehnten. Was vom Stoff lebt, stirbt vor dem Stoffe. Was in der Sprache lebt, lebt mit der Sprache. (Bd. 4, 192)
Hier stellt sich die Frage nach dem ästhetischen Wert des satirischen Textes, und zwar insofern im hermeneutischen Sinne, als das Thema der Zeit eingeführt wird, die für die Rezeption des satirischen Werks vonnöten ist. Diese Auslegung wird dadurch unterstützt, dass der »Stoff« der Satire meist eng an eine bestimmte Zeit und Gesellschaft gebunden ist und wegen dieser Aktualität leicht veraltet. Dieses Thema wird hier in ›produktionsästhetischer‹ Hinsicht behandelt, an einer anderen Stelle eher in einer ›rezeptionsästhetischer‹ Perspektive: In Zeiten, die Zeit hatten, hatte man an der Kunst eins aufzulösen. In einer Zeit, die Zeitungen hat, sind Stoff und Form zu rascherem Verständnis getrennt. Weil wir keine Zeit haben, müssen uns die Autoren umständlich sagen, was sich knapp gestalten ließe. (Bd. 4, 207)
Indem hier Kraus Singular- und Pluralform von »Zeit« und »Zeitung« chiastisch verschränkt, legt er auf den Stil bzw. den Ausdruck Wert, den der Künstler knapp als »eins« gestaltet, wobei dieser »in der Sprache« und »mit der Sprache« lebe. Dagegen weist er umständliche Informationen über den Stoff ab, die man zwar rasch versteht, deren phrasenhafte Formulierung aber nur mechanisch dem Stoff als Zeichen diene. Dies bedeutet aber auch, dass er mit seinem eigenen 80
Bollnow, S. 176, 180 f.
II. Ausbruch aus der romantischen Ästhetik der Satire
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Stil von den Lesern forderte, sie sollten das Ergebnis dieser Gestaltung, das seiner Ansicht nach – unzeitgemäß – »eins« sei, nämlich ein enges Verquicktsein von »Form« und »Stoff«, geduldig »auflösen«. Dass für ihn solch ein Verhältnis zwischen Schriftsteller und Leser ein zentrales Thema darstellte, zeigt der Titel des 6. Kapitels von Sprüche und Widersprüche: ›Schreiben und Lesen‹. Seine Theorie über den Stil war in der Tat stets mit seiner Erfahrung einer geschichtlichen Situation verbunden, in der sowohl die künstlerische Produktion als auch ihre Rezeption unter dem enormen Einfluss der Presse standen. Wie Helmut Arntzen zeigt, wurde bei Kraus »die historische Qualität des Sprachproblems« wie selbstverständlich vorausgesetzt.81 Dieses Thema wird im Heine-Essay noch einmal behandelt, wobei die literaturgeschichtliche Implikation noch deutlicher hervortritt: Daß, wer nichts zu sagen hat, es besser verständlich sage, diese Erkenntnis war die Erleichterung, die Deutschland seinem Heine dankt nach jenen schweren Zeiten, wo etwas zu sagen hatte, wer unverständlich war. Und diesen unleugbaren sozialen Fortschritt hat man der Kunst zugeschrieben, da man in Deutschland immerzu der Meinung ist, daß die Sprache das gemeinsame Ausdrucksmittel sei für Schreiber und Sprecher. (Bd. 4, 208)82
Hier scheint Kraus durch eine Ironisierung des »unleugbaren sozialen Fortschritts« auf den literaturgeschichtlichen Generationswechsel, den Heine als Ende der »Literaturperiode« angesprochen hat,83 anzuspielen. Überdies wird dieses Thema mit dem Problem des Ausdrucksmodus der Sprache in Zusammenhang gebracht. Kraus schrieb schon in einer früheren Glosse: Sprechen und Denken sind eins, und die Schmöcke sprechen so corrupt, wie sie denken; und schreiben – so, haben sie gelernt, soll’s sein –, wie sie sprechen. Fehlt nur noch die phonetische Orthographie […]. (F 136, 23)84
Kraus stand dem Mündlichkeitsprinzip bei der damals neuen Rechtschreibung kritisch gegenüber85 und gründete seine Theorie über die Literatur auf die Differenzierung zwischen Schriftlichkeit und Mündlichkeit.86 Dabei hat er einen paradoxen Sachverhalt gefunden: Am unverständlichsten reden die Leute daher, denen die Sprache zu nichts anderm dient als sich verständlich zu machen. (Bd. 8, 66)
81
Arntzen, S. 39. Zu diesem Thema s. auch folgende Aphorismen: »Journalist heißt einer, der das, was der Leser sich ohnehin schon gedacht hat, in einer Form ausspricht, in der es eben doch nicht jeder Kommis imstande wäre« (Bd. 8, 117); »Keinen Gedanken haben und ihn ausdrücken können – das macht den Journalisten« (Bd. 8, 212); »Journalisten schreiben, weil sie nichts zu sagen haben, und haben etwas zu sagen, weil sie schreiben« (Bd. 8, 212). 83 Heine, in: Briegleb, Bd. 1, S. 445. 84 Ein Ausschnitt der früheren Glosse, aus der diese Passage zitiert ist, wurde als eine ›Sprachlehre‹ mit dem Titel ›Die grammatikalische Pest‹ im Essayband Die Sprache abgedruckt (Bd. 7, 17). 85 s. dazu Müller, Karin, S. 142 f. 86 s. dazu C. III. 3. 82
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Die Stelle der deutschen Sprache, der im Vergleich mit der französischen die »Wehrlosigkeit vor dem Stoff« zugeteilt ist, wird in diesem Zusammenhang in eine andere Dichotomie verschoben: Die Leute verstehen nicht deutsch; und auf journalistisch kann ich’s ihnen nicht sagen. (Bd. 8, 165)
Nehmen wir nun an, dass mit »Stoff« sowie mit »Anlaß« (Bd. 4, 192) eben das Objekt bzw. der Referent der journalistischen bzw. der satirischen Schreibart in der Realität gemeint ist, dann lässt sich Kraus’ Gedanke so zusammenfassen: Er hat den Grad der Distanz zum allgemeinen Sinn des Objekts zum künstlerischen Wertmaßstab für den Text gemacht und diese Leistung dem »Schreiber« zu geschrieben, der sich um den Stil, für den das Formale konstitutiv ist,87 bemüht. In diesem Punkt scheint er sich an das klassische ästhetische Prinzip eines Schiller zu halten, der das »Schöne der Form« sowie ihren Primat vor dem Stoff als für die Kunst primär betrachtet hat.88 In dieser Perspektive wird verständlich, warum er sich im Essay ›Um Heine‹ auf die Gedichte Goethes u. a. berufen hat, um sie mit denen Heines zu vergleichen. Was jedoch Schiller anbelangt, müssen wir beachten, dass er in den KalliasBriefen ein von Grund auf anderes Schema entworfen hat: Bei einem Kunstwerk also muß sich der Stoff (die Natur des Nachahmenden) in der Form (des Nachgeahmten), der Körper in der Idee, die Wirklichkeit in der Erscheinung ver lieren.89
Der »Stoff« in Schillers theoretischen Äußerungen betrifft meist nicht das Objekt, sondern das »Medium«, in dem das »Kunstschöne« als »eine Nachahmung« der Natur entstehen könne.90 Er wies allerdings darauf hin, dass es zwischen Worten als »Medium des Dichters« und den Sachen, anders als bei sonstigen Kunst gattungen, weder eine materielle noch eine formale Ähnlichkeit gebe, weil dabei das »darzustellende Objekt« »[…] durch das abstrakte Gebiet der Begriffe einen sehr weiten Umweg nehmen« müsse. Deshalb behauptet er: Soll also eine poetische Darstellung frei sein, so muß der Dichter »die Tendenz der Sprache zum Allgemeinen durch die Größe seiner Kunst überwinden, und den Stoff (Worte und ihre Flexions und constructionsGesetze) durch die Form (nehmlich die Anwendung derselben) besiegen.« Die Natur der Sprache (eben diese ihre Tendenz zum Allgemeinen) muß in der ihr gegebenen Form völlig untergehen, der Körper muß sich in der Idee, das Zeichen in dem Bezeichneten, die Wirklichkeit in der Erscheinung verlieren.91
Bei dieser ästhetischen Theorie über die »Größe« der dichterischen Kunst wird die »Natur der Sprache« offensichtlich auf deren Tendenz zum »Allgemeinen« 87
s. dazu A. IV. 1. sowie A. IV. 2. Schiller (1992), in: Janz, S. 321. 89 Schiller (1992), in: Janz, S. 324. 90 Schiller (1992), in: Janz, S. 323. 91 Schiller (1992), in: Janz, S. 327 ff. 88
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festgelegt, was jenen von Wilhelm von Humboldt beklagten Mangel an Interesse für eine Theorie der Sprache bei Schiller92 zu bezeugen scheint. Davon hebt sich Kraus’ Position dadurch ab, dass er die Humboldtsche Tradition des Sprachdenkens erklärtermaßen übernommen93 und dabei nie versucht hat, die materielle Natur der Sprache als Medium zu überwinden. Trotz der freilich zu berücksichtigenden Inkongruenz des thematischen Schwerpunktes und der damit zusammenhängenden Terminologie zwischen Schiller und Kraus94 sind diese Tatsachen insofern von Relevanz, als ihre Auffassungen von der Satire in einem entscheidenden Punkt divergieren.95 Die Eigenart der Krausschen Alternative für das ästhetische Denken können wir nun darin finden, dass es bei ihm darum geht, durch die Gestaltung des Stils eben die Form der Sprache als eines Mediums sowie gerade ihre Materialität hervor zuheben. Dieses Thema ist in manchen der Aphorismen deutlich formuliert, in denen er die Literatur mit anderen Kunstgattungen vergleicht: Der Stoff, den der Musiker gestaltet, ist der Ton, der Maler spricht in Farben. Darum maßt sich kein ehrenwerter Laie, der nur in Worten spricht, ein Urteil über Musik und Malerei an. Der Schriftsteller gestaltet ein Material, das jedem zugänglich ist: das Wort. Darum maßt sich jeder Leser ein Urteil über die Wortkunst an. Die Analphabeten des Tons und der Farbe sind bescheiden. Aber Leute, die lesen können, gelten nicht als Analphabeten. (Bd. 8, 113) Die Sprache ist das Material des literarischen Künstlers; aber sie gehört ihm nicht allein, während die Farbe doch ausschließlich dem Maler gehört. Darum müßte den Menschen das Sprechen verboten werden. Die Zeichensprache reicht für die Gedanken, die sie einander mitzuteilen haben, vollkommen aus. Ist es erlaubt, uns ununterbrochen mit Ölfarben die Kleider zu beschmieren? (Bd. 8, 113) Das Unglück ist eben, daß die Wortkunst aus einem Material arbeitet, das der Bagage täglich durch die Finger geht. Darum ist der Literatur nicht zu helfen. Je weiter sie sich von der Verständlichkeit entfernt, desto zudringlicher reklamiert das Publikum sein Material. (Bd. 8, 233)
92
Humboldt, in: Weinstock, S. 104 f. Als Motto für Die Sprache (Bd. 7, 7) führt Kraus folgende Passage aus Humboldts Einleitung zu seiner Übersetzung des Agamemnon von Aeschylos (Aischylos) an: »Alle Sprachformen sind Symbole, nicht die Dinge selbst, nicht verabredete Zeichen, sondern Laute, welche mit den Dingen und Begriffen, die sie darstellen, durch den Geist, in dem sie entstanden sind, und immerfort entstehen, sich in wirklichem, wenn man es so nennen will, mystischem Zusammenhange befinden« (Humboldt, in: Leitzmann, S. 131). Erwähnenswert ist hier außerdem ein Wort Humboldts, welches das Kraussche Hauptthema von der Unbeherrschbarkeit der Sprache vorwegzunehmen scheint: »Der Mensch lebt mit den Gegenständen […] so, wie die Sprache sie ihm zuführt« (Humboldt, in: Leitzmann, S. 60). 94 Doch dieses Thema erforderte eine eigene Untersuchung. 95 s. dazu C. III. 1. Als Indiz für Kraus’ denkbare kritische Einstellung zur Dichtung Schillers kann die Tatsache gelten, dass er 1909 in der Fackel Otto Weiningers Abhandlung abgedruckt hat, in der Schiller als »der eigentliche Schöpfer des Ästhetentums« (F 290, 4) fast verurteilt wird. 93
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B. Kritische Übernahme von Techniken Heinrich Heines
Trotz einer gewissen Uneinheitlichkeit der Begriffe, die etwa bei »Material« und »Stoff« sowie bei »Sprache« und »Wort« bemerkbar ist, zeigt sich hier klar, dass Kraus den künstlerischen Wert der Literatur gerade in ihrer materiellen Ebene findet und das Missverständnis des Publikums darüber leidenschaftlich zu berichtigen versucht. Bestätigen wir diese Ansicht nun in Hinblick auf seine Bemühung um den Druck der Fackel, die eben in der Zeit des Heine-Essays an einem Wendepunkt angelangt war. b) Eine typographische Strategie und die »Materialästhetik« der Satire Wagenknecht macht darauf aufmerksam, dass gleichzeitig mit der Wiener Lesung des Heine-Essays im Mai 1910 bei der Fackel-Herausgabe einige wichtige Modifikationen vorgenommen wurden. Da erschienen zwischen dem Ende des XI. und dem Beginn des XII. Jahrgangs zwei Doppelnummern der Fackel, Nr. 301 / 2 und Nr. 303 / 4, bei denen Kraus das Schriftbild »definitiv« bestimmt hat, indem er alle Artikel in der »noch junge[n], erst um die Jahrhundertwende aufgekommene[n]« Type Antiqua Romantisch zu setzen begann.96 Obwohl damals eine Vielzahl von Zeitschriften in Fraktur gedruckt wurde und die »vor allem in wissenschaftlichen Publikationen üblich[e] Antiqua […] nur den Gebildeten ohne weiteres zugänglich« war, hat er sich seit der Gründung der Fackel für die letztere entschieden, aber nicht um eine »Wendung ins Vornehme oder gar Elitäre« zu vollziehen, sondern um der »programmatischen Moderne« treu zu bleiben, nämlich »europäisch statt deutsch und schlicht statt ornamental.«97 Dementsprechend gab er »[…] das Bild einer Fackel, mit dem die Hauptartikel sinnfällig voneinander abgegrenzt werden«, auf und stellte »[…] seine Mitarbeit an den Münchner Zeitschriften Simplicissimus und März ein – mit der erklärtermaßen angestrebten Folge, daß er nun so gut wie alle seine Arbeiten von der Firma seines Vertrauens, Jahoda & Siegel, setzen und drucken lassen [könne]«.98 Das Ergebnis dieser Änderungen war, dass er nicht nur stilistisch, sondern auch satztechnisch immer intensiver zu »gestalten« begann, wie es z. B. bei der »spiegelsymmetrische[n] Anordnung der Beiträge« in Aufbau sowie bei der bewussten Vermeidung von »Hurenkindern« bzw. der Silbentrennung im Umbruch zu erkennen ist.99 Ein typisches Beispiel solch einer typographischen Strategie können wir eben in der Fackel-Ausgabe des Heine-Essays finden. Er beginnt auf Seite 6 oben in der Fackel Nr. 329 / 30 nach dem fünfseitigen ›Vorwort‹ und endet auf Seite 33 unten. Auf den linken Seiten mit den geraden Zahlen werden unregelmäßig sowohl 96
Wagenknecht (2004), S. 7 f. Wagenknecht (2004), S. 5 f. 98 Wagenknecht (2004), S. 7. 99 Wagenknecht (2004), S. 8 ff. Der typographische Begriff »Hurenkind« bezeichnet die letzte Zeile eines Absatzes, die zugleich die erste einer neuen Spalte oder Seite ist. 97
II. Ausbruch aus der romantischen Ästhetik der Satire
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in der ersten als auch in der zweiten Hälfte Absätze gemacht, aber auf den rechten mit den ungeraden Zahlen außer auf der letzten Seite immer regelmäßig entweder in der zweiten Hälfte oder in der dritten Zeile von oben. Der Absatz in der dritten Zeile von oben wiederholt sich zweimal, auf den Seiten 13 und 31. Auf der 8. Seite nach der Seite 13 und auf der 8. Seite vor der Seite 31, auf den Seiten 21 und 23, wird der jeweilige Satz mit einem Doppelpunkt abgeschlossen, worauf ein HeineZitat folgt. Es ist offensichtlich, dass diese symmetrische Seitenteilung planmäßig ausgeführt ist. Bemerkenswert ist außerdem auch, dass es in diesem Essay nur eine Silbentrennung am Seitenende gibt, und zwar genau in der Mitte dieses 28-seitigen Essays, zwischen der 14. und der 15. Seite. Das betreffende Wort ist »Naturanschauung«, das in einem aus dem Essay ›Um Heine‹ zitierten Satz steht.100 Auch inhaltlich markiert diese Stelle die Grenze, weil erst danach die Kritik an Heine mit Beispielen seiner Lyrik beginnt. Kraus lässt nämlich einen inhaltlichen Höhepunkt und den quantitativen Mittelpunkt des Essays miteinander übereinstimmen, und zwar unter ostentativem Hinweis auf die gleichsam wie eine Bergspitze im Mittelpunkt stehende »Natur«. Diese Tatsache zeigt, wie sorgfältig er diesen Essay aus Zitaten und neu geschriebenen Sätzen zusammengesetzt hat. Später, 1913, hat er seine Arbeitsweise noch genauer charakterisiert. Kein Mensch, der eine meiner gedruckten Arbeiten absucht, wird eine Naht erkennen. Und doch war alles hundertmal aufgerissen, und aus einer Seite, die in Druck ging, mußten sieben werden. Am Ende, wenn’s ein Ende gibt, ist die Gliederung so einleuchtend, daß man die Klitterung nicht sieht und an sie nicht glaubt. (Bd. 8, 327)
In diesem Zusammenhang hat Christian Wagenknecht nachgewiesen, dass Kraus seine Texte nicht nur bei ihrem ersten Druck in der Fackel, sondern auch bei ihrer Aufnahme in den Schriftenband mehrfach »allerlei Abänderungen«101 unterzogen hat. Daraus erhellt nach Wagenknecht auch, dass da von »der allmählichen Verfertigung der Gedanken beim Schreiben« die Rede sein könnte, »[…] oder vielmehr davon, daß sich die Gedanken bilden gutenteils erst angesichts des Druckes […], also eigentlich beim Lesen, beim Korrekturlesen«.102 Er sei also nicht »Kopf 100 Der ganze Satz lautet: »Selbst die bloße Plastik einer Natur-[Seitenumbruch]anschauung, von der sich zur Psyche kaum sichtbare Fäden spinnen, scheint mir, weil sie das Einfühlen voraussetzt, lyrischer zu sein, als das Einkleiden fertiger Stimmungen« [Selbstzitat aus ›Um Heine‹ (F 199, 3)]. 101 Wagenknecht, in: Text + Kritik, S. 109. 102 Wagenknecht (2004), S. 28. Diese Art zu schreiben, zu deren Erläuterung hier auf den berühmten Essay Kleists ›Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden‹ (1805–06?) angespielt wird, kommentiert Wagenknecht nach seiner Analyse einiger Beispiele zusammenfassend so: »[…] es dürfte in der Literatur des 20. Jahrhunderts nur wenige Fälle geben, wo zwischen der ersten Niederschrift und der Imprimierung des Textes eine ähnliche lange Reihe von Korrekturgängen liegt. Gewiß: Da wird immer wieder auch bloß redigiert – verbessert, gefeilt. Aber vor allem wird gedichtet – wird gedacht und formuliert, kommen Sätze und Absätze hinzu, verwandelt sich die Glosse in einen Essay, der Essay in ein Buch. Anfang und Schluß gehören in aller Regel schon der ersten Fassung an – die aber bisweilen nur ein Viertel, in Einzelfällen auch nur ein Achtel der letzten Fassung umfaßt« (S. 28).
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arbeiter«, sondern »Papierarbeiter« gewesen.103 Es ist nun für Kraus bezeichnend, dass er diesen schriftstellerischen Arbeitsprozess metaphorisch als einen schauspielerischen aufgefasst hat. Im Vergleich mit dem von ihm kritisierten journalistischen Schreibprozess schreibt er z. B.: Die Feuilletonisten, die in deutscher Sprache schreiben, haben vor den Schriftstellern, die aus der deutschen Sprache schreiben, einen gewaltigen Vorsprung. Sie gewinnen auf den ersten Blick und enttäuschten den zweiten: es ist, als stünde man plötzlich hinter den Kulissen und sähe, daß alles von Pappe ist. Bei den anderen aber wirkt die erste Lektüre, als ob ein Schleier die Szene verhüllte. Wer sollte da schon applaudieren? Jene zischen, ehe die Szene sichtbar wird. So benehmen sich die meisten; denn sie haben keine Zeit. Nur für die Werke der Sprache haben sie keine Zeit. Vor den Gemälden lassen sie es eher gelten, daß nicht bloß ein Vorgang dargestellt werden soll, den der erste Blick erfaßt: einen zweiten ringen sie sich ab, um auch etwas von der Farbenkunst zu spüren. Aber eine Kunst des Satzbaues? Sagt man ihnen, daß es so etwas gibt, so denken sie an die Befolgung der Sprachgesetze. (Bd. 8, 113 f.)104
Die »Schleier«-Metapher hat Kraus übrigens auch dazu verwendet, dem Leser und auch sich selbst gegenüber seinen Anspruch auf eine aktive und geduldige Lektüre geltend zu machen. Im Heine-Essay heißt es: Wie schwer lasen wir die Sätze der ›Fackel‹, selbst wenn uns das Ereignis half, an das sie knüpfen. Nein, weil es uns half! Je weiter wir davon entfernt sind, desto verständlicher wird uns, was davon gesagt war. Wie geschieht das? Der Fall war nah und die Perspektive war weit. Es war alles vorausgeschrieben. Es war verschleiert, damit ihm der neugierige Tag nichts anhabe. Nun heben sich die Schleier … (Bd. 4, 192)
Kraus berührt damit insofern ein zentrales hermeneutisches Problem, als hier der »zeitliche Abstand« thematisiert ist, den Gadamer als notwendige Voraus setzung für das Verständnis eines literarischen Textes ansieht: »Er läßt den wahren Sinn, der in einer Sache liegt, erst voll herauskommen.«105 Bemerkenswert ist dabei vor allem, dass Kraus’ ästhetisches Konzept in dieser Weise immer das Thema der Rezeption beim Publikum enthält, woraus oft eine Art Anweisung für den Leser resultiert. Dieses Moment kommentiert Wagenknecht mit Recht so: Indem Karl Kraus von seiner Arbeitsweise immer wieder spricht, vor allem in Aphorismen und Gedichten, verweist er den Leser vom fertiggestellten Werk auf den Prozeß der Fertigstellung selbst und gibt ihm mit diesem mehr noch als mit jenem ein Beispiel richtigen Verhaltens. Es wäre durch die Bereitschaft eben zu Korrektur und Klitterung bestimmt. Der Leser soll lernen: zu zweifeln und zu ändern, Alternativen zu erdenken und Neues sich einfallen zu lassen.106
103
Wagenknecht (2004), S. 32. In der originalen Fassung dieses Aphorismus in der Fackel wurde »eine Kunst des Satzbaues« als »eine Kunst des Satzes«, und »die Befolgung der Sprachgesetze« als »die Einhaltung der grammatischen Gesetze« bezeichnet (F 256, 29). 105 Gadamer, S. 282. 106 Wagenknecht, in: Text + Kritik, S. 114. 104
II. Ausbruch aus der romantischen Ästhetik der Satire
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Diese ›rezeptionsästhetische‹ Denkweise scheint Kraus’ Standpunkt entscheidend von dem ›produktionsästhetischen‹ Schillers zu unterscheiden. Seine anti thetische Einstellung zu Schiller können wir überdies z. B. in einer Passage finden, wo Kraus seine »Kunst des Satzbaues« metaphorisch noch pointierter profiliert: Ach, meinem Stil wird zum Vorwurf gemacht, daß sich hart im Raume die Gedanken stoßen, während die Sachen doch so leicht bei einander wohnen. Und wer von mir Aufschluß über die Sachen erwartet, hat sicherlich recht, aus dem Gedankenpferch zu fliehen. Verweilt er aber, um ihn zu besehen, so wird er eine Architektur gewahren, in der um keine Linie zu viel, um keinen Stein zu wenig ist. (Bd. 8, 249)107
Im ersten Satz findet sich eine Anspielung auf Schillers Sentenz aus Wallensteins Tod, bei der jedoch die Sätze in umgekehrter Reihenfolge zitiert sind.108 Diese Änderung deutet eben an, dass Kraus die materielle Ebene des Mediums, in der sich unfertige »Gedanken« drängen, für wichtiger hielt als die Ebene der »Sachen«. Welche leitende Idee liegt aber diesem ästhetischen Konzept zugrunde? Einen Anhaltspunkt für eine Antwort auf diese Frage können wir in einer Glosse finden, in der er einen außerordentlichen Plan der Werkpublizierung erwähnt hat. Dort bemerkt er anlässlich der Veröffentlichung seines zweiten Aphorismusbuches Pro domo et mundo, dass er die beinahe ein halbes Jahr dauernden Korrekturarbeit seinem Mitarbeiter Richard Weiß verdanke, und schlägt eine alternative Arbeitsweise vor: Wäre aber die Autonomie des Sprachlichen vor deutschen Lesern schon besiegelt, so gäbe es eine noch bessere Lösung als das Verständnis des verständigsten Beurteilers: von immer zwei Wegen, die von Wort zu Wort führen, beide wählen und kein Buch erscheinen lassen, sondern seine Korrekturen. (F 341 / 42, 50)
Die »Autonomie des Sprachlichen« können wir im Sinne der folgenden Erkenntnis de Saussures begreifen: »Das sprachliche Zeichen vereinigt in sich nicht einen Namen und eine Sache, sondern eine Vorstellung und ein Lautbild.«109 Aufgrund dieser Abtrennung des sprachlichen Zeichens von der »Sache«, d. h. von dem außersprachlichen Objekt bzw. Referenten, konnte bei seiner strukturalistischen Sprachwissenschaft diese Beziehung zwischen der »Vorstellung« und dem »Lautbild«, dem »Signifikat« und dem »Signifikanten«, als »arbiträr« aufgefasst werden.110 Kraus’ stilistischer Versuch, die »Form« von ihrem phrasenhaft konventionalisierten Verhältnis zum »Stoff« zu befreien und dadurch diesem einen jeweils neuen »Inhalt« beizumessen, legt die Vermutung nahe, dass dieses semiologische Konzept der Sprache eine Entsprechung in Kraus’ eigener begrifflicher 107 Elias Canetti hat diese Beschaffenheit des Stils von Kraus mit »einer Chinesischen Mauer« verglichen; s. Canetti, in: Canetti, S. 46. 108 Im Original heißt es: »Leicht beieinander wohnen die Gedanken,/ Doch hart im Raume stoßen sich die Sachen« (V. 788 f.) – s. Schiller (2000), in: Stock, S. 181. 109 Saussure, S. 77. 110 Saussure, S. 78 f. Hier sind diese Termini so übersetzt: »Bezeichnetes«, »Bezeichnung (Bezeichnendes)« und »beliebig«.
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B. Kritische Übernahme von Techniken Heinrich Heines
Triade Form / Stoff / Inhalt hat.111 In der bisherigen Forschung wurde seine Sprachauffassung tatsächlich unter Berufung auf den die Theorie de Saussures übernehmenden Prager Strukturalismus ausgelegt,112 auch wurde darauf hingewiesen, dass sein Mitarbeiter Weiß »eine mit »Heine und die Folgen« konvergierende kultur- und kunstkritische Tendenzwende« unter dem Aspekt einer »Materialästhetik« vertreten habe, die »eine neue Beziehung zwischen künstlerischer Produktion und Konsumption« durch »die Aktivierung des Zuschauers, des Lesers, des Betrachters« aufgedeckt habe.113 Solche Betrachtungen sind deshalb wichtig, weil sie dem Spezifikum der Krausschen Forderung an das Publikum nach dessen aktiver Beteiligung an einem antireferentiellen Literaturverständnis genau zu entsprechen scheinen. Auch diese Forderung war offenbar durch seine Pressekritik motiviert: Das Verlangen, daß ein Satz zweimal gelesen werde, weil erst dann Sinn und Schönheit aufgehen, gilt für anmaßend oder hirnverbrannt. So weit hat der Journalismus das Publikum gebracht. Es kann sich unter der Kunst des Wortes nichts anderes vorstellen als die Fähigkeit, eine Meinung deutlich zu machen. Man schreibt »über« etwas. (Bd. 8, 232)
Im Gegensatz zur strukturalistischen Sprachwissenschaft hat Kraus allerdings die Sprache nicht in einem statischen Modell objektiviert, das man intellektuell abhandeln könnte. Fragwürdig ist auch die einfache Reduzierung seines ästhetischen Konzepts auf eine »Materialästhetik«. Hier scheint jedoch aufgezeigt zu sein, worin die ästhetische Grundlage seiner Kritik an Heine besteht: Es handelt sich um das »Sprachproblem« als solches, dessen kritische Implikation über die der »klassisch-romantischen geschmackskontrollierten Satire«114 bei Heine weit hinausgeht. Freilich dürfen wir die Position Heines nicht lediglich als »klassischromantisch« bezeichnen, weil er sich, zumal in der zweiten Hälfte seines Lebens, immer mehr zum »Aristophanische[n] Prinzip der unnachsichtigen satirischen Destruktion«115 wendete und »das Gezielte und Parteiische – eben das Rhetorische – der Ironie Heines mit der romantischen Ironie als ›Form des Paradoxen‹ (Friedrich Schlegel) nicht vereinbar«116 war. Trotzdem wirft Kraus’ Beschäftigung mit dem Problem der Materialität des sprachlichen Mediums, zu dem nicht nur die Schrift, 111
s. dazu Bodine, in: MAL, 1975, S. 288 f., 291 f. Hier gliedert Bodine die Krausschen Begriffe »Wort« bzw. »Form« und »Wesen« ins so genannte »semiotic triangle« ein und behauptet: »Although Kraus never offered an unambiguous systematic explication of his understanding of semantic questions (nor intended to), it is our claim that he also conceived of meaning as being realized in language through the mental association between concept and form, and concept and referent.« 112 Quack, S. 234 ff. 113 Mittenzwei, in: Slupianek, S. 9. Der Begriff »Materialästhetik« geht auf Michail Bachtins Abhandlung ›Inhalt, Material und Form im Wortkunstschaffen‹ von 1924 zurück, in der er zur Bezeichnung der ästhetischen Konzeption vor allem der so genannten »Formalen Schule« eingeführt wurde; s. dazu Krolop, in: Kaszyński / Scheichl, S. 38. 114 Fingerhut, S. 31. 115 Fingerhut, S. 93. 116 Scheiffele, in: Scheiffele, S. 241.
III. Legitimation der Satire als Kunst
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sondern – was zu zeigen sein wird – auch die Stimme gehörte, sowie seine Forderung einer sozusagen hermeneutischen Bemühung des Publikums ein Schlaglicht darauf, was er bei Heine noch vermisste.
III. Legitimation der Satire als Kunst im Gegenzug zur Herrschaft der Presse 1. Zu Kraus’ »Spracherotik« a) »Lust und Qual« bei dem »Abenteuer« der Arbeit am Wort Wie schon in B. I. 3. gezeigt wurde, sind in den Heine-Essay manche Aphorismen einmontiert, in denen die Sprache als Frau personifiziert ist. In welcher Beziehung der Künstler als »Diener am Wort« zur Sprache als der »Herrin der Gedanken« steht, veranschaulicht Kraus allegorisch in mehreren Passagen noch konkreter: Die französische gibt sich jedem Filou hin. Vor der deutschen Sprache muß einer schon ein ganzer Kerl sein, um sie herumzukriegen, und dann macht sie ihm erst die Hölle heiß. Bei der französischen aber geht es glatt, mit jenem vollkommenen Mangel an Hemmung, der die Vollkommenheit einer Frau und der Mangel einer Sprache ist. (Bd. 4, 186) Von den Sprachen bekommt man alles, denn alles ist in ihnen, was Gedanke werden kann. Die Sprache regt an und auf, wie das Weib, gibt die Lust und mit ihr den Gedanken. Aber die deutsche Sprache ist eine Gefährtin, die nur für den dichtet und denkt, der ihr Kinder machen kann. (Bd. 4, 187)
Hier wird der Gestaltungsprozess des Stils unmittelbar mit einer Beziehung zu einer Geliebten sowie einer Ehefrau verglichen. Die Sinnlichkeit der Frau, die er gegen die Skandalsucht der Presse verteidigt hat, ist auf zwei Sprachen projiziert, deren Unterschied nach dem Kriterium der An- oder Abwesenheit von »Hemmung« beurteilt wird. Für ihn als »Erotiker« stellt »das Hauptmerkmal des Geschlechts nie Anziehung, stets Hemmung« (Bd. 8, 25) dar und ist auch der »Parallelismus von Witz und Erotik« deswegen annehmbar, weil beide aus »Hemmung« geboren seien (Bd. 8, 30). Bei Heine findet er einen gegensätzlichen Fall: Die Sprache war ihm zu Willen. Doch nie brachte sie ihn zu schweigender Ekstase. Nie zwang ihn ihre Gnade auf die Knie. Nie ging er ihr auf Pfaden nach, die des profanen Lesers Auge nicht errät, und dorthin, wo die Liebe erst beginnt. (Bd. 4, 210)
Hier, nahezu am Ende des Heine-Essays, scheint die auf Heines Stil bezogene dreifache Negation (»nie«) Kraus’ eigene Schreibart als positives Gegenmodell zu implizieren. In ähnlicher Perspektive wird in mehreren Aphorismen – wie in dem über die »markverzehrende Wonne der Spracherlebnisse« (F 272 / 73, 48 sowie Bd. 8, 135) – der aktive Anteil der Sprache bzw. des Wortes an der Entstehung des »Gedankens« thematisiert:
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B. Kritische Übernahme von Techniken Heinrich Heines Die Sprache ist die Mutter, nicht die Magd des Gedankens. (Bd. 8, 235) Der Gedankenlose denkt, man habe nur dann einen Gedanken, wenn man ihn hat und in Worte kleidet. Er versteht nicht, daß in Wahrheit nur der ihn hat, der das Wort hat, in das der Gedanke hineinwächst. (Bd. 8, 235)
Im ersten Aphorismus wird durch die Einsetzung des gegensätzlichen Wortpaares »Mutter« / »Magd«, im zweiten durch eine Auffrischung des bildhaften Sinns der Redensart »etwas in Worte kleiden« die allgemeine Ansicht über die Sprache verfremdet. Die Kleid-Metapher, hier für »Worte« anstelle von »Form« benutzt117, wird an einer anderen Stelle mit der Körpermetapher kontrastiert: Nichts wäre törichter, als von Formtiftelei zu sprechen, wo Form nicht das Kleid des Gedankens ist, sondern sein Fleisch. Diese Jagd nach den letzten Ausdrucksmöglichkeiten führt bis ins Eingeweide der Sprache. Hier wird jenes Ineinander geschaffen, bei dem die Grenze von Was und Wie nicht mehr feststellbar ist, und worin oft vor dem Gedanken der Ausdruck war, bis er unter der Feile den Funken gab. (Bd. 8, 133)118
An solchen Beispielen zur Veranschaulichung des Primats des Formalen können wir feststellen, dass die Materialität des sprachlichen Mediums, hier offensichtlich die der Schrift, bei Kraus als so lebendig wie ein Menschenkörper betrachtet wird. Die Körpermetapher scheint dann noch plastischer zu werden und zur Verbildlichung der nicht nur passiven Rolle des Künstlers beim ›erotischen‹ Wechselspiel von »Gedanke« und »Sprache« beizutragen, wenn sie mit der Zeugungsmetapher in Verbindung gebracht ist: Die Sprache Mutter des Gedankens? Dieser kein Verdienst des Denkenden? O doch, er muß jene schwängern. (Bd. 8, 238) Der Sinn nahm die Form, sie sträubte und ergab sich. Der Gedanke entsprang, der die Züge beider trug. (Bd. 8, 235)
Für Kraus hat sogar die Metapher überhaupt einen solchen spracherotischen Charakter. In der Sprachkunst nennt man es eine Metapher, wenn etwas »nicht im eigentlichen Sinne gebraucht wird«. Also sind Metaphern die Perversitäten der Sprache und Perversitäten die Metapher der Liebe. (Bd. 8, 26)119 117
s. dazu B. II. 1. In einem anderen Aphorismus findet sich eine vergleichbare Passage: »Daß die Gedanken aus der Sprache kommen, leugnen vorweg die, welche sprechen können. Denn sie haben an sich ähnliches noch nie beobachtet. Das Kunstwerk entsteht nach ihrer Meinung als Homunkulus. Man nimmt einen Stoff und tut ihm die Form um. Aber wie kommt es, daß sich die Seele Haut und Knochen schafft? Sie, die irgendwo auch ohne Haut und Knochen lebt, während diese nirgend ohne Seele leben können und nicht imstande sind, sie sich zu verschaffen, wenn sie wollen« (Bd. 8, 238 f.). 119 Vgl.: »In der erotischen Sprache gibts auch Metaphern. Der Analphabet nennt sie Per versitäten. Er verabscheut den Dichter« (Bd. 8, 186). 118
III. Legitimation der Satire als Kunst
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Wie er die sexuelle »Perversität« eines Oscar Wilde ins Positive umgewertet hat, so versucht Kraus hier im Zug seiner erneuten Betrachtung des »Sprach problems«120, erotische Metaphern – vorwiegend in Aphorismen – derart zu verketten, dass sie als Denkmodell einen gleichsam »heuristischen Wert« bekommen.121 Josef Quack findet dabei »den Übergang der Stilkritik zur emphatischen Sprachverehrung« dokumentiert, die er als »Spracherotik« bezeichnet,122 und Nike Wagner sieht in Kraus »[…] die geniale Doppelbegabung des Satirikers und Sprachdenkers, sich auf die rhetorisch-forensischen Qualitäten der Sprache ebenso zu verstehen wie auf ihre ästhetisch-erotischen«.123 Bei Kraus’ Sprachauffassung ist jedoch auch ein zu jenem Moment der Lust komplementäres zu beachten. Der Aphorismus, aus dem oben ein Beispiel für die Körpermetapher angeführt wurde, beginnt mit den folgenden Sätzen: Lebensüberdrüssig sein, weil man in seiner Arbeit einen Fehler gefunden hat, den kein anderer sieht; sich erst beruhigen, wenn man noch einen zweiten findet, weil dann den Fleck auf der Ehre die Erkenntnis der Unvollkommenheit menschlichen Bemühens deckt: durch solches Talent zur Qual scheint mir die Kunst vom Handwerk unterschieden. (Bd. 8, 133)
Dieser »Qual« bzw. »Selbstbeschwerung« (Bd. 8, 133) entspreche folgendes Verfahren: »Ich habe oft schon um eines Wortes willen, das die Milligrammwaage meines Stilempfindens ablehnte, die Druckmaschine aufgehalten und das Gedruckte vernichten lassen« (Bd. 8, 133). Es geht hier um die Korrekturarbeit als Nachspiel des Schreibaktes, die Kraus metaphorisch »Wochenbett« (Bd. 8, 134) bzw. »Bahrgericht« (Bd. 8, 326)124 nennt, was »Geburt« und im Kontrast dazu »Tod« bzw. »Mord« konnotiert. Den Akt, etwas zu schreiben und in Druck zu geben, hat er immer wieder als einen wechselvollen, abenteuerlichen Prozess beschrieben, der stets nur widerwillig beendet werden müsse. Dies ist das Thema eines Aphorismus, in dem die Ekstase der »Arbeit am Wort« mit dem »letzten Vollzug der Wollust« bei einem Hingerichteten verglichen wird, und zwar mit der Erklärung, der Geist habe »[…] tiefere Wollust, als der Körper beziehen könnte« (Bd. 8, 300). Schließlich steigt Phantasie vier Treppen hoch, um das Weib nicht zu finden, und bis zum Himmel, ohne es zu suchen. Sie hat sich des Stoffs begeben. Aber sie hat die Form, in der der Gedanke wird und mit ihm die Lust. Sie ahnt, was keiner zu wissen vermag. Sie hat sich an der Wollust gebildet und konnte von da an, durch immer neue Erlebniskreise 120
Zu diesem Begriff bei Kraus s. F 300, Rückseite des Titelblattes. Zum heuristischen Wert der Metapher als Denkmodell s. Weinrich, in: Weinrich, S. 302. 122 Quack, S. 10. 123 Wagner, S. 193. 124 Das Bild vom »Bahrgericht« scheint mit der Korrekturarbeit mit roter Tinte zusammenzuhängen. Die ganze Passage lautet: »Meine Hilflosigkeit wächst mit der Vollendung des Geschriebenen. Je näher ich an das Wort herantrete, desto mehr blutet es wie der Leichnam vor dem Mörder. Dieses Bahrgericht erspare ich mir nicht, und bedecke Ränder einer Korrektur, der fünfzehn sorglose voraufgegangen sein mögen, mit Zeichen, die wie Wundmale sind« (Bd. 8, 326 f.). 121
92
B. Kritische Übernahme von Techniken Heinrich Heines zu immer neuen Potenzen dringend, nie versagen, wenn ungeistige Begierde längst versagt hätte. (Bd. 8, 300 f.)
Hier wird der Begriff »Phantasie«, der mit Kraus’ Metapher »Perversität« eng verbunden ist,125 in den Kontext der Betrachtung über den Primat des Formalen vor dem »Stoff« eingeführt.126 Daran anschließend schildert er, unter welcher erotischen Perspektive der Prozess der Gestaltung des Stils aufgefasst werden kann: Nun bedarf sie des Anlasses nicht mehr und läßt sich an sich selbst, und genießt sich im Taumel der Assoziationen, hier einer Metapher nachjagend, die eben um die Ecke bog, dort Worte kuppelnd, Phrasen pervertierend, in Ähnlichkeiten vergafft, im seligen Mißbrauch chiastischer Verschlingung, immer auf Abenteuer aus, in Lust und Qual, zu vollenden, ungeduldig und zaudernd, immer auf zwei Wegen zum Glück, bis sie vor dem Abgrund, wo die Maschine lauert und das Unabänderliche beschlossen liegt, in Angst vergeht und an einem Hingerichteten die letzte Wollust vollzogen ist. (Bd. 8, 301)
Diese wirklich »mit einem Satz« (Bd. 8, 117) geschriebene Passage exemplifiziert als solche ein Verhalten beim Schreibakt, wie Kraus es bei Heine vermisste. Die oben wiedergegebene Gedankenallegorie enthält den Kern seiner Kritik an Heine. Dieser ist unter dem stilistischen Aspekt allein nicht erfassbar. b) Der Antagonismus von Chaos und Kosmos in der Satire Einen Einblick in diese Problematik gewährt uns Kraus’ Behutsamkeit gegen »die Gefahren des Druckes« (Bd. 4, 110), die von seinen »Abenteuern« des Schreibens offenbar nicht zu trennen waren: Wer vom Buchstaben lebt, kann vom Buchstaben sterben, ein Versehen oder der Intellekt des Setzers rafft ihn hin. Was ist aber dieser Tod, über den man sich mit der Unvollkommenheit menschlicher Einrichtungen tröstet, was ist ein Betriebsunfall gegen den Schmerz der nachgeborenen Gedanken? (Bd. 8, 295)
An anderer Stelle berichtet Kraus von seinen »Tagen und Nächten solchen in den Schlaf fortgesetzten Kampfes, solcher auch am fertigen Werk noch wirkender, nie beruhigter Zweifel« (F 293, 26). Obwohl er in Wirklichkeit eine ständige Druckerei hatte und in ihrem Leiter, Georg Jahoda, »einen treuen und verständnisvollen Freund« fand,127 betonte er immer wieder seine Unsicherheit nicht nur während des Prozesses seiner Stil-Gestaltung, sondern auch nach der Übergabe seiner 125
s. dazu A. III. 2. In diesem Zusammenhang ist bemerkenswert, dass Bodine die »Phantasie« als »capacity of mental conceptualization« definiert und ihre Zusammenwirkung mit dem »Geist« als »capacity of mental association« so erklärt hat: »›Geist‹ associates meaning with form (›er setzt sie zusammen‹), while ›Phantasie‹ builds the meaning the conception or ›Vorstellung.‹« – s. dazu Bodine, in: MAL, 1975, S. 290. 127 Schick, S. 48 f. Seit 1901 sind nach Schick alle Hefte der Fackel in der Druckerei Jahoda und Siegel hergestellt worden. 126
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Manuskripte in den Druck.128 Angesichts dieser Explikation des anscheinend übermäßig perfektionistischen Realisierungsversuchs seiner »Sprachreligion« ist von Belang, auf welchen Erlebnissen gerade beim Schreiben sie beruht. Er erklärt z. B. den Grund, warum er den Druck für den »Feind« des Wortes hält: Weil man bisher im Bann der journalistischen Kunstauffassung gemeint hat, die Sprache diene dazu, irgend etwas »auszudrücken«, so mußte man auch glauben, daß Druckfehler nebensächliche Störungen seien, welche die Information des Lesers nicht verhindern können. (Bd. 8, 244)
Diese Erkenntnis der nicht referentiellen Funktion der Sprache gehört zu seinem eigenen Verständnis über ihre Beziehung zur »Welt«. Nach seinen Ausführungen über den Aspekt seiner Sprachauffassung, der sich auf die »Qual«, v. a. auf den unendlichen Prozess der Korrekturarbeit, bezieht, zieht Kraus das Fazit: […] es galt ja das Chaos abzubinden und den beweglichen Inhalt so zu umfassen, daß er sich bewegend stehe. […] Es heißt einen Strom auf zwei Armen in sein Haus tragen […]. (Bd. 8, 295)
Durch den metaphorischen Gebrauch der Verben »abbinden« und »umfassen« werden das »Chaos« und dessen »beweglich[er] Inhalt« mit neugeborenen Lebenswesen verglichen, denen man Halt und Geborgenheit gibt (»umfassen«), ohne damit diesem »Inhalt« seine Dynamik (»sich bewegend«) zu nehmen. Überdies wird dieser »beweglich[e] Inhalt« mit einem »Strom« gleichgesetzt. Dadurch angesprochen sind offensichtlich der »Gedanke« als aphoristischer Stil und seine »Klitterung« (Bd. 8, 327), für die der Heine-Essay selbst ein typisches Beispiel darstellt. Im Gegensatz dazu macht Kraus in einem anderen, ironisch formulierten Aphorismus, in dem es um eine phrasenhafte Beziehung zwischen »Form« und »Stoff« geht, von dem Antonym zu »Chaos« Gebrauch: Die Feuilletonisten plündern den Hausrat der Natur, um ihre Stimmungen zu bekleiden. Wenn sie sich schnäuzen, muß es donnern, sonst würde man die Bedeutung nicht verstehen. »Das ist wie wenn« sagen sie und tun dem Kosmos große Ehre an (Bd. 8, 242)
Wie die darauf folgende Erwähnung des Fichtenbaum-Gedichts im Buch der Lieder Heines zeigt, wird hier Kraus’ Kritik an der feuilletonistischen Dichtungsart als »Einkleiden fertiger Stimmungen« (F 199, 3) im Essay ›Um Heine‹ paraphrasiert.129 Insofern können wir annehmen, dass der »Kosmos« ein schon fertig gestelltes ordentliches Zeichensystem bedeutet, das den »Feuilletonisten« zur Ver 128 So wurde Kraus durch einen Druckfehler zu einem Aphorismus über die Sprache veranlasst. 1909 wurde nämlich in der Fackel ein Aphorismus gedruckt: »Ich habe manchen Gedanken, den ich nicht habe und nicht in Worten fassen könnte, aus der Sprache geschöpft« (F 285 / 86, 31 bzw. Bd. 8, 236). Dann, 1912, erschien die Berichtigung: »Ich habe manchen Gedanken, den ich nicht habe und nicht in Worte fassen könnte, aus der Sprache geschöpft.« Der Drucker setzte: »in Worten fassen könnte«. Im Gegenteil und folglich: ich habe manchen Gedanken, den ich nicht in Worte fassen könnte, in Worten gefaßt« (F 360 / 62, 15 bzw. Bd. 8, 236). 129 s. dazu B. I. 2.
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fügung steht, »den Hausrat der Natur« zu »plündern«, d. h. nicht die Natur, sondern sich auszudrücken. Diese Auslegung wird auch dadurch nahe gelegt, dass er selbst seine Beziehung zur Sprache sowie zum Geschlechtlichen als eine Art Naturerlebnis verstanden hat, als etwas, das sich nicht nur seiner Kontrolle verweigert, sondern ihn sogar gefährden kann. Dies ist das Thema eines Aphorismus, der, wiederum mit Bezug auf die »Strom«-Metapher, von der »Hemmung« als einer Quelle von Witz und Erotik handelt: Dort ist sie [die Hemmung, Anm. d. Verf.] eine Wehr im Fluß der Sprache, hier im Strom des Geschlechts. Strömt es ungedämmt, heilige Naturkraft macht uns ehrfürchtig schauern. Nur einen Buchstaben hinein, eine Hemmung des Gehirns, und wir wissen uns im Schutz einer Kultur, – deren Schrecken uns nicht einmal mit Bewunderung erfüllen können. (F 237, 10 f.)
Hier sind »Fluß« sowie »Strom«, in denen man ertrinken mag, als ein Naturphänomen wie: der »Donner« (Bd. 8, 125) angesprochen, die eher der Erhabenheits- als der Schönheitskategorie zugehören.130 In der Gegenüberstellung von »heilig[er] Naturkraft« und »Kultur« können wir ein Schema finden, das dem von »Chaos« und »Kosmos« entspricht. Was dabei auffällt, ist, dass das ehrfürchtige Schauern sowie die »Bewunderung« angesichts des »Schreckens« der Natur als für die Kunst konstitutiv angesehen werden. Es ist im höchsten Grad wichtig, zu sehen, dass Kraus’ ›Buchstaben-Besessenheit‹, welche die Materialität der Schrift betrifft, nicht etwa von einer Idiosynkrasie, sondern von seiner Kunstauffassung herrührt, wobei »Kosmos« und »Chaos« als deren polare Prinzipien gelten. Im Essay ›Druck und Nachdruck‹ thematisiert er diese Prinzipien, indem er das Motiv »Chaos« mit dem religiösen Schöpfungsmythos in Verbindung bringt: Nun kann man freilich über religiöse Angelegenheiten nicht streiten, und die Zeit muß sich damit abfinden, daß einer, der sich als einen Todfeind des Ästhetizismus gibt, das Geheimnis eines Doppelpunkts für wichtiger hält als die Probleme der Sozialpolitik. Wir können darüber nicht streiten, ob der Schöpfer oder der Nützer dem Geist näher ist; ob es auf dem Umfang des Schöpferischen ankommt und ob nicht in der Wonne sprachlicher Zeugung aus dem Chaos eine Welt wird. (F 293, 23 f.)
Der letzte Satz dieser Passage, die wir als eine Explikation der Krausschen »Sprachreligion« lesen können, wurde im Heine-Essay leicht abgeändert zitiert (s. dazu Bd. 4, 202). Da zeigt sich, dass Kraus in der Beziehung der Sprache zur »Welt« neben dem referentiellen ein »zeugendes« Moment erkannt hat, das von der »erotischen« »Wonne« untrennbar verbunden ist. Wie hat die Forschung auf solch ein Sprachverständnis reagiert? Mechthild Borries z. B. kritisiert Kraus’ »Gleichsetzung von Wort und Ding, Sprache und Sache«; sie entspringe »dem Glauben an einen ewigen und unveränderlichen Bestand von Gedanken, die im ›Ursprung‹ verankert sind«.131 Hier wird 130
s. dazu B. II. 2. a). Borries, S. 44.
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»das Bekenntnis der metaphysischen Einheit von Wort und Welt«,132 das nach der Ansicht von Leopold Liegler bei Kraus zu finden sei, als antimodern verworfen. Eine ganz andere Meinung vertritt Helmut Arntzen, wenn er Kraus’ Sprachdenken in die Tradition des Sprachskeptizismus situiert, der angesichts der wachsenden Macht des Journalismus im 19. Jahrhundert ständig zugenommen habe: [G]erade indem die Presse sich und damit ihr Sprechen im ganzen als bloßes Mittel vorstellt, das als Medium keine ›eigenen‹ Objekte nenne könne, fällt die scheinhafte Dichotomie von Sprache und ›Sache‹, Zeichen und Bezeichnetem in sich zusammen. Der journalistische Sprachgebrauch als völlig instrumentalisierte Sprache, die aber mangels einer eigenen Gegenständlichkeit nur an sich interessiert ist, produziert nun Faktum und Meinung so, wie es ihm entspricht: journalismusgemäß. Welt als Realität und Bewußtsein journalisieren sich. Davon spricht Karl Kraus, indem er Weltgeschichte als »Sprachgeschichte« und diese – seit dem Ende des 19. Jahrhundert – als Geschichte journalistischen Sprachgebrauchs begreift.133
Die Aporie des Sprachskeptizismus wie etwa bei Fritz Mauthner bzw. bei Hofmannsthal, die darin bestehe, den Wahrheitsanspruch ihrer sprachlichen Darlegung selbst nicht in Frage zu stellen, habe Kraus überwunden, indem er »das Sprachproblem als ein Problem des geschichtlichen Augenblicks« begriffen und »Sprachkritik daher als Kritik an bestimmten Sprachgebräuchen« verstanden habe.134 Deren Kriterien habe er »durch den ständigen ex- und impliziten Vergleich von Presse und Dichtung« gewonnen.135 Unter einer ähnlichen Perspektive sieht Hannelore Ederer die »größte ideologiekritische Leistung von Kraus« darin, dass er »[…] das Zerfallen von Sprache und Sache bis hin zur Verselbständigung der Sprache literarisch konkret dargestellt« habe.136 Bei solchen Bemerkungen kommt unverkennbar die Tendenz zum Vorschein, den ästhetischen Gehalt des Sprachdenkens bei Kraus völlig außer Acht zu lassen. Wie wir sahen, unterscheidet sich jedoch seine Ästhetik der Satire von einer idealistischen Ästhetik etwa Schillerscher Provenienz besonders dadurch, dass er auf die materielle Ebene beim Druck den Schwerpunkt gelegt und dabei weniger die Aktivität als die Passivität des Künstlers betont hat. Dabei kehrt das ethische Motiv, das schon in seiner Stilkritik eine entscheidende Rolle spielte, auch in seiner Sprachauffassung wieder. Die Dichter sind schon in der Natur enthalten, in deren Belieben es ist, sie auszudrücken. Lyrik liegt jenseits der günstigen Gelegenheit, daß Fichtenbäume träumen. Lyrik ist nicht die Prätension eines kleinen Ich, von der Natur angeschaut und bedient zu werden, sondern beruht auf einer Gegenseitigkeit, bei der auch dem Dichter die Augen übergehen. Die Bequemlichkeit, daß immer ein Sinniges folgt, wenn ein Inniges da ist, hat das deutsche Ohr
132
Liegler (1918), S. 16. Arntzen (1983), in: Arntzen, S. 105. 134 Arntzen (1983), in: Arntzen, S. 106. 135 Arntzen (1983), in: Arntzen, S. 106. 136 Ederer, S. 364. 133
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B. Kritische Übernahme von Techniken Heinrich Heines verführt und unsäglichen Jammer über die Kunst gebracht. Schmach über eine Jugend, die davon nicht lassen will! (Bd. 8, 242)
Es ist dieser Punkt, von dem aus wir Kraus’ Ansicht über die Beziehung der Sprache zur Welt neu überdenken müssen [s. dazu B. III. 3. a)]. Doch zunächst untersuchen wir, wie dieses in spezifischer Weise ästhetische Thema auch im HeineEssay den Höhepunkt des »Sprachproblems« bei Kraus darstellt. 2. Theatralische Usurpation der Stelle eines »großen Satirikers« a) Das Paradox der »Präformiertheit der Gedanken« beim mimischen Zitat Im Heine-Essay gibt es zwei Stellen, an denen das Thema der »erotischen Beziehung« des Künstlers zur Sprache ausführlich erörtert wird. Die erste Stelle folgt auf Kraus’ Behauptung, den Gedichten Heines mangelten Humor und Witz. Für diese Stelle charakteristisch ist, dass sie längere, teilweise veränderte Zitate aus dem Essay ›Druck und Nachdruck‹ von 1909 enthält und ihr Stil, wie Kraus selbst betont, einen eminent »paradoxen« Charakter aufweist. Direkt davor verspottet er Heines Gedicht ›Wartet nur!‹ aus den Neuen Gedichten wie folgt: »»Gleichfalls fürs Donnern ein Talent haben« – das sieht ja dem Journalismus ähnlich. Aber von Donner kein Ton und vom Blitz nur ein Blitzen. Nur Einfälle, nur das Wetterleuchten von Gedanken, die irgendwo niedergegangen sind oder irgendwann niedergehen werden« (Bd. 4, 201).137 Daran anschließend beginnt die betreffende Passage: Denn wie eigene Gedanken nicht immer neu sein müssen, so kann, wer einen neuen Gedanken hat, ihn leicht von einem andern haben. Das bleibt für alle paradox, nur für jenen nicht, der von der Präformiertheit der Gedanken überzeugt ist, und davon, daß der schöpferische Mensch nur ein erwähltes Gefäß ist, und davon, daß die Gedanken und die Gedichte da waren vor den Dichtern und Denkern. Er glaubt an den metaphysischen Weg des Gedankens, der ein Miasma ist, während die Meinung kontagiös ist, also unmittelbarer An steckung braucht, um übernommen, um verbreitet zu werden. Darum mag ein schöpferischer Kopf auch das aus eigenem sagen, was ein anderer vor ihm gesagt hat, und der andere ahmt Gedanken nach, die einem schöpferischen Kopf erst später einfallen werden. Und nur in der Wonne sprachlicher Zeugung wird aus dem Chaos eine Welt. (Bd. 4, 201 f.)
In bewusster Opposition gegen die übliche Meinung über den Wert des aktiven und originalen Denkens ist hier das Privileg eines »schöpferisch[en] Kopf[es]« bzw. »Mensch[en]« hervorgehoben, der einen Gedanken nur rezeptiv und später als ein anderer hat. Daraus können wir schließen, dass es sich an dieser Passage um eine herausfordernde Relativierung der traditionellen Genie-Ästhetik handelt, nach der behauptet wird, die Originalität müsse die »erste Eigenschaft« des Genies 137
Kraus bietet hier eine Variante eines seiner Aphorismen (s. Bd. 8, 125).
III. Legitimation der Satire als Kunst
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sein.138 Jedoch bemerkt Borries zum Thema dieser Stelle, dass »[…] die Normen sei ner [Kraus’, Anm. d. Verf.] Sprachvorstellung, an denen gemessen die Sprache seit Heine unter dem Aspekt des Verfalls erschein[e], sich an einem vergangenen Sprachmodell, dem der Klassik zumal, orientier[e]«.139 Überdies schreibt der Semiotiker und Avantgardist Max Bense aufgrund dieser Passage Kraus eine »platonische Idee der Sprache« zu, die »[…] für eine andere Idee, die der essentiellen Konstruktivität der Sprache, höchst gefährlich und voll mörderischer Effekte für jede Art von semantischer Einbildungskraft« sei.140 Um solche Thesen zu widerlegen, müssen wir darauf aufmerksam machen, dass diese Passage aus dem Essay über die Probleme des Drucks (›Druck und Nachdruck‹) stammt und es unter Begriffen wie »Präformiertheit«, »ein erwähltes Gefäß« und »metaphysisch« zwar beeindruckende Assoziationen im biologischen, dichterischen und philosophischen Wortfeld, jedoch keine begriffliche Konsistenz gibt.141 Darüber hinaus wissen wir schon, dass die »Wonne« bzw. das »Chaos« in Kraus’ Aphorismen den Zustand bei seiner Gestal tung des Stils bezeichnet haben. Es liegt also viel näher anzunehmen, dass er seine Sprachauffassung nur in andersartiger Diktion durch eine neue Wortwahl variiert hat. Entsprechendes gilt auch für die kurz darauffolgende Passage, die aus dem Essay ›Druck und Nachdruck‹ beinahe buchstäblich zitiert wird: Alles Geschaffene bleibt, wie es da war, eh es geschaffen wurde. Der Künstler holt es als ein Fertiges vom Himmel herunter. Die Ewigkeit ist ohne Anfang. Lyrik oder ein Witz: die Schöpfung liegt zwischen dem Selbstverständlichen und dem Endgültigen. Es werde immer wieder Licht. Es war schon da und sammle sich wieder aus der Farbenreihe. Wissenschaft ist Spektralanalyse: Kunst ist Lichtsynthese. Der Gedanke ist in der Welt, aber man hat ihn nicht. Er ist durch das Prisma stofflichen Erlebens in Sprachelemente zerstreut, der Künstler schließt sie zum Gedanken. Der Gedanke ist ein Gefundenes, ein Wiedergefundenes. Und wer ihn sucht, ist ein ehrlicher Finder, ihm gehört er, auch wenn ihn vor ihm schon ein anderer gefunden hätte. (Bd. 4, 202, Vgl. F 293, 24)
Hier ist zunächst ein poetisches Ideal wie das eines priesterlichen Dichters in gehobenem Stil erzählt, worauf ein quasi wissenschaftlicher Vergleich der Dichtung mit der Optik folgt, um die redensartige Formulierung vom »ehrliche[n] Finder«142 138
Kant, S. 161. Borries, S. 46 f. Die Singularform des Verbs »orientiert« folgt hier dem Original. 140 Bense, in: Mann / Rothe, S. 374. 141 Den Begriff »Präformiertheit« können wir auf die im 18. Jh. vertretene biologische »Präformationstheorie« beziehen, »nach der jeder Organismus durch Entfaltung bereits in der Ei- od. Samenzelle vorgebildeter Teile entsteht.« – s. dazu Wissenschaftlicher Rat der Dudenredaktion, Bd. 7, S. 2986. Das Motiv »ein erwähltes Gefäß« gemahnt etwa an den Vers in Hölderlins Gedichtfragment ›Buonaparte‹: »Heilige Gefäße sind die Dichter […]« (V. 1) – s. Hölderlin (1984), in: Sattler/Knaupp, S. 418. 142 In Grimms Wörterbuch findet sich ein Beispiel: »ein Ring gieng verloren, der redliche Finder wird ersucht ihn abzugeben« (Grimm, S. 1649). In neueren Wörterbüchern etwa: »der ehrliche Finder wird gebeten…« (Wahrig, S. 1301); »Was bekommt der ehrliche Finder? (scherzhafte Frage, wenn man jemandem etwas Verlegtes, Vergessenes bringt)« (Dudenredaktion, Bd. 2, S. 845). 139
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B. Kritische Übernahme von Techniken Heinrich Heines
anzusteuern. An dieser Stelle können wir ein typisches Beispiel für jenen bewussten Stilbruch finden, der nach Sigurd Paul Scheichl »in der Fackel vielleicht nicht viel weniger Bedeutung hat als das Wortspiel«, indem er »als Parodiesignal und als Mittel der Zurücknahme von falschem Pathos eingesetzt wird«.143 So eröffnet sich uns ein Text, der die Suche nach einem eindeutigen Sinne stets zu unterlaufen droht. In diesem Zusammenhang fällt auf, dass Kraus im Originaltext von 1909 nach dieser Passage selbst fragt: »Doch was hat dies mit einem Nachdruckverbot zu schaffen?« (F 293, 24). Anstatt darauf direkt zu antworten, berichtet er über seine eigene Erfahrung: Die Redakteure nehmen aber, was ihnen passt, und markieren die Auslassungen nicht einmal durch Punktreihen. Welchem organischen Ganzen der Teil genommen war, ist dann nicht mehr zu erkennen. Daß man durch Streichung eine Plattheit in einen Gedanken, aber auch einen Gedanken in eine Plattheit verwandeln kann, verstehen diese sprachverlassenen Meinungssucher nicht. Und sie tun ein Übriges: sie sehen auch nicht nach, wie der Setzer ihr Flickwerk zugerichtet hat. (F 293, 25)144
Diese Klage führt zum Schluss zu einem extremen Kompromissvorschlag: »Nachdruck nur ohne Quellenangabe gestattet!« (F 293, 27). Angesichts dieses Postulats können wir nicht umhin, uns zu fragen, ob wir in der Forschung nicht Kraus’ »Gedanken« tatsächlich in eine »Plattheit« verwandeln, auch wenn wir sie nicht nachdrucken, sondern lediglich zitieren. Gehen wir nun von der Prämisse aus, dass das Problem des Nachdrucks als eines des Zitierens anzusehen ist, können wir einen deutlichen, wenn auch widerspruchsvollen Anhaltspunkt für den verhüllten Kern der Krausschen Sprachauffassung gewinnen. An einer auf das Thema Künstler und Sprache bezogenen Stelle im Heine-Essay zitiert er der Reihe nach mehrere sprachtheoretische Äußerungen Heines, und zwar im Anschluss an einen Aphorismus Nietzsches: »›Die Meisterschaft ist dann erreicht, wenn man sich in der Ausführung weder vergreift noch zögert‹.«145 Wie Kraus es sieht, hat Nietzsche bei all seinen sonstigen Äußerungen über die Heinesche »Technik« allein in diesem einen Satz Heines Stil zutreffend charakterisiert. Doch diese Auffassung, die offensichtlich Kraus’ eigenen stilistischen sowie allgemein ästhetischen Ansprüchen entgegensteht, weist er dann so zurück: Das Gegenteil dieser untiefen Einsicht ist die Sache des Künstlers. Seine Leistung sind Skrupel; er greift zu, aber er zaudert, nachdem er zugegriffen hat. Heine war nur ein Draufgänger der Sprache; nie hat er die Augen vor ihr niedergeschlagen. Er schreibt das Bekennt 143
Scheichl, in: Scheichl / Timms, S. 130, 132. Dieses Thema wird z. B. in dem folgenden Aphorismus noch anschaulicher: »Mein Wort in der Hand eines Journalisten ist schlechter, als was er selbst schreiben kann. Wozu also die Belästigung des Zitierens? Sie glauben Proben eines Organismus liefern zu können. Um zu zeigen, daß ein Weib schön ist, schneiden sie ihm die Augen aus. Um zu zeigen, daß mein Haus wohnlich ist, setzen sie meinen Balkon auf ihr Trottoir« (Bd. 8, 245). 145 Kraus zitiert hier Nietzsche, Morgenröthe, Aph. 537. Bei Nietzsche steht der Satzteil »[…] noch zögert« im Sperrdruck; s. dazu Nietzsche (1971), in: Colli / Montinari, S. 310. 144
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nis hin: »Der Grundsatz, daß man den Charakter eines Schriftstellers aus seiner Schreibweise erkenne, ist nicht unbedingt richtig; er ist bloß anwendbar bei jener Masse von Autoren, denen beim Schreiben nur die augenblickliche Inspiration die Feder führt, und die mehr dem Worte gehorchen, als befehlen. Bei Artisten ist jener Grundsatz unzulässig, denn diese sind Meister des Wortes, handhaben es zu jedem beliebigen Zwecke, prägen es nach Willkür, schreiben objektiv, und ihr Charakter verrät sich nicht in ihrem Stil«. So war er: ein Talent, weil kein Charakter; bloß daß er die Artisten mit den Journalisten verwechselt hat. (Bd. 4, 208 f.)
Hier ist zusammengefasst, was Kraus nach seiner »ästhetischen Wendung« mit der eigenen Stiltheorie in Anspruch genommen und durch seine Auseinandersetzung mit Harden sowie Heine zu seinem nicht nur poetologischen, sondern auch ästhetisch-ethischen Kredo sublimiert hat. Wir können dies mit dem einen Begriff von der Ehrfurcht vor der Sprache zum Ausdruck bringen. Dieses Thema behandelt er zwar auch mit seinen eigenen Worten, zu denen ein Selbstzitat aus dem Aphorismus über »Talent« und »Charakter« gehört, aber vorwiegend durch das Zitat aus dem Fünften Buch von Heines Ludwig Börne.146 Es ist schon widersprüchlich, die eigene Sprachauffassung mit dem »Bekenntnis« eines Dichters zum Ausdruck zu bringen, dem zugleich vorgeworfen wird, dass diese an sich richtige Ansicht dessen eigener Schreibart fundamental entgegensteht. Ein Anhaltspunkt zu diesem Problem ist an der darauf folgenden Stelle zu finden: Und die Masse von Autoren, die dem Wort gehorchen, gibt es leider nur spärlich. Das sind die Künstler. Talent haben die andern: denn es ist ein Charakterdefekt. Hier spricht Heine seine unbedingte Wahrheit aus; er braucht sie gegen Börne. (Bd. 4, 209)
Unter Hinweis auf Heines Polemik gegen Börne, durch die Heines Ansicht über die Dichtung ex negativo gezeigt wird, lobt Kraus die Ansicht als »unbedingte« Wahrheit. Diese Diskrepanz können wir als Kennzeichen der Ironie betrachten, von der diese Passage durchdrungen ist. Eine ironische Art und Weise des Zitates ist aber nicht das einzige Moment, das diese Stelle charakterisiert. Ein anderes Merkmal kommt nun zum Vorschein, wenn Kraus sein Zitat aus Heine weiterführt: Aber da er objektiv schreibt und als Meister des Wortes dieses zu jedem beliebigen Zwecke handhabt, so paßt ihm das Gegenteil gegen Platen. In ihm sei, »ungleich dem wahren Dichter, die Sprache nie Meister geworden«; er sei »dagegen Meister geworden in der Sprache, oder vielmehr auf der Sprache, wie ein Virtuose auf einem Instrumente«. Heine ist objektiv. Gegen Börne: »Die Taten der Schriftsteller bestehen in Worten«. Gegen Platen: er nenne seine Leistung »eine große Tat in Worten« – »so gänzlich unbekannt mit dem Wesen der Poesie, wisse er nicht einmal, daß das Wort nur bei dem Rhetor eine Tat, bei dem wahren Dichter aber ein Ereignis ist«. Was war es bei Heine? Nicht Tat und nicht Ereignis, sondern Absicht oder Zufall. (Bd. 4, 209)
146
s. dazu Heine, in: Briegleb, Bd. 7, S. 130.
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Hier zitiert Kraus nicht nur aus dem Fünften Buch von Ludwig Börne, sondern auch aus dem zehnten Kapitel von Heines Die Bäder von Lucca.147 Dabei ahmt er in seinem eigenen Text Heines Worte nach; auch stellt er aus diesen beiden Werken Zitate, sie durch kurze Kommentare vermittelnd, nebeneinander, bis zu der Pointe, dass Kraus behauptet, solch gelegentliche, nach seiner Meinung richtige Bemerkungen Heines über die deutsche Sprache widersprächen dessen eigener literarischer Praxis. Dadurch bekommen wir auch den Eindruck, als wäre die Grenze zwischen Kraus’ eigenem Text und seinen Heine-Zitaten fließend. Diese Zitationsweise, die diese Passage stärker prägt als ihr Inhalt, bezeichnen wir als mimisch. Denn sie erinnert an die Mimik als körpersprachliche Ausdrucksform, die mit dem »uralte[n], kulturübergreifende[n] Theorem« verbunden ist, dass »die Seele sich im Gesicht (Mimik) und im übrigen Körper (Gestik) spiegelt, sei es in Ruhe (Physiognomik) oder Bewegung (Pathognomik)«.148 An dieser Passage mit Heine-Zitaten versucht Kraus, so nehmen wir nun an, durch eine mimische Nachahmung des Duktus von Heine eben dessen »Physiognomie« (F 232 / 33, 2) bloßzustellen, deren eventuelle Charakterlosigkeit er durch diese Nachahmbarkeit als solche bestätigt zu haben scheint. Was bedeutet es aber, dass solch eine Strategie des Zitierens, die sonst bei der Kritik am journalistischen Stil geltend gemacht wird, hier im Zusammenhang mit dem »Sprachproblem« im buchstäblichen Sinne in die Praxis umgesetzt wird? b) Eine literarische Usurpation auf der pragmatischen Ebene der Sprache In der Heine-Forschung wird u. a. behauptet, Heine habe sich tatsächlich als einen »Meister des Wortes« betrachtet;149 seine Sprachreflexion sei weder um ihrer selbst willen geschehen, noch habe sie auf sprachbezogene Erkenntnisse gezielt; sondern sie habe vielfältigen, vom jeweiligen literarischen Kontext bestimmten Funktionen gedient, vor allem »[…] der Präsentation des literarischen Künstlertums und der damit verknüpften Gelehrtheit«.150 Solche Ansichten scheinen dem Heine-Bild Kraus’ zu entsprechen. Das Problem ist dann, dass Heine trotz dieser Marginalität des Themas der Sprache in seinen Gedanken einige Blickpunkte vorweggenommen hat, die später in der Sprachauffassung bei Kraus im Vordergrund stehen, wie etwa die Sprache als »Meister« und das Wort als »Tat« bzw. »Ereignis«. In diesem Sinne kann in Bezug auf Heine tatsächlich von einer »Präformiertheit der Gedanken« gesprochen werden. Um der Diktion Kraus’ weiter zu 147
s. dazu Heine, in: Briegleb, Bd. 3, S. 454 f. Košenina, in: Weimar, S. 600. Dieser Begriff ist mit dem der »Mimesis« verwandt, bewahrt jedoch Košenina zufolge stärker »den doppelten Sinn von unwillkürlicher Repräsentation der Seele und der nachahmenden, darstellerischen Aktion des Redners oder Schauspielers.« Zu diesen Begriffen s. C. III. 3. 149 Teraoka, in: Doitsu Bungaku, S. 125 ff. 150 Roth, in: Gössmann / Windfuhr, S. 172. 148
III. Legitimation der Satire als Kunst
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folgen, hat Kraus als »ehrlicher Finder« die Sprachgedanken »wieder gefunden«, die bei Heine schon als Theorie keimten, aber noch bei weitem nicht zum Leitprinzip der Praxis erhoben wurden. Für Kraus’ Motivation zu diesem Vergleich des eigenen Schreibens mit dem Heineschen war offenbar der Gesichtspunkt der unterschiedlichen Sprachauffassung wichtiger als die Frage des Stils. Dies bedeutet jedoch auch, dass er in beiden Punkten ein Heine-Nachfolger war. Es zeigt sich also, dass es sich hier um eine kritische Übernahme der literarischen Tradition Heines handelt. Diese wollen wir als eine Art Usurpation bezeichnen. Er hat sie in einem pathetisch gespannten Stil und, im Schlussteil des Essays, auch durch eine ironisch-mimische Zitierweise eigenartig theatralisch durchgeführt.151 Dabei solle sich Heines »Meinung« über die Sprache in »Gedanken«, oder, wiederum in Kraus’ eigener Diktion, Heines »Wetterleuchten« in »Donner« verwandeln. Diese Deutung des paradoxen Inhaltes der Sprachthematik im Heine-Essay lässt sich etwa durch die Passage rechtfertigen, in der in Frage gestellt wird, wie groß Heine als Satiriker gewesen sei: Heines aufklärende Leistung in Ehren – ein so großer Satiriker, daß man ihm die Denkmalwürdigkeit absprechen müßte, war er nicht! Ja, er war ein so kleiner Satiriker, daß die Dummheit seiner Zeit auf die Nachwelt gekommen ist. (Bd. 4, 208)
Auch einige Aphorismen können als Indiz für eine solche Usurpation angesehen werden. Einer heißt etwa: Es gibt Vorahmer von Originalen. Wenn Zwei einen Gedanken haben, so gehört er nicht dem, der ihn früher hatte, sondern dem, der ihn besser hat. (Bd. 8, 237)152
Später hat Kraus diesen paradoxalen Sachverhalt, auf welchen die Neubildung »Vorahmer« hindeutet, auch in anderen Fällen verifiziert gefunden. Als er z. B. im Essay ›Überführung eines Plagiators‹ von 1921 behauptete, dass eines seiner Gedichte, dessen Metrum von einem Gedicht Franz Werfels entliehen wurde, durchaus sein eigenes Originalgedicht sei, wies er auf den »schon in ›Heine und die Folgen‹ an einem berühmteren Beispiel bezeichnete[n] Fall von Vorahmertum« (Bd. 7, 218) hin.153 Die Passage über die »Präformiertheit des Gedankens« im Heine-Essay wurde außerdem auch im Essay ›Literaturlüge auf dem Theater‹ von 1917 zitiert, um die These zu stützen, der Dramatiker Hebbel habe in seinem 151 Im Allgemeinen sind »übertriebene, überdeutliche, auf große Wirkungen kalkulierte Darstellungsweisen« als theatralisch zu bezeichnen. Dieser Begriff kommt von der »Theatralität« im Sinne »Theaterhaftigkeit« oder »Theaterähnlichkeit« her, deren genauere Bedeutung davon abhängt, »was jeweils unter dem – kulturell, sozial und historisch variablen – Terminus ›Theater‹ verstanden wird.« – s. dazu Warstat, in: Fischer-Lichte / Kolesch / Warstat, S. 358. Dieser schon in A. II. verwendete Begriff wird im nächsten Kapitel weiter erörtert. 152 Mit diesem können folgende Aphorismen verglichen werden: »Immer zieht das Original wieder ein, was ihm entnommen wurde. Auch wenn es später auf die Welt kommt.« (Bd. 8, 237) Und: »Schon mancher hat durch seine Nachahmer bewiesen, daß er kein Original ist.« (Bd. 8, 241) Oder: »Der Nachmacher ist oft besser als der Vormacher« (Bd. 8, 241). 153 s. dazu E. III. 3.
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Gedicht ›Die Sprache‹ Kraus’ Gedanken über die Sprache vor Kraus gefunden und demnach zu den Autoren gehört, die »von dem Geheimnis wissen, das sie nicht haben« (F 457 / 61, 55).154 Eine derartige Paradoxie war schon da für Kraus’ Sprachauffassung konstitutiv, wo er z. B. seine Beziehung zur Sprache mit erotischen Metaphern beschrieb. Im Heine-Essay ist die Paradoxie dadurch potenziert, dass er eigene Gedanken scheinbar seinen ›Vorgänger‹ sprechen lässt und seine These von der ›Nachträglichkeit‹ des Originals damit nicht nur theoretisch formuliert, sondern vor Ort selbst demonstriert. Diese narrative Doppelstruktur und die damit eng verbundene theatralische Schreibweise ist in der bisherigen Forschung größtenteils über sehen worden.155 Den Hauptgrund dafür können wir einer Lektüre zuschreiben, bei der einseitig das semantische Thema, also das, was Kraus schreibt, betont wird, während das pragmatische, die Art, wie er dies schreibt, vernachlässigt wird. Ziehen wir diese Seite in Betracht, wird die Voreingenommenheit der Interpretationen von Borries und Bense noch ersichtlicher. Heine wird ja von Kraus keineswegs aufgrund von dessen restaurativ-klassischem Sprachverständnis kritisiert. Diese Auffassung wird durch die biologische (organologische) Metapher »Präformiertheit« (der Gedanken) selbst bestätigt, die auf die von der zweiten Hälfte des 17. bis zur ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts dominante embryologische Theorie der Präformation zurückgreift, nach der »die Organismen im Keim schon vollkommen vorgebildet seien und nur der Entfaltung […] bedürften«.156 Denn diese Theorie wurde im 18. Jahrhundert durch die Epigenesistheorie abgelöst, die eben die deutsch-idealistische Naturphilosophie sowie die damit eng zusammenhängende ›klassische‹ Sprachanschauung der Humboldtschen Prägung beeinflusst hat.157 Während dabei die Meinung, dass »jeder Organismus aus einem völlig undifferenzierten Zustand sich entwickel[e]«158, auf die Sprache projiziert wurde, hat Kraus, so könnte man sagen, den in der Präformationstheorie implizierten Mechanismus nicht restaurativ, sondern dem anachronistischen Anschein des Terminus zum Trotz heuristisch als Metapher dazu verwendet, seine paradoxe Theorie der Zitierbarkeit des sprachlichen Originals anschaulich zu machen. So gesehen, verdient seine Art und Weise, mit Heines Texten zu operieren, vielmehr in Hinblick auf die heutige Theorie der Intertextualität, d. h. »alle[r] bewusst oder unbewusst eingesetzten Bezüge eines literarischen Textes auf andere literarische oder außerliterarische Texte«,159 betrachtet zu werden. Also können wir Kraus’ Vorstel-
154
s. dazu auch E. I.2. In ihrer Monographie kommentiert z. B. Esterhammer die betreffende Passage lediglich so: »Dabei differierten in Wirklichkeit die Ansichten der beiden Schriftsteller nicht wesentlich« (Esterhammer, S. 251). 156 So hat man zu Kraus’ Lebzeiten die Präformationstheorie verstanden; s. dazu Schmidt, S. 418. 157 s. dazu Müller-Sievers, S. 89 ff. 158 Schmidt, S. 155. 159 Gfrereis, S. 91. 155
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lung von der Sprache nur schwerlich »platonisch« (Bense) nennen, weil die autonome Dynamik der Sprache, deren Unbeherrschbarkeit er immer wieder betont, für die platonische Metaphysik nicht unterstützend, sondern zerstörend wirken müsste.160 In diesem Punkt berührt sich seine Sprachauffassung mit der Theorie über das ›rhetorische‹ Prinzip der Literatur, das der Literaturkritiker Paul de Man im Kontext seiner Kritik an der semiologischen Reduzierung der rhetorisch-figurativen Bedeutungen eines Textes auf die grammatisch-buchstäbliche mit dem der ›Dekonstruktion‹ identifiziert hat: Rhetorik ist die radikale Suspendierung der Logik und eröffnet schwindelerregende Möglichkeiten referentieller Verirrung. Und obgleich es vielleicht etwas weiter vom allgemeinen Gebrauch entfernt ist, würde ich nicht zögern, die rhetorische, figurative Macht der Sprache mit der Literatur selber gleichzusetzen. […] Dichtung ist die avancierteste und verfeinertste Form der Dekonstruktion.161
Ferner scheint unter de Mans rhetorischem Gesichtspunkt die Grenze zwischen Fiktionalität und Faktizität suspendiert zu sein. Freilich ist der Begriff ›Rhetorik‹ in diesem spezifischen Sinn, als deren Prototyp bei de Man v. a. die Metapher und die Metonymie gelten, nicht unmittelbar auf Kraus’ Satire anzuwenden. Aber »referentielle Verirrung« herrscht auch bei ihm offensichtlich vor, wenn sich etwa im Ganzen des jeweiligen Textes witzig oder pathetisch dargebotene Details, die in einem antithetischen bzw. paradoxalen Verhältnis zueinander stehen, eindeutiger Sinngebung widersetzen. Als ›dekonstruktiv‹ zu betrachten ist vor allem Kraus’ herausfordernde Bevorzugung der Kopie vor dem Original, die seine Ansicht über die »Präformiertheit der Gedanken« zu implizieren scheint.162 So beruft sich Kraus nur scheinbar auf die klassische Dichtungstheorie, wenn es im Schlussabschnitt des Heine-Essays heißt: Wenn nach Iphigeniens Bitte um ein holdes Wort des Abschieds der König »Lebt wohl!« sagt, so ist es, als ob zum erstenmal in der Welt Abschied genommen würde, und solches »Lebt wohl!« wiegt das Buch der Lieder auf und hundert Seiten von Heines Prosa. Das Geheimnis der Geburt des alten Wortes war ihm fremd. (Bd. 4, 209 f.)
Der paradoxe Ausdruck der »Geburt des alten Wortes« steht hier dem klassischen Kunstprinzip insofern entgegen, als er die Grenze zwischen Original und Kopie in Frage stellt.163 Hier gewinnt das »alte«, so alltägliche Abschiedswort 160 Wir müssen darauf achten, dass im Heine-Essay der »metaphysische[ ] Weg des Gedankens« der »unmittelbare[n] Ansteckung«, welche die »Meinung« brauche, gegenübergestellt ist (Bd. 4, 202). 161 de Man (1988), in: de Man, S. 40, 48. 162 Auch über die Beziehung zwischen Heine und seinen »Folgen« schreibt Kraus im HeineEssay: »Jeder Nachkomme Heines nimmt aus dem Mosaik dieses Werks ein Steinchen, bis keines mehr übrig bleibt. Das Original verblaßt, weil uns die widerliche Grelle der Kopie die Augen öffnet. Hier ist ein Original, dem verloren geht, was es an andere hergab« (Bd. 4, 193). 163 Bei seinem Spott über die journalistischen »Talente« im Heine-Essay gebraucht Kraus diese Formel im Plural: »Immer paßt alles zu allem, und die Unfähigkeit, alte Worte zu finden, ist eine Subtilität, wenn schon die neuen zu allem passen« (Bd. 4, 190).
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»Lebt wohl!« in der Tat einen völlig neuen Stellenwert, im Mund des taurischen Königs Thoas ebenso wie im Heine-Essay selbst, wo es gleichsam als ein an Heine gerichteter Abschied fungieren kann – ein anderes Beispiel »referentieller Ver irrung« im Sinn de Mans. Diese ausgeprägte Konzentration auf das »Sprachproblem« wurde von Dietrich Simon als »außerliterarisch« angesehen, weil ihr das Interesse für die »Überprüfbarkeit« der Literatur »durch gesellschaftliche Praxis« fehle.164 Wir müssen aber nun die Frage stellen, ob es nicht eher solch eine wie selbstverständlich voraus gesetzte Entgegensetzung von Fiktionalität und Faktizität ist, die im Zusammenhang mit Kraus überprüft werden muss. Eben ein Ineinander von diesen beiden Momenten scheint in den folgenden Aphorismen thematisiert zu sein, die wiederum erotische Metaphern enthalten: Meine Sprache ist die Allerweltshure, die ich zur Jungfrau mache. (Bd. 8, 293) Ich beherrsche nur die Sprache der andern. Die meinige macht mit mir, was sie will. (Bd. 8, 326)
Kraus hat einerseits, bei der Polemik gegen Harden, die Notwendigkeit des Schriftstellers betont, »alle Gedankengänge« zu kennen, »die sein Wort eröffnen könnte« (Bd. 8, 122). Diese handwerkliche Maxime können wir nun auf die beherrschbare »Sprache der andern« als »Allerweltshure« in der Wirklichkeit be ziehen. Andrerseits gilt die seinige, die »zur Jungfrau« gemachte Sprache als unbeherrschbar und ist in dieser Hinsicht für ein Kunstwerk grundlegend. 3. Tragweite der Sprachauffassung im Heine-Essay a) Das Bild des Laufs im Begriff »Ursprung« Die Art und Weise, wie im Heine-Essay das eigentliche Hauptthema, das »Sprachproblem«, behandelt wird, zeichnet sich dadurch aus, dass die Sprache hier keineswegs allgemein zum Gegenstand der Betrachtung gemacht wird. Stattdessen wird hauptsächlich Heines und Kraus’ eigene Beziehung zur Sprache thematisiert, und zwar so, dass der Leser möglicherweise erkennt, wie er selber lesen und schreiben sollte. In diesem Sinne können wir annehmen, dass hier ein Vorbild dargeboten wird. Ein typisches Beispiel dafür zeigt der Schluss des Essays, an dem Kraus seinen Aphorismus über die »markverzehrende Wonne der Spracherlebnisse« (Bd. 8, 135), in dem er seine ›Sprachliebe‹, durch zweifachen Gebrauch des Ausrufezeichens verstärkend, deutlich macht, vollständig zitiert. Dessen Schlusssatz, eine leidenschaftliche Erklärung, schließt auch den Essay ab: »Ich stürze mich in dieses Abenteuer« (Bd. 4, 210). An dieser Stelle befolgt er das
164
Simon, in: Text + Kritik, S. 88, 100.
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rhetorische Prinzip der »Werk-externen dispositio«,165 das die Zustimmung des Publikums auf der heftigeren Affektstufe des pathos zu bewirken sucht: Die vom Redner intendierte affektische Einwirkung auf den Situationsmächtigen mit dem Ziel der parteigünstigen Erregung der heftigen Affekte heißt movere […] – diese Affektstufe ist besonders für die peroratio als akuter Handlungsimpuls zwecks parteigünstiger Fällung des Urteilsspruchs brauchbar.166
Die »Partei« in diesem Fall, für die Kraus’ tatsächlich auch vorgetragener Text des Heine-Essays »günstig« sein sollte, können wir zu seinem Vorhaben einer Lesererziehung in Beziehung setzen; diese hat er so formuliert: Mein Wunsch, man möge meine Sachen zweimal lesen, hat große Erbitterung erregt. Mit Unrecht; der Wunsch ist bescheiden. Ich verlange ja nicht, daß man sie einmal liest. (Bd. 8, 165)
Diese abschlagende Diktion erweist sich dadurch als strategisch, dass er sie bei verschiedenen Gelegenheiten wiederholt hat. Dadurch fordert er die »am Journalismus entartete Lesefähigkeit« (Bd. 8, 134) des Lesers zur Beschäftigung mit »der Kunst der Sprache« heraus, »die jeder, der spricht, zu verstehen glaubt« (Bd. 4, 208).167 Hier zeigt sich, dass das ethische Motiv, das dem Stil- und dem Sprachdenken Kraus’ gemeinsam ist, auch für seine rezeptionsästhetischen Ansprüche an die Leser konstitutiv ist. Mit anderen Worten, bedeutete für ihn die »ästhetische Erziehung« das Programm, die Ehrfurcht vor der Sprache zu lehren.168 Dies entspricht dem Sachverhalt, dass bei seiner »Spracherotik« die »Lust« und die »Qual« insofern im Mittelpunkt stehen, als es sich dabei um die Beziehung der Sprache zur Welt überhaupt handelt. Dieses Thema ist im Heine-Essay, nachdem von der Beliebtheit der vertonten Gedichte Heines die Rede ist, so formuliert: Kunst bringt das Leben in Unordnung. Die Dichter der Menschheit stellen immer wieder das Chaos her; die Dichter der Gesellschaft singen und klagen, segnen und fluchen innerhalb der Weltordnung. (Bd. 4, 196)
165
Lausberg (1963), S. 35 (§ 64). Lausberg (1963), S. 37 (§ 70). Zu peroratio s. S. 27 (§ 43. 3): »Der (kurze) S c h l u ß t e i l (peroratio) entspricht der conclusio […] und nimmt das in der argumentatio Bewiesene […] nunmehr als sicher (certum) an. Auf Grund dieser Sicherheit fordert er den Richter auf, einen parteigünstigen Urteilsspruch zu fällen.« 167 Bemerkenswert ist, dass hier der Nebensatz dem folgenden Motto des Krausschen Essaybands Die Sprache ähnlich ist, das aus Goethes Aphorismen zitiert ist: »Ein jeder, weil er spricht, glaubt auch über die Sprache sprechen zu können.« (Bd. 7, 7) – s. dazu Goethe (1993), in: Fricke, S. 27. 168 Die »ästhetische Erziehung« verstehen wir hier freilich in einem anderen Sinne als Schiller, der ihr den »Spieltrieb« als Wechselwirkung zwischen »Formtrieb« und »Stofftrieb (Sachtrieb)« zugrunde legte, wobei die Beziehung dieser Triebe zur Sprache nicht thematisiert wird; s. Schiller (1992), in: Janz, S. 606 ff. 166
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Hier wird das »Chaos«, das im oben betrachteten Kontext mit dem unendlichen Prozess seiner Korrekturarbeit in Verbindung gebracht war, als Angelegenheit, die das »Leben« betrifft, angesprochen. Dementsprechend wird die Antikommunikativität der Künstler als »Dichter der Menschheit«, so können wir annehmen, durch ihre Zugehörigkeit zur »Menschheit« als ethischer Oberkategorie der »Gesellschaft«, zu der die journalistischen Schriftsteller als »Dichter der Gesellschaft« zugerechnet werden, gerechtfertigt. Im Zusammenhang mit diesem Thema ist nun zu beachten, dass Kraus von der Prämisse ausgeht, dass »die Kraft zu fühlen oder die Kunst zu sagen erst dort beginn[e], wo die Gesellschaftsordnung verzicht[e]« (Bd. 8, 296). Dass diese »Kraft« eben als Komponente der »Spracherlebnisse« (Bd. 4, 210) sowie als Ergebnis einer Abweichung von der Sprache als ordentlichem Zeichensystem angesehen wurde, erhellt aus einem späteren Aphorismus: Dem von der Natur kultivierten Menschen wird das Spracherlebnis umso näher gerückt sein, je weiter er von der Fertigkeit lebt, sich der Sprache als eines Verkehrsmittels zu bedienen. Schlechtes Sprechen auf solcher menschlichen Höhe läßt sprachschöpferischen Kräften Raum. Das Kind und die natürliche Frau teilen mit dem Genie den Vorzug, sich vom Talent in der Fähigkeit des Ausdrucks und der Verständigung beschämen zu lassen. (Bd. 8, 328)
»Schlechtes Sprechen« in diesem Sinn169 gibt doch »sprachschöpferischen Kräften Raum«, gerade weil es nicht der Konvention kommunikativer Rede entspricht. Was seine eigene Sprache betrifft, schreibt Kraus von den »Spracherlebnissen« seiner an Wortspielen reichen Versuche, die »leiseste Belichtung oder Beschattung, Tönung und Färbung eines Gedankens« (Bd. 4, 202) hervorzubringen: […] nur solche Arbeit ist wahrhaft unverloren, so pedantisch, lächerlich und sinnlos sie für die unmittelbare Wirkung auch sein mag, kommt irgendwann der Allgemeinheit zugute und bringt ihr zuletzt jene Meinungen als verdiente Ernte ein, die sie heut mit frevler Gier auf dem Halm verkauft. (Bd. 4, 202)
Schon die nach der Kraus eigenen stilistischen Architektonik aneinander gereihten aphoristischen Sätze im Heine-Essay, in denen er auch Gedanken Heines – gleichsam als dessen »Ventriloquist«170 – mimisch nachahmt, exemplifizieren dieses Arbeitsprinzip. Erinnern wir uns nun daran, dass er im ›Nachwort‹ zum Heine-Essay bemerkt, mit dieser Schrift sei etwas »getan« (Bd. 4, 211) und da sei der Sprache eine »Kraft« (Bd. 4, 214) zuerkannt worden. In welchem Zusammenhang steht dieser Entwurf mit seiner ethischen Perspektive, in der seine Gedanken über Stil, Sprache und die Erziehung des Lesers (Bd. 4, 18) so eng verbunden sind? Hier ist besonders von Belang, dass Kraus für die offenbar endlose Prozesshaftigkeit seiner »Spracherlebnisse« immer erneut das Sinnbild des Laufs gewählt
169
Beispiele dafür s. Bd. 8, 328 f. Lensing, in: Gelber, S. 101. Mit seiner Metapher »Ventriloquist« weist Lensing darauf hin, dass Kraus in der Fackel seit 1910 Heine einige Male sozusagen aus dem Grab ›sprechen‹ lässt. 170
III. Legitimation der Satire als Kunst
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hat. Ein typisches Beispiel dafür finden wir im Aphorismus über seine von der »Phantasie« erotisch dynamisierte Arbeit des Schreibens: Der Zerknirschung am Ziel entweicht er [der Geist, Anm. d. Verf.] zu den Wonnen des Weges. Jede Hemmung erhitzt ihn, und keinen Anteil an diesen Gluten hat selbst das Weib, das sie kühlen wird. (Bd. 8, 300)
Hier ist die wiederholte Arbeit zwischen Schreiben und Drucken mit einer Wechselbewegung zwischen »Weg« und »Ziel« verglichen. Dass diese Bewegung als Lauf erfasst wird, verdeutlicht ein anderer Aphorismus über seine Arbeit: Dieser Wettlauf mit den unaufhörlichen Anlässen! Und dieser ewige Distanzlauf vom Anlaß zur Kunst! Keuchend am Ziel – zurückgezerrt zum Start, der sich erreicht fühlt. (Bd. 8, 322)
Mit diesem zweimaligen Gebrauch des Ausrufezeichens scheint Kraus über die Ruhelosigkeit seiner Arbeit zu klagen. Wir können jedoch nicht annehmen, dass er davon im negativen Sinne spricht, weil er das »Talent zur Qual« als Maßstab für die Unterscheidung zwischen »Kunst und Handwerk« (Bd. 8, 133) ja gerade betont. Eben diese Dichotomie kommt in einem zusammen mit Aphorismen veröffentlichten Epigramm über den Wettlauf zweier Kontrahenten zum Vorschein: Zwei Läufer laufen zeitentlang, der eine dreist, der andre bang: Der von Nirgendher sein Ziel erwirbt; der vom Ursprung kommt und am Wege stirbt. Der von Nirgendher das Ziel erwarb, macht Platz dem, der am Wege starb. Und dieser, den es ewig bangt, ist stets am Ursprung angelangt. (F 300, 32 bzw. Bd. 8, 283)
Bemerkenswert ist, dass dieses Epigramm 1910 in der letzten Nummer der Fackel vor ihrer Reform171 erschien. Dort wurde auch die Lesung des Heine-Essays erstmals angekündigt – ein Hinweis darauf, dass mit den »zwei Läufern« Heine und Kraus selbst gemeint waren. In der Tat finden sich im Heine-Essay Stellen, die eine Beziehung zu diesem Motiv anzudeuten scheinen. Kraus verspottet z. B. neben möglicher Sympathie Nietzsches für den Heineschen »Haß gegen Deutschland« das ihm typisch deutsch vorkommende Phänomen des Idealismus, der »[…] die weglagernde Romantik schon fürs Ziel [nehme]« (Bd. 4, 207). Danach schreibt er der Debatte über die Errichtung eines Heine-Denkmals »das Maß einer literarischen Erscheinung« zu, »[…] an der nichts ewig [sei] als der Typus, der von nirgendwo durch die Zeit [laufe]« (Bd. 4, 208). In beiden Fällen wird auf den »Läufer« angespielt, der »dreist« sei und das »Ziel« nur erreiche, um danach einem anderen »Läufer« Platz zu machen. Dagegen fällt Kraus, der Kontrastlogik gemäß,
171
s. dazu B. II. 3. b).
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B. Kritische Übernahme von Techniken Heinrich Heines
von dem Standpunkt eines anderen, »bangen« »Läufers« aus das Urteil, dass dieser vom »Ursprung« komme und paradoxerweise »stets am Ursprung angelangt« sei, indem er »am Wege« sterbe. Mit diesem Kontrast kann assoziiert werden, dass Kraus die »Skrupel« als »Leistung« eines Sprachkünstlers ansah und bemerkte, Heine sei »nur ein Draufgänger der Sprache« gewesen (Bd. 4, 208). Hier finden wir nämlich die Ehrfurcht vor der Sprache, das ästhetisch-ethische Kredo von Kraus, parabolisch zur Anschauung gebracht. »Ursprung« ist von hier an einer seiner dichterischen Hauptbegriffe, und zwar häufig in Verbindung eben mit den Metaphern »Weg«, »Ziel«.172 Unter diesem Aspekt finden wir uns jedoch mit einem Widerspruch konfrontiert: Der Dynamik einer Bewegung wie des Laufs scheint hier eine passive bzw. rezeptive Lebenshaltung zu entsprechen, obgleich »Bewegung« sowie verwandte Begriffe wie »Kraft« oder »Tat« gewöhnlich mit »Aktivität« assoziiert werden. Dieser Widerspruch der ethischen Position Kraus’ entspricht dem des »Ursprungs« präzis, weil er nur von dem erreicht werden könne, der ihn nicht erreiche. Damit ist auch das sprachschöpferische Prinzip der »Präformiertheit der Gedanken« (Bd. 4, 202) in Verbindung zu bringen, da es auch ein passives Verhalten des Schriftstellers gegenüber der Unbeherrschbarkeit der Sprache konnotiert. Im Grunde können wir darüber hinaus auch seinen Entwurf der Lesererziehung als widersprüchlich betrachten, da diese den Leser nicht zur Ordnung, sondern durch ›erotische‹ »Spracherlebnisse« zum »Chaos« zu führen versucht. Hier handelt es sich konsequent um antibürgerliche Wertsetzungen, eben die von Kraus’ eigener satirischer Kunst. b) Das Kernproblem des Kommunikativen bei der Krausschen Sprachauffassung Im Heine-Essay ist für das Verständnis des Programms, das aus Kraus’ Sprachauffassung resultiert, die folgende Bemerkung zur Platen-Polemik Heines besonders aufschlussreich, zumal auch dort auf das Wettlauf-Motiv angespielt wird: Heine hat in den Verwandlungen des Eros nur das Ziel, nicht den Weg des Erlebnisses gesehen, er hat sie ethisch und ästhetisch unter eine Norm gestellt […] Er hatte wohl keine Ahnung von den Varietäten der Geschlechtsliebe, die sich am Widerspiel noch bestätigt, und spannte diese weite Welt in das grobe Schema Mann und Weib, normal und anormal. […] Wer so die Seele kennt, ist ein Feuilletonist! (Bd. 4, 202 f.)
An dieser Stelle wird offenbar Kraus’ Konzept der »Spracherlebnisse« (Bd. 4, 210) mit dem erotischen Spiel verglichen, wobei große Bedeutung einem 172
Vgl. Bd. 4, 329 (Essay ›Er ist doch e Jud‹); Bd. 9, 209 (Gedicht ›Vallorbe. Mai 1917‹); Bd. 9, 287 (Gedicht ›Nach zwanzig Jahren‹); F 521, 60 (Essay ›Kultur und Presse‹); F 640, 75 (eine der ›Notizen‹); F 759, 49 (Essay ›Mein Vorurteil gegen Piscator‹); Bd. 9, 633 (Gedicht ›Nach dreißig Jahren‹).
III. Legitimation der Satire als Kunst
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Verhalten beigemessen wird, das immer auf dem »Weg des Erlebnisses« bleiben und die endgültige Erreichung des »Ziel[s]«, wo nur »das grobe Schema« bestimme, vermeiden will. Hier finden wir seine Opposition gegen die Sprache der Presse als Gewalt, die bei seiner Kritik an deren Berichten über die Sexualjustiz ein zentrales Thema war, aufs Neue formuliert. Außerdem ist damit die Stelle vergleichbar, an der Heines Stolz auf seine Leistung »zum ewigen Ruhme des deutschen Geistes«173 ironisch so kommentiert wird: Der deutsche Geist aber möchte vor allem das nackte Leben retten; und er wird erst wieder hochkommen, wenn sich in Deutschland die intellektuelle Schmutzflut verlaufen haben wird. Wenn man wieder das Kopfwerk sprachschöpferischer Männlichkeit erfassen und von dem erlernbaren Handwerk der Sprachzärtlichkeiten unterscheiden wird. Und ob dann von Heine mehr bleibt als sein Tod? (Bd. 4, 205)
Hier wird Heine als einer der »Dichter der Gesellschaft« mit seinem pathe tischen Ausdruck des »deutschen Geistes« ironisiert, indem die »sprachschöpferisch[e] Männlichkeit«, nämlich das dem »Geist« im Krausschen Sinne zugeteilten Attribut, als das Kunstprinzip angesprochen wird, das gegen den Einfluss der »intellektuelle[n] Schmutzflut« wieder zu beleben sei. Heine wird hier keineswegs vom deutschnationalen Standpunkt aus angegriffen, sondern unter der Perspektive der »Dichter der Menschheit« für eine andere, nationalistische Dichotomie verantwortlich gemacht.174 Im Zusammenhang mit dieser Thematik ist Adornos Bemerkung zum Sprachproblem bei Heine erwähnenswert: […] seine von der kommunikativen Sprache erborgte Geläufigkeit und Selbstverständlichkeit ist das Gegenteil heimatlicher Geborgenheit in der Sprache. Nur der verfügt über die Sprache wie über ein Instrument, der in Wahrheit nicht in ihr ist. […] Seine Widerstandslosigkeit gegenüber dem kurrenten Wort ist der nachahmende Übereifer des Ausgeschlossenen. Die assimilatorische Sprache ist die von mißlungener Identifikation.175
Hier ist ein wichtiger Hinweis auch für die Beziehung des Heine-Essays zu der Idee jüdischer Assimilation gegeben, die Kraus seit dem Essay ›Eine Krone für Zion‹ erklärtermaßen angestrebt hat. Um diese Problematik noch deutlicher aufzufassen, müssen wir die nationalistischen Volksbewegungen der Jahrhundertwende berücksichtigen, bei denen die Sprache durch ihre »überdauernde Glorifizierung« »eine außersprachliche Funktion als Symbol der nationalen Existenz« bekam.176 Gegen solche Instrumentalisierungen der Sprache zur Bestätigung der 173
Heine, in: Briegleb, Bd. 7, S. 138. An einer anderen Stelle im Heine-Essay erinnert Kraus an den Spott des Simplicissimus »[…] über die deutschen Sippen, die sich vor Heine bekreuzig[t]en, um hinterdrein in seliger Gemütsbesoffenheit ›doch‹ die Lorelei zu singen«. Kurz darauf kritisiert er jenen »engstirnige[n] Heinehaß«, »[…] der den Juden mein[e]« und »den Dichter gelten [lasse]«. (Bd. 4, 196). 175 Adorno (1990), in: Tiedemann, Bd. 11, S. 98. 176 Hroch, in: Nautz / Vahrenkamp, S. 387. 174
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nationalen Identität177 hebt sich Kraus’ Sprachauffassung durch ihren antinationalistischen Grundcharakter ab, der in ihrer These der Unbeherrschbarkeit der Sprache unverkennbar impliziert ist. Dabei ist auch zu beachten, dass es sich bei ihrer engen Verbundenheit mit der einen Nationalsprache, dem Deutschen, nicht etwa um einen national orientierten Purismus, sondern stets um eine künstlerische Aktivierung der Sprache handelt, die unter einem allgemeinen Gesichtspunkt betrachtet werden kann. In der Sprachwissenschaft muß ein Autor nicht unfehlbar sein. Auch kann die Verwendung unreinen Materials einem künstlerischen Zweck frommen. Ich vermeide Lokalismen nicht, wenn sie einer satirischen Absicht dienen. Der Witz, der mit gegebenen Vorstellungen arbeitet und eine geläufige Terminologie voraussetzt, zieht die Sprachgebräuchlichkeit der Sprachrichtigkeit vor, und nichts ist ihm ferner als der Ehrgeiz puristischen Strebens. Es geht um Sprachkunst. (Bd. 8, 114)178
Hier scheint Kraus der Rhetorik als dem »den Erfolg der Überredung garantierend[en] System von Regeln« den Vorrang zu geben vor der Grammatik als dem »die idiomatische Sprachrichtigkeit regelnd[en] System von Regeln«.179 Der Unterschied zwischen ihm und »Heine als Rhetor« besteht jedoch darin, so können wir zusammenfassen, dass er das für Heine charakteristische »problematische Verhältnis wechselseitiger Relativierung von Satire und Ironie«180 durch seinen Entwurf eines Zusammenwirkens von Pathos und Witz zu vermeiden gesucht und der deutschen Sprache, deren materielle Form er unbeherrschbar fand, seine ethisch-ästhetische Aufgabe als Satiriker anvertraut hat, nämlich die, die Ehrfurcht vor der Sprache zu lehren. Anders gesagt, hat er versucht, einer anderen »Literaturperiode« als der Goetheschen, nämlich der von Heine bis zum Fin de siècle dauernden, in der die Presse nicht Befreiungs-, sondern vielmehr Unterdrückungsfunktion besonders im Zusammenhang mit sexueller und rassistischer Diskriminierung ausgeübt hat, ein Ende zu machen, indem er eine Kompensierung der Unzulänglichkeit Heines als Satiriker durch seine intensivere Beschäftigung mit dem »Sprachproblem« unternommen hat.181 Heute gilt Kraus, insbesondere auf Grund seines postum veröffentlichten Essaybands Die Sprache von 1937, in den er zum größten Teil nach dem Ersten Weltkrieg verfasste Sprach-Essays aufgenommen hat, als einzigartiger Sprachdenker. 177
Auch bei der Sprachkritik Fritz Mauthners sei »die patriotische Verherrlichung der Muttersprache« erkennbar; s. dazu Leinfellner-Rupertsberger, in: Nautz / Vahrenkamp, S. 405. 178 Im Original dieses Zitates in der Fackel steht am Ende nicht »Sprachkunst«, sondern »Stil« (F 256, 29). 179 Lausberg (1963), S. 44 (§ 92). 180 Hinck, in: Hinck, S. 12 ff. 181 s. dazu auch Kraus’ Kommentar im Essay ›Um Heine‹: »Wenn nach Nietzsche Heine ein ›europäisches Ereignis‹ war, so ward hier eben das Unzulängliche Ereignis« (F 199, 5) [Hervorhebung durch d. Verf.]. In diesem Zusammenhang ist bemerkenswert, dass Kraus im Essay ›Vom Niveau der Sprache‹ von 1921 neben Heine als dem Begründer des »Feuilletonismus« Nietzsche als Begründer des »Essayismus« kritisiert (F 577 / 82, 59 ff.).
III. Legitimation der Satire als Kunst
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Essays wie der Heine-Essay und die damit eng zusammenhängenden Aphorismen belegen jedoch, dass seine Sprachauffassung schon in der Vorkriegszeit einen beachtenswerten Gehalt aufgewiesen hat. Er selbst hat in seinem Essay ›Der Reim‹ von 1927, der im Band Die Sprache steht, den Heine-Essay kurz erwähnt, und zwar im Zusammenhang mit der 1911 in der Fackel veröffentlichten Besprechung von Else Lasker-Schülers Gedicht ›Ein alter Tibetteppich‹ durch Richard Weiß. Er schätzte diese Interpretation so hoch ein, weil, wie er schreibt, »[…] zu neuem Aufschluß der Sprachprobleme wenig außer der Schrift »Heine und die Folgen« vorlag« (Bd. 7, 355). Kraus’ Bedeutung als Sprachdenker wurde schon früh erkannt. So hielt Leopold Liegler bereits 1917 seinen Wiener Vortrag ›Karl Kraus und die Sprache‹. Für diese frühe Anerkennung der Wichtigkeit des Themas der Sprache bei Kraus war aber charakteristisch, dass das Formprinzip des Kraus schen Schaffens mit einer Art »Sprachmystik« gleichgesetzt wurde.182 Diese Ansicht war so einflussreich, dass sie »von späteren Interpreten zu einem pauschalen Missverständnis von Kraus’ allgemeiner Sprachauffassung erweitert wurde«, wie Jay F. Bodine schreibt.183 Dies können wir als ein Beispiel der Mystifikation betrachten, die seine Sprachauffassung wegen ihrer Systemlosigkeit erleiden musste. In ihrer Rezeptionsgeschichte geschah dann eine Wende, als die Forscher der Frankfurter Schule während des so genannten Positivismusstreits die Engagiertheit der »Sprachkritik« bei Kraus hervorgehoben haben.184 Außerdem haben auch Forscher der analytischen Philosophie, die zum anderen Lager des Positivismusstreits gehörten, Kraus sehr geschätzt als eine Autorität, die durch ihre »›schöpferische Separation‹ der beiden Bereiche des Tatsachenberichts und des künstlerischen Ausdrucks« die Sprachphilosophie Ludwig Wittgensteins stark beeinflusst habe.185 Bei diesen beiden bekannten Fällen der Kraus-Interpretation dürfen wir aber nicht übersehen, dass hier dessen Sprachauffassung derart vereinfacht dargestellt ist, dass ihr ästhetisches Moment, das im oben genannten Essay ›Der Reim‹ durch den Begriff der »Einheit in Klang- und Bedeutungsmotiven« (Bd. 7, 355) angedeutet wird, nur vorläufig, nämlich ohne genügende Betrachtung seiner Beziehung zur rezeptiven Ethik, thematisiert wird. Dieser Sachverhalt betrifft auch die von Bodine anhand des Beispiels vom Heine-Essay unternommene Behauptung, Kraus’ Bemerkung über die Beziehung zwischen Autor und Werk und über die Interaktion zwischen dem schreibenden sowie sprechenden Ich und dem Sprachsystem könne uns letztlich ein gewisses Korrektiv zu verschiedenen
182 Liegler (1918), S. 6 f. 1920 veröffentlichte Liegler in Wien seine umfangreiche Monographie Karl Kraus und sein Werk, in der er auch mehrmals von der »Sprachmystik« bei Kraus spricht (s. dazu Liegler, 1920, S. 312 u. a.). 183 Bodine, in: RBPH, S. 670. 184 s. dazu Adorno (1990), in: Tiedemann, Bd. 8, S. 329. 185 Janik / Toulmin, S. 113. Die These der »schöpferischen Separation« ist der Schrift Ludwig Wittgenstein. Briefe und Begegnungen Paul Engelmanns (Hg. von B. F. McGuinness, München u. Wien 1970, S. 109) entlehnt.
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B. Kritische Übernahme von Techniken Heinrich Heines
ungeheuren Forderungen der strukturalistischen sowie poststrukturalistischen Gedanken liefern.186 Welche begriffliche sowie theoretische Vorbereitung ist dann erforderlich, um diese Schwellen überschreitende Rezeptionen bewirkende, nie aber eindeutig identifizierbare Sprachauffassung und die damit eng verbundenen Werke von Kraus wissenschaftlich zu erörtern? In diesem Punkt scheint uns ein Vergleich zwischen Kraus und Habermas bei ihrer Einstellung zu Heine einige wichtige Hinweise zu geben. Habermas geht dabei von der Frage aus, welchen Beitrag Heine als Künstler und Intellektueller nach der Ablösung der literarischen Öffentlichkeit durch die politische Öffentlichkeit zur Vermittlung zwischen Kunst und Politik in Deutschland habe leisten können. In Heine fand Habermas einen gleichsam verfrühten Vorläufer von Künstlern und Intellektuellen wie Heinrich Böll nach 1945, denen es unter Mitwirkung des Fernsehmediums schließlich gelungen sei, sich »das normative Selbstverständnis der demokratischen Willensbildung« zu eigen zu machen.187 Diese Gedankenrichtung deutet an, dass Habermas’ Heine-Bild zu seinem Entwurf einer Betrachtung der Moderne als eines »unvollendete[n] Projekt[s]« gehört, nach dem die »kommunikativ[e] Rationalität« gegen den »Eigensinn des Ästhetischen« verteidigt werden solle.188 Dabei wurde kritisiert, Habermas sei schon bei seiner Theorie vom »Strukturwandel der Öffentlichkeit« auf eine »Utopie der bürgerlichen Gesellschaft«189 angewiesen gewesen, was sich auch in seiner eben angeführten Idealtypisierung der Funktion der Medien bemerkbar mache. Diese Tendenz führt später zu seiner problematischen Beurteilung postmoderner Theoreme, denen er eine Subversion seines zentralen Prinzips der kommunikativvernünftigen Konsensbildung unterstellt.190 Auch für Kraus gehörten die Aufgabe des Künstlers in der Öffentlichkeit und die Gefährlichkeit des Ästhetizismus für die Politik zu den wichtigsten Themen. Dass ihm das Interesse für das »intellektuelle Problem Heine«, das »neben dem künstlerischen Problem Heine« (Bd. 4, 207) liege, nicht gefehlt hat, haben wir gesehen.191 186 Bodine, in: Colloquia Germanica, S. 52. Was hier »egregious claims (ungeheure Forderungen)« genannt ist, ist Folgendes: »[…] attempting self-transcendence in the realm of purely semiotic elaborations« und »losing his ›self‹ and neglecting social and political import with recourse to a super subject of language itself«. 187 Habermas (1990), in: Habermas, S. 154. 188 Habermas (1990), in: Habermas, S. 40 ff. 189 Stein, in: Koopmann / Lauster, S. 64. 190 Scheiffele, in: Waseda-Blätter, S. 142 ff. 191 Über die Intellektualität Heines steht im Heine-Essay Folgendes: »Sicherlich, keiner dürfte sich im Ausmaß der Übung und im Umfang intellektueller Interessen mit Heine vergleichen. Wohl aber überbietet ihn heute jeder Itzig Witzig in der Fertigkeit, ästhetisch auf Teetisch zu sagen und eine kandierte Gedankenhülse durch Reim und Rhythmus zum Knallbonbon zu machen« (Bd. 4, 193 f.). [»Itzig« heißt eine Figur in Gustav Freytags Roman Soll und Haben (1855). In der Folgezeit wurde dieser Name häufig als pejorative Bezeichnung für jüdische Bürger verwendet. (Anm. d. Verf.)]; »Er wurde nicht nur als der frühe Begleiter von Allerwelts lyrischen Erlebnissen durchs Leben mitgenommen, sondern immer auch dank seiner Intellektualität von der Jugendeselei an die Aufklärung weitergegeben« (Bd. 4, 200).
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Der Presse, dem damals repräsentativen Massenmedium, warf er jedoch eine folgenschwere schädliche Wirkung auf Kultur- und Lebensgüter vor, und er machte Heine und besonders dessen »Folgen« für die Entwicklung der Presse in Wien verantwortlich. Das Kernproblem war dabei eben das Kommunikative: Er kämpfte gegen eine journalistische Instrumentalisierung der Sprache als Verständigungsmittel, da diese gerade nicht zur Konsens-, sondern im Gegenteil zur Dissensbildung geführt habe. In seiner Strategie des Stils sah er eine Gegenmaßnahme, nicht – wie manche meinten – für den eigenen, angeblich aufklärungswidrigen künstlerischen Selbstzweck, sondern zugunsten der »Erziehung« sprachbewusster Leser. Die Sprache stellte für ihn kein Mittel dar, eine schon vorhandene Theorie mitzuteilen, sondern eine ethisch-ästhetische Angelegenheit, bei der auch die Themen zur Sprache kommen, denen wir heute in der Gedankensphäre der Hermeneutik bzw. Dekonstruktion begegnen. Daher müssen wir untersuchen, in welchem Sinne die Sprache für Kraus »Tat« bzw. »Ereignis« (Begriffe Heines) war, wie er am Ende des Heine-Essays ausführt (Bd. 4, 209).
C. »Geschriebene Schauspielkunst« – Satire, Performativ I. Die Entdeckung des Sprachsatirikers Nestroy 1. Gegen die Inszenierung der Zeitgeschichte durch die Presse Im Februar 1912 trug Kraus, der seit der Gründung der Fackel nur noch aus dem eigenen Werk öffentlich gelesen hatte, zum ersten Mal wieder auszugsweise Texte anderer Autoren vor, z. B. Jean Pauls Erzählung Die wunderbare Gesellschaft in der Neujahrsnacht, die Offenbarung des Johannes in der Lutherschen Übertragung und Shakespeares Dramen Timon von Athen sowie Liebes Leid und Lust in der Schlegel-Tieckschen Übersetzung. Überdies entschied er sich kurz vor dieser Erweiterung des Repertoires seiner Lesungen für die bekannte Kursänderung der Fackel: Von der Nummer 338 (Dez. 1911) an hat er sämtliche Beiträge allein verfasst.1 Damit ist klar, dass Kraus zwischen seinen Lesungen und seiner Schreibarbeit deutlich unterschieden hat. Wie unser Leitzitat zeigt, hat er aber beides konzeptionell eng aufeinander bezogen, was durch die chiastische Struktur dieser beiden Sätze noch hervorgehoben wird: Wenn ich vortrage, so ist es nicht gespielte Literatur. Aber was ich schreibe, ist geschriebene Schauspielkunst. (Bd. 8, 284 bzw. F 336 / 37, 41)
Die Theorie über den engen Zusammenhang von Schreiben und Spielen, die wir in den bisher betrachteten Texten bruchstückweise ausgeführt fanden, wird nämlich seit Ende 1911 noch deutlicher aufgewiesen und zugleich in die Praxis umgesetzt. Als ein dafür typisches Beispiel kann die Feier gelten, die anlässlich des 50. Todestages von Johann Nestroy im Mai 1912 im großen Musikvereinssaal veranstaltet wurde. Dabei trug Kraus als »Gedenkrede« seinen Essay ›Nestroy und die Nachwelt. Zum 50. Todestage‹ (im Folgenden »Nestroy-Essay«) vor und rezitierte »Monologe, Couplets, Szenen, Sätze aus Nestroys Werken« (F 347 / 48, 4. Umschlagsseite), indem er sogar versuchte, »Nestroysche Couplets ohne Begleitung zu singen«.2 Er hat über den »Volkskomiker« Nestroy, der seine Possen selber geschrieben und darin auch die Hauptrollen gespielt hatte, nicht nur geschrieben und gesprochen, sondern einige von dessen Rollen vortragend gleichsam »gespielt«. Dieser Übergang in den schauspielerischen Bereich, welcher die »Nestroy
1
s. dazu auch B. I. 1. sowie B. II. 3. b). Mittler, in: Österreichische Musikzeitschrift, S. 334.
2
I. Die Entdeckung des Sprachsatirikers Nestroy
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renaissance«3 einleitete und für Kraus’ späteren Versuch zum »Theater der Dichtung«4 den Boden vorbereitete, hat auch in schriftstellerischer Hinsicht eine prägende Spur hinterlassen: Der Nestroy-Essay wurde direkt nach der Lesung in der Fackel gedruckt (F 349 / 50, 1 ff.), im Juni 1912 vom Verlag Jahoda & Siegel als Broschüre herausgegeben und im Essayband Untergang der Welt durch schwarze Magie hinter dem Essay ›Zwischen den Lebensrichtungen‹, dem Schlusswort zum Heine-Essay, in den Mittelpunkt gerückt. Kraus selbst hat bemerkt, dass es ihm bei diesem Essay »nicht um eine Dissertation über Nestroy, nicht um eine Selbstanzeige, sondern um das Problem des Satirikers« gegangen sei und dass er »das Verdienst des Nachgeborenen als den höheren Anteil des Zeitwiderstandes« dargestellt habe (F 351 / 53, 41 f.). Im Gegensatz zu Heine war Nestroy für ihn kein Angriffsziel, sondern ein lobenswertes Vorbild, an das er sich anlehnen konnte. Diese Verhältnisse deuten an, dass es sich beim Nestroy-Essay um ein weiteres ›Manifest‹ handelt, das die Beziehung der Satire zur »Schauspielkunst« bei Kraus deutlich macht. Wenden wir uns nun diesem Thema zu, indem wir diesen Essay sowie damit im Zusammenhang stehende Essays, Glossen und Aphorismen als Schlüsseltexte behandeln. In der Tat stellt der Nestroy-Essay keine einfache Lobrede dar; so nehmen die Stellen, an denen Kraus über die modernen Wertmaßstäbe pathetisch ein negatives Urteil fällt, beinahe den halben Teil ein. So weist er z. B. die Ansicht, dass die Zeit nach dem Vormärz, der Blütezeit der Nestroyschen Possen, dank der Leistung der »Ingenieure« (Bd. 4, 220) fortgeschritten sei, im einleitenden Teil zurück: Gott erbarme sich der Entwicklung! Er lasse die Künstler lieber nicht geboren werden, als mit dem Trost, wenn sie auf die Nachwelt kommen, würde diese es besser finden. Diese! Versuche sie es nur, sich als Nachwelt zu fühlen, und sie wird über die Zumutung, ihren Fortschritt dem Umweg des Geistes zu verdanken, eine Lache anschlagen, die zu besagen scheint: Kalodont ist das Beste. (Bd. 4, 220)5
An anderen Stellen werden Schlüsselwörter wie »Wissenschaft« (Bd. 4, 220), »Technik« (Bd. 4, 238), »Intelligenz« (Bd. 4, 221, 238), »Bildung« (Bd. 4, 234 f.) oder »Humanität« (Bd. 4, 221), die damals von vielen Intellektuellen wie selbstverständlich als positive Begriffe verwendet wurden, konsequent im negativen Sinne gebraucht. Diese Tendenz zeigte sich zwar schon in den Jahren, in denen 3
Hein, in: Wirkendes Wort, S. 236. Nachdem Kraus im Mai 1916 bei seiner Lesung Shakespeares Die lustigen Weiber von Windsor vollständig vorgetragen und im Juni 1916 seinen Entwurf zu »ein[em] dekorationsfrei[en] Shakespeare-Theater« (F 426 / 30, 47) angekündigt hatte, wendete er sich immer häufiger diesem Typus der Lesungen zu, zu deren Repertoire vor allem Dramen von Shakespeare, Nestroy und Offenbach gehörten. Solche Veranstaltungen, 1925 als »Theater der Dichtung« (F 706 / 11, 85) bezeichnet, nahmen unter seinen Lesungen der Nachkriegszeit eine zentrale Stelle ein. Sie fanden meist in einem akustisch besonders gut eingerichteten Saal (Festsaal des Ingenieur- und Architektenvereins) vor weniger als 300 Gästen statt; s. dazu Rothe, S. 331. 5 »Kalodont ist das Beste« war ein Werbespruch für eine Zahnpasta; s. Kraus (1986), S. 324. 4
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C. »Geschriebene Schauspielkunst« – Satire, Performativ
Kraus eine Reihe zivilisations- sowie fortschrittskritischer Essays wie ›Apokalypse (Offener Brief an das Publikum)‹ (1908), ›Der Fortschritt‹ (1909), ›Die chinesische Mauer‹ (1909), ›Nach dem Erdbeben‹ (1911) oder ›Untergang der Welt durch schwarze Magie‹ (1912) u. a. verfasste. Im Nestroy-Essay verschärft sich aber der abweisende Ton ins Extrem, so dass er in dem kurzen Ausruf »[…] wohl dem Vormärz!« (Bd. 4, 236) seinen Niederschlag findet, mit dem Kraus ironischerweise behauptet, dass die Nachwelt Nestroys die Werte, die in dessen Possen verkörpert waren, vergessen hätte. Bezeichnend war für ihn die Ansicht des österreichischen Historikers Heinrich Friedjung über Nestroy; der hatte aufgrund der Posse Freiheit in Krähwinkel (1848) von Nestroy, in der dieser die Märzrevolution behandelte, »die wahre Gesinnung Nestroys«6 für liberal gehalten. Diese Beurteilung, die vom Standpunkt des österreichischen politischen Liberalismus aus dargeboten wurde, zu widerlegen, war eines der Grundmotive des Essays, wie in vorangehenden Nummern der Fackel schon angedeutet worden war (F 343 / 44, 29 ff. sowie F 345 / 46, 40 ff.). Zumal hier aber die liberale Presse nicht direkt, sondern die damals modernen »liberalen« Werte überhaupt heftig kritisiert werden, rückt in diesem Zusammenhang die viel diskutierte Streitfrage erst recht in den Vordergrund: Kennzeichnet diese Position nicht eine Verbindung mit der »österreichischen Reaktion«7 bzw. einem fundamentalen »Kulturkonservatismus«8? Bei jedem Versuch, diese Frage zu beantworten, muss man von der Tatsache ausgehen, dass es hier doch um eine Presseproblematik ging, auch wenn diese in den Hintergrund geraten war. Der Historiker Friedjung war es, der es als großdeutscher Patriot 1909 in einem Artikel in der Neuen Freien Presse unternahm, angesichts der damaligen Unruhen in Bosnien eine mögliche Kriegserklärung an Serbien zu rechtfertigen. Nachdem diese Gefahr abgewendet worden war, wurde gegen ihn Anklage erhoben, und bald stellte sich heraus, dass die Dokumente, die ihm das österreichische Außenministerium zur Verfügung gestellt hatte, zum Zweck einer Pressekampagne gefälscht worden waren.9 Mit anderen Worten: er und die Redaktion der Neuen Freien Presse wirkten an der Kriegshetze mit, deren Ablauf wir mit der Vorstufe einer illusionistischen Theateraufführung in dem Sinne vergleichen können, dass dabei mit einem vorher bereiteten ›Szenarium‹ getrachtet wurde, die eigene Erfindung für Wahrheit auszugeben. In diesem manipulierenden Vorgehen der Presse kann man ein frühes Beispiel jener massenmedialen »Inszenierung« sehen, deren Elemente nach Martin Seel »den medialen Produkten einen Eventcharakter« verleihen.10 Um solche Verhältnisse zu kennzeichnen, schreibt Rüdiger Ontrup von einer »Dramatisierung der Wirklichkeit« und erklärt ihren Effekt mit den technisch erzeugten Bildern, durch die die Massenmedien theatralisch wirkten, »[…] ohne eine Rampe oder einen Vor 6
Friedjung, S. 384. Scheichl, in: Wort und Wahrheit, S. 46. 8 Fischer, S. 11 ff. 9 Rumpler, S. 564. 10 Seel, in: Früchtl / Zimmermann, S. 55. 7
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hang, durch die Fiktion und Realität säuberlich zu trennen wären, und ohne dem Zuschauer die Möglichkeit zu geben, in ein ganz anderes ›Schauspiel‹ zu wechseln«.11 Obwohl die technischen Bilder in der Zeit von Kraus noch nicht dominierten, ist doch die Art, wie die Pressesprache damals auf öffentliche politische, soziale und kulturelle Diskurse eingewirkt hat, bereits mit Hilfe jenes – erweiterten – Begriffs der Theatralität zu charakterisieren, den wir schon vorgestellt haben.12 Der Unterschied zur früheren Phase besteht nun aber darin, dass Kraus die Macht der »schwarzen Magie«, wie er es später formuliert hat, als derart angewachsen erschien, dass sie einen Krieg bewirken könne und dass gerade daran »der schleißige Dreibund von Politik, Presse und Wissenschaft« (Bd. 4, 27)13 Anteil nehme. So heißt es im Essay ›Prozeß Friedjung‹. Wenn ein solches Ergebnis des »Fortschritts« die Situation war, die Kraus pathetisch verneint hat, so müssen wir uns zunächst damit zurückhalten, seine negative Bewertung der »liberalen« Ideale von vornherein als rückschrittlich oder gar obskurantistisch anzusehen.14 In Betracht gezogen werden muss ja auch, dass er sich im Nestroy-Essay zum ersten Mal in vollem Maße mit dem Thema der Satire beschäftigt hat und dass dazu die Aussage eines nationalistischen Historikers, der kritiklos an den kontinuierlichen Fortschritt des Deutschtums glaubte und von Anfang an dem Standpunkt der liberalen Presse nahe stand,15 einen Anlass gegeben hat. Wie er im NestroyEssay bemerkt, orientierte sich auch die Geschichtsforschung an diesem Fortschrittsglauben: »Diese Gegenwart geht nie ohne eine Schutztruppe von Historikern aus, die ihr die Erinnerung niederknüppeln« (Bd. 4, 236). So stellte damals bei ihm die Geschichtsschreibung ein Nebenthema der Pressemeldung dar, wobei etwa die folgenden geflügelten Worte Friedrich Schlegels und Bismarcks16 in parodistischer Absicht verschränkt werden: Wenn Journalisten Leute sind, die ihren Beruf verfehlt haben, so haben sie immerhin einen Beruf erreicht, den die Historiker verfehlt haben. (Bd. 4, 99) Der Historiker ist oft nur ein rückwärts gekehrter Journalist.« (Bd. 8, 215)17
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Ontrup, in: Göttlich u. a., S. 21, 29. s. dazu A. II. 13 Das Adjektiv »schleißig« ist ein Austriazismus und bedeutet »abgenützt«; s. dazu Bundesministeriums für Unterricht und Kunst, S. 177. 14 In diesem Zusammenhang ist auf der biographisch-werkgeschichtlichen Ebene von Belang, dass Kraus später einräumte, er könne in diesem Essay »manchmal zu weit gegangen sein« (F 613 / 21, 52). 15 Ramhardter, S. 29 f., 54 f., 73 ff. 16 Im Original heißt es: »Ein Zeitungsschreiber ist ein Mensch, der seinen Beruf verfehlt hat« (Bismarck). »Der Historiker ist ein rückwärts gekehrter Prophet.« (Friedrich Schlegel) – s. dazu Büchmann, S. 143, 372. 17 Mit diesem Aphorismus vergleichbar sind Beispiele wie: »Der Journalismus hat die Welt mit Talent verpestet, der Historizismus ohne dieses.« (Bd. 8, 216); »Der Historiker ist nicht immer ein rückwärts gekehrter Prophet, aber der Journalist ist immer einer, der nachher alles vorher gewußt hat« (Bd. 8, 362). 12
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Wie wir später eingehend erörtern, ist die Satire schon in der Poetik von Aristo teles als »Scheltgedicht« bezeichnet und als Leistung der »Iambendichter« neben der Epik in die Dichtung einbezogen, deren Unterschied zur Historiographie er nachdrücklich unterstrich.18 Kraus bezog Stellung für diese traditionelle Begriffsbestimmung, wobei seine Widerlegung der Meinung Friedjungs keine ideo logische Verteidigung Nestroys bedeutete. Denn er fand bei Nestroy selbst eine potentiale Brisanz, durch die erwiesen werden könne, dass sich Friedjung sein Urteil angemaßt habe: Der Historiker rechnet immer damit, daß eine Persönlichkeit, mit der er sich befaßt, tot ist. Wenn irgendwo, so dürfte er bei Nestroy, um ein Wort Friedjungs zu gebrauchen, die Rechnung ohne den Wirt gemacht haben. Nestroys Blicke werden noch in die Dummheit der fernsten Generationen dringen, und es gehört eigentlich Mut dazu, daß ein Historiker schon nach fünfzig Jahren wagt, ihm unter die Augen zu treten. […] Mit den Feldherren gehts zur Not – Satiriker kontrollieren den Geschichtsschreiber. (F 343 / 44, 30)
Kraus macht also den von ihm behaupteten Primat der Satire vor der Geschichtsschreibung auch gegenüber der Literaturgeschichtsschreibung geltend. So wird z. B. im Nestroy-Essay der hegelianische Ästhetiker Friedrich Theodor Vischer, der in Nestroys Lustspielen »stinkende Witze« bzw. »Verrottung des ästhetischen Gefühls«19 gefunden hatte, als ein repräsentativer ›Literarhistoriker‹ kritisch erwähnt (Bd. 4, 234). Schon in der Zeitspanne zwischen dem Heine- und dem Nestroy-Essay verschärfte sich Kraus’ antiautoritäre Einstellung zur Literaturgeschichte so sehr, dass er im April 1911 die Glosse ›Bevorstehende Razzia auf Literarhistoriker‹ schrieb, in der er auf die Gelehrten, »[…] die an der literarischen Entwicklung schmarotz[t]en«, hinwies und ihnen »ein unnützes und ärgerliches Dasein« vorwarf (F 321 / 22, 16 bzw. Bd. 4, 99). Unter dem Titel ›Razzia auf Literarhistoriker‹ hat Kraus danach, im Januar und Februar 1912, kurz vor der Nestroy-Feier, Aufsätze verfasst, in denen er klassische sowie zeitgenössische Schriftsteller, Lyriker und Dramatiker entweder positiv oder negativ beurteilt. Dort bezeichnet er die ›Literarhistoriker‹ als Historiker, »[…] die in keinem Zusammenhang mit der Literatur [stünden] und darum nur Literarhistoriker [hießen]« (F 341 / 42, 29 bzw. Bd. 3, 246), und erklärte unumwunden: Ich bin entschlossen, die Dezimierung der Literaturgeschichte erbarmungslos binnen kurzem zu vollziehen. Versteht sich, ich will nicht, daß die Professoren brotlos werden. Sie haben nur aufzuhören, vom Blut der Künstler zu leben. (Bd. 4, 101)
Dieses Vorhaben, bei dem Kraus eine »nervenschmeichelnde Hoffnung auf den unmittelbaren, den praktischen Erfolg« (Bd. 4, 101) gehabt habe, können wir eben im Nestroy-Essay verwirklicht finden. Dabei wurde allerdings der Schwerpunkt auf die positive Umwertung der Nestroyschen Satire gelegt und der so neu 18
Aristoteles, S. 27, 36. Die These lautet hier bekannter Weise, dass der Dichter erzähle, »was geschehen könnte«, während es beim Geschichtsschreiber um das gehe, »was geschehen [sei]«. 19 Vischer, S. 63 f.
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erfassten Satire, im Gegensatz zu ihrer Marginalisierung in der Ästhetik Hegels,20 eine lebhafte Gültigkeit für die Mitwelt zugeschrieben. Von diesem Standpunkt aus versucht Kraus im Nestroy-Essay, die Aktualität der satirischen Aspekte Nestroyscher Possen herauszustreichen, wobei ebenso wie beim Heine-Essay eine Vielschichtigkeit sowohl im Thematischen als auch im Stilistischen zu bemerken ist. Im Folgenden gehen wir zunächst der Frage nach, in welchem Verhältnis seine Auseinandersetzung mit der Geschichtsschreibung zu dieser Aufwertung der Satire steht, sowohl im Allgemeinen als auch mit Bezug auf die Literatur. 2. Aktualisierung von Nestroys satirischer Methode a) Das Zusammenwirken von Pathos und Witz bei Nestroy als Vorbild der Krausschen Satire Kraus hat schon in Friedjungs in der Neuen Freien Presse erschienenem Artikel zur militaristischen Meinungsmache einen »schönrednerischen Patriotismus« (Bd. 8, 24) und die »Bereitschaft« entdeckt, »[…] wenn’s sein [müsse], für das Vaterland mit Phrasen zu kämpfen.« (Bd. 8, 26) Hier rückt, wie schon beim Heine-Essay, ein Sprachproblem in den Vordergrund, nämlich das der Phrase, die für ihn als »Ornament des Geistes« (F 279 / 80, 8) ein Hauptkennzeichen der damaligen Krise der bürgerlichen Öffentlichkeit bedeutet hat. Diese Problematik wird dann auf die Nestroy-Bewertung im liberalen Lager bereits in der Zeit vor Friedjung verlegt, eine Bewertung, bei der nach Kraus verschiedenartige phrasenhafte Etikettierungen zirkulierten, in denen das Bild dieses ›Volkskomikers‹ meist negativ gezeichnet sei.21 Mancher habe sogar »Nestroys Werke nur aus dem Zitatenschatz von Leopold Rosner«, dem Herausgeber seiner zweibändigen Werke, gekannt, ohne »eine Zeile im Original« gelesen zu haben (F 351 / 53, 44). Im Nestroy-Essay wollte Kraus »dieser Tradition ein Ende« (F 351 / 53, 41) machen, und zwar gerade unter Berufung auf die Nestroysche Methode der Satire, die bis 20 Hegel, S. 492 ff. Hier hat Hegel die Satire als »Übergangsform des klassischen Ideals« definiert, in der sich die »prosaische Auflösung des Ideals« kundgebe und die den Römern eigentümlich zukomme. Unter diesem Aspekt schrieb er: »Heutigentags wollen keine Satiren mehr gelingen.« 21 Z. B. ist Nestroy nach Kraus um seinen hundertsten Geburtstag 1901 als »grinsende[r] Übertreiber«, »Hanswurst«, »wildgewordener Spießbürger« oder »Clown des Direktors Carl« bezeichnet worden, während andere wie Stephan Großmann dessen Lustspiel Freiheit in Krähwinkel für »eine revolutionäre Satire« gehalten hätten (F 351 / 53, 44). Als Vertreter der negativen Nestroy-Bewertung werden im Nestroy-Essay neben Friedrich Theodor Vischer auch Heinrich Laube, Emil Kuh, Friedrich Hebbel, Moritz G. Saphir genannt (Bd. 4, 234). Wolfgang Neuber weist darauf hin, dass Nestroys »Satire auf jede Spielart von Idealismus« sowie dessen »bloß aufdeckende[r], unprogrammatische[r] Realismus« ihn der »Kritik der Liberalen wie der Konservativen« ausgesetzt habe; s. dazu Neuber, S. 113 f. Es muss allerdings auch bemerkt werden, dass Laube von Nestroy als einem »höchst respektablen Volksphilo sophen« geschrieben hat; s. dazu Laube, S. 203.
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dahin eine Ursache von dessen Unterschätzung gewesen sei. Ja er hat nachgewiesen, dass sich Nestroy des Problems der Phrase vorwegnehmend bewusst gewesen ist. Als Belege dafür zitiert Kraus eine Stelle aus der Posse Talisman von 1840, wo eine Frau in der Rede der Hauptfigur, die über den Tod des eigenen Vaters in pathetisch übersteigerter Weise berichtet, »offenbare Anlagen zum Literaten« finden will (Bd. 4, 230).22 Diese Rede ist der journalistischen Phrase darin ähnlich, dass alltägliche Tatsachen in umständlich ›geblümtem‹ Stil mitgeteilt werden. Ferner führt Kraus ein amphibolisches Wortspiel in Der Zerrissene von 1844 an, das auf dem phrasenhaften Gebrauch der Wendung ›wie Kraut und Rüben‹ beruht: Da g’hören die Ruben her! An keine Ordnung g’wöhnt sich das Volk. Kraut und Ruben werfeten s’ untereinand’, als wie Kraut und Ruben. (Bd. 4, 230)
Hier belebt Nestroy »die ursprüngliche Bildhaftigkeit«23 der Wörter im Kontrast zu ihrer übertragenen Bedeutung wieder, um die reaktionäre Politik des Vormärz in Österreich zu karikieren. Eine solche Wirkung hat auch eine aus Frühere Verhältnisse von 1862 zitierte Stelle: O, ich will euch ein furchtbarer Hausknecht sein! (Bd. 4, 231)
Ein Bruch zwischen dem ›hohen‹ und pathetischen Stil mit dem ›niederen‹ Vokabular »Hausknecht« spielt hier auf die Lächerlichkeit der Klassenunterschiede an. Durch diese und andere Beispiele für die satirische Methode Nestroys stellt Kraus die potentielle Kraft von Worten heraus, die sich kritisch auch gegen die »Nachwelt« seines Vorgängers wenden lasse: Dieses verflossene Pathos, das in die unscheinbarste Zwischenbemerkung einer Nestroyschen Person einfließt, hat die Literarhistoriker glauben machen, dieser Witz habe es auf ihre edlen Regungen abgesehen. In Wahrheit hat er es nur auf ihre Phrasen abgesehen. Nestroy ist der erste deutsche Satiriker, in dem sich die Sprache Gedanken macht über die Dinge. Er erlöst die Sprache vom Starrkrampf, und sie wirft ihm für jede Redensart einen Gedanken ab. (Bd. 4, 230)
Hier nimmt Kraus die heute in der Nestroy-Forschung geteilte Ansicht vorweg, dass Nestroy die pathetische bzw. erhabene Redeweise der Personen nicht, wie in Schillerschen Trauerspielen, ernst, sondern parodistisch eingesetzt habe.24 Er schreibt Nestroys Methode der Satire dieser eigenartigen Mitwirkung von Pathos und Witz zu, die er sich auch mit seinem eigenen aphoristischen Stil vorgenom-
22 Über das Stück Talisman s. auch: Neuber, S. 57 f. Neuber zufolge gestaltet sich im Talisman »Nestroys rationalistische Pragmatik« am autonomsten, indem dort »[…] die Rhetorik sich selbst als Technik [aufweise]« und »[…] die Methode der Desillusionierung transparent« und »verfügbar gemacht [werde] für den Zuschauer und zugleich dadurch auch die Illusionierung durch die Handlungsfiktion als Methode erkennbar gemacht [werde]«. 23 Brill, S. 37. 24 Hein, S. 75.
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men hat.25 Während er bei Heine solch einen Sprachgestus vermisste, fand er, wie oben gezeigt, in Nestroys Possen dafür Beispiele genug. So betrachtet, können wir den Ausdruck »Starrkrampf« der Sprache im Sinne einer phrasenhaften Sprache, die immer automatisch auf einen fixierten Sinn referiert, begreifen. Sie davon zu »erlösen« und dafür einen »Gedanken« zu erhalten, bedeutet demnach, die Phrase durch ihre wortspielerische Bearbeitung ad absurdum zu führen und sie durch das antireferentielle »Chaos« der Sinne zu ersetzen. Auch die ›erotische‹ Beteiligung der Sprache selbst an diesem Prozess ist hier einbegriffen, indem ihre gleichsam mütterliche Sorge für die »Dinge« wiederum durch die wortspielerische Verwendung der Redensart, »sich über etwas Gedanken machen«, angedeutet wird; hierauf werden wir im Zusammenhang mit dem Thema der Ehrfurcht vor der Sprache noch zurückkommen (C. III.). An der eben zitierten Stelle werden in dieser Weise die Themen, die früher im Kontext der Pressekritik behandelt wurden, in der Konfrontation mit den »Literarhistorikern« rekapituliert. Man kann die Bezeichnung von Nestroy als »de[m] erste[n] deutsche[n] Satiriker« so deuten, dass es einen folgenden geben müsse und dementsprechend sein Pathos nicht »verflossen« sei. In diesem Fall hätte Kraus behauptet, dass neben Frank Wedekind, der hier erwähnt wird, auch er selbst zur »sprachsatirischen Nachkommenschaft« (Bd. 4, 227) Nestroys gehöre. Hier bietet sich uns eine Möglichkeit dar, die Kraussche Behauptung von der Koexistenz des schriftstellerischen und des schauspielerischen Moments bei seiner Tätigkeit konkreter zu verstehen. Wenn wir nämlich das Pathos zum rhetorischen Begriff pathos und den Witz zum ethos und dessen Oberbegriff, dem ridiculum,26 in Beziehung setzen, dann ergibt sich daraus, dass es sich da gerade um eine Verflechtung von zwei emotionalen Wirkungen sowohl der Redekunst als auch der Schauspielkunst handelt.27 Aus der Tatsache einer solchen Verschränkung von Pathos und Witz in der Satire erhellt überdies, dass die Satire in der Entwicklung der Dreistillehre immer wieder sowohl mit der Tragödie als auch mit der Komödie verglichen worden ist.28 Ein typisches Beispiel für ein Zusammen 25
s. dazu B. II. 2. b). s. dazu Lausberg (1963), S. 37 (§ 69–70). 27 s. dazu Ueding / Steinbrink, S. 37, 42, 230 f. Nach Ueding ist für die Rhetorik, die nach dem Niedergang der römischen Republik an den Schulen ihren Ort der Betätigung gefunden habe, das Theater zur Welt des Redners geworden, indem dieser in der Phase der pronuntiatio als des stimmlichen Vortrags und der actio als der Körperberedsamkeit und externer Inszenierung der Rede die Gestik und das Mienenspiel des Schauspielers übernommen habe. Cicero allerdings habe ausdrücklich darauf hingewiesen, dass der Redner als ›Darsteller des wirklichen Lebens‹ nichts mit dem Schauspieler als ›Nachahmer des wirklichen Lebens‹ zu tun habe. 28 Z. B. hat Horaz nach Brummack die Satire mit der Komödie, Juvenal sie mit der Tragödie verglichen. Im Mittelalter habe Benvenuto Rambaldi da Imola folgende drei Stilarten unterschieden: Tragödie – erhabener Stil; Satire – mittlerer Stil; Komödie – niederer Stil. Darüber hinaus sei bis zum Ende des 18. Jahrhunderts, der traditionellen Entgegensetzung von Horaz und Juvenal gemäß, die Einteilung der Satire in eine komische und eine tragische Gattung entstanden; s. dazu Brummack, in: DVLG, S. 296, 278, 311 f. 26
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wirken dieser schriftstellerischen und schauspielerischen Momente bieten uns nun Nestroys Stücke, die Wolfgang Neuber als »praktizierte Rhetorik« bezeichnet hat, nämlich als eine solche, die sich »nicht auf Stilistik reduzieren [lasse] und konzeptionell zur Praxis [dränge]«.29 Jürgen Hein thematisiert die komische Funktion der »Gebärdensprache« bei Nestroyschen Figuren: »[…] die Geste entlarvt die Figur in ihrem Widerspruch zwischen dem, was sie sagt, und dem, was sie tut.«30 So versucht z. B. Herr von Lips, Hauptfigur in Der Zerrissene, die von Schiller erstrebte Haltung des Pathetisch-Erhabenen zu wahren, jedoch nur scheinbar.31 Darüber hinaus macht Siegfried Brill darauf aufmerksam, dass die Voraussetzung Nestroyscher Sprachkomik zunächst einmal die Inkongruenz von Sprache und Gemeintem sei:32 Das Spiel mit der Sprache »wird heraufgeführt, weil im Vollzug der Sprache ein Kunstgriff ihr Verhältnis zum Mitgeteilten willkürlich verändert. […] Die Sprache verwandelt sich dadurch zur veränderbaren Optik gegenüber dem, was sie meint«.33 Unter dieser Perspektive ist Nestroys Sprache nicht nur als ein transparentes Medium für den Sinn aufzufassen. Vielmehr greift ihre aus den »Worten« ersichtliche Materialität sogar in den Sinn ein und setzt sich in diesem Punkt zu der Problemebene in Beziehung, auf der es um den handelnden Körper des Schauspielers geht. Mit anderen Worten, zeichnet es die Nestroysche »Sprachsatire« aus, dass außer dem Schauspieler der Text, den er spricht, selbst agiert. Hier können wir einen wichtigen Unterschied der Nestroyschen Satire zu Heines ironischer bzw. satirischer Schreibart erkennen, deren Nähe zum Rhetorischen sich hier als die Ferne vom Schauspielerischen verstehen lässt. Wenn man es so sieht, hat Kraus offenbar die eigene Vorstellung von der Satire auf die Kunst seines Vorbilds projiziert. In der Tat übernimmt er im Nestroy-Essay an vielen Stellen dieselbe satirische Methode. Als ein typisches Beispiel kann die Stelle angeführt werden, wo Kraus über die Phrase gewisser »Phraseure und Riseure« spottet, Nestroy habe »der Schalk im Nacken« gesessen. Auf der metaphorischen Ebene bedeutet diese redensartliche Wendung nur, Nestroy sei ein Witzbold gewesen. Indem Kraus aber den folgenden Satz daran anschließt, entsteht ein amphibolisches Wortspiel, das sich gegen die kehrt, die diese Meinung schlicht teilen: »Und dennoch saß er nur ihnen im Nacken und blies ihre Kalabreser um« (Bd. 4, 223).34 Er hat jedoch nicht nur eine derartige Umgestaltung der Phrase selbst demonstriert, sondern die Phrasenhaftigkeit der damaligen journalistischen Sprache zum Thema seiner Betrachtung über die Satire gemacht. Im März 1912, 29
Neuber, S. 50. Hein, S. 75. 31 Cersowsky, S. 120 ff. 32 Brill, S. 52. 33 Brill, S. 50. Brill erwähnt einige typische Beispiele dafür in Nestroys Der Talisman (S. 149 ff.). 34 Amphibolisch, d. h. mehrdeutig, wird diese Wendung dadurch, dass der »Schalk« mit Nestroy selbst gleichgesetzt wird. Die ursprüngliche Bildhaftigkeit, die durch ein solches Wortspiel wieder belebt wird, verstärkt die Bezeichnung »Kalabreser (eine Art Hut aus Italien) [, der bis zum Nacken reicht]«. 30
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kurz vor der Nestroy-Feier, kritisiert er einen Zeitungsbericht über eine verstorbene »Lebedame«, in dem die Phrasen mit halbweltlicher Konnotation wie »ihre Zelte abbrechen«, »in den Strudel stürzen« oder »in ihre Netze ziehen« sensationsheischend in Anführungszeichen betont werden. Er findet diese Darstellungsweise »kolossal umständlich«, weil es die dadurch bezeichneten Dinge wirklich gegeben habe. Anschließend daran schreibt er: Nun, die Zeit ist angebrochen, wo es gilt, die Worte wieder in das Recht ihrer Gegenständlichkeit einzusetzen und die Phrasen, die einmal Bilder waren, einzelweise abzumurksen. Sonst wird man bald nicht mehr einem Fischfang zusehen können, ohne daß einem übel wird. Man glaubt nämlich, der Fischer fange den Fisch mit einer Phrase, und er sei eine Kokotte. (F 345 / 46, 46)
Hier wird am Beispiel der Phrase »Fischfang«, die konventionell den »Kokottenfang« bedeutet, die damalige Tendenz der Zeitungsleser veranschaulicht, ein Wort eher in seinem metaphorisierten Sinne zu verstehen als in seinem buch stäblichen. Als ein anderes Beispiel führt Kraus einen Bericht über eine Flotten demonstration vor, in dem die Redewendungen ›eine Klippe umschiffen‹ und ›ein Ufer erreichen‹, deren »Bildspender« wiederum der Bereich des Meeres ist, als verba propria verwendet sind (F 374 / 75, 3). In solchen Fällen zeige sich klar die Instrumentalisierung der Form als eines Verständigungsmittels und die damit zusammenhängende Nivellierung des Inhalts: eine »Katastrophe der Phrasen« (F 374 / 75, 1), die wir im Sinne der militaristischen Kontrolle des Denkens und der Schwächung der kritischen Urteilskraft verstehen können, wie es der Kreis um Friedjung wirklich beabsichtigt hat. Davor hat Kraus gewarnt. In geistig bankerotten Zeit wird statt der Anschauungsmünze das Papiergeld der Phrase verausgabt. Wenn statt der Dinge Bilder von anderen Dingen bezogen werden, steht es schlimm genug. Aber wenn diese Bilder auch dort noch gebrauchsfähig sind, wo die Dinge schon bei den Dingen sind, wenn Ufer eine Umschreibung für Ufer und Klippe eine Phrase für Klippe ist – dann ist ein Krieg unvermeidlich! (F 374 / 75, 3)
Den »Starrkrampf« der Sprache (Bd. 4, 230) in diesem Stadium, bei dem ein verbum proprium mit dem entsprechenden verbum improprium zur Deckung kommt (»Ufer eine Umschreibung für Ufer«), sieht Kraus erst recht als verhängnisvoll an. Dies macht noch deutlicher, welche Aufgabe er der »Sprachsatire« stellt. Der oben gezeigte Gegensatz zwischen dem »Papiergeld der Phrase« und sprachlicher »Anschauungsmünze« macht also klar, was er hier kritisiert, nämlich die Tendenz, die Sprache als System blosser Bezeichnungen zu betrachten (»Papiergeld«). Dagegen fordert Kraus, »[…] die Worte wieder in das Recht ihrer Gegenständlichkeit einzusetzen« (F 345 / 46, 46) (»Anschauungsmünze«).35 In seinem Sinn von »leibhaftige[m] Sprachgeist« (Bd. 4, 191) sind die Materialität der Spra 35
In diesem Zusammenhang fällt auf, dass auch Nietzsche die Münzenmetapher für die Sprache gebraucht hat. Es handelt sich bei ihm allerdings darum, den Illusionscharakter der Wahrheit, der auf der Metaphorizität der Sprache selbst beruhe, zu behaupten; s. Nietzsche (1973), in: Colli / Montinari, S. 374 f.
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che und die sprachliche Formung überhaupt nicht von einander zu trennen. Eben darum hat er aufgrund seiner Materialästhetik der Sprache seinen Stil derart gestaltet, dass dieser grundsätzlich pathetisch wirkt, wobei jedoch die witzige Pointe nicht dem »Sprech-Stil seiner Zeit«, der »dem Pathos mehr Raum ließ als die Sprech-Weisen der Gegenwart«, entsprach.36 Vielmehr hat das Pathos bei Kraus durch das Zusammenspiel mit dem Witz eine Gegenwirkung auf den pathetischen Grundton des damaligen öffentlichen Diskurses, der etwa mit den oben angeführten Phrasen wirkte, ausgeübt. Bedeutet dies aber nicht, dass in der Fackel eine oppositionelle Form der Theatralität zustande gebracht wurde? b) Die Theatralität des satirischen Textes bei Kraus Im Nestroy-Essay finden sich manche Stellen, in denen das Fortleben der Werke Nestroys durch eine gleichsam dynamisierende Wort-Metaphorik gekennzeichnet wird. Ein typisches Beispiel: Auf jeder Seite Nestroys stehen Worte, die das Grab sprengen, in das ihn die Kunstfremdheit geworfen hat, und den Totengräbern an die Gurgel fahren. Voller Inaktualität, ein fortwirkender Einspruch gegen die Zeitgemäßen. Wortbarrikaden eines Achtundvierzigers gegen die Herrschaft der Banalität […] (Bd. 4, 233)
Die Allegorie fasst hier nicht die Sprache, wie sonst häufig bei Kraus, als Frauengestalt, sondern die Lebenskraft der »Worte« eines totgesagten, die sich ge wissermaßen eo ipso gegen jegliche journalistische Etikettierung sträuben und insofern für die »Journaille« als unzeitgemäß gelten. Dann weist Kraus auf eine Wirkung der »Worte« hin, die tiefer reicht als die bloße Referenz zur Außenwelt: […] Gedankengänge, in denen die Tat wortspielend sich dem Ernst des Lebens harmlos macht, um ihm desto besser beizukommen. Ein niedriges Genre, so tief unter der Würde eines Historikers wie ein Erdbeben. (Bd. 4, 233)
Diese Passage, die wir als weiteren Kommentar zur Nestroyschen Parodierung der pathetischen Redeweise verstehen können, hebt sich dadurch von anderen Stellen ab, dass die »Tat« betont und so auf das Wechselspiel zwischen »Worten« und dem körperlichen Agieren des Schauspielers in den Possen Nestroys hingewiesen wird. Es scheint diese Angewiesenheit auf das außersprachliche Moment gewesen zu sein, mit der Kraus über jene Grenze der Satire in der modernen Zeit hinwegzukommen suchte, die Adorno in seinem Fragment ›Juvenals Irrtum‹, unter Berufung auf Kraus, der Entkräftung der Ironie zugeschrieben hat: Schuld an der Unmöglichkeit der Satire heute hat nicht, wie Sentimentalität es will, der Relativismus der Werte, die Abwesenheit verbindlicher Normen. Sondern Einverständnis selber, das formale Apriori der Ironie, ist zum inhaltlich universalen Einverständnis
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Scheichl, in: Strelka, S. 176.
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geworden. Als solches wäre es der einzig würdige Gegenstand von Ironie und entzieht ihr zugleich den Boden. Ihr Medium, die Differenz zwischen Ideologie und Wirklichkeit, ist geschwunden. Jene resigniert zur Bestätigung der Wirklichkeit durch deren bloße Ver doppelung.37
In dieser »bloße[n] Verdoppelung« der Wirklichkeit sah Kraus im Essay ›Prozess Friedjung‹ das Ergebnis der theatralischen Einwirkung der Massenmedien auf das Publikum: Austria in orbe ultima: in einer Welt, die betrogen wird, glaubt Österreich am längsten. Es ist das willigste Opfer der Publizität, indem es nicht nur glaubt, was es gedruckt sieht, sondern auch das Gegenteil davon glaubt, wenn es auch dieses gedruckt sieht. Seine Bevölkerung ist ereignisläufig. Aber sie erlebt das Ereignis nur als Meldung, und darum kann ihr die Journalistik die Ereignisse entwinden, die sie ihr eben erst verschafft hat. (Bd. 4, 21)
Während der Nestroyschen Satire die Fähigkeit zugesprochen wird, dem »Ernst des Lebens« beizukommen, wird im Fall einer journalistischen Äußerung vor der Gefahr gewarnt, dass durch als wahr erscheinende Worte, die in Wirklichkeit betrügerisch sein können, »Ereignisse« erst entstehen, wie es angesichts der geheimen politischen Abmachung zwischen Friedjung und der liberalen Wiener Presse tatsächlich fast geschehen wäre. Der Nestroyschen Art der Satire wird unter diesem Aspekt die Gegenkraft zugetraut, der Presse die Kraft zu entziehen, die »Ereignisse« erst zu schaffen und diese das Publikum gleichsam auf dem Schauplatz Österreich »nur als Meldung« erleben zu lassen. Schon in dem früheren Essay ›Der Zerrissene‹, in dem der Journalist und Dramatiker Theodor Herzl kritisiert wurde, hat Kraus geschrieben: Nestroy »hat die moderne Presse nicht gekannt, und war dennoch ein Satiriker« (F 88, 12). Das Adverb »dennoch« weist hier darauf hin, dass Kraus die Satire eigentlich als eine Kunst aufgefasst hat, die sich durch die Auseinandersetzung mit jener Theatralität der »modernen Presse« bewähren könne, die nach seiner Ansicht in einer phrasenhaft inszenierten Vorführung der Wirklichkeit bestehe. In diesem Sinne handelt es sich hier um eine Art Metatheater, bei dem eine andersartige, die Wirkung der Presse zersetzende Theatralität durch Zusammen wirkung von schriftstellerischen und schauspielerischen Elementen entstehen kann.38 Diesen Sachverhalt erläutert Harald Kaufmann, indem er sich auf die Walter Benjaminsche Theorie von der Allegorie im barocken deutschen Trauerspiel beruft. Seiner Ansicht nach erschöpft sich die Bloßstellung der Phrase bei Nestroy »nicht in Vernichtung, sondern konserviert zugleich die Signatur des Bloß-
37
Adorno (1980), in: Tiedemann, S. 239. Als ein Phänomen, das bei Nestroy der Theatralität der Presse entsprach, können wir die Wirkungen des besonders in der Barockzeit einflussreichen und im Fin de siècle wiederbelebten Welttheaters betrachten, nämlich eines Topos, nach dem die Menschen unter dem Spielleiter Gott auf der »Weltbühne« ihre Rolle zu spielen haben. Näheres dazu s. E. II. 4. sowie E. III. 38
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gestellten in seiner Vereinsamung«, so dass »das Bild zur Schrift« wird.39 Mit anderen Worten appelliere seine Satire, wie es auch für den Fall Kraus gelte, an ein gewisses Wohlwollen beim Empfänger, der bereit sein müsse, »[…] ihre Willkürlichkeit und Verallgemeinerung zu akzeptieren, um sie als Kritik am Zerstückten, Erstorbenen, Zerstreuten in höherer Zusammengehörigkeit zu verstehen«.40 Diese Art der sprachlichen Darstellung bringt Kaufmann nun mit jenen körperlichen Momenten des Schauspielers in Verbindung, die »mimetisch« genannt werden: Die Verbindung des Allegorischen mit dem Mimetischen bereichert die Erkenntnis des allegorischen Bildes: denn seine Wirkungen gehen somit nicht nur in eine Spätphase rationalisierter Sprache, sondern auch auf vorsprachliches Gestikulieren, auf archaische Schaustellung. […] Die allegorische Schaustellung ist indessen selbst schon ein Doppeltes. Einerseits übertreibt sie mimetische Nachahmung ins Grimassenhafte […]. Andererseits bricht die Allegorie durch ihre Selbstabkapselung aus dem Dialog aus, unterspielt diesen, verfremdet die Illusion des Theaters.41
Diese Anwendung der Benjaminschen Allegorielehre auf die Satire von Nestroy und Kraus verdient zwar insofern Beachtung, als bei beiden allegorische Aus drücke tatsächlich als ein Hauptmerkmal gelten können.42 Benjamin selbst hat aber in seinem berühmten Essay ›Karl Kraus‹ weder die Allegorie noch das Trauerspiel thematisiert, obwohl er Kraus »eine eigentümliche Mittelstellung«43 zwischen dem Schriftsteller und dem Schauspieler zuschrieb. Ferner muss berücksichtigt werden, dass das »mimische Genie«,44 das Benjamin an Kraus schätzte, nicht gänzlich mit dem »Mimetischen« identifiziert werden kann und Benjamins Augenmerk bei seiner Betrachtung über das barocke Trauerspiel eigentlich nur auf das Spannungsverhältnis zwischen »Schrift und Laut« gerichtet ist.45 Erforderlich ist deswegen noch immer eine Theorie, mit der wir erörtern können, auf welche Weise grundlegende Theaterelemente wie etwa Körperlichkeit des Schauspielers, Anwesenheit des Publikums, effektives Inszenieren situativer Ereignisse auf den Text selbst einwirken. In diesem Punkt bietet sich Helmar Schramms erweiterter Begriff von »Theatralität« an. Seiner Meinung nach hat sich dieser mit der unter dem Einfluss der Revolutionierung von Medientechnologien im 20. Jh. vollzogenen, »grundsätz liche[n] Überschreitung von Schriftkultur-Tradition«46 als »interdisziplinäres Diskurselement« herausgebildet. Ein typisches Ergebnis davon sei die moderne Kul 39 Kaufmann, in: Mühlher / Fischl, S. 528. Hier spielt Kaufmann auf die Stelle an, wo Benjamin Johann Wilhelm Ritters Schriftphilosophie anführt, die behaupte: »Das Bild ist im Zusammenhange der Allegorie nur Signatur, nur Monogramm des Wesens, nicht das Wesen in seiner Hülle.« – s. dazu Benjamin (1974), in: Tiedemann / Schweppenhäuser, Bd. 1. 1, S. 388. 40 Kaufmann, in: Mühlher / Fischl, S. 536. 41 Kaufmann, in: Mühlher / Fischl, S. 537 f. 42 Zu konkreten Beispielen solcher Ausdrücke bei Kraus s. B. II. 2. a). 43 Benjamin (1977), in: Tiedemann / Schweppenhäuser, Bd. 2. 1, S. 347. 44 Benjamin (1977), in: Tiedemann / Schweppenhäuser, Bd. 2. 1, S. 347. 45 Benjamin (1974), in: Tiedemann / Schweppenhäuser, Bd. 1. 1, S. 376. 46 Schramm, S. 27.
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tursemiotik, deren Grenzen zu kulturwissenschaftlich orientierten Ansätzen von Theatersemiotik fließend seien.47 Gleichzeitig habe sich aber da auch für die Betrachtung über die Schriftlektüre eine neue Perspektive eröffnet. Indem es sich aus dem neuen Herangehen an die Theatralität ergeben habe, dass sie »nicht allein als eine spezifische Form (mehr oder weniger spektakulärer) Bewegungen oder Sprachen aufzufassen« sei, sondern »auch durch eine besondere Form der Wahrnehmung konstituiert« werde, sei ein Gesichtspunkt erreicht worden, von dem aus das Lesen als ein mit dem Filmsehen vergleichbarer Vorgang erfasst werden könne: Somit haben Filmsehen und Lesen eines gemeinsam: sie basieren auf einer kalkulierten Bewegungstechnik, die im Maß ihrer Zeit einer spezifischen Form von Aufmerksamkeit Raum verleiht. Die materialbezogene Wahrnehmbarkeit der Buchstaben, Wörter, Satzteile einer Lesezeile, der Fotos eines Filmstreifens wird geopfert und verwandelt zugunsten einer ›künstlich‹ produzierten, auf etwas Fiktives gerichteten Wahrnehmungsintensität. Normalerweise bleibt der kinetische Faktor als technische Ordnungsgröße der Aufmerksamkeit im Hintergrund. Erst im Bruch, in der Unterbrechung erkennen wir das Zusammenspiel von Sprache, Wahrnehmung und Bewegung.48
Als Beispiel solch eines »Bruch[es]« nennt Schramm Fußnoten, bei denen sich komplexe Textsorten »[…] stets aus einem Spektrum denkbar unterschiedlicher Zeitverlaufsformen, Raumstrukturen der Überschichtung und Überschreibung« konstituierten.49 Hierbei bemerken wir, dass die Fackel keinen Mangel an solchen Beispielen hat, denn darin sind zahlreiche Zitate aus verschiedenen Texten, oft in verschiedenen Typengrößen, anzutreffen. Die Zahl der Textsorten hat sich überdies auch dadurch vermehrt, dass Kraus Juli 1911 damit anfing, Essays in der Form des Dramoletts zu veröffentlichen und auch Fotos als Mittel der Satire einzusetzen. Darauf kommen wir noch zurück [C. III. 2. a)]. Diese nichtlineare Anordnung der Texte im Hinblick auf seine Beschäftigung mit der Materialität des sprachlichen Mediums zu betrachten, ist eine wichtige Aufgabe der KrausForschung. Auch dabei gilt es, so müssen wir annehmen, »[…] die Techniken des sprachgebundenen Produzierens und Verstehens von Zeichen-Sinn in ihrer jeweiligen Vernetzung mit nichtsprachlichen Dimensionen von Wahrnehmung und Bewegung« anzuerkennen.50 Wir gebrauchen hier den Begriff Theatralität allerdings mit einem gewissen Vorbehalt, da dieser, auf den »heuristischen Energien des Theatermodells«51 beruhend, eigentlich nur in einer indirekten Beziehung zur Sprachproblematik steht. Wie Andreas Kotte bemerkt, blieb Theatralität begriffsgeschichtlich auch da erhalten, wo dem Theater der Text entzogen werden konnte.52 Aus dieser Sicht ist 47
Schramm, S. 27. Schramm, S. 29, 38. 49 Schramm, S. 39. 50 Schramm, S. 40. 51 Schramm, S. 21. 52 Kotte, S. 272. Diese Auffassung folgt Roland Barthes’ Formel »Theater – [minus, Anm. d. Verf.] Text = Theatralität« (zitiert nach: Kotte, S. 272 f.). 48
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es eher fragwürdig, ob wir von der Theatralität z. B. des Nestroy-Essays sprechen können, weil er einerseits ein zwar zitatenreicher und wie der Heine-Essay aphoristisch segmentierter, andrerseits jedoch auch ein überaus sorgfältig, nicht selten diskursiv, sogar absatzlos verfasster Text ist.53 Das diesem Sachverhalt vergleichbare Paradox, nämlich dass ein Schriftsteller wie Kraus, der seine »exorbitante Aufmerksamkeit« der »typographischen Gestalt« seiner Schriften widmete, »nun vor allem ein Schauspieler gewesen sein« wollte, versucht Christian Wagenknecht aufzulösen, indem er behauptet, dass Kraus »das S c h r i f t b i l d nach den Erfordernissen der R e d e gestaltet [habe]«: In vielen Zügen dient […] die Druckgestaltung der ›Fackel‹ dem Vortrag – zunächst dem eigenen, dann aber auch dem des Lesers, den Karl Kraus sich offenbar ebenfalls als Vorleser denkt. Verlangt ist zumindest ein l a u t e s Lesen. / Mit der Schriftlichkeit des Werkes von Karl Kraus hat es also eine besondere Bewandtnis. Sie ist Medium und Botschaft zugleich – und auf eigenwillige Art außerdem Äquivalent einer Mündlichkeit, die statt des Lesers den Hörer imaginiert. Was in den Vorlesungen von Karl Kraus nur einigen wenigen Zeitgenossen vernehmlich werden konnte, die lebendige Stimme, sollte (außer auf ein paar Schallplatten und in einem kurzen Film) für Mit- und Nachwelt aufbewahrt sein im Schriftbild der Texte. Dieses Ziel haben nicht viele S c h r e i b e r des vergangenen Jahrhunderts mit solcher Beharrlichkeit verfolgt wie der R e d n e r Karl Kraus.54
Trotz dieser aufschlussreichen Interpretation der Krausschen Arbeit ist fraglich, ob diese Charakterisierung des Verhältnisses zwischen Schriftlichkeit und Mündlichkeit, das hier mit der These Marshall McLuhans, »the medium is the message«,55 verbunden ist, die Tragweite der Krausschen »geschriebenen Schauspielkunst« zur Genüge erfasst. Denn diese beiden Momente sind noch immer allzu stark auf das Sprachliche bezogen. Betrachtet werden müssen aber auch nicht direkt sprachliche Momente, die der »Schauspielkunst« inhärent sind. Um diesem weiten Spektrum der Frage Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, führen wir hier den Begriff der »Performativität« ein. Wie in der Einleitung flüchtig erklärt wurde, hat er es, seiner sprechakttheoretischen Herkunft gemäß, vor allem ermöglicht, verschiedene Themen zu erörtern, die mit der Sprache im engen Zusammenhang stehen, die aber auf ihre semantische Ebene nicht reduzierbar sind. Als Schlüsselwort gilt dabei, ebenfalls wie beim Begriff der »Theatralität«, die Aufführung, wobei jedoch ihre einmalige und unwiederholbare Ereignishaftigkeit und damit zusammenhängende Elemente wie »der Vollzug von Handlungen, die Selbstreferentialität der Handlungen und ihr wirklichkeitskonstituierender
53 Zitiert sind in diesem Essay vor allem Textpassagen aus Nestroys Possen, aber auch eine »Darstellung eines liberalen Sittenschilderers aus den achtziger Jahren« und eine »Kundmachung« in den Wiener Zeitungen (Bd. 4, 237). Die Spur einer bewussten Textkomposition ist etwa daran zu erkennen, dass die Beschreibung über die Erlösung der Sprache von ihrem »Starrkrampf« genau in der quantitativen Mitte des Essays steht (Bd. 4, 230). 54 Wagenknecht (2004), S. 31 ff. 55 McLuhan (1994), S. 7 ff.
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Charakter« besonders hervorgehoben werden.56 Die Texte werden da nie ausgeschlossen, sondern finden weiter Verwendung, dies aber als »Teil performativer Prozesse«.57 Unter welcher Perspektive sind diese Aspekte der Performativität für die Metatheatralik der Krausschen Satire gültig? Zunächst gehen wir dieser Frage nach, wobei wir auf einige unserer bisherigen Argumente zurückblicken. 3. Zum performativen Zug der Krausschen Satire a) Kraus’ »Reinszenierung« verborgener Gewalttätigkeit der Presse Was Kraus seit der Gründung der Fackel an Wiener sozusagen feuilletonisierten Zeitungsartikeln konsequent bloßgestellt hat, ist deren instrumentaler Sprachgebrauch, der sehr im Gegensatz zu ihrem literarischen Anspruch steht. Ein typisches Merkmal dieser Tendenz war die Phrase, die in Feuilletons und anderen Sparten häufig gebraucht wurde und in dieser Hinsicht durch die Wiederholbarkeit bestimmt war. Daraus ergaben sich keine bloß ausgeschmückten Berichte über Tatsachen, sondern vielmehr eine Vorgaukelung von Tatsachen. Deren Funktionsweise hat Kraus oft mit der einer illusionistischen Theateraufführung verglichen. Die Grenzen zwischen Objektivität und Subjektivität, Realität und Fiktionalität, gerieten dabei ins Schwanken. In diesem Punkt ist es sinnvoll, dass Kraus durch seine Auseinandersetzung mit dem Historiker Friedjung und auch einigen »Literarhistorikern« zum ersten Mal zu einer eingehenden Manifestierung von Konzept und Methode seiner Satire veranlasst wurde. Denn im Hinblick auf das historische Denken, in Deutschland eines der meist diskutierten Kulturthemen des 19. Jahrhunderts, wurde seit Nietzsches Kritik an der »E i t e l k e i t des Historikers«58 [Hervorhebung durch Nietzsche] manchen Intellektuellen die Abhängigkeit des angeblich »Objektiven« vom subjektiven Akt des Deutens bewusst. Eben dieses Prinzip hat Kraus beim Journalismus, der zwar von neuen, jedoch auch bereits vergangenen Geschehnissen meist von der »Wir«-Position aus berichtet, früh festgestellt und vor den gefährlichen Wirkungen gewarnt. Dabei galt sein metho dologisches Interesse weniger dem »Was« als dem »Wie« der Zeitungsberichte. So versuchte er nicht in erster Linie, die Zeitereignisse aus seiner eigenen Perspektive umzudeuten, sondern vielmehr, stilistische Züge von Berichten darüber durch deren zitathafte Wiederholung eigens zur Schau zu stellen. In diesem Sinne können wir von seiner Satire als einem »Schauspiel Nestroyscher Prägung« sprechen, einem Schauspiel, das zur ›illusionistisch‹ zeichenhaften Wirkung der Worte Distanz nimmt und ihre Materialität, d. h. mediale Basis des Informatorischen, in den Vordergrund rückt. Mit seiner Zitations-Technik hat er die wiederholbare 56
Fischer-Lichte, in: Fischer-Lichte, S. 326. Fischer-Lichte, in: Fischer-Lichte, S. 326. 58 Nietzsche (1972), in: Colli / Montinari, S. 289. 57
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Zeitungsmeldung isoliert und ihr damit in satirischer Absicht den Charakter der Einmaligkeit gegeben. Mit diesem antijournalistischen Vorgehen wollte er das Gedächtnis seiner Leser an die Gefahr dieser »schwarzen Magie« (Bd. 4, 424) wach halten. Hier wird zum ersten Mal der performative Zug der Krausschen Satire sichtbar. Dies bedeutet, dass sie die verwirrende Zweiseitigkeit, die dem Begriff der Performativität eigen ist, in einem besonders intensiven Grad aufweist. Erinnern wir uns an die allererste Bedingung, die John L. Austin zufolge zum Gelingen einer performativen Äußerung erfüllt werden müsse: »Es muß ein übliches konventionales Verfahren mit einem bestimmten konventionalen Ergebnis geben; zu dem Verfahren gehört, daß bestimmte Personen unter bestimmten Umständen bestimmte Wörter äußern.«59 Bezeichnenderweise gibt hier Austin den sozialen Konventionen, die definitionsgemäß Wiederholbarkeit implizieren, den Vorrang vor der Intention eines Sprechers, die mit Einmaligkeit eng verbunden ist.60 Dieses Verhältnis zwischen Wiederholbarkeit und Einmaligkeit betrifft auch den Vorrang des illokutionären Sprechakts, der konventionell sei, vor dem perlokutionären Sprechakt, der unkonventionell sei.61 Diese Schemata setzt Austin dazu ein, die Sprachauffassung, nach der die Sprache auf schon vorgegebene Objekte zeichenhaft referiert, zu widerlegen. Das Sprachdenken solle nicht von den »Wortbedeutungen«, sondern von der »Rolle« der Äußerung ausgehen, die ihr in dem »Zusammenhang«, in den die benutzten Worte »im Sprachverkehr gehören und in dem sie vorkommen«, zukomme.62 Bei diesem Gedanken wird die Einmaligkeit der Intention eines Sprechers durch die Wiederholbarkeit des konventionellen Sprachgebrauchs potentiell unterminiert, wobei man jedoch berücksichtigen muss, dass diese Hierarchie auch umkehrbar ist: Es fragt sich, ob die Einmaligkeit paradoxerweise selbst als wiederholbar betrachtet wird oder nicht.63 Bringen wir die Performativität einer Äußerung mit der unwiederholbaren Einmaligkeit in Verbindung, dann hat sie mit der künstlerischen Performance bzw. 59
Austin, S. 37. Zu diesen Bedingungen für den »glatten« bzw. »glücklichen« Verlauf einer performa tiven Äußerung nach Austin s. Austin, S. 37. 61 Austin, S. 121 ff. Der »illokutionäre Akt«, »den man vollzieht, indem man etwas sag[e]«, müsse vom »lokutionären Akt« als »etwas zu sagen« sowie vom »perlokutionären Akt«, den man dadurch vollzieht, dass man etwas sagt, unterschieden werden; s. auch Austin, S. 112, 116 f., 125. 62 Austin, S. 117 f. Das Wort »Rolle« heißt im Original »force«. Die philosophische Denkweise, die »das Geschäft von »Feststellungen« oder »Aussagen«« darauf beschränkt habe, »einen Sachverhalt zu »beschreiben« oder »eine Tatsache zu behaupten««, und darauf den Maßstab ›wahr‹ oder ›falsch‹ angewandt habe, wird als »deskriptiver Fehlschluß« bezeichnet (Austin, S. 25 ff., 117). Im Folgenden wird festgestellt, dass diese Kritik Austins an der Sprachauffassung in der traditionellen Philosophie auch im außerphilosophischen Bereich Gültigkeit haben kann. 63 Unter einem bestimmten Aspekt scheint Austin der Einmaligkeit den Vorrang vor der Wiederholbarkeit zu geben. Dieses Problem erörtern wir im nächsten Abschnitt im Zusammenhang mit der Kritik Derridas an der Austinschen Sprechakttheorie. 60
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Performanz Berührungspunkte.64 Denn bei der Performance-Kunst, die sich »in der bzw. durch die Intensivierung und Radikalisierung« des transitorischen sowie flüchtigen Charakters ihrer Aufführung als neues theatrales Genre konstituiert hat, wird ihre einmalige und unwiederholbare Ereignishaftigkeit in den Vordergrund gerückt und dadurch der Primat des Textes vor der Aufführung, parallel zur pragmatischen Kritik Austins an der auf das Semantische basierten Sprachauffassung, umgekehrt.65 Eben an dieser Schwelle zur Performance / Performanz gewinnt die Performativität ihr subversives Potential, bei dem die Gebundenheit eines Sprachgebrauchs an die Materialität des Sprachzeichens sowie an die Körperlichkeit der Sprachbenutzer wesentlichen Anteil nimmt. Ermöglicht wird dadurch auch die Thematisierung der Stimme im engen Zusammenhang mit der Schrift. Dieses Schwellengebiet, das gewisse Sprach- und Körperphänomene umfasst, wird im Folgenden das Performative genannt. Die Performativität in diesem erweiterten Sinne, die mit der Performance / Performanz zusammen »bleibende siamesische Zwillinge«66 darstellt und dazu in einem »chiastischen« Verhältnis67 steht, wirft auf die Kraussche Satire ein bezeichnendes Licht. Es lässt sich aber fragen, in welcher Beziehung sie zum Problem des Gedächtnisses der Vergangenheit steht. Um diese Frage zu beantworten, können wir uns auf das Geschichtsdenken Michel Foucaults, des unter dem Einfluss von Nietzsche stehenden Kulturphilo sophen, berufen. In seiner Schrift Archäologie des Wissens von 1969 schlägt er als neue Aufgabe der Geschichtsforschung vor, die Dokumente in deren gesamtem sozialem Kontext »von innen« zu bearbeiten und auszuarbeiten, anstatt sie vorgeblich nur neutral zu interpretieren und von da aus die Vergangenheit zu rekonstruieren.68 Wichtig sind dabei nicht die Dokumente als solche, sondern von wem und »von welchem institutionellen Platz aus« sie hervorgebracht wurden.69 So gesehen, können sich die Dokumente in »Monumente« bzw. »diskursive Ereignisse« transformieren (Foucault), die aus zur gleichen »diskursiven Formation« gehörenden »Aussagen« bestehen.70 Diese Betrachtungsweise der Geschichte bezeichnet Foucault als »Archäologie« und setzt die »Aussage« als »elementare Einheit des Diskurses« bzw. »Existenzmodalität der sprachlichen Performanz« mit dem »Sprechakt« Austinscher Provenienz gleich.71 Von diesem Standpunkt aus hat sich eine Geschichtsauffassung entwickelt, bei welcher der Schwerpunkt weder in dem 64 Eigentlich kommt der Begriff »Performanz« von der Sprachwissenschaft, »Performance« von der neuartigen Kunstpraxis her (s. dazu die Einleitung der vorliegenden Arbeit). Im heutigen Sprachgebrauch werden sie sehr oft einander gleichgesetzt. 65 Fischer-Lichte, in: Martschukat / Patzold, S. 39 f., 34. 66 Bal, in: Huber, S. 239. 67 Herberichs / Kiening, S. 11. 68 Foucault, S. 14. 69 Althans, in: Wulf u. a., S. 142. 70 Foucault, S. 15, 41 f., 115 ff. 71 Foucault, S. 15, 117, 160.
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die Dokumente narrativ steuernden Historiker als Ich-Subjekt noch in der daraus fiktional konstruierten Kontinuität des Zeitablaufes, sondern im jeweilig anders erscheinenden Verhältnis zwischen Sprache und Macht liegt.72 Dies ist ein typisches Beispiel der kulturwissenschaftlichen Anwendung der Sprechakttheorie, bei der die Dokumente nicht als wiederholbare Zeichen der Vergangenheit betrachtet werden, sondern selbst als einmalig gesetzte Schriftmonumente, die dazu beitragen, die vorgebliche Objektivität sozial anerkannter ›historischer Tatsachen‹ von Grund auf in Frage zu stellen. Eben solch einen geschichtskritischen Zugang zum Gedächtnis der Vergangenheit, allerdings der journalistisch eingeprägten zeitgeschichtlichen, hat, so heißt nun unsere These, auch Kraus in der Fackel konsequent praktiziert, wobei publizistische Dokumente als Ereignisse materiell »monumentalisiert« verzeichnet wurden.73 Tatsächlich wird auch sein Verwerfen der Annahme einer geschichtlichen Kontinuität dort deutlich, wo er »die gemütliche Einteilung in Altertum, Mittelalter und Neuzeit« (Bd. 8, 70) für die Massenmedienzeit als ungültig ansieht. Diese Tendenz verstärkte sich offenbar in der Zeit des Nestroy-Essays, nachdem er als ein »Autor, der sein Tagebuch als Zeitschrift heraus[gebe]« (F 267 / 68, 24), seit der Gründung der Fackel unzählige zeitgenössische Phänomene meist mittels Zitaten aus Zeitungsberichten begleitete. Foucaults Interesse verschob sich aber anlässlich der Einführung der ›genealogischen‹ Perspektive »von der Analyse der Sprach-Praktiken zu einem neuen, seinem definitiven Untersuchungsgegenstand: dem Körper als Produkt der Diskurse der Macht«74 und blieb nicht beim Problem der »Aussage«. Die körperliche Ebene war zwar auch bei der Krausschen Tätigkeit, wie unten (D. I.–D. IV) genauer untersucht wird, von Belang, Kraus vernachlässigte jedoch die Sprachproblematik bis zum Ende nicht, wodurch sich seine Position jener zu nähern scheint, die Judith Butler mit ihrem Konzept der Performativität in der Kulturwissenschaft eingenommen hat. Was Kraus nämlich an der Praxis von Nestroy als charakteristisch ansah, war nicht einfach jene Wort-Verspieltheit, die Kraus dem »Gedanken« attribuierte. Vielmehr schätzte Kraus Nestroys Praxis, auf eine redensartliche Wendung zitierend aufmerksam zu machen und damit eine ganz andere Wirkung zu erzielen als die konventionelle. Die betreffende Wendung wortspielerisch umzuarbeiten, war dabei nicht immer nötig. Dies hat Kraus auch als sein eigenes Thema erörtert. Im Essay ›Die neue Art des Schimpfens‹ von 1912 versucht er z. B., den Vorwurf von Richard M. Meyer, einem »Professor der Literaturgeschichte«, zu widerlegen, dass er ausgerechnet als Schüler von Maximilian Harden phrasenhafte »Scheltwörter« wie »Dirne« oder »Eunuch« »stimmungsvoll ausgemalt« habe. Kraus antwortet: 72
Als Vertreter solch einer Geschichtsauffassung sind z. B. der Historiker Hayden White und der Anglist Stephen Greenblatt zu nennen; s. dazu Conrad / Kessel, S. 20 ff. 73 Foucault spricht von »einer dokumentarischen Materialität«. – s. dazu Foucault, S. 15. 74 Althans, in: Wulf u. a., S. 143.
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Gewiß nicht. Was aber die neue Art des Schimpfens anlangt, so glaube ich nicht, daß man mir in den dreizehn Jahrgängen der Fackel einen Fall wird nachweisen können, wo ich das Wort »Dirne« als Schimpfwort gebraucht hätte und nicht als die Bezeichnung eines erstrebenswerten Zustandes. Wo ich das Wort selbst gebraucht hätte und nicht vielmehr zitiert, um die engstirnige Terminologie einer Gesellschaft zu brandmarken, die zu mesquin [Französisch für »engherzig«, Anm. d. Verf.] ist, um den mesquinen Ton eines Wortes zu fühlen, weil sie zu feig ist, um dafür das Wort Hure zu setzen. […] Was aber die neue Art des Schimpfens anlangt, so möchte ich mich fast zu der Behauptung versteigen, daß man mir in den dreizehn Jahrgängen der Fackel auch keinen Fall nachweisen wird, […] wo ich das Wort »Eunuch« als Schimpfwort gebraucht hätte und nicht als die Bezeichnung eines erstrebenswerten Zustandes. (Bd. 3, 310 f.) [Hervorhebung durch d. Verf.]
Kraus behauptet hier, dass er gewisse Schimpfwörter, deren negative Implikation ihm völlig bewusst sei, als Zitate gebrauchen und daraus eine positive Wirkung hervorrufen kann. Diese Umwandlung erläutert er mit einer für ihn charakteristischen allegorischen Redeweise, bei der das künstlerische Schaffen hyperbolisch so hochgeschätzt wird, dass es sogar – wie zum Scherz – dem göttlichen übergeordnet zu werden scheint. Der ironische Ton gemahnt an Heine.75 Gewisse Worte auszusprechen oder auszuschreiben, hat mich noch keine irdische Rücksicht verhindern können, denn gewisse Worte sind mir immer sogar wichtiger gewesen als gewisse Leute; und wären sie so banal wie diese, so abgegriffen wie sie, die sie nur abgreifen können: der Künstler belebt sie und er vermag darin mehr als der Schöpfer, der ja einen Professor der Literaturgeschichte ein für allemal erschaffen hat und beim besten Willen nicht imstande wäre, ihn so anzublasen, daß er neues Leben gewänne, was doch mir an den hoffnungslosesten Fällen noch immer gelungen ist. (Bd. 3, 312 f.)
Hier scheint Kraus eben jenes Thema unter einer anderen Perspektive zu behandeln, das Judith Butler in ihrer Schrift Hass spricht von 1997 auch im Kontext ihrer Kritik an der sexuellen Diskriminierung als »eine Gegen-Aneignung oder Reinszenierung des beleidigenden Sprechens« bezeichnet hat.76 Von der Austinschen These ausgehend, dass jeder illokutionäre Sprechakt nur deswegen im Augenblick der Äußerung eine Tat vollziehen kann, weil er ritualisiert, nämlich »in der Zeit wiederholbar« ist und so »ein Wirkungsfeld« aufrechterhält, »das sich nicht auf den Augenblick der Äußerung selbst beschränkt«,77 findet Butler im Akt der zitierenden Wiederholung den Spielraum für die Strategie, »[…] sich die Kraft des verletzenden Sprechens fehlanzueignen, um seinen verletzenden Verfahren entgegenzutreten«.78 Als ein konkretes Beispiel weist Butler auf die »ästhetische Umsetzung eines verletzenden Ausdrucks« hin, denn diese könne »den Ausdruck sowohl verwenden als auch erwähnen, d. h. sie [könne] ihn gebrauchen, um bestimmte Wirkungen hervorzurufen, aber sich auch zugleich auf die Verwendung 75 Diese ›gotteslästerliche‹ Position weist auf die Beziehung der Krausschen Satire zum theologischen Denken hin; s. dazu E. III. 1. 76 Butler (1998), S. 27. 77 Butler (1998), S. 11 f. 78 Butler (1998), S. 64.
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beziehen und damit die Aufmerksamkeit darauf lenken, daß es sich um ein Zitat handel[e]«.79 Insofern wir Kraus’ zitierende Behandlung der Sprachgewalt der Presse in diesem Butlerschen Sinne verstehen, haben wir einen weiteren Grund dafür, von der Performativität seiner Satire zu sprechen. Foucault und Butler teilen eine Einstellung zur Sprache, nach der nicht ein schon als Vorbild gegebenes System wie bei de Saussure, sondern immer eine konkrete Aussage bzw. Äußerung in einer historischen Diskurssituation vorausgesetzt wird, um, von deren Machtpotential ausgehend, bald ihre Monumentalisierung, bald ihre Reinszenierung zu verwirklichen. Beiden ist darüber hinaus die Strategie gemeinsam, durch die ein Material, dessen Wiederholbarkeit mit der der Performance als »restored behavior« (restauriertes Verhalten) im Sinne von Richard Schechner vergleichbar ist, »[…] in der Aktualisierung immer neu modifiziert wird und damit gerade zum Medium des Experiments und der Innovation werden kann«.80 Diese Beziehung zwischen Wiederholbarkeit und Einmaligkeit liegt der Performativität zugrunde, zumal wenn sie zum Attribut einer Performance wird. Bemerkenswert ist hier Mieke Bals Ansicht, dass das Gedächtnis als »Vermittler zwischen Performanz und Performativität« »mit einer Mischung von Zeitlichkeiten« operiert81: Es [das Gedächtnis, Anm. d. Verf.] ist der Motor beider Aktivitäten [Performanz und Performativität, Anm. d. Verf.] und der Faktor, welcher das Ereignis sozial macht. Aber Gedächtnis als Konzept ist wiederum von der Klebrigkeit kontaminiert, die Performanz und Performativität aneinanderbindet. Denn auch das Gedächtnis braucht Aufführung. […] Durch alle Schichten des Gedächtnisses hindurch, die der Künstler in einer Vielzahl kreativer, metaphorischer und sinnlicher Akte inszeniert, erhält der Betrachter in dieser Performanz von Gedächtnis Handlungsfähigkeit und wird mit ihr verbunden. Dies liegt daran, daß Vergessen ebenso ein Akt des Gedächtnisses ist wie Erinnern.82
Diese Verhältnisse scheinen auch für die Tätigkeit der Satire von Kraus zu gelten, weil er gleichsam das Problem, das Foucault und Butler im wissenschaftlichen Kreis thematisiert haben, für das Publikum im weiteren Umfang sowohl schriftlich als auch mündlich durch seine geschriebene Schauspielkunst durch die Sinne erfahrbar macht, sich also in diesem Sinne mit dem sozialen Gedächtnis auseinandergesetzt hat.83 Diese Tätigkeit können wir in der Fackel sowie in den Berichten über seine Lesungen nachspüren. Betrachtet werden müssen nun die verschiede-
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Butler (1998), S. 143. Pfister, in: Nünning, S. 173. 81 Bal, in: Huber, S. 226. 82 Bal, in: Huber, S. 235. Gemeint ist hier die Installation Photograph des irischen Künstlers James Coleman von 1998 / 99. Bal habe sie während ihres sechswöchigen Aufenthalts im Frühjahr 2000 in einer Kunstgalerie in Paris gesehen; s. dazu Bal, in: Huber, S. 205. 83 In ihrer früheren Schrift hat auch Butler die Möglichkeit betont, das soziale System der Geschlechteridentität durch Widerstandsperformances wie in der Travestie umzuorganisieren; s. dazu Butler (1991), S. 190 ff. 80
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nen Aspekte der Kernfrage, nämlich in welchem Verhältnis dabei die wieder holbar-semantischen Momente zu den einmaligen, nicht semantischen gestanden haben. Bevor wir aber zu diesem Stadium übergehen, geben wir einen Überblick darüber, welches Anwendungspotential des Begriffes ›Performativität‹ bisher erschlossen worden ist. b) Aspekte der Performativität im Blick auf die Kraussche Satire Für die Performativität ist charakteristisch, dass sie »kein sprachliches, vielmehr ein soziales Phänomen« ist, weil »die performative Kraft einem Sprechakt« zukommt, »[…] sofern er Element einer nichtsprachlichen Praktik ist.«84 Diesen Sachverhalt haben wir im Zusammenhang mit der von Austin selbst formulierten Bedingung für eine gelungene performative Äußerung bereits genannt. Obgleich Austin in seiner späteren Vorlesung den Begriff des illokutionären Aktes, »den man vollzieht, indem man etwas sag[e]«, eingeführt85 und seine Betrachtung auf »die illokutionäre Kraft« als ein in »dem intersubjektiven Bindungspotential zwischen Sprecher und Hörer« bestehendes und tatsächlich »jedem Sprechen« implizites Sprachvorkommnis86 konzentriert hat, wird diese Suche nach linguistischen Regeln für die Sprechakte nicht ohne Einsprüche weitergeführt, und zwar besonders bei ihrer Anwendung auf literarische Texte.87 Dagegen hat sich die Performanz im engen Zusammenhang mit der Performativität »[…] von einem terminus technicus der Sprechakttheorie zu einem umbrella term der Kulturwissenschaften verwandelt, wobei die Frage nach den »funktionalen Gelingensbedingungen« der Sprechakte von der Frage nach ihren »phänomenalen Verkörperungsbedingungen« abgelöst« worden sei.88 Auch bei dieser Erweiterung des Anwendungsbereiches des Performativen von der Sprache auf kulturelle Phänomene im Allgemeinen spielt das Problem des Gedächtnisses eine wichtige Rolle, weil es dabei »um die konstitutionelle Nachträglichkeit« geht, »[…] die dem performativen Akt eigen [sei], insofern sein Gelingen verwiesen [sei] auf die in Anschlußpraktiken bestätigte Anerkennung durch die Öffentlichkeit.«89 Eben dieser »perlokutionäre Aufschub«90 ermöglicht dem Gedächtnis, wie Mieke Bal beschreibt, als »Bühnenregisseur« zu wirken: Das macht den Betrachter zum Aufführenden. […] Der Betrachter »spielt« den vom Werk geschriebenen Part in dem Maße, in dem er »schauspielt«, indem er auf die perlokutionäre
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Krämer / Stahlhut, S. 38. Austin, S. 116 f. 86 Krämer / Stahlhut, S. 38. 87 s. dazu den Exkurs zu C. II. 88 Wirth, in: Wirth, S. 10. 89 Krämer / Stahlhut, S. 39. 90 Krämer / Stahlhut, S. 39. 85
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C. »Geschriebene Schauspielkunst« – Satire, Performativ
Ansprache des Werks antwortet, welches über die Zeit hinweg aus der Vergangenheit der Herstellung des Werkes in die Gegenwart des Betrachtens hineinreicht.91
Das Gedächtnis, für das die Wiederholbarkeit und Einmaligkeit ausschlag gebende Elemente sind,92 stellt in dieser Weise ein Korrelat der Performativität dar, was auf das hinweist, was im Publikum bei der Teilnahme an einer Performanz geschieht. Damit hat der Begriff Performativität eine Möglichkeit eröffnet, auch den Prozess der Kunstrezeption als solchen zum Thema von Theorie und Praxis des Sprechaktes zu machen. Für uns ist aber von Belang, wie das Thema in der Literaturforschung bearbeitet wurde. Als Vorläufer hat dies Roland Barthes in seiner Schrift Der Tod des Autors von 1968 erhellt. Dabei schlägt er, um die Autorität des Autors bei der Beurteilung eines literarischen Kunstwerks zu demontieren, eine alternative Zeitauffassung vor: Er [der Autor, Anm. d. Verf.] geht seinem Werk zeitlich voraus wie ein Vater seinem Kind. Hingegen wird der moderne Schreiber [scripteur] im selben Moment wie sein Text geboren. Er hat überhaupt keine Existenz, die seinem Schreiben voranginge oder es überstiege; er ist in keiner Hinsicht das Subjekt, dessen Prädikat sein Buch wäre. Es gibt nur die Zeit der Äußerung, und jeder Text ist immer hier und jetzt geschrieben. Und zwar deshalb, weil (oder: daraus folgt, dass) Schreiben nicht mehr länger eine Tätigkeit des Registrierens, des Konstatierens, des Repräsentierens, des ›Malens‹ (wie die Klassiker sagten) bezeichnen kann, sondern vielmehr das, was die Linguisten im Anschluss an die Oxford-Philosophie ein Performativ nennen, eine seltene Verbalform, die auf die erste Person und das Präsens beschränkt ist und in der die Äußerung keinen anderen Inhalt (keinen anderen Äußerungsgehalt) hat als eben den Akt, durch den sie sich hervorbringt […].93 [Hervorhebung durch d. Verf.]
In Barthes’ Perspektive erscheint das Schreiben mit wiederholbaren Zeichen durchgeführt, als ein einmaliger Akt, auf den der Autor kein Urheberrecht mehr hat. Heute wissen wir, dass ein Text nicht aus einer Reihe von Wörtern besteht, die einen einzigen, irgendwie theologischen Sinn enthüllt (welcher die ›Botschaft‹ des Autor-Gottes wäre), sondern aus einem vieldimensionalen Raum, in dem sich verschiedene Schreibweisen [écritures], von denen keine einzige originell ist, vereinigen und bekämpfen. Der Text ist ein Gewebe von Zitaten aus unzähligen Stätten der Kultur.94
91
Bal, in: Huber, S. 207. Freud erläutert in seiner Abhandlung ›Notiz über den ›Wunderblock‹‹ von 1925 den Mechanismus des Gedächtnisses, indem er zwischen einem »System W-Bw«, das einmalige Wahrnehmungen aufnehme, und »Erinnerungssystemen«, die wiederholbare »Dauerspuren der aufgenommenen Erregungen« bewahren würden, unterscheidet und das Verhältnis zwischen beiden mit dem zwischen den Bestandteilen des ›Wunderblocks‹ vergleicht; s. Freud (1975), in: Mitscherlich u. a., S. 366. 93 Barthes, in: Jannidis u. a., S. 189. 94 Barthes, in: Jannidis u. a., S. 190. 92
I. Die Entdeckung des Sprachsatirikers Nestroy
137
Trotz dieser ›Vieldimensionalität‹ des Textes gibt es also nach Barthes einen »Raum«, »[…] in dem sich alle Zitate, aus denen sich eine Schrift zusammensetzt, einschreiben, ohne dass ein einziges verloren ginge.«95 Dies ist eben der Leser, nicht der Autor: Die Einheit eines Textes liegt nicht in seinem Ursprung, sondern in seinem Zielpunkt – wobei dieser Zielpunkt nicht mehr länger als eine Person verstanden werden kann. […] Die Geburt des Lesers ist zu bezahlen mit dem Tod des Autors.96
Die Parallelität von Barthes’ Thematik zu der von Kraus ist nun offensichtlich: Kraus’ Kritik an Autoren wie Heine, der seine Herrschaft über die eigene Schrift behauptet hat; seine Begeisterung für die Dominanz der als Frau personifizierten Sprache beim schriftstellerischen Schaffen, die wir als Begleiterscheinung seiner ›antipatriarchalischen‹, aber von der Dekadenz des Fin de siècle weit ent fernten Sprachauffassung betrachten können; seine intertextuelle Zitationsweise bei der Entstehung des »Gedankens« sowie seine außerordentliche Hingabe an die Schreibarbeit; sein beim Heine-Essay erklärtes Zutrauen zur »Kraft« der Sprache und seine darauf beruhende Forderung an den Leser nach aktiver Beteiligung an »Spracherlebnissen«, die zur Ehrfurcht vor der Sprache führen soll. Diese Vergleichbarkeit können wir der performativen Eigenschaft der Krausschen Satire zuschreiben, was im Folgenden zu präzisieren ist. Dabei müssen wir jedoch beachten, dass es sich bei der Satire um einen Grenzfall zwischen Faktizität und Fiktionalität handelt, während Barthes nur fiktionale Texte als Beispiel anführt. Demnach ist noch das Problem zu überprüfen, von welchem Blickpunkt aus Theorien zur Fiktionalität, auf welche die Begriffe der Sprechakttheorie heuristisch eingewirkt haben, auch für unsere Kraus-Forschung aufschlussreich sein können. In Betracht kommen vor allem die Theorie der Dekonstruktion, bei der die Unterscheidbarkeit von Fiktion und Nicht-Fiktion verschärft in Frage gestellt wird, und die Rezeptionstheorie, bei der die sprachliche Repräsentation als Performanz erachtet und dadurch die seit alters erörterte Frage nach der Mimesis, einem Kraus’ mimischer Zitation aus Heines Werken sowie dadurch vertretenem schauspielerischem Gestus der Sprache nahe stehenden Thema, in die Reflexion einbezogen wird. Diese Verhältnisse führen uns darüber hinaus auf jenes Thema der Parallelität des Krausschen Denkens zur Hermeneutik zurück, das wir schon einige Male berührt haben. Denn die Beziehung der schriftlichen Dokumente zum Gedächtnis, mit der er sich im publizistischen Bereich beschäftigt hat, kann als Zentralmotiv der klassischen Hermeneutik gelten, deren Praxis »in der Überwindung der historischen Distanz«97 besteht. Die Umdeutung bekannter Schriften und deren Auswirkung auf zeitgenössische Leser sind die Themen, die wir als für Kraus’ Satire 95
Barthes, in: Jannidis u. a., S. 192. Barthes, in: Jannidis u. a., S. 192 f. 97 Szondi, in: Bollack / Stierlin, S. 15. 96
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C. »Geschriebene Schauspielkunst« – Satire, Performativ
und das hermeneutische Verfahren gemeinsam betrachten können. Dieser Punkt ist umso bemerkenswerter, weil das Performative, zu dem auch die »semantisch desinteressierte Performance (Geschehnis-Machen-Kunst)«98 wie beim Futurismus bzw. bei der Bauhausbewegung gehört, oft als antihermeneutisch charakterisiert wird.99 Dem ist nun entgegenzuhalten, dass der Schriftsinn, dem das Hauptinteresse der Hermeneutik gilt, erst auf seiner medialen Basis der Schrift Thema werden kann und ihre Medialität, nämlich die Schriftlichkeit, als Thema des Performativen behandelt werden kann und muss. Diesen Sachverhalt erläutert Sybille Krämer: Die kultur- und kunsttheoretische Reflexion des Performativen […] stellt das repräsentationale Zeichenverständnis infrage; aber zum Bezugspunkt dieser Infragestellung wird nicht die Sozialität des Zeichengebrauchs, sondern seine Korporalität. Argumentativer Kern ist, dass jede Repräsentation zuerst einmal Präsentation ist, also die Physis und Physiognomie eines Signifikanten voraussetzt: Die Abwesenheit des Referenten ist als Anwesenheit des Zeichens organisiert, die Immaterialität eines Sinns wird gegenwärtig nur in der Materialität eines Sinnlichen. Nicht mehr die Theorie der Kommunikation, vielmehr die Theorie der Wahrnehmung als eine Theorie des Erscheinens gibt nun den Rahmen konzeptueller Erfassung des Performativen ab; nicht mehr auf dem Sagen, sondern auf dem Zeigen liegt jetzt das Gewicht.100
Auf dieser Ebene der Betrachtung wird die allzu schematisch gesehene Dichotomie zwischen Schriftlichkeit und Mündlichkeit als deren Pendant und, damit zusammenhängend, auch zwischen Wiederholbarkeit und Einmaligkeit sowie zwischen sozialer Konvention und privater Intention prinzipiell suspendiert. Dadurch begegnet die Performativität nicht nur dem hermeneutischen, sondern dem phänomenologischen Themengebiet, weil »die Materialität des Zeichens ›erscheinen‹ muß« und in diesem Punkt »in den Bereich des Phänomenalen« gehört, wie Dieter Mersch unter Berufung auf Martin Heidegger bemerkt.101 Hier stößt das wissenschaftliche Sprachdenken auf das ihm immanente Paradox der Selbstreferentialität, über die Sprache mit der Sprache zu reden, und verwandelt sich in die ästhetisch-ethische Tätigkeit. Im Vergleich damit betont aber Mersch eine für die Fremdheit offene Dynamik, die das Herangehen an die Sprachproblematik mit Hilfe des Begriffs der Performativität in Anspruch nimmt: Performativität bedeutet […]: In-die-Ankunft-bringen. Es wartet nicht darauf, markiert oder bezeichnet zu werden; es kommt, wenn es geschieht, und alles hängt davon ab, es zu respektieren, auf es zu ›hören‹, ihm zu antworten.102 98
Fiebach, in: Barsch u. a., S. 744. s. dazu Fischer-Lichte, S. 17. Hier wird die Performance (Lips of Thomas von der jugoslawischen Künstlerin Maria Abramović) erörtert, die sich »hartnäckig dem Anspruch einer hermeneutischen Ästhetik« widersetze, die »[…] darauf ziel[e], das Kunstwerk zu verstehen.« Denn es gehe dabei »weniger um das Verstehen der Handlungen, welche die Künstlerin vollzog, als um die Erfahrungen, die sie dabei machte und die sie bei den Zuschauern hervorrief, kurz: um die Transformation der an der Performance Beteiligten.« 100 Krämer, in: Krämer, S. 19 f. 101 Mersch, in: Fischer-Lichte u. a., S. 43. 102 Mersch, in: Fohrmann, S. 515. 99
I. Die Entdeckung des Sprachsatirikers Nestroy
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In dieser Perspektive, in der die empiristisch-sensualistische und die geisteswissenschaftliche Tradition zusammentreffen, bietet sich uns ein entscheidender Anhaltspunkt für die Frage, in welchem Sinne Kraus nicht als »Kopf-«, sondern als »Paperarbeiter« die materielle Ebene des Wortes für ein ästhetisches Grundthema gehalten und dieses seiner ethischen Sprachauffassung zugrunde gelegt hat, bei der Schreiben und Spielen zur Deckung kommen. Vor allem aus diesem Grund werden wir auch auf die einflussreichen Stellungnahmen zu Kraus von Benjamin und Adorno zu sprechen kommen. Zum Schluss dieser ›Zwischenbilanz‹ und zur weiteren Diskussion müssen wir auf den möglichen Grund hinweisen, warum die Forschung des Performativen eben in Deutschland eine so sprunghafte Weiterentwicklung gefunden hat. Als ihre Vorstufe ist nämlich die deutsche Theaterwissenschaft zu erachten, die Erika Fischer-Lichte zufolge »als Wissenschaft vom Performativen«, mit dem Zuwachs eines neuen Typs vom Theater einhergehend, in den 1920er Jahren gegründet wurde. Bei diesem Theater sei die folgende Tendenz bemerkbar gewesen: Während Theater bis dahin Bedeutung zukam, weil es den Kanon von Texten übermittelte, in dem die betreffende europäische Kultur ihre kulturelle Identität verkörpert und beglaubigt fand, wurde seine Funktion und Bedeutung für die Kultur nun in der Schaffung einer Gemeinschaft von Akteuren und Zuschauern und in der aus ihr resultierenden verwandelnden Wirkung der Aufführung auf die Zuschauer gesehen. Nicht der aufgeführte Text stand mehr im Mittelpunkt des Interessen, sondern das Ereignis der Aufführung.103
Weil sich allerdings die derartige »asemantische« Kultur mit den faschistischen Feiern und Festen wie Reichsparteitagen und Thingspielen verband und daher zu tief durch die Nazis kontaminiert zu sein schien, wurde sie nach dem Zweiten Weltkrieg, so schreibt Fischer-Lichte, wieder rückgängig gemacht.104 Im Gegensatz dazu wird im neuen »Performativierungsschub« seit den 1960er Jahren betont, dass »das Semiotische und das Performative« nicht ein Oppositionspaar, sondern ein Wechselverhältnis bilden.105 Was hier Fischer-Lichte vom Gesichtspunkt ihrer Theatersemiotik her beschreibt,106 können wir mit der Aufgabe der Performativitätsforschung, die nun teilweise den unter dem starken Einfluss der Ethnologie bzw. Anthropologie entwickelten amerikanischen ›Performance-Studies‹ entspricht, in Beziehung setzen und uns, davon ausgehend, besonders der Frage zuwenden, welches Verhältnis in performativer Hinsicht zwischen der Fackel und den Krausschen Lesungen bestand. Außerdem ist seine Satire daraufhin zu untersuchen, welche alternativen Möglichkeiten die performative Kultur in der modernen Zeit im deutschen Sprachraum hatte.
103 Fischer-Lichte, in: Fischer-Lichte, S. 17. Über die Begründer der Theaterwissenschaft s. C. II. 104 Fischer-Lichte, in: Fischer-Lichte, S. 16, 18. 105 Fischer-Lichte, in: Fischer-Lichte, S. 20. 106 In welchem Verhältnis diese Theatersemiotik zur Theaterwissenschaft steht, expliziert hier Fischer-Lichte nicht deutlich genug.
140
C. »Geschriebene Schauspielkunst« – Satire, Performativ
Doch zurück zu unserer Frage nach den Themen des Nestroy-Essays und damit zusammenhängender Schriften, die in unserer Sicht in einer engeren Beziehung zum Performativen stehen.
II. Zur Herkunft der Satire aus der Theaterpraxis 1. Theatrale Textdarstellung als literarischer Entwurf a) Kraus’ Ansicht von der Verbundenheit von literarischen und schauspielerischen Elementen bei Nestroy Wie wir gesehen haben, ist es vor allem das für Nestroys Possen charakteristische Zusammenspiel von Pathos und Witz, das Kraus dazu motivierte, die Aktualität dieses Dichter-Schauspielers für seine Zeit überhaupt erst zu entdecken und in dessen Nachfolge das Konzept seiner eigenen »sprachsatirischen« Meta theatralik107 zu entwickeln. Dabei handelt es sich um die Opposition eines nicht nur in seiner Zeitschrift schreibenden, sondern auch bei seiner Lesung körperlich agierenden Satirikers gegen eine massenmediale Presse, die technisch vermittelte Informationen über Ereignisse liefert und es sogar wagt, diese manipulativ gewissermaßen zu ›inszenieren‹. Nehmen wir nun an, dass beim letzteren Fall die Wiederholbarkeit des Wortes als eines Zeichens, dessen Funktion mit der einer illusionistischen Theateraufführung zu vergleichen ist, vorherrscht, so können wir dem ersteren Fall die Einmaligkeit der Präsenz eines sowohl schriftstellerischen als auch schauspielerischen Darstellers als ein Leitprinzip zuschreiben, das als performativ bezeichnet werden kann. In diesem Zusammenhang müssen wir beachten, dass Kraus das Spannungsverhältnis zwischen dem geschriebenen Wort und der schauspielerischen Präsenz auch bei Nestroy bemerkt hat. Im Nestroy-Essay erörtert er z. B. »die niedrige Theaterwirkung«, die bei Nestroy paradoxerweise »[…] irgendwie der tieferen Bedeutung zugute [gekommen sei], indem sie das Publikum von ihr [separiert habe]« (Bd. 4, 223). Solch einer »Theaterwirkung« setzt er die literarische Eigenschaft des Nestroyschen Witzes entgegen: Sein Eigentlichstes war der Witz, der der Bühnenwirkung widerstrebt, dieser planen Einmaligkeit, der es genügen muß, das Stoffliche des Witzes an den Mann zu bringen, und die im rhythmischen Wurf das Ziel vor dem Gedanken trifft. (Bd. 4, 224)
Auffällig ist, dass hier die »Bühnenwirkung« tatsächlich als »Einmaligkeit« bezeichnet und sie als eine »plane«, auf die bloß »stoffliche« Ebene des Witzes be 107
s. dazu C. I. 2.
II. Zur Herkunft der Satire aus der Theaterpraxis
141
zogene Angelegenheit zwar etwas abgewertet, ihrem »rhythmischen Wurf« aber eine zielsichere Leistung beigemessen wird, jener sozusagen körperlichen Ebene, die nach Kraus eben Nestroys Doppelbegabung entsprach: Auf der Bühne, wo die Höflichkeit gegen das Publikum im Negligé der Sprache ein hergeht, war Nestroys Witz nur zu einer Sprechwirkung auszumünzen, die, weitab von den Mitteln einer schauspielerischen Gestaltung, wieder nur ihm selbst gelingen konnte. (Bd. 4, 224)
Hier schreibt Kraus dem Nestroyschen Witz einen Überschuss zu, der von dessen semantischem Gehalt unabhängig sei. Außerdem spricht er, bezeichnenderweise wiederum in einer Metapher, vom Nestroyschen »völlig sprachverbuhlte[n] Humor, bei dem Sinn und Wort sich f[i]ngen, umf[i]ngen und bis zur Untrennbarkeit, ja bis zur Unkenntlichkeit umschlungen h[ie]lten«. Und er findet diesen sogar nur mit dem Humor Shakespeares vergleichbar, und zwar deshalb, weil es »über aller szenischen Verständigung« stehe (Bd. 4, 225). Trotzdem habe der »in die Dialoge getragene Sprach- und Sprechwitz Nestroys« »die Gestaltungskraft« nicht gehemmt, »[…] von der genug übrig [sei], um ein ganzes Personverzeichnis auszustatten und neben der Wendung ins Geistige den Schauplatz mit gegenständlicher Laune, Plastik, Spannung und Bewegung zu füllen« (Bd. 4, 225). Eigentlich sei es aber nicht der »Schauspieler Nestroy, sondern der kostümierte Anwalt seiner satirischen Berechtigung, der Exekutor seiner Anschläge, der Wortführer seiner eigenen Beredsamkeit« gewesen, der »jene geheimnisvolle und gewiß nicht in ihrem künstlerischen Ursprung erfaßte Wirkung ausgeübt habe[ ]«, die »[…] uns als der Mittelpunkt einer heroischen Theaterzeit überliefert« sei (Bd. 4, 226). Nach all dieser ambivalenten Beurteilung des schauspielerischen Profils von Nestroy kommentiert Kraus: Mit Nestroys Leib mußte die Theaterform seines Geistes absterben, und die Schablone seiner Beweglichkeit, die wir noch da und dort in virtuoser Haltung auftauchen sehen, ist ein angemaßtes Kostüm. (Bd. 4, 226)
Hier ist von der Einmaligkeit die Rede, die nach dem Tod des Leibes nicht nachzuholen ist. Demnach setzt Kraus Nestroys Zugehörigkeit zur Bühne als unentbehrliche Bedingung seiner Satire voraus und räumt doch zugleich ein, dass seinem Text als wiederholbarem Element ein aktueller Eigenwert zukommt, den Kraus selbst als ein »Beispiel sprachsatirischer Nachkommenschaft« (Bd. 4, 227) zu übernehmen gewillt war. Diese Bemerkungen, in denen Kraus’ Theaterkonzept zum Vorschein kommt, sind im Zusammenhang mit der Performance-Kunst, deren Nährboden bereits in der »Theatermoderne« vorgegeben war, von Belang. Seit der Jahrhundertwende kam es Dieter Borchmeyer zufolge zu einer »Trennung des Theaters von der Literatur, zu deren Vollzugsorgan es die Poetik der Aufklärung einst ausdrücklich erklärt [habe]«, bzw. zur »Retheatralisierung in Opposition gegen jene Literarisierung, die im Zuge des Niedergangs des Stegreiftheaters und der Geburt des Nationaltheaters im kontinentaleuropäischen Schauspiel seit der Mitte des 18. Jahr-
142
C. »Geschriebene Schauspielkunst« – Satire, Performativ
hunderts [dominiert habe].«108 Vom Standpunkt der Literaturforschung aus fand Peter Szondi in dieser Tendenz die »Krise« des Dramas als »Dichtungsform des je gegenwärtigen (1) zwischenmenschlichen (2) Geschehens (3)« und ging den »epischen Lösungsversuche[n]« dieser Krise bei verschiedenen Dramatikern nach.109 Er stellte fest, dass in deren Stücken – anders als im herkömmlichen Drama, bei dem sich das Geschehen »[…] überhaupt erst in dem Moment vollzieht, in dem es rezipiert wird«110 – die Rolle des Erzählers und andere epische Mittel eingeführt wurden, um dem Rezipienten das Geschehen zu vermitteln. Das Problem liegt jedoch, nach der Ansicht Hans-Thies Lehmanns, nicht in erster Linie in der von Brecht aufs Neue eingeführten Dichotomie zwischen Drama und Epik. Vielmehr haben schon Theater und Drama selbst in ihrer Geschichte immer »in einem Verhältnis der spannungsgeladenen Widersprüche« gestanden, um schließlich zur Entstehung des »postdramatischen Theaters«, das mit der PerformanceKunst Hauptmerkmale teilt, in den 1970er Jahren zu führen.111 Vom Theaterwissenschaftler Siegfried Melchinger wurde die Frühphase dieses Vorgangs um 1910 nicht als »Krise«, sondern als »Theaterrevolution« positiv geschätzt, bei der das Axiom des Illusionismus, d. h. des Glaubens »an die Möglichkeit, auf der Bühne Wirklichkeit vorzutäuschen«, beseitigt worden sei.112 Dieser Sachverhalt bringt nun Kraus’ Betrachtung über Nestroy in der damaligen Situation, in der man die Inszenierung der Alltagsrealität durch die Presse gewahr wurde, näher. Welche Einstellung hatte Kraus aber zur dramatischen Literatur im Allgemeinen? Im Nestroy-Essay wird z. B. die Neigung zur »Umständlichkeit«, die die zeitgenössische Dramatik in der Tradition »der französischen Regel de Tri bis zum nordischen Integral«, aber auch den »Naturalismus« sowie die »psychologisch[e] Operette« bestimmt habe, im Vergleich mit dem Abkürzungsverfahren Nestroys negativ beurteilt (Bd. 4, 232 f.).113 Während dazu Raimund, Hauptmann und Wedekind als »über den Erwägungen der theatralischen Nützlichkeit« stehende »Dichter« geschätzt werden (Bd. 4, 233), werden Hofmannsthal als »Umdichter« (Bd. 4, 225) und Ludwig Anzengruber als vom Dialekt abhängiger Dramatiker (Bd. 4, 233) abgewertet. Direkt mit Nestroy verglichen wird dann kein Dramatiker, sondern der Darsteller wie Alexander Girardi, ein »schauspielerischer Schöpfer«, der »über den theatralischen Wert der Nestroyschen Kunst hinausragen« »dürfte«, da diese ja »[…] ihre eigene Geistesfülle nur zu bekleiden hatte« (Bd. 4, 226). Da 108
Borchmeyer, in: Borchmeyer / Žmegač, S. 370. Szondi, S. 74, 80. 110 Gutzen, u. a., S. 50. 111 Lehmann, S. 73, 241 ff. 112 Melchinger, S. 344. 113 Hier kann man mit Recht schließen, dass mit »der französischen Regel de Tri« auf die naturalistische Regie im Théâtre-Libre von André Antoine unter dem Einfluss von Emile Zola, mit dem »nordischen Integral« auf die Dramaturgie von Henrik Ibsen, mit dem »Naturalismus« auf den Sekundenstil von Arno Holz und Johannes Schlaf, und mit der »psycho logischen Operette« auf die Werke der zur ›silbernen Operetten-Ära‹ gehörenden Komponisten wie Franz Lehár und Emmerich Kálmán angespielt wird. 109
II. Zur Herkunft der Satire aus der Theaterpraxis
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bei wird Nestroy wegen seiner eigenartigen Doppelposition von Schauspieler und Dichter bewundert: In Girardi wächst die Gestalt an der Armut der textlichen Unterstützung, bei Nestroy schrumpft sie am Reichtum des Wortes zusammen. In Nestroy ist so viel Literatur, daß sich das Theater sträubt, und er muß für den Schauspieler einspringen. Er kann es, denn es ist geschriebene Schauspielkunst. (Bd. 4, 226) [Hervorhebung durch d. Verf.]
Mit dem schon im November 1911 für sich selbst gebrauchten Hauptbegriff der »geschriebene[n] Schauspielkunst« (F 336 / 37, 41 bzw. Bd. 8, 284) betont Kraus hier Nestroys »Stellvertretung für den Schauspieler« sowie seine »Verkörperung dessen, was sich den eigentlichen Ansprüchen des Theaters leicht entzieh[e]« (Bd. 4, 226 f.). An einer früheren Stelle wird gegen den Schauspieler Nestroy, der doch sein Publikum unterhielt, der »höhere Nestroy« hervorgehoben, der nach Kraus »[…] nur Kopf hat und nicht Gestalt, dem die Rolle nur eine Ausrede ist, um sich auszureden, und dem jedes Wort zu einer Fülle erwächst, die die Gestalten schlägt« (Bd. 4, 226). Aus solchen Äußerungen ist zu schließen, dass auch Kraus die Kompatibilität von »Literatur« und »Theater« prinzipiell skeptisch betrachtet und Nestroy trotzdem geschätzt hat, weil es bei ihm eine Kontinuität zwischen beiden Bereichen gegeben habe, die keiner außer ihm in Szene habe setzen können. Begreifen wir hier die »geschriebene Schauspielkunst« in diesem Sinne, handelt es sich dabei weder allgemein um das nur zur stillen Lektüre bestimmte Drama noch um die einfache Doppelaufgabe des auch als Schriftsteller tätigen Schauspielers bzw. auch als Schauspieler tätigen Schriftstellers. In diesem Fall muss es zwischen »Literatur« und »Theater« eine gleichsam austauschbare Wechselbeziehung geben, wie die folgende Passage andeutet: »Der Schauspieler hat eine Rolle für einen Dichter geschrieben, die der Dichter einem Schauspieler nicht anvertrauen würde« (Bd. 4, 227). Offensichtlich projiziert hier Kraus sich selbst auf Nestroy, da auch bei ihm der schriftstellerische Akt nicht bloß in der Veröffentlichung der Schriften zum Abschluss kam, sondern in seiner eigenen schauspielerischen Lesung eine Weiterführung fand.114 Obwohl wir Kraus als ›Solisten‹ nicht ohne weiteres mit Nestroy als einem Schauspieler mit seinem eigenen Ensemble vergleichen können, hat Kraus hier unter Berufung auf Nestroy sein eigenes satirisches Programm auf den Begriff gebracht und es dem allgemeinen Usus einer Aufführung dramatischer Texte entgegensetzt. Seine Distanzierung von dem traditionellen Vorrang des Dramas als eines literarischen Textes vor dessen Realisierung auf der Bühne hat er schon im Essay ›Girardi‹ von März 1908 formuliert, in dem er nach langer Unterbrechung wieder das Problem des Theaters eingehend erörterte. Im Zusammenhang mit Girardis Entschluss, von der Wiener auf die »Berliner Bühne« überzuwechseln (Bd. 2, 136), unterstreicht Kraus den Unterschied zwischen »Theatersache« (Bd. 2, 138) und der Angelegenheit der Literatur. Zur Widerlegung der »ernsthaf-
114
s. dazu D. I.–IV.
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C. »Geschriebene Schauspielkunst« – Satire, Performativ
ten Esel«, »[…] die die Bedeutung eines Schauspielers an der Literatur, die er förder[e], messen [würden]«, behauptet er: Girardi wiegt mehr als die Literatur, die er vernachlässigt. Er läßt sich von einem beliebigen Sudler ein notdürftiges Szenarium liefern, und in dieses legt er eine Geniefülle, deren Offenbarung erhebender ist als die Bühnenwirkung eines literarischen Kunstwerks, dessen Weihen doch nur der Leser empfängt. (Bd. 2, 138)
Während Kraus in seinen vorangegangenen Essays über das Drama bzw. das Theater vorwiegend Dramatiker wie Julius Bauer, Oscar Wilde oder Frank Wede kind besprach, richtet er hier sein Augenmerk auf das Problem eines Theaters, dessen Reiz Girardi verkörpere, wobei jedoch auffällt, dass sein Interesse für die Literatur bleibt, aber jetzt im Hinblick nicht auf die Dramatiker, sondern auf die Leser. So heißt es in einem Aphorismus vom April 1908: Die Schauspielkunst sollte sich wieder selbständig machen. Der Darsteller ist nicht der Diener des Dramatikers, sondern der Dramatiker ist der Diener des Darstellers. […] (Bd. 8, 100)
Hier scheint sich die damalige kulturelle Umwälzung widerzuspiegeln, in der die »Hierarchisierung der theatralen Mittel zu Gunsten des dramatischen Textes« von den modernen Avantgarden in Frage gestellt und dementsprechend schauspielerisches Handeln »[…] nicht mehr ausschließlich auf die Repräsentation fiktiver Figuren bezogen« wurde, indem nun statt der Rolle bzw. des Dramas die »Körperlichkeit und Präsenz von Darstellern« zum Gegenstand schauspieltheoretischer Texte avanciert ist.115 Auf diese Stelle folgt jedoch der Vorbehalt, dass für diese theatrale Aufgabe nicht ein Shakespeare, sondern zweitrangige Dramatiker wie Wildenbruch aufzunehmen seien, denen sprachliche Anspruchslosigkeit vorgeworfen wird: Die Bühne gehört dem Schauspieler, und der Dramatiker liefere bloß die Gelegenheit. Tut er mehr, so nimmt er dem Schauspieler, was des Schauspielers ist. Die Dichtung, der das Buch gehört, hat seit Jahrhunderten mit vollem Bewußtsein an der Szene schmarotzt. Sie hat sich vor der Phantasiearmut des Lesers geflüchtet und spekuliert auf die des Zuschauers. Sie sollte sich endlich der populären Wirkungen schämen, zu denen sie sich herabläßt. Kein Theaterpublikum hat noch einen Shakespeare-Gedanken erfaßt, sondern es hat sich stets nur vom Rhythmus, der auch Unsinn tragen könnte, oder vom stofflichen Gefallen betäuben lassen. (Bd. 8, 100 f.)
Hier verdeutlicht Kraus seine These von der tatsächlichen Grundverschiedenheit des Dramas vom Theater, indem er, ähnlich wie der englische Regisseur Edward Gordon Craig,116 auf die Schwierigkeit hinweist, Shakespearesche Dramen
115
Roselt, in: Fischer-Lichte / Kolesch / Warstat, S. 208. Edward Gordon Craig hat es im ersten Dialog von Die Kunst des Theaters abgelehnt, Shakespeares große Stücke auf der Bühne aufzuführen, und es sogar gefährlich gefunden, weil der gespielte Hamlet etwas vom unendlichen Reichtum des imaginierten Hamlet töte; s. dazu Lehmann, S. 78. 116
II. Zur Herkunft der Satire aus der Theaterpraxis
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aufzuführen. Von diesem Standpunkt aus kommt es im Essay ›Girardi und Kainz‹ von Mai 1908 zu folgender inszenatorischer Anweisung117: Soll die Literatur auf die Bühne gehören, dann dient ihr im besten Fall der Regisseur, der ein mittelmäßiges Ensemble in der Hand hält, aber nie die darstellerische Individualität. Neunzehntel Shakespeare wird an dem größten Schauspieler zuschanden. (Bd. 3, 67)
Es ist also ersichtlich, dass sich Kraus für die Retheatralisierung des Theaters eingesetzt hat. Dabei wäre jedoch seine Einstellung weit davon entfernt gewesen, das »Regietheater«, nach Borchmeyer »das wichtigste Resultat der Theater moderne«,118 vorbehaltlos zu bejahen.119 Die Eigenart seines Theaterkonzepts besteht vielmehr darin, dass er sich letzten Endes darum bemühte, die Literatur gegen die primitiven Vorboten des postdramatischen Stroms dadurch zu verteidigen, dass er in ihrer Rezeption selbst eine dem Theater vergleichbare Struktur aufwies. Dieses Thema behandelt er in einem Aphorismus vom November 1908: Das dramatische Kunstwerk hat auf der Bühne nichts zu suchen. Die theatralische Wirkung eines Dramas soll bis zum Wunsch reichen, es aufgeführt zu sehen: ein Mehr zerstört die künstlerische Wirkung. Die beste Vorstellung ist jene, die sich der Leser von der Welt des Dramas macht. (Bd. 8, 102)
In dieser Bemerkung lässt sich die Spur der Kritik ablesen, die Kraus schon früh an der illusionistischen Tendenz der zeitgenössischen Bühne, etwa bei den »Berliner Natürlichkeitsspielern« (F 138, 14) um Otto Brahm, den Begründer der Berliner ›Freien Bühne‹ sowie einen Mitarbeiter von Maximilian Harden, geübt hat. In diesem Aphorismus wird aber sein Konzept in dem Sinne radikalisiert, dass es nicht etwa um die Reform von Regie, Bühne oder Aufführungsstil, sondern um den Verzicht auf sie geht, damit das Drama unmittelbar mit dem Leser sowie dessen Phantasie in Verbindung gebracht werden könne. Unter Berufung vornehmlich auf Nestroy und Girardi gelangte er in dieser Zeit zu einem Standpunkt, von dem aus er die Lektüre des Dramas schon als Aufführung erachtete und dessen Leser als ›Zuschauer‹. So betrachtet, können wir von dem Satz: »Wenn ich vortrage, so ist es nicht gespielte Literatur« Kraus’ Ablehnung der damals nachlassenden Meinung herauslesen, das Drama sei das Original und damit seiner jeweiligen szenischen Aufführung übergeordnet. Der daran anschließende Satz: »Was ich schreibe, ist geschriebene Schauspielkunst« (Bd. 8, 284) heißt in dieser Hinsicht, dass er schon sein Geschriebenes im Sinn des Theatralen verstanden wissen wollte. Unter diesem Gesichtspunkt hat er im geschriebenen Drama, das aus wiederholbaren Schriftzeichen besteht, schon ein einmaliges Moment herausgefun 117 Den einst gefeierten Schauspieler Josef Kainz hat Kraus abschätzig einen »unbeseelte[n] Tonfallkletterer« (F 239, 29) genannt; s. dazu auch B. I. 3. a). 118 Borchmeyer, in: Borchmeyer / Žmegač, S. 372. 119 So betitelt er den damals repräsentativen Regisseur Max Reinhardt herausfordernd als einen »Bühnenlaie[n]« (B. 4, 226).
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C. »Geschriebene Schauspielkunst« – Satire, Performativ
den, das theatral genannt werden kann. Welche Perspektive eröffnet aber dieses Konzept für die Untersuchung seiner eigenen »geschriebenen Schauspielkunst«? b) Kraus’ Prosa: Monologe mit operettenhaften Zügen? Kraus’ Prosa macht häufig den Eindruck, als gebe da genauso wie in so manchem epischen Werk das schreibende ›Ich‹ des Autors Meinungen auf direkte Weise wieder. Wir haben jedoch auf die rhetorischen Elemente und allgemein auf das ›Theatralische‹ seines Stils bereits hingewiesen. Überdies wird in der Satire-Forschung festgestellt, dass die Satire monologisch dargeboten120 und ihre mögliche fiktive Ich-Figur vom Autor als historischem Subjekt unterschieden werden könne.121 Auf der biographischen Ebene fehlt es nicht an Zeugnissen aus Kraus’ Bekanntenkreis, nach denen sich seine Sprechweise im Privatleben von seiner öffentlichen Schreibweise völlig unterschieden hat.122 Über sein Privatleben hat er sich in der Fackel bekanntlich stets ausgeschwiegen. Schon in diesen Punkten kommt der unmittelbare Vergleich seiner Prosa mit der »Familie der nicht-fiktiven erzählenden Formen, dem Brief, dem Tagebuch, den Memoiren oder der Biographie, der Chronik oder der Historie«, aus denen sich die Novelle entwickelte,123 nicht in Betracht. Gegen das »Episch[e]«, »die Romanliteratur« sowie »Erzähler« hat er oft Abneigung geäußert (Bd. 8, 253, 256 sowie Bd. 4, 211 u. a.). Deshalb müssen wir vielmehr »Kraus’ Selbstdramatisierung in der Rolle des Satirikers« thematisieren, wie Edward Timms zu Recht bemerkt.124 Kraus selbst vergleicht seinen Akt des Schreibens manchmal mit der Tätigkeit des Schauspielers. Er sehe z. B. seine Aufgabe darin, jedes Mal »so gut« zu schreiben, »als bestände man ein Debüt« (Bd. 8, 134). »Um schreiben zu können«, heißt es in einem anderen Aphorismus, »muß ich mich den äußeren Erlebnissen entziehen. Der Souffleur ist laut genug in meinem Zimmer.« (Bd. 8, 291) Auf das Experiment einer Kongruenz von Schreiben und Schauspielen verweist der Aphorismus: »Ich traue der Druckermaschine nicht, wenn ich ihr mein geschriebenes Wort überliefere. Wie kann ein Dramatiker sich auf den Mund eines Schauspielers verlassen!« (Bd. 8, 101). Solche Selbsterwähnungen von Kraus könnten uns einen Anhaltspunkt dafür geben, seine Prosa auf weite Strecken grundsätzlich als eine Art Monologdrama zu betrachten, in dem der Monolog, sonst eine konventionelle Bauform des Dramas,125 eine ganz eigenartige Verwendung findet. 120
Brummack, in: DVLG, S. 307. Schwind, S. 78 f., 83 f. 122 s. dazu Schick, S. 62 f. sowie Pfäfflin, S. 17 ff. 123 Wellek / Warren, S. 233. 124 Timms, S. 253. 125 s. dazu Pfister, S. 186. Der Monolog, der im Alltagsleben als pathologischer Sonderfall gilt, findet nach Pfister im Drama darin Berechtigung, dass er die dort fehlenden Funktionen, die in narrativen Texten meist durch das vermittelnde Kommunikationssystem des Erzählers wahrgenommen werden, gleichsam ersetzt. Mit Blick auf Kraus’ Prosa könnte man demnach paradoxer Weise sagen, ihr Monologisches sei wesentlich episch strukturiert. 121
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In der bisherigen Forschung haben vor allem Jens Malte Fischer und Kari Grimstad in ihrer Monographie Kraus’ Beziehung zur Theatertradition behandelt, dies indem sie sich vorwiegend auf solche chronologisch aneinandergereihten Kraus-Texte beziehen, in denen das Thema des Theaters bzw. Schauspielers explizit vorkommt.126 Es muss jedoch beachtet werden, dass die Bühnenbezüglichkeit schon für seine Schreibweise selbst gilt. Dies betrifft nicht nur Details, sondern die Grundstruktur der meisten seiner Schriften, weil das gespannte und konfliktreiche Verhältnis zur Presse und zu ihren Begleiterscheinungen den Hintergrund seiner Schriften ausmacht. Das bestimmt ihren pathetisch-witzigen Stil, zu dessen Eindringlichkeit die monologische Diktion nicht wenig beiträgt. Der Bezug dieser stilistischen Eigenheit zum Dramatischen wurde bereits von der werkimmanenten Literaturforschung hervorgehoben. Nach Emil Staiger entspricht dem Pathos eine Art des »spannenden Stils« und dem Witz »das Dramatisch-Lächerliche«, der entspannend wirkende komische Stil.127 Während jedoch diese Eigenschaft des Witzes mit dem pointierten und prägnanten Stil, bei dem das Komische nach Wolfgang Kayser »die überraschende Lösung einer Gespanntheit«128 erreicht, annähernd zur Deckung kommt, hängt der pathetische Stil enger mit der Situation und der Thematik der Rede zusammen als andere Formen des movere.129 Im Fall von Kraus bedeutet dies, dass die stilistischen Merkmale vom Impetus seiner Pressek ritik nicht zu trennen sind. In diesem Zusammenhang ist Adornos Kommentar zu Kraus’ Buch Sittlichkeit und Kriminalität (1908) aufschlussreich, in dem es sich um die Probleme der damaligen Sexualjustiz und der darüber berichtenden Presse handelt. Adorno sucht den Ort der komischen Kraft (vis comica) bei Kraus im »Hiatus« auf und macht auf die Beziehung zu dessen Lesung aufmerksam: Die pure Form des Hiatus ist die Pointe: eine des Vortrags. Die Anmut des Sprechers Kraus, zärtlich zu seinen Monstren, steckte in solchen Augenblicken mit Lachen an. Es waren die der Geburt der Operette aus dem Geist der Prosa; so müßten Operetten sein, so Musik in ihnen triumphieren wie seine Witze dort, wo er auf den Witz verzichtet. Ins gesamt wirft das Buch Licht auf seine Beziehung zur Operette; Stücke wie das über Ankläger und Opfer im Falle Beer, oder das über den Prozeß gegen die Bordellwirtin Riehl sind fast schon Textbücher Wienerischer Offenbachiaden […].130
Diese Charakterisierung durch Adorno, in der er auf den Titel der Nietzscheschen Schrift Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik (1872) anspielt, bringt uns auf die Sachlage zurück, dass Kraus’ Entwurf der »geschriebenen Schauspielkunst« immer parallel mit seiner Lesungsaktivität zur Entfaltung gelangte, wie wir im nächsten Kapitel ausführen. Hier ist aber vor allem der Hinweis auf Kraus’ Vorliebe für die Operette von Belang, weil wir da einen Schlüssel 126
s. dazu Fischer sowie Grimstad. Staiger, S. 148, 228. 128 Kayser, S. 381. 129 Scheichl, in: Strelka, S. 168, 172. 130 Adorno (1990), in: Tiedemann, Bd. 11, S. 384. 127
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zum Wirklichkeitsbezug der Krausschen Satire und damit zugleich zu ihrem performativen Zug finden können. Das Thema der Operette behandelt Kraus tatsächlich in ›Grimassen über Kultur und Bühne‹ vom Januar 1909, in dem Essay über Jacques Offenbach, den er als satirischen Künstler neben Nestroy hoch geschätzt hat. Zunächst kritisiert er darin »die Repräsentanten des Weltwarenhauses unserer Kultur«, mit denen er den »Kommis« und »Redakteur« meint, die bloß etwas »»vertreten««, und beschreibt diese Situation der »Tragödien«: Ehedem hatte der Schuster ein persönliches Verhältnis zu seinem Leder; heute hat der Dichter keines zu seinen Erlebnissen. Es gibt keinen Erzeuger mehr, es gibt nur noch Vertreter. Darum können wir ohne einen Girardi leben. […] Girardi hat nichts vertreten; er war. Doch die Engrossisten, für die heute Theater gespielt wird, wollen für ihr Geld sehen, was einer nicht ist, nur was er kann. (Bd. 2, 142 f.)
In dieser kritischen Kontrastierung des »Seins« von Girardi mit dem von journalistischen »Vertreter[n]« können wir wiederum die Dichotomie von Einmaligkeit der Präsenz und Wiederholbarkeit der Repräsentation finden. Daran schließt nun eine Verspottung der »moderne[n] Salonoperette« à la Franz Lehár an, die von einem »kolossale[n] Defizit an Humor« und einem Zuviel an »Psychologisierung« belastet sei (Bd. 2, 143 f.); darauf folgt eine Erklärung des Verfalls dieses Genres: […] die Welt wird vernünftiger mit jedem Tag; wodurch naturgemäß ihr Blödsinn immer mehr zur Geltung kommt. Sie beschnuppert die Kunst auf ihren Wahrscheinlichkeitsgehalt und wünscht ihn von allen Symbolen entkleidet. Darum hat sie das Märchen und die Operette in die ästhetische Rumpelkammer geworfen. (Bd. 2, 146)131
Aufgrund dieser Einsicht in den paradoxen Sachverhalt, dass die Rationalisierung in ihr Gegenteil umschlage, beurteilt Kraus die Offenbachsche Operette als ein positives Gegenbeispiel: Das Schauspiel kann immer nur trotz oder entgegen dem Gedanken seine Bühnenhaftigkeit durchsetzen, und die Oper führt durch die Inkongruenz eines menschenmöglichen Ernstes mit der wunderlichen Gewohnheit des Singens sich selbst ad absurdum. In der Operette ist die Absurdität vorweg gegeben. Hier klafft kein Abgrund, in dem der Verstand versinkt; die Bühnenwirkung deckt sich mit dem geistigen Inhalt. (Bd. 2, 147)
Der »Gedanke«, der im Heine-Essay bzw. in den Sprachaphorismen als durch witzige Widersprüchlichkeit geprägter stilistischer Begriff gilt, erschließt hier seine theaterbezügliche Implikation: »Der Gedanke der Operette ist Rausch, aus dem Gedanken geboren werden; die Nüchternheit geht leer aus« (Bd. 2, 148). Hierbei wird die Operette Offenbachscher Prägung als die »einzige dramatische Form« betrachtet, »die den theatralischen Möglichkeiten vollkommen ange 131 »[D]ie Welt wird vernünftiger mit jedem Tag«: Umformung des Verses »Die Welt wird schöner mit jedem Tag […]« im Gedicht ›Frühlingsglaube‹ von Ludwig Uhland; s. dazu Büchmann, S. 152.
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messen« sei (Bd. 2, 147), und wird ihr unter diesem einen Aspekt der Vorrang vor Schauspiel und Oper eingeräumt, weil in der Oper »das Musikalische des Theatralischen« spotte und im Schauspiel »das Schauspielerische auf Kosten des Dichterischen« siege (Bd. 2, 147).132 Hier traut Kraus einer Pariser Theaterform, die mit der Wiener Posse Nestroyscher Art die Elemente von Burleske sowie Vaudeville teilt, den potentiellen Spielraum zu, wo der »Verstand« in keinem »Abgrund« versinken müsse und das »Theatralische« und das »Dichterische« in etwa vereint werden könnten. Sein Interesse an dem Vergleich zwischen den einzelnen literarischen Darstellungsformen bezeugt überdies auch sein Zweifel am literarischen Wert des Kabaretts (s. F 236, 1 ff.), aber auch seine Schätzung der Varietékunst z. B. der Budapester Orpheumgesellschaft (Bd. 4, 152 ff.). Schließlich geht er jedoch zum Theater überhaupt auf Distanz. Das Theater ist die Profanierung des unmittelbaren dichterischen Gedankens und des sich selbst bedeutenden musikalischen Ernstes; es ist der Hemmschuh jedes Wirkens, das eine Sammlung beansprucht, anstatt sie durch die sogenannte Zerstreuung erst herbeizuführen. Das Wortdrama wird an dem Ausbreitungsbedürfnis des letzten Komödianten zu schanden, und die Andachtsübungen einer Wagneroper sind ein theatralischer Nonsens. (Bd. 2, 147)
Hier bekennt sich Kraus zum »unmittelbaren dichterischen Gedanke[n]« beim »Wortdrama«, gleichzeitig aber auch zu dem »sich selbst bedeutenden musika lischen Ernst[ ]«. Die Funktion der Musik fand Kraus darin, »[…] den Krampf des Lebens zu lösen, dem Verstand Erholung zu schaffen und die gedankliche Tätigkeit entspannend wieder anzuregen« (Bd. 2, 146); und er gab seit der NestroyFeier bei seiner Lesung immer häufiger musikalische Einlagen.133 Dies zeigt, dass sein schriftstellerischer Entwurf auch ein musikalisches Potential barg und dadurch mit der damaligen synästhetischen Kunstbewegung in Berührung kam, wie sie z. B. Arnold Schönberg in Kompositionen wie Pierrot lunaire (1912) praktiziert hat.134 Von Interesse ist hierbei besonders seine nicht ganz negative Einstellung zu Wagner: im obigen Zitat erwähnt er die »Wagneroper« zwar abwertend, an der daran anschließenden Stelle spricht er jedoch, unter Anspielung auf Wagners Begriff »Gesamtkunstwerk«, von »einem Gesamtkunstwerk im harmonischesten Geiste«, zu dem »Aktion und Gesang in der Operette […] verschmelzen« könnten (Bd. 2, 147). Ziehen wir auch in Betracht, dass Nestroy, Kraus’ Vorbild, Wagners Tannhäuser (1845) parodiert135 und sich dadurch gegen den anlaufenden Hauptstrom der »Theatermoderne«, die zum beträchtlichen Teil »aus dem Geist der Mu 132 Mit dieser Passage ist jener Aphorismus vergleichbar, in dem Kraus unter Berufung auf Shakespeares Heinrich IV behauptet, »[…] wie aussichtslos das Dichterische auf dem Theater gegen das Schauspielerische kämpf[e], um schließlich von dessen Siegen zu leben« (Bd. 8, 102). 133 s. dazu D. I.–II., E. I.2. sowie E. II. 4. 134 Über die Beziehung zwischen Kraus, Schönberg und dessen Wiener Schule s. Rothe, S. 356 ff. 135 s. dazu Nestroy (2000), in: Branscombe, S. 5 ff.
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sik« geboren worden sei,136 gesträubt hat, so können wir Kraus’ Eigenposition in der damaligen Situation der Kultur noch präziser ermitteln. Kraus’ besondere Verbundenheit mit dem Theater können wir keineswegs bloß mit einer eventuell kompensatorischen Motivation erklären, wie es in der bisherigen Forschung häufig geschieht, und zwar unter Hinweis auf Kraus’ frühes Scheitern als Schauspieler.137 Denn er schätzt ja die Offenbachsche Operette eben deshalb, weil sie sich bestrebt habe, kein »Double« der alltäglichen Realität138 zu liefern; wegen einer Tendenz also, die an gewisse Züge der heutigen PerformanceKunst erinnert. Er sah in Operetten wie Die Schöne Helena (1864) oder Blaubart (1866) ein positives Gegenstück zu einer unter »dem Protektorat der Vernunft« entfalteten »Gehirnschande« in einer Gesellschaft, »[…] die das Lachen geistig anstreng[e] und die gefunden ha[be], daß sich mit dem Ernst des Lebens bessere Geschäfte machen [ließen]« (Bd. 2, 149). Hier wird die klassische Rangordnung von Realität als dem Original und Theater als dem Double umgekehrt. Wenn Kraus seine Prosa in diesem Sinne als operettenhaft erachtet hat, so bedeutet dies, dass es hier nicht angebracht ist, darauf unmittelbar das Schema ›Fiktionalität / Faktizität‹ anzuwenden. In dieser Perspektive können wir den performativen Charakter seiner Diktion erkennen, weil dessen Begriff dazu beiträgt, die fiktional / faktisch-Opposition in der sprachlichen Ebene zu dekonstruieren. Wie diese These ausgeführt werden kann, untersuchen wir nun an einigen Kraus-Texten anderen Typs als den bisher erörterten. 2. Der »iterabilisierende« Aspekt der Performativität bei der Krausschen Satire a) »Grubenhund«. Fiktionale Elemente der »geschriebenen Schauspielkunst« Nach seiner »ästhetischen Wendung« von 1905 hat Kraus eine eigene satirische Methode entwickelt, bei der er von phrasenhaften Äußerungen v. a. der Presse ausging, indem er sie entweder so montiert, dass ein komischer Effekt entsteht, oder 136 Borchmeyer, in: Borchmeyer / Žmegač, S. 373. Bei diesem Vergleich zwischen Wagner und Kraus ist vor allem die Tatsache bemerkenswert, dass auch Wagner die dichterische Arbeit mit erotischen Metaphern geschildert hat, dabei aber – anders als Kraus – nicht die Sprache, sondern die Musik als »Weib« bezeichnete; s. dazu Wagner, in: Borchmeyer, S. 230 f. Ein typisches Beispiel vom Primat der Musik in der »Theatermoderne« ist im Untertitel des Rosenkavalier (1911) zu finden: »Komödie für Musik«. Wie bei Kraus’ Auseinandersetzung mit Hofmannsthal, R. Strauss und Reinhardt das Primat der Sprache bzw. des Wortes zum Streitpunkt wurde, wird in E. I. 2. sowie E. III. 1. thematisiert. 137 s. z. B. Timms, S. 254. Bekanntlich hat Kraus 1893 in einer Aufführung von Schillers Die Räuber in einem Vorstadttheater die Hauptrolle gespielt und einen peinlichen Misserfolg erlitten. 138 Lehmann, S. 54.
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sie, sie wörtlich zitierend, dadurch verfremdet, dass er sie isoliert und in andere Kontexte stellt. Dieses Konzept der Satire beruht jedoch nicht allein auf einer solchen Umfunktionierung vorgegebenen publizistischen Materials. Schon damals verfügt die Kraussche Satire auch über solche im engeren Wortsinn literarischen Mittel und Formen, die für fiktionale Gestaltung bezeichnend sind. Ein dafür typisches Beispiel ist einer von Kraus’ fortschrittskritischen Essays, den er Anfang 1908, mitten in seiner Polemik gegen Maximilian Harden, veröffentlichte: ›Das Erdbeben‹. Thematisiert wurde darin zunächst die trotz des oberflächlichen Gedeihens der Zivilisation unveränderliche Ohnmächtigkeit der Menschheit gegenüber einem »Elementarereignis« (Bd. 2, 128) wie jenes Erdbeben, das es damals in Wien tatsächlich gab. Dieser Essay hebt sich aber von den anderen Essays mit gleichartigen Themen durch seinen eigentümlichen Duktus ab. Kraus verwendet hier nicht nur, wie bei ihm üblich, die Ich-Form, sondern auch einige erfundene Gespräche, etwa zwischen einem »Telephonfräulein« und einem »Einsender« (Bd. 2, 130); auch druckt er einen »Leserbrief« ab, den er selber als angeblicher »Einsender« unter dem Pseudonym »Zivilingenieur J. Berdach« an die Redaktion der Neuen Freien Presse schickte. Der Witz dieser Episode liegt nun in dem Geständnis, dass die dort in scheinbar so plausibler Analyse gebotene Erklärung des Erdbebens in Wahrheit bloß ein unsinniger Mischmasch verschiedener geologischer Termini gewesen sei und dennoch habe gedruckt werden können, weil man den »Einsender« für einen hoch angesehenen Geologen gehalten habe. Er hat das in seinem Essay ›Das Erdbeben‹ (1908) so kommentiert: »Sie [Neue Freie Presse, Anm. d. Verf.] schweigt mich seit zehn Jahren tot; sie ignoriert mich als Satiriker – und läßt mich als Geologen gelten…« (Bd. 2, 134). So Kraus’ ironischer Kommentar. Er bezeichnet sogar diesen subversiven Akt zur Schädigung der Autorität der Presse als den »andere[n]« »Ruck« des Erdbebens (Bd. 2, 134 f.). Diese Taktik der ›Inszenierung‹ einer Zeitungsente durch Pseudoleserbriefe wurde dann anlässlich eines anderen Erdbebens 1911 von einem tatsächlichen Ingenieur namens Arthur Schütz mit großem Erfolg übernommen. Schütz schrieb von einem Hund, den er »Grubenhund« nannte. Dieser habe im Laboratorium »schon eine halbe Stunde vor Beginn des Bebens auffallende Zeichen größter Unruhe« im Schlaf von sich gegeben (Bd. 4, 132).139 In dem Essay ›Nach dem Erdbeben‹ vom November 1911 lobt Kraus die Leistung dieses ›Nachfolgers‹ direkt als »Satire«. Die Wissenschaft ist konsterniert. Sie fühlt, daß der Antigelehrte, der unter der Maske eines Dr. Ing. Erich Ritter von Winkler [Pseudonym von Arthur Schütz, Anm. d. Verf.] die Neue Freie Presse beriet, zwei Fliegen von einem Grubenhund hat schnappen lassen. Denn nicht allein der Journalismus, jene Offenbarungsmacht, die sich jeder Analphabet zulegen kann, wenn er zur Druckerschwärze greift, ist durch den Fall entblößt, sondern auch die Wissenschaft selbst. (Bd. 4, 134 f.) 139
Über Arthur Schütz sowie seinen »Grubenhund« s. Goldschmidt, S. 17 ff. Als »Grubenhund« wird ein Förderwagen im Bergbau bezeichnet. Kraus selber hat 1911 diese experimentale Technik der Presse-Überlistung nur noch einmal, beim Pseudoleserbrief vier erdachter Hausfrauen aus Anlass der Gemeinderatswahlen, eingesetzt.
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Das Spiel mit der Redensart von den »zwei Fliegen« verweist hier auf einen anderen Aspekt der Beziehung von Sprache und Macht bei Kraus: Während er beim Fall des Historikers Friedjung vor der Gutgläubigkeit gegenüber der publizistisch verklärten Autorität eines Fachmanns gewarnt hat, macht er hier eben von dieser, die sowohl für die Geschichts- als auch Naturwissenschaft gelten wird, selbst Gebrauch, um seine Pressekritik demonstrativ zu rechtfertigen. Dies erweist sich auch als ein Motiv im Nestroy-Essay, in dem er aus der Nestroyschen Posse Der böse Geist Lumpazivagabundus eine Stelle, an der Knieriem mit unsinnig geklitterten astronomischen Termini den Weltuntergang durch einen Kometen prophezeit, anführt und behauptet, es klinge »[…] so glaublich, als ob Nestroy das Problem des »Grubenhundes« an der journalistischen Quelle studiert« und dieser »[…] die Hinfälligkeit der Menschennatur so sicher vorgemerkt [habe], daß sich auch die Nachwelt von ihm beobachtet fühlen könnte« (Bd. 4, 235). Charakteristisch für die Technik der Satire ist, dass sie mit der Absicht einer Irreführung verwechselt werden kann. Einmal abgesehen von der moralischen Problematik ist für uns die Frage von Belang, wie sich hier das Problem der literarischen Fiktionalität stellt. Zwar benutze der Satiriker auch gewisse Mittel der Täuschung, aber nicht in betrügerischer, sondern in erzieherischer Absicht. So vergleicht Kraus den Satiriker mit jenem ›Betrüger‹, der im Jahr 1906 in Berlin illegal in militärischer Uniform eine Truppe und sogar eine ganze Behörde glauben machte, dass man unter dem Befehl eines ›echten‹ Hauptmanns stehe: mit Wilhelm Voigt, dem berühmten ›Hauptmann von Köpenick‹.140 Wegen dessen ent larvender Überlistung staatlicher und militärischer Autoritäten schätzte Kraus ihn sehr. Er schlug sogar vor, diesem »Erzieher seiner Nation, dem Reformer der Justiz seines Landes, dem tragischen Satiriker, dem lustigen Märtyrer, dem Mann der Tat und dem Meister der Rede, dem lieben, guten, prächtigen Menschen und dem trefflichsten Schuster« solle eine finanzielle Unterstützung gegönnt werden (F 213, 2 f.). Darüber hinaus veranlasste ihn diese Begebenheit dazu, seine Meinung über die Beziehung zwischen dem Künstler und der Menschheit wie folgt zu formulieren: Die Stellung des Künstlers zur Menschheit ist noch immer nicht geklärt. Entweder ist ihre Würde in seine Hand gegeben oder es faßt ihn ihr ganzer Jammer an. Fühlt er aber die Identität dieser beiden Möglichkeiten, so macht er sich unmöglich. (F 251 / 52, 30)
An diese Formulierung eines Paradoxons des humanistischen Kunstideals, die an Verse Schillers und Goethes anspielt,141 schließt sich eine Reflexion über den Begriff der »Menschenwürde« an, über die Kraus selbst in seinem »Labora 140 Bekanntlich wurde diese Geschichte von Carl Zuckmayer dramatisiert: Der Hauptmann von Köpenick. Ein deutsches Märchen in drei Akten. Berlin 1930. 141 Eine Kontamination aus »Der Menschheit Würde ist in Eure Hand gegeben […]« (Schiller, ›Die Künstler‹, V. 443) und »Der Menschheit ganzer Jammer faßt mich an.« (Goethe, Faust I, Kerker-Szene. V. 4406) – s. Schiller (1902), in: Kurscheidt, S. 220, und Goethe (1994), in: Schöne, S. 192.
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torium« verschiedene »Untersuchungen« angestellt habe, um allerdings, wie er zynisch bemerkt, »schon wegen der Schwierigkeit der Beschaffung des Materials« (F 251 / 52, 30) nur zu einem kläglichen Ergebnis gekommen zu sein: Die Menschenwürde hat die Eigentümlichkeit, immer dort zu fehlen, wo man sie vermutet, und immer dort zu scheinen, wo sie nicht ist. Der Fähigkeit gewisser Tiere, die Gestalt lebloser Körper oder Pflanzen anzunehmen, welche man Mimikry nennt und die die Natur erfunden hat, damit sie ihre Verfolger zum Narren halten können, entspricht beim Menschen die sogenannte Würde. Er zieht ein Kleid an und stellt sich in Positur. Der Hauptmann von Köpenick aber war es, der dieser unterhaltlichen Schutzvorrichtung selbst wieder einen Possen gespielt und die menschliche Mimikry entlarvt hat […]. (F 251 / 52, 30)
Der Begriff »Menschenwürde« ist hier einerseits in einem pejorativen Sinne verstanden, als eine hohle, inhaltslose Phrase; andrerseits aber in einem meliora tiven Sinne als ein Appell zum antiautoritären Widerstand. Schreibt er »Würde« im ersten Sinn dem Feuilletonisten zu, der sich in einem Schillers Absicht zu widerlaufenden Sinne als »Künstler« vorkomme, so sieht er eine ihrer verbalen Spielarten in der Friedjungschen Pressekampagne. »Würde« im zweiten Sinn ist es, auf die sich der satirische Künstler beruft: Mit der »Menschheit ganze[m] Jammer« konfrontiert, setzt er die Verursacher all dieses Elends ins Unrecht. Diese Auslegung des Paradoxes der »Würde« erhellt auch die Wirkung der »Mimikry«, die Kraus dann mit einer Stelle in König Lear erklärt. Da nützen Lear als vorgeblich Wahnsinniger und sein Narr ihre Stellung bewusst dazu aus, Weisheiten und Wahrheiten auszusprechen, die man ihnen sonst übel nehmen würde (3. Akt, 6. Szene). Genauso verhielt sich der Hauptmann von Köpenick, so nimmt Kraus an, wodurch jedoch die Autorität der sozialen Organe in unerwarteter Weise als »Verkleidung eines Ernstes« (F 251 / 52, 30 f.), d. h. eine andere Mimikry, enthüllt wurde. Hier handelt es sich um eine Versetzung einer theatralen Scheinwelt in die Wirklichkeit, bei der die sozial festgesetzte alltägliche Wertordnung umgekehrt wird. Eben dieser Sachverhalt gilt auch für Kraus’ Satire: Dafür charakteristisch ist eine ständige Auseinandersetzung mit dem journalistischen Diskurs über Fakten, wobei deren Grenze gegen die Fiktion stets erschüttert wird. Bemerkenswert ist dabei, dass sich auch bei Kraus selbst die Tendenz zur Fiktion immer deutlicher verstärkt hat, wie ein anderer Essay von 1911, der auch zum Themenkreis des »Grubenhundes« gehört, aufweist. Dieser Essay fällt zunächst durch seinen merkwürdig langen Titel auf: ›Der Blitz hat sie getroffen, zerschmettert sind sie, nicht gedacht sollen sie werden. Eine Orgie‹. (Bd. 4, 53) Diese Sätze stammen aus dem fiktionalen Gespräch, aus dem der Essay größtenteils besteht. Die Form des Dramoletts hatte Kraus zwar schon seit 1910 in manchen Glossen ausprobiert (F 301 / 02, 47 ff. bzw. F 321 / 22, 1 ff. u. a.), aber erst hier wurde sie zu einem charakteristischen Element seiner Satire. Das zeigen mehrere darauf folgende Essays (F 357 / 59, 75 ff., F 366 / 67, 37 ff. sowie F 372 / 73, 49 ff. u. a.). In ›Der Blitz hat sie getroffen […]‹ geht es inhaltlich um die damaligen Gemeinderatswahlen in Wien, welche die liberale Partei gewonnen hat. Schon der grotesk übertriebene pathetische Ton einzelner Figuren und die extreme
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Redundanz ihrer Aussagen verraten, dass man hier gleichsam in einer »Orgie« der Selbstbewunderung schwelgt.142 Dazu Kraus: […] ich habe den zu Zeitungsdreck erstarrten Unflat aus Jargon und Phrase ausgeschöpft, gesammelt und in seiner ganzen phantastischen Wirklichkeit, in seiner ganzen unsäglichen Wörtlichkeit kommenden Tagen überliefert. Ich bin die Muschel, in der das Geräusch fortsingt. (Bd. 4, 69)
Die Reichweite dieses neu gefassten Konzepts der Krausschen Satire ermisst sich jedoch noch nicht an der Methode, »die Phrase selbst Rache« nehmen und sie so »lebendig« werden zu lassen (Bd. 4, 69). Im Mittelpunkt des Essays steht wiederum der Bericht über einen Pseudoleserbrief, den er mit Signaturen von vier erdachten Hausfrauen geschrieben und kurz vor der Wahl, zum Zweck eines fingierten Wahlappells, der Redaktion der Neuen Freien Presse zugeschickt hatte. Nachdem der Brief tatsächlich abgedruckt worden war, nach den Worten der Redaktion sogar als »schwungvolle und sympathische Zuschrift« (Bd. 4, 67), gestand er die Fälschung. Er habe »[…] die Parolen eines Wahlkampfes nur zitieren und durcheinandermischen« müssen, »um das klinische Bild einer säkularen Hirnhautentzündung zu erhalten« (Bd. 4, 70 f.) [Hervorhebung durch d. Verf.]. Beachtenswert ist bei dieser effektiven Blamierung der Presse wiederum, dass dadurch die Grenze zwischen Fiktionalität und Faktizität untergraben wurde, und zwar nicht direkt durch den Wortlaut des Pseudoleserbriefs, sondern durch die bare Tatsache, dass er überhaupt gedruckt werden konnte. Eben was hier außerhalb der semantischen Ebene der Sprache demonstriert wird, bezeichnen wir nun als das Performative an Kraus’ »geschriebener Schauspielkunst«, die gewissermaßen an die fiktionale sowie dialogische Schreibweise Nestroys angrenzt. b) Performative Iteration: Zur Strategie des Zitierens bei Kraus Das Zitieren von Worten können wir als ihre Wiederholung in einem anderen Kontext begreifen. Im Fall seiner Pseudoleserbriefe hat Kraus, seiner eigenen Angabe zufolge, das Zitieren sogar so praktiziert, dass er auch eigenen, angeblich authentischen Texten, aus denen er zitierte, die Signatur erdichteter Personen beigefügt hat. Darin können wir eine höchst interessante Parallele sehen zum Vorgehen Jacques Derridas bei dessen Überprüfung der Sprechakttheorie, wobei einer seiner Hauptbegriffe »Iteration« lautet.
142 Ein typisches Beispiel stellen geflügelte Worte wie »Per aspera ad astra!« (Bd. 4, 61, 63) dar, welche die Personen bis zum Übermaß verwenden. Das verrät mit komischer Wirkung ihren Bildungsdünkel. Dass sie Redewendungen wie »mit blutendem Herzen« und »zähneknirschend« in einem Satz nebeneinander stellen (Bd. 4, 57), ohne diesen Stilbruch zu bemerken, weist sie hingegen als gedankenlos und ungebildet aus.
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Derrida hat in der Gleichsetzung von Sinn und Sein die Basis der okzidentalen Metaphysik erkannt und sie auf das Erlebnis der sich selbst vernehmenden Stimme, die den Sinn anwesend mache, zurückgeführt.143 Bei diesem seiner Ansicht nach »logozentrischen« Denkmodell wird die Schrift für ein bloßes Mittel gehalten, das die mit dem Sinn vereinte Stimme zusätzlich nur repräsentiert. Indessen richtet Derrida sein Augenmerk auf den Selbstwiderspruch, dass bei jedem philosophischen Diskurs, sowohl sozialer als auch individueller Art, stets schon vorausgesetzt werden muss, etwas als »etwas« fixieren zu können, wenn darauf referiert wird. Weil dies erst als Effekt des sich differenzierenden Spiels der Schrift nachträglich ermöglicht wird, lässt sich feststellen, dass der Referenz die schriftliche Signifikation vorausgeht. So wird, könnten wir sagen, der Metaphysik der Grund entzogen. Überspitzt ist es in der berühmten, freilich hauptsächlich auf den phonetischen Aspekt bezogenen These de Saussures formuliert, es gebe »in der Sprache nur Verschiedenheiten […]«.144 Aufgrund dessen wird dann dahingehend Kritik an der Sprechakttheorie Austins geübt, dass dieser die Äußerung eines Schauspielers auf der Bühne aus seiner Analyse der performativen Äußerung ausschloss, weil dabei die Sprache »auf ganz bestimmte, dabei verständliche und durchschaubare Weise unernst gebraucht« und »der gewöhnliche Gebrauch parasitär ausgenutzt« werde.145 Derrida findet in diesem Argument wiederum ein logozentrisches Werturteil, das »[…] die bewußte Anwesenheit der Intention des sprechenden Subjekts in der Totalität des Sprechaktes«146 für die Kommunikation voraussetze. Austin nehme dabei nämlich eine Dichotomie von »wahrer«, den Sinn aktualisierender Intention und ihrer »unwahren« Imitation wie selbstverständlich an. Für Derrida ist aber diese Sicht einseitig, weil eine unvermeidliche Bedingung der Kommunikation übersehen werde; der Unterschied zwischen der »wahren« und der »unwahren« Äußerung gelte insofern nicht mehr, als beides aus einem Original zitiere und auch selbst zitiert werden könne.147 Auch die Signatur, die Austin zur Garantierung der wahren Intention in schriftlichen Äußerungen nötig findet,148 stehe unter dieser Bedingung.149 Die Ursache dafür bestimmt Derrida als die prinzipielle Wiederholbarkeit jeder Äußerung, für die sein Begriff der »Iterierbarkeit« steht.150 In dieser Weise bringt er als Gegenargument vor, dass auch in den »wahr« gemeinten Äußerungen das Moment der parasitären Andersheit gegeben sei. 143
Derrida (1996), S. 38. Zitiert nach: Derrida (1988), in: Engelmann, S. 36. Aufgrund des Begriffs der Differenz bei de Saussure bildete Derrida hier den »nicht begrifflichen Begriff« der »différance«, bei dem der Buchstabe »e« in »différence« durch ein »a« ersetzt wurde, was »Verspätung« konnotiert. 145 Austin, S. 44. 146 Derrida (1988), in: Engelmann, S. 306. 147 Derrida (1988), in: Engelmann, S. 308. 148 Austin, S. 81. 149 Derrida (1988), in: Engelmann, S. 313. 150 Derrida (1988), in: Engelmann, S. 298. 144
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C. »Geschriebene Schauspielkunst« – Satire, Performativ
Es ist freilich nicht zu übersehen, dass diese Kritik an Austin keine vollständige Negation von dessen Theorie bedeutet. Denn Derrida ist bei seiner Kritik an Austin methodisch darauf angewiesen, Austins eigene Idee auf diesen selbst anzuwenden151; ein Verfahren, das als »Dekonstruktion« bezeichnet wird. Für unser Interesse ist von Belang, dass, wie Eckhard Schuhmacher kommentiert, dadurch »Lesarten der Sprechakttheorie, die diese für literarische und theatrale Texte öffnet«,152 ermöglicht wurden. Ihre Eigenschaft können wir noch deutlicher auffassen, wenn wir die »Universalpragmatik«, die Habermas in seinem sozialwissenschaftlichen Werk Theorie des kommunikativen Handelns von 1981 entworfen hat, zum Vergleich heranziehen. Vom Standpunkt seiner kritischen Theorie aus verteidigt er hier die »kommunikative Rationalität« gegen die Eigenmächtigkeit der »kognitiv-instrumentellen Rationalität« des kritischen Rationalismus, mit der er sich im so genannten Positivismusstreit der Soziologie konfrontiert sah.153 Im Bereich der »kommunikativen Rationalität« handle es sich um den »Geltungsanspruch« und dessen Verständnis durch sprachliche Verständigung (Konsensus). Um diese Theorie zu begründen, beruft er sich auf die Betrachtungen Austins und dessen Nachfolger John R. Searle und schlägt vor, »die illokutionäre Rolle nicht als eine irrationale Kraft dem geltungsbegründenden propositionalen Bestandteil gegenüberzustellen, sondern als diejenige Komponente zu begreifen, die spezifiziert, welchen Geltungsanspruch ein Sprecher mit seiner Äußerung erheb[e], wie er ihn erheb[e] und für was er ihn erheb[e]«.154 Der erfolgsorientierte, von ihm her gesehen »parasitäre« Sprachgebrauch entspreche dabei dem perlokutionären Akt, und der verständigungsorientierte Sprachgebrauch, der der »Originalmodus« des Sprechakts sei, entspreche dem illokutionären Akt.155 Dieses Programm, das Habermas’ Interesse an der sozialen Kommunikation seit seinem Buch Strukturwandel der Öffentlichkeit entspricht, kann jedoch, wie er selbst einräumt, nur durch die Analyse von »idealisierten oder reinen Fällen von Sprechakten«156 zustande kommen. Daraus resultiert, dass »der sprachliche Aufbau einer fiktiven Realität«157 als irreführende Angelegenheit marginalisiert wird. Das Thema der Literatur behandelt er ausnahmsweise etwa nur dann, wenn ihr Autor ein Intellektueller wie Heine ist, wie wir im letzten Kapitel betrachtet haben.158 Diese Differenz zwischen Derrida und Habermas können wir auf den Unterschied ihrer Standpunkte zurückführen. Es sind dies zwei der drei Positionen zum Verständnis von Performativität, wie Sybille Krämer sie klassifiziert hat. Bei 151 s. dazu Austin, S. 43. Hier deutet Austin auf die Möglichkeit »eine[r] sehr allgemeine[n] Theorie« der performativen Äußerung hin, die auch die »besonderen Arten« umschließen könne, bei denen »Handlungen schiefgehen könn[t]en«. 152 Schuhmacher, in: Wirth, S. 387. 153 Habermas (1988), S. 28, 114 u. a. 154 Habermas (1988), S. 375 f. 155 Habermas (1988), S. 388. 156 Habermas (1988), S. 414. 157 Habermas (1988), S. 444. 158 s. dazu B. I. 2. sowie B. III. 3. b).
II. Zur Herkunft der Satire aus der Theaterpraxis
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Habermas geht es um die »Universalisierende Performativität«, bei der die Sprechakt- und Kommunikationstheorie »von den universalen und typisierbaren Regelwerken, denen eine Äußerung zu folgen hat«, handle. Mit anderen Worten, bedeute dabei Performativität, »zu spezifizieren, welchen Regeln ein sprachliches Handeln zu folgen hat, um im Rahmen intersubjektiver Beziehungen erfolgreich zu agieren«.159 Das erinnert an Dieter Merschs prägnante Bemerkung, dass die Sprechakttheorie Austin-Searlescher Prägung letzten Endes nur als »Spielart einer pragmatischen Bedeutungstheorie« gelten könne.160 Im Gegensatz dazu geht nun die »iterabilisierende Performativität«, die Derridas nachgebesserte Sprechakttheorie vertritt, nicht in der Untersuchung der zu beachtenden Regeln auf. Dabei liege der Schwerpunkt in der Erkenntnis, dass eine Marke wiederholbar (iterierbar) und damit aus jedem Kontext ablösbar und einem neuen Kontext einfügbar (aufpfropfbar) sein müsse, damit sie überhaupt als ein Zeichen identifiziert werde, wobei jedoch ein solcher Kontextwechsel eine Veränderung der Zeichenbedeutung bewirke.161 In der neueren Forschung wird behauptet, dieses kulturelle Muster der Iterabilität eröffne literarischen Texten die Möglichkeit, »Wiederholung als Mittel zu verwenden, sich auf eine Tradition zu beziehen und Anschlusskommunikation herzustellen«, was zur Folge habe, dass sich literarische Traditionen nicht nur als identische Wiederholungen, sondern zugleich als Abweichungen fortschrieben.162 Beide Auffassungen, zu denen noch eine später zu erklärende hinzutritt, stellen nach Krämer »auseinander hervorgehende Versionen« der Performativität dar.163 Wir können nun in Kraus’ Verfahren eine ersichtlich starke Neigung zur iterabilisierenden Performativität finden, wenn er aus Zitaten seine Pseudoleserbriefe klittert, Signaturen erfindet und dadurch eine bittere satirische Wirkung erzielt, die er selbst der Tradition der Wiener Volksposse in der Nestroyschen Art zu ordnet. Dabei ist zu beachten, dass die Wirkung der eingeschickten Leserbriefe, eine Schädigung der Autorität der Presse, keine direkte Beziehung zum Wortlaut der Briefe hat und in diesem Sinne als perlokutiv bezeichnet werden kann. In diesem Punkt ist Paul de Mans These von der »Kontinuität zwischen dem illoku tiven Bereich der Grammatik und dem perlokutiven Bereich der Rhetorik«164 aufschlussreich, weil daraus hervorgeht, dass sich der illokutionäre Sprechakt zu einem ›perlokutionären wirklichen Akt‹ »[l]esend verwandelt«,165 es also bei der Wirkung einer Schrift darauf ankommt, wie der Leser sie liest. Indem sich Habermas bei seinem Zugang zur Sprechakttheorie nur auf die illokutionäre Rolle der 159
Krämer, in: Krämer, S. 15. Mersch, in: Kertscher / Mersch, S. 75. 161 Krämer, in: Krämer, S. 16. 162 Herberichs / Kiening, S. 14. 163 Krämer, in: Krämer, S. 18. Über einen weiteren Aspekt ihres Performativitätsbegriffs s. C. III. 3. b). 164 de Man (1988), in: de Man, S. 37. 165 Wirth, in: Wirth, S. 31. 160
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C. »Geschriebene Schauspielkunst« – Satire, Performativ
Sprache beruft, übersieht er die Leserbezüglichkeit des Sprechaktes, auf welche die perlokutionäre Rolle der Sprache verweist.166 Überdies scheint sich das »universalisierende« Prinzip seiner Sprechakttheorie dem Prinzip der Presse insofern anzunähern, als es sich bei beiden um strikt bestimmte Regeln der Kommunikation nur in Hinblick auf die Sender der Information handelt.167 Können wir in diesem negativen Sinne von der Performativität der Presse sprechen, so müssen wir beachten, dass Kraus seine kritisch hermeneutische Aufgabe wie oben erwähnt formuliert hat: »Ich bin die Muschel, in der das Geräusch fortsingt« (Bd. 4, 69). Seine »geschriebene Schauspielkunst« bewahrt Zitate auf und ermöglicht ihnen die »Aufhebung bzw. Abschaffung des historischen Abstands zwischen Text und Leser«, wobei der Leser bei der Interpretation des Textes nicht zur Konservierung des einst Gemeinten, sondern dazu verlockt wird, das einst Gemeinte »in den Wirbel historischen Wandels hineinreißen zu lassen«.168 Im Zusammenhang mit dieser allegorischen Interpretationsweise, die der grammatischen entgegensteht, könnten wir Derridas These von dem Hermeneutiker Johann Martin Chladenius vorweggenommen finden, der das Verstehen definiert hat, »[…] ohne auf den Autor und seine Intention zu rekurrieren«.169 So betrachtet, ist es kein Wunder, dass Denker wie Foucault, Habermas und auch Jean-François Lyotard, die sich des Begriffs des Performativen bedienen, in der Tradition der Hermeneutik im weiteren Sinne stehen.170 Denn Performativität, besonders hinsichtlich ihres »iterabilisierenden« Aspekts, entsteht dort, wo das Potential der schriftlichen Wiederholung, mit der sich die Hermeneutik beschäftigt hat, kritisch verschärft wird. Darüber hinaus wirft die Performativität auf die Walter Benjaminsche berühmte These vom »rettenden und strafenden Zitat«171 bei Kraus ein neues erhellendes Licht: Benjamins Motive »der Tod der Intention« und »das Ausdruckslose«, mit denen er nach Josef
166 Damit vergleichbar ist, dass Habermas das Wort »Rhetorik« bei Derrida nicht im Sinne einer Strategie der dekonstruktiven Lektüre philosophischer Texte, sondern offenbar im Sinne ihrer bloßen Stilkritik verstanden hat; s. Scheiffele, in: Waseda-Blätter, S. 132 ff. 167 Für Sybille Krämer sei der kleinste gemeinsame Nenner der drei unterschiedlichen Positionen zur Performativität die kritische Einstellung gegenüber einer Identifizierung von ›Zeichen‹ und ›Repräsentation‹. Dabei werde jedoch diese Identifizierung nicht einfach aufgehoben, sondern im Zuge der »universalisierenden Performativität« modifiziert, indem nun das Repräsentationsverhältnis nicht länger zwischen Sprache und Welt, sondern zwischen der universalen Regelstruktur und der einzelnen Äußerung, die diesen Regeln folge, bestehe; s. dazu Krämer, in: Krämer, S. 19. 168 Szondi, in: Bollack / Stierlin, S. 19. 169 Szondi, in: Bollack / Stierlin, S. 45. 170 Foucault schrieb den Gedanken, »wonach die Interpretation dem Zeichen vorangehe«, Nietzsche, Freud und Marx zu; s. dazu Foucault, in: Defert / Ewald, S. 735. Auch unter Berufung auf Freud entwarf Habermas eine »Metahermeneutik«. – s. dazu Habermas (1968), S. 310 sowie Habermas (1971), in: Habermas u. a., S. 45 ff. Lyotard übte Gegenkritik an der Postmodernekritik Habermas’, berief sich dabei auf die Performativität als auf den Maßstab der Beurteilung. Diese trage dazu bei, den alltäglichen Diskurs in eine Art Metadiskurs umzuwandeln; s. dazu Lyotard, S. 62. 171 Benjamin (1977), in: Tiedemann / Schweppenhäuser, Bd. 2. 1, S. 363.
II. Zur Herkunft der Satire aus der Theaterpraxis
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Fürnkäs diese Art der Zitation kennzeichnet,172 kommen ebenfalls als Effekt einer Wiederholung im Sinne kritischer Iteration in Frage. Hier kehren wir zum Thema des Wirklichkeitsbezugs bei Kraus zurück. Wie ist die eigenartige Verschränkung von Faktizität und Fiktionalität, die im Fall seiner aus Pseudoleserbriefen entstandenen Essays verstärkt zutage tritt, im Zusammenhang mit der iterabilisierenden Performativität aufzufassen? In diesem Punkt bemerkenswert ist die Theorie des russischen Literaturtheoretikers Michail Bachtin, in der die Legitimität der Lüge in der satirischen Literatur erörtert wird. Demnach finden sich in der Tradition des europäischen Romans zwei stilistische Hauptlinien: »das direkte pathetische Wort« wie im barocken sentimentalischen Roman und »das zweistimmige Wort«, das sich eben in der volkstümlichen satirisch-realistischen Novelle oder in anderen minderen parodistischen oder clownhaft-humoristischen Gattungen entwickelt hat.173 Betont wird die letztere Kategorie, die Bachtin auch »dialogisch« bestimmte »Kategorie des heiteren Betrugs« nennt, weil er darin ein diskurskritisches Potential erkennt. Darüber schreibt er: Der pathetischen Lüge, die sich in der Sprache der hohen, offiziellen, kanonischen Gattungen, in der Sprache aller anerkannten und etablierten Berufe, Stände und Klassen eingenistet hat, wird nicht die ebenso pathetische und direkte Wahrheit entgegengesetzt, sondern der heitere und kluge Betrug als gerechtfertigte Lüge gegenüber den Lügnern.174
Darüber hinaus setzt Bachtin später diese Kategorie der Literatur mit der »menippeischen Satire«, die zur karnevalistischen Tradition der Literatur gehöre, in Beziehung.175 Diese Bemerkung ist nicht nur deswegen von Belang, weil Kurt Krolop die Kraussche Satire in die menippeische klassifiziert,176 sondern auch, weil in Deutschland gerade die Übersetzung und Neuedition des menippeischen Satirikers Lukian im 15. Jahrhundert zur Großform der Roman- bzw. Prosasatire im 16. und 17. Jahrhundert geführt hat,177 bis die Satire im 18. Jahrhundert sogar zum »Repräsentanten einer literarischen Aufklärung par excellence« wurde.178 Können wir jedoch auch bei Kraus von der »gerechtfertigten Lüge gegenüber den Lügnern« sprechen, die im Original-Kontext prinzipiell nur für die fiktionale Romanliteratur galt? Im Folgenden soll die Beziehung der menippeischen Satire auch zur Theaterkunst untersucht werden, worbei sich herausstellen wird, in welcher 172 Fürnkäs, in: Le Rider / Raulet, S. 217. Nach Fürnkäs hat Benjamin seine apokryphe Zitat theorie großenteils in seinem Essay über Kraus deponiert. Vom »Tod der Intention« ist in der ›Erkenntniskritische[n] Vorrede‹ zu Ursprung des deutschen Trauerspiels und vom »Ausdruckslosen« in dem Artikel Goethes Wahlverwandtschaften die Rede; s. dazu Benjamin (1974), in: Tiedemann / Schweppenhäuser, Bd. 1. 1, S. 216, 181. 173 Bachtin (1979), S. 277 ff. 174 Bachtin (1979), S. 281. 175 Bachtin (1971), S. 125 ff. 176 Krolop, in: Krolop, S. 60. 177 Meyer-Sickendiek, S. 384. 178 Seibert, S. 7 f.
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C. »Geschriebene Schauspielkunst« – Satire, Performativ
Perspektive Kraus wenn auch keine »Dissertation über Nestroy« (F 351 / 53, 43), so doch schon eine gründliche Revision der bisherigen Einschätzung der Satire als Literatur entworfen hat. 3. Sprachlicher Mimus. Zur Komik der Krausschen Satire a) Das Mimische und der Mimus: Die Herkunft der Satire aus dem »Schauspiel« Nach Bachtin gehört die menippeische Satire neben den Mimen Sophrons u. a. zum literarischen Bereich, in dem sich Ernst und Scherz mischen.179 Diese Thematik weist auf den historischen Zusammenhang zwischen Satire und Schauspiel zurück, den er im Rahmen seiner Theorie des Romans erwähnt. Die »Mimen« (»Mimus« in der Singularform) bedeuten ›Nachahmer‹, ›Nachahmung‹ sowie ›Schauspieler‹180 und gehen auf die »äußerst lebendige Kultur der Volksburleske aus Sizilien als Quelle der Komödie« zurück, wie sie im 5. Jahrhundert v. Chr. von Sophron u. a. erstmals schriftlich fixiert wurde.181 Diese ›mimische‹ Gattung kennzeichnet, im Gegensatz zur ›mimetischen‹, »eine besondere Art der Realistik«,182 bei der die »Mimoi (die Darsteller des Mimus) ihre Stücke ohne Masken«, nämlich mit dem naturalistischen Gefühlsausdruck durch das Minenspiel des Gesichts und durch die Gebärde, aufführten183 und auch »nicht-fiktive Gestalten« dargestellt wurden.184 Seine explizite Beziehung zur Satire zeigt der Mimus etwa darin, dass Lucilius die italischen Mimographen (Verfasser mimischer Stücke) und Persius die Mimen Sophrons nachgeahmt hat und es auch zwischen den ›realistischen‹ satirischen Romanen wie demjenigen des Petronius und dem Mimus einen Zusammenhang gibt185 oder dass der Mimus nach seinem Verschwinden im christlichen Mittelalter in der französischen menippeischen Satireliteratur im 179 Bachtin (1971), S. 119. Dieser literarische Bereich heiße im griechischen Original »σπουδογὲλοιου«. 180 Ziegler / Sontheimer, S. 1309. Der Mimus bezeichne sowohl den Possenreißer als auch seine Darbietungen, insbesondere improvisierte, volkstümliche, drastisch-realistische aus dem Alltagsleben (Diebstahl, Kauf und Betrug, Ehebruch und Kuppelei, Gerichtsszenen usw.); s. auch Gfrereis, S. 127. 181 Ahnen, S. 60 ff. 182 Reich, S. 19 f. Der Unterschied zwischen der idealistischen und der realistischen Poesie besteht Reich zufolge darin, dass die erstere frei über die Dinge des Lebens schaltete und gruppierte, wie es für ihre Zwecke notwendig ist, und änderte, während die letztere gerade das reale, wirkliche Leben, wie es ist, darzustellen schien. Über die Mimik s. B. III. 2. a), über die Mimesis s. C. II. 4. a). 183 Ahnen, S. 61. Inhaltlich habe es sich dabei um den Alltag des Volks, nämlich um Diebstahl, Trunkenheit, Betrug und Sex, um schrullige und absonderliche Charaktere usw. ge handelt. 184 Koller, in: Ritter / Joachim, S. 1397. 185 s. Reich, S. 34 f.
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17. Jahrhundert wieder belebt wurde.186 Bemerkenswert sind die Hinweise, dass der Begriff Mimus nicht nur den »Übergang vom Stegreifspiel und der Improvisation zum Spiel mit dem geschriebenen Text«187 betreffe, sondern sogar »ästhetische Grundtriebe« des Menschen188 erreiche. Andrerseits steht nach Artur Kutscher das »Theaterstück« als Korrelat des Mimus in der neueren Zeit dem klassischen Drama entgegen. Dieses Genre umfasse Unterkategorien wie Posse, Lustspiel oder Trauerspiel.189 Ist es nun gerecht, das Schauspiel, seiner Definition zu Lebzeiten von Kraus gemäß, als »eine zusammenfassende, Trauerspiel wie Lustspiel einschließende Gattungsbezeichnung im Sinne von ›Drama‹ oder dem alten ›Spiel‹«190 zu verstehen, haben wir in diesem Punkt einen Anlass, die schauspielerische Herkunft der Satire zu thematisieren. In theoretischer Hinsicht ist die Satire in der Tat immer wieder auf die theatrale bzw. dramatische Kunst bezogen worden.191 Auf der spielpraktischen Ebene wurde aber die für das Verhältnis zwischen Satire und Mimus charakteristische Volkstümlichkeit vor allem bei der Commedia dell’arte im 16. bis 17. Jahrhundert wieder deutlich. Für unser Thema ist von Belang, dass diese auch zur Entstehung der »Alt-Wiener Volkskomödie«, in deren Tradition auch Nestroy steht, sehr viel beigetragen hat.192 Seit der Mitte des 18. Jahrhunderts, unter dem Einfluss des von den Wiener Gottsched-Anhängern193 herbeigeführten Verbots von Hanswurst-Extempores, ließen zwar die in der Urform vorherrschenden artistisch-mimetischen Elemente nach und fanden nur noch etwa in dem Partner Nestroys, Wenzel Scholz, ihre Spur, so dass Eduard Devrient damals in seinem Buch über die Geschichte der Schauspielkunst schrieb: »Nestroys Beliebtheit wurzelte wesentlich in seiner dichterischen Produktion«.194 Hier ließe sich aber fragen, inwieweit sich bei ihm die literarischen und schauspielerischen Momente gegenseitig ausschlossen und inwieweit sie sich ergänzten. Eine alternative Antwort gibt Siegfried Brill, indem er auf das »Zugleich von Nachahmung und Zersetzung« bei der Nestroyschen Sprache, das er als »Versprachlichung eines mimischen Elementes« bezeichnet,195 aufmerksam macht. Es war nämlich der »unliterarische Mimus«, d. h. »das theatralische Spiel des Augen 186
s. Geisler, S. 4 f. Ahnen, S. 60. 188 Niessen, in: Niessen, S. 502. 189 Kutscher, S. 108 ff. 190 Merker / Stammler, S. 160. In diesem Zusammenhang ist auch folgende neuere Definition der Schauspielkunst bemerkenswert. Diese sei eine »[…] zu besonderer Perfektion entwickelte menschliche Fähigkeit zur verkörpernden Darstellung von Menschen, Göttern, Helden, aber auch von Wesen der belebten und unbelebten Natur.« – s. auch Sucher, S. 382. 191 s. dazu Einleitung sowie C. I. 2. a). 192 Rommel, S. 179 ff. 193 Diese Partei der Aufklärer habe Friedrich Wilhelm Weiskern vertreten; s. dazu HaiderPregler, S. 292 ff. 194 Devrient, in: Kabel / Trilse, S. 251. 195 Brill, S. 147. 187
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blicks«, so Brill, das die gesamte Alt-Wiener Volkskomödie vor Raimund und Nestroy prägte und ihr ästhetischen Rang verlieh. Dieses »theatralische Urelement«, bei dem alles Interesse dem Schauspieler gehört habe, habe in »der Polarität von Nachahmung und Stilisierung in dem einen Moment des Spiels« gelebt: Denn »der Schauspieler, zumal im komischen Spiel, wiederholt nicht die Realität – im Nachahmen stilisiert er sie zugleich und erreicht damit jene Distanz zwischen dem Nachgeahmten und dem nachahmenden Akt, welche mir für das Entstehen von Komik unerläßlich zu sein scheint«.196 Seine These heißt nun, dass bei den Nestroyschen Stilnachahmungen diese Mimuselemente in Sprache überführt worden sind, und zwar ohne dass sie sich auf die einfachen sprachlich-mimetischen Elemente wie Tonimitation bzw. Verballhornung fremder Sprachen beschränkten: Sofern er artistisch die konventionell-fixierte Sprache der Gesellschaft aufnimmt und in witziger Weise zersetzt, liegt Nachahmung vor; denn es zeigt sich, daß die aufgenommene Sprache bewußt ins komische Spiel gebracht wird. Auf sie ist die Absicht des Artisten gerichtet. Die Sprache ist Nachahmung von Sprache, gibt sich jedoch zugleich als Nachahmung zu erkennen. Nestroys Sprache enthält eine unübersehbare Fülle einzelner μιμησεις gesellschaftlicher und literarischer Rede. Indem er durch Komik jedoch das Bewußtsein in die Sprache nimmt, gibt sich die Nachahmung als solche zu erkennen.197
In diesem »nachahmend-distanzierende[n] Verhalten zu vorgeprägter Sprache der Gesellschaft« erkennt Brill auch die sprachliche Mimik bzw. Gestik, weil es da um »die ›stumme‹ Andeutung« gehe.198 Nach der Analyse einiger Szenen aus Nestroys Possen führt er aus: »Das ist mehr als Literarisierung im Sinne der Aufbewahrung. Dem mimischen Bereich gewinnt die Versprachlichung Allgemeinheit und Geistigkeit hinzu. Er wird ins sprachliche Bewußtsein geholt.« Und er verweist schließlich auf die Möglichkeit, diese Ansicht auch als Auslegung der Krausschen These der »geschriebenen Schauspielkunst« gelten zu lassen.199 Von diesem Hinweis können wir in der Tat einen Anhaltspunkt zum Verständnis für etwa folgenden Satz aus dem Nestroy-Essay gewinnen, den Kraus auf die Beispielsätze aus Der böse Geist Lumpazivagabundus (1833) und Der Zerrissene (1844) folgen lässt: »Hier lacht sich die Sprache selbst aus. Die Phrase wird bis in die heuchlerische Konvention zurückgetrieben, die sie erschaffen hat«. (Bd. 4, 230) Überdies hat schon Joachim Stephan die Kraussche Satire mit dem Mimus verglichen: Als geschriebene Schauspielkunst verfügt die Sprache über die Gesamtheit der Ausdrucksmittel, die sonst dem Schauspieler zur Verfügung stehen. Sie hat nicht nur die Rede, sondern auch Mimus und Gestus, die sich in der Wortstellung, im Satzbau und im Gefüge der Sätze verwirklichen. Die Aktion des Akteurs wird auf die Sprache übertragen, die darstellerische Energie setzt sich in sprachliche um, die sich als dieser Stil zur Geltung bringt.200 196
Brill, S. 146 f. Brill, S. 147. 198 Brill, S. 149. 199 Brill, S. 151. 200 Stephan, S. 118. Als Merkmal eines solchen Stils führt Stephan die Nachahmung anderer Schreibweisen, das Kopieren fremder Stile, Parodierung bzw. Karikierung usw. an. 197
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Hier dürfen wir jedoch nicht übersehen, dass es zwischen Nestroy und Kraus einen beträchtlichen Unterschied gibt: Das Angrenzen an die alltägliche Realität, die beim originalen Mimus ersichtlich war, steht bei Kraus im Vordergrund, während sie bei Nestroy etwa durch Couplets bzw. spezifische Situationssetzung lediglich angedeutet wird. So wird von der »versöhnliche[n], ja gemütvolle[n] Komik«,201 die oft in Nestroyschen Possen bemerkbar sei, bei Kraus schwer die Rede sein. Resultiert aber daraus, dass seine Satire komischen Elementen fern steht? Richten wir unser Augenmerk nun wieder auf die Performativität, so wird ihre Beziehung zum Komischen oft als Thema behandelt. Als notwendige und hinreichende Bedingung für den komischen Effekt eines Textes fordert z. B. Uwe Wirth, dass sich dabei zwei semantische Skripte ganz oder teilweise überlappen und sie in einem besonderen Oppositionsverhältnis wie des Widerspruchs bzw. der Ambiguität, dem die Funktion des »Auslösers« zufalle, zueinander stehen.202 Als eine »sehr grundlegende Form« dieses Verhältnisses gelte der »performative Widerspruch«, der nur für den philosophischen »Universalpragmatiker« ein Skandal gewesen sei, weil er nicht vernünftigerweise ernsthaft begangen werden könne.203 Der performative Widerspruch entstehe entweder unbewusst, indem man z. B. dem, was man sagt, durch Gesten widerspricht, oder bewusst, indem eine ironische Äußerung nur dann als Ironie verstanden wird, wenn sie als »bewusste, absichtliche Inszenierung« erkannt wird.204 Diese Auffassung des Komischen ist für unser Thema in dem Punkt von Relevanz, dass sie der oben angeführten Bestimmung des sprachlichen Mimus, bei dem sich die Nachahmung als solche zu erkennen gebe, entspricht. Dabei können wir Derridas Modell des Aufpfropfens als den »nicht still zu stellenden Motor für das Erzeugen komischer Effekte« betrachten, weil bei der Ironie bzw. beim Mimus, so können wir annehmen, »unsichtbar[e] Anführungszeichen« erforderlich werden und insofern Zitate als Iteration mitspielen.205 Dieser Sachverhalt wird in der Forschung zur mittelalterlichen sowie frühneuzeitlichen Lachkultur von einem anderen Blickpunkt aus beschrieben: […] daß Texte mehr tun, als nur zu konstatieren, und daß Handlungen Bedeutung haben können. Dies ist gerade bei Lachvorgängen von Belang: Wer einen Witz präsentiert, muß die situativen Besonderheiten der Kommunikation realisieren, in die er seine komische Performanz einbringen möchte. Nicht nur der Körper-, auch der Sprachwitz muß mit gestischem und stimmlichem Einsatz realisiert werden. Das, was bisher als das Komische oder Witzige definiert wurde, also bestimmte sprachliche oder gedankliche Operationen, ist nur ein Element dieser Performanz.206
201
Stierle, in: Preisendanz / Warning, S. 262. Wirth, in: Kertscher / Mersch, S. 162. Zur Theorie des Überlappens beruft sich hier Wirth auf Viktor Raskins Schrift: Semantic Mechanisms of Humor. Dordrecht u. a., 1985. 203 Wirth, in: Kertscher / Mersch, S. 164. 204 Wirth, in: Kertscher / Mersch, S. 165. 205 Wirth, in: Kertscher / Mersch, S. 168. 206 Bachorski / Röcke / Velten / Wittchow, in: Paragrana, S. 165. 202
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Außerdem können wir eine textwissenschaftlich umgekehrte Präzisierung dieses Themas in der Annahme finden, das Schriftmedium habe »gegenüber einer an die unvermittelte Präsenz von Körpermedien gebundenen Performativität keinen sekundären oder abgeleiteten Status« und die Performativität könne »als Strukturmerkmal der unterschiedlichsten Medien und Praktiken beschrieben werden« und »immer nur in der spannungsreichen Relation von textuellen Einschreibungen und performativen Verkörperungen in den Blick kommen«.207 Werden wir infolgedessen in den Stand gesetzt, die Performativität aus dem gegenseitig exklusiven Gegensatz zur »Textualität« zu befreien und »in eine skalierende Definition« zu überführen, und überdies zwischen dem »Text in der Performanz« und der »Performativität im Text« zu unterscheiden,208 so haben wir schon einen aussichtsreichen Anhaltspunkt dafür bekommen, im Krausschen Text im Sinn des Performativen komische Elemente zu finden. b) Das Moment des Komischen in der »geschriebenen Schauspielkunst«. Zum Appell-Charakter der performativen Wiederholung Führen wir aus der Serie von Prosatexten mit Dramolettcharakter, die Kraus erstmals im Juli 1911 in dem Essay über seinen Pseudoleserbrief bei den Gemeinderatswahlen einführte, aber schon im Dezember 1909 im Essay ›Prozess Friedjung‹ teilweise ausprobierte, Beispiele an. Im letzteren Essay gibt er z. B. das Gespräch im Gerichtssaal, bei dem er auch als »Hörer« (Bd. 4, 32) anwesend gewesen sei, wieder und vergleicht Friedjung, der sich bei seiner Kriegskampagne absichtlich betrügerisch verhalten habe, mit einem Schauspieler namens Jakob Schreiner, weil der Historiker »gutes Burgtheaterdeutsch in dritter Besetzung« spreche. (Bd. 4, 34) Unter dieser Perspektive scheint die im pathetisch gereimten, sprichwörtlichen Ton formulierte Rede wie »Geduld bringt Rosen, aber auch zerrissene Hosen!« eine »viel Heiterkeit« erregende Wirkung zu potenzieren, wie es im von Kraus zitierten Kommentar lautet (Bd. 4, 35). Ein noch deutlicher gelungenes, für ihn charakteristisches Beispiel der Komik können wir im Essay ›Harakiri und Feuilleton. Gespräch der Kulis‹ von Oktober 1912 finden, in dem ein realer Journalist, Paul Zifferer,209 in der Redaktion der Neuen Freien Presse mit einem »älteren Redakteur« über den Freitod des japanischen Generals Nogi Maresuke palavert. Dadurch bringt er den journalistischen
207
Maassen, in: Paragrana, S. 286 f. Maassen, in: Paragrana, S. 288 ff. Mit »Textualität« wird hier »Gesamtheit der grammatischen, stilistischen, semantischen, pragmatischen, optischen, akustischen usw. Eigenschaften, die eine Sammlung von Zeichen zu einem Text machen«, bezeichnet; s. auch Gfrereis, S. 207. 209 Sein Briefwechsel mit Hofmannsthal ist veröffentlicht; s. Burger (Hrsg.). 208
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Schreibprozess, den er bis dahin nur von dessen Ergebnis her bemängelt hat, zur komischen Versinnlichung. Der Dialog fängt so an: »Hören Sie Zifferer, Nogi hat Harakiri gemacht.« »Wieso?« »Nachdem der Mikado ge storben ist, das interessiert Sonntag, können Sie schreiben?« »Was heißt ob ich schreiben kann? Das geben Sie gut. Wenn Nogi in dem Augenblick, da der Geschützdonner den toten Mikado auf seiner letzten Fahrt grüßte, Harakiri gemacht hat, so wird in dem Augenblick, da Nogi Harakiri gemacht hat, Zifferer noch das Feuilleton machen können!« »Sie, das mit dem Geschützdonner ist ein Anfang.« »Was heißt Anfang? Ich hab schon das Ende!« »?« »Ich wer’ schreiben, vielleicht war’s ein anderer.« »Sehr interessant, aber wofür?« »Für alle Fälle, vielleicht is es ein Aufsitzer vom Fackelkraus.« (Bd. 4, 142)
An dieser Stelle werden aus dem Feuilleton ›Die Tat des Feldmarschalls Nogi‹, das Paul Zifferer am 15. Sept. 1912 gezeichnet in der Neuen Freien Presse ver öffentlichte, mehrere Sätze in Teilen zitiert. Schauen wir den entsprechenden Wortlaut im Original an: Man hat zuerst daran gezweifelt, ob die Nachricht, der japanische Feldmarschall Nogi habe in dem Augenblick, da der Geschützdonner den toten Mikado auf seiner letzten Fahrt grüßte, in Gemeinschaft mit seiner Gattin freiwillig vom Leben Abschied genommen, auf Wahrheit beruhe.210
Den ganzen Essay hindurch wird auf diese Weise zu den zitierten Worten bzw. Passagen Kraus’ Erdichtung hinzugefügt, woraus ein halb-fiktionales Gespräch zusammengesetzt wird, in dem sogar Kraus selbst auftritt. Dabei fällt zunächst ein schroffer Kontrast zwischen der opportunistischen Leichtfertigkeit beider Journalisten und der erhabenen Feierlichkeit des Freitodes auf: Dieser ist für sie ein »Skandal« (Bd. 4, 143), aber eben nur ein Begebnis neben anderen, die gleichfalls »Stoff für ein Feuilleton« (Bd. 4, 144) liefern könnten. Dafür aber befürchtet der jüngere Redakteur, dass auch diese sensationelle Nachricht von Kraus erfunden worden sei, um die Presse im Stil der »Grubenhund«-Ente zu hintergehen. Hier ›inszeniert‹ Kraus durch Wiederholung dieses selbstbezüglichen Motivs211 auch eine sprachliche Fehlleistung des Betreffenden, wie sie bei Komödien üblich ist: »[…] Aber sagen Sie – der Titel? Was für einen Titel geben Sie?« »Die Tat des Feldmarschalls Nogi.« »Interessant, und der Grundgedanke? Was wird der Grundgedanke sein?« »Der Grubenhund wird sein – was red ich, der Grundgedanke wird sein: ›hier gibt es keine Gewißheit, vielleicht war’s ein anderer, in undurchdringliches Dunkel bleibt die Tat gehüllt, abweisend, fremd, geheimnisvoll‹.« »Sie haben faktisch recht. […]« (Bd. 4, 143)
Die Verwechselung des »Grundgedankens« mit dem »Grubenhund« erinnert uns an den Ausdruck »Orienterpreßzug« (F 26, 4), den Sigmund Freud als Beispiel
210
Zifferer, S. 1. Selbstbezüglich erwähnt Kraus auch seine Zurückweisung des Angebots der Neuen Freien Presse, ihr Redakteur zu werden (Bd. 4, 144 f.), und das darauffolgende Totgeschwiegenwerden auch seiner Lesungen durch die Wiener Presse (Bd. 4, 150 f.). 211
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C. »Geschriebene Schauspielkunst« – Satire, Performativ
eines Druckfehler vorspiegelnden Witzes genannt hat.212 Dadurch deutet Kraus eine unterdrückte Furcht Zifferers vor einer etwaigen Hinterlist an. Zur offensichtlichen Lachevokation wird aber nicht nur diese Furchtäußerung des jüngeren, sondern auch, nun allerdings in ›Bühnenanweisungen‹, die erschrockene Reaktion des älteren Redakteurs wiederholt, die durch den immer gleichen Ausruf des Chefredakteurs Moriz Benedikt aus dem Nebenzimmer erregt wird: (Man hört die Stimme des Herrn aus dem Nebenzimmer: »Alle werf ich heraus!« Der Redakteur zuckt zusammen.) (Bd. 4, 144 u. a.)
Letztlich stellt sich heraus, dass diese beiden deswegen im Titel »Kulis« genannt werden, weil sie stets Bedrohungen durch »zwei Menschen« (Bd. 4, 151), nämlich einerseits Kraus und andrerseits Benedikt, erleiden müssen, wodurch das prosaische Feuilleton effektiv zu einem Drama umgestaltet wird. Zu der lebhaften, durch ständige Wiederholung recht geschwollen wirkenden Schilderung ihrer elenden sozialen Stellung wird das rhetorische Mittel sermocinatio213 eingesetzt: Ihr Gespräch weicht immer wieder vom Hauptthema ab und kreist um das Gerücht ihrer Kollegen, besonders des geadelten Mendl Singer. Über Japan äußern sie sich nur klischeehaft wie »[das] japanische Lächeln« (Bd. 4, 146) bzw. »[das] Geishalächeln« (Bd. 4, 149), indem sie sich als ihre Wissensquelle auf die Aufführung des Japanstücks Taifun von Menyhért Lengyel (Bd. 4, 146)214 sowie das Gastspiel der damals sehr berühmten japanischen Reisetruppe von Kawakami und seiner Frau Sada Yakko (Bd. 4, 149) berufen, was natürlicherweise nur ihre Ignoranz über die fremde Kultur verrät und in diesem Sinne ihrer Äußerung vom Stolz auf eigene Allwissenheit widerspricht: »A l l e s i s t b e w u ß t « (Bd. 4, 146). Ihr Bericht über den toten General besteht auch aus lauter Phrasen, da er immerhin nur »visionär« (Bd. 4, 148), d. h. ohne unmittelbare Kenntnisse, entstand. Das Bild des an einen tapferen und geheimnisvollen Samurai erinnernden Generals interessiert sie nämlich nur insofern, als es in ihren vorgegebenen Erwartungshorizont passt. In diesem Essay trägt die Komik bezeichnenderweise zur Blamierung der sensationslüsternen, gedankenlosen Journalisten bei.215 Auf diese Weise findet die 212 Freud (1989), in: Mitscherlich u. a., S. 30. Der »Orienterpreßzug« bestehe aus »Orientexpreßzug« und »Erpressung«. Hierin sieht Freud eine Sonderart der Witztechnik, die mit der Traumarbeit der Verdichtung vergleichbar sei. In dieser Schrift wird Kraus noch einmal genannt, und zwar als »ein geistreicher und kampflustiger Schriftsteller, der sich durch die Schärfe seiner Invektive wiederholt körperliche Mißhandlungen von seiten der Angegriffenen zugezogen hat« (S. 75). Im Gegenteil charakterisiert Kraus in diesem Essay Paul Zifferer als Jungen, der für die Freudsche Psychoanalyse begeistert sei (Bd. 4, 146). Über das Verhältnis Freuds zu Kraus s. A. III. 2. 213 Die »sermocinatio« ist so definiert: »[…] die der Charakterisierung natürlicher (historischer oder erfundener) Personen dienende Fingierung von Aussprüchen, Gesprächen und Selbstgesprächen oder unausgesprochenen gedanklichen Reflexionen der betreffenden Per sonen«. – s. dazu Lausberg (1990), S. 407. 214 Zu diesem Stück s. Giacomuzzi, in: Doitsu-Bungaku-Ronshu, S. 43 ff. 215 In einem Aphorismus erhebt Kraus dagegen Einwände, dass die »Wortführer« der abendländischen Kultur »eine Million an einem Fall« verdient haben, »wo honorarloses Schweigen
II. Zur Herkunft der Satire aus der Theaterpraxis
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»öffentlich[e], schriftlich[e] Popularklage« (F 46, 20) eine Verwirklichung.216 Dieser Effekt kann jedoch nicht auf der illokutionären Ebene des Wortlautes, sondern auf der perlokutionären Ebene der Einbildungskraft des Lesers dieses Essays entstehen, dessen Gedächtnis an den Freitod Nogis dadurch theoretisch zur Revidierung geleitet werden könnte, zumal wenn er das Feuilleton Paul Zifferers, das etwa einen Monat vor diesem Essay erschien, gelesen hatte. Was so durch diesen Essay, der den Wortlaut eines Feuilletons zitierend wiederholt und mit diesen »Requisiten von mimischen Entlarvungen durch den Zitierenden«217 an den Leser als ›Regisseur‹ seines eigenen Gedächtnisses appelliert, theoretisch geschehen konnte, schreiben wir, wie in den meisten anderen Fällen, der Performativität der Krausschen »geschriebenen Schauspielkunst« zu, obgleich dieser einmal das Schauspiel und die Oper der Operette untergeordnet hat. Denn die Bezeichnung »Schauspiel« umfasst neutral Lustspiel und Trauerspiel und scheint insofern auch seiner Betonung eigener dramatisch dynamisierter Sprache, die wir für eine Bestimmung des sprachlichen Mimus nehmen können, angemessen zu sein: In diesem Essay handle es sich, so heißt es im Vorwort, um »eine Sammlung von Phrasen, denen das Gesicht ihrer Sprecher zugewachsen ist und die dialektisch verborgene Beine bekommen haben«, sowie um die »Zitate, die, durch eine freiwillige Wendung in den Jargon entlarvt, in Bewegung geraten und ein dramatisches Leben herstellen« (Bd. 4, 141). Trotz der vorwiegend komischen Wirkung des »Gespräch[s] der Kulis«, wie der Untertitel lautet, meldet Kraus nun doch einen Vorbehalt an: Während ich hier ein nachgemachtes schlechtes Geräusch dem Gelächter preisgebe, vergesse das Gelächter nie, daß nicht weit die Tragödie der Ideale ist, die hinter dem Geräusch verstummen müssen, weil sie des Dialekts entbehren, der allein das Losungswort hat. (Bd. 4, 140 f.)
Dieses »Geräusch« nennt er auch »Weltdialekt«, den einerseits alle »honetten Leute, die sich nach der Decke strecken, sprechen«, andrerseits aber der »satirische[n] Sucher[s] als »Wünschelrute« benutzen könne, die »ihm alle verborgenen Schlechtigkeiten der irdischen Seele auffinden hilft« (Bd. 4, 140). Hier liegt es nahe, anzunehmen, dass sich Kraus des Effekts dieser »[a]uthentische[n] zweistimmige[n] und zweisprachige[n] Prosa«218 im Sinne Bachtins bewußt war und sie als »gerechtfertigte Lüge gegenüber den Lügnern«219 eingesetzt hat. Da aber in dem fiktionalen Gespräch – im Unterschied zur Posse Nestroys – reale historische Personen erscheinen und der Leser zu deren direkter Entlarvung aufgefordert wird, liegt es näher, hier von der »Aktualität«, dem »publizistisch[en] Chadie geringste Pflicht war« (Bd. 8, 344). In diesem Zusammenhang ist von Interesse, dass der General auf dem Foto, das er am Tag seines Freitodes aufnehmen ließ, Zeitung liest. Zu diesem Problem s. Kouno [= Kawano], in: Hōrin, S. 167 ff. 216 s. dazu A. IV. 1. 217 Benjamin (1977), in: Tiedemann / Schweppenhäuser, Bd. 2. 1, S. 347. 218 Bachtin (1979), S. 255. 219 Bachtin (1979), S. 281.
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rakter«220 der Krausschen Satire, gleichsam ihrem Zug der menippeischen Satire, zu sprechen. Ungeachtet seiner nur ausnahmsweise eingeführten Fiktionalität und seiner grundsätzlichen Orientiertheit am Dramatischen können wir diesen Effekt der Krausschen Satire, die dadurch keinesfalls etwa zum bloßen Pasquill depraviert wird, mit dem Bachtinschen Prinzip des »karnevalistischen Romans« präziser erfassen.221 Das wird sich zeigen, wenn wir uns nun dem Thema der Mimesis zuwenden. 4. Satire und Mimesis in performativer Perspektive a) Suspendierung der Grenze zwischen Faktizität und Fiktionalität Für Kraus’ Pseudoleserbriefe sowie dialogisierte Essays ist charakteristisch, dass dabei seine Sprache die Pressesprache simuliert und in diesem Sinne in eine ›Rolle‹ schlüpft. Gehen wir nun von dem Prinzip aus, dass die Presse für Nachrichten über ›objektive Fakten‹ zuständig ist, können wir in dieser bewussten Preisgabe der Metasprache die Tendenz einer Subjektivierung des Berichts über Fakten bemerken, durch welche ihre Grenze zur Fiktion zu suspendieren ist. So schreibt er im Vorwort zum Essay ›Harakiri und Feuilleton‹ vom Oktober 1912: Das scheinbar realistische und von lokalen Anlässen bezogene Detail ist nur um jener Naturwahrheit willen verwendet, die ein Symbol ist, und wird darum besser gewertet werden, wo Ort und Zeit die Anlässe entrückt haben. Den Anteil, den die Intimität des Dialekts wie der Stofflichkeit an der komischen Wirkung hat, verschmäht die Satire. Und das tut sie selbst in der Verwendung von Namen. Sie stützen keine polemische Absicht und sind nur dort den namenlosen Gestalten zugefügt, wo sie ein satirisches Element sind, so von Natur angewachsen, als ob die lebendigen sie als die Erfindung des Satirikers trügen. Hier waltet kein Zufall, sondern ein Schicksal. Alles fügt sich jener nachschöpferischen Ordnung, welche das Individuelle als typisch und das Vorhandene als Notwendigkeit begreifen läßt. (Bd. 4, 142)
Hier wird das immerhin mögliche Verständnis, dass die Satire die Wirklichkeit, von der sie ihren Stoff bezieht, sprachlich wiedergebe, in Abrede gestellt, weil solche Anlässe nur »scheinbar« realistisch und lokal seien. Man solle sich sogar, in strikter Abhebung der Satire gegen die Polemik, der Identifizierung von Personennamen mit ihren Trägern enthalten, weil es hier eigentlich um etwas »Typisches« gehe. Wie bei seiner Verteidigung des Schauspielertheaters gegen das Literatur 220
Bachtin (1971), S. 132. Hierbei gehen wir von der Prämisse aus, dass der heuristische Wert der Bachtinschen Theorie für unser Interesse nicht völlig verloren geht, auch wenn dabei verschiedene problematische Ansichten, die von seiner ideologiekritischen Voreingenommenheit in der Sowjetunion seiner Zeit nicht zu trennen sind, besonders in Hinblick auf sein Verständnis über die mittelalterliche Volkskultur unvermeidlich revisionsbedürftig sind; s. dazu Moser, in: Euphorion, S. 89 ff. 221
II. Zur Herkunft der Satire aus der Theaterpraxis
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theater sowie der Operette gegen die rationalisierte Welt kehrt Kraus in dieser Perspektive die Hierarchie zwischen Original und Double um, damit nicht subjektive Willkür des Satirikers, sondern allein die »nachschöpferische Ordnung« – ein neologistisch anthropomorphisierender Ersatzbegriff für Gottes »schöpferische Ordnung« – die schicksalhafte Notwendigkeit verwalte. Der Satire wird auf diese Weise trotz ihrer zugestandenen Beziehung zur Wirklichkeit eine feste Autonomie zugeteilt. In dem Essay ›Herbstzeitlose oder die Heimkehr der Sieger‹ (Dezember 1912), der wiederum vorwiegend aus einem Gespräch, diesmal über den Balkankrieg, besteht,222 gibt es einen Perspektivenwechsel. Diesmal wird die Satire durch die Presse überboten, indem nach der Veröffentlichung dieses Essays ein Bericht über Kriegshospitäler in der Neuen Freien Presse erschienen ist, den Kraus selber hätte schreiben können. Von seinem Standpunkt aus unterscheidet sich solch ein Gespräch von seinen Pseudoleserbriefen nur darin, dass es in der Zeitung nicht als solches gedruckt wurde. Das kommentiert er im Nachwort zu dem Essay: Blendwerk der Hölle! – was ist das? Was ist, habe ich erfunden. Jetzt rächt es sich und äfft mich nach. Seitdem der Nordpol entdeckt wurde, geht es mir so. Ich machte Witze und siehe, am nächsten Tag waren es Depeschen. Ich mußte die Satire aufreißen und zu ihr hinzutun, daß es keine mehr sei. Da wird man nicht fertig. Man glaubt mir schon nicht, wenn ich zitiere. Jetzt wird, was ich erfinde, wahr. Diese große Presse ist nicht mehr nur ein Abdruck der Weltfratze, sie ist auch die Satire dazu und macht diese darum zuschanden. Die Satire konnte dem Leben keuchend nicht mehr nachkommen – jetzt jagt das Leben hinter der Satire einher. Die Wahrheit folgt der Erfindung auf dem Fuß. Gibt es ein untrüglicheres Zeichen dafür, daß es mit diesem Planeten zu Ende geht? (Bd. 4, 413)
Dieser Sachverhalt wird auch mit »der Verkehrung der Kausalität« bei einem »Knockabout« verglichen: »[…] er läßt dem Echo das Geräusch folgen, der Satire den Bericht« (Bd. 4, 413). Hier finden wir in einer biblische Prophezeiungen parodierenden Diktion jene These defätistisch variiert, die Oscar Wilde 1889 aufgestellt hatte, um die Rehabilitation der ›Lüge‹ als Kunst, Wissenschaft und des sozialen Vergnügens zu rechtfertigen: »Life imitates art far more than Art imitates life«223. Dass die Welt der Fiktion und die der Fakten, der Kunst und der Wirklichkeit, ihre Beziehung wechselseitig destabilisierten, war zwar beim l’art pour l’art bereits die allgemeine Devise. Diese Vorstellung geht auf die Romantik zurück, ja sie entspringt in einem gewissen Sinne schon der antiken Kunsttheorie, und zwar gar nicht fern von der Satireproblematik. Dieses Thema hat Aristoteles in seiner Poetik unter dem Leitbegriff der Mimesis im Sinne von Nachahmung gestellt. Nach seiner Theorie ahmen die Dichter handelnde Menschen nach, und der Un 222
Hier treten sogar sieben Personen auf, darunter drei beim Namen genannte reale. Wilde, S. 46, 57, 80. Diese These von Wilde wird u. a. so begründet: »At present, people see fogs, not because there are fogs, but because poets and painters have taught them the mysterious loveliness of such effects« (S. 59 f.).
223
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terschied zwischen ihnen und den Geschichtsschreibern besteht darin, dass sie nicht erzählen, was geschehen ist, sondern, was geschehen könnte.224 In diesem Zusammenhang kommt die Satire in Betracht, die hier »psogos« (Scheltgedicht) bzw. »iambeion« genannt und als Urform der Komödie der Epik als Urform der Tragödie entgegengesetzt wird. Die Satiriker dichten demnach nicht über das Allgemeine, sondern das Besondere, auch über einzelne Personen, und stehen in dieser Hinsicht den Geschichtsschreibern nahe.225 Davon ausgehend, hat sich Aristoteles auf die Theoretisierung der Epik und Tragödie konzentriert und dadurch die Nachahmung im Gegensatz zu Platon aufgewertet,226 weil sie »den Menschen von Kindheit an angeboren« sei.227 Das Problem der Nachahmung bei der Satire wurde jedoch dadurch nicht beseitigt, sondern kehrte in der heutigen Forschung in dem Sinne zurück, dass das Urwort Mimesis eigentlich nicht nur mit der Nachahmung als schriftstellerischem Akt, sondern auch mit dem Mimus als schauspielerischem Akt sowie dem davon abgeleiteten ›mimeísthai‹ (Nachahmen, Darstellen, Porträtieren) im engen Zusammenhang stand: […] the original sphere of mimêsis – or rather of mîmos and mimeisthai – was the imitation of animate beings, animal and human, by the body and the voice (not necessarily the sing ing voice), rather than by artefacts such as statues or pictures. In other words, these terms originally denoted a dramatic or quasidramatic representation, and their extension to nondramatic forms like painting and sculpture must have been a secondary development.228
Von Belang ist auch, dass nach Gerald F. Else die Kunst des Mimus bei ihrer frühesten Erscheinung in der griechischen Literatur – soweit wir das aufgrund des erhaltenen Bestands beurteilen können – die Tendenz zur »vorsätzlichen Täuschung (deliberate deception)« gehabt habe.229 In dieser Weise werden wir auf gefordert, die Mimesis nicht mehr nur dichtungs- sowie kunsttheoretisch, sondern auch theatertheoretisch zu verstehen. Auch in der Kraus-Forschung ist das Thema der Beziehung zwischen Fiktionalität und Faktizität unter Berufung auf die Mimesis sowie mit ihr zusammenhängende Begriffe zur Betrachtung über Kraus’ Arbeit herangezogen worden. Adorno hat unter einem Gesichtspunkt, der mit dem schon erwähnten von Benjamin vergleichbar ist, Kraus’ Prosa ein »mimetisches Moment«, das mit der »objektivierten und durchkonstruierten« Schriftsprache verfeindet sei, zugeschrieben.230 224
Aristoteles, S. 24, 36. Aristoteles, S. 36. 226 In seiner dialogischen Schrift Der Staat ließ Platon Sokrates den »Nachahmer« als denjenigen definieren, »der mit seinem Erzeugnis an dritter Stelle von der Naturwirklichkeit entfernt steht«, womit gemeint ist, dass sein Produkt denen des Gottes (Ideal, Wesen, Wahrheit) und des Handwerkers (Werkzeug) nachsteht; s. Platon, S. 389. 227 Aristoteles, S. 26. 228 Else, in: Classical Philology, S. 78. Diese Arbeit wurde als Widerlegung der Hypothese von Hermann Koller verfasst, der behauptet hatte, die Mimesis habe ursprünglich wenig mit dem Nachahmen, sondern vielmehr mit der Tanzkunst zu tun gehabt; s. auch Koller. 229 Else, in: Classical Philology, S. 75 f. 230 Adorno (1990), in: Tiedemann, Bd. 11, S. 385. 225
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Im Anschluss daran hat Hannelore Ederer Kraus in die Reihe der Schriftsteller eingeordnet, die sich mit der »Diskrepanz zwischen Sprache und Wirklichkeit« als dem »wichtigste[n] Kennzeichen der Sprachentfremdung« ideologiekritisch beschäftigt hätten. Kraus habe sich angesichts der Situation, wo die literarische Erkenntnis der Wirklichkeit infolge der selbst zum wichtigsten Träger der Ideologie gewordenen Sprache nicht mehr möglich sei, der wörtlich – d. h. mimetisch – dokumentierenden Kritik zugewandt und sei doch gescheitert, weil diese Methode wegen ihrer tautologischen Eigenart durch die »offizielle Fiktion« überholt werden müsste.231 Den Grundriss dieser Thematik übernimmt Burkhard Müller, der unter Berufung auf Kraus’ Überlistung der Presse durch einen Pseudoleserbrief behauptet, Kraus habe »eine Kritik, die sich vom Kritisierten separat [halte], für wirkungslos erachtet« und deswegen sowohl formal als auch inhaltlich Mimesis an der Presse betrieben, wobei es darum gegangen sei, »das Vorgefundene durch verkürzende Perspektivierung in die Hyperbel seiner selbst umschlagen zu lassen«.232 Das für Ederer und Müller gemeinsame Problem liegt nun darin, dass sie die Mimesis mit Nachahmung bzw. Imitation, gegebenenfalls auch mit Zitierung bzw. Dokumentierung, nahezu gleichsetzen und dementsprechend auf Detailprobleme wie die Differenz zwischen der Satire und der Kritik bzw. Polemik oder auf die mimesistheoretisch motivierte Beschäftigung mit der Satire in der Geschichte der Poetik233 nicht eingehen, was prinzipiell auch für Benjamin und Adorno gilt. Bei Kraus findet sich jedoch offensichtlich die bewusst provokante Strategie, über die schlichte Dichotomie zwischen Faktum und Fiktion hinweg den Leser mit der dynamischen Produktivität der Sprache, auf die der Mimesis-Begriff hinweist, zu konfrontieren. So betrachtet, stellt sich heraus, dass seine satirische Pressek ritik von dem Versuch der avantgardistischen Romanciers, den Realismus zu überwinden, gar nicht weit entfernt war, sofern sich das narrative Moment der Presse und das des traditionellen Romans zum großen Teil deckten.234 Im Essay ›Selbstbespiegelung‹ (Dezember 1908) warnt Kraus vor dem folgenden denkbaren Missverständnis seiner Schriften: Lesern, die ein Liebesgedicht für eine Adresse und die satirische Gestaltung eines Typus für einen Angriff halten, kann ichs und möchte ichs nicht recht machen. Andere wieder kennen den zufälligen Anlaß meiner Selbstzerfleischung: Da wird ihr stoffliches Interesse an dem Fall so sehr befriedigt, daß sie darüber die Perspektive übersehen, und wären sie auch sonst imstande, sie wahrzunehmen. Daß ein Dramatiker das Recht hat, die belangloseste Lebensfigur zu überschätzen und ihre Besonderheiten zu verwerten, wenn sie ihm 231 Ederer, S. 4 f., 346 ff. Außer Heine und Kraus zählt Ederer auch Moritz Gottlieb Saphir und Ferdinand Kürnberger zu den Hauptvertretern der Sprachkritik im deutschen Sprach gebiet. 232 Müller, Burkhard, S. 20 ff. 233 s. dazu Brummack, in: DVLG, S. 301 ff. 234 Harald Weinrich erörtert dieses Thema im Rahmen seiner Theorie über die »erzählenden Tempora«. – s. dazu Weinrich, S. 263 ff.
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für die Herausarbeitung des Typischen dienlich scheinen, räumen solche Leser wohl im Prinzip ein. Aber gegebenenfalls benehmen sie sich doch wie vor einem Schlüsselstück. (Bd. 2, 192 f.)
Mit dem in Analogie zu »Schlüsselroman« eingeführten Ausdruck »Schlüsselstück« deutet Kraus hier die Möglichkeit an, dass seine Satire als ein Werk gelesen werden könnte, das in erster Linie auf außertextuale Objekte referiere. In diesem Punkt ist Wolfgang Isers phänomenologische Literaturforschung aufschlussreich, weil er dabei die Sprechakttheorie auf seine Rezeptionsästhetik angewandt hat. Iser sieht die Sinnproduktion eines literarischen Textes als einen dynamischen Prozess an: Durch seine Mitarbeit beim Füllen der »Leerstelle« während der Lektüre beteiligt sich der Leser am »Vollzug des Textgeschehens«.235 So wird hier die Sinnproduktion literarischer Texte mit der Performativität in Beziehung gebracht. Später hat Iser dann versucht, die »alte Opposition von Realität und Fiktion« nicht einfach zu überwinden, wohl aber zu differenzieren und zu dynamisieren, indem er das Fiktionale, dessen materieller Träger die Sprache ist, sowie das Imaginäre für wechselseitig voneinander abhängig hält.236 Dabei wird das eine nicht als das Gegenteil des anderen verstanden, sondern Fiktion als Teil der Realität.237 Bei dieser literaturtheoretischen Anwendung des Begriffs des Performativen ist das Augenmerk auf den Aktcharakter sowohl des Schreibens als auch des Lesens gerichtet und scheint die Sprache zu einer Relativierung der Grenze zwischen Realität und Fiktion dadurch befähigt zu sein, dass sie aus der Materialität des Zeichens und zugleich aus der Schöpferkraft der Imagination bestehe. In dieser Hinsicht kann jene typische Überlagerung der performativen Sprechhandlungen und der körperlichen Handlungen einer Performance zustande kommen, auf die Fischer-Lichte hinweist.238 Voraussichtlich können wir im »Verhältnis von Mimesis und Performanz«,239 auf die Iser verweist, einen entscheidenden Schlüssel für die mögliche Kongruenz von Dichtung und Wissen bekommen. Platon hat zwischen beiden einen Bruch gesehen, wie Heinz Schlaffer an dem Dialog Ion nachweist.240 Zwischen der schriftlichen Wiederholbarkeit, die der Wissenschaft dient, und der mündlichen Einmaligkeit, die der dichterischen Kunst zugrunde liegt, zu vermitteln –: Dazu sollte nach meiner Ansicht eben das Konzept der Performativität beitragen. Auch Jean-Luc Nancy weist auf Platons Dialog Ion hin,241 und zwar im Hinblick auf Heideggers These, dass »[…] das Hermeneutische nicht erst das Auslegen, sondern 235
Iser (1976), S. 314. Zur Betrachtung der Fiktion in der Entwicklung der Literaturtheorie von der phänomenologischen zur rezeptionsästhetischen Prägung s. den Exkurs zu diesem Kapitel. 236 Bucher, S. 42, 48 ff. 237 Birkenhauer, in: Fischer-Lichte / Kolesch / Warstat, S. 109. 238 Fischer-Lichte, S. 34. 239 Iser (1993), in Iser, S. 485. 240 Schlaffer, S. 11 ff., 234 ff. 241 Nancy, S. 55 ff.
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vordem schon das Bringen von Botschaft und Kunde« bedeute.242 Nancys eigene These: »L’ hermeneia est une mimesis« besagt: Wenn der Rhapsode als Hermeneut einen Dichter interpretiert, deklamiert er im Enthusiasmus dessen Logos und setzt ihn in Szene.243 Zwischen Logos und Mimus, die in der früheren Theaterwissenschaft in polare Beziehung gesetzt wurden,244 kann auch unter dieser Perspektive vermittelt werden. Bevor wir aber damit zusammenhängenden Themen bei Kraus nachspüren, werfen wir einen Blick auf die Situation der Satireforschung. b) Probleme der Satire-Auffassungen im Zusammenhang mit der Mimesis In der bisherigen Forschung hat man zur Frage des Wirklichkeitsbezugs bei der Krausschen Satire noch keine befriedigende Antwort gefunden. Joachim Stephan z. B. beruft sich auf Schillers Theorie von der »ethische[n]« Legitimation des Satirikers: Wesentliche Attribute von dessen Kunst seien »der absolute Wille zur Vernichtung« und »der unausweichliche Zwang dazu«.245 Um seine These am Beispiel der Krausschen Satire zu erhärten, bezieht sich Stephan allerdings immer wieder erneut auf Kraus’ eigenen, quasi theologisch überspitzten Vergleich zwischen dem künstlerischen und göttlichen Schaffen, und bei diesem dem Autor unkritischen Argument fehlt fast gänzlich eine detaillierte Überlegung zu jenem ästhetischen Thema der Autonomie der Kunst im Fall der Satire, mit dem sich sowohl Schiller als auch Kraus beschäftigt haben. Ein ähnlicher Sachverhalt ist auch bei Volker Bohn zu beobachten, wenn er die seit Lichtenberg verbreitete Integration der Satire ins Juristische zustimmend wiederholt.246 Auch Michael Naumann neigt offenbar dazu, das Klischee vom »Abbau einer verkehrten Welt« in der Krausschen Satire zu übernehmen.247 Umgekehrt weist Kurt Krolop auf die Menippeische Satire mit ihrem »proteische[n] Formenreichtum« als eine Vorläuferin von Kraus’ Satire hin,248 und nach Christian Wagenknecht zeigt Kraus’ »magischer« Gebrauch von Wortspielen, dass dieser »[…] wie kaum ein zweiter, den unser Jahrhundert kennt, das archaische Erbe der Satire verwalt[e]«.249 Helmut Arntzen versucht, Kraus’ Satire von dessen »Glauben an die Sprache« herzuleiten, der es diesem ermöglicht habe, »auf das tote, das ›gedruckte‹ Wort, den entleerten Begriff, die zur Unwahrheit der Phrase gedrängte Sprache« abzuheben, um »[…] ex 242
Heidegger (1985), in: Herrmann, S. 115. Nancy, S. 56, 70. 244 Kutscher, in: Klier, S. 102. 245 Stephan, S. 20 f. 246 Bohn, S. 67 ff. 247 Naumann, S. 10. Hier ist die Formulierung von Klaus Lazarowicz umgewendet, es gehe bei der Satire um den »künstlerische[n] Aufbau einer verkehrten Welt«. – s. dazu Lazarowicz, S. 312. 248 Krolop, in: Krolop, S. 60. 249 Wagenknecht (1975), S. 166. 243
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C. »Geschriebene Schauspielkunst« – Satire, Performativ
negativo die Wahrheit von Sprache, Geist als Sprachgeist erfahren« zu lassen.250 Diese Beiträge eröffnen zwar unterschiedliche Perspektiven, um die Eigenart der Krausschen Satire zu erfassen, können jedoch z. B. nicht erklären, wieso er nicht in Heine, sondern in Nestroy sein Vorbild gesehen hat. Dagegen sind es neuere Forschungen zur Satire, besonders auch zur nichtdeutschen, in denen das Thema ›Mimesis‹ bei der Satire bzw. ihr Wirklichkeitsbezug noch genauer präzisiert worden ist. Als Vorläufer hat Ulrich Gaier das »[z]eitlos[e] Grundcharakteristikum der Satire« in ihrer »Auseinandersetzung mit einem unmittelbar gegebenen Wirklichen« gefunden, die durch verschiedene Schreibarten seitens des Autors sowie ihre »Rückübersetzung in die gemeinte Wirklichkeit« seitens des Lesers ermöglicht werde, wie das Beispiel der »Sprachmimik« bei Kraus zeige.251 Jörg Schönert thematisiert dann explizit die »satirisch[e] Mimesis« bzw. »mimetisch[e] Satire« im »fiktiven Bereich«, in der »die Sprache der Figuren, deren Rolle der Satiriker über[nehme], quasi über ihre Köpfe hinweg manipuliert und ins Zweideutige verkehrt« werde.252 Während zwar die Elemente dieses Stils gleichermaßen im Humor, in der Ironie und auch im Grotesken erschienen, sei die »satirische Situation« doch der Satire eigen, in der es um einen normbezüglichen Konsensus gehe, den der Satiriker hinsichtlich seines Objekts mit dem Publikum bilde.253 Solch ein Blickpunkt, unter dem ein kommunikatives Moment der Satire zum Vorschein kommt, findet sich auch bei Klaus W. Hemper, der die Satire als »funktionalisierte […] Ästhetik zum Ausdruck einer auf Wirkliches negativ und implizierend zielenden Tendenz« bestimmt und, wohlgemerkt, ihren »grundsätzlich amimetische[n] Charakter« betont, weil hier die Intentionalität der Sprache potenziert sei, indem »[…] das Ästhetische seinerseits wiederum nicht Zielpunkt, sondern über sich selbst hinausweisende Funktion« sei.254 Diese Hervorhebung des »amimetischen« Aspekts der Satire, d. h. ihrer »[…] Verzerrung, Übertreibung eines tatsächlich Existenten in der Absicht, gegen dieses anzukämpfen«,255 hat das »pragmatisch[e] Satireverständnis«256 seit Gaier immer deutlicher geprägt, an das sich Wolfgang Weiß und Andreas Mahler angeschlossen haben. Nach Weiß besteht die satirische Schreibweise darin, dass sie in einer bestimmten, vom Konsensus zwischen Satiriker und Publikum abhängigen »Sprechsituation« fundiert sei und sich bei ihrer Aktualisierung innerhalb des literarischen Kommunikationssystems »in parasitärer Weise des vorhandenen literarischen Formensubstrats« bediene.257 Diese Ansicht ist weiterhin von Mahler sprachpragmatisch vertreten worden: Das Satirische erscheint hier als »[…] eine Konversationsmaxi 250
Arntzen (1971), in: Arntzen, S. 205. Gaier, S. 346, 422 f., 429 ff. 252 Schönert, S. 16 f. 253 Schönert, S. 28 ff. 254 Hempfer, S. 34. 255 Hempfer, S. 85. 256 Kämmerer, S. 1. 257 Weiß, in: Weiß, S. 14 f. 251
II. Zur Herkunft der Satire aus der Theaterpraxis
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men absichtlich verletzende, unaufrichtige, aber in ihrer Unaufrichtigkeit vom Hörer gleichwohl durchschaute Sprechhandlung, als eine sekundäre Indienstnahme vorgegebener Sprachhandlungsmuster«.258 Von diesen Standpunkten aus kommt schließlich ein Kommunikationsmodell für die literarische Satire in Sicht, das sich nach Kämmerer so bestimmen lässt: Das »[…] Satirische ist eine indirekte Kommunikationsform zwischen Satiriker und intendiertem Leser zum Transport einer negativen, aggressiven Botschaft über eine textexterne Lebenswirklichkeit«.259 Der so überblickte pragmatische Ansatz zur Satire hat zutage gebracht, welche sprechakttheoretische Problematik hinter dem Thema der Mimesis im Fall der Satire steckt. Gleichzeitig ist jedoch auch offensichtlich, dass dieses Modell noch immer in der einfachen Dichotomie zwischen »vorhanden-konventionell gültig« und »parasitär-unrichtig« befangen ist, was darauf hinausläuft, dass das ganze Argument auf der Ebene der bloßen Semiotik bzw. des Informativen260 verläuft. Im Gegensatz dazu unterstreicht Kraus die Autonomie des Literarischen, wenn er schreibt: »Die Realität kann nie in die künstlerische Gestaltung eingreifen« (F 347 / 48, 27). Wenn es sich überdies beim pragmatischen Satireverständnis um »Konsensus« bzw. »Intention« der an der satirischen Kommunikation Beteiligten handelt, liegt es Kraus eben am Dissens bzw. Intentionsmisslingen: Das Verständnis meiner Arbeit ist erschwert durch die Kenntnis meines Stoffes. Daß das, was da ist, erst erfunden werden muß und daß es sich lohnt, es zu erfinden, sehen sie nicht ein. Und auch nicht, daß ein Satiriker, dem die Personen so vorhanden sind, als hätte er sie erfunden, mehr Kraft braucht, als der, der die Personen so erfindet, als wären sie vorhanden. (Bd. 8, 322)
Indem hier Kraus den Satiriker und die sonstigen Sprachkünstler, die einfach nur fiktionale Werke schaffen, in einer chiastischen Verschränkung vergleicht, thematisiert er die »Kraft«, die nie auf rein sprachlich-semantische Ebene reduzierbar zu sein scheint. Hingewiesen wird vielmehr auf einen Zusammenhang mit dem Schauspielerischen, wenn Kraus eine sinngemäß vergleichbar paradoxe Wendung im Hinblick auf Nestroys Schreibweise gebraucht: Nestroy bezieht den Stoff von dort, wo er kaum mehr als Stoff war, erfindet das Gefundene, und seine Leistung wäre auch dann noch erheblich, wenn sie nur im Neubau der Handlung und im Wirbel der nachgeschaffenen Situationen bestünde, also nur in der willkommenen Gelegenheit, die Welt zu unterhalten, und nicht auch im freiwilligen Zwang, die Welt zu betrachten. (Bd. 4, 225 f.)
Hier wird ein Prozess der Kunst-Rezeption, der etwa mit dem Fall Marcel Duchampscher Readymades vergleichbar ist, beschrieben. Bei dessen berühmten Fountain z. B. handelt es sich in stofflicher Hinsicht nur um ein Urinal mit einer 258
Mahler, S. 43. Kämmerer / Lindemann, S. 37. 260 Z. B. bestimmt Hempfer, dem Max Benseschen Begriff »ästhetische Information« verpflichtet, die »Ästhetik« als eine Angelegenheit, die »[…] die semantisch-syntaktische Regelinformation durch eine Zusatzinformation bereicher[e]«. – s. dazu Hempfer, S. 34. 259
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C. »Geschriebene Schauspielkunst« – Satire, Performativ
erdachten Signatur »R. Mutt«. Dieses in den Rahmen der ›Kunst‹ umgesetzte Alltagsobjekt wirkt zwar komisch-satirisch, erschüttert aber darüber hinaus die normale »Welt«-Sicht, zu der nicht nur die Unterscheidung zwischen Kunst und NichtKunst gehört, und motiviert dadurch eben »im freiwilligen Zwang« dazu, die Welt von einem ganz neuen Gesichtspunkt aus zu betrachten. Während das von Kämmerer so genannte »Kommunikationsmodell für literarische Satire« auf einem semantisch schon anerkannten Zeichensystem beruht, handelt es sich bei solch einer dadaistischen concept art, die als eine Vorläuferin der Performance-Kunst erachtet werden kann, um die Geste eines zitierenden Zeigens, mit der man versucht, das Selbstverständliche wieder entdecken zu lassen. Beim Nestroyschen Schauspiel können wir annehmen, dass derartige Gesten durch Mitwirkung eines agierenden Körpers noch effektiver zu einer Frühform der performativen Metakunst beitragen konnten. In dieser Hinsicht lohnt es sich zu berücksichtigen, dass nicht nur die Mimesis in ihrem engen Zusammenhang mit dem Mimus, sondern auch das Komische261 als mit einer körperlichen Ebene verbunden gilt. Außerdem bestimmt Stierle das Bewegungsprinzip von Nestroys Komödie als das des Vaudevilles, das er so charakterisiert: Gerade beim Vaudeville hängt alles von der Aufführung und davon ab, wie es dem Schauspieler gelingt, die komischen Leerstellen mit seinem Spielen zu besetzen. Was schon für die klassische Komödie, sehr viel mehr als für die Tragödie gilt, daß nämlich erst die Aufführung und die durch sie hinzukommende Sinnlichkeit der Erscheinung die Komödie vollendet, gilt für das Vaudeville in gesteigertem Maße.262
Damit vergleichen läßt sich die Ansicht Isers, dass das Komische womöglich »[…] durch semantische Bestimmungen gar nicht einzufangen« sei und es sich empfehle, die »[…] Konstellation des Komischen weniger von ihren Positionen, sondern mehr von dem Geschehenscharakter her zu denken, der sich durch die aufeinander bezogenen Positionen er[gebe]«.263 Natürlich müssen wir hier in Betracht ziehen, dass der Satire einerseits auch die Gelegenheit zugeschrieben wird, bei der das »ridiculum der Lebenswelt ohne die Sublimierung des Komischen in die Sphäre der Kunst gebracht [werde]«.264 Andrerseits wird aber ihre Spezifik daran erkannt, dass das Komische der Satire an den Darstellungsprozess gebunden ist, durch den der Rezipient zur Aktualisierung der Relation zwischen Gemeintem und Dargestelltem »als einer sozusagen emphatischen« genötigt wird.265 Demnach wird der Zusammenhang der Satire mit dem Komischen ihren mimetischen bzw. amimetischen Wirklichkeitsbezug unter einem anderen Gesichtspunkt erhellen. 261
Mit dem »Komischen« ist hier jene allgemeine Eigenschaft der »Komik« gemeint, die durch verschiedene Gegenstände, Ereignisse und Sachverhalte die Wirkung des Lachens erzeugt und die Unterkategorien wie Humor und Witz, Ironie und Satire umfasst. Vgl. Kablitz, in Fricke, S. 289. 262 Stierle, in: Preisendanz / Warning, S. 262 f. 263 Iser, in: Preisendanz / Warning, S. 399. Es sei eine Semantik des Komischen, die »immer von den Positionen her denkt, durch die Konstellationen des Komischen entstehen.« 264 Jauß, in: Preisendanz / Warning, S. 370. 265 Preisendanz, in: Preisendanz / Warning, S. 413.
Exkurs: Performativität und das Problem der Fiktionalität
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Ein Anhaltspunkt für diese Aufgabe ist den Betrachtungen über die Fiktion zu entnehmen, unter deren Kategorie in der modernen Literaturwissenschaft die Probleme der Mimesis behandelt worden sind.266 Indem sich z. B. Klaus Schwind auf die strukturalistisch orientierte Kunstsoziologie von Jan Mukařovský sowie die Poetik von Roman Jakobson beruft, erklärt er die Satire für ›polyfunktional‹, und zwar mit folgender Begründung: Wenn am ästhetischen Zeichen kommunikative und referentielle Funktionen beteiligt sein können, kann das Verhältnis ›Wirklichkeit vs. Fiktion‹ als »Faktor« der Struktur des ästhetischen Textes wirken; besitzen in der Satire die »unmittelbaren« Funktionen zunächst eine semantische Eigenständigkeit mit Bezug auf das satirische Objekt, kann dieses dann durch die ästhetische Funktion gewissermaßen sekundär zum Bestandteil des »mittelbaren Objekts« werden, indem der Text auch eine eigenständige ästhetische ›Wirklichkeit‹ konstituiert, welche jetzt die »Wirklichkeit als Ganzes« repräsentieren kann.267
Hier scheint jedoch das Argument umso schwerer verständlich zu sein, als auf die Problematik des Performativen kaum Rücksicht genommen wird. Ein möglicher Grund dafür mag sein, dass der Strukturalismus Mukařovskýs von Karl Bühlers Sprachtheorie beeinflusst ist, dessen früher Terminus »Sprechakt«268 jedoch nicht von ihm übernommen oder gar weiterentwickelt wurde. Wenden wir uns einem weiteren Aspekt der Performativität zu, unter dem das Moment der Einmaligkeit noch deutlicher wird.
Exkurs: Performativität und das Problem der Fiktionalität In heutigen phänomenologisch ausgerichteten Untersuchungen zur dramatischen Literatur liegt der Schwerpunkt auf einer Betrachtung der Relation zwischen Sprache und Fiktionalität, anscheinend parallel zu Kraus’ Überprüfung des Kunstwertes der Satire. Die Begriffe Fiktion und fiktiv, die »gemeinhin auch in der Literaturwissenschaft in einem mehr oder weniger ungefähren Sinne, etwa dem des Erfundenen, verstanden« werden, stammen vom lateinischen Verb ›fingere‹, das »[…] in seinen neusprachlichen Formen ausschließlich die Bedeutung: fälschlich vorgeben, simulieren, imitieren u. ä. bewahrt« und von dessen Nomenform ›fictio‹ doch Wörter wie ›fiktiv‹ mit der meliorativen Bedeutung der Funktion des schöpferischen Bildens abgeleitet wurden.269 Die dramatische Fiktion unterscheide sich nun von der epischen durch ihre Konstruiertheit aus den Gesprächen der Personen und ermögliche es, »den Fiktionscharakter der fiktionalen Dichtung in einem noch höheren 266
Erhart, in: Fricke, S. 596. Schwind, S. 42 f. 268 Bühler, S. 48 ff. 269 Hamburger, S. 53. 267
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C. »Geschriebene Schauspielkunst« – Satire, Performativ
Intensitätsgrad« zur Erscheinung zu bringen als die epische, und zwar durch ihre Eigenschaft, aufführbar zu sein.270 Dieser eigenen Stellungnahme setzt Käte Hamburger den Versuch von Roman Ingarden kritisch entgegen,271 die »wesensmäßige Struktur des literarischen Werks« als »ein aus mehreren heterogenen Schichten aufgebautes Gebilde« zu definieren.272 Denn bei Ingarden handle es sich zwar auch um sprachbezügliche Probleme, aber er schreibe den »Behauptungssätzen in literarischen Werken« bloß »quasi-urteilsmäßige[n] Charakter« zu, dem sich ihr Vermögen verdanke, »[…] die Illusion der Realität in niedrigerem oder höherem Grade hervorzurufen«, und lasse diese Bestimmung auch für das Schauspiel als »Grenzfall« zwischen dem rein und dem nicht rein literarischen Werk gelten, ohne die Beziehung der Dichtung zur Wirklichkeit weiter zu verfolgen.273 Schließlich bleibt jedoch bei beiden Theoretikern die Abgrenzung zwischen der Fiktion und der Nicht-Fiktion selbst unangezweifelt. Es ist eben dieser Punkt, den man unter Berufung auf die Errungenschaften der Sprechakttheorie Austins überprüft hat. Beim ersten Versuch von Searle wurde jedoch dieselbe Dichotomie tendenziell noch beibehalten, nämlich zwischen den vertikalen Konventionen der Alltagssprache, die »[…] Sätze an die Welt heften«, und den horizontalen Konventionen des fiktiven Diskurses, die »[…] den Diskurs gleichsam von der Welt ablösen«.274 Radikaler fällt die literaturtheoretische Anwendung der Sprechakttheorie bei Richard Ohmann aus. Dieser definiert das literarische Werk als einen Diskurs, in dem sich die illokutionäre Macht der Sprache mimetisch auswirke.275 Diese erneute Charakterisierung der literarischen Mimesis wurde dazu vorgenommen, den dynamischen, sich der politischen Aktion in der realen Welt dienlich machenden Aspekt der Literatur zu zeigen, wobei die dramatische Literatur eine vorbildliche Stellung einnimmt.276 Damit vergleichbar ist der Versuch von Ralf Cornelissen, »ein wesentliches Bewegungsgesetz des Dramas in der Ausschöpfung des Poten tials der Sprechhandlungen und seiner immer neuen exemplarischen Verkörperungen« situiert zu sehen.277 Solchen Theorien aber, von denen der Primat der Nicht 270
Hamburger, S. 163 f., 158. Hamburger, S. 24 ff. 272 Ingarden, S. 25. Gemeint ist mit diesen »Schichten«: 1) die Schicht der Wortlaute und der auf ihnen sich aufbauenden Lautgebilde höherer Stufe, 2) die Schicht der Bedeutungseinheiten verschiedener Stufe, 3) die Schicht der mannigfaltigen schematischen Ansichten und Ansicht-Kontinuen und -Reihen, 4) die Schicht der dargestellten Gegenständlichkeiten und ihrer Schicksale. 273 Ingarden, S. 177, 182, 343. 274 Searle, S. 124. 275 Ohmann, in: Philosophy & Rhetoric, S. 14. Dort heißt es: »Thus one might say that the literary work is mimetic in an extended sense also: it ›imitates‹, not only an action (Aristotle’s term), but an indefinitely detailed imaginary setting for its quasi-speech-acts.« 276 Ohmann, in: Chatman, S. 89, 102. 277 Cornelissen, S. 101. Das hier zitierte Wort kommt eigentlich von folgendem Aufsatz her: Stierle, Karlheinz: Über den Zusammenhang von Handlungstheorie und Handlungspoetik, in: 271
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Fiktion vor der Fiktion schließlich unberührt bleibt, standen zwei Denkrichtungen kritisch entgegen. Im Bereich der dekonstruktiven Literaturkritik hat nämlich Paul de Man gegen die Ohmannsche Einsetzung der Sprechakttheorie eingewandt, dass sie eine »Kontinuität zwischen dem illokutiven Bereich der Grammatik und dem perlokutiven Bereich der Rhetorik« unterstelle. Damit verstoße sie gegen seine eigene These, die Literatur könne als Domäne der rhetorischen Macht der Sprache privilegiert werden.278 Diese Ansicht über die Literatur ließ überdies Shoshana Felman sogar für die Texte von Austin selbst gelten, um zu behaupten, dass seine fundamentale Geste wie die Don Juans nicht im Kriterium der Wahrheit, sondern in dem der Befriedigung bestehe und insofern als literarisch betrachtet werden könne.279 Während hier eine literaturkritische Radikalisierung der Sprechakttheorie lediglich autorbezüglich geschieht und es zur »skandalösen« Umcharakterisierung von Austin bringt, hat nun Wolfgang Iser als eine Errungenschaft Austins in den Bereich der Rezeptionsästhetik das Prinzip eingeführt, bei der Analyse des literarischen Textes »die Erkenntnisprämisse«, »durch die Fiktion als das NichtWirkliche bestimmt« sei, aufzugeben, und so einen »Zugang zur Funktion der Fiktion« zu gewinnen, »die sich in der Vermittlung von Subjekt und Wirklichkeit erfüll[e]«.280 Bei dieser leserbezüglichen Betrachtung über die Literatur handelt es sich um »die Qualität der Performanz« der fiktionalen Rede, deren Sprachhabitus nach der Ansicht Isers Ingarden, Austin und Searle nicht als Deviation, sondern versehentlich als bloße Imitation der »gebrauchssprachlichen Verwendung der Rede« qualifiziert hätten.281 Fiktionale Rede wäre demnach autoreflexiv und ließe sich als Repräsentation von sprachlicher Äußerung bezeichnen, denn mit dieser hat sie die Symbolverwendung, jedoch nicht den empirischen Objektbezug gemeinsam. Wenn sie aber Repräsentation von sprachlicher Äußerung ist, so vermag sie das zur Darstellung zu bringen, was sprachliche Äußerung ist bzw. leistet. […] Der autoreflexive Charakter fiktionaler Rede stellt daher Auffassungs bedingungen für die Vorstellung bereit, die dann einen imaginären Gegenstand zu erzeugen vermag. Imaginär ist dieser Gegenstand insofern, als er nicht gegeben ist, sondern in Poetica 8, 1976, 324. Keir Elam führt die Theorie Austins in seine semiotische Betrachtung über das Drama und allgemein das Theater ein; s. Elam, S. 156 ff. 278 de Man (1988), in: de Man, S. 37 ff. Im Gegensatz zu de Man verteidigt Searle die Ohmannsche Ansicht, die Fiktion sei die Quasi-Ausführung des illokutionären Aktes der Behauptung ohne tarnende Absicht; s. dazu Searle, in: New Literary History, S. 326 f. 279 Felman, S. 61. Die Nähe des Austinschen Duktus zum Modell der dramatischen Fiktion werde dadurch indirekter Weise gezeigt, dass sein Begriff »force« im Deutschen als »Rolle« übersetzt ist; s. Ishida, in: Forum Modernes Theater, S. 3 ff. 280 Iser (1976), S. 87 f. Der Unterschied zwischen Iser und de Man wird von Uwe Wirth so erklärt: »Anders als Iser möchte de Man den perlokutionären Effekt gerade nicht als auf den Leser gerichtetes Lenkungspotential verstanden wissen, sondern als einen persuasiven Effekt, der dadurch zustande kommt, daß die grammatische Form einer Äußerung ihre rhetorische Wirksamkeit dementiert. […] Der rhetorische Effekt resultiert aus dem Spannungsverhältnis, in dem illokutionäre und perlokutionäre Kräfte zueinander stehen. An die Stelle der Domestizierung des Perlokutionären bei Iser tritt bei de Man die Kontaminierung des Illokutionären […].« – s. dazu Wirth, in: Wirth, S. 30 f. 281 Iser (1976), S. 103.
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C. »Geschriebene Schauspielkunst« – Satire, Performativ
der Vorstellung des Empfängers durch die Symbolorganisation des Textes hervorgebracht werden kann.282
Diese Perspektive präzisiert Iser später im Rahmen seiner ›literarischen Anthropologie‹ weiter, indem er die Mimesis »prozessual« versteht.283 Indem er also die alt bekannte Frage erörtert, was denn bei der Mimesis »nachgeahmt« werde, weist er auf die paradoxe Möglichkeit hin, dass »am Ende die Mimesis das Objekt ihrer Nachahmung selbst erzeug[e]«.284 Mit Bezugnahme auf Blumenberg, Gombrich, Ricœur, Adorno u. a. stellt er dann seine These auf: »Je mehr Mimesis als Verfahren analysiert wird, desto unabweisbarer drängt sich der performative Charakter der Darstellung auf.« In diesem »Spiel« der Performanz gegen die Mimesis behalte »die Performanz die Oberhand«, »[…] weil es hier um die Vergegenwärtigung eines seiner Natur nach Nicht-Erscheinenden im Erscheinenden geh[e], dessen Gegenstandsunfähigkeit niemals Vorgabe einer Nachahmung werden [könne]«.285 Der Versuch, die Literatur als mimetischen Sprechakt anzusehen, läuft in dieser Weise bei Iser darauf hinaus, die »Performativität der Literatur« zu thematisieren.286
III. Zur performativen Umgestaltung der Satire im Spannungsfeld der Aisthesis 1. Die Sprache als Ideal. Kraus’ Wiederbelebung des aisthetischen Moments der Satire a) Gegen die Ästhetisierung der Satire. Das Problem der Aggressivität bei Kraus Bis zum letzten Abschnitt haben wir den Prozess verfolgt, in dem Kraus’ Kritik an der Wiener Presse des Fin de siècle schließlich zum Konzept der Satire als einer Art selbstbezüglicher, nämlich autonomer Sprachkunst geführt hat. Auf diese Weise hat sich »seine »eigene intensive Form des Ästhetizismus« verwirklicht.287 Dies bedeutet aber nicht, dass die von Harald Kämmerer übernommene Ansicht über den »amimetischen Charakter der Satire«288 für Kraus ohne weiteres gilt. Denn die Satire gibt auch bei Kraus zwar nicht unmittelbar die Wirklichkeit wieder, sondern verweist auf ihre eigenen Themen. Diese Themen betreffen jedoch im Fall von 282
Iser (1976), S. 105 f. Iser (1993), in: Iser, S. 494. 284 Iser (1993), in: Iser, S. 492. 285 Iser (1993), in: Iser, S. 495 ff. 286 Bucher, S. 52. 287 Carr, in: Carr / Sagara, S. 104; s. dazu A. I. 288 Kämmerer / Lindemann, S. 31. 283
III. Zur performativen Umgestaltung der Satire
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Kraus vor allem selbstbezüglich die Sprache als solche. Ein daraus resultierendes Ergebnis ist doch die mimetische Schreibweise im Sinne einer Mimus-Kunst, bei der es sich primär weniger um den semantischen Inhalt als um die Materialität des sprachlichen Mediums handelt, mit der seine »Spracherotik« eng verbunden ist.289 Betrachten wir nun dieses Thema unter einem anderen Gesichtspunkt: Auf welche Weise setzte sich Kraus auseinander mit der Aporie, wegen derer durch die Geschichte der Satire hindurch ihr Kunstwert immer erneut in Frage gestellt wurde? Das Problem greift auf die schon auf die frühhumanistische Zeit datierende Polarisierung der römischen Satiriker Horaz und Juvenal zurück. Es wurden unterschieden eine Satire, bei der es auf den Primat der Form sowie die darauf beruhende Fiktionalität ankommt, und eine andere, bei der die Aggressivität der auf das Wirkliche gerichteten Verspottung in den Vordergrund rückt.290 Diese Zweiteilung übernimmt Schiller in seiner einflussreichen Theorie über die Satire, die er in seiner Schrift Über naive und sentimentalische Dichtung entwickelt hat. Während sich der »naive« Dichter durch eine »möglichst vollständig[e] Nachahmung des Wirklichen« zu erkennen gebe, mache die »Darstellung des Ideals« den »sentimentalischen«, d. h. »modernen« Dichter aus. Dieser verfahre dann satirisch, »wenn er die Entfernung von der Natur und den Widerspruch der Wirklichkeit mit dem Ideale […] zu seinem Gegenstande mach[e]«.291 Die Satire selbst habe zwei Arten, nämlich zum einen die strafende bzw. pathetische, die im Gebiet des Willens verweile, zum anderen die scherzhafte bzw. lachende, die im Gebiet des Verstandes verweile.292 Die Schwierigkeit der Satire liege nun darin, dass bei der ersteren »die poetische Form«, die »in der Freiheit des Spiels« bestehe, leicht verletzt und bei der letzteren der »poetische[ ] Gehalt«, der »immer das Unendliche sein« müsse, leicht verfehlt werden könne.293 Diese Aporie versucht Schiller zu überwinden, indem er unter Berufung auf das Grundschema der Kantschen Ästhetik behauptet: »Die strafende Satyre erlangt poetische Freiheit, indem sie ins Erhabene übergeht, die lachende Satyre erhält poetischen Gehalt, indem sie ihren Gegenstand mit Schönheit behandelt.«294 Diese Theorie Schillers kritisiert jedoch Ulrich Gaier, der behauptet, in Werken wie den Sermones (Satiren, 35? – 30? v. Chr.) des Horaz, Erasmus’ Lob der Torheit (1511) oder Goethes Reineke Fuchs (1794) spiele eher »[…] die unmittelbare Bedrohlichkeit des Wirklichen die konstitutive Rolle, indem sie sprachlich vernichtet werden [müsse], ohne daß das Ideal unbedingt für diese Vernichtung nötig wäre«.295 289
s. dazu B. III. 1. a). Brummack, in: DVLG, S. 311 ff. 291 Schiller (1992), in: Janz, S. 734, 740. Die sentimentalische Dichtung hat nach Schiller eine weitere Unterkategorie, nämlich die der elegischen. Bei dieser wolle der Dichter nicht die Wirklichkeit als einen Gegenstand der Abneigung, sondern das Ideal als einen Gegenstand der Zuneigung ausführen (S. 740). 292 Schiller (1992), in: Janz, S. 740. 293 Schiller (1992), in: Janz, S. 741. 294 Schiller (1992), in: Janz, S. 741. 295 Gaier, S. 4. 290
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Gegen diese antiklassische Auffassung der Satire, bei der Wirklichkeitsbezug sowie Angriffscharakter unterstrichen werden, verteidigt Jürgen Hein Schillers Position, indem er vom wirkungsästhetischen Standpunkt aus der Satire, deren poetischer Gehalt im Spiel liege, die Aufgabe zuschreibt, »als Darstellungselement der Komödie im Zuschauer die ›Freiheit des Gemüts‹ hervorzubringen«: »Durch das Spiel der Komödie wird die Welt zwar nicht gebessert, sie wird aber als eine verbesserungsfähige, zumindest aber beherrschbare Welt dargestellt.«296 Für unser Interesse ist bemerkenswert, dass Hein Nestroy als Vertreter der »scherzhaften Satire« in diesem Sinne betrachtet, wobei jedoch das Problem der strafenden Satire außer acht gelassen wird. Aus diesen älteren und neueren Diskussionen über die Satire können wir letztlich schließen, dass deren Aporie im Grunde von jenem aggressiven Zug herrührt, der mit dem geradezu richterlichen Anspruch des berechtigten Strafens sowie einer Ausübung von Gewalt gegen wirkliche Gewalt zutage tritt. Im Nestroy-Essay erörtert Kraus auch den Kunstwert der Satire, ohne explizit auf das Problem der strafenden Satire einzugehen. Da findet sich z. B. die Stelle, an der er durch ein Zitat aus Nestroys Posse Der Unbedeutende (1846) erläutert, »[…] was Lyrik ist«: Ein »Drinnen von einem Draußen geholt, eine volle Einheit. Die angeschaute Realität ins Gefühl aufgenommen, nicht befühlt, bis sie zum Gefühl passe« (Bd. 4, 228). Hier können wir Kraus’ Theorie über den Stil ästhetisch weiter ausgeführt finden. Dabei handelt es sich nicht um eine bloße Beschreibung schon vorliegender Natur, sondern um ein Wechselspiel zwischen dem subjektiven und dem objektiven Bereich. In jeder Posse Nestroys, so behauptet Kraus ferner, ließen sich »Stellen nachweisen, wo die rein dichterische Führung des Gedankens durch den dicksten Stoff, wo mehr als der Geist: die Vergeistigung sichtbar [werde]« (Bd. 4, 228). Bei diesem eigenartigen Vergleich der Satire mit der lyrischen Dichtung wird jener sogar der Vorrang eingeräumt: Je gröber die Materie, umso eindringlicher der Prozeß. An der Satire ist der sprachliche Anspruch unverdächtiger zu erweisen, an ihr ist der Betrug schwerer als an jener Lyrik, die sich die Sterne nicht erst erwirbt und der die Ferne kein Weg ist, sondern ein Reim. Die Satire ist so recht die Lyrik des Hindernisses, reich entschädigt dafür, daß sie das Hindernis der Lyrik ist. Und wie hat sie beides zusammen: vom Ideal das ganze Ideal und dazu die Ferne! (Bd. 4, 228)
Hier ist jedoch zu beachten, dass Kraus mit Begriffen wie »Stoff« bzw. »Materie« die von der Sprache bezeichneten Dinge gemeint hat, während diese bei Schiller im Allgemeinen das Medium der Kunst bedeuten.297 Andeutungsweise wird dabei die unvermeidliche Aufgabe der Satire betont, das »Hindernis« der Dinge zu überwinden: Im Gegensatz zu »aller Poeterei, aller Feuilletonlyrik«, deren Methode darin bestehe, »ein passendes Stück Außenwelt« zu suchen, »um eine vor rätige Stimmung abzugeben« (Bd. 4, 228), muss die Satire die Sterne »erst« er 296
Hein, S. 23, 27. s. dazu B. II. 3. a) sowie B. II. 3. b).
297
III. Zur performativen Umgestaltung der Satire
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werben und ihr muss die Ferne ein »Weg« sein. Der Satiriker darf nämlich mit dem schön klingenden Reim, den etwa die »Sterne« und »die Ferne« darstellen, nicht befriedigt sein, sondern muss sich die Mühe machen, den ganzen »Weg« zu gehen, um die »Sterne« zu erwerben. Von Belang ist der »Prozeß«, die »Sterne«, die mit dem »Ideal« gleichgesetzt werden kann, anzustreben, wozu auch die Aufgabe gehört, den »Betrug« der Lyriker wie Heine, die sich geben, als hätten sie schon die »Sterne« erworben, zu hindern. Mit Stolz wird aber gleichzeitig beteuert, dass sich dieser »Prozeß« für seine Strapaze selbst »reich entschädigt«. So interpretiert, wirft diese Passage ein erhellendes Licht auf die »Ursprung«-Problematik im Epigramm Zwei Läufer (1910), in dem es sich eben um den »Weg« und das »Ziel« handelt. Der »dreiste« Läufer, der »von Nirgendher sein Ziel erwirbt« (Bd. 8, 283), entspricht hier dem Autor der Lyrik, »der die Ferne kein Weg ist«. Dagegen könnte der Satiriker mit dem »bangen« Läufer identifiziert werden, der »stets am Ursprung angelangt« sei, indem er »vom Ursprung kommt und am Wege stirbt« (Bd. 8, 283). Welchen »sprachliche[n] Anspruch« jenes Paradox des Ursprung als unerreichbaren Ziels, das in der chiastischen Charakterisierung der Satire (»die Lyrik des Hindernisses, […] das Hindernis der Lyrik«) nachklingt, impliziert, weist nun folgende Passage auf: Sie [die Satire, Anm. d. Verf.] ist nie polemisch, immer schöpferisch, während die falsche Lyrik nur Jasagerei ist, schnöde Berufung der schon vorhandenen Welt. Wie ist sie die wahre Symbolik, die aus den Zeichen einer gefundenen Häßlichkeit auf eine verlorene Schönheit schließt und kleine Sinnbilder für den Begriff der Welt setzt! (Bd. 4, 228)
Die hier so genannte »falsche Lyrik« ist auf die Schönheit, die in »der schon vorhandenen Welt« als solche anerkannt ist, bzw. auf »eine vorrätige Stimmung« (Bd. 4, 228) angewiesen und bloß dadurch imstande, ihr »Ziel« mühelos zu erreichen. Dieses affirmative Verhalten (»Jasagerei«) muss jedoch als »schnöd« abgelehnt werden, weil dabei der Blick der Leser von der zu beseitigenden »Häßlichkeit« der Welt zu Unrecht abgewendet werden muss. Dagegen scheut die Satire nicht die Mühe, von der »gefundenen Häßlichkeit« als »Zeichen« auszugehen und den weiten Weg zur »verlorene[n] Schönheit« zu betreten, wobei sogar der »Begriff der Welt« durch »kleine Sinnbilder« ersetzt wird. Im Vergleich mit sonstigen Dichtungsarten muss sich die Satire, sprachtheoretisch umgeschrieben, in referenzieller Hinsicht weit stärker auf unliterarische Dinge beziehen und dennoch größere literarische Aufgabe übernehmen, soweit sie zur intentional kontrollierbaren Bedeutung der Dinge auf Distanz geht und die »Sterne«, das Ideal, als ewig unerreichbares Ziel erstrebt.298 Diese verdoppelte Schwierigkeit scheint zu rechtfertigen, die Saitre als »immer schöpferisch« sowie als »die wahre Symbolik« zu schätzen. Hier handelt es sich nämlich um die Kritik an den feuilletonistischen Dichtern mit ihren Phrasen und um das Lob über das »Talent zur Qual« (Bd. 8, 133) ange 298
In den Aphorismen traut Kraus der »Lust an der satirischen Gestaltung von Erlebnissen« (Bd. 8, 131) die Möglichkeit zu, auch den »Sinn« eines alltäglichen »Stoffes«, d. h. eines unliterarischen Referenten, durch die Wirkung der »Form« immer wieder zu erneuern, was die »Verkörperung eines Gedankens« ausmache (Bd. 8, 111).
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C. »Geschriebene Schauspielkunst« – Satire, Performativ
sichts der Unbeherrschbarkeit der Sprache. Der Nestroy-Essay erweist sich eben in diesem Punkt am klarsten als Fortsetzung des Heine-Essays und weist darauf hin, dass es beim »Ursprung« um ein Spannungsfeld zwischen »Weg« und »Ziel« und beim Sterben am Wege um das Scheitern der intentionalen Sprachkontrolle geht. Obwohl Kraus’ Berufung auf »Symbolik« bzw. »Sinnbilder« unter dem Einfluss der klassischen Ästhetik zu stehen scheint, weicht seine Satire-Auffassung demnach doch stark von dieser ab. Sonst hätte ihm nicht ausgerechnet die Nestroysche Sprachsatire als Modell für seine Pressekritik dienen können.299 Richten wir nun unser Augenmerk auf weitere Äußerungen von Kraus zur Satire, so zeigt sich immer deutlicher, dass sie sich keinesfalls auf eine bloße Paraphrase der Schillerschen Theorie reduzieren lassen. So z. B. vermisst er bei Nestroys »Antwort« auf die Zeit »jenen seligen Anreiz, die Rache am Stoff im Genuß der Form zu besiegeln«, den ihr »der mildere Stoß der Zeit« noch versagt habe (Bd. 4, 224) und schätzt ihn als Satiriker hoch ein, er sei »umso schöpferischer, wo er den fremden Stoff zum eigenen Werk erhebt« (Bd. 4, 225). Oder er zitiert Juvenals Wort »Facit indignatio versum (Die Entrüstung schmiedet den Vers)« da, wo es sich in einer Fortsetzung seiner Polemik gegen Harden um die »Rachsucht« bzw. den »Haß« handelt (F 257 / 58, 26). Dabei tritt er für den Zweck ein, irgendeine zeitgenössische Person offenkundig anzugreifen. In diesem Zusammenhang fällt eine paradoxe Formulierung seiner Position im Essay ›Die neue Art des Schimpfens‹ auf, in dem er die Aggressivität seiner Schreibweise in herausfordernder Weise verschärft gelten lässt: Ich schimpfe nicht, ich verstümmle! Nicht um ein Schimpfwort kann es sich handeln, wo eine ernste Sache auf dem Spiele steht. (Bd. 3, 312)
In der Tat scheint er einer gezielten Exekutionslust zu folgen, etwa wenn er neben Harden auch Alfred Kerr, den einflussreichen Theater- und Literaturkritiker in Berlin, verspottet und in der letzten Phase der Auseinandersetzung kommentiert: Es ist mein Verhängnis, daß mir die Leute, die ich umbringen will, unter der Hand sterben. (Bd. 3, 214)300
Bei einer anderen Gelegenheit widerspricht Kraus überdies dem – wie er es nennt – »alte[n] Idiotenglaube[n]«, dass dem Satiriker das Recht zukomme, »die Schwächen des Starken zu geißeln«, und zwar aus dem wiederum provokativen Grund, dass »der Satiriker einer ist, der nur die Schwächen der Schwachen geißel[e] und die der Starken nicht [sehe], weil es solche nicht [gebe], und wenn es sie gäbe, sie ehrfürchtig bedeck[t hätte]« (Bd. 8, 322 f.). Aufgrund dieser Rechtferti 299
Über Kraus und Schiller s. B. II. 3. a), über Kraus und Heine s. B. II. 3. b). Die Konfrontation mit Kerr führte Kraus 1911 in der Serie des Essays ›Der Fall Kerr‹ aus, dessen Untertitel das qualvolle langsame Dahinschwinden des als »Pan« bezeichneten Gegners besagt. Die Titel der einzelnen Essays lauten: ›Der kleine Pan ist tot‹, ›Der kleine Pan röchelt noch‹, ›Der kleine Pan stinkt schon‹ und ›Der kleine Pan stinkt noch‹ (Bd. 3, S. 186 ff.). 300
III. Zur performativen Umgestaltung der Satire
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gung eines unerbittlichen Satirikers, die einen Extremfall der »dichterischen Freiheit«301 darzustellen scheint, schreibt er ihm die Funktion eines echten Kerls zu und betont die zielbewusste Ernsthaftigkeit von dessen Tätigkeit: Daß der Satiriker ein Mann ist, beweist allein schon die satirische Zudringlichkeit, deren er sich selbst zu erwehren hat. Der Satiriker versteht nämlich keinen Spaß. (Bd. 8, 323)
Hier gründet er die Satire auf eine auch gegen sich zerstörerisch wirkende Leidenschaft, mit der er zurechtkommen müsse. Schiller schreibt der strafenden Satire zwar »das wahrhaft poetische Pathos« zu, mit dem »die Wirklichkeit als Mangel dem Ideal als der höchsten Realität gegenüber gestellt« werden solle, wobei auf eine »im Affekte noch bestehend[e] Gemütsfreiheit« Anspruch erhoben wird.302 Bei Kraus jedoch scheint »[…] der Bezug zum Wirklichen jene Abgeschlossenheit und Zwecklosigkeit«, die etwa Kant vom »Kunstschönen« fordere,303 insofern auszuschließen, als er behauptet, der Satiriker verstehe keinen Spaß, er meine es also ganz ernst. Trotz seiner Ansicht über das Zusammenwirken von Pathos und Witz müssen wir doch einräumen, dass er als »Virtuose des Hasses«304 durch solche aphoristisch pointierte Aussagen den Rahmen der ästhetisierten Satire gesprengt hat: ein Charakterzug, der auch seiner heftigen Kritik an Heine zugrundezuliegen scheint. Es muss demnach untersucht werden, unter welcher Perspektive die Aggressivität der Satire bei Kraus mit dem affirmativen Moment des Anspruchs, die Sprache solle sich über die Dinge Gedanken machen (Bd. 4, 230), kompatibel sein kann. In diesem Punkt ist die Ansicht Helmut Arntzens ergänzungsbedürftig, weil er einfach nur thetisch behauptet, das Ideal der Satire im Schillerschen Sinne sei bei Kraus durch das der Sprache ersetzt worden.305 Wir können aber auch die »pragmatische Satiretheorie« außerhalb der Germanistik insofern nicht vorbehaltlos teilen, als dabei das mimetische Moment der Satire tendenziell verneint und trotz der Berufung auf die Sprechakttheorie nur ihre kommunikative Dimension thematisiert wird.306 Wenden wir uns nun solchen Prämissen der Ästhetik zu, derent
301 Mit diesem Begriff, der auch »poetische Lizenz« genannt wird, wird hier »Abänderung historischer Gegebenheiten (Personencharakter, Ereignisfolgen) einer dichterischen Idee zuliebe« (Schweikle, S. 100) gemeint. 302 Schiller (1992), in: Janz, S. 742. 303 Gaier, S. 333. 304 Fricke, S. 125. 305 Arntzen (1971), in: Arntzen, S. 159 ff. In einem neueren Artikel zur Satire behauptet Arntzen, für Schiller sei wie für Kant das moralische Moment an die Subjektivität gebunden, das jedoch – anders als bei dieser – in einer ästhetischen Darstellung durch die gleichzeitige Aktivierung der Sprache in ihren Begriffs- und in ihren metaphorischen Tendenzen objektiviert werde. Arntzen zieht hier die Kraussche Satire freilich nicht in Betracht; s. Arntzen, in: Barck u. a., S. 354 ff. 306 s. dazu Kämmerer, S. 16 ff. Eine außergermanistische Ansicht über die Satire wird hier vor allem von dem Romanisten Klaus W. Hempfer und dem Anglisten Andreas Mahler vertreten, wie sie im vorigen Abschnitt kritisch angeführt wurden.
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C. »Geschriebene Schauspielkunst« – Satire, Performativ
wegen die Satire als literarische Gattung aporetische Züge aufweist, die eben einen weiteren Anhaltspunkt für die Erklärung ihrer performativen Wirkung abgeben. b) Zum literaturhistorischen Hintergrund des Krausschen Entwurfs der Satire als literarischer Form Im vorletzten Abschnitt haben wir Nestroys Einfluss auf Kraus aufgrund der geschichtlichen Verwandtschaft zwischen Satire und Mimus untersucht. Warum hat aber diese Problematik in der bisherigen Forschung im Hintergrund gestanden? Um diese Frage beantworten zu können, müssen wir von der Sachlage ausgehen, dass die Mimesis ihren somatischen Faktor, der in ihrer Beziehung zum Mimus ersichtlich war, in der Poetik der Frühaufklärung eingebüßt hat. Von da an hat sie vor allem »eine sprachliche Darstellung erkannter – innerer oder äußerer – Gegenständlichkeit« bedeutet.307 Dies gilt ebenso der Natur, die nachzuahmen allgemein als Aufgabe der Kunst angesehen wurde, wie der ›Wahrheit‹, die »das oberste Gesetz der Dichtung« darstellte.308 Dabei wurde die Dichtung, wie die damalige Dominanz der von Horaz herkommenden Maxime ut pictura poesis zeigt, der Malerei untergeordnet und ihr als Aufgabe eher als die der Vergnügung (delectare) die der Belehrung (prodesse) zugeteilt, nämlich der »Wahrheits- und Tugendvermittlung« nach vernünftigen Regeln.309 Von Relevanz ist für unser Interesse, dass die Satire, von Gottsched als »ein moralisches Strafgedichte über einreißende Laster« definiert,310 seit dem 17. Jahrhundert zwar ihres eventuell gottlosen Menschenhasses vom christlichen Gesichtspunkt aus verdächtigt wurde und doch auch »als erlaubt oder zumindest als nicht verwerflich« galt, sofern sie »nicht zum Werkzeug der Privatrache« wurde, sondern »sich in den Dienst der Sittenlehre« stellte.311 In der Übergangszeit von der Spätaufklärung zur Romantik wurde ihr Stellenwert im Denken um die Dichtung wiederum einer Modifikation unterzogen. Hier können wir den wichtigsten Schlüssel zur Beantwortung der Frage finden, welcher literarischen Tendenz Kraus sich widersetzt hat. Als Alexander Baumgarten die ›Ästhetik‹ als »Wissenschaft der sinnlichen Erkenntnis« definierte, zielte sie auch auf das Leitbild des »felix aestheticus« als des Menschen, der »in Rezeption und Produktion seine Sinnlichkeit und Wahrnehmungsfähigkeit im Sinne kultivierter Gesellschaftlichkeit und Kommunikation übt und zum schönen Geist (ingenium venustum) weiter ausbildet«.312 Dieses anthropologische Verständnis der Ästhetik, welchem der griechische Begriff Aisthesis im Sinne der sinnlichen 307
Nivelle, S. 12. Nivelle, S. 11. 309 Nivelle, S. 13 f. 310 Gottsched, S. 170. 311 Lazarowicz, S. 22 f. 312 Kliche, in: Weimarer Beiträge, S. 493. 308
III. Zur performativen Umgestaltung der Satire
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Wahrnehmung auch etymologisch zugrunde lag, wurde jedoch im Lauf der Ausarbeitung von Ästhetik als Philosophie der Kunst vornehmlich in Kants Kritik der Urteilskraft (1790) beseitigt: Eine »Austreibung der Aisthesis aus der Ästhetik«313 fand statt, wobei sich die Literatur, ihrer Zugehörigkeit zum Wahren und Guten in der Poetik entgangen, als ›Poesie‹ in der Klassik und der Romantik selbständig machte und sich unter der Herrschaft des Geniebegriffs vorwiegend produktionsästhetisch orientierte. Seitdem habe der Künstler »nicht die Dinge in der Natur, d. h. in der natura naturata«, sondern »die Handlungen der natura naturans, die Operationen der Physis« nachgeahmt. So sei der »ontologisch[e] Mimesisbegriff« entstanden.314 Es ist eben dieser rationalistische Autonomisierungsprozess, durch den die beiden ›mimetischen‹ Künste, Satire sowie Schauspielkunst, im System der Ästhetik marginalisiert wurden. Bei der Bewertung jener markierte Herder eine deutliche Wende, als er im allegorischen Gespräch zwischen ›Kritik und Satyre‹ die Satire im negativen Ton als »Tadlerin«, »Spötterin« und »Höhnerin« ansprach, welcher »der Verstand und die Wahrheit« die Geißel gegeben hätten und der schließlich nur noch die Position als »Nichte« sowie »Dienerin« der Kritik zugewiesen wurde.315 Die Satire geriet auf diese Weise unter den »ästhetisch begründeten Literaturzentrismus«, als dessen Gegenreaktion die Theaterwissenschaft, welche »die theatralische Aufführung als eigenständige Kunst« zum Forschungsobjekt machte,316 sich herausbildete. Obwohl dazwischen Sulzer dem Satiriker eine »sinnliche« Verfahrungsweise genehmigt317 und Schiller daran anschließend mit seiner Theorie von der »Empfindungsweise« des Künstlers »die metaphysische Dignität der Satire« erwiesen hat,318 wurde die Satire von Jean Paul wegen ihrer Bitterkeit und des ihr vorgeworfenen Menschenhasses prinzipiell abgewertet, bis Nestroy im 19. Jahrhundert, in dem nach Arntzen »Humor und Ironie zu bestimmenden Kategorien der Literatur« wurden,319 der Satire zu einem wenn auch eher regional begrenzten Erfolg und Ansehen verholfen hat. Als sich Kraus bei der Nestroy-Feier mit dem »Problem des Satirikers« (F 351 / 53, 42) beschäftigte, scheint er versucht zu haben, die Rationalisierung bzw. Entmimetisierung der Satire sowie der Schauspielkunst derart rückgängig zu machen, dass sie sich auf einer Ebene, wo die sinnliche Wahrnehmung im Zusammenhang mit der Sprachproblematik in Betracht kommt, von Neuem zusammenschließen. Das war ein einzigartiger Versuch, die Satire zu rehabilitieren. Wie erwähnt, behauptet Harald Kämmerer, dass es in der germanistischen Satire-Forschung die problematische Tendenz gegeben habe, die Satire nur ein 313
Kliche, in: Weimarer Beiträge, S. 494 ff. Metscher, in: Barck u. a., S. 645 f. 315 Herder, S. 731, 736, 739. 316 Schramm, in: Barck u. a., S. 232 f. 317 Arntzen (1983), in: Arntzen, S. 292. Sulzer habe die Satire »ein Werk des Geschmacks« genannt (S. 292). 318 Lazarowicz, S. 238. 319 Arntzen, in: Barck u. a., S. 357. 314
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C. »Geschriebene Schauspielkunst« – Satire, Performativ
seitig ästhetisch zu legitimieren und dementsprechend ihre ›negativen‹ Epiphänomene, z. B. »destruktive und persönliche Motive wie Zorn, Haß, Rache«,320 davon fernzuhalten. Als Gegenargument gibt er unter Berufung auf anglistische sowie romanistische Ansätze an, dass auch »die Thematik von Lust und Vergnügen« in der Satiretheorie betrachtet werden kann, wie es schon der sensualistisch gesinnte englische Moralphilosoph Shaftesbury versucht hat.321 So wird hier eine Umorientierung der Satire-Forschung vorgenommen, für die das Stichwort »Rehabilitation der Sinnlichkeit«322 steht. Von diesem Aspekt aus können wir zwar tatsächlich einige bedeutsame, jedoch bisher kaum beachtete Eigenarten der Krausschen Satire thematisieren. Es darf aber nicht übersehen werden, dass bei ihm die Sinnlichkeit nicht von der Sprache getrennt, sondern gerade mitten in ihr Thema wird und eben auf dieser Ebene Sprache überhaupt zum ehrfürchtig zu respektierenden Ideal seiner Satire werden kann. Darüber hinaus geht damit sein eigener Entwurf einer Retheatralisierung des Theaters, der »geschriebenen Schauspielkunst«, einher. Daraus resultiert nun, dass die Schrift als literarisches Medium der Sprache notwendigerweise im engen Zusammenhang mit dem hermeneutischen Verfahren in den thematischen Vordergrund rückt und dementsprechend die Schillersche Gegenüberstellung des antimimetischen »sentimentalischen« und des »naiven« Dichters überprüft werden muss. Eben dies stellt ein zentrales Thema in der philosophischen Hermeneutik HansGeorg Gadamers dar. Er hat versucht, zu zeigen, dass »Verstehen niemals ein subjektives Verhalten zu einem gegebenen ›Gegenstande‹ ist, sondern zur Wirkungsgeschichte, und das heißt: zum Sein dessen gehört, was verstanden wird«, und »die Sprachlichkeit als die Vollzugsform des Verstehens« zu präzisieren.323 Damit hängt seine Kritik an der »Subjektivierung der Ästhetik durch Kant« zusammen, bei welcher der Begriff »sensus communis« [das lateinische Äquivalent von koiné aísthesis, also in etwa ›gesunder Menschenverstand‹, Anm. d. Verf.] als »ein Moment des bürgerlich-sittlichen Seins« ungültig geworden sei und es in deren Folge nach Schillers Konzept des »Gegensatz[es] von Schein und Wirklichkeit« zur Auflösung der »Einheit der Zugehörigkeit eines Kunstwerks zu seiner Welt« gekommen sei.324 Auf diese Weise wird bei seiner Eruierung des Verstehens dem Thema der Rezeption von Literatur eine vorrangige Stellung zuteil, wobei es sich bezeichnenderweise weder um Lyrik noch Epik, sondern um das »Schauspiel« 320
Kämmerer, S. 265. Kämmerer, S. 263, 270. 322 Kämmerer, S. 260. Dieses Stichwort zitiert Kämmerer aus: Kondylis, S. 19. 323 Gadamer, S. 17, 20. Gadamer geht hier von Heideggers These aus, das Verstehen sei die Seinsweise des menschlichen Daseins selbst, nimmt die Frage nach dem ›Verstehen‹ für die Metafrage, die jeder ›erklärenden‹ objektwissenschaftlichen Frage vorangehe. Dabei befasst er sich eingehend mit Problemen des literarischen Kunstwerks; denn »im Phänomen der Literatur« liege »nicht zufällig der Punkt«, »[…] an dem Kunst und Wissenschaft ineinander über[gingen]«. Auf den Akt des Verstehens sei keine Kunst so sehr angewiesen wie die Literatur, die es zu entziffern und zu deuten gelte (S. 156). 324 Gadamer, S. 29, 78, 80. 321
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handelt. Denn es liegt ihm zunächst daran, das zum Schauspiel gewordene »Spiel« als »das Sein des Kunstwerks« aufzufassen325 und, davon ausgehend, zu verdeutlichen, dass es gelte, die philosophische ›Theoria‹ »[…] nicht primär als ein Verhalten der Subjektivität zu denken, als eine Selbstbestimmung des Subjekts, sondern von dem her, was er anschau[e]«.326 In dieser Sicht des Ästhetischen im Sinn des sensus communis wird auch »das mimische Urverhältnis« erörtert. Dieses zeichnet sich nach Gadamer nicht nur dadurch aus, »[…] daß das Dargestellte da ist, sondern auch, daß es eigentlicher ins Da gekommen ist«: Nachahmung und Darstellung sind nicht abbildende Wiederholung allein, sondern Erkenntnis des Wesens. Weil sie nicht bloß Wiederholung, sondern ›Hervorhebung‹ sind, ist in ihnen zugleich der Zuschauer mitgemeint. Sie enthalten in sich den Wesensbezug auf jeden, für den die Darstellung ist.327
Genauso wie bei der v. a. von Iser durch seine Bezugnahme auf die Sprechakttheorie belebten Rezeptionsästhetik wird hier das Mimetische in einem engen Zusammenhang mit dem Publikum gesehen und in einem so erweiterten Sinne derart dynamisiert, dass diese Perspektive auch die Literatur erfasst: Ja, es gelte »von Texten überhaupt«, »[…] daß erst im Verstehen die Rückverwandlung toter Sinnspur in lebendigen Sinn gesch[ehe]«.328 Damit verbunden ist nun die Ansicht, dass die »Schriftlichkeit« »zur ursprünglichen Gegebenheit aller großen Dichtung« gehöre, weil sie »dem geistigen Element der Dichtung vom Ursprung her zugehörig« scheine und deswegen auch die Dichtung bereits früh als ›Literatur‹ habe entstehen können, der die Lektüre ebenso wesenhaft zugehöre wie der Vortrag oder die Aufführung: In Wahrheit ist die Schriftlichkeit für das hermeneutische Phänomen insofern zentral, als sich in der Schrift die Ablösung von dem Schreiber oder Verfasser ebenso wie die von der bestimmten Adresse eines Empfängers oder Lesers zu einem eigenen Dasein gebracht hat. Was schriftlich fixiert ist, hat sich sozusagen vor aller Augen in eine Sphäre des Sinnes erhoben, an der ein jeder gleichen Anteil hat, der zu lesen versteht.329
Etwas »Geschriebenes« und die »Schauspielkunst« stehen so im hermeneutischen Interesse Gadamers miteinander in dergestalt komplementärem Verhältnis, dass wir einen ersichtlichen Vergleich mit dem Fall der Krausschen Satire als »geschriebener Schauspielkunst« anstellen können. 325 Gadamer, S. 105, 156. Über die Beziehung des Spiels zum Schauspiel heißt es genauer wie folgt: »Auch das Schauspiel bleibt Spiel, d. h. es hat die Struktur des Spiels, eine in sich geschlossene Welt zu sein. Aber das kultische oder profane Schauspiel, so sehr es eine ganz in sich geschlossene Welt ist, die es darstellt, ist wie offen nach der Seite des Zuschauers. In ihm erst gewinnt es seine ganze Bedeutung. […] Es ist eine totale Wendung, die dem Spiel als Spiel geschieht, wenn es Schauspiel wird. Sie bringt den Zuschauer an die Stelle des Spielers. Er ist es – und nicht der Spieler, für den und in den das Spiel spielt« (S. 104 f.). 326 Gadamer, S. 118. 327 Gadamer, S. 109. 328 Gadamer, S. 156. 329 Gadamer, S. 369 f.
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Es gibt zwischen ihnen jedoch manche unübersehbaren Unterschiede. Während es Gadamer vor allem, wie die Polemik zwischen ihm und Habermas als ›Ideo logiekritiker‹ herausgestellt hat,330 am Moment des aktiven Engagements fehlt, waren für Kraus sowohl die »Schauspielkunst« als auch die Schriftlichkeit konsequente Bezugspunkte für seine die Presse anvisierende satirische Tätigkeit. Auch seine Bezugnahme auf die Nestroyschen Possen ist mit der Kanonisierung der klassischen Tragödie bei Gadamer unvereinbar. Im Essay ›Untergang der Welt durch schwarze Magie‹ schreibt er: Die Zeitung ruiniert alle Einbildungskraft: unmittelbar, da sie, die Tatsache mit der Phantasie servierend, dem Empfänger die eigene Leistung wegnimmt; mittelbar, indem sie ihn unempfänglich für die Kunst macht und diese reizlos für ihn, weil sie deren Oberflächenwerte weggenommen hat. (F 363 / 65, 4)331
Auf die »Einbildungskraft« des Lesers glaubte Kraus also nicht mehr bauen zu können.332 In diesem Punkt hat er Adornos These vom »Todesprinzip«333 des Kunstwerks seit der Moderne antizipiert. Darüber hinaus sieht er in dieser Kraus schen Aktivität ein Vorbild für seine eigene Kunsttheorie, deren Maßstab nicht die Schönheit, sondern die Erhabenheit sei. In der Tat können wir Kraus’ Pressekritik durch die Fackel vorwiegend als eine Art erhabene bzw. pathetische Satire erachten, bei der es sich gerade um einen Akt des Strafens bzw. der Ausübung einer Gegengewalt gehandelt hat. Dadurch werden wir auch dazu genötigt, die so genannte »dichterische Freiheit«,334 die zur Rechtfertigung halbdokumentarischer Fiktion behauptet wird, im Zusammenhang mit diesem spezifischen Fall zu überprüfen. Die Aktualität der Krausschen Satire besteht also in dem Zusammenwirken ihrer semantisch-hermeneutischen und pragmatisch-performativen Elemente, die zur Erhabenheit, dem schriftbezüglichen psychischen Prinzip der Kunstdynamik, in enger Beziehung stehen.
Exkurs: Performativität im Problemkreis des Erhabenen Im als ›Das Naturschöne‹ betitelten Abschnitt seiner Ästhetischen Theorie erwähnt Adorno zweimal Kraus. Zunächst wird im Zusammenhang mit den »authentische[n] Kunstwerke[n]«, die »unterm Terror des Idealismus der Geringschätzung 330
Habermas (1971), in: Habermas u. a., S. 45 ff. Im Sammelband (Bd. 4, 427) wurde das Wort »Einbildungskraft« durch »Vorstellungskraft« ersetzt. 332 Im Essay ›Schrecken der Unsterblichkeit‹ thematisiert Kraus, dass unter den zeitgenössischen Literaten viele Ideen Schillers als autoritative Phrasen zirkulierten. Ein Beispiel stellt die Devise eines Schillertags dar: »Die Lebenden fordern ihre Rechte […]« (Bd. 2, 235). Sie spielt auf den Vers »Und der Lebende hat Recht« in Schillers Gedicht ›An die Freunde‹ an; s. dazu Kraus (1986), S. 298. 333 Adorno (1977), S. 201. 334 s. dazu C. III. 1. a). 331
Exkurs: Performativität im Problemkreis des Erhabenen
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verfielen«, Kraus’ »Rettung solcher Gebilde in der Sprache« in »Überstimmung mit seiner Apologie des unterm Kapitalismus Unterdrückten: des Tiers, der Landschaft, der Frau« geschätzt.335 Adornos Ansicht nach fehlt »[…] der Wendung gegen das Naturschöne, trotz des unermeßlichen Fortschritts in der Auffassung von Kunst als eines Geistigen, den sie ermöglichte, das zerstörerische Moment so wenig, wie dem Begriff der Würde gegen Natur schlechthin«.336 An die Betrachtung über das »Naturschöne«, das »als Subreption von Unmittelbarkeit durchs Vermittelte« zur Ideologie depraviert worden sei, schließt sich eine zweite Berufung auf Kraus an, und zwar in dem Kontext, wo auf den primären Sachverhalt aufmerksam gemacht wird, dass Naturphänomene, die »grandios überwältigen«, als schön ins Bewußtsein getreten seien, als »der Gegensatz von Unmittelbarkeit und Konvention sich [geschärft] und der Horizont ästhetischer Erfahrung dem sich [geöffnet habe], was bei Kant erhaben heiß[e]«: Diese Verhaltensweise war historisch ephemer. So hat der polemische Geist in Karl Kraus, vielleicht in Übereinstimmung mit dem modern style etwa Peter Altenbergs, dem Kultus großartiger Landschaft sich verweigert, offenbar kein Glück am Hochgebirge empfunden, wie es ungeschmälert wohl nur dem Hochtouristen zuteil wird, dem der Kulturkritiker mit Grund mißtraute. Solche Skepsis gegen große Natur entspringt evident im künstlerischen Sensorium. Bei fortschreitender Differenzierung macht es sich spröde gegen die bei der idealistischen Philosophie vorwaltende Gleichsetzung großer Entwürfe und Kategorien mit dem Gehalt der Werke.337
Die »[…] abstrakte Größe der Natur, die Kant noch bewunderte und dem Sittengesetz verglich«, habe sich als »Reflex des bürgerlichen Größenwahns« entpuppt.338 Im Gegensatz dazu versucht Adorno das Naturschöne wiederzugewinnen, das »als Unverständliches, das seine Auflösung fragend erwartet«, wahrgenommen werde und »mit Bedeutungen, die nicht, wie in der meinenden Sprache, sich vergegenständlichen«, anwachse.339 Kunst ahme »nicht Natur nach, auch nicht einzelnes Naturschönes, doch das Naturschöne an sich«.340 Auf diese Weise führt auch Adorno, allerdings in einer anderen Perspektive als Gadamer, die Aufgabe der Kunst auf das Mimetische zurück. Dabei wird jedoch nicht das Erhabene im Allgemeinen kritisiert, so bemerkt Wolfgang Welsch, sondern das »hohle« Erhabene, das »durch Bezugnahme auf »große Stoffe« oder »erhabene Vorgänge« bloß erschlichen« werde.341 Das Erhabene stelle bei Adorno vielmehr dahingehend die zentrale Kategorie dar, dass seine Kunsttheorie als die »implizite Ästhetik des Erhabenen« bezeichnet wer-
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Adorno (1977), S. 99. Adorno (1977), S. 98. 337 Adorno (1977), S. 109 f. 338 Adorno (1977), S. 110. 339 Adorno (1977), S. 111. 340 Adorno (1977), S. 113. 341 Welsch, S. 117. 336
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den könne.342 Es kommt auf eine Umkehrung des herkömmlichen Verständnisses über das Erhabene an, nach dem das Erhabene da entstehe, wo die Einbildungskraft »bei einer gegebenen Anschauung mit dem Vermögen der Begriffe des Verstandes« in Einstimmung gebracht werde, während sie sich beim Schönen mit dem Vermögen der Begriffe der Vernunft verbinde.343 Kant zufolge sei für das Er habene bezeichnend, dass dabei »[…] das Gemüt von dem Gegenstande nicht bloß angezogen, sondern wechselweise auch immer wieder abgestoßen« werde und deshalb »das Wohlgefallen am Erhabenen« verdiene, »negative Lust genannt zu werden«.344 Dies bedeute zugleich, dass nicht irgendein Gegenstand der Natur wie ein Hochgebirge erhaben sei, sondern die »Denkungsart« in die Vorstellung der Natur Erhabenheit hineinbringe.345 Wie Kant bei seiner Explizierung des »Mathematisch-Erhabenen« schreibt, handelt es sich dabei um »eine gewisse Subreption (Verwechselung einer Achtung für das Objekt, statt der für die Idee der Menschheit in unserem Subjekte)«.346 Welsch schreibt nun Adorno die Erkenntnis von einem »Umschlag gegenüber der anfänglichen Besetzung durch den Herrschaftsgestus des Menschen als eines Naturbezwingers« in der Geschichte des Erhabenen zu: Die Erfahrung des Erhabenen verbinde sich zwar einerseits mit dem »naturbeherrschenden Ich- und Subjektprinzip«, andrerseits rege sie aber zur Befreiung davon an, weil sie als Gefühl eine Gemeinschaft von Subjekt und Natur anbahne und zur Entdeckung der eigenen Naturhaftigkeit des Subjekts führe.347 Für Adorno habe das Erhabene die Struktur der modernen Kunst generell bezeichnen können, weil es ihr ermöglicht habe, gegen ihr immanentes Manko nicht »durch die blanke Negation von Herrschaft«, sondern »durch deren Wendung gegen ihre konventionelle Funktionsart« anzugehen.348 Die dadurch eventuell zu erzielende Versöhnung mit der Natur traut Adorno allerdings nur der »ungemilderte[n] Negativität« zu, »[…] nackt und scheinlos wie einmal der Schein des Erhabenen es [verheißen habe]«.349 Ein typisches Beispiel solcher im Zeichen des Erhabenen stehenden modernen Künste können wir in der Krausschen Satire finden. Dieser Blickpunkt scheint jener Benjaminschen Auffassung, Kraus sei ein »Unmensch als der Bote realeren Humanismus«,350 zu entsprechen, die nach Fürnkäs einen Aufzug des Szenarios eines allegorischen Maskenspiels darstelle, als dessen Schauplatz Benjamin Kraus’ geschichtsphilosophischen Ort betrachtet habe.351 In diesem Zusammenhang ist überdies von Belang, dass Welsch die Ästhetik Adornos unter der Kate 342
Welsch, S. 114 ff. Kant, S. 87. 344 Kant, S. 88. 345 Kant, S. 88 ff. 346 Kant, S. 102. 347 Welsch, S. 119 ff. 348 Welsch, S. 126. 349 Adorno (1977), S. 296. 350 Benjamin, in: Tiedemann, Bd. 2. 1, S. 366. 351 Fürnkäs, in: Le Rider / Raulet, S. 217. 343
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gorie des »ästhetischen Denkens« aufgefasst hat, das »in besonderer Weise mit Wahrnehmung – aisthesis – im Bunde sein« müsse.352 Bei der Exponierung dieses Begriffs geht er von der Anschauung über »die Verfasstheit heutiger Wirklichkeit« in anästhetischen Tendenzen aus.353 Ihm zufolge sei in der modernen Zeit schon lange, im sowohl sozialen als auch privaten und intimen Bereich, »das Grundgesetz der Medienwelt, die Ablösung der Wirklichkeit durch ihre simulatorische Überbietung, auf dem Vormarsch«.354 Das tiefgreifende Problem sei, dass gegen solche Gefahren nicht in Anlehnung an »die idealistische und romantische Tradition« Maßnahmen ergriffen werden konnten, weil die Anästhetisierung eben mit dieser Tradition einherging: Der Hauptgrund dafür, warum heute die Wiederbelebung der Aisthesis ein aktuelles Anliegen sei.355 Ist nun zwischen der Aisthesis und dem Erhabenen eine Beziehung wie bei Adorno annehmbar, können wir die Eigenschaft der Krausschen Satire ästhetisch noch eingehender begreifen. Es gab nämlich zwischen der Aggressivität der verspottenden Satire und dem Erhabenen einen engen Zusammenhang, der auch mit dem Paradigmenwechsel der Literatur in der Spätaufklärung viel zu tun hatte. Die ausführliche Thema tisierung des Erhabenen leitete Edmund Burke ein, als er dessen Quelle in allem fand, »was irgendwie schrecklich [sei] oder mit schrecklichen Objekten in Beziehung steh[e] oder in einer dem Schrecken ähnlicher Weise wirk[e]«.356 Diese mit der menschlichen »Selbsterhaltung« angesichts der Todesgefahr oder des Schmerzes, d. h. mit der »stärkste[n] Bewegung«, verbundene Idee habe ihr Gegenstück in der Schönheit als »soziale[r] Qualität«, die mit dem »Gefühl von Freude und Vergnügen« einhergehe.357 Damit hat Burke nach Nivelle einen entscheidenden Beitrag zur Gefühlsästhetik geleistet.358 Bemerkenswert ist, dass in Deutschland z B. Moses Mendelssohn, unter Hinweis auf seine Erschütterung beim Anblick einer Hinrichtung, das Erhabene im Sinn von Burke als eine »vermischte Empfindung« charakterisiert hat, während etwa Liscow und Friedrich Justus Riedel diesen Ausdruck im Fall der Satire mit »Kitzel« gleichsetzten.359 In diese im Grund sensualistische Bewertung der Satire kann darüber hinaus auch die Moralphilosophie Shaftesburys, bei welcher der moralische Sinn als mit der Sensibilität für die Schönheit und die Würde identisch galt, einbezogen werden, weil da die von Horaz eröffnete heiter-urbane Schreibweise »das sicherlich wichtigste stilistische Ideal satirischen 352
Welsch, S. 46. Welsch, S. 15. 354 Welsch, S. 16 f. 355 Welsch, S. 20, 46 ff. Nach Welsch ist außerdem von Belang, dass Wahrnehmung im Sinne von Aisthesis ein weiterer Begriff als der der Sinneswahrnehmung sei, weil solch eine Wahrnehmung »vielmehr in dem zugleich fundamentaleren und weiterreichenden Sinn von ›Gewahrwerden‹ zu verstehen« sei, wobei dieser Sinn sich auf »ein Erfassen von Sachverhalten«, »das zugleich mit Wahrheitsansprüchen verbunden« sei, beziehe (S. 48). 356 Burke, S. 72. 357 Burke, S. 72, 76. 358 Nivelle, S. 40 f., 46 f. 359 Kämmerer, S. 273 ff., 294 f. 353
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Schreibens im europäischen Klassizismus« ausgemacht habe, in dessen Tradition nach Meyer-Sickendiek auch Nestroy steht.360 Mit einem Wort, gedieh damals in England eine mit der Emotionalität eng zusammenhängende »Satirekultur«, und Swift gewann auch in Deutschland so sehr an Popularität, dass sein Name sogar als Synonym für ›Satiriker‹ verwendet wurde.361 Trotzdem wurde die Satire, dem Unterschied zwischen Empirismus und Idealismus gemäß, in der deutschen Literaturtheorie marginalisiert und rationalisiert, wie wir gesehen haben. Damit hängt der Sachverhalt zusammen, dass sich bei den Theoretikern, die »auf eine monistische Systematik ihrer Ästhetik oder auf eine dialektische Versöhnung ästhetischer Spannungen abzielen«, die Bestrebung fand, »die besondere Intensität des Erhabenen auszublenden, um das Erhabene mit der Fixierung auf ›mathematische‹ Momente (›Unendlichkeit, Hoheit‹ u. ä) dem Schönen reintegrieren zu können«.362 Dieser Sachlage steht die in der germanistischen Satire-Forschung wie selbstverständlich dominierenden Tendenz nicht fern, die Satire »autonomieästhetisch als Literatur zu legitimieren«.363 So betrachtet, ist erst recht anzunehmen, dass Kraus’ Versuch der Wiederbelebung der Satire gleichzeitig auch ein Versuch war, die Aktualität des Erhabenen wiederzugewinnen. Unter dieser Voraussetzung könnten wir einen weiteren Zugang zum performativen Moment seiner Satire finden. Das »Erhabene« galt also seit Longinus als rhetorisch-stilistischer Terminus und trug durch seine Beziehung zur »Leidenschaft« bzw. zum »Pathos«364 zur Verdeutlichung der Eigenschaft der »Poesie und Redekunst« durch Burke viel bei: »[I]hre Sache ist es, eher durch Sympathie als durch Nachahmung zu affizieren, eher die Wirkung der Dinge auf das Gemüt des Redenden oder das Gemüt Dritter darzustellen, als eine klare Idee der Dinge selbst zu bieten.«365 Deswegen sei es nicht ganz richtig, »[…] wenn man Poesie – in ihrem allgemeinsten Sinne genommen, eine nachahmende Kunst nenn[e]«.366 Dies war eine Folge der »Entdeckung der Sinnlichkeit« in der Poetik und Kunstlehre der ersten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts, bei der die »spezifische Natur der Zeichen […] jeder Kunst den Kreis ihrer Gestaltungsmöglichkeiten und die spezifische Weise der Gestaltung selbst« bestimmt habe.367 Während dabei Lessing und Schiller unter dem Einfluss dieser psychologischen Erkenntnis über die Sprache ihre Schauspieltheorie entwickelt haben,368 hat bei Kraus gleichsam umgekehrt eine sprachtheoretische Überprüfung des Schauspielerischen stattgefunden. 360
Meyer-Sickendiek, S. 16, 239. Kämmerer, S. 39 ff., 55 ff. 362 Zelle, S. 143. 363 Kämmerer / Lindemann, S. 98. 364 Longinus, S. 19 ff., 51 ff. 365 Burke, S. 216 f. 366 Burke, S. 217. 367 Cassierer, S. 86, 94. 368 Als Lessing bei seinem Vergleich der Dichtung mit der Malerei, deren Gegenstände »Körper mit ihren sichtbaren Eigenschaften« seien, die Gegenstände der Poesie in den »Handlungen« fand, hat er die »Kunst des Schauspielers« als »transitorische Malerei« bezeichnet 361
Exkurs: Performativität im Problemkreis des Erhabenen
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Von Belang ist, dass sich bei Kants Theorie über das Erhabene selbst ein ›schauspielerisches‹ Element findet. Dieses Thema behandelt Paul de Man in seiner Abhandlung ›Phänomenalität und Materialität bei Kant‹. Dabei geht er von der Frage aus, warum die Analytik des Erhabenen nicht mit dem Abschnitt über das Mathematisch-Erhabene und seiner Konzentration auf Quantität und Zahl ihren Abschluss finde und zu dem Abschnitt über das Dynamisch-Erhabene übergehe, von dem sich nur schwer ausmachen lasse, ob es in den Bereich des Quantitativen oder den Bereich des Qualitativen gehöre.369 Die Antwort findet de Man darin, dass das Erhabene nicht durch ein philosophisches (transzendentales oder metaphysisches) Prinzip begründet werden könne, sondern nur durch ein sprachliches.370 Darüber hinaus gehe das hier beanspruchte sprachliche Modell über seine Definition als ein System von Tropen hinaus: Bei der Explikation zum Dynamisch-Erhabenen gelange die Sprache über die Pseudoerkenntnis der Tropen, die das Auftreten des Erhabenen nur auf eine restriktive und partielle Weise erklärt habe, hinaus zu den Aktivitäten der Performanz.371 Die Grundlage dafür sei eine rein materiale sowie rein formale Sehweise, der jede reflexive oder intellektuelle Komplikation und jede semantische Tiefe fehle und die auf die formale Mathematisierung oder Geometrisierung reiner Optik reduzierbar sei.372 Daraus resultiere, dass es sich bei der ›Allgemeinen Anmerkung zur Exposition der ästhetischen reflektirenden Urteile‹ in der Kritik der Urteilskraft um kein Argument, sondern eine allegorische Erzählung, »eine dramatische Aufbereitung der Handlungen des menschlichen Geistes« handle, wobei die Vermögen der Vernunft und der Einbildungskraft personifiziert würden.373 Dies sei die Stelle, die »[…] sich als philosophisches Argument [gebe], in Wahrheit aber von sprachlichen Strukturen bestimmt [sei], die sich vom Autor nicht kontrollieren [ließen]«.374 Dieser Blick auf die »rein[e] Materia lität des Augenscheins, des ästhetischen Sehens«375 bei Kant, die seine Nachfolger wegen ihres ideologisch einseitigen Interesses selten oder nie wahrgenommen hätten, mag auch auf Kraus’ »Materialästhetik« der Satire anwendbar sein und weist auf die höchst denkbare Möglichkeit hin, dass die Beziehung zum Erhabenen sowie damit korrelierenden Themen wie der Sympathieabhängigkeit der Sprache für den Begriff der Performativität konstitutiv sein kann.376 und sie »zwischen den bildenden Künsten und der Poesie« positioniert; s. Lessing, in: Barner, S. 116 sowie Lessing, in: Bohnen, S. 210. In Lessings Nachfolge hat Schiller dann das »Erhabene der Handlung« seiner Theorie über die tragische Kunst zugrunde gelegt; s. Schiller, in: Janz, S. 423 ff. 369 de Man (1993), in: Menke, S. 14. 370 de Man (1993), in: Menke, S. 20. 371 de Man (1993), in: Menke, S. 21 f. 372 de Man (1993), in: Menke, S. 27. 373 de Man (1993), in: Menke, S. 32 f. 374 de Man (1993), in: Menke, S. 34. 375 de Man (1993), in: Menke, S. 35. 376 Dieter Mersch nennt als »drei Säulen«, auf denen Ästhetik als Theorie der Kunst sowie als Theorie der Wahrnehmung ruhe: die techne (Medium), die Form (Schönheit) und die Performanz (Erhabenheit); s. Mersch (2002), Ereignis und Aura, S. 118.
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C. »Geschriebene Schauspielkunst« – Satire, Performativ
2. Sinn und Sinnlichkeit bei der »geschriebenen Schauspielkunst«. Die Schrift als Ereignis a) Die »graphische Anordnung« des operativ zur Schau gestellten Zitatmaterials In ihrer Forschung zum Thema »literarische Performativität« nennen Cornelia Herberichs und Christian Kiening das Performative sowohl »ein Geschehen« als auch »ein Geschehen-Lassen«, d. h. als »Dynamik einer Bedeutungsstiftung, die sich nie vollständig kontrollieren [lasse], immer auch ungeahnte Energien und unvorhergesehene Ereignisse freisetzen [könne]«.377 Unter diesem Gesichtspunkt machen sie auf einen »besonderen Reiz« der vormodernen Texte aufmerksam, die »[…] einer Kultur, die […] durch Aspekte wie Körperlichkeit, Mouvance, Ritualität, symbolische Kommunikation, Partizipation, Plurimedialität gekennzeichnet [sei]«, entstammen würden.378 Denn bei den Texten aus dem Mittelalter, für das sich »der Vollzug dichterischer Sprache am ehesten in der Bindung an religiöse Kommunikation denken« lasse, stelle sich unausweichlich die für die Beschreibung der Performativität der literarischen Texte grundlegende Frage, inwiefern die literarischen Texte »[…] nicht einfach ein lebensweltliches Agieren, Spielen oder Vorführen abbilde[te]n, sondern spezifische mediale Formen und Zeichengefüge [seien], in denen Dynamiken und Vollzüge sich auf je eigene Weise ereigne[te]n«.379 In einem Beitrag werden z. B. die »besondere Perspektivenvielfalt und eine Poetik der Vernetzung, des Ver- und sukzessiven Enthüllens« im Parzival (ca. 1200/1210) Wolframs von Eschenbach in Hinblick auf ihre Beziehung zur Performativität behandelt.380 Bei Kraus finden sich erstaunlicherweise bei diesem großen Zeitabstand damit vergleichbare Verhältnisse, insofern es sich bei der Fackel keinesfalls um eine neutrale Wiedergabe schon fertiger Gedanken gehandelt hat. In den Vordergrund rücken vielmehr die Momente, die als »Chaos« erscheinen und zur »Lust« und »Qual« sowohl des Schreibens und als auch des Lesens verlocken sollen. Betrachten wir diese ästhetisch-ethische Angelegenheit unter dem performativen Aspekt, die nicht nur auf der stilistischen, sondern bereits auf der Ebene der Drucktechnik thematisiert werden kann. Ein dafür typisches Beispiel finden wir in der Serie ›Übersetzung aus Harden‹, in der Kraus unter dem Vorwand, die Lektüre der Texte Hardens, dessen metapho-
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Herberichs / Kiening, S. 9. Herberichs / Kiening, S. 12. 379 Herberichs / Kiening, S. 12. 380 Fleury, in: Herberichs / Kiening, S. 139 ff. Diese Merkmale werden hier »den längeren poetologischen Passagen« sowie »den die Handlung begleitenden und reflektierenden Erzählerkommentaren, den ›Inszenierungen‹ des auktorialen Ichs und den Anreden an das implizite Publikum« zugeschrieben (S. 139). 378
III. Zur performativen Umgestaltung der Satire
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Abb. 1 (F 251 / 52, 15 f.)
risch sowie ornamental umschweifige Schreibart bekannt war,381 zu erleichtern, ein ironisches Lexikon für dessen Worte, Passus und Sätze entworfen hat. Ohne Harden direkt anzugreifen, ist es ihm dabei mit großem Effekt gelungen, seine scharfe Kritik weiter fortzusetzen (Abb. 1). Die Form der Tabelle hat Kraus schon in einem seiner frühesten Essays, ›Universitätsbummel‹, zur Wissenschaftsparodie eingesetzt (F 4, 7 ff.). Der Versuch, zwei Pressezitate mit einer vertikalen Mittellinie symmetrisch zu parallelisieren, findet sich schon dort (F 23, 4 f. u. a.). Bei unseren jetzigen Beispielen stehen auf der linken Seite kürzere Harden-Zitate und rechts Kraus’ Kommentare. Neu ist dabei, dass diese beiden, auch mit horizontalen Linien, gleichsam wie ein schriftliches Duett nebeneinander gestellt sind. Dieser Text wurde später unter anderen Titeln wie etwa ›Desperanto‹ (Abb. 2), der auf einer wortspielerischen Kontamination von »Desperado« und »Esperanto« beruht, variiert. Dabei verdankt sich hier (Abb. 1, Abb. 2) die satirische Wirkung der Zitate nicht nur deren zitierender Wiederholung als solcher, sondern auch der tabellarischen Entgegensetzung kritischer Kommentare dazu. Auch an nicht direkt satirischen Stellen spielt ein zeichnerisches Element hinein. Führen wir aus der Zeitspanne, in der die Materialästhetik382 um Kraus Gestalt gewann, ein Beispiel an. Es wird eingeleitet von dem »aus der Berliner Wochen 381
s. dazu A. IV. sowie B. I. 3. s. dazu B. II. 3. b).
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C. »Geschriebene Schauspielkunst« – Satire, Performativ
Abb. 2 (F 360 / 62, 56)
schrift ›Der Sturm‹ zitierte[n] Gedicht« (F 313 / 14, 36) ›Ein alter Tibetteppich‹ Else Lasker-Schülers; über dieses Gedicht hat Kraus in einer Fußnote geschrieben, es gebe von Goethe abwärts wenige Gedichte, »[…] in denen so wie in diesem Tibetteppich Sinn und Klang, Wort und Bild, Sprache und Seele verwoben [seien]« (F 313 / 14, 36). Daran schließt Leo Poppers Essay ›Der Kitsch‹ an, in dem es auch um die Problematik des Kunstmaterials, diesmal von »Farbe«, »Linie« und »Ton« (F313 / 14, 39), geht (Abb. 3). Vier Monate später erschien dann in der Fackel Richard Weiß’ Essay ›Else Lasker-Schüler‹, in dem er – wie auch Leo Popper in dem davor stehenden Essay ›Die Bildhauerei, Rodin und Maillol‹ (F 321 / 22, 33 ff.) – das Thema des Kunstmaterials eingehend behandelt.383 Dabei fällt auf, dass das Layout der Stelle, an der das Gedicht ›Ein alter Tibetteppich‹ analysiert wird, dem der oben zitierten ähnlich ist (Abb. 4). Dieser Sachverhalt betrifft auch die etwa sieben Monate später veröffentliche Fackel-Nummer, in der nun Richard Weiß’ Gedicht ›Nach dem Tode‹ und Kraus’ Aphorismen ›Pro domo et mundo‹, zu denen der Aphorismus über seine »geschriebene Schauspielkunst« gehört, mit solch einem Layout nacheinander gesetzt werden (Abb. 5). Hier scheint es sich um ein schriftliches Ensemblespiel zwischen Autoren, die sich mit einer als materialästhetisch zu bezeichnenden Proble-
383
Über Richard Weiß s. auch B. III. 3. a).
III. Zur performativen Umgestaltung der Satire
Abb. 3 (F 313 / 14, 36, 48)
Abb. 4 (F 321 / 22, 48 f.)
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C. »Geschriebene Schauspielkunst« – Satire, Performativ
Abb. 5 (F 336 / 37, 40 f.)
matik beschäftigt haben, zu handeln, wobei auf die thematische Kontinuität schon das zeichnerische Moment des Layouts aufmerksam macht.384 Hier steht die Sprache mit dem graphischen Element des Layouts in korrespondierender Beziehung. Thematisch geht es hier auch um solch eine Sachlage. Bei dieser Art und Weise von Selbstreferentialität, die als Kennzeichen der Performativität der Sprache gilt, ereignen sich die »Dynamiken und Vollzüge« des Zeichensetzens, mit denen wir Kraus’ »geschriebene Schauspielkunst« in Beziehung setzen können. Im Fall des Essays ›Weiße Frau und schwarzer Mann‹ (Abb. 6) verbindet sich das optische Moment mit dem auditiven. Wiederum mit einer vertikalen Grenzlinie parallelisiert, werden hier auf der linken Seite zwei Zeitungsberichte, die kritische Diskussionen über die Liebesaffäre zwischen einer weißen Frau und einem schwarzen Mann in den afrikanischen Kolonien mitteilen, zitiert, auf der rechten Seite ein Zeitungsbericht und ein in einer Presse veröffentlichter Privatbrief, in denen wiederum von einer ähnlichen Liebesaffäre, diesmal aber in Deutschland, die Rede ist. Dieser Brief, den ein schwarzer Junge an seine Eltern in Afrika 384
Zu dieser Gruppe gehört auch Franz Grüner, der u. a. die Essays ›Oskar Kokoschka‹ (F 317 / 18, 18 ff.) und ›Sachlichkeit und Kunstkritik. Einiges über Taines »Philosophie de L’ art«‹ (F 326 / 28, 49 ff.) zur Fackel beitrug. Popper und Grüner starben jung, ohne eine eigene Schule oder Gruppe gegründet zu haben; s. dazu Krolop, in: Kaszyński / Scheichl, S. 40, 45.
III. Zur performativen Umgestaltung der Satire
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Abb. 6 (F 354 / 56, 1 f.)
geschrieben habe, wird mit einem anscheinend die Sprechweise des Jungen transkribierenden Sonderstil geschrieben. Darauf folgen nun Kraus’ eigene Sätze, an deren Anfang die Diktion dieses Jungen nachgeahmt wird: »Nigger waß, was gut schmecken. […]« (F 354 / 56, 2) In thematischer Hinsicht handelt es sich hier darum, »[…] die Verräter zu verraten« (F 354 / 56, 4), nämlich um die seit den Essays im Schriftenband ›Chinesische Mauer‹ fortgesetzte Kritik an der naturwidrigen Erotik und dem Rassismus in der europäischen Männerkultur. Dieses Thema wird nun nicht nur essayistisch behandelt, sondern durch einen mimischen Sprachgestus versinnlicht. Dem Arbeitsprinzip der Montage von Zitaten wurde von Kraus immer mehr Bedeutung beigemessen, nachdem er angesichts der phrasenreichen Kriegsberichtserstattung während des ersten Balkankriegs Ende 1912 sarkastisch eingeräumt hatte, der Bericht sei ja doch stärker als die Realität selbst, es gibt keine andere außer der seinen, es gibt nur noch die, die er erschafft. […] Der Bericht ist die Realität, und darum muß auch die Satire vom Bericht beschämt werden. Sie hat nichts mehr zu tun, als jenen, die nur lesen, aber noch nicht sehen, den Bericht übersichtlich zu machen. I h r e h ö c h s t e S t i l l e i s t u n g i s t d i e g r a p h i s c h e A n o r d n u n g . Die erfindende Satire hat hienieden nichts mehr zu suchen. Es gibt nichts zu erfinden. (F 366 / 67, 32)
In einem Aphorismus von damals heißt es: »Die Verzerrung der Realität im Bericht ist der wahrheitsgetreue Bericht über die Realität.« »Die Phrase und die
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C. »Geschriebene Schauspielkunst« – Satire, Performativ
Abb. 7 (F 381 / 83, 42, 47)
Sache sind eins« (F 360 / 62, 25). Aus diesen Erkenntnissen entstanden einige neuartige Versuche. Im Essay ›Untergang der Welt durch schwarze Magie‹ belegt Kraus z. B. mittels zahlreicher Zitate aus Zeitungen des Vormärz ihre »Bescheidenheit« und behauptet, die zeitgenössischen Journalisten seien »nicht mehr die Boten«, sondern »die Dichter der Taten und darum die Schöpfer der Gefahren« (F 363 / 65, 22). Ferner sind in der Glosse ›Die Katastrophe der Phrasen‹ verschiedene Berichte über den Krieg zusammengestellt, bald mit, bald ohne Kommentar. In der Einleitung zu dieser Glosse heißt es: »Geschriebenes, das im Wechsel der Tatsachen die solchen Unbestands fähige Zeit zu gestalten sucht, ist für diese selbst verloren. Um es lesbar zu machen, muß gesagt werden, daß es unwahr sei« (F 374 / 75, 1). Solche Entwürfe, denen eine »graphische Anordnung« der »übersichtlich« gemachten Zitate zugrunde liegt, verstand Kraus als eine Gegenmaßnahme gegen die ›Inszenierung‹ der Realität durch die Presse, mit der er sich seit dem Fall Friedjung auseinandersetzte. Dabei ist von Bedeutung, dass er eine im negativen Sinne performative Wirkung der Pressesprache durch die Journalisten – »Dichter der Taten«, »Schöpfer der Gefahren« – klar erkannte und er das Publikum diese Sprache weniger »lesen« als vielmehr »sehen« lassen wollte. Dieser Entwurf des Optischen gilt buchstäblich für die Illustrations- sowie Fotozitate, die er seit 1911 immer häufiger vorgenommen hat. Einen Extremfall bildet Kraus’ Erwiderung auf jene Karikatur von ihm mit der Aphorismusparodie
III. Zur performativen Umgestaltung der Satire
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Abb. 8 (F 326 / 28, Umschlagseite)
›Pro domo et loco‹, die im Witzblatt Muskete veröffentlicht wurde.385 Dabei druckte er die Karikatur in der Fackel ab und dazu auch eine Gruppenillustration der meist anonymen Mitglieder der Muskete-Redaktion, wodurch ihm schon gelang, ihre Unredlichkeit im Kontrast zu seinem Alleinkämpferbild hervorzuheben (Abb. 7). Was die Fotos angeht, hat Kraus schon einem seiner Essays des »Grubenhund«Typus (›Der Blitz hat sie getroffen […]‹) ein Bild Moriz Benedikts, des Redak tionschefs der Neuen Freien Presse, mit dem Titel »Der Sieger« beigefügt, wozu er bemerkt, bei diesem »Alpdruck nach einer Photographie« handle es sich nur um »photographische Zitate der Wirklichkeit«386 (F 400 / 03, 47) (Abb. 8). Während er dabei den großmächtigen politischen Einfluss der Presse ironisiert hat, spielt er mit dem Foto Hermann Bahrs, der als Mann von hohem Ansehen wohlgenährt am Lido von Venedig steht, auf eine Phrase des Schriftstellers über das Geld an: Un 385 Diese Karikatur und Parodie hatten eine antisemitische Implikation. Darüber s. D. III. 1. sowie D. III. 2. 386 Das Wort »Alpdruck« ist eine wortspielerische Kontamination von »Alp« und »Abdruck«. Kraus: Das Foto besteht aus einem Ausschnitt »[…] aus dem Gruppenbild der Wiener Journalistik, das in einem illustrierten Blatt zum 60jährigen Kaiserjubiläum erschien«, und einer »[…] Ansichtskarte vom Parlament, wo die Pallas Athene sich vergebens nach einem Zeus sehnt« (F 400 / 03, 47).
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C. »Geschriebene Schauspielkunst« – Satire, Performativ
Abb. 9 (F 381 / 83, 33)
ter dem ironischen Titel ›Ein gut erhaltener Fünfziger‹387 werden dabei ein Bericht über Bahrs gewonnenen Prozess wegen seines finanziellen Vertrags mit einem Theater und dessen antimammonistischer Essay ›Das Geld‹ parallelisiert, wobei viele Stellen gesperrt gedruckt werden (Abb. 9). Schon an diesem Zeichengefüge wird klar, dass es hier um die Demaskierung eines angeblich antikapitalistischen Schriftstellers geht. Diesem ähnlich verhielt es sich, als das Foto des Schriftstellers Otto Ernst »als Strandläufer von Sylt« aus dem Taschenbuch für Bücherfreunde 1913 zitiert wurde (F 398, 23, 28)388 (Abb. 10). Die Zielscheibe war dabei die Situation um die Literatur, bei der manche Schriftsteller unter der Leitung des Verlags sich wie beliebte Stars benehmen. Aus den oben angeführten Beispielen erhellt also, in welch unterschiedlicher Weise Kraus mit schriftlichen bzw. bildlichen Zitaten operiert und sie zur Schau gestellt hat. Obwohl die Zitate prinzipiell wiederholbar und deshalb überhaupt zitierbar sind, bekommen sie hier durch ihre Bearbeitung einen Status der Einmaligkeit. Anders gesagt, wohnen die Leser der Fackel einem Ereignis der Monumentalisierung sowie der Reinszenierung der Zitate bei, indem diese als plastisches Material gestaltet werden. Dadurch entsteht, so können wir annehmen, ein »Ope 387
Im Jahr 1913, in dem diese Foto-Satire veröffentlicht wurde, war Hermann Bahr fünfzig Jahre alt. 388 Während des Ersten Weltkriegs hat Kraus Otto Ernst wegen eines chauvinistischen Romans heftig kritisiert (F 445 / 53, 80 ff. u. a.).
III. Zur performativen Umgestaltung der Satire
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Abb. 10 (F 398, 28)
rationsraum«, den die Schrift als »ein Hybrid aus Sprache und Bild« eröffnet, wobei »die Wahrnehmbarkeit der Schrift (aisthesis)« nicht mehr bloß als »das transparente Medium ihrer Verstehbarkeit (logos)« gelten kann.389 Indem er so vorgeht, gewinnt Kraus eine mit der Satire in enger Beziehung stehende Aisthesis zurück. In diesem Zusammenhang kommt die Performativität als ein zwischen Sprache und Bild vermittelndes Prinzip in Betracht:390 Beidem kommt nunmehr nicht nur dialektische,391 sondern auch performative Verbundenheit392 zu. Wir können dies aber wiederum in Hinblick auf die Theaterproblematik, auf die sich Kraus selbst beruft, weiter ausführen.
389
Krämer, in: Grube / Kogge / Krämer, S. 31 f., 26. Unter diesem Gesichtspunkt ist von Interesse, dass Anne Burdick, Designerin der Online-Fackel, von »the performative aspects« der Fackel spricht; s. dazu Burdick. 391 s. dazu Mitchell, S. 43. 392 s. dazu Wulf, in: Wulf / Zirfas, S. 41 ff. Nach Wulf ermöglichen es die Bilder u. a., die Außenwelt zum Teil der menschlichen Innenwelt zu machen. Dazu sei eine performative Kraft erforderlich, zu deren näherer Bestimmung die Begriffe »Phantasie«, »Imagination«, »Einbildungskraft« und »das Imaginäre« gehörten. 390
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C. »Geschriebene Schauspielkunst« – Satire, Performativ
b) Materialität der Schrift und performative Pädagogik Wie wir sahen, hat Kraus seinen Akt des Schreibens als eine Art schauspielerischer Aufführung erachtet. In dem Maße, in dem es dabei eher um Schauen als um Lesen geht, nähert sich die Schrift dem Bildlichen. Unter welcher Perspektive kann dieser Entwurf als ethisch-ästhetische Angelegenheit gelten? Zur Überprüfung dieser Frage sei nun ein Paragraph aus dem Essay ›Apokalypse (Offener Brief an das Publikum)‹ vom Oktober 1908 angeführt, dessen eschatologisch klingender Titel zur gleichen Kategorie wie ›Untergang der Welt durch schwarze Magie‹ gehört. Nach einem Rückblick auf seine zehnjährige Tätigkeit der Fackel spricht Kraus in der zweiten Hälfte des Essays das »Publikum« direkt an, indem er bezeichnenderweise nicht auf den Konsens, sondern auf den Dissens zwischen ihnen Nachdruck legt: Meine Leser! Wir gehen jetzt zusammen ins zehnte Jahr, wir wollen nicht nebeneinander älter werden, ohne uns über die wichtigsten Mißverständnisse geeinigt zu haben. (Bd. 4, 15)
Das Paradox, das hier dadurch entsteht, dass das Wort »Verständnisse« geflissentlich vermieden wird, teilt ironisch Kraus’ Misstrauen gegen seine Leser mit. In diesem Zusammenhang ist vom Schriftlichen im Gegensatz zum Mündlichen die Rede, und zwar schon unter Berufung auf das Schauspielerische.393 Er nennt z. B. es »eine unerträgliche Fiktion« für ihn, dass »die Masse der zahlenden Leser den Gegenwert der schriftstellerischen Leistung bietet, wie die Masse der zahlenden Hörer den des Theatergenusses«, nachdem er die Presse der Verwöhnung des Massenpublikums beschuldigt hat: Die falsche Verteilung der Respekte, die der Journalismus durchführte, hat auch das Publikum zu einer verehrungswürdigen Standesperson gemacht. Das ist es nicht. Oder ist es bloß für den Sprecher, dem es die unmittelbare Wirkung des Wortes bestätigt, nicht für den Schreibenden; für den Redner und Theatermann, nicht für den Künstler der Sprache. Der Journalismus, der auch das geschriebene Wort an die Pflicht unmittelbarer Wirkung band, hat die Gerechtsame des Publikums erweitert und ihm zu einer geistigen Tyrannis Mut gemacht, der sich jeder Künstler selbst dann entziehen muß, wenn er sie nur in den Nerven fühlt. (Bd. 4, 15)
Bemerkenswert ist, dass Kraus hier »die unmittelbare Wirkung des Wortes« auf das Publikum nicht dem »Schreibenden« bzw. dem »Künstler der Sprache«, sondern dem »Sprecher« bzw. dem »Redner und Theatermann« zuschreibt und die durch den Journalismus bewirkte Funktionalisierung des »geschriebenen Wortes« zu diesem Zweck für ungerecht hält. Er vergleicht jedoch, daran direkt anschließend, die Kunst des Schreibenden auch mit einer Art von Theater: Die Theaterkunst ist die einzige, vor der die Menge eine sachverständige Meinung hat und gegen jedes literarische Urteil behauptet. Aber das Eintrittsgeld, das sie bezahlt, um der 393 Als Kraus diesen Essay schrieb, hatte er mit der Reihe seiner ›schauspielerischen‹ Lesungen noch nicht begonnen.
III. Zur performativen Umgestaltung der Satire
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Gaben des geschriebenen Wortes teilhaft zu werden, berechtigt sie nicht zu Beifalls- oder Mißfallsbezeigungen. (Bd. 4, 15 f.)
Hier vergleicht er den Prozess der Lektüre »des geschriebenen Wortes« in der Fackel mit dem eines Theaterbesuchs, bei dem man zuerst »Eintrittsgeld« zahlt und sich schließlich »Beifalls- oder Mißfallsbezeigungen« erlaubt. Demnach hat er doch auch seine eigenen Texte in einer bestimmten Hinsicht als eine Art »Theaterkunst« klassifiziert. Ähnlich ambivalent ist seine Stellungnahme, wenn er einerseits gegen das von Girardi vertretene Theatralische das Literarische bei Nestroy verteidigt, andrerseits aber auch das schauspielerische Element für dessen Kunst für konstitutiv hält. Hier impliziert dies vor allem, dass Kraus trotz seines Misstrauens gegen die Leser nicht ablehnte, mit ihnen in ›hilfsbereiter‹ Verbindung zu bleiben: Nun, ich wollte den Lesern helfen und ihnen den Weg zeigen, der zur Entschädigung für den Ausfall an Sensationen führt. Ich wollte sie zu einem Verständnis für die Angelegenheiten der deutschen Sprache erziehen, zu jener Höhe, auf der man das geschriebene Wort als die naturnotwendige Verkörperung des Gedankens und nicht bloß als die gesellschaftspflichtige Hülle der Meinung begreift. Ich wollte sie entjournalisieren. (Bd. 4, 18)
Ob zwischen Kraus und seinen Lesern ein »Verständnis« entstehen kann, kommt auf eine antijournalistische Aufklärung an. Wichtig ist dabei zweifelsohne, was vor bzw. nach der »unmittelbaren Wirkung« am Wort vorkommt. Dies geht jedoch nicht in einem semantisch äquivalenten Austausch einer Wortbedeutung auf, welcher allenfalls dadurch ermöglicht werden könnte, Kraus’ Arbeiten »zweimal zu lesen« (Bd. 4, 18). Denn solch ein Austausch kann auch bei der »gesellschaftlichen Hülle der Meinung« stattfinden. Die so zu paraphrasierende These, dass beim geschriebenen Wort der Gedanke »verkörpert« sein müsse, scheint auf ein Problem hinzuweisen, das nicht in erster Linie im semantischen Sinne begriffen werden kann. Hierbei werden wir mit der Wahrnehmungsthematik, auf die der Begriff »verkörpern« hindeutet, konfrontiert. In der Kraus-Forschung ist es Burkhard Müller, der sich damit in bahnbrechender Weise beschäftigt hat. Um das Kapitel über die »satirische Literarisierung der Fotografie« in seiner Monographie einzuleiten, macht er auf die Sachlage aufmerksam, dass »[…] die Bedeutung, die das visuelle Element in Kraus’ Satire spiel[e], im Unterschied zur akustischen Prägung seines Schreibens bis vor kurzem insgesamt wenig Beachtung gefunden« habe.394 Bei Kraus findet Müller den Gesichts- sowie Gehörsinn, besonders in dessen späterer Lyrik, als gleichberechtigt eingeschätzt, bis sie sich »synästhetisch verschränken«.395 Diese Bewandtnis expliziere »die unverwechselbare Physiognomie« des Krausschen Textes, bei dem sich Hören und Sehen »in das Material seines Arbeitens« fortsetzen, nämlich »in die Schrift«: Das bloße Schriftbild intensiviere sich 394
Müller, Burkhard, S. 47. Müller, Burkhard, S. 48 f.
395
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C. »Geschriebene Schauspielkunst« – Satire, Performativ
für Kraus zum »Schriftgesicht«.396 Das Problem ist jedoch, dass hier dem Schriftzeichen schließlich nur die Funktion zugeteilt wird, »einen Klang zu vertreten«, obwohl eingeräumt wird, dass sich »das zu Hörende« zuvor in Schrift verwandeln müsse, um »nun zweifellos gelesen, d. h. mit den Augen aufgenommen« zu werden.397 Hinter der Schrift komme bei Kraus außerdem »eine zweite Materialität«, nämlich »die der Sprache« zum Vorschein, auf deren »sinnlich-stoffliche[r] Qualität er gegen »die landläufige Vorstellung von der Sprache als bloßem kommunikativen Instrument« beharrt habe.398 Diese Trennung der Schrift als gleichsam sekundärer Angelegenheit vom Themenbereich der Krausschen Sprachanschauung erweist sich jedoch angesichts seines Konzeptes der Satire, das, wie oben gezeigt wurde, zum »geschriebenen Wort« in enger Beziehung stand, als unsachgemäß.399 Vielmehr wäre die Schrift hier in einem direkten Zusammenhang mit der Wahrnehmung durch den Rezipienten zu thematisieren. In diesem Punkt ist Sybille Krämers Explikation der »Hermeneutisierung der Sinnlichkeit«400 beachtenswert. Ihrer Ansicht nach ist »in dem neuzeitlichen Gestus der Textinterpretation« eine »Verwandlung opaker Materialität in ein transparentes Medium« geschehen: Interpretation habe dabei als ein Verfahren gegolten, »[…] das ausgeh[e] von der sinnlichen Gestalt eines Textes, um diese dann hin auf einen hinter dieser Oberfläche lokalisierten Sinn zu durchdringen«.401 Dabei sei es »[…] um den Geist, welcher nicht der Buchstabe ist, um den Sinn jenseits des Wortlautes« gegangen, wobei das Schriftbild zur nur noch materiell verstandenen Oberfläche« geworden sei, die man durchdrungen haben müsse, »[…] um in ihrer Tiefe den Sinn zu entbergen.«402 Beachtenswert ist jedoch die etymologische Vorgeschichte des »Sinnes«, der in dieser Perspektive den »Sinnen« als Sinnesorganen nur entgegengesetzt werden muss. Der »Sinn« habe ursprünglich, von ›reisen‹ bzw. von ›eine Fährte suchen‹ hergerührt; damit sei »eine ›Ortsbewegung‹ und vor allem ein Bestre-
396
Müller, Burkhard, S. 49. Müller, Burkhard, S. 50. 398 Müller, Burkhard, S. 50. 399 Hier erörtert Müller den Bezug von Kraus’ Satire zu Bild, Ton und Film, jedoch nicht zur Schrift. Die Betrachtung über Kraus’ Sprachverständnis findet sich im Kapitel über den Ton, und zwar nur kurz und in Anlehnung an die abgegriffenen Formeln »Sprachmystik-Spracherotik-Sprachmagie« (s. dazu Müller, Burkhard, S. 283 ff.). 400 Krämer, in: Busch / Müller / Seligmann, S. 24. 401 Krämer, in: Busch / Müller / Seligmann, S. 27. Parallel dazu habe in der Malerei das zentralperspektivische Bild den gegenständlichen Malgrund in ein Fenster verwandelt, durch das hindurch der Betrachter einen immaterialen Raum wahrgenommen habe (S. 27). Der Hermeneutisierung der Sinnlichkeit sei in der Geschichte der Philosophie ihre Epistemologisierung vorangegangen, wobei seit der antiken Unterscheidung zwischen dem bloß Denkbaren (Logos) und dem sinnlich Wahrnehmbaren (Aisthesis) die Logozentrisierung der Aisthesis unter der erkenntnistheoretischen Aufwertung des Augensinns gegenüber den übrigen Sinnesvermögen stattgefunden habe (S. 25 f.). Auf dieser Basis sei »das ›Fenstermodell‹ des Verhältnisses von Sinn und Sinnlichkeit« entstanden (S. 25). 402 Krämer, in: Busch / Müller / Seligmann, S. 27 f. 397
III. Zur performativen Umgestaltung der Satire
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ben, im Vollzug eines bestimmten Tuns eine ›Richtung‹ einzuhalten«, gemeint.403 Davon ausgehend, spürt Krämer bei Walter Benjamin, Paul Zumthor und Vilém Flusser dem »performative[n] ›Verkörperungsmodell‹ des Verhältnisses von Sinnlichkeit und Sinn«404 nach. Sie teilten also, so Krämer, einen »im Tenor gleichgestimmten Gedanken«, das Sinnliche bringe den Sinn nicht zur Erscheinung und sei auch nicht Ausdruck von Sinn, vielmehr sei es der Vollzug des Sinnes oder seine Subversion.405 Unter diesem Aspekt gebe es Sinn nur im sinnlichen Umgang mit etwas, das im Raum und Zeit gegeben ist, woraus resultiere, dass Sinn als Ereignis bzw. ›Performanz‹ immer »sinnlich verkörperter Sinn« sei.406 Im Zusammenhang mit diesem Verständnis von Sinn als »eine[r] ›Kraft des Gerichtetseins beim Vollzug von etwas‹«407 ist auch Peter Szondis Bemerkung relevant, dass für die sachorientierte Aufklärungshermeneutik eines Chladenius oder eines Georg Friedrich Meier, die anders als Hermeneutiker nach der Goethezeit das Verstehen nicht als ein Verstehen des Autors, sondern als ein solches von dessen Verständnis der Sache begriffen hätten, der Sensualismus im 17. und im 18. Jahrhundert die Voraussetzung gewesen sei.408 Dabei habe man auf den Zeichencharakter der natürlichen Dinge, d. h. die Angewiesenheit der Schöpfung auf Auslegung durch den Menschen, vertraut und auch die Auslegung der künstlichen Zeichen darauf gegründet.409 Diese Sachverhalte zeigen uns, dass die Schrift im Spannungsverhältnis zum hermeneutischen Verfahren als Korrelat der Wahrnehmung thematisiert werden kann. Wenden wir uns wieder der Krausschen Satire zu, so liegt die Vermutung nahe, dass es sich auch bei seiner Bestimmung des geschriebenen Wortes als der »naturnotwendige[n] Verkörperung des Gedankens« um den »sinnlich verkörperten Sinn« in der oben ausgeführten Bedeutung gehandelt hat. Diese These bekräftigen nicht nur die gleiche Wortwahl, sondern auch sein Anspruch auf eine eigene Sprachkunst, welche die ›Sinn‹-Ebene nicht vernachlässigen, zugleich aber darüber hinausgehen solle. Im Selbstvergleich mit Nestroy schreibt er in einem Aphorismus: Ich bin vielleicht der erste Fall eines Schreibers, der sein Schreiben zugleich schauspielerisch erlebt. Würde ich darum einem andern Schauspieler meinen Text anvertrauen? Nestroys Geistigkeit ist unbühnenhaft. Der Schauspieler Nestroy wirkte, weil er etwas, was kein Hörer verstanden hätte, so schnell heruntersprach, daß es kein Hörer verstand. (Bd. 8, 334) 403
Krämer, in: Busch / Müller / Seligmann, S. 29. Krämer, in: Busch / Müller / Seligmann, S. 33. 405 Krämer, in: Busch / Müller / Seligmann, S. 33. 406 Krämer, in: Busch / Müller / Seligmann, S. 33 f. 407 Krämer, in: Busch / Müller / Seligmann, S. 29. 408 Szondi, in: Bollack / Stierlin, S. 142. Z. B. sei bei der Textkonzeption des Chladenius, nach der die Auslegung nicht so sehr der Textstelle als dem Gegenstand, der in der Textstelle vorgetragen werde, adäquat zu sein habe, dem Wort eine Art Eigenexistenz zugeschrieben, wobei allerdings der »unmittelbare Verstand« (Sinn) dem Einfluss der Subjektivität und der Historizität des Lesers bzw. des Auslegenden entzogen sei (S. 34, 45 f., 51). 409 Szondi, in: Bollack / Stierlin, S. 102 ff., 142. 404
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C. »Geschriebene Schauspielkunst« – Satire, Performativ
In dieser Bestimmung eines Schreibens, das »zugleich schauspielerisch« erlebt werden könne, können wir ein beredtes Merkmal des Performativ-Pragmatischen erkennen, weil es der sinnlich wahrzunehmenden Aufführung in einer bestimmten räumlich-zeitlichen Situation vor dem Publikum zugedacht wird. Der Grund nun, warum dieses Konzept der Satire mit dem erzieherischen Vorhaben, die Leser zu »entjournalisieren«, verbunden war, ist in Hinblick auf die damalige Entwicklungsphase der Medienwelt zu begreifen. In einem Aphorismus heißt es: Die Welt ist taub vom Tonfall. Ich habe die Überzeugung, daß die Ereignisse sich gar nicht mehr ereignen, sondern daß die Klischees selbsttätig fortarbeiten. Oder wenn die Ereignisse, ohne durch die Klischees abgeschreckt zu sein, sich doch ereignen sollten, so werden die Ereignisse aufhören, wenn die Klischees zertrümmert sein werden. Die Sache ist von der Sprache angefault. Die Zeit stinkt schon von der Phrase. (Bd. 8, 229)
Die Ironie besteht hier darin, dass die Bildspender der Metaphern aus dem Bereich des Gehörsinns und des Geruchssinns herkommen. Damit richtet Kraus auf die Herrschaft der massenmedialen Presse, unter der die Ereignisse erst nur dadurch schon medialisiert vorkommen können, sein Augenmerk. Hier handelt es sich um jene »Anästhetisierung«, gegen die im Zeichen einer Rückkehr zur Aisthesis nach Wolfgang Welsch Widerstand geleistet werden soll.410 Bei Kraus ging diese Opposition mit dem Versuch einher, die »Klischees« zu »zertrümmern«. Ein Beispiel dafür stellt der Essay ›Herbstzeitlose oder die Heimkehr der Sieger‹ vom Dezember 1912 dar, in dem – wie in ›Harakiri und Feuilleton‹ – zwei Journalisten plaudern, diesmal über den Krieg auf dem Balkan. In dem Vorwort bemerkt er, »das dramatische Ereignis« sei hier »nichts weiter als das fingierte Leben, das sich zwischen diesen Geschöpfen abspielen muß, sobald die Phrase einen Inhalt bekommt« (Bd. 4, 389). Von diesem Standpunkt aus weist er auf die Situation hin, wo zwischen »Phrase« und »Sache« eine direkte Beziehung angenommen werden kann: Dieser Inhalt ist die vermessene Gleichstellung und Angleichung von Weltglaube und »Blattgefühl«, der Sieg des Ungeistes über die Realität, den in einem verrotteten Staatsleben das Machtbewußtsein des Journalismus längst errungen hat und den es am deutlichsten in den Tagen beweist, wo wirklich der Bericht das Ereignis zur Folge hat. (Bd. 4, 389)
Der Bericht, der das Ereignis zur Folge haben kann, ist im Zusammenhang mit der perlokutionären Kraft der Sprache zu betrachten. Gegen eine derartige performative Theatralik der Presse wird die oppositionelle Performativität seiner Metatheatralik in der Fackel konzipiert. Da dieser Entwurf im Verlauf der Zeit immer mehr an die Leseraufklärung zur Verhinderung eines Krieges herangerückt wurde, können wir hierbei von einem Zusammentreffen von Ästhetik und Ethik sprechen. Warum aber konnte er dabei nicht auf den Konsens mit den Lesern rechnen? Wir wenden uns nun einem Thema zu, das zu dem jenes Gegensatzes zwischen ›Sinn‹ (dem Literarischen) und ›Sinnlichkeit‹ (dem Theatralischen) in Parallele steht. 410
Welsch, S. 15 ff.
III. Zur performativen Umgestaltung der Satire
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3. Der »korporalisierende« Aspekt der Performativität bei Kraus a) Sagen und Zeigen. Kraus’ Eigenposition im Wechselspiel von Hermeneutik und Performanz Seit Kraus im Heine-Essay sowie in damit zusammenhängenden Aphorismen die Unbeherrschbarkeit der Sprache hervorhob und dementsprechend seine »Spracherlebnisse« rühmte, wurde der Ereignischarakter des Schreibens als eine Seite der »Spracherotik« immer wieder von ihm thematisiert. In einem Aphorismus schreibt er z. B. die Meinung, »die Sprache diene dazu, irgend etwas ›auszudrücken‹«, dem »Bann der journalistischen Kunstauffassung« zu, und erhebt gegen die davon hergeleitete Gleichgültigkeit gegen die Druckfehler411 einen entschiedenen Einwand: Von der Presse beeinflusste Leser »wissen«, so schreibt er, nichts von dem, was der Autor erlebt, ehe er zum Schreiben kommt; sie verstehen nichts von dem, was er im Schreiben erlebt: wie sollten sie etwas von dem ahnen, was sich zwischen Geschriebenen und Gelesenen ereignet? (Bd. 8, 244)
Durch die Druckfehler wird in der Sicht von Kraus die ohnehin unvermeidbare Gefahr, dass der Leser das »Erlebnis« des Autors beim Schreiben nicht nachvollziehen kann, noch vermehrt. In provokativer Diktion macht er hier das Publikum darauf aufmerksam, dass zwischen »Geschriebenen und Gelesenen« etwas für es Fremdes geschehe. Um welches Ereignis es da geht, erzählt er in einem anderen Aphorismus anschaulich, indem er seinen Arbeitsprozess, der als ›Inszenierung des Schriftbildes‹ zu bezeichnen wäre, beschreibt: Manchmal lege ich Wert darauf, daß mich ein Wort wie ein offener Mund anspreche, und ich setze einen Doppelpunkt. Dann habe ich diese Grimasse satt und sähe sie lieber zu einem Punkt geschlossen. Solche Laune befriedige ich erst am Antlitz des gedruckten Wortes. Sie bewirkt oft den Verlust von dreitausend Bogen, die ich um alles in der Welt und mit dem Aufwand lächerlicher Kautelen den Augen eines Publikums entziehe, das sich dafür interessiert, was ich über die Revolution in Portugal zu sagen habe. Dann erfährt es, daß ich nichts darüber zu sagen habe, und nimmt mir die Enttäuschung übel. Das Publikum hat immer die größten Themen. Aber wenn es erst ahnte, mit wie kleinen Sorgen ich mir inzwischen Zeit und Gesundheit vertreibe, es würde keinen Versuch mehr mit mir machen. (Bd. 8, 243)
Hier betrachtet Kraus das »stoffliche« Interesse des Publikums als Hindernis, das es dabei stört, weniger »Was« als »Wie« seines Schreibens zu beachten. Dabei betont er, wie außerordentlich seine Bemühungen um den Stil seien, indem er sogar angibt, sie gingen auf Kosten seiner Gesundheit. Gleichzeitig spricht er seinen Widerwillen gegen den »Versuch« des Publikums mit ihm offen aus. Durch sol 411 Im Essay ›Druck und Nachdruck‹ zeigt er an eimem Fackel-Zitat in einer Zeitung, wie »ein so lesbares Manuskript« willkürlich »Verheerungen ausgesetzt« worden sei (Bd. 4, 110).
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C. »Geschriebene Schauspielkunst« – Satire, Performativ
che selbstbezüglichen Äußerungen deutet er in je anderer Weise die Intensität des Sprachereignisses an, mit dem er offenbar nur vorgeblich »lächerlich[e] Kautelen« sowie »klein[e] Sorgen« verbindet. Schreibt er aber darüber nur deshalb so indirekt, weil er zunächst bestrebt ist, das Publikum zu »entjournalisieren«? Dagegen sprechen die Sätze, die um dasselbe Thema ohne direkten Zusammenhang mit dem Problem der Presse bzw. ihrer Leser kreisen. In dem Aphorismus über seine Arbeitsweise, die aus »Gliederung« und »Klitterung« bestehe, bemerkt er z. B., dass für ihn die Schriftzeichen kein beliebig zu handhabendes Werkzeug sind: Schreiber, die ohnedies alles im Kopf haben und beim Schreiben nur mit der Hand beteiligt sind, sind ruchlose Manipulanten, mit denen ich nichts außer dem Alphabet gemeinsam habe, und auch das nur widerstrebend. (Bd. 8, 327)
Die Nachträglichkeit des Sinnes wird wiederholt behandelt, wie der Aphorismus über den »Gedanken« als »ein Gefundenes« (Bd. 8, 237) aufweist. Wenn es sich überdies um den Augenblick des Schreibens handelt, kommt immer wieder seine blitzartige Eigendynamik, die der intentionalen Kontrolle des Autors keineswegs gehorcht, zur Sprache: Ein Satz kann nie zur Ruhe kommen. Nun sitzt dies Wort, denke ich, und wird sich nicht mehr rühren. Da hebt das nächste seinen Kopf und lacht mich an. Ein drittes stößt ein viertes. Die ganze Bank schabt mir Rübchen. Ich laufe hinaus; wenn ich wiederkomme, ist alles wieder ruhig; und wenn ich unter sie trete, geht der Lärm los. (Bd. 8, 291) Je näher man ein Wort ansieht, desto ferner sieht es zurück. (Bd. 8, 291)
Diesem Sachverhalt entspricht, dass einem echten »Gedanken« der Anspruch der Originalität verweigert wird: Ein Gedanke ist nur dann echtbürtig, wenn man die Empfindung hat, als ertappe man sich bei einem Plagiat an sich selbst. (Bd. 8, 237)
Ein Analogon dieser paradoxen Unbestimmbarkeit darüber, ob der »Gedanke« dem Autor selber gehört oder nicht, können wir beim Verhältnis des Schauspielers zum Wort der ihm zugeteilten Rolle finden. In der Tat behauptet Kraus im Nestroy-Essay, eine schriftstellerische Leistung verdanke ihren Erfolg der schauspielerischen Aufführung: Seiner [Nestroys, Anm. d. Verf.] Satire genügte vorwiegend ein bestimmter Rhythmus, um daran die Fäden einer wahrhaft geistigen Betrachtung aufzuspulen. (Bd. 4, 224) Der Tonfall ist jene Äußerlichkeit, auf die es dem Gedanken hauptsächlich ankommt […]. (Bd. 4, 227)
Durch solche Äußerungen über die Sprachproblematik weist er darauf hin, dass ihr notwendigerweise eine nur anzudeutende, nicht auf Prädikation reduzierbare Ebene zukommen muss. Dieses Thema demonstriert er selbst, indem er in seiner Metaphorik und Aphoristik den andeutenden Sprachgestus wiederholt in die Praxis umsetzt.
III. Zur performativen Umgestaltung der Satire
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In dieser Struktur der Selbstreferenzialität finden wir ein unverwechselbares Kennzeichen des Performativen: die »Duplizität von Sagen und Zeigen«.412 Dieses konstitutive Merkmal eines Zeichens besagt, dass es materiell anwesend sein muss, um etwas Abwesendes ›als‹ solches zu bezeichnen. Die Materialität des Zeichens, die das »Sagen« in diesem Sinne ermöglicht, kann jedoch nur sich zeigen, fällt nämlich nicht selbst unter die Struktur eines ›als‹ und gehört deshalb in den Bereich des Phänomenalen, wie Mersch expliziert.413 Dies bedeute, dass Sinn an ein »Sichzeigen« gebunden ist und darin »das Gewicht der Wahrnehmung« im Sinne der Aisthesis hineinspielt, weil das »Sichzeigen« nur als Ereignis, das den Zeichen noch vorausgeht, erfassbar ist.414 Auf diese Weise wird die Austinsche Sprechakttheorie, bei der das Moment der Intentionalität einer Handlung zu stark betont werde,415 unter Berufung auf die Heideggersche Seins philosophie revidiert, wodurch das Performative und das Hermeneutische zusammentreffen. Denn Heidegger hat die Diltheysche Hermeneutik, bei der »[…] die Sprache schlechthin als Mittel der Welt- und Lebensauslegung genommen« worden sei,416 derart verschärft, dass er sie an die Phänomenologie seit Husserl, die bei ihm als ontologische Zugangsart zum »Sichzeigenden« als »Sein des Seienden« umgestaltet wurde,417 angeschlossen und das »Seinsverständnis« der Existenzialität des Menschen als Seinsart des Daseins zugeschrieben hat.418 Daraus habe später resultiert, dass er es abgelehnt habe, »überhaupt ›über‹ die Sprache zu sprechen«, weil die Sprache einzig im Sprechen sich zu zeigen vermöge.419 Dementsprechend hat er das philosophische Denken der Dichtung angenähert, weil »das Erschließen von Existenz« »einziges Ziel der ›dichtenden‹ Rede werden« könne.420 So gesehen, finden sich zwischen Kraus und Heidegger mehrere Parallelen, wie vor allem Kraus’ Thematisierung der Sprache als ethisch-ästhetischer Angelegenheit aufweisen kann. In der Tat sind beide verglichen worden. Hermann Broch hat ihnen z. B. »[…] eine Art Überkompensation des Sprachlichen«, d. h. »ein Bemühen, die Sprache selbst zum Absoluten zu machen«, zugeschrieben.421 Diese Verhältnisse bestätigen die These, dass »Sagen und Zeigen« auch bei Kraus ein Hauptthema war.
412
Mersch, in: Kertscher / Mersch, S. 77. Mersch, in: Fischer-Lichte u. a., S. 42 f. 414 Mersch, in: Fischer-Lichte u. a., S. 44 f. 415 Mersch, in: Fohrmann, S. 512. 416 Bollnow, S. 212. In der Hermeneutik habe Dilthey zunächst die Methodenfrage der Geisteswissenschaft, dann den Weg der Philosophie gefunden, indem sich dabei die Interpretation von der Auslegung bestimmter sprachlicher Kunstwerke zur Deutung aller »Schöpfungen des Geistes« ausgeweitet habe (S. 211). 417 Heidegger (1977), S. 48. 418 Heidegger (1977), S. 48, 181. 419 Mersch, in: Fohrmann, S. 509. 420 Heidegger (1977), S. 216. 421 Broch, S. 303. 413
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C. »Geschriebene Schauspielkunst« – Satire, Performativ
Diesen Vergleich mit Gedanken Heideggers oder allgemein mit Theoremen der philosophischen Hermeneutik stellen wir freilich unter dem Vorbehalt an, dass die Eigenart der Krausschen Satire darin nicht aufgeht. Hier ist dieser Sachverhalt in Hinblick auf die Schriftproblematik zu bemerken. Einen triftigen Anhaltspunkt dazu können wir von den Sätzen erhalten, in denen Kraus den Journalisten die Tendenz vorwirft, ihre Schreibweise am Sprechen zu orientieren. Im Essay ›Prozeß Friedjung‹ schreibt er z. B. über die damalige »Richtung eines schönrednerischen Geistes« bei der neueren Generation der Journalisten: Diese Sorte, die genau so schreibt wie sie spricht, weil sie so spricht wie sie schreibt, fern vom Schuß des Gedankens und von der Gefahr der erlebten Worte, bezog kühn ihre Blutleere aus dem Kreise kriegerischer oder ritterlicher Vorstellungen. (Bd. 4, 27 f.)
Hier betrachtet Kraus das Schreiben als einen Akt, der mit dem Sprechen keinesfalls gleichzusetzen ist. Die Nähe zum Sprechen ist unter dieser Perspektive eher ein Makel des Zeitungsstils neben dessen Phrasenhaftigkeit.422 In diesem Punkt handelt es sich nämlich nicht um das ›Gespräch‹ mit dem Text im Sinne Gadamers, das schließlich auf dessen »Rückverwandlung« »in Rede und Sinn« hinausläuft.423 Denn bei Kraus bleibt dem Geschriebenen seine Unverfügbarkeit vorbehalten. Vielmehr können wir seine Position wiederum zu der von Derrida in Bezug setzen.424 In der bisherigen Kraus-Forschung gibt es schon einige Hinweise darauf, dass Kraus’ Textstrategie mit der der Dekonstruktion vergleichbar sei.425 Ein Argument dafür kann nun unter dem performativen Gesichtspunkt formuliert werden. Bezeichnend ist, dass in dem Essay Kraus’ Kritik an Heine hauptsächlich mit dessen Texten ihren Ausgang nimmt, wobei sie diese in einem fremden Kontext so wiederholt, dass sich ihre Aussagen von selbst ad absurdum zu führen scheinen.426 Diese Methode hat er auch in seinen häufig aus der Umarbeitung von Redensarten und Sprichwörtern entstandenen Aphorismen angewandt, wobei er zum philosophischen Wahrheitsanspruch auf Distanz gegangen
422 Wie in B. II. 3. a) erwähnt wurde, ist Kraus gegen das Prinzip der Lautgemäßheit in der damaligen Orthographiereform im deutschsprachigen Raum konsequent kritisch gewesen. 423 Gadamer, S. 371; s. auch S. 350: »Das in literarischer Form Überlieferte wird damit aus der Entfremdung, in der es sich befindet, in die lebendige Gegenwart des Gesprächs zurückgeholt, dessen ursprünglicher Vollzug stets Frage und Antwort ist.« 424 Über Kraus und Derrida s. C. II. 2. b), über Kraus und Paul de Man s. B. III. 2.b). 425 Als Vertreter dieser Ansicht sei Jay F. Bodine genannt, der bemerkt: »Kraus does ›decon struct‹ the socio-political language he encounters and his language views do coincide to this extent with poststructulralism« (Bodine, in: MAL, 1989, S. 151). Im Zusammenhang damit steht außerdem z. B. Marlies Tropps Ansicht über die »Dekonstruktion des Subjekts« bei Kraus (Tropps, in: Argument-Sonderband, S. 100) oder Fritz Betz’ Behauptung, Kraus habe »[…] die Dekonstruktion von Wirklichkeit durch die technischen Systeme der Nachrichtenübermittlung benannt« (Betz, S. 14). 426 s. dazu Derrida (1996), S. 45: »Die Dekonstruktion hat notwendigerweise von innen her zu operieren, sich aller subversiven, strategischen und ökonomischen Mittel der alten Struktur zu bedienen, sich ihrer strukturell zu bedienen, das heißt, ohne Atome und Elemente von ihr absondern zu können.«
III. Zur performativen Umgestaltung der Satire
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ist.427 So schreibt er z. B. in einem Aphorismus, indem er sich auf die Mehrdeutigkeit des »Satzes«, der auch »Sprung« bedeutet, wortspielerisch stützt: »Ein Aphorismus braucht nicht wahr zu sein, aber er soll die Wahrheit überflügeln. Er muß mit einem Satz über sie hinauskommen« (Bd. 8, 117).428 In dem Aphorismus über die Sprache als »eine Herrin der Gedanken« betont er überdies die Nachträglichkeit des Sinnes wie folgt: »[A]us dem Wort springt mir der junge Gedanke ent gegen und formt rückwirkend die Sprache, die ihn schuf« (Bd. 8, 135). Diese Beispiele lassen annehmen, dass Kraus das »Spiel«, das Derrida als den Namen für »die Abwesenheit des transzendentalen Signifikats«429 erörtert und in der weiteren Kritik an der Sprechakttheorie demonstriert hat,430 im Prozess der Verfassung seiner Satire immer wieder erlebt hat. Von daher lässt sich erklären, warum er die Reduzierung seiner Satire auf den »Stoff« in der realen Welt so streng abgelehnt hat: Unter dieser Perspektive, die den Primat der Signifikation vor der Referenz voraussetzt, wird der Unterschied zwischen Fiktionalität und Faktizität unvermeidlich suspendiert, indem die Zeichen »in ihrer Iterabilität ständig ihr eigenes ›alter‹ miterzeugen«.431 Es ist diese Ebene der performativen Wiederholung, auf der die Zugehörigkeit der Krausschen Satire zur Kategorie der heiteren Satire im Sinne Schillers problemlos gelten kann. Wir müssen jedoch beachten, dass er zwar zugestand, seine Sprache mache mit ihm, »was sie will«, jedoch zugleich behauptete, er beherrsche »nur die Sprache der andern« (Bd. 8, 326). Bei seiner Polemik gegen Maximilian Harden kommentierte er auch: »Der Schriftsteller muß alle Gedankengänge kennen, die sein Wort eröffnen könnte. Er muß wissen, was mit seinem Wort geschieht« (Bd. 8, 122) [Hervorhebung durch d. Verf.]. Zum Schluss des Heine-Essays bemerkte er, das Wort sei bei Heine »Nicht Tat und nicht Ereignis, sondern Absicht und Zufall« (Bd. 4, 209) gewesen. Diese Tatsachen belegen, dass er dem »Spiel« der Signifikation kraft der Materialität des Zeichens »eine Einmaligkeit und damit auch Undeutbarkeit«432 zukommen lassen wollte und dabei den Anteil der Intention
427
Im Essay ›Philosophen‹ vom Mai 1910 schreibt Kraus: »Die Philosophie halte ich mir vom Leib, weil ich das Gefühl habe, daß sich hier tagaus tagein das Schlimmste begibt, und weil ich zu gut informiert werden könnte. Denn hier scheint ein Rotwelsch eigens erfunden, um den Unwert jener, die sich dem Gewerbe ergeben, als Schleichgut in die Kultur zu schmuggeln« (Bd. 4, 93). Ein im Oktober 1915 veröffentlichter Aphorismus lautet: »Mit gutem Recht ist in den Betrachtungen über Kultur und Krieg immer davon die Rede, daß die andern die Utilitarier sind. Diese Auffassung entstammt dem deutschen Idealismus, der auch die Nahrungs- und Abführmittel verklärt hat« (Bd. 8, 375 f.). 428 Harry Zohn zufolge hat Kraus, wenn er das Wort »Satz« aussprach, manchmal mit einer Handbewegung einen Sprung angedeutet; s. Zohn, S. 73. 429 Derrida (1996), S. 87. 430 s. dazu Derrida (2001), in: Engelmann, S. 114 ff. Hier werden aus John R. Searles Gegenkritik an Derridas Kritik der Austinschen Sprechakttheorie zahlreiche Sätze zitiert und zur Bekräftigung Derridascher Gedanken kommentiert. 431 Mersch, in: Fischer-Lichte u. a., S. 45. 432 Mersch, in: Fischer-Lichte u. a., S. 45.
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C. »Geschriebene Schauspielkunst« – Satire, Performativ
des Autors nicht gänzlich ausschloss.433 Dagegen war Derrida der Meinung, dass »ohne die Differenz oder den formgebenden Gegensatz das Lautelement, der Term, die als sinnlich bezeichnete Fülle nicht als solche in Erscheinung treten« würden.434 Hier ist Merschs Kritik bemerkenswert, dass Derrida »jede Möglichkeit eines Ereignisses«, das »nicht schon hervorgehoben oder skandiert wäre, das mithin geschieht, ohne »als etwas« gewahrt zu werden«, geleugnet habe und dadurch in die »Ereignisvergessenheit« geraten sei.435 Erforderlich sei in diesem Zusammenhang »eine Rettung des Präsentischen im Modus von Aisthesis«.436 Kraus’ Satire scheint eben diesen Bedarf erfüllt zu haben. b) Ethik der »Responsivität« und »korporalisierende Performativität« Kraus’ Berufung auf das Nestroysche Schauspiel der Satire können wir als Gegenmaßnahme zur Theatralität der Presse-Meldung, unter deren Herrschaft er von früher her immer wieder die Ohnmacht des Satirikers geäußert hat, betrachten. Dabei wird die Satire nicht nur durch ihre »Interesselosigkeit« bezüglich ihres Stoffes im Kantischen Sinne, sondern auch durch ihre Verbundenheit mit dem sinnlichen Schaffensprozess, zu dem auch das Optische und das Auditive gehört, gekennzeichnet. In seiner Reaktion auf seine Karikatur im Witzblatt Muskete schreibt er: Wenn es mein Amt ist, die Zeit in Anführungszeichen zu setzen und sie in diesen Klammern ihr ureigenes Gesicht verzerren zu lassen, wissend, daß ihr Unsäglichstes nur von ihr selbst gesagt werden kann; wenn es meine Aufgabe ist, nachzusprechen was ist; wenn Zitat und Photographie alle satirische Meisterschaft übertreffen: dann habe ich, um mir noch dies letzte Werk zu erleichtern, einen Plan. Ich lasse das Leben, das auszudrücken keinem Genius mehr gelingen könnte, m i c h ausdrücken. […] Wie der Künstler sich selbst in alle Gestalt trägt, so trägt eine Wirklichkeit, die ihn überflüssig gemacht hat, sich selbst in den Künstler. Um nicht vor ihm zu erschrecken, zeichnet sie ihn nach ihrem Maß und erschrickt vor sich selbst. (F 381 / 83, 43)
Hier wird der Bezug auf das Schauspielerische zwar nicht unmittelbar offen gelegt, aber durch das Transformationsmotiv metonymisch impliziert. Damit können wir seinen Einspruch gegen die Meinung in einer Rezension seines Aphorismenbands Pro domo et mundo in Zusammenhang bringen, Kraus unterscheide 433
In diesem Sinne können wir folgenden Kommentar Bodines begreifen: »[…] yet he will also go a different path than Derrida’s type of deconstruction and include an individual con sciousness ascertaing meaning« (Bodine, in: MAL, 1989, S. 151). 434 Derrida (1996), S. 109. 435 Mersch (2002), Was sich zeigt, S. 377 ff. Diesen »Mangel« bei Derrida schreibt Mersch dem Sachverhalt zu, dass sein Angriff »einzig dem Ereignis im Sinne eines ›Gewichts‹ der Wahrheit, der Norm ihrer Begründung oder des Gesetzes ihrer Bezeugung« gelte (S. 378). Über den Unterschied zwischen Kraus und Derrida s. auch D. II. 436 Mersch (2002), Ereignis und Aura, S. 12.
III. Zur performativen Umgestaltung der Satire
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sich von »den eigentlichen Aphoristen, die ›ein von innen her bestimmtes, persönliches Verhältnis zu den Dingen und den Menschen [besäßen]‹«, dadurch, dass er »einen ›äußeren Anlaß‹ brauch[e], um zu denken« (F 345 / 46, 35): Das »Verhältnis zu den Dingen und Menschen«, das der Tropf in Gegensatz zum »Anlaß« bringt, muß freilich da sein, aber es hat nicht den Weg zur Verständigung. Die Sprache holt von draußen, was drinnen ist. Was der Tropf unter dem Aphorismus wie unter Lyrik begreift, ist eben noch »eine gelungene Form«, in die es dem Dichter beliebt, seinen so wie so fertigen Gedanken oder sein auch an und für sich präsentables Gefühl hineinzutun, damit der Betrachter eine Freude hat. Was er nicht begreift, weil ein handliches Gehirn derlei nicht begreifen kann, ist das Glück des Aphoristen, allem Ernst der Welt das vorbestimmte Spiel des Wortes so zu finden, daß die Auflösung sein Verdienst scheint. (F 345 / 46, 36 f.)
Seinen Witz als »Gedanken« verdankte Kraus, so behauptet er hier, einem äußeren Zufall. Angespielt wird wiederum, wie die darauf folgende Erwähnung der ihm zugeschriebenen »Komödiantenmaske« (F 345 / 46, 39) aufweist, auf den Akt von Schauspielern wie Nestroy, der den »Ernst« wortspielerisch ins Gegenteil umwendet. Hier ist von Belang, dass solch ein Wortspiel seiner Meinung nach schon »vorbestimmt« und bloß zu »finden« gewesen sei, woraus hervorgeht, dass dieser Schauspieler zugleich als Zuschauer angesehen werden kann. In Kraus’ Gedankenkreis wird auf diese Weise immer wieder die Passivität des Satirikers betont: Passiv ist er als Schauspieler gegenüber dem zu zitierenden Autor, der als »Souffleur« gelten kann, als Zuschauer gegenüber der Wirklichkeit als einem massenmedial inszeniertem ›Drama‹. Darüber hinaus wird Passivität als eine ethische Angelegenheit postuliert, wenn er z. B. die Aktivität der Feuilletonisten, mit der sie sich den Stoff »wählen«, kritisiert (Bd. 4, 192). Von seiner eigenen Mühe des Schreibens heißt es sogar: Mein Ausdruck ist ganz und gar die Laune der Umwelt, in deren Schwall und Gedränge mir von Namen und Arten, Stimmen und Mienen, Erscheinungen und Erinnerungen, Zitaten und Plakaten, Zeitungen und Gerüchten, Abfall und Zufall das Stichwort zufällt und jeder Buchstabe zum Verhängnis werden kann. Darum ist mein Werk nie fertig und macht mir, wenn es fertig ist, Verdruß. (Bd. 8, 294 f.)
Den hier genannten sinnlichen Elementen entsprechend, spielt auch in die Kraussche Satire das Multisensorische hinein, indem in der Fackel ein dynamisches Wechselspiel der Sprache mit den Bild- sowie Lautelementen konzipiert wird. In diesem Punkt wirkt für Kraus das ›Theater‹ als heuristisches Modell, bei dem nach Helmar Schramm ein »ambivalentes Zusammenspiel von Wahrnehmung, Bewegung und Sprache«, mit anderen Worten von »Aisthesis, Kinesis, Semiosis«437, entstehen könne. Die Rehabilitierung der Aisthesis in diesem Sinne ist zweifelsohne auch bei Kraus bemerkbar.438 Dadurch werden wir nicht nur in das voridealistische Verständnis für die Satire, bei dem Sulzer dem Satiriker eine 437
Schramm, S. 44. Das Element der Kinesis (Bewegung) kommt bei Kraus im Zusammenhang mit seinen Lesungen vor; s. dazu D. I.–IV. 438
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C. »Geschriebene Schauspielkunst« – Satire, Performativ
›sinnliche‹ Verfahrungsweise zugebilligt hat439 und das Pathos bzw. das Erhabene als passives Moment am Mimisch-Mimetischen mitwirken konnte, zurückgeführt. Vielmehr begegnen wir hier dem Hauptgrund dafür, weswegen wir zurecht von der Performativität der Krausschen Satire sprechen. Denn die Aisthesis bezeichnet, wie Mersch bemerkt, »[…] die Empfänglichkeit für Anderes, deren Struktur nicht intentional, sondern responsiv bestimmt ist«, wodurch die Aisthesis mit der Ethik verbunden wird.440 Die Materialität des Zeichens als »Nicht-Zeichen im Zeichen«, das »weder beherrscht noch einverleibt werden kann«, sondern sich zeige, könne »am Ort des Aisthetischen« rekonstruiert werden, wobei »[…] es besonders um die Beziehung zwischen Wahrnehmung und Anerkennung, Aufmerksamkeit und Achtung gehen« werde.441 In diesem Sinne stehe »am ›Ur-Sprung‹ der Sprache« »nicht der Sprecher, der etwas sagen will, sondern der Dialog, die Szene, die Situation«, mit denen »kein Vorsprachliches, sondern jenes Nichts, jene Offenheit, aus dem die Sprache erst ›ent-springt‹, verbunden sei.442 Dies bedeute, dass das Sprachdenken von »›Schau-Plätze[n]‹« ausgehen solle, »[…] worin sich Sprache und Sprechen gleichwie ihre Akteure allererst konstituier[t]en«.443 Beide sind nämlich nicht von einander isoliert vorhanden, sondern ereignen sich jeweils reziprok in instabilen und flüchtigen »Aufführungen«, von denen Krämer in Analogie zur Kunst-Performance folgende Explikation vornimmt: »Einmal bedarf die performance des Zuschauers, ist also an Wahrnehmungsvorgänge, an Aisthetisierung und ein Sich-Zeigen grundsätzlich gebunden. […] Zum andern zehrt die performance vom Eigengewicht, welches der Korporalität und Materialität des Darstellungsgeschehens zukommt.«444 Konzipiert wird hier die »korporalisierende Performativität«, bei der »nicht mehr auf dem Sagen, sondern auf dem Zeigen« das Gewicht liege.445 Bei Krämer macht diese mit der »universalisierenden« und »iterabilisierenden« Performativität zusammen eine Begriffstrilogie aus.446 Dieser Terminus, der sich vom lateinischen Adjektiv »corporalis« im Sinne »körperlich« herleitet, weist darauf hin, dass es sich hier um etwas handelt, was das Geltungsgebiet des bloßen Adjektivs »körperlich« übersteigt: Als Beispiele wären hier etwa zu nennen: Gestik und 439
s. dazu C. III. 1. b). Mersch (2002), Ereignis und Aura, S. 53. 441 Mersch (2002), Was sich zeigt, S. 418. Unter Berufung auf Schellings Theorie des »Zuvorkommens« sowie auf die Ethik des Gesichts von Lévinas behauptet hier Mersch, dass dabei die Struktur des Antwortens ein anderes Gewicht einnimmt als bei Heidegger: »Sie bedeutet nicht Ent-sprechung im Sinne des Deutens, um zur Sprache zu bringen, wo das Wort fehlt. […] Vielmehr bedeutet Antworten primär und vor aller Ereignung des Sinns eine Überantwortung an Anderes im Sinne der Aus-Setzung.« Das Denken wandle sich dabei »von der actio der Intentionalität zur passio des Responsiven« (S. 421 f.). 442 Mersch, in: Kertscher / Mersch, S. 86. 443 Mersch, in: Fohrmann, S. 511. 444 Krämer, in: Krämer, S. 17 f. 445 Krämer, in: Krämer, S. 17, 20. 446 s. dazu C. II. 2. b). 440
III. Zur performativen Umgestaltung der Satire
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Mimik eines Dichter-Schauspielers wie Nestroy, das konzeptgemäß wie schauspielerisch wirkende Zeichengefüge der Fackel-Seiten und nicht zuletzt das Verhalten des wahrnehmenden sowie imaginierenden Publikums, das an der Sinnproduktion tätigen Anteil nimmt.447 Dieser Entwurf der Performativität entspricht überdies der Idee der »verkörperten Sprache«, die Krämer wie folgt expliziert: Die Sprache selbst verfügt über materiale Exteriorität in Gestalt der Stimme, der Schrift, der Gestik usw. Und diese Materialität der Sprache ist kein randständiger, vielmehr ein grundständiger Sachverhalt. Überdies ist der Sprachgebrauch – in graduell jeweils unterschiedlicher Weise – an die Körperlichkeit der Sprachbenutzer gebunden, die sich nicht nur als formalrationale, symmetrisch positionierte Personen, sondern immer auch als bedürftige, asymmetrisch positionierte Körperwesen artikulieren.448
Durch diese konzeptuelle Bearbeitung gelangt der Begriff der Performativität an jenes Grenzgebiet zwischen der autonomen Sprachkunst und der an der Wirklichkeit orientierten Schauspielkunst, in dem die Eigenartigkeit der Krausschen Dichtung als ernster bzw. »strafender« Satire zutreffend thematisierbar sein wird. Hierin könnten wir auch das Movens erkennen, das es Kraus ermöglicht hat, die etwa von Adorno behauptete Grenze der modernen Satire zu übersteigen.449 Seine Satire können wir nämlich als eine Sprachkunst begreifen, bei der nicht nur die »iterabilisierende«, sondern die »korporalisierende« Performativität als Prinzip wirksam war. Das heißt, dass seine Satire eine Art performativer Kunst war, die auf einem Affekt basierte, der »[…] sich gleichermaßen aus einem Undarstellbaren, wie es in die Augen spring[e] oder das Ohr angreif[e] und die taktilen Sinne anstachel[e]«,450 bezog. Anders gesagt, ging sie stets von der immensen Gewalt der Pressesprache aus, auf die Kraus mit Indignation reagierte. Zwischen Sprache und Gewalt, die seit Aristoteles bis zu Habermas als Antipoden gegolten haben,451 fand Kraus eine enge Verbundenheit, wie seine Beschäftigung mit der Geschlechts- sowie Rassenproblematik in der Presse zeigt. Für seine Satire als eine Gegengewalt zu zuvor ausgeübter Gewalt scheint zu gelten, was Mersch über die »genuin moralische Dimension der Ästhetik des Performativen« ausführt: Sie konfrontiert somit auf eine tiefe und rigorose Weise mit der Indifferenz von Ethik und Ästhetik. Sie straft die Ideologie des Ästhetischen, des l’art pour l’art, und die Verantwor tungslosigkeit des Schöpferischen Lügen. Statt dessen bietet sie von neuem die Möglichkeit einer Restitution jener verlorenen Einheit, die Wissen, Geheimnis, Aisthesis und mora lische Erfahrung in der Gewahrung des Ereignisses und dem Akt elementarer Responsivität noch einmal zusammenführt.452
447 Dazu könnten wir auch »[n]icht-sprachlich formale Elemente von Stil«, die Hans-Martin Gauger erörtert, hinzufügen; s. dazu A. IV. 2. 448 Krämer, S. 270. 449 s. dazu C. I. 2. b). 450 Mersch (2002), Ereignis und Aura, S. 51. 451 Krämer, in: Herrmann u. a., S. 33. 452 Mersch (2002), Ereignis und Aura, S. 239.
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C. »Geschriebene Schauspielkunst« – Satire, Performativ
Das offensichtlich damit zusammenhängende pathetisch Provokante der Kraus schen Satire erhellt, warum er Heine als Satiriker nicht anerkennen konnte: Dieser verkündigte nach Peter Sloterdijk auf literarischem Gebiet jenen modernen Zynismus als eine »Herrenantithese gegen den eigenen Idealismus als Ideologie und als Maskerade«, während der antike Kynismus »eine plebejische Antithese gegen den Idealismus« gewesen sei.453 Außerdem ist schwerlich anzunehmen, dass Kraus Nestroy deshalb hoch geschätzt hat, weil dieser wie Nietzsche ein »dramatische[s] Denken« sowie eine »theatralische Selbsterfahrung«454 entwickelt habe.455 Vielmehr ist es dabei auf eine performative Ethik des Responses angekommen, wie sie Kraus in einer Zeit, die »die Sprache nicht« höre und »nur den Wert der Information beurteilen« könne (Bd. 4, 239), Nestroy zugeschrieben hat: Er [Nestroy, Anm. d. Verf.] hätte, wäre er später geboren, wäre er in die Zeit des journa listischen Sprachbetrugs hineingeboren worden, der Sprache gewissenhaft erstattet, was er ihr zu verdanken hatte. (Bd. 4, 224)
Wie einerseits die Sprache der Presse heftig kritisiert worden ist, so ist andrerseits die Sprache als Ideal der Satire in einem umso intensiveren Grad mit seiner »geschriebenen Schauspielkunst« wiedergekehrt, wobei das »erhabene« Pathos und der »schöne« Witz, mit dem sensus communis als sozialer Wirkungsart der Aisthesis verbunden, zusammenwirkten. Hier können wir erfassen, worin Kraus’ Ehrfurcht vor der Sprache456 bestanden hat. Diese Verhältnisse können wir in einem Aphorismus, in dem es sich um Kraus’ Lust und Qual bei der Arbeit handelt, veranschaulicht finden: Hat sich das Wort mit der Welt eingelassen, so ist sie unendlich. Zur Welt gekommen, schafft es neue Welten, und das Angebot der Materie, ihr Werben um Erhörung, hört nimmer auf. Es heißt einen Strom auf zwei Armen in sein Haus tragen, und der Künstler ist der Zauberlehrling, nach dessen Willen die Schöpfung leben soll, seit Gott aus ihr sich doch einmal wegbegeben hat. Ach! und hundert Flüsse stürzen auf mich ein – Ach! Nun wird mir immer bänger! Welche Miene! welche Blicke! – Ach, ich merk’ es! Wehe! Wehe! Hab’ ich doch das Wort vergessen! … (Bd. 8, 295 f.)
Was hier mit einer Allusion auf Goethes Ballade ›Der Zauberlehrling‹ allego risiert wird, scheint einerseits das Spiel der schriftlichen Differenz zu sein, das dort zutage kommt, wo der das transzendente Signifikat gewährleistende »Gott« 453 Sloterdijk (1983), S. 55, 222. Sloterdijk schreibt hier an vielen Stellen über die Satire als Korrelat des Zynismus (S. 55, 99 f., 232, 309, 323, 532 u. a.) Der moderne Zynismus bestehe demnach darin, dass die herrschende Vormacht ihren plebejischen Gegenspieler anlächelnd »ein wenig ihre Geheimnisse« lüfte, »halbe Selbstaufklärung« treibe und »aus der Schule« plaudere, kurzum Zynismus als »eine Frechheit« durchführe, die »die Seite gewechselt ha[be]« (S. 222). 454 Sloterdijk (1986), S. 70 f. 455 Nach Guido Isekenmeier gebraucht Nietzsche »verschieden[e] Modelle sprachlicher Performativität«, die jedoch »die Ebene des Textes verfehl[t]en.« – s. Isekenmeier, in: Buschmeier / Dembeck, S. 76. 456 s. dazu B. III. 2. a).
III. Zur performativen Umgestaltung der Satire
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die Welt verlassen hat. Andrerseits geht es aber um die »Materie«, die sich unablässig anbietet und um »Erhörung« »wirbt«. Damit kann die sich unendlich aufhäufende Menge der Zeitungsberichte gemeint sein. So angenommen, unterliegt die Beziehung zur realen Lebenswelt, die für die Satire charakteristisch ist, keinesfalls dem bloß formalen Spiel, sondern bildet vielmehr dessen unentbehrliche Grundlage: Irgendwie deutet hier etwas auf ein Urbild, das Menschenantlitz trug und später entstellt ward. Dieses Verwerten eines minderwertigen Materials, dieses Zuhilfekommen der Inspiration muß eine Beziehung haben. Diese konstante Anläßlichkeit, die aus der Mücke keinen Elefanten macht, aber ihr ihn assoziiert, wirkt den satirischen Überbau der vorhandenen Welt, die nur noch geschaffen scheint, ihn zu stützen, und mit all ihrer ruchlosen Vorhandenheit ihre Berechtigung tatsächlich erweist. (Bd. 8, 296)
Um klarzustellen, dass es sich bei dieser Beschreibung der satirisch-idealistischen Bestrebung um das »Urbild« bzw. den »satirischen Überbau der vorhandenen Welt« um keinen inhaltsleeren Utopismus handelt, ist zu bedenken, dass dieser Aphorismus am Vorabend des ersten Balkankriegs geschrieben wurde: Mir blutet das Weltbild von einem Kriegsbericht; und es ist gar nicht notwendig, daß die Humanität den Notschrei erhöre, den sie nicht hört und nicht verstünde, wenn sie ihn hörte. (Bd. 8, 296)
Anlässlich des visuell wahrgenommenen Materials des schriftlichen »Kriegsberichts«, also aus einem äußeren Anlaß, wird hier die satirische Arbeit eröffnet, für die es gilt, auf einen »Notschrei« aufmerksam zu machen, den sonst keiner vernehmen würde. Solche sinnlich wahrzunehmenden Elemente waren auch in der Bewegung der Retheatralisierung des Theaters bzw. im konkretpoetischen Experiment von August Stramm, Hugo Ball oder Kurt Schwitters u. a. wichtige Motive. Können wir nun ihren gemeinsamen Nenner in der Ablehnung vom Primat des Semantischen finden, kommt die Eigenartigkeit des Krausschen Konzeptes der Satire umso deutlicher zum Vorschein. Ein Aphorismus lautet wie folgt: Mir scheint alle Kunst nur Kunst für heute zu sein, wenn sie nicht Kunst gegen heute ist. Sie vertreibt die Zeit – sie vertreibt sie nicht! Der wahre Feind der Zeit ist die Sprache. Sie lebt in unmittelbarer Verständigung mit dem durch die Zeit empörten Geist. Hier kann jene Verschwörung zustandekommen, die Kunst ist. Die Gefälligkeit, die von der Sprache die Worte stiehlt, lebt in der Gnade der Zeit. Kunst kann nur von der Absage kommen. Nur vom Aufschrei, nicht von der Beruhigung. Die Kunst, zum Troste gerufen, verläßt mit einem Fluch das Sterbezimmer der Menschheit. Sie geht durch Hoffnungsloses zur Erfüllung. (Bd. 8, 338)
Weil die Satire als eine performative Kunst, die »keine Gleichgültigkeit zuläßt«,457 zu erachten ist, kann sie von der Zeit nicht vertrieben werden. Genauso wie die Künstler der historischen Avantgarde war Kraus durch den Widerstand gegen 457
Mersch (2002), Ereignis und Aura, S. 238.
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C. »Geschriebene Schauspielkunst« – Satire, Performativ
die etablierte Kunst motiviert. Für ihn jedoch war die Sprache nichts, was herab gesetzt werden musste, sondern vielmehr etwas, wovon auszugehen war. Dies musste aber nicht nur auf der Ebene des semantisch anerkannten Zeichensystems, sondern auf der Ebene des sinnlich wahrzunehmenden »Aufschreis« der Fall sein. Dabei handelt es sich nämlich um die aisthetisch zu treffende Phänomenalität der Sprache als solche, die es in die »Erfüllung« einzuführen gilt. Was diese Beziehung zur Sprache sprachphilosophisch bedeutet, gibt Herbert Marcuse durch seinen Vergleich zwischen Kraus und den so genannten Sprachanalytikern zu bedenken. Er erkennt bei Kraus’ »›innere[r]‹ Untersuchung des Sprechens und Schreibens, der Zeichensetzung, selbst typographischer Irrtümer« das Potential, »ein ganzes moralisches oder politisches System« bloßzustellen.458 Mit Recht gilt dies auch für seine Methode, die metaphorischen Elemente einer Phrase wieder zu beleben. Was Marcuse daran schätzte, war, dass hier die Alltagssprache selbst als Metasprache wirkt, während er den Sprachanalytikern vorwarf, dass sie mit ihrer philosophisch abstrahierten Metasprache »das bestehende Sprachuniversum« affirmativ außer acht lassen, wie es bei John L. Austin der Fall sei. Dies bringt Licht in Kraus’ negierende Behandlung der Sprachgewohnheit, wie sie schon in der ersten Nummer der Fackel als Programm der »Trockenlegung eines Phrasensumpfes« erklärt wurde. In einer anderen Perspektive ist es jedoch auch möglich, Kraus der sprachanalytischen Tendenz der Affirmation teilhaftig zu finden. In der Tat wird ihm die Möglichkeit zugeschrieben, »[…] die Entwicklung der analytischen Philosophie wesentlich, wenn auch indirekt, zu beeinflussen«, und zwar durch Wittgenstein als fleißigen Leser von Kraus: Die »Konstituierung des menschlichen Wissens durch die Sprache ist eine tiefe Überzeugung des Satirikers und des Philosophen«.459 Diesen scheinbar paradoxen Charakter des Krausschen Sprachdenkens, bei dem sowohl die Objekt- und die Metasprache als auch die Negation und die Affirmation koexistieren können, können wir der Tatsache zuschreiben, dass seine »geschriebene Schauspielkunst« keine einfache Restitution der als sensualistisch gepriesenen Satire, sondern eine unter dem Einfluss des hermeneutischen Verfahrens performativ umgestaltete Neuschöpfung war.460 Ihr Charakteristikum verdankt sich überdies insofern dem Phänomenologischen, als sie den Leser auf der materiellen Ebene zum Respons auffordert. Dabei wird zwischen ihrem mimetisch-wiederholenden »Sagen« und ihrem sinnlich-einmaligen »Zeigen« vieles angedeutet, was die durch den Einfluss der Presse geprägte Sprachanschauung des Lesers erschüttert. Bei Kraus zeigte sich aber, so können wir annehmen, die Nähe zum Ethos der Performance-Kunst noch deutlicher, wenn er vorlas. 458
Marcuse, S. 210. Janik, in: Carr / Timms, S. 109, 118. 460 In diesem Zusammenhang ist von Interesse, dass dieser Krausschen Sonderposition einiges in Hans Lipps’ sprachphilosophischer Position zu entsprechen scheint. Gadamer hat dessen theoretische Nähe zu Wittgenstein, Austin, Searle hervorgehoben; s. Gadamer (1999), S. 402. 459
D. Der Leseabend als Ritual. Zur Performance-Ebene der Krausschen Satire I. Die eigene Stimme. Entwurf einer alternativen ›Schauspielkunst‹ 1. Die Spezifik des sprachlichen Ereignisses bei Lesungen Im vorigen Kapitel haben wir in Kraus’ Theorie und Praxis der Satire offensichtliche Merkmale ihrer Performativität ermittelt. Sie bestehen darin, dass er nicht nur die Wiederholbarkeit der Sprache seiner Strategie des Zitierens zugrunde legte, sondern zugleich versuchte, den Leser die Sprache als Ereignis erleben zu lassen und dadurch ihre Einmaligkeit hervorzuheben. In diesem Zusammenhang ist auch beachtenswert, dass Austin den Vollzug der performativen Sprachhandlung dem Augenblick ihrer Äußerung zugeschrieben hat.1 Dieser Sachverhalt bringt es mit sich, dass das Präsens als konstitutives Tempus der Performativität gilt und dazu prinzipiell die körperliche Präsenz des Sprechers beansprucht wird. Demzufolge sind hier Kraus’ Lesungen direkt vor dem Publikum, sofern es einschlägige Dokumente ermöglichen, in Betracht zu ziehen. Dadurch wird seine »geschriebene Schauspielkunst« gleichsam als ihr performativer »Zwilling« erkennbar. Welche weiteren Implikationen weist diese Formel auf? Was am Heine- sowie am Nestroy-Essay oft übersehen wird, ist die Tatsache, dass sie beide zunächst der mündlichen Veröffentlichung zugedacht wurden: Jener für die erste Wiener Lesung, dieser für die Festrede anlässlich des 50. Todestages des so genannten Volkskomikers. Im Lebenslauf Kraus’ war das kein abrupter und zeitweiliger Vorfall, sondern die Wiederaufnahme seines früheren Versuchs, den ackel, er von da an bis zu seinem Todesjahr, sogar länger als die Herausgabe der F weiterführen sollte.2 So wie es damals zahlreiche Beispiele von mit der Fackel vergleichbaren Zeitschriften gab, war eine derartige gesprochene Darbietungsform der Dichtung auch kein isoliertes Phänomen: Es war eine Periode, in der die Tradition der Dichterlesung im deutschen Sprachraum nach ihrer Blütezeit in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts von Autoren wie Detlev von Liliencron, Max Dauthendey, Gerhart Hauptmann, Richard Dehmel oder Rainer Maria Rilke wie 1
Austin, S. 80. Wie in A. I. erwähnt, hielt Kraus bereits 1892 seine erste Lesung und erlitt er 1893 als Schauspieler einen Misserfolg. Seine letzte Lesung, die 700., gab er im April 1936, zwei Monate vor seinem Tod. Die letzte Nummer der Fackel (917–922) war im Februar desselben Jahres erschienen. 2
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D. Der Leseabend als Ritual
derbelebt wurde.3 Wie Kraus dieser Mode selber teilhaftig war, bezeugt die folgende Notiz: Auch ich bilde mir ein, von der Vorlesekunst einiges zu verstehen, sie selbst üben zu können. Als ich vor elf Jahren in München »Weber« las, druckte die ›Neue Freie Presse‹ das Urteil Michael Georg Conrad’s ab, dem eine »ähnliche Offenbarung rezitatorischen Genies« (oder so ähnlich) noch nicht vorgekommen sei. Ich glaubte es nicht. Aber ich weiß: es ist noch kein Eigenlob, wenn einer behauptet, daß er besser als Herr Strakosch vorlesen könne. (F 173, 11)
Bemerkenswert ist hier seine abschätzige Beurteilung von Berufssprechern wie Alexander Strakosch und Schauspielern wie Josef Kainz, den Kraus als »unbeseelte[n] Tonfallkletterer« (F 239 / 40, 29) verspottet hat. Dies deutet nicht nur an, dass Kraus auch in diesem Bereich gegen das merkantile Denken eingestellt war, sondern dass er auch dem »Mund eines Schauspielers« (Bd. 8, 101) misstraute und daher glaubte, in Nestroys Nachfolge »für den Schauspieler einspringen« zu müssen (Bd. 4, 226). In dieser ernsten Einstellung zur Vortragskunst sowie in seiner Bereitschaft, Dramen vorzulesen, stand er auch in der Tradition des Vorlesens von Dramentexten seit Ludwig Tieck.4 Was die kulturelle Erbschaft in Wien anbetrifft, ist zum Vergleich überdies auf das Schaffensprinzip Heinrich Laubes, der als Intendant des Burgtheaters die »kalte Deklamation« als eine »Folgeerscheinung Weimarer Theaters« kritisierte und die »Charakteristik durch angemessene, klare und sinngemäße Rede« anstrebte,5 hinzuweisen. In der Tat scheint die Grundidee Kraus’ weit davon entfernt zu sein, einer bestehenden Manier vom sachlichen Vorlesen bzw. von der die Selbstverleugnung des Vortragenden beanspruchenden Deklamation6 kritiklos zu folgen. So schreibt er in der anlässlich seines ersten sowie zweiten Leseabends vom Januar 1910 in Berlin gesprochenen Einleitung, die er charakteristischerweise als »Entschuldigung« bezeichnet: Literatur ist, wenn ein Gedachtes zugleich ein Gesehenes und ein Gehörtes ist. Sie wird mit Aug’ und Ohr geschrieben. Aber Literatur muß gelesen sein, wenn ihre Elemente sich binden sollen. Nur dem Leser (und nur dem, der ein Leser ist) bleibt sie in der Hand. Er denkt, sieht und hört, und empfängt das Erlebnis in derselben Dreieinigkeit, in der der Künstler das Werk gegeben hat. (F 294 / 95, 37 f.)
An dieser Passage können wir Kraus’ Nähe zu Dilthey erkennen, weil dieser, in der Nachfolge der philosophischen Hermeneutik Friedrich Schleiermachers,7 3
Weithase, S. 491 f. Meyer-Kalkus, S. 231. 5 Zobel, S. 137. 6 s. dazu Meyer-Kalkus, S. 241 f. 7 Szondi, in: Bollack / Stierlin, S. 10 f., 162 f. Nach Szondi geht es bei der Schleiermacherschen Hermeneutik nicht um die Auslegung einzelner Stellen, »[…] sondern um die Auffassung des Gesprochenen und Geschriebenen in seinem Ursprung aus dem individuellen Leben seines Autors: Rede und Schrift aufgefaßt als hervorbrechender Lebensmoment und zugleich als Tat, also nicht bloß als Dokument, sondern als aktive, aktuelle Äußerung des Lebens« (S. 162 f.). 4
I. Die eigene Stimme
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»eine Nachbildung fremden Lebens«8 seinem Konzept der Hermeneutik zugrunde gelegt hat. Während aber Dilthey von der Seite eines Interpreten her literarische Werke als »schriftlich fixiert[e] Lebensäußerungen« zu interpretieren und so die gemeinsame Erkenntnis eines »seelischen Lebens« von dessen verschiedenen »sinnlich gegebenen Äußerungen« zu abstrahieren suchte,9 bietet Kraus umgekehrt von der Seite eines Autors her dem Leser von Literatur die Möglichkeit, den sinnlichen Entstehungsprozess des von ihm »Gedachte[n]« nachzuvollziehen. Aufschlussreich ist hierfür die Sachlage, dass der »Interpret« auch den reproduzierenden Künstler: Musiker, Sänger, Dirigenten oder Regisseur bedeutet10 und dass die »Interpretation«, wie ihr Gebrauch im musikalischen Bereich zeigt, nicht nur mit sprachlicher Auslegung, sondern auch mit Aufführungspraxis, zu der auch die Rezitation im Sinne des Vortrags gehört, in Verbindung steht.11 Hier handelt es sich um die auch für die Kraussche Satire bezeichnende Verflechtung von semantischen sowie sinnlich-körperlichen Momenten: Man muß lesen, nicht hören, was geschrieben steht. Zum Nachdenken des Gedachten hat der Hörer nicht Zeit, auch nicht, dem Gesehenen nachzusehen. Wohl aber könnte er das Gehörte überhören. Gewiß, der Leser hört auch besser als der Hörer. Diesem bleibt ein Schall. Möge der stark genug sein, ihn als Leser zu werben, damit er nachhole, was er als Hörer versäumt hat. (F 294 / 95, 38)
Kraus’ Vorhaben war es also, durch die lautliche Artikulation der Texte auch die visuellen und akustischen Empfindungen des Lesers zu aktivieren. Wie darin auch die Vorstellungskraft des Lesers hineinspielen solle, veranschaulicht er in einem Aphorismus über sein wiederholt behandeltes Thema des Primats der Form vor dem Inhalt: Daß eine Form da war vor einem Inhalt, kann ein Leser dem sichtbaren Gedanken nicht ansehen und soll es auch nicht. Aber man zeige es ihm an dem Versuch, einen, der unter die Bewußtseinsschwelle geraten ist, emporzuziehen. (Bd. 8, 235 f.)
Als Beispiel solch eines »Gedankens« geht er von der Redensart »den Wald vor lauter Bäumen nicht sehen« aus, wobei dieser Gedanke selbstbezüglich auf »Bäume«, dessen sinnliche Herkunft auf »Wald« bezogen werden. Ihre Ver bindung solle man sich durch seine eigene Körperbewegung vorstellen: Man versuche den Tonfall, die Geste, in der man ihn gedacht haben könnte, bald wird es von etwas schimmern, das irgendwie »verfehlte Wirkung« oder »klein vor groß« ausdrückt, und schon sieht man den Wald, den man vor lauter Bäumen nicht sieht. In der Sprache denken heißt nun einmal, aus der Hülle zur Fülle kommen. Wie man des Traums der vergangenen Nacht inne wird, wenn man wieder das Linnen spürt. (Bd. 8, 236)
8
Dilthey (1957), in: Misch, S. 330. Dilthey (1957), in: Misch, S. 332. 10 Wissenschaftlicher Rat der Dudenredaktion, Bd. 4, S. 1726. 11 Danuser, in: Finscher, S. 1054. 9
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D. Der Leseabend als Ritual
Entspricht die so genannte »Fülle« der oben behaupteten »Dreieinigkeit« vom Gedachten, Gesehenen und Gehörten, so ist hier von einem Erlebnis, das man mit Hilfe der Lesungen effektiver gewinnen mag, die Rede. Es zeigt sich, dass ebenso wie in der Fackel auch bei den Lesungen die um den Bezug zum Sinnlich-Aisthetischen erweiterte Sprachproblematik im Mittelpunkt steht. Die Frage ist nun, welcher Stellenwert bei diesem Wechselverhältnis von Schreiben und Sprechen dem literarischen Text zukommt. Galt es noch, diesen im Lesesaal rezitatorisch zu repräsentieren, was einen Gegenzug zur Theateravantgarde darstellen und damit Jens Malte Fischers These von Kraus’ kulturellem »Konservatismus«12 bestätigen würde? 2. Attraktive Performance auf Grund der Vorkenntnis der Texte beim Publikum Um diese Fragen beantworten zu können, müssen wir darauf achten, dass Kraus zahlreiche Berichte von Zeitgenossen über seine Lesungen aus Zeitungen sowie Zeitschriften zu entnehmen und unermüdlich in der Fackel abzudrucken pflegte. Diese Dokumente ermöglichen es uns, uns in seine Leseabende gewissermaßen hineinzuversetzen. Schon die verschiedenen Erscheinungsorte der Berichte zeigen klar, dass sie vom ersten Jahr an großes Aufsehen erregten, nicht nur in Wien, sondern etwa auch bei seiner »Tournee« (F 313 / 14, 47) in Deutschland und in Böhmen. Aus solchen Berichten ist zum einen zu schließen, dass das Bild vom streitlustigen Fackel-Herausgeber, vom »Fanatiker seiner Überzeugung« (F 313 / 14, 52) und dessen pathetischem »Haß« (F 313 / 14, 49), bereits festlag. Zum anderen konnte jedoch gleichzeitig sein anderes Profil wohl etwa dadurch deutlicher werden, dass seine Lesungen »stellenweise von dem homerischen Gelächter, das sie im Publikum auslöste, unterbrochen« (F 313 / 14, 60) worden seien. Wie sie so dem Leser zu einem tieferen Verständnis seiner Texte verhalf, bezeugt der folgende Bericht: Seine Stimme schneidet Worte in die Luft hinein. Man kann die einzelnen Buchstaben lesen, als sähe man eine Hand, die sie aneinanderreiht. […] Und diese Art des Vorlesens macht es einzig möglich, den Gedankenreichtum der Kraus’schen Sätze, alle minutiösen Feinheiten und Nuancen des Stils im Augenblick zu erfassen. (F 323, 10)
Was ihn vor allem für das andauernde Totschweigen durch die Presse entschädigte, war die Begeisterung der Jugend, bei der es am Schluss zu »Zurufen« kam: Es ist genau wie in der Schule, wenn der Lehrer ein Märchen versprochen hat und nun fragt, welches er erzählen soll, und jedes Kind verlangt ein anderes. Aus diesen Zurufen entnimmt man, daß das Publikum Krausens Werke auswendig weiß. (F 336 / 37, 46)
12
Fischer, S. 51.
I. Die eigene Stimme
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Diese unmittelbare Wechselbeziehung kann zumindest teilweise erklären, warum er 1911 damit aufhörte, in der Fackel weiterhin Leserbriefe abzudrucken. Bei der durch seine Lesungen ermöglichten leiblichen Kopräsenz erreichte er auf der Basis seiner schon veröffentlichten Texte eine enge Verbundenheit mit dem Publikum, die ihren weiteren, brieflichen Verkehr entbehrlich machte. Dagegen bemerkt ein anderer Zeuge, bei Kraus’ ›Schauplatz‹ handle es sich weder um einen »Vorlesertisch« noch um ein »Vortragspodium«, sondern um »eine Bühne«, »[…] auf der der Autor uns seine Werke vorspielt« (F 339 / 40, 23): »die spanische Wand, das Fehlen der üblichen Wasserflasche, die Verdunkelung des Saales – bühnenmäßige Technik« (F 339 / 40, 23). Zur Handbewegung heißt es: »Die linke Hand hängt herab, die Rechte liegt zitternd auf der Stuhllehne und lauert auf den Augenblick, in welchem sie tätig teilnehmen kann an der Verkörperung eines Gedankens« (F 339 / 40, 23). Bemerkenswert ist vor allem der Eindruck, dass da »mehr das Wie als das Was der Gestaltung betont« worden sei (F 341 / 42, 47). Der Einfluss des Tonfalls auf die semantische Ebene des Textes wird so gekennzeichnet: Vor allem ist es merkwürdig, um wie viel menschenfreundlicher Kraus’ Satiren klingen, wenn er selbst sie liest. Sein scheinbar schroffer und egoistischer Individualismus mildert sich hier nicht nur in soziale Güte, sondern wandelt sich zu einer leidenschaftlichen Forderung nach Gerechtigkeit. (F 345 / 46, 26)
Diese Dominanz des Sinnlichen bewirkte offenbar, dass die Teilnahme an Krausschen Lesungen als »ein zutiefst aufwühlendes Erlebnis« (F 370 / 71, 34) bzw. als »ein eigenartiges und merkwürdiges Erlebnis« (F 374 / 75, 21) aufgefasst wurde. Hans Weigel, der dem »Theater der Dichtung« seit den Zwanziger Jahren beigewohnt hat, gibt seinen Eindruck so wieder: Es war ein ganz besonderes, ein unvergeßliches Erlebnis, Karl Kraus ein ganzes Stück vorlesen zu hören, denn ohne äußere Hilfsmittel, rein aus der sprachlich gestaltenden Kraft standen Figuren und Vorgänge lebendig und plastisch vor der Phantasie, führten ihr dramatisches Leben und bleiben auch präsent, wenn der Interpret Regiebemerkungen las, ja: die Regiebemerkungen gewannen besonderes Leben aus dem spürbaren Beteiligtsein des Vorlesers.13
Dass es dabei um keine »Illusionsbühne« ging, behauptet rückblickend auch Georg Knepler: Kraus’ Fähigkeit, verschiedene Figuren mittels Sprechweise, Stimmlage, Gesichtsausdruck, Gebärden der Hände, Arme, der Haltung des Oberkörpers zu charakterisieren, war außerordentlich. Er konnte es sich leisten, die Namen der darzustellenden Figuren in der Regel bloß bei ihrem ersten Auftreten zu nennen; er gab ihnen mit seinen Mitteln unverwechselbare Gestalt. Dabei behielt er seine eigene Stimmlage – etwas tieferklingend als die der darzustellenden Figuren – für die Regiebemerkungen vor. […] Kaum zu glauben, was durch die Vorlesung von Regiebemerkungen alles auf die Hörer übertragen werden kann! 13
Weigel, S. 104 f.
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D. Der Leseabend als Ritual
Aus seinen verschiedenen Rollen heraustretend – oder, zu Beginn einer Operette, bevor er sich in sie hineinbegab –, kam hier der Vortragende selber zu Wort als Vermittler zwischen der realen Welt des Vortragssaals und der seines Theaters, den Rahmen aufbauend, in dem seine Figuren lebendig wurden.14
Wenn das, was hier über Kraus’ Lesungen fremder Dramen geäußert wurde, auch für sein in der Vorkriegszeit überwiegendes Vortragen aus eigenen Schriften als aus »geschriebene[r] Schauspielkunst« (Bd. 8, 284) gelten kann, so scheint das Kraus’ eigene Charakterisierung seiner Vortragsweise zu bestätigen: »Wenn ich vortrage, so ist es nicht gespielte Literatur« (Bd. 8, 284). So betrachtet, würde hier der im Zug der Literarisierung des Theaters von der Mitte des 18. Jahrhunderts bis zur Zeit der historischen Avantgarde vorherrschenden Auffassung von einer Schauspielkunst, nach der schauspielerisches Handeln ausschließlich auf die Repräsentation fiktiver Figuren bezogen sei,15 widersprochen. Ein Indiz dafür stellen jene Berichte über Kraus’ Lesungen dar, in denen ihr weder Verfremdungs- noch Einfühlungseffekte zugesprochen werden. Es scheinen stattdessen fast ausnahmslos Kraus’ »individuelle Physis«, seine »leibliche Präsenz« bei seinem Publikum »affektive Reaktionen« ausgelöst, ja den Kernpunkt des »Erlebnisses« ausgemacht zu haben.16 Durch diese tatsächlich beobachtete Distanzierung von der autoritären Herrschaft des literarischen Textes unterscheidet sich die Kraussche »Vorlesung«17 von den tradierten Dichterlesungen. Damit ging jedoch nicht etwa eine Inszenierungsreform als Leistung des Regisseurs einher, wie es bei der Theateravantgarde der Fall war. Vielmehr wurde eine durch Geschriebenes vermittelte enge Wechselbeziehung zwischen dem »Schauspieler« und dem Publikum hervorgehoben, wie sie einzig bei ihrem je gegenwärtigen Miteinander zustande kam. Die Einzigartigkeit der Schauspielkunst sieht Kraus eben in diesem Punkt. Ohne Teilnahme des Publikums war sie für ihn undenkbar. Daraus resultiert, dass er das Grammophon für das mögliche »Denkmal« des Schauspielers hielt und die zukünftige Erfindung eines »Kinematogrammophon[s]« erwartete: Als mnemotechnisches Mittel ist ein Denkmal für Dichter und Denker, für Maler und Musiker überflüssig, für Schauspieler unsinnig. An jene hat der Nachlebende anders zu denken; zu diesen wird er durch keine Vorstellung geführt. Ein Schauspielerdenkmal hat nur Wert als Erinnerungsbehelf für den Betrachter, der das Modell in Erinnerung hat. […] Einem Schauspieler ein Monument setzen, schließt, um der Nachwelt wenigstens einen Trost der Logik zu gewähren, die Verpflichtung in sich, auch dem Publikum ein Denkmal zu setzen, das den Schauspieler bewundert hat. So könnte eine Theaterwirkung wesentlich überliefert werden, weil die Schauspielkunst die einzige ist, die ohne den Empfänger nicht leben kann und mit ihm stirbt: also keine Kunst ist. (Bd. 4, 158 f.) 14
Knepler, S. 14. Roselt, in: Fischer-Lichte / Kolesch / Warstat, S. 287. 16 s. dazu Fischer-Lichte, in: Fischer-Lichte, S. 305. 17 Kraus folgte, so Knepler, dem österreichischen Sprachgebrauch, wenn er statt von »Lesungen« von »Vorlesungen« schreibt (Knepler, S. 7). 15
II. Die Verkörperung des Sinnes im affektiven Bannkreis der Stimme
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Diese durchaus traditionelle Dementierung des Kunstcharakters des mimischen Spiels18 können wir von dem allgemein an der Performativität der Sprache orien tierten Kunstverständnis Kraus’ her verstehen. Aufschlussreich sind hierfür Erika Fischer-Lichtes Überlegungen, dass mit der »Performativität einer Aufführung« deren Ereignishaftigkeit, Einmaligkeit und Unwiederholbarkeit gemeint sei und dabei die Zuschauer »als Bestandteil des Geschehens, als konstitutives Element der Aufführung wahrnehmbar« würden.19 Performative Kunst wird auch von Mersch als »Kunst ohne Werk«20 definiert. Sie sei zunächst in den Praxen der historischen Avantgarde entfaltet worden, wobei das Theater »als eine Art Laboratorium« fungiert habe, indem Regisseure immer wieder »neue Inszenierungsstrategien ent wickelt« hätten, »um alte Wahrnehmungsgewohnheiten aufzubrechen und neue Modi der Wahrnehmung zu ermöglichen«.21 Um zu untersuchen, was das Spezifische an Kraus’ Position in dieser Zeitströmung der Avantgarde war, gehen wir zur Betrachtung des Phänomens der Stimme, des Hauptmediums seiner Lesungen, über.
II. Die ›sinnliche‹ Verkörperung des Sinnes im affektiven Bannkreis der Stimme II. Die Verkörperung des Sinnes im affektiven Bannkreis der Stimme 1. Kraus’ Entwurf einer »Sprechkunst«. Seine Beziehung zur Performativität der Stimme Der Nestroy-Essay handelt an mehreren Stellen von Nestroys charakteristischer Sprechweise.22 In Kraus’ naher Bekanntschaft lebte noch jemand, der sich daran erinnern konnte.23 Bei Nestroy wie übrigens auch bei Wedekind fand er eine »Analogie im Tonfall witzig eingestellter Erkenntnisse« (Bd. 4, 227). Überdies setzte er »eine Nestroysche Tirade« und »eine Offenbachsche Melodie« einander gleich (Bd. 4, 229). Solch ein Zusammenwirken von Sprech- und Schreibvermögen schreibt er in seiner Bemerkung über die Nestroy-Feier im Mai 1912 auch seiner eigenen Arbeit zu, indem er sich auf das komisch paradoxe Eigenlob der Haupt figur von Nestroys parodistischer Posse Judith und Holofernes (1848)24 beruft: 18
Berühmt ist der Schillersche Vers: »Dem Mimen flicht die Nachwelt keine Kränze« (Prolog zu »Wallensteins Lager«, V. 41) – s. Schiller, in: Stock, S. 14. 19 Fischer-Lichte, in: Fischer-Lichte, S. 332 f. 20 Mersch (2002), Ereignis und Aura, S. 245. 21 Fischer-Lichte, in: Fischer-Lichte, S. 237 f. 22 s. dazu C. II. 1. a) sowie C. III. 3. a). 23 s. dazu Rothe, S. 74 f. Rothe zufolge hatte der Buchhändler und Antiquar Leopold Rosner (1838–1903), der Vater von Kraus’ Schulfreund Karl, noch mit Nestroy auf der Bühne gestanden und »[…] hielt die volkstümliche Tradition, zu der auch Offenbachs erfolgreiches Wiener Wirken gehörte, in Ehren.« Die »erstaunlichen Kenntnisse des jungen Schauspielenthusiasten über das Wiener Volkstheater« seien aus dieser »Quelle« geflossen. 24 Dieses Eigenlob (»Ich möcht’ mich einmal mit mir selbst zusammenhetzen nur um zu sehen, wer der Stärckere is, ich oder ich.«) äußert Holofernes als »Feldherr der Assirier«, der als Hanswurst charakterisiert wird, in der dritten Szene; s. Nestroy, in: McKenzie, S. 88.
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D. Der Leseabend als Ritual
Überhaupt möchte ich den Preßleuten zu bedenken geben, daß ich über eine Ressource verfüge, die, viel mächtiger als mein geschriebenes Wort, mir jeden Wunsch zur Tat verwandeln kann: mein gesprochenes. Sie sollen sich in der nächsten Saison einmal von der Wirkung überzeugen. Sie werden sehen, daß bei mir das Wort des Nestroy’schen Holofernes: »wer der Stärkere ist, ich oder ich« keine Übertreibung ist. Vielleicht mache ich das Experiment und bringe meine Zuhörerschaft zum Austritt aus dem Abonnement der von mir näher zu bezeichnenden Blätter. ( F351 / 53, 43)
An einer anderen Stelle bezeichnet er die »Entbehrlichkeit journalistischer Hilfe« für die wachsende Beliebtheit seiner Lesungen als den »erste[n] praktische[n] Erfolg« seines »Wirkens gegen die Presse« (Bd. 4, 129 f.). Er geht noch weiter: »Was ich will – wenn man von dem, was ich tue, unmittelbar eine Tendenz abziehen kann – ist, daß die Presse aufhöre, zu sein« (Bd. 4, 130). Hier wird zum einen – mit einem gewissen Vorbehalt – zugegeben, dass sich seine Satire nicht auf den Bereich der zweckfreien Kunstschönheit beschränkt, verrät sich zum anderen geradezu sein Wille »zur Tat«, zu der Macht, die Presse zu vernichten. Er ist sich also der performativen Machtdimension der Sprache durchaus bewusst gewesen. In der neueren Forschung zur Performativität ist häufig von der Stimme die Rede. Betrachtet wird vor allem ihr Charakteristikum, »ein flüchtiges Phänomen« zu sein, »[…] das im Hier und Jetzt existier[e] und dessen Existenz paradoxerweise im beständigen Verschwinden besteh[e]«, nämlich »in einer Bewegung und Prozessualität«, denen eine »ambivalente materielle Gegebenheit« zukomme.25 In dieser Perspektive könne die Stimme als »ein performatives Phänomen par excellence« gelten, da bei ihr Ereignishaftigkeit und Aufführungscharakter gar nicht zu trennen seien: Kaum ausgesprochen, ist ein Laut auch schon verschwunden. Die den Augenblick ihrer Entäußerung überschreitende Wirksamkeit der Stimme liegt alleine darin, dass die Stimme von anderen wahrgenommen und aufgenommen wird. […] Im Hic et nunc ihrer Präsenz hat eine stimmliche Verlautbarung den Status einer ›Aufführung‹ von etwas für andere und vor anderen. In dieser Kopräsenz von Akteur und Rezipient ist zugleich eine Dimension des ›Ausgesetztseins‹ derjenigen, die ihre Stimme erheben, angelegt.26
So betrachtet, scheint es auch in der Natur der Sache zu liegen, dass der Stimme »unter den sinnlichen Komponenten des Theaters eine privilegierte Stellung« eingeräumt werden kann: Die Schallwellen des Sprechens und Singens überspülen immer schon die Grenze der Rampe, die der Distanzsinn des Auges als Trennlinie zwischen Szene und Zuschauerraum festhält, vereinen Bühne und Publikum in ein und demselben Klangraum. Die Stimme macht insofern das Jetzt des von allen Beteiligten gemeinsam durchlebten Theatermoments in besonders intensiver Weise fühlbar.27
25
Kolesch, in: Eppig-Jäger / Linz, S. 267. Kolesch / Krämer, S. 11. 27 Lehmann, in: Kolesch / Schrödl, S. 43. 26
II. Die Verkörperung des Sinnes im affektiven Bannkreis der Stimme
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Die »akustische Verfaßtheit von Theater«, d. h. der Umstand, dass es »ein von Stimmen, Geräuschen und Musik überhaupt erst mitkonstituierter Raum« sei, werde aber übersehen, wenn man seine Aufmerksamkeit nur darauf richte, dass sich ›Theater‹ »etymologisch doch vom theatron, vom Schauplatz«, herleite, nämlich »die Szene der Sichtbarkeit« sowie einen »Ort des Sehens und des An-Gesehen-Werdens« bedeute.28 Richten wir nun unser Augenmerk darauf, dass auch die Schrift ein optisches Medium ist, dann können wir hieraus einen schlagenden Anhaltspunkt für die Betrachtung des Sachverhalts erhalten, dass es im 18. und im 19. Jahrhundert zur Herrschaft des Literaturtheaters kam. Außerdem erschließe eine Neubewertung der Stimme die Möglichkeit, jene Verschiebung »[v]om Sinn zur Sinnlichkeit«, die »[…] dem theatralen Prozeß als solchem innewohn[e]«, hervorzuheben: [E]s ist das Phänomen der lebenden Stimme, das am direktesten die Präsenz und mögliche Dominanz des Sinnlichen im Sinn selbst manifestiert und zugleich das Herz der theatralen Situation: die Kopräsenz lebendiger Akteure dem Gefühl einprägt.29
Unter dieser Perspektive vermittelt die Stimme zwischen der Performativität der Sprache und der Performance, bei der das Semantische um seine einseitige Dominanz kommt und mit dem Asemantischen in einem »Wechselverhältnis«30 steht. Dabei trägt sie weniger zur neutralen Wiedergabe des im dramatischen Text fixierten Sinnes als zur Markierung des »sinnlich verkörperte[n] Sinn[s]«31 bei und geht so mit dem Aisthetischen einher: Die implizit szenische, ja theatrale Qualität der Stimme, die immer schon Aufführung und Wahrnehmung ist, hat zur Folge, dass eine Stimme gehört und beantwortet werden will. Sie ist Anspruch, Appell und Gabe in einem. Diese Gabe, dieser Anspruch zeigt sich nicht nur in dem, was gesagt wird, sondern vor allem auch im Wie des Sagens: in seinem Rhythmus, seiner Musikalität, seiner Klangfarbe und Modulation.32
Hier erweist sich die Stimme als für die »korporalisierende« Performativität paradigmatisch. Indem sie in verschärfter Form den Ereignis- sowie Aufführungs charakter der Sprache erscheinen lässt und zwischen Sprecher und Hörer direkt vermittelt, kann sie als ein Bezugspunkt des ethischen Implikats der SprachPerformanz gelten. Diese Thematik war schon in Kraus’ eigenem Wirkungskreis nicht unbekannt. So veröffentlichte z. B. Otto Stoessl33 in der Fackel vom April 1911 den Essay ›Der dichterische Raum‹, in dem er die Entstehung der poetischen Formen von 28
Kolesch, in: Früchtl / Zimmermann, S. 260. Lehmann, S. 275. 30 s. dazu Fischer-Lichte, in: Fischer-Lichte, S. 142. 31 Krämer, in: Busch / Müller / Seligmann, S. 34. 32 Kolesch, in: Eppig-Jäger / Linz, S. 279. 33 Kraus verdankte dem Vorschlag von Stoessl die Publikation seines ersten Essaybandes Sittlichkeit und Kriminalität. Über ihre intime Freundschaft s. Carr (Hrsg.), Briefwechsel 1902–1925 / Karl Kraus, Otto Stoessl. 29
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D. Der Leseabend als Ritual
der »Verdrängung des gesprochenen, gehörten, durch das geschriebene und gelesene Wort« herleitet (F 321 / 22, 26). Im Gegensatz zur »Erzählung«, welche »die unmittelbare Mündlichkeit zuerst verlassen und die Schrift, das Bild mittelbarer Worte gewählt« habe, habe »die dialektische, das Herz des Moments treffende Kraft« bei Lyrik und Drama »auf dem unmittelbaren Sinneseindruck der gesprochenen und gehörten Rede« beharrt und »sich der Musik« genähert (F 321 / 22, 28). Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass Kraus, der bei der Nestroy-Feier auch »Nestroys Couplets ohne Begleitung zu singen« versuchte,34 die in einem Zeitschriftenartikel seinen Essays über Heine und Nestroy zugeschriebene »Beredsamkeit« selber bestritten hat (F 357 / 59, 54). Bei seinen Lesungen sah er es ohnehin nicht auf das Überzeugen oder gar Überreden des Publikums auf der semantischen Ebene ab, sondern vielmehr auf die Erweckung von einem »Grauen«, das, wie er scherzhaft hinzufügt, »späterhin Schlaf und Verdauung« störe (F 374 / 75, 29). Nach seinem Entwurf verfolgen schriftliche und mündliche Darstellung von Grunde aus unterschiedliche Ziele: Der Dichter schreibt Sätze, die kein schöpferischer Schauspieler sprechen kann, und ein schöpferischer Schauspieler spricht Sätze, die kein Dichter schreiben konnte. Die Wortkunst wendet sich an Einen, an den Mann, an den idealen Leser. Die Sprechkunst an Viele, an das Weib, an die realen Hörer. Zwei Wirkungsströme, die einander ausschalten. Der jahrhundertalte Wahnsinn, daß der Dichter auf die Bühne gehöre, bleibt dennoch auf dem Repertoire und wird jeden Abend vor ausverkauftem Haus ad absurdum geführt. (Bd. 8, 333)
Hier wird mit der Metapher vom elektrischen Kurzschluss die Inkompatibilität von Literatur und Theater, die dem Gegensatz zwischen Schriftlichkeit und Mündlichkeit entspricht,35 angedeutet. Kraus erkannte jedoch bei Autoren wie Nestroy und Offenbach Ausnahmen von diesem »Wahnsinn« und schloss sich selbst an sie an, und zwar mit dem Selbstgefühl, »vielleicht der erste Fall eines Schreibers« zu sein, »der sein Schreiben zugleich schauspielerisch erleb[e]« (Bd. 8, 334).36 Den Grund dieser Unterscheidung können wir nunmehr seiner Achtung vor der sinnlichen Ebene der Sprache, die sowohl beim Literaturtheater als auch bei der Theateravantgarde unterdrückt wurde, zuschreiben. Darin besteht die »geschriebene Schauspielkunst«, bei deren Beziehung zum Leser die Einmaligkeit gerade in der Wiederholbarkeit der Schrift rehabilitiert werden sollte. Dagegen rückte bei
34
Davon berichtet Franz Mittler, Kraus’ letzter Klavierbegleiter, in seinem Memoire, und zwar mit folgender Hinzufügung: »Das konnte nicht gut gehen. So hatte er in der Folge bei ähnlichen Gelegenheiten immer Klavierbegleitung, bald bessere, bald schlechtere.« Zitiert nach: Schartner, S. 13. Über Kraus’ Beziehung zur Musik s. auch C. II. 1. b). 35 s. dazu Fischer-Lichte, in: Fischer-Lichte, S. 193: »Das Theater der abendländischen Kultur ist essentiell vom Spannungsverhältnis zwischen Schriftlichkeit und Mündlichkeit geprägt.« 36 Im Nestroy-Essay findet sich eine damit vergleichbare Formulierung über Wedekind: »Der Schauspieler hat eine Rolle für einen Dichter geschrieben, die der Dichter einem Schauspieler nicht anvertrauen würde« (Bd. 4, 227).
II. Die Verkörperung des Sinnes im affektiven Bannkreis der Stimme
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seinen Lesungen das Moment der Einmaligkeit auffällig in den Vordergrund. Wie sehr er dem Hörer imponierte, bezeugt der von ihm stark beeinflusste Schriftsteller Elias Canetti: Man kann es nicht oft genug wiederholen: der wirkliche, der aufrüttelnde, der peinigende, der zerschmetternde Karl Kraus, der Kraus, der einem in Fleisch und Blut überging, von dem man ergriffen und geschüttert war, so daß man Jahre brauchte, um Kräfte zu sammeln und sich gegen ihn zu behaupten, war der Sprecher. Es hat, zu meinen Lebzeiten, nie einen solchen Sprecher gegeben, in keinem der europäischen Sprachbereiche, die mir vertraut sind.37
Canetti betont, »Alle seine Affekte«, die sich seinen Hörern mitgeteilt hätten, »indem er sprach«, seien »dann auf einmal die ihren« gewesen, auch das »Entsetzen«, dessen »Meister« Kraus genannt wird.38 Hierbei ist zu beachten, dass das Wahrnehmen von Stimmen in der heutigen Theorie eben als »ein affektiver Prozeß«39 gilt. Dem von Kraus häufig verwendeten Schema ›männlich / weiblich‹ zufolge sollte sich demnach die mündliche »Sprechkunst« im affektiven, durch die »weiblich« rezeptive »Sinnlichkeit« (Bd. 8, 13) bestimmten Bannkreis bewähren, während sich die schriftliche »Wortkunst« an die »männlich« aktive »Geistigkeit« des einzelnen Lesers (Bd. 8, 13) richte. Diese Rollenverteilung verrät zwar, dass Kraus, zumindest hier, an einem jahrhundertealten Bild von der Geschlechtermentalität festhält.40 Welche weitere Perspektive öffnet sie aber für die Sprachproblematik? 2. Kraus’ Position in einer verwandelten Situation der Sprachmedien Die oben erörterte Einstellung Kraus’ zur Sprache überhaupt entsprach offensichtlich der damaligen Zeitsituation, wo »[…] das Monopol der Schrift durch die Medien Grammophon und Film gebrochen« und dementsprechend auch »[…] die zuvor von der Dichtung als Totalität angesprochene Sinnlichkeit in disparate Wahrnehmungsfelder aufgespalten« wurde.41 Dadurch wurden ja jene »kulturanthropologische[n] und kulturgeschichtliche[n] Untersuchungen« der Stimme sowie der Mündlichkeit »im Zusammenhang der Oralitäts- / Literalitätsdebatte«, die »in den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts ihren Ausgang nahm«, vorbereitet.42 Eric A. Havelock behauptete dabei, das Alphabet habe beim abendländi 37
Canetti, in: Canetti, S. 43. Canetti, in: Canetti, S. 43. 39 Kolesch, in: Früchtl / Zimmermann, S. 265. 40 Von Belang ist in diesem Zusammenhang Kraus’ Ansicht über die Erotik, die sich durch seine private Liebe beträchtlich änderte und auch eng mit seinem Begriff »Ursprung« zusammenhing; s. dazu E. III. 41 Spahr, in: Spahr/Kloock, S. 180 f. 42 Krämer, in: Krämer / Kolesch, S. 269. 38
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D. Der Leseabend als Ritual
schen Menschen zur Verfügung über sein Gedächtnis sowie zur Entstehung des Selbstbewusstseins beigetragen, während der Mensch in der oralen Kultur »kein Ich, keine Seele, kein Selbst« kenne und sich nicht als autonomes Ich (›personality‹) erfahre, das in der Lage sei, sich zu erinnern, zu denken oder eigene Standpunkte einzunehmen.43 Davon ausgehend, schätzte Havelock die Entwicklung der Schrifttechnologie seit der griechischen Antike hoch, deren Konsequenzen erst mit der Druckerpresse evident geworden seien.44 Nach Daniela Kloock kritisierte Marshall McLuhan dagegen die Buchdruckkultur, in deren visuellem Leben das Wahrnehmungsvermögen der westlichen Zivilisation, verglichen mit dem synästhetischen Empfindungsvermögen oraler Kulturen, unterentwickelt und stumpf geworden sei,45 und setzte er seine Hoffnung auf eine Wiederkehr der oralen Kultur in der durch elektronische Medien beherrschten modernen Welt als einem »global village«.46 Weit früher schlug Kraus einen dritten Weg ein. Er bezweckte ein reziprokes Zusammenwirken seiner schriftlichen und seiner mündlichen Arbeit. Die dafür bezeichnende Nähe zur »Schauspielkunst« können wir auch in typologischem Vergleich mit dem Konzept Derridas noch schärfer konturieren. Trotz dessen Aufwertung der Schriftlichkeit, der Kehrseite seiner Kritik am Phonozentrismus, pflichtete er der Absage Antonin Artauds an die »Herrschaft des Schriftzeichens über den Atem«47 bei. Dadurch wird zwar »das Fleisch des Wortes, sein Klang, seine Betonung, seine Intensität«48 rehabilitiert, was jedoch nur unter der unangefochtenen Herrschaft des Prinzips der Fall sei, alles werde »in einer Schrift und in einem Text vorgeschrieben«,49 und was schließlich zur Rückkehr zu der »kreisförmige[n] Grenze« führe, »innerhalb derer die Wiederholung der Differenz sich unbegrenzt wiederhol[e]«.50 Im Zusammenhang mit dem Theater wird die Stimme bei Derrida, obwohl es nach Doris Kolesch »eine Dimension der Stimme, die der Selbsttransparenz, dem Sinn und der Präsenz widerspricht«,51 gibt, in das Lager des zu dekonstruierenden Logos einbezogen. Dagegen handelt es sich bei Kraus um keine Umstrukturierung des hierarchischen Verhältnisses von Schriftlichkeit und Mündlichkeit, sondern um deren wechselseitige Relativierung, und zwar im Hinblick darauf, dass die beiden Momente im schauspielerischen Zwischenraum 43 Havelock (1990), S. 72 ff. sowie Havelock (1982), S. 45, 200. Hier werden als Merkmale der Schriftkultur u. a. die Fähigkeit zum kausalen Denken oder zur Abstraktion sowie die Objektivität und kritische Distanz genannt. Dagegen seien im präliteralen ›state of mind‹ Bildhaftigkeit und Emotionalität dominant. 44 Havelock (1990), S. 71 f. 45 Kloock, in: Spahr / Kloock, S. 255. 46 McLuhan (1962), S. 21. 47 Derrida (1994), in: Derrida, S. 282. 48 Derrida (1994), in: Derrida, S. 362. 49 Derrida (1994), in: Derrida, S. 362. 50 Derrida (1994), in: Derrida, S. 379. 51 Kolesch, in: Früchtl / Zimmermann, S. 268. Dabei gehe es um »die Stimme gegen den Logos, die Stimme als das Andere des Logos, als radikale Alterität«.
II. Die Verkörperung des Sinnes im affektiven Bannkreis der Stimme
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zwischen Akteur und Zuschauer als etwas wahrnehmbar sind, das sich nur einmal ereignet. Dies ist eben ein Punkt, in dem sich seine Überlegungen mit heutigen Theorien zur Performativität berühren. Diesen Standort erkennen wir in Kraus’ Stellung zu dem Schauspieler Adolf von Sonnenthal, dessen Briefwechsel er las und zum Anlass nahm für seinen Rückblick auf die »Höherwertigkeit eines Zeitalters«, die sich »nicht an dem höheren Niveau literarischer und sonst gewerblicher Fertigkeit«, sondern »an der höheren Aufnahmsfähigkeit« sowie »an der größeren Bewegtheit der Masse« bewiesen habe: […] die Kultur des Theaters zeigt den Wärmegrad des Lebens an. Ist die Massenkunst schlechter, so ist die Masse schlechter geworden. […] Es beweist gar nichts gegen eine Zeit, daß die Konturen, in die schauspielerisches Leben eingefüllt war, von handwerklichen Federn gezogen sind. Es beweist aber alles für eine Zeit, daß in diesem Grundriß echte Bühnengötter ihre Wunder schufen. (Bd. 4, 344).
Was Kraus an diesen »Bühnengöttern«, zu denen neben Sonnenthal auch andere Burgtheaterschauspieler wie Josef Lewinsky, Adalbert Matkowsky und Bernard Baumeister gehörten,52 als vorbildhaft ansah, bezieht sich nun auf kein anderes Element als auf das orale: Ein Mißglaube ist es, der vom Wort und vom Geist jene unmittelbaren Wirkungen auf die Gegenwart erhofft, die allein der Klang vermag und das Weib. Der Sprechkunst, nicht der Sprachkunst ist es vorbehalten, uns selbst zu sagen, wie es um uns selbst bestellt ist. (Bd. 4, 344)
In einer dem oben angeführten Aphorismus ähnlichen Wendung ist hier der Unterschied des Effekts beider Kunstarten thematisiert. Wenn Kraus als »Sprecher« das Publikum beeindruckte, so betont er seinerseits an den Schauspielern der älteren Generation vor allem die gesellschaftliche Leistung ihrer Stimme. Dabei scheint er hauptsächlich die Selbständigkeit des Schauspielers sowie die dadurch ermöglichte sinnliche Verkörperung des Sinnes zu thematisieren, wenn er zeitgenössische Theaterkritiker und -theoretiker tadelt. Diese benähmen sich, [a]ls ob die Menschlichkeit, die der große Schauspieler wirkt, vom Wortmacher mehr als das Stichwort brauchen könnte, und als ob die unvergeßliche Gebärde je etwas dem Teil von Shakespeare verdanken könnte, der des Geistes ist und nicht des Stoffes! Und als ob der Gedanke auf die Zunge angewiesen wäre und nicht von ihr, indem er ihr Laute leiht, zugleich gefesselt würde. Als ob, was gehört wird, auch verstanden werden könnte, und was gefühlt wird, nicht vom Sprecher käme, sondern vom Wort. (Bd. 4, 345)
52 s. Grimstad, S. 44 ff. Von diesen vier Schauspielern starben drei zwischen 1907 und 1909, worüber Kraus mehrmals geschrieben hat. Zu Josef Kainz war er konsequent kritisch eingestellt. Was ihn an Sonnenthal beeindruckte, seien nicht die »speech technique«, sondern Qualitäten des alten Burgtheaterstils gewesen wie: »[…] elemental passion, the ability of the actor to appeal to the intuitions and emotions rather than the reason and intelligence of the spectator« (S. 48).
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Zu der von ihm kritisierten Vorherrschaft des Semantischen schreibt er: Die stickige Zeitluft, in der Schauspieler zu Psychologen werden mußten, tut sich viel darauf zu gute, die Literatur dem Theater nähergebracht zu haben. Aber sie weiß nicht, daß sie hier – zeitweise – bloß mit ihrem analytischen Pech Glück hat. Sie hat das Theater zum Hörsaal gemacht, in welchem zu tausend Einzelnen gesprochen wird, ohne die bindende Kraft, die nie der Begriff, nur der Tonfall vermag. Was sind tausend intelligente Schwächlinge, wenn sie nicht einmal mehr das eine und einzige Weib bilden, das dem Schauspieler erliegt? (Bd. 4, 345)
Überdies wird die Meinung bestritten, »[…] die mimische Leistung sei ein Vergängliches und habe sich jeweils an dem Text zu beweisen«; »In Wahrheit lebt der Klang länger als das Wort, wenn es nur ihn hat und nicht auch die Schrift« (Bd. 4, 346). Obwohl er einerseits wie bei seinem Ruf nach »Kinematogrammophon« (Bd. 4, 158) die Vergänglichkeit der Schauspielkunst behauptet, befürwortet er andrerseits hier ihre dauernde Wirkung unter Berufung auf die sinnliche Verkörperung des Sinnes durch den »Verkörperungscharakter«53 der Stimme, der auch als Kennzeichen ihrer Performativität gilt. Mit Recht können wir nun sein Konzept mit »Verkörperung« im Sinne Fischer-Lichtes in Beziehung setzen. Demnach »sollen« im Fall performativer Akte »die Körper der Akteure nicht etwas ›bedeuten‹ – eine Rollenfigur, ein Körperkonzept, eine Werthaltung, Einstellung o. ä.«: Der Zuschauer wird vielmehr mit ihrer je besonderen Leiblichkeit konfrontiert, die häufig bei ihm beobachtbare affektive Reaktionen auslöst wie Erschrecken, Abscheu, Ekel, Scham, Entsetzen, Äußerungen von Aggressionen o. ä.54
Wenn Kraus auch allein vorlas, gab es bei seinen Lesungen buchstäblich solche »Reaktionen«. Wenden wir uns nun der Frage zu, um welche konkreten Umstände es sich dabei gehandelt hat.
III. Beifall und Verdächtigung angesichts der ›rätselhaften‹ Identität des Satirikers 1. Sozialer Widerhall auf Kraus’ Lesungen als eine rituelle Performance Im Mai 1913 veröffentlichte Kraus in der Fackel den Essay ›Wer ist der Mörder?‹. Dieser Titel wurde jener Preisfrage in der Münchener Wochenzeitschrift Zeit im Bild entnommen, mit der sie für einen Kriminalroman, der darin in Fortsetzungen publiziert wurde, warb. Dazu wurde er veranlasst durch eine Kraus-Karikatur von Blix, die gleichzeitig mit dieser Preisfrage in jener Zeitschrift erschien. Was da karikiert wurde, waren die Gesten und Mienen, mit denen Kraus bei seinem 53 54
Kolesch / Krämer, S. 11. Fischer-Lichte, in: Fischer-Lichte, S. 305.
III. Beifall und Verdächtigung angesichts der Identität des Satirikers
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Abb. 11 (F 374 / 75, S. 32)
im März in München von der Innsbrucker Zeitschrift Brenner veranstalteten Leseabend sprach, wobei manche antisemitischen Entstellungen erkennbar waren, z. B. durch die Darstellung der Ohren. Diese Karikatur druckte er in dem Essay ab und versuchte, sie »durch die photographische Entgegnung des Sachverhalts zu berichtigen« (Bd. 3, 302) [das Bild stammt aus: F 374 / 75, S. 32 (Abb. 11)].55 Während er auf seine 1910 in der Zeitschrift Sturm veröffentlichte Zeichnung Oskar Kokoschkas stolz gewesen sei, sah er in der Karikatur Blix’ nur »Talentlosigkeit« und »Verlogenheit« am Werk. Er schrieb sie dem »schlechte[n] Satiriker« (Bd. 3, 303) zu, dessen »Überhandnehmen durch das gemeinste Bedürfnis und den gemeinsten Betrieb garantiert« sei (Bd. 3, 303). Dieses Vorkommnis können wir als ein Beispiel dafür ansehen, dass Kraus’ Lesungen nicht nur den Beifall seiner begeisterten ›Gemeinde‹ hervorriefen, sondern auch seine gekränkten Antipoden zum Angriff reizten. Einen Grund für solche Attacken, die als Beispiel für die allein schon durch seine körperliche Präsenz bei bestimmten Zuschauern bewirkten affektiven Reaktionen gelten können, erklärt er mit dem »ungeheuren Vorrat des Hasses«, den seine »[…] bloße Existenz durch die bloße Unfähigkeit, Verbindungen einzugehen, gesammelt« habe (Bd. 3, 306). So gibt er sich ironisch selbst die Schuld mit seiner Antwort auf die Preisfrage: »der Mörder bin ich!« (Bd. 3, 309).
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Drei Nummern nach dieser Nummer erschien der Essay ›Erfahrung‹ (F 381 / 83, 42 ff.), aus dem in C. III. 2. a) Seitenbilder angeführt wurden (Abb. 7).
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Die Pointe liegt in der Asymmetrie zwischen seiner exponierten Präsenz und dem karikativ gezeichneten und technisch reproduzierten Kraus-Bild: So ist es möglich, daß einem Publikum, welches kaum meinen Namen erfährt, von einem Literatentum, das meine Arbeit kennt, Leistungen vorgesetzt werden, die vom unterrichteten Leser sogleich als miserable Kopie erkannt werden müssten. (Bd. 3, 303)
Das Ergebnis war, dass der ohnehin von Kraus stark beeindruckte Herausgeber des Brenner, Ludwig von Ficker,56 auf den Gedanken einer »Rundfrage über Karl Kraus« kam. Dadurch sollten sich manche fern stehenden Leser trotz des »Zerrbild[es], das ein mißgeborener Abklatsch von einem geborenen Original weithin [entwerfe]«, Kraus »in der Nähe« besehen können.57 Die recht umfangreiche Sammlung der Antworten auf diese Rundfrage58 ist für uns heute ein Dokument des sozialen Widerhalls, den Kraus als Fackel-Herausgeber sowie als Vorleser damals fand. Dabei brachte ein hohes Lob, das freilich einen Skandal nach sich zog, vor allem zutage, welch schwer festzustellende Position er in der damaligen Gesellschaft einnahm. Dieser Lobredner, Lanz von Liebenfels, war nämlich ein in Österreich bekannter antisemitischer Rassentheore tiker. Er schätzte Kraus’ Kritik an der vorwiegend von Juden betriebenen liberalen Wiener Presse: Diesem Manne kommt nicht lokal wienerische, nicht österreichische, nicht deutsche Bedeutung allein zu, dieser Mann hat den Ariogermanen wieder das Recht der öffentlichen Aussprache zurückgegeben, er hat es uns ermöglicht, daß wir jetzt, wo wir das über wältigende Schauspiel erleben, daß sich über dem seiner Lösung sich nähernden Nationalitäten-Problem riesengroß das Rassen-Problem erhebt und Europa und seiner Kultur der Untergang in der gelben und schwarzen Flut droht, unsere mahnende und belehrende Stimme erheben können. Er hat uns die Sprache wieder gegeben und die bellende ›Journaille‹ mundtod gemacht.59
Zu dieser Offenbarung einer Sympathie auf der Seite des Deutschen, bei der Ausdrücke wie »Aussprache«, »Stimme« oder »mundtod« womöglich nicht zufällig auf die Mündlichkeit Bezug nehmen,60 kontrastiert nun ein Ausspruch der Hassliebe auf der Seite des Juden bei der Lesung Ende September 1913, wie in dem in der Fackel angeführten Brief eines »treue[n] Leser[s]« berichtet wird. Die-
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Über seine Beziehung zu Kraus, aus der mehrere Leseabende entstanden, s. Stieg, S. 13 ff. Ficker, Heft 18, S. 836. Diese Rundfrage wurde in den Heften 19 und 20 fortgesetzt. 58 Insgesamt dreißig leitende Personen aus der kulturellen Öffentlichkeit in Österreich und in Deutschland nahmen dazu Stellung. Dazu gehörten: Else Lasker-Schüler, Richard Dehmel, Frank Wedekind, Thomas Mann, Peter Altenberg, Georg Trakl, Adolf Loos, Arnold Schönberg, Hermann Broch, Stefan Zweig, Franz Werfel, Oskar Kokoschka. 59 Aus: Ficker, Heft 18, S. 847 f. Übrigens sollte sich der Antisemitismus von Liebenfels nach dem Ersten Weltkrieg noch verschärfen. Heute wird überdies behauptet, dass nicht seine okkultistische Weltanschauung Hitler beeinflusst habe, sondern seine Diktion; s. dazu Hamann, S. 318. 60 Es ist möglich, dass Liebenfels bei Kraus’ Lesungen anwesend war. 57
III. Beifall und Verdächtigung angesichts der Identität des Satirikers
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ser sei über das »f a s t d u r c h w e g s « gerade aus den von Kraus so heftig an gegriffenen und kritisierten Juden bestehende Auditorium überrascht worden, das Kraus »unter dem Banne« seiner Vortragskunst »frenetischen Beifall zoll[e] – um schon in der Garderobe auszurufen: ›Er ist doch ä Jud’!‹« (F 384 / 85, 27). Manche jüdischen Zuhörer waren also vorwiegend von seiner virtuosen Kunst der Lesung begeistert, ohne dem Inhalt der Texte, in denen es oft um Kritik an jüdischen Schriftstellern ging, gänzlich zuzustimmen. Deshalb versuchten sie nach dem Ende der Lesungen, diesem ambivalenten Zustand zu entkommen, indem sie meinten, Kraus sei ihr Rassengenosse. Es zeigt sich, dass die Reaktion des Publikums auf die satirische Tätigkeit Kraus’ nach dem Beginn seiner Lesungen in einen nicht nur durch die Kontroverse über die Qualität seiner Kunst, sondern durch die Voreingenommenheit gegen seine Rassenidentität bewirkten Zwiespalt geriet. Diese Umstände können wir mit dem »Subversions- und Transgressionspotential« sowie mit der »Intersubjektivität«, die zum Begriffsbereich einer Performa tivität des Oralen gehören,61 in Zusammenhang bringen. Diese gehören zu den zentralen Themen bei der Forschung nach der Performance im erweiterten Sinne, die Joachim Fiebach zufolge »eine Praxis mit weitreichenden soziokulturellen Implikationen« bedeutet.62 Seitdem der Anthropologe Milton Singer diese Forschungsrichtung mit dem Begriff »cultural performance« eröffnet hat, hat man sie auf Ethnologie, Soziologie bzw. Geschichtswissenschaft u. a. übertragen.63 Was das Problem der Stimme anbetrifft, ist vornehmlich Paul Zumthors mediävistische Forschung über orale Dichtung bemerkenswert. Über den Unterschied zwischen dem geschriebenen und dem gesprochenen Wort schreibt er z. B.: Wenn der geschriebene Text Stimme wird, wandelt er sich grundlegend, solange Hören und sprachlich-körperliche Gegenwart andauern. Jenseits der Gegenstände und der Bedeutungen, auf die sie sich bezieht, verweist die Rede auf das Unbenennbare. Die Rede ist nicht einfach die Vollstreckerin des Sprachsystems. Sie bestätigt nicht nur nicht vollständig dessen Vorgaben, sondern handelt ihm oft, in ihrer ganzen Körperlichkeit, zu unserer Überraschung und unserem Vergnügen zuwider. […] Das gesprochene Wort lebt nicht wie das geschriebene in einem bloß verbalen Kontext. Es gehört notwendig in den Verlauf einer existentiellen Situation, die es irgendwie verändert und deren Totalität die Körper der Teilnehmer ins Spiel bringt.64
Kraus selbst betonte eine derartige Wirkung der Stimme und allgemein des gesprochenen Wortes hyperbolisch, als er sich durch den oben genannten Leserbrief zur Lösung des »psychologische[n] Rätsel[s]« (F384 / 85, 27), weshalb das Auditorium bei den Lesungen selbst applaudiere, aber gleich danach »er ist doch ä Jud!« ausrufe, herausgefordert sah: 61
Kolesch / Krämer, S. 11. Fiebach, in: Barch u. a., S. 747. 63 Fiebach, in: Barch u. a., S. 747 ff. sowie Martschukat / Patzold, S. 11 ff. 64 Zumthor, in: Gumbrecht / Pfeiffer, S. 708 f., 711. 62
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D. Der Leseabend als Ritual
Daß ich unter Hörern wie unter Lesern Hörer wie Leser für vorstellbar, möglich und existent halte, die mehr als einen Reiz oder selbst eine Erschütterung durch den Tonfall von etwas, was sie nicht verstehen, mitnehmen, braucht nicht gesagt zu werden. Die Masse kann und soll nicht verstehen. Sie leistet genug, wenn sie sich aus trüben Einzelnen zu jenem Theaterpublikum zusammenschließt, das der unentbehrliche Koeffizient schauspielerischen Wertes ist. (F 384 / 85, 28)
In diesem Fall wurde sogar provokativ behauptet, das Publikum bewähre sich »am besten dort, wo es von der rhythmischen Wirkung der Pflicht jedes Verständnisses überhoben« werde: »[…] an den gedanklich schwersten, aber von der dynamischen Welle zu jeder Psyche getragenen Stücken, gegen deren Stofflichkeit, deren ›Tendenz‹ die fünfhundert Einzelnen rebellieren müßten« (F 384 / 85, 28). Unter diesem Gesichtspunkt, unter dem es weniger auf das Verständnis des gesprochenen Textes auf der semantischen Ebene als auf das Mitreißende seiner Dynamik auf der sinnlichen Ebene ankommt, versucht Kraus, jenes »psychologische Rätsel« zu erklären: »Je stärker solche Wirkung auf die empfangende Masse war, desto heftiger ist die Reaktion der sich am Schlusse wiederfindenden Individuen« (F 384 / 85, 28). Kraus’ Fazit: »›Er ist doch ä Jud!‹ ist das Urteil, das jene schon in die Vorlesung mitbringen, nur widerwillig für 2½ Stunden aufgeben und mit dem Überzieher wieder in Empfang nehmen« (F 384 / 85, 29). Angesichts dieser ironisch vereinfachenden psychologischen Erklärung lässt sich freilich fragen, ob eine solche zeitweilige Vereinigung des huldigenden Publikums, die schließlich auf eine derartig ernüchternde Gegenreaktion hinausläuft, mehr als den theaternahen Lesungen einem semioralen Ritual, dessen Beispiele etwa in der mittelalterlichen »Performanzkultur« in Europa untersucht werden,65 zuzuordnen ist. In der Tat hat ein Augenzeuge den Verlauf einer »Vorlesung« Kraus’ so charakterisiert: »Das Ritual – Der Ablauf der Vorlesungen folgte einigen Regeln, die mit der Zeit zum Ritual wurden.«66 Mit »Ritual« meinen wir auch im Folgenden keine Zeremonie, deren Vollzug »nur unter Bezug auf den Mythos« Bedeutung zukommt, sondern »eine bestimmte Gattung von Aufführungen, die der Selbstdarstellung und Selbstverständigung, Stiftung bzw. Bestätigung oder auch Transformation von Gemeinschaften dienen und unter Anwendung je spezifischer Inszenierungsstrategien und -regeln geschaffen werden«.67 Ein solch säkularisierter Ritual-Begriff, wie er sich in einer Kooperation von Ethnologie, Sozial- und 65
Müller, in: Wenzel u. a., S. 63 ff. Pohl, in: Kraus-Hefte, S. 11. Pohl gibt die Beobachtungen eines Zeugen wieder: »So erinnert sich Brügel [ein vom Verfasser befragter Zeuge, Anm. d. Verf.], daß die Bühne stets durch einen Paravent so verdeckt war, daß Kraus erst am Vortragstisch selbst vor das Publikum trat. ›Man durfte nicht sehen, wie er kommt.‹ Auch das nachfolgende Auswechseln der Brillen erlebte Brügel als Zeremonie, als ›heiligen Vorgang‹. Als verbindlicher Usus galt wohl auch, daß der Vortrag einzelner Texte nicht durch Zwischenapplaus gestört wurde. Die Befragten erinnern sich übereinstimmend, daß es Ausnahmen nur bei Offenbach und Nestroy gab. Im übrigen habe Kraus seinen Platz niemals verlassen, sondern bestenfalls den Tisch, indem er ihn auf verschiedene Weise umfaßte, zum Requisit des Vortrags gemacht.« 67 Fischer-Lichte, in: Martschukat / Patzold, S. 34, 47. 66
III. Beifall und Verdächtigung angesichts der Identität des Satirikers
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Theaterwissenschaft herausgebildet habe,68 wird überdies mit dem Begriff des »sozialen Dramas« in der symbolischen Anthropologie Victor Turners verbunden, wobei der Begriff des »Liminalen« den Zustand bedeute, bei dem die Grenze zwischen dem Alltagsleben und dem Theaterspielen suspendiert werde.69 Diesen Sachverhalt erläutert Joachim Fiebach unter Berufung auf die Ansätze Milton Singers u. a. wie folgt: Indem sie [die als ›cultural performance‹ zu bezeichnenden Phänomene, zu denen auch das Ritual im oben genannten Sinne gehört. Anm. d. Verf.] weltanschauliche Positionen, soziale Haltungen, Wertvorstellungen zum Ausdruck bringen und prägen, seien sie auch mitbestimmend für die Gestaltung sozialökonomischer, kultureller, politischer Strukturen und Bewegungen. In ihnen können sich ganze Gesellschaften und Klassen, Schichten und Gruppen darstellen, ansehen und über sich reflektieren; sie können sich selbst sinnlich-symbolisch ›behandeln‹, ihre Interessen aushandeln und mannigfaltige Konflikte austragen.70
Der hier beschriebene Sachverhalt wurde von Stanley J. Tambiah mit der Sprechakttheorie in Bezug gesetzt. Demzufolge sei eine rituelle Handlung »im Sinne von Austin« performativ, »wonach etwas sagen gleichzeitig auch etwas tun (als konventionelle Handlung) bedeutet«.71 Heute wird jedoch auf das Problem der »Geschlossenheit« des auf diese Weise begriffenen Rituals hingewiesen. Hier erschienen Rituale »[…] nicht als konfliktbeladene soziale Interaktionen, sondern als Momente, in denen gesellschaftliche Konflikte transzendiert und überwunden oder zumindest kanalisiert werden«.72 Zurückzugewinnen sei das Verständnis von Ritualen als »wirksame[n] und zugleich risikobehaftete[n] Performanzen, die nicht nur Momente der Reflexion über diese Welt darstellten, sondern unmittelbar an ihrer Gestaltung beteiligt« seien.73 Wie können wir diese Erkenntnisse zur Krausschen Satire in Beziehung setzen? 68
Martschukat / Patzold, S. 7. Turner, S. 177 ff. Turner schreibt vom »Liminalen« im Sinne der »Schwellen« (S. 180). Turners Ansicht nach besteht das »soziale Drama« als sozialer Konflikt in verschiedenen Formen aus vier Stufen (Bruch mit der sozialen Norm, Krise und Konflikt, Versuch der Konfliktlösung, Wiedereingliederung oder Spaltung), in deren dritter die performativen Gattungen komplexer Industriegesellschaften tief verwurzelt seien (S. 171 ff.). Die damit zusammenhängende liminale Phase, d. h. die Schwellenphase, sei die Zeit, in der »[…] der Initiand weder das [sei], was er einmal gewesen ist, noch das, was er einmal sein wird«. Charakteristisch für diese Zeit sei überdies »die ausgeprägte Ambiguität und Inkonsistenz von Bedeutungen« sowie das Auftreten der diese verkörpernden mehrdeutigen Phänomene, die »zwischen alternativen oder gegensätzlichen Kontexten« vermitteln und »so wesentlich zu ihrer Veränderung« beitragen (S. 180). 70 Fiebach, in: Barch u. a., S. 751. 71 Tambiah, in: Belliger / Krieger, S. 230. Das ist die erste der drei Arten, in der rituelle Handlungen performativ seien. Die zweite Art bezieht sich auf eine dramatische Performance, »[…] in der die Teilnehmer verschiedene Medien benutzen und das Ereignis intensiv erfahren«, und die dritte, auf einen indexikalen Wert, den »[…] die Akteure während der Performance dieser zuschreiben und aus ihr ableiten« (S. 230). 72 Rao / Köpping, S. 8. 73 Rao / Köpping, S. 26. 69
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D. Der Leseabend als Ritual
2. Das Potential der transformierenden Wirkung der Krausschen Lesungen Der anthropologische Ansatz zum Performativen hat zwar vorwiegend im anglo amerikanischen Gebiet einen Aufschwung genommen, geht aber in gewissem Grad auf deutsche Denker zurück. In seiner Abhandlung ›Zur Anthropologie des Schauspielers‹ hat z. B. Helmuth Plessner behauptet, von der schauspielerischen Aktion her könne man »[…] menschliches Leben schließlich als Verkörperung einer Rolle nach einem mehr oder weniger feststehenden Bildentwurf, der in repräsentativen Lagen bewußt durchgehalten werden muß«, verstehen.74 Vor diesem Lernprozess gebe es keinen schon fertigen Menschen. Diesen Sachverhalt bezeichnet Plessner unter Berufung auf die »Heideggersche Formel eines Seins, dem es in seinem Sein um sein Sein geht«, als »Abständigkeit« menschlicher Existenz zu sich selbst, welcher der »Aspekt der Nachahmung und Verstellung« angehöre.75 Diese Auffassung von der menschlichen Existenzart, nach der die Grenze zwischen dem wirklichen Leben und der Theateraufführung durchlässig sei, nahm übrigens Georg Simmel vorweg, als er »die Vorform der Schauspielkunst« in den »mannigfaltigen Äußerungen und Praktiken des Tages« ermittelte.76 Plessner hat allerdings auch unter Berufung auf Kleists Aufsatz ›Über das Marionettentheater‹ betont, dass der Mensch »weder die ungehemmte Präzision der Marionette bzw. die Instinktsicherheit des Tieres noch die vollkommene Ursprünglichkeit unfehlbarer Verwirklichung« besitze und doch eben in dieser »gebrochene[n] Ursprünglichkeit« seine Freiheit gewonnen habe, und zwar sogar auch zur Rebellierung gegen die gesellschaftliche Norm und zu ihrer Erneuerung.77 Dieses Moment der Transformation rückt in den angloamerikanischen Diskussionen über die »Widerstandsritual[e]«,78 bei denen die Performativität einen Schlüsselbegriff darstellt, in den Vordergrund. Ein Beispiel dafür finden wir in Judith Butlers Theorie über das verletzende Sprechen, bei der es sich um die strategische Möglichkeit des Zitierens sowie ihre Ritualbezüglichkeit handelt. Sie schreibt: Allgemeiner bedeutet dies, daß die veränderliche Macht solcher Ausdrücke eine Art diskursiver Performativität markiert, die nicht aus diskreten Reihen von Sprechakten, sondern aus einer rituellen Kette von Resignifizierungen besteht, deren Ursprung und Ende nicht feststehen und nicht feststellbar sind.79
Hier wird »Performativität« zur Bezeichnung für das Prinzip eines kritischen Sprechens, das einen gesellschaftlichen Kontext voraussetzt und zugleich da 74
Plessner, in: Plessner, S. 414. Plessner, in: Plessner, S. 414. 76 Simmel, in: Simmel, S. 202 f. 77 Plessner, in: Plessner, S. 414, 416. 78 Wulf / Zirfas, S. 99. 79 Butler (1998), S. 27. 75
III. Beifall und Verdächtigung angesichts der Identität des Satirikers
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mit bricht80 und dessen Macht eng mit seinem Status als körperlicher Handlung zusammenhängt.81 Denn um die Äußerungen, die mit ihrer gesellschaftlichen Macht die Körper nicht nur steuern, sondern auch bilden,82 umzufunktionieren, müssten die »Widerstandsrituale« auch, ja umso strikter, die eigentliche Bedingung des Rituals einhalten. Anders gesagt, erarbeiten sie sich »die (institutionelle und reziproke) Anerkennung nicht begrifflich-reflexiv, sondern körperlichhabituell oder in der sprachlichen Interaktion, im szenisch-mimetischen Mit- und Nachvollzug (mimesis, methexis)«.83 Diese ritualtheoretische Neubestimmung der performativen Äußerung stimmt bei dem Theateranthropologen Richard Schechner mit dem Konzept der Performance bzw. des rituellen Prozesses als eines »rekodierten Verhaltens« überein. Er nennt performatives Handeln »symbolisch und reflexiv zugleich« und hebt dessen gesteigert subversives Potential folgendermaßen hervor: Die Hierarchie, in der normalerweise Tatsächliches als »Wirklichkeit« und Phantasie als »Unwirklichkeit« gesehen wird, ist für die Spielzeit aufgehoben. Eine andere Definition des Workshop / Proben-Prozesses, des rituellen und Aufführungsprozesses stellt das Auflösen alltäglicher Hierarchien dar, das Sammeln von Gegenständen ohne Rücksicht auf ihren Nutzen, das Reservieren von Zeiten und Orten, um in einer besonderen Welt die Dinge anders wahrzunehmen.84
Solche Auffassungen des Rituals, denen zufolge die darstellerische »Performance« und die sprachliche »Performativität«, durch das Ritual vermittelt, miteinander in Berührung kommen, scheinen uns nun zu ermöglichen, die Performance-Ebene der Satire Kraus’ zu thematisieren. Maßgebend dafür sind auf der schriftbezüglichen Ebene sein Antirassismus und seine damit verbundene Strategie gegen das verletzende Sprechen. Im Essay ›Der Neger‹ vom Oktober 1913 verspottet er z. B. den in einer deutschen Zeitung erschienenen Leserbrief, der für die voreingenommene Abneigung gegen die Mischehe – in diesem Fall zwischen einer deutschen Frau und einem afrikanischen Mann – offenbar typisch war. Dabei erzählt er von seiner möglicherweise fiktiven stimmlichen Erfahrung mit oral artikulierter Schimpfrede. Er wohnte nämlich mit seinem afrikanischen Chauffeur einer Situation bei, in der »das stereotype Spalier offener Mäuler und gereckter Arme ihn begleitete und der ewige Ruf: ›A Näägaa!‹ aus dem Boden sprang und wie festgewurzelt dastand, wenn er mit seinem Automobil vorüberblitzte –« (Bd. 4, 306). Im Gegensatz zu diesen »ärgsten Pöbeleien der Zivilisierten« (Bd. 4, 306) habe aber der Chauffeur auf Kraus’ Frage, »wie ihm das Leben 80
Butler (1998), S. 63. Butler (1998), S. 215. 82 Butler (1998), S. 224. 83 Wulf / Zirfas, S. 98. Der Begriff »methexis«, der von Platon eingeführt worden sei, bezeichne »die Einzeldinge der Sinnenwelt als Abbilder der […] Ideen«. Nur durch Teilhabe an den Ideen könnten sie als ›wirklich‹ und ›seiend‹ angesehen werden; s. Zeitverlag, S. 524. 84 Schechner, in: Belliger / Krieger, S. 416, 429. Hier wird die »performance« übrigens einfach mit »Aufführung« übersetzt. 81
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D. Der Leseabend als Ritual
gefalle«, »im reinsten Deutsch« geantwortet: »Ach, die Wiener haben eben keine Kultur« (Bd. 4, 306). Dann schreibt Kraus: Ich beschloß, ihn zu schützen, indem ich künftig das Prävenire spielen und auf jeden Maul aufreißer mit dem Finger zeigen wollte: »A Wienaa –!« (Bd. 4, 306)
Stellt die im Wiener Dialekt wiedergegebene Form von »Wiener« hier ein satirisches Gegenstück zu »Näägaa« dar, setzt Kraus eben eine umwertende »Reinszenierung« des ersteren in die Praxis um, und zwar zu dem Zweck, rassistischen Sprachgebrauch als solchen zu entlarven. Damit soll die Einstellung zur »rassischen« Identität irritiert werden. Dasselbe gilt für den Fall der Frage nach seiner jüdischen Herkunft. Im Essay ›Er ist doch e Jud‹ vom Oktober 1913 antwortet er auf die damals besonders akute Frage eines Lesers, ob er glaube, dass ihm »nichts von allen den Eigenschaften der Juden anhaft[e]«, und welche Stellung er zu der Behauptung seines ›Verehrers‹ Liebenfels beziehe: »Aus der Rasse kann man nicht austreten« (Bd. 4, 327). Zunächst reagiert er provokativ. Er täuscht Ignoranz hinsichtlich der ›Judenfrage‹ vor, was er ironisch mit seinem mangelnden Interesse am ›Rassenproblem‹ erklärt: »Ich bemerke vorerst, daß ich, sorglos, so aus dem Tag herauslebend, mir über so wichtige Probleme wie über das Rassenproblem noch gar keine Gedanken gemacht habe« (Bd. 4, 328). Auf diesem Umweg wird der Standpunkt des Fragenden von vornherein selbst hinterfragt. Dieses Verhalten wird auch kurz danach, durch komplex verbundene Konjunktive und Relativsätze intensiviert, wiederholt: So glaube ich wohl, daß man auch innerhalb der Rasse jenen höheren Zustand bewähren mag, der einmal keiner Rasse versagt war oder der, ihr einmal erreichbar, sie nie unerträglich gemacht hätte. Und so ist es mir wohl auch möglich, Eigenschaften zu hassen, die ich auf jenem Stand der Judenheit, wo sie sich noch nicht von Gott selbständig gemacht hatte, vergebens suchen würde. Dagegen zu behaupten, und damit die erste Frage zu beantworten: daß ich nicht nur glaube, sondern wie aus der Erschütterung eines Offen barungserlebnisses spüre, daß mir nichts von allen den Eigenschaften der Juden anhaftet, die wir nach dem heutigen Stand der jüdischen Dinge einverständlich feststellen wollen. (Bd. 4, 328 f.)
Darüber hinaus erklärt Kraus das »Wissen« um derartige Fragen, deren Antwort man »geradezu ahnen« könne, für ungültig (Bd. 4, 332), es sei denn, es »müßte […] eine jüdische Eigenschaft sein, keine zu haben« (Bd. 4, 333). Was hier zurückgewiesen wird, ist die Behauptung einer Dichotomie zwischen einem Juden und einem Nicht-Juden. Deren Grund sieht er in dem »Leben der Phrase« (Bd. 4, 331). Behauptet wird auch, es sei ungerecht, »Macht und Habgier« (Bd. 4, 329) nur dem jüdischen Volk zuzuschreiben. Demnach stellt für ihn die Kategorie »Rasse« etwas Beliebiges, Willkürliches dar, dem keinerlei Essenz entspricht. Deswegen ist sie letzten Endes unhaltbar. Dementsprechend macht er geltend, dass man seine Außenseiterposition nach keiner bestimmten Rassenkategorie klassifizieren könne: ein Moment des »Liminalen« bei Kraus, das auch außerhalb des Lesesaals
IV. Die orale Performance der Satire
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insofern bestand, als da die Gesellschaftsordnung in der Hinsicht seiner Rassen identität suspendiert wurde.85 Über seine Lesungen schrieb er deshalb auch: Es ist vollkommen gleichgiltig, ob das Publikum aus Verehrern oder Feinden, Theosophen oder Monisten, Denkern oder Generalkonsuln, Wienern oder Persern, Christen oder Juden besteht. Von welcher Menschenart es ist, zeigt sich erst im Zwischenakt und in der Garderobe. Das psychologische Rätsel besteht in der Anziehung einer Vielheit, der man doch das Gefühl nachrühmen muß, daß sie hier etwas durchzumachen habe, und in der Verwandlung von fünf hundert Männern oder Weibern zu der Einheit Weib, die Publikum heißt. (F 384 / 85, 28)
Das Gefühl der Macht gegenüber dem rezeptiven Publikum im rituellen Einflussbereich, das aus dieser Äußerung spricht, zeigt erst recht, dass er auf keinen rassistischen Maßstab angewiesen war, wie ihn ein Liebenfels für sich in Anspruch nahm. Vielmehr hat er versucht, das Potential der transformierenden Auswirkung des Performativen, das Simmel sowie Plessner theoretisch betrachtet zu haben scheinen, satirisch zu entfalten. Dadurch wird unsere Frage nach den Voraussetzungen für das Problem von Kraus’ ästhetischer und politischer Position im Zusammenhang mit individueller und kollektiver Identität in die Richtung des Performance-Konzepts gelenkt. Wir untersuchen nun dieses Thema wiederum in einem direkten Zusammenhang mit dem Phänomen der Stimme.
IV. Die orale Performance der Satire und ihr Bezug zum Ethischen 1. Die »Persönlichkeit« in der aisthetischen Performance: Kraus’ Entwurf einer Erziehung des Publikums Im Nestroy-Essay versucht Kraus unter Berufung auf Nestroy als »geistige Persönlichkeit« (Bd. 4, 233), die Überlegenheit seiner Satire über jeden ideologischen Maßstab zu rechtfertigen: [E]r hat im sozialen Punkt nie Farbe bekannt, immer nur Persönlichkeit. Ja, er hat den politischen Beruf ergriffen – wie ein Wächter den Taschendieb. Und nicht die Lächerlichkeiten innerhalb der Politik lockten seine Aufmerksamkeit, sondern die Lächerlichkeit der Politik. Er war Denker, und konnte darum weder liberal noch antiliberal denken. (Bd. 4, 234)
Wie schon ausgeführt wurde, wies Kraus den Versuch des Historikers Heinrich Friedjung zurück, Nestroy mit dem Etikett ›liberal‹ zu kennzeichnen. Witz und Wortspiel boten ihm keinen Grund für die Annahme einer politischen Ausrichtung der Satire, sondern im Gegenteil den Erweis von deren künstlerischer Zweckfrei 85
Es fällt auf, dass Theodor Lessing Kraus’ Denkart hier nicht zu den Beispielen »jüdischen Selbsthasses« zählt, obwohl er ihn sonst als »[…] das leuchtendste Beispiel des jüdischen Selbsthasses«, an dem »wie an keinem anderen […] sich das innerste Geheimnis des Hasses enthüllen« lasse, bezeichnet; s. dazu Lessing, S. 43 f.
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D. Der Leseabend als Ritual
heit: »Wie verwirrend gesinnungslos die Kunst ist, zeigte der Satiriker durch die Fähigkeit, Worte zu setzen, die die scheinbare Tendenz seiner Handlung sprengen« (Bd. 4, 234). Auffällig ist, dass der im oben zitierten Aphorismus verwendete vieldeutige Begriff der »Persönlichkeit«, die er Nestroy zuspricht, etymologisch vom klassisch-lateinischen Wort persona herkommt, was »ursprünglich die Theatermaske des frühen griechischen Dramas« bezeichnete.86 Dies erkläre sich aus der Wurzel des Wortes, dem lateinischen Verb per-sonare (hindurch tönen); so ist der Bezug von persona auf den »großen Mund der Maske« sowie auf das »Schilfrohrinstrument«, das »zur Verstärkung der Stimme des Schauspielers darinstak«, zu verstehen.87 Obzwar dieser konkrete Sinn des Nomens seit der Antike immer mehr verblasst bzw. von ihm abstrahiert wurde, sodass der Begriff »Persönlichkeit« heute auf dem Gebiet von Theologie, Philosophie, Jurisprudenz, Soziologie, Psychologie u. a. in einem je ganz anderen Sinn gebraucht wird,88 scheint beim oben angeführten Beispiel seiner Verwendung durch Kraus, weil es die theatrale Gegenwelt zur Politik andeutet, die nicht nur auf autonome Individualität, sondern konkret auf den Schauspieler bezügliche ursprüngliche Bedeutung spürbar zu sein. Dieser Sachverhalt ist mit dem Fall von Richard Schechner vergleichbar, wenn er die »darstellende Person« mit dem Begriff »doppelte Negativität« charakterisiert: Während der Aufführung nimmt der Schauspieler sein eigenes Selbst nicht direkt, sondern durch das Medium der Erfahrung mit anderen wahr. Während der Aufführung ist er nicht mehr er selbst, sondern sein »nicht Nicht-Ich« agiert. Diese doppelt negative Beziehung verdeutlicht auch, wie rekodiertes Verhalten gleichzeitig privat und sozial ist. Eine darstellende Person kann ihr Selbst nur wiedergewinnen, wenn sie aus sich herausgeht und die anderen trifft, indem sie ein soziales Feld betritt.89
Diese Existenzart des Schauspielers, die der »exzentrischen« Weise des Daseins vom Menschen entspricht,90 liegt dem Schechnerschen Konzept des »Performers« zugrunde: In einer Zeit, in der ›Authentizität‹ als Begriff sehr schwer zu definieren war und ist, in der das öffentliche Leben zunehmend zum Theater wird, schien es dem Performer geboten, seine traditionellen Masken abzunehmen – nicht mehr jemand zu sein, der ›spielt‹, den Narren macht oder lügt (Formen öffentlicher Maskeraden), sondern jemand zu sein, der ›die Wahrheit‹ sagt in einem absolut verstandenen Sinn, oder zumindest, wenn der Anspruch nicht eingelöst wurde, zu sagen, wie die Masken aufgesetzt worden sind und abgenommen werden können, um das Publikum in der theatralischen Täuschung der alltäglichen Praxis
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Allport, S. 27. Allport, S. 28. 88 Allport, S. 28 ff. Allport bestimmt die Persönlichkeit als »die ganze mannigfaltige psychologische Individualität« und schreibt ihr eine der persona und der personality entsprechende fortlaufende Linie von Bedeutungen, die »vom äußerlichen (falschen, maskenartigen) Gehabe zum innerlichen (echten) Eigenwesen reichen«, zu (S. 26, 31). 89 Schechner, in: Belliger / Krieger, S. 430. 90 Plessner, in: Plessner, S. 417. 87
IV. Die orale Performance der Satire
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zu erziehen, die politische Führer und Medienbosse ausüben. Statt zum Spiegel der Zeit zu werden, in welcher der Schauspieler lebt, erwartet man von ihm eine heilende Wirkung auf diese Zeit.91
An dieser Stelle ist die Vergleichbarkeit mit dem Krausschen Entwurf der Satire in erstaunlich hohem Maße bemerkbar. In dieser Perspektive kommt es durchaus in Frage, ihn als Vorkämpfer des »Performers« zu bezeichnen. Seine so erfasste Satire können wir ferner als Ritual bzw. »Performanz im Sinne einer Auf führung«, die »durch ihre besondere Rahmung der Alltagswelt entzogen ist«,92 bestimmen. Für ihn charakteristisch ist, dass er den mit der Stimme verbundenen Begriff »Persönlichkeit« grenzüberschreitend auf die Literatur bezieht: »Gut schreiben« ohne Persönlichkeit kann für den Journalismus reichen. Allenfalls für die Wissenschaft. Nie für die Literatur. (Bd. 8, 124)93
Der Zusammenfall des Mündlichen und des Schriftlichen ist auch deshalb von Belang, weil er die Vorgeschichte des Performance-Konzepts im Grunde bestimmt hat.94 In welchem konkreten Zusammenhang stand aber die Performativität der Satire bei Kraus, die sich schon mit der Wahrnehmung des Schriftbildes einstellt, mit dem Ritualcharakter seiner Lesungen auf dem Podium? Nach Ursula Rao und Klaus Peter Köpping kann die transformative Wirkung von Ritualen mit der der rituellen Performanz eigentümlichen Fähigkeit erklärt werden, »[…] gleichzeitig die Emotionen und den Intellekt anzusprechen und beides so aufeinander zu beziehen oder ineinander fließen zu lassen, daß es zu einer Re-kreation oder gar ›Heilung‹ des sozialen Zusammenhanges kommt«.95 Hier büßt die »verabsolutierende Position des Sprechers in der Sprechakttheorie«, die »den Hörer weitgehend vergisst«, ihre Geltung ein.96 Dafür gewinnt die »Aisthe tisierung« der Performativität nunmehr, unter Einbeziehung des Rituals, deut lichere Kontur, indem dieses, wie die Performance im Allgemeinen, seinen Ort eben »im sinnlich-aktualen Spannungsverhältnis zwischen Akteur und Betrachter« findet.97 Dies ist auch das Wirkungsprinzip der Rituale, auf das Christoph Wulf und Jörg Zirfas hinweisen: Rituale als körperliche Aufführungen und Inszenierungen sind nicht nur mit ästhetischen, sondern an die mit der Wahrnehmung aller Sinne verbundenen aisthetischen Prozesse ver 91
Schechner, in: Lazarowicz / Balme, S. 667. Rao / Köpping, S. 2. 93 Einige andere Belegstellen: »Der tiefgefühlte Mangel an Persönlichkeit schuf den Zustand einer geistigen Feuernot. Die Ochsen rennen aus dem Stall in den Brand: der Publizist rennt aus dem Stoff in die Bildung. Man hält sich im geistigen Qualm die Nase zu.« (Bd. 8, 120); »Es gibt auch eine Zeitexotik, die der Unbegabung ganz ebenso zu Hilfe kommt wie die Behandlung ausländischer Milieus. Entfernung ist in jedem Fall kein Hindernis, sondern das Mimikry mangelnder Persönlichkeit« (Bd. 8, 254). 94 Müller, in: Wenzel u. a., S. 65 ff. 95 Rao / Köpping, S. 7. 96 Krämer, in: Krämer, S. 21. 97 Krämer, in: Krämer, S. 17, 21. 92
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D. Der Leseabend als Ritual
knüpft, die die Perzeption, Verarbeitung und Inkorporierung von Ritualen im einzelnen Kind, in der Gruppe, der Familie und in der Gemeinschaft verändern.98
Wie Kraus in der Tat bei seinen Lesungen die kollektiv emotionale und zugleich die intellektuell wache Teilnahme seines Publikums zu aktivieren wusste, bezeugt Canetti in seiner Autobiographie, die schon im Titel auf dieses Phänomen anspielt: Die Fackel im Ohr (1980). Canetti berichtet über die Begeisterung einer ihm bekannten Familie über Kraus’ 300. Lesung in Wien am 17. April 1924. Es war die erste, zu der er ging. Sie [die Mutter von Canettis Freund Hans, Anm. d. Verf.] bereitete mich durch einige wohlgedrechselte Ratschläge vor: ich solle über die wilde Zustimmung der Hörer nicht erschrecken, das seien nicht die üblichen Operettenwiener, die sich da zusammenfänden, keine Heurigen-Seligen, aber auch keine dekadente Ästheten-Clique à la Hofmannsthal, das sei das wahre geistige Wien, das Beste und Gesündeste, das es in dieser anscheinend herabgekommenen Stadt gäbe. […] Der [Kraus, Anm. d. Verf.] habe sich sein Publikum gut erzogen, der könne mit den Leuten machen, was er wolle, und dabei müsse man noch bedenken, daß es sich um lauter hochgebildete Menschen, fast alles berufstätige Akademiker oder wenigstens Studenten handle.99
Dieses Dokument weist auf, dass Kraus auf eine elitäre Hörerschaft, die ihre Bildung, wie es gewöhnlich bei solchen Personen der Fall ist, sicherlich vorwiegend durch schriftliche Mittel bekam, durch seine Stimme erzieherisch gewirkt hat. In diesem Zusammenhang ist eine Beziehung der Stimme zum Aisthetischen, die anders ist als die der Schrift, zu beachten. Die Schrift spiele nämlich zwar »in ihrer aisthetischen Präsenz ikonische Potentiale«100 aus und könne damit »einen ›undurchsichtigen‹ Operationsraum« eröffnen.101 Was jedoch die phonetische Schrift angeht, so bemerkt Krämer, verleihe sie der Sprache »eine rein diskursive Materialität und Körperlichkeit«, indem sie »die mimische, gestische, tonale Spur des menschlichen Körpers im Sprachgebrauch« tilge.102 Seit der griechischen Antike sei die musiké als »Einheit von Musik, Sprache und Tanz« in der »Unterscheidung zwischen sprachlichem Laut und musikalischen Ton« aufgespalten.103 Dagegen folgten alle Positivierungen der Stimme einem »methodischen Register«, das durch die ›Orientierung an der Performanz‹ charakterisiert werden könne: Es handle sich dabei nämlich um »den raum-zeitlich situierten konkreten Vollzug stimmlicher Verlautbarung« sowie um »deren Ereignishaftigkeit, Materialität und Körperlichkeit«.104 Indem wir auf die ›orale Performance‹ von Kraus unsere Aufmerksamkeit richten, ist es uns möglich, den aisthetischen Maximierungsgrad der 98
Wulf / Zirfas, S. 100. Canetti, S. 69. 100 Grube / Kogge, S. 14. 101 Krämer, in: Grube / Kogge / Krämer, S. 31. Hier ist zwar vorwiegend die »kalkülisierte Schrift« gemeint, aber diese Eigenart der Schrift habe auch »für alle Formen des Umgangs mit der Schrift« Gültigkeit (S. 31). 102 Krämer, in: Krämer / Bredekamp, S. 166. 103 Krämer, in: Epping-Jäger / Linz, S. 74. 104 Krämer, in: Krämer / Kolesch, S. 289. 99
IV. Die orale Performance der Satire
249
Performativität seiner Satire zu erschließen. Gleichzeitig stellt sich hier heraus, in wie breiter Schwingungsweite zwischen Wiederholbarkeit der Schrift und Einmaligkeit der Stimme sie sich bewegt hat. Bringen wir nun dieses Thema mit dem der »Sprache« als Ideal seiner Satire in Verbindung. 2. Die performative Annäherung ans Ideal der Satire durch das Zusammenwirken von Schrift und Stimme Im Vergleich zu der damaligen »Sprechkunstbewegung« im Allgemeinen ist zu bemerken, dass an dieser vor allem die »unmittelbar gemeinschaftsstiftende Wirkung« herausgestrichen wurde: Durch den lauten Vortrag vor einem Publikum sollten informelle, öffentliche Räume der gemeinsamen Unterhaltung, Belehrung und Verständigung im Medium ästhetischer Kommunikation entstehen – eine neue Geselligkeit.105
Wie Theodor Siebs’ Erforschung der Orthoepie des Deutschen am Beispiel der Bühnenaussprache106 verrät, war das Interesse für die Stimme im öffentlichen Raum sogar an der Suche nach nationaler Identität nicht unbeteiligt. Dagegen bestimmt Kraus im Schlussteil des Nestroy-Essays die Satire als eine Kunst, die zeitund ortsgebundenen »Stoff« überdauere. Die Satire lebt zwischen den Irrtümern, zwischen einem, der ihr zu nahe, und einem, dem sie zu fern steht. Kunst ist, was den Stoff überdauert. Aber die Probe der Kunst wird auch zur Probe der Zeit, und wenn es immer den nachrückenden Zeiten geglückt war, in der Entfernung vom Stoff die Kunst zu ergreifen, diese hier erlebt die Entfernung von der Kunst und behält den Stoff in der Hand. Ihr ist alles vergangen, was nicht telegraphiert wird. Die ihr Bericht erstatten, ersetzen ihr die Phantasie. Denn eine Zeit, die die Sprache nicht hört, kann nur den Wert der Information beurteilen. (Bd. 4, 239)
Zu den stoffbezüglichen journalistischen Angelegenheiten wie »Bericht erstatten« bzw. »Information beurteilen« kontrastiert hier das künstlerische Moment »Sprache hören«, das mit der Stimme als neuem Bestandteil Krausscher Satire verbunden war. Hier begegnen wir wiederum ihrem rezeptiven Grundprinzip, das auch ihrer schriftlichen Tätigkeit zugeschrieben war. Erinnern wir uns außerdem daran, dass er »das Schriftbild nach den Erfordernissen der Rede« gestaltet«107 und versucht hat, den Leuten, »die nur lesen, aber noch nicht sehen, den Bericht übersichtlich zu machen« (F 366 / 67, 32)108 [Hervorhebung durch d. Verf.]. Um dementsprechend zu formulieren, handelte es sich dabei auch darum, den Leuten die Sprache hörbar zu machen. Bedenken wir außerdem, dass er die Hörer seiner Lesungen als »Weib« (Bd. 4, 345 sowie F 384 / 85, 28) bezeichnet hat, liegt außerdem 105
Meyer-Kalkus, in: Felderer, S. 174. s. Siebs. 107 s. dazu C. I. 2. b). 108 s. dazu C. III. 2. a). 106
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D. Der Leseabend als Ritual
die Beziehung der Stimme zur »Spracherotik« nahe. Dadurch treten also das Motiv der Unbeherrschbarkeit der Sprache sowie die damit eng zusammenhängende Ehrfurcht vor der Sprache zum Ideal der Satire in Beziehung. Das können wir z. B. in einem Aphorismus von 1911 so formuliert finden. Die Satire ist fern aller Feindlichkeit und bedeutet ein Wohlwollen für eine ideale Gesamtheit, zu der sie nicht gegen, aber durch die realen Einzelnen durchdringt. (Bd. 8, 289)109
Andreas Disch behauptet, dass das Kraussche Konzept der Satire als »Kunst des Nein-Sagens« eine utopische Perspektive enthalte: Sie erfülle sich »[…] erst im geheimen Ja zu dem, was auch Schiller ihr ›Ideal‹ nenn[e]«.110 Auch an anderen Stellen ist dieser Sachverhalt festzustellen. Mit dem Terminus der Hegelschen Dialektik spricht Kraus z. B. von »einer satirischen Synthese«. (Bd. 4, 135 bzw. Bd. 8, 288) Das für diese Äußerungen gemeinsame Motiv einer Zielbewegung wird überdies im Nestroy-Essay wiederum mit der Metapher »Läufer« verbunden: Wenn Kunst nicht das ist, was sie [die Phraseure und Riseure, Anm. d. Verf.] glauben und erlauben, sondern die Wegweite ist zwischen einem Geschauten und einem Gedachten, von einem Rinnsal zur Milchstraße die kürzeste Verbindung, so hat es nie unter deutschem Himmel einen Läufer gegeben wie Nestroy. (Bd. 4, 223)111
Hier kommt das Thema der Endlosigkeit der Schreibarbeit, auf welche die Läufer-Metapher hinweist, mit dem Ideal der Satire deutlich in Berührung. Dies deutet an, dass Kraus’ Vorhaben, das Publikum der »Spracherlebnisse« teilhaftig zu machen, von seiner schriftlichen sowie mündlichen Schaffungsstrategie untrennbar war. Damit haben wir den Anhaltspunkt dafür erhalten, insofern von einer ›performativen Annäherung zum Ideal der Satire‹ zu sprechen, als dabei beide Hauptmomente des Performativen, die schriftbezügliche Iterabilität sowie die eher stimmbezügliche Korporalität, im Vordergrund stehen. Das Problem ist nun, dass es sich dabei um die Suche nach einer »ideale[n] Gesamtheit«, die mit der dialektischen Bewegung im Hegelschen Sinne vergleichbar ist, handelt. Hegel behauptet in seiner Ästhetik, dass die Kunst schon zu seiner Zeit im christlichen Europa über sich selbst hinausweise.112 Von Bedeutung ist, dass auch Kraus’ Konzept der Satire das Ende der Kunst voraussetzt. So heißt es z. B. am Ende des Nestroy-Essays:
109 s. auch: »In der Schöpfung ist die Antithese nicht beschlossen. Denn in ihr ist alles widerspruchslos und unvergleichbar. Erst die Entfernung der Welt vom Schöpfer schafft Raum für die Sucht, die jedem Gegenteil das verlorene Ebenbild findet« (Bd. 8, 427). 110 Disch, S. 23. 111 Im Nestroy-Essay heißt es: »Er [Nestroy, Anm. d. Verf.] kehrt um vor einer Nachwelt, die die geistigen Werte leugnet, er erlebt die respektlose Intelligenz nicht, die da weiß, daß die Technik wichtiger sei als die Schönheit, und die nicht weiß, daß die Technik höchstens ein Weg zur Schönheit ist und daß es am Ziel keinen Dank geben darf und daß der Zweck das Mittel ist, das Mittel zu vergessen« (Bd. 4, 238). 112 Hegel, S. 137 ff.
IV. Die orale Performance der Satire
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Überall läßt sichs irdisch lachen. Solchem Gelächter aber antwortet die Satire. Denn sie ist die Kunst, die vor allen andern Künsten sich überlebt, aber auch die tote Zeit. (Bd. 4, 240)
Kraus’ Kunstauffassung läuft demnach darauf hinaus, dass er den Tod der Künste (abgesehen von der Satire) in der massenmedialen Zeit erklärt. Diesen Gedanken verbindet er mit jener negativen Beurteilung der modernen Zeit, welche die Einleitung sowie den wie folgt lautenden Schlussabschnitt des Nestroy-Essays bildet: Je härter der Stoff, desto größer der Angriff. Je verzweifelter der Kampf, desto stärker die Kunst. Der satirische Künstler steht am Ende einer Entwicklung, die sich der Kunst versagt. Er ist ihr Produkt und ihr hoffnungsloses Gegenteil. Er organisiert die Flucht des Geistes vor der Menschheit, er ist die Rückwärtskonzentrierung. Nach ihm die Sintflut. In den fünfzig Jahren nach seinem Tode hat der Geist Nestroy Dinge erlebt, die ihn zum Weiter leben ermutigen. Er steht eingekeilt zwischen den Dickwänsten aller Berufe, hält Monologe und lacht metaphysisch. (Bd. 4, 240)
Indem er den Spruch »Nach uns die Sintflut! (Après nous de déluge!)«, den die Marquise de Pompadour nach der Schlacht bei Rossbach gesagt haben soll,113 ironisch verdreht, deutet er seinen Kampf mit der Presse an. Mit Hegel vergleichbar ist noch die Kategorisierung des Lachens vom Satiriker Nestroy ins »Meta physische«. In diesem Fall geht es allerdings nicht um eine Ausführung der idealistischen Logik, sondern um eine Überwindung des »irdischen« Lachens durch die Satire des Nestroyschen Typs, als deren Nachfolger Kraus sich selbst ansieht. Darüber hinaus weicht die Philosophie Hegels vom Satirekonzept Kraus’ darin entscheidend ab, dass Hegel die Duplizität von Materialität und Bedeutung im Zeichen, von der seine Dialektik von Wesen und Erscheinung ausgehe, schließlich unter der Herrschaft von Wesen aufgehoben habe.114 Dagegen besteht Kraus auf der Berücksichtigung des materialen Aspekts der Sprache, ohne dabei auf den Anspruch auf die »ideale Gesamtheit« zu verzichten. Müssen wir diese Charakterisierung der Satire als Kennzeichen seines konservativen Standpunktes betrachten, auf den eventuell der im obigen Zitat vorkommende Ausdruck »Rückwärtskonzentrierung« bzw. die biographische Tatsache seines damaligen Übertritts zum Katholizismus hinzudeuten scheinen? Hierzu soll nun jene Implikation der Performativität im erweiterten Sinne, die daran als am meisten reformatorisch gelten kann, betrachtet werden. Diese betrifft die Einbeziehung der Rezeptionsebene der Kunst in die Ästhetik, mit der auch die Ethik der Responsivität verbunden ist. Unter Berufung auf die so genannte »performative Ästhetik der Stimme« erläutert Doris Kolesch diese theoretische Err ungenschaft, indem sie darauf aufmerksam macht, dass der Anspruch der Stimme, gleichzeitig Appell und Gabe zu sein, »nicht nur in dem, was gesagt wird, sondern vor allem auch im Wie des Sagens« sich zeige.
113
Büchmann, S. 326. Mersch (2002), Was sich zeigt, S. 139.
114
252
D. Der Leseabend als Ritual
Was in diesen aisthetischen, wechselseitig verschränkten Prozessen performiert wird, ist nicht bloß Kommunikation unter Menschen, sondern es ist eine spezifische, jeweils unterschiedlich zu bestimmende Form der Begegnung, der Nähe (oder auch der Distanz, der verweigerten, gefürchteten Nähe). In dieser Perspektive kommt das Aisthetische als Fundament einer Ethik in den Blick, nicht umgekehrt.115
Nach Dieter Mersch ist für diese Art Ethik die Erfahrung der Stimme von entscheidender Bedeutung, und zwar gerade wegen jener von Mersch besonders ihr zugesprochenen »Vorgängigkeit des Responsiven«. Diese besteht darin, […] dass mein Sprechen nirgends intentional geschieht, sondern stets schon als ein anderes, das heißt, von der Stimme des Anderen überformt und durchdrungen erscheint, selbst dort, wo ich kein reales Gegenüber besitze oder der Andere fremd bleibt.116
Mit dieser Eigenart der Stimme verbindet Mersch seine These der »Ethizität der Stimme«, die noch keine Ethik, sondern lediglich deren Vorbedingung oder Vorstruktur bedeute.117 Damit vergleichbar ist Hans-Thies Lehmanns Ansicht über die Erfahrung der Stimme im Theater. Sofern ich im Theater im Kontext einer ästhetisch formierten Praxis zugleich real »angesprochen« bin – nicht unbedingt individuell, aber notwendigerweise immer in meiner Funktion als Zuschauer –, schreibt sich in die ästhetische Wahrnehmung die reale, außerästhetische Wirklichkeit dieser Situation ein. Diese Erfahrung, die in mancherlei Hinsicht expliziert zu werden verdient, lässt sich verstehen als eine von – Zeugenschaft.118
Diese ethische Spezifik des Theaters, unter der die Beobachter »in gewisser Weise wie im Alltag zu Zeugen eines Geschehens« gemacht werden, unterscheide die Erfahrung von Theater von der Rezeption jeder Art von Kunst als Objekt oder Text, worin das Moment einer gewissen Involviertheit sowie das der Verantwortung hineinspielen.119 In dieser Perspektive können wir Kraus’ Praxis der satirischen Metatheatralik, zu der die Herausgabe der Fackel sowie die Veranstaltung der Lesungen gehörten, als Ergebnis seiner Hingabe an die Performativität der Sprache im Sinne einer ethisch-ästhetischen Angelegenheit verstehen. Dadurch erweist sich der Versuch Jens Malte Fischers, den Standpunkt Kraus’ einfach als »Kulturkonservatismus« zu etikettieren,120 als voreingenommen. Mit diesen Umständen hängt Kraus’ Engagement, das sich z. B. in der Verwendung des Ertrags seiner Lesungen für die »zum größten Teil wohltätigen Zweck[e]«121 zeigt, eng zusammen. Auch seine Lesungen selbst, über deren öffentlichen erzieherischen Effekt
115
Kolesch, in: Eppig-Jäger / Linz, S. 279. Mersch, in: Kolesch / Krämer, S. 227 f. 117 Mersch, in: Kolesch / Krämer, S. 225. 118 Lehmann, in: Kolesch / Schrödl, S. 44. 119 Lehmann, in: Kolesch / Schrödl, S. 44. 120 s. dazu Fischer, S. 102. 121 Weigel, S. 107. 116
IV. Die orale Performance der Satire
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anetti berichtet,122 unterscheiden sich etwa vom »Kult der Schönheit« um SteC fan George,123 der auf sein privates Lesen als »ein liturgisch zelebriertes Ritual«, »das die Gemeinschaft im Glauben an die Geistigkeit ihres Meisters« bloß zusammenhalten sollte, nachdrücklich Gewicht gelegt habe.124 Auch wenn die Satire im Allgemeinen als »eine konservative Gattung« und auch als »pseudo-liminal« bezeichnet werden kann,125 können wir den Fall Kraus keinesfalls damit gleichsetzen. Vielmehr handelt es sich bei ihm um einen theatralen Versuch, der weder mit der Schillerschen »Schaubühne als einer moralischen Anstalt«, bei der sichtbare Darstellung mächtiger als »toder Buchstabe und kalte Erzählung« wirke,126 noch mit dem Bertolt Brechtschen epischen Theater als »Lehrtheater«, das mit der Wissenschaft kompatibel sei und der marxistisch-sozialistischen Volkserziehung dienen solle,127 identifiziert werden kann. Denn die Sprache mit dem Ereignischarakter stellte bei diesen Theaterentwürfen keine Hauptsache dar. Dagegen hat sich Kraus’ mit der Sprache untrennbar verbundenes Verantwortungsgefühl im Lauf der Geschichte, die zum Ersten Weltkrieg führte, dahin gehend erhöht, dass er behauptete, er habe sich im Nestroy-Essay »nicht nur neben Nestroy«, sondern auch »womöglich über Nestroy« gestellt (F 351 / 53, 41). Dabei kam die Orientiertheit an der »idealen Gesamtheit« bei der Performativität seiner Satire immer mehr zum Vorschein, indem sie mit der Beschäftigung mit dem schneidenden sozialen Gedächtnis durch die Aktivität des Zeugens einherging. Überprüfen wir diese Verhältnisse im folgenden Kapitel mit Bezug auf seinen berühmtesten dramatischen Text, sein Antikriegsdrama Die letzten Tage der Menschheit.
122 s. dazu Canetti, in: Canetti, S. 45. Canetti berichtet hier, er habe sich an Kraus’ Lesungen beteiligt, um »dadurch eine neue Dimension der Sprache« zu erreichen, »[…] die unerschöpflich [sei] und die früher nur sporadisch und ohne rechte Konsequenz verwendet [worden sei]«. 123 Mohr, in: Barck, S. 501 ff. 124 Roos, S. 36. 125 Turner, S. 62. Dazu schreibt Turner wie folgt: »Sie [die Satire, Anm. d. Verf.] deckt zwar Laster, Torheiten, Dummheiten oder Missbräuche auf, greift sie an oder verspottet sie, doch ist gewöhnlich der normative Strukturrahmen offiziell verkündeter Werte ihr Beurteilungskriterium.« 126 Schiller, in: Janz, S. 191. 127 Brecht, in: Unseld, S. 66 ff.
E. Aspekte der Performativität in der Antikriegstragödie Die letzten Tage der Menschheit I. Schriftstellerische sowie rezitatorische Strategie im ›Kriegstheater‹ des Ersten Weltkriegs Das Drama Die letzten Tage der Menschheit (1922), das Kraus als »Tragödie in fünf Akten mit Vorspiel und Epilog« untertitelt hat, zeichnet sich trotz dieser konventionellen Etikettierung durch einige antiklassische Charakteristika aus: Abwesenheit von Helden, keine durchgehende Handlung, Figuren in der und als Masse, überaus zahlreiche Szenen und ihr akausaler Wechsel ohne Katharsis, vor allem aber der Auftritt realer historischer Persönlichkeiten mit deren oft wörtlich zitierten eigenen Worten. In der bisherigen Forschung wurde dieses Drama, wie im Folgenden erörtert wird, vorwiegend unter dem Gesichtspunkt interpretiert, wie es durch solche Merkmale vom Dramenstandard abweicht. Dagegen möchten wir zeigen, dass es als direkte Weiterentwicklung der Krausschen Texte in der Vorkriegszeit betrachtet werden kann, deren Grundkonzeption sowie Darbietungsweise wir in den letzen zwei Kapiteln als performativ aufgezeigt haben. 1. Das Leitprinzip »Wort und Tat«. Zur Sprachproblematik in der Kriegsfackel a) Angriff auf die sprachliche Herrschaft der Presse im Mechanismus der Kriegspropaganda Was das Drama Die letzten Tage der Menschheit von anderen kriegsliterarischen Werken unterscheidet, ist in erster Linie seine Entstehungszeit: Es wurde nicht nach dem Krieg retrospektiv, sondern zu dessen Ablauf synchron verfasst. Es wurde in den damaligen Nummern der Fackel, die man Kriegsfackel1 zu nennen pflegt, zwar nur teilweise veröffentlicht, ist aber formal sowie inhaltlich mit ihren Artikeln verwandt. Schon der Titel des Dramas teilt eine eschatologische Weltanschauung mit Essays wie ›Apokalypse‹ oder ›Untergang der Welt durch schwarze Magie‹, denen die Fackel bereits in der Vorkriegszeit eine eminente Bedeutung beimaß. Es lässt sich daher einleitend fragen: Welche Einstellung hatte 1 Sie umfasst 19 Hefte (1914: 2, 1915: 3, 1916: 6, 1917: 5, 1918: 3), nämlich von F 400 / 403 (Juli 1914) bis F 499 / 500 (November 1918).
I. Schriftstellerische Strategie im ›Kriegstheater‹ des Ersten Weltkriegs
255
Kraus in der Kriegsfackel zu diesem höchst katastrophalen Zeitphänomen des Weltkrieges? Es fällt vor allem auf, dass Kraus sich von der Kriegsbegeisterung von Anfang an kritisch distanzierte, während die meisten prominenten Schriftsteller im deutschen Sprachgebiet sich ihr hingaben. Manche Vertreter der ästhetischen Moderne arbeiteten z. B. beim Kriegsarchiv bzw. Kriegsfürsorgeamt patriotisch mit,2 oder manche Dichter des frühen Expressionismus muteten in der heilsgeschichtlichen Erwartung dem Krieg die Fähigkeit zu, die Gesellschaft barbarisch zu revitalisieren.3 Bei solchen Autoren wich die Kunstautonomie der bellizistischen Zweckgebundenheit. Diese Tendenz hat Kraus, der selber manche Expressionisten beeinflusste,4 nicht nur kritisiert, sondern auch zum Anlass genommen, seine alternative Theorie der Angrenzung der Satire an die Lyrik zu bestätigen. Er fing damals an, seine eigenen lyrischen sowie epigrammatischen Gedichte in zeitwidrig klassischer Manier in der Fackel zu veröffentlichen, die dann in den Bänden Worte in Versen gesammelt wurden.5 Beziehen wir dazu auch die weiterhin geschriebenen Essays, Glossen und Aphorismen ein, zeigt sich, dass der Formenreichtum der Krausschen Dichtung durch das Ausmaß des nun aktualisierten negativen Potentials des ›Fortschritts‹ nicht vermindert, sondern im Gegenteil erweitert worden ist. Der zentrale Inhalt dabei blieb aber immer noch die Satire gegen die Presse, durch deren Hetze sich z. B. »die brisante Mischung von Serbenfeindlichkeit und Selbstüberschätzung zu einer Kriegsbegeisterung« entzündete.6 Allerdings zeigte Kraus seine erste Reaktion gegen den Kriegsausbruch erst spät, nachdem er fast vier Monate lang das Erscheinen der Fackel unterbrochen hatte, als demonstrierte er seine strategisch vorgebrachte These der Ohnmacht der Satire angesichts dieser Situation »der geistigen Selbstverstümmelung der Menschheit durch ihre Presse« (Bd. 5, 17). Dieses Stillschweigen wurde unterbrochen durch die Lesung im November 1914, bei welcher der Text ›In dieser großen Zeit‹ vorgetragen wurde. Dessen einleitende Passagen machen schon klar, dass es sich in der Tat um gar keine Ohnmacht, sondern um eine höchst bewusste Dynamisierung der Krausschen Methode der Satire handelt: In dieser grossen Zeit die ich noch gekannt habe, wie sie so klein war; die wieder klein werden wird, wenn ihr dazu noch Zeit bleibt; und die wir, weil im Bereich organischen Wachstums derlei Ver 2
Sauermann, S. 30 ff. Köppen, S. 212 ff. 4 So schrieben für die von der Zeitschrift Brenner veranstaltete Rundfrage über Karl Kraus z. B. folgende expressionistische Autoren ihre Beiträge: Else Lasker-Schüler, Salomo Friedländer, Albert Ehrenstein, Franz Werfel, Oskar Kokoschka und Georg Trakl. 5 Ein typisches Beispiel für Kraus’ Neigung zur Lyrik bezeugt die Fackel-Nummer 443 / 444 (November 1916), die ausschließlich aus eigenen Gedichten sowie aus Schiller-, Goethe- und Jean Paul-Zitaten besteht. Der erste Band der Worte in Versen erschien Anfang 1916. 6 Sauermann, S. 23. 3
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E. Performativität in Die letzten Tage der Menschheit
wandlung nicht möglich ist, lieber als eine dicke Zeit und wahrlich auch schwere Zeit ansprechen wollen […] (Bd. 5, 9)
Durch die paraphrasierende Wiederholung, mit der ein typisches Beispiel des »Archaismus der rollenden Perioden und weitgebauten Hypotaxen von Kraus«7 einhergeht, wird hier die Inhaltsleere des zitierten Schlagworts der damaligen journalistischen Kriegskampagne, »in dieser großen Zeit«, lächerlich gemacht, indem es wie ein nur auf sich selbst referierendes Objekt8 bearbeitet wird. Der auch an die Offenbarung des Johannes erinnernde pathetische Stil und Rhythmus9 scheint hier nämlich den Leser zur Umfunktionierung der publizistischen Bravade in eine witzig-heitere Fiktionalisierung der Zeitsituation anzuregen und dabei eher auf die spielerische Bewegung der Schriftzeichen selbst seine Aufmerksamkeit zu richten als auf deren referenzielle Funktion. Wogegen dieser Wortgestus ausgespielt wird, zeigen die folgenden Passagen noch genauer: […] in dieser Zeit, in der eben das geschieht, was man sich nicht vorstellen konnte, und in der g e s c h e h e n muß, was man sich nicht mehr v o r s t e l l e n kann, und könnte man es, es geschähe nicht –; in dieser ernsten Zeit, die sich zu Tode gelacht hat vor der Möglichkeit, daß sie ernst werden könnte; von ihrer Tragik überrascht, nach Zerstreuung langt, und sich selbst auf frischer Tat ertappend, nach Worten sucht […] (Bd. 5, 9)
Kraus war mit der Situation konfrontiert, in der die Heeresleitung die Bedeutung der öffentlichen Meinung erkannte und die Presse zur »Mitarbeit« aufforderte, die z. B. dadurch zu leisten sei, Details einzelner Ruhmestaten zu veröffentlichen, um »die Phantasie des Volkes zu befriedigen und so die gute Stimmung zu erhalten«.10 Unter dieser in einen kriegspropagandistischen Mechanismus übergegangenen sprachlichen Herrschaft der Presse fand er deren Leser der Gefahr ausgesetzt, eine sachgemäße Auffassung der Geschehnisse, die beim oft nur fingierten Siegesrausch unumgänglich sensationell waren, zu versäumen, sich über ihre in dieser Hinsicht selbst verschuldete Katastrophe hinwegzutäuschen und sich mit der Sprache nur zum Vorwand für diesen Selbstbetrug zu befassen, statt mit ihr hinter den Kern der Dinge zu kommen. Das Thema der Entkräftung der Vorstellung bzw. Phantasie durch die Presse, das schon in der Vorkriegszeit oftmalig aufgenommen wurde (s. z. B. Bd. 4, 427), wird hier jedoch nicht nur als erst recht akut angesprochen, sondern zu der »Tragik« (Bd. 5, 9) in Beziehung gesetzt. Auf diese Hereinnahme eines im weiteren Sinne theatralen Motivs folgt nun eine Betrachtungsweise, die wir schon mit dem Performativen verbinden können: […] in dieser lauten Zeit, die da dröhnt von der schauerlichen Symphonie der Taten, die Berichte hervorbringen, und der Berichte, welche Taten verschulden: in dieser da mögen Sie 7
Adorno (1990), in: Tiedemann, Bd. 11, S. 385. s. dazu Stern, in: The modern language review, S. 76. Hier heißt es: »And this phrase is treated as though it were an object, almost a three-dimensional external shape.« 9 s. dazu Rothe, S. 152. 10 Sauermann, S. 37. Dieses Wort komme eigentlich von Grafen Stürgkh her. 8
I. Schriftstellerische Strategie im ›Kriegstheater‹ des Ersten Weltkriegs
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von mir kein eigenes Wort erwarten. Keines außer diesem, das eben noch Schweigen vor Mißdeutung bewahrt. (Bd. 5, 9)
Die Annahme eines Zusammenhangs zwischen den »Berichten« und den »Taten« entspricht offensichtlich dem Grundprinzip eines Sprechaktes, etwas sprechen heiße etwas tun. Es wurde zwar schon früher von den »Dichter[n] der Taten« sowie von der Abhängigkeit der »Ereignisse« vom Bericht (Bd. 4, 447 f.) gesprochen. Dieses Thema wird aber hier zuerst mit der Strategie vom Zitieren des fremden Wortes explizit verbunden, wobei sich außerdem herausstellt, dass Kraus ironischerweise viel mehr zu sprechen hat, als zur Erklärung des Grundes für das Schweigen nötig ist, und er eher die Berichterstatter als sich selbst für zum Schweigen verpflichtet hält: Wer Taten zuspricht, schändet Wort und Tat und ist zweimal verächtlich. Der Beruf dazu ist nicht ausgestorben. Die jetzt nichts zu sagen haben, weil die Tat das Wort hat, sprechen weiter. Wer etwas zu sagen hat, trete vor und schweige! Auch alte Worte darf ich nicht hervorholen, solange Taten geschehen, die uns neu sind und deren Zuschauer sagen, daß sie ihnen nicht zuzutrauen waren. (Bd. 5, 9 f.)
In dem Sinne, dass seine Äußerung über das Schweigen selbstbezüglich in den Appell zum Schweigen ausläuft, verhält sich Kraus hier eben performativ. Auch das Wort »Zuschauer« weist auf den Bereich der Reziprozität hin, zu dem defini tionsgemäß auch der »Darsteller« des verbalen bzw. nonverbalen performativen Aktes gehört. Was ist an der Krausschen Auffassung vom Krieg so spezifisch, dass ihr Bezug zum Begriff der Performativität thematisiert werden kann? b) Der andere Krieg. Die sprachliche Ebene der Antikriegs-Satire An dem oben genannten Zusammenhang ist zu beachten, dass es nach der Ansicht Manuel Köppens seit Lukrez (94? – 51? v. Chr.)eine lange Tradition gibt, in der der Krieg als Schauspiel angesehen worden ist: Wenn für Zuschauer, Feldherren oder Kriegshistoriker ein gesicherter Standpunkt vorausgesetzt wurde, schien die Schlacht als sinnlich erregendes Ereignis und vor allem ihrer Regelmäßigkeit wegen dem Schauspiel so eng verwandt zu sein, dass der Begriff »Kriegstheater« entstanden war.11 Auch in der ästhetischen Theorie wurde der Krieg zwar nicht vorzugsweise thematisiert, jedoch »im Kontext der Darstellung von Gewalt« mit behandelt, indem er grundsätzlich als »eine Art zivilisatorisches Korrektiv« verstanden wurde, bei dem unter Umständen »das aufgeklärte Subjekt seine zivilen Tugenden beweisen konnte«.12 Obwohl sich die Kriegstechnologie von der Zeit des Kabi 11
Köppen, S. 13 f. Köppen, S. 18 f. Zu solch einem privilegierten Ereignis sei der Krieg durch die »[…] Verbindung zwischen der Orientierung an überindividuellen Maximen und der Selbstkonditionierung durch Vernunftleistungen prädestiniert« worden (S. 19).
12
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E. Performativität in Die letzten Tage der Menschheit
netts- bis zu der des Volkskrieges, bei dem »die Begeisterungsfähigkeit nationaler Massen« vorausgesetzt wurde, schrittweise entwickelt hatte, habe der Gedanke, dass »die Bildung zivilisierter Nationen, in Kriegstechnologie investiert, die Mäßigungen zivilisierter Kriegführung außer Kraft setzen könnte«, »außerhalb des Vorstellungshorizonts des 19. Jahrhunderts« gelegen.13 Wenn beim Ausbruch des Ersten Weltkriegs, des ersten der modernen totalen Kriege, die meisten Bürger, selbst die Intellektuellen, sich der Gefahr der völlig neuen Waffentechnik wenig bewusst und für die nur dunkel geahnte Zeitenwende begeistert waren, ist dies auf jenes ›klassische‹ Verständnis des Krieges zurückzuführen, das Kraus eben nicht teilte. Er fand nämlich nicht in der Schlacht selbst, sondern in dem Sachverhalt ein Schauspiel, dass »[…] eine Zeit den Mut ha[be], sich groß zu nennen« (Bd. 5, 14), und darin, »[…] wie der Intellekt auf das Schlagwort einschnapp[e], wenn die Persönlichkeit nicht die Kraft ha[be], schweigend in sich selbst zu beruhen« (Bd. 5, 21 f.). Hier wird sein Augenmerk auf das Sprachproblem, das es früher im Zusammenhang mit dem Krieg gar nicht zu thematisieren galt, gerichtet, und zwar in einem erweiterten Sinn des Wortes. Dementsprechend handelt es sich auch in der Kriegsfackel keinesfalls um ein unmittelbares bzw. selber erfahrenes Kriegserlebnis, sondern stets nur um ein durch die journalistische Sprache vermitteltes bzw. fremdes, was zur Folge hatte, dass für Kraus eher die schriftliche Signifikation als solche als die dadurch zu erlangende Referenz zur Wirklichkeit problematisch werde. Präziser gesagt, ist vielmehr vom tatsächlichen Mangel an Referenz bei der Phrase bzw. von jener Diskrepanz zwischen ihr und der Wirklichkeit, die sich in der Kriegszeit besonders verschärfe, immer wieder die Rede. Denn Kraus stellt emphatisch heraus, wie oft der damalige Sprachgebrauch in der Presse auch in der ›klassischen‹ Phase, die dem reellen Bild des Krieges im 20. Jahrhundert gar nicht entsprach, zurückgeblieben war.14 Aus der Überwucherung solcher Phrasen entstand eine Dominanz der »Taten«: »[…] eben wo zu viel Begriffe sind, da dankt ein Wort, das auf sich hält und selbst dort, wo nur Taten gelten, noch etwas vorstellen will, zur rechten Zeit ab« (F 426 / 30, 11).15 Diesem Zustand, dem er die »Unvorstellbarkeit der täglich erlebten Dinge«, nämlich »d i e U n v e r e i n b a r k e i t d e r M a c h t u n d d e r M i t t e l , s i e d u r c h z u s e t z e n « (Bd. 6, 91), zuschreibt, werde »das technoromantische Abenteuer« ein Ende machen. Diese Sachlage, in der auch die Phrase an der »Macht« der Kriegstechnologie dadurch tätigen Anteil nahm, dass sie zur hetzerischen Mobilisierung der Massen diente, wird nun am Beispiel des als Phrase gebrauchten Ausdrucks »zum Schwerte greifen«, welcher mit seiner eher altertümlich-poetischen Diktion zur modernen Dezimierungstech 13
Köppen, S. 31, 35. So handeln z. B. damalige Glossen der Fackel besonders häufig von phrasenhaften Ausdrücken bzw. Wendungen wie: »einrücken« (F 462 / 71, 24 u. a.), »die Fahne hochhalten« (F 404, 18 u. a.), »Schulter an Schulter« (F 406 / 12, 89 u. a.). 15 Dieser Satz spielt mit den folgenden Versen in Faust I: »Denn eben wo Begriffe fehlen, / Da stellt ein Wort zur rechten Zeit sich ein.« (V. 1995 f.) – s. Goethe (1994), in: Schöne, S. 85. 14
I. Schriftstellerische Strategie im ›Kriegstheater‹ des Ersten Weltkriegs
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nologie und ihrer schlimmsten Waffe, dem Giftgas, in geradezu groteskem Widerspruch stand, folgendermaßen charakterisiert: Es sollte Aufschluß über die Technik geben, daß sie zwar keine neue Phrase bilden kann, aber den Geist der Menschheit in dem Zustand beläßt, die alte nicht entbehren zu können. In diesem Zweierlei eines veränderten Lebens und einer mitgeschleppten Lebensform lebt und wächst das Weltübel. Die Zeit ist nicht phrasenbildend, aber phrasenvoll; und eben darum, aus heillosem Konflikt mit sich selbst, muß sie immer wieder zum Schwerte greifen. Die neue Begebenheit wird keine Redensart hervorbringen, wohl aber die alte Redensart die Begebenheit! (Bd. 8, 440)
In dieser Perspektive erscheint die Zeitung nicht als Vermittler einer neutralen Information, sondern als »Erreger« (Bd. 5, 18), der für die »Blutbereitschaft des Wortes« (Bd. 8, 378) zuständig ist. Mit ihr verglichen, gilt sogar die Zensur als verhältnismäßig unschädlich.16 In der Kriegsfackel beschäftigte sich Kraus in zahlreichen Glossen mit dem Problem der Macht von Phrasen, »Taten« zu bewirken: Auch wenn es um Themen wie etwa die Sprachreinigung (F 413 / 17, 42 ff. u. a.) bzw. die Orthographie bei einem Gedicht (F 445 / 53, 104 f. u. a.) geht, darf nicht außer Acht gelassen werden, dass diese auch Aspekte der Verarmung der Sprache unter der Gewaltherrschaft der Phrasen darstellen und sich deshalb nicht auf der semantischen Ebene erschöpfen, sondern vielmehr immer weiter in die Ebene hineinspielen, die heute mit Hilfe des Begriffs Performativität untersucht wird. Anders gesagt, handelt es sich hier um den Gegensatz zwischen dem Satiriker, der auf den Diskurs unter einer bestimmten Machtbedingung in der Geschichte sowie seinen Einfluss aufmerksam macht, und dem »Sprachgesindel« (Bd. 5, 25), das der politischen Macht nur entgegenkommt und so am »Krieg der berauschten Phantasiearmut« (Bd. 5, 25) mitwirkt. Zu der »Berauschung« trug nun die »Medialisierung der Sinne« konstitutiv bei, die sich im Ersten Weltkrieg »in einem bis dahin unbekannten Maß«17 vollzogen hat, indem neue technische Medien wie Fotografie, Film und Radio hoch entwickelt und nicht zuletzt zu propagandistischen Zwecken verwendet wurden.18 Indes betrifft Kraus’ Interesse nicht primär die Beziehung zwischen dem Faktum und den Medien: Ist die Presse ein Bote? Nein: das Ereignis. Eine Rede? Nein, das Leben. Sie erhebt nicht nur den Anspruch, daß die wahren Ereignisse ihre Nachrichten über die Ereignisse seien, 16 In einem Aphorismus heißt es z. B.: »Zensur und Zeitung – wie sollte ich nicht zugunsten jener entscheiden? Die Zensur kann die Wahrheit auf eine Zeit unterdrücken, indem sie ihr das Wort nimmt. Die Zeitung unterdrückt die Wahrheit auf die Dauer, indem sie ihr Worte gibt. Die Zensur schadet weder der Wahrheit noch dem Wort; die Zeitung beiden« (Bd. 8, 443). Zum Problem der gleichsam ›loyalen‹ Einstellung von Kraus zur Zensur s. Timms, S. 482 ff. 17 Köppen, S. 223. 18 Die Medialisierung der Sinne war freilich nicht nur im engeren Sinne bei diesen neuen Medien im Hinterland der Fall, zu denen auch das Telefon gehörte, sondern im weiteren Sinne auch bei den an der Front eingesetzten neuen militärischen Apparaten wie Periskop und Stethoskop, Schallmesser oder gar Flugzeug und U-Boot.
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sie bewirkt auch diese unheimliche Identität, durch welche immer der Schein entsteht, daß Taten zuerst berichtet werden, ehe sie verrichtet werden (Bd. 5, 15).
Indem Kraus der Presse ironisch mehr als die Rolle eines »Bote[n]« bzw. einer »Rede« zutraut, weist er hin auf die damals verschärfte Gefahr, dass Berichte von Taten den Taten selbst vorangehen. Hierbei ist nach Mersch zu berücksichtigen, dass das Performative als das »Ereignen eines Sich-Zeigens«19 definierbar sei, wobei die »Aisthetik« thematisiert werden müsse, zu der vor allem »das Verhältnis von Wahrnehmung und Medium, die Frage nach der Medialität sinnlicher Erscheinungen und der Möglichkeit eines Hervorspringens »amedialer« Momente« gehörten.20 In der Tat geht Kraus z. B. da von einem Problem der sinnlichen Wahrnehmung aus, und zwar von ihrem Versagen, wo er sich mit Begleiterscheinungen der »großen Zeit« beschäftigt: Daß Bomben mit Witzen abgesetzt werden und Animierkneipen ein 42-Mörser-Programm ankündigen, zeigt uns, wie konservativ und aktuell wir sind. Nicht das Vorkommnis, sondern die Anästhesie, die es ermöglicht und erträgt, gibt Aufschluß. (Bd. 5, 21)
Während man unter der Herrschaft der Medien, in diesem Fall vornehmlich der Presse, die Ereignisse bzw. Vorkommnisse des Weltkrieges tendenziell nur mit Distanz als entmaterialisierte Information konsumierte, fand Kraus nirgends sonst als in dieser Beziehung zwischen der Kriegsberichterstattung und ihren Lesern ein »Kriegstheater«, in dem »Sklaven« darauf gezielt hätten, »Sprachen zu »beherrschen««. (Bd. 5, 24) Einerseits nahm er dabei auch gezwungenermaßen die Methode des Zitats fremder Worte vor, wie er es in gebundener Form notierte, als sein Gedicht ›Gebet während der Schlacht‹ konfisziert wurde21: Nie wird bis auf den Grund meiner Erscheinung der kühnste Rotstift eines Zensors dringen. Verzichtend auf die Freiheit einer Meinung, will ich die Dinge nur zur S p r a c h e bringen. (F 437 / 42, 128)
Andrerseits erklärte er jedoch schon im Oktober 1915, seinen »strategisch[en] Rückzug aus der Position der öffentlichen Meinung« (Bd. 5, 25 f.) rückgängig zu machen: Aber aus reinster Menschenliebe und damit die täglichen hundert Hekatomben, die wahrlich kein gottgefälliges Opfer waren, endlich gesühnt werden, bin ich bereit, ein Scherflein beizutragen, gegen das ein Mörser ein Kinderspielzeug ist, und selbst Hand anzulegen, damit auch meinem Wort die Tat folge. (Bd. 5, 35) 19
Mersch (2002), Ereignis und Aura, S. 290. Mersch (2002), Ereignis und Aura, S. 10. Hier wird die »Aisthetik« im Sinne einer »Theorie sinnlicher Erfahrung« verstanden, die sich darum bemühe, »Wahrnehmung als Weise leiblicher Anwesenheit zu entwickeln und die affektive Betroffenheit durch den Gegenstand der Wahrnehmung zu berücksichtigen.« – s. dazu auch Böhme, S. 30 f. 21 Die zensierten Stellen pflegte Kraus einfach durch ein unbeschriebenes Blatt zu zeigen. Dies scheint ebenso wirksam gewesen zu sein wie sein »Schweigen«, das so laut war, »[…] daß es fast schon Sprache war« (Bd. 5, 33). 20
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Indem er so auch seinem eigenen Wort eine Macht zur »Tat« zuschreibt, scheint sich seine Satire damals zunehmend einer performativen Kunst genähert zu haben. Übernimmt er »ein Kommando«, das »die Front in das Hinterland verlegt« (Bd. 5, 35) und einen kriegerischen Charakter der Satire belebt, entsteht ein ganz anderes, Kraus’ eigenes »Kriegstheater«, das sich auch nicht immer nur auf die schriftliche Ebene beschränkt. Darüber hinaus wurde die Beziehung zwischen Ästhetik und Ethik bei der Satire angesichts der Grenzsituation des Todes der durch kaum jemanden vertretenen Massen im höchsten Grad aktualisiert. Wie diese Probleme dem Drama Die letzten Tage der Menschheit zugrunde lagen, untersuchen wir nun aufgrund seiner damaligen Lesungen. 2. Die Lesungen – eine Aktion gegen die mediale Verarbeitung von Kriegsereignissen a) Multisensorisierung der Satire durch Annäherung an das Mimetische Eine bezeichnende Eigenart von Kraus’ Tätigkeit während der Kriegszeit ist, dass die Häufigkeit seiner Lesungen die der Ausgaben der Fackel weit überbot: Seit er mit dem Essay ›In dieser großen Zeit‹ sein Schweigen gebrochen hatte, hielt er bis Anfang Dezember 1918 vorwiegend in Wien insgesamt 54 Lesungen.22 Was ihr Repertoire von dem der Lesungen in der Vorkriegszeit unterscheidet, ist die Mehrheit fremder Texte mit klassischer Herkunft.23 Wie es dazu kam, erklärt er im ironischen Hinblick auf die damalige Zeitsituation: Die meisten meiner eigenen Sachen sind zur Zeit nicht hörbar, kaum lesbar, denn die kleinen Anlässe, von denen sie geholt waren, sind von einer großen, allzu großen Stofflichkeit überdeckt worden. Es muß gewartet werden, bis sich herausstellt, daß die Perspektive der großen Zeit in der der kleinen verschwindet. (F 405, 3)
Obwohl er außerdem bemerkt habe, dass das Publikum die Lesungen aus seinen eigenen Schriften bevorzuge, habe er sich eben ihm zuliebe dazu entschlossen, »[…] die ihm selbst ungleich wichtigere Darbietung nie gehörter alter Dichtungen« (F 454 / 56, 28) durchzuführen.24 Seinem aufklärerischen Vorhaben entsprechend, fing er damals auch an, Programme extra für die Hörer zu verfassen, in denen 22 Anzahl der Lesungen: 1914: 2, 1915: 3, 1916: 11, 1917: 16, 1918: 22. Damals fanden sie außer in Wien in Berlin (fünfmal), Prag (viermal), Zürich und Frankfurt (je einmal) statt. 23 Von klassischen Theaterstücken wurden von Kraus damals wiederholt vor allem folgende Werke, meist auszugsweise, gelesen: Timon von Athen, Die Weiber von Windsor, Maß für Maß, Verlorne Liebesmüh’, König Lear (Shakespeare); Die beiden Nachtwandler oder: Das Notwendige und das Überflüssige, Judith und Holofernes (Nestroy); Der Alpenkönig und der Menschenfeind (Raimund); Hanneles Himmelfahrt (Hauptmann). 24 Damit sind wohl Werke in Prosa und Versen des literarischen Kanons gemeint, z. B. von Claudius, Gryphius, Rabelais, Grimmelshausen. Neben ihnen las er auch aus Schriften von Goethe, Hölderlin, Jean Paul, Stifter, Dostojevski, Luther, Kant, Schopenhauer, Bismarck.
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Hinweise auf die Texte der Lesungen, deren Quellenlage, Stoff- und Wirkungsgeschichte und Rezeption sowie Angaben über die Verwendung des Ertrags enthalten waren.25 Derartige Hingabe an die Lesung scheint ein Kennzeichen dafür zu sein, dass sein damaliges Interesse vom Satirischen etwas abgewichen war und nun eher zum ›Sagen‹ als zum ›Zeigen‹ neigte. Welche Motivation jedoch diesem Entwurf zugrunde lag, teilte er mit, als er den Grund erklärte, warum er seinen Essay ›Die Kinder der Zeit‹ (1912), in dem es um die heftige Verdammung der »Fortschrittsfreunde« (Bd. 4, 356) in einem »zum Optimismus« (Bd. 4, 354 f.) verpflichteten Staat geht, für die Lesungen wählte: Nur damit kein Zweifel aufkomme und kein Verdacht, als ob ich etwa meiner falschen Optik untreu geworden wäre und die Grundlagen dieses Jahrhunderts plötzlich nicht wiedererkennen würde, erneuere ich das Gelöbnis meines Hasses. (F 405, 3)
Diese Verwurzelung der Satire in der Indignation bewährte sich weiter in den Texten während der Kriegszeit, von denen doch auch mehrere gelesen wurden.26 Darüber hinaus können wir die emotionale Grundbestimmung der Satire mit einer multisensorischen Erfindung in Verbindung bringen. Schon kurz vor dem Ersten Weltkrieg hatte Kraus bei seinen Lesungen Dia projektionen eingeführt. Das leitete er ein mit einer Abbildung von Moriz Benedikt, dem Herausgeber der Neuen Freien Presse, die ursprünglich einem Essay in Dramolettform (Bd. 4, 53 ff. bzw. F 326 / 28, 1 ff.) beigefügt worden war. Kraus’ Absicht war es dabei gewesen, die durch seinen Pseudoleserbrief über die Gemeinderatswahlen bereits angegriffene Autorität dieses Blattes weiter zu schwächen.27 Dabei handle es sich um eine Wirklichkeit, vor deren Ungeheuerlichkeit die künstlerische Phantasie gleichsam versagen müsse:
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s. dazu Schartner, S. 270. Zu den Programmen der Lesungen in der Nachkriegszeit gibt es einige weitere Berichte. Ernst Krenek schreibt z. B.: »Seine Programme waren in bezug auf Satz und Typologie höchst sorgfältig ausgearbeitete Meisterstücke und enthielten […] kritische Invektiven über das Verhalten des Publikums.« (zitiert nach: Schartner, S. 265). Erwin Chargaff: »[…] die Programmzettel […] waren ungewöhnlich und von großem Interesse; sie bestanden meistens aus einem großen Blatt, etwa 28 × 22 cm oder größer, und brachten auf beiden Seiten alle Art von Texten: Programm und Anmerkungen, Gedichte, Aufrufe, tadelnde oder zustimmende Briefe, Ankündigungen künftiger Veranstaltungen, Sammlungen für wohltätige Zwecke.« (zitiert nach: Schartner: S. 268). Georg Knepler: »Auch die Programme, die die Hörer um billiges Geld vor den Vorlesungen kaufen konnten, wurden als Informationsträger zwischen Kraus und seinem Kreis genutzt. Fast immer enthielten sie, neben Anzeigen künftiger Vorlesungen oder neu erschienener Bücher des Vortragenden, Essays, oft lange, die auf das zu Erwartende vorbereiten sollten« (Knepler, S. 15). 26 Dazu gehören z. B. die Essays ›Der Ernst der Zeit und die Satire der Vorzeit‹ (Februar 1915), ›Schweigen, Wort und Tat‹ (Oktober 1915) oder ›Das technoromantische Abenteuer‹ (März 1918) usw. 27 s. dazu C. III. 2. a). Dieses Bild, ›Der Sieger‹, lehnt sich an die Sage der Geburt der Göttin der Weisheit aus der Stirn des Zeus an und veranschaulicht ironisch die Macht von Benedikt, der sogar das Parlament beeinflussen konnte.
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Hier war nur etwas zu entdecken, nichts zu erfinden übrig. Denn wenn das Leben am Ende ist, haben der Satiriker und der Karikaturenzeichner schon vorher abgedankt. Vor dem Totenbett der Zeit stehe ich und zu meinen Seiten der Reporter und der Photograph. Ihre letzten Worte weiß jener und dieser bewahrt ihr letztes Gesicht. Und um ihre letzte Wahrheit weiß der Photograph noch besser als der Reporter. (Bd. 4, 72 f.)
Durch diese Gleichsetzung der Ohnmacht des Satirikers mit der des Karikaturisten kommen der Bereich des Schriftlichen und der des Pittoresken zur Überlagerung. Ihre Arbeit kann nunmehr erst entstehen, wenn sie entweder vom Reporter oder vom Fotografen etwas zitieren – so nimmt hier Kraus an. Er formuliert diese sekundäre Position: »Mein Amt war nur ein Abklatsch eines Abklatsches« (Bd. 4, 73). Es ist nun von Belang, dass dieser visuellen Aktivität eine komplementäre Funktion für die akustische zugeteilt wird28: Ich habe Geräusche übernommen und sagte sie jenen, die nicht mehr hörten. Ich habe Gesichte empfangen und zeigte sie jenen, die nicht mehr sahen. […] Nicht auszusprechen, nachzusprechen, was ist. Nachzumachen, was scheint. Zu zitieren und zu photographieren. Und Phrase und Klischee als die Grundlagen eines Jahrhunderts zu erkennen. Ein Ohr kann müde werden; so werde gezeigt, was in der österreichischen Versuchsstation des Weltuntergangs sich vor das Auge gestellt hat. (Bd. 4, 73)
Auch in der Kriegsfackel erschienen öfter Fotos.29 Überdies hat Kraus damals in den Lesungen angefangen, mit Klavierbegleitung zu singen,30 und von seinem – später aufgegebenen – Plan »eines phonographischen Archivs« (F 404, 20) gesprochen.31 Im Hinblick auf diese Entwürfe liegt Burkhard Müllers Ansicht nahe, dass »Kraus es der Literatur aufträgt, die beiden disparaten Modi des Nur-Sinnlichen, Bild und Ton, in Beziehung zu setzen, zu ›binden‹, damit daraus etwas entstehe, das mehr ist als jedes von ihnen«.32 Das wird jedoch nicht nur in die Leistung auslaufen, »[…] einen Wandel in der Wahrnehmung des aktuellen Dokuments herbeizuführen«.33 Durch die Einführung der Diaprojektion wurde vielmehr, wie Leo A. Lensing bemerkt, eine die Avantgardebewegung wie den Dadaismus antizipierende, innovative Multimedialperformance zustande gebracht, die sich allerdings auch nicht in der Demonstration eines satirischen Potentials der Fotografie erschöpfte.34 Während nämlich bei der historischen Avantgarde die »Kunstmilitanz«35 besonders gegen die Literatur bzw. die »rauschhafte Befreiung der Sinne«36 dominant war, stand bei Kraus stets im Mittelpunkt das sprachliche
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s. dazu auch D. IV. 2. Einige davon wurden in Die letzten Tage der Menschheit eingeführt, wie im Folgenden erörtert wird. 30 Z. B. am 16. Dezember 1914 (F 405, 2). 31 Über eine damit vergleichbare Erwartung auf ein »Kinematogrammophon« s. D. I. 2. 32 Müller, Burkhard, S. 83. 33 Müller, Burkhard, S. 84. 34 Lensing, in: Kuhn / Wright, S. 80. 35 Hülk, in: Erstic u. a., S. 19. 36 Köppen, S. 7. 29
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Moment, das es durch rezeptiv nachahmende, d. h. mimetische Ansätze wiederzubeleben galt. Aus welcher Perspektive er auf das mimetische Moment den Schwerpunkt gelegt hat, bezeugt vor allem seine Bevorzugung von Shakespeare und Nestroy. Im ›Vorwort‹ zur Lesung aus Timon von Athen und den Nachtwandlern im Dezember 1914 hat er in der dritten Person kommentiert, worum es ihm bei dieser Verbindung geht: [N]icht nur der Vergleich der durch Pathos und Heiterkeit wirkenden sittlichen Kräfte, nicht nur künstlerische und thematische Rücksicht hat die Anreihung Nestroys an Shakespeare befürwortet: Der Vorleser übt sie mit Bedacht als die Vorführung einer klassischen Posse vor und gegenüber dem Ernst der Zeit. Denn er ist der Ansicht, daß der vernichtende Humor des hinter dem Dialekt der Harmlosigkeit, hinter Gesang und selbst trivialsten Vorwänden verkappten Satirikers, der bis heute der größte in deutscher Sprache ist, wiewohl ihn die dümmsten Menschen der Erde, nämlich die deutschen Literarhistoriker, nur als Possenschreiber registrieren, – daß also dieser beste Humor der deutschen Sprache keiner Zeit vorenthalten werden darf, weil in ihm die Kraft lebt, es mit jeder aufzunehmen und weil der ewige Witz der Lebensweisheit es nicht nötig hat, dem Ernst auszuweichen, den die Staatsweisheit zu Zeiten über die Menschen verhängt. (F 405, 3 f.)
Hier ist das Thema der satirischen Verbindung von Pathos und Witz, durch die eine Erlösung der Sprache vom »Starrkrampf« (Bd. 4, 230) ermöglicht werde, wieder aufgenommen, indem ihren »sittlichen Kräften« die Aufgabe anvertraut wird, dem Publikum über die Verfangenheit im Bann der kriegerischen Phrase hinwegzuhelfen. Dementsprechend findet auch das Thema der umgekehrten Hierarchie zwischen dem Original und seiner Parodie, das beim »Grubenhund« angetreten wurde, durch die Auseinandersetzung mit einem Dramatiker eine Weiterführung. Als Kraus nämlich aus der Nestroyschen Posse Judith und Holofernes las, die als Parodie auf die Tragödie Judith von Friedrich Hebbel geschrieben worden war, stellte er die paradoxe These auf, dass »die Parodie von Hebbel ist und nicht von Nestroy«, weil die Posse Nestroys »ihre eigene komische Realität« ausfülle (F 457 / 61, 53) und der Tragödie Hebbels Folgendes voraushabe: Wüßte man selbst nicht, daß hier jede Tirade nur eine kaum verborgene Wiederholung, die Einstellung eines lächerlichen Ernstes in eine bessere Denkordnung bedeutet, die schlichte Zitierung einer Spottgeburt vor das Hochgericht des Spottes, – so lebte die Nestroy’sche Posse doch in ihrem eigenen Element weiter, hätte aus sich selbst Pathos genug, um zu atmen und da zu sein. Keineswegs die Hebbel’sche Tragödie; denn sie war auf die Grimasse schon angewiesen, ehe diese als eine Naturnotwendigkeit sie antrat. Sie trägt den Nestroy’schen Hohn in sich, weil sie diesseits der Lebendigkeit solchen Atems geboren ist. (F 457 / 61, 53)
Obwohl Nestroy in dieser Posse zahlreiche Worte direkt, also in »kaum verborgener« Weise, aus dem Hebbelschen Original scheinbar nur mimetisch zitiert,37 wird seiner Parodie eine stabile Selbständigkeit zuerkannt, die im Gegensatz 37
s. dazu Scheck, S. 72 ff.
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dazu der Tragödie abgesprochen wird. Diese Umwertung, die von der Bana lität der »Grimasse« bei Hebbel herbeigeführt werde, wird aber für die Sprachauffassung dieses Dramatikers nur aus dem Grund suspendiert, dass er neben Nietzsche »zu jenen« gehöre, die »vom Geheimnis [wüssten], das sie nicht [hätten]« (F 457 / 61, 55). An dieser Stelle setzt Kraus dieselbe Strategie ein, die er gegen Heine verwendet hat38: In seinem Sonett ›Die Sprache‹ sei es Hebbel gelungen, den Primat der Sprache vor dem Gedanken zutreffend zu formulieren, ohne dass er sich aber in seinen sonstigen Werken – wie eben in Judith – dieses Prinzip habe anverwandeln können. Daran anschließend führt Kraus eine Passage aus seinem Heine-Essay an, um sie diesmal in eine im Titel des einschlägigen Essays exponierte Thematik umzusetzen: »Literaturlüge auf dem Theater«. Dem Paradox des durch seine Parodie überschatteten Originals wurde demnach die Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis im Bereich sowohl des Literarischen als auch des Theatralen zugrunde gelegt. Stellt man nun in Rechnung, dass eine derartige Blindheit vor der Wirkung der Sprache, mit anderen Worten, die Passivität unter der Macht der Sprache, in einem erhöhten Grad auch das »Kriegstheater« betraf, so eröffnet sich hier ein weiterer Aspekt der damaligen Beschäftigung von Kraus mit dem Satirisch-Mimetischen, der nicht mehr mit der »Literaturlüge« kontra Nestroysche Komödie, sondern gewissermaßen mit einer »Theaterlüge« kontra Shakespearesche Tragödie zusammenhängt. b) Der Grund der Satire in aisthetischer Sicht: die ›Aura‹ Ein solches Verhalten war in Berlin der Fall anlässlich der Macbeth-Aufführung vom Februar 1916, die Max Reinhardt als Schluss seines Shakespeare-Zyklus inszenierte, indem er, seiner »Neigung zum authentischen Dekorationsmaterial« gemäß, das Blut leitmotivisch einsetzte.39 Kraus, der in seiner Jugend bei einer Räuber-Aufführung mit Reinhardt zusammen spielte, hat diesen als Schauspieler, nicht jedoch als Regisseur geschätzt,40 besonders seit dessen spektakulärer Mirakel-Aufführung von 1912. Diese negative Einschätzung verschärfte sich bei der Macbeth-Aufführung, in der er die »unheimliche Identität der Aufmachung eines Reinhardt mit der Regie des jetzt wirklich vergossenen Blutes« (F 418 / 22, 97) fand. Überdies folgte nun auf diese Kritik, dem Programmaufsatz für die Lesung Die Lustigen Weiber von Windsor mit Klavierbegleitung im Mai 1916 zufolge, die Verlockung der »Stimme des Vorlesers« zu einem innovativen Entwurf, »ein dekorationsfreies Shakespeare-Theater ins Leben zu rufen«, »[…] auf dem alle Organe, die uns einst so viel zu sagen [gehabt hätten], wieder lebendig würden, wobei sie [die Stimme des Vorlesers, Anm. d. Verf.] dem Verdachte varietéhaft äußer 38
s. dazu B. III. 2. b) sowie B. III. 3. b). Stefanek, in: Stefanek, S. 393. 40 Gerade Kraus war es, der Otto Brahm für sein neues Ensemble Reinhardt empfahl; s. Rothe, S. 87. 39
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licher Nachbildung einer Vielheit wohl zu entgehen wüßte« (F 426 / 30, 47 f.). Dazu kam seiner Stimme folgende Aufgabe zu: Sie würde es sich zutrauen, Vorstellungen von Werken wie Lear, Macbeth, Wintermärchen, Die Widerspenstige mit einer bis in die kleinsten Rollen bewahrten Treue so nachzugestalten, daß ein geschlossenes Auge und ein offenes Ohr der Zeugen jener lebendigen Herrlichkeit nicht mehr den Apparat vermißte, der heute für das offene Auge und das geschlossene Ohr seine toten Wunder verrichtet. Ein so rekonstruiertes älteres Burgtheater, freilich ohne Stammsitze für die Kritik, wäre vielleicht wichtiger als ein Phonograph, der die Stimmen der heutigen Schauspieler für die Nachwelt aufbewahrt, und geeignet, diese schnell noch etwas profitieren zu lassen, wenn’s ihnen gestattet wäre, zu hören statt zu sprechen. (F 426 / 30, 48)
Dass es sich bei diesem Entwurf eines ›virtuellen‹ Theaters, das unter »allen Organen« vor allem an das Ohr appellieren soll, keinesfalls um einen schlichten Konservatismus handelte, zeigt das von Kraus an das Ministerium für Kultus und Unterricht eingereichte Angebot einer Lear-Vorlesung für die Jugend, welche die »schauspielerische und szenische Unzulänglichkeit der heutigen Burgtheater aufführung« (F 484 / 98, 86) berichtigen solle, indem der Vortrag »nicht das Burgtheater aus der Schmach«, sondern »die entehrte Dichtung in das Reich des Shakespeareschen Worts« zurücktragen wolle (F 484 / 98, 91). Unter den durch die so konzipierte Lesung evozierten Reaktionen ist nun vor allem eine Notiz beachtenswert, die bei Kraus »mimische Improvisation« sowie »mimische Phantasie« findet, welche »[…] die schriftstellerisch schon auf einen letzten Ausdruck gebrachte Situation noch einmal« gestalte und sie »mit derselben Intensität und satirischen Tendenz« weiterführe (F 484 / 98, 144 f.). Mit diesem Eindruck von mimisch-körperlich dynamisierten Worten ging der von der Eindringlichkeit von Kraus als Vorleser einher. Bei diesem Eindruck habe ihn »nichts mehr von einem Propheten des Alten Testaments« unterschieden und sei ein »Mikrokosmos in hundertzwanzig Minuten« entstanden (F 454 / 56, 32). Überdies deuten die mehrmaligen Lesungen von Shakespeare-Texten an, dass Kraus, damals »Träger des göttlichen Zornes« (F 484 / 98, 148) genannt, den Bann des Pathos für wichtiger hielt als die Unterhaltung durch den Witz. Hier ergibt sich die Möglichkeit, dass bei Lesungen solcher Art ein ästhetisches Gegenstück zum sonstigen ›Theater‹ in der damaligen Zeit entstehen konnte. Denn diese offenkundige Ablehnung des Okularzentrismus lässt kaum einen Spielraum für die »Ästhetik als Modell der Natur- und Kunstwahrnehmung«, die durch Distanz, Zugehörigkeit zur sozial oberen Schicht und einen »vernunftkontrolliert ordnenden Blick« charakterisiert wird und so dem »Kriegstheater« zugrunde gelegen hat.41 Dagegen scheint für die Wechselbeziehung zwischen Kraus und dem Publikum bei den Lesungen eine Variante der »Aisthesis als Lehre sinnlicher Erkenntnis« gültig gewesen zu sein, die durch die Nähe, die Zugehörigkeit zur sozial niederen Schicht und die »Wiedergabe unmittelbarer Sinneseindrücke« gekenn 41
Köppen, S. 15, 13 f.
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zeichnet werde und die Sicht des Krieges nicht aus gesicherter Position, sondern inmitten des Getümmels bestimmt habe.42 Freilich hat er das Schlachtfeld nicht direkt beschrieben, jedoch handelt es sich bei seinen Lesungen sowie in der Kriegsfackel gewissermaßen fast ausschließlich um einen ›Verteidigungskrieg‹ gegen den unbemerkten Angriff der Presse auf die Phantasie des Publikums. Die Rezeption beider Formen dieser »geschriebenen Schauspielkunst« durch das entsprechende Publikum bedeutet in erster Linie die ›sinnliche‹ Teilnahme an jenem Akt des Protests gegen die mit Hilfe der technischen Mittel verstärkte bzw. erst ermöglichte ›anästhesierende‹ Herrschaft der Medien, der durch eine scheinbar bloß nachahmende, in Wirklichkeit aber in stummer Weise vieles andeutende mimetische Schrift und Stimme durchgeführt wird.43 Dies kann als Kernpunkt der Performativität der Krausschen Satire gelten. Dabei schritt ihre aisthetische Begründung, so können wir annehmen, dahingehend weiter, dass sich damals auch ihre besondere Orientiertheit nach einem alternativen Prinzip der Kunst, dem Erhabenen, manifestierte, allerdings in einem anderen Sinne als bei der allgemeinen Repräsentation des Kriegsphänomens. Obwohl nämlich bei der ästhetischen Bewertung des Krieges die Kategorie des Erhabenen ursprünglich insofern zur Verfügung stand, als sie für etwas gehalten wurde, das die Sinne überwältigte, wurde sie im Lauf der Zeit mehr und mehr in die des Schönen integriert, und zwar dadurch, dass sie mit einer Kraft und einer Bewegung, die als technisch kontrollierbar galt, in Beziehung gesetzt wurde.44 Daraus entstand eine auch zur ästhetischen Objektivierung der katastrophalen Phänomene wie solcher der Kriegsereignisse befähigte Empfindung, deren zivile Erscheinungsform wir eventuell in der betrieblichen Kooperation von Reinhardts ›Spektakeltheater‹ mit der Presse45 finden könnten. Dagegen setzte Kraus seine Anklage gegen die »ästhetische[n] Snobismen« (F 457 / 61, 25) durch, die sich z. B. bei der medialen Verschönerung des »Heldentodes« zeigten: Das Erlebnis vom Krieg scheint für ihn im vormedialen Sinne erhaben geblieben zu sein, d. h. eher im Hören nachempfindbar als im Sehen.46 Unter diesem Aspekt ließe sich der Berührungspunkt seiner Satire mit dem Begriff der Aura erkennen, der »ein Spurloses« bedeute, das nicht »durch die Strategien der techne erzeugt werden [könne]« und deshalb nur geschehen könne.47 Was an ihr über diese Benjaminsche Defini 42 Köppen, S. 14 f. Genauer gesagt, sind hier damit z. B. Titus Livius’ (59? v. Chr. – 17) Impressionen des Kriegsgeschehens in seiner Römischen Geschichte (17? v. Chr.) gemeint, die nicht dem Blick des Helden entsprochen hätten und von späteren Historikern kaum als sachverständiger Bericht akzeptiert worden seien. 43 s. dazu C. II. 3. a). 44 Köppen, S. 35 ff. 45 s. dazu Rühle, S. 169 f. 46 Über das Erhabene bei Kraus s. C. III. 1. b) sowie den daran anschließenden Exkurs. Zu der Ansicht, dass das Erhabene mit dem Hören und daher mit der Rhetorik sowie das Schöne mit dem Sehen und insofern mit der Kallistik zusammenhänge, s. Mersch (2002), Ereignis und Aura, S. 117 f. 47 Mersch (2002), Ereignis und Aura, S. 153.
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tion hinaus wichtig ist, ist außerdem ihr Potential, das die Ästhetik von Aufklärung und Romantik beherrschende »neuzeitliche[n] Subjekt-Objekt-Gefüge[ ]« zu sprengen und für die Wahrnehmung eine Perspektive zu eröffnen, die ihren Ausgang bei dem Wahrgenommenen finde und deshalb die Erwiderung, die primäre Struktur der Aisthesis, bedeute.48 Nicht zuletzt weist dies auf die ethische Implikation der Aisthesis hin, auf die zurückzugreifen es bei der Performance-Kunst gilt: Die Ethik performativer Ästhetik beruht daher nicht auf der Sanktionierung einer Norm, sondern in der Herstellung einer Sensibilität, die allererst die Hingabe an ein Anderes, das vorgeht, zuläßt – an jene Alterität, die das Subjekt entmächtigt und seine Ansprüche und seinen Willen zurücktreten läßt. Sie berührt sich als solche mit dem Ritus, dem Religiösen.49
Wie verhält es sich mit der Tätigkeit der Krausschen Satire in der Kriegszeit, die auf mündlicher Ebene tatsächlich aurafähig war50 und auch auf schriftlicher Ebene mit demselben Prinzip, das als erheblich nachahmend-mimetisch, also passiv-rezeptiv bezeichnet werden kann, betrieben wurde? 3. Mehrdimensionale Entwicklung des Performativen in der Krausschen Satire a) Vorladung zum sprachlichen Weltgericht Nun sind wir an dem Punkt angelangt, von dem aus Kraus’ repräsentative dramatische Errungenschaft thematisiert werden kann, und zwar im Zusammenhang mit dem Performativen. Bekanntlich ist dieses ›Drama‹, Die letzten Tage der Menschheit, unter dem Aspekt der traditionellen Theaterästhetik verschiedenartig kritisch betrachtet worden.51 Auch bei seinen positiven Einschätzungen, wie sie im Falle seiner Klassifizierung zum dokumentarischen Stück typisch sind,52 scheinen die Probleme, die eben in den letzten Abschnitten erörtert wurden, kaum berücksichtigt worden zu sein. Welche Eigenarten dieser Arbeit sind bei beiden sowie zwischen ihnen unberührt geblieben?
48
Mersch (2002), Ereignis und Aura, S. 143, 35, 148. Mersch (2002), Ereignis und Aura, S. 240. 50 In einem Bericht der Weltbühne von Siegfried Jacobsohn über Kraus’ Lesungen wird von der »Aura« geschrieben, die dieser Nestroy, Hauptmann und Shakespeare habe verleihen können (F 484 / 98, 146). 51 s. dazu Pfotenhauer, in: Martini u. a., S. 327. Hier sind die typischen negativen Urteile über dieses Drama zu einem Argumentationsmuster zusammengefasst: »[…] daß, wenn schon ein Drama geschrieben werde, es kein extensives Zeitpanorama werden dürfe, das sich in unzählige Szenen zersplittere, das jede Zentrierung um einen Handlungsstrang vermissen lasse. Auch seien Figuren ohne psychologisch motivierte Handlungs- und Konfliktbereitschaft nicht lebendig.« 52 s. dazu Dietze, in: Philologica Pragensia, S. 70. 49
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Richten wir zunächst unser Augenmerk auf das äußerlichste Faktum, ist vor allem ihre wechselvolle Publikationsweise auffällig: Im Druck erschien sie schon zu Lebzeiten von Kraus in zwei Ausgaben, zu denen posthum noch eine Fassung hinzukam. Es ging nämlich von den 1918 / 1919 herausgegebenen ersten Sonderheften der Fackel aus, die als Akt-Ausgabe53 vereint wurden. Der Entwurf dieser »Tragödie« selbst, die einstweilig als ein »Angsttraum« untertitelt war, wurde schon im Oktober 1915 dadurch kundgegeben, dass in der Kriegsfackel der »Monolog des Nörglers« als »Schluß eines Aktes« (F 406 / 12, 166)54 exzerpiert gedruckt wurde. Bis zum Ende des Krieges waren in der Kriegsfackel etwa auch folgende Korrelate anzutreffen: Auszug aus einer anderen Schlussszene eines Aktes (F 423 / 25, 1 ff.),55 Bemerkungen über die in der Arbeit auftretenden Personen wie Alice Schalek (F 406 / 12, 15 ff. u. a.), Betrachtungen über die Schlüsselwörter wie den »tragischen Karneval« (F 426 / 30, 35 ff. u. a.) bzw. das »österreichische Antlitz« (F 445 / 53, 77 ff. u. a.), die in der Arbeit leitmotivisch gebraucht werden. Nach diesem ›Versuchsstadium‹ wurde dann die Arbeit 1919–22 anhand neu zugänglich gewordener Materialien einer »umfassenden Revision«56 unterzogen und 1922 als Buchausgabe veröffentlicht: Ein Umarbeitungsprozess nach dem Prinzip »work in progress«,57 bei dem schließlich auch ein Paradigmenwechsel von der Kulturzur Politsatire58 dahingehend ausgeführt wurde, dass Kraus selber die Handlung als »zerklüftet« (Bd. 10, 9) bezeichnete. Darüber hinaus wurden ab März 1917 die Auszüge des Stückes immer häufiger vor dem Publikum gelesen, woraus später sogar die damals nicht gedruckte Bühnenfassung entstand, die er auch für eine Ensembleaufführung plante.59 Diese Tatsachen besagen, dass er sich von Anfang 53 Diese Ausgabe wird deshalb so genannt, weil je ein Sonderheft einen Akt des Dramas beinhaltete. 54 In der bestehenden Ausgabe betrifft dies den 3. Akt (die 23. Szene in der Akt-Ausgabe, die 46. Szene in der Buchausgabe und die 15. Szene in der Bühnenfassung). 55 In der Buchausgabe betrifft dies die 33. Szene des 2. Aktes. 56 Böhm, in: Fetz / Kastberger, S. 192. Böhm zufolge habe sich dadurch die Anzahl der Szenen sowie der Figuren weit erhöht, wobei verschiedene Personengruppen wie etwa die Verehrer der Reichspost verstärkt ins Geschehen einbezogen worden seien. 57 Böhm, in: Fetz / Kastberger, S. 194. 58 Timms, S. 509. 59 Außer dieser fragmentarischen ›Uraufführung‹ fand nur viermal zu Kraus’ Lebzeiten die [autorisierte] Aufführung des Stückes, und zwar nur seines Epilogs, durch ein Ensemble statt, nämlich 1923 in Wien, 1924 in Teplitz-Schönau, 1925 in Prag und 1930 in Berlin (s. dazu Haslsteiner, in: Kraus-Hefte, S. 2 f.). Nachdem Kraus eine Aufführung des Stückes »in veränderter, gekürzter und bühnengemäßer Form« erst 1928 für die Wiener Arbeiter zuließ, hat er sich bis zum Ende 1929 selber mit der Bühnenfassung beschäftigt, indem er einige Szenen umstellte, zusammenzog und bearbeitete. Dies führte nur zu einer mündlichen Aufführung durch den Autor; die Korrekturbögen der Buchausgabe sind in der Wiener Stadt- und Landesbibliothek aufbewahrt (s. dazu Kraus, 2005, S. 226 f.). Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs hat es dann drei bemerkenswerte Wiedergaben des Stückes als Hörspiel gegeben: die Radiobearbeitung von Stephan Hermlin für Radio Frankfurt (1947), die Schallplattenaufnahmen mit Helmut Qualtinger (1962–72) sowie eine »Vollständige szenische Umsetzung mit 160 Schauspielern« [aufgrund der Buchausgabe?] zum 100. Geburtstag Kraus’ durch den Öster reichischen Rundfunk (1974). Eine szenische Aufführung des ganzen Stückes wurde erst 1964
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E. Performativität in Die letzten Tage der Menschheit
an keine dramaturgische Abgeschlossenheit zum Ziel gesetzt hat, geschweige denn eine Bevorzugung des zum Lesen bestimmten Textes vor einer möglichen Aufführung. Der Umfang und die daraus resultierende prinzipielle Geeignetheit zur Lektüre schließt nämlich die Möglichkeit nicht aus, in diesem Stück ein Potential performativer Kunst zu finden, die als »Kunst ohne Werk«60 definiert wurde. Dementsprechend können wir dieses ›Drama‹ als ein typisches Ergebnis der bisher erörterten Wechselbeziehung zwischen dem Schriftlichen und dem Mündlichen bei Kraus betrachten, bei dem das Interesse für das ›Wie‹ der sinnlichen Darstellung dem für das ›Was‹ des semantischen Inhalts nicht nachstehen sollte. In welchem Verhältnis zur Performativität steht nun das Konzept, unter dem er diese Arbeit in Angriff genommen hat? Ein Anhaltspunkt dafür ist in einem sich an den »Monolog des Nörglers« (F 406 / 12, 166) anschließenden Aphorismus zu finden: Ich glaube: […] Daß dieser Krieg von heute nichts ist als ein Ausbruch des Friedens, und daß er nicht durch Frieden zu beenden wäre, sondern durch den Krieg des Kosmos gegen diesen hundstollen Planeten! Daß Menschenopfer unerhört fallen mußten, nicht beklagenswert, weil sie ein fremder Wille zur Schlachtenbank trieb, sondern tragisch, weil sie eine unbekannte Schuld zu büßen hatten. (Bd. 8, 425)61
Das Oxymoron »ein Ausbruch des Friedens« weist darauf hin, dass Kraus zwischen dem Ersten Weltkrieg und dem vorangehenden Menschenleben eine Kontinuität fand und den »Menschenopfern« eine »Schuld« zuschrieb, die sie schon vor dem Krieg unwissentlich auf sich geladen hätten. Hiermit wird eine Tragik im Sinn des Ödipus-Typs, die unter einer überirdischen Perspektive vom »Kosmos« entworfen wird, begründet. Zu diesem Entwurf geht er jedoch sofort auf Distanz. Daß für einen, der das beispiellose Unrecht, das sich noch die schlechteste Welt zufügt, als Tortur an sich selbst empfindet, nur die letzte sittliche Aufgabe bleibt: mitleidslos diese bange Wartezeit zu verschlafen, bis ihn das Wort erlöst oder die Ungeduld Gottes. (Bd. 8, 425)
Kraus gibt hier ironisch an, er vermöge sich als Satiriker trotz seines reichlichen Mitleids nur mitleidslos zu verhalten, als hätte er kein Mittel mehr und könne nur passiv auf die Erlösung warten, die entweder durch das »Wort« oder die »Ungeduld Gottes« herbeigeführt werde. In dieser Verflechtung der Sprachproblematik mit der Ahnung der Katastrophe deutet sich eine für die Satire-Tradition seit Lu-
unter der Regie von Leopold Lindtberg am Theater an der Wien gewagt. Weitere Aufführungen folgten bis heute, wie bei der in der Einleitung erwähnten »Spektakelinszenierung« von Johann Kresnik im ehemaligen U-Boot-Bunker »Valentin« in Bremen-Farge (zwischen 1999 und 2005 in regelmäßigen Abständen). 60 Mersch (2002), Ereignis und Aura, S. 245. 61 Diese Passage enthält eine Allusion auf einen Vers in Goethes Romanze ›Die Braut von Corinth‹: »Aber Menschenopfer unerhört« (V. 63) – s. Goethe (1987), in: Eibl, S. 688.
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kian (125? – 180?) charakteristische kosmisch-überirdische Perspektive an,62 deren kriegerische Variante hier manifest wird. Dementsprechend wird Kraus gewissermaßen fiktionalisiert, indem auf diese Passage ein Selbstgespräch in der Dialogform mit einer fiktiven Figur folgt, die mit dem »Nörgler« zu identifizieren wäre: »Auch Sie sind ein Optimist, der da glaubt und hofft, daß die Welt untergeht.« Nein, sie verläuft nur wie mein Angsttraum, und wenn ich erwache, ist alles vorbei. (Bd. 8, 425)
Auch im Stück tritt das Paar Der Nörgler / Der Optimist wiederholt auf, wobei der Autor Kraus gleichzeitig als er selbst und nicht als er selbst, also verdoppelt, erscheint. In dieser textlichen Annäherung zur Performance im anthropologischen Sinne63 wird hier eine ironisch rätselhafte Weltanschauung verkündet, die nur dann als optimistisch gelten könnte, wenn keine gute, sondern nur eine schlechte Welt untergehen würde. Ihre Explizierung bleibt aber aus, und die ganze Situation wird mit einem »Angsttraum« verglichen, dessen Ende auch das Weltende bedeuten könnte. Demnach können wir annehmen, dass hier das im Essay ›In dieser grossen Zeit‹ dargebotene Motiv vom durch die »Phantasiearmut« zu bewirkenden »Vernichtungskrieg« der Menschheit gegen sich selbst (Bd. 5, 16) in der Lukianschen Manier einer spottend phantasierenden Satire variiert ist, die sich aber in diesem Fall gleich in ihr ernstes Pendant wendet, anstatt sich zur heiteren Amüsierung weiterzuentwickeln. Vom Spannungsverhältnis zwischen diesen beiden Richtungen der Satire ist eben auch im Vorwort zur Lesung vom »Aktschluß einer Tragödie« der letzten Tage der Menschheit, d. h. zu ihrer erstmaligen mündlichen Darstellung im März 1917, folgenderweise die Rede: Das gemeine, allzu verständliche, zeit- und ortsnahe, handgreiflich komische Material pathetischer Darstellung macht es dem Hörer oft schwer, ein Lachen, das eine höhere Empfänglichkeit stört, zu unterdrücken. Solche, z. B. bei einer Glosse wie »Vor dem Höllentor« immer wieder beobachtete Erscheinung wird namentlich für den Vortrag dieser dramatischen Szene befürchtet, deren Schauder eben, wie ein Nachdruck des Alps, von allem, was uns gegenwärtig ist, bezogen wurde. Möchte doch der und jener vergessen, daß Namen Bekannte sind, und sie wie der Ortsfremde und wahrlich auch wie der Nachlebende dieser Schande nur als Symbole wieder erkennen! Und spüren, daß der entsetzlichste Dialekt, den je das Menschenohr vernommen hat, kein Jargonscherz, sondern die Tragödie selbst sei, die keine Intimität aufkommen läßt. (F 454 / 56, 35 f.)
An dieser Stelle ist die Ablehnung der Reduzierung der Satire auf den Stoff mit einem Lachverbot verbunden, und zwar mit der Begründung, dass ein leichtsinniges Lachen »eine höhere Empfänglichkeit« störe. Dafür verlangt werden zuerst eine nüchterne Distanzierung von einem Zeitphänomen, das nur symbolisch ein 62 So erdichtete z. B. Lukian in seinem burlesken Prosadialog ›Ikaromenippos oder Die Luftreise (Ikaromenippos ē Hypernephelos)‹ bereits eine Fahrt zum Mond. s. dazu Jens (Hrsg.), S. 687 f. In manchen utopischen Romanen bzw. fiktionalen Reiseberichten richtet sich die Satire am Beispiel solch extremer Rahmenbedingungen gegen die Alltagswelt. 63 s. dazu D. III.
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E. Performativität in Die letzten Tage der Menschheit
wirken solle, und dann ein Aspektwechsel, unter dem die äußerlich nur komisch klingende Sprechweise in der Tat schon sich selbst als »Tragödie« erweisen könne. Darauf folgt nun noch eine Warnung, die zur Vermeidung der Rückfälle des Publikums in seine »unbekannte Schuld« (Bd. 8, 425) ergeht und insofern wiederum eine Bereitschaft zur Anklage in sich schließt: Der Vortragende trägt auch die Pein vor, daß seine Zeugenschaft ihn zu solchem Zeugnis gezwungen hat. Es ist nur die Scham, die er ablegt, weil er sie erlebt hat. Die Ort- und Zeitgenossen dessen, was da ausgesagt ist, werden eben dafür, daß sie es waren, dereinst Rechenschaft abzulegen haben. Hätten sie dazu gelacht, weil ihnen Milieu und Adressen geläufig waren, so wären sie nicht allein Mitschuldige, sondern auch Mitwirkende! (F 454 / 56, 36)
Auf diese Weise stellt sich heraus, dass es sich hier um eine Angelegenheit handelt, als deren Bezeichnung gerade der Titel des Sammelbandes gelten kann, in dem die Essays in der Kriegsfackel zusammengestellt sind: »Weltgericht«. Dadurch wird die Bestimmung der Satire als eines Komplements des Strafgesetzes64 aus der Theorie in die Praxis umgesetzt, dies jedoch in diesem Fall ohne ihre Hete ronomie bei der übergeordneten Wirklichkeit. Denn dieser ›Gerichthof‹ ist in der Krausschen Perspektive bezeichnenderweise mit einem Theater gleichgesetzt, das wir analog zum »Weltgericht« ein »Welttheater« nennen wollen,65 und erzielt insofern ein subversives Potential des Fiktional-Irrealen. Diesen beiden Einrichtungen gemeinsam ist vornehmlich die Situation, in der ›Darsteller‹ und ›Zuschauer‹ sich durch ihre physische Anwesenheit gegenüberstehen. Kraus kann dabei gleichsam ebenso als Ankläger wie als Protagonist betrachtet werden, der bei seiner bestehenden Aura das Publikum bald pathetisch, bald scherzhaft anspricht. Eine andersartige Rolle spielt das Publikum, das zwar einerseits dem Ereignis auf der ›Szene‹ zuschaut, andrerseits jedoch dies nicht neutral gleichgültig tun darf, weil es potentiell die lachenden Mitschuldigen selbst, nämlich keine anderen als die Figuren sowie die Angeklagten, abgibt. In diesem Sinne handelt es sich hier in einer potentiellen Weise um das Wechselspiel der Akte und Blicke zwischen Darstellern und Zuschauern in einer Live-Performance, bei dem die Möglichkeit zu »einer permanenten Neudefinition der Rollen« sowie zu »einer ständig sich wandelnden Wahrnehmung des anderen« eröffnet wird.66 In welchem Verhältnis dazu steht nun die »Zeugenschaft«, eine sprachliche Komponente der Gerichtsverhandlung, zu der schließlich sowohl das Publikum als auch der Ankläger selbst vor geladen werden?
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s. dazu Merkel, S. 360 f. Zu diesem Thema s. auch A. III. 1. sowie C. III. 1. Zur Beziehung von Kraus zum dramengeschichtlichen »Welttheater« (»theatrum mundi«) s. E. II. 4. sowie E. III.1. 66 Fischer-Lichte, in: Fischer-Lichte, S. 318. 65
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b) Das Metatheater eines mitschuldigen »Zeugen« Eben dieses Problem wird im Vorwort zur Tragödie Die letzten Tage der Menschheit thematisiert, das der Aktausgabe beigefügt und in der Buchausgabe ergänzt wurde. Einleitend wird da zunächst nachdrücklich eine kosmisch-über irdische Perspektive geschildert: Die Aufführung des Dramas, dessen Umfang nach irdischem Zeitmaß etwa zehn Abende umfassen würde, ist einem Marstheater zugedacht. Theatergänger dieser Welt vermöchten ihm nicht standzuhalten. Denn es ist Blut von ihrem Blute und der Inhalt ist von dem Inhalt der unwirklichen, undenkbaren, keinem wachen Sinn erreichbaren, keiner Erinnerung zugänglichen und nur in blutigem Traum verwahrten Jahre, da Operettenfiguren die Tragödie der Menschheit spielten. (Bd. 10, 9)
Aus dem Begriff »Marstheater« können wir die kontrastive Implikation heraus lesen, dass der Erste Weltkrieg, der auf der Erde überaus ernst genommen wird, vom Weltall gesehen nichts weiter ist als ein albernes Theaterstück, das die Kriegsgötter unbeteiligt genießen würden. Dagegen wird angegeben, dass sich die irdischen Zuschauer von den Geschehnissen auf der Bühne nicht distanzieren können, weil sie da sich selbst spiegelbildlich handeln sehen sollen, und zwar den irrationalen Grundsätzen gemäß, die nur unter dem Aspekt eines grausamen Traums oder im Fall der paradoxen Aufführung einer Welttragödie durch Operettenfiguren gelten können. Zur Sache kommt dann der Verfasser, wenn er seinen Humor psychologisch so charakterisiert: Der Humor ist nur der Selbstvorwurf eines, der nicht wahnsinnig wurde bei dem Gedanken, mit heilem Hirn die Zeugenschaft dieser Zeitdinge bestanden zu haben. (Bd. 10, 9)
Diese wahrscheinlich nach dem Krieg geschriebene Bemerkung verweist darauf, dass Kraus selbst es war, der sich von den Kriegsgeschehnissen gleichsam bis aus kosmisch-überirdischer Ferne hat distanzieren können. Diese Ausnahme position wurde durch die Bemühungen erreicht, Zeuge der »Zeitdinge« zu werden. Es ist nun dieser Punkt, an dem die vermittelnde Funktion des Sprachlichen zwischen dem Gerichtlichen und dem Theatralen erfassbar wird, wie sie in der folgenden Passage weitergeführt wird: Die unwahrscheinlichsten Taten, die hier gemeldet werden, sind wirklich geschehen; ich habe gemalt, was sie nur taten. Die unwahrscheinlichsten Gespräche, die hier geführt werden, sind wörtlich gesprochen worden; die grellsten Erfindungen sind Zitate. Sätze, deren Wahnwitz unverlierbar dem Ohr eingeschrieben ist, wachsen zur Lebensmusik. Das Dokument ist Figur; Berichte erstehen als Gestalten, Gestalten verenden als Leitartikel; das Feuilleton bekam einen Mund, der es monologisch von sich gibt; Phrasen stehen auf zwei Beinen – Menschen behielten nur eines. Tonfälle rasen und rasseln durch die Zeit und schwellen zum Choral der unheiligen Handlung. (Bd. 10, 9)
Hier findet das performative Prinzip »Wort und Tat«, das in den früheren Essays der Kriegsfackel zum Vorschein kam, seine unmittelbar theaterbezügliche Variation. In dieser Tragödie dominieren nämlich nicht seine eigenen Texte, son-
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dern »Zitate«, die vorwiegend aus damaligen phrasenreichen Presseberichten stammen. Diese schon als solche für »die grellsten Erfindungen« gehaltenen und so dem medial entstehenden neuen Typ des »Kriegstheaters« zugeschriebenen Worte werden dabei derart umfunktioniert, dass sie in einem anderen Theater, d. h. dem der Krausschen »Tragödie«, verschiedenen »Figuren« bzw. »Gestalten« zugeteilt werden, die mit ihrem »Mund« und ihren »zwei Beinen« sogar lebendiger und plastischer wirken sollen als die realen »Menschen«, die eventuell auf dem Schlachtfeld ein Bein eingebüßt hätten, wie damals bei jener Aufführung des patriotischen Theaterstückes von Irma von Höfer, an der auch echte Invalide teilnahmen, tatsächlich könnte anzusehen gewesen sein (s. F 462 / 71, 1 ff.). Was schon in den Kleindramen der Vorkriegszeit durch die »in Bewegung« geratenen und »ein dramatisches Leben« herstellenden Zitate (Bd. 4, 141) vorgenommen wurde, wird demnach in dem Ausmaß eines riesigen Dramas weitergeführt, dessen Merkmale folgendermaßen charakterisiert werden: Leute, die unter der Menschheit gelebt und sie überlebt haben, sind als Täter und Sprecher einer Gegenwart, die nicht Fleisch, doch Blut, nicht Blut, doch Tinte hat, zu Schatten und Marionetten abgezogen und auf die Formel ihrer tätigen Wesenlosigkeit gebracht. Larven und Lemuren, Masken des tragischen Karnevals, haben lebende Namen, weil dies so sein muß und weil eben in dieser vom Zufall bedingten Zeitlichkeit nichts zufällig ist. (Bd. 10, 9)
Hier handelt es sich um die Charakterlosigkeit von Figuren, die trotz ihrer anscheinenden Lebendigkeit im Grunde nur als »Schatten« bzw. »Marionetten« betrachtet werden. In den Vordergrund rückt statt ihres Charakters die »Formel«, nämlich die phrasenhafte Sprachform, welche die »Wesenlosigkeit« der Figuren »tätig« erscheinen lässt. Hierin können wir eine Kraussche Behandlungsweise vom Thema jener Macht der Sprache erkennen, die von ihrer Performativität als ihrem Dynamisierungsprinzip herkommt. Daraus wird eine schriftliche Performance entstehen, die veranschaulicht, in welcher Weise die Kriegsereignisse medialisiert und dementsprechend die Realität dem erstrebten »Kriegstheater« gemäß inszeniert wird. In dem Sinne, dass ein Theater durch ein anderes Theater performativ verarbeitet wird, können wir hier von einem »Metatheater« sprechen, bei dem die Eigennamen der realen Personen eine besondere Funktion erfüllen.67 Denn gerade sie verleihen der zu verurteilenden Kriegsschuld der »Menschheit« einen konkreten Anhaltspunkt, durch dessen Sichtbarkeit sie vor Gericht geladen werden kann. Die nicht zufällige Schuld kann durch ihren zufälligen Träger erst handgreiflich werden. Auf diese Sachlage scheint Kraus hinzuweisen, wenn er kommentiert, dass in seiner Tragödie eine »lokale Angelegenheit« wie »Vorgänge an der Sirk-Ecke« auch »von einem kosmischen Punkt regiert« werde (Bd. 10, 10). Einen schroffen Kontrast zu dieser Bewusstheit einer überdimensionalen Schuld-
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s. dazu C. I. 2. b) sowie C. III. 1.
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struktur der Menschheit bildet nun »[…] die Ernüchterung einer Epoche, die, niemals eines Erlebnisses und keiner Vorstellung des Erlebten fähig, selbst von ihrem Zusammenbruch nicht zu erschüttern [sei], von der Sühne so wenig spür[e] wie von der Tat« (Bd. 10, 10). Gegen diese Herrschaft der »Larven und Lemuren«, d. h. der »Masken des tragischen Karnevals« der Totengeister, unter der eine mediale Ästhetisierung des Krieges sowie der anästhetische Rückgang des ethischen Gefühls mit dem Eroberungsdurst nach dem »Weltmarkt« (Bd. 10, 10) in einer heroischen Stimmung einhergehen, wird am Ende des Vorworts die Grundgesinnung des Satirikers manifest: In solcher Stimmung rede ihnen einer vom Krieg! Und es mag zu befürchten sein, daß noch eine Zukunft, die den Lenden einer so wüsten Gegenwart entsprossen ist, trotz größerer Distanz der größeren Kraft des Begreifens entbehre. Dennoch muß ein so restloses Schuldbekenntnis, dieser Menschheit anzugehören, irgendwo willkommen und irgendeinmal von Nutzen sein. (Bd. 10, 10 f.)
Zum Abschluss des Vorworts wird hierauf die Botschaft Horatios über seine Zeugenschaft zur Schuld der Figuren im Hamlet angeführt, womit diese Anklage gegen die Menschheit, die sich hier auch als zukunftsweisendes Bekenntnis der Mitschuldigkeit herausgestellt hat, endgültig ins Grenzgebiet zwischen Wirklichkeit und Fiktion positioniert wird. Dabei verlaufen die gerichtlichen und die dramatischen Prozesse zueinander parallel, deren Berührungspunkt wir in der selbstbezüglichen Produktivität der Sprache finden können, wie es der mehrschichtigen Struktur ihrer Performativität entspricht: Die Rede der Figuren wird hier nicht nur semantisch als Beweis ihrer tragischen Unwissenheit entlarvt, sondern zugleich als »das wortgewordene Grauen« (Bd. 10, 10), als materiales Zeugnis, monumentalisiert. Auf dieser aisthetischen Ebene des letzteren handelt es sich auch um »[…] die Empfänglichkeit für Anderes, deren Struktur nicht intentional, sondern responsiv bestimmt« ist68 und die in diesem Punkt die ethische Grundlage für die Opposition gegen die technische Medialisierung der Ereignisse darstellen kann. Denn der Akt der Anklage wird zwar aktiv ausgeführt, jedoch im Kern passiv motiviert durch das Mitleid für die Opfer der einschlägigen Geschehnisse. In unserem Fall ist dies vor allem für die Kriegsgefallenen gültig, die hinter ihrer pseudoheldenmythischen Glorifizierung zum völligen Schweigen gezwungen sind. Durch seine »Zeugenschaft« führt Kraus gleichzeitig auch für sie das Wort und setzt in dieser eigenartigen Weise die Theorie über die Gewahrung, die »ihren Anfang bei einem Anderen, dem Wahrgenommenen find[e]«,69 in die Praxis um. Unter diesem aisthetischen Aspekt der Performativität hängt seine Satire mit dem Schauspiel im Sinne des Trauerspiels eng zusammen, dessen Einfluss auf die Ritualität seiner damaligen Lesungen durchaus nahe liegt. Wir wollen im Folgenden diese mehrschichtig entwickelte Performativität der Satire bei Kraus an den vier Typen ihrer Bezugsfiguren überprüfen, die im 68
Mersch (2002), Ereignis und Aura, S. 53. Mersch (2002), Ereignis und Aura, S. 35.
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schon während des Sommers 1915 entstandenen Vorspiel folgendermaßen vielfältig in Erscheinung treten. 1) Die Zeitungsleser, die von allgemeinen Bürgern wie einem »Korsobesucher« und seiner Frau (Bd. 10, 45) u. a. in der 1. Szene vertreten werden. Unter dem Druck der Meinungsmanipulation sprechen sie die Worte der Presse nach, deren Gewalttätigkeit vor den Kulissen des Alltagslebens umso schärfer hervorsticht. 2) Die Journalisten, deren merkantiles Arbeitsprinzip durch die Figur vom »Zeitungsausrufer« (Bd. 10, 45) ersichtlich wird. Sie manipulieren zwar einerseits die Ansicht des Publikums über den Krieg, flattern jedoch andrerseits nur gesinnungslos, woraus ein Spielraum für die Gegeninszenierung ihrer Worte entstehen kann. 3) Der Typ, der zwar die Zeitung liest, aber nicht von ihr beherrscht wird. Er wird vor allem vom »Nörgler« (Bd. 10, 65) verkörpert, aber auch von Toten wie dem gemeuchelten Kronprinzen Franz Ferdinand, dessen Trauerfeier als symbolisches Ereignis in der letzten Szene des Vorspiels geschildert wird (Bd. 10, 60 ff.). Die Beziehung des Nörglers zu den Kriegsopfern wird auch in den folgenden Akten wiederholt thematisiert. 4) Nutznießer des Krieges wie der »Prokurist« (Bd. 10, 51), die Politikern, Adligen sowie Offizieren nahe stehen. Sie sind dem Anschein nach nicht in die Kriegshandlungen verwickelt, in Wahrheit aber in der Verwaltung des eigentlichen Gebiets der kriegerischen Taten gewalttätiger als Journalisten und werden daher am häufigsten der performativen Karikierung unterzogen. Das ›Drama‹ nun, in dem diese Figuren mitspielen, hebt sich von jenen Dramen des Reinhardt-Typs durch den Primat der Worte ab, deren Kongruenz mit dem »Kriegstheater« durchschaut wird: Theaterwirkung ist zweierlei: der Zusammenschluß der Spieler und der Zusammenschluß der Zuschauer. Beides vermag die Regie. Krieg ist jene Regie, bei der beiderlei Wirkung durcheinandergeht. Jene dort brüllen, als wären sie begeistert, diese hier sind begeistert, weil sie brüllen dürfen, Publikum ist Komparserie, und in dem Durcheinander kann man nicht unterscheiden, wer mitspielt, weil er mittut, und wer mittut, weil er dabei ist. Es ist, als ob der neuberliner Großregisseur seine Hand im Spiel hätte: die oben sind von unten hinaufgekommen und die unten sind von oben heruntergekommen. Die Tragödie, die sie spielen, besteht darin, daß sie spielen. (Bd. 8, 445)
Darauf folgend gehen wir von der Frage aus, welche Trennlinie zwischen dieser spektakulären und der performativen »Regie« zu ziehen ist.
II. Erscheinungsformen der performativen Metatheatralik
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II. Vier Erscheinungsformen der performativen Metatheatralik in der Antikriegstragödie 1. Die Herrschaft der »universalisierenden« Macht der Phrasen a) Die Darstellung der anonymen Masse der Zeitungsleser im Hinterland Das zunächst auffallende Merkmal der Tragödie Die letzten Tage der Menschheit, das in all ihren Ausgaben gleich ist, stellt ihre Eröffnung mit einer Massenszene in jedem Akt dar, die an der ›Sirk-Ecke‹, einem damals berühmten Straßeneck der Wiener Kärntner Straße, spielt. Die einleitende Rolle wird dabei immer dem Zeitungsausrufer zuteil,70 der im ersten Akt sogar im Duo auftritt und durch die Verdoppelung des für ihn bezeichnenden Ausrufs im Dialekt eine heftigere Reaktion in seiner Umgebung bewirkt, wie in der Beschreibung zu betrachten ist:71 Ein Zeitungsausrufer: Extraausgabee – ! Zweiter Zeitungsausrufer: Extraausgabee! Beidee Berichtee! Ein Demonstrant (der sich von einer Gruppe den Prinz Eugen-Marsch singender Leute loslöst, ruft mit hochrotem Gesicht und schon ganz heiser unaufhörlich): Nieda mit Serbieen! Nieda! Hoch Habsburg! Hoch! Hoch Serbien! Ein Gebildeter (den Irrtum bemerkend, versetzt ihm einen Rippenstoß): Was fällt Ihnen denn ein – Der Demonstrant (anfangs verdutzt, besinnt sich): Nieda mit Serbieen! Nieda! Hoch! Nieda mit Habsburg! Serbieen! (Bd. 10, 69)
Diese komische Verwechselung der »Serben« mit »Habsburg« deutet den Selbstzweckcharakter des begeisterten Ausrufs jenes Demonstranten an, für den der Wortinhalt gleichgültig ist. Der Ansicht Sauermanns nach hat sich »die brisante Mischung von Serbenfeindlichkeit und Selbstüberschätzung« tatsächlich erst »nach wochenlanger Hetze durch die Presse« zu einer Kriegsbegeisterung entzündet, wozu eine Extraausgabe der Neuen Freien Presse viel beigetragen habe.72 Kraus setzt zwar diese historischen Verhältnisse voraus, gibt sie jedoch nicht schlicht wieder, was auch die Anfangszenen der folgenden Akte betrifft. Wie Sigurd Paul Scheichl zutreffend zusammengefasst hat, wird darin nämlich »das Fortschreiten des Elends im Hinterland« in einem zeitlichen Ablauf kenntlich ge 70 Nur am Anfang des zweiten Aktes erhebt ein »polnischer Jude« den Ruf »Extrosgabee –« (Bd. 10, 229). Eine Abweichung zeigt sich auch am Anfang des fünften Kapitels, wo nur die »Stimme eines Zeitungsausrufers« hörbar sein soll (Bd. 10, 553). 71 Im Folgenden beziehen sich alle Nachweise auf die Buchausgabe. Die Anlehnung an andere Ausgaben wird jedes Mal eigens bezeichnet. 72 Sauermann, S. 23, 25.
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E. Performativität in Die letzten Tage der Menschheit
macht, indem der Kontrast zwischen der Sprache des patriotischen Enthusiasmus und den durch den Krieg ausgelösten realen Leiden potenziert wird.73 Der Krieg wird dabei weder als politisches noch als militärisches, sondern als geistiges und dazu auch physisches Phänomen dargestellt,74 wobei vor allem die mächtige Masseneinwirkung der Pressesprache, unter der eine gedankenlose Automatisierung des Sprechaktes wie beim Fall des »Demonstranten« geschehen kann, verschiedenartig figurativ veranschaulicht wird. Auch in den anderen Szenen wird dieses Motiv immer wieder variiert, und zwar durch die Darstellung einiger fiktiver Personen, die mehrmalig auftreten und die Abhängigkeit ihrer Worte von der Presse demonstrieren. Als repräsentatives Beispiel dafür kann der alte Biach gelten, der etwa im Café Pucher vor beiwohnenden Ministern seine beinahe kultische Verehrung des Herausgebers der Neuen Freien Presse so offenbart: Der alte Biach (die Neue Freie Presse zur Hand nehmend): Großartig! Alle: Was denn? Der alte Biach: Sehn Sie, das imponiert mir, jetzt feiert er schon seit vierzehn Tagen das fufzigjährige Jubiläum, immer an erster Stelle, dann kommt die Schlacht bei Lemberg mit den Eindrücken. Da sieht man doch wenigstens, es gibt auch noch freudige Ereignisse in Österreich! […] (Bd. 10, 106)
Bei ihrer Anhängerschaft lässt diese Person nicht nur die Medialisierung der Kriegsereignisse durch die Presse wie selbstverständlich gelten, sondern auch deren Nebensächlichkeit im Vergleich mit dem Pressejubiläum. Dies hängt auch mit einer Selbstidentifizierung mit Moriz Benedikt zusammen, die da zum Vorschein kommt, wo gesprochen wird: »Man weiß nicht, redt er wie wir oder reden wir wie er« (Bd. 10, 110). Wenn Kraus in Benedikt einen Vertreter der »unveränderten Marionetten« der »Eitelkeit«, der »Habsucht« und des »niederträchtigen Behagens« der Kriegsgewinnler (Bd. 5, 30) sah, können wir den alten Biach als Marionette der Marionette betrachten, deren Gedankenlosigkeit in einem fiktionalen Gespräch mit einem kaiserlichen Rat über die Niederlage in Luzk sich noch deutlicher zu erkennen gibt: Der alte Biach (schwärmend): Die Nase der Kleopatra war eine ihrer größten Schönheiten. Der kaiserliche Rat: Ihnen gesagt. Der alte Biach (erregt): Das wissen Sie nicht? das wissen Sie nicht? also den Anfang vom gestrigen Leitartikel – Der kaiserliche Rat: Gott richtig, natürlich das war doch so packend – aber – Luzk gefällt mir nicht! Es is natürlich ein prima strategischer Rückzug – aber – Der alte Biach (bündig): Ein Volk muß essen. Der kaiserliche Rat: Selbstredend, aber wie kommt das zu –
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Scheichl, in: Interpretationen, S. 230 f. Scheichl, in: Interpretationen, S. 231.
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II. Erscheinungsformen der performativen Metatheatralik
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Der alte Biach (erregt): Das wissen Sie nicht? das wissen Sie nicht? also den Schluß vom heutigen – Der kaiserliche Rat: Gott richtig, natürlich – (Bd. 10, 487)
Nachdem das patriotische Gefühl des alten Biach durch die Niederlage sehr beeinträchtigt wurde, scheint diese Not seinen Autoritätsglauben, der durch ein nur mechanisches Nachsprechen phrasenhafter Formulierungen eines Leitartikels zum Ausdruck kommt, gestärkt zu haben. Dieser eskapistische Ausweg stößt aber letzten Endes auch auf seine Grenzen, wenn im letzten Stadium des Krieges über »Ausbau und Vertiefung« des Bündnisses zwischen Deutschland und Österreich berichtet wird: Der alte Biach: Gotteswillen – das is nicht so einfach – passen Sie auf – es is nämlich auch ausge l e g t worn! Wissen Sie schon den Unterschied zwischen der Fassung in Wien und der Fassung in Berlin? (Außer Fassung) Eine genaue Prüfung des Textes der in Wien und Berlin veröffentlichten Mitteilung zeigt einen Unterschied, der in die Augen springt. (Bd. 10, 571)
Dieser »Unterschied«, bei dem es sich in der Tat nur um Kraus’ ironische Verspottung der einschlägigen politischen Phrase handelt, verunsichert den alten Biach so tiefgreifend, dass er umsinkt, als er hört, dass der Bericht noch inoffiziell sei, und schließlich, mit der Kleopatra-Phrase wiederum im Mund, stirbt (Bd. 10, 574 f.). Hier ist die Presseabhängigkeit des Publikums zu seiner akuten Lebensfrage übertrieben. Das amphibolische Wortspiel nun, das Kraus zwischen der »Fassung« als Druckgestaltung im Haupttext und der »Fassung« als Selbstbeherrschung in der Bühnenanweisung entstehen lässt, bekundet auf der visuellen Ebene, dass es hier um eine scherzhafte Satire geht, bei der die auszulegende Charakterisierung der Personen gar nicht in Frage kommen kann, worauf im oben angeführten Wort »ausge l e g t « des alten Biach, das ostentativ nur halb gesperrt gedruckt ist, ironisch angespielt wird. Die anderen Figuren wie das Paar vom »Abonnenten« und »Patrioten«, die ebenfalls mehrmalig auftreten und auch dem Tod des alten Biach beiwohnen (Bd. 10, 575), haben auch diese Charakterlosigkeit gemeinsam, indem sie ständig die Worte, die von der spielerischen Phrasenoperation des Autors herrühren, im Mund führen. Die gutgläubige Manipuliertheit sowie die »Phantasie armut« (Bd. 5, 9), die er dem Publikum immer wieder vorgeworfen hat, wird in dieser Weise figurativ personifiziert zur Schau gestellt. In diesem Sinne finden wir da eine »geschriebene Schauspielkunst« vor, wo die Figuren, auch wenn sie Namen tragen, im Grunde anonym und austauschbar sind. Diese Methode hat Edward Timms mit der von Georg Büchner verglichen, die Figuren »als Werkzeuge anonymer geschichtlicher Kräfte« erscheinen zu lassen, »über die sie kaum Kontrolle haben«.75 In diesem Zusammenhang hat schon 75
Timms, S. 514.
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E. Performativität in Die letzten Tage der Menschheit
Silvio Vietta das Argument dafür vorgebracht, diese dramatische Leistung von Kraus in die Tradition der literarischen Sprachkritik im deutschen Sprachraum zu situieren. Viettas Ansicht nach hat nämlich Büchner jene moderne Kritik an ersatzreligiösen sowie ersatzmetaphysischen Denk- und Sprechformen im Medium der Literatursprache besonders des Dramas eröffnet, die – anders als frührationalistische philosophische oder linguistische Sprachkritik – nicht die unklare Darstellung des Denkens vom Subjekt durch die Worte, sondern den Widerspruch zwischen Phrase und Wirklichkeit anvisiert habe.76 Von Büchners Dantons Tod (1835) ausgehend, habe sich diese Tradition über Arno Holz’ Papa Hamlet (1889), bei dem traditionelle Literatursprache und moderne Alltagssprache sich wechselseitig negiert und erhellt hätten, zu Kraus’ Die letzten Tage der Menschheit als politischer Kritik entwickelt, bei der die Entfremdung von Sprache und Wirklichkeit durch semantische Doppelbödigkeit entlarvt worden sei.77 Dieser literaturgeschichtliche Vergleich ist zwar hilfreich, insofern er ein besseres Verständnis für die Beziehung der Krausschen Satire zur Kritik an der Metaphysik sowie für ihre Verwurzelung im konkreten historischen Kontext ermöglicht. Vietta lässt aber bei seiner allzu rationalen Reduktion dieser Menschheitstragödie auf Ideologiekritik den ganzen inhaltlichen und formalen Reichtum des Werks sowie dessen ständigen Appell an die sinnliche Wahrnehmung nicht sichtbar werden. Etwas von diesem Potential der letzten Tage der Menschheit aufzuzeigen, wird in unserem Schlussabschnitt versucht. b) Opposition der Sprache gegen den Krieg, optisch, akustisch Wenn wir annehmen, dass es sich bei den Szenen mit der anonymen Masse bzw. den unpersönlich typisierten Figuren um eine Art von performativen Aktionen handelt, aus deren universalisierendem Aspekt die Kommunizierenden als »aller körperlichen und sozialen Differenzen entkleidete[ ] Personifikationen von Geltungsansprüchen« des Sprechhandelns betrachtet werden,78 dann bezieht sich das Gerede der Masse nicht etwa auf irgendwelche fiktive Personen, sondern auf ihre eigenen Darstellungsweisen, wie etwa Reiner Niehoff zur »sprachkritische[n]« Zitattechnik von Büchner als einem Vorläufer von Kraus bemerkt: Das Zitat tritt als Zeuge auf: als Vertreter seines Gebrauchs. Zitiert wird nicht, um auf den Satz selbst zu referieren; zitiert wird der Gebrauch der Wörter. Zum Gegenstand wird die-
76 Vietta, S. 67 f., 72. Diese Verlagerung des Schwerpunktes vom subjektiven zum objek tiven Themenbereich schreibt Vietta der neuzeitlichen Rationalität vor allem im Materialismus und Positivismus des 18. und 19. Jahrhunderts zu, die Denkformen und Begriffe der traditionellen Metaphysik in ihrer Bedeutungssubstanz ausgehöhlt habe erscheinen lassen und in diesem Punkt für die moderne literarische Sprachkritik von Bedeutung gewesen sei (S. 65 f.). 77 Vietta, S. 155, 162, 191, 205. 78 Krämer, in: Krämer, S. 15.
II. Erscheinungsformen der performativen Metatheatralik
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ser Technik die Art und Weise, wie über Dinge, Personen und Geschehnisse gesprochen wird. ›Sprachkritisch‹ ist diese Technik deshalb, weil die Worte im dramatischen Text ihres Schreckens, ihrer Negativität überführt werden.79
Was nun auffällt, ist, dass die zitierten Worte bei Kraus ebenso wie bei Büchner dramatisch dergestalt konzipiert sind, dass sie »spürbar«80 werden, ohne in die bloß illustrierende Funktion für das »Zwei-Welten-Modell der Sprachlichkeit«81 zu geraten. Diesen Sachverhalt können wir an seiner Darbietungsweise der Szenen als »Schau-Plätzen« bestätigen, die »eine Versammlung heterogener Elemente« bilden, zu denen »genauso Handelnde, Schweigende und Zuhörer gehören wie Gesten, Stimmen, Körper und die ›Leere‹ zwischen ihnen«,82 wobei auch auf die Mitwirkung von Medien außer der Presse aufmerksam gemacht wird. Als typisches Beispiel für die akustisch orientierte Ausführung dieses Konzepts können schon die Massenszenen gelten, bei denen sich Kraus’ Zugehörigkeit zu einer »Tradition der Sensibilität für Klang und Strukturen der in Österreich und besonders in Wien tatsächlich gesprochenen Sprache« in der österreichischen Literatur erweist. Er hat dabei nämlich »nicht selten auch gehörte Zitate« eingebaut, wie die oben angeführte Stimme des Zeitungsausrufers zeigt.83 Neben diesem Zitieren von Gehörtem, mit dem auch der Effekt durch »die Genauigkeit von Dialekt und Tonfall«84 vergleichbar ist, tragen die »sehr bewusst gewählten Musikzitate« aus den patriotischen Hymnen, Soldatenliedern und Hetzliedern dazu bei, »Assoziationen zu wecken, aufzurütteln, zu kritisieren« und auch »[…] das Interesse seiner Zeit an den Kriegshandlungen, am eigenen Elend und Untergang von einer anderen Seite her zu betrachten«.85 So wird z. B. das Lied ›Der gute Kamerad‹ von Ludwig Uhland und Friedrich Silcher, das in der ›Gloria Viktoria‹-Variante zum »am meisten gesungene[n] Soldatenlied« wurde,86 in der ersten Szene aller fünf Akte zitiert, darunter im ersten Akt nach dem Gespräch zwischen dem ersten und dem zweiten Verehrer der Zeitung Reichspost folgenderweise: Der erste: Höchste Zeit, daß amal a Seelenaufschwung kommt! Rrtsch – obidraht! Der zweite: Ein Stahlbad brauch’ mr! Ein Stahlbad! Der erste: Bist schon einrückend gemacht?
79
Niehoff, S. 25. Niehoff, S. 24. 81 Krämer, S. 95 ff. Beim »Zwei-Welten-Modell« (de Saussure, Chomsky, Searle und Haber mas) wird nach Krämer eine »reine«, universale Sprache bzw. Kommunikation als grammatisches oder pragmatisches Regelsystem vorausgesetzt, als dessen untergeordnete Realisierung bzw. Aktualisierung im Sprechen und Kommunizieren die konkrete Äußerung betrachtet wird. Dagegen wird beim »Performanz-Modell« (Wittgenstein, Austin, Luhmann, Davidson, Lacan, Derrida und Butler) angenommen, die Sprache sei nur erklärbar als ihr Gebrauch durch Personen in Situationen. 82 Mersch, in: Fohrmann, S. 511. 83 Scheichl, in: Scheichl / Stieg, S. 60, 67 f. 84 Scheichl, in: Scheichl / Stieg, S. 68. 85 Schartner, S. 10, 218. 86 s. dazu Zahn, S. 97 f. sowie Schartner, S. 202 f. 80
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E. Performativität in Die letzten Tage der Menschheit
Der zweite: Woher denn, enthoben! Und du? Der erste: Untauglich. Der zweite: Ein erleichtertes Aufatmen geht durch unsere Bevölkerung! Dieser Krieg – (ab.) Man hört den Gesang vorbeiziehender Soldaten: In der Heimat, in der Heimat da gibts ein Wiedersehen – (Bd. 10, 81)
An dieser Stelle, wo sich ein verantwortungsloser Patriotismus selbst entlarvt, an diesem »subversive[n] Ausspielen von Umgangssprache und Dialekt gegen theatralisches Pathos«,87 gibt sich die Nestroysche Tradition zu erkennen. Aus den für die Bühnenfassung hinterlassenen Korrekturbögen der Buchausgabe wird ja geschlossen, dass Kraus bei der Lesung aus dieser Szene das Chaos der Stimmen artikulierend zu ordnen wusste, indem er jede Rolle mit einer anderen Stimme las.88 Was die optische Entfaltung des Szenenkonzepts anbelangt, ist vornehmlich die Erforschung des satirischen Potentials der Fotografie89 zu nennen, die in der Aktausgabe mit sieben Fotos versucht wurde. Beim direkt vor dem Vorspiel eingerückten Foto hat Kraus z. B. das Bild von Kaiser Franz Josef mit »Österreich«, das von dem Journalisten Julius Hirsch mit »Presse« untertitelt, wodurch auf die Tätigkeit der Zeitung hinter den Kulissen des Kriegs angespielt wird. In der Buchausgabe werden am Anfang und Ende nur zwei Fotos gezeigt, die aber als stark emblematischer Rahmen wirken, indem es sich dabei ebenfalls um Bilder des Todes handelt, nämlich um eine Ansichtskarte von dem als Hochverräter hingerichteten Cesare Battisti mit grinsendem österreichischem Militär sowie ein Foto mit einem Bild des Gekreuzigten, dem das Kreuz durch einen Schuss weggerissen worden ist.90 Im Zusammenhang damit ist auch die oftmalige Thematisierung des Films unübersehbar, über deren Einfluss Kraus die »Kladde« genannte Figur im Gespräch mit »Padde« so sprechen lässt: Kladde: Die Taten unserer Soldaten, im Bilde vorgeführt, gäben wahrhaftig Stoff genug für mehr als einen Film, und das Volk, das am Bilde manchmal mehr hängt, als am Worte, würde solchen Vorführungen ein gewaltiges Interesse entgegenbringen […]. (Bd. 10, 488)
Der Film wurde aber nicht nur kritisch betrachtet, sondern hat die Art und Weise des Szenenwechsels dieser Tragödie selbst stark beeinflusst, wie ihre Nähe zur Montage-Technik zeigt.91 Wie weiter eben noch erörtert wird, verschärft sich ihr Gebrauch bei der Auseinandersetzung mit dem Pressewesen sowie der politischen und militärischen Führerschaft insbesondere, aber auch bei einer »Fauna von Gestalten« (Bd. 10, 604), d. h. der tierischen Allegorisierung der Café besucher, ist eine schriftliche Übertragung der filmischen Verwandlungstechnik 87
Scheichl, in: Scheichl / Stieg, S. 62. Kraus (2005), S. 228. 89 Lensing, in: Kuhn / Wright, S. 78. 90 s. dazu Lensing, in: Kuhn / Wright, S. 93 ff. 91 s. dazu Timms, S. 514 f. sowie Lensing, in: Kuhn / Wright, S. 98 ff. 88
II. Erscheinungsformen der performativen Metatheatralik
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zur Versinnlichung des Themas, was aus der Menschheit nach ihren »letzten Tagen« werden wird, bemerkbar. Dem massenhaften anonymen Publikum wird so auch in diesem Drama seine bereitwillige Gedankenlosigkeit vorgeworfen, dies jedoch vorwiegend in einer indirekt verallgemeinernden sowie scherzhaft karikierenden Weise. Die Leute äußern zwar den Hass gegen die Feinde, aber dieser Sprechakt ist im Grunde nur ein passives Nachsprechen ihrer Führungsblätter. Eine direkte ernsthaft »strafende Satire« scheint ihnen folglich in dem Maße erspart zu bleiben, als sie potentiell auch »einrückend« gemacht und im Krieg hingeopfert werden und so Opfer des Krieges sind. In diesem Sinne können wir ihre Anonymität als jene Vorstufe zu ihrem anonymen Tod betrachten, bei der schon durch die Presse gegen ihre Phantasie sowie ihre Urteilskraft metaphorisch ›Krieg‹ geführt wird. Dagegen wird nun den eigentlich hegemonialen Trägern von »Wort und Tat«, den Journalisten sowie den mit ihnen zusammenwirkenden Schriftstellern, ein anderer Aspekt der Performativität zugeschrieben, und daraus entsteht eine weitere ›Dramaturgie‹ sowie eine dieser zugrunde liegende Kriegsauffassung.
2. Iterabilisierung der sprachlichen Gewalt durch die Kriegsberichterstattung a) Über das Dokumentartheater hinaus: Ansätze zur Problematisierung der Simulation bei Kraus Als Journalisten-Figuren treten in den Letzten Tagen der Menschheit erstmalig zwei namenlose »Reporter« am Ende des ersten Aktes des Vorspiels auf, nach jenem langen Gespräch zwischen den durch den Bericht über das Attentat des Kronprinzen Franz Ferdinand erschütterten Leuten, das einer von ihnen nüchtern so kommentiert: Ein Reporter (zu seinem Begleiter): Hier nimmt man am besten die Stimmung auf. Wie ein Lauffeuer, sehn Sie, hatte sich am Korso die Nachricht verbreitet, wo sich die Wogen brechen. Das fröhliche Leben und Treiben, das sich sonst um diese Stunde zu entfalten pflegte, verstummte mit einem Male, Niedergeschlagenheit, das Gefühl tiefer Erschütterung, zumeist aber stille Trauer, konnte man von allen Gesichtern ablesen. Unbekannte Leute sprachen einander an, man riß sich die Extrablätter aus der Hand, es bildeten sich Gruppen – (Bd. 10, 50)
Das Präteritum deutet die Distanz an, mit der diese Person ihre Rede schon als schriftliche Reportage konstruiert und sich so vom mündlichen Gespräch unter den Leuten abgrenzt. Der Reporter ist sich dessen bewusst, dass sich die »Stimmung« der Leute aus der lauffeuerartigen Verbreitung der »Nachricht« ergeben hat, und nimmt diese einflussreiche manipulatorische Position wie selbstverständlich weiterhin ein. Ihr Handlungsprinzip können wir in dem Wort zusammen gefasst finden, das an einer anderen Stelle wiederum »der erste Reporter« als die
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E. Performativität in Die letzten Tage der Menschheit
Äußerung seines Redaktionschefs mitteilt: »[…] man muß dem Publikum Appetit machen auf den Krieg und auf das Blatt, das geht in einem« (Bd. 10, 77). Demnach wird hier dem Wort der Journalisten eine performative Macht zugetraut, die bis in den psychischen Bereich dringt. Überdies stellt ein Gespräch zwischen dem ersten und dem zweiten »Kriegsberichterstatter« an der Front bloß, mit welcher Art der Medialisierung der Kriegsgeschehnisse diese Position verbunden ist: Der erste: […] Ich bin auch für Stimmungen, aber im Ernstfall – nur Stimmungsmensch sein, das geht nicht! Sie sind eben im Frieden nie aus den Premieren herausgekommen, das rächt sich jetzt. […] Der zweite: Mir paßt das alles nicht. Ich wer’ mit dem Divisionär sprechen, was mit dem Fronttheater is. (Bd. 10, 157 f.)
Wie die Wiederholung desselben Gesprächsmusters an einer späteren Stelle (Bd. 10, 634) zeigt, ist der Krieg für diese Journalisten eine mit irgend einem von ihnen besprochenen Schauspiel vergleichbare Angelegenheit geblieben, die sie nie selbst mitmachen, sondern der sie bloß von einem gesicherten Standpunkt aus zuschauen, um bei dem Bericht ihre schon fertigen »Stimmungen« auszudrücken. In diesem Sinne sind sie mit den im Heine-Essay kritisierten »Talente[n]« (Bd. 4, 190) gleichzusetzen, für die nun das illusionistische ›Kriegstheater‹, das die Leser als patriotische Ware genießen können, auf der medialen Ebene noch besteht. Die Interesselosigkeit ihresgleichen gegenüber der baren Realität ist in den Szenen überspitzt geschildert, etwa wenn drei Interviewer den Bericht der Schauspielerin Elfriede Ritter über ihre Russlandtour immer wieder skandalsüchtig verzerren, indem z. B. einer die redensartige Wendung »unter die Arme gegriffen« in die sexuell konnotierte »unter den Armen ergriffen« umschreibt (Bd. 10, 134) oder wo ein »Revolverjournalist« einen blinden Soldaten ohne Arme und Beine auf der Straße völlig mitleidlos ignoriert (Bd. 10, 291). Die uninszenierbaren Fakten werden von solchen Journalisten außer Acht gelassen. Dieser Umstand, in den schon das damals neue Medium Kino hineinspielt, findet in einem Aphorismus eine unmittelbare Formulierung in den folgenden »Gedanken«: Alles was geschieht, geschieht für die, die es beschreiben, und für die, die es nicht erleben. Ein Spion, der zum Galgen geführt wird, muß einen längeren Weg gehen, damit die im Kino Abwechslung haben, und muß noch einmal in den photographischen Apparat starren, damit die im Kino mit dem Gesichtsausdruck zufrieden sind. Schweigen wir. Beschreiben wir es nicht, die es erlebten. Es ist ein dunkler Gedankengang zum Galgen der Menschheit, ich wollte ihn als ihr sterbender Spion nicht mitmachen. Und muß, und zeige ihr mein Gesicht! Denn mein herzbeklemmendes Erlebnis ist der horror vor dem vacuum, das diese unbeschreibliche Ereignisfülle in den Gemütern, in den Apparaten vorfindet. (Bd. 8, 424)
Diese Selbstidentifizierung mit einem hinzurichtenden Spion könnte dann noch besser am Platz sein, wenn Kraus die Verschwörung des Journalismus mit der zivilen sowie militärischen Führerschaft andeutet, indem er etwa den Hofrat Nepalleck, der wirklich existiert hat, über die Nachricht von dem Attentat auf Franz Ferdinand am Telefon so sprechen lässt:
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Nepalleck: […] Wie? pardon, ach so, die Zeitungen? Instruiert, alles instruiert, wenn nicht viel hermachen. (Bd. 10, 55)
Auf eine geheime Vereinbarung von Militärs und Journalisten wird im fünften Akt hingewiesen, wo ein Generalstäbler auch telefonisch jemanden anweist, »phantastische Gefangenenziffern« unter der Rubrik »»amtlich«« bekannt zu machen (Bd. 10, 579), oder ein Hauptmann seinen Gesprächspartner, wiederum per Telefon, bittet, »den Doktor von der Zeitung wegen die Karten zu ›Husarenblut‹« zu telefonieren (Bd. 10, 591). In der gegenseitig anwesenden Situation wird zudem ihre vertrauliche Partnerschaft noch deutlicher demonstriert, indem etwa Journalisten mit wortkargen alten Generalen ein schmeichlerisches Interview machen (Bd. 10, 241) oder umgekehrt ein alter General einen vorbeigehenden Journalisten »Hab die Ehre, Herr Doktor!« anspricht und damit die Verheimlichung einer misslungenen Operation erreicht (Bd. 10, 365). Diese Beziehung scheint sogar da durch Zitation aus echten Dokumenten bestätigt zu werden, wo ein Hauptmann Journalisten einen Artikel über die Etablierung der »Bordelle mit einwandfreiem Material unter strenger militärischer Kontrolle« (Bd. 10, 549) diktiert oder »Hauptmann Werkmann« im Pressedienst zwei Briefe an die »Verehrliche Redaktion« diktiert (Bd. 10, 634). Außerdem bemerkt der deutsche Gesandte bei einem »Bankett deutscher und bulgarischer Schriftsteller« in Sofia ganz offen: »Diplomatie und Presse gehören eng zusammen« (Bd. 10, 457); und dieser Sachverhalt verwirklicht sich, sobald der Redakteur Haymerle, damaliger österreichischer Botschaftsrat in Berlin, nachdem er sein Diktat über die Erinnerung an das Jauchzen der Berliner gegenüber dem Botschafter beim Kriegsausbruch vor Rührung unterbrochen hat, die tröstenden Worte findet: »Herr Botschaftsrat, fassen Sie sich, wir von der Presse empfinden ganz mit Ihnen! Das weitere mach ich in der Redaktion« (Bd. 10, 462). Kurzum, es handelt sich bei diesen Beispielen um die propagandistische Mitwirkung der Presse an der Kriegsführung, wie Kraus sie in einem Aphorismus so charakterisiert: Wie wird die Welt regiert und in den Krieg geführt? Diplomaten belügen Journalisten und glauben es, wenn sie’s lesen. (Bd. 8, 381)
Dieser Blickpunkt Kraus’ bietet für seinen gängigen Nachruhm, dass er einen Vorläufer der Kritik an den Massenmedien während des Kriegs darstellt, einen Beweisgrund an.92 Was für eine Verbindung von Sprache und Gewalt hinter der Kulisse der Kriegsbegeisterung besteht, hat er in der Tat durch zahlreiche Szenen dekuvriert. In der bisherigen Kraus-Forschung entspricht diese Bewertung etwa dem Versuch von Edward Timms, Die letzten Tage der Menschheit als eines der ersten dokumentarischen Dramen zu betrachten, das »[…] in den zwanziger Jahren einen völlig neuen Stil des dokumentarischen Polittheaters in Deutschland [angeregt
92
s. dazu Carruthers, S. 25.
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E. Performativität in Die letzten Tage der Menschheit
habe], ohne daß es selbst je zur Aufführung [gelangt sei]«.93 Andrerseits hat Kraus, der Ansicht Leo A. Lensings nach, ein exemplarisches Vorbild für die dokumentarische Literatur geschaffen, indem er aus einer schöpferischen Spannung zwischen der dokumentarischen Genauigkeit der Fotografie und der ausgerenkten Narrative der filmischen Montage eine innovative dramatische Form hat entstehen lassen und diese mit einer radikalen Kritik an den Massenmedien in seiner Zeit verbunden hat.94 Diese Behauptung trifft zwar insofern zu, als Kraus selbst das Fundament seines Stückes »Dokument« (Bd. 10, 9)95 nennt und eine Montage aus nichtliterarischen Vorlagen und Quellen, die als unbearbeitete Dokumente präsentiert werden, dem Begriff Dokumentarliteratur entspricht.96 Wie jedoch seine spätere Ablehnung des Aufführungsangebots durch Erwin Piscator klarstellt, ist Kraus zumindest aus der Geschichte des Dokumentartheaters herauszunehmen, schon weil er Piscators Verständnis des Theaters als szenische Reportage nicht teilte.97 Während das Dokumentartheater auf seinem Höhepunkt in den 60er Jahren seine Geltung an das Kriterium der Tatsachenwahrheit bindet und eine politische Aufklärung über Ereignisse und Zusammenhänge bezweckt,98 steht für Kraus die Selbstverständlichkeit einer Grenze zwischen Faktizität und Fiktionalität in Frage. In diesem Zusammenhang weist Norbert Ruske darauf hin, die in den Szenen dokumentierten historischen Vorgänge erhielten dadurch eine »neue, eigene Aussagekraft«, dass »in ihnen die Wirklichkeit perspektiviert wiedergegeben und satirisch entlarvt« werde.99 Walter Dietze betont auch, dass es bei der Krausschen Montage von Dokumenten primär gar nicht darauf ankomme, »[…] ereignishaftes Geschehen sichtbar zu machen, sondern Äußerungen über dieses Geschehen, also auf einer Ebene gestalterisch zu wirken, auf der nicht bloße Reproduktion, sondern Reproduktion der Reproduktion betrieben« werde.100 Hier erkennt Dietze, dass die als so dokumentarisch erscheinenden Aussagen in Kraus’ Stück in Wirklichkeit, ähnlich wie bei einem fiktionalen Werk, selbstreferentiell sind.101 Es ist jedoch fragwürdig, von dieser Perspektivierung bzw. gestalterischen Wirkung auf eine Suche nach der »ideale[n] Entsprechung von Sprache und bezeichnetem Sachverhalt«102 bzw. der »Sprachmetaphysik«103 zu schließen. Denn die von Kraus in einen neuen Kontext versetzten Worte laufen nicht etwa auf die Konstruktion 93
Timms, S. 510, 519. Lensing, in: Kuhn / Wright, S. 100. 95 Da heißt es: »Das Dokument ist Figur. […]« (Bd. 10, 9). 96 Fähnders, in: Weimar, S. 383. 97 Hawig, S. 44, 48 ff. 98 Saße, in: Weimar, S. 386. Saße selbst sieht Kraus als Vorläufer des Dokumentartheaters im deutschsprachigen Raum an (S. 387). 99 Ruske, S. 24. 100 Dietze, in: Philologica Pragensia, S. 71. 101 s. dazu auch Scheichls Feststellung, die Anordnung der Katastrophen in diesem Drama sei eher vom rhetorischen Prinzip der Klimax bestimmt als von historischem Interesse; s. Scheichl, in: Interpretationen, S. 229. 102 Ruske, S. 46. 103 Dietze, in: Philologica Pragensia, S. 72. 94
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einer anderen, werkimmanenten Realität mit einem eventuell ontologisch idealisierten Anspruch hinaus. Wie Reiner Niehoff bemerkt, wird bei Kraus vor allem auf die Umkehrung aufmerksam gemacht, darauf, dass das Ereignis nicht vor dem Text existiert, sondern dessen Produkt ist, Simulation.104 Dementsprechend wird der Prozess der Ausübung jener Macht der Sprache szenisch arrangiert, der zufolge die so genannte faktische »Realität« hervorgebracht wird. Solange aber dies mit dem Krieg als übermäßigem Zerstörungsakt synchron der Fall ist, neigt diese Macht symptomatisch dazu, der Gewalt gleichzukommen. b) Gegen die Anästhesie beim »tragischen Karneval« Als typisches Beispiel für den oben geschilderten Sachverhalt können Szenen angeführt werden, in denen die Schriftstellerin und Fotografin Alice Schalek, die, als einzige Kriegsreporterin im Ersten Weltkrieg, für die Neue Freie Presse zahlreiche Feuilletons schrieb, durchgängig als »die Schalek« auftritt. Diese ironisische Nennung ihres wirklichen Namens liegt durch die Kenntnis davon nahe, dass sie den Krieg immer wieder, oft theatermetaphorisch, feierte, indem sie z. B. in dem Feuilleton ›Kriegsbilder aus Tirol. An der Dolomitenfront‹105 folgendes schrieb: Wir kommen gerade recht. Denn eben beginnt ein Schauspiel, das keines Künstlers Kunst spannender, leidenschaftlicher gestalten könnte. Jene, die daheim bleiben, mögen unentwegt den Krieg die Schmach des Jahrhunderts nennen – hab’ ich’s doch auch getan, solange ich im Hinterlande saß – jene, die dabei sind, werden aber vom Fieber des Erlebens gepackt, das wohl durch alle Jahrtausende hindurch noch jeden Kämpfer erfaßte und das vielleicht eine der Ursachen ist, aus denen trotz aller Greuel und Röte doch immer wieder der Krieg erwächst.
Aus diesen Sätzen komponiert Kraus nun folgende Szene, in der sein Umgang mit authentischem Textmaterial augenfällig wird: Der Offizier (schreiend): Ducken! (Die Schalek duckt sich.) Die drüben wissen ja nicht, wo wir Beobachter sitzen, ein Stück Nase kann uns verraten. (Die männlichen Mitglieder des Kriegspressequartiers greifen nach ihren Taschentüchern und halten sie vor.) Die Schalek (beiseite): Feiglinge! (Die Batterie beginnt zu arbeiten.) Gott sei Dank, wir kommen gerade recht. Jetzt beginnt ein Schauspiel – also jetzt sagen Sie mir Herr Leutnant, ob eines Künstlers Kunst spannender, leidenschaftlicher dieses Schauspiel gestalten könnte. Jene, die daheim bleiben, mögen unentwegt den Krieg die Schmach des Jahrhunderts nennen – hab’ ich’s doch auch getan, solange ich im Hinterlande saß – jene, die dabei sind, werden aber vom Fieber des Erlebens gepackt. Nicht wahr Herr Leutnant, Sie stehen doch mitten im Krieg, geben Sie zu, manch einer von Ihnen will gar nicht, daß er ende! Der Offizier: Nein, das will keiner. Darum will jeder, daß er ende. (Bd. 10, 188 f.)
104
Niehoff, S. 219. Schalek (den 8. September 1915).
105
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In ein Gespräch mit der fiktionalen Rolle eines Offiziers inmitten der Schlacht durch Hinzufügung mehrerer erfundener Worte umgestaltet,106 wird hier die hinter dem Originaltext verborgene Grausamkeit herausgestellt, mit der die Reporterin ihre kriegsverherrlichende Phantasie entfaltet, ohne die wirkliche Situation der Soldaten, in der es um Leben und Tod geht, überhaupt wahrzunehmen. Dass mit dieser hetzerischen Einstellung zum Krieg naturnotwendig nicht nur eine Gleichgültigkeit gegenüber den Landsleuten, sondern auch ein feindseliges Vorurteil gegenüber Ausländern einhergeht, veranschaulichen dann die Szenen, wo »die« Schalek das fröhliche Lachen und die Gastfreundschaft von ein paar serbischen Frauen im eroberten Belgrad »ein irritierendes Rätsel« (Bd. 10, 287)107 nennt oder wo sie auf die Erzählung eines Fregattenleutnants von seiner Bombardierung Venedigs mit dem Ausruf »Brav!« (Bd. 10, 306)108 reagiert. Diese hetzerische Verherrlichung des Kriegs, die viel zur Inszenierung eines sprachlichen ›Kriegstheaters‹ beigetragen hat, findet in der Szene einen symbolischen Widerhall, in der »die Schalek«, von Offizieren umgeben, über ihre Erfahrung des Elends im Graben sowie das luxuriöse Essen im Quartier einen langen Monolog führt und dazu den Selbstkommentar gibt: »– solche Kontraste gibt’s nur an der Front!« (Bd. 10, 448).109 Danach fangen die Offiziere plötzlich an, nach im Drama selbst abgedruckten Noten im Chor zu singen, ein Lied, in dem eine Schalek-Rede rekapituliert wird.110 Durch diese Szenen hindurch bewährt sie sich schließlich als »eine einprägsame satirische Figur« (F 423 / 25, 18), wie sie Kraus einmal genannt hat. Sie möge »zur Erbauung der Nachwelt« fortleben, indem sie »d a s S c h a u s p i e l e i n e r E n t a r t u n g « biete, das »[…] unsere besondere kulturelle Situation als eine vor dem übrigen Europa weit avancierte zeig[e]« (F 423 / 25, 18). Unter Berufung auf eine Journalistin kommt hier nämlich ein ›Theater‹ der »ge-
106 Die Szenen mit ›der Schalek‹ bestehen meistens aus derartigen Zitaten, wobei oft zwei oder mehr Feuilletons als Quelle für eine Szene gebraucht werden (oder auch umgekehrt), indem daraus immer auszugsweise, jedoch fast originalgetreu (ohne große semantische Änderung) und meistens der originalen Reihenfolge der Worte nach zitiert wird. Die Rede ihrer Gesprächspartner ist entweder Erfindung oder Wiedergabe aus dem Original (Bd. 10, 189). Ihre originalen Worte werden auch zur Bühnenanweisung bearbeitet (Bd. 10, 287). 107 Hier ist das originale Wort im Genitiv (im Feuilleton ›Stadt und Festung Belgrad nach der Einnahme‹ vom 23. Oktober 1915) geändert und umgesetzt. Die damit eng zusammenhängende Episode um »Eingemachtes« (Bd. 10, 287), das im Original zu Hause einer serbischen Frau angeboten wird, spielt im Drama auf der Straße und ist zusätzlich mit einer ironischen Anspielung auf die Entferntheit Schaleks vom häuslichen Bereich versehen. 108 Diese Szene beruht auf dem Feuilleton ›Krieg in den Lüften und Gewässern‹ vom 19. Januar 1916. Dort findet sich der Ausruf »Brav« nicht. 109 Die Quelle dieser Szene stellen drei Feuilletons aus der langen Reisebeschreibungsserie ›Bei der Isonzoarmee‹ vom 4. April bis 15. September 1916 dar. Das hier zitierte Wort Schaleks steht buchstäblich im Endteil. 110 Dieses Lied sei eines der nach Angabe von Kraus selbst vorbereiteten Lieder und nur am Anfang der Melodie dem Hobellied aus Raimunds Verschwender ein wenig ähnlich; s. dazu Schartner, S. 221.
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schriebenen Schauspielkunst« zustande,111 in dem jener Mechanismus des medialen ›Kriegstheaters‹ von einer Metaebene aus bloßgestellt wird. Hiermit wird bestätigt, dass es sich bei dieser Perspektive einer Metatheatralik weder um eine ›sachliche‹ Dokumentation von Fakten noch um ihre idealisierende Fiktionalisierung handeln kann. Vielmehr steht hier wiederum die performative Macht der Sprache selbst im Mittelpunkt, von der ausgehend die mediale Konstruiertheit der »Realität« sowie der präzise Unterschied zwischen Faktizität und Fiktionalität erst konstatiert werden können. Darüber hinaus zeigt sich nun anhand des triftigen Beispiels der Kriegsjournalistik, dass sich diese Macht der Sprache mit der mörderischen Gewalt von Angriffen auf das menschliche Leben verbinden und dadurch die waffengleiche Einheit von »Wort und Tat« verwirklicht werden kann. Mit dieser verbalen Gewalt konfrontiert Kraus die Gewalt seiner Satire. Diese Gewalt, die von seiner eigenen Ausübung der dichterischen Freiheit herrührt,112 besteht in einer »Gegen-Aneignung oder Reinszenierung«113 zitierter Worte und hat das Potential, perlokutionäre Wirkungen auf der Seite des Lesers herbeizuführen.114 In diesem Sinne ist hier die »iterabilisierende Performativität« satirisch aktiviert, deren Effekt der Rezitation auf die dem Sprechen implizite Struktur von Theatralität angewiesen ist.115 So erweist sich eine derartige Verwendung des Dokuments als dessen ›Monumentalisierung‹, weil auch bei der Kraus schen Beschäftigung mit dem journalistischen Diskurs die Frage danach im Mittelpunkt steht, wer von welchem institutionellen Ort aus spricht.116 Die Nennung der realen Namen erweist dabei den Ernst der ›strafenden‹ Tendenz der Satire, die sich außer den Journalisten jenen Schriftstellern gegenüber, die damals auch in das System der Kriegsfürsorge eingegliedert waren, noch verschärft. So erhebt z. B. in einer Szene im Kriegsarchiv ein Hauptmann intervenierende Ansprüche gegen Literaten wie Robert Müller, Franz Werfel, Felix Dörmann und Hans Müller, deren Rollen ihre originalen Namen tragen (Bd. 10, 337 ff.). Alfred Kerr wird in der Szene karikiert, wo er am Schreibtisch sein »Rumänenlied« in seiner eigentümlichen Diktion dichtet (Bd. 10, 362 f.). Vor 111 Auch bei Lesungen nahm Kraus die Szene mit der Schalek (vorwiegend die mit dem Lied versehene 10. Szene des 4. Aktes) oft auf. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass auf dem Titelblatt des 4. Aktes der Bühnenfassung folgende handschriftliche Eintragung zu lesen ist: »Ich verweise noch insbesondere für den Monolog der Schalek auf die dokumenta rische Echtheit, ja Worttreue des Textes« (Kraus, 2005, S. 262). 112 s. dazu C. III. 1. a) sowie C. III. 1. b). 113 Butler (1998), S. 27. 114 Von einem Beispiel solcher perlokutionären Wirkungen berichtet Timms. Nach ihm brachten Alice Schalek und Hans Müller Kraus »mitten im Krieg wegen ›Ehrenbeleidigung‹ vor Gericht«. Der Bruder von Schalek habe ihn gar zum Duell gefordert. Dabei habe er zur Selbstverteidigung behauptet, er habe mit der Bezeichnung wie »die Schalek« keine Privatpersonen, sondern nur »Symbole« gemeint. Beide Verfahren seien schließlich mit dem Zusammenbruch der Monarchie unter den Tisch gefallen; s. Timms, S. 512. 115 Krämer, in: Krämer, S. 16. 116 s. dazu Althans, in: Wulf u. a., S. 142.
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allem sind es aber Hermann Bahr und Hugo von Hofmannsthal, die am heftigsten Lügen gestraft werden, wenn in einer Szene der Zyniker Hofmannsthal im Kriegsfürsorgeamt den offenen Brief von Bahr an diesen vorliest, in dem der Frontdienst im Vergleich mit dem »alte[n] Weg« patriotischer Helden der Vergangenheit feierlich angepriesen wird (Bd. 10, 146 ff.). Dieser Brief widersprach jedoch insofern den Tatsachen, als Hofmannsthal schon früh »auf sein Drängen und dank mehrfacher Protektion vom Frontdienst befreit worden« war.117 Diese Diskrepanz zwischen dem ›wahren‹ und dem medialisierten Bild monumentalisiert Kraus, indem er hier eine ›Inszenierung‹ vornimmt, unter der Hofmannsthal, peinlich berührt, Rufe des Unwillens ausstößt, während Leopold von Andrian, sein aristokratischer Freund, dessen Baudelaire-Deklamation grotesk mit dem in Bahrs Brief geschilderten Trommelfeuer kontrastiert, ihn in gemütlichem Wienerisch anspricht. Hierin finden wir eine szenische Umsetzung der schon in der Fackel ›zynisch‹ gemachten Bemerkung, Hofmannsthal sei »eines der hervorragendsten Beispiele aus der Armee von Literaten, die zur Verherrlichung von Ereignissen ausgesendet w[ü]rden, welche sie um keinen Preis erleben [wollten], und denen im Krieg »schrecklich viel eingefallen« [sei]« (F 423 / 25, 51). Diese Situation des Umschlags von der Autonomie in die Heteronomie der Kunst, unter der auch die Sprache der Literaten zur Medialisierung der »Ereignisse« mobilisiert werden muss, wird in einem Aufsatz über Schalek so resümiert: In dem schrecklichen Einzelfall der Reporterin jedoch, die dank dem faulen Zauber der Hysterie (der die Menschheit anästhesiert und einzig zu jener aktiven und passiven Standhaftigkeit vor der Maschine befähigt, welche Heldentum heißt und größer ist als Hektors Mut, ders mit keinem Mörser aufgenommen hätte), in der Schreiberin also, die vermöge der antreibenden Gewalt seelischer Unterernährtheit alle Sensationen dieser welthysterischen Zerrüttung erleben kann und der glaubwürdige Gewährsmann dieses Kriegs wird: in dem stärksten Monstrum dieser Ausnahmszeit ist der ganze tragische Karneval enthalten. (F 426 / 30, 36)
Es handelt sich demnach darum, durch die Darstellung eines »Einzelfall[s]« wie dem von Alice Schalek den Blick auf die ganze Situation einer »anästhesiert[en]« »Menschheit« zu eröffnen, worauf mit dem Oxymoron »tragische[r] Karneval« hingewiesen wird. Das Verhalten von Journalisten und Schriftstellern wird hier tatsächlich wie ein Karneval dargestellt, sofern sie die Macht beliebig genießen, durch ihre Worte die Meinung des Publikums zu manipulieren und dadurch Realität zu ›inszenieren‹. Die Existenz dieser Journalisten und Schriftsteller ist jedoch tragisch, weil ihre Wirkung nicht selbständig, sondern erst unter der Oberherrschaft einer mit »dem faulen Zauber der Hysterie« zusammenwirkenden »Maschine« ermöglicht wird und daher jenem blinden Fleck nicht entkommt, den der Satiriker als Spielraum dafür nutzt, ihren Sprechakt des Sagens als ein Zeigen umzuinszenieren. Der Satiriker selbst steht außerhalb der Machtverhältnisse und 117 Sauermann, S. 38. Dieser offene Brief wurde in Wiener und Berliner Zeitungen im August 1914 veröffentlicht, als Hofmannsthal gerade sein neues Amt als Leiter des Pressebüros des Kriegsfürsorgeamts angetreten hatte. Der Brief ist auch zu lesen in: Bahr, in: Bahr, 9 ff.
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gehört einer anderen Ordnung der Macht, die »der antreibenden Gewalt seelischer Unterernährtheit« am Krieg schroff gegenübersteht. Nun müssen wir untersuchen, welche Spur des eigenen Sprechaktes bei dem Satiriker im Drama anzutreffen ist und unter welcher Bedingung er ausnahmsweise überhaupt noch sprechen kann, bis auch er an die eigene Grenze stößt. 3. Anklage und Trauer auf dem ›Schlachtfeld der Sprache‹ a) Das Prinzip einer performativen Antikriegssatire in den Äußerungen des Nörglers Bis zum letzten Abschnitt haben wir umrissen, wie Kraus die Journalisten als manipulierende und das Massenpublikum als manipulierte Typenträger des Sprechaktes in der Kriegszeit gestaltet hat. Für Kraus bezeichnend ist nun, dass er zwischen beiden keine Konfliktbeziehung konzipiert hat: Wie Philip Thomson es formuliert, findet sich in diesem Drama überhaupt keine dramatische Handlung im Sinne von »Entwicklung, Wandel und Auflösung«, ohne die weder eine Tragödie noch Komödie klassischen Typs denkbar ist, sondern nur die »Revuestruktur«, d. h. »eine lose Kette von Szenen«, bei denen »jede einzelne Szene eine satirische Pointe enthält« und »sich die Aufmerksamkeit des Zuschauers oder Lesers eher auf Episoden und episodische Struktur als auf Entwicklung und Fortgang« richtet.118 Diese Entferntheit von der traditionellen Dramaturgie, in der ›große Männer‹ für die Ereignisse Verantwortung tragen, schreibt Edward Timms dem Gedanken »einer Kollektivschuld« zu, der diesem Drama zugrunde liege.119 In welchem genauen Sinne können wir nun diesen Gedanken auffassen, der die Spezifität dieses Dramas in der Tat plausibel zu erklären scheint? Zur Betrachtung dieser Frage gehen wir von dem Sachverhalt aus, dass hier trotz aller Normwidrigkeit doch, wie einige Forscher bemerkt haben, ein Konflikt zu finden ist. Helmut Pfotenhauer spricht z. B. von dem Konflikt der Menschheit mit sich selbst, den sie in diesem Drama austrägt.120 Eine damit vergleichbare Ansicht vertritt Gerhard Melzer, wenn er unter Berufung auf Worte des »Nörglers« schreibt, der tragische Konflikt entwickle sich nicht im Drama, sondern werde in ihm schon vorausgesetzt: Von den Entwicklungsstufen Verwirrung, Konflikt, Lösungsversuche, Untergang zeigt uns der Autor nur das letzte Stadium. Der Konflikt bestand in der Auseinandersetzung ›der Welt mit der Natur‹, eine Auseinandersetzung, bei der die Welt unterlag.121 118
Thomson, in: Hüppauf, S. 206. Timms, S. 514, 542 f. 120 Pfotenhauer, in: Martini u. a., S. 335. 121 Melzer, S. 134. Das zitierte Wort des Nörglers lautet im Original: »Ich habe eine Tragödie geschrieben, deren untergehender Held die Menschheit ist; deren tragischer Konflikt als der der Welt mit der Natur tödlich endet« (Bd. 10, 671). 119
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E. Performativität in Die letzten Tage der Menschheit
Dabei ist freilich zu beachten, dass es in der Textdimension immer auf das Wort einer Figur ankommt, in welcher Weise der Konflikt, ob zwischen der Menschheit und ihr selbst, ob zwischen Welt und Natur, ins Spiel kommt: nämlich hier durch das keiner anderen Figur als eben der des Nörglers. Auch Melzer notiert, dass der Nörgler mit ihm verwandten Personen den Kontrastierungseffekt vollziehe, so dass sich »sein Handlungskonflikt« aus seiner Weltauffassung ergebe.122 Im Zusammenhang damit ist auch die Ansicht zu berücksichtigen, dass er »eine den Zusammenhang stiftende Figur des Dramas«123 sei und sich in dem Punkt ganz anders benehme als die sonstigen Figuren, dass er »[…] das szenisch Vorgeführte mit ›Hilfe der Sprache‹, in ›explizit begrifflichen Formulierungen‹« analysiere, was darauf verweise, dass »hier eine bereits fertige, geordnete Erkenntnis in Sprache gefaßt [werde]«.124 Zu hinterfragen und zu belegen ist aber, ob und unter welchem Aspekt er, der Nörgler, als Konflikterzeuger charakterisiert werden kann. Der Nörgler, der am Ende des Vorspiels erstmals allein aufgetreten ist, erscheint nach seinem dritten Auftritt im ersten Akt meistens zusammen mit seinem Partner, dem »Optimisten«, der das Gespräch mit ihm bis vor dem Ende des fünften Akts immer erneut aufnimmt. Wie seine Benennung andeutet, äußert er im Prinzip fast nur affirmative Meinungen über den Krieg. Etwa: Der Optimist: […] Merken Sie denn nicht, daß eine neue, eine große Zeit angebrochen ist? Der Nörgler: Ich habe sie noch gekannt, wie sie so klein war, und sie wird es wieder werden. Der Optimist: Können Sie noch negieren? Hören Sie nicht den Jubel? Sehen Sie nicht die Begeisterung? Kann ein fühlendes Herz sich ihr entziehen? Sie sind das einzige. Glauben Sie, daß die große Gemütsbewegung der Massen nicht ihre Früchte tragen, daß diese herrliche Ouvertüre ohne Fortsetzung bleiben wird? Die heute jauchzen – Der Nörgler: – werden morgen klagen. (Bd. 10, 86)
Während der Nörgler offensichtlich Kraus’ eigene Worte aus dem Essay ›In dieser großen Zeit‹ nachspricht, ist dem Optimisten die Rolle zugeteilt, die damals unter dem großen Einfluss der kriegszeitlichen Presse stehenden Meinung zu vertreten, wodurch ein Konflikt entsteht, nämlich der zwischen dem »einzige[n]« und den sonstigen Meinungsträgern. Dieser führt jedoch nicht zur entscheidenden Katastrophe, sondern wird zwar schon spannungsvoll, aber auch spielerisch weiterentwickelt, vor allem durch die für Kraus charakteristische Bearbeitung von Redensarten bzw. Phrasen, etwa beim Anblick eines vorbeigehenden Zugs von Rekruten mit grauen Bärten:
122 Melzer, S. 132, 138. Nicht nur in der »Kontrastierung«, sondern auch in der »Steigerung«, die die Personen außer dem Nörgler und seinen Verwandten vollbringen, bestehe die charakteristische Variation des Wiederholten (S. 132). 123 Pfotenhauer, in: Martini u. a., S. 334. 124 Ruske, S. 17. Hier werden die Wendung »Hilfe der Sprache« von Helmut Arntzen und der Ausdruck »explizit begriffliche[ ] Formulierungen« von Silvio Vietta zitiert.
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Der Optimist: Sehn Sie, die rücken ein. Der Nörgler: Und dennoch sind sie nicht Einrückende. Der Optimist: Sondern? Der Nörgler: Einrückend gemachte, wie sie mit Recht heißen. Das Partizipium der Gegenwart allein würde noch eine Willenstätigkeit bekunden und darum muß schon ein Partizip der Vergangenheit dabei sein. Es sind also einrückend Gemachte. Bald werden sie einrückend gemacht sein. (Bd. 10, 253)
Durch die Verweigerung des Partizips Präsens des Verbs »einrücken« im militärischen Jargon bezeugt der Nörgler seine klare Sprachbewusstheit. Nur gezwungenermaßen werde man zum Soldaten, der »einrückt«. Er nimmt das Wort des Optimisten so oft zum Anlass derartiger Sprachkritik, dass der ihn »Stichwortbringer« für seine, des Nörglers, »Monologe« nennt (Bd. 10, 224). Die Bedeutung ihrer Szenen liege aber, so bemerkt Timms, »nicht einfach in den Reden des Nörglers allein, sondern im dramatischen Wechselspiel zwischen zwei widerstreitenden Sehens- und Erlebensweisen«.125 In dem Maße jedoch, wie in ihrem Gespräch die Probleme um die Presse direkter in Frage gestellt werden, verschärft sich der zornige Ton in den Worten des Nörglers, was auf den eigentlichen Konflikt zwischen Kraus und der Presse verweist. Nachdem der Nörgler über die Zurückführung der Kriegsursache auf die Phantasiearmut gesprochen hat, führt er einen pathetischen, fast zwei Seiten langen Monolog, an dem uns die folgende Stelle besonders interessiert: Die Realität hat nur das Ausmaß des Berichts, der mit keuchender Deutlichkeit sie zu erreichen strebt. Der meldende Bote, der mit der Tat auch gleich die Phantasie bringt, hat sich vor die Tat gestellt und sie unvorstellbar gemacht. Und so unheimlich wirkt seine Stellvertretung, daß ich in jeder dieser Jammergestalten, die uns jetzt mit dem unentrinnbaren, für alle Zeiten dem Menschenohr angetanen Ruf »Extraausgabee –!« zusetzen, den verantwortlichen Anstifter dieser Weltkatastrophe fassen möchte. Und ist denn der Bote nicht der Täter zugleich? Das gedruckte Wort hat ein ausgehöhltes Menschentum vermocht, Greuel zu verüben, die es sich nicht mehr vorstellen kann, und der furchtbare Fluch der Vervielfältigung gibt sie wieder an das Wort ab, das fortzeugend Böses muß gebären. Alles was geschieht, geschieht nur für alle, die es beschreiben, und für die, die es nicht er leben. (Bd. 10, 209 f.)126 125 Timms, S. 536. Zu dem Kontrast zwischen diesen beiden Figuren notiert Timms des Weiteren: »Die Sprache des Optimisten ist annähernd die eines gebildeten Sprechers des Deutschen, die des Nörglers dagegen ist betont aphoristisch. Wiederholt antwortet er auf Einwände des Optimisten statt mit logischen Argumenten mit phantasievollen Überzeichnungen. […] Der Optimist setzt in der Sprache des Common sense dem satirischen Argument die Einwände des einfachen Mannes entgegen. Der Nörgler antwortet darauf, indem er dieses Argument noch weiter ausreizt, und das in einer Sprache, die zuweilen so stark aufgeladen ist, daß sie in Verse umschlägt. Dies ist nicht die Sprache rationalen Debattierens, eher die einer tragischen Vision« (S. 536 f.). 126 Diese Passage enthält eine Allusion auf das Wort des Octavio Piccolomini in Schillers Die Piccolomini: »Das eben ist der Fluch der bösen Tat, / Daß sie, fortzeugend, immer Böses muß gebären« (V. 2452 f.); s. Schiller (2000), in: Stock, S. 144.
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In der ersten Hälfte dieser Aussage finden wir den Gedanken variiert, den Kraus früher in einem Aphorismus so formuliert hat: »Die Verzerrung der Realität im Bericht ist der wahrheitsgetreue Bericht über die Realität« (Bd. 8, 229). In der zweiten scheint dann noch einmal der Gedanke im Essay ›In dieser großen Zeit‹ wiederholt zu werden, die Presse habe mehr als die bloße Rolle eines »Bote[n]« bzw. einer »Rede« und Taten würden »berichtet«, ehe sie »verrichtet« würden (Bd. 5, 15 f.). In dieser Situation fand Kraus einen »Vernichtungskrieg« der Menschheit gegen sich selbst (Bd. 5, 15 f.). Darüber hinaus beginnt am Ende dieser Passage ein fast buchstäblicher Auszug aus Kraus’ Aphorismus über den »Spion« (Bd. 8, 424), den wir bereits erwähnt haben.127 Von Belang ist dabei auch, dass diese Worte als Kommentar zu den vorangehenden sowie nachfolgenden Szenen zu lesen sind. Diese Struktur einer Selbstbezüglichkeit hat einige Forscher dazu veranlasst, den Nörgler als »literarisches Spiegelbild des Autors«,128 als »Reflexionsinstanz im Drama«129 bzw. als »Epiker« zu betrachten, der die Szenen deute.130 Von derartiger Auffassung des Nörglers ist die des ganzen Dramas beeinflusst worden. So sah z. B. Emil Sander den Nörgler als Repräsentanten eines ›epischen Ichs‹ an und sprach dem Drama das Etikett als Tragödie ab, um es als »ein dramatisches Epos« umzubenennen.131 Diese Bezeichnung fand Widerhall, als Leo A. Lensing den Gebrauch von Fotoprojektionen als desillusionierende Dokumente sowie epische Unterbrechungen im Krausschen Drama thematisierte132 oder Radko Pytlík von der Voraussetzung ausging, es sei ein »breite[s] Epos«, das Kraus als Drama im Geist der Persiflage konzipiert habe.133 Für diese drei Standpunkte ist die Berufung auf die damalige Situation um das Theater gemeinsam, in der unter dem Einfluss des Expressionismus sowie dem Einsatz neuer Medien die antiillusionistische Tendenz verstärkt wurde und dementsprechend die Theorie einer ›Episierung des Dramas‹134 entstand.
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s. dazu E. II. 2. Melzer, S. 7. 129 Ruske, S. 49. 130 Arntzen (1971), in: Arntzen, S. 212. 131 Sander, S. 253, 259. Den Terminus des »epischen Ichs« zitiert Sander aus Peter Szondis Theorie über die Episierung des Dramas (s. Anm. 134). 132 Lensing, in: The German Quarterly, S. 493. 133 Pytlík, in: Pannonia, S. 34. 134 Die Episierung des Dramas, so fasst Sander die Theorie von Peter Szondi zusammen, entstehe als notwendige Folge der Aufhebung des zwischenmenschlichen Bezugs angesichts der Durchkapitalisierung durch die wachsende Isolierung der Individuen. Dabei brächen die Alleinherrschaft des Dialogs sowie das dramatische Handeln zusammen. Stattdessen werde über die Gründe und Folgen dieser Aufhebung des Bezugs stoisch oder klagend reflektiert, indem sich das Drama auf eine außerdramatische Wirklichkeit als auf historische oder soziale Tatbestände beziehe, diese zitiere oder variiere (Sander, S. 248). 128
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b) Der »Nörgler« als halbfiktiver Agent der Heldin Sprache Es ist jedoch problematisch, den Nörgler ohne weiteres mit Kraus zu identifizieren und aus diesem Grund alle Abweichungen dieses Dramas vom Dramen standard auf eine Episierung zu reduzieren. Denn es gibt zwar in diesem Drama mehrere Hinweise auf die Möglichkeit, dass der Nörgler als der Autor Kraus selbst angesehen werden könnte,135 aber wir sollten es als ein frühes Beispiel der metafiktionalen Methode betrachten, die im modernen Drama seit Luigi Pirandello Sei personaggi in cerca d’autore (Sechs Personen suchen einen Autor) [1921] nicht selten zu finden ist136 und mit der metatheatralen Grundstruktur dieses Dramas im engen Zusammenhang steht, zumal das Bild von Kraus selbst schon als inszenierte Satiriker-Figur von einer gewissen Künstlichkeit nicht frei ist.137 Darüber hinaus weist Timms darauf hin, dass »die Rolle des Nörglers im Zuge der Umarbeitung bedeutend geändert und erweitert« worden sei und diese Gestalt schließlich kein »genaues Abbild des Publizisten Kraus und seiner Einstellungen«, sondern »eine zutiefst literarische Gestalt« sei und bleibe.138 Für die Gattungsfrage ist aber schon die Tatsache entscheidend, dass in der Bühnenfassung dieses Dramas das Gespräch zwischen Nörgler und Optimisten als »eine Art Chor«,139 wenn auch »nicht ohne Bedauern«, völlig beseitigt wurde140: Die grundsätzliche Darstellungsart dieses Dramas bildet demnach nicht der epische Bericht, sondern
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So sprechen z. B. ein »Realitätenbesitzer« sowie ein »Spekulant« miteinander vom »Fackelkraus« und erschrecken vor dem »Zufall«, dass gerade da der Nörgler vorbeigeht (Bd. 10, 177 ff.). An anderen Stellen werden die »Schrift gegen den Heineismus« (Bd. 10, 201) und die Lesung aus dem Essay ›Ein Kantianer und Kant‹ (Bd. 10, 354), den Kraus wirklich gelesen hat, dem Nörgler zugeschrieben. Er spricht überdies auch von seinem »Drama dieses Untergangs« (Bd. 10, 430) sowie seinem »Weltkriegsdrama« (Bd. 10, 502), von seiner »Tragödie«, »[…] deren untergehender Held die Menschheit« sei (Bd. 10, 671). 136 Schlueter, S. 15 f. 137 s. dazu C. III. 4. 138 Timms, S. 531 ff. Timms zufolge vermehrten sich zwischen der Akt- und der Buchausgabe die Nörgler / Optimist-Gesprächszenen von dreizehn auf vierundzwanzig und wurden damit um etwa vierzig Prozent erweitert. Wichtig ist dabei, dass zahlreiche Szenen, die den Standpunkt des Nörglers von 1914 oder 1915 wiedergeben, »in Wirklichkeit 1920 oder 1921 verfaßt« worden seien. Dazu vermutet Timms, dass »[…] nur etwa ein Drittel des vom Nörgler gesprochenen Dialogs auf Textgrundlagen in der Fackel von 1914–1918« beruhe und es gar nicht so sicher sei, dass »Kraus – wenn die Zensur nicht gewesen wäre – öffentlich so radikal Position bezogen hätte, wie der Nörgler es in seinen Äußerungen [tue]« (S. 531 ff.). 139 Timms, S. 531. 140 Kraus (2005), S. 231. Früh bezieht sich hier auf Kraus’ spätere Notiz zur Bühnenfassung: »Die Funktion des Nörglers mußte dem Zweck der Bearbeitung fast zur Gänze geopfert werden; die Gestalt ist bloß an zwei Stellen monologisch und einmal in stummer Gegenwart angedeutet, befreit von dem optimistischen Stichwortbringer, dessen Geistigkeit in den Gesprächen zwischen dem Abonnenten und dem Patrioten erhalten blieb« (F 834, 20). In der Bühnenfassung finden sich die hier angegebenen Stellen in der achten Szene des zweiten Aktes, in der fünfzehnten Szene des dritten Aktes sowie in der zehnten Szene des fünften Aktes.
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doch die dramatische Figurenrede.141 Bei Kraus wird vielmehr die Ungültigkeit des Epos in der Massenmedienzeit betont, wenn er über eine der typischen Phrasen der damaligen Kriegshetze so schreibt: Daß der »Heldentod« einmal eine Zeitungsrubrik werden könnte, hat sich keiner jener Helden träumen lassen, deren Andenken auf die mündliche Überlieferung, wenn’s gut ging, auf ein Epos angewiesen war. Unsere Zeit erhebt zu dem neuen Inhalt auch noch auf die alten Embleme Anspruch. »Maschinenrisiko« wäre ihr zu farblos. Und dennoch träte hier wenigstens der individuelle Anteil am allgemeinen Schicksal immer wieder hervor, aus Rubrik und Mechanik immer wieder vor unser Gefühl. Kein Tod aber verträgt die Klischierung weniger als der Heldentod, weil er in sich der Vorstellung einer epidemischen Häufigkeit widerstrebt. Wie häßlich, daß der Lorbeer dort jetzt wachsen soll, wo die Reklame wuchert! (Bd. 8, 385 f.)
Für Kraus bedeutete es nichts als »hässlich« betrügerische Klischierung, dass in der damaligen Presse der Tod der Soldaten mit Hilfe eines der »alten Embleme« häufig als »Heldentod« bezeichnet wurde. Als Grund dafür können wir uns hier auf die Umstände berufen, dass die Toten auf dem Schlachtfeld genauso wie die Zeitungsleser im Hinterland vermasst worden waren: Die Helden der Antike und ihre kleine Urgemeinschaft wurden durch anonyme Soldaten und ihre industrialisierte Großnation ersetzt. Was hat er dann in solch einer Zeit thematisieren können, in der er weder schriftlich in der Fackel noch mündlich bei Lesungen in der Lage war, über die Heroen in klassischer Manier zu dichten? Einen Anhaltspunkt für die Beantwortung dieser Frage können wir in einem Gespräch zwischen dem Nörgler und dem Optimisten finden, in dem es sich, im Anschluss an eine Überprüfung der Partizipform des Verbs »einrücken«, wiederum um die Diskrepanz zwischen der Phrase und der Wirklichkeit handelt: Der Nörgler: […] Ich sehe einrückend Gemachte und spüre, daß es gegen die Sprache geht. An Drahtverhauen hängen die blutigen Reste der Natur. Der Optimist: Wirklich also, mit Grammatik wollen Sie den Krieg führen? Der Nörgler: Das ist ein Irrtum, mich interessiert kein Reglement, nur der lebendige Sinn des Ganzen. Im Krieg gehts um Leben und Tod der Sprache. Wissen Sie, was geschehen ist? Schilder und Schilde sind nicht mehr zu unterscheiden und alle, die nur ein Schild und einen Verdienst gehabt haben, werden dereinst ein Verdienst und einen Schild haben. So mischen sich die Sphären und die neue Welt ist blutiger als die alte, weil sie den furcht baren neuen Sinn furchtbarer macht durch die alten Formen, denen sie geistig nicht entwachsen konnte. (Bd. 10, 255)
Hier ist mit dem zweifachen Sinn vom »Schild« sowie »Verdienst« ein chiastisches Wortspiel durchgeführt, das eine Prognose über das Ergebnis des Krieges darstellt, nach welcher die Verbindung von »Schild« als gewerblichem Etikett und 141
s. Weimar, in: Weimar, S. 361 f. ›Diegesis zu sein‹ unterscheide, so fasst hier Weimar die poetische Theorie von Aristoteles zusammen, das Epos von der Tragödie, und dement sprechend könne das poetische Nachahmen auf zweierlei Weise geschehen, entweder als ›erzählerische‹ bzw. ›epische Nachahmung‹ oder als ›dramatische‹ bzw. ›tragische Nach ahmung‹, bei der der Dichter die Rede einer Figur ›imitiere‹.
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»Verdienst« als Einkommen durch die von »Verdienst« als verdienstvolle Tat und »Schild« als Wappen abgelöst wird. Wenn wir außerdem das Schild im Sinne des Signifikanten ›Wort‹ verstehen, ist hier auch die Anspielung auf den Sachverhalt im Ersten Weltkrieg abzulesen, dass die Sprache das menschliche Leben nicht mit dem ›Schild‹ deckte, wie in einem vorangehenden Gespräch erläutert wird: Der Optimist: Sind Sie denn in der Lage, einen faßbaren Zusammenhang zwischen der Sprache und dem Krieg herzustellen? Der Nörgler: Etwa den: daß jene Sprache, die am meisten zu Phrase und Vorrat erstarrt ist, auch den Hang und die Bereitschaft hat, mit dem Tonfall der Überzeugung alles das an sich selbst untadelig zu finden, was dem andern zum Vorwurf gereicht. (Bd. 10, 201)
Indem Kraus durch seine Satire als ›Krieg‹ gegen die Presse solch eine Sprache im Zustand der tödlichen Erstarrung wieder zu beleben versucht, entsteht ein konfliktreiches ›Drama‹ vom »Leben und Tod der Sprache«. Auf diesem Schlachtfeld der Sprache rückt jedoch »kein Reglement«, sondern »nur der lebendige Sinn des Ganzen« in den Vordergrund, den wir nun als performativen Zusammenhang zwischen der Macht der Sprache und der Wirklichkeit bzw. dem menschlichen Leben, auf das in der oben angeführten Passage mit dem Bild der »blutigen Reste der Natur« (Bd. 10, 255) hingewiesen wurde, verstehen können. Angesichts der Grenzsituation des totalen Kriegs, die den negativen Pol der Beziehung zwischen Sprache und Menschheit pointiert, stellt die Sprache der Krausschen »Tragödie« keinen Träger der Handlung dar, sondern wird als solche selbst die ›Heldin‹, deren Konflikt in den jeweiligen Details der satirischen Gegeninszenierung des »Kriegstheaters« zu finden ist. In dieser Struktur der Metatheatralik bzw. Metafiktion tritt der Nörgler als halbfiktionaler Agent des Autors sowie strategischer Halt für die satirische Gegenmacht der Sprache auf, indem er sagt und auch zeigt, wie diese Heldin der Sprache mit der Menschheit als »untergehende[m] Held[en]« (Bd. 10, 671) zusammen die Tragödie in einem performativ erneuerten Sinne ausmacht. Als Quelle dafür sehen wir den langen letzten Monolog des Nörglers in der vorletzten Szene des fünften Aktes an, den dieser selbst sein »Manifest« (Bd. 10, 681) nennt. Darin gibt er seiner Anklage gegen die Presse endgültigen Ausdruck: Am Ende war das Wort. Jenem, welches den Geist tötet, blieb nichts übrig, als die Tat zu gebären. Schwächlinge wurden stark, uns unter das Rad des Fortschritts zu bringen. Und das hat sie vermocht, sie allein, die mit ihrer Hurerei die Welt verdarb! Nicht daß die Presse die Maschinen des Todes in Bewegung setzte – aber daß sie unser Herz ausgehöhlt hat, uns nicht mehr vorstellen zu können, wie das wäre: das ist ihre Kriegsschuld! (Bd. 10, 677)
Durch die parodistische Umformung des Einleitungswortes im Johannesevangelium142 wird angedeutet, dass es hier um eine Variation des Jüngsten Gerichts 142 In der Lutherschen Übersetzung heißt die betreffende Stelle: »Im Anfang war das Wort […].« s. dazu Die Bibel, S. 95.
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E. Performativität in Die letzten Tage der Menschheit
geht, bei der über die »Kriegsschuld« der Presse, nämlich ihre Tötung des Geistes sowie Aushöhlung des Herzens durch das Wort geurteilt wird, das nur die Tat gebären könne.143 Dabei führt der Nörgler für die Toten das Wort, die er immer wieder als »ihr« anspricht und zur Aufstehung ermutigt, und zwar »mit der unvergeßlichen Maske, zu der eure Jugend von dieser Regie des Wahnsinns verdammt ward« (Bd. 10, 679). Darüber hinaus gesteht er sogar, dass er – hier deutet der Autor wiederum seine Identität mit ihm an – das ganze Drama als ihre R ache entworfen habe: Nicht euern Tod – euer Erlebnis will ich rächen an jenen, die es euch aufgebunden haben! (Bd. 10, 680)
Hier wird deutlich, dass das Grundmotiv dieses Dramas nicht nur in der zornigen Anklage gegen die Presse, sondern in der Trauer über die Kriegsopfer besteht, für die stellvertretend z. B. ein toter Soldat auftritt. Der Nörgler liest dessen Feldpostbrief dem Optimisten vor (Bd. 10, 623 ff.).144 Der Nörgler hat mit den Toten den Standort gemeinsam, der vom Bann der Presse befreit ist, und ihm wird die Aufgabe eines Zeugen zuteil, indem er ihnen nicht »intentional« wie die Journalisten, sondern »responsiv« gegenübersteht: Die Koinzidenz des satirischen Affekts der Indignation und der Wahrnehmung im Sinne vom »Entgegenkommenlassen«.145 In der Tat betont er den Anteil der sinnlichen Elemente an seinem Konzept wie folgt: Hätte man die Stimme dieses Zeitalters in einem Phonographen aufbewahrt, so hätte die äußere Wahrheit die innere Lügen gestraft und das Ohr diese und jene nicht wiedererkannt. (Bd. 10, 681)
Hier findet sich aber auch die Grenze, auf die er als ein Mensch, der zwar anklagen, jedoch keine Richterposition einnehmen kann, unvermeidbar stoßen muss. Er muss schließlich sogar seine Mitschuld bekennen und um Erhörung zu einer göttlichen Autorität beten: Ich habe die Tragödie, die in die Szenen der zerfallenden Menschheit zerfällt, auf mich genommen, damit sie der Geist höre, der sich der Opfer erbarmt, und hätte er selbst für alle Zukunft der Verbindung mit einem Menschenohr entsagt. Er empfange den Grundton dieser Zeit, das Echo meines blutigen Wahnsinns, durch den ich mitschuldig bin an die-
143 s. dazu Die Bibel, S. 180: »Denn der Buchstabe tötet, aber der Geist macht lebendig.« (Der zweite Brief Paulus an die Korinther. 3. 6.). Im Zusammenhang mit diesem Bibelwort ist von Interesse, dass bei der Sprachauffassung von Kraus, deren Nähe zum hermeneutischen Verfahren wir betrachtet haben, die Materialität des Worts eine positive Angelegenheit darstellt; s. dazu C. III. 2. b) sowie E. III. 1. 144 Als biographische Tatsache ist in diesem Zusammenhang zu erwähnen, dass gegen Ende des Ersten Weltkrieges drei junge Freunde von Kraus nacheinander auf dem Feld gefallen sind: Der Kunsthistoriker Franz Grüner, der Dichter Franz Janowitz und Kraus’ Neffe Stefan Fridezko; s. die Gedichte ›Meinem Franz Janowitz (getötet am 4. November 1917)‹ (F 484 / 98, 115) sowie ›Meinem Franz Grüner (getötet am 19. Juni 1917)‹ (F 484 / 98, 126). 145 Mersch (2002), Ereignis und Aura, S. 28.
II. Erscheinungsformen der performativen Metatheatralik
299
sen Geräuschen. Er lasse es als Erlösung gelten! (Von draußen, ganz von weitem her, der Ruf: – – bee!) (Verwandlung) (Bd. 10, 681)
Durch diese rituelle Angewiesenheit auf den »Geist« verbindet sich die Performativität der antikriegerischen Metatheatralik mit dem Potential der Performance in diesem Drama, das selbst nichts anderes als Kraus’ »geschriebene Schauspielkunst« exemplifiziert. Beachtenswert ist dabei auch, dass der Nörgler im ersten Akt zuerst als eine Figur auftritt, die keine Theorie erklärt, sondern als Autofahrer agiert, indem er auf dem Weg in die Schweiz an der Grenzkontrolle mit Soldaten verhandelt (Bd. 10, 84).146 Auf seinen letzten Auftritt folgen dann nur die Szenen, in denen die Figuren ihre Schuld dadurch eingestehen, dass sie mehr zeigen als sie sagen (Bd. 10, 682 ff.). Damit geht auch die Versinnlichung der Perspektive einher, unter der er die »Menschenopfer« aus dem Grund »tragisch« nennt, weil »sie eine unbekannte Schuld zu büßen« gehabt hätten« (Bd. 10, 224). In welcher Weise führt da diese »Kollektivschuld« zur Erfüllung der »Tragödie« der Menschheit? Betrachten wir zum Schluss das Verfahren, mit dem Kraus das Thema vom Gottesgericht mit seiner Sicht der Sprachproblematik verbindet. 4. Neukonzeption der »Tragödie« durch eine performative »Korporalisierung« des Welttheaters a) Kraus’ Versuch einer Eingliederung der Sprache ins Kraftfeld sinnlicher Ganzheit Für den Schlussteil der Letzten Tage der Menschheit bezeichnend ist seine Zweistufigkeit: er besteht zunächst aus der letzten Szene des fünften Aktes, die in der Bühnenfassung auch den Schluss des ganzen Dramas bildet. In der Aktsowie Buchausgabe folgt darauf außerdem der Epilog, der als ›Die letzte Nacht‹ betitelt und schon zu Lebzeiten von Kraus ausnahmsweise einige Mal aufgeführt wurde.147 Dem Titel des Dramas entsprechend, wird hier die »Menschheit« mit ihrem katastrophalen Ende konfrontiert, indem zwischen dem orgiastischen »Liebesmahl« am Schluss des fünften Aktes und der daran anschließenden Voll streckung der Strafe für die Sündhaftigkeit der Menschheit im Epilog ein schrof-
146 Der Nörgler spricht z. B. mit einem Portier auf einem Wiener Bahnhof über die Verspätung eines Zuges (Bd. 10, 431 f.), oder er unterbricht das Gespräch von patriotischen Café besuchern, wie das des alten Biach über die Kriegslage, zweimal durch seinen kurzen Ausruf »Pardon –« (Bd. 10, 94 f.). Vier seiner Reden bestehen aus Versen, darunter einmal während seiner Lesung (Bd. 10, 65 f., 285 f., 385, 420 f.). Am Anfang eines Gesprächs mit dem Optimisten verrichtet er auch ein kurzes Gebet (Bd. 10, 554 f.) und spricht in einer Versrede Gott an (Bd. 10, 65 f.). 147 s. dazu E. I. 3. Aus dem Epilog wurde schon früher, Ende 1917 und Anfang 1918, gelesen. Er wurde dann als erstes »Sonderheft der Fackel« im Dezember 1918, mit dem wirklichen »Epilog« des Ersten Weltkriegs synchronisiert, veröffentlicht.
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E. Performativität in Die letzten Tage der Menschheit
fer Kontrast besteht. Unter dieser Situation des Weltuntergangs, deren Schema dem biblischen Motiv des Jüngsten Gerichts bzw. der Apokalypse entlehnt ist,148 sprechen nun mehrere Figuren in Versform, die anklagenden Kriegsopfer in Versen der klassischen Tragödie, während die Militärs und die Journalisten, einen Marschrhythmus skandierend, schlecht gereimte Verse sprechen.149 Bis zu dieser Stelle sprechen die Figuren meistens normale Prosa. Dieser Umbruch des Stils verstärkt die ernste Spannung dieser Szenen, in denen Gericht über die Menschheit von »höheren Richtern«150 gehalten wird. Darüber hinaus verschärft sich die Abhängigkeit von Musik, Bild und filmischer Imagination in so hohem Maße, dass die Sprache auch ins Kraftfeld einer sinnlichen Ganzheit eingegliedert zu werden scheint. In der Szene des »Liebesmahls« in einem »Korpskommando« z. B., wo die »dem Zuschauer zugekehrte Wand des Saals« von dem »Kolossalgemälde »Die große Zeit«151 ausgefüllt« (Bd. 10, 682) sei und die Musikkapelle das Operettenlied ›Der alte Noah hats doch gewußt, die schönste Boa wärmt nicht die Brust‹152 spielt, versuchen der österreichische General und der preußische Oberst betrunken, ihre Solidarität durch eine passende Hintergrundmusik zu bekräftigen: Der General: Meine Herrn – wir sind stolz – daß wir – Schulter an Schulter mit unseren kampfgestählten Bundesgenossen – in schimmernder Wehr – meine Herrn, ich trinke auf die Nibelungentreue – in diesem Bündnis – das s’ jetzt ausgebaut hab’n – (BravoRufe) und – und – Der preussische Oberst: Vertieft! (Hoch- und Hurra-Rufe. Die Musik spielt die »Wacht am Rhein« und hierauf »Heil dir im Siegerkranz«.) Ich danke Ihnen meine Herrn – ich danke Ihnen! Aber nu mal wieder ohne feierlichen Klimbim wenn ich bitten darf. Die Wonnejans heben wir uns für den Tach des Endsiechs auf. Jetzt mal wieder eins eurer köstlichen Österreicherlieder – von eurem prächtigen Lehar, der uns an der Westfront so viel Freude jebracht hat. (Bravo-Rufe.) Der General: Spielts »Sag Schnucki zu mir«! Der preussische Oberst: Schnuckii – was ist denn das? Also Schnuckii, famos! (Die Kapelle intoniert dieses Lied.) (Bd. 10, 692)
In dieser Passage wird auf mehrfachen Ebenen Musik gespielt: Auf der stofflichen Ebene handelt es sich um ein Fest der militärischen Führerschaft, für des-
148
Über diesen Punkt scheinen die Forscher einig zu sein; s. Dietze, in: Philologica Pragensia, S. 77 sowie Timms, S. 516 f. 149 Pfotenhauer, in: Martini, S. 336. Zum Beweis führt hier Pfotenhauer das Wort des Nowotny von Eichensieg an: »[…] Dem gemeinen Mann / tu ich an, was ich kann. / Gott weiß es allein, was liegt daran. […]« (Bd. 10, 743). 150 Pfotenhauer, in: Martini, S. 336. 151 Dieses Gemälde von Ludwig Koch habe Kraus im Schaufenster eines Möbelgeschäfts am Kärntnerring gesehen (F 445 / 53, 117); s. dazu Lensing, in: The German Quarterly, S. 489. 152 Dieser »langsam[e] Marsch« stammt aus der Operette Die Faschingsfee (Musik: Emmerich Kálmán. Text: Rudolf Österreicher und Alfred Maria Willner); s. dazu Schartner, S. 210 f.
II. Erscheinungsformen der performativen Metatheatralik
301
sen Stimmung die Musik sorgt.153 Bei dessen lebendiger Beschreibung spielt auf der stilistischen Ebene auch die klanggemäße Wiedergabe des Berliner sowie Wiener Dialekts der Figuren mit. Für die Effizienz dieser Methode spricht, dass auf der thematischen Ebene die Verantwortungslosigkeit der Kommandeure sowie der mit ihnen zusammenwirkenden Kriegsreporter aufgezeigt wird, z. B. an deren Vorliebe für Lieder mit populären, in ihrer Lustigkeit mit dem Ernst des Krieges schroff kontrastierenden Melodien. Für solche Szenen finden sich in diesem Drama mehrere Beispiele. Der deutsche Schriftsteller Ludwig Ganghofer tritt z. B. in Tiroler Volkstracht »jodelnd« auf und singt stolz über seine bevorzugte Position, die ihm eine Zusammenkunft mit dem deutschen Kaiser Wilhelm II. ermöglicht (Bd. 10, 167 ff.). Ein ähnliches Beispiel zeigen der österreichische Journalist Julius F. Hirsch sowie der österreichische Schriftsteller Roda Roda mit ihren parodistischen Liedern (Bd. 10, 271 ff.).154 Oder: Nach einem langen Monolog Alice Schaleks rekapitulieren die Offiziere den Inhalt mit einem Lied (Bd. 10, 448 ff.), und sogar der österreichische Kaiser Franz Josef singt »schlafend« ein Couplet (Bd. 10, 518 ff.).155 Während die Musikzitate aus Hetzliedern, die auch Kinder in der Volksschule singen müssen (Bd. 10, 101 ff.), auf ihre Funktion als Mittel der Volksmobilisierung aufmerksam machen, spielt die Annahme der schamlosen Musiklust besonders der militärischen Führerschaft auf ihre un bewusste Sündhaftigkeit an, die wegen ihrer unmittelbaren Beziehung zum Krieg als um so schwerwiegender betrachtet werden muss.156 Hier können wir das Schaffensprinzip, das Kraus im Essay ›Grimassen über Kultur und Bühne‹ der Offenbachschen Operette zugeschrieben hat, anverwandelt finden: die »lösende Wirkung der Musik« vereine sich dabei nämlich »[…] mit einer verantwortungslosen Heiterkeit, die in diesem Wirrsal ein Bild unserer realen Verkehrtheiten ahnen [lasse]« (Bd. 2, 147). Wie Marek Przybeci bemerkt hat, visiert Kraus durch die nur scheinbar heiteren Szenen die »auf das erschreckendste operettenhaft theatralisiert[e] Realität«157 an, die zur Welt der damaligen neuen Operette nach Art von Johann Strauss Sohn bzw. Franz Lehár im paradoxen Kontrast stehe, weil diese wider die Natur der Gattung zur »Psycholo gisierung« (Bd. 2, 144) sowie »Rationalisierung« (Bd. 2, 149) tendierten. Diese
153 ›Die Wacht am Rhein‹ und ›Heil dir im Siegerkranz‹ waren beliebte patriotische Lieder, das letztere galt sogar als Quasi-Nationalhymne. ›Sag Schnucki zu mir‹ ist die Zeile eines Duetts aus der Operette Die Rose von Stambul von Leo Fall; s. dazu Schartner, S. 201, 207, 210, 216. 154 Dabei stützen sich Hirsch auf das Lied im Märchendrama Verschwender Raimunds und Roda Roda auf eine »bekannte[n] Melodie«, die dem Lied ›O Tannenbaum‹ von Joachim August Zarnack zugeschrieben wird; s. dazu Schartner, S. 220. 155 Beim ersteren sei der Einfluss vom Raimundschen, beim letzteren der vom Nestroyschen Stück bemerkbar; s. dazu Schartner, S. 219 f. 156 Diesbezüglich ist zu beachten, dass sich im 4. sowie 5. Akt die Szenen mehren, in denen verschiedenartige Gewaltsamkeiten der Offiziere dargestellt werden. 157 Przybecki, in: Kaszyński / Scheichl, S. 182.
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E. Performativität in Die letzten Tage der Menschheit
Methode der musikalischen Anspielung auf die »realen Verkehrtheiten«, die mit der von dem modernen Stück Oh what a Lovely War des englischen Theatre Workshops von 1965 verglichen wird,158 lässt zwar keine vollständige Klassifizierung unseres Dramas als Operette zu, weil daran vor allem »die Auflösung der Konflikte in der unbegrenzten Festesfreude«159 fehlt. Der Vergleich mit der Operette ist aber insofern aufschlussreich, als sie »[…] aus dem antiken Mimus, anders gewendet aus der Hanswurst-Tradition herzuleiten«160 ist. Dieser Umstand macht wiederum darauf aufmerksam, dass an der Krausschen Satire die ›sinnlichen‹ Elemente genauso wesentlich Anteil haben wie die sprachlichen, wie wir schon erörtert haben. Neben der Musikalität betrifft diese Eigenart in der 55. Szene des 5. Aktes auch zahlreiche Regieanweisungen, die bestimmte Körperbewegungen der Figuren vorschreiben. Inmitten des Saufgelages wird z. B. der kritische Verlauf der Schlacht in folgender Weise kundgegeben: Der preussische Oberst: Ich fürchte, daß es ’n heißer Tach ist! Der General (sich die Stirn wischend): Wiar in die Hundstäg. (Die Musik spielt »Am Manzanares«.) Der Telephonoffizier stürzt herein, tritt direkt an den General heran, flüstert ihm etwas ins Ohr. Der General: Was? Die elendigen – die elendigen – diese Frontschweine –! Der preussische Oberst: Was is ’n los? Der General: Ich – versteh – das nicht. Ich – habe doch ausdrücklich – Der preussische Oberst: Nanu Kinder – macht mir man b l o ß jetzt nicht flau, wo wir den Sieg in der Tasche haben! Der General: Herrschaften – da sind wir in der rue de Kack! Der preussische Oberst (zum Telephonoffizier): Was is ’n los? Der Telephonoffizier (in größter Erregung, stammelnd): Die Spitzen der rückflutenden Divisionen erreichen bereits den Stand des Korpskommandos – die gesamte Artillerie wurde im Stich gelassen – die Straßen sind von gepfropftem Train gesperrt – die Truppen demoraliert – feindliche Kavallerie im schärfsten Nachdrängen. (Ab. Der Oberst spricht auf den General ein. Die andern in zwangloser Konversation.) (Bd. 10, 693 f.)161
An dieser Stelle treten durch einen rhythmischen Wechsel von dialektalem Gespräch, bedrohlichem Bericht und dem dynamischen Bild der Körperbewegung Wahrnehmungsmomente hervor, zumal der Wortsinn der Rede der Figuren auf die weitere Handlung keine sofortige Wirkung hat. Trotz der drohenden Krise führen nämlich die Teilnehmer des Liebesmahls ihre schwärmerische Plauderei weiter, und zwar besonders über ihre ruchlose Gräueltat. Dann bricht jedoch nach groß-
158
Thomson, in: Hüppauf, S. 205. Hawig, S. 70. 160 Stieg, in: Amann u. a., S. 182. Hier beruft sich Stieg auf die Ansicht von Georg Knepler in dessen Buch Geschichte als Weg zum Musikverständnis. 161 ›Am Manzanares‹ ist ein von Adolf Jensen vertontes Lied, dessen Text von Emanuel Geibel gedichtet wurde; s. dazu Schartner, S. 212. 159
II. Erscheinungsformen der performativen Metatheatralik
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tuerischer Kampfagitation des »preussischen Obersten« plötzlich eine Panik aus, indem drinnen alle Lichter erlöschen und draußen Fliegerbomben explodieren. Nun lautet die Regieanweisung wie folgt: Dann tritt Stille ein. Die Anwesenden schlafen, liegen in Somnolenz oder starren völlig entgeistert auf die Wand, an der das Tableau »Die große Zeit« hängt und nun der Reihe nach die folgenden Erscheinungen aufsteigen. (Bd. 10, 710)
Diese »Erscheinungen« wechseln in Schwindel erregend kurzen Intervallen jeweils mit entsprechender Regieanweisung zuerst mit Reden der erscheinenden Figuren, dann stumm in Vielzahl nacheinander, wobei es immer um grausame Kriegsbilder geht. Wie Leo A. Lensing meint, kann es gut sein, dass Kraus diese »Erscheinungen« als Dias bzw. filmische Projektionen entworfen hat.162 Nach einer Zäsur jedoch, die mit dem »Stöhnen der Schlafenden« (Bd. 10, 719) herbeigeführt wird, kommen neue Figurtypen wie die »Gasmasken« (Bd. 10, 719), die »Flammen« (Bd. 10, 720), die »zwölfhundert Pferde« (Bd. 10, 721), der »tote Wald« (Bd. 10, 722) oder das »österreichische Antlitz« (Bd. 10, 723) zum Vorschein. Weil diese Bilder als allegorisch betrachtet werden können, ist ihre Abhängigkeit von der Schriftsprache nicht ganz durch die von einem filmischen Image ersetzbar.163 Dies betrifft auch die letzte Figur der Szene, den »ungeborne[n] Sohn« (Bd. 10, 726), der inständig darum fleht, nicht in diese Welt geboren zu werden: Wir, der Untat spätere Zeugen, bitten euch, uns vorzubeugen. Lasst nimmer uns entstehn! Wären eurer Schmach Verräter. Woll’n nicht solche Heldenväter. Ruhmlos möchten wir vergehn! […] (Bd. 10, 726)
Schließlich ist an diesem Endteil der Szene markant, dass nicht deutlich dargelegt wird, ob es sich hier bloß um eine militärische Attacke handelt oder um etwas Überirdisches wie die göttliche Strafe. Anhaltspunkte dafür können wir erst aus dem direkt daran sich anschließenden Epilog gewinnen, der mit der folgenden Regieanweisung beginnt: »Schlachtfeld. Trichter. Rauchwolken. Sternlose Nacht. Der Horizont ist eine Flammenwand. Leichen. Sterbende. Männer und Frauen mit Gasmasken tauchen auf« (Bd. 10, 731).
162
Lensing, in: The German Quarterly, S. 490. Als »allegorisch« gilt hier der Sprachausdruck, der einen Begriff durch ein rational fassbares Bild veranschaulicht. Weil dabei die Beziehung zwischen Bild und Bedeutung willkürlich gewählt ist, ist für ihre Auslegung ein Nachdenken erforderlich, das vom eindeutigen Image eines Films nicht ableitbar wäre. Über die Definition der Allegorie s. Gfrereis, S. 5. 163
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E. Performativität in Die letzten Tage der Menschheit
b) Satirische Strafe der Menschheit durch eine multisensorisch wiederbelebte Sprache Für die Aufführung des Epilogs, die 1923 unter der »genauen Aufsicht« von Kraus in Wien stattfand, war nach der Bemerkung Timms’ charakteristisch, dass »ein surrealistisches Bühnenbild und spektakuläre Lichteffekte zur Steigerung der Textwirkung genutzt« wurden.164 Das korrespondiert in der Tat mit dem Eindruck einer beweglichen Intensität, der uns beim Lesen dieses Teils begleitet. Hier tritt zuerst ein »sterbender Soldat« auf, der »schreiend« einen Fluch gegen den Kaiser ausstößt: »Ich sterb’, doch für den Kaiser nicht!« (Bd. 10, 731). Danach lässt ein »Verwundeter« seine rasende Wut am Kaiser aus: »Ich sterbe, einer deutschen Mutter Sohn. / Doch zeug’ ich gegen dich vor Gottes Thron!« (Bd. 10, 741). Diese Figuren vertreten nämlich neben dem Nörgler den Menschentyp, der vom nationalistisch manipulierenden Massenbann der Presse befreit und mit der Realität des fatal bedrohten Menschenlebens unverhohlen konfrontiert ist, in diesem Fall jedoch erst angesichts des eigenen Todes. Die Bürger im Hinterland erscheinen nur einmal als »Weibliche Gasmaske« und »Männliche Gasmaske«, die »Arm in Arm« von ihrer Anonymität in Versform reden (Bd. 10, 731 ff.). Eine ähnliche Funktion hat das musikalische Moment im Fall der zwei mit dem Automobil fliehenden Generale, die im »Sprechgesang« ihr Überleben rechtfertigen (Bd. 10, 733 f.). Zu den auch in gebundener, hier marschrhythmisch skandierter Rede sprechenden Militärs gehören sonst nur ein »Feldwebel« und ein »Totenkopfhusar«, die ihre Untergebenen hetzen (Bd. 10, 740, 742), sowie »Nowotny von Eichensieg« und der »Doktor-Ing. Abendrot aus Berlin«, die von ihrem Amt für Truppensendung bzw. Waffenentwicklung berichten (Bd. 10, 743 f., 744 ff.). Dagegen dominieren nun die Journalisten und ihre Mitarbeiter in der Szene: Zunächst treten zwei Kriegsberichterstatter im Automobil auf, die einen sterbenden Soldaten interviewen und fotografieren, und dann, ihn im Stich lassend, wegfahren (Bd. 10, 734 ff.). Nachdem dann eine Kriegsberichterstatterin wie Schalek einen verstorbenen »Erblindet[en]« kurz anspricht (Bd. 10, 740) und darauf einige Figuren folgen, erscheinen »Hyänen, die Menschengesichter tragen« und deren Ansprache von »Fressack« und »Naschkatz« gehalten wird, um mit dem coupletähnlichen »Chor der Hyänen« beschlossen zu werden, woran ihr Tango um die Leichen anschließt (Bd. 10, 746 ff). Danach taucht in einem »schwefelgelb[en] Schein« der »Herr der Hyänen« auf, der sich »Antichrist« (Bd. 10, 750) nennt. Da er sich aber auch Moriz Benedikt nennt (Bd. 10, 753) und den Triumph der »Blut- und Druckerpressen« (Bd. 10, 754) erklärt, stellt sich heraus, dass es sich hier um eine Verbildlichung der zentralen These von Kraus handelt, die Hauptschuld des Kriegs treffe Zeitungen wie die Neue Freie Presse. Nun wird auch ihre Verurteilung in erhöhter Spannung dramatisiert. Es entsteht nämlich nach dem »Walzer der Hyänen um die Leichen« mit einem coupletähnlichen Lied (Bd. 10, 754 f.) und dem Gerede der drei »gelegentliche[n] Mitarbeiter« (Bd. 10, 755 ff.) plötzlich ein »Stimmengewirr« 164
Timms, S. 526.
II. Erscheinungsformen der performativen Metatheatralik
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(Bd. 10, 758), wobei verschiedene Stimmen einen universalen Angriff gegen die Menschheit beschreiben und inzwischen eine »Stimme von oben« das endgültige Urteil gegen sie verkündet. Zu eurem unendlichen Schädelspalten haben wir bis zum Endsieg durchgehalten. Nun aber wißt, in der vorigen Wochen hat der Mars die Beziehungen abgebrochen. Wi r haben a l les reif l ich er wogen und sind in die Defensive gezogen. (Bd. 10, 766)
Hier wird der Erste Weltkrieg als Offensivkrieg gegen das »Weltall« (Bd. 10, 768) erfasst, als dessen Vergeltung nun ein »Meteorregen« (Bd. 10, 769) einsetzt. Die Stimmen sprechen weiter mit den Regieanweisungen »Flammenlohe«, »Weltendonner«, »Untergang« und »Ruhe« (Bd. 10, 770), und im allerletzten Augenblick des Dramas wird der Erfolg der Defensive folgenderweise erklärt: Stimme von oben Der Sturm gelang. Die Nacht war wild. Zerstört ist Gottes Ebenbild! Großes Schweigen Die Stimme Gottes Ich habe es n icht gewol lt. (Bd. 10, 770)
Nicht nur die Journalisten und die Militärs, sondern alle Menschen aussterben zu lassen, war demnach das Konzept einer »Tragödie«, deren »untergehender Held die Menschheit« sei (Bd. 10, 671). Hier verflechten sich offensichtlich das altgriechische Thema der Tragödie und das biblisch-apokalyptische. In welchem Zusammenhang steht aber dieses Merkmal mit der Idee der Kollektivschuld? Folgen wir der Aristotelesschen Definition der Tragödie, nach welcher der Held mit großem Ruhm und Glück durch »irgendeinen Fehler« ins Unglück gerät,165 so können wir diesen im vorliegenden Fall im Sachverhalt ermitteln, dass die Menschheit dem Wort der Journalisten blindlings vertraut hat. Was aber die Journalisten angeht, hebt sich ihr Hochmut dagegen ab, der in der Überzeugung des »Herrn der Hyänen« typisiert ist, durch seine »schwärzliche Magie« (Bd. 10, 754) die Sprache und damit sogar die ganze Welt beherrschen zu können. Darin ist eine Art Hybris zu erkennen, die traditionell als repräsentative Ursache der tragischen Katastrophe betrachtet worden ist.166 In diesem Drama führt sie jedoch kaum »Mitleid« und »Furcht« sowie die darauf folgende Katharsis herbei, sondern vielmehr eine komische Wirkung, was sich in seiner Nähe zur Operette 165
Aristoteles, S. 41. s. dazu Gfrereis, S. 211.
166
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E. Performativität in Die letzten Tage der Menschheit
zeigt. In diesem Punkt begegnen wir einer revidierten Form der »Vorstellung von der Welt als einem Theater, auf dem die Menschen, durch Gott bewegt, ihre Rollen spielen«: theatrum mundi bzw. Welttheater.167 Dieser antike Topos lag der Welt anschauung der Barockzeit in Europa zugrunde, weil er zu der damals besonders erhobenen Bewusstheit von der Vergänglichkeit des Lebens passte, und prägte vor allem die in Wien charakteristische Theaterkultur, bei der Bühne und Lebensrealität tendenziell ineinander überflossen.168 Diese Tradition aber, in der das erbauliche Universaldrama mit der Endszene des Gerichts vor Gott sich ins Zauberspiel mit hilfsbereiten Feen verwandelte, fand eben bei Nestroy eine parodistische Verkehrung: Da existieren z. B. noch höhere Mächte, aber nur als greisenhafte Trottel.169 Eine ähnliche Idee bemerkt man auch bei den zum Mysterienspiel geneigten Operetten Offenbachs, bei denen etwa die Götter als einschlummernde Figuren auftreten, und nicht zuletzt erweist sich das Drama Die letzten Tage der Menschheit, so meint Peter Hawig, vom Lied des »Herrn der Hyänen« (Bd. 10, 750 ff.) aus als »Anti-Welttheater« bzw. »theatrum diaboli«, weil da nicht Gott, sondern der Antichrist »alle Fäden des Puppenspiels in der Hand« hat und es zu einem blutigen und tödlichen Spiel werden« lässt.170 Solch eine Perspektive weist Kraus tatsächlich in dem letzten langen Monolog des Nörglers auf, in dem dieser jung verstorbene Soldaten so anredet: Und spürtet nicht, wie die Tragödie eine Posse wurde, durch die Gleichzeitigkeit neuen Unwesens und alten Formenwahns eine Operette, eine jener ekelhaften neuzeitlichen Operetten, deren Text eine Insulte ist und deren Musik eine Tortur? (Bd. 10, 675)
Eine typische Erscheinungsform dieser »Gleichzeitigkeit« können wir in der Rede des Generals beim »Liebesmahl« finden, in der er die Leistung der Presse in Anwesenheit von zwei Journalisten lobt: »[W]ir wissen nur zu gut, was die Wehrmacht einer wohluniformierten Kriegsberichterstattung zu verdanken hat – die Presse – die in Erfüllung ihrer hochpatriotischen Pflicht den Mut des Hinterlands behebt – belebt – kann bei uns immer auf Anklang rechnen! (Bravo-Rufe)« (Bd. 10, 683 f.). Aus dieser Mitwirkung vom »neuen Unwesen[ ]« des Massenmediums am »alten Formenwahn[ ]« des für neue Massenvernichtungswaffen nicht bereiten Militärs resultiert die Sünde, die »Sprache« durch das »Sprechen« zu beschmutzen (Bd. 10, 767). Während sie nun am kosmisch entworfenen ›Dies irae‹ mit dem Tod gesühnt werden muss, entsteht im Bewusstsein des Publikums Tragödie, weil es allein schon die Schwäche einer Blindheit vor der Macht der Sprache mit dem eigenen katastrophalen Ende zu büßen hat. Die Herrschaft der Sprache ist aber so entscheidend, dass sogar der Nörgler schließlich »mitschuldig« (Bd. 10, 681) werden muss. Wenn demnach diese Struktur nicht zu vermeiden ist, können wir eben darin die Quelle der Kollektivschuld finden und schließen, dass hier der dramatische Konflikt mit der Sprache selbst im Brennpunkt steht, da 167
Curtius, S. 148 ff. Kindermann, S. 14 f., 498. 169 Hannemann, S. 42. 170 Hawig, S. 78, 100 f., 113. 168
II. Erscheinungsformen der performativen Metatheatralik
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deren negative Wirkung sich unter dem Einfluss der Massenzeitungen aufs Äußerste verschärft hat. In dieser Perspektive zeigt sich, dass es sich im Schlussteil dieses Dramas um eine positive Wiederbelebung der Sprache handelt, indem sie in der 55. Szene des 5. Aktes mit filmischer Visualität, im Epilog mit dem akustischen Moment (Stimmen nicht sichtbarer Personen) zusammenwirkt. Dabei geht nämlich die ideelle Vollziehung der Strafe für die Schuld an der Sprache mit deren Zurückführung auf eine semantisch-sinnliche Ganzheit dynamisch einher. Überdies wurde das Aufführungspotential des Epilogs schon von Kraus selber aktualisiert. Diese Umstände weisen darauf hin, dass hier jene Ebene der Performativität in den Vordergrund rückt, die mit ihrer Korporalisierung zusammenhängt: nach Sybille Krämer zehrt die Performance […] vom Eigengewicht, welches der Korporalität und Materialität des Darstellungsgeschehens zukommt. Das Physische im Vollzug einer Aufführung – der Körper des Schauspielers und alle sinnlich sichtbaren Attribute einer Aufführung – bleiben dabei nicht länger Zeichen für einen dahinter liegenden immateriellen Sinn, der in der Materialität des Darstellungsgeschehens lediglich zur Erscheinung kommt. Die Aisthesis der performance ist nicht mehr – oder nicht in erster Linie – als Akt von Repräsentation deutbar. So rückt die durch das Schema des referentiellen Zeichens und des repräsentierenden Textes nicht mehr organisierte und auch kolonialisierte Präsenz des Körperlichen ins Zentrum des Geschehens.171
Unter diesem Gesichtspunkt der Sprachproblematik können wir dieses Drama als ganzes für sprachsatirisch umgestaltetes Welttheater halten, bei dem nicht Gott die Akte der Menschen, sondern der Mensch die Sprechakte seiner Mitmenschen aus der Distanz betrachtet. In dieser Hinsicht der Krausschen »geschriebenen Schauspielkunst« fällt vor allem auf, dass die berühmten Worte des österreichischen sowie des deutschen Kaisers am oben angeführten Kernpunkt des Dramas ohne Anweisung zitiert werden. So kommt das Verurteilungswort einer »Stimme von oben«, »W i r h a b e n a l l e s r e i f l i c h e r w o g e n « (Bd. 10, 766), vom Kriegsmanifest Franz Josefs vom 28. Juli 1914 her, das eigentlich in Singularform hieß: »Ich habe alles reiflich erwogen.«172 Noch an einer anderen Stelle verwertet Kraus dieses Wort, und zwar am Schluss von des Nörglers langem letztem Monolog: Ich habe nichts getan, als diese tödliche Quantität verkürzt, die sich in ihrer Unermeßlichkeit auf den Unbestand von Zeit und Zeitung beriefe. All ihr Blut war doch nur Tinte – nun wird mit Blut geschrieben sein! Dieses ist der Weltkrieg. Dies ist mein Manifest. I c h h a b e a l l e s r e i f l i c h e r w o g e n . (Bd. 10, 681)
Die zweimalige, gesperrte Zitierung desselben Kaiserwortes scheint anzudeuten, dass es weniger auf seiner semantischen Ebene der Iteration als vielmehr auf 171
Krämer, in: Krämer, S. 18. Korrekt habe es geheißen: »Ich habe alles geprüft und erwogen.« – s. dazu Sauermann, S. 142. 172
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seiner sinnlichen Ebene der Korporalität Geltung haben soll, zumal seine ironisch karikierende Zitierweise seinem Sinn der reiflichen Erwägung zuwiderläuft. Dies gilt in noch stärkerem Maß für das allerletzte Wort des Dramas, das die »Stimme Gottes« hervorbringt: »I c h h a b e e s n i c h t g e w o l l t « (Bd. 10, 770). Bei diesem wiederum gesperrten Zitat aus dem »berühmt-berüchtigte[n] Ausspruch Kaiser Wilhelms II.« bei seinem Besuch an der Westfront173 fallen die Semantik von ›Scheitern des eigenen Willens‹ und die sinnliche Schriftlichkeit dieses Ausdrucks performativ zusammen. Damit kulminiert hierin die beißende Ironie gegen die Hybris der autoritären Kriegsführer. Da es aber »Gott« zugeteilt ist, evoziert dieses Zitat auch den sensationellen Eindruck seines Abtretens von der Herrschaft über die Welt. Bedeutete bei Kraus die Umgestaltung des Welttheaters gleichzeitig die endgültige Vertreibung der dazugehörenden Gottheit?
III. Der »Ursprung« als Ziel des »Epigonen«: Performative Annäherung an das Göttliche 1. Gott im Welttheater einer performativen Satire In den Schlussszenen des Dramas Die letzten Tage der Menschheit, in denen es sich als ein gewissermaßen umgekehrtes Welttheater entpuppt, verwendet Kraus mehrere biblische Motive. Als typische Beispiele können aus dem letzten Monolog des Nörglers einer der »apokalyptische[n] Reiter« sowie »die Hure von Babylon« (Bd. 10, 677), die aus der Offenbarung des Johannes stammen, angeführt werden. Hier handelt es sich allerdings weniger um eine Bezugnahme auf Glaubensdinge als um die metaphorische Weiterführung der Satire, denn das erste Beispiel spielt auf Kaiser Wilhelm II., das zweite auf die Zeitung an, wie die frühere Verwendung desselben Motivpaares im Essay ›Apokalypse‹ beweist (Bd. 4, 12). Nach Andrea Kunne stellt dieses Zitat den Fall einer Konfrontation des biblischen Prätextes mit einem modernen Diskurs dar, die dazu diene, die Schrecken der Zeit in intensivierter Weise wiederzugeben.174 Solch eine säkularisierte Rezeption biblischer Motive exemplifizieren auch Requisiten wie jene »Kreuze« (Bd. 10, 762) und jenes »groß[e] blutig[e] Kreuz« (Bd. 10, 764), die im Epilog nach der Regieanweisung erscheinen, während »von oben« und »von unten« »Stimmen« zu hören sind. Diese surreale Vorstellung wird schon am Anfang des vierten sowie des fünften Akts vorweggenommen, wo von »Larven und Lemuren« und einem »Knäuel von Böcken« (Bd. 10, 425) sowie vom »Rudel[s] Böcke« und von einem
173 s. dazu Sauermann, S. 111. Dieser Ausspruch sei anlässlich des ersten Jahrestags des Attentats von Sarajevo in einer von Berliner Blättern gebrachten Meldung zu lesen gewesen. Als demnach der Kaiser an einem Ort an der Westfront gekommen sei, wo nach heftigem Kämpfen viele »brave Söhne des Vaterlands den Heldentod gefunden« hätten, sei er erschüttert zum Gebet niedergekniet und habe dann zu den Umstehenden diesen Satz gesprochen. 174 Kunne, in: Sprachkunst, S. 346, 327.
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»Spalier der Verwundeten und Toten« in dem Moment, in dem es »von unten« regnet (Bd. 10, 553), die Rede ist. Diese mysteriösen Motive, die den Vergleich der Kriegsopfer mit einem Sündenbock zulassen, scheinen jedoch im Epilog auf banale Alltäglichkeit reduziert zu werden, wenn da die »Kino-Operateure« angesichts der »Völlige[n] Finsternis« in Versform rufen: »Das gibts nicht, wir haben doch einen Vertrag, / wir brauchen einen Treffer und keine Nieten! / Der Isonzofilm läßt sich zwar nicht überbieten, / doch woll’n wir mehr Licht für den »Jüngsten Tag«!« (Bd. 10, 766). Schließlich kommt es hier nicht auf den eindeutigen Rückgriff auf die christliche Tradition an, wie es etwa Hofmannsthal in seinem Salzburger großen Welttheater von 1922 unternimmt. Obwohl Kraus sich 1911 katholisch hatte taufen lassen, nahm er zur offiziellen Kirche eine zunehmend kritische Haltung ein. Dies zeigen z. B. die Szenen, in denen nacheinander der »betend[e] Benedikt« (Bd. 10, 190), der damalige Papst, der von Kraus verehrte Benedikt XV., und der »diktierend[e] Benedikt« (Bd. 10, 191), der Chefredakteur der Neuen Freien Presse, parallelisiert sowie drei patriotische Predigten haltende protestantische Geistliche (Bd. 10, 355 f., 356, 357 ff.), ferner ein katholischer Mesner in einer Wallfahrtskirche, der mit einem Altar aus Waffentrümmern prahlt (Bd. 10, 359), vorgeführt werden.175 In einem Aphorismus formuliert Kraus sogar offen seine schwere Enttäuschung über die christliche Religion, die dem Krieg nicht Halt gebieten, sondern ihm nur entgegenkommen konnte. In der Entwicklung europäischer Dinge konnte die Religion nicht weiter: da trat die Presse ein und führte alles zum Ende. […] Das Wort, das im Anfang war, hören sie [eine Horde sittlicher Mißgeburten, Anm. d. Verf.] nicht, und so muß die antichristliche Menschheit auf ein neues Machtwort warten. (Bd. 8, 371)
Kraus, der schon früher die »Tagespresse« als »Hort der Offenbarungen« (F 210, 28) bezeichnete, schreibt hier der Presse die Funktion einer Ersatzreligion zu und gliedert die umfassende Kategorie »Menschheit« selbst ins antichristliche Lager ein. Mit dieser hyperbolisch überspitzten Beschuldigung gegen »eine entgötterte Welt« (Bd. 8, 323) können wir überdies auch den Aphorismus in Zusammenhang bringen, der so beginnt: »Am Ende war ein Wort.« (Bd. 8, 374) In »ein[em] Wort« ist hier »Aufmachung« im Sinn der Schlagzeile und im Sinn des Schminkens gemeint, die es zu verspotten gilt. Dies findet im letzten Monolog des Nörglers, wie schon gesehen, eine entsprechende Passage: »Am Ende war das Wort. Jenem, welches den Geist getötet, blieb nichts übrig, als die Tat zu gebären« (Bd. 10, 676). Aus welcher Perspektive der Satire wird in dieser Weise jenes zerstörerische »Machtwort« der Presse am ›Weltende‹ konzipiert, das als quasireligiöser Gegenpol zu dem Schöpfungswort Gottes am ›Weltbeginn‹ gelten kann, welches das Evangelium nach Johannes einleitet?
175 Darauf folgt eine Szene, wo in einer Moschee in Konstantinopel zwei junge Vertreter von Berliner Handelshäusern Lästerungen gegen den Islam ausstoßen (Bd. 10, 360 f.).
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Historisch gesehen, ist es von Bedeutung, dass es »eine gewisse Spannung zwischen satirischer Akribie und dem christlichen Gebot der Nächstenliebe«176 ge geben habe. Bis zum letzten Drittel des 18. Jahrzehnts wurde darüber diskutiert, ob der Satiriker das Recht habe, »[…] über die Torheiten und Laster seiner Mitmenschen zu richten«; ob er sich dieses »Amt« nur »anmaße«, das »[…] im Grunde Gott allein sich vorbehalten« habe und »[…] dessen Verwaltung er nur mit den Geistlichen und den Vertretern der weltlichen Obrigkeit teil[e]«.177 Diese Frage der »Ordination« des Satirikers wurde dann suspendiert, bis Theodor Haecker sie in seinem 1930 erschienenen dialogischen Essay wieder aufnahm, in dessen Einleitungsteil es heißt: »Man kann nicht zwei Herrn dienen, der Liebe und dem Haß.«178 Diese Tatsachen deuten an, dass die Satire für das Christentum eigentlich schon in ihrem Stoff und dessen Behandlung eine diffizile Darstellungsart gewesen ist. Bei Kraus rückt nun dagegen ein sprachpragmatisches Problem in den Vordergrund. Hubertus Venzlaff ermittelt dieses anhand von Kraus’ Paraphrase der Krise des Altar-Sakraments (des Heiligen Abendmahls), als die seine These »am Ende war das Wort« gelten könne: Obwohl das Sakrament, bei dem es sich um die Transsubstantiation handle, seinen Ausdruck in der Metapher finde, »in der Wein Blut ist und Brot Leib«, sei diese Metapher im Lauf der Geschichte zerbrochen worden.179 Hier scheint das Thema der Performativität der Sprache wieder aufzutauchen, weil es sich dabei um den Verfall des »verwandlungsmächtigen Wort[es]« handelt,180 das bei den Teilnehmern des sakramentalen Rituals eine Transformation des Sachbegriffs bewirken soll. Zu beachten ist nur, dass sich Kraus offiziell nicht direkt mit der religiösen Liturgie, sondern nur mit einem umgeformten Welttheater beschäftigt hat. Die Eucharistie-Feier ist als religiöse Veranstaltung zwar vergleichbar mit geistlichen Spielen wie den Passionsspielen, die ihre Position zwischen Ritual und Theater mit der des Welttheaters teilen. Doch gebe es zwischen beiden einen deutlichen Unterschied.181 Darüber hinaus ist von Belang, dass beim Welttheater das Moment der Erlösung nicht immer selbstverständlich ist. Während der Mensch dabei einerseits, wie Irene Piper erörtert, wie Gott einen distanzierten Blick auf das Weltgeschehen werfen kann, ist er andrerseits darin selbst involviert, und zwar offenbar schutz- und orientierungslos.182 Der Metapher vom Welttheater sei diese Spannung von Distanz und Involviertheit inhärent, wobei die letztere Tendenz bis hin zur ausschließlichen Orientierung an der Performativität reichen könne.183 176
Timms, in: Kontroversen, Alte und Neue, S. 85. Lazarowicz, S. 2 f. 178 Haecker, in: Haecker, S. 361. 179 Venzlaff, in: Zinser, S. 375 ff. 180 Venzlaff, in: Zinser, S. 374. 181 Die performative Vergegenwärtigung des Lebens Jesu in den geistlichen Spielen sei von seiner Realpräsenz in der Eucharistie grundlegend verschieden. s. dazu Fischer-Lichte, in: Fischer-Lichte / Kasten, S. 8. 182 Piper, S. 26. 183 Piper, S. 23, 27. 177
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Nehmen wir nun auf die Definition des Performativen, dass es im Unterschied zum Topos vom Welttheater auf »eine anthropologische Verfasstheit« ziele,184 Rücksicht, dann können wir über die satirische Perspektive im Krausschen Drama Die letzten Tage der Menschheit, in das jene Spannung – wie es heißt – in mehrfacher Weise eingegangen sei,185 eine Hypothese aufstellen: Im Unterschied sowohl zur horizontalen Spannung zwischen Freund und Feind als auch zur vertikalen zwischen Welt und Überwelt186 kommt hier eine neue Spannung zwischen Phrase und »Gedanken« zum Vorschein, bei der sogar die christliche ›Phrase‹ der sprachlichen Weltschöpfung einer satirischen Umgestaltung unterzogen wird. Ein Indiz für diese innovatorische Grundhaltung liefert Kraus’ spätere Kritik an Hofmannsthals Entwurf des Salzburger Großen Welttheaters, der im Gegensatz zum Krausschen Fall durch seine offensichtliche Anlehnung an den »traditional religious faith«187 gekennzeichnet war. Was dabei auffällt, ist auch die Tatsache, dass Kraus 1923 anlässlich dieses Zwistes aus der katholischen Kirche ausgetreten war, was andeutet, dass es ihm auch bei der Religion auf das Problem des Theaters ankam.188 Schließlich scheint im Krausschen Antikriegsdrama sogar Gott selbst, wie Piper mit Recht bemerkt, »jenseits konkreter historischer Religionen« zu liegen.189 Eben darin besteht die polyvalente Bedeutungsoffenheit seines Dramas, das jedem Dogma fern steht. Dieser Sachverhalt bedeutet aber nicht, dass darin gar kein Streben nach dem Göttlichen spürbar wäre. Im Gegenteil: Es finden sich die Stellen, wo der Nörgler zwar mit einer gewissen Verspieltheit, aber doch in dringendem Ton Gott anspricht. Am Ende des Vorspiels beginnt er z. B. seinen ersten Monolog in Versform so: »Du großer Gott der Großen und Kleinen!« (Bd. 10, 65). Der wortspiele rische Einschlag, der hier zwischen den Adjektiven »groß« und »klein« zu bemerken ist, wiederholt sich auch in der tautologisch bearbeiteten Formel, die er in der fiktiven Lesung seines Gedichtes gegen den Fortschritt ausruft: »Entwickelt es sich so mit kunterbunten Scherzen – / behüte Gott den Gott, daß er es lese!« (Bd. 10, 385). Außerdem heißt es in der agitatorischen Trauerrede für die ermordeten jungen Soldaten in seinem letzten Monolog: »So wahr ein Gott lebt – dies Schicksal wird nur durch ein Wunder heil!« (Bd. 10, 680). Die Kombination mit den Wörtern wie »Schicksal« bzw. »Wunder« lässt schließen, dass die Redensart »so wahr ein Gott lebt« im buchstäblichen Sinne gebraucht und insofern Gott nie 184
Fischer-Lichte, in: Fischer-Lichte / Kolesch / Warstat, S. 238. Piper, S. 77. 186 Über diese Charakterisierung der traditionellen Tragödie und des christlichen Welttheaterstücks s. Alewyn / Sälzle, S. 57. 187 Timms, in: Yuill / Howe, S. 127. 188 Kraus veröffentlichte 1922 den Essay ›Vom großen Welttheaterschwindel‹, in dem er auf seine Taufe zurückblickt: »[…] daß ich einst die jüdische Glaubensgenossenschaft, in die ich durch den leidigen Zufall der Geburt geraten war, verlassen habe, um mich nach einer Zeit der bequemen und nie genug gewürdigten Konfessionslosigkeit von einem Teufel in den Schoß der alleinseligmachenden Kirche verführen zu lassen« (F 601 / 07, 3). 189 Piper, S. 93. 185
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geleugnet wird. Wie können wir diese Haltung zu Gott, die der Satiriker Kraus in seine Agentenfigur zu projizieren scheint, verstehen? Diese Frage lag dem dialogischen Essay Theodor Haeckers als ein wichtiges Motiv zugrunde, in dem der »Satiriker« als Christ seine Aggressivität dadurch zu rechtfertigen versucht, dass er sich das »groß[e] Ja des schöpferischen, das Nichts gestaltenden Geistes« zuschreibt.190 Das Problem ist nun, durch welchen Prozess der Sprache dies stattfinden konnte. 2. Über die Negativität der Satire hinaus In manchen Krausschen Aphorismen scheint Gott als potentieller Anhaltspunkt der Satire in unermesslich weite Distanz gerückt zu sein: Die Widersprüche im Künstler müssen sich irgendwo in einer höheren Ebene treffen, und wäre es dort, wo Gott wohnt. (Bd. 8, 282) Witz und Glaube wurzeln beide im größten Kontrast. Denn einen größeren als den zwischen Gott und Gottes Ebenbild gibt es nicht. (Bd. 8, 427)
Aus diesen Beispielen ist zu schließen, dass Kraus’ Gedanken über das Göttliche bestehen bleiben – auch in seiner Bewusstheit einer schroff abgebrochenen Beziehung zwischen »Welt« und »Gott«. In diesem Zusammenhang ist seine Stellungnahme zur Frage des »Übels«, die sich in seiner kurz vor der Nestroy-Feier veröffentlichten Notiz findet, zu beachten. Da handelt es sich um die Ehrenrettung einer als Prostituierte diskriminierten Frau, nach deren Selbsttötung ihr Erbe, die Wiener Freiwillige Rettungsgesellschaft, es lange versäumt habe, ihrem Wunsch gemäß einen Grabstein zu setzen. Nachdem Kraus dieses Problem in der Glosse ›Ich rufe die Rettungsgesellschaft‹ (F 343 / 44, 55 f.) aufnahm, wurde ihm zwar die Errichtung des Grabsteins brieflich mitgeteilt, aber es lag ihm noch immer daran, »[…] ob die Rettungsgesellschaft ihre Pflicht nicht bloß durch Bezahlung eines Lieferanten, sondern auch ihren Dank durch eine geziemende Inschrift abgestattet hat« (F 347 / 48, 26). Allein der Grabstein beweise nicht, dass die Frau »[…] aufgehört hat zu leben« (F 347 / 48, 27). Aufgrund dieser Argumentation thematisiert er dann in der Notiz ›Die Rettungsgesellschaft – kommt!‹ den Unterschied zwischen Polemik und Satire. Dieser Grabstein […] kann nur einer Beschwerde gesetzt sein, eine polemische Ausein andersetzung bestätigen und damit aus der Welt schaffen, nie ein Gedicht. Das werden nicht viele verstehen, daß die Beseitigung eines Übels nicht dessen Gestalt beseitige, die Erfüllung zwar den Wunsch, aber nicht den Ausspruch. Um ihnen auch dies in ein Verständliches zu übersetzen, sei gesagt, daß die M ö g l i c h k e i t solch eines Geschehens oder 190
Haecker, in: Haecker, S. 375. Darauf folgend stellt der »Satiriker« die folgende Frage, mit der Haecker offensichtlich auf Kraus anspielt: »[…] was meinen Sie denn, was von unserer Zeit so viel anderes übrig bleiben wird als ihre echte Satire? Die schwarze Magie oder die Fackel?« (S. 377).
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solch einer Unterlassung der Glosse auch dann den Atem sichert, wenn die Rede durch Zustimmung abgeschnitten ist, und daß das Übel bleibt, wenngleich der Fall beseitigt ist. (F 347 / 48, 27)
Kraus betont, dass die Beschwerde Kunst werden müsse, denn »[s]olange eine Beschwerde bloß Ausdruck des informierten Rechtes bleib[e], [müsse] die Negierung oder Gutmachung den befriedigen, der die Beschwerde vorbring[e]. Das [sei] Sache des Journalismus« (F 347 / 48, 27). Die Kunst geht aber in diesem Fall von dem in der realen Welt fortbestehenden »Übel« aus, als dessen Beispiel hier die Ehrfurchtslosigkeit gegenüber der suizidal verstorbenen Frau angesehen wird. Eben darin bestehe eine Satire, die sich mit der »Gestalt« bzw. der »Möglichkeit« des Übels beschäftigen solle. Auch dabei könne die »Realität« »nie in die künst lerische Gestaltung eingreifen« (F 347 / 48, 27): Die Satire kennt keine Besserung der Welt. Darum werde ich weiter die Rettungsgesellschaft rufen, auch wenn sie mich längst erhört hat. Die Glosse bleibt, ich bin nur jenem Niveau, auf dem der Anlaß allein verstanden wird, die Mitteilung schuldig, daß der Ruf erhört wurde. Man nennt das »Gegenstandloswerden«, aber gegenstandlos wird ein Gegenstand schon durch die Auflösung in Satire. Das eben ist das Mißgeschick aller Formung, die das Allerstofflichste auflöst: daß sich dieses wieder in das Werk mischen kann, mit dem es nichts mehr zu schaffen hat. (F 347 / 48, 27)
Hier wird betont, dass es sich bei der Satire nicht um ein direktes Engagement, sondern um ein »Rufen« handelt, durch das ein Gegenstand, der der Satire »Anlaß« liefert, »gegenstandlos« wird oder, anders gesagt, das »Allerstofflichste« aufgelöst wird, um danach unaufhörlich wiederzukehren.191 Dieser Sachverhalt gilt hier eben für die »Rettungsgesellschaft«, die auf ein Objekt, das der Satiriker selbst ruft, metaphorisch übertragen wird. Für Kraus bezeichnend ist, dass das stimmenbezügliche Moment des »Rufens« mit dem schriftbezüglichen der »Inschrift« eng verbunden wird. Sie stellte auch ein Schlüsselwort dar, als er seit 1916 anfing, seine Epigramme unter dem Titel »Inschriften« zu veröffentlichen (F 443 / 44, 12, 24 f. u. a.). Eine potenzielle Beziehung auf die »Inschrift« können wir überdies schon im Prinzip des Zitierens seiner Satire selbst, das wir unter Berufung auf Foucaults Begriff »Monument« betrachtet haben, erkennen. So betrachtet, entpuppt sich das Drama Die letzten Tage der Menschheit, das zu einem großen Teil aus Zitaten oder aus Zitat-Materialien besteht, gleichsam als eine Inschriftensammlung, angesichts derer man um Kriegsgefallene trauern sollte. Die Assoziation mit der Grabinschrift, die dadurch bewirkt wird, kann nicht nur bei der kompromisslosen Forderung, den »Ausspruch« einer Prostituierten durch die Inschrift zu erhalten, bestätigt werden, sondern auch bei dem Vorhaben, die Worte von Nestroy »das Grab sprengen« und »den Totengräbern an die Gurgel fahren« zu lassen (Bd. 4, 233). Nestroy ist für Kraus vor allem als 191 Im Zusammenhang damit ist zu berücksichtigen, dass Kraus das Foto des gekreuzigten Jesus, dem das Kreuz durch einen Schuss weggerissen wurde [vgl. E. II. 1. b)], im FackelOriginal mit dem Titel »Erhöret mich!« versehen hat (F 423 / 25, Umschlagseite).
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satirischer Vorläufer, in dem »sich die Sprache Gedanken macht über die Dinge«, indem dieser »die Sprache vom Starrkrampf« erlöst, von Belang (Bd. 4, 230). Diese positive Bewertung ist offensichtlich davon nicht zu trennen, dass Nestroy nicht nur schriftlich, sondern mündlich-körperlich agierender Darsteller war. Kraus traute sich selbst dieselbe Möglichkeit der Sprache zu, als er schrieb: »In ›Heimkehr der Sieger‹ habe ich die umfänglich zitierte Realität mit sich selbst sprechen lassen, las hierauf das Manuskript vor und glaubte, nun könne nichts mehr hinzukommen« (Bd. 4, 413). Diese Charakterisierungen der Satire weisen auf die Möglichkeit hin, dass Kraus auf der materiell-performativen Ebene der Sprache diese »Herrin« (Bd. 8, 135) bzw. »Mutter« (Bd. 8, 235) des »Gedankens« »gerufen« und ihr die Überwindung des »Übels«, für die theologisch nur Gott zuständig ist, anvertraut hat. Das Spezifikum dieses Standpunktes können wir hervorheben, wenn wir uns auf die historische Schule der Hermeneutik, die unter dem Einfluss des Leibnizschen Optimismus stand, berufen. Als dafür typisches Beispiel führt Peter Szondi die Gedanken von Georg Friedrich Meier an, für den »die Sachen, qua Bestandteile der Welt, Zeichen« gewesen seien, weil in seiner Sicht »der bezeichnende Zusammenhang die Welt konstituiert«.192 In dieser Perspektive, unter der die bestehende Welt als die beste angesehen werde, erscheine Gott »wohl als Weltschöpfer, nicht aber als Weltregierer«, weil die Welt dabei »[…] gleichsam für ihr richtiges Funktionieren selber ein[stehe], die Nabelschnur zwischen ihr und ihrem Schöpfer […] durchschnitten [sei]«.193 Kraus scheint von einer anderen Voraussetzung ausgegangen und zu einer anderen Ansicht gekommen zu sein. Diese Sachlage ist in seiner Reaktion auf eine kritische Rezension für seinen Aphorismenband Pro domo et mundo festzustellen. In dieser in der Fackel nachgedruckten Rezension, die ein Dr. Hans Limbach unter dem Titel ›Ein deutscher Satiriker‹ in der Zeitschrift März veröffentlicht hat, wird von Kraus’ »Seele« eines »Isolierten« behauptet, sie könne »ein glanzvolles Feuer« sein, habe aber keine »Wärme« (F 357 / 59, 50). Limbach fährt fort: […] der pathetische (geniale) Künstler bleibt sich gerade deshalb des Zwiespaltes zwischen ihm und der Umwelt nicht bewußt, weil er sie im schöpferischen Momente liebend umfaßt und an sich reißt, mit ihr eins wird. Der Satiriker dagegen stößt sie gerade im Momente des Schaffens am heftigsten von sich weg, oder besser ausgedrückt: sein Haß allein verbindet ihn mit ihr. So trennt er sich von allem ab, während der Pathetiker sich mit allem vereinigt. Dort der stolze Ritter, der heftig zürnt, daß der Anblick der Armut ihm den Genuß seines Reichtums vergällt – hier der reiche Wohltäter, der die Armen an seine Tafel lädt. (F 357 / 59, 50)
Diese Degradierung des Satirikers, die auf dem christlichen Gedanken der Nächstenliebe zu beruhen scheint, wird nun heftig bestritten.
192
Szondi, in: Bollack / Stierlin, S. 103. Szondi, in: Bollack / Stierlin, S. 104.
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Eine schöne Menage! Und kann nach der Nestroy-Schrift so etwas noch im Zusammenhang mit mir gesagt, Pathos diesseits der Satire gesucht werden? […] Welch ein Positiver, der im schöpferischen Moment d i e s e Welt liebend umfassen kann! Welch ein warmer Bruder! Gewiß, er ist der reiche Wohltäter, der die Armen an seine Tafel lädt, und der stolze Ritter zürnt nur, daß der Anblick der Armut ihm den Genuß seines Reichtums vergällt. Aber er verhungert n i c h t. Denn er ist zu Gaste bei Gott, der sich auch satirisch bewußt bleibt, daß im Grunde die Welt anders ist als er. (F 357 / 59, 51)194
Hier ist Kraus weit davon entfernt, die bestehende Welt für die beste zu halten. Dementsprechend handelt es sich um keine restaurative Rückkehr zur christlichen Orthodoxie, bei der die Möglichkeit des Glaubens an Gott durch die Offenbarung, also durch Gottes Worte, schon als gewährleistet gilt. Dies bedeutet aber gar nicht, dass er in der Negativität der Satire verbleiben wollte. Vielmehr zeigt sich hier eine so intensive Religiosität, dass er versucht, Gott selbst ins Lager des Satirikers hineinzuziehen. Dies wird zur absoluten Positivität führen, jedoch nur durch die absolute Negativität, die sich in der Erklärung »Am Ende war das Wort« (Bd. 10, 676) spüren lässt. Bei dieser Radikalität verbindet sich die Sprachproblematik mit der Suche nach einer neuen Art des Gottesglaubens. Er hat zwar sein fortdauerndes Gefühl vom »Deus absconditus«, wie Edward Timms bemerkt, z. B. schon 1912 in seinem Nachruf auf August Strindberg so formuliert: »Die wahren Gläubigen sind es, welche das Göttliche vermissen« (Bd. 4, 254).195 Gleichzeitig scheint er jedoch, selbst als einer dieser »wahren Gläubigen«, seine Überzeugung über die Erreichbarkeit des Göttlichen in der Hingabe an die Sprache als das Ideal seiner Satire geäußert zu haben. Um dies noch deutlicher zu machen, werfen wir einen flüchtigen Blick auf einige seiner Gedichte. 3. Kraus’ Dichtung als Hintergrund seines Welttheaters Unter den Tätigkeiten von Kraus während des Ersten Weltkriegs ist neben der Produktion des Dramas Die letzten Tage der Menschheit hervorzuheben, dass er vier der neun Bände seiner Gedichte, als Worte in Versen betitelt, veröffentlicht hat. Für diese Gedichte, die er meistenteils zunächst in der Fackel drucken ließ, ist charakteristisch, dass sie Kraus’ Auffassung von der Sprache als Ideal seiner Satire unmittelbarer zu dokumentieren scheinen als seine prosaischen Schriften. Ein dafür typisches Beispiel stellt das Gedicht ›Der sterbende Mensch‹ von 1913 dar, das auch zum Repertoire seiner Lesungen gehörte. Dieses Gedicht zeichnet sich dadurch aus, dass darin das Motiv vom »Ursprung«, das wir schon einmal betrachtet haben,196 zum Vorschein kommt und dadurch auf das zentrale Thema 194 Mit dem letzten Satz wird auf folgende Definition des Satirikers in der betreffenden Rezension angespielt: »Bleibt sich der Künstler dabei bewußt, daß im Grunde die Welt anders ist als er, daß erst sein Siegel sie zu dem geformt hat, als was sie nun vor ihm steht, so ist er ein Satiriker« (F 357 / 59, 51). 195 Timms, in: Yuill / Howe, S. 127. 196 s. dazu B. III. 3. a) sowie C. III. 1. a).
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der Sprachproblematik bei Kraus hindeutet, obwohl es hier nicht explizit behandelt wird. Da spricht am Anfang der »Mensch« beim Sterben seine Verzweiflung aus (»Nun ists genug. Es hat mich nicht gefreut, / Und Neues wird es auch wohl nicht mehr geben.«) und führt mit allegorischen Figuren wie dem »Gewissen«, der »Erinnerung« u. a. einen Dialog. Zum Schluss wird er von »Gott« so an gesprochen: Im Dunkel gehend, wußtest du ums Licht. Nun bist du da und siehst mir ins Gesicht. Sahst hinter dich und suchtest meinen Garten. Du bleibst am Ursprung. Ursprung ist das Ziel. Du, unverloren an das Lebensspiel, Nun mußt, mein Mensch, du länger nicht mehr warten. (Bd. 9, 68)
Variiert wird hier das Paradox, dass der »Ursprung« nur von dem, der ihn nicht erreicht, erreicht werden kann. Denn das nur im Sterben erreichbare »Ziel« ist so gut wie unerreichbar. Der »Mensch« scheint aber gerettet zu werden, indem »Gott« seine Suche nach dem »Garten« Gottes im »Dunkel« bejaht. Das Göttliche, dessen Beziehung zum Ideal der Satire in Frage kommt, wird auf diese Weise mit dem paradoxen Gedankenkreis um den »Ursprung« in Zusammenhang gebracht. Eigentlich wurde nun dieses Gedicht für Sidonie Nádherný von Borutin, die Geliebte von Kraus, geschrieben, für die zu dichten er versprochen hatte.197 Seitdem entstanden aus ihrer Beziehung weitere Gedichte, besonders lyrische. Die Briefe, die er an sie von Wien nach Janowitz bei Prag schickte, dokumentieren ein anderes Profil des Satirikers. Es fällt auf, dass er nicht der Erfüllung seiner Liebe, sondern ihrer Krise seine dichterische Produktivität verdankt hat. Seine Beziehung zu dieser katholischen Adelsfrau war wegen ihres Klassenunterschieds sowie des antisemitischen Vorurteils in der damaligen Zeit so großen Hindernissen ausgesetzt, dass ihr Verhältnis sogar ihren Verwandten und Freunden verheimlicht werden musste.198 Kraus’ lyrische Gedichte, in denen es einigemal auch um den »Ursprung« geht, können nun als Dokumentation gelten, in der sich die Eigenart dieser Beziehung besonders ausgeprägt hat. Im Gedicht ›Vor einem Springbrunnen (Villa Torlonia)‹ (1915), das Kraus während seiner kurzen Italienreise mit Sidonie direkt vor ihrer aus familiären Gründen geplanten nominellen Ehe mit einem römischen Grafen entworfen hat, scheint, wie Sidonies Kommentar zu diesem Gedicht schließen lässt,199 die Erotik zwischen Mann und Frau thematisiert zu sein, 197
s. dazu Rothe, S. 346. s. dazu Emrich, in: Text und Kontext, S. 264 f. Als bekannte Beispiele der Hemmnisse ist zu nennen, dass Rilke Sidonie vom Verkehr mit Kraus abriet und Franz Pfemfert, Herausgeber der Berliner linksradikalen expressionistischen Zeitschrift Die Aktion, Kraus’ Beziehung zu dem böhmischen Adel um Sidonie als Zeugnis seiner Bekehrung zum Konservatismus hielt und ihn offen angriff (als Gegenreaktion schrieb Kraus seinen Essay mit dem ironischen Titel, ›Sehnsucht nach aristokratischem Umgang‹). 199 Pfäfflin (Hrsg.), Bd. 2, S. 641. 198
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indem diese durch die Motive wie »Gotteswelt« bzw. »Gebet« (Bd. 9, 59) geheiligt wird. Wiederholt wird das Bild des unablässig auf- und abspritzenden Wassers, dessen Dynamik dem »holden Überfluß« (Bd. 9, 59) zugeschrieben wird. Paradoxerweise lebt das Wasser dadurch, dass es »stirbt«, das Licht noch um das Wasser »wirbt« (Bd. 9, 59). Daran anschließend wird das Augenmerk auf den »Geist«, »dem solche Lust gefiel« (Bd. 9, 59), gerichtet. Es ist nun dieser Kontext, in dem wieder vom »Ursprung« die Rede ist: »Und nichts besteht und Alles bleibt, / dem heiligen Geiste einverleibt, / der nah dem Ursprung, treu und echt / fortlebt dem heiligen Geschlecht« (Bd. 9, 60). In dem Gegensatz zwischen »nichts bleibt« und »Alles bleibt«, der hier mit dem »Ursprung« verbunden wird, können wir ein gleichartiges Paradox mit dem der Dynamik des Wassers bemerken. Zum Schluss wird dann das Streben von »Quell« und »Licht« zum »Gedicht« mit dem Einzug von »ich« mit »dir« dorthin, wo Lust und Zeit »nie verrinne«, in Parallele gesetzt (Bd. 9, 60). In dieser Weise werden die Motive der paradoxen Bewegung und der damit eng verbundenen »Lust« schließlich auf den Dichtungsakt selbst zurückgeführt. Der Begriff »Ursprung« wird auf diese Weise in manchen lyrischen Gedichten durch das Bild einer widersprüchlichen Bewegung versinnbildlicht, die seit 1915 einerseits auf Kraus’ Liebe zu Sidonie, andrerseits auf das schöpferische Erlebnis der Dichtung bezogen ist. Dabei behauptet dieser Begriff keine feste Zugehörigkeit Krausscher Dichtung zu ihm selbst, sondern im Gegenteil ihren Charakter als Gabe. In dem Gedicht ›Aufforderung‹ (1917) heißt es z. B., nachdem das, was »ich« mit der »Sprache« erreicht habe, dem »Glück« zugeschrieben wird: »Doch liegt wohl mein Ursprung noch weiter zurück, / und ich muß nur treffen, was vorbehalten« (Bd. 9, 140).200 Im Gegensatz zum allgemeinen Sprachgebrauch, der den »Ursprung« mit der Originalität assoziieren würde, wird ihm bei Kraus eine Uneinigkeit mit sich selbst zugeschrieben. Dieses Charakteristikum vom »Ursprung« ist offensichtlich mit dem Thema, das in den Aphorismen über die Erotik behandelt wird, zu vergleichen. Unterstrichen wird dabei auch die paradoxe Dynamik der erotischen Beziehung: »Nicht die Geliebte, die entfernt ist, sondern Entfernung ist die Geliebte« (Bd. 8, 27). Unter diesem »erotische[n] Gesetz, daß Entfernung nähert« (Bd. 8, 311), wird nicht beabsichtigt, das Ziel zu erreichen, sondern die Distanz zu wahren. Zu dieser Ambivalenz des Ziel-Begriffs sowie der nach Kraus 200 In thematischer Hinsicht ist hier offenbar Goethe sein dichterisches Vorbild. In dem Gedicht ›Goethe-Ähnlichkeit‹ (Bd. 9, 200) kommt dieses Thema in Verbindung mit dem »Ursprung«-Motiv vor. In anderen Beispielen wird der »Ursprung« etwa als Hort der Wahrheit (Gedichte ›Der Reim‹, Bd. 9, 95; ›Nach zwanzig Jahren‹, Bd. 9, 293; ›Mein Widerspruch‹, Bd. 9, 591), als Symbol der humanen Menschenliebe (Glosse ›Nicht einmal!‹, Bd. 7, 225; Gedicht ›Nach dreißig Jahren‹, Bd. 9, 629) oder als Korrelat des Naturschönen (Gedicht ›Der Strom‹, Bd. 9, 510) angesprochen. Von dem »Ursprung« als Quelle der literarischen bzw. schauspielerischen Schöpfung ist in der Glosse ›Kainz-Briefe‹ (F 354 / 56, 44), in einem Aphorismus (Bd. 8, 328), in den Essays ›August Strindberg†‹ (Bd. 4, 255), ›Schicksal der Silbe‹ (Bd. 7, 313) und ›Aus Redaktion und Irrenhaus‹ (F 778 / 80, 104) die Rede. Überdies wird in einem Aphorismus die Zeitung als etwas mit »Sprung ohne Ursprung« betrachtet (Bd. 8, 211).
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E. Performativität in Die letzten Tage der Menschheit
daraus resultierenden Wiederholungsbewegung sowohl im Erotischen als auch bei der sprachlichen Schöpfung finden sich zweifelsohne Entsprechungen bei seinem Begriff »Ursprung«.201 Damit vergleichbar ist das dichterische Motiv, das Kraus im Zug seiner Auseinandersetzung mit Franz Werfel, einem Dichter des Prager Expressionismus, entwickelt hat.202 Mit ihm befreundete sich Kraus 1911 zwar unter gewissem Vorbehalt, war aber wie ein Gönner, indem er seine Gedichte mehrmals in der Fackel veröffentlichte. Als diese Freundschaft Ende 1913 zerbrach, habe dabei neben der Beleidigung Sidonies durch Werfel auch Kraus’ gesteigerte Abneigung gegen den Expressionismus mitgespielt: Kraus glaubte, bei einer bedeutenden Zahl von Expressionisten eine künstlerische Minderwertigkeit der Texte gefunden zu haben, und auch ihre oft geäußerte Sehnsucht nach dem Krieg als Purgatorium bzw. ihre blindlings erhobene Forderung nach dem »neue[n] Pathos« und dem »neue[n] Ethos« waren für Kraus inakzeptabel.203 Den Prager Expressionisten gilt sein ironisches Lob, ihr »ausgesprochenes Formtalent« (Bd. 9, 92) habe es ihnen ermög 201
Dieses Verständnis eröffnet m. E. die Möglichkeit, die »Ursprung«-Problematik bei Kraus auch im Zusammenhang mit dem Biologischen zu betrachten. Denn das Thema der Erotik verbindet sich direkt mit der Entwicklung des Lebewesens, in Analogie zu welcher Kraus vom Sprachausdruck als einem »Organismus« (Bd. 8, 245) gesprochen hat. Diese Abhängigkeit des Sprachdenkens vom Biologischen scheint zwar in der idealistischen Tradition seit Wilhelm von Humboldt zu stehen, weicht aber auch deutlich davon ab, weil sich Kraus nicht wie Humboldt auf die Epigenesis-, sondern auf ihren vorangehenden Anti poden, die Präformationstheorie, beruft, die zum Göttlichen näher als jene bezogen worden sei und durch den Terminus »dissémination« von Charles Bonnet auf die Derridasche Dekonstruktionstheorie einen Einfluss ausgeübt habe (s. dazu Müller-Sievers, S. 31 f.). Solange die Logik der Präformationstheorie noch in der heutigen Erblehre der DNA nachspürbar ist (s. dazu Pinto-Correia, S. 304 f.), ist zu erforschen, welche evolutionäre (wohl aber kaum einfach fortschrittsgläubige) Entwicklung Kraus eventuell zwischen sich und Heine angenommen hat. Überdies scheint Kraus’ Sprachdenken, bei dem die Herrschaft des Autors negiert und die Autonomie der Sprache und der daraus resultierende Respekt vor »Lebensgüter[n]« (Bd. 7, 373) betont wird, unter Berufung auf die Theorie der Autopoiesis erörterbar zu sein, bei der es sich um die Selbstbezüglichkeit der Sprache und ihr Bezug zum ökologischen System der menschlichen Natur handelt (s. dazu Maturana / Varela, S. 221 ff.). In dieser Hinsicht ist von der bisherigen Kraus-Forschung Walter Benjamins Essay Karl Kraus besonders erwähnenswert, in dem er Kraus’ Angehörigkeit zur Welt der »Kreatur« den Vorrang vor dem anthropozentrischen »Sprachkultus« Georges gibt, indem er eine »Ursprung«Passage (»Und der das Ziel noch vor dem Weg gefunden, er kam vom Ursprung nicht. Stefan George«, Bd. 9, 633) aus dem Gedicht ›Nach dreißig Jahren‹ zitiert (s. dazu Benjamin, in: Tiedemann / Schweppenhäuser, 1977, S. 359 ff.). Es ist natürlich fraglich, ob es wirklich methodisch berechtigt ist, Benjamins stark zum Jüdisch-Theologischen geneigtes Verständnis von »Ursprung« ohne Vorbehalt auf den Ursprungsbegriff von Kraus anzuwenden, wie es bisher wie fast selbstverständlich geschieht. Zum Überblick über repräsentative Forschungsarbeiten, in denen man sich zwar mit der »Ursprung«-Problematik bei Kraus beschäftigt, dabei jedoch weder ihren Zusammenhang mit dem Performativen noch mit dem Biologischen berücksichtigt hat, s. Pizer, in: MAL, S. 1 ff. 202 Über Werfel s. auch Kap. B. III. 2. b). 203 s. dazu Leubner, S. 236 f., 224 f. Unter Kraus’ Urteilen über Expressionisten bilden seine positiven Äußerungen etwa über Else Lasker-Schüler, Oskar Kokoschka und Georg Trakl
III. Der »Ursprung« als Ziel des »Epigonen«
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licht, Klassiker wie Goethe, Schiller, aber auch Rimbaud nachzuahmen, wie er in seinem Gedicht ›Elysisches. Melancholie an Kurt Wolff‹ (1916) schreibt. Indem aber Werfel an Kraus Gegenkritik übte, entstand daraus eine lange währende Kontroverse, bei der das Thema Dichtung in akuter Weise im Vordergrund stand. Dieser Sachverhalt hängt eng damit zusammen, dass Werfels Gedichte mit der »Stimmung der Menschheitsverbrüderung, die aus den irrationalen Gründen des Ich zu schöpfen sucht«,204 für die »messianische« Sekte der Expressionisten repräsentativ waren. Dafür war die »Beschwörung des ›Wesens‹ von Mensch und Wirklichkeit« charakteristisch, wobei angesichts der »Ichdissoziation« als eines Symptoms der Epoche auf eine dialektische »Icherneuerung« abgezielt wurde.205 In der Tat hat Werfel in einem Einwand gegen Kraus behauptet, dieser sei sich über sein »Ichbin« sehr wenig im klaren, und kritisch gefragt, wo in dessen Lyrik »nur ein unmittelbarer, aus einer Existenz und nicht aus einer Räson geborener Vers« zu finden sei.206 Unter dem Namen des »in die Nächstenliebe zurückgezogenen Literatentum[s]« schreibt Werfel Kraus überdies die Tendenz zu, den »moralischen Drang […] in einen okkulten Drachen-Kampf mit dem Druckfehler« zu transponieren, um »[…] an des Wortes Schein zu leiden, statt an der eigenen Seele Schuld, die sich im Worte offenbart«.207 Hier finden wir die Antipathie des zwar damals noch der jüdischen Religion angehörenden, doch hier christlich argumentierenden Dichters gegen den Satiriker polemisch konkretisiert. Auf Werfels Gegenkritik erwidert Kraus z. B., indem er Werfels Dichtung als »lyrische[n] Feuilletonismus« (F 484 / 98, 94) bezeichnet und den ihm vorgeworfenen Mangel an existentialer Basis der Dichtung herausfordernd bejaht: »So glücklich preise ich mich, lieber Verse geschrieben zu haben, die aus keiner Existenz, als solche, die aus mehreren Existenzen geboren sind« (F 484 / 98, 105). Indem er mit dem Ausdruck von den »aus mehreren Existenzen« geborenen Versen offensichtlich auf Gedichte von Werfel anspielt, stellt er solch eine wie selbstverständlich angenommene Standfestigkeit der »Existenz« selbst in Frage. Ein mit diesem vergleichbares Thema behandelt er in seinem berühmten Gedicht ›Bekenntnis‹ von 1916, das ebenfalls im Verlauf dieser Kontroverse entstand. Ich bin nur einer von den Epigonen, die in dem alten Haus der Sprache wohnen. Doch hab’ ich drin mein eigenes Erleben, ich breche aus und ich zerstöre Theben.
Ausnahmen. Mit seiner Abkehr vom Expressionismus ging der Zwist mit dem Verleger Kurt Wolff einher, woraus 1916 das Gedicht ›Elysisches. Melancholie an Kurt Wolff‹ entstand. 204 Vietta / Kemper, Hans-Georg (Hrsg.), S. 192. 205 Vietta / Kemper, Hans-Georg (Hrsg.), S. 186 f. Dabei sei dieses »Wesen« in den meisten Fällen »als ein zwar modifiziertes, aber immer noch metaphysisches ›Wesen‹« verstanden worden. 206 Werfel, in: Pfemfert, S. 125 f. 207 Werfel, in: Pfemfert, S. 127.
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Komm’ ich auch nach den alten Meistern, später, so räch’ ich blutig das Geschick der Väter. Von Rache sprech’ ich, will die Sprache rächen An allen jenen, die die Sprache sprechen. Bin Epigone, Ahnenwertes Ahner. Ihr aber seid die kundigen Thebaner! (Bd. 9, 93)
Hier wird das Wort »Epigone« offensichtlich in zweifachem Sinne gebraucht. Wenn es auf das »alt[e] Haus der Sprache«, ein Bild für jenes »alt[e] Wort[ ]« am Ende des Heine-Essays (Bd. 4, 210), bezogen wird, zeigt sich der seit dem 19. Jahrhundert gültige pejorative Sinn. Epigone wird ein Autor genannt, »[…] der als unselbständig und abhängig von berühmten Vorgängern gilt«.208 In dieser Perspektive scheint es sich hier um Kraus’ demütige Einräumung des ihm nachgesagten Mangels an Originalität zu handeln, wodurch ein Selbstwiderspruch entsteht, da er Werfel auch als klassikerabhängig betrachtet hat. »Epigone« bedeutet jedoch auch wertfrei »Nachgeborener«, der mit seinen Genossen die Väter an den The banern rächt, wie die Nachgeschichte des von Aischylos in seiner Tragödie Sieben gegen Theben dargestellten Kampfes zeigt.209 An diese Bedeutungsebene schließt sich das auf Shakespeares König Lear zurückgehende Wort von den »kundigen Thebaner[n]« an, das jemanden bezeichne, der entweder »sich in einer Sache oder an einem Ort auskenn[e], der also ein »Experte« bzw. ein »Eingeweihter« [sei]«210 oder der »besonders dumm« sei, als welche die Thebaner im Altertum betrachtet worden seien.211 Dem Kontext dieses Gedichtes sowie dem Gebrauch gemäß, den Kraus von früh an von diesem Wort macht,212 kommt hier die zweite, negative Bedeutung in Frage. Es soll den journalistischen Schriftsteller bezeichnen. Hierbei bemerken wir eine Parallele zu seiner »Spracherotik«, bei der auch die Originalität eines »Gedankens« bestritten und dennoch oder vielmehr deshalb »Spracherlebnisse« als möglich erachtet werden. Von diesem Paradox, das dem der Performativität vergleichbar zu sein scheint,213 ausgehend, können wir dieses »Haus« mit jenem »Ursprung« vergleichen, dessen Unerreichbarkeit die paradoxe Voraussetzung für seine Erreichbarkeit ist. Zwischen beiden Paradoxa findet sich eine ersichtliche Parallelität, was sich dazu wie entsprechend verhält, dass es zwischen 208
Harms, in: Weimar, S. 457 f. Harms, in: Weimar, S. 457. 210 Dudenredaktion, Bd. 12, S. 323. In König Lear (Akt 3, Szene 4) benutzt die Hauptfigur diesen Ausdruck für den als Bettler Tom verkleideten Edgar. 211 Böttcher u. a., S. 224. 212 Im Essay ›Schiller-Feier‹ von 1905 heißt es z. B.: »In der »stofflichen« Mißbilligung gehen diese kundigen Thebaner so weit, dem jungen Schiller die Schwärmerei für Laura übel zu nehmen […]« (F 180 / 181, 48) [Hervorhebung durch d. Verf.] – s. zu anderen früheren Beispielen: F 78, 20; F 101, 17; F 162, 30; F 163, 21; F 229, 15. 213 Dabei handelt es sich darum, ob die Einmaligkeit als wiederholbar gelten kann oder nicht; s. dazu C. I. 3. a). 209
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dem »Haus« und dem »Garten«, von dem »Gott« direkt vor seinem Spruch über den »Ursprung« spricht (Bd. 9, 68), eine Angrenzungsbeziehung geben kann. Auch an anderen Stellen finden wir Indizien dafür, dass zwischen dem »Ursprung« und dem »alten Haus der Sprache« eine enge Beziehung besteht. Im Heine-Essay wird z. B. Heine, der für Kraus als Kontrahent des dem »Ursprung« zueilenden Läufers zu gelten scheint, als »Eigentümer« seinen Nachahmern als »Dieb« entgegengestellt, und gleich darauf heißt es: »Er selbst war durch einen Dietrich ins Haus gekommen und ließ die Tür offen« (Bd. 4, 206 f.). In dem Gedicht ›Abenteuer der Arbeit‹ (1916) scheint Kraus der hochstilisierten Materialität der Sprache eine Huldigung darzubringen: »In sprachzerfallnen Zeiten / im sicheren Satzbau wohnen: / dies letzte Glück bestreiten / noch Interpunktionen« (Bd. 9, 75). Über seine sorgfältig dynamisierte Arbeitsweise, als deren Gegenbeispiel er Heine ansieht, schreibt Kraus in einem Aphorismus: »Es heißt einen Strom auf zwei Armen in sein Haus tragen« (Bd. 8, 295) [Hervorhebung durch d. Verf.]. Hier deutet sogar die Wasser-Metapher »Ursprung« im Sinne von »Quelle« an. Diese dichterischen Motive weisen nämlich ›hinter den Kulissen‹ der Krausschen Welttheater-Konzeption auf, auf welcher anthropologischen Basis sein gewissermaßen theologischer Blick über den Krieg als ein Grundübel der »Menschheit« ruhte. Dabei verbindet sich seine Ehrfurcht vor der Sprache mit seiner poetischen Sehnsucht nach einem heiligen Zufluchtsort. Zu betrachten ist nun, in welchem Verhältnis diese Sphäre von Kraus’ Denken und Dichten zur Performativität seiner Satire steht. 4. Das »Ja« des Satirikers im Spannungsfeld des Performativen Angesichts des oben genannten Problems ist wiederum ein Vergleich zwischen Kraus und Heidegger aufschlussreich. Dieser hat nach Ivo Frenzel seine späteren Gedanken über das Verhältnis von Sprache und Welt metaphorisch mit einem »mythischen Siegel« versehen,214 indem er die Sprache als »das Haus des Seins« bezeichnete.215 Die Ähnlichkeit dieser Wendung mit der von Kraus wird durch den an sie anschließenden Satz Heideggers »In dieser Behausung wohnt der Mensch.« noch offensichtlicher: Dennoch scheint es entscheidende Unterschiede zwischen diesen beiden zu geben. Zunächst fällt auf, dass es bei Heidegger »Haus des Seins« heißt, bei Kraus »Haus der Sprache«. Ferner übergeht Heidegger, der Ansicht Philippe Lacoue- Labarthes nach, das Problem des Theaters mit »Schweigen« und versteift sich darauf, »[…] die Stiftung eines Volks und den Anfang einer Geschichte allein von
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Frenzel, in: Forum, S. 144 f. Heidegger (1976), in: Herrmann, S. 313.
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der Dichtung, als Sprache und Sage, ausgehend zu denken«.216 Lacoue-Labarthe findet aber bei Hölderlin selbst ein Moment, das Heideggers Argument, aus Hölderlins Gedichten lasse sich eine Sehnsucht nach der nationalen Identität der Deutschen herauslesen, unterlaufen kann.217 Das ist Hölderlins Theorie über die Tragödie, nach der das Wesen der Tragödie in der Hybris der menschlichen Vernunft bestehe und mit dem Wesen des Griechischen selbst gleichzusetzen sei. Die Tragödie entstehe nämlich da, wo das paradoxe Prinzip der Mimesis überschritten wird, man dürfe nichts Eigentliches haben, um alles nachzuahmen, und das Maximum der Aneignung sei deshalb das Maximum der Enteignung.218 Hier erkennt Lacoue-Labarthe eine Logik, die mit der der Schauspieltheorie Diderots, nach der das vollständige Fehlen von Empfindsamkeit die Voraussetzung für das Spiel erhabener Schauspieler sei,219 übereinstimme, und vermisst dies bei der deutschen Nachahmung der alten Griechen. Kraus ist auch insofern mit Heidegger vergleichbar, als beide sich in einer Kriegszeit auf Hölderlin berufen, wobei Kraus allerdings in die scharfe Kritik an den Deutschen in Hölderlins Hyperion einstimmt (F 462 / 71, 81 ff.).220 Die Frage, ob bzw. inwieweit Kraus’ Hauptthese von der Unbeherrschbarkeit der Sprache sowie dessen Position als »Epigone« und Heideggers These: »Die Sprache spricht, nicht der Mensch.«221 sich miteinander vergleichen lassen, verdiente eine eigene ausführliche Erörterung. Dieses Thema hängt mit seiner folgenden, im Verlauf seiner Kontroverse mit Franz Werfel formulierten Maxime zusammen: »Wort und Wesen – das ist die einzige Verbindung, die ich je im Leben angestrebt habe« (Bd. 8, 431). Auf den ersten Blick scheint er hier dem wesenlosen Geschick seines Antagonisten zur Nachahmung der Klassiker seine Originalität gegenüberzustellen. An einer anderen Stelle bemerkt er jedoch, »das Problem der Deckung von Wort und Wesen« sei ihm wie ein »Schicksal« unvermeidlich (F 484 / 98, 111). Dabei handelt es sich um seine »Kurzsichtigkeit«, die ihm »manch einen Vers« von Werfel schön habe erscheinen lassen, ehe er ihm »das fragwürdige Gesicht«, das ihm »die Seele seines Autors« offenbare, zugewandt habe (F 484 / 98, 110). Daraus entsteht
216
Lacoue-Labarthe, S. 125. Dieser Gesinnung Heideggers ist hier der in der Nazizeit vorherrschende Gedanke gegenübergestellt, »zur Stiftung eines Volkes (oder wie wir sagen eines Nationalstaats) bedürfe es eines Theaters« (S. 125). 217 Heidegger hat sich seit Hölderlins Hymnen ›Germanien‹ und ›Der Rhein‹. Freiburger Vorlesung Wintersemester 1934/35 mit der Lyrik Hölderlins beschäftigt. 218 Diese Zusammenfassung der Gedanken Hölderlins über die Tragödie beruht auf: Lacoue-Labarthe, S. 24 f., 63, 80 ff. 219 Diderot, in: Lazarowicz / Balme, S. 160. 220 An der einschlägigen Stelle zitiert Kraus Hyperions Brief an Bellarmin im zweiten Band des zweiten Teils von Hyperion, in dem es sich um Hyperions Besuch in Deutschland und seine äußerst kritische Beurteilung der Deutschen handelt. Dabei versieht Kraus den Satz, die Deutschen würden den »Äther« nicht verderben, in einer Fußnote mit der Anmerkung: »d o c h !« (F 462 / 71, 83) 221 Heidegger (1997), in: Jaeger, S. 143.
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aber kein Misstrauen gegen die Sprache, sondern im Gegenteil eine neue Art ihrer Bewunderung: Ein Gedicht ist so lange gut, bis man weiß, von wem es ist, und ich maße mir an, von sprachlichen Dingen so viel zu verstehen, daß ich den ganzen Menschen dazu brauche, um seinen Vers beurteilen zu können. Er ist zugleich gut und schlecht, und ehe man das zweite weiß, ist man gerne gewillt, das erste zu glauben. Denn eben das ist dieser Spielart gegeben, zu zeigen was sie nicht hat, und so hat auch sie teil an dem großen Geheimnis der Sprache, die eben dort, wo nicht Wesen ist, umso mehr Schein zuläßt. Vermag sie kein Wunder, so vermag sie doch den Zauber. So herzgebunden ist die Sprache der Lyrik, daß sie es entweder hat oder verhüllt, was sie nicht hat. Bis man das erkannt hat, gilt es immer wieder kennen zu lernen. (F 484 / 98, 110)
In seiner Polemik gegen Maximilian Harden hatte er behauptet, der Stil könne beweisen, dass einer ein Mörder sei (Bd. 2, 55). Verglichen mit dieser früheren These, ist hier ein Perspektivenwechsel geschehen, insofern, als die Sprache nicht als Zeugin vor Gericht, sondern weil sie den (schönen) Schein [»Schein«] »zulasse«, gerühmt wird. Solch ein ironischer Kontrast zwischen dem Streben nach Verbindung von »Wort und Wesen« und ihrer minderwertigen »Spielart« ist auch in der folgenden Passage aufgewiesen: Wann hätte ein Künstler mit geringerem Ahnungsvermögen den tiefsten erotischen Zu sammenhang, den mit der Sprache, zum Kult der Form herabgesetzt, die Verankerung der Welt im Wortwesen zum ästhetischen Sport! Wenn ich Herrn Werfel sagte, daß, wer dem Wort näher ist, auch den Menschen und den Dingen näher ist […] – er würde es nicht glauben, nicht verstehen und gegen solchen Götzendienst der Letter sich auf seine anerkannte Parteinahme für die Menschen und Dinge berufen. (F 484 / 98, 113)
Bei diesem Beklagen einer Vergessenheit der »herzgebundenen« Sprache der Lyrik fällt auf, dass niemals explizit ausgesagt wird, worin denn die Verbindung von »Wort und Wesen« besteht und wie das Streben nach dieser abläuft. Zu solchen Fragen scheint Kraus vielmehr eine gewisse Distanz zu halten, wenn er vom »Götzendienst der Letter« spricht oder seine Beschäftigung mit dieser Aufgabe bemerkbar hyperbolisch »furchtbar ernst« nennt (Bd. 7, 29). Schließlich komme es nur auf »die persönliche Methode der Urteilsbildung« (F 484 / 98, 110) an, die dazu erforderlich sei, »[…] zum Urteil über die sprachlich manifestierte, sprachlich verkleidete Unpersönlichkeit zu gelangen« (F 484 / 98, 110). Wichtig ist, dass in diesen Äußerungen eine Widerlegung des Werfelschen Gedankens, der Mensch könne »des Wortes Betrug in seinem eigenen Ich« erkennen,222 mitgemeint wird. Während hier das »Wort« dem »Ich« offensichtlich extrinsisch ist und ihm untergeordnet wird, sieht Kraus sich als »Diener am Wort« (Bd. 8, 116) an und findet eben in diesem passiven Stand die Möglichkeit, dem »Wesen« zu begegnen. So betrachtet, zeigt sich, dass es beim Ausdruck »Wesen« dem äußeren Anschein zum Trotz um eine Kritik des Originalitätsdenkens geht, auf deren Beziehung zu einer Art schauspielerischer Lebensethik das Wort »Unpersönlichkeit« hindeutet. Über 222
Werfel, in: Pfemfert, S. 127.
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dies scheint dieses Motiv mit dem »Ursprung« sowie dem »alten Haus der Sprache« die Zugehörigkeit zum Spannungsfeld zwischen »Aneignung« und »Enteignung« zu teilen. Wir stellen fest, dass sich bei Kraus eine »Transformation des Denkens von der Ordnung der Identifizierung zur Struktur des Antwortens« vollzogen hat, eine Wandlung, welche die »Restitution des Ethisch-Aisthetischen jenseits von Theologie, im Wortsinne von religio, der »Bindung« oder »Gebundenheit« an ein vorgängiges Unverfügbares«, bedeutet.223 Denn dieser gleichsam areligiösen Religiosität, die mit der Theorie des Performativen in Zusammenhang gebracht wird,224 entspricht offensichtlich sein Konzept der Satire, das sich in folgender Passage aus dem letzten, das Motiv der satirischen ›Rache‹ in den Vordergrund rückenden Monolog des Nörglers kundgibt: Nicht daß du sterben – nein, daß du d a s erleben mußtest, macht künftig allen Schlaf und allen Tod im Bett zur Sünde. Nicht euern Tod – euer Erlebnis will ich rächen an jenen, die es euch aufgebunden haben! Ich habe sie zu Schatten geformt, die sie sind und die sie in Schein umlügen wollten! Ich habe ihnen das Fleisch abgezogen! Aber den Gedanken ihrer Dummheit, den Gefühlen ihrer Bosheit, dem furchtbaren Rhythmus ihrer Nichtigkeit gab ich die Körper und lasse sie sich bewegen. Hätte man die Stimme dieses Zeitalters in einem Phonographen aufbewahrt, so hätte die äußere Wahrheit die innere Lügen gestraft und das Ohr diese und jene nicht wiedererkannt. So macht die Zeit das Wesen unkenntlich, und würde dem größten Verbrechen, das je unter der Sonne, unter den Sternen begangen war, Amnestie gewähren. (Bd. 10, 680 f.)
Hier ist die Strategie der Sprachsatire apostrophiert, die Kraus angesichts der Abwesenheit des strafenden Gottes angewandt hat, indem er das gesamte Zeit geschehen durch das äußere »Fleischabziehen« der Personen sowie das Verkörpern ihrer inneren Momente zur »geschriebenen Schauspielkunst« auszuformen versucht. Anders gesagt, ist er darauf aus, journalistisch medialisierte Zeitgeschehnisse zu satirischen Sprachereignissen umzugestalten. So betrachtet, handelt es sich hierbei um die »Aisthesis im Sinne des Begegnenlassens von Anderem, ohne es begrifflich zu determinieren oder in Besitz zu nehmen«, sowie um die »Ethik einer Responsivität«, die »ihm antwortend zu ent-sprechen sucht«.225 Unter dieser Perspektive können wir die ›Rache‹ als überspitzt aggressive Erscheinungsform des Responses ansehen, der im Grunde das positive Moment eines unbedingten »Ja« innewohnt. Diese Art, an das Spannungsfeld des Performativen heranzugehen, divergiert nicht nur von der Heideggerschen Erörterung der Dichtung, sondern etwa auch von jener »narzisstischen Introversion« des Welttheatermodells, »Welttheater ohne Welt« im Prolog zu dem Buch Anatol (1892) des jungen Hofmannsthal.226 Während bei diesem die Verfänglichkeit des Versuchs,
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Mersch (2002), Was sich zeigt, S. 398. Mersch (2002), Ereignis und Aura, S. 238. 225 Mersch (2002), Was sich zeigt, S. 398. 226 Scheiffele, in: Scheiffele, S. 51. 224
III. Der »Ursprung« als Ziel des »Epigonen«
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»die moralische Weltordnung an einem ästhetischen Modell« zu erklären,227 zum Problem wird, fallen Ästhetik und Ethik bei Kraus in eins zusammen. Dabei entsteht, wie Gerald Stieg behauptet, eine »Behausung« der Gottheit, in der »viele Wohnungen, nicht nur für Deutsche und Griechen, sondern auch für Juden, Engländer, Neger und Chinesen« waren.228 Dieser Responsakt auf das Elend der Zeit, der mit einer ›Bestrafung‹ der Presse für ihre Hybris gegenüber der Sprache einherging, sollte aber nicht nur schriftlich, sondern auch mündlich sowie bildlich ausgeführt werden, und zwar um des »Wesens« willen: Ich habe das Wesen gerettet und mein Ohr hat den Schall der Taten, mein Auge die Gebärde der Reden entdeckt und meine Stimme hat, wo sie nur wiederholte, so zitiert, daß der Grundton festgehalten blieb für alle Zeiten. Und laßt der Welt, die noch nicht weiß, mich sagen, Wie alles dies geschah; so sollt ihr hören Von Taten, fleischlich, blutig, unnatürlich, Zufälligen Gerichten, blindem Mord; Von Toden, durch Gewalt und List bewirkt, Und Planen, die verfehlt, zurückgefallen Auf der Erfinder Haupt: dies alles kann ich Mit Wahrheit melden. Und hörten die Zeiten nicht mehr, so hörte doch ein Wesen über ihnen! (Bd. 10, 681)
Die Bereitschaft zur Bezeugung, die hier mit dem zitierten Wort Horatios direkt nach dem Tod von Hamlet229 konstatiert wird, richtet sich auf die Verbindung von »Wort und Wesen«, wir dürfen aber dieses »Wesen« nicht im Sinne etwa eines Ersatzgottes verstehen, weil es von Kraus »gerettet« worden sein könne und insofern anthropologisiert ist. Betont werden muss vielmehr die mitleidige Offenheit für die geopferten Menschen, deren lebensgroße Sprachrealität es durch multisensorische Zitate wiederzugeben galt. In der Tat formuliert er hier seine hermeneutisch-performative Aufgabe, den »Grundton« der Kriegszeit für alle Zeiten festzuhalten. Demnach können wir nunmehr seine These der »Geburt des alten Wortes« (Bd. 4, 210) so verstehen, dass unser Gedächtnis des vergangenen Elends durch Konfrontation mit seiner »geschriebenen Schauspielkunst«, die sich zwischen der Ruhe im »alten Haus der Sprache« und der Dynamik der ›Rache‹ bewegt, immer wieder neu aufgeweckt wird. Auf diesen performativen Sachverhalt scheint Walter Benjamin hingedeutet zu haben, als er seinen Begriff »Jetztzeit« mit dem Krausschen »Ursprung« verband.230 Eine Erwähnung verdient dar 227
Scheiffele, in: Scheiffele, S. 50. Stieg, in: Wespennest, S. 40. 229 s. dazu die 2. Szene des 5. Aktes von Hamlet. 230 s. dazu die 14. These in: ›Geschichtsphilosophische These (Über den Begriff der Geschichte)‹ von Benjamin, in: Tiedemann / Schweppenhäuser, Bd. 1. 2, S. 701. 228
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über hinaus auch Adornos Kommentar im Zusammenhang mit seiner Philosophie über das Nichtidentische. In dem konservativ klingenden Satz von Karl Kraus »Ursprung ist Ziel« äußert sich auch ein an Ort und Stelle schwerlich Gemeintes: der Begriff des Ursprungs müßte seines statischen Unwesens entäußert werden. Nicht wäre das Ziel, in den Ursprung, ins Phantasma guter Natur zurückzufinden, sondern Ursprung fiele allein dem Ziel zu, konstituiere sich erst von diesem her. Kein Ursprung außer im Leben des Ephemeren.231
Das hier betrachtete Paradox der fortwährenden Nachträglichkeit vom »Ursprung« wurde schon in seinen früheren Gedanken um die Themen der Spracherotik vorwegnehmend thematisiert. Dieses Potential des Performativen rückte dann in der Zeit des Nestroy-Essays mehr und mehr in den Vordergrund, um dann, durch Kraus’ Empörung über das Kriegsübel ausgelöst, in seinem großen Antikriegsdrama voll zur Geltung zu kommen.
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Adorno (1994), S. 158.
Schlussbetrachtung Anhand der von uns erörterten Texte, die Kraus in seiner ersten Lebenshälfte geschrieben hat, haben wir gezeigt, dass seine Tätigkeiten an der Fackel sowie in Form seiner Lesungen als Versuche aufzufassen sind, die schon in der Frühzeit der Moderne abgebrochene Tradition der deutschsprachigen Satire im Rekurs auf die Wiener Volkskomödie zu regenerieren. Im Prinzip nahm dieser Versuch die Form einer Kritik an der Pressesprache an, stand jedoch sowohl jeder Norm der Sprachkritik als auch ideologisch alternativen Medien fern. Vielmehr handelte es sich hier in erster Linie darum, das Publikum darauf aufmerksam zu machen, unter welchem Spracheinfluss und welcher Sprachmacht es stand, wie seine Meinung durch die journalistische Berichterstattung verbildet, ja, im Weltkrieg sogar in die mörderische Katastrophe seiner Kultur geführt werden konnte: kurz gesagt, es handelt sich um eine Lehre, das Informative anders zu betrachten, nämlich als das, was wir das Performative genannt haben. Dementsprechend rückten die Methoden vornehmlich der Zitation sowie des Versehens der eigenen und fremden Texte mit Stimmen derart in den Vordergrund, dass wir darin einen Rückgriff auf die mimetischen Künste der vormodernen Zeit bemerken konnten. Eben diese Verhaltensweise verstehen wir unter seiner Bezeichnung der eigenen Kunst, als einer »geschriebenen Schauspielkunst«, für die zumindest potentiell stets das körperliche Gegenüber zwischen ihm und dem Publikum vorausgesetzt wurde. Dafür charakteristisch ist der Anspruch darauf, sich nicht nur mit der semantischen, sondern mit der sinnlichen Ebene der Schrift sowie der Stimme zu befassen. In dem Maße nämlich, wie sich bei der Krausschen Satire, über den bloßen Angriff auf die Pressesprache hinaus, eine Perspektive auf die materielle Basis der Sprache sowie auf deren somatisches Pendant, den Akt des Schreibens und des Sprechens, eröffnete, nahm sie das heute wieder belebte Interesse für die sinnliche Wahrnehmung, Aisthesis, auch vorweg, deren Bedeutung für die Kunst durch die subjektivierte Ästhetik weitgehend verloren gegangen war. Ihr ethischer Grundcharakter lässt sich schon daraus erklären, dass die satirische Bestrafung bzw. Blamierung der Gegner eigentlich von den Gefühlen wie Mitleid oder Indignation ausgehen, die von der Aisthesis untrennbar sind. Die Kraussche Satire grenzt sich aber insofern scharf gegen die traditionelle Satire ab, als jene sich der Wirkung der Sprache besonders bewusst ist sowie durch die daraus resultierende hermeneutische Beanspruchung des Lesers bestimmt ist. Die ›Aufführung‹ der »geschriebenen Schauspielkunst« sowie die Lesungen wurden nämlich als ritueller Prozess eines Erlebens entworfen, durch den in der Beziehung des Lesers zur Sprache eine deutliche, als ›spracherotisch‹ aufgefasste Transformation herbeigeführt werden sollte. Hierin finden wir nun unsere Haupt-
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Schlussbetrachtung
these, der Grundcharakter der Krausschen Satire könne als performativ bezeichnet werden, bestätigt. Denn der Begriff »Performativität« beleuchtet in Hinblick auf das Theatermodell der Sprache drei Phasen ihrer Selbstbezüglichkeit, auf denen die Kraussche Satire zu den negativen Momenten der medialisierten Gesellschaft, die als solche performativ beschaffen sind, ihre Gegenmaßnahmen ergriff: die universalisierende Phase (Bloßstellung der Inszeniertheit der Realität), die iterabilisierende Phase (spielerische Gegeninszenierung der Realität) und die korporalisierende Phase (sinnlich begründete Aufklärung des Publikums über die Sprache). Wenn hier konkrete Beispiele für schöpferisch innovatorische Potentiale der Sprachkunst in der modernen Zeit zu bemerken sind, können wir sogar umgekehrt behaupten, dass die Kraussche Satire der Untersuchung der Aspekten von »Performativität« typische Beispiele anzubieten vermag. Dieses Charakteristikum scheint heutzutage umso beachtenswerter, da sich der kritische Kern seiner Satire im Kontext der Auseinandersetzung der Literatur mit der Hegemonie der Informationstechnologie als Anhaltspunkt bewährt. Führen wir als Beispiel dafür The Kraus Project von Jonathan Franzen, einem weltweit prominenten US-amerikanischen Schriftsteller, an. In diesem mit dem früheren Band der Fackel nachgemachtem Umschlag versehenen Buch hat er Kraus’ Heine- sowie Nestroy-Essay ins Amerikanische übersetzt und in dazu hinzugefügten zahlreichen Fußnoten nicht nur Sachen und Personen erläutert, sondern seine eigene Laufbahn zu einem Kraus-Anhänger nachvollziehen lassen. Das entscheidende Movens zu dieser Publikation lässt sich aus der Behauptung schließen, der Sonderfall Wien 1910 sei mit jenem Sonderfall Amerika 2013 recht ähnlich, bei dem Zeitungstechnologie und Wiener Charme durch Digitale Technologie und Amerikan Coolness ersetzt worden seien und die Führer der IT-Medien wie Jeff Bezos, der Gründer von Amazon, ihre Herrschaft auch über die Schriftsteller ausübten, genauso wie Moriz Benedikt, der Chefredakteur der Neuen Freien Presse, über die Jung-Wiener1. Er scheint jedoch trotz der Angemessenheit seines Versuchs, in der Krausschen Satire ein Potential der IT Kontra gebenden Literatur zu suchen, dessen Abneigung gegen die fiktionale »Romanliteratur« (Bd. 8, 253) misszuverstehen, wenn er diese für Neid hält2. Denn die »geschriebene Schauspielkunst« besteht nicht etwa darin, die Sprache der Einfühlung in die Personen sowie der Verfolgung des Plots nach der ›illusionistischen‹ Absicht des Autors dienstbar zu machen, sondern vielmehr darin, dem Leser sowie dem Hörer eben dazu zu verhelfen, »Spracherlebnisse« durch eine klare Sprachbewusstheit zu gewinnen. Dabei würde Kraus’ Werk, je nach dem Interesse eines ›Besuchers‹, bald als ruinenhaftes Monument vergangener Pressesprache, bald als Theater eines ergiebigen Zitatenspiels, bald als Erziehungsorgan des Ethos des Satirikers Kraus, bald als Schutzmauer gegen die publizistische bzw. informationstechnische Aneignung der Sprache erscheinen. In einem spezifischen Sinne kann man hierbei 1
Franzen, S. 13 f., 146, 273. Franzen, S. 269.
2
Schlussbetrachtung
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also von der ›performativen Spracharchitektur‹ sprechen, die als metaphorisches Gegenstück zur herrschenden IT-Architektur gelten kann3. Demnach hilft uns der Begriff »Performativität« über die konventionelle Sicht auf die Literatur, von der Franzen auch nicht frei ist, hinweg, damit wir die Aktualität der Krausschen Satire im Zeitalter nicht der ›Massen-‹, sondern der ›Socialmedia‹ im noch zeitgemäßeren Sinne entdecken können. Für die seine Tätigkeit in der Nachkriegszeit sind vor allem die pädagogische Praxis der ›Sprachlehre‹, die essayistische Thematisierung der Dichtersprache und die Ausweitung der Lesungen zum ›Theater der Dichtung‹ bezeichnend. Die Kritik an der Pressesprache nahm dabei weiterhin eine zentrale Position ein, indem ihr nun »das Grundübel der Wortfremdheit« (F668 / 75, 62) zugeschrieben wurde. Die »letzten Tage der Menschheit« fanden nämlich noch kein Ende. Auf diese Kontinuität weist der Nörgler in seinem Gespräch mit dem Optimisten wie folgt hin: Der Optimist: Jeder Krieg wurde doch noch durch einen Frieden beendigt. Der Nörgler: Dieser nicht. Er hat sich nicht an der Oberfläche des Lebens abgespielt, sondern im Leben selbst gewütet. Die Front ist ins Hinterland hineingewachsen. Sie wird dort bleiben. Und dem veränderten Leben, wenns dann noch eines gibt, gesellt sich der alte Geisteszustand. Die Welt geht unter, und man wird es nicht wissen (Bd. 10, 658 f.).
Aus diesem fortwährenden Bewusstsein der Krise entstanden zwischen 1921 und 1928 auch die fünf hochaktuellen Dramen, Literatur oder Man wird doch da sehn, Traumstück, Wolkenkuckucksheim, Traumtheater und Die Unüberwindlichen. Diese potenzierte Orientierung an der »Performance« stand in den letzten Lebensjahren von Kraus in Verbindung mit dem Essayband Die Sprache (1937) sowie der posthum erschienenen polemischen Schrift gegen das Naziregime, Die dritte Walpurgisnacht (1952). In welchem performativen Spannungsfeld diese Arbeiten in Beziehung zueinander stehen, soll ein Thema meiner künftigen Studien sein.
3
s. dazu: Kouno, in: Fujii / Yamamoto, S. 102 ff.
Literaturverzeichnis Zur Zitierweise Die Abkürzungen »Bd.« bzw. »FS« und die nachfolgenden arabischen Zahlen bezeichnen Bandnummer und Seitenzahl der von Christian Wagenknecht herausgegebenen Schriften von Karl Kraus bwz. der Ausgabe Frühe Schriften, herausgegeben von Joh. J. Braakenburg. Die Abkürzung »F« und die nachfolgenden arabischen Zahlen bezeichnen Bandnummer und Seitenzahl der 1968–1976 erschienenen zwölfbändigen Neuausgabe der Fackel von Karl Kraus. Die Arbeit folgt den Regeln der neuen Rechtschreibung. Zitate werden aber originalgetreu wiedergegeben.
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*
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Abbildungsnachweis Alle Abbildungen wurden entnommen aus: AAC – Austrian Academy Corpus (Hrsg.), AAC-Fackel. Online Version: »Die Fackel. Herausgeber: Karl Kraus, Wien 1899–1936«. AAC Digital Edition Nr. 1. http://www.aac.ac.at/fackel, .
Personenregister Adorno, Th. W. 61, 109, 124, 139, 147, 170, 171, 180, 190, 191, 192, 193, 219, 256, 326 Aischylos 83, 320 Altenberg, P. 21, 41, 53, 191, 238 Andrian, L. v. 290 Antoine, A. 142 Anzengruber, L. 27, 142 Archilochos 15 Aristophanes 15, 88 Aristoteles 118, 169, 170, 178, 219, 296, 305 Artaud, A. 234 Austin, J. L. 16, 130, 131, 133, 135, 155, 156, 157, 178, 179, 213, 215, 222, 223, 241, 281 Bachtin, M. 88, 159, 160, 167, 168 Bahr, H. 20, 21, 22, 23, 24, 25, 26, 33, 52, 59, 203, 204, 290 Ball, H. 221 Bartels, A. 54, 55 Barthes, R. 127, 136, 137 Battisti, C. 282 Baudelaire, Ch. P. 22, 290 Bauer, J. 27, 48, 52, 54, 75, 144 Baumeister, B. 235 Baumgarten, A. 186 Beer-Hofmann, R. 34 Beethoven, L. v. 38 Benedikt, M. 25, 32, 166, 203, 262, 278, 304, 309, 328 Benedikt XV. Papst 309 Benjamin, W. 125, 126, 139, 158, 159, 170, 171, 192, 209, 267, 318, 325 Bense, M. 97, 102, 175 Benvenuto Rambaldi d. I. 121 Bezos, J. 328 Bismarck, O. 117, 261 Blumenberg, H. 180 Böll, H. 112 Bollnow, O. F. 79, 213
Bonnet, Ch. 318 Börne, L. 71, 72, 99, 100 Brahm, O. 52, 145, 265 Brecht, B. 142, 253 Broch, H. 213, 238 Buchbinder, B. 62 Büchner, G. 279, 280, 281 Buffon, G. L. L. 49 Bühler, K. 177 Bukovics, E. 26 Burke, E. 193, 194 Butler, J. 17, 132, 133, 134, 242, 281, 289 Canetti, E. 233, 248, 253 Cassierer, E. 194 Chamberlain, H. S. 33 Chargaff, E. 262 Chladenius, J. M. 158, 209 Chomsky, N. 281 Cicero 121 Claudius, M. 261 Conrad, M. G. 19, 224 Craig, E. G. 144 D’Annunzio, G. 22 Dauthendey, M. 223 Davidson, D. 281 Dehmel, R. 223, 238 de Man, P. 103, 104, 157, 179, 195, 214 Derrida, J. 130, 154, 155, 156, 157, 158, 163, 214, 215, 216, 234, 281, 318 Diderot, D. 322 Dilthey, W. 79, 213, 224, 225 Dörmann, F. 20, 289 Dostojevski, F. M. 261 Dreyfus, A. 32, 33, 34 Droste-Hülshoff, A. v. 59, 60 Duchamp, M. 175 Ehrenstein, A. 255 Elisabeth, A. E., Kaiserin 54
Personenregister Erasmus 181 Ernst, O. 204 Eschenbach, W. v. 196 Eulenburg, Ph. 50, 62, 63 Evreinov, N. 28 Fall, L. 301 Felman, S. 179 Ficker, L. v. 238 Flusser, V. 209 Foucault, M. 131, 132, 134, 158, 313 Franz Ferdinand 276, 283, 284 Franz Josef, Kaiser 282, 301, 307 Franzen, J. 328, 329 Freud, S. 22, 43, 136, 158, 165 Freytag, G. 33, 51, 112 Fridezko, S. 298 Friedjung, H. 116, 118, 119, 123, 125, 129, 152, 153, 164, 202, 214, 245 Friedländer, S. 255 Fuchs, G. 28 Gadamer, H. G. 86, 188, 189, 190, 191, 214, 222 Ganghofer. L. 301 Geibel, E. 302 George, S. 253, 318 Girardi, A. 62, 75, 142, 143, 144, 145, 148, 207 Goethe, J. W. v. 20, 54, 59, 60, 65, 82, 105, 110, 152, 159, 181, 198, 209, 220, 255, 261, 270, 317, 319 Gombrich, E. 180 Gottsched, J. Ch. 161, 186 Greenblatt, S. 132 Grimmelshausen, H. J. Ch. v. 261 Großmann, S. 119 Grüner, F. 200, 298 Gryphius, A. 261 Habermas, J. 28, 31, 39, 61, 62, 79, 112, 156, 157, 158, 190, 219, 281 Haecker, Th. 310, 312 Hamburger, K. 178 Harden, M. 30, 49, 52, 53, 59, 62, 64, 65, 71, 76, 79, 99, 104, 132, 145, 151, 184, 196, 197, 215, 323 Hauptmann, G. 19, 142, 223, 261, 268
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Havelock, E. A. 233, 234 Haymerle, H. F. J. 285 Hebbel, F. 35, 101, 119, 264, 265 Hegel, G. W. F. 119, 250, 251 Heidegger, M. 138, 172, 188, 213, 214, 218, 242, 321, 322, 324 Heine, H. 52, 53, 54, 55, 56, 57, 58, 59, 60, 61, 62, 63, 65, 66, 67, 68, 69, 70, 71, 72, 73, 74, 75, 77, 78, 81, 85, 88, 89, 92, 93, 96, 97, 98, 99, 100, 101, 102, 104, 105, 106, 107, 108, 109, 110, 112, 113, 115, 121, 122, 148, 156, 171, 174, 183, 214, 215, 220, 232, 265, 284, 318, 321, 328 Herder, J. G. 187 Hermlin, S. 269 Herzl, Th. 32, 34, 35, 36, 37, 125 Hevesi, L. 60, 66 Hirsch, J. F. 282, 301 Hitler, A. 238 Höfer, I. .v. 274 Hofmannsthal, H. v. 19, 22, 58, 60, 71, 95, 142, 150, 164, 248, 290, 309, 311, 324 Hölderlin, F. 97, 261, 322 Holz, A. 19, 142, 280 Horaz 15, 68, 121, 181, 186, 193 Humboldt, W. v. 83, 102, 318 Husserl, E. 213 Hutten, Ulrich von 55 Ibsen, H. 23, 142 Ingarden, R. 178, 179 Iser, W. 172, 176, 179, 180, 189 Jahoda, G. 92, 115 Jakobson, R. 177 Janin, J. 58 Janowitz, F. 298 Jean Paul 114, 187, 255, 261 Jensen, A. 302 Juvenal 15, 46, 121, 124, 181, 184 Kainz, J. 62, 65, 145, 224, 235 Kálmán, E. 142 Kant, I. 51, 75, 181, 185, 187, 188, 191, 192, 195, 216, 261 Kawakami, O. 166 Kerr, A. 184, 289 Kleist, H. v. 85, 242
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Personenregister
Koch, L. 300 Kokoschka, O. 237, 238, 255, 318 Krenek, E. 262 Kresnik, J. 14, 270 Kuh, E. 119 Kürnberger, F. 51, 171 Lacan, J. 281 Lacoue-Labarthe, Ph. 321, 322 Lammasch, H. 38 Lasker-Schüler, E. 41, 111, 198, 238, 255, 318 Laube, H. 119, 224 Lehár, F. 142, 148, 300, 301 Lehmann, H. Th. 142, 252 Leibniz, G. W. v. 314 Lenau, N. 59, 60 Lengyel, M. 166 Lessing, G. E. 194 Lessing, Th. 245 Lévinas, E. 218 Lewinsky, J. 235 Lichtenberg, G. Ch. 40, 62, 173 Liebenfels, L. v. 238, 244, 245 Liebknecht, W. 33 Liegler, L. 95, 111 Liliencron, D. v. 19, 59, 60, 223 Lindtberg, L. 270 Lipps, H. 222 Liscow, Ch. L. 193 Liszt, F. v. 38 Livius, Titus 267 Longinus 194 Loos, A. 58, 64, 238 Lothar, R. 54 Lucilius 15, 160 Luhmann, N. 281 Lukian 15, 159, 271 Lukrez 257 Luther, M. 114, 261 Lyotard, J. F. 158 Mach, E. 22 Mann, H. 41 Mann, Th. 238 Marcuse, H. 222 Marx, K. 158 Matkowsky, A. 64, 235
Mauthner, F. 51, 95, 110 McLuhan, M. 128, 234 Meier, G. F. 209, 314 Mendelssohn, M. 32, 193 Menippos von Gadara 15, 173 Meyer, R. M. 78, 132 Mittler, F. 232 Moltke, K. v. 50 Mörike, E. F. 59, 60 Mukařovský, J. 177 Müller, H. 289 Müller, R. 289 Nancy, J. L. 172 Nepalleck, W. F. 284 Nestroy, J. 27, 35, 36, 62, 114, 115, 118, 119, 120, 121, 122, 124, 125, 128, 140, 141, 142, 143, 145, 148, 152, 157, 160, 161, 162, 163, 167, 175, 176, 182, 186, 187, 194, 207, 212, 216, 217, 219, 220, 229, 232, 253, 261, 264, 268, 301, 306, 312, 315, 328 Nietzsche, F. 22, 43, 51, 98, 107, 110, 129, 131, 147, 158, 220, 265 Nogi, M. 164, 167 Nordau, M. 54
116, 126, 149, 174, 209, 240, 313, 123,
Offenbach, J. 115, 147, 148, 150, 229, 232, 240, 306 Österreicher, R. 300 Persius 160 Petronius 15, 160 Pfemfert, F. 55, 316 Philippson, L. 58 Pirandello, L. 295 Piscator, E. 286 Platen, A. v. 63, 71, 99, 108 Platon 170, 172, 243 Plessner, H. 242, 245 Pompadour, M. d. 251 Popper, L. 198 Qualtinger, H. 269 Rabelais, F. 15, 261 Raimund, F. 142, 162, 261, 288, 301
Personenregister Reinhardt, M. 58, 145, 150, 265, 267, 276 Ricœur, P. 180 Riedel, F. J. 193 Rilke, R. M. 223, 316 Rimbaud, A. 319 Ritter, B. J. W. 126 Ritter, E. 284 Roda Roda, A. 301 Rosner, L. 119, 229 Sada Yakko 166 Saint-Beuve, Ch. A. 58 Saphir, M. G. 71, 119, 171 Saussure, F. de. 87, 134, 155, 281 Schalek, A. 269, 287, 289, 290, 301, 304 Schechner, R. 134, 243, 246 Schelling, F. W. J. v. 218 Schiller, F. v. 16, 21, 40, 53, 82, 83, 87, 95, 105, 120, 122, 150, 152, 153, 173, 181, 182, 184, 185, 187, 188, 190, 194, 215, 229, 250, 253, 255, 293, 319, 320 Schlaf, J. 142 Schlaffer, H. 172 Schlegel, A. W. v. 114 Schlegel, F. v. 88, 117 Schleiermacher, F. 224 Scholz, W. 161 Schönberg, A. 149, 238 Schopenhauer, A. 51, 261 Schütz, A. 151 Schütz, F. 36, 37 Schwitters, K. 221 Searle, J. R. 156, 157, 178, 179, 215, 222, 281 Shaftesbury, A. A. C. 188, 193 Shakespeare, W. 40, 114, 115, 141, 144, 145, 149, 235, 261, 264, 265, 266, 268, 320 Sidonie Nádherný, v. B. 316, 318 Siebs, Th. 249 Silcher, F. 281 Simmel, G. 242, 245 Sloterdijk, P. 220 Sonnenthal, A. v. 235 Sophron 160 Spitzer, D. 51
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Stifter, A. 261 Stoessl, O. 231 Storm, Th. 59, 60 Strakosch, A. 224 Stramm, A. 221 Strauss, J. 301 Strauss, R. 150 Strindberg, A. 41, 315 Sulzer, J. G. 187, 217 Swift, J. 15, 21, 194 Tambiah, S. J. 241 Tieck, L. 114, 224 Trakl, G. 238, 255, 318 Turner, V. 241, 253 Uhland, L. 148, 281 Vischer, F. Th. 118, 119 Voigt, W. 152 Voltaire 15 Wagner, R. 43, 149, 150 Walser, M. 51 Wedekind, F. 20, 37, 41, 42, 48, 121, 142, 144, 229, 232, 238 Weininger, O. 38, 44, 83 Weiskern, W. 161 Weiß, R. 87, 88, 111, 198 Werfel, F. 101, 238, 255, 289, 318, 319, 320, 322, 323 White, H. 132 Wilde, O. 21, 36, 37, 44, 48, 91, 144, 169 Wildenbruch, E. 144 Wilhelm II., Kaiser 50, 301, 308 Willner, A. M. 300 Wittgenstein, L. 111, 222, 281 Wolff, K. 319 Zarnack, J. A. 301 Zifferer, P. 164, 165, 166, 167 Zola, E. 142 Zuckmayer, C. 152 Zumthor, P. 209, 239 Zweig, S. 238