Die Pattern-Paintings von Christopher Wool: Diskontinuität und Synthese 9783110584868, 9783110584691

Die Pattern Paintings des Malers Christopher Wool werden in diesem Buch erstmals umfassend kunsthistorisch analysiert. U

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German Pages 226 [228] Year 2018

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Table of contents :
Dank
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
Roller-Paintings
Bildstrukturen und Minimalismus
Tafelteil
Simultanität und Sukzessivität
Weltbezug: Urbanität
Schluss
Literaturverzeichnis
Bildnachweis
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Die Pattern-Paintings von Christopher Wool: Diskontinuität und Synthese
 9783110584868, 9783110584691

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Kirsten Waldmann Die Pattern-Paintings von Christopher Wool

Kirsten Waldmann

Die Pattern-Paintings von Christopher Wool

Diskontinuität und Synthese

Die Drucklegung erfolgte mit freundlicher Unterstützung des Lehrgebiets Gestaltungstechnik und Kunstgeschichte an der Bergischen Universität Wuppertal.

ISBN 978-3-11-058469-1 eISBN (PDF) 978-3-11-058486-8 eISBN (EPUB) 978-3-11-058480-6 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data Names: Waldmann, Kirsten, author. Title: Die Pattern-Paintings von Christopher Wool : Diskontinuität und Synthese / Kirsten Waldmann. Description: Berlin ; Boston : Walter de Gruyter, 2018. Identifiers: LCCN 2018013803| ISBN 9783110584691 (print) | ISBN 9783110584868 (e-book (pdf)) | ISBN 9783110584806 (e-book (epub)) Subjects: LCSH: Wool, Christopher--Criticism and interpretation. Classification: LCC ND237.W84 W35 2018 | DDC 759.13--dc23 LC record available at https://lccn.loc.gov/2018013803 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2018 Walter de Gruyter GmbH, Berlin / Boston Satz: Satzstudio Borngräber, Dessau-Roßlau Coverabbildung: Ausschnitt aus: Christopher Wool, Untitled, 1991, Alkydharzlack auf Papier, 132 × 101 cm Druck und Bindung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen www.degruyter.com

Dank An erster Stelle gilt mein Dank meinem Doktorvater Herrn Prof. Dr. Ulrich Heinen für die Unterstützung und Betreuung während der Arbeit an dieser Dissertation. Durch kritische und konstruktive Anregungen und Reflexionen half er mir, das Thema in der vorliegenden Form zu entwickeln. Er war immer ansprechbar und interessiert an der Entwicklung der Arbeit und ließ mir große Freiheit bei der Wahl des Themas. Priv.-Doz. Vera Beyer danke ich für die Zweitkorrektur und hilfreiche Hinweise. Danken möchte ich auch meinen Kolleginnen Susanne Catrein und Karin Weckermann für den fruchtbaren Austausch, ihre Unterstützung und ihre anregenden Kommentare zum Manuskript. Meinen Eltern, Lotte und Claus, meiner Familie, Berthold, Carla und Enno sowie meinen Geschwistern und Freunden danke ich für ihre Anregungen, ihre Geduld und Ermutigung.

Inhaltsverzeichnis Dank — V Einleitung — 1 Roller-Paintings — 17 Annäherung an Untitled, 1987 — 20 Dekonstruktion modernistischer Paradigmen — 22 Bildstrukturen und Minimalismus — 57 Annäherung an Groove II, 1994 — 59 „Augenblicklichkeit“ und „inszenierte Endlosigkeit“ — 64 Das Raster — 73 Exkurs Musik: Groove — 85 Tafelteil — 91 Simultanität und Sukzessivität — 97 Annäherung an Loose Booty, 1995 — 97 Mikro- und Makrostrukturen — 101 „Regulating lines“ — 106 Horizontalität und Vertikalität — 107 Weltbezug: Urbanität — 121 East Broadway Breakdown — 124 Annäherung an Untitled, 1997 — 132 Innen: Ornament und Tapetenmuster — 136 Künstlerisches Umfeld: „Appropriation Art“ — 142 Graffiti — 163 Handmade – Readymade — 171 Exkurs: Flanieren und „dérive“ — 177 Haltung: „The Cool“ — 179 Schluss — 199 Literaturverzeichnis — 203 Bildnachweis — 220

Einleitung La structure de la perception effective peut seule nous enseigner ce que c’est que percevoir. Maurice Merleau-Ponty1

Der US-amerikanische Maler Christopher Wool (geb. 1955) erlangt seit den 1980erJahren immer größere internationale Bedeutung2; seiner Malerei werden von einigen Autoren eine kanonische Position und großer Einfluss auf eine jüngere Generation abstrakter MalerInnen wie Wayde Guyton, Josh Smith u.a. nach den 1980er-Jahren zugesprochen.3 Dennoch gibt es außer einer Vielzahl von Aufsätzen, Katalogbeiträgen und Artikeln keinen „genügend ausgebildeten theoretischen Diskurs“4 oder kunsthistorisch umfassenden Ansatz, die das Werk oder einzelne Werkgruppen systematisch bearbeiten.5 Die verschiedenen Interpretationsansätze wurden bisher weder zueinander in Beziehung gesetzt und kontrovers diskutiert noch wurde das Spezifische einzelner Werkgruppen herausgearbeitet und kontextualisiert. Des Weiteren liegen bis jetzt keine detaillierten Einzelbildanalysen vor.6

1 Maurice Merleau-Ponty: Phénoménologie de la perception, Paris 1949, S. 10. 2 Dies belegt eine Vielzahl von Ausstellungen, darunter Einzelausstellungen im Musée d’Art Moderne, Paris, 2012; im Solomon R. Guggenheim Museum, New York, 2013/14; und in The Art Institute of Chicago, 2014. Daneben war Wool in wichtigen Gruppenausstellungen vertreten, wie z.B. „This Will Have Been: Art, Love & Politics in the 1980s“, Museum of Contemporary Art Chicago, 2012; „The Painting Factory: Abstraction After Andy Warhol“, The Museum of Contemporary Art Los Angeles, 2012; Damage Control: Art and Destruction Since 1950“, Hirshhorn Museum and Sculpture Garden, Washington D.C., 2013. 3 Siehe etwa Achim Hochdörfer: Reviews: Christopher Wool – Solomon R. Guggenheim Museum, in: Artforum, Vol. 52, No. 7, März 2014, S.  281; Johanna Burton, Jeffrey Deitch, James Meyer und Scott Rothkopf: The Painting Factory: A round table discussion, in: Jeffrey Deitch (Hrsg.): The Painting Factory. Abstraction after Warhol, Ausst.-Kat. The Museum of Contemporary Art Los Angeles, (29.4.– 20.8.2012), S. 17. 4 Zur Einschätzung der Forschungslage siehe auch Jutta Koether: Nicht die Angemessenheit. Von Vorgängen des produktiven Entstellens: Die Malereien Christopher Wools, in: Parkett, Nr. 83, 2008, S. 154. 5 Der kurze Abschnitt zu den Word-Paintings von Christopher Wool in der Dissertation von Katrin Ströbel zum Verhältnis von Wort und Bild ist aufgrund der unterschiedlichen Schwerpunktsetzung und des geringen Textumfangs von fünf Seiten in diesem Zusammenhang nur bedingt relevant. Vgl. Katrin Ströbel: Wortreiche Bilder. Zum Verhältnis von Text und Bild in der zeitgenössischen Kunst, Bielefeld 2013, S. 282–287. 6 Gründe hierfür können nur vermutet werden: Zunächst ist Wool als konzeptuell orientierter Maler im malereifeindlichen Klima der 1980er-Jahre eine Einzelfigur und findet keinen Platz in der die damalige Zeit beherrschenden binären Formel „Neoexpressionisten versus Appropriation Artists“. Insofern passte seine künstlerische Position nicht unmittelbar zur dominanten theoretisch basierten Kunstkritik der sogenannten Postmoderne. Des Weiteren könnte Wools enormer Erfolg auf dem Kunstmarkt ein Grund für das Misstrauen gegenüber einer historischen Aufarbeitung seines Werks

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 Einleitung

Da sich Wools Bedeutung für die Malerei seit den 1980er-Jahren immer stärker verfestigt und seine erste Werkgruppe, die Pattern-Paintings, vor nunmehr fast dreißig Jahren begonnen und vor ca. fünfzehn Jahren abgeschlossen wurde, sind eine kunsthistorische Auseinandersetzung mit dem (Früh-)Werk und eine vorläufige Einordnung desselben sinnvoll und notwendig. In den Pattern-Paintings entwickelt Wool zentrale Parameter seiner weiteren Arbeit. Sie können – wie die WordPaintings – als abgeschlossene Werkgruppe definiert werden. Neben der Einteilung in formal klar abgegrenzte Werkgruppen ist jedoch eine kontinuierliche Entwicklung auszumachen, die auf einem konsistenten Spektrum an zeitrelevanten, malerischen Fragestellungen basiert. Dafür, dass verschiedenen Werkgruppen m.E. übereinstimmende Fragestellungen zugrunde liegen, spricht auch das gleichzeitige Arbeiten an den Pattern-Paintings und den Word-Paintings sowie an dem fotografischen Œuvre, das Wool parallel zu seinem malerischen Werk entwickelt. Es gilt somit, die Pattern-Paintings von anderen Werkgruppen abzugrenzen, sie jedoch auch im Hinblick auf übergreifende Fragestellungen im Gesamtwerk zu verorten.7 Die erste Werkgruppe der Pattern-Paintings beginnt Wool Anfang dreißig mit den Roller-Paintings. Die letzte Arbeit, in der er auf vorgefertigte Pattern zurückgreift,

sein. Diese mögliche Begründung für eine zurückhaltende theoretische Rezeption und historische Aufarbeitung nennt Katy Siegel in ihrer Interpretation der US-amerikanischen Kunstgeschichtsschreibung der Nachkriegszeit: „But as my knowledge of art broadened and deepened, I branched out to study and teach different types of artists, including both those left out of the history because they did not fit in artistically, ideologically, or socially and those often scorned, apparently, for their success in the art market.“ Katy Siegel: Since ’45: America and the making of Contemporary Art, London 2011, S. 8. Des Weiteren gelten Wools Bilder als widerständig gegenüber Interpretationen, da sie keine Zuschreibung von „Bedeutung“ erlauben. (Vgl. John Caldwell: Christopher Wool: New Work, in:San Francisco Museum of Modern Art, San Francisco 1989, o.S.; Anne Pontégnie: Ghost dog, in: Le Consortium / Dundee Contemporary Art (Hrsg.): Crosstown Crosstown, Ausst.-Kat. Le Consortium Dijon, (02.02–04.05.2002) 2002, und Dundee Contemporary Arts, (06.04–08.06.2003 ), S. 11, 14.) Auch der französische Kunsthistoriker und Kurator Fabrice Hergott schreibt die Sonderstellung Wools im Kontext der zeitgenössischen Kunst dem intakten „Geheimnis“ seiner Arbeiten zu, die sich eindeutigen Zuschreibungen verweigern. Fabrice Hergott: Mirror of no return, in: Christopher Wool, Ausst.-Kat. Musée d’Art Moderne de la Ville de Paris, 30.3.–19.8.2012, S. 23. Zur widersprüchlichen Interpretierbarkeit siehe auch Susanne Titz: Christopher Wool, in: Burkhard Riemschneider und Uta Grosenick (Hrsg.): Art at the turn of the millenium, Köln 1999, S. 550. 7 Die Offenheit einzelner Werkgruppen beschreibt auch Wool selbst. Auf die Frage, ob er gleichzeitig an den Pattern- und den Word-Paintings gearbeitet habe, antwortete er in einem Interview mit der Kuratorin Ann Temkin. „CW: Absolutely, even on the same day. I thought it was interesting to show them together, too. It was important to me to show that they spoke different ways about similar kinds of things. It was also useful to call attention to their differences.“ Zitiert nach: Ann Temkin und David Frankel (Hrsg.): Contemporary Voices. Works from the UBS Art Collection, Museum of Modern Art, New York 2005, S. 133.

Einleitung 

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kann auf das Jahr 2000 datiert werden.8 Danach treten in seinem Werk keine angeeigneten Pattern mehr auf. In den Roller-Paintings konfrontiert Wool angeeignete Muster von Musterrollen mit dem mechanischen Farbauftrag in postminimalistischer Tradition. Die Muster waren ursprünglich für die Dekoration von Wänden vorgesehen und verweisen somit auf das urbane Umfeld des Künstlers. Er eignet sich die originalen Muster von Gummiwalzen an und reproduziert sie auf drei Weisen: 1. Die Farbe wird, wie bei den ursprünglichen Musterrollen vorgesehen, direkt mit einer Rolle auf den Aluminiumgrund aufgetragen. 2. Die Muster werden ab 1991 vergrößert und auf Gummiplatten übertragen. Aus diesen werden neue Gummistempel hergestellt, die er für Stempeldrucke benutzt. 3. Ab 1998 werden die vergrößerten Muster durch fotomechanische Verfahren auf Siebe projiziert, aus denen Siebdrucke hergestellt werden. Als Malgründe dienen bis 1998 flache, harte Oberflächen, wie Aluminiumplatten, Papier oder Reispapier. Für die in den folgenden Jahren entstehenden Siebdrucke dient auch Leinen als Malgrund. Wool benutzte für die Pattern so gut wie ausschließlich hochpigmentierte schwarze Emailfarbe und schwarzen Alkydharzlack – Farben, die ursprünglich für die Herstellung von Schildern und Hinweistafeln benutzt wurden.9 Für die Siebdrucke dagegen verwendet er Siebdruckfarbe. Die Pattern werden ab 1994 mit zunehmenden Schichtungen auch übersprüht oder mit Farbrollen übermalt. Die Pattern-Paintings sind durch das Zusammenwirken anonymer, präformierter Zeichen der Tapetenmuster mit einem prozessorientierten Farbauftrag geprägt. Diese Beziehung zwischen dem Von-Hand-Hergestellten (handmade) und dem Ready-made sieht Wool im Jahr 1983 bei Robert Gobers „sinks“ und ist fasziniert davon.10 Die Entkoppelung des Produktionsakts von der optischen Wirkung, der Repräsentation des Bildes, deren Deckungsgleichheit im US-amerikanischen Modernismus ein zentrales Kriterium war, bleibt eine grundlegende Fragestellung in Wools Werk.11 Damit verbunden ist die Spannung zwischen intentionalem Handeln und dessen Preisgabe sowohl im Produktions- als auch im Rezeptionsprozess. Das Zusammenwirken dieser Pole erlaubt es ihm, Bildkonzepte zu entwickeln, die jenseits eines Vorgehens liegen,

8 Auch die Ausstellung im Jahr 2007 in der Skarstedt Gallery, New York, ist mit „Christopher Wool: Pattern Paintings 1987–2000“ betitelt und begrenzt somit diese Werkphase auf den angegebenen Zeitraum. 9 Temkin/Frankel 2005, S. 131. 10 „Gober had a great influence on me: seeing that his sinks of the mid-’80s were handmade – and seeing the relationship of the handmade there to, say, Duchamp’s readymades – was fascinating to me.“ Temkin/Frankel 2005, S. 130. 11 Siehe auch Katherine Brinson: Trouble is my business, in: Christopher Wool, Ausst.-Kat. Solomon R. Guggenheim Museum New York, (25.10.2013–22.01.2014), und The Art Institute of Chicago, (23.02.2014–11.05.2014), S. 39.

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 Einleitung

das – in modernistischer Tradition – komplett auf das Künstlerindividuum ausgerichtet sind. Er selbst beschreibt diese Loslösung wie folgt: „I may have felt a strong desire [...] to eliminate a modernist kind of decision-making“.12 Störungen in Form von Verschmierungen, Stauchungen, Verzerrungen, Überlagerungen, Spritzern, Flecken u.Ä., welche während dieses spezifischen, nur bedingt steuerbaren Prozesses entstehen, bergen überraschende emotionale Qualitäten und eine eigene, nur bedingt an den Autor gekoppelte, psychologische Aufgeladenheit, welche Wool in den folgenden Jahren mit großer formaler Disziplin und Präzision untersuchen wird. Das hier zutage tretende Zusammenwirken des in der Tradition der Pop-Art verhafteten kühlen Feststellens eines Matter-of-Fact mit einer spezifischen Expressivität, die Affinitäten zum abstrakten Expressionismus aufweist, verbunden jeweils mit den Künstlern Andy Warhol und Jackson Pollock, ist ein etablierter Topos in der Rezeption von Wools Werk.13 Die hier sichtbare malereihistorische Reflexion und kritische Aufarbeitung des modernistischen Erbes der US-amerikanischen Malerei im Werk, aber auch die Verstellungen durch eine reduktive modernistische Kunstkritik sind wesentliche Themen dieser Studie. Dabei werden visuelle Ähnlichkeiten und Unterschiede im Hinblick auf wiedererkennbare zentrale Topoi der US-amerikanischen Nachkriegsmalerei, wie Allover, flatness oder grid (Raster), teilweise auch im direkten Vergleich mit den „Vorbildern“, untersucht. Mit der Aufarbeitung des Modernismus und des damit verbundenen Rückbezugs der Kunst steht Wool in den 1980er-Jahren nicht allein. Sowohl in den USA als auch in Europa nimmt seit den 1960er-Jahren die explizite Bezugnahme auf künstlerische Referenzen zu. Dies zeigt sich u.a. an Ausstellungen, in denen die Selbstbezüglichkeit von Kunst zunächst als unabhängige Erscheinung thematisiert wurde, so z.B. in der von Leo Steinberg kuratierten Ausstellung „Art about Art“, 1978 im Whitney Museum of American Art, New York14, und seit den späten 1970er-Jahren als neue Kunstform, wie in der heute legendären Ausstellung „Pictures“, die Douglas Crimp 1977 kuratierte.

12 Zitiert nach: Temkin/Frankel 2005, S. 129. 13 Siehe hierzu z.B. Caldwell 1989, o.S.; Sebastian Egenhofer: Leerdeklinationen von Malerei. Über Christopher Wool im Musée d’Art Moderne de la Ville de Paris, in: Texte zur Kunst: Die Wertfrage, Heft Nr. 88, Dezember 2012, S.  196; Julia Friedrich: The Harder You Look ..., in: Christopher Wool: Porto-Köln, Ausst.-Kat. Museu de Serralves Porto, (21.11.2008–15.3.2009), und Museum Ludwig Köln, (21.04.2009–12.07.2009), S. 38–53; Hochdörfer 2014, S. 281; Madeleine Grynsztejn: Unfinished Business, in: Ann Goldstein (Hrsg.): Christopher Wool, Ausst.-Kat. The Museum of Contemporary Art Los Angeles, (19.07.1998–18.10.1998) und Carnegie Museum of Art Pittsburgh, (21.11.1998–31.01.1999), S. 266; Ann Goldstein: What they’re not: The paintings of Christopher Wool, in: Wool 1998, S. 262–263; Koether 2008, S. 150; Richard Flood: Wool-Auslese, in: Parkett, Nr. 83, 2008, S. 146. 14 Jean Lipman und Richard Marshall: Art About Art, New York, 1978.

Einleitung 

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Ein Grund für diese Entwicklung liegt in der immer stärkeren Verflechtung technischer Verfahren im Produktions- oder Rezeptionsprozess von Kunst: sei es durch die Zunahme verfügbarer Reproduktionen von Kunstwerken oder aufgrund der zunehmenden Bedeutung von Reproduktionsprozessen bei der Herstellung von Kunst. Damit ist eine verstärkte Reflexion über die sich wandelnden Bedingungen des Kunstschaffens und das Verhältnis von Kunst und ‚Nicht Kunst‘ – eine Reflexion, die Peter Bürger für die historischen Avantgarden als eine ‚Selbstkritik der Kunst‘ beschrieben hat,15

verbunden. Die zunehmende Macht der Massenmedien, eingebunden in einen Konsumkreislauf, in dem auch die Kunst eine immer bedeutendere Rolle spielt, wird Teil neuer Bilderfahrungen für eine ganze Generation.16 Des Weiteren befand sich die US-amerikanische modernistische Malerei Ende der 1970er-Jahre in einem Zustand der Ermüdung und Sinnentleerung. Dies kam u.a. in der kritischen Rezeption der von Barbara Rose kuratierten Ausstellung „American Painting: The Eighties“ aus dem Jahr 1979 zum Ausdruck, in der Rose MalerInnen zeigte, die ihrer Meinung nach für das kommende Jahrzehnt bedeutsam werden würden.17 Der Maler und Theoretiker Thomas Lawson kritisierte in seinem berühmten Essay „Last Exit: Painting“ die mangelnde kreative Kraft und Bedeutung der Kunst in dieser Ausstellung – einer Kunst, die nicht mehr gegen eine dominante Kultur Widerstand leistete, sondern nur noch mit sich selbst beschäftigt war. Die Forderung nach Unmittelbarkeit, die Aufgabe jedweder Form der Repräsentation im Modernismus und die damit verbundene Verneinung von Geschichte verengten nach Lawson den Blick auf die kunstimmanenten Regeln und die Person des Künstlers. Das Ergebnis dieser Entwicklung sah Lawson in einem zunehmenden Bedeutungsverlust der modernistischen Malerei: As a result the modernist insistence on an essential meaninglessness at the center of artistic practice came actually to mean less and less. From being a statement of existential despair it degenerated into an empty, self-pitying, but sensationalist, mannerism. From being concerned with nothingness, it became nothing. The repudiation of mimesis, and the escalating demands for impact, for new experience, beyond traditional limits, inevitably loosened the connections between artistic discourse and everyday life.18

15 Julia Gelshorn: Aneignung und Wiederholung. Bilddiskurse im Werk von Gerhard Richter und Sigmar Polke, München 2012, S. 12. 16 Douglas Eklund: The Pictures Generation. 1974–1984, The Metropolitan Museum of Art, New York 2009, S. 151. 17 Douglas Crimp: Das Ende der Malerei, in: Ders.: Über die Ruinen des Museums, Dresden 1996, S. 100 ff.; Thomas Lawson: Last Exit: Painting, in: Brian Wallis (Hrsg.): Art after modernism: Rethinking representation, New York 1984, S. 154 f. 18 Lawson 1981, S. 155.

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 Einleitung

Abgelehnt von den Vertretern einer selbstreferenziellen abstrakten Malerei, wie Clement Greenberg, prägte parallel die Pop-Art in hohem Maße die US-amerikanische Nachkriegskunst, welche sich nach Benjamin Buchloh aus der Rezeption der europäischen Ready-made-Ästhetik entwickelte.19 Initiiert u.a. durch die Pop-Art praktizierte die Formation der sogenannten Appropriation Artists im New York der 1980er-Jahre spezifische Aneignungsstrategien, die Aufweichung von Grenzen zwischen Hochund Popkultur und die zwischen einzelnen künstlerischen Medien.20 Sie erhoben die mehr oder weniger unveränderte – meist fotografische – Aneignung verschiedener Vorbilder aus den Bereichen der Kunst und der Massenmedien zu einer Kunstform, wodurch sie – sowohl ihre künstlerischen Techniken als auch ihre kunstkritischen Parameter betreffend – zu einer „Urszene“21 mit weitreichender Wirkung wurde und die Aneignung zu dem Hauptverfahren der zeitgenössischen Kunst22 avancierte. Mit der Appropriation Art wurden Aneignungsstrategien zu einem in der Kunstwissenschaft intensiv rezipierten Verfahren der Kunst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.23 Obwohl die Appropriation Artists so gut wie ausschließlich mit dem Medium der Fotografie arbeiteten, sprach Wool ihrer Kunst – da sie die für ihn wichtigsten Vertreter seiner Peergroup waren – eine große Bedeutung für die eigene künstlerische Entwicklung zu.24

19 Benjamin H.D. Buchloh: Allegorische Verfahren: Über Appropriation und Montage in der Gegenwartskunst, in: Alexander Alberro (Hrsg.): Art after conceptual art, Köln 2006, S. 36. 20 Douglas Crimp: Der Kampf geht weiter. Ein E-Mail-Austausch mit Douglas Crimp über Appropriation Art, in: Texte zur Kunst: Appropriation Now!, Jg. 12, 2002, H. 46, S. 35. 21 Texte zur Kunst: Appropriation Now!, Jg. 12, 2002, H. 46, S. 4. 22 Boris Groys: Über die Appropriation, in: Christian Schneegass (Hrsg.): minimal – concept. Zeichenhafte Sprache im Raum, Berlin, 2001, S. 177. 23 Zu Aneignungsverfahren siehe z.B. Benjamin H.D. Buchloh: Allegorical Procedures: Appropriation and Montage in Contemporary Art, in: Artforum, Vol. 21, No. 1, September 1982, S.  43–56 (in deutscher Sprache 2006 s. Anm. 20); Douglas Crimp: Pictures (1979), in: Brian Wallis (Hrsg.): Art after Modernism. Rethinking Representation, New York: New Museum of Contemporary Art, 1984, S. 175–188; Alejandro Perdomo Daniels: Die Verwandlung der Dinge. Zur Ästhetik der Aneignung in der New Yorker Kunstszene Mitte des 20. Jahrhunderts, Bielefeld 2012; Julia Gelshorn: Aneignung und Wiederholung: Bilddiskurse im Werk von Gerhard Richter und Sigmar Polke, München 2012; Groys 2001, S. 177–185; Eleanor Heartney: Appropriation and the loss of authenticity, in: New Art Examiner, Vol. 12, No. 6, March 1985, S. 26–30; Sherri Irvin: Appropriation and authorship in contemporary art, in: British Journal of Aesthetics, Vol. 45, No. 2, April 2005, S. 123–137; Joan Marter: The art of appropriation, in: Arts magazine, Bd. 106, 1985, S. 106; Texte zur Kunst: Appropriation Now!, Jg. 12, 2002, H. 46; Romana Rebbelmund: Appropriation Art. Die Kopie als Kunstform im 20. Jahrhundert, in: Europäische Hochschulschriften, Reihe 28, Kunstgeschichte, Bd. 347, Frankfurt am Main 1999; Stefan Römer: Künstlerische Strategien des Fake. Kritik von Original und Fälschung, Köln 2001. 24 Jutta Koether und Karen Marta: Am Anfang war das Wort. Ein Gespräch zwischen Jutta Koether, Karen Marta und Christopher Wool, in: Noema: Art Journal, May/June 1990, S. 48.

Einleitung 

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Verschiebungen modernistischer Wertvorstellungen für Kunst wie Originalität, Ausdruck, „pureness“ oder Selbstreferenzialität, die aus den Aneignungen und deren Neukontextualisierungen resultierten, waren zentrale Themen einer sogenannten postmodernen Kunst25 und „boten Anlass und Vokabular für rege theoretische Diskussionen [...], die insbesondere von der linken amerikanischen Kunstkritik aus dem Umfeld der Kunstzeitschrift October vorangetrieben wurden.“26 Das Hinterfragen zentraler modernistischer Paradigmen u.a. durch das In-Beziehung-Setzen widersprüchlicher kunsttheoretischer Konzepte und Diskurse auch durch Strategien der Aneignung – sei es im Verständnis der Pop-Art die Aneignung populärer Dekorationsartikel oder die visuelle Ähnlichkeit zu bestimmten Bildtypen – wurde in der Rezeption mit dem Begriff der Dekonstruktion27 in Verbindung gebracht. Sie ist ein Aspekt von Wools Werk, durch das er in den 1980er-Jahren zu einem Vertreter einer sogenannten postmodernen Malerei avancierte. Die in der Kunstgeschichte beschriebene Verschiebung von einer modernistischen Ästhetik der Selbstreferenz und dem damit verbundenen Anspruch einer unmittelbaren Form der Präsenz zu einer postmodernen „Ästhetik des Diskursiven“28 mit einer impliziten kritischen Revision der Ersteren scheint im Werk Wools zunächst exemplarisch und zentraler Topos in der Besprechung seiner Arbeiten.29 Dabei bleibt die Frage offen, wie Wool – trotz offensichtlicher Kritik und Ironisierung – seine Referenzen und deren medienspezifische Verfasstheit30 historisch bewusst thematisiert, reflektiert und damit auch

25 Vgl. Fredric Jameson: Postmoderne. Zur Logik der Kultur im Spätkapitalismus, in: Andreas Huyssen und Klaus R. Scherpe (Hrsg.): Postmoderne Zeichen eines kulturellen Wandels, Reinbek bei Hamburg 1986, S. 45–102. 26 Gelshorn 2012, S. 15. 27 Auf die Problematik dieses Begriffs wird gesondert eingegangen. 28 Siehe auch Markus Brüderlin: „Tatsächlich scheint das postmoderne Kunstwerk in seiner [...] Dialektik, in der Verschachtelung von Rahmen, in seiner ‚List des Bildes‘ und in seiner Einlagerung von Diskursen eine komplexe Struktur von Reflexivität anzustreben, die mehr ist, als die Reflexivität, welche die moderne Selbstreferenz des autonomen Kunstwerks hervorbrachte.“ Markus Brüderlin: Beitrag zu einer Ästhetik des Diskursiven, in: Jürgen Stöhr (Hrsg.): Ästhetische Erfahrung heute, Köln 1996, S. 303. 29 Siehe z.B. Ann Goldstein: Das Wie des Malens, in: Hans Werner Holzwarth (Hrsg.): Christopher Wool, Köln 2012, S. 178 f.; Hans Dieter Huber: Ein Bild ist ein Bild ist ein Bild. Zur Oberflächlichkeit der Malerei bei Barnett Newman, Andy Warhol und Christopher Wool, in: Peter Pakesch (Hrsg.): Warhol Wool Newman: Painting Real/Screening Real: Conner Lockhart Warhol, Ausst.-Kat. Kunsthaus Graz/ Universalmuseum Joanneum, (26.09.2009–10.01.2010), S. 102–113. 30 Die Reflexion derselben in der Kunst ist zentral in der modernistischen Malereitheorie, insbesondere bei Clement Greenberg. „Auch die querelle des modernes et des postmodernes, die sich  – auf malereitheoretischer Ebene – aus den Auseinandersetzungen um den ‚grand récit du modernisme‘ Clement Greenbergs speist, führt zu einer entschiedenen medienästhetischen Bildreflexion.“ Martina Dobbe: Querelle des Anciens, des Modernes et des Postmodernes: exemplarische Untersuchungen zur Medienästhetik der Malerei im Anschluß an Positionen von Nicolas Poussin und Cy Twombly, München 1999, S. 14.

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 Einleitung

Kontinuitäten im Hinblick auf den wahrheitsästhetisch-idealistisch ausgerichteten US-amerikanischen Modernismus und den phänomenologisch ausgerichteten Minimalismus bzw. Postminimalismus wahrt. Dabei muss weder eine Abwendung von der Kategorie des Werks noch „von Überlegungen über die Verfasstheit ästhetischer Gegenstände“ vollzogen werden, sondern es besteht die Chance, die künstlerische Moderne neu zu erschließen.31 Die Frage, wie Wool den Status des Bildes zwischen Selbstreferenz und diskursiver Verweisfunktion verortet, soll vor allem im Hinblick auf die Frage nach der Bildeinheit untersucht werden. Auf malereitheoretischer Ebene ist in diesem Zusammenhang die Auseinandersetzung mit dem für die Kunst des 20. Jahrhunderts überaus einflussreichen Kunstkritiker Clement Greenberg (1909–1994) unverzichtbar. Der Einfluss Greenbergs auf die Kunst des 20. Jahrhunderts und insbesondere auf die abstrakte Malerei ist außerordentlich, „seine Veröffentlichungen wurden als autoritative Setzung, als Inbegriff avancierter Kunstkritik rezipiert.“32 Nach Donald Kuspit, US-amerikanischer Kunstkritiker und -wissenschaftler, kann man den Einfluss Greenbergs nicht überschätzen.33 Greenberg definierte die mediale Selbstreferenz im Modernismus als notwendige Voraussetzung einer avantgardistischen Kunst.34 Die selbstreferenziellen Strukturelemente eines Bildes sind aus seiner Sicht konstitutiv für die Einheit des Bildes. Im Modernismus wird die bildnerische Einheit nicht, wie in der von den US-amerikanischen Künstlern kritisierten europäischen Tradition der relationalen Komposition, durch eine „Harmonisierung von Teilen und Format“35 definiert, sondern geht aus den materiellen Eigenschaften des Bildträgers, wie beispielsweise Flächigkeit oder Ausdehnung, und seinen spezifischen Eigenschaften, wie Textur und Farbigkeit der Leinwand, Dicke des Keilrahmens u.Ä. hervor.36 Die Bildelemente stehen in engem Bezug zum Bildträger und bilden nicht, wie in der repräsentationalen Malerei, einen

31 Siehe dazu Juliane Rebentisch: Kapitel III. Der Plural der Kunst, 1. Medienspezifik, Verfransung, Intermedialität, in: Dies.: Theorien der Gegenwartskunst. Zur Einführung, Hamburg 2013, S. 92–106. 32 Dobbe 1999, S. 194. 33 „The significance of Clement Greenberg cannot be overestimated. He is the designer and subtle manipulator of modernism, which is the single most important and influential theory of modern art.“ Donald B. Kuspit: Clement Greenberg. Art Critic, Madison WI 1979, S. 3. 34 Clement Greenberg: Avantgarde und Kitsch (1939), in: Ders.: Die Essenz der Moderne. Ausgewählte Essays und Kritiken, Hamburg 2009, S. 29–55. 35 Dass dieses Verständnis der Bildeinheit als „wholeness“ einen reduktiven Kulminationspunkt darstellt, der weder der US-amerikanischen Malerei noch der europäischen Malerei gerecht wird, können die Analysen von Sebastian Egenhofer bezüglich der Bildeinheit bei Jackson Pollock oder die von Jonathan Crary bezüglich der bei Cézanne eindrucksvoll aufzeigen. Sebastian Egenhofer: Abstraktion – Kapitalismus – Subjektivität. Die Wahrheitsfunktion des Werks in der Moderne, München 2008, S. 284 f.; Jonathan Crary: Aufmerksamkeit. Wahrnehmung und moderne Kultur, Frankfurt am Main 2002, S. 225–283. 36 Greenberg 2009, S. 35; Clement Greenberg: Modernistische Malerei (1960), in: Ders. 2009, S. 267 f.

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Ausschnitt.37 So nehmen beispielsweise die Farbkissen Mark Rothkos das Rechteck des Bildträgers auf, Barnett Newman und Ad Reinhardt beziehen die Bildelemente „durch die randparallele Gliederung des Bildfelds“38 auf diesen.39 Aus dem Bewusstsein, dass in der Malerei niemals eine vollständige physische Einheit zwischen Bildträger und Bildelementen erzeugt werden kann, entwickelt Donald Judd sein Konzept der „specific objects“. In ihnen kann Einheit, „wholeness“, entstehen: „reale“ Beziehungen im „realen“ Raum. Ansatzweise sieht Donald Judd diese Beziehung auch in der modernistischen Malerei realisiert.40 Sie wird beispielsweise – wie im Falle Frank Stellas – deduktiv aus dem Format oder – wie bei Agnes Martin – aus der materiellen Struktur des Leinengewebes entwickelt. Dabei wird die gegebene Einheit der Bildfläche in ihrem Sosein affirmiert.41 Wools Strategie, die Krise und den Reduktionismus dieses Konzepts der Bildeinheit, welches einen zentralen Topos in der Diskussion um das „Ende der Malerei“ darstellte, durch Brüche und Diskontinuitäten aufzuzeigen und somit neue Möglichkeiten für „das Bild“ zu eröffnen, soll in dieser Arbeit dargelegt werden. In der für die Arbeit Wools charakteristischen dialektischen Struktur des „Yes, but“ wird diese Beziehung zwar durch die Einführung der Tapetenmuster unterwandert, gleichzeitig bilden jedoch genau die oben beschriebenen Bezugspunkte zwischen Bildträger und Bildelementen in Form von vertikalen Streifen bei den Roller-Paintings, rechteckigen Strukturen durch die sichtbaren Ränder der Gummistempel bei den Gummistempel-Bildern oder Spuren der rechteckigen Siebe bei den Siebdrucken, elementare

37 Zur Kritik der Minimalisten an der „relationalen Komposition“ siehe Egenhofer 2008, S. 284 ff. 38 Ebd., S. 284. 39 Neben diesem Verständnis des Bildes als „kategoriale Bestimmung eines Bildes überhaupt“ wird die Bekräftigung des Bildträgers durch die Bildelemente im abstrakten Expressionismus in ein dialektisches Spannungsverhältnis zur Unüberschaubarkeit des Bildes gebracht und damit auch überwunden. Siehe dazu Kapitel 2. „Das Problem besteht [...] darin, das bloße Faktum des begrenzten und ebenen Bildfelds, das heißt hier das große, wenn schon unüberschaubare Rechteck, durch Malerei sowohl zu bestätigen [...] als auch zu überwinden [...], es sowohl anzunehmen und sich darauf einzulassen als sich auch davon zu befreien, es nämlich zu transformieren in eine neue Art von Totalität [...].“ Max Imdahl: Barnett Newman. ‚Who’s afraid of Red, Yellow and Blue III‘, in: Wolfgang Brassat und Hubertus Kohle (Hrsg.): Methoden-Reader Kunstgeschichte. Texte zur Methodik und Geschichte der Kunstwissenschaft, Köln 2009, S. 86. 40 „Es gibt nur wenige Teile, und diese sind der Einheit in einer Weise untergeordnet, daß sie nicht als Teile im normalen Sinne gelten können. Ein Bild ist fast eine Entität, ein einziges Ding und nicht die undefinierbare Summe einer Gruppe von Entitäten oder Bezügen.“ Donald Judd: Spezifische Objekte, in: Charles Harrison und Paul Wood (Hrsg.): Kunsttheorie im 20. Jahrhundert. Künstlerschriften, Kunstkritik, Kunstphilosophie, Manifeste, Statements, Interviews, Band II, Ostfildern-Ruit 1998, S. 997 [ursprünglich Specific Objects, in: Art Yearbook 8, 1965, S. 74–82]. 41 Zur Identität von „depicted surface“ und „literal surface“ bzw. „depicted dimension“ und „literal dimension“ bei Jackson Pollock als „entwicklungsgeschichtliche Voraussetzung“ für die hier beschriebene Identität von „depicted shape“ und „literal shape“ z.B. bei Frank Stella siehe Walter Kambartel: Jackson Pollock Number 32. 1950, Stuttgart 1970, S. 9 ff.

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Grundstrukturen, die den ornamentalen, grenzenlosen Pattern entgegenstehen. Sie können, einem prozessorientierten, postminimalistischen Kunstverständnis folgend, als Verweis auf die „Spur [Hervorhebung im Original], die realzeitlich, im Element der Kausalität auf den Moment ihrer materiellen Prägung, ihrer Produktion bezogen ist“42, verstanden werden. Dies steht im Gegensatz zu einer Bildauffassung des „Scheins“, hier sogar ganz direkt und buchstäblich der Verschleierung, deren Repräsentanten die Pattern sind. Die spezifische Form der Konkretisierung dieser zwei „komplementären Achsen des Weltbezugs“43 im Werk Wools zu untersuchen ist zentrales Thema dieser Studie. Aus deren Zusammenwirken, welches Wool durch gezielte Manipulationen in Form von Störungen und „Fehlern“ im Farbauftrag gestaltet und formt, entsteht eine weitere Wirkungsebene, welche mit der seltenen Einordnung Wools als „Traditionalist [...]“, der „erkennbar ein Ziel [verfolgt; eigene Ergänzung; K.W.]: die Erforschung abstrakter Komposition“44 in Beziehung stehen könnte. Die oben genannten Bildstrukturen, d.h. die Pattern und Raster oder Streifen, besitzen eine identische Eigenschaft: das ihnen innewohnende Prinzip der Wiederholung und ihre potentielle Fortsetzbarkeit, welche dem Bild eine zentrifugale Struktur einschreiben und es damit dezentrieren. Die Kleinteiligkeit und All-over-Struktur der Pattern machen eine perzeptuelle Konstanz unmöglich. Stattdessen fordern sie das Auge zu einer immer neu ansetzenden Aktivität auf, einem ständigen Oszillieren zwischen Fokus und Peripherie. Der Betrachter muss sich in dem simultanen Feld durch Fixierungen permanent orientieren. Dem gegenüber stehen sekundäre Bildstrukturen, die durch die Manipulationen, Unregelmäßigkeiten und Störungen der aufgetragenen Pattern entstehen. Diese werden durch das Auftragen von immer mehr Schichten im Laufe der Zeit komplexer und vielfältiger. Sie begründen die Tiefenwirkung des Bildes und stehen der zentrifugalen Wirkung der Strukturen entgegen. Diese Studie verfolgt die These, dass diese weitere visuelle Wirkungsebene den Diskontinuitäten im Bild entgegenwirkt und eine synthetisierende Wirkung entfaltet Die beschriebenen heterogenen Bildebenen im Werk Wools wirken mit- und in­einander: But as he says if the image is piling up or means or separate like a stack of pancakes – and I think that is a great way to describe just layered images – they wouldn’t work. When we see the

42 Egenhofer 2008, S. 13. 43 Egenhofer 2008, S. 13. 44 Kaspar König: Vorwort, in: Wool 2009, S. 13. Der Begriff ist hier wenig genau, da nicht von Komposition im Sinne einer traditionellen, relationalen Malerei gesprochen werden kann. Die Pauschalität der Aussage kann jedoch auf die Kürze und Funktion des Textes als Vorwort zurückgeführt werden. Die Ablehnung des Begriffs in seiner traditionellen Verwendung ist auch durch Aussagen des Künstlers selbst zu belegen. Siehe Temkin/Frankel 2005, S. 128.

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painting we’re getting all of these moments together, as John Kelsey puts it: Seeing as if from the middle of the work.45

Die Dialektik zwischen dekonstruierenden und synthetisierenden Elementen bei Wool aufzuzeigen, ihre spezifische Art des Zusammenwirkens zu analysieren und von einer unhistorischen und unkritischen Stilpluralität46 abzugrenzen steht im Zentrum der folgenden Untersuchungen. Die Frage nach der „Verdichtung zur Ganzheit, wie sie gegebenenfalls von einem Bild geleistet und nur in einem Bilde möglich ist“, ist für Max Imdahl der „eigentliche Gegenstand der Reflexion“ eines „Verfahren[s; K.W.] phänomenaler Deskription“, der Ikonik.47 Das ist ein zentraler Grund, warum Imdahls hermeneutischer Interpretationsansatz in enger Verbindung zu der hier formulierten Fragestellung steht.48 In Kapitel „IX Ikonik und Strukturanalyse“ seines Buches „Giotto. Arenafresken. Ikonographie.Ikonologie.Ikonik“ arbeitet Imdahl das Spezifische des ikonischen Interpretationsverfahrens heraus. Es schließe an die Ergebnisse einer ikonografischikonologischen Interpretation an und integriere diese.49 Wesentlich ist hierbei, wie das Zusammenkommen einzelner Momente im Ganzen des Bildes verstanden wird. Offensichtlich ist die ikonographisch-ikonologische Interpretationsmethode mehr an den ‚Momenten‘ und deren je verschiedenen und auch zu differenzierenden Verständnisebenen interessiert als an jenem Sinnganzen des Bildes selbst [...].50

Für die ikonische Betrachtungsweise sei das Sinnganze des Bildes nicht eine Summe seiner ikonografischen und ikonologischen Vorgaben, sondern erfahre im Bildgan-

45 Katy Siegel: The Bifurcation of Painting, or Process and Reality, in: „Guggenheim Christopher Wool Symposium – PTG: Abstraction since 1980“, Solomon R. Guggenheim Museum New York (17.1.2014), veröffentlicht am 3.11.2014 [https://www.youtube.com/watch?v=FmyAftacS8A, (1:38:50) abgerufen am 10.3.2015]. 46 Zur Unterscheidung zweier oppositioneller Positionen zur Postmoderne in einen „neokonservativen Postmodernismus“ und einen „poststrukturalistischen Postmodernismus“ siehe Fredric Jameson: Postmoderne. Zur Logik der Kultur im Spätkapitalismus, in: Andreas Huyssen und Klaus R. Scherpe (Hrsg.): Postmoderne Zeichen eines kulturellen Wandels, Hamburg 1986, S. 45–102. 47 Max Imdahl: Giotto. Arenafresken. Ikonographie. Ikonologie. Ikonik, München 1996, S. 99. 48 Berührungspunkte bestehen auch sowohl durch die visuelle als auch die zeitliche und örtliche Nähe der hier zu betrachtenden Bilder zu denjenigen, an denen Imdahl seine Methode entwickelt hat – der zu seiner Zeit zeitgenössischen nicht-gegenständlichen Kunst, wie z.B. der konkreten Kunst oder des US-amerikanischen Modernismus. Exemplarisch hierzu der Aufsatz: Max Imdahl: Barnett Newman, Who’s afraid of Red, Yellow and Blue III, in: Gesammelte Schriften, Bd. 1, Frankfurt am Main 1996, S. 244–270. 49 Brassat/Kohle 2009, S. 78. 50 Imdahl 1996, S. 99.

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zen einen „grenzüberschreitenden Sinnzuwachs“, welcher der zentrale Modus für die ikonische Deutung sei.51 Wesentlich ist hierbei, dass das Beziehungsgefüge nicht, wie beispielsweise in Hans Sedlmays Strukturanalyse – welche sich an einem hierarchischen Schichtensystem orientiert52 –, aufeinander aufbaut, sondern „die Identität des Bildes als die komplexe Struktur einer Übergegensätzlichkeit oder als eine Struktur kühner Äquivalenzen“53 verstanden wird. Das künstlerische Werk und seine unmittelbare Präsenz als Leitfigur der Interpretation zu sehen ist ein Prinzip, das Imdahl an der abstrakten Gegenwartskunst seiner Zeit entwickelte. Es war eine Antwort auf die Zurückhaltung, die die Kunstgeschichte methodischen Neuausrichtungen gegenüber der Moderne und der ihr inhärenten „Krise der Repräsentation“54 zeigte.55 Ausschlaggebend aber erscheint in jedem Fall, daß die Moderne in dem Maß, in dem sie die Bedingungen der Möglichkeit des Bildes, und das heißt die Bildlichkeit des Bildes selbst thematisch gemacht hat, das traditionelle Bildverständnis insgesamt neu verhandelt hat – daß sie, wie man in einer pauschalen, jedoch zunächst vertretbaren Vereinfachung sagen könnte, insbesondere mit den von der abstrakten Kunst betonten Tendenzen zur Selbstreferenz des Bildes die traditionellen Bildformen der Repräsentation und damit verbunden eben auch die traditionellen Methoden der kunsthistorischen Interpretationen grundlegend in Frage gestellt hat.56

Die Arbeit am „Grundkontrast“ des Bildes, der „ikonischen Differenz“57, die Gottfried Boehm aus der Ikonik entwickelte, kann ihm zufolge „der Geburtsort jedes bildlichen Sinnes“58 genannt werden. Die ikonische Differenz markiert auch den Unterschied zwischen Bildern, die dadurch Erkenntnis generieren, dass der offensichtliche

51 Imdahl 1996, S. 99. 52 Ebd., S. 102 f. 53 Ebd., S. 110. 54 Gottfried Boehm: Die Krise der Repräsentation. Die Kunstgeschichte und die moderne Kunst, in: Lorenz Dittmann (Hrsg.): Kategorien und Methoden der deutschen Kunstgeschichte 1900–1930, Wiesbaden 1985, S. 113–129. 55 Dobbe 1999, S. 9. 56 Ebd., S. 9 f. 57 „Was auch immer ein Bildkünstler darstellen wollte, im dämmrigen Dunkel prähistorischer Höhlen, im sakralen Kontext der Ikonenmalerei, im inspirierten Raum des modernen Ateliers, es verdankt seine Existenz, seine Nachvollziehbarkeit und Wirkungsstärke der jeweiligen Optimierung dessen, was wir die ‚ikonische Differenz‘ nennen. Sie markiert eine zugleich visuelle und logische Mächtigkeit, welche die Eigenart des Bildes kennzeichnet, das der materiellen Kultur unaufhebbar zugehört, auf völlig unverzichtbare Weise in Materie eingeschrieben ist, darin aber einen Sinn aufscheinen läßt, der zugleich alles Faktische überbietet. Das stupende Phänomen, daß ein Stück mit Farbe beschmierter Fläche Zugang zu unerhörten sinnlichen und geistigen Einsichten eröffnen kann, lässt sich aus der Logik des Kontrastes erläutern, vermittels derer etwas als etwas ansichtig wird.“ Gottfried Boehm: Die Wiederkehr der Bilder, in: Ders. (Hrsg.): Was ist ein Bild?, München 1994, S. 30 f. 58 Boehm 1994, S. 30.

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Umgang mit der ikonischen Differenz verhindert, „Darstellungen für das Dargestellte zu halten“59, und Bildern, beispielsweise der modernen Reproduktionsindustrie, welche das Bild als „Double der Realität“60 inszenieren und es somit als solches gar nicht in Erscheinung treten lassen.61 Die Kritik an der Unschärfe des Begriffs der ikonischen Differenz kann hier nicht aufgearbeitet werden.62 Zur Klärung der beschriebenen Kontraste bei Wool, insbesondere des Grundkontrastes zwischen Fläche und Tiefe im Bild63 – Grundkonstituenten für die Frage nach dem Bildganzen –, ist der Begriff für diese Arbeit ein sinnvolles methodologisches Instrument. Die Kunst von Christopher Wool, die das Sehen selbst zum Thema hat, und die man als „Herstellerin von Wahrnehmung meiner Wahrnehmung“64 verstehen kann, legt zunächst eine methodische Analysemethode nahe, die den Wahrnehmungsprozess selbst und mit ihm die „genuin bildsprachliche[n; K.W.] Mittel“65 in ihr Zentrum stellt. Auch der bereits erwähnte Bezug der Malerei Wools zu minimalistischen bzw. postminimalistischen Verfahrensweisen lässt zunächst eine Erfassung der unmittelbaren sinnlichen Präsenz, der phänomenologischen Beschaffenheit exemplarischer Werke sinnvoll erscheinen.66 Umfassende Beschreibungen der Bildphänomene und deren Wahrnehmung liegen in der Literatur über Wool bis jetzt nicht vor. Mit der beschriebenen Verschiebung von einer modernistischen Ästhetik der Selbstreferenz hin zu einer postmodernen Ästhetik des Diskursiven bringt Wool zwei unterschiedliche Wahrnehmungsweisen in eine dialektische Beziehung.

59 Daniel Hornuff: Bildwissenschaft im Widerstreit. Belting, Boehm, Bredekamp, Burda, München 2012, S. 50. 60 Boehm 1994, S. 35. 61 „Es steht wohl außer Zweifel: Boehms Vorstoß gebiert die Bildwissenschaft aus dem Geist der Medienkritik.“ Hornuff 2012, S. 51. 62 Ulrich Richtmeyer: Ikonische Differenz, in: Elisabeth Birk, Mark A. Halawa, Dimitri Liebsch, Jörg R.J. Schirra und Eva Schürmann (Hrsg.): Glossar der Bild-Philosophie, Ausgabe 1: 2014 [http:// www.gib.uni-tuebingen.de/netzwerk/glossar/index.php?title=Ikonische_Differenz, abgerufen am 17.3.2015]. 63 Boehm 1994, S. 32. 64 Beat Wyss: Kunst aus der Kühle, in: Bice Curiger (Hrsg.): Birth of the Cool, Hamburg 1997, S.135; oder bei Imdahl: „... der Beschauer selbst ist thematisiert als der im Anblick der erhabenen Erscheinung des Bildes seine eigene Erfahrung Erfahrende und dadurch Erhobene.“ Zitiert nach: Brassat/ Kohle 2009, S. 85. 65 Brassat/Kohle 2009, S. 77. 66 Zur Beziehung zwischen Phänomenologie und Minimalismus bzw. Postminimalismus siehe u.a. Egenhofer 2008, S. 37. Ulrike Rehwagen: Donald Judd und die kinästhetische Raumwahrnehmung. Sein Werk und die zeitgenössische Debatte um Dreidimensionalität und Raum (Diss. Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt 2008), veröffentlicht am 2.7.2010 [https://opus4.kobv.de/opus4kueichstaett/frontdoor/index/index/docId/43, abgerufen am 11.3.2015].

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Voraussetzung hierfür ist die in der sogenannten zweiten Generation des abstrakten Expressionismus erfolgte Ablösung von einer Vorstellung uneingeschränkt selbstreferenziell wirksamer, konkreter Bildelemente und Hinwendung zu der Frage nach der „Vermittlung von Zeichen und Material“.67 „Denn jene ‚konkreten‘ Bildelemente, die noch in der Moderne zu selbstreferenziellen Bildstrukturen verhalfen, werden in der Postmoderne als selbst zeichenhaft strukturiert erkannt [...].“68 Die Ambivalenz zwischen zeichenhaften – und damit mit einer Verweisfunktion auf externe Bildquellen versehenen – und selbstreferenziellen Bildstrukturen ist im Werk Wools von zentraler Bedeutung. Versuche, Aneignungsverfahren, als Verfahren, die nicht nur auf Kunstwerke, sondern auch auf die Kontexte, in die das „Präbild“ eingebettet war, in der Kunstwissenschaft sowohl begrifflich als auch methodisch zu systematisieren, liegen nur in Ansätzen vor.69 Aufgrund des sowohl in der künstlerischen Praxis als auch in der Rezeption zunehmenden Bedürfnisses, Referenzen zwischen Bildern herzustellen und zu verstehen (sowohl zwischen künstlerischen Bildern als auch zwischen künstlerischen Bildern und Bildern aus dem außerkünstlerischen Bereich), wird seit den 1980er-Jahren versucht, Erkenntnisse aus der strukturalistischen bzw. poststrukturalistischen Intertextualitätstheorie in die Kunstwissenschaft zu übertragen. Im Unterschied zu etablierten Verfahren wie dem „vergleichenden Sehen“ oder dem Aufzeigen von Motivketten ist der Anspruch an eine noch in der Entwicklung befindliche Interpiktorialität, sowohl Bilder aus dem außerkünstlerischen Kontext in die Forschung einzubeziehen als auch – insbesondere bezüglich der zeitgenössischen Kunst – bestimmte „kulturelle[] Implikationen oder die Institutionalisierung von Kunst – letztendlich das System, dessen Teil das Vor-Bild ist“70. aufzuzeigen. Die Art und Weise, wie die Subjektivität des Autors in diesen „Dialog der Bilder“ hineinspielt, kann nicht systematisiert werden. So hatten die Appropriation Artists unter Ausschaltung einer „persönlichen Handschrift“ mit der Aneignung massenmedialer Bilder das Ziel, „deren unmittelbare Lesbarkeit zu unterlaufen“71 und den Fokus auf die Bedingungen der Produktion und Distribution von Bildern zu verschieben. Demgegenüber führen Künstler wie Robert Gober, Mike Kelley oder Christopher Wool das „Handgemachte“ wieder ein, lösen es jedoch von einer moder-

67 Dobbe 1999, S. 15. 68 Ebd. 69 Siehe z.B. Tagung „Interpiktorialität – der Dialog der Bilder“, Ruhr-Universität Bochum, 4.–5.11.2011 [http://www.jltonline.de/index.php/conferences/article/view/494/126, abgerufen am 12.3.2015]. 70 Elisabeth-Christine Gamer: Interpiktorialität – mehr als ein Dialog von Kunstwerken: Interdisziplinäre Ansätze zu einer aktuellen Forschungsdiskussion (Beitrag zur Tagung „Interpiktorialität – der Dialog der Bilder“, Ruhr-Universität Bochum, 4.–5.11.2011.), in: JLTonline, veröffentlicht am 19.6.2012 [http://www.jltonline.de/index.php/conferences/article/view/494/1263, abgerufen am 17.3.2015]. 71 Rebentisch 2013, S. 155; Richard Aczel: Intertextualität, in: Ansgar Nünning (Hrsg.): Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe, Stuttgart 2001.

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nistischen Vorstellung des „Emotionalen“ in Form von persönlicher Psychologie und veranlassen den Betrachter, nicht „über die Psychologie des Künstlers zu reflektieren, sondern über die Psychologie der Kultur.“72 Die Bildbezüge bei Wool werden einerseits aus der Tradition der abstrakten, selbstreferenziellen Malerei generiert, andererseits aber auch aus dem urbanen Kontext, speziell dem Graffiti, sowie weiteren Subkulturen aus dem New York der 1980er-Jahre, wie Punk und New Wave. Wool geht es in der Überlagerung heterogener Bilder mit ihren impliziten Strukturen, formalen Ausprägungen, Ideologien und subkulturellen Implikationen darum, bisher Übersehenes sichtbar zu machen, neue Bezüge aufzuzeigen und daraus eine neue Form der Bildpräsenz zu entwerfen. In dem selbstreflexiven Aufzeigen der „Ermöglichungsbedingungen“ des Bildgrundes für Zeichen und Bild in Erscheinungsformen zwischen Expressivität und der Affektlosigkeit einer konsumorientierten Massengesellschaft, zwischen anonymer Konventionalität und Individualität, und zwischen „High and Low“ leisten die Bilder Wools unter Einbezug zeitgenössischer urbaner Erfahrungen einen wesentlichen Beitrag zur Frage, was ein Bild leisten kann.

72 Mike Kelleys Statement zu seiner Arbeit kann hier auf den Aspekt des Handgemachten bei Wool übertragen werden. Mike Kelley: Interview mit Ralph Rugoff, in: Harrison/Wood 1998, S. 1403.

Roller-Paintings Aufgewachsen in Chicago als Sohn von Ira G. Wool, Professor für Mikrobiologie an der Universität von Chicago, und Glory Wool, Psychiaterin, begann Christopher Wools künstlerische Ausbildung im September 1972 im Alter von 17 Jahren am Sarah Lawrence College u.a. bei dem abstrakten Expressionisten Richard Pousette-Dart.1 Aufgrund der für ihn restriktiven Studienbedingungen2 verließ Wool die Schule nach einem Jahr und wechselte an die New York Studio School. Das Lehrkonzept der Leiterin Mercedes Matter war geprägt durch den abstrakten Expressionismus und stark an der Zeichnung ausgerichtet. Wool’s studio mate at the school [Joyce Pensato in der New York Studio School; Anm. K.W..] and lifelong friend: ‘The philosophy was based on Hans Hoffmann – push and pull and all that. You were supposed to draw like Giacometti and paint like de Kooning, then break with it and do your own thing. Jack Tworkov was our main guy that year, and Philip Guston came in to teach a few times.’3

Trotz der relativ einseitigen Ausrichtung beschreibt Wool die Studienzeit und insbesondere seinen Lehrer Jack Tworkov als wichtig, u.a. auch da Tworkov ihm eine Brücke zu einer zurückhaltenderen, an elementaren Grundformen orientierten Malerei, wie der von Larry Poons, baute.4 Nach seiner Zeit an der New York Studio School unterbrach Wool seine malerischen Tätigkeiten, tauchte in die Underground-Szene der Stadt ein und beschäftigte sich intensiv mit den Filmen des „New Cinema“: u.a. nahm er einen Sommer lang am Filmprogramm der New York University bei Haig P. Manoogian teil. Das Filmemachen entsprach jedoch nicht seiner Arbeitsweise, sodass er ab 1981 die Malerei in regelmäßiger Form wiederaufnahm.5 Von 1980 bis 1984 war er als Assistent bei

1 Die – trotz der kurzen Studienzeit – große Bedeutung Pousette-Darts kommt neben Bekundungen durch den Künstler, der ihn als undogmatisch, mehr an Fragen, denn an Antworten interessiert, beschrieb (Brinson 2013, S.  36), in der Tatsache zum Ausdruck, dass Wool 2011 mit der Tochter von Richard Pousette-Dart eine Ausstellung desselben mit dem Titel „Richard Pousette-Dart: East River Studio“ in der Luhring Augustine Galerie organisierte, die Christopher Wool seit 1987 in New York vertritt. 2 Brinson 2013, S. 36. 3 Ebd. 4 In einem Vortrag im Museum of Modern Art in New York beschreibt Wool seinen Eindruck von Tworkov wie folgt: „While I was at the Studio School I was studying with Jack Tworkov. [...] Tworkov was very important to me. What was great about studying with him is he was a teacher who was teaching because he liked teaching and not because he had to be. [...] Tworkov explained what Poonses work was about and that was very exciting to me.“ [http://www.moma.org/audio_file/audio_ file/112/BriceMardenArtistsTalk_111306.mp3; 42:30, abgerufen am 20.3.2015]. 5 „Ultimately Wool found the collaborative necessities of filmmaking incompatible with his inclination for a solitary, iterative process, but underground film of the late ’70s would remain for him a

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Joel Shapiro beschäftigt, dessen Formgebung Wool nach Peter Schjeldahl, einem New Yorker Kunstkritiker, in seinen Anfängen beeinflusste.6 Wools erste Einzelausstellung fand 1984 in der von Clarissa Dalrymple und Nicole Klagsbrun geführten Cable Gallery statt, in der viele wichtige Künstler seiner Generation, wie Philip Taaffe, Jeff Koons, Mike Kelley, Cady Noland oder James Nares, sehr früh ihre Arbeiten zeigten. Er selbst zeigte hier sieben gemalte Leinwände und zwei Arbeiten auf Papier7, in denen schwarze elementare Grundformen, wie Streifen oder Flecken, so auf einen grau-weißen Untergrund gemalt, gesprayt oder abgeklatscht wurden, dass offene zeichenhafte Assoziationen, wie eine schemenhafte Pinocchiofigur in „The Bigger the Lie the Longer the Nose“, ein Rorschachtest u.Ä. evoziert werden, die jedoch nicht konkret zu benennen oder zuzuordnen sind (Taf. I und II). In den zwei darauffolgenden Jahren brach Wool mit dem gestalthaften Charakter seiner Bilder und beschäftigte sich mit unterschiedlichen Arten von schwarzen, silbernen und grauen Oberflächen (Abb. 1). Der Eindruck der Oberflächen changiert zwischen dem direkten Eindruck von getropfter Farbe und dem von „chemischen Reaktionen“ und vermittelt so zum ersten Mal in Wools Werk die Ambivalenz zwischen einer direkten Expressivität und einer aus dem Alltag entlehnten, banalen Replik.8 Dieses Spannungsverhältnis wird Wool intensiv weiterentwickeln; es wird sein Werk maßgeblich prägen. Ein weiterer wichtiger Schritt erfolgt im Jahr 1986 durch das Aufgreifen alltäglicher Tapetenmuster, welche er für seinen ersten großen Werkkomplex, die PatternPaintings, als Basismaterial wählte. Dieser Aneignungsprozess ist im Kontext der Anfang der 1980er-Jahre in der New Yorker Kunstszene einflussreichen Appropriation Art zu sehen. Wool benutzte hier Musterrollen aus Gummi für Tapetenimitate und applizierte diese auf Aluminiumplatten. It was a common trick of New York landlords to use a roller incised with patterns to paint the hallways of tenement buildings, in a nod to décor that was more economical than wallpaper. Wool observed a workman applying this tawdry embellishment to the halls outside his loft and recalls being fascinated by the considerable challenge of lining up the patterns successfully. The

creative compass. After a number of years given over to volatile experimentation, Wool established a steady painting practice in 1981.“ Brinson 2013, S. 37. 6 Peter Schjeldahl: Writing on the Wall. A Christopher Wool retrospective, in: The New Yorker, The Art World, 4.11.2013 [http://www.newyorker.com/magazine/2013/11/04/writing-on-the-wall-3, abgerufen am 20.3.2015]. 7 Brinson 2013, S. 37. 8 „The carefully wrought surfaces of these works, which often incorporate the effects of chemical reactions in the dripped paint, are simultaneously seductive and forbidding. Wool’s first review in Artforum described them as ‘a cross between a Jackson Pollock and a Formica countertop’ and it was at this point that a detente between AbEx energy and the deadpan cool of Pop, figured in particular by the polarity between Pollock and Warhol, began to gain purchase.“ Brinson 2013, S. 38.

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Abb. 1: Christopher Wool: Type A, 1986, Emailfarbe auf Metall, 182,88 × 121,92 cm

rollers could be bought cheaply in hardware and art-supply stores in a variety of designs that included blossoms, leaves, and vines, as well as abstract geometries ranging from the minimal to the baroque.9

In diesem Zitat thematisiert Brinson zwei Aspekte der Pattern-Paintings: Erstens den Bezug zum urbanen Raum, der durch das gewählte Material evoziert wird, sowie

9 Brinson 2013, S. 38.

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zweitens – und das ist bedeutender – den mit dem Prozess des „richtigen“ Auftragens verbundenen optischen Effekt. Die ungebrochene Fortsetzbarkeit der Pattern nach allen Seiten – ein wesentliches Merkmal von Tapetenmustern – und die Verschleierung des händischen Auftrags in einem mechanischen Prozess funktionieren nur bei einem „erfolgreichen“ Auftragen der Farbe – was Wool in seinen Bildern in vielen verschiedenen Facetten stören und durchbrechen wird. Die Roller-Paintings bilden den ersten Werkkomplex, mit dem Christopher Wool in größerem Umfang öffentlich rezipiert wurde. Er wird auch in dem sehr persönlichen Lebenslauf von Romanautor und Kunstschriftsteller Jim Lewis „Christopher Wool. Life and Work“ als erster Werkkomplex dezidiert genannt. Daher bilden die Roller-Paintings hier den Ausgangspunkt der Analyse.

Annäherung an Untitled, 198710 Nähert man sich dem 182,90 × 122,0 cm großen Bild (Abb. 2–4), zeigt sich zunächst ein flirrendes, ornamentales Blumenmuster. Irritierend wirkt dabei nicht nur die Kleinteiligkeit des Musters, sondern auch die Unregelmäßigkeiten, die Wool beim Auftrag des Musters auf dem weißen Aluminiumgrund durch Verrutschen und Versetzen des Rapports angelegt hat. Auf den ersten Blick erinnert das Bildgefüge dadurch an die Kleinteiligkeit mancher Stoffmuster sowie an die Unregelmäßigkeiten, die etwa bei Mustern auf Kleidung oder Draperien durch die Flexibilität textiler Materialien entstehen. Wie man kleinteilige Muster bei Kleidung, wenn sich die Person, die sie trägt, bewegt, visuell kaum greifen kann, suggeriert das Bild so zunächst eine nicht klar zu erfassende filigrane Flüchtigkeit und Leichtigkeit. Die Störungen im Auftrag des kleinteiligen Musters lassen diesen Eindruck dann in eine unruhige und visuell irritierende Wirkung mutieren, je näher man dem Bild kommt.11 Das florale Ornament wurde in sich wiederholenden vertikalen Bewegungen auf das Hochformat aufgetragen, wobei das Hauptmotiv aus fünfblättrigen Blumen und verschieden gebogenen Linienkombinationen, die stilisierte Blumenstängel darstellen, besteht. Verwendet wurde eine handelsübliche Musterwalze aus dem Bereich

10 Da die Mehrzahl der Bilder bei Wool ohne Titel bleibt und es daher mehrere unbenannte Werke aus dem Jahr 1987 gibt, soll hier festgelegt werden, dass in dieser Studie bei der Nennung „Untitled, 1987“ immer das Werk in Abb. 2 gemeint ist. 11 Die unterschiedliche Wirkung des Bildes – abhängig vom Betrachterstandpunkt – wird auch in der Publikation, die 1998 im Zusammenhang mit einer Ausstellung im Museum of Contemporary Art Los Angeles entstand, deutlich. Die Arbeit wird auf unterschiedlichen Seiten des Buchs mehrfach von verschiedenen Standpunkten gezeigt. Siehe Christopher Wool 1998, S. 13, 33, 37. Auf Wools spezifische Form der Kataloggestaltung wird noch gesondert eingegangen.



Annäherung an Untitled, 1987 

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Abb. 2–4: Christopher Wool: Untitled, 1987, Alkydharzlack und Flashe auf Aluminium und Stahl, 182,88 × 121,92 cm

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der Innenraumgestaltung, mit deren Hilfe Wände dekoriert werden. Kriterien für die Auswahl der Walzen waren, dass sie „ihm [Wool; Anm. K.W.] möglichst ‚natürlich‘ und am wenigsten kitschig erschienen und deren Auftrag ein kontinuierliches Muster ohne Anfang und Ende erzeugte.“12 Als Farbe wurde schwarzes Alkydharz gewählt und auf glatten, weißen Aluminiumgrund aufgetragen. Die Überlagerung von wellenartigen Linien, die in der horizontalen Wiederholung des Musters gebildet werden, und den sich der rigiden Struktur des Musters widersetzenden, netzartig über das Bild verteilten Akzentuierungen bewirkt eine sehr lebendige, das Bild im Format zusammenhaltende Struktur. Die Akzentuierungen entstehen hierbei durch Unregelmäßigkeiten im Auftrag des Musters, z.B. durch Verzerrungen desselben. Diese resultieren aus der unterschiedlich schnellen und teilweise rutschenden Bewegung der Walze auf dem Bildgrund. Der Rapport erhält auf diese Weise eine mäanderartige, an eine topografische Karte erinnernde Bewegung, die der Repetition des Musters und der All-over-Struktur entgegenwirkt. Es entstehen bewegte „visuelle Wege“, die das Auge abschreitet.

Dekonstruktion modernistischer Paradigmen Die Malerei Christopher Wools hat im Übergang von einem essentialistischen, modernistischen Verständnis von Malerei zu einem postmodernistischen13 eine wichtige Position in der US-amerikanischen Malerei inne.14 Obwohl schon verschiedene Maler in den 1960er-Jahren, die sogenannte zweite Generation der abstrakten Expressionisten, wie Robert Rauschenberg, Jasper Johns oder Cy Twombly, auf unterschiedliche Art und Weise die absolut gesetzte Selbstreferenzialität des US-amerikanischen Modernismus in Frage gestellt hatten15, wird hier der Beginn einer Idee von Postmodernismus in der Kunst in New York auf die späten 1970er-Jahre und das Wirken der sogenannten Pictures-Generation datiert.16 Der zentrale Schauplatz dieser künstlerischen Debatte liegt in den USA.

12 Goldstein 2012, S. 192 f. 13 Eine genaue Klärung des Begriffs „Postmoderne“ kann und muss hier aufgrund der mangelnden Konturierung des Begriffs und seiner unterschiedlichen Akzentuierungen und Fragestellungen nicht vorgenommen werden. 14 Siehe u.a. John Welchman: Art after Appropriation: Essays on Art in the 1990s, Amsterdam 2001, S. 29; Helen Molesworth (Hrsg.): This Will Have Been: Art, Love & Politics in the 1980s, Museum of Contemporary Art, Chicago 2012. 15 Dobbe 1999, S. 14 f. 16 Siehe hierzu auch die Datierung in: Hal Foster, Rosalind Krauss, Yve-Alain Bois und Benjamin H.D. Buchloh: Art since 1900. Modernism Antimodernism Postmodernism, London, 2004, S. 580 f., und die Unterscheidung von Andreas Huyssen in die Kapitel „Die Postmoderne der sechziger Jahre – eine



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Tatsächlich muß Amerika als Schauplatz der modernen Variante der querelle des anciens et des modernes angesprochen werden, als Schauplatz jener querelle des modernes et des postmodernes, die spätestens seit den 1970er Jahren die philosophische, historische, geistesgeschichtliche und ästhetische Debatte um das Ende der Moderne beherrscht. So wie die querelle des anciens et des modernes das Geschichtsdenken der Alten Welt bestimmte, so scheint die von Amerika ausgehende querelle des modernes et des postmodernes für das Selbstverständnis der Neuen Welt nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges und von dort aus im Sinne einer ‚amerikanische(n) Internationale‘ auch für das abendländische Gegenwartsverständnis maßgeblich geworden zu sein.17

Dieser oft beschriebene Paradigmenwechsel ist insbesondere im Bereich der abstrakten Malerei immer noch gebunden an die Auseinandersetzung mit der Position Clement Greenbergs. Sie dient der Gegenwartskunst im Wesentlichen dazu, sich von ihr, als exemplarischer Position des Modernismus, abzugrenzen.18 Dabei steht die Frage im Zentrum, ob die Entwicklung der Moderne, wie von Greenberg vertreten, als linearer Prozess gedacht werden kann, an dessen Ende das reduzierte, selbstreferenzielle, pure Bild steht.19 Gerade in Bezug auf die immer wieder erwähnte Nähe zu Jackson Pollock und dem Konzept des All-over steht Wool in der Tradition des abstrakten, modernistischen Bildes, das er jedoch insbesondere durch die ready-madeartige Übernahme „verpönter“ banaler Alltagsdekoration offensichtlich seiner Reinheit und Unmittelbarkeit enthebt. In diesem Zusammenhang ist es wichtig zu betonen, dass Wools Auseinandersetzung mit Greenbergs Theorie nicht explizit und systematisch ist. In einer Podiumsdiskussion im Hammer Museum Los Angeles20 wird deutlich, dass Wool diesen als Formalisten versteht, sich jedoch nur bedingt mit seinen Positionen auseinandergesetzt

amerikanische Avantgarde?“ und „Die Postmoderne der siebziger und achtziger Jahre“, in: Huyssen/ Scherpe 1986, S. 17 ff. und S. 23 ff. 17 Dobbe 1999, S.  173; siehe auch Andreas Huyssen: Postmoderne – eine amerikanische Internationale?, in: Huyssen/Scherpe 1986, S.  13  ff., und John Raichman: How to Do the History of French Theory in the Visual Arts: A New York Story, in: Anael Lejeune, Olivier Mignon und Raphael Pirenne (Hrsg.): French Theory and American Art, Brüssel 2013, S. 244–268. 18 „Nicht zufällig fällt der Name des US-amerikanischen Kunstkritikers Clement Greenberg besonders häufig, wenn es darum geht, die Gegenwartskunst entschieden vom Modernismus abzugrenzen. Nicht nur ist der Einfluss von Greenberg bis heute enorm, auch erweisen sich seine Urteilskriterien als besonders inkompatibel mit dem Entwicklungsstand der zeitgenössischen Kunst.“ Rebentisch 2013, S. 95. 19 Vgl. u.a. Clement Greenberg: Zu einem neueren Laokoon (1940), in: Ders.: Die Essenz der Moderne. Ausgewählte Essays und Kritiken, Hamburg 2009, S. 75 f. 20 So geäußert in einem Künstlergespräch anlässlich der Ausstellung „Oranges and Sardines“ am 9.11.2008. Hammer Museum (Hrsg.): Artist Talk, 9.11.2008, zur Ausstellung „Oranges and Sardines“ (Hammer Museum Los Angeles, 9.11.2008–8.2.2009), veröffentlicht 2014 [http://hammer.ucla.edu/ exhibitions/2008/oranges-and-sardines/, abgerufen am 5.4.2015].

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hat und keinen direkten Bezug zu seinen Arbeiten sieht. Auf der anderen Seite liest er durchaus Texte von Greenberg, ohne diese primär zu kritisieren.21 Hier geht es eher um eine Verselbstständigung (und damit auch Vereinfachung) modernistischer Grundhaltungen und -begriffe und deren „Ermüdungserscheinungen“, die jede/n US-amerikanische/n Maler/in der postmodernistischen Generation geprägt haben. Mittlerweile ist Greenbergs apodiktische Formalismustheorie selbst zu einem Gespenst geworden, das sich so hartnäckig in die Nachhutgefechte der abstrakten Avantgarden eingegraben hat, dass rund vierzig Jahre vergehen mussten, bis die Problematik aufgerollt wurde [...].22

All-over, Flatness und Pureness bei Clement Greenberg Im Zentrum der Aufarbeitung der Konzepte Greenbergs, insbesondere der des Mediums, stehen bekannte Topoi. Die zentrale Forderung an die Kunst war nach Greenberg – unter Bezug auf Immanuel Kants „Begriff philosophischer Kritik als Selbst-Kritik der Vernunft“23 – die selbstreflexive Thematisierung der spezifischen künstlerischen Mittel in einem aufklärerischen Sinn. Damit verbunden war eine klare Trennung der einzelnen Medien und dementsprechend das Hervorheben der Medienspezifik als zentrales Kriterium der modernistischen Kunst. Programmatisch stellt Greenberg in seinem einflussreichen Essay „Modernistische Malerei“ aus dem Jahr 1960 den Zusammenhang zwischen Medienspezifik, Selbstkritik und Reinheit (pureness) in der Kunst her: Die Aufgabe der Selbstkritik war es folglich, aus den spezifischen Effekten einer Kunst all jenes herauszufiltern, was eventuell auch von dem Medium einer anderen Kunst – oder an das Medium einer anderen Kunst – entliehen werden könnte. So würden die einzelnen Künste ‚gereinigt‘ und könnten in ihrer ‚Reinheit‘ die Garantie für ihre Qualitätsmaßstäbe und ihre Eigenständigkeit finden. ‚Reinheit‘ bedeutet Selbstdefinition, und das Unternehmen der Selbstkritik wurde in den Künsten zu einer rigorosen Selbstdefinition.24

21 „CW: [...] I recently read a Clement Greenberg essay in which he goes on about the corners of a painting, and how a particular painting fell apart in the corners. That’s really interesting to me; for me, paintings often have trouble in the corners, it’s something I’ve noticed in my studio. But for Greenberg to say that paintings live and die by what’s done in the corners, though – that was a bit shocking.“ Zitiert nach: Temkin/Frankel 2005, S. 128 f. 22 Markus Brüderlin: Ornamentalisierung der Moderne. Zur Geschichtlichkeit der abstrakten Malerei“ in: Kunstforum, Band 123, 1993, S. 109. 23 Dobbe 1999, S. 191; Greenberg 2009, S. 265 f. 24 Clement Greenberg: Modernistische Malerei (1960), in: Ders. 2009, S. 267. Die Parallelen zwischen der US-amerikanischen Theorie zur Trennung der Gattungen und dem Begriff der „Verfransung“ und damit der europäischen Theorie bei Theodor W. Adorno legt Juliane Rebentisch in ihrer Einführung zu den Theorien der Gegenwartskunst dar. Rebentisch 2013, S. 95–106.



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Greenbergs „systematisch-geschichtsphilosophische[r; K.W.] Argumentation“25 zu­folge entwickelte sich die Selbstkritik des Modernismus aus der Kritik der Aufklärung. Die Parallele sieht er in der Anwendung von „charakteristischen Methoden einer Disziplin [...] um diese Disziplin ihrerseits zu kritisieren – nicht um sie zu untergraben, sondern um ihre Position innerhalb ihres Gegenstandsbereichs zu stärken.“26 Im Unterschied zur Aufklärung kritisiere der Modernismus jedoch „von innen heraus und bedient sich dabei der Verfahren eben dessen, was er kritisiert.“27 Auch Michael Lüthy sieht das modernistische Verständnis von Selbstreflexivität, entstanden aus dem Verlust eines „kulturelle[n K.W.] und soziale[n K.W.] Referenzrahmen[s K.W.]“ im 18. Jahrhundert.28 Mit der Loslösung der Kunst von Staat und Kirche wird die Frage nach der Autonomie der Kunst für diese existenziell. „Mit ihrem funktionalen Autonomwerden tritt nämlich der beunruhigende Gedanke auf, dass der Kunst die Existenzberechtigung genommen sein könnte.“29 Für Greenberg muss im 20. Jahrhundert der eigenständige Wert der Kunst gegen die Gefahr verteidigt werden, „dass Kunst zu einem Konsumartikel unter anderen verkommt, dass sie zur Unterhaltung wird.“30 Aus diesem Grund müsse sich die Kunst auf die rein ästhetischen, nur ihr vorbehaltenen Gegenstandsbereiche beschränken, auf ihre spezifischen künstlerischen Medien, „weshalb Greenberg die Geschichte des Autonomwerdens der Kunst als eine Geschichte der zunehmenden Besinnung der einzelnen Künste auf die Spezifik ihrer jeweiligen Darstellungsmittel erzählt hat.“31 Die wesentlichen Bedingungen der Malerei, die es nach Greenberg zu thematisieren

25 Martina Dobbe stellt diese der historisch-ideologiekritischen Beschreibung bei Greenberg gegenüber. „Greenbergs systematisch-geschichtsphilosophische Argumentation ist mit der historisch-ideologiekritischen Beschreibung eng verknüpft. Denn jene Vormachtstellung des Literarischen, die in historischer Lesart als Konsequenz gesellschaftspolitischer Veränderungen gilt, ist in systematischer Lesart zugleich das Kriterium, an dem sich, ex negativo, die Identität der Künste bemißt. Die avantgardistischen Künste, so Greenbergs These, sind avantgardistisch in eben dem Maß, in dem sie sich vom Literarischen lösen, und das heißt für ihn: indem sie die Eigengesetzlichkeit ihres Mediums nicht nur in Anspruch nehmen, sondern artikulieren. Anders gesagt: Avantgardistische Kunst ist medienspezifisch differenzierte Kunst.“ Dobbe 1999, S. 188. 26 Greenberg 2009, S. 265. 27 Ebd., S. 266. 28 „Im Laufe des 18. Jahrhunderts beginnen die Künstler auf die Grundlagen ihres Tuns zurückzugehen. [...] So beflügelte die Erwartung, der Rückgang auf Eigenart und Gesetze des künstlerischen Mediums lasse ein sicheres Fundament der Kunst entdecken, viele Künstler insbesondere der klassischen Moderne, und Greenbergs Theorie des ‚Modernismus‘ versuchte zu zeigen, wie die künstlerische Selbstvergewisserung durch die ‚Essentialisierung‘ des jeweils verwendeten Mediums geleistet werden könne. Doch diese Hoffnung muss zwiespältig bleiben.“ Michael Lüthy: Subjekt und Medium in der Kunst der Moderne. Delacroix – Fontana – Nauman, in: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft, H. 46/2, 2001, S. 227. 29 Rebentisch 2013, S. 96. 30 Ebd. 31 Ebd.

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gilt, sind die Form des Bildträgers, die Eigenschaften der Pigmente und als wichtigste die plane Oberfläche. Die Betonung der unvermeidlichen Flächigkeit des Bildträgers war jedoch für die Selbstkritik und Selbstdefinition der modernistischen Malerei fundamentaler als alles andere. Denn nur die Flächigkeit ist ausschließlich der Malerei eigen.32

Neben dieser „Abflachung“ des traditionellen „Hohlraumes“ zugunsten einer „dekorativen Struktur“ in der modernen Malerei seit Manet – worauf noch zurückzukommen sein wird – nennt Greenberg einen weiteren, die Flächigkeit betonenden „Angriff auf das Staffeleibild“ in Form einer „radikalen Verletzung der traditionellen Kompositionsgesetze“33, welcher kennzeichnend sei für die US-amerikanische Avantgarde: das ‚dezentralisierte‘, ‚polyphone‘, ‚All-over‘-Bild, dessen Oberfläche sich aus einer Vielzahl identischer oder ähnlicher Elemente zusammensetzt und das sich in dieser Weise ohne größere Variation über die gesamte Leinwand wiederholt und auf Anfang, Mitte und Ende zu verzichten scheint.34

Die frühen Roller-Paintings von Christopher Wool aus den Jahren 1986 bis 1989 werden – auch in der Folge seiner Drip-Paintings aus dem Jahr 1986 – fast durchgängig mit dem Begriff des All-over beschrieben. Der Bezug zwischen Wools Arbeiten aus dem Frühwerk und denen Jackson Pollocks hinsichtlich des All-over-Prinzips und der Prozessorientierung wurde vielfach festgestellt.35 „Wie bedeutsam die Tropftechnik für Wool auch sein mag, im Endeffekt war es Pollocks Allover-Strategie der Bilderzeugung, die den größten Einfluss ausgeübt hat.“36 All-over-Design beschreibt zunächst formal eine gleichmäßige Verteilung und Verflechtung einzelner Bildelemente in einem bildnerischen Gesamtkontext. In seinem 1948 erschienenen Text „The crisis of the easel picture“ kontrastiert Greenberg das All-over-Gemälde mit dem von der architektonischen Umgebung losgelösten Staffeleibild, dessen Illusionscharakter das All-over-Gemälde zugunsten einer dekorativen Struktur angreift.

32 Greenberg: Modernistische Malerei (1960), in: Ders. 2009, S. 268. 33 Greenberg: Die Krise des Staffeleibildes (1948), in: Ders. 2009, S. 150 f. 34 Ebd., S. 151. 35 Siehe hierzu u.a. Flood 2008, S.146; Friedrich 2009, S. 45; Ulrich Loock: The show is over, in: Christopher Wool. Porto–Köln, Köln 2009, S. 33; Madeleine Grynsztejn: Unfinished Business, in: Christopher Wool 1998, S. 266; Titz 1999, S. 550. 36 Goldstein 2012, S. 192.



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Wenn der Künstler diesen Hohlraum zugunsten einer dekorativen Struktur abflacht, wie es zuerst Manet und die Impressionisten taten, und seine Bestandteile im Hinblick auf Flächigkeit und Frontalität anordnet, erscheint das Staffeleibild in seinem ureigenen Wesen beeinträchtigt.37

Er beschreibt die Entwicklung der modernen Malerei, ausgehend von Manet, Monet und Pissarro – parallel zu Schönbergs polyphonen Kompositionsprinzipien – als Angriff auf die hierarchische Bildordnung hin zu einer Bildordnung, in der jeder Teil der Leinwand gleichwertig und Einförmigkeit zu einer antiästhetischen Idee erhoben wird. Das All-over-Prinzip verändert im Vergleich zur hierarchischen Bildkomposition die Blickführung und damit die Rolle des Betrachters. Die Blickführung wird weniger gelenkt, sondern soll individuell und aktiv ablaufen. Der Betrachter „should not look for, but look passively – and try to receive what the painting has to offer and not bring a subject matter or preconceived idea of what they are to be looking for.“38 In der hier beschriebenen dialogischen Lesart ist das All-over als Element der Unbestimmtheit ein weiterer Schritt in der modernen Entwicklung zum „offenen Kunstwerk“39 zu sehen. Dieses erkennt die Interpretation durch den Betrachter als, neben dem schöpferischen, essentiellen Bestandteil des Kunstwerks an.40 Der Betrachterstandpunkt ergibt sich nicht aus der Verlängerung des Illusionsraums in den Realraum, sondern das Betrachten ist ein aktiver Orientierungsprozess unter Einbezug der Wand, auf der das Bild hängt, der Bildfläche und der sich orientierenden, leiblichen Existenz des Betrachters. Der Maler John Ferren beschreibt diesen Prozess anschaulich: Der Maler John Ferren, der zu den Vermittlern europäischer Kunsttheorie der Moderne in Amerika gehört, brachte in einem Artikel in ‚Arts and Architecture‘ 1952 dieses Argument auf eine griffige Formel: ‘It [painting Anm. K.W.] serves no other social, decorative or descriptive purpose. It is for contemplation only. It is not utilitarian. It does not sell soap or soft drinks, and this demands a creative appreciation and participation from the spectator. It is not for the mentally lazy. The painter’s structure [...] cannot be simply regarded, it must be experienced.’41

37 Clement Greenberg: Die Krise des Staffeleibildes (1948), in: Ders. 2009, S. 150. 38 Jackson Pollock: Interview mit William Wright (1950), in: Kristine Stiles und Peter Howard Selz (Hrsg.): Theories and Documents of Contemporary Art: A Sourcebook of Artists’ Writings, Berkeley, 2012, S. 23. 39 Umberto Eco: Die Poetik des offenen Kunstwerks, in: Ders.: Das offene Kunstwerk, Frankfurt am Main 1973, S. 27–59. 40 „Mit den explizit offenen Kunstwerken tritt das Bewusstsein von der konstitutiven Funktion der interpretierenden Subjektivität für das Sein der Werke allerdings nachdrücklich in diese selbst ein. Es wird zum Formprinzip.“ Rebentisch 2013, S. 29. 41 Peter J. Schneemann: Von der Apologie zur Theoriebildung. Die Geschichtsschreibung des Abstrakten Expressionismus, Berlin 2003, S. 111.

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Der modernistische Wunsch nach einer voraussetzungslosen abstrakten Bildsprache setzt einen idealen Betrachter voraus, der über eine optische Neutralität verfügt. Die Idealisierung und Reduktion dieser Vorstellung des Betrachters wurde vielfach kritisch hinterfragt. So kritisiert der Medienphilosoph Frank Hartmann, dass die „‚optische Reinheit‘ der Avantgarde, die ihr maßgeblicher Theoretiker Clement Greenberg Ende der 30er Jahre als Motor der Kunstentwicklung seit Cézanne entzifferte, […] zugleich naive Subjekte, illiterate oder kulturell bodenlose Betrachter“ erzeuge, „deren unge- oder unverbildete, jedenfalls aber offene Augen nicht von den Nachteilen der Historie getrübt sind und nur das sehen, was es auch zu sehen gibt.“42 Das aktive Betrachtersubjekt wird als universelles und nicht als partikulares, durch eine normative, soziale Praxis geprägtes gedacht. Greenberg betont den Bezug dieser Bildkonzeption zum zeitgenössischen Kontext, grenzt jedoch den erwähnten „Angriff“ von einem destruktiven, nihilistischen Akt ab, der allein um einen Tabubruch kreise. Gerade diese Einförmigkeit, diese Auflösung des Bildes in bloße Textur, bloße Sinnesempfindung, in eine Ansammlung ähnlicher Wahrnehmungseinheiten scheint auf etwas zu antworten, das tief in der heutigen Sensibilität verwurzelt ist. Sie entspricht vielleicht dem Gefühl, dass alle hierarchischen Unterscheidungen erschöpft sind, dass keine Art und keine Region der Erfahrung einer anderen essentiell, oder auch nur relativ überlegen ist.43

Er lässt hier den Bezug zu der krisenhaften Umbruchsituation in den USA der 1940erund 1950er-Jahre als elementare Welterfahrung der Moderne zumindest anklingen, wertet jedoch nicht.44 Dass eine zunehmende Entwicklung zum offenen Kunstwerk weder ein destruktiver Ausdruck einer Krise noch eine endgültige Befreiung von falschen Hierarchien und Konventionen ist, beschreibt nach Juliane Rebentisch auch Umberto Eco. Wiederum sieht Eco im Ästhetischen ein weiteres kulturelles Selbstverständnis sich manifestieren: An ‚die Stelle einer nach allgemeinen Gesetzen geordneten Welt [ist; eigene Ergänzung; K.W.] eine auf Mehrdeutigkeit sich gründende getreten, sei es im negativen Sinne des Fehlens von Orientierungszentren oder im positiven einer dauernden Überprüfbarkeit der Werte und Gewißheiten‘ [...] Ob die Erfahrung einer mehrdeutigen Welt eher als Krise oder als Versprechen zu deuten ist, ist für Eco dabei nicht eigentlich von Interesse. Ihn interessiert allein, dass diese für die Moderne grundlegende Erfahrung sich nicht nur in wissenschaftlichen Denkmodellen,

42 Frank Hartmann: Bildersprache. Otto Neurath, Visualisierungen, Wien 2002, S. 136. 43 Greenberg 2009, S. 154. 44 Der Gesellschaftsbezug in dieser Aussage scheint mir naheliegender als die Deutung dieser Textstelle durch Regine Prange, die aufgrund der sichtbar gewordenen „positivistischen Denkhaltung“ einen Bezug zur Philosophie Wittgensteins herstellen möchte, den sie selbst jedoch auch als unfruchtbar verwirft. Regine Prange: Jackson Pollock, Number 32. Die Malerei als Gegenwart, Frankfurt am Main 1996, S. 48.



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sondern auch in der Kunst niederschlägt – und zwar eben in der Form einer Poetik des offenen Kunstwerks.45

All-over als Ganzheit bei Stephen Polcari Neben der spezifischen Rolle des Betrachters findet sich in dem Text des Kunsthistorikers Stephen Polcari „Pollock and America, too“46 eine im Hinblick auf die Interpretation des All-over bei Wool weitere fruchtbare Deutung desselben. Polcari stellt die These auf, die Kunst des US-amerikanischen Expressionismus sei weit stärker durch die fruchtbaren Debatten in der amerikanischen Kultur der 1930er-Jahre geprägt, als dies in der stark auf europäische Bezüge ausgerichteten bisherigen Rezeption untersucht wurde. Im Hinblick auf die Deutung des All-over von Pollock gibt es Verbindungen zu Greenberg. Auch Polcari sieht den Moment des Umbruchs, den Greenberg mit der Erschöpfung hierarchischer Unterscheidungen beschreibt. Für ihn ist das All-over jedoch nicht Ausdruck von Freiheit oder Hierarchielosigkeit, sondern Bezeichnung für ein Bestreben nach Reintegration, basierend auf einer Idee von Ganzheit oder Totalität, die er als die zentrale Idee der 1930er-Jahre beschreibt. ‘All-over design’ is not just a stylistic innovation, however, but a realization of another profound wish of Pollocks’s social culture that has seldom been recognized in the years in which formalist analysis and personal struggle have been the principal modes of the interpreting of his work. ‘Allover design’ realized a new form of integration from the fragments of modern culture that had to be reconfigured after the turmoil and cataclysms of the early twentieth century. All-over design is reintegrated wholeness, or totality, that was a, if not the, central ideal of the 1930s, a desire which we can see in a variety of places.47

Als Beispiele nennt Polcari die Entwicklung der „cultural studies“, eine Disziplin, in der vorwiegend interdisziplinär gearbeitet wird, oder ein neues, durch die Anthropologie geprägtes Verständnis von „Kultur“. Diese wird aufgefasst als Ganzheit aller Fähigkeiten und Gewohnheiten, die von Menschen als Mitgliedern einer Gesellschaft erworben werden. Im Zusammenhang mit Pollock nennt er u.a. Holger Cahill, einen guten Freund Pollocks, der dem amerikanischen Künstler die Suche nach dem „American ‘native epic’ or myth“48 zuschrieb.

45 Rebentisch 2013, S. 32. 46 Aus den Konferenzen „Abstract Expressionism: An International Language“, 2004, und „All-over: Abstract Expressionism’s Global Context“, 2005, ging die Publikation „Abstract Expressionism. The International Context“ hervor. Stephen Polcari: Pollock and America, Too, in: Joan Marter (Hrsg): Abstract Expressionism. The International Context, New Jersey 2007. 47 Marter 2007, S. 190. 48 Ebd., S. 191.

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Pollock transformiert diese Vorstellung eines amerikanischen Mythos in einen individuellen. Der Anspruch der „Ganzheit“ bleibt jedoch nach Polcari bestehen. „[...] his webs fuse all separate activities or elements into a new holistic inwardness of tensions, oppositions, actions and counteractions [...]“49.

Innerbildliche Flächenorganisation – Jackson Pollock, No. 32, 1950 und Christopher Wool, Untitled, 1987 „Ganzheit“ zeigt sich auch in der Flächenorganisation von Jackson Pollocks No. 32, 1950 (Taf. III).50 So schreibt z.B. die Kunsthistorikerin Regine Prange: „Trotz zahlreicher über den Rand hinausgreifender Farbspuren präsentiert sich das All over als ein Ganzes.“51 Die Beziehung zwischen All-over und Ganzheit bei Pollock und Wool wird im Folgenden exemplarisch gegenübergestellt. Zunächst wird die innerbildliche Flächenorganisation in No. 32, 1950 analysiert52 und dann im Vergleich mit Wools Untitled, 1987, untersucht, wie dieser die Akzentuierungen in dieser Beziehung verschiebt.53 No. 32, 1950 gilt als eines der bedeutendsten Beispiele der abstrakten Nachkriegsmalerei und kann exemplarisch für Pollocks monumentale All-over-Kompositionen stehen. Aufgrund seiner Reduktion auf die Farbe Schwarz und die relative Offenheit der Linienstruktur wird der Aufbau der „Drippings“ sehr deutlich – die Arbeit eignet sich somit gut für einen Vergleich mit den Arbeiten Wools. Dank einer umfassenden Rezeption des Werks in der Kunstgeschichte54 wird hier auf eine Bildbeschreibung verzichtet und direkt mit der aspektorientierten Untersu-

49 Ebd., S. 192. 50 Ob hier aufgrund des aggressiven und überwältigenden Charakters der All-over-Struktur bei Pollock der Begriff der Totalität unabdingbar den der Ganzheit ersetzen muss, wie es Dobbe vorschlägt, soll hier in Frage gestellt werden. „Weder chaotisch im Sinne einer beliebigen Struktur, noch redundant im Sinne einer iterativen oder Rapportstruktur tritt Pollocks all-over nicht mit dem Anspruch auf Ganzheit auf, sondern als Totalität.“ Dobbe 1999, S. 210. Zum Begriff der Totalität bei Pollock siehe auch Boehm: Mythos als bildnerischer Prozeß, in: Karl Heinz Bohrer (Hrsg.): Mythos und Moderne, Frankfurt am Main 1983, S. 339 f. 51 Prange 1996, S. 25. 52 Auch wenn die lineare Struktur und das Figur-Grund-Geflecht bei Pollock nicht klar voneinander zu trennen sind (Dobbe 1999, S. 210), beschreiben sie doch zwei unterschiedliche Aspekte der Bildorganisation und werden deshalb hier getrennt besprochen. 53 Auch Martina Dobbe nutzt Jackson Pollocks „Number 32, 1950“ als exemplarisches Beispiel einer modernistischen Position für einen Bildvergleich mit Cy Twomblys „Free Wheeler“ aus dem Jahr 1955. Sie untersucht jedoch im Unterschied zur Schwerpunktsetzung in dieser Studie die Bildmittel „Linie und Graphem“. Dobbe 1999. 54 Siehe hierzu u.a. Dobbe 1999, S. 209 ff.; Walter Kambartel: Jackson Pollock, Number 32, Stuttgart 1970; Nicolas Hepp: Das nicht-relationale Werk: Jackson Pollock, Barnett Newman. Ansätze zu einer



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chung des Flächenraums begonnen. Vergleichbar bei Pollock und Wool ist die aus dem Verzicht auf relationale Beziehungen im Bild resultierende unüberschaubare Strukturierung desselben. Die Unüberschaubarkeit bei Pollock resultiert außer aus der Bildstruktur im Wesentlichen auch aus dem großen Bildformat. Auch wenn in Wools Formaten die Bildbegrenzungen nicht auf Unüberschaubarkeit angelegt und damit nicht mit Pollocks Großformaten vergleichbar sind, verliert bei Wool die Bildgrenze aufgrund der potentiellen Fortsetzbarkeit der Pattern und der ihnen innewohnenden zentrifugalen Struktur ihren flächenbildenden Charakter.55 Unter Bezugnahme auf den US-amerikanischen Kunsthistoriker Eugene Goossen resultiert nach Walter Kambartel die Unüberschaubarkeit eines Bildformats „aus einer Diskrepanz zwischen Bildfeld und Blickfeld [...].“56 Ergänzend könnte bei Wool das Verhältnis zwischen den strukturierenden Bildelementen und dem Bildfeld genannt werden. Die Kleinteiligkeit der Formen erfordert eine Nahdistanz, welche auch bei geringerer Ausdehnung des Bildformats die Erfassung „des Bildganzen“ unmöglich macht. Auch aus der dekompositionellen Bildstruktur – dem All-over – erfolgt eine Überforderung des Auges. Im Gegensatz zu Pollocks All-over, das aus unterschiedlichen, nicht repetitiven, informellen Formen besteht, setzt sich das All-over bei Wool aus der Wiederholung identischer Muster zusammen. Diese Unterscheidung war zentrales Gegenargument im Hinblick auf den ehemals polemischen Vergleich von Pollocks Bildern mit Tapetenmustern.57 Dennoch ist die Überforderung des Auges eine Eigenschaft des All-overs. „Das Bild Nummer 32 hat mit iterativen all-over-Strukturen wohl Eigenschaften der ‚Non-Relational-Art‘, nicht aber die Eigenschaft des Iterativen selbst gemeinsam.“58 Die optische Überforderung gründet auch auf der Kleinteiligkeit und Wiederholung der Pattern. So ist es beispielsweise unmöglich, ein Gemälde Wools konkret zu erinnern oder den Aufbau der Rapporte ohne Hilfsmittel zu analysieren. Die Überforderung steht bei Wool jedoch nicht in Beziehung zu einer Erfahrung der Überwältigung, wie bei Pollock.59 Wurde die Tapete ursprünglich als „Hintergrund“ konzipiert,

Theorie handelnden Verstehens, Mülheim 1982; Regine Prange: Jackson Pollock. Number 32,1950. Die Malerei als Gegenwart, Frankfurt am Main 1996; Ekkehard Putz: Jackson Pollock. Theorie und Bild, Hildesheim 1975. 55 Insofern kann auch für Wool – unter anderen Voraussetzungen – die Aussage gelten, die Walter Kambartel bezüglich der Bildbegrenzungen bei Jackson Pollock machte: „Das quantum discretum der Bildbegrenzung tritt gegenüber dem quantum continuum der Bildausdehnung zurück.“ Kambartel 1970, S. 6. 56 Ebd., S. 7. 57 Kambartel 1970, S. 20. 58 Ebd. 59 „Die neue Totalität, die Pollock, wie seine künstlerischen Generationsgenossen, anvisiert, bewirkt die wechselseitige Steigerung von Kunst und Leben mittels einer Strategie der Überforderung der Wahrnehmung. Was Pollock malt, lässt sich anschaulich weder eindeutig machen, noch lässt sich die Fülle der Details erinnern. [...] Sie [die Deutung; Anm. K.W.] weist aber darauf hin, daß [...]

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vor dem die visuellen Schwerpunkte in Form von Möbeln etc. platziert wurden, wird das Muster durch dessen Umfunktionieren zum Tafelbild neu erfahren. Der Betrachter kann das Bild in seiner Kleinteiligkeit nicht als Ganzes wahrnehmen. Die Formen fügen sich – im Gegensatz beispielsweise zu impressionistischen Bildern – auch aus größerer Distanz zunächst nicht zu einem Gestaltganzen zusammen.60 Der Blick bleibt anfangs unfokussiert und wandert punktuell das Bild ab. Dabei können je nach Fokussierung aufgrund der Richtungslosigkeit des Musters unterschiedliche Strukturprinzipien in den Vordergrund treten – die Diagonalen ebenso wie eine wellenartig bewegte horizontale Struktur.61 Auch eine punktuelle Fokussierung ist möglich. Auffällig ist jedoch, dass die so entstehenden Strukturprinzipien aus dem Bild herausführen, es linienförmig durchziehen, ohne Symmetrie oder ein Zentrum entstehen zu lassen. Das Prinzip des Fortlaufenden wird, ähnlich der Anordnung eines Textes, betont. Das Auge sucht nach einem Fixpunkt, der ihm jedoch in der Anlage des Musters verwehrt bleibt. Die optische Dichte ist homogen und bildet eine einheitliche Grauwirkung. Die Wahrnehmung der Tapetenmuster konfrontiert uns mit dem Phänomen des fovealen Sehens, d.h. mit der Tatsache, dass wir bei der Fixierung eines Objekts im Netzhautbereich der Fovea centralis nur in einem sehr begrenzten Bereich scharf sehen können. Das foveale Sehen wird beispielsweise beim Lesen gebraucht. Die aus der Überforderung resultierende Haltlosigkeit bei Wool hat nach Gary Indiana, Künstler, Schriftsteller und Filmemacher, ein „betäubtes Starren“ zur Folge, das den Betrachter auf sich zurückwirft. Ihre dekorativen Qualitäten sind Täuschung. Das Auge verweilt nicht an einem Punkt oder wandert umher, um sich an den besten Partien zu erfreuen. Es schließt festen Kontakt mit der Oberfläche und verfällt in ein betäubtes Starren. Diese Bilder üben eine fast erschreckende Kraft aus, wie echte Spiegel des Seins.62

bei Pollock [...] Überwältigung bzw. Überforderung im Betrachter eine mythische Erfahrung weckt.“ Boehm 1983, S. 339 f. 60 Mit diesem Phänomen des Umspringens arbeitet Wool später noch, z.B. durch Akzentuierungen, und Verzerrungen, die deutlichere Sekundärformen hervorbringen. 61 Die Veränderungen von Mustern und das Entstehen von Sekundärformen in Abhängigkeit von Größe und Wiederholung des Musters sind bei der Konzeption von Tapetenmustern ein bekanntes Problem, welches immer mit bedacht werden muss. „Geometrisierte Naturornamente verstanden die Urheber der nationalen Lehrbücher und -pläne [der englischen Kunstschulen zu Zeiten der Arts-andCrafts-Bewegung; Anm. K.W.] als das Gebot eines anwendungsbezogenen Designs. Was sie das ‚flat display of the plant‘ nannten [...] hatte für sie den Vorzug der Abstraktion von zu vielen Detailinformationen und von den Feinheiten der plastischen Wiedergabe [...]. Sie unterschätzten freilich die Wirkungen, die aus der Verkleinerung und aus der Repetition der Grundfiguren entstanden.“ Wolfgang Kemp: Der Luther der Künste. John Ruskin als Theoretiker und Lehrer des Designs, in: Gerda Breuer (Hrsg.): Von Morris bis Mackintosh. Reformbewegung zwischen Kunstgewerbe und Sozialutopie. Arts and Crafts. Impulsgeber für Jugendstil, Werkbund und Bauhaus, Darmstadt 1994, S. 59. 62 Gary Indiana: The Village Voice (März 1987), in: Holzwarth (2012), S. 46.



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Nach Beat Wyss ist das Zurückgeworfensein des Betrachters auf sich selbst ein typisches Merkmal der US-amerikanischen Nachkriegskunst, das diese essentiell von der europäischen unterscheidet und als gegenteilige Erfahrung zu der von den Massenmedien evozierten konzipiert wird. Der Künstler ist ein stellvertretender Betrachter der Welt, der seine Beobachtungen an das Publikum weitergibt. Seine Verfahren bieten grobkörnige Vergrösserung dessen, was die technisch aufbereitete Welt uns in kunstloser Form je schon zu sehen gibt. Die Kargheit der Kunstmittel – minimale Formen, Serialität, ‚all-over‘ – schärft den Blick zum Sehen meines Sehens. Kunst als Herstellerin von Wahrnehmung meiner Wahrnehmung ist ein Spielzeug gegen die Bilder der Massenmedien, von deren Allgegenwart wir bewusstlos überflutet werden. Die Redundanz der Überfülle in den Massenmedien unterbietet die Kunst durch eine Redundanz der Leere. Ihre kühle Flachheit stösst den Betrachter ab und wirft ihn auf sich selbst zurück. In der Kunsterfahrung erkennen wir uns als eine körperliche Tatsache, die in der Galerie steht und Kunst betrachtet.63

Nicolas Hepp fügt in seiner Analyse des All-over bei Pollock einen weiteren, wesentlichen Aspekt hinzu. Er beschreibt in seiner Untersuchung eine mehrfache Aufhebung von Gegensätzen, die sowohl Bildfläche und Bildraum als auch Betrachterraum miteinander „verweben“ oder verschmelzen. Dies zeige sich zum einen in der Untrennbarkeit von Farbe und Grund, bedingt durch die „amorphe[], den Grund einbeziehende ‚Gestaltung‘ der Farbe[,] und in der Beschaffenheit des Grundes selbst (das Aufsaugen der Farbe) ...“64 Diese Aufhebung des Figur-Grund-Dualismus unterscheide sich jedoch bezüglich der verwendeten Formen von bekannten Formdurchdringungen dieser Art, beispielsweise aus dem Jugendstil, denn „das Unförmige der Form (das Formlose der Form) formt den Grund unförmig (und umgekehrt), d.h. statt von gegenseitigen Formdurchdringungen kann von Durchdringungen des Unförmigen gesprochen werden.“65 Diese elementaren und expressiven Durchdringungen scheint Wool geradezu systematisch wieder aufheben zu wollen. Das Figur-Grund-Prinzip scheint in Untitled, 1987, auf banale Art gewahrt und wird durch den Bezug auf alltägliche Erfahrungen bestätigt. Wir sehen auf den ersten Blick und wissen aufgrund vielfältiger Beobach-

63 Wyss 1997, S.135. 64 Hepp 1982, S. 71. 65 Ebd. Siehe außerdem die Beschreibung des Figur-Grund-Verhältnisses von Michael Fried: „Pollock’s finest paintings […] reveal that his all-over line does not give rise to positive or negative areas: we are not made to feel that one part of the canvas demands to be read as figure, whether abstract or representational, against another part of the canvas read as ground. There is no inside or outside to Pollock’s line or to the space through which it moves.“ Michael Fried: Jackson Pollock, Artforum, Vol. 4, No. 1, September 1965, S. 15.

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tungen, dass die schwarze Farbe auf den weißen Grund aufgetragen ist.66 Die Formen sind nicht nur klar definiert, sondern auch sehr begrenzt, wiederholen sich auf vorhersehbare Weise in regelmäßiger Abfolge über die gesamte Leinwand und sind auf einfache Art benennbar. Wool spielt damit radikal das durch, was Pollock vermeidet.67 Die Figur-Grund-Beziehungen werden u.a. zunächst dahingehend scheinbar banalisiert, als das, was bei Pollock vieldeutig ist, bei Wool eindeutig wird, was durchdrungen und ineinander verschlungen war, getrennt wird. Eine weitere Zurücknahme des Verständnisses des Bildes als Entität bei Wool lässt sich auch bezüglich der Begrenzung des Flächenraums belegen, den Hepp bei Pollock als potentiell unendlich beschreibt. Das Geflecht der Farbformen verfügt über potentielle Unendlichkeit. Die Konvergenz von Intentionalität und Kontingenz beherrscht nämlich nicht nur die ‚Formen‘ selber, sondern auch ihre Beziehung zur Leinwand, also auch und gerade zu den Abmessungen der Leinwand. Einerseits scheint es zufällig, dass die Leinwand an bestimmten Punkten abbricht, da das Farbformgeflecht potentiell über die Bildränder hinauswuchert. Andererseits verfügt das Bild über eine Randzone, in der die Dichte dieses Geflechts abnimmt, d.h. der Betrachter wird auf das Abbrechen der Leinwand vorbereitet, und zugleich artikuliert sich die Entität des Bildes. Daher ist es zumeist unzureichend, wenn bezüglich der Binnenformung von ‚Formatindifferenz‘ gesprochen wird.68

Auch im Hinblick auf die Begrenzung des Flächenraums zeigt sich eine Durchdringung der individuellen Setzungen Pollocks (Intentionalität), die in individuellen rhythmischen Akzentuierungen und in der Abnahme der Formendichte an den Randzonen der Bilder deutlich werden, mit einer scheinbaren Fortsetzbarkeit des Werks über die Bildränder hinaus (Kontingenz), durch die die Ausdehnung der Bildfläche betont wird. Das All-over bei Pollock kann also als formatindifferente, fortsetzbare Struktur, mit der gleichzeitigen Suggestion von Einheit in einer „potentiellen Unendlichkeit“

66 Goldstein 2012, S. 181. 67 „Pollocks ‚All-over‘-‚Drip Paintings‘ scheinen dagegen die Verkörperung von Schnelligkeit und Spontaneität zu sein, doch dem uneingeweihten Auge kommen sie vor, als würden ihre arabesken Verflechtungen alles ausschließen, was an Kontrolle und Ordnung erinnern könnte […]. Dieser Eindruck beruht zunächst mehr auf Pollocks ‚All-over‘-Bildaufbau als auf seiner ‚Drip‘-Methode. In den meisten Fällen vermeidet er es, dieselbe Form oder dasselbe Motiv wie ein Tapetenmuster vom einen Ende der Leinwand bis zum anderen zu wiederholen. […] Ein ‚All-over‘-Pollock erweckt den Eindruck des Chaotischen, weil er die Ordnung einer mechanischen Wiederholung verspricht, dieses Versprechen aber sofort bricht.“ Clement Greenberg: Jackson Pollock (1967), in: Ders. 2009, S. 355. 68 Hepp 1982, S. 71. Diese Aussage Hepps kann durch ein einfaches Experiment belegt werden. Verkleinert man eine Abbildung von „No. 32“ und fügt mehrere dieser Verkleinerungen aneinander, sind deutliche Brüche der All-over-Struktur durch die helleren Partien an den Bildrändern zu erkennen. Insofern ist hier der Aussage Martina Dobbes zu widersprechen, es seien trotz der rhythmischen Makrostruktur kein Anfang und kein Ende des Bildes auszumachen und die All-over-Struktur unterstütze ausschließlich das Kontinuum des Bildformats. Dobbe 1999, S. 210.



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verstanden werden. Es ist Manifestation der Bildfläche (Ausdehnung und Stofflichkeit), aber auch der Entität des Bildes und somit Materialisierung der Bedingungen bildnerischer Selbstreferenz. In dieser zeigt sich „bildnerische Ganzheit“ im Sinne Greenbergs. Diese Komplexität hebt Wool zugunsten einer dekorativen Rapportstruktur auf. Wool benutzt das All-over zunächst zur Dekonstruktion des Bildes. Die Bildfläche verweist aufgrund ihrer redundanten Struktur nach außen, die Entität des Bildes wird „mißachtet“.69 Die „Verschlungenheit“ von Bildgrund und Motiv bei Pollock wird gelöst. Wool verweigert sich sowohl dem Ganzheitsanspruch Pollocks als auch der von Polcari beschriebenen Vorstellung von Einheit. Das Bild ist offensichtlich Ausschnitt, Fragment.

69 Diese Öffnung des Bildes zum Umraum durch eine zentrifugale Blickführung ist nicht neu. Sie kann u.a. zurückgeführt werden auf Henri Matisses Konzept des „dekorativen Bildes“. Der Eindruck, den die Arbeit Matisses auf Wool machte, zeigt sich u.a. in einer Befragung aus dem Jahr 2000 nach den zehn besten Ausstellungen in den letzten zehn Jahren, die die Kunstzeitschrift „Texte zur Kunst“ bei zehn ausgewählten Künstlern durchführte. Hier nennt Christopher Wool an siebter Stelle Henri Matisses Retrospektive im Museum of Modern Art, New York, im Jahr 1992/93. (Antje Majewski: 10 × 10. Die zehn besten Ausstellungen, in: Texte zur Kunst: 10 Jahre – Texte zur Kunst, Jg. 10, Dezember 2000, H. 40, S. 28.) Auch in Henri Matisses Interieurs finden wir ornamentale Tapetenmuster und Übergänge von Innen- und Außenräumen. Besonders in den berühmten großen Interieurs aus dem Jahr 1911 lassen sich Bezüge zu den Pattern-Paintings von Christopher Wool aufzeigen. Diese sind in den späteren Arbeiten Wools mit einer größeren Anzahl von Fragmentierungen und Überlagerungen noch evidenter. Die Ruhelosigkeit des Auges, entstehend durch die Gleichwertigkeit verschiedener, einander widersprechender und/oder aufhebender Wahrnehmungsvorgänge beschreibt Yve-Alain Bois mit den Begriffen „Blendung“ und „Hypnose“. „This hypnosis is based on a pendulum in our perception that makes us switch from our incapacity to focus on the figures to that of seizing the whole visual field at once, an oscillation that defines the very invention of Matisse’s concept of the ‘decorative,’ and which is particularly difficult to obtain in a sparse composition.It is thus not surprising that Matisse should have preferred the overcrowded mode as a surefire to keep the beholder’s gaze moving.“ Foster/Krauss/Bois/Buchloh 2004, S. 104. Matisses Konzept des „dekorativen Bildes“ ist nach Gottfried Boehm in seiner Bedeutung für die Kunst des 20. Jahrhunderts mit den Entwicklungen des Kubismus, der Abstraktion oder des Surrealismus vergleichbar. So war nach Boehm die dominierende Position Matisses im 1929 gegründeten Museum of Modern Art in New York – etabliert durch den Gründungsdirektor Alfred Barr – äußerst wichtig für die Entwicklung von Bildkonzepten in der US-amerikanischen Nachkriegskunst, z.B. des All-over. Ein zentrales Merkmal der dekorativen Bildordnung im Sinne Matisses ist neben der Vieldeutigkeit der Überlagerungen und der daraus entstehenden „Blendung“ eine „malerische Strategie der Fragmentierung“, die mit einer „expansiven, zentrifugalen Kraft“ verbunden ist. Randüberschneidungen, welche den Blick auf die Bildränder lenken, scheinen die Flächen über den Rand hinaus fortzusetzen. Die Bildmitte verliert somit an Bedeutung, die Fläche wird als Ganzheit erfahren, welche an einem scheinbar übergreifenden Rhythmus Teil hat. (Siehe Gottfried Boehm: Ausdruck und Dekoration. Henri Matisse auf dem Weg zu sich selbst, in: Pia Müller-Tamm (Hrsg.): Henri Matisse, Ausst.-Kat. K 20, (29.10.2005–19.02.2006), S. 278–280.) Hierauf wird zurückzukommen sein.

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Mit der Zurücknahme individueller Setzungen und der Aufhebung jeder Form von Meisterlichkeit, wie der Dynamik Pollocks, oder von Erfindungen wie dem Dripping greift Wool veränderte Vorstellungen von der Originalität des Kunstwerks seiner Zeit auf. Auf diese wird noch eingegangen. Die Dekonstruktion bei Wool kann auch als ironisch-kritischer Kommentar einer als dogmatisch empfundenen Theoriebildung im US-amerikanischen Modernismus gelesen werden. Er setzt die Verkürzung, die der Begriff All-over impliziert, radikal visuell um.. Die von ihm praktizierte „Buchstäblichkeit“ zeigt die Diskrepanz zwischen modernistischer Theorie und Malerei und damit die Begrenztheit eines zu formalistischen Verständnisses von Malerei auf. Das beschreibt auch Juliane Rebentisch zusammenfassend: Einwenden ließ sich gegen Greenbergs Position, dass es zu großen Verkürzungen führt, wenn man die Essenz der Malerei mit bestimmten Eigenschaften ihrer Darstellungsmittel oder ihrer, wie Greenberg auch sagt, ‚Trägermedien‘ (support) – also zum Beispiel mit der Flächigkeit der Leinwand – kurzschließt. Denn ein solcher Ansatz muss selbst noch aus derjenigen Malerei, die er für seine Theorie reklamiert, wie der Malerei Jackson Pollocks, Dimensionen ausschließen, wie der die Flächigkeit der Leinwand betonende Overall-Effekt: So eröffnet sich in Pollocks Drip Paintings etwa aufgrund der Farbschichtungen durchaus auch eine zur Betonung der Bildfläche gegenläufige Raumillusion, aber auch das Spiel zwischen Linie und Fläche ist ein wichtiges Thema dieser Arbeiten, [...]70

Dass die bildnerische Dekonstruktion bei Wool als Anfang einer Entwicklung zu sehen ist, macht folgende Aussage des Künstlers deutlich: Du eliminierst die Farbe, du eliminierst die Gestik – und später kannst du sie dann wieder hineinbringen. Aber es ist einfacher, etwas dadurch zu definieren, was es nicht ist, als dadurch, was es ist. Das hat Reinhardt getan und auch Warhol beherrschte diese Technik auf ganz vielen Ebenen meisterhaft – und tat dann natürlich so, als sei dies gar nicht wahr.71

Auch im folgenden Interview äußert sich der Künstler zu den Veränderungen in seinem Umgang mit „Komposition“: Oddly the abstractions of that time and ‚FLOAT LIKE BUTTERFLY‘ painting are much more similar to each other than either of them is to the abstract work I’m doing today. Back then, for whatever reason, I felt a need to limit the composition and the color. [...] I still have a certain desire to defy, but I do it in a different way now; it’s not so much about composition per se as about pushing composition away from traditionally modernist practices, from notions of the proper composition, the good composition.72

70 Rebentisch 2013, S. 97. 71 Christopher Wool, zitiert nach: „Artists in Conversation“, in: Curiger 1997, S. 34. 72 Zitiert nach: Temkin/Frankel 2005, S. 128.



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Um diese Entwicklung besser verstehen zu können, ist der Blick auf die Genese der Flächenorganisation bei Wool hilfreich. Dabei soll nach einer zunächst phänomenologischen Analyse die ikonologische Ebene in den Blick genommen werden.

Innerbildliche Flächenorganisation in Drip Painting, 1985: „Unvermeidliche Resonanz“ In seinen den Roller-Paintings vorausgehenden Drip-Paintings73 adaptiert Wool das „dripping“ so, dass die Tropfstruktur sehr regelmäßig und kontrolliert auf der glatten Metallfläche verteilt wird. Die sich daraus ergebende Struktur erinnert an Wassertropfen, die auf einer extrem glatten Oberfläche, beispielsweise der eines Autos, abperlen. Schon in den Besprechungen von Wools erster Ausstellung wird der den Bildern inhärente Bezug zu Konsumkultur und Alltagsmaterialien hervorgehoben, der durch die Art der Oberfläche, ihre verführerische Qualität und Farbigkeit, aber auch ihre gängige Größe entsteht.74 D.h. durch Anklänge an visuelle Phänomene aus dem von der Konsumkultur bestimmten Alltag sind auch die Drip-Paintings keine „reine Malerei“ im modernistischen Sinn, sondern tragen eine Zeichenfunktion in sich, die auf etwas außerhalb ihrer unmittelbaren Realität verweist und somit ihren Status als offensichtlich abstrakte Bilder unterminiert. Der Kurator John Caldwell beschreibt die Diskrepanz zwischen formaler Klarheit und gleichzeitiger Rätselhaftigkeit. Die erste Konfrontation mit diesen Gemälden ist ein eigenartiges Erlebnis. Die Art, wie die Farbtropfen auf die Metallfläche gesetzt sind, erinnert natürlich an Pollock. Bei dem Gedanken an Pollock wird man jedoch den Gedanken nicht los, dass hier irgendetwas fehlt. Statt der verschlungenen Farbwirbel, die auf den ersten Blick unkontrolliert, in Wirklichkeit jedoch höchst diszipliniert gemalt sind, tritt uns in den Werken Wools die willkürliche Ordnung einer mit Bedacht erzielten Zufälligkeit entgegen. Keine Frage, die Bilder sind schön. Manch ein Betrachter wird denken, sie zeigen Sterne im Nachthimmel. Aber gerade wegen der unvermeidlichen Resonanz mit dem Werk Pollocks lässt sich nicht mit Sicherheit sagen, was Wools Gemälde eigentlich bedeuten. Sie sind einheitlich, durchdacht, absolut und meisterhaft, verweigern sich jedoch hartnäckig unserer instinktiven Suche nach Bedeutung, die sie zu negieren scheinen.75

Sehen wir die Arbeit Wools Mitte der 1980er-Jahre als eine Auseinandersetzung mit dem US-amerikanischen Modernismus u.a. durch Aneignungsstrategien, die bei Cald-

73 1985–1986; u.a. TYPE A, Enamel on metal, 72 × 45 inches, Abbildung in Holzwarth 2012, S. 41. 74 Michael Bulka: Christopher Wool, in: New Art Examiner, Vol. 13, No.11, Summer 1986, S. 46; Colin Westerbeck: Reviews: Christopher Wool, Robbin Lockett Gallery, in: Artforum, Vol. 25, No. 1, September 1986, S. 139. 75 Caldwell 1989, o.S.

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well in diesem Fall als „unvermeidliche Resonanz“ beschrieben werden76, können die Drip-Paintings und die Roller-Paintings auch in dieser Hinsicht als Revision des Allover bei Pollock gedeutet werden. Markus Brüderlin beschreibt in seinem 1993 erschienenen Aufsatz „Ornamentalisierung der Moderne“77 eine Generation von Malern, zu denen auch Wool gehört, die Mitte der 1980er-Jahre mittels Strategien der Aneignung das Formenvokabular der Moderne „ornamentalisiert“ und damit einer kritischen Prüfung unterzieht.78 Er stellt in diesem Zusammenhang den kritisch-konstruktiven Ansatz der Künstler heraus. Es kann aber gezeigt werden, dass Künstler wie Sherrie Levine oder Philip Taaffe, zuvor aber auch schon Blinky Palermo, nicht in beliebigen Raubzügen die Vergangenheit heimsuchten, sondern neuralgische Stellen in der Moderne anpeilen und deren Widersprüche und Ungelöstheiten als inhaltliches Substrat für die eigene künstlerische Fragestellung heranzogen.79

Der bereits in den Drip-Paintings angedeutete Verweis auf Alltags- und Konsumwelt wird durch das ready-made-artige Übernehmen vorgegebener Pattern noch deutlich konkretisiert. Wool arbeitet nicht mit reinen Ready-mades, sondern stellt heraus, dass

76 Hilfreich in diesem Zusammenhang ist auch Max Imdahls Unterscheidung zwischen wiedererkennendem und sehendem Sehen. In „Bildautonomie und Wirklichkeit. Zur theoretischen Begründung moderner Malerei“, Mittenwald 1981, unterscheidet er im Hinblick auf Georges Braque und Paul Cézanne das wiedererkennende Gegenstandssehen, das mit dem zur Gewohnheit gewordenen Sehen von Gegenständen verbunden ist, vom sehenden Sehen. Während sich das wiedererkennende Sehen auf ein verstandesmäßiges Ordnen stütze, beziehe sich das sehende Sehen auf die Ordnungskraft der Sinne. Dieses ist ein „autonomes, von den ‚Normalisierungen der Erfahrung‘ freigesetztes Sehen“ (S. 9), welches auf einer autonomen Bildkonstruktion gründet. Das bei Imdahl beschriebene Verhältnis zwischen „Bildautonomie und Wirklichkeit“ lässt sich in Teilen auf die Arbeit Christopher Wools übertragen. Auch Wool strebt kein „reines Sehen“ an, sondern akzeptiert den Moment des wiedererkennenden Sehens als grundlegende Seherfahrung und bezieht diesen in die Bildkonzeption ein. Der Moment des Wiedererkennens bezieht sich bei Wool jedoch nicht auf eine Gegenstandspräsentation, sondern auf bekannte Darstellungsmodi aus der amerikanischen Malereigeschichte oder zeichenhafte Strukturen aus dem urbanen Kontext. Diese werden in ein Spannungsverhältnis gesetzt zu elementaren Seherfahrungen. Das „wiedererkennende Sehen“ ist hier also auf der Grundlage veränderter Erfahrungen von Welt und Wahrnehmungskonventionen uminterpretiert. Bice Curiger sieht u.a. im „Aufgreifen des kollektiven Bildschatzes“ und im „Testen seiner Verbindlichkeiten“ der Kunst nach den 1960er-Jahren eine Überwindung des von Imdahl beschriebenen Gegensatzes. (Curiger 1997, S. 12) Dies scheint mir bei Wool jedoch weniger der Fall zu sein, da die durch Aneignungsstrategien entstehende Friktion zwischen sehendem und wiedererkennendem Sehen beim Betrachter als essenzielle konzeptionelle Strategie zu beschreiben ist. 77 Brüderlin 1993, S. 101–112. 78 Der Aspekt der Ornamentalisierung wird in einem eigenen Kapitel behandelt. Hier gehe ich zunächst aspektorientiert auf die Beziehung Pollock–Wool bezüglich des All-over ein. 79 Brüderlin 1993, S. 102.



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die Transformation des übernommenen Pattern oder später eines Wortes oder einer Wortsequenz in ein Bild und damit das Sichtbarwerden des künstlerischen Prozesses für ihn, als Maler, von großer Bedeutung sind: „CW: And for me, as a painter, process was crucial“.80 Gleichzeitig betont er, die Prozessualität und damit die Qualität des „Machens“ von Ready-mades und anderer konzeptueller Verfahren würden in der Interpretation dieser Werke unterschätzt.81 Das hier beschriebene Ineinandergreifen prozessorientierter und konzeptueller Strategien, zunächst in Form von Aneignungen vorgefundener Pattern, kennzeichnet die Arbeit Wools in erheblichem Maß. Diese Verknüpfung macht direkte Festlegungen im Werk unmöglich. It was the same thing with flowers: when I was using flowers, it was assumed that I was interested in them, or that I was interested in pattern and design. But actually I was interested in the displacement of pattern, in putting pattern into painting.82

Das „displacement“ oder die Verrückung eines Gebrauchsgegenstandes kann als konzeptuelle „Metapher“ verstanden werden oder – auf die sinnliche Erscheinung bezogen – ein neues Verhältnis zum Gegenstand evozieren.83 Nach Arthur Danto hat das Ready-made „den Ballast sinnlichen Brimboriums abgeworfen und die Kunst in ein Stadium des Bewusstseins ihrer selbst überführt“.84 Das Ready-made sei eine „Meta-Metapher [...] für die metaphorische Struktur der Kunst selbst.“85 Die Tatsache, dass durch die Aneignung der Tapetenmuster eine Metaebene, das Bild eines spezifischen (bis dato abgelehnten) Bildes, eingeführt wird, ist hier evident. Die Unmittelbarkeit des Bildes wird zunächst zugunsten einer Verweisfunktion auf andere Bilder gestört. Mit Sicherheit schwächt sie bei Wool jedoch nicht die „Dimension des sinnlichen Erscheinens von Kunst“86, die nach Juliane Rebentisch bei Danto zu wenig Beachtung findet. Hier soll die These aufgestellt und ausgearbeitet werden, dass gerade im Zusammenwirken historisch-reflexiver und metaphorischer Konzepte mit einer sichtbaren Thematisierung wahrnehmungspsychologischer und -physiologischer Vorgänge und somit einer spezifischen Form der Unmittelbarkeit die Qualität von Wools Arbeit liegt.

80 Temkin/Frankel 2005, S. 132. 81 „CW: But think about Warhol. With his use of silkscreen and other such, his work was concerned with process also, and was certainly not the ideal of high modernism. [...] I think even Warhol allowed the visual residue of the process of making the painting to be an entrance into the picture, something that pulled your eye in. That was harder to see at the time; it’s much easier to see now.“ Temkin/ Frankel 2005, S. 130. 82 Ebd., S. 132. 83 Rebentisch 2013, S. 122–135. 84 Ebd., S. 123. 85 Ebd., S. 128. 86 Ebd., S. 131.

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Die sinnliche Erscheinung, die nach Rebentisch gerade im Ready-made durch die Inszenierung besonders auffällig und bedeutsam wird, sowie die Transformation der Objekte zu „Objekten der Interpretation“87 beziehen sich bei Wool jedoch nicht direkt auf das Ausgangsmaterial, das Pattern, wie das obige Zitat verdeutlicht. Durch die Dekontextualisierung geht es Wool also weniger darum, das Ausgangsmaterial zu thematisieren, sondern vielmehr darum, sowohl phänomenologisch als auch metaphorisch die Frage nach dem Bild zu stellen. Bezogen auf das All-over ist zunächst einmal der „Tabubruch“ offensichtlich, dass Wool für Gebrauchszwecke konzipierte, dekorative Tapetenmuster verwendet, die als Inbegriff dessen galten, von dem sich die abstrakte Malerei abzugrenzen hatte. Des Weiteren kann die mechanische Art des Auftrags vor der Folie des abstrakten Expressionismus insofern als „enttäuschend“ verstanden werden, als in ihr keinerlei „Expression“, Ausdruck, evident wird. Im Gegenteil: Der Künstler „verschwindet“. Dennoch wirken die Bilder nicht ausdruckslos; aber sie verweigern durch das Readymade eine bestimmte Art des direkten Ausdrucks von Individualität, der im abstrakten Expressionismus eng mit der malerischen Geste verknüpft war. Die Künstlerin und Freundin Jutta Koether schreibt treffend: Ein eigenes Vokabular der Installation und De-installation von Expression wird sichtbar und damit diese besondere Position: ein extremes Beharren auf einem entschieden subjektiven Ausdruck und gleichzeitig die Weigerung, von sich selbst zu sprechen.88

Die „Zurückgenommenheit“ ist jedoch nicht ausschließlich Negation oder Ironie. Stattdessen werden durch die starke Zurückhaltung zwar einerseits Distanz und ein ironischer Bruch mit der Vorstellung modernistischer Unmittelbarkeit deutlich. Der Kontrast zwischen der Vorstellung einer existenziellen Expressivität eines Jackson Pollock und dem lapidaren Rollen eines Tapetenmusters und die damit verbundene Enttäuschung einer Erwartenshaltung erzeugt jedoch andererseits auch Komik. Gleichzeitig wirkt Untitled, 1987, durch seine Zurückhaltung zart und fragil. CW:[...] It’s interesting with the pattern paintings: some of the more expressive ones are relatively more dry and severe. And when I pushed the elements of process and chance, there was always a point where the painting started to be less interesting and less expressive. AT: The whole idea of painterliness equating to expression is really a fallacy. CW: Yes. At that point I was still just trying to figure out how much expression you could pack into something, or else how little – how much expression you could take out.89

87 Rebentisch 2013, S. 133. 88 Koether 2008, S. 150. 89 Temkin/Frankel 2005, S. 133. Hervorhebung im Original.



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Störungen des Rapports in Untitled, 1987 Ab 1987 führt Wool bewusst Störungen und Unregelmäßigkeiten in die All-overStrukturen ein, die die Bildkomplexität erhöhen. In Untitled, 1987, sind es drei Störungsprinzipien, die die Gleichmäßigkeit des Musters brechen. Zum einen arbeitet Wool mit Formverzerrungen, hervorgerufen durch Abrutschen mit der Rolle auf dem glatten Aluminiumgrund, wodurch unterschiedlich große Formen entstehen.90 Aus den so entstehenden Unregelmäßigkeiten sowie der ungenauen Bündigkeit der einzelnen Rapporte bilden sich „Gassen“ oder „Gießbäche“91, d.h. weiße Flächen aus den Zwischenräumen, die sich zufällig aneinanderfügen und so eigene Sekundärstrukturen bilden. Des Weiteren entstehen durch Überlappung des Rapports Formüberschneidungen. Damit wird das Raster des an sich richtungslosen Musters von verschiedenen visuellen Strukturen überlagert: zum einen die Vertikale (durch die „Gassenbildung“), des Weiteren geschwungene, eher diagonal orientierte Schwerpunktbildungen durch die Verzerrungen und drittens im linken Bereich eine vertikale Verdichtung durch die Überlagerungen. Durch diese Störungen werden Verdichtungen des Musters und damit Unterschiede in der visuellen Intensität gebildet, die – ähnlich wie bei der Verzerrung eines Rasters – durch die Überlagerung widersprüchlicher Strukturen eine eigentümliche, mäandernde Struktur bilden, die jedoch nicht fixiert werden kann, da die Kleinteiligkeit und Struktur des Musters die Wahrnehmung des Ganzen verhindern. Trotz der Unmöglichkeit, eine eindeutige Blickführung zu erkennen und zu benennen, führt Wool mit diesem Vorgehen die Frage nach eben dieser, der visuellen Schwerpunktsetzung im Format, und damit auch die nach der Komposition durch Störungen der All-over-Struktur, direkt wieder in seine Bildkonzeptionen ein.92

90 Hierbei sind die Verzerrungen vertikal ausgerichtet, womit die Bewegung des Malers angedeutet wird. Anders als bei Pollock besteht bei Wool keine Übereinstimmung zwischen der kreisenden Blickführung, die punktuelles Sehen voraussetzt, und den vollzogenen Bewegungen des Malers. Die Struktur, die aus der Bewegung des Malers entsteht, und die Struktur des Tapetenmusters sind nicht deckungsgleich, d.h. die Direktheit der Farbspur ist gebrochen. 91 „Gießbäche“ oder „rivers of white“ beschreibt ein bekanntes Phänomen aus der Typografie, bei dem sich untereinander stehende Wortzwischenräume optisch zu einer eigenen sekundären Struktur verbinden, die eine möglichst gleichwertige Grauwirkung des Textes verhindert und den Leseprozess stört. Siehe z.B. Gavin Ambrose und Paul Harris: Designraster, München 2008, S. 93. 92 Ich argumentiere hier im Sinne Grynsztejns, die den Stellenwert der Komposition im Werk Wools wie folgt beschreibt: „The power of Wool’s work is entrenched in its labor-intensive emphasis both on the act of painting and on painting’s constituent elements. In Wool’s pieces we are perpetually returned to an analysis of form, line, color, frame and frontal composition.“ Grynsztejn 1998, S. 265. Diese Aussage steht im Gegensatz zur Analyse Goldsteins, die in den Roller-Paintings Fragestellungen der Komposition eliminiert sieht: „Aus den Allover-Werken ist alles Unnötige entfernt. Sie verzichten auf Farbe, hierarische Komposition und innere Form. Das, was nicht da ist, charakterisiert Wools Schaffen dieser Periode ebenso sehr wie das, was da ist.“ Goldstein 2012, S. 181. Siehe auch die Be-

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Hier zeigt sich, dass die sekundären Strukturen den Merkmalen des Iterativen und Zentrifugalen der Pattern entgegenwirken, jedoch simultan wirken. Die Ambivalenz widersprüchlicher Strukturen bildet jedoch keine bildnerische Einheit im modernistischen Sinn. Die Entität des Bildgrundes ist aufgelöst, er gleicht einer Projektionsfläche und ist nicht – wie bei Pollock – mit dem Motiv verbunden. Der Ausschnitt ist beliebig, da das Pattern in alle Richtungen fortgesetzt werden könnte. In diesen unwirklich wirkenden Strukturen des Scheins, des „Als-ob“, bilden die Störungen und daraus entstehenden sekundären Strukturen eine neue Ebene der „Tatsächlichkeit“.93 Die Präsenz des Malers erscheint jedoch nicht direkt, sondern ex negativo durch seine „Fehler“ beim mechanischen Auftragen der Pattern. Die so entstehenden gegenläufigen Strukturen der Pattern und der Sekundärstrukturen sind nicht getrennt voneinander wahrnehmbar, sondern sind miteinander verschmolzen und wirken simultan mit- und gegeneinander. Hier soll die These aufgestellt werden, dass gerade durch die Störungen in den Wiederholungen einerseits die Kontrolle der mechanischen Ordnung des Musters gebrochen wird, andererseits die ästhetische Ordnung erhöht wird, d.h., durch das Moment der Störung/Unordnung entsteht aus der mechanischen Ordnung eine ästhetische Ordnung. Durch diese visuelle Überprüfung hinterfragt Wool die Idee des All-over als Topos des Modernismus und interpretiert sie neu. Sie war Teil einer ideologisch aufgeladenen Diskussion, welche die spätmodernistische US-amerikanische Kunstkritik der späten 1960er- und der 1970er-Jahre prägte.94 Das Hinterfragen von radikalisierten

schreibung von Titz: „Wools ‚all over‘ ist hart, scheint durch das Aluminium des Malgrunds und durch kalt strahlende Emailfarbe weit von dem entfernt, was man sich unter einem Gemälde vorstellt. [...] Andererseits bricht die kalte Verweigerung auf, durch ungleichmäßigen, wuchernden Druck der Rapporte oder die Kontur der heruntertropfenden Buchstaben, deren Mitteilung trotz Verschlüsselung bestehen bleibt [...].“ Titz 1999, S. 550. 93 Zum Gegensatz von Erfahrungen des „Als-ob“ und Erfahrungen der Tatsächlichkeit siehe Angeli Janhsen-Vukicevic: Dies. Hier. Jetzt. Wirklichkeitserfahrungen mit zeitgenössischer Kunst, München 2000, S. 233–243. 94 In seinem Essay „Art Critics in Extremis“ fragt Hal Foster nach den Gründen für die Verhärtung der Kritiker-Positionen in der spätmodernistischen Kunstkritik. Die zunehmende Feindseligkeit unter den Kritikern Ende der 1960er-Jahre ging einher mit der Hypostasierung jeweils zentraler Begriffe, d.h. mit der Entwicklung von ursprünglich beschreibenden Attributen zu Entitäten. „What was involved here was [...] a common move in art criticism: the inflating of attributes into entities. One can hear the adjectives become nouns, the descriptions become essences, as Greenberg writes of the ‘flatness’ of late-modernist painting, Krauss of its ‘frontality’ or Fried of its ‘opticality’.“ Hal Foster: Art Critics in Extremis, in: Ders.: Design and Crime (And Other Diatribes), London 2002, S. 119 f. Foster arbeitet folgende Aspekte heraus: 1. Ästhetische Fragen wurden mit ethischen und politischen Fragen überfrachtet, das Ethische und das Politische wurden sublimiert. (S. 119) Ästhetische Urteile wurden eine Frage der Überzeugung. 2. „Aufgeblasene Begriffe“ wurden als Bollwerk für ein ästhetisches Feld eingesetzt, das von außen wie von innen erodiert wurde. „The external enemy was ‘kitsch’, ‘theatricality’, everyday life in com-



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und verfestigten Positionen (denen ursprünglich wesentlich differenziertere Unterscheidungen und Deutungen in der Kunstkritik zugrunde lagen95) waren schon seit der Pop-Art Thema der kritischen Auseinandersetzung in der Kunst. Distanzierte Bearbeitungen der Ideologien als Problem für den künstlerischen Ausdruck finden sich bereits in Werken der späten fünfziger Jahre. [...] Diese künstlerischen Überprüfungen gehören zum Bild des Gleichzeitigen und sind deshalb so wertvoll, weil sie maßgebliche Positionen als Topoi isolieren und erkennbar machen. [...] Es wäre jedoch falsch, die Befragung dieser Topoi nur in der Generation der Popkünstler zu suchen. Ab den späten sechziger Jahren wurde das Stilelement des Zitates verstärkt eingesetzt, um Ideologien der Moderne zu analysieren.96

Bild- und Betrachterraum in No. 32, 1950 und Untitled, 1987 Die Beobachtung des möglichen Schwebens der Farbformen beraubt den Betrachter einer der letzten Gewissheiten, die ihm verblieben waren, dass nämlich ein gesehener Farbfleck, wenn er schon nicht beschreibbar ist, als an der gesehenen Stelle befindlich definiert werden kann.97

In seiner ausführlichen Analyse des Bild- und Betrachterraums in No. 32 beschreibt Nicolas Hepp die Unbestimmbarkeit der Raumsituation bei Pollock zunächst bedingt durch die Tatsache, dass die Formen und Formüberschneidungen in No.  32 verschiedene Ebenen bilden, die durch die Verwendung nur einer Farbe jedoch ungeklärt bleiben. Die Formen schienen vor der Leinwand, die als „unbegrenzter Raum rezipiert“98 wird, zu schweben. Eine ähnliche Wirkung habe der Wechsel von kleine-

modity culture; the internal enemy was the expanded arena of art prepared by Minimalism. That is why Minimalism was so dangerous to Greenberg, Fried, and others: they rightly understood that it might open art beyond the proper mediums of painting and sculpture, that it might lead art into an arbitrary realm beyond criteria. The problem of the arbitrary was felt by many artists and critics in the 1960s and 1970s. [...] So we are still in the aftermath of the crisis of the arbitrary, in an expanded field of art that sometimes seems vital and sometimes entropic, in which the breakthroughs of the 1960s appear both as departures to reclaim and as breakdowns to overcome.“ Foster 2002, S. 120, 122. 95 Auch Greenberg verortete das All-over bei Pollock zwischen dem Staffeleibild und der endlos fortsetzbaren, nicht relationalen Struktur: „Zwar ist es [das All-over-Bild; Anm. K.W.], zumindest, wenn es gelungen ist, immer noch eine Art Staffeleibild, und es wird immer noch dramatisch an der Wand hängen, doch von allen Arten der Malerei nähert sich diese am meisten der Dekoration – Tapetenmustern, die man endlos fortsetzen kann –, und insofern sie dennoch Staffeleimalerei bleibt, infiziert sie die gesamte Idee dieser Form mit einer gewissen Ambiguität.“ Greenberg 2009, S. 151. Deutlich wird hier, dass Greenberg das All-over mehr als einen Pol in einem Spannungsgefüge sieht, denn als absolute Bildkonzeption. Gerade im Spannungsverhältnis von Staffeleibild und All-over, im ambivalenten Verhältnis dieser beiden Bildkonzeptionen sieht Greenberg dessen Potential. 96 Schneemann 2003, S. 13. 97 Hepp 1982, S. 74. 98 Ebd.

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ren und größeren Formen, der räumliches Sehen ermögliche, wobei offenbleibe, ob 1950 die räumliche oder die flächige Rezeption werkadäquat sei. Walter Kambartel stellt heraus, dass die Leinwand jedoch keinen imaginären Raum in die Tiefe öffne, sie kein Ort a priori sei, sondern aufgrund ihrer Größe mit der Architektur interagiere und so gleichsam zur Wand werde. Die Identität von Bild und Wand entsteht nach Kambartel dadurch, „daß der Beschauer sich räumlich zur Bildfläche verhält. [...] so tritt der Beschauer vor Pollocks Bild erstmals in eine räumliche Beziehung zur Bildfläche.“99 Der bereits erwähnte Essay „Modernistische Malerei“ von Clement Greenberg aus dem Jahr 1960 ist auch bezüglich des Begriffs der Flatness der zentrale Referenzpunkt in der US-amerikanischen Auseinandersetzung um eine formalistische Deutung des Modernismus. Nach Greenberg steht am Beginn der antiillusionistischen Wende der Moderne Edouard Manet, der auf selbstreflexive Weise die spezifischen Bedingungen von Malerei in der Malerei reflektiert. Die realistische oder naturalistische Kunst pflegte das Medium zu verleugnen, ihr Ziel war es, die Kunst mittels der Kunst zu verbergen; der Modernismus wollte mittels der Kunst auf die Kunst aufmerksam machen. Die einschränkenden Bedingungen, die das Medium der Malerei definieren – die plane Oberfläche, die Form des Bildträgers, die Eigenschaften der Pigmente –, wurden von den alten Meistern als negative Faktoren behandelt, die allenfalls indirekt eingestanden werden durften. Der Modernismus betrachtete dieselben Eigenschaften als positive Faktoren, die nun offen anerkannt wurden. Manets Gemälde waren die erste modernistische Malerei, weil sie offen heraus erklärten, dass sie auf einer planen Fläche gemalt waren.100

Dabei ist es für Greenberg zentral, dass die einzelnen künstlerischen Disziplinen die für sie spezifischen Mittel in ihrer jeweiligen Disziplin beleuchten. Für die Malerei bedeute dies die Reduktion der räumlichen Illusion. Die Selbstkritik der Kunst sei das Mittel, sie vor einer Herabsetzung auf ihren „therapeutischen Wert“ zu schützen, wie es der Religion oder der Unterhaltung widerfahren sei.101 Die Betonung der unvermeidlichen Flächigkeit des Bildträgers war jedoch für die Selbstkritik und Selbstdefinition der modernistischen Malerei fundamentaler als alles andere. Denn nur die Flächigkeit ist ausschließlich der Malerei eigen.102

Greenberg ist sich sehr wohl bewusst, dass Malerei nicht vollkommen unillusionistisch sein kann. Was für ihn jedoch die modernistische Illusion von der illusionistischen Kunst der alten Meister unterscheidet, ist ihre Illusion als rein optische, die

99 Kambartel 1970, S. 11 f. 100 Greenberg: Modernistische Malerei (1960), in: Ders. 2009, S. 267 f. 101 Greenberg 2009, S. 266. 102 Ebd., S. 268.



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sich ausschließlich auf die Sinneswahrnehmung berufe, im Gegensatz zu einer Tiefenillusion, die Körperlichkeit suggeriere. Die Flächigkeit, welche die modernistische Malerei anstrebt, kann niemals absolut sein. Die größere Sensitivität für die Bildfläche lässt vielleicht keine skulpturale Illusion, kein Trom­pe-l’Œil mehr zu, aber sie gestattet – notwendigerweise – die optische Illusion. Der erste Pinselstrich auf der Leinwand zerstört bereits deren faktische vollständige Flächigkeit, und selbst aus den Pinselstrichen eines Künstlers wie Mondrian entsteht immer noch eine gewisse Illusion, die eine Art dritter Dimension suggeriert. Nur handelt es sich jetzt um eine strikt bildliche, strikt optische dritte Dimension.103

Dem Kunsthistoriker Michael Lüthy zufolge entledigt sich bei Greenberg das rein optisch erfahrene Bild seines Bezugs zum auf den Körper bezogenen Partialraum; stattdessen durchwandert es den optischen Raum als „Raum schlechthin“104. Nach Greenberg repräsentiere die „Bildfläche als totales Objekt“ „Raum als totales Objekt“. Nach Lüthy bringt Greenbergs Kurzschluss zwischen diesen beiden „Objekten“ die Ambiguität des modernistischen Bildes auf den Punkt. Einerseits verdingliche sich das Bild zur materiellen Oberfläche, die dem Realraum angehöre wie jeder andere Gegenstand auch. Andererseits werde die Bildfläche zu einem immateriellen, transzendenten Ort.105 Diese idealisierte Verabsolutierung der Bildfläche und die damit verbundene Möglichkeit der Transzendierung verhindert Wool durch die Übernahme der banalen Pattern. Auch eine offensichtliche Überwältigung und „dauerhafte Verweigerung der Adaptation“106 bei Pollock wird durch die kleineren Formate und die eindeutigen formalen Beziehungen ausgeschlossen. Formüberschneidungen werden in den frühen Pattern-Paintings bei Wool meist vermieden.107 Die Flächigkeit des Gemäldes scheint dadurch zunächst bestätigt und wird durch die Materialität des Malgrundes, der mit offensichtlicher Härte und Glätte auf die Aktionen des Malers als Widerstand reagiert, verstärkt. Wool erzeugt in Untitled, 1987, auf einer völlig anderen Ebene Ambivalenz zwischen räumlichem und flächigem Sehen. Durch Verzerrungen entstehen unterschiedliche Formgrößen, die einen räumlichen Effekt bewirken. Anders als bei Pollock jedoch, bei dem die Farbformen vor der als unbegrenztem Raum wahrgenomme-

103 Ebd., S. 273. 104 Michael Lüthy: Vom Raum in der Fläche des Modernismus, in: Anke Hennig, Birgit Obermayr und Georg Witte (Hrsg.): fRaktur. Gestörte ästhetische Präsenz in Avantgarde und Spätavantgarde, Wiener Slawistischer Almanach, Sonderband 63, Wien 2006, S. 151. 105 Lüthy 2006, S. 151. 106 Kambartel 1970, S. 31. 107 Bis Anfang der 1990er-Jahre treten Formüberschneidungen nur selten auf, werden dann jedoch beispielsweise bei den Dot-Paintings von 1995 zu einem wichtigen Strukturprinzip.

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nen Leere der Leinwand zu schweben scheinen108, lösen sich die größeren Formen zwar virtuell nach vorne ab, bleiben jedoch aufgrund der starken Kontinuität in der Abfolge der Pattern im Gewebe der All-over-Struktur verhaftet. Wird bei Pollock die Metapher der Schneekugel verwendet, bei der Flocken um die zentrale Figur schweben, die sich nach einer Weile setzen109, finden sich bei Wool Anklänge an gewölbte, gedehnte, faltige oder gestauchte Oberflächen. Dennoch tritt durch die Störungen im Muster eindeutig Dreidimensionalität auf.110 Die Basis für den spezifischen Bildraum der Roller-Paintings bildet das im Tapetenmuster eingeschriebene Raster, das durch Störungen manipuliert wird und räumliche Effekte erzeugt. Wool setzt diese jedoch nicht gezielt als Mittel der räumlichen Illusion ein, sondern sie entstehen ex negativo durch die Unregelmäßigkeiten im Auftrag des flächigen Musters. Ausgehend von einem Tapetenmuster, das für seine rein flächige Wirkung konzipiert wurde, wird diese irritiert und durch scheinbar nachlässiges Auftragen der Farbe in Frage gestellt. Die so entstehende Räumlichkeit verweist nicht auf die ontologische Wirklichkeit, sondern auf die Realität des Bildes, sein faktisches Dasein als plane Oberfläche. Das Bild rekurriert auf die Wirklichkeit von Bildern. Wool setzt sich hier mit einem zentralen Topos des amerikanischen Modernismus auseinander und legt dessen reduktionistische Problematik offen: die Oberfläche des Bildes. Michael Lüthy beschreibt die entstehende Reduktion der „semantischen, syntaktischen und pragmatischen Möglichkeiten der Malerei“111 als Verlusterfahrung für die Künstler, die auch Greenberg als solche erkannt habe. Die Bühne der klassischen Malerei sei im Modernismus immer flacher geworden, bis schließlich die Kulisse mit dem Vorhang zusammen gefallen sei. Doch ganz gleich wie reich und verschiedenartig die Künstler nun diesen

108 Hepp 1982, S. 74. 109 Ebd., S. 78. 110 Diese Art der Räumlichkeit ist durchaus mit dem kubistischen Reliefraum vergleichbar, der als Entwicklungsschritt zwischen der zentralperspektivischen zur flächigen Raumpräsentation gesehen werden kann. Auch bei Wool entwickelt sich die Räumlichkeit nicht „nach hinten“, sondern aus der Fläche heraus mit relativ begrenzter räumlicher Tiefe „nach vorne“. Diese Raumdarstellung, ausgehend von einer festgelegten Fläche, beschrieb Daniel-Henry Kahnweiler. Die Kubisten „verzichteten auf den ‚geometrischen Raum‘, [...] auf Leone Battista Albertis Linearperspektive. Stattdessen schlossen sie das Bild durch einen festen Hintergrund ab, von dem sich die Körper abhoben, und ließen so einen sorgfältig eingerichteten Raum von geringer Tiefe entstehen.“ Daniel-Henry Kahnweiler: Juan Gris – Leben und Werk, Stuttgart 1961, S. 112. Ohne näher auf einen Vergleich des kubistischen Bildraums mit dem bei Wool eingehen zu wollen, kann man verkürzend behaupten, Wool führe den flächigen Bildraum zurück in einen Reliefraum. Dieser ist jedoch kein geometrischer, aus Licht und Schatten entwickelter, kubistischer Bildraum. 111 Lüthy 2006, S. 152.



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Vorhang, der ihnen als einziges übrig geblieben sei, bearbeiteten und falteten, das Gefühl des Verlusts sei unausweichlich.112

Aus diesem Gefühl des Verlusts haben sich nach Lüthy parallel zur Entwicklung der Flatness Künstler damit beschäftigt, wie diese Bühne und damit auch der körperliche Handlungsraum wieder einzunehmen seien, ohne die modernistische Verflachung und Materialisierung des Bildes und die mit dieser Entwicklung verbundene Argumentation zu negieren. Nach Lüthy suchten sie dies im Inneren der Bildoberfläche, indem diese beispielsweise aufgeschnitten, verdoppelt o.Ä. wurde. Dadurch würde „eine Art Binnenraum des Bildes geschaffen [...], der jeweils sowohl einen buchstäblichen Raum als auch eine imaginäre Tiefe erzeugt, wobei die Pointe häufig darin besteht, beides gegeneinander auszuspielen.“113 So ist der spezifische Bildraum in den Roller-Paintings einerseits – in der „Matterof-fact-Tradition“ der Pop-Art – als kritischer Kommentar zur transzendentalen Aufladung der Bildfläche durch die Gleichsetzung von konkretem Bildraum und „Raum schlechthin“ im US-amerikanischen Modernismus zu sehen. Andererseits ist Wools Arbeit jedoch nicht reine Kritik oder Negation. In einer dialektischen Bewegung reagiert Wool auch auf die beschriebene Verlusterfahrung. Wird der buchstäbliche Raum durch die Tapetenmuster geschaffen, stellen die Verzerrungen und Überlagerungen diesen wieder in Frage und erzeugen eine gewisse imaginäre Tiefe, ohne jedoch irgendeines der traditionellen Bildmittel zu benutzen. Sie suggeriert weder Körperlichkeit noch haptische Anmutungen im traditionellen Sinn, sondern bezieht sich ausschließlich auf die Eigenschaft des Bildes, flächig und „oberflächlich“ zu sein. Die Fehler brechen die Mechanik der Tapetenmuster auf und entwickeln eine „evokative Kraft“.114 Die Körperlichkeit des Künstlers, der Prozess des „Malens“ werden gleichzeitig negiert und evoziert. Durch die ambivalente Wirkung dieser widersprüchlichen Wirkungsweisen entsteht auch bei Wool der von Lüthy beschriebene Binnenraum. Der Schriftsteller, Kunstschriftsteller und Herausgeber Glenn O’Brien beschreibt dieses Phänomen mit dem Begriff „Tiefe in 2-D“. Doch wie auch immer Wool seine Komposition schichtet, stets stößt man auf einen ironischen Widerspruch: Tiefe in 2-D. Wool erzeugt Tiefe, wo keine existiert, und enttarnt sie damit als eine Illusion unter vielen.115

112 Ebd. 113 Lüthy 2006, S. 153. 114 Glenn O’Brien weist auf die Herkunft des Fehlerhaften im Druck bei Andy Warhol hin, an das Wool anknüpft. Glenn O’Brien: Apocalypse and Wallpaper, in: Christopher Wool 2008, S. 21. 115 Ebd., S. 20.

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Wichtig ist hier jedoch auch der Umkehrschluss. In der Manipulation von Material, das ursprünglich bewusst für eine flächige Wirkung konzipiert war, und des daraus resultierenden Binnenraums enttarnt Wool das Postulat der Flächigkeit in der modernistischen Nachkriegskunst als reduktiv.

Dekonstruktion The deconstructive impulse, ‘Owens writes’, must be distinguished from the self-critical tendency of modernism. This is crucial to the postmodernist break, and no doubt the two operations are different: self-criticism, centered on a medium, does tend (and least under the aegis of formalism) to the essential or ‘pure’, whereas deconstruction, on the contrary, decenters, and exposes the ‘impurity’ of meaning.116

Hal Foster kontrastiert hier den postmodernen Begriff des „dekonstruktiven Impulses“ von Craig Owens mit dem modernistischen Konzept der selbstkritischen Selbstreferenzialität Greenbergs. Wie Wool dieses Konzept des selbstreferenziellen Bildes im Hinblick auf das modernistische All-over in Frage stellt und durch den Einbezug des Umraums, das Schaffen eines bildimmanenten Binnenraums und die Öffnung zur Alltagskultur erweitert, wurde dargelegt. Auch in der Kunstkritik wurde die Verbindung zu dekonstruktiven Verfahren vielfach hergestellt.117 Dennoch fühlt sich Wool mit der Reduktion seiner Arbeitsweise auf dekonstruktive Verfahren aus der Kunstkritik missverstanden. CW: [...] People seem to have misunderstood what I was doing in those paintings; they thought I was deconstructing painting, making a statement about artmaking. Whereas I felt that I was just making paintings, albeit self-conscious ones. As far as I was concerned all those issues had already been dealt with by other artists. [...] CW: [...] I don’t think you could make paintings at that time without being aware of the implications of making a painting – I certainly was – but that’s different from just [eigene Hervorhebung; K.W.] deconstructing a painting.118

Dem hier zutage tretenden Widerspruch zwischen Künstler und Kunstkritikerin, zwischen Produzent und Rezipientin nachzugehen scheint lohnenswert.

116 Hal Foster: Re/Post, in: Wallis 1981, S. 199 f. 117 Exemplarisch hierzu die Aussage von Anne Pontégnie: „En ce sens, Christopher Wool, pourtant proche des artistes de l’appropriation, ne consacre pas la perte de l’expérience mais participe, du coté côté“ de Robert Gober et de Mike Kelley, de Martin Kippenberger et de Franz West, à la décomposition du modernisme par le bas, dans tout les sens de ce dernier terme.“ Pontégnie 2002, S. 17. 118 Temkin/Frankel 2005, S. 129 f.



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Vielfach wird Wool als Bilderskeptiker und Nihilist bezeichnet, der jedwede Bedeutungszuschreibung von Bildern in Frage stellt.119 Demgegenüber steht die Tatsache, dass Wool eine ganze Generation von Malern inspirierte120 und dementsprechend der abstrakten Malerei seit den 1980er-Jahren neue Relevanz geben konnte. The canonical position that Wool holds in the recent history of art has emerged in light of the renewed interest in the medium of painting. It is not based on his contribution to painting’s ‘endgame’ but rather on his ability to delineate the sites of contestation that keep the discourse around painting open and painting itself alive. And this, in turn, is why his work has been so important for a younger generation of painters, from Wade Guyton to Josh Smith.121

Die hier beschriebene Dualität zwischen dem „endgame der Malerei“122 und der Auseinandersetzung mit relevanten (Streit-)Fragen für die aktuelle Malerei, d.h. die Dualität von einer kritischen reflexiven Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und der Weiterentwicklung zeitgenössischer Fragestellungen der Malerei, durchzieht das Werk Wools. Der Schwerpunkt liegt jedoch für Wool auf Letzterer Insofern ist sein Umgang mit Malerei trotz einer kritischen Haltung gegenüber dieser und gegenüber gewissen modernistischen Konzeptionen von einer ikonophilen Haltung geprägt, welche die bildliche Potenz der Malerei nicht in Frage stellt und auf einer „nie angezweifelte[n; K.W.] Gewissheit des Tafelbildes“123 basiert. „Dekonstruktion“ ist dennoch ein Begriff, der verschiedene Aspekte von Wools Produktionsprozessen sinnvoll bündelt und zusammenfasst. Der Gebrauch eines der­art komplexen Begriffs bedarf jedoch in diesem Zusammenhang einer Erläuterung und Differenzierung. Die historische Aufarbeitung des bedeutsamen Austauschs zwischen französischer poststrukturalistischer Theorie und US-amerikanischer bildender Kunst steckt noch in ihren Anfängen.124 Die Öffnung des aus der Linguistik

119 Siehe z.B. Peter Pakesch: „Sein [Wools; K.W.] Werk entsteht aus einer tiefen Skepsis und einem profunden Misstrauen an den Bedingungen und Möglichkeiten von Malerei heute. Er ist als Maler ein Ikonoklast. Er misstraut dem Bild und seiner ästhetischen Erfahrung. Die Welt ist für ihn ein Text, eine Textur oder ein Ornament, hinter dem es nichts gibt außer anderen Texten, Texturen oder Ornamenten. Es gibt keine ‚unmittelbar gegebene Realität‘ hinter den mit Schablone gemalten Buchstaben, auf die sich das Geschriebene jemals beziehen könnte. Text bezieht sich immer nur auf Text, Farbe immer nur auf Farbe, Bilder immer nur auf Bilder.“ Peter Pakesch (Hrsg.): Warhol Wool Newman: Painting Real/Screening Real: Conner Lockhart Warhol, Ausst.-Kat. Kunsthaus Graz/Universalmuseum Joanneum, (26.09.2009–10.01.2010), S. 105. 120 U.a. Ausstellung „Beware Wet Paint“, ICA London, 2014, und Fondazione Sandretto Re Rebaudengo Turin, 2014/2015. 121 Hochdörfer 2014, S. 281. 122 So wird Christopher Wool in der Ausstellung „This Will Have Been: Art, Love & Politics in the 1980s“ im Museum of Contemporary Art Chicago (11.2.–3.6.2012) in der Sektion „The End is Near“ geführt. 123 Koether 2008, S. 151. 124 Siehe hierzu die Tagung „French Theory and American Art“ (11.5.2011–14.5.2011) und der daraus hervorgegangene gleichnamige Band in Brüssel.

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stammenden Begriffs auf ästhetische Objekte und künstlerische Praktiken125 spielte jedoch im New York der 1980er-Jahre, insbesondere im Umfeld der Pictures Group und deren kritischer Rezeption durch die Zeitschrift October, eine wichtige Rolle.126 Nach Rosalind Krauss liegen die Parallelen zwischen der strukturalistischen Idee einer selbstregulierenden Struktur [ursprünglich der Sprache; Anm. K.W.] und den modernistischen Konzeptionen der Kunst auf der Hand. This idea of a self-regulating structure, one whose ordering operations are formal and reflexive – that is, they derive from, even while they organise, the material givens of the system itself – can clearly be mapped onto the modernist conception of the different and separate artistic disciples or mediums. And insofar as the parallel obtains, the intellectual and theoretical battles of 1968 are highly relevant to the developments in the world of art in the seventies and eighties.127

Der im Begriff der Dekonstruktion angelegte Aspekt der Rückwendung, der die Idee der sogenannten Postmoderne durchgängig prägt – bei Wool sichtbar an seinen offensichtlichen Bezügen zur modernistischen Malerei –, entwickelte sich aus einer philosophisch-kritischen Art der Textanalyse – eine „Lesart“, die im Wesentlichen mit Jacques Derrida verbunden ist. In der Philosophie beschreibt Dekonstruktion heute ein Verfahren, das sich gewissermaßen als nachträgliche Fixierung erkennbarer Regeln von Derridas philosophischer Arbeit erweist. Diese besteht darin, Texte des überlieferten Corpus der Philosophie zu lesen.128

125 Voraussetzung für die Erweiterung des ursprünglich sprachphilosophischen Begriffs auf die bildende Kunst ist der von Jacques Derrida eingeführte erweiterte Textbegriff. „BRUNETTE: What would you reply to somebody who was recalcitrant about the application of deconstruction to the visual arts, somebody who would say deconstruction is fine for words, the written, because what is there is never what is signified, whereas in a painting everything is always there, and thus deconstruction is not applicable? DERRIDA: [...] Now, because there cannot be anything, and in particular any art, that isn’t textualized in the sense I give to the word ‘text’ – which goes beyond the purely discursive – there is text as soon as deconstruction is engaged in fields said to be artistic, visual or spatial. There is text because there is always a little discourse somewhere in the visual arts, and also because even there is no discourse, the effect of spacing already implies a textualisation. For this reason, the expansion of the concept of text is strategically decisive here. So the works of art that are the most overwhelmingly silent cannot help but be caught within a network of differences and references that give them a textual structure.“ Peter Brunette und David Wills: The Spatial Arts: An Interview with Jacques Derrida, in: Peter Brunette und Davis Willis: Deconstruction and the Visual Arts, Art Media, Architecture, New York 1994, S. 14 f. 126 Foster/Krauss/Bois/Buchloh 2004, S. 47 f. 127 Ebd. 2004, S. 40. 128 Peter Engelmann: Postmoderne und Dekonstruktion. Texte französischer Philosophen der Gegenwart, Stuttgart 1990, S. 20.



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In der Rückwendung zu vorhandenen Bedeutungsgeschehen129, in einem „Lesen“ bereits existierender Texte und dem Aufzeigen der in ihnen impliziten, noch nicht lesbar gemachten Bedeutungsgeschehen, wird das, was die Frage an Bedeutungsgeschehen mitbringt, mitbedacht. „Stets wird Dekonstruktion den Versuch unternehmen, Verständnisse in diesem Sinn lesbar zu machen.“130 Ziel dieser Rückwendung ist es, bisher Verborgenes aufzudecken. Für Derrida bedeutet Dekonstruktion im philosophischen Kontext, die Geneaologie philosophischer Konzepte zu denken und dabei offenzulegen, was die Geschichte dieser Konzepte verdunkeln und verschleiern konnte. Bezugsfeld der dekonstruktivistischen Lesart sei der Bereich der metaphysischen Philosophie, wobei danach gestrebt werde, im metaphysischen Feld zu arbeiten, ohne dieses Feld gleichzeitig zu bestätigen. Die Texte würden auseinandergenommen, indem man die inneren Widersprüche und impliziten Bedeutungen, die im Text verborgen liegen, aufzeige.131 Wie Wool die inneren Widersprüche in Greenbergs Konzepten des All-over und der Flatness aufzeigt und mit ihrer impliziten transzendentalen Aufgeladenheit und der damit verbundenen Strategie der Überwältigung bricht, wurde aufgezeigt. Dieses Vorgehen beinhalte eine Kritik des binären Denkens, des Denkens in Oppositionen, das nach Derrida charakteristisch ist für die Geschichte der Philosophie. Diese Kritik setze sich zusammen aus einer doppelten Bewegung: Die erste Phase läute ein Kippen der etablierten Hierarchie des Begriffspaars ein, das den Begriff aufwerte, der traditionell durch die Philosophiegeschichte untergeordnet wurde. Die zweite Phase der Bewegung destabilisiere die Inversion, indem sie die arbiträre Natur zeige, die dem Prozess der hierarchischen Wertung innewohne. Hierbei würde die Hierarchie ersetzt durch die Einführung eines neuen Begriffs, der der formalen Struktur widerstehe, die durch die binäre Logik von philosophischen Oppositionen eingeführt würde, z.B. difference, trace, pharmakon.132 Das Aufbrechen binärer Denkstrukturen zeigt sich bei Wool u.a. in der Aufarbeitung formaler Kategorien des abstrakten

129 Die Dekonstruktion stellt nach Georg W. Bertram einerseits die Frage nach Bedeutungsgeschehen und andererseits danach, wie sich die Frage nach dem Bedeutungsgeschehen überhaupt beantworten lässt. Auf diese Frage ließe sich, so Bertram, keine einfache Antwort finden, da eine Theorie von Bedeutungsgeschehen zu viele Antworten gäbe. Eine einfach entwickelte Antwort übersähe, dass die Frage in sich selbst bereits eine Antwort enthielte. Dem dekonstruktiven Ansatz folgend läge die Antwort auf die Frage nach dem Bedeutungsgeschehen insofern in der Frage selbst, als diese bereits Bedeutungsgeschehen hervorbringe. Georg W. Bertram: Hermeneutik und Dekonstruktion, München 2002, S. 81–84. 130 Ebd., S. 84. 131 Donald M. Borchert (Hrsg.): Encyclopedia of Philosophy, Vol 2., Farmington Hills 2006, S. 661 f. 132 Interessanterweise wendet auch Jutta Koether in ihrem Text über die Malerei von Christopher Wool einen solchen, von Georges Didi-Hubermann übernommenen, Begriff an: das Entstellen. Sie beschreibt damit den Umgang mit dem „Moment des Widerstreits als Steigerungsmotiv“. „Wools Werk erscheint wie ein sich produktives Einlassen auf die Ent-Stellungen, was sich direkt auf dem Bild bemerkbar macht. Ein stetiges Experimentieren, das beharrlich Effekte der Ungewissheit in die Malerei

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Expressionismus wie Flächigkeit (versus Illusionsraum), All-over (versus Komposition) oder Abstraktion (versus Abbildhaftigkeit). Hier kommt eine zentrale Denkfigur Wools zum Tragen, die sein Werk seit den Anfängen prägt: das „Ja, aber“. In einem Vortrag im MoMA am 13.11.2009 über die Bedeutung des Werks von Brice Marden für das eigene Schaffen beschreibt Christopher Wool seine erste prägende Kunsterfahrung im Alter von zwölf Jahren. Er besuchte 1967 mit einem Mitarbeiter seines Vaters ein Konzert des „Art Ensemble of Chicago“. Besonders nachdrücklich beschreibt er den performativen Aspekt der Darbietung der Jazzband („performative aspect of their performances“133): Nachdem das Publikum lange auf die Band gewartet hatte, betraten die Musiker in Mänteln eine leere Bühne ohne Vorhang, begannen ihre, überwiegend kleinen, Instrumente auszupacken und zu spielen. Erst nach dem ersten Satz fiel der Vorhang. Als dieser wieder gehoben wurde, war die Bühne komplett verändert und wesentlich theatralischer gestaltet – sie war nun u.a. mit einer funktionierenden Ampel ausgestattet. In diesem Moment habe er begriffen, so Wool, dass der gesamte Anfang eine Performance war, ein unechtes Spiel: „I realized that the whole beginning had been a performance.“134 Hier zeigt sich die Bedeutung des Kontextes, der für die Dekonstruktion zentral ist. Dieser bietet die Allgemeinverbindlichkeit, die erforderlich ist, um sich von einem rein individuellen Unterfangen abzugrenzen. Ich glaube, dass die Dekonstruktion, die Dekonstruktionen, immer eine große Aufmerksamkeit für den Kontext voraussetzen, für alle Kontexte, für die geschichtlichen, wissenschaftlichen, soziologischen usw. Entsprechend den Kontexten kann man die Regeln der Dekonstruktion gewinnen, relative Regeln, die eine relative Allgemeinheit haben, die man aber bis zu einem gewissen Punkt benutzen, übersetzen und lehren kann. Es gibt allerdings einen Punkt, an dem die Abhängigkeit vom Kontext – der vielleicht ein autobiografischer Kontext oder ein politischer oder ein historisch-wissenschaftlicher Kontext ist –, wo die Abhängigkeit vom Kontext bewirkt, dass es keine universelle Methode der Dekonstruktion gibt. Jeder Text – und hier benutze ich das Wort ‚Text‘ in einem sehr besonderen Sinn, in dem, den ich dem Wort ‚Text‘ gebe und der ihn nicht auf die Schrift, auf die geschriebene Seite, auf das Buch reduziert –, jeder Text, das heißt jeder Kontext, wenn Sie so wollen, erfordert eine idiomatische, dekonstruktive Geste, so idiomatisch wie möglich.135

einführt, gerade dann, wenn sie sich dramatisch auf- oder entladen hat, was aber durch die nie angezweifelte Gewissheit des Tafelbildes aufgefangen wird.“ Koether 2008, S. 151. 133 MoMA (Hrsg.): Artist Talk, 13.11.2006, zur Ausstellung „Brice Marden: A Retrospective of Paintings and Drawings“ (The Museum of Modern Art New York, 29.10.2006–15.1.2007), veröffentlicht: o.D. [http://www.moma.org/explore/multimedia/audios/64/112, abgerufen am 22.4.2015]. 134 Ebd. 135 Peter Engelmann: Jacques Derridas Randgänge der Philosophie, in: Jeff Bernard (Hrsg.): Semiotica Austriaca. Angewandte Semiotik 9, 10, Wien 1987, S. 107 f.



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Der Kontext bietet also nach Derrida zum einen die Möglichkeit, Regeln zu gewinnen, die für die Dekonstruktion ein gewisses Maß an Allgemeingültigkeit schaffen, um somit das rein Individuelle zu übersteigen, sie setzen jedoch auch die Grenze, an welcher der Kontext den Allgemeinheitsgrad der zu gewinnenden Regeln eingrenzt. Das Verhältnis zwischen der wechselseitigen Abhängigkeit von Allgemeingültigkeit und Individualität, das durch die Abhängigkeit eines Zeichens vom Kontext in hohem Maße bestimmt wird, gilt es näher zu erläutern. Ich folge nun im Wesentlichen dem Kapitel Georg W. Bertrams zum Thema, der in „Hermeneutik und Dekonstruktion“ darlegt, wie Derrida seine Argumentation in dem Aufsatz „Signatur Ereignis Kontext“ entwickelt.136 Dieser Text und die sich daran entfachende Debatte zwischen Derrida und dem Sprachphilosophen John R. Searle wurden in den USA intensiv rezipiert. Mit dem Begriff des „Kontextes“ sei ein Bereich von vielen einem Zeichen Bedeutung gebenden Momenten beschrieben, wie dem der Zeichenkette, des Ereigniskontextes, der äußeren Situationen, wie Räumen oder Ereignissen, intentionalen Bewusstseinskontexten oder allgemeinen Bewusstseinszuständen. Eine Debatte, die sich an der Problematik des Kontexts entzünde, ist nach Bertram die, ob das Zeichen in seiner Bestimmtheit dem Kontext vorangehe oder umgekehrt. In einer Antwort auf eine von Austin aufgeworfene Frage, wie sich echte Sprechakte von unechten unterscheiden ließen, zeige Derrida auf, dass dies durch den jeweiligen Kontext entschieden werde. Dies seien beispielsweise die Handlungssituation und die Intention des Sprechenden. In diesem Zusammenhang tauche die Frage auf, ob der Begriff des Kontextes, der für das Zeichen Relevanz gewinne, unabhängig sei von dem des Zeichens oder nicht. Im Rückgriff auf den Begriff der Spur zeige er auf, dass das Zeichen den Kontext eines Systems in sich trage, dass es bereits in seiner Konstitution in Kontexte gestellt sei. Diese Verbindung von Zeichen und Kontext habe zur Folge, dass das Zeichen in immer neue Kontexte gestellt werden könne. Jedes linguistische oder nicht-linguistische, gesprochene oder geschriebene (im üblichen Sinne dieser Opposition) Zeichen kann als kleine oder große Einheit zitiert, in Anführungszeichen gesetzt werden; dadurch kann es mit jedem gegebenen Kontext brechen, unendlich viele neue Kontexte auf eine absolut nicht saturierbare Weise erzeugen.137

In seiner jeweiligen Reaktualisierung eröffne sich das Zeichen seinen Kontext als einen momentanen. Das Zeichen sei also bereits in seinem Kontext gegeben, der Kontext sei nicht, wie Austin annehme, eine externe Größe. Des Weiteren ließe sich

136 Bertram 2002, S. 118 ff. 137 Jacques Derrida: Signatur Ereignis Kontext, in: Ders.: Randgänge der Philosophie, Hrsg. von Peter Engelmann, Wien, 1988, S. 304.

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die Bedeutung des Zeichens nicht auf bestimmte Kontexte beschränken, da sich das Zeichen immer in neuen Differenzen reaktualisieren lasse. Die Bedeutung des Kontextes ist bei Wool, obwohl er sich auf überschaubare Tafelbilder beschränkt, evident. Die Bilder treten durch die ihnen innewohnende Unabgeschlossenheit und den arbiträren Charakter zwischen Bildgrund und Bildelementen in Dialog mit ihrer Umgebung.138 Das Anerkennen der Kontextabhängigkeit von Wahrnehmung zeigt sich auch in Wools Konzeption von Ausstellungskatalogen, in denen er auf eine scheinbar objektive Abbildung der Bilder verzichtet, sondern die Kataloge als eigenständige Kunstwerke versteht.139 Wool begreift den Katalog und die in ihm abgebildeten Reproduktionen nicht als möglichst objektive Abbildung der Arbeiten in der Ausstellung, sondern schreibt dem Sehen im Katalog einen eigenständigen Rezeptionsprozess zu, der das Betrachten einer Ausstellung nicht imitiert. Nach Bettina Funcke versucht Wool, in den Reproduktionen seiner Arbeiten eine Atmosphäre einzufangen, die auch stark durch die spezifischen Charakteristika des Umraums hervorgerufen wird. What is the ‘true’ or ‘best’ reproduction of such paintings, which appear as the arbitrary outcome of carefully achieved randomness? Rather than pursuing the realistic or correct colour, contrast and depth in reproduction of his work, Wool often prefers photographs that grasp the atmosphere, the idea of painting, how it felt when it was hanging in a gallery, a museum, or the home of a collector. [...] For work to stay alive in photographs or books, it’s important to catch the particular characteristics of the space in which it is seen, as well as not how the picture was taken.140

Die Reproduktionen sollen ein Gefühl davon vermitteln, wie es war, ein Bild in einem bestimmten Augenblick zu betrachten, mit den jeweiligen Spiegelungen oder ungleichmäßigen Ausleuchtungen. Funcke folgert richtig, Wools Entscheidungen

138 Achim Hochdörfer beschreibt diesen Dialog anlässlich Wools Ausstellung im Solomon R. Guggenheim Museum, 2013/14, wie folgt: „Within the exhibition, the photos served to emphasize Wool’s engagement with issues of painting’s autonomy, or rather, its loss of autonomy. In his work, however, this loss is not an inert given to be commented on. It is an unfolding process, a border conflict between pictorial immanence and its undoing. His paintings are parergonal: They don’t merely blur the distinction between what lies within the frame and what’s beyond it, but take this blurring as a precondition of perception. They cannot be seen as distinct from their contexts. According to their setting – museum, private collection, corporate collection, domestic space – they take on different meanings.“ Hochdörfer 2014, S. 280. 139 Nach Richard Hell behandelt Wool das Buch so wie das Medium Malerei. „Wool interessiert sich für das Buch als Medium der Malerei; darüber hinaus weiß er nur zu gut, dass der konventionelle Ausstellungskatalog kein ideales Mittel ist, die Gemälde einer Ausstellung wiederzugeben. Ohne es auf die exakte Bildproduktion anzulegen, behaupten sich seine Werke von eigenem Rang, die gleichwertig neben den Exponaten stehen. Die Kataloge sagen: ‚Wenn ein Gemälde in dieser Ausstellung ein Buch wäre, so würde es aussehen‘.“ Richard Hell: Christopher Wools Fotografien, in: Christopher Wool 2012, S. 233. 140 Bettina Funcke: Revealed in reproduction, in: Tate Etc., Issue 9, Spring 2007, S. 4.



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bezüglich der Reproduktion seiner Arbeiten seien tief verbunden mit der Art der Reflexion über die Reproduktionen, die in den Bildern selbst enthalten sind, und somit würden grundsätzliche Fragen über die Stellung von Bildern, die produziert und gesehen werden, berührt.141 Wie in den Bildern spielt die Frage des Rhythmus, der durch die Bildabfolge entsteht, eine zentrale Rolle für die spezifische Qualität der Publikationen. Der Moment, in dem die konstituierenden Elemente in einen Zusammenhang gebracht werden, der sie substanziell in Frage stellt und relativiert und damit die Bedeutung des Kontextes vor Augen führt, ist zentral in der Arbeit Wools. Er selbst sagt in einem Interview: Es gibt ein tolles Buch über den amerikanischen Maler Philip Guston, geschrieben von der Kunstkritikerin Dore Ashton, es heißt ‚Ja, aber‘ – diesen Titel halte ich für eine großartige Beschreibung der Situation, in der ein Maler sich befindet. Es ist wohl mein liebster Satz über die Malerei. Es geht in der Kunst nicht um eindeutige Kategorien wie Ja oder Nein, schwarz oder weiß. Für jedes scheinbar klare Ja gibt es eine Frage, ein Aber.142

Auch in diversen Texten über Christopher Wool wird die Widersprüchlichkeit im Bild durch Setzungen, die sich selbst in Frage stellen, als der Aspekt beschrieben, der sein Werk besonders auszeichnet und alle Werkphasen durchzieht. Dieser Prozess endet nicht und ist nicht in einer zentralen Dialektik auflösbar oder benennbar.143 Wools Denken, welches widersprüchliche Momente als konstitutive Elemente einbezieht, akzeptiert ein ihm innewohnendes chaotisches Moment, das in seiner Kunst eine zentrale Rolle spielt. Die Visualisierung eines Kampfes von widerstrebenden Kräften konstituiert ein „mess“, ein „Beinahe-Chaos“. Der Freund und Schriftsteller Jim Lewis beschreibt den Arbeitsprozess Wools, den Umgang mit einem

141 „Wool’s careful and guarded decisions about the representation of his work are intimately linked to the challenges to reproduction implicit in the paintings themselves, which is to say that they are intimately linked to the position of images – that is, to the way images are produced and seen today.“ Funcke 2007, S. 5. 142 Manfred Engeser: Christopher Wool. Maler ohne Pinsel, in: WirtschaftsWoche Online, 29.5.2009 [http://www.wiwo.de/unternehmen/christopher-wool-maler-ohne-pinsel/5545770.html, abgerufen am 22.4.2015]. 143 Siehe z.B. Loock 2009, S.31: „Die Logik des Werks besteht darin, malerische Elemente freizustellen und auszustreichen und in Sequenzen von Verschiebungen wieder freizustellen und wieder auszustreichen. Jeder Eingriff der Negation beinhaltet eine Setzung, die in einer neuen Wendung des malerischen Prozesses zu überwinden ist. [...] Eine solch ausufernde Vorgehensweise unterscheidet die malerische Realität von Wools Werk grundsätzlich von jeder Konzeption, welche die ‚selbstreflexive Analyse malerischer Mittel‘ zum Gegenstand einer künstlerischen Praxis erklärt, als ließe sich der malerische Prozess mit einer chemischen Reaktion vergleichen. Wools malerisches Werk steht für die endlose Umschichtung und Umwertung von Elementen der Malerei und damit für die Produktion von Bildern, die sich Mal um Mal gegen die Etablierung eines fest stehenden Sinns verwahren. Daher ist kein Ende der Malerei in Sicht.“ Siehe auch Pakesch 2009, S. 105; Koether 2008, S. 150.

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ursprünglichen Bild oder Begriff und dessen unterschiedlichste Manipulationen sehr anschaulich in seinem Text „Wool“. Auch er hebt die Ambivalenz zwischen mess und picture – ein für Wool zentraler Begriff, dessen genaue Bedeutung noch zu klären sein wird – hervor. „Picture“ sei hier zunächst verstanden als gestaltetes und abgeschlossenes Bild. But I think it’s quite safe to say that he’s trying to make a picture which is almost, but not quite, too much of a mess to be a picture at all, and almost, but not quite, too much of a picture to be a mess.144

Peter Zima sieht in dieser Akzeptanz des Chaos etwas substanziell Eigenes, ein verbindendes Element zwischen der Romantik und dem Programm der Dekonstruktion. ‚Die eigentlich romantische, d.h. poetische Aufgabe‘, schreiben Philippe Lacoue-Labarthe und Jean-Luc Nancy, ‚besteht nicht in der Auflösung oder Aufhebung des Chaos, sondern darin, dass das Chaos konstruiert oder dass ein Werk aus Desorganisation geschaffen wird.‘ In dieser Hinsicht kann die ‚romantische Aufgabe‘ dem Programm der Dekonstruktion angenähert werden, das babylonische Chaos der Sprachen nicht zu beherrschen, sondern beredt zu machen.145

144 Jim Lewis: Wool, in: Goldstein 1998, S. 285. 145 Peter V. Zima: Die Dekonstruktion, Tübingen 1994, S. 14 f.

Bildstrukturen und Minimalismus Christopher Wool äußert sich selbst über sein Verhältnis zum Minimalismus, der die Kunstwelt bei seinem Eintritt in eben jene Mitte der 1970er-Jahre dominierte, anlässlich eines Vortrags über die Beziehung seiner Arbeit zu der von Brice Marden im MoMA am 13.11.2006. Zunächst berichtet er über eine seiner ersten Kunsterfahrungen im Alter von zwölf Jahren, die auf bildhafte und humorvolle Weise den starken Eindruck der „Minimal Art“ deutlich macht, jedoch auch seine kritische Distanz zum Ausdruck bringt. The same year [1967; Anm. K.W.] the Museum of Contemporary Art in Chicago opened. [...] The first exhibition was a Dan Flavin exhibition and I went to see this with my mother [...]. The early MCA of Chicago was a tough space, actually they built a new tougher space but at that time a windowless, airless actually quite lowed ceiling space and all I remember about this is getting ill. I got very very nauseous and my mother had to take me to the bathroom and that was my first experience with the power of art.1

Vor diesem Hintergrund beschreibt er den elementare Eindruck, die u.a. die Bilder Brice Mardens bei ihm hinterließen, da sie den von ihm empfundenen minimalistischen Reduktionismus aufbrachen und – vielfältige Beziehungen evozierend und zulassend – die als doktrinär empfundene Bildsprache des Minimalismus hinterfragten. Er zitierte diese Passage aus einem Artikel des bedeutenden Dichters John Ashbery über Mardens Aufbrechen des minimalistischen Reduktionismus. Das Verständnis Ashberys sei für ihnüberwältigend („mind-blowing“) gewesen.2 Marden canvases are monochrome, but the resemblance to reductive art ends there. For, rather than reducing the complexities of art to zero, he is performing the infinitely more valuable and interesting operation of showing the complexities hidden in what was thought to be elemental. Looking back over events in art of the past 10 oder 15 years, one realizes that the reductive phase (including Minimal Art, Conceptual Art and other negations) was inevitable, given the tendency

1 MoMA (Hrsg.): Artist Talk, 13.11.2006, zur Ausstellung „Brice Marden: A Retrospective of Paintings and Drawings“ (The Museum of Modern Art New York, 29.10.2006–15.1.2007), veröffentlicht: o.D. [http://www.moma.org/explore/multimedia/audios/64/112, abgerufen am 29.04.2015]. 2 „More important was quite like these were sketches for the paintings [Wool spricht hier von den „suicide notes“; Anm. K.W.] also in the way Ashbery talked about, it was not only informative, but was kind of mind-blowing for me as an 18-year-old.“ MoMA (Hrsg.): Artist Talk, 13.11.2006. Diese Hervorhebung der Analyse Ashberys und deren Abgrenzung von den Kritiken aus Artforum kann gleichzeitig als ein Statement Wools für eine von Künstlern betriebene Kunstkritik gelesen werden. Es fällt auf, dass eine Vielzahl von Schriftstellern, Musikern oder bildenden Künstlern, u.a. Gary Indiana (geb. als Gary Hoisington), Richard Hell, Richard Prince, Jim Lewis oder Jutta Koether, Texte in wichtigen Publikationen Wools verfasst haben. Über Artforum schreibt er: „[…] but what I do remember is reading an Artforum review – and as a student I read Artforum and actually informed myself. I would never do that now, I was a very naif 18-year-old.“ [http://www.moma.org/explore/multimedia/audios/64/112, abgerufen am 29.04.2015].

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Abb. 5 und 6: Christopher Wool: Groove II, 1994, Emailfarbe auf Aluminium, 274,32 × 182,80 cm

of each new wave of artists to tie art into ideological knots that their successors will find it increasingly difficult to unravel. And each time it becomes more important to do so, since double negatives immediately take on the secondary characteristics of the same tired old affirmative. The Gordian Knot technique never seems to work either; drastic solutions are usually temporary ones. Marden’s solution has been to untie the knot, a long and ut particularly rewarding process. Appearances to the contrary, his art is not negative minimal but positive phenomenal.3

Auch die Malerei Wools positioniert sich gegen „drastische Lösungen“ und trägt das Vorhaben in sich, einfache Strukturen phänomenologisch auf die Probe zu stellen und sie damit ihrer scheinbaren Eindeutigkeit zu entziehen. Wool bezieht jedoch im Unterschied zu Marden appropriierende Elemente aus der Malerei, der Alltagswelt oder der Unterhaltungsindustrie in die Bildkonzeption ein. Die aus dem Kontext der Dekoration entlehnten Pattern werden jedoch immer zu einer Bildsprache, die im Minimalismus verhaftet ist, in Beziehung gesetzt. Das Interesse an der Reibung zwischen asketischer Strenge und dekorativen Mustern beschreibt auch der Künstler selbst.

3 John Ashbery: Grey Eminence, in: Art News, March 1972, S. 26.



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Wool’s pattern paintings evoke a peculiar disjunction between the prettifying intention of the rollers and the ascetic formal language in which he deployed them, described by the artist as ‘an interesting friction generated by putting forms that were supposed to be decorative in such severe terms.’4

Hypothetisch wird nun zunächst angenommen, dass Wool die Sprache des Minimalismus und Postminimalismus benutzt, um damit auf einer phänomenologischen Ebene elementare Fragen von Beziehungen zwischen Bildfläche und Bildmaterie, Individualität und Anonymität sowie Materialität und Prozesshaftigkeit zu thematisieren.5 Wool ermöglicht mit diesem Vokabular visuelle Erfahrungen, die grundsätzliche Fragen nach Bildhaftigkeit aufwerfen. Sie dient gleichzeitig als objektivierendes Korrektiv gegenüber der noch zu erörternden Problematik der Beliebigkeit und dem damit verbundenen Subjektivismus, die substanziell mit den Verfahren der Appropriation verbunden sind.6 In der bereits dargelegten dialektischen Beziehung zwischen Negation und Affirmation bewegt sich Wool auch hier. Ich glaube, die Idee der modernen Malerei bestand darin, sowohl die Perspektive als auch den Inhalt auszuschalten, die Dinge zu reduzieren auf eine Ordnung, um so zu einer wirklichen Reinheit zu gelangen. Ich kann ehrlicherweise sagen, dass ich nicht an Reinheit glaube. Doch die Sprache der Reinheit (und somit ein gewisser Minimalismus in der Malerei) scheint mir ein gutes Vehikel zu sein, ‚Inhalt‘ in diese Art der Arbeit zurückzubringen.7

Annäherung an Groove II, 1994 Dies soll beispielhaft an der Arbeit Groove II aus dem Jahr 1994 untersucht werden (Abb. 5 und 6, Taf. IV). Neben der klaren Assoziation zum Begriff „Groove“ als musikalischem Grundmuster bezieht sich der Titel des Bildes auch auf die Grove Group von Brice Marden aus den Jahren 1972/73.8 Wool könnte die Bilder 1991 in der Gagosian Gallery New York gesehen haben. Eventuell in Anspielung auf die monochromen Farbfeldmalereien Mardens, der sich in der Grove Group mit Farbe und Natureindrü-

4 Christopher Wool in Conversation with Katherine Brinson in: Christopher Wool 2013, S. 38. 5 Zur phänomenologischen Interpretation abstrakter MalerInnen, die essenziell mit dem Raster arbeiten, wie Robert Ryman oder Agnes Martin, siehe Foster/Krauss/Bois/Buchloh 2004, S. 400 ff. 6 Siehe hierzu auch Foster/Krauss/Bois/Buchloh 2004, S. 534. Der Einfluss wahrnehmungspsychologischer Fragestellungen ließe sich eventuell auch durch die Tatsache fundieren, dass Wool von 1972 bis 1973 am Sarah Lawrence College, Bronxville, NY, studierte, an dem von 1943 bis 1968 Rudolf Arnheim Theoretische Psychologie und Kunstpsychologie lehrte. 7 In: Noema: A conversation with Jutta Koether, Karen Marta and Christopher Wool, May/June 1990, S. 35–38. 8 Goldstein 2008, S. 264.

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cken auseinandersetzt, sind Groove I (1994) und Groove II (1994) zwei von wenigen farbigen Bildern, in denen Wool die Reduktion auf die Farbe Schwarz aufgegeben hat. Auch die schimmernde und flirrende Wirkung könnte inspiriert durch die GrovePaintings und gleichzeitige Transformation derselben sein. Marden selbst bezieht sich explizit auf das Schimmern der Blätter von Olivenbäumen.9 Wool beschreibt die Konfrontation mit Mardens Arbeit im Jahr 1973/74 als eine überwältigende Erfahrung, da er die im Minimalismus etablierte Einheit von Bildfläche und Bildmaterie löst und mit einem sehr reduzierten Formenvokabular malerische Fragestellungen, wie die der Komposition oder der Art des Wirklichkeitsbezugs im Bild, zulässt und thematisiert. The understanding, that these were somehow different than minimalism and that they were in some form pictures was very exciting to me. And that they might even be seen as compositions and compositional and of course the tie to landscape.10

In welcher Beziehung Wools Arbeiten zum Minimalismus stehen, wird im Folgenden aufgezeigt. Im Katalog zur Ausstellung im Museum of Contemporary Art Los Angeles, 1998/99, ist Groove II auf zwei aufeinander folgenden Seiten in unterschiedlichen Ausschnitten abgebildet.11 Diese Werkgruppe, in der Wool ein relativ einfaches Punktemuster benutzt, ist die letzte Gruppe von Roller-Paintings. Zunächst sehen wir das 274,32  × 182,80 cm große Bild in einer Ausstellung in der Nationalgalerie Prag aus einem größeren Abstand von schräg links aufgenommen. Die Raumsituation wird angedeutet. Auf der nächsten Seite ist das Bild in einem anderen Raum, jedoch blattfüllend, frontal abgebildet. Zwei Eindrücke, zwei Blickwinkel folgen einander: der Blick des Herantretenden, der die Raumsituation einbezieht, und der frontale Blick des intensiv Betrachtenden, der Feinheiten und Details offenlegt. Das Bild wirkt zunächst filigran, schwebend, zurückhaltend und geht eine intensive Verbindung mit der Wand ein, wird gleichsam Teil von ihr. Wie bereits beschrieben, scheint es den Raum nicht zu öffnen, sondern wird als auf einer Ebene befindlich oder leicht vor der Wand stehend wahrgenommen. Durch das regelmäßige, sehr kleinteilige und im Verhältnis zu früheren RollerPaintings relativ neutrale Muster, bestehend aus dunkelblauen Punkten in zwei unterschiedlichen Größen und einer etwas größeren Kreisform, entsteht aus der

9 Brice Marden äußert sich über die „Grove Group II“: „And I made notes, lots of notes about olive groves, the colour, the shimmering. [...] There were ideas about the color of the bark, the color of the leaves, when the leaves turn [...] what happens, when they shimmer, when the wind hits them.“ [www.sfmoma.org/explore/multimedia/video/260, abgerufen am 29.04.2015]. 10 MoMA (Hrsg.): Artist Talk, 13.11.2006, zur Ausstellung „Brice Marden: A Retrospective of Paintings and Drawings“ (The Museum of Modern Art New York, 29.10.2006–15.1.2007), veröffentlicht: o.D [http://www.moma.org/explore/multimedia/audios/64/112, abgerufen am 29.04.2015]. 11 Goldstein 1998, S. 143 f.



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Entfernung eine Art bläulicher Schleier mit zwei dominanten Richtungen: Die Wiederholung der Punkte schreibt dem Bild eine diagonale Struktur ein. Das vertikale Rollen des Tapetenmusters, welches durch leicht verschobene Anschlussstellen und dadurch entstehende weiße Lücken sichtbar bleibt, betont jedoch auch die Vertikale. Treten wir näher an das Bild heran, löst sich der schleierartige Eindruck zugunsten einer größeren Differenzierung der einzelnen Bildelemente auf. Die All-over-Struktur mit den ihr innewohnenden Störungen ist vergleichbar mit der besprochenen Arbeit Untitled, 1987. In dem gleichmäßigen Muster ergeben sich durch Überlagerung der Rollen Verdichtungen, durch Lücken zwischen den Rollen entstehen weiße Streifen. Es finden sich vereinzelt Verzerrungen, die die Punkte zu Ellipsen oder kurzen Strichen transformieren. Die Störungen betonen, wie bereits erwähnt, die vertikale Struktur, sind jedoch insgesamt relativ verhalten, sodass die Leichtigkeit des Gesamteindrucks bestehen bleibt.

Struktureller Aufbau von Groove II, 1994 Das Ausgangsmaterial: Mikrostrukturen des Tapetenmusters Die Musterrolle von Groove II ist ca. 14,00 cm breit und wird auf dem Format 13-mal vertikal nebeneinander gesetzt. Das einzelne Pattern ist ungefähr 19,30 cm hoch und besteht aus drei Elementen: jeweils drei kleinen Kreisen mit einem Außendurchmesser von 1,5 cm, drei Punkten, die etwas kleiner sind und die ungefähr die Größe des inneren Kreisdurchmessers haben, sowie ca. 45 kleinen Pünktchen, die Kreise und Punkte umkreisen (Abb. 7). Insbesondere aufgrund der Wirkung des Gestaltgesetzes der Ähnlichkeit, welches besagt, dass wir einander ähnliche Elemente als zueinander gehörend wahrnehmen, ergeben sich unterschiedliche „Gestalten“, d.h. Ordnungsprinzipien des Pattern. Die zwei Dreieckskonstellationen von Kreisen und Punkten greifen ineinander: Sie sind so angelegt, dass sie nicht eindeutig als Dreiecksgestalt wahrgenommen werden, sondern aufgrund der größeren Nähe zu der weiteren Form auch zu einem unregelmäßigen Viereck verbunden werden können (Abb. 8). Die Dreiecksbeziehung ist zwar die kleinste sich wiederholende Einheit, sie wird jedoch aufgelöst, indem die anknüpfende Einheit so nah gestellt wird, dass ein Kontinuum entsteht. Die zwischen den Kreisen und den größeren Punkten entstehenden Gestalten sind nicht identisch, jedoch ähnlich und können als Formvariation beschrieben werden. Die Gestalten wirken vertikal verschoben und lassen so zwischen den Kreisen und den Punkten eine resonante Beziehung entstehen, aus der sich eine Art fallende Bewegung ergibt (Abb. 9). Aufgrund der Mehrdeutigkeit in der Gestaltbildung kann die „Spitze des Dreiecks“ jedoch auch umgekehrt – nach oben gerichtet – gesehen werden, wodurch eine auf-strebende Bewegung, z.B. aufsteigende Luftbläschen, evoziert werden kann (Taf. V).

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Abb. 7–11: Strukturanalysen zu Abb. 6

Die Vertikale wird durchgängig aufgegriffen und stellt ein ordnendes Element dar (Abb. 10). So liegen die äußeren Punkte des imaginierten Dreiecks jeweils alle auf einer Senkrechten und die „Spitzen der Dreiecke“ bilden versetzt jeweils eine Vertikale, sodass der durch die äußeren Senkrechten entstandene Streifen ungefähr gedrittelt wird. Dieser vertikalen Dominanz stehen zwei weitere Bewegungsrichtungen entgegen: 1. Die Anordnung der Pünktchen lässt eine schwebende, konzentrische Bewegung entstehen, die der vertikalen Ausrichtung der größeren Elemente entgegenwirkt (Abb. 11). 2. Die Verbindung der oberen Linien des gedachten Dreiecks bildet bei den Punkten eine Waagrechte, bei den Kreisen eine Schräge, jedoch keine Diagonale (siehe Abb. 10). Die Konstellation der Kreise lässt im gesamten Muster durch dessen Kontinuität eine dominierende schräge Bewegung und damit Dynamik entstehen, der die latente Waagrechte stabilisierend entgegensteht. Insofern ist schon im Ausgangsmaterial eine gewisse „asynchrone Gleichzeitigkeit“ verschiedener visueller Ebenen und Richtungen angelegt, die Wool in der Manipulation des Materials durch weitere Ebenen erweitert.12 Das Ausgangsmaterial als

12 Auch Katy Siegel stellt die „desynchronisierten Elemente“ bei Wool in den Mittelpunkt ihrer Analyse. „Increasingly in Wool’s work, as you can see in the show, there are more and more of these desynchronised elements going from one to two to a real plurality further.“ Siegel 2014 [https://www.youtube.com/watch?v=FmyAftacS8A, abgerufen am 6.5.2015].



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solches impliziert also allein durch seine formale Ausprägung eine Loslösung von der Vorstellung des Rasters als reine Verdoppelung der Bildoberfläche. Das Muster im Kontext von Groove II: Makrostrukturen Aufgrund der Kleinteiligkeit des Musters und der Offenheit der ihm eingeschriebenen Formzusammenhänge ist es für den Betrachter zunächst schwierig, das Bild zu erfassen; es entsteht eine schleierartige Wirkung. So kann der Betrachter beispielsweise die Kreise, die mittelgroßen oder die kleinen Punkte fokussieren. Wichtig für die Gesamtwirkung ist, neben ihrer Anordnung, die formale Ähnlichkeit der einzelnen Formen. Diese ist in Groove II recht groß, was zusätzlich zu deren Kleinteiligkeit die Geschwindigkeit des Rhythmus, das Fließende und Flirrende, verstärkt. Die Rhythmen, die sich überlagern, werden also einerseits aus der Konstellation des Musters gebildet. Andererseits stellen die sichtbar werdenden Senkrechtbewegungen mit den entstehenden Lücken und Überlagerungen sowie die bereits erwähnten Verzerrungen weitere rhythmische Elemente dar. Die prozessorientierte Art des Farbauftrags reduziert die intentionalen Entscheidungen des Künstlers auf eine Geste, in der der Künstler – wie beispielsweise Sol LeWitt – als „quasi-automatic ‚machine‘“13 agiert. Das visuelle Ergebnis dieses mechanischen Farbauftrags wird jedoch durch das ready-made-artige Verwenden des Pattern und den nicht konformen Umgang mit diesem gebrochen. Versucht der Betrachter, die Regelmäßigkeit der Abläufe zu fassen, finden sich Brüche, die Konstellationen variieren, die „Tapete beginnt zu tanzen“14, das Bild erhält eine „eigenständig rhythmisch vermittelte Emotion“. Diese entsteht ganz wesentlich durch das unregelmäßige Ansetzen der Rolle am oberen Bildrand (Abb. 12). Als Folge ergeben sich unsystematische, ohne Hilfsmittel kaum analysierbare Verschiebungen in der regelmäßigen Abfolge der Formen. So entsteht eine schwingende Bewegung aus der Balance von regelmäßigen, in sich jedoch schon asynchronen Formkonstellationen und deren arhythmischer Störung, welche auf den Verschiebungen beim Ansatz der Rolle sowie den durch Rutschen der Rolle entstehenden Verzerrungen basiert. Die Wirkung des Bildes – hier als „Tanzen“ beschrieben – ist somit mehr als die Summe ihrer Teile, d.h. etwas Eigenes, das weder dem Verständnis des Bildes als Schein noch dem als Spur entspricht. Um das Verständnis dieser „dritten Ebene“ im Hinblick auf die „tradierten“ Vorstellungen von Ganzheit zu vertiefen, wird im Folgenden auf die kunsthistorisch bedeutsame Debatte zwischen dem modernistischen

13 Foster/Krauss/Bois/Buchloh 2004, S. 534. 14 Dieses Phänomen hat auch Glenn O’Brien beschrieben. O’Brien 2008, S. 23.

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Abb. 12: Strukturanalyse zu Abb. 6

Kunstkritiker Michael Fried und dem minimalistischen Künstler und Theoretiker Robert Morris eingegangen.

„Augenblicklichkeit“ und „inszenierte Endlosigkeit“ Die Sommerausgabe des Artforum 1967 über „American Sculpture“ beinhaltete unterschiedliche kunsthistorisch bedeutsame Texte, die die Ausgabe in ihrer kritischen Auseinandersetzung um zentrale Fragen der US-amerikanischen Moderne zu einem Kulminationspunkt der kunstkritischen Auseinandersetzungen der 1960er-Jahre machte. Die Debatte, die zwischen Fried und Morris in dessen Text „Notes on sculp-



„Augenblicklichkeit“ und „inszenierte Endlosigkeit“ 

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ture Part 3“15 um den Minimalismus ausgetragen wurde, soll hier kurz exemplarisch dargestellt werden, da in dieser zentrale Fragen der Bildautonomie und damit verbunden des Wahrnehmungsmodus von Ganzheit diskutiert wurden, die auch für die Bildkonzeption Wools Relevanz haben werden.16 Der Begriff der „Theatralität“ wurde von Fried als zentraler Kritikpunkt an der Minimal Art geprägt. Er kontrastiert literalistische Kunst, eine „Unternehmung, die unter dem Namen Minimal Art, ABC Art, Primary Structures oder Specific Objects bekannt geworden ist“17, mit der Malerei und Skulptur der Moderne. Während Letztere einen Zustand von „Gegenwärtigkeit“ und „Augenblicklichkeit“ erreichen könne, ermögliche literalistische Kunst nur die Erfahrung einer inszenierten Endlosigkeit. Fried bezieht sich hier auf den bei Morris bedeutsamen Einbezug der „körperlichen Teilhabe“ des Betrachters, durch das Schaffen einer „erweiterten Situation“ bei Objekten einer gewissen Größe. Der Raum und das Licht sind Teil der erweiterten Situation und definieren somit den Wahrnehmungsprozess des Kunstwerks mit. Das Objekt ist nur eines der Elemente in der neuen Ästhetik. Auf gewisse Weise ist es reflexiver, weil das Bewusstsein, sich im selben Raum wie die Arbeit zu befinden, stärker ist, als bei älteren Werken mit ihren zahlreichen internen Beziehungen. Man ist sich stärker als früher dessen bewusst, dass man selber die Beziehungen herstellt, indem man das Objekt aus verschiedenen Positionen, unter wechselnden Lichtbedingungen und in unterschiedlichen räumlichen Zusammenhängen erfasst.18

Fried beschreibt die der Verbindung des expliziten Raumbezugs mit der körperlichen Teilhabe des Betrachters innewohnende Dauer der Erfahrung, und damit den der Erfahrung innewohnenden Zeitbezug als „paradigmatisch theatralisch“. Dadurch würde die Autonomie des Kunstwerks aufgegeben. Die moderne Malerei und Skulptur unterscheide sich hinsichtlich der Zeiterfahrung, da sie keine Zeitdauer habe, „weil das Werk in jedem Moment grundsätzlich manifest ist.“19 Die moderne Malerei mache „ihre konventionelle – speziell ihre bildhafte – Existenz explizit, indem sie ihre eigene Objekthaftigkeit durch das Medium der Form überwindet oder aufhebt“20. Fried vertritt hier in der Tradition Clement Greenbergs

15 Ich beziehe mich hier auf „Notes on sculpture Part 1–3“. 16 Neben der Debatte um Minimalismus zwischen Fried und Morris standen Beiträge über Land Art von Robert Smithson, „Towards the Development of an Air Terminal Site“, oder Sol LeWitts Beitrag „Pharagraphs on Conceptual Art“ über Konzeptkunst. 17 Michael Fried: Kunst und Objekthaftigkeit, in: Harrison/Wood 1998, S. 1011. 18 Robert Morris: Anmerkungen über Skulptur, Teil 2, in: Gregor Stemmrich (Hrsg.): Minimal Art. Eine kritische Retrospektive, Dresden 2005, S. 105. 19 Fried 1998, S. 1021. 20 Ebd., S. 1018.

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 Bildstrukturen und Minimalismus

die Forderung, Kunst müsse durch die Selbstreflexion der ihr eigenen künstlerischen Mittel ihre objektive Form überwinden. Diese äußert sich bei der von ihm besprochenen Malerei (Kenneth Noland, Jules Olitski, Frank Stella) in einem Konflikt zwischen der objektiven Form des Bildträgers und der Form, die der Malerei zugehört. Die Auflösung der hier beschriebenen Verbindung zwischen Bildträger und malerischer Form bei Wool zugunsten eines Verständnisses des Bild als „Screen“, auf dem sich ein fortsetzbares, flimmerndes, flüchtiges Bildes manifestiert, wurde teilweise bereits dargelegt.21 Dass Frieds Ansatz die Wahrnehmung idealisierende Anteile in sich trägt und in seiner Absolutheit nicht eingelöst werden kann, sondern nur eine Annäherung darstellt, legt er selbst dar: Diese fortwährende und vollständige Gegenwärtigkeit [...] wird erfahren als eine Art Augenblicklichkeit: als reichte, wenn man nur unendlich viel scharfsichtiger wäre, ein einzelner, unendlich kurzer Moment aus, um alles zu sehen, um das Werk in seiner ganzen Fülle zu erfahren, um für immer von ihm überzeugt zu sein.22

Die Begrenztheit des menschlichen Wahrnehmungsvermögens verhindert eine erfüllte und vollendete Kunsterfahrung; Teil der Kunstbetrachtung ist somit eine „metaphysische Sehnsucht“23. Klar ist jedoch, dass für Fried das Kunstwerk sein gesamtes Potential unabhängig von Betrachter und Umraum in sich trägt, dass es autonom ist. Die Wirkungsweise abstrakter Modalitäten im Gegensatz zu einer buchstäblichen, konkreten Gegenwart zeigt er beispielhaft in der Analyse der Skulpturen Anthony Caros auf. Die syntaktische Verbindung der einzelnen Elemente führe bei Caros Skulpturen zur Illusion abstrakter Modalitäten, beispielsweise der Schwerelosigkeit. Die Erfahrung dieser Modalitäten habe keinerlei subjektiven Einschlag, da der situativ eingebundene Blick des Betrachters von der Skulptur gleichsam neutralisiert werde: Ein einziger Blick aus jeder möglichen Perspektive reiche aus, um das Werk in seiner ganzen Tiefe und Fülle zu erfahren. Auf diese Weise gelinge der Kunst die Herstellung einer ‚andauernden und zeitlosen Gegenwart‘. Diese transzendente Kraft der Kunst wurde gemäß Fried durch die bloß buchstäbliche, konkrete Gegenwart der minimalistischen Objekte zerstört.24

21 Siehe auch Pakesch 2009, S. 84: „eine Art ‚Screen‘, auf dem die Spuren eines voraussetzungsreichen, weit über die Bildfelder hinausgehenden Prozesses der Herstellung und Betrachtung von Malerei aufgezeichnet werden.“ 22 Fried 1998, S. 1021. 23 Siehe auch David Clarke: Der Blick und das Schauen, in: Georg Stemmrich (Hrsg.): Minimal Art. Eine kritische Retrospektive, Dresden, 2005, S. 681 f. 24 Lüthy: „Theatricality/Michael Fried“, in: Brigitte Franzen, Kasper König und Carina Plath (Hrsg.): skulptur projekte münster 07, Ausst.-Kat. Westfälisches Landesmuseum Münster, 2007, S. 465.



„Augenblicklichkeit“ und „inszenierte Endlosigkeit“ 

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Wie Fried u.a. in seinem Einführungstext für den Katalog einer Ausstellung mit Bildern von Noland, Olitski und Stella im Fogg Art Museum der Harvard University, die er selbst kuratierte, darlegt, ist formale Kunstkritik im Modernismus nicht als Rückzug auf rein kunstimmanente Fragestellungen zu verstehen. Die Dialektik des Modernismus, d.h. die selbstreflexive und selbstkritische Auseinandersetzung der Kunst mit den ihr eigenen Mitteln, ist angebunden an ein Ideal des Handelns25, das exemplarisch für das Leben selbst ist. Die modernistische Malerei habe sich, so Fried, von den Belangen der Gesellschaft, in der sie sich ungesichert entfaltet habe, abgespalten. Die reine Dialektik, durch die sie hervorgebracht wurde, habe jedoch immer mehr von der Dichte, Struktur und Komplexität der sittlichen Erfahrung gewonnen – des Lebens selbst also, eines Lebens freilich, wie es nur wenige zu führen bereit seien: eines Lebens im Zustand permanenter geistiger und moralischer Aufmerksamkeit.26 In diesem Kontext hat auch die „Logik der Verdinglichung“27, die Fried mit dem Begriff der „Theatralität“ kritisiert, eine moralische Dimension: Die Beziehung zwischen Betrachter und Kunstwerk muss sich von dem entfremdeten Verhältnis zwischen Subjekt und Objekt unterscheiden. Während also für Fried die Aufhebung der Objekthaftigkeit und damit die Vermittlung einer abstrakten Qualität Ziel der Skulptur ist, ist für Morris genau der phänomenologische Zugang zum Objekt von Interesse, d.h. die Erfahrung des Objektes in seinem spezifischen Kontext, wobei die wesentliche Eigenschaft des Objektes die Form ist. Seltsamerweise gestattet es gerade die Stärke der konstanten, bekannten Form, der Gestalt, dass sich ein solches Bewusstsein bei diesen Arbeiten stärker geltend macht als bei früherer Skulptur. Eine figurative Bronze sieht von jeder Seite anders aus. Ebenso ein 180 cm großer Kubus. Die konstante Form des Kubus behält man im Gedächtnis, doch diese erfährt der Betrachter niemals

25 „Meine These lautet also, daß in der bildenden Kunst seit ungefähr hundert Jahren praktisch so etwas wie eine Dialektik des Modernismus am Werk gewesen ist; und mit Dialektik meine ich das wesentliche Element der Vorstellung geschichtlichen Fortschritts, die von Hegel, vom jungen Marx und in unserem Jahrhundert vom marxistischen Philosophen Georg Lukács in seiner großen Arbeit Geschichte und Klassenbewußtsein und vom jüngst verstorbenen Maurice Merleau-Ponty in zahlreichen Büchern und Aufsätzen vorgetragen wurde. Im Denken dieser Autoren steht Dialektik vor allem für das Ideal eines Handelns als radikaler Kritik einer selbst auf der Grundlage einer möglichst objektiven Erkenntnis der aktuellen Situation. Ein solches Ideal hat nichts von Teleologie: Es richtet sich nicht auf ein vorgängiges bestimmtes Ziel – es sei denn, man versteht darunter seine restlose Entäußerung im Handeln. Das aber bedeutet nichts Geringeres als permanente Revolution: permanent als unermüdliche radikale Kritik ihrer selbst.“ Michael Fried (b): Drei amerikanische Maler, in: Harrison/ Wood 1998, S. 948 f. 26 Fried 1998b, S. 950. 27 Juliane Rebentisch: Autonomie? Autonomie!. Ästhetische Erfahrung heute, in: Sonderforschungsbereich 626 (Hrsg.): Ästhetische Erfahrung: Gegenstände, Konzepte, Geschichtlichkeit, Berlin 2006, veröffentlicht: [http://www.sfb626.de/veroeffentlichungen/online/aesth_erfahrung/aufsaetze/reben­tisch.pdf, S. 2, abgerufen am 26.5.2015].

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 Bildstrukturen und Minimalismus

tatsächlich, sondern als einen Sachverhalt, auf den sich die tatsächlichen wechselnden perspektivischen Ansichten beziehen. Es gibt zwei unterschiedliche Bedingungen: die bekannte Konstante und die erfahrene Variable. Eine derartige Trennung findet bei der Erfahrung der Bronze nicht statt.28

Die Möglichkeit, die Bedingungen Konstanz und Variable von Objekten in der Betrachtung zueinander in Beziehung zu setzen, ist für Morris ein Argument für die „einheitliche Form“ [„unitary forms“], beispielsweise regelmäßige Polyeder, wie Kuben oder Pyramiden. Diese ermöglichen die gleichzeitige Wahrnehmung des Ganzen, trotz der eingeschränkten Perspektive des Betrachters durch das Rekurrieren auf „Aspekte des Erfassens, die nicht mit dem Gesichtsfeld koexistent, sondern eher das Resultat der Erfahrung des Gesichtsfeldes sind. Zu diesem Glauben und seinem Zustandekommen gehören insbesondere Wahrnehmungstheorien über ‚Formkonstanz‘, ‚Vereinfachungstendenzen‘, kinästhetische Anhaltspunkte, Gedächtnisspuren und physiologische Faktoren im Hinblick auf die Zwei-Augen-Parallaxe des Sehens und auf die Struktur von Netzhaut und Gehirn.“29 In Bezug auf Gestaltgesetze zieht Morris selbst die Parallele zu zweidimensionalen Erscheinungsformen, bei denen gleichermaßen die Ambivalenz zwischen dem Wahrnehmen von Konfigurationen als Ganzheit oder als Einzelelemente eine zentrale Rolle spiele. Doch die Erfahrung fester Körper bestätigt die Tatsache, dass, wie bei zweidimensionalen Formen, gewisse Konfigurationen einer Ganzheit untergeordnet sind, während andere dazu tendieren, sich in Teile zu zerlegen.30

In diesem Spannungsfeld, welches die zentrale Frage nach Autonomie bzw. Relationalität und damit auch die nach der Grenze und dem Rahmen eines Kunstwerks beinhaltet, ist auch die Arbeit Christopher Wools verortet. Exemplarisch sei dies am Beispiel von Untitled, 1991, Alkydharzlack auf Papier, 1,32 × 1,01 m31, aufgezeigt (Abb. 13). Wool greift hier ein pflanzliches Muster auf, das er bereits 1987 in den RollerPaintings benutzte.32 War es dort das angeeignete Motiv einer Tapetenrolle, verwendete Wool es in den Jahren 1991/92 vergrößert in verschiedenen Stempeldrucken. In jenen Jahren scheint es ein für ihn zentrales Pattern gewesen zu sein. Im monografisch angelegten Katalog des Taschen Verlags ist es neben den Word-Paintings für die Jahre 1991/92 das einzige Pattern, das auftaucht.

28 Morris 1995, S. 107. 29 Morris 1995, S. 97 f. 30 Ebd., S. 98. 31 Abbildung siehe Hans Werner Holzwarth (Hrsg.): Christopher Wool 2012, S. 117. 32 Abbildung siehe Hans Werner Holzwarth (Hrsg.): Christopher Wool 2012, S. 47.



„Augenblicklichkeit“ und „inszenierte Endlosigkeit“ 

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Abb. 13: Christopher Wool: Untitled, 1991, Alkydharzlack auf Papier, 132 × 101 cm

Das Bild ist insgesamt aus neun Stempeln aufgebaut, wobei fünf davon angeschnitten und vier vollständig auf das Papier gedruckt sind. Die vier vollständigen Stempel schließen bündig am linken und oberen Bildrand an und zeigen das ganze Pattern, welches dann in Teilen am rechten und am unteren Bildrand wiederholt wird. Die vier vollständig gedruckten Stempel sind jeweils unterschiedlich und bilden ein Kontinuum, das im Wesentlichen durch den teilweise mitgedruckten Hintergrund gebrochen wird. Die angeschnittenen Stempel bilden dann eine Wiederholung (Abb. 14). Neben den Pattern sind durch übermäßige Schwärze auf den Gummistempeln sowohl schwarze Flecken zwischen den Motiven als auch an den Kanten stehen geblieben. Die Anordnung der Stempel auf dem Format ist stark asymmetrisch und folgt eher der Leserichtung, von links nach rechts und von oben nach unten in Zeilen, als

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 Bildstrukturen und Minimalismus

Abb. 14: Strukturanalyse zu Abb. 13

einer auf Ausgewogenheit ausgerichteten Anordnung auf dem Format. Die Struktur ist offen, auf Fortsetzbarkeit angelegt und kann als „inszenierte Endlosigkeit“ aufgefasst werden.33 Wir sehen, dass die angeschnittenen Rechtecke Teile der ursprünglich größeren Rechtecke der Stempel sind. Die Anordnung der Siebe ist bewusst unhierarchisch, was Wool folgendermaßen beschreibt: At that time [...] for some reason it seemed important to me to not have to make composition. In the same way that colour was not something that was interesting to me or getting rid of it just seemed to help. The same with compositional decisions. Not necessarily composition, just that kind of hierarchical picture-making. Now I’m much more interested in that. I try hard to get it wrong, in the traditional way.34

Die Interaktion mit dem Umraum und somit die Auflösung der Grenze zwischen Raum und Umraum wird auch durch den weißen Hintergrund verstärkt, da die Bilder meist entweder rahmenlos oder bei Arbeiten auf Papier mit einem weißen Rahmen auf einer weißen Wand hängen. Die Dokumentationen der Arbeiten in Katalogen betonen den Bezug zwischen Bild und Umraum insbesondere in den 1980er- und 1990er-Jahren.

33 Siehe hierzu auch die Aussage Ulrich Loocks: „Die gleichmäßigen figuralen Muster, die Christopher Wool mit Gummirollen aufträgt, erlauben es nicht nur mit mechanischen Mitteln einen ‚all over‘Effekt zu erzeugen, der die ‚Ganzheit‘ und ‚Einheit‘ garantiert, die von Donald Judd für das ‚specific object‘ gefordert wird und die jede an das Künstler-Subjekt gebundene Expressivität negiert [...]“. Loock 2009, S. 33. 34 Wool 1997 im Interview mit Martin Prinzhorn. Martin Prinzhorn: Conversation with Christopher Wool, in: museum in progress, KünstlerInnenporträts 52, 1997 [http://www.mip.at/attachments/222, S. 3 , abgerufen am 13.5.2015].



„Augenblicklichkeit“ und „inszenierte Endlosigkeit“ 

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Auch die Wiederholung der Pattern, ihre serielle Anordnung, ist exemplarisch für das Arbeiten mit Formkonstanten und Variablen, das in der Tradition des Minimalismus steht. Neben der Öffnung zum Umraum durch die Strukturen der Pattern und Siebe lässt sich jedoch eine weitere Beobachtung entgegensetzen. Fried stellt die Beziehung zwischen der objektiven Form des Bildträgers und der Form, die der Malerei zugehört, in das Zentrum seiner Analysen. Bei Wool lässt sich wahrnehmen, dass die Malerei wiederum aus zwei Ebenen besteht: die der Struktur der Stempel und die der Pattern. Beide Ebenen sind asynchron, d.h. die Pattern setzen sich in den vier vollständig abgedruckten Stempeln fort, die rasterartigen „Hintergründe“ nicht. Der Entstehungsprozess ist jedoch ein gleichzeitiger: Die Pattern und rasterartigen Flecken wurden gleichzeitig gedruckt. Zusätzlich zum paradoxen Zusammenwirken der Pattern mit den Rastern der Stempel geht das Bild eine spezifische Beziehung zum Bildgrund ein, welche die Entwicklung von den bisher besprochenen Untitled, 1987, und Groove II, 1994, fortsetzt. In Untitled, 1991, ist zu beobachten, dass die Verteilung des Schwarz auf dem weißen Grund weitaus symmetrischer ist als die Anordnung der Siebe (Abb. 14). Die vier Ecken sind weiß gelassen, an den Längsseiten ist jeweils mittig rechts und links eine hellere Stelle stehen geblieben. Die unteren weißen Ecken sind durch einen weiß gelassenen Streifen verbunden. Die Verteilung von Schwarz und Weiß lässt eine latente Kreuzform entstehen, die durchaus als Ganzheit zu lesen ist und die der Wahrnehmung in der Zeit entgegensteht. Hier sei zunächst als zentrale Beobachtung festgehalten, dass die materielle Ebene der Stempel, die mit dem prozessualen Farbauftrag verbunden ist und dem Prinzip der Wiederholung folgt, nicht mit der optischen Ebene der Verteilung von Schwarz, die dem Prinzip der Symmetrie folgt, identisch ist. Die modernistische Bezugnahme zwischen den materiellen Eigenschaften des Bildträgers und der Bildelemente wird durch den sequenziellen Charakter der Bildelemente aufgelöst. Gleichzeitig verschleiern die Pattern den im Postminimalismus vertretenen Verweis auf die „Spur“, die den Produktionsprozess realzeitlich materialisieren soll. Die Überlagerung der Ebenen der Pattern und der Gummistempel mit den Verunreingungen erzeugt eine dritte Ebene. Diese stellt wiederum durch die symmetrische Verteilung des Schwarz auf dem Format durchaus wieder eine Beziehung zwischen dem Bildträger und den Bildelementen her, jedoch unter neuen Voraussetzungen. Das optische Bild löst sich von seiner materiellen Beschaffenheit und dem Akt der Herstellung, ohne jedoch seinen spezifischen Materialcharakter oder den Aspekt des Handgemachten zu verschleiern und im traditionellen Sinn Illusion zu erzeugen. Es landet auf dem Bildträger und öffnet Bezüge zu medialen, sekundär erfahrenen, entkörperlichten Bildwelten der Gegenwart, die sich dem direkten Zugriff entziehen. Diese Art der Verschiebung, die durch das Gegeneinandersetzen und gleichzeitige Miteinanderwirken unterschiedlicher malerischer Elemente geschaffen wird, ist ein grundsätzliches Merkmal, welches das Werk Wools durchzieht. So schreibt der Kurator Ulrich Loock:

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 Bildstrukturen und Minimalismus

Wools malerisches Werk steht für die endlose Umschichtung und Umwertung von Elementen der Malerei und damit für die Produktion von Bildern, die sich Mal um Mal gegen die Etablierung eines fest-stehenden Sinns verwahren.35

Alleinige Negation scheint jedoch zu reduktiv. Katy Siegel sieht in der Verbindung inkommensurabler Kategorien auch ein Vergnügen und ein Hinterfragen etablierter Kategorien. The reason to put together incommensurable categories like seer and seen, image and material process is not to heal a rift or to recapture a golden unity. It’s for the pleasure of this tension. Even more important, ultimately, it’s to demonstrate that the categories themselves are not necessary, even to demonstrate their absurdity.36

Die Frage, inwieweit dieses Gegeneinandersetzen von malerischen Mitteln, neben den offensichtlichen Abweichungen vom Modernismus, wie der offenen, mechanisch bestimmten Bildgestaltung und der Aneignung von Pattern aus dem Bereich der Innenraumgestaltung, im Sinne einer syntaktischen Verbindung einzelner Elemente auch als „selbstreflexive Analyse malerischer Mittel“ gedeutet werden kann und insofern zu einer Reautonomisierung des Bildes nach dem Minimalismus beiträgt, wird unterschiedlich bewertet. Während Ulrich Loock die Arbeit Wools deutlich von dieser Tradition abgrenzt37, erkennt der Autor und ehemalige Herausgeber von Artforum Eric Banks in Wools Arbeitsweise durchaus Denkweisen des Modernismus. „Trotzdem bin ich überzeugt, dass Wool, selbst wenn er kein Modernist sein sollte, doch als Maler wie einer denkt, und das verleiht seinem brillant kalkulierten Anachronismus zusätzliche Schärfe.“38 Dieser These folgend wird hier die Hypothese aufgestellt, dass Wool zwar insofern in der Kontinuität der Debatte zwischen Morris und Fried steht, als durch das Aufgreifen und Recodieren wesentlicher hier angesprochener Fragen, wie der nach der Bildautonomie und dem Bezug auf wahrnehmungspsychologische Phänomene von Ganzheit und Gestaltbildung, zentrale Fragen des Modernismus reflektiert und überprüft werden. Wool zeigt hier eher die Nähe, den fließenden Übergang einzelner Positionen auf, die einander in der Kunstkritik scheinbar diametral gegenüberstanden.

35 Loock 2009, S. 31. 36 Siegel 2014 [https://www.youtube.com/watch?v=FmyAftacS8A, abgerufen am 6.5.2015]. 37 „Eine solche ausufernde Vorgehensweise unterscheidet die malerische Realität von Wools Werk grundsätzlich von jeder Konzeption, welche die ‚selbstreflexive Analyse malerischer Mittel‘ zum Gegenstand einer künstlerischen Praxis erklärt, als ließe sich der malerische Prozess mit einer chemischen Reaktion vergleichen.“ Loock 2009, S. 31. 38 Eric Banks: Ein Vorschlag auf Leinwand, in: Christopher Wool 2012, S. 351.



Das Raster 

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Late-modernist criticism struggled to make fine distinctions on which a great deal was thought to ride – the difference, say between the modernist ‘art’ of a shaped painting by Stella or Noland and the mundane ‘objecthood’ of a minimalist box by Judd or Larry Bell. In this way such criticism tended to turn tentative distinctions into secure ontologies, and it did so, consciously or not, to shore up an aesthetic field that was pessuered and fragile.39

Insofern ist seine Malerei – wie bereits bei Siegel deutlich wird – auch als Kritik an der Kunstkritik zu verstehen. Er selbst äußert sich dazu wie folgt: „Critics … who needs them but you can’t kill them …“40 Hal Foster bewertet diese Debatte in seinem Essay „Art Critics in Extremis“ als einen „zentralen End- und Anfangspunkt der modernistischen Kunstkritik“41 und stellt sich die Frage, warum u.a. diese Debatte mit solcher Vehemenz, begleitet von Zurückweisung und Angst („Thrill“) geführt wurde. „Fried: ‘I thought that nothing less than the future of Western civilisation was at stake in ‘Art and Objecthood’ and the other essays of 1966–67.’“42 Ein zentraler Aspekt, der für Foster bis heute Relevanz hat, ist die Frage nach den Möglichkeiten von Kunst, Beliebigkeit entgegenzuwirken, die in dieser Debatte als Bedrohung für die Kunst wahrgenommen wurde. Versuchten die modernistischen Maler dieser mit einem „hyper-refinement of institutional forms“ zu begegnen, spielten die Minimalisten eine Untersuchung der Grundlagen/Grundbegründungen durch die reine Materialität (Morris) oder die reine Wirklichkeit des Körpers des Künstlers durch. Es wird jedoch auch deutlich, dass Wool die hier debattierten Fragen insbesondere im Hinblick auf die mögliche Bedrohung der Kunst durch Beliebigkeit anerkennt und sowohl minimalistische (Bezug zu elementaren Körper- und Seherfahrungen) als auch modernistische Strategien (Selbstreflexivität) aufgreift und weiterentwickelt. Dies wird im Folgenden zu vertiefen sein.

Das Raster Wie bereits erwähnt, ist die den Tapetenmustern zugrunde liegende Struktur – das Raster – die visuelle Basis für die Störungen und Manipulationen, die Wool vornimmt. Das Raster ist sowohl in den Roller-Paintings und den Word-Paintings als auch in den Stempel- und Siebdrucken präsent, in denen, neben den Rasterpunkten, die durch

39 Foster 2002, S. 119. 40 Glenn O’Brien: From a conversation published in Purple, Vol. 3, Number 6, veröffentlicht: o.D. [http://glennobrien.com/site/#/writing > Christopher Wool > Page 1, abgerufen am 15.7.2015]. 41 „These moments, when ‘the dialectic of modernism’ crashed on the beach […]“ in: Hal Foster: Art Critics in Extremis, in: Ders. 2002, S. 117. 42 Ebd., S. 117.

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 Bildstrukturen und Minimalismus

den Druckprozess entstehen, oftmals der Streifen der Rolle, der Rand des Stempels oder Siebs stehen bleibt und das Bild als Raster mit strukturiert.43 Das Raster ist eine emblematische Figur der abstrakten Malerei der Moderne, der Kuratorin und Kunsthistorikerin Simone Schimpf zufolge sogar das Thema, das die Kunst des 20. Jahrhunderts am konsequentesten durchzieht. Als zentrale kunsttheoretische Auseinandersetzung mit dem Raster gilt immer noch der grundlegende Aufsatz „Raster“ von Rosalind Krauss aus dem Jahr 1978.44 Krauss nimmt in dem für diese Fragestellung zentralen Aufsatz „Die Originalität der Avantgarde“, welcher auf der Idee von Robert Rosenblum basierte, „Mondrains Rasterstruktur als metaphorische Wiederaufnahme des romantischen Fensters“45 zu verstehen, eine strukturalistische Analyse des Themas vor. Trotz der kontroversen Reaktionen und in Teilen kritischen Rezeption des Aufsatzes ist er „in den Kanon der Kunstgeschichtsschreibung eingegangen“46. Verkürzt ist der zentrale Kritikpunkt an Krauss die nur scheinbare Überwindung modernistischer Dogmen hin zu einer radikal neuen, kritischen Perspektive. Stattdessen sei ihre Haltung aufgrund historischer Verkürzungen und Vereinfachungen, ebenso modern im Sinne eines „radikalen Bruch[s; K.W.] mit dem Alten“, versehen „mit dem Pathos, in diesem Übergang für das Neue zu streiten“, einer „kompromisslose[n; K.W.], polemische[n; K.W.] Härte“ und einem „rhetorischen Gestus, mit dem zunächst die zu überwindenden künstlerischen Positionen entlarvt werden [...].“47 Auch Regine Prange und Martina Dobbe schreiben Krauss’ Position eine aus ihrer Kritik an Greenberg resultierende Einseitigkeit zu.48

43 So ist Christopher Wool auch in der Ausstellung „Rasterfahndung“ im Kunstmuseum Stuttgart vertreten (5.5.–7.10.2012), in der die Bedeutung des Rasters in der Kunst nach 1945 beleuchtet wird. 44 Siehe u.a. Simone Schimpf: Rasterfahndung. Das Raster in der Kunst nach 1945, in: Ulrike Groos und Simone Schimpf (Hrsg.): Rasterfahndung. Das Raster in der Kunst nach 1945, Ausst.-Kat. Kunstmuseum Stuttgart, 5.5.–7.10.2012, S. 23. 45 Gelshorn 2012, S. 74. 46 Verena Krieger: Der Blick der Postmoderne durch die Moderne auf sich selbst. Zur Originalitätskritik von Rosalind Krauss, in: Dies. (Hrsg.): Kunstgeschichte & Gegenwartskunst: Vom Nutzen & Nachteil der Zeitgenossenschaft, Köln 2008, S. 144. 47 Krieger 2008, S. 128. 48 „Krauss wirft Greenberg sicherlich zu Recht die Bindung an ein organisches Bilddenken vor. Doch führt die Kritik an seiner Einseitigkeit nur zu einer neuen.“ Regine Prange: Das strukturelle Unbewusste als postmodernes Sujet. Zur Lacan-Rezeption von Rosalind Krauss, in: Peter J. Schneemann und Thomas Schmutz (Hrsg.): Masterplan: Konstruktion und Dokumentation amerikanischer Kunstgeschichten. Akten des internationalen Kolloquiums 1. und 2.4.2000, Bern 2003, S. 79. „Man wird sich der polarisierenden Diskussion zwischen den Modernisten und den Minimalisten, zwischen Fried und Krauss beispielsweise, nicht anschließen müssen, wird vielmehr, wie eingangs mit der skeptischen Stimme Hal Fosters erwähnt, kritisieren, daß sich die postmodernes – in ihrer Opposition – zu einseitig auf die modernistischen Denkfiguren eingelassen haben.“ Dobbe 1999, S. 316. Siehe auch Peter Osborne: October and the Problem of Formalism, in: Lejeune/Mignon/Pirenne (2013), S. 180–195.



Das Raster 

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Gleichwohl ist Krauss’ Argumentation bezüglich des Rasters in der künstlerischen Avantgarde für das Verständnis der Verwendung des Rasters bei Wool hilfreich, da dieser das Raster sowohl auf phänomenologischer und medienästhetischer als auch ikonologischer Ebene in Abgrenzung zu den modernistischen und minimalistischen Positionen neu interpretiert. Auch Krauss’ Argumentation wird, wenn man sie als Reaktion auf Greenbergs Konzeption des Modernismus versteht, überzeugender.49 Insofern lassen sich Parallelen zwischen Wools künstlerischem Umgang mit dem Raster und dem theoretischen Ansatz von Krauss erkennen. Für Krauss ist das Raster ein zentrales Beispiel, an dem sie ihre Kritik des Originalitätsbegriffs der Avantgarde darlegt und ihre These verdeutlicht, der Anspruch der Avantgarde auf künstlerische Originalität stehe im Widerspruch zur eigentlichen Praxis der Avantgardekunst, „die auf dem Hintergrund der Wiederholung und Wiederkehr agiert“50.

„Pure Visualität“ Krauss unterscheidet zwei grundlegende Motivationen, sich dem Raster zuzuwenden, die sich jedoch in ihrem Anspruch auf pure Visualität, die sich allein vom Bildgeviert her determiniert, überschneiden. Mit dieser Abwendung von der Natur proklamiere das Raster die Autonomie der Kunst.51 Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wird die Verweigerung des Rasters hinsichtlich jedweder Referenzialität und Sprache der Kunst als Möglichkeit gesehen, zu einer ursprünglichen Reinheit und Freiheit der Kunst zu gelangen. Für diejenigen, die den Beginn der Kunst in einer Art ursprünglichen Reinheit sehen, war das Raster emblematisch für die reine Interesselosigkeit des Kunstwerks, seine absolute Zweckfreiheit, von der es sein Versprechen der Autonomie herleitete.52

49 Zu dieser Einschätzung kommt auch Verena Krieger trotz ihrer äußerst kritischen Revision des Aufsatzes von Krauss. „Krauss, die bekanntlich Schülerin Greenbergs war, bevor sie sich mit Texten wie Die Originalität der Avantgarde von ihm abwandte, richtete ihren Blick folglich gar nicht auf die Moderne in ihrer phänomenalen Vielfalt und Ambivalenz, sondern auf Greenbergs Entwurf einer idealen Moderne, den sie wie die Künstler ihrer Zeit zu recht als überholt und verengt ansah. [...] Trotz dieser Beschränktheit hat Krauss’ Text eine historische Relevanz für die Kunstgeschichte als wissenschaftliche Disziplin. Denn die poststrukturalistische Hinterfragung des Künstlersubjekts und der Originalität hat unsere Wahrnehmung dafür geschärft, die Rede vom originalen Meisterwerk des Künstlergenies als historische Konstruktion zu erkennen.“ Krieger 2008, S. 160. 50 Krauss (b): Die Originalität der Avantgarde, in: Herta Wolf (Hrsg.): Die Originalität der Avantgarde und andere Mythen der Moderne, Amsterdam, 2000, S. 205. 51 Rosalind Krauss: Raster, in: Herta Wolf (Hrsg.): Die Originalität der Avantgarde und andere Mythen der Moderne, Amsterdam 2000, S. 51. 52 Krauss 2000 b, S. 206.

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 Bildstrukturen und Minimalismus

In ihrem Aufsatz „The grid, the true cross, the abstract structure“53 zeichnet Krauss die Ursprünge des Rasters bei Piero della Francesca und seine zentralen Entwicklungen bis zu Agnes Martin nach. Dabei beschreibt sie die Effizienz in der klassischen Periode des modernistischen Rasters in der Art, wie das Raster perfekt die logischen Bedingungen des Visuellen aufzeige und somit die Analyse subjektiver Wahrnehmung als solcher, verbunden mit dem antiken Wunsch nach Klarheit, ermögliche.54 In diesem Punkt liegt mit Sicherheit ein Grund, warum Wool argumentiert, ein gewisser Minimalismus in der Malerei sei ein gutes Vehikel, Inhalt in die Malerei zurückzubringen.55

Einheit von Bildfläche und Bildmaterie Unter Rückbezug auf die in der modernen Geschichte des Rasters ausgeschlossene Taktilität – und dies gilt auch für den US-amerikanischen Modernismus der 1940erund 1950er-Jahre56 – stellt die darauffolgende Generation die Frage nach der Materialität des Bildträgers. „For as the grid came to coincide more and more closely with its material surface and to begin actually to depict the warp and weft of its canvas support, this supposed ‘logic of vision’ infected by the tactile.“57 Die hier beschriebene Identität zwischen der im Raster manifestierten Bildoberfläche und dem Bildobjekt selbst bricht Wool – wie gesehen – auf. Auch Beat Wyss beschreibt die Beziehung zwischen der Materialität des Bildträgers und dem Bild selbst als zentral für das 20. Jahrhundert. Überwog nach Wyss in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Entwicklung der Abstraktion, „vollzog sich um 1960, der zweiten Stunde Null, die ‚Rückkehr des Realen‘“58. Real sei die Kunst im zweifachen Sinn geworden: Erstens hätten Pop-Art, Nouveau Réalisme, Fluxus und Zero die Vorherrschaft der Abstraktion gebrochen, indem sie gegenständliche Motive oder den Gegenstand selbst in die Kunst eingeführt hätten. Wichtiger als dieser Sachverhalt an der Bildoberfläche sei, dass die Kunst selbst sich als reales Ding zu verstehen gab. [...] Pop- und Minimal Art beschäftigten sich mit der Erfahrung des Realen. Minimal

53 Rosalind Krauss: The grid, the true cross, the abstract structure, in: Studies in the history of art, Washington DC, Band 48, 1995, S. 302–312. 54 „Verbunden ist diese Entwicklung mit der bisher gültigen Auflösung der Dichotomie von Räumlichkeit und taktiler Wirklichkeit, vom subjektiven Betrachter in einem objektiven empirischen Feld, in die kontinuierliche Unmittelbarkeit einer rein optischen Fläche.“ Krauss 1995, S. 311. 55 In: Noema: A conversation with Jutta Koether, Karen Marta and Christopher Wool, May/June 1990, S. 35–38. 56 Krauss war Schülerin Clement Greenbergs, von dem sie sich später abwandte. Dieser hatte den Begriff der „opticality“ geprägt. 57 Krauss 1995, S. 311. 58 Wyss 1996, S. 136.



Das Raster 

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kreiste um die Erfahrung des Dings, Pop um die Erfahrung des Bildes vom Ding. Minimal zeigte das Reale, Pop das Simulakre als Realität. Beide Strömungen begännen sich zu mischen, nachdem sie einander in den 1960er-Jahren, auf der horizontalen Achse der Gleichzeitigkeit, ausgeschlossen hätten.59 Dies zeigt sich z.B. an den Arbeiten von Ellsworth Kelly oder Agnes Martin, die das Raster materialisieren bzw. das Optische auf das Taktile zurückführen.60 Hier sei die These aufgestellt, dass das Werk Wools eine wichtige malerische Position in der Entwicklung dieses „Interesse[s; K.W.] am Ding“ zugunsten eines neuen Interesses am Bild darstellt, welche sich auch in der Offenlegung des von Krauss beschriebenen Paradoxons des Rasters in der modernistischen Kunst äußert. Durch diese wird die oben beschriebene Identität zugunsten neuer bildnerischer Möglichkeiten geöffnet. Rosalind Krauss beschreibt die Einheit von Raster und Bildträger, welche in der wiederholten Thematisierung des Rasters beschworen wird, als eine der großen Fiktionen der Moderne. Für diejenigen hingegen, die die Ursprünge der Kunst nicht in der Idee reiner Interesselosigkeit, sondern vielmehr in einer empirisch begründeten Einheitlichkeit suchen, liegt die Macht des Rasters in seiner Fähigkeit, den materiellen Grund des Bildobjekts in den Vordergrund zu holen, ihn gleichzeitig einzuschreiben und abzubilden, so daß sichtbar wird, wie das Bild von der Bildfläche aus der Organisation bildnerischer Materie entsteht.61

Zur Beziehung zwischen der materiellen und der ästhetischen Beschaffenheit des Bildes äußert sie auch: Die physischen Eigenschaften der Fläche werden sozusagen auf die ästhetischen Dimensionen derselben projiziert. Und diese beiden Flächen – die physische und die ästhetische – werden als ein und dieselbe Fläche ausgewiesen: von gleicher Ausdehnung und einander durch die Abszissen und Koordinaten des Rasters zugeordnet.62

Mit diesem Verweis auf die empirische Wirklichkeit wird nach Krauss der dem Raster auch inhärente Verweis auf Spiritualität verschleiert. Konnte im 19. Jahrhundert beispielsweise das Fenstermotiv bei den Symbolisten die Ambivalenz zwischen der Materialität des Fensterrahmens und der immateriellen Präsenz von Licht und der Spiegelung des Selbst im Glas als komplexes, polysemes Zeichen dienen, wurde diese Doppeldeutigkeit im Raster der Moderne zunehmend verhüllt.63 Reinen Materialis-

59 Ebd., S. 136. 60 Krauss 1995, S. 311. 61 Krauss 2000 b, S. 206. 62 Krauss 2000, S. 52. 63 „Ich denke, man kann ohne Übertreibung sagen, daß hinter jedem Raster des 20. Jahrhunderts – wie ein Trauma, das verdrängt werden muß – ein symbolistisches Fenster steht, das in der Verkleidung einer optischen Abhandlung daherkommt.“ Krauss 2000, S. 60.

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mus oder Logik suggerierend, öffne das Raster in der Moderne „eine Hintertür zum Glauben“, beispielsweise in den Arbeiten Ad Reinhardts oder Agnes Martins. Wie alle Mythen überwindet es ein Paradoxon oder einen Widerspruch nicht durch Auflösung, sondern durch deren Verhüllung, so dass diese scheinbar (aber eben nur scheinbar) verschwinden. Diese mythische Macht des Rasters erlaubt uns zu denken, wir hätten es mit Materialismus (oder manchmal auch mit Wissenschaft oder mit Logik) zu tun, während es uns gleichzeitig eine Hintertür zum Glauben (zur Illusion oder Fiktion) öffnet.64

Im Gegensatz zu den oben genannten Künstlern legt Gerhard Richter, nach Julia Gelshorn, in seinen architektonischen Entwürfen, in denen er Ausschnitte aus Landschaftsaufnahmen in rasterartige Strukturen montiert (Atlas, Tafel 250, Räume, 1971) diese verleugnete Beziehung bloß. Gelshorn beschreibt, dass Richter das Zusammenschieben „der Räumlichkeit der Natur auf die begrenzte Oberfläche eines rein kulturellen Gegenstandes“65 in den Montagen in Erinnerung ruft und „auch vorführt, dass das anti-natürliche, anti-mimetische und anti-reale Raster [...] immer dem Epistem des Fensters und seinen illusionistischen Implikationen verbunden bleibt.“66 Dieser metaphorische Bezug zur Natur und dem romantischen Fenster ist bei Wool geradezu verkehrt. Die Gegensätzlichkeit der banalen Tapetenmuster zu impliziten „spirituellen“ Themen, deren hermetische Geschlossenheit und Opazität kann zunächst als ironische Zurückweisung der mythischen Aufgeladenheit des Rasters verstanden werden. In Teilen kann man Wools Vorgehen hier mit Sigmar Polkes Arbeit Carl André in Delft aus dem Jahr 1968 vergleichen. Polke benutzte hierzu einen Dekorationsstoff mit dem imitierten Aufdruck von Delfter Kacheln, welcher zugleich Bildgrund und Bildmotiv darstellte. Die Parallele zu Andrés Arbeiten liegt in der Reduktion auf serielle Quadratformen und alternierende Muster, „die von Polke formalistisch gelesen werden“.67 Der Illusionismus der Delfter Kacheln, die wiederum auf dem Musterstoff abgebildet sind, stehe, so Gelshorn, „in krassem Widerspruch zur tautologischen Form Andrés, die alles andere will als abbilden oder dekorieren“68 und somit als Angriff auf die Ernsthaftigkeit des künstlerischen Vorgehens von André zu werten sei. Sie schlussfolgert: Indem Polke scheinbare Parallelen zwischen zwei Werken aufzeigt, steigert er nur ihre Diskrepanz und lässt so den stilistischen ‚Sprachgestus‘ Andrés in der Wiederholung zu einer Attitüde werden. Die minimalistische Reduktion des Bildes auf ein ‚Ding‘ wird von Polke dabei wieder umgekehrt, indem er zwar einen Readymade-Stoff verwendet, diesen aber wieder in ein Bild

64 Krauss 2000, S. 55. 65 Krauss 2000 b, S. 206. 66 Gelshorn 2012, S. 74. 67 Ebd., S. 91. 68 Ebd., S. 92.



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verwandelt und damit die Notwendigkeit und Gewichtigkeit des ‚minimalistischen Moments‘ leichtfertig in Frage stellt. Insofern richtet sich auch Polkes Ironie keineswegs allein gegen die historischen Avantgarden, sondern er setzt dem Pathos der zeitgenössischen Malerei ebenso seinen Witz entgegen wie der radikalen Abkehr von der Repräsentation in der Minimal Art.69

Auch Wool bezieht in einer ironischen Geste das Ready-made auf das Bild – ohne es jedoch bei einer „scherzhaften Polemik“ zu belassen70 – und negiert die im Minimalismus postulierte Einheit zwischen Bild und Bildträger, indem er zwischen Bildgrund und Farbauftrag ein Spannungsverhältnis erzeugt und damit deren Nicht-Identität betont. Dies geschieht einerseits durch die eindeutig zentrifugale Ausrichtung des Rasters bei Wool sowie durch die Art des Farbauftrags. Durch das Verrutschen der Farbrolle wird die glatte Oberfläche des Bildträgers offengelegt und in der ihr eigenen Qualität thematisiert. Die Tätigkeit des Farbauftrags als losgelöste, zeitlich versetzte, wird, wenn auch auf sehr zurückhaltende Art, angedeutet. Insbesondere der kleine, weiß gelassene untere Bildrand zeigt deutlich die Divergenz von Bildträger und Farbauftrag. Der Bildträger wird in seiner Eigenschaft als Projektionsfläche offenbar und entmaterialisiert. Die Entmaterialisierung der Oberfläche entsteht in Groove II auch durch das Flimmern, welches aus der Kleinteiligkeit des Rasters und der dadurch bedingten visuellen Bewegung resultiert.

Entmaterialisierung der Oberfläche Krauss unterscheidet in ihrem Aufsatz zwischen der zentrifugalen und der zentripetalen Auffassung eines Kunstwerks, welche durch die Art des dargestellten Rasters vermittelt würde. Liege der zentrifugalen Ausrichtung des Rasters die Auffassung zugrunde, das Kunstwerk sei Fragment, das uns auf die Welt jenseits des Kunstwerks verweise, sei das Kunstwerk mit einem zentripetal ausgerichteten Raster als „Re-präsentation all dessen [zu verstehen; eigene Ergänzung; K.W.], was das Kunstwerk von der Welt, vom umgebenden Raum und von anderen Objekten trennt“71. Das Kunstwerk sei in diesem Falle rein selbstbezüglich oder symbolistisch zu verstehen. Künstler wie beispielsweise Piet Mondrian, Josef Albers, Ellsworth Kelly oder Sol LeWitt

69 Ebd., S. 92. 70 Diese muss jedoch nicht, wie bei Gelshorn allein als Abkehr oder Negation verstanden werden. Benjamin Buchloh schreibt in seinem Text „Parody and Appropriation in Francis Picabia, Pop, and Sigmar Polke“ einzig der „parodistische[n; K.W.] Appropriation“ die Möglichkeit zu, den „Mechanismus [der Hierachisierung zwischen aneignender und angeeigneter Kunst; Anm. K. W.] zu unterlaufen, indem sie die ‚double binds‘ offenbar werden lässt, denen der Künstler unterliegt, und ‚das Scheitern jedes Versuches, die herrschende Kodifizierung zu unterlaufen, antizipiert‘.“ Krieger 2008, S. 155. 71 Krauss 2000, S. 61.

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seien jedoch nicht auf ein bestimmtes Verständnis des Rasters festzulegen, sondern reflektierten es auf verschiedene Arten zugleich. Die Anlage der Pattern in Wools Pattern-Paintings entspricht zunächst einer zentrifugalen Lesart. Wie bereits dargelegt, sind in Groove II die aus dem Bild führende Bewegung und der fortlaufende Charakter der Pattern eindeutige Indikatoren. Auch die zentral ausgerichteten Pattern-Paintings, die durch eine Ballung in der Mitte gekennzeichnet sind, wie beispielsweise Untitled, 1993,72 suggerieren eine fortsetzbare Bewegung, welche in diesem Fall von einem Zentrum nach außen verläuft. Die von Krauss beschriebene Verbindung von einem „Jenseits-des-Rahmens-Raster[]“ und einer Entmaterialisierung der Oberfläche trifft auch auf Groove II zu. Durch eine Art Kurzschluss dieser Logik sind die Innerhalb-des-Rahmens-Raster im allgemeinen ihrem Charakter nach weitaus materialistischer [...], während die Beispiele des Jenseits-desRahmens-Rasters oft eine Entmaterialisierung der Oberfläche, die Auflösung der Materie in ein Flimmern der Wahrnehmung oder in implizite Bewegung zur Folge haben.73

Die hier beschriebene entmaterialisierte Oberfläche könnte ein Merkmal dessen sein, was Wool mit dem Begriff „picture“ umschreibt.74 „For what he’s after is something very mutable, very slippery: a kind of pictoral essence that wavers but never quite settles: a figural translucence: a picture.“75 Mit den Begriffen „piktorale Essez“ und „figurale Durchsichtigkeit“ ist der Verweis auf eine übergeordnete, entmaterialisierte Instanz gegeben, auch wenn diese hier noch sehr vage bleibt. Anlässlich der Gruppenausstellung „Oranges and Sardines“ im Hammer Museum Los Angeles bringt Wool den Begriff in die Diskussion ein, ohne ihn jedoch wirklich zu definieren oder zumindest annäherungsweise zu erläutern. I was thinking about pictures [...] but I think the idea of a certain kind of picture was important. [...] I happened to be interested in paintings that are a certain kind of picture and I know what that means for myself, but I can’t really define it.76

Die Ambiguität zwischen Materialität und Entmaterialisierung zeigt sich in weiteren Aspekten des Werks.

72 Abbildung in: Christopher Wool 2012, S. 134. 73 Krauss 2000, S. 65. 74 Ob hierin auch eine Parallele zu dem von Crimp geprägten Begriff des „picture“ zu sehen ist, wird noch zu untersuchen sein. 75 Lewis 1998, S. 284. 76 Hammer Museum (Hrsg.): Artist Talk, 9.11.2008, zur Ausstellung „Oranges and Sardines“ (Hammer Museum Los Angeles, 9.11.2008–8.2.2009), veröffentlicht 2014 [https://vimeo.com/90582985, abgerufen am 8.5.2015].



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Die physische Distanz des Betrachters: Materialität und „atmosphère“ Zunächst werden nun die Wechselwirkungen zwischen dem Raster und den Störungen, die durch das versetzte Ansetzen und Verrutschen der Farbrolle entstehen, analysiert. Diese entfalten ihre Wirkung je nach physischer Distanz des Betrachters zum Bild auf sehr unterschiedliche Art. Rosalind Krauss beschreibt bezüglich des Werks von Agnes Martin drei unterschiedliche Lesarten, die sich aus der jeweiligen Position des Betrachters ergeben (Taf. VI). Aus der Nähe betrachtet scheinen die Werke durch die starke Verbundenheit des gezeichneten Rasters mit der spezifischen Qualität der Leinwand deren objektive Qualitäten wie das Gewoben-Sein oder ihre Rechtwinkligkeit zu definieren. Mit größerem Abstand betrachtet verschwimmen die Linien zu einer atmosphärischen Wolke, welche über eine rein objektive Beschreibung des Bildgrundes hinausweist, wohingegen sie sich von einem noch weiter entfernten Standpunkt aus zu einer opaken Fläche verdichten. It is this ‘moving back’ from the matrix of the grids of Martin’s paintings that creates a second ‘moment’ in their viewing. For here is where the ambiguities of illusion take over from the earlier materiality of a surface redoubled by the weave of the grids; and it is at this place, that the paintings go atmospheric. But then, as one steps back even further, the painting becomes completely opaque.77

Unter Bezugnahme auf Hubert Damischs „Théorie du nuage“ versteht Krauss diese Verbindung einer objektiven Beschreibung mit einem subjektiven Verweis – wobei sie den subjektiven Pol für den bedeutsameren hält – auf ein atmosphärisch Unendliches als „perfect vehicle for the mapping of opticality or ‚vision as such‘“. Das Herausdestillieren jeglichen erzählerischen oder haptischen Erlebens reduziert das Raster auf seine pure Visualität. Um das Atmosphärische zu fassen, bezieht sie sich auf den Begriff der Wolke bei Damisch, der diese als oberflächenloses, unmessbares Element der Perspektive gegenüberstellt und der Perspektive seine Begrenztheit aufzeige. Il [der Himmel; Anm. K.W.] a valeur d’emblème [...] épistémologique, dans la mesure où il révèle les limitations du code perspectif dont l’expérience fournit la théorie complète. Il fait apparaître la perspective comme une structure d’exclusion, dont la cohérence se fonde sur une série de refus, et qui doit cependant faire place, comme au fond sur lequel elle s’imprime, à cela même qu’elle exclut de son ordre.78

77 Krauss 1995, S. 308. 78 Hubert Damisch: Théorie du nuage, Paris 1972, S. 170 f.

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 Bildstrukturen und Minimalismus

Ähnlich wie die Wolke fungiere die „atmosphère“ bei Martin, die durch die Auflösung der Materialität die Gegensätze von System und Intuition vereine.79 Die Interdependenz dieser Gegensätze, diese „zweiwertige Struktur“80 thematisiert auch Christopher Wool, jedoch auf ganz andere Art und Weise. Während aus der Nähe betrachtet der eindeutig flächige und materielle Charakter der rasterartig angeordneten Pattern (bei dem jedoch nicht die aufgetragene Farbe mit dem Grund verschmilzt, wie bei Martin) dominiert, verändert sich dieser Eindruck wie bei Martin mit zunehmender Distanz. Der in New York lebende Künstler Jeff Perrone beschreibt die Oberfläche der Pattern-Paintings wie folgt: Wools Bildfläche ist völlig undurchsichtig und frontal, so, als sei sie gebrannt oder glasiert, und die Farbe fließt nicht schön gleichmäßig, sondern vermittelt immer noch die Illusion ihrer ursprünglichen Beschaffenheit, einer teerähnlichen Klebrigkeit. Es ist, als ob die Farbe niemals vollständig trocknete, als ob man, wenn man sie berührte, schwarze Finger bekäme wie nach dem Durchblättern einer Zeitung.81

Die taktile Qualität verweist jedoch nur zum Teil auf die materiellen Eigenschaften des Bildes selbst; vielmehr setzt sie Assoziationen zu Farbqualitäten aus dem Bereich des Druckens frei, wie Perrone durch seinen Vergleich mit der Druckerschwärze bei einer Zeitung beschreibt. Neben dieser in vielen Arbeiten Wools dominanten Assoziation finden sich auch Ähnlichkeiten zu Farbqualitäten von Kopien, Plakaten, Abdrücken und Spuren von Körpern. Der Aspekt des Vermittelten und der Mitteilung ist in der Qualität der Farbe angelegt. Das Raster wird bei Wool also seiner Unmittelbarkeit enthoben und als ehemals selbstreferenzielle Bildstruktur „als zeichenhaft strukturiert erkannt“.82 (Vgl. auch zur Qualität der Schrift.) Damit ist der selbstreferenzielle Charakter der Malerei auch durch die Oberflächenqualität der Farbe aufgebrochen, jedoch nicht völlig aufgehoben. Diese haptische Anmutung tritt mit zunehmender Distanz zugunsten des beschriebenen Flimmerns in den Hintergrund. Dieses bildet jedoch keine homogene „atmosphère“ wie bei Martin. Mit zunehmendem „Starren“ treten stattdessen die Sekundärformen hervor, welche durch die Störungen im Rapport gebildet werden und eine atmosphärische, losgelöste Wahrnehmung eines reinen Farb-, Licht- und Ober-

79 „The ‘atmospheric’ is, then, not an objective property of a work by Martin, but rather an integer of a system, one dependent upon the physical displacement of the viewer through space, one in which the hazy is explicitly contrasted to the opaque, the open to the closed, the luminous to the tactile. Which is to say that the three distances that organize the experience make it clear that /atmosphere/ is an effect set within a structure in which an opposite effect is also at work, and that it both defines and is defined by that opposite.“ Krauss 1995, S. 308 f. 80 Krauss 2000, S. 60. 81 Jeff Perrone: Im Schatten der Malerei, in: Parkett, Nr. 33, 1992, S. 107. 82 Dobbe 1999, S. 15.



Das Raster 

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flächenphänomens verhindern. Die Art des Hervortretens gleicht einem flüchtigen, nicht konsistenten „Erscheinen“, einem „Sich-Herausbilden“, einer Bewegung von hinten nach vorne, die der vertikalen Bewegung des Rollens oder der frontalen Bewegung des Druckens entgegensteht. Hierauf wird noch einzugehen sein. Die Sekundärstruktur ist jedoch weder eindeutig im Sinne eines Vexierspiels noch können wir, wie bei den Impressionisten, einen Punkt des Umschlagens bestimmen. Sie fungieren als subversive Zeichen der Limitierungen des Rasters und sind hier durchaus vergleichbar mit den Rasterbildern Agnes Martins. Die Kuratorin Katherine Brinson beschreibt die Beziehung zwischen dem physischen Akt des Farbauftrags und der visuellen Form als unentwirrbar. Dies gebe Wool neue Freiheiten. The circumscription of found forms and parsimonious formal parameters paradoxically endowed Wool with a new creative latitude, eliminating what he termed ‘a modernist kind of decisionmaking’ and a potentially bogus surrender to clichés of spontaneous creation.83

Andererseits gliedern, rhythmisieren und strukturieren die Sekundärformen, wie bereits beschrieben, das Bild und bilden eine Art Skelett oder Gerüst. Im Fall von Groove II ist es im Wesentlichen die vertikale Bewegung des Malers, die der Richtungslosigkeit des Patterns entgegentritt. Die visuelle Form ist das Ergebnis einer Überlagerung der Eigenschaften des Musters und des spezifischen Farbauftrags. Dies soll hier konkretisiert werden: Durch die Überlagerung zweier Rollen bilden sich zwei dunklere, vertikale Linien, die das Bild leicht links verschoben von der Mitte teilen und dann noch einmal leicht links verschoben rechts vierteln. Den schwarzen Linien treten komplementär vier weiße Linien entgegen, die durch das nicht ganz bündige Rollen entstehen. Diese durchziehen nicht komplett die Senkrechte, sondern laufen durch das leicht schräge Rollen nach ungefähr zwei Dritteln der Senkrechten konisch zu. Die erste weiße Linie setzt nach zwei Musterbahnen links oben an, die nächste setzt nach drei weiteren Bahnen unten an. Die dritte verläuft nach vier weiteren Bahnen wieder von oben nach unten zwischen den beiden dunkleren Linien und die vierte im Abstand von drei weiteren Bahnen rechts von der schwarzen, ebenfalls von oben nach unten. Die konische Form der weißen Linien setzt zumindest latent der zentrifugalen Ausrichtung des Rasters eine minimale Gegenbewegung zum Bildinneren hin entgegen. Neben dem Verweis auf den Akt des Rollens betont die Vertikale die Dynamik des Bildes, die ja auch im Titel ihren Ausdruck findet. Verbunden mit der scheinbaren Einheit von Raster und Leinwandfläche sei, so Krauss, der Glaube an die Ursprünglichkeit der Bildfläche – ein weiterer zentraler Mythos der Avantgarde.

83 Brinson 2013, S. 38.

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 Bildstrukturen und Minimalismus

Allerdings nicht erstaunlicher als eine andere, komplementäre Fiktion: die Illlusion von der originalität des Künstlers, ist nicht erstaunlicher als die vom originären, ursprünglichen Status der Bildfläche. Diesen Ursprung soll uns, den Betrachtern, der Genius des Rasters offenbaren: einen unanfechtbaren nullpunkt hinter dem es kein weiteres Modell, keinen weiteren Referenten oder Text gibt. Nur ist diese Erfahrung des Originären, die Generationen von Künstlern, Kritikern und Betrachtern empfanden, selbst falsch, eine Fiktion. Die Oberfläche der Leinwand und das in sie eingeschriebene Raster verschmelzen nicht zu der absoluten Einheit, die für die Vorstellung eines Ursprungs notwendig ist. Denn das Raster kommt nach der Leinwand, verdoppelt sie.84

Die Frage nach der Fiktion eines „zero-ground“ und damit der Fiktion der Originalität des Künstlers, die Krauss am Beispiel des Rasters darlegt, thematisiert Christopher Wool, indem er neben dem Rekurs auf künstlerische Beispiele der US-amerikanischen Moderne auf bereits existierende Rasterformen aus der Innenraumdekoration und in der haptischen Qualität der Farbe auf Assoziationen zu Druckerzeugnissen, also zu medial vermittelten Bildern, zurückgreift und dieses von der „hohen Kunst“ diskreditierte Material aufwertet. Dennoch bringt es Wool in einen Wirkungszusammenhang, der diese reine Ironisierung übersteigt, indem er es in neue komplexe Bildzusammenhänge integriert. Wool setzt sich mit der mythischen Qualität des Rasters in der Moderne ausein­ ander. Er offenbart die Diskrepanz zwischen ästhetischer und physischer Fläche und eröffnet der ästhetischen Fläche damit neue Möglichkeiten. Er setzt der latenten spirituellen Aufgeladenheit des Rasters insbesondere im Hinblick auf die Ursprünglichkeit der Bildfläche Traditionen des Alltags entgegen, in denen Raster eine Rolle spielen. Die Verbindung einer materiellen Bildauffassung mit einer „atmosphärischen“, je nach physischer Distanz des Betrachters zum Bild, findet durch eine Entmaterialisierung der Bildfläche teilweise statt. Die rein immaterielle Präsenz von Licht und Oberfläche wird jedoch nicht nur durch das Pattern gestört, sondern auch durch den Verweis der Farbqualität auf alltägliche Druckerzeugnisse und die entstehenden Sekundärstrukturen, die sich – durch Störungen im Raster verursacht – bei längerer Betrachtung herausbilden. Die zweiwertige Struktur des Rasters als Vereinigung von Offenem und Geschlossenem, Geordnetem und Ungeordnetem, Referenziellem und Selbstreferenziellem und damit das Aufzeigen wesentlicher Bedingungen der visuellen Wahrnehmung ist jedoch für dessen Verwendung bei Wool zentral und bleibt wichtiger Referenzpunkt seiner Malerei. Diese Interdependenz zwischen objektivierenden und subjektivierenden Momenten im malerischen Prozess beschreibt er auch selbst. Er verschiebt jedoch gängige Vorstellungen der künstlerischen Aktion, die in der malerischen Geste liege, und einer geplanten Malerei, die frei sei von spontanen Entscheidungen, die aus dem Prozess entstünden.

84 Krauss 2000 b, S. 209.



Exkurs Musik: Groove 

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Es ist ein Missverständnis, dass in sogenannter expressionistischer Malerei die Geste oder die Aktion/Improvisation bewusste Entscheidungen ersetzt [...] und natürlich gilt das auch für den umgekehrten Fall, wenn man meint, hochgradig geplante Malerei sei visuell nicht berührt von ihrem Entstehungsprozess [...] In aller Malerei handelt es sich nur um verschiedene Grade dieser Ansätze [...]85

Damit leistet Wool auch bezüglich des Rasters eine wesentliche Neukontextualisierung dieser emblematischen Figur der abstrakten Malerei der Moderne.

Exkurs Musik: Groove Der Titel des Bildes Groove II ist natürlich zuallererst Referenz auf das gleichnamige musikalische Grundmuster. Christopher Wool hat seine Affinität zu Musik, insbesondere zu Jazz und Soul, vielfach betont86 und Parallelen zwischen seiner Arbeit und Musik beschrieben: „For me, like listening to music, it’s [painting; Anm. K. W.] an emotional experience.“87 Auch in der Rezeption des Werks wurden die Bezüge u.a. von Glenn O’Brien untersucht, der verschiedene Stilrichtungen unterschiedlichen Werkphasen relativ assoziativ zuordnet.88 Demgegenüber wird hier versucht, Parallelen im strukturellen

85 Christopher Wool im Gepräch via E-Mail zwischen Ulrich Loock und Christopher Wool 3.–5.5.2004, in: Malerei. Herbert Brandl – Helmut Dorner – Adrian Schiess – Christopher Wool, Porto 2004, S. 45 f. 86 Siehe u.a. Ann Goldstein: Das Wie des Malens, in: Christopher Wool 2004, S. 191. Des Weiteren organisierte er musikalische Performances u.a. mit dem Jazzmusiker Joe McPhee anlässlich seiner Ausstellung „Sound on sound“, in der Galerie Corbett vs. Dempsey, 2010, und am 20.11.2013 ein musikalisches Programm anlässlich seiner Retrospektive im Solomon R. Guggenheim Museum, New York, u.a. mit den Künstlern Richard Hell, Arto Lindsay und Joe McPhee. 87 DCAdundee (Hrsg.): Artist Talk at DCA, zur Ausstellung „Crosstown Crosstown“ (Dundee Contemporary Arts, 6.4.–8.6.2003), veröffentlicht am 27.1.2011 [https://www.youtube.com/watch?v= 7nbJMXyyMNs, abgerufen am 14.5.2015]. 88 „Für mich ein visuelles Pendant zu den Jazzstücken, die mir nicht aus dem Kopf gehen, etwas, das mich bewegt wie ‚Epistrophy‘ oder ‚On the Corner‘. [...] Youngsters, die neue Techniken aus seinen einflussreichen Grooves entwickeln.“ O’Brien 2012, S. 17. „Mit den deutlich erkennbaren Quellen aus dem Pop spielt Wool wie ein Musiker. Vielleicht nicht wie ein Pop- sondern eher wie ein Jazzmusiker. Die Word Paintings sind wie die von den Beboppern geliebten Standards, deren Vitalität darauf beruht, dass hier gegen das Vertraute angespielt wird, sodass Umkehrungen, neue Bedeutungen und Ironien im Kontext des Banalen gefunden werden. Wenn man also auf Bruchstücke von Cartoons und kitschiger Clipart stößt, liegt reiner Bebop nahe. Wie es dort geschieht, transformiert auch Wool den Kitsch, Abgenutztes und Ausgelaugtes in etwas Kräftiges und Ursprüngliches. [...] In den Pattern Paintings, die mit Tapetenrollern und Spitzenmustern hergestellt sind, nimmt Wool diese Hübschheit und dreht auf, bis der Verzerrungsgrad eines Marshallverstärkers auf Anschlag erreicht ist. [...] Hier sind wir in der Welt von Sonic Youth, wo die Einzelteile der Komposition auswuchern wollen, aber wie durch magnetische Kräfte oder einen Biologischen Imperativ in den Grenzen der Leinwand gefangen bleiben. Wool erreicht eine Art grafischer Atonalität, er schlägt die schrägen Töne an wie

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 Bildstrukturen und Minimalismus

Aufbau von Jazz und Soul in Bildern zu finden, deren expliziter Bezug zur Musik schon durch den Titel hergestellt wird. Der Fokus liegt zunächst auf den spezifischen Rhythmusqualitäten, die die Bilder prägen. „Wools Arbeiten sind erstklassiger Funk.“89 Gehen wir zunächst von einer Definition des Wortes „Groove“ aus, werden Parallelen zu Groove II offensichtlich: Das Wort Groove bezeichnet im musikalischen Kontext eine rhythmische Qualität. Grooves entstehen im Medium rhythmisch-musikalischer Kommunikation auf der Grundlage emotional intonierter Interaktionsprozesse. Diese [...] beinhalten eine Synchronisierung zyklisch wiederholter Bewegungsmuster und zielen beim Rezipienten auf körperlichen Mitvollzug [...]. Gelingende Groovegestaltung zeichnet sich dadurch aus, dass ein Zustand intuitiven Verständnisses erreicht wird, bei dem aus der wechselseitigen Interaktion eine gemeinsame Aktion im ‚Jetzt‘ wird, die eigenständige, rhythmisch vermittelte Emotionen hervorbringt.90

Auch Groove II ist geprägt durch unterschiedliche, gleichmäßige, zyklisch wiederholte (Bewegungs-)Muster, die synchron in einem „Jetzt“ wirken, das sich in seiner spezifischen Wirkung einer rationalen Analyse widersetzt, obwohl diese auf den ersten Blick sehr einfach und naheliegend scheint. Die Muster91 bestehen aus verschiedenen Bildelementen, die als wiederholte Konfigurationen, z.B. Musterbahnen, gesehen werden können, sich jedoch einzeln auch – je nach Fokus – lösen und verselbstständigen. Heinrich Klingmann fasst in „Groove – Kultur – Unterricht“92 die Funktionsweise der rhythmusbezogenen menschlichen Wahrnehmung zusammen, die auf der Notwendigkeit von Strukturen basiert, die es dem Menschen „ermöglichen, einzelne Wahrnehmungseinheiten aus einem Reizstrom zu isolieren.“93 Sind keine differenzierbaren Merkmale vorhanden, konstruiert das wahrnehmende Subjekt eine nützliche Struktur, „die so lange als ‚Wahrnehmungsfilter‘ dient, bis der Reizstrom eine andere Struktur anbietet.“94 Die Parallelen zwischen Bild und Musik liegen auf der Hand. Unter Berücksichtigung der Tatsache, dass die theoretisch und praktisch vermittelbaren musikalisch-rhythmischen Gestaltungen des Groove vom Groove als

Thelonious Monk oder kreiert kreisende Tonwolken wie der späte John Coltrane.“ O’Brien 2012, S. 23. Siehe auch Friedrich 2009, S. 53, und John Corbett: Impropositions: Christopher Wool, Improvisation, Dub Painting, in: (Hrsg.): Christopher Wool, Ausst.-Kat. Musée d’Art Moderne de la Ville de Paris, 30.3.–19.8.2012, S. 7–13. 89 O’Brien 2012, S. 21. 90 Heinrich Klingmann: Academic Grooves, in: Forschungszentrum Populäre Musik der HumboldtUniversität zu Berlin (Hrsg.): PopScriptum. The Groove Issue, Nr. 11, 2010, S. 2 f. 91 Interessant ist hier auch die Mehrdeutigkeit des Wortes „Pattern“, welches in der Beschreibung sowohl musikalischer als auch visueller Muster gebraucht wird. 92 Heinrich Klingmann: Groove – Kultur – Unterricht. Studien zur pädagogischen Erschließung einer musikkulturellen Praktik, Bielefeld 2010, S. 75 f. 93 Klingmann 2010, S. 75 94 Ebd., S. 76.



Exkurs Musik: Groove 

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Lebenshaltung und Emotion, welcher überwiegend intuitiv und oral gelernt und gelebt wurde, unterschieden werden müssen, stellt Klingmann ein Strukturmodell des Groove vor, dass zur Analyse der Bildstrukturprinzipien bei Wool durchaus hilfreich sein kann (Abb. 15).95 Der Groove wird also gebildet aus verschiedenen zyklisch wiederholten Pattern, die miteinander korrelieren. Mehrfach wurde in diesem Zusammenhang die Bedeutung der Pulsationsgestaltung, welche den Beat unterteilt, hervorgehoben. Eine Pulsationsgestaltung beinhaltet systematische Abweichungen von der exakt gleichmäßigen Unterteilung eines konstanten Beats. Inwieweit ist es gerade für das emotionale Moment wesentlich, dass die Pulsationsgestaltung von dem vorgegebenen Pattern abweicht? Klingmann beschreibt die Aufweichung von Grenzen zwischen Taktarten, welche ein „verwobenes Gefühl“96 hervorbrächten. Eine rationale Erklärung für diese scheinbar ‚irrationalen‘ Timinggestaltungen liefert und der Schlagzeuger Phil Maturano (2000) mit seinem ‚Relayed Time Shifting‘ Konzept. Er entwickelt seine Überlegungen und die darauf bezogenen Übungen aus dem Umstand, dass die Phrasierungen in der afrokubanischen Musik nicht immer eindeutig als alla breve oder 6/8 feeling identifiziert werden kann.97

Er legt dar, wie bedeutsam gerade auch für die Schlagzeuger des Funk dieses Verschwimmen der Taktarten in der Pulsationsgestaltung ist. Die Unregelmäßigkeiten insbesondere durch die Verzerrungen könnten bei Wool als visuelles Pendant zum expressiven Timing gedeutet werden, da auch durch diese strukturierende Differenzierungen wie klein/groß oder vorne/hinten partiell aufgelöst werden. Ist der verzerrte kleine Punkt näher am kleinen oder am großen Punkt? Er befindet sich dazwischen, bringt so ein bewegtes und verbindendes Element in die sonst klar differenzierten Formen. Vergleichbar mit Takten, die so gespielt werden, dass sie nicht mehr klar zuzuordnen sind, ist auch die formale Zuordnung der Formen durch die Verzerrungen verschwommen. Rhythmische Strukturen im Allgemeinen und in diesem Zusammenhang das expressive Timing im Besonderen sind direkt mit dem Entstehen körperlicher und emotionaler Empfindungen verbunden. Mikrorhythmische Abweichungen von einer mechanischen Interpretation werden als ‚expressive timing‘ von Interpreten dazu genutzt, Emotionen wie Freude oder Trauer mitzuteilen.98

95 Ebd., S. 207. 96 Ebd., S. 214. 97 Ebd., S. 213. 98 Ebd., S. 77.

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 Bildstrukturen und Minimalismus

Abb. 15: Groovestruktur

Nach der Analyse der „‚Bausteine‘, aus denen sich ein Groove zusammensetzt“99 mit den Methoden der empirisch-musikpsychologischen Rhythmusforschung untersucht Klingmann den Groove im Hinblick auf seine „Verankerung [...] in kulturell geprägten sozialen Prozessen bzw. in situierten sozialen Handlungssituationen.“100 Der Groove stellt also einen „Verweis auf eine eigenständige und lebendige Kultur und deren Kontinuität dar [...].“101 Sowohl in der Zusammensetzung von Pattern in Form von Gestalten, deren Gestaltung und emotionale Aufladung durch individuelle Abweichungen vom Muster, als auch in ihrer Verweisfunktion auf kulturelle Kontexte lassen sich Parallelen zwischen Musik und Bild herstellen. Durch den spezifischen Auftrag der Pattern in Groove II entsteht ein das Bild prägender Rhythmus, der mit „Tanzen“ beschrieben wurde. Dieser besteht aus verschiedenen zyklisch wiederholten asynchronen Elementen, die synchron zusammenwirken. Die „Individualität der Handschrift“ zeigt sich im Abweichen von den aus dem kulturellen Kontext übernommenen Pattern. Diese Störungen verzerren das vorgegebene Pattern und rufen emotionale Empfindungen hervor. Hier sei zunächst festgehalten, dass diese Artikulation eines rhythmischen Zusammenwirkens heterogener Elemente, verbunden mit der noch zu vertiefenden emotionalen Aufladung der Pattern, dem dekonstruktiven Wirken der Arbeiten entgegensteht und als Moment der Synthese des Bildes beschrieben werden kann. Dabei

99 Ebd., S. 224. 100 Ebd., S. 224. 101 Ebd., S. 221.



Exkurs Musik: Groove 

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werden das Auge des Betrachters, aber auch seine Physis, da sich Rhythmus auch physisch manifestiert, als aktive Komponenten einbezogen102. Dies wird im Folgenden vertieft.

102 Zum Zusammenwirken von Rhythmus und Physis in der Ornamentik siehe z.B. August Schmarsow: Anfangsgründe jeder Ornamentik, in: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft, V, 1910, S. 333: „Die Reizelemente und Lebenssymptome, die das Spiel mit der Technik als Niederschlag über das Menschenwerk breitet, sind größtenteils nur erstarrte mimetische Werte, und der Rhythmus der Arbeit wiederholt sich in der Einfühlung, das Werden der Form geht vor uns auf und erweckt sein Echo in dem eigenen Bewegungsapparat, dessen reflexartiges Nachschwingen eben die Antwort gibt. So ist auch diese Ornamentik aus rein technischen Motiven eine Vermittlung vorhandener Körperwerte und Gestaltungsformen, eine Begleiterin und Verbreiterin ihres Lebensgehaltes.“

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Taf. I: Christopher Wool: Studio, New York, 1984, unten links: Cable Gallery, New York, 1984

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Taf. II: Christopher Wool: The bigger the Lie the Longer the Nose, 1983, Öl auf Leinwand, 228,6 × 167,6 cm

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Taf. III: Jackson Pollock: No. 32, 1950, Industrielack auf Leinwand, 457,5 × 269 cm

Taf. IV: Christopher Wool: Groove II, 1994, Emailfarbe auf Aluminium, 274,3 × 182,9 cm

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Taf. V: Strukturanalyse zu Abb. 6

Taf. VI: Agnes Martin: Falling blue, 1963, Öl und Graphit auf Leinwand, 182,56 × 182,88 cm

Taf. VII: Parkett, Nr. 32, 1992

Simultanität und Sukzessivität This nether world of neglected, abandoned, or sullied objects and places – so conscientiously inventoried in Wool’s photographs – is fully integrated into his creative processes. We might almost see his painting as constituting a work of transubstantiation: of the gradual rising of things seen in the horizontal space of abandonment towards the vertical space of his pictures. This was a form of work realized by the most radical informal painting of the 1950s in the wake of Fautrier and Braque. But in Wool it liberates the imagery from its physical materiality, its corporeal nature, making it into something like a mental shadow reworked to the point of transformation. The specificity of his pictures lies above all in the fact that we don’t yet know what they are. They are both familiar and opaque; they are undeniably true pictures but they speak of a reality that is violently, very violently at work in contemporary society.1

Die hier von Fabrice Hergott beschriebene Auflösung einer substanziellen Verbindung zwischen Bildträger und Bildelementen bei Wool – in Abgrenzung zu der modernistischen Position Pollocks und dem minimalistischen Verständnis des Rasters u.a. bei Agnes Martin – wurde herausgearbeitet. Im Folgenden wird untersucht, ob und inwieweit diese Entkoppelung mit der Frage nach der von Hergott beschriebenen „Transsubstantiation“ von Dingen, die in der horizontalen Ebene gesehen wurden und dann in der vertikalen Form des Bildes zur Anschauung gebracht werden, in Beziehung steht und wie diese Beziehung genauer zu fassen ist. Anschließend wird gefragt, ob und wie diese Transformation zu der von Hergott beschriebenen zeitgenössischen Realität in Beziehung steht. Dass Wool nicht allein als Formalist verstanden werden kann, bezeugt die bereits erwähnte Äußerung, er wolle Inhalt in die Malerei (zurück-) bringen.2 Bearbeitet werden die genannten Fragestellungen anhand des Bildes Loose Booty aus dem Jahr 1995.

Annäherung an Loose Booty, 1995 Die Herkunft des Titels Loose Booty ist nicht eindeutig. Der Autor Benjamin Weissman bezieht den Begriff in seinem Artikel „Eloquent Obstacles“ auf den Körper („loose booty“ übersetzt als „schwabbeliger Arsch“) und begründet diesen Bezug mit formalen Analogien, die sich zwischen dem Gesäß und den Bildern Wools auftun. Or he leads us toward the anatomical: Loose Booty, Double Party Booty and Double Booty Party are a trio of 1999 paintings that feature clusters of looping ovals that at times look like ass cheeks, ass cleavages, cracks and oval skid marks.3

1 Hergott 2012, S. 24. 2 Siehe hierzu u.a. Marcus Greil: Wools Wortbilder, in: Parkett, Nr. 33, 1992, S. 95. 3 Benjamin Weissman: Eloquent Obstacles, in: frieze, issue 111, November/Dezember 2007 [http:// www.frieze.com/issue/article/eloquent_obstacles, abgerufen am 21.5.2015].

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 Simultanität und Sukzessivität

Abgesehen von der Tatsache, dass das Bild Loose booty auf das Jahr 1995 und nicht auf das Jahr 1999 datiert wird, lässt sich auf Basis des bisher Erarbeiteten ableiten, wie unwahrscheinlich es ist, dass Christopher Wool (weit hergeholte) formale Analogien zwischen der physischen Realität des Körpers und Formen eines Pattern zu einer Titelgebung bewogen haben. Auch wird aus Weissmans Herleitung nicht klar, wie eine entsprechende Titelgebung zu interpretieren wäre. Naheliegender ist, wie bei vielen Bildtiteln, der Bezug zu Songs aus Funk, Punk oder Jazz. In den 1970erJahren veröffentlichten zwei Bands einen gleichnamigen Song. 1972 spielte die Band Funkadelic das Album „America eats its young“ ein, auf dem der Titel „Loose booty“ zu finden ist. Der Text beschreibt, beginnend in der scheinbar unschuldigen Form eines Kinderreims, destruktive Momente von Drogenabhängigkeit, die sich steigern zu einem sinnlosen, fragmentierten Chaos, welches jedoch musikalisch dem konstanten Funkrhythmus untergeordnet wird.4 „Loose booty“ ist ein umgangssprachlicher Begriff für Heroinabhängige und kann hier interpretiert werden als „Junkie twist“, als unkontrollierte rhythmische Bewegung von Heroinabhängigen im Rausch. Auch im Song von Sly and the Family Stone aus dem Jahr 1975 wird der Bezug zwischen Tanz und Drogen hergestellt: „[...] Life can be confusing, any given day / And if you feel like losin’, get on out the way / This stuff will be amazing, here is all you do / How minutes turn to days in, doing what I do / Loose booty [...].“ Nach Greil Marcus waren Sly and the Family Stones in den 1970er-Jahren Teil einer desillusionierten schwarzen Popkultur, die mit Platten wie „There’s a riot goin’ on“ vor einem Wertverlust sowohl politischer als auch künstlerischer Natur, der Vereinnahmung in eine allumfassende Unterhaltungsindustrie warnten, diese Warnung jedoch selbst ignorierten, indem sie sich nicht widersetzten oder schützten. „Unterhaltung setzt nicht den Glauben außer Kraft“‚ schrieb Michael Ventura 1985, sondern Werte. Man könnte dies sogar die Bedeutung der von uns praktizierten Haltung nennen: Die Ablösung außer Kraft gesetzter Werte, mit denen wir nicht mehr leben möchten, ohne die zu leben wir uns nicht trauen [...] von der Arbeit nach Hause kommen und auf einen Bildschirm starren, auf dem andere intensiver leben als man selbst [...] so sieht das amerikanische Leben im großen und ganzen aus.5

In diesem Klima der Desillusionierung, das in den 1970er-Jahren entstand, entwickelten sich Mitte der Siebzigerjahre die Punkbewegung und die ihr vorausgehende „‚arty‘ iro-

4 Beginn Strophe 1: “Eeny meeny miney moe / Catch a junkie by the toe / If he holler / Let him go / If he don’t / Do the / Loose booty / Loose booty.” Beginn Strophe 5: “Loose booty / Fly on, Y’all / Stupid stupid / Yeah, yeah, yeah / Ohh, ohh / Ooooh, ohhhh / Yeah / Hit it / Stupid stupid / Hit it / Junkie twist.” 5 Greil Marcus: Lipstick Traces. Von Dada bis Punk. Eine geheime Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts, Hamburg 1996 (Erstauflage 1989), S. 45.



Annäherung an Loose Booty, 1995 

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nische[] New Yorker Szene, die 1974 entstand, mit den Ramones als Hauptvertretern“.6 Diese prägten das New York der 1980er-Jahre, in dem Christopher Wool die Hälfte seines dritten Lebensjahrzehnts verbrachte, maßgeblich – eine Zeit, in der er das Fundament seiner künstlerischen Arbeit legte. Hierauf wird zurückzukommen sein. Der 228,60 × 152,40 cm große Stempeldruck aus dem Jahr 1995 (Abb. 16) basiert auf demselben Pattern wie Groove I und Groove II aus dem Jahr 1994. Dieses Pattern wurde jedoch vergrößert, sodass Punkte und Kreise deutlich stärker akzentuiert sind. Die Störungen im Rapport sind verstärkt. Es treten aufgrund des Druckverfahrens keine Verzerrungen auf, jedoch entstehen durch Überlagerungen Verdichtungen, sowohl in vertikaler als auch in horizontaler Richtung; darüber hinaus ergeben sich, was in diesem Fall besonders bedeutsam ist, durch ein Zuviel an Farbe Verschmierungen und Kleckse. Eine besondere Akzentuierung entsteht durch einen größeren Fleck, der sich im rechten Viertel des Bildes etwas oberhalb der Mitte befindet. Durch die Überlagerungen der Pattern bilden sich Verdichtungen von Schwarz und die bereits beschriebenen Gießbäche, sodass auch hier eine sekundäre Struktur entsteht, die ein unregelmäßiges Raster bildet und entfernt an eine Kreuzstruktur denken lässt. Die Kreuzstruktur als latent eingeschriebene Sekundärstruktur findet sich immer wieder in den Arbeiten Wools. Sie bildet hier zunächst eine elementare, ordnende und stabilisierende Grundstruktur, welche der ungeordneten Kleinteiligkeit des Pattern entgegensteht. Sie kann auch als Verweis auf den menschlichen Körper gelesen werden, der sich auf diese Weise indirekt in den von der direkten körperlichen Spur abstrahierenden Druckprozess einschreibt (Abb. 17–19).7 Der horizontal verlaufende Streifen, in dem sich die Pattern überlagern, bildet keinen Streifen mit einem geraden Abschluss, sondern es entsteht eine gewellte, leicht geschwungene Sekundärstruktur, wohingegen sich die senkrecht verlaufenden Sekundärstrukturen an geraden Linien orientieren. Außer von Klecksen und Flecken ist das Pattern von einer Vielzahl kleiner Spritzer überzogen. Am oberen und unteren Bildrand, an welchem jeweils ein horizontaler Streifen weiß blieb, wurden Spuren des Stempels in Form von schwarzen Streifen oder Flecken stehen gelassen. Gegenüber Groove I und Groove II zeigt sich eine deutliche Vergröberung der Formen. Das Flirrende und Schwebende des Gesamteindrucks weicht einerseits aufgrund der Proportionsverschiebungen, aber auch aufgrund des Farbauftrags einer

6 Marcus 1996, S. 82. 7 Noch deutlicher wird dies beispielsweise bei den Sprühbildern, wie „Untitled“ (Abb. 17), 2003, Emailfarbe auf Leinen, 243,84 × 182,88 cm, oder der frühen Gemeinschaftsarbeit mit Robert Gober. Robert Gober und Christopher Wool: „Untitled“, 1988, Fotografie, 35,6 × 27,9 cm. Dort werden die Wischspuren eindeutig durch horizontale und vertikale Armbewegungen gebildet, welche die vier Ecken des Bildes freilassen und auch dort eine Kreuzform bilden. Auch dem an einem Baum hängenden Kleid ist durch die Form des Baums eine Kreuzform eingeschrieben, welche eindeutig anthropomorph ist.

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 Simultanität und Sukzessivität

Abb. 16: Christopher Wool: Loose Booty, 1995, Emailfarbe auf Aluminium, 228,60 × 152,40 cm



Mikro- und Makrostrukturen  

Abb. 17: Christopher Wool: Untitled, 2003, Emailfarbe auf Leinen, 243,84 × 182,88 cm

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Abb. 18: Robert Gober und Christopher Wool: Untitled, 1988, Fotografie, 35,6 × 27,9 cm

Flächigkeit, in der die Mechanik des Drucks, des Pressens von Farbe auf einen flachen Untergrund sichtbar und spürbar wird. Dies liegt, außer an den Überlagerungen, an den Verschmierungen, welche das überschüssige Schwarz erzeugt, und wird verstärkt durch die weißen Streifen, die das Bild am oberen und unteren Bildrand abschließen. In der Offenlegung des weißen Bildträgers wird dessen Flächigkeit noch einmal deutlich vor Augen geführt und dem Entstehen eines möglichen Binnenraums, welcher sich bei anderen Pattern-Paintings entwickeln konnte, entgegengewirkt.

Mikro- und Makrostrukturen Für in der phänomenologischen Tradition stehende Konzepte des Bildes und seiner Wahrnehmungsmöglichkeiten ist die Synthetisierungsleistung, mit der der Blick des Betrachters auf die zweidimensionale Flächenstruktur reagiert, zentral. Nach Christian Spies ist, unter Bezug auf die postontologische Phänomenologie nur im aktiven Umgang mit dieser ‚unverarbeiteten Sinneserfahrung‘ des Bildes in seiner reinen Sichtbarkeit, vor allem im Vollzug der temporalen Impulse auf der Fläche, [...] eine Annäherung an die ‚eigentümliche sinnliche Prädikationsleistung‘ des Bildes möglich: Darin liegt das Wechselspiel zwischen Beschleunigung und Verzögerung oder zwischen Bewegung und Stillstand begründet, das zu jener dem Bild inhärenten Zeitlichkeit führt.8

8 Christian Spies: Die Trägheit des Bildes. Bildlichkeit und Zeit zwischen Malerei und Video, München 2007, S. 27 f.

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 Simultanität und Sukzessivität

Diese Wechselbeziehungen der einzelnen Impulse, welche die Zeiterfahrung des Bildes prägen, werden im Wesentlichen durch das spezifische Zusammenwirken simultaner und sukzessiver Wahrnehmungsmöglichkeiten hervorgerufen. Das Betrachten eines Bildes beinhaltet immer einen Wechsel von Simultanität und Sukzessivität, einen fortlaufenden Übertritt zwischen der Gesamtansicht oder Synthese und Detailbeobachtungen oder Vollzug im Bild. Spies hebt hervor, dass gerade Imdahl immer wieder deutlich macht, wie in einzelnen Bildern Bildeinheit und Sukzessivität miteinander verbunden sind.9 Diese bildliche Zeiterfahrung während der Kunstbetrachtung zeichnet seine spezifische Form der Sichtbarkeit und damit Präsenz in großem Maße aus. Sie wird im Folgenden am Beispiel von Loose Booty nachvollzogen. Zunächst scheinen die Pattern buchstäblich einer zerstreuten Wahrnehmung zu entsprechen. Wahrnehmungsphysiologisch erschweren die mangelnde Prägnanz der Pattern, ihre unhierarchische Anordnung und der nicht vorhandene Bezug zum Gesamtgefüge die simultane Wahrnehmung des Bildes. Der Wahrnehmungs­prozess könnte eher mit einem visuellen „Ablaufen“ oder „Lesen“ – analog zu einem Text – beschrieben werden. Durch die Unbestimmtheit des Bildraums, entstanden durch die Lösung der Pattern vom Bildgrund und die damit verbundene Auflösung der Bildgrenzen, sowie die Entmaterialisierung des Bildträgers gewinnt die Relation der Bild­elemente zueinander an Kraft. Dieses „Lesen“ in Form von Fixierungen einzelner Bildelemente oder deren Bezug zueinander wird mit dem Begriff des fovealen Sehens beschrieben, ein Phänomen, das als Erster Leonardo da Vinci beschrieb.10 Das foveale Sehen wird als elementar für die menschliche Kognition beschrieben: „Das foveale Sehen der Primaten ist eine der wichtigsten Errungenschaften der Evolution. Foveales Sehen ist vom Zentrum auf ein Grad [1°] Sehwinkel beschränkt.“11 Die Steuerung des fovealen Sehens wird durch das periphere Sehen unterstützt, indem es visuelle Hinweisreize liefert, welche okulomotorische, d.h. das Auge bewegende, Befehle auslösen.

9 Spies 2007, S. 31. 10 Das Auge hat eine einzige Zentrallinie, und alle Dinge, welche durch diese Linie zum Auge gelangen, werden gut gesehen. Um diese Linie gibt es eine unendlich große Anzahl anderer Linien, die mit der Zentrallinie in Berührung kommen und die umso wirkungsloser sind, je weiter sie von besagter Zentrallinie entfernt sind. in: Quaderni d‘anatomia IV fol. 12 verso, zitiert nach: Sandro Piantanida und Costantino Baroni (Hrsg.): Leonardo da Vinci. Das Lebensbild eines Genies. Dokumentation der Leonardo-da-Vinci-Ausstellung in Mailand 1938, Nachdruck, Wiesbaden 1955, S. 430. 11 Mark W. Greenlee: Foveales Sehen und Blickbewegungen beim Menschen – ein Wendepunkt in der Entwicklung des Primaten?, in: Ulrich Nortmann und Christoph Wagner (Hrsg.): In Bildern denken? Kognitive Potentiale von Visualisierung in Kunst und Wissenschaft, München 2010, S. 115.



Mikro- und Makrostrukturen  

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Diese okulomotorischen Befehle bestimmen die Fixationsperioden, fixierende Augenbewegungen (z.B. Mikrosakkaden), visuell geleitete reflexive Sakkaden ebenso wie willkürliche Sakkaden und die Verfolgung von sich bewegenden Objekten.12

Wahrnehmung und Augenbewegung stehen folglich in einem engen Zusammenhang. Der Neuropsychologe Mark W. Greenlee zitiert eine Studie von Benjamin W. Tatler, Nicolas J. Wade und Kathrin Kaulard, nach der die Amplituden ausgeführter Sakkaden ab dem Moment reduziert werden, in dem der Betrachter beispielsweise ein verstecktes Gesicht in einem gestreiften Muster entdecke.13 Im Gegensatz zu der Wiedererkennbarkeit eindeutiger Gestalten haben die kleinteiligen Pattern bei Wool jedoch keinerlei Wiedererkennungswert. Insofern ist hier eine intensive Augenbewegung zu vermuten. Die auftretenden Sekundärstrukturen, in Loose Booty im Wesentlichen Kreuzformationen, bieten einerseits eine ästhetische Ordnung, ein Gerüst, das den Blick ruhen lässt. Sie schaffen ein Moment der Simultanität, das es ermöglicht, das Ganze im Blick zu behalten. Andererseits sind sie nicht eindeutig genug, um diesen Eindruck längerfristig aufrechtzuerhalten. Immer wieder ergeben sich neue Konstellationen. Die hier implizierte Suche des Betrachters nach Klarheit, die sich in den Augenbewegungen zeigt, wird auch aufgrund widersprüchlich wirkender Gestaltgesetze nicht aufgelöst. Die Kontinuität und Bewegtheit des Pattern an sich ist stark geprägt durch komplex ineinander wirkende Gestalten der Ähnlichkeit. In Loose Booty spielt neben dem Gestaltgesetz der Ähnlichkeit das der Nähe eine bedeutende Rolle. Die Verdichtung der Punkte, d.h. ihre größere Nähe, lässt sie uns als zusammengehörig wahrnehmen. Die Kreuzformationen wirken als „gute Gestalt“, welche dem Bild eine einfache Struktur einschreibt. Die Ambivalenz in der Bildung von Sekundärstrukturen wird verstärkt durch das Konkurrieren verschiedener Gestaltgesetze. So wirkt das Gesetz der Ähnlichkeit hier dem der Nähe entgegen. Die Suche nach visueller Klarheit bleibt in den Bildern Christopher Wools unbefriedigt, sie wird jedoch als solche thematisiert und offenbart. Durch die Ambivalenz zwischen dem nicht zu fixierenden Pattern und den uneindeutigen Sekundärstrukturen, die eine Gestalt anzudeuten scheinen, bleibt das Auge des Betrachters in Unruhe, er bleibt ein suchender, aber auch aktiver Betrachter. Der Mathematiker Peter Schreiber, der die Beziehungen zwischen Mathematik und Kunst untersucht, beschreibt den Unterschied zwischen dem Lesen von Bildern und dem von Texten als Unterschied in der Rezeption von Mikro- und Makroinformationen. Ein Text wird sequentiell zur Kenntnis genommen. Dabei wird Wort für Wort und Satz für Satz Mikroinformation rezipiert, und erst am Ende des Prozesses hat man (im günstigsten Fall) die

12 Ebd., S. 116. 13 Greenlee 2010, S. 124.

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 Simultanität und Sukzessivität

Makroinformation, was der Sinn des gesamten Textes war, was der Autor damit vermitteln wollte. [...] Bei Bildern ist die Reihenfolge von Natur aus umgekehrt. Beim Betrachten eines Bildes hat man in der Regel als erstes und sofort die Makroinformation und kann sich danach, soweit man möchte oder muss, in die Details vertiefen, aber auch hier haben lokale Änderungen wenig oder keinen Einfluss auf die Makroinformation.14

Schreiber betont in diesem Zusammenhang die Bedeutung einer „großräumigen Struktur“, die dem Betrachter Orientierung in Form von Makroinformation bietet. Diesen Mangel an Strukturen und Gestalten finden wir auch in Loose Booty, woraus eine gewisse Orientierungslosigkeit resultiert. Am Beispiel Giuseppe Arcimboldos erläutert Schreiber, wie der Widerspruch zwischen Mikro- und Makroinformation im Bild in den Hirnen der Betrachter „Unruhe stiftet“.15 Auch wenn natürlich erhebliche Unterschiede zwischen den Werken bestehen, sind Arcimboldo und Wool in dem hier beschriebenen Widerspruch durchaus vergleichbar, wobei in Loose Booty die Makroinformation u.a. in den Sekundärformen angedeutet uneindeutig bleibt. Das Bild ist Projektionsfläche nicht im Sinne eines perspektivischen Illusionsraums, sondern einer fortsetzbaren, zeichenhaften Struktur, die jedoch ambivalent und offen bleibt. Im Gegensatz zu dieser Art der sukzessiven Wahrnehmung wirkt die Sekundärform des Kreuzes. Dieses schafft eine elementare ästhetische Ordnung, welche uns das Ganze wahrnehmen lässt und somit die materielle und die simultane Ebene der Bildfläche erlebbar macht. Sie schafft einen Bezug zwischen Bildformat und Bildmotiv und bezieht den Körper des Betrachters als visuelles Gegenüber ein. Auch Suzanne Hudson beschreibt das Ineinanderwirken des Zeichen- und des Bildhaften als zentrales Merkmal des Frühwerks von Wool: So too do Wool’s appropriation-based works deny the singularity of a unique form in so evidently recontextualizing something – a text, to cite the most obvious example, in his signlike panels featuring blocky stenciled words. They attempt to turn the representational plane into a place of linguistic inscription but encounter the obdurate presence of the painting as an object in its own right.16

14 Peter Schreiber: Bild und Text als Informationsträger, in: Nortmann/Wagner 2010, S. 110 f. 15 „Die wenigsten Betrachter, die von den aus Gemüse, Früchten, Fischen und anderen Objekten zusammengesetzten Köpfen fasziniert sind, werden sich bewusst machen, warum dieses im Prinzip einfache Bildkonzept in ihren Hirnen Unruhe stiftet: Die Makroinformation des Bildes steht in einem Widerspruch zur Mikroinformation, und an dieser könnte man allerlei austauschen, verändern, ohne dass sich am Gesamteindruck etwas ändert.“ Schreiber 2010, S. 114. 16 Susanne Hudson: Fuck ’em if they can’t take a joke, in: Katherine Brinson: Trouble is my business, in: Christopher Wool, Ausst.-Kat. Solomon R. Guggenheim Museum New York, (25.10.2013 – 22.01.2014), und The Art Institute of Chicago, (23.02.2014 – 11.05.2014), S. 53.



Mikro- und Makrostrukturen  

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Die hier dargelegte Widersprüchlichkeit auf visueller Ebene beschreibt Julien Fronsacq in seinem Vortrag im Rahmen der Vortragsreihe „Une peinture parlée“ im Centre Georges Pompidou hinsichtlich der Vermengung unterschiedlicher theoretischer Konzepte von Malerei. Den Bezug zu unseren visuellen Gewohnheiten, aber auch visuellen Gesetzmäßigkeiten versieht er noch mit einem „vielleicht“. Chez Christopher Wool [...] il s’agit d’avantage pour lui [...] de juxtaposer les langages visuels, les processus pictureaux, de les faire s’enchevêtrer. Ainsi nous sommes pris dans une difficulté à identifier les intentions de Christopher Wool, à connaître l’attitude [...] où son attitude par rapport à la peinture, son rapport à la peinture [...]. Et il est certain, que chez Christopher Wool il s’agit de faire collision de l’ensemble des outils théoriques, que chaqu’un d’entre nous nous convoquons pour révéler nos habitudes, [...] nos réflexes théoriques et conceptuels, mais même peut-être nos réflexes visuels, qui nous empêchent d’appréhender pleinement, de saisir un tableau, qui semble [...] comme [...] il a l’intitulé pour un de ses tableaux de photographie, pour faire de ce tableau un deserteur, un tableau, qui s’échappe, qui nous échappe.17

Aus dem bisher Erarbeiteten und Weiterzuentwickelnden wird deutlich, dass die hier von Fronsacq vorgenommene Einschränkung seiner Aussage, bei Wool prallten verschiedene, widersprüchliche theoretische Vorstellungen und Konzepte von Malerei aufeinander, um eine gewisse Voreingenommenheit offenzulegen, im Hinblick auf visuelle Reflexe, Gewohnheiten oder Gesetze aufgehoben werden kann. Gerade im Zusammenwirken historisch-reflexiver Konzepte mit wahrnehmungsphysiologischen und -psychologischen Vorgängen liegt die spezifische Qualität der Arbeit. Mit diesen wirkt Wool dem historisierenden und gegebenenfalls beliebigen Charakter der appropriierten Pattern entgegen und wirft den Betrachter auf sein Dasein im Hier und Jetzt zurück. Zu fragen wäre noch, ob auch die bei Krauss beschriebene paradigmatische Ebene im Sinne einer assoziativen Bedeutung eine Rolle spielt. Diese ist sicherlich nicht im Hinblick auf eine christliche Bedeutung gemeint, öffnet jedoch vielfältige Bezüge zum Liedtext, der sich auf Destruktion durch Drogenkonsum bezieht oder zur minimalistischen Elementarform des Kreuzes, wie sie bei Frank Stella oder Ad Reinhardt vorkommt. Hierauf werde ich im Unterkapitel von „Horizontalität und Vertikalität“ zu Walter Benjamin zurückkommen.

17 Julien Fronsacq: Christopher Wool – Untitled (2002), Vortrag in der Reihe „Une peinture parlée“, Centre Pompidou, Paris 2009, veröffentlicht: o.D. [https://www.centrepompidou.fr/cpv/ressource.action %3bjsessionid=2F666B17338452622592D7E5821C1115?param.id=FR_R-5511eab2bfdd591651443f34690 d81¶m.idSource=FR_P-5d72256fea5a26531b81af3ce94edd8, abgerufen am 18.5.2015].

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 Simultanität und Sukzessivität

„Regulating lines“ Rosalind Krauss beschreibt in ihrem Aufsatz „The grid, the true cross, the abstract structure“18 die Beobachtungen, die der Kunstkritiker Leon Rosenthal im Jahr 1923 und der Maler André Lhote 25 Jahre später an den Fresken von Piero della Francesca tätigten, als erste wichtige Beobachtungen über den Ursprung des Rasters. Die Erfindung der Perspektive sei verbunden mit der der „regulating lines“. Diese seien für das Bild das, was das architektonische Modul für die Konstruktion von Tempeln und Palästen sei. Es sei die Genialität der „regulating lines“, die räumliche Tiefe in reine Oberfläche zu überführen, Sukzessivität in Synchronie zu verwandeln. Der Bezug von flächigen „regulating lines“ auf die perspektivische Darstellung vereine räumliche Tiefe und die Oberfläche des Bildes und damit Sukzessivität und Synchronie. ‘The invention of perspective,’ he says, ‘is connected to that of the regulating lines, which are to the picture what the architectural ‘module’ is to the construction of temples and palaces.’ [...] It is the genius of the regulating lines, Lhote argues, to transform this depth into pure surface, to turn successiveness into synchrony.19

Das sich aus diesen „regulating lines“ entwickelnde Raster, und das Kreuz als Elementarform dieses Rasters, seien damit die Repräsentation des dem Bild innewohnenden Widerspruchs zwischen der sich selbst repräsentierenden Flächigkeit und dem Illusionsraum.20 In Loose Booty überlagern sich verschiedene, rasterartige Struk-

18 Krauss 1995. 19 Ebd., S. 304. 20 Krauss erweitert diese Interpretation um die strukturalistische Interpretation Louis Marins, der das Schreiben als den Prozess, die Lücke zwischen der historischen Entstehungszeit eines Werks und dem präsenten Moment des Betrachtens zu schließen, beschreibt. Der Kunsthistoriker Michael Mayer schreibt zur Beziehung zwischen Bild und Text bei Marin: „Marins Frage nach ihr [der Macht des Bildes; Anm. K.W.] setzt ebenso unterschwellig wie entschieden einen in all seinen Konsequenzen noch unabsehbaren Perspektivwechsel voraus. Denn die Frage lautet nicht mehr (ontologisch): Was ist ein Bild? Die Frage lautet (relationslogisch): Wo ist ein Bild? An welchem Ort und von welchem Ort aus entfaltet es seine betörenden, verführerischen, seine gefährlichen und so uneindeutigen Wirkungen? Erst von diesen Wirkungen her lässt sich die Kraft, lässt sich das Bild selbst thematisieren, der Weg oder Umweg, sprich die Methode, führt ‚über die Indizien und letzten Endes über die Texte, welche diese aufzeichnen‘. Womit nicht nur einer indirekten Bilderlehre das Wort geredet wird, der zufolge wir die Spuren, die das Bild in Texten hinterlässt, lesen sollen. Wenn, wie man zu wissen meint, Texte –‚ Interpretationen, Urteile, Kritiken, Kenntnisse etc. –‚ auf die Art, wie wir Bilder wahrnehmen, zurückstrahlen, dann vagabundieren andererseits Bilder immer schon in diesen Texten, die von ihnen handeln, zerfurchen sie, suchen sie mit einer Art Nachleben gespensterhaft heim. Damit aber gerät das Verhältnis von Theorie und ihrem figurativen Gegenstand, von Bild und Sprache, ja von Eikon und Logos, diesem angejahrten Urpaar der abendländischen Metaphysik, überhaupt aus dem Lot. ‚Das Bild durchquert die Texte und verändert sie‘, wie es seinerseits von Texten verwandelt wird,



Horizontalität und Vertikalität  

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turen: die dem Pattern innewohnenden, die durch die Stempel implizierten und die daraus entstehenden Sekundärstrukturen. Sollten die latenten Kreuzformationen der Sekundärstrukturen in Loose Booty als „regulating lines“ verstanden werden, ist durch das bereits Erarbeitete deutlich geworden, dass diese nicht den Widerspruch zwischen Flächigkeit und Illusionsraum repräsentieren können. Stattdessen stehen bei Wool die Ebenen der Pattern und der fortsetzbaren Strukturen, welche auf den Prozess verweisen, im Widerspruch und bilden durch die Überlagerung dieser Strukturen Interferenzen. Das Bild ist also vollständig gelöst vom materiellen Bildgrund. Die „regulating lines“ als Sekundärstrukturen repräsentieren diesen Widerspruch. Dies wird im Folgenden vertieft.

Horizontalität und Vertikalität Leo Steinberg In seinem 1972 in der gleichnamigen Anthologie veröffentlichten Aufsatz „Other criteria“21, der heute zu einem der Klassiker der kunstwissenschaftlichen Literatur zählt, beschreibt der Kunstkritiker Leo Steinberg einen tief greifenden Umbruch in der Auffassung der Bildfläche in der US-amerikanischen Malerei der 1960er-Jahre, welchen er in Anlehnung an die Flachbett-Druckerpresse mit dem Begriff „Flachbett-Bildebene“ („flatbed picture plane“) beschreibt. Diese bilde den Umbruch zur postmodernistischen Malerei. Der neue Bildraum beispielsweise bei Robert Rauschenberg, Roy Lichtenstein, Andy Warhol, aber auch Jean Dubuffet beschreibe eine grundsätzlich neue Beziehung zur Körperlichkeit des Künstlers und des Betrachters. Der traditionelle Bildraum, der für Steinberg bis in den US-amerikanischen Modernismus reicht, war geprägt von einer vertikalen Bildauffassung, welche sich auf die vertikale Körperhaltung des Betrachters beziehe. [...] einen Grundsatz [...], der auch in den folgenden Jahrhunderten und selbst noch im Kubismus und im Abstrakten Expressionismus seine Gültigkeit behielt: daß das Bild eine Welt dar-

die sich mit gleichsam unsichtbarer Tinte auf seiner Oberfläche einschreiben.“ Michael Mayer: [www. artnet.de/magazine/louis-marin-von-den-machten-des-bildes/images/2/; Seite nicht mehr verfügbar, da Artnet Magazine 2012 eingestellt wurde]. Krauss beschreibt die Beziehung zwischen der Achse der Gegenwärtigkeit beim Betrachten eines Bildes zu einer spezifischen Zeit an einem spezifischen Ort und der zeitlichen Beziehung, welche durch die Abfolge des Schreibens entsteht, auch mit der Figur des Kreuzes. „Indeed, Marin considered the lateral progression of writing, ignoring as it does the presence of the viewer and closing its space along the surface of the page, as transecting the trajectory of vision piercing across it into depth.“ (Krauss 1995, S. 305) Aus der Verbindung dieser zwei gegensätzlichen Achsen, der des Schreibens und der des Sehens in der Gegenwart, entstehe das Kreuz als „absolutes Emblem“. Dieses Verständnis des Kreuzes kann hier jedoch nur angedeutet bleiben. 21 Leo Steinberg: Other Criteria Confrontations with Twentieth-Century Art, New York 1972, S. 55–91.

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 Simultanität und Sukzessivität

stelle, die eine oder andere Form des Welt-Raums, der auf der Bildebene gemäß der aufrechten menschlichen Körperhaltung ablesbar ist: Der obere Bildrand bezieht sich auf die Körperregion, wo wir unseren Kopf tragen; der untere Rand senkt sich dorthin, wo unsere Füße auf dem Boden stehen.22

Im Gegensatz dazu sei die Bildfläche beispielsweise bei Rauschenberg horizontal und opak, eine „Allzweck-Bildebene“, flach und widerstandsfähig wie eine Werkbank, eine Fläche, auf der „alles Erreichbare oder Denkbare haften konnte“.23 Leo Steinbergs Artikel impliziert eine kritische Auseinandersetzung mit Clement Greenbergs Aufsatz „Modernistische Malerei“ und den dort dargelegten zwei Sehmodi. Seine Einordnung Jackson Pollocks als Künstler, der in der Tradition der vertikalen Bildauffassung arbeite, ist als Kritik an Greenberg zu verstehen, für den das All-over bei Pollock zentraler Ausdruck einer neuen, zeitgemäßen Bildauffassung war und der „die Auflösung der Form als Hervorbringung der dem Medium eigenen Flächigkeit interpretierte“.24 Im Gegensatz zu Greenberg ordnet Steinberg im Sinne seinens Verständnisses von Malerei Pollock den „traditionellen Malern“ zu.25 „In diesem Sinne waren die Abstrakten Expressionisten meiner Ansicht nach immer noch Naturmaler. Pollocks Drip-Paintings können nicht vermeiden, als Dickicht gelesen zu werden.“26 Für Steinberg beinhaltet horizontality die Umschreibung eines spezifischen Bezugs der Bildebene zur Wirklichkeit, welcher mehr oder weniger unabhängig vom Herstellungsprozess des Bildes ist. Die Flachbett-Bildebene bildet nach Steinberg nicht die Wirklichkeit ab, sondern „menschengemachte Dinge“. Rauschenberg sei der Mann, der, so Steinberg, eine Bildfläche erfunden habe, die das spezifisch städtisch geprägte Bewusstsein abbilde. Nicht die Welt des Menschen der Renaissance, der aus dem Fenster blickte, um zu erraten, wie das Wetter werden mag, sondern eine Welt von Menschen, die an Knöpfen drehen, um eine Tonbandnachricht zu hören: ‚Am Abend vereinzelt Regenschauer‘, die aus einer fensterlosen Kabine elektronisch übermittelt wird. Rauschenbergs Bildebene spricht zu einem Bewusstsein, das im Gehirn der Stadt pulsiert.27

22 Leo Steinberg: Andere Kriterien, in: Harrison/Wood 1998, S. 1169. 23 Ebd., S. 1172. 24 Prange 2003, S. 68. 25 Diese aus heutiger Sicht nicht sehr überzeugende Einordnung Pollocks ist nach Yve-Alain Bois der Tatsache geschuldet, dass Steinberg der dominanten Interpretation Greenbergs etwas entgegensetzen wollte. „For it is undoubtedly the dominace of Greenberg’s interpretation of Pollock (undeniably the best of its era) that led Steinberg to exclude this artist from his definition of the ‘flatbed’.“ YveAlain Bois: Painting as Model, Cambridge 1993, S. 182. 26 Steinberg 1998, S. 1170. Mehr zur Auseinandersetzung zwischen Steinberg und Greenberg in: Gerald Geilert: OCTOBER-Revolution in der amerikanischen Kunstkritik, München 2009, S. 41 ff. 27 Steinberg 1998, S. 1173.



Horizontalität und Vertikalität  

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Diese „Flachbett-Bildebene“ bezieht sich auf die Horizontale, auch wenn das Resultat ein Bild sein kann, welches vertikal an der Wand hängt. Als Beispiel nennt Steinberg die Arbeit Bed von Robert Rauschenberg aus dem Jahr 1955, in welcher er sein eigenes Bett mit bemaltem Kissen und bemalter Bettdecke an die Wand hängte. In dem hier offensichtlichen Bezug zur Horizontalen offenbart sich nach Steinberg der Bezug zum Machen, welcher den Bezug der vertikalen Bildebene zum Sehen ersetze.28 Gleichzeitig sei die „Flachbett-Bildebene“ ein „Vorstoß der Kunst in die Nichtkunst“29, welcher nachhaltige Folgen für den traditionellen Kunstkenner und damit die Kunstwissenschaft mit den für diese bis dahin gültigen Kriterien habe. In diesem Sinne ist Loose Booty mit Sicherheit in der von Steinberg entwickelten dualen Sichtweise zunächst auf der Ebene der Horizontalität zu verorten.30 Der Siebdruck ist ein Druckerzeugnis, welches in der horizontalen Ebene hergestellt wird und zunächst das Bild eines Artefakts, das „Bild eines Bildes“ darstellt, welches dem urbanen Kulturraum entspringt. Insofern steht Wool hier deutlich in einer spezifisch US-amerikanischen Malereitradition, die Steinberg um 1960 beginnen lässt. Die Frage, ob und wie die beschriebenen Sekundärstrukturen einzuordnen sind, bleibt hier jedoch unbeantwortet. Sie offenbaren sich erst in der vertikalen Ebene, der Ebene der traditionellen Vorstellung des Bildes „als Fenster“, die auch die Gestaltpsychologen zum Ausgangspunkt ihrer Untersuchungen wählten.31 Dazu muss das Verständnis von Vertikalität und Horizontalität erweitert werden.

28 Ebd., S. 1172. 29 Ebd., S. 1174. 30 Siehe auch Joanna Fiduccia: Original Copies. Images in the Zero Dimension with Kerstin Brätsch, Wade Guyton, Clement Rodzielski, Kelley Walker, and Christopher Wool, in: Art on Paper, Band 5, New York 2009, S. 49 f. Auch Joanna Fiduccia ordnet die Arbeiten Wools nahe an der von Steinberg beschriebenen Flachbett-Bildebene ein, sieht in Wool jedoch den Initiator einer Entwicklung, die diese ablöst und – zumindest in den digital bearbeiteten Arbeiten – zu einer entmaterialisierten, homogenisierten, digitalen Bildebene führt, welche einen reinen Vordergrund darstelle („zero dimension“). „In New York, the earliest identifiable proponent of original copies is Christopher Wool, who, in the last decade, began scanning and Photoshop-ing his paintings, then silkscreening them in quadrants on to paper and canvas. [...] What results is less pictorial flatness than a depth created by the continuous withdrawal of expressive content – a withdrawal that is subsequently transmuted into digital givens (data), moving from a painting that is composed only of background to an image that is uniformly foreground. [...] The new dimension of the original copy reflects a mind that lives primarily not within congested city grids, but along vast, virtual, rhizomatic networks, in the zero dimension of digital images. We’ve traveled from flatbed paintings to zero dimension images.“ Fiduccia 2009, S. 49 f. Obwohl die hier beschriebene Beobachtung nachvollziehbar ist, ist die konstatierte Entmaterialisierung bei Wool nicht ohne die ihr inhärente Gegenbewegung zu sehen, in der er die Materialität von Bildträger, Farbe oder den Sieben in den Siebdrucken als Zeugen einer faktisch existierenden Realität bewusst entgegensetzt. 31 „The Gestalt psychologists, writing in the twenties and thirties, understood the field of sight as fundamentally vertical, and thus freed from the pull of gravity. They described the visual subject’s relation to its image-world as ‘fronto-parallel’ to it, a function of it’s standing erect, independent of

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Rosalind Krauss Während für Steinberg die Arbeitsweise des Dripping zwar im Arbeitsprozess auf dem Boden stattfand, betont er jedoch, dass Pollock die Bilder während des Arbeitsprozesses immer wieder an die Wand hängte, da die vertikale Position ihre eigentliche war. Pollock goß und tröpfelte seine Farbe allerdings auf eine auf dem Boden liegende Leinwand, aber er tat das nur der Einfachheit halber. Sobald die ersten Farbschichten eingesogen waren, befestigte er sie an einer Wand – um sie kennenzulernen, wie er zu sagen pflegte; um zu sehen, wohin sie sich entwickeln will. Er lebte mit dem aufrecht gehängten Bild wie mit einer Welt, die ihn in seiner menschlichen Körperhaltung konfrontierte.32

Für Krauss hingegen war es unter dem Eindruck der Philosophie Georges Batailles und der psychoanalytischen Theorie Jacques Lacans insbesondere die Wendung Pollocks von der vertikalen in die horizontale Ebene, die ihn befreite von der Form oder Gestalt und damit von der tradierten „Kultur“: „Pollock’s work seemed to propose, in being below culture, was out of the axis of the body, and thus below form.“33 Krauss legte u.a. 1992 auf dem Internationalen Kongress für Kunstgeschichte in Berlin eine neue Interpretation der Drip-Paintings von Jackson Pollock vor, die auf dem Schlüsselbegriff der „Horizontalität“ beruhte.34 Krauss lehnt hier eine bis dato gültige Interpretation des Werks von Pollock als eine „sublimatorische“, die an einem traditionellen Gestaltsehen, am Prinzip der Repräsentation“35, festhalte, ab. Nach Krauss konnten erst die neuen Arbeitsbedingungen am Boden Pollock vom traditionellen und damit intentionalen Festhalten an der Form lösen und für das Unbewusste und damit verbunden den Einfluss des „Niedrigen“ öffnen, welches u.a. auch materiell im Abfall, welcher sich teilweise auf den Bildern befindet36, manifest wird. Diese materiellen Manifestationen des Formlosen, welche sich dem visuellen Herausbilden einer Gestalt verweigern, sind nach Krauss die entscheidende Neuerung, die in späteren Werken wie Andy Warhols Piss Paintings oder den Oxidation

the ground. This means that the image or gestalt is always experienced as a vertical and that its very coherence as a form (in their terms it’s ‘praegnanz’) is based on this uprightness, this rise into verticality, which is how the imagination constitutes its images.“ Foster/Krauss/Bois/Buchloh 2007, S. 359. 32 Steinberg 1998, S. 1170. 33 Yve-Alain Bois und Rosalind Krauss: Formless. A user’s guide, New York 1997, S. 95. 34 Weitere bedeutsame Texte von Krauss zur Problematik der horizontality sind das Pollock-Kapitel in: The Optical Unconscious, The Crisis of the Easel picture, in: Kirk Varnedoe und Pepe Karmel: Jackson Pollock, New York 1999, sowie Bois/Krauss 1997. 35 Prange 2003, S. 68. 36 „That Pollock was intent on asking his viewers to see the newly invented idiom of his ‘drip pictures’ via the site within which they had been made – the horizontality of the floor onto which the vertical had been lowered – becomes clear, in a work like Full Fathom Five (1947) [...], the dripped and encrusted surface of which bears nails, buttons, keys, tacks, coins, matches, and cigarette butts.“ Bois/Krauss 1997, S. 95.



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Paintings oder Robert Morris’ „Anti-Form“ aufgegriffen wurde: „Anders als bisherige, meist um die Rekonstruktion und Dechiffrierung einer vermeintlichen Bildsymbolik bemühte Studien hält Krauss mit Recht die Negation des Gestalthaften für Pollocks entscheidende Tat.“37 Die Negation des Gestalthaften sei jedoch nicht als „letzte Etappe des Abstraktionsprozesses im Sinne von Greenbergs Modernismustheorie und auch nicht im Rahmen einer Klassenlogik, wie sie Timothy Clark geltend macht, zu verstehen“38, sondern zum einen im Akt des Auslöschens selbst: „Die tropfende Farbe löscht die Figur aus und somit den in ihr verkörperten Rivalen Picasso.“39 Der Bezug zur Horizontalen sei zum anderen jedoch auch ein Angriff auf die u.a. bei Freud als spezifisch menschlich definierten Eigenschaften des aufrechten Gangs, der mit einem distanzierten Blick und der Loslösung vom Riechsinn verbunden ist, welcher das animalische Dasein am Boden dominiert.40 By returning painting to the field of the horizontal, Pollock attacked all these sublimatory forces: uprightness, the gestalt, form, beauty. At least this was the conviction held by many of the artists convinced by the antiform drive of his work.41

Christopher Wool ist natürlich nicht in der hier anklingenden Tradition der Anti-Form in der prozess- und körperorientierten Kunst der 1960er-Jahre zu verorten, die den Hintergrund für Krauss’ Analysen bildet.42 Neben der starken Anbindung von Krauss’ Konzept der horizontality an zeitgenössische Kunstformen kritisiert Sebastian Egenhofer an Krauss auch ihre Vernachlässigung der Tatsache, dass Pollock zum einen natürlich „auch während der Arbeit an der liegenden Leinwand diese als vertikal zu hängendes Bild antizipiert hat“.43 Zum anderen stellt er aufgrund der teilweise geringen Größe der Leinwand die „Unübersichtlichkeit der liegenden Malfläche“ in Frage, welche Grundlage ist für Krauss’ Argumentation einer „Zerstörung der Werkeinheit und des ihr entsprechenden, ‚idealistischen‘ Modells von Subjektivität“.44 Nach Egen-

37 Prange 2003, S. 64. 38 Prange 2003, S. 64. 39 Ebd. 40 Foster/Krauss/Bois/Buchloh 2007, S. 359. 41 Ebd. 42 Zu Recht merkt Christian J. Meier die Verbundenheit dieser Argumentation Krauss’ mit der Prozess- und Körperkunst der 1960er-Jahre an. „Die Thesen von Krauss müssen heute kunstgeschichtlich unter Berücksichtigung ihrer Entstehungsbedingungen und Zielsetzungen gesehen werden. Sie stellen einerseits ein Ex-Post.Verdikt aus der Sicht der (späteren) prozess- und körperorientierten Kunst der 60er Jahre dar; andererseits sollten sie eine Gegenposition zur ‚opticality‘-Lesart von Pollock namentlich durch Greenberg und Fried markieren.“ Christian J. Meier: Über Signifikanten des Unbewussten in der Malerei, Berlin 2012, S. 25. 43 Egenhofer 2008, S. 257. 44 Ebd.

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hofer geht es darum – der modernistischen Interpretation Pollocks folgend  –, die Verschränkung der Dimensionen der räumlich-simultanen Präsenz und der prozessbetonten horizontalen Dimensionen der Bilder zu denken.45 Die horizontale Ebene bleibt nach Egenhofer – in die vertikale Stellung gebracht – in der Weise des Entzugs gegenwärtig. Die „Schnitte und Risse im geronnenen Perfekt des dripped paint und im absoluten Präsens der opticality“46 bilden die Basis für ein vollkommen neues Weltverständnis des Bildes. Wesentlich sei hierbei die Auflösung der präkonstituierte[n; K.W.] Präsenz, [der; eigene Ergänzung; K.W.] ‚Geometrie‘ einer intentionalen Leere, die das Element des appräsentationalen oder repräsentionalen Bezugs figurativer, surrealistisch-phantasmatischer oder geometrisch abstrakter Formen für ein Subjekt wäre. Die Destruktion der Figur selber [...] ist dabei nur die Vorarbeit. Erst wenn nicht mehr nur die ehemalige Kontur, sondern die ganze Architektur des Bildraums am Zeitrand des Bildes festgemacht ist, wenn seine Linien des dripping den Bildraum durchgreifen, hat diese radikale Transformation der Bildstruktur stattgefunden, die Pollock und Newman leisten.47

Die explizite Artikulation des äußeren Bildrandes sei der entscheidende Schritt der amerikanischen Abstraktion.48 Diese hat Wool, wie herausgearbeitet wurde, dekonstruiert. Dennoch artikuliert sich auch das Spezifische der Bildstruktur bei Wool im Zusammenwirken der räumlich-simultanen Präsenz und der prozessbetonten horizontalen Dimension des Bildes. Dies wird im Folgenden vertieft. Wie für Pollock ist auch für Wool der horizontale Akt des Druckens mehr als die Wahl einer Technik, die nach der Fertigstellung und Aufrichtung des Bildes irrelevant wäre. Auch Wools Stempel- und Siebdrucke werden auf dem Boden ohne vollkommenen Überblick über den Gesamteindruck gedruckt. Die Größe der Arbeiten verhindert dies. Ein weiterer Beleg ist die Tatsache, dass Wool nie mit nur einem Stempel oder Sieb arbeitet, sondern immer mehrere Stempel oder Siebe kombiniert und die Beziehungen, die durch das Neben- oder Übereinander-Liegen der einzelnen Platten entstehen, thematisiert.49 Die Art der Körperlichkeit ist bei Wool natürlich eine vollkommen andere als bei Pollock. Während Pollocks Art zu malen mit Tanz verglichen wurde50,

45 Egenhofer 2008, S. 257. 46 Ebd., S. 258. 47 Ebd., S. 261. 48 Ebd., S. 262. 49 Sehr deutlich wird dies beispielsweise an der Serie Untitled, 2001, 228,6 × 152,4 cm. Abb. in: Christopher Wool, Ausst.-Kat. Musée d’Art Moderne de la Ville de Paris, 30.3.–19.8.2012, S. 58–64. 50 „Dies [der Eingang rhythmischer Musikalität des Jazz in die Körperbewegung der Musiker; Anm. K.W.] scheint auch bei Jackson Pollock der Fall zu sein, wenn er sich in geradezu tänzerischen Bewegungen um sein Bild herumbewegt und mit rhythmischen Gesten Kontakt zu ihm aufnimmt.“ Gerald Schröder: „Birth of the Cool“. Jazz, Beat und Jackson Pollock, in: Annette Geiger, Gerald Schröder und Änne Söll (Hrsg.): Coolness. Zur Ästhetik einer kulturellen Strategie und Attitüde, Bielefeld 2010, S. 178.



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Abb. 19: Christopher Wool in seinem Atelier, New York 2006.

zeugt Wools Farbauftrag von einem größeren und „unkünstlerischeren“ Kraftaufwand, jedoch auch von einer größeren Distanz durch die Indirektheit der Technik. Bleibt bei Pollock nach Egenhofer die Horizontalität durch die fließende Farbe als „Meer, Horizontale ohne Horizont“ auch in der vertikalen Ansicht „in der Weise des Entzugs“ gegenwärtig, ist es in Loose Booty (Abb. 19) der physische Akt des Drückens oder Pressens, der – ursprünglich in der Horizontalen stattfindend – nachhallt. Sekundärstrukturen, welche die räumlich-simultane Präsenz des Bildes abbilden, entstehen so nur teilweise kontrolliert, nachdem der Druckprozess abgeschlossen ist, in der vertikalen Position. Insofern ist hier das Ineinandergreifen einer prozessbetonten, horizontalen Präsenz des Bildes mit einer simultan-räumlichen festzuhalten. Dabei knüpft Wool an die mit der horizontality bei Pollock formulierten Krise des Subjekts der Malerei an, die sich u.a. in der Aufgabe des Rahmens des Gesichtsfeldes, jeder Form des Strukturentwurfs des Subjekts und im Verlust von Einbildungskraft bei der Bildproduktion äußert.51 Ist es jedoch bei Pollock die unmittelbare, schiere Physikalität der Farbe, welche den einstigen Raum des Imaginären „zerschneidet“52, sind es bei Wool Fragmente kultureller Zeichen, welche diesen konstituieren. Das Zusammenwirken des Zeichenhaften in der Horizontalität und des Bildhaften in der Vertikalität wird im Folgenden vertieft.

51 Siehe hierzu Egenhofer 2008, S. 258. 52 Ebd.

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 Simultanität und Sukzessivität

Walter Benjamin: „Malerei und Graphik“ und „Über die Malerei oder Zeichen und Mal“ Dies soll insbesondere in Bezug zu Walter Benjamins Unterscheidung zwischen Malerei und Grafik sowie der Unterscheidung zwischen Zeichen und Mal geschehen, die er in den ästhetischen Fragmenten „Malerei und Graphik“ und insbesondere „Über die Malerei oder Zeichen und Mal“ explizierte.53 In dem „dichten und enigmatischen Text aus jungen Jahren“54 mit dem Titel „Malerei und Graphik“ aus dem Jahr 1917 grenzt Benjamin zwei fundamental unterschiedliche Arten der Repräsentation voneinander ab: die horizontale der Zeichnung und die vertikale der Malerei. Die Grafik ist hier jedoch nicht äußerlich als Technik zu verstehen, sondern muss differenziert werden. [...] man wird einen Studienkopf, eine Rembrandtsche Landschaft nach Art eines Gemäldes betrachten dürfen oder bestenfalls in neutral waagrechter Lage diese Blätter belassen. Dagegen betrachte man Kinderzeichnungen. Es wird zumeist gegen deren inneren Sinn verstoßen, sie senkrecht vor sich hinzustellen.55

Nach Benjamin liegt ein ganz tiefes Problem der Kunst [...] vor. Man könnte von zwei Schnitten durch die Welt reden: der Längsschnitt der Malerei und der Querschnitt gewisser Graphiken. Der Längsschnitt scheint darstellend zu sein, er enthält irgendwie die Dinge, der Querschnitt symbolisch: er enthält die Zeichen.56

Auch Benjamin unterscheidet also die zwei Dimensionen der Horizontalität und der Vertikalität in Bezug auf Bildlichkeit, wobei er die Vertikale mit dem (gemalten) Bild in Beziehung setzt, welches wir sehen, die Horizontale mit dem (gezeichneten oder geschriebenen) Zeichen, welches wir lesen. Beide Dimensionen sind jedoch nicht an eine Technik gebunden, sondern an „einen Geist“, d.h. beide Techniken können in beiden Repräsentationsarten dominieren. Bezogen auf Loose Booty werden Bezüge zu der bereits erarbeiteten Ambivalenz zwischen Schrift und Bild, dem visuellen und dem zeichenhaften Charakter des Bildes, im Kapitel „Simultanität und Sukzessivität“ deutlich. Zunächst verweisen das Format des Bildes und seine Positionierung an der Wand auf seine Betrachtung als „vertikale Malerei“. Auch das Motiv des Tapetenmusters war in seiner ursprünglichen

53 Walter Benjamin: Malerei und Graphik, in: Rolf Tiedemann (Hrsg.): Gesammelte Schriften, Bd. II.2, Aufsätze, Essays, Vorträge, Frankfurt am Main 1977, S. 602–607. 54 „In a dense and enigmatic text from his youth“, Bois 1993, S. 182. 55 Benjamin 1977, S. 602. 56 Ebd., S. 603.



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Funktion vertikal gedacht, wobei hier bereits durch den zeichenhaften Charakter der Pattern klar wird, dass diese nicht als „Darstellung“ konzipiert waren und aufgrund ihrer fortsetzbaren Struktur nicht als „Ganzes“, als „Längsschnitt“, gedacht wurden. Sie gehören eher der „Sphäre des Zeichens“ an. Dafür spricht auch die Loslösung der Pattern von dem Eindruck der Schwerkraft. Die Fortsetzbarkeit in alle Richtungen und die flirrende Wirkung sind per se schwere- und richtungslos und dementsprechend nicht auf den Blick eines aufrecht stehenden Betrachters ausgerichtet.57 Benjamin differenziert in seinem Text „Über die Malerei oder Zeichen und Mal“ je nach Art der Linie vier verschiedene Gebiete der „Sphäre des Zeichens“: die Linie der Geometrie, die Linie des Schriftzeichens, die grafische Linie und die Linie des absoluten Zeichens. Nach Takaoki Matsui ist dies eine nicht „unfragliche Unterteilung“, da die Übergänge beispielsweise in der Kalligrafie fließend seien.58 Auch im Fall der Pattern ist nicht klar zu entscheiden, ob es sich um eine Linie der Geometrie oder um eine grafische Linie handelt. Im Gegensatz zur grafischen Linie verortet Benjamin die geometrische nicht in der Kunst, weshalb er auf Letztere auch nicht weiter eingeht. Noch deutlicher wird die Ambivalenz in den Schriftbildern Wools, in denen die Buchstaben gleichzeitig Linie des Schriftzeichens und grafische Linie sind. Sowohl bei den Buchstaben als auch bei den Pattern enthebt Wool die Qualität der Linie ihres ursprünglichen, nicht künstlerischen Kontextes und transformiert sie durch diese Neukontextualisierung. Die Kontinuität der Pattern und damit das „Lesen“ der (geometrischen) Zeichen werden durch die Simultanität der Siebe, die neben- und übereinander gedruckt werden, und durch die Sekundärstrukturen, welche durch die Störungen entstehen, ge- und unterbrochen. Die Pattern sind so konzipiert, dass eine Wahrnehmung als Einheit verhindert wird. Diese Einheit wird in der Gesamtdarstellung evoziert, ist aber nicht fixierbar. Das so entstehende Spannungsgefüge zwischen den Teilen und dem Ganzen kann auch als Spannungsgefüge zwischen der „darstellenden“ Vertikalität der Malerei und der „symbolischen“ Horizontalität des Zeichens verstanden werden. Das Pattern nimmt Bezug auf die in der „hohen“ Kunst verpönte Tradition des Ornaments, die mit einer in der Kunst abgelehnten Vorstellung des Dekorativen verbunden war. Durch das Aufeinanderprallen dieser Bildtraditionen konterkarieren sie einander, ohne dass eine Lesart dominieren oder die andere negieren würde. Mit Hilfe der Begriffe „Zeichen“ und „Mal“ wird nun abschließend versucht, die zeitliche Dimension dieser zwei Ebenen zu erfassen und der Frage nachzugehen, was aus dem beschriebenen Spannungsverhältnis resultiert.

57 Diesen Aspekt der Schwerelosigkeit hebt insbesondere Bois in seiner Analyse Piet Mondrians hervor. Bois 1993, S. 180 f. 58 Takaoki Matsui: Walter Benjamin und die Kunst des Graphischen: Photo-Graphie, Malerei, Graphik (Diss. Humboldt-Universität zu Berlin 2008) [http://edoc.hu-berlin.de/dissertationen/matsuitakaoki-2008-02-20/PDF/matsui.pdf, abgerufen am 20.5.2015].

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 Simultanität und Sukzessivität

Walter Benjamins Text, der im Oktober 1917, nur wenige Monate nach „Malerei und Graphik“, verfasst wurde, bezieht sich auf einen Briefwechsel mit dem Philosophen und Historiker Gersholm Scholem über Probleme des Kubismus und ist „eigentlich kein Aufsatz, sondern zu einem solchen erst der Entwurf“59. Insofern bleibt er in einigen Ausführungen unklar, insbesondere da nicht deutlich wird, „auf welche Gemälde, wenn es denn um den Kubismus geht, sich die Argumentation bezieht“60. Benjamin stellt hier die Dichotomie Zeichen – Mal gegenüber und „versucht die Auseinandersetzung prinzipiell zu wenden und anthropologisch tiefer zu legen“61. Der Text beginnt mit der bereits erwähnten Differenzierung des Zeichenbegriffs, entstehend durch vier unterschiedliche Bedeutungen der Linie. Benjamin erläutert die Linie der Geometrie und die der Schriftzeichen nicht, da diese nicht der Sphäre der Kunst angehören, die er hier behandelt. Die grafische Linie zeichnet sich für ihn dadurch aus, dass sie nicht nur sich selbst bestimmt, sondern die Fläche, auf der sie sich befindet, da Linie und Untergrund einander bedingen. Eine Zeichnung, die ihren Untergrund vollständig bedecken würde, würde aufhören, eine solche zu sein. Mit der Linie bekommt die weiße Papierfläche eine neue „Identität“.62 Im Gegensatz zum Zeichen, welches aufgedrückt wird, tritt nach Benjamin das Mal hervor. Für Brüggemann bleibt diese Differenzierung unklar.63 Was die folgenden Ausführungen über den Zusammenhang von Mal und Malerei schwierig macht, ist auch […] die Äquivokation, die darin mit den Begriffen das ,Malʼ und ,Malereiʼ betrieben wird. Wenn man sich gleichwohl einem Verständnis anzunähern versucht, wäre davon auszugehen, daß Benjamin das Mal als ein Gemaltes, farbiges Medium, das zwar im Bild erscheint, zu denken sucht, aber zugleich als eine gewissermaßen von allen Bestimmungen noch freie Entität, die erst durch den Namen des Bildes dieses auf etwas bezieht, was nicht selbst Mal ist, auf das, wonach das Bild benannt ist.64

Dennoch soll hier der Versuch unternommen werden, zwei Aspekte herauszugreifen, die miteinander zusammenhängen: der des Hervortretens (im Gegensatz zum intentionalen Handeln beim Zeichen) und der des Zeitlichen.

59 Heinz Brüggemann: Walter Benjamin. Über Spiel, Farbe und Phantasie, Würzburg 2007, S. 150. 60 Ebd. 61 Ebd. 62 Davon unterschieden ist das „absolute Zeichen“, welches Benjamin mehr umschreibt und abgrenzt als definiert. Während das absolute Zeichen, wie beispielsweise das Kainszeichen, im Wesentlichen räumliche und personale Bedeutung habe, habe das absolute Mal eine zeitliche und „das Personale geradezu ausstoßende“ Bedeutung. Das absolute Zeichen spielt jedoch in dem hier zu entwickelnden Zusammenhang keine Rolle, weshalb ich hier nicht näher auf diese Problematik eingehen möchte. 63 Brüggemann 2007, S. 150. 64 Ebd., S. 151.



Horizontalität und Vertikalität  

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Die Natur des malerischen Gebildes ergibt sich für Benjamin aus dem Paradox, dass in einem Bild Komposition vorzufinden sei, ohne dass diese auf Grafik zurückzuführen wäre – dies sei die Natur des Mals. Dieses Erscheinen von Konfigurationen sei jedoch darauf angewiesen, dass es auf etwas anderes bezogen sei, nämlich das sprachliche Wort. Nun ist aber das eigentliche Problem der Malerei in dem Satz zu finden, dass das Bild zwar Mal sei, und umgekehrt, dass das Mal im engern Sinn nur Bild sei, und weiter, dass das Bild, insofern es Mal ist, nur im Bild selbst Mal sei, aber: dass andrerseits das Bild auf etwas, das es nicht selbst ist, d.h. auf etwas, das nicht Mal ist, und zwar indem es benannt ist, bezogen werde.65

Takaoki Matsui zeigt den Bezug zu Benjamins Sprachtheorie auf, in der Benjamin von der Annahme ausgeht, die Sprache der Malerei sei „in gewissen Arten von Dingsprachen fundiert“, und „in ihnen [liege; eigene Ergänzung; K.W.] eine Übersetzung der Sprache der Dinge in eine unendlich viel höhere Sprache, aber doch vielleicht derselben Sphäre“66 vor. Für Brüggemann zeigt sich an diesem Punkt, dass Benjamin wahrscheinlich Bilder von Kandinsky und Klee vor Augen gestanden haben, und er beschreibt die Interdependenz von Zeichen, Malerei, Mal und Sprache sehr treffend: In Benjamins Beschreibung wird das für ihn noch immer enthaltene Moment des aufprägenden Zeichens, der Signifikation, abgelöst durch einen Dialog malerischer und kompositioneller Sprachgebärden, aus dem das benennende Wort im Idealfall wie von selbst heraustritt.67

Mit den Frottagen Max Ernsts oder den Drippings von Jackson Pollock sei das eingetreten, „wovon wir uns aber keine Vorstellung machen können“68, nämlich dass ein Bild keinen Anspruch auf Benennbarkeit ergebe. Mit dem Gesagten versteht es sich von selbst, daß Mal und Komposition Elemente jedes Bildes sind, welches auf Benennbarkeit Anspruch macht. Ein Bild jedoch, das dies nicht täte, würde aufhören ein solches zu sein und nun freilich mit in das Medium des Mals überhaupt eintreten, wovon wir uns aber gar keine Vorstellung machen können.69

Wie bereits dargelegt bilden sich in Loose Booty bei längerem Hinsehen rasterartige Sekundärformen heraus, die an eine Kreuzform erinnern. Der Bezug zum Raster wurde bereits erörtert. Die entstehende „Komposition“ basiert nicht auf Vorzeichnungen oder grafischen Überlegungen in der Planung, sondern entwickelt sich prozess-

65 Benjamin 1977, S. 606. 66 Matsui 2008, S. 295 f. 67 Brüggemann 2007, S. 152. 68 Benjamin 1977, S. 607. 69 Ebd.

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und zufallsorientiert. Die Überlagerung der Pattern bildet offene Ränder, die nicht durch klare Linien konturiert sind, d.h. die Komposition erfolgt bruchlos. Dieses Merkmal des Mals, nämlich eine Komposition zu sein, die nicht durch „Graphik gesprengt wird“, sondern in ihrer „Neutralität verharrt“, ermöglicht den „Eintritt einer höheren Macht“70. Diese, „das sprachliche Wort, das sich im Medium der malerischen Sprache, unsichtbar als solches, nur in der Komposition sich offenbarend, niederlässt“, ist also zu verstehen als „das dem Male Transzendente“. Bei Wool steht der bruchlose Übergang zwischen Auflösung und Verdichtung von Pattern in der Ambivalenz zwischen Materialisierung und Entmaterialisierung des Bildes. Wichtig ist hier die Tatsache, dass sich das Herausbilden und Verändern der Sekundärstrukturen in der Zeit vollzieht. Das Bild ist nicht mit einem Blick zu erfassen, sondern dieser oszilliert, fixiert unterschiedliche Teile und steht im Wechsel zwischen Ganzheit und Fragment. In diesem Punkt ist das Werk Wools durchaus mit dem von Ad Reinhardt zu vergleichen. „Der Kurator Erich Franz spricht von einer Verschränkung sich vollziehender Zeitlichkeit (als visuelles Geschehen) und zuständlicher Gesamtpräsenz (als visuelle Repräsentation).“71 Bei Reinhardt ist diese raumzeitliche Dimension als Verweis auf eine spirituelle Welt zu lesen. Als Aufforderungen zu geistiger Wandlung stellen sie eine von den Kategorien erlöste Kunst dar: ‚Mystischer Höhenflug – Trennung vom Irrtum, vom Bösen – aus der Welt der Erscheinungen, Sinneslockungen – ‚das göttliche Dunkel‘ – ‚leuchtende Dunkelheit‘, erstes Licht, dann Wolke, schließlich Dunkel‘, wie es der Künstler einmal selbst ausdrückte.72

Das Evozieren eines zeitgebundenen „visuellen Geschehens“ stellt einerseits im Anschluss an Benjamin auch bei Wool eine „Struktur der Transzendenz“73 dar. Diese steht im Gegensatz zu Elementen der Banalisierung, die bereits besprochen wurden. Sie ist mit all ihren Verweisen auf Popkultur und Alltagsästhetik mit Sicherheit nicht als Verweis auf „Jenseitiges“ zu lesen. Dennoch stellt sie das berühmte Diktum Frank

70 Ebd. Takaoki Matsui weist auf die Problematik hin, dass Benjamin hier den Aspekt des Rahmens, der immer einen linearen Einschnitt der Bildfläche voraussetzt, außer Acht gelassen hat. „Erst nach einem Einschnitt in die Wandfläche kann die so eingerahmte Fläche als eine Komposition der glatten Farbübergänge betrachtet werden. Der Rahmen bringt einen ‚graphischen‘ Gegensatz (Opposition) zur Fläche hervor, um sodann in der ‚malerischen‘ Komposition unauffällig (als ihre marginale Komponente) aufzugehen.“ Matsui 2008, S. 300. Interessanterweise lässt Wool den oberen und den unteren Rand des Siebes nicht am Bildrand enden, sondern lässt einen weißen Streifen des Bildgrundes stehen. Der Übergang zwischen dem weißen Streifen und den Pattern wird so nicht „bruchlos“, hat jedoch auf jeden Fall eine größere Offenheit und Weichheit, ist somit weniger grafisch als die vertikalen Linien, die am rechten und linken Bildrand entstehen. 71 Stephanie Rosenthal: Black Paintings, München 2006, S. 39. 72 Rosenthal 2006, S. 43. 73 Matsui 2008, S. 300.



Horizontalität und Vertikalität  

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Stellas „what you see is what you see“ und damit die Tradition der selbstreflexiven abstrakten Malerei des US-amerikanischen Modernismus mit der Betonung der physischen Präsenz des Bildes und seiner transkulturellen Verständlichkeit offensichtlich in Frage.74 Wir wissen nicht, was wir genau sehen, aber wir wissen, dass es offen (im Gegensatz zu: geschlossen im Minimalismus) und nicht autonom ist, eine eigene Form der Präsenz hat, welche mehrdeutig ist und ihre eigenen Gesetze hat. Sebastian Egenhofer legt den Unterschied zwischen der europäischen und der US-amerikanischen Abstraktion bezüglich ihrer Vorstellung von Zeit und Präsenz wie folgt dar: Die europäische Abstraktion habe zwar die konkreten Bildmittel, die „Grammatik der Malerei“, kategorisiert und in historisch neuer Bewusstheit und Klarheit eingesetzt, sie hat aber die so gestärkte Präsenz oder Positivität des Bildes antizipativ, als eschatologischen Index auf einen Horizont zukünftiger voller Präsenz des ‚Universalen‘ jenseits des endlich Bildhaften als solchen bezogen. Die amerikanische Abstraktion dagegen setzt den Zeitindex ganz, gewissermaßen doppelt, auf das ‚Here and Now‘ – auf die Konkretion und Direktheit der Bildmittel und darauf, dass der Moment der subjektiven Bilderfahrung als eine Art Epiphanie, den Sinnhorizont des Werks voll ausschöpft. Im Augenblick der Bildpräsenz sind die Anwesenheit der Mittel (das Here des materiellen Bildzeichens) und die Gegenwart der Wirkung (das Now einer als ‚existenziell´ gedachten ästhetischen Erfahrung) zusammengeschlossen.75

Diese als existenziell gedachte ästhetische Erfahrung schwanke zwischen Freiheit und Angst. Die Vorstellung von „Here“ und „Now“, einer unmittelbaren Werkpräsenz, die sowohl frei ist von Zukunftsversprechen als auch von einer spezifischen kulturellen Bindung mit den ihr eigenen Codes, bricht Wool mehrfach auf. Einerseits durch das Aneignen bereits existierender Pattern oder später Textfragmente und deren Beziehung zur Alltagskultur, durch den Bezug zu Popmusik und Subkultur, andererseits aber auch durch die Zeiterfahrung, die die Bilder eröffnen. Das Bild evoziert etwas, „zeigt etwas“, und steht damit in der klaren Traditionslinie jenseits des Minimalismus, in dem das Bild als materielles Objekt „keine Differenz in sich frei setzt“76. U.a. durch die spezifische Zeiterfahrung durchbricht das Bild die minimalistische Tautologie des Soseins, in der Materialität und Kunstwerk identisch sind und aufeinander verweisen.

74 Dass diese vermeintlich amerikanische Tradition hinsichtlich ihrer Ablehnung narrativer Strukturen, und damit einer „der Malerei [...] unangemessenen Zeitlichkeit“, und ihrer „allegorischen Lesbarkeit“ stärker mit der europäischen Abstraktion verbunden war, als von den US-Amerikanern selbst angenommen, zeigt Sebastian Egenhofer in dem Kapitel „Geschichte der Werkpräsenz und Teleologie der Abstraktion“ auf. Sebastian Egenhofer: Abstraktion Kapitalismus Subjektivität. Die Wahrheitsfunktion des Werks in der Moderne, München, 2008. 75 Egenhofer 2008, S. 72 f. 76 Ebd., S. 77.

Weltbezug: Urbanität Die Bezugnahme auf die urbane Realität, insbesondere auf die Stadt New York, in den Malereien, Drucken und Fotografien Wools wurde vielfach beschrieben.1 Die langjährige Freundin und Kommilitonin von Christopher Wool, Joyce Pensato, beschreibt das Interesse der beiden am Stadtleben New Yorks während der Ausbildung. Everyone was doing these moth-eaten still-lifes, and Christopher and I had no connection to that, so we had to search for our own subjects, then and for the next forty years. I think we both started with the street.2

Auch Wool selbst macht seine Faszination für die Stadt explizit. ‘I grew up in the inner city in Chicago but there’s something about New York that is different, more intense’, he [Wool; Anm. K.W.] recalls, when we meet at Dundee Contemporary Arts where he is hanging his new show. ‘Being on that street at night when I was 17, I had this unbelievably strong impression of the city. It had a lot to do with how it looked. It was very dark on the street, the streetlights were out, and I just thought this city was amazing. It was very exciting and a little wild.’3

Die Nähe zu einer städtischen Sensibilität, die durch Rauheit, Aggression, Krisenhaftigkeit – Glenn O’Brien beschreibt diese mit „fremd“, „beziehungslos“, „unruhig“, John Kelsey mit „kalt“, „fremd“, „abwesend“ oder „krankhaft“ –, aber auch Kampfgeist geprägt ist, ist ein wesentliches Merkmal der Arbeiten, welches es zu untersuchen gilt. Außer dieser Ebene des Ausdrucks beinhalten sowohl die Fotos als auch die Malereien nach Thomas Crow „an entire history of the local aesthetic, geographical, and commercial ecology that made them possible“4. Crow impliziert hier einen dokumentarischen Charakter der Bilder, da Wool Elemente des Straßendiskurses aufgreift und so transformiert, dass Inhalte aus ihrem ursprünglichen Kontext auch mittransportiert werden. Diese entsprechen nicht den gängigen Stadtansichten und widerstehen den „Gershwinesque chords of the Manhattan sublime“5, sondern bilden

1 Siehe hierzu u.a. Brinson, 2013, S. 35 ff.; Thomas Crow: STREETCRIESINNEWYORK. On the Painting of Christopher Wool, in: Christopher Wool 1998, S. 273; Diedrich Diederichsen: Here Is Something You Can’t Understand, in: Parkett, Nr. 33, 1992, S. 109 ff.; Marcus 1992, S. 95 f.; Hell 2012, S. 233 ff.; John Kelsey: Painting and its side effects, in: Christopher Wool, Ausst.-Kat. Musée d’Art Moderne de la Ville de Paris, 30.3.–19.8.2012, S. 18 f. 2 Brinson 2013, S. 36. 3 Moira Jeffrey: Visions of mean streets, in: The Herald Scotland, 4.4.2003 [http://www.heraldscotland.com/news/11898937.Visions_of_mean_streets_Christopher_Wool_fell_in_love_with_New_York_ at_a_young_age__and_his_new_exhibition_in_Dundee_reflects_how_his_work_is_rooted_in_these_ urban_textures__as_Moira_Jeffrey_explains,, abgerufen am 26.5.2015]. 4 Crow 1998, S. 273. 5 Crow (1998), S. 273.

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einen persönlicheren, näheren Blick auf die Stadt ab. Ganz offensichtlich wird der dokumentarische Anteil der Bilder in den Fotografien East Broadway Breakdown, die als „affective mapping“6 verstanden werden können. Die Identifikation mit der Stadt New York und ein Bewusstsein für ihre prägende Wirkung für das eigene künstlerische Schaffen spiegelte sich in den Arbeiten einer Vielzahl von Künstlern dieser Zeit.7 Wool entwickelte sein Werk im New York der 1970er- und 1980er-Jahre, als die Stadt durch gravierende Umbrüche geprägt war. Deindustrialisierung und wirtschaftlicher Niedergang waren seit den 1960er-Jahren fruchtbarer Boden für Kriminalität und Gewalt. Diese Atmosphäre spiegelt sich auch in den Arbeiten Wools.8 Gleichzeitig ließen günstige Mieten, viele verlassene Gebäude und „wastelands“ ein intensives subkulturelles Leben und eine blühende alternative Kunstszene entstehen, welche sich auch mit Hilfe politischer Förderung etablieren konnte.9 In diese Szene tauchte Wool mit Beginn seines Studiums an der New Yorker Studio School ab 1973 intensiv ein. Based in a loft converted from a former men’s shelter on Chatham Square at the southernmost reaches of the Bowery, Wool drifted toward a crowd that orbited the Mudd Club, Max’s Kansas City, and CBGB, and while more rapt observer rather than central player, he eventually formed close friendships with downtown figures such as James Nares, Glenn O’Brien, and Richard Hell.10

Die Auseinandersetzung mit der Wohnungskrise und der ökonomischen Umbruch­ situation der Stadt waren zentrale Themen für viele Künstler.11

6 Johanna Burton: New York, Beside Itself, in: Lynne Cooke und Douglas Crimp (Hrsg.): Mixed Use Manhattan. Photography and Related Practices, 1970 to the Present, Cambridge MA 2010, S. 189. 7 Siehe exemplarisch hierzu die Ausstellung: „Mixed Use Manhattan. Photography and Related Practices, 1970 to the Present“, 2010 im Museo Nacional Centro de Arte Reina Sofia. 8 „Emerging in the 1980s, amidst New York City’s surge in crime, Wool’s word series reflects the urban grit and the violence of the time.“ Skarstedt Gallery: Pressemitteilung zur Ausstellung „Murdered Out“ (Skarstedt Gallery New York, 12.9.–19.10.2013), veröffentlicht: o.D. [http://www.skarstedt. com/exhibitions/2013-09-12_murdered-out/, abgerufen am 26.5.2015]. 9 Lynn Cooke beschreibt die Situation der KünstlerInnen und den Einfluss stadtpolitischer Entscheidungen: „Of course, these three bodies of exceptional work were far from isolated responses to the deindustrialization and decline that had begun in New York City in the late 60s. As the Lower Manhattan cityscape and waterfront suffered increasing devastation, artists were drawn to its abandoned and decrepit sites as inexpensive places to live, to rent studio space, and to present their work.“ (Lynn Cooke: From Site to Non-Site. An Introduction to Mixed Use, Manhattan, in: Cooke/Crimp 2010, S. 21) 1971 wurde das „Multiple Dwelling Law“ verabschiedet, das es Künstlern in SoHo ermöglichte, Lofts als Wohnateliers zu nutzen und sich so vom Status als illegale Hausbesetzer zu befreien. „At this same moment, the heterogeneous but nonetheless fairly cohesive community of artists began to commandeer an array of outdoor sites – streets, rooftops, piers, vacant lots, community parks, and transit systems – in SoHo and farther afield, as desirable places to present their works.“ Cooke 2010, S. 35. 10 Brinson 2013, S. 37. 11 „One could argue in fact that this was the great subject for advanced art in that decade, as artists took the measure of their own position within the economic geography of the city. Honesty in this enterprise they seemed to require the declarative directness of deadpan photography and typerwrit-



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In Untitled, 199712, das im Folgenden analysiert wird, geht Wool von Musterrollen aus, „die Hauseigentümer gebrauchen, wenn sie mit billigen Mitteln eine Tapete imitieren und die Mängel ihrer schlecht unterhaltenen, hohen Profit einbringenden Mietwohnungen verdecken wollen“13, und konfrontiert diese mit einem gesprayten Rechteck und Punkten, die wir mit Graffitis assoziieren. Wool montiert hier Zeichen des Innenraums mit denen aus dem Außenraum. Dem Künstler, Publizisten und Kurator Fionn Meade zufolge zeigt sich die Ambivalenz zwischen städtischem Innen- und Außenraum sowohl in den Fotografien Wools als auch in seinen Malereien. Es sei zunächst die fotografische Serie East Broadway Breakdown (2002) gewesen, welche die Begegnungen auf der Straße, die Wool zuvor in seinen Word-Paintings aufgegriffen hatte, aufnahm und aktualisierte.14 Wie aus dem Erarbeiteten hervorgeht, ist diese Aussage insofern zu relativieren, als auch die Pattern-Paintings interpikturale Bezüge zum städtischen Raum New Yorks aufzeigen. Die offensichtlichste und vielfach zitierte Übernahme einer Begegnung auf der Straße ist die Anekdote zu Wools erstem Word-Painting mit den Worten „sex“ und „luv“ aus dem Jahr 1987. „One day he saw a new white truck violated by the spray-painted words ‘sex’ and ‘luv’. Mr. Wool made his own painting using those words and went on to make paintings with big, black stenciled letters.“15 Da die Fotografien und Malereien Wools in einem engen Zusammenhang stehen, einander ergänzen und bezüglich Wools Sicht auf den Stadtraum New Yorks aufschlussreich sind, folgt nun ein Exkurs zur Fotoserie East Broadway Breakdown. Aufgrund der dieser Studie zugrunde liegenden, die Malerei betreffenden Fragestellung, kann und soll im Folgenden keine fototheoretisch umfassende Analyse und Einordnung der Fotografien Wools vorgenommen werden. Diese steht noch aus und könnte, gerade im Hinblick auf das spätere Werk Wools, in dem er gedruckte Bilder abfotografiert, bearbeitet und wieder ausdruckt, von zentraler Bedeutung für das Gesamtwerk sein.16 Stattdessen werden zum besseren Verständnis der indexikalischen Visuali-

ten text or, with Matta-Clark, manoeuvring corners of the vast thing itself momentarily into arresting and memorable form.“ Crow 1998, S. 276. 12 Abb. siehe Ann Goldstein (Hrsg.): Christopher Wool, Ausst.-Kat. The Museum of Contemporary Art Los Angeles, (19.07.1998–18.10.1998) und Carnegie Museum of Art Pittsburgh, (21.11.1998–31.01.1999), S. 75. 13 Loock 2009, S. 33. 14 In der fotografischen Serie Absent without leave, die zwischen 1989 und 1993 während Aufent­ halten als Stipendiat in Rom und Berlin sowie auf Reisen durch die Türkei, Japan und andere Länder entstand, sind jedoch neben Ornamenten, Mustern und Strukturen auch schon viele Straßenbegegnungen, beispielsweise Abbildungen von Gebäudefassaden, enthalten. (Hell 2012, S. 23.) Insofern ist diese Aussage zu relativieren. 15 Ken Johnson: Art in Review. Christopher Wool, in: The New York Times, 17.3.2000 [http://www.nytimes.com/2000/03/17/arts/art-in-review-christopher-wool.html?pagewanted=1, abgerufen am 26.5.2015]. 16 Siehe z.B. Fabrice Hergotts Hinweis in seinem Katalogbeitrag „Mirror of no return“ im Ausstellungskatalog zu der von ihm kuratierten Ausstellung Wools im Musée d’Art Moderne, Paris 2012. „We

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tät17 der heterogenen, zeichenhaften Bildstrukturen und ihres Zusammenwirkens in den Malereien punktuell Parallelen zu eben diesen in der Fotoserie East Broadway Breakdown18 herausgearbeitet.

East Broadway Breakdown Der Künstler und Freund Richard Hell beschreibt den Entstehungsprozess dieser Fotoserie wie folgt: Die Fotografien East Broadway Breakdown entstanden im Zeitraum 1994 bis 1995 mit dem Gedanken, sie eines Tages in Buchform zu veröffentlichen. Dieses Vorhaben wurde jedoch erst im Jahr 2003 verwirklicht. Bei den 160 Bildern handelt es sich durchweg um Außenaufnahmen, die alle spätnachts fotografiert wurden. Nur wenige zeigen Menschen. Sie führen größtenteils in Slums und aufgegebene Fabrikareale der New Yorker Viertel Bowery und Chinatown, die der Künstler in jenen Tagen auf seinen Wegen zwischen dem Atelier am Ostrand des East Village, Ninth Street zwischen Avenue C und D, und seinem Loft am Chatham Square in Chinatown durchquerte.19

Anklänge an nächtliche Stadtdarstellungen wie von Weegee oder Daido Mariyama sind erkennbar. Die Spuren im urbanen Raum sind zum einen Überreste einer nachvollziehbaren menschlichen Aktivität und zeigen „eine Realität [...], die bisher unsichtbar war, nicht nur, weil kein Licht zu ihr vordrang, sondern auch, weil man sie nicht als beachtenswert empfand und schlicht übersah.“20 Ähnlich beschreibt der Fotograf und Filmemacher Larry Clark die Motive zwar als alltäglich, aber nicht wert, fotografiert zu werden, „as things that you see all the time, but you’ve never seen photographed“21. Das Fotografieren mit Blitzlicht in der Nacht hat dabei den besonderen Effekt, dass es das Bild weniger räumlich und damit weniger „begehbar“ wirken lässt, sondern es auf ein Nebeneinander verschiedener Helligkeitswerte reduziert, welche

should not rule out the possibility that Wool’s entire oeuvre is an attempt to dismantle this mechanism; to dismantle, rejing, and turn inside out the entire relationship between painting and photography so as to rediscover an entirely fictional object: photography before painting – the prehistoric origin of all representation.“ Hergott 2012, S. 25. 17 Zum Zusammenhang zwischen repräsentierender und indexikalischer Visualität mit den Normen der Horizontalität und Vertikalität bei Krauss siehe Spies 2007, S. 49. 18 Die Bedeutsamkeit der Serie für Wool zeigt sich auch in dem großen Raum, den diese in der Retrospektive im Solomon R. Guggenheim Museum, New York, 25.10.2013–22.01.2014, einnahm. 19 Hell 2012, S. 233. 20 Ebd. 21 MoMA PS1 (Hrsg.): Text zur Ausstellung „William Gedney–Christopher Wool: Into the Night“ (P.S. 1 Contemporary Art Center New York, 27.6.–3.10.2004), veröffentlicht: o.D. [http://momaps1.org/exhibitions/view/76, abgerufen am 26.5.2015].



East Broadway Breakdown 

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Abb. 20: Christopher Wool: Fotografie aus East Broadway Breakdown, Berlin 2003, o.S.

den Zeichencharakter einzelner Motive verstärken.22 Diese Wirkung des Blitzlichts beschreibt auch Hell. Der Faktor, der die Bilder von East Broadway Breakdown überhaupt erst sichtbar macht, erzeugt zugleich deren unverwechselbaren visuellen Eindruck: das Blitzlicht. Es macht alle Dinge weiß, die innerhalb seiner Reichweite den Raum durchkreuzen, und steigert den Kontrast derart, dass das Bild zum Muster verflacht.23

Das Nebeneinander verschiedener Graffitis, abbröckelnder Mauer- und Putzschichten, Risse und immer wieder auftretender Flecken von Flüssigkeiten aller Arten ist somit einerseits Zeugnis eines strukturellen Sehens und andererseits eine Dokumentation von Spuren eines spezifisch urbanen Lebens (Abb. 20). Auf der vorliegenden Fotografie sind ungefähr zwölf zeichenhafte Spuren, wie unterschiedliche Graffitis, Schilder, Flecken etc. zu erkennen. Im Hinblick auf das

22 Die Fotos wurden zunächst im Standardformat 10,2 × 15,2 cm in einem gewöhnlichen Fotolabor abgezogen und nach der Auswahl aus ca. 2.500 Aufnahmen eingescannt und nachbearbeitet. Siehe Hell 2012, S. 233. 23 Ebd.

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zusammenhanglose Nebeneinander urbaner Zeichen sind die Fotografien Wools vergleichbar mit denen von Zoe Leonard. Die Analyse Diedrich Diederichsens kann hier auch für Wool gelten: Leonard suggests that we can read such writings not just as singular events or intertextual polylogues, but as indexes broken out of invisible contexts; at the same time, she documents how on the same wall there is plenty of unrelated context, made out of symptoms from other narratives.24

In diesem Punkt ist eine entschiedene Parallele zu Wools Malereien zu sehen: Das komplexe Ineinander-verflochten-Sein verschiedener Zeichen- und Realitätsebenen entwickelt in seiner Vielschichtigkeit eine eigene Form der Präsenz. Diese wird im Folgenden auch im Hinblick auf die Malerei näher untersucht. Die Zeichen zeigen Entäußerungen25, Entblößungen, in denen sich die (Affekt-)Kontrolle, die das urbane Leben prägt, auflöst. Die dokumentierten Schuttmassen in der nächtlichen Stadt, mit Rollgittern verschlossene Ladenfronten, Polizeibarrikaden und Rollen aus Maschendrahtzaun, Flecken und ausgelaufene Flüssigkeiten unbekannten Ursprungs machen nach Meade die Kontrollcodes der Städte sichtbar, nachdem der größte Teil der menschlichen Aktivität nach innen verlegt worden ist.26 So scheinen beispielsweise auch die immer wieder auf dem Boden auftauchenden Flecken, Lachen und Pfützen von Urin, Öl, Benzin, Wasser, Blut, absichtlich oder unabsichtlich ausgelaufener Farbe, ausgespuckter und zertretener Kaugummis, ausgelaufener Getränke wie Bier oder Kaffee etc., anonyme Spuren von Auflösungs- und Verfallsprozessen oder Gewaltakten zu sein. Achim Hochdörfer, Direktor des Museum Brandhorst in München, beschreibt die Formen in der Fotoserie als aufgelöst oder verfallen: In particular, his shots of New York suggest analogies between his painterly gestures and the city’s visual noise, its characteristically dissolute forms and textures: puddles, graffiti, oil stains, scattered garbage, and broken windows.27

24 Diedrich Diederichsen: Street art as threshold phenomenon, in: Jeffrey Deitch und Nikki Columbus (Hrsg.): Art in the streets, New York 2011, S. 287. 25 Entäußerung im Sinne einer Selbstöffnung von innen nach außen. 26 Fionn Meade: Syntax für kleinere Pannen, in Parkett, Nr. 83, 2008, S. 129 f. 27 Achim Hochdörfer: Christopher Wool, in: Artforum, März 2014 [http://artforum.com/inprint/ issue=201403&id=45300, abgerufen am 6.3.2014].



East Broadway Breakdown 

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Formlosigkeit Das Motiv des Flecks oder Spritzers wird hier – auch im Hinblick auf die Malereien, in denen Flecken und Spritzer regelmäßig auftauchen – unter den Aspekten des „niedrigen Materialismus“ und der Prozessorientierung betrachtet: Die Darstellung „niedriger“ Materialien ist in Wools Fotografien zentral. Neben den genannten Flüssigkeiten, Exkrementen und Flecken, Graffitis und erodierenden Mauern finden sich Müll, Sperrmüll, Mülleimer, Schilder, Ampeln, Hydranten, aufgebrochene oder alte Autos, Gitter, Zäune, Bauzäune, u.Ä. – alltägliche Reglementierungsobjekte zur Organisation des urbanen Lebens, welche kaum in die bewusste Wahrnehmung vordringen. Bezüge zum Materialverständnis Georges Batailles, dessen Philosophie in den 1990er-Jahren insbesondere durch Krauss und Bois in der US-amerikanischen Kunsttheorie stark rezipiert wird, drängen sich auf. „Informe“ wird bei Bataille als Gegenbegriff zu einem dominanten System der Repräsentation, der Wiedererkennbarkeit oder Ähnlichkeit benutzt, das jeder Form von Klassifikation zugrunde liegt. Nach Bataille entspringe der ursprüngliche Impuls des Kindes, Markierungen zu hinterlassen – und damit der Anfang der Kunst –, keinen konstruktiven Impulsen, sondern komme „from the joy of destruction, the pleasure of dirtying“28. „Informe“ ist also nicht die Beschreibung einer rein äußerlichen Form von Unförmigkeit oder Formlosigkeit, sondern „er stürzt etwas um: und zwar eine These, die ihm zufolge ‚die ganze Philosophie‘ in die Pflicht nimmt, eine These, die ‚im Allgemeinen erfordert, dass jedes Ding seine Form hat‘“29. Bataille verwirft die Idee einer essenziellen oder substanziellen Form zugunsten einer Sichtweise, wonach die Form als permanenter Zufall gesehen wird. Sie ist das Ergebnis eines im Material verwurzelten Prozesses, welcher gegenüber dem Endergebnis weit bedeutsamer ist. Er negiert also nicht die Formen, sondern führt „transgressive[] Ähnlichkeiten ins Feld“30. „Dagegen läuft die Annahme, dass dem Universum nichts ähnelt und es nur formlos ist, auf die Aussage hinaus, dass das Universum so etwas wie eine Spinne oder wie Spucke sei.“31 Das minderwertige, „niedrige“ Material gibt die Möglichkeit, Heterologien zu zeigen, wie beispielsweise die Terrakottaskulpturen Lucio Fontanas oder die Malereien Jean Dubuffets. Unter Heterogenität versteht Bataille ‘everything resulting from unproductive expenditure what is contrary to principles of classical utility [...] everything rejected by homogenous society as waste or as superiour transcendent

28 Foster/Krauss/Bois/Buchloh 2004, S. 245. 29 Georges Didi-Huberman: Formlose Ähnlichkeit oder die Fröhliche Wissenschaft des Visuellen nach Georges Bataille, München 2010, S. 33. 30 Ebd., S. 34. 31 Georges Bataille: Informe, in: Documents, Nr. 7, 1929, S. 382. (Deutsch: Formlos, in: Kritisches Wörterbuch, a.a.O., S. 45).

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value.’ This includes ‚the waste products of the human body and certain analogous matter (trash, vermin, etc.); the parts of the body; persons, words or acts having a suggestive erotic value; the various unconscious processes such as dreams or neuroses; the numerous elements or social forms that homogenous society is powerless to assimilate‘.32

Bataille orientiert sich mit seinem Verständnis von „base material“ am Gnostizismus und setzt diese Geisteshaltung in Opposition zum Hellenismus: In practice, it is possible to see as a leitmotiv of Gnosticism the conception of matter as an active principle having its own eternal autonomous existence as darkness [...] and as evil [...]. This conception was perfectly incompatible with the very principle of the profoundly monistic Hellenistic spirit, whose dominant tendency saw matter and evil as degradations of superiour principles.33

Seine Vorstellung von Materialität richtet sich gegen den aristotelischen Dualismus von Form und Material und bezieht sich auf gnostizistische Vorstellungen des Materials „as an active principle, he defines base matter as ‘external and foreign to ideal human aspirations’“34. Die Sensibilität für das Formlose bei Wool zeigt sich neben dem Fokus auf „niedrige“, nicht intentional geformte, „verfehmte“ Materialien auch in dem beschriebenen Aufbrechen der Raumkoordinaten von Horizontalität und Vertikalität. Das impliziert Bataille, wenn er sagt, dass „the formless will ‘knock form off its pedestral and bring it down in the world’“35. Auch der Kunsthistoriker Mark Godfrey stellt bezüglich der großen Siebdrucke, den „blotches“, die Wool 2011 auf der Biennale in Venedig zeigte, den Bezug zum Bataille’schen Begriff des „Informe“ her. Their way of evoking the city prompts different analogies: They are closer to puddles, rubbedin stains, or chewing gum ground into tarmac. [...] Could Wool also work with this idea of the informe, and could his processes also be said to deteriorate and declassify?36

Godfrey stellt also die Frage, inwiefern die von Wool initiierten und dargestellten (Form-) Prozesse dazu dienten, bekannte Klassifikationen in Frage zu stellen. Diese Frage stellt sich auch hinsichtlich der Fotografien. Die Gruppe der „Ethnographen“37

32 Jon-Ove Steihaug: Abject/Infome/Informe/Trauma, Discourses of the Body in the American Art of the Nineties, Oslo 1998, S. 22. 33 Georges Bataille: Base materialism and Gnosticism, in: Ders.: Visions of Excess. Selected writings, 1927–1939, Minneapolis 1994, S. 47. 34 Georges Bataille: Base Materialism and Gnosticism, in: Steihaug 1998, S. 22. 35 Foster/Krauss/Bois/Buchloh 2004, S. 246 f. 36 Mark Godfrey: Christopher Wool. Stain Resistance, in: Deitch 2012, S. 55 f. 37 „[...] Bataille’s group was itself an alternative form of surrealism, which the historian James Clifford has called ‘ethnographic surrealism’.“ Foster/Krauss/Bois/Buchloh 2004, S. 246.



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der surrealistischen Kunstzeitschrift Documents, zu der neben Bataille auch André Masson, Robert Desnos und Jacques-André Boiffard gehörten, entwickelte eine alternative Form des Surrealismus, in der alles an die Oberfläche kommen dürfe. Their investigations, scientific in nature, should operate according to the law of no exclusions; they should concern everything in a culture from its highest to its lowest expressions; everything – ‘even the most formless’ – should enter in the world of ethnographic classification.38

Die urbanen Motive in East Broadway Breakdown können als das Zurückgewiesene, Bedeutungslose, Übriggebliebene, als die Reste, mit denen eine Gesellschaft nichts anzufangen weiß, verstanden werden. Wool beschreibt sie als „photographs of nothing“39, also als das, was aufgrund seiner Banalität übersehen wird. Die Spuren menschlichen Handelns und Gestaltens sind in East Broadway Breakdown oftmals sichtbare Reste nicht intentionaler Handlungen oder Vorgänge: Missgeschicke, wie der Eimer Farbe, der auf die Straße kippt; Unachtsamkeiten, wie der weggeworfene Kaffeebecher; Zufälle, wie die Plastikfolie, die über die Straße weht; Unfälle, wie die mit Sand überfegte Ölspur auf der Straße; Schäden, wie das auf die Straße ausgelaufene Öl; Missverständnisse oder ungewollte Doppeldeutigkeiten, wie das im ersten Stock eines Hauses angebrachte Schild mit der Aufschrift: „We’re here in the basement“; Erosionsprozesse wie das Abbröckeln und Verfallen von Mauern; der Einfluss der Tierwelt, wie Exkremente von Hunden etc. Das Material zeigt ein „Eigenleben“ im Bataille’schen Sinn, unabhängig von der bewussten Steuerung und Beherrschung durch den Menschen. Die hier implizite Vorstellung einer Belebung oder Beseelung von Material, d.h. in diesem Fall der Stadt, beschreibt auch Richard Hell: Wir haben es mit einer Art Umwelt-Pornografie zu tun, oder mit einem vorübergehenden Voyeurismus, der die wehrlose Stadtlandschaft anstarrt, als hätte er sie nackt (siehe Weegees Naked City) und dazu bewusst ertappt.40

In diesem Sinn löst Wool in den Bildern die Zentrierung auf den Menschen und dessen hierarchischen Blick auf.41 Gezeigt werden aber weder inszenierte, bewusst abstoßende, Ekel erzeugende Absonderungen des menschlichen Körpers oder Körperteile, wie beispielsweise in der Abject Art, noch verletzte, tote, verstümmelte oder anderweitig angegriffene

38 Foster/Krauss/Bois/Buchloh 2004, S. 246. 39 Jeffrey 2003 [,abgerufen am 29.5.2015]. 40 Hell 2012, S. 233. 41 Hell befindet sich hier in einer langen Tradition, in der die Stadt als „lebend“ beschrieben wird. „Cities, of course, have long been theorized as ‘living’ things – organic, responsive, transitional, both tied to and constitutive of their various strata of occupants.“ Burton 2010, S. 188.

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 Weltbezug: Urbanität

Menschen, wie auf den Fotografien von Weegee, sondern Momente, in denen besagte Vorgänge oder Prozesse evoziert werden, die insbesondere durch Abwesenheit und Kontrollverlust das Unheimliche, Aggressive im Alltäglichen zeigen, welches quasi erscheint. Dabei zeigt Wool oftmals Spuren des menschlichen Körpers, welcher in seiner Abwesenheit und seinem Angegriffensein präsent wird. Auch in dieser indirekten Präsenz des menschlichen Körpers ist eine deutliche Parallele zu Wools Malereien zu sehen. Richard Hell spricht von einem „Glaube[n; K.W.] an den Wert einer physio-psychologischen Methode der Welterkenntnis“42, den Wool in die Praxis umsetze. Die „seherische Poesie des Peripheren, die Poesie des peripheren Sehens“43 stellt sich als loses und heterogenes Gefüge von Zeichen dar, die so zusammengefügt werden, dass durch die verunklärenden und zufällig wirkenden Überlagerungen etwas anderes entsteht: Seien es die beschriebenen Sekundärstrukturen in den Malereien oder das flächige Neben- und Übereinander urbaner Spuren oder Zeichen, welche bei zunehmender Betrachtung quasi aus der Dunkelheit heraustreten. In dieser prozessorientierten Sicht auf das Material ist Wool mit Sicherheit auch geprägt durch den Künstler Dieter Roth.44 Während Roths Umgang

42 Hell 2012, S. 233. 43 Ebd. 44 Christopher Wool beschrieb mehrfach die Bedeutung Dieter Roths für seine künstlerische Entwicklung. Für die Ausstellung „Oranges and Sardines. Conversation on abstract painting“ im Hammer Museum, Los Angeles, 2009, in der sechs abstrakte Maler für sie wichtige Künstler bzw. Arbeiten zusammenstellten, wählte er beispielsweise acht Arbeiten Roths aus. Die Arbeit „Solo-Szenen“, die Roth 1999 auf der Biennale in Venedig zeigte, nennt Wool die zweitwichtigste Ausstellung, die er in den Jahren 1990–2000 gesehen hat. Majewski 2000, S. 26–40. Des Weiteren war Roth sein erster Käufer: „1981 Dieter Roth besucht Wools Atelier und erwirbt eine Fotokopie erster Verkauf“, in: Christopher Wool Leben und Werk, in: Christopher Wool 2012, S. 404. Der Künstler Dieter Roth ist für Christopher Wool zunächst in biografischer Hinsicht von großer Bedeutung, da sein Vater, Dr. Ira G. Wool, seit den frühen 1970er-Jahren mit Roth befreundet war und als sein Mentor und größter Sammler in den USA gilt. [Siehe RNA Society (Hrsg.): [http://rnajournal.cshlp.org/content/19/2/2.full; abgerufen am 26.5.2015]. Roth besuchte Ira G. Wool regelmäßig und fertigte ab 1976 über Jahre hinweg ein „transportierbares ‚Wandbild‘“ (Theodora Vischer und Bernadette Walter: Roth Zeit. Dieter Roth Retrospektive, Zürich 2003, S. 221) in der Wohnung der Familie an, welches 1984 im Museum of Contemporary Art in Chicago ausgestellt wurde. (Vischer/Walter 2003, S. 94.) Obwohl Christopher Wool in einer Podiumsdiskussion im Hammer Museum in Los Angeles den Hinweis des Kurators Gary Garrels auf die Bedeutung der Materialität in seinen Bildern – auch im Zusammenhang mit den Arbeiten Dieter Roths – zurückweist und stattdessen seine Fokussierung auf die Bildhaftigkeit („picture“) in den Mittelpunkt stellt [http://hammer.ucla.edu/watchlisten/show_id/32216; abgerufen am 26.5.2015], scheinen neben vielschichtigen Parallelen zum Werk Roths (z.B. der Bezug zur konkreten Kunst, Künstlerbücher, die Arbeit mit Schrift und Bild (siehe auch Meade 2003, S.  135) oder das Herstellen und Benutzen von Gummistempeln [MoMA (Hrsg.): Interview between Dieter Roth and Dr. Ira G. Wool (with Conrad Gleber), Chicago, 1978, veröffentlicht 2013 [http://www.moma.org/interactives/exhibitions/2013/ dieter_roth/interview-with-the-artist/; abgerufen am 20.3.2015]) die Beobachtungen von wertlosen, minderwertigen Materialien ein wesentlicher Baustein des künstlerischen Vorgehens zu sein. Wool benutzt die vielfältigen Materialien nicht direkt, wie Roth, sondern dokumentiert sie in spezifischen



East Broadway Breakdown 

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mit „niedrigem“ Material jedoch direkt ist, wird die materielle Ebene bei Wool seiner haptischen Präsenz enthoben und in die Ebene der Visualität transformiert. Das visuelle Erscheinen wird buchstäblich durch das nächtliche Fotografieren mit dem Blitzlicht. Dieses Erscheinen von Bedeutungsvollem steht in einem dialektischen Verhältnis zur offensichtlichen Banalität der Motive, d.h. das Banale verweist in einem kurzen, unvorhersehbaren Prozess des Erscheinens (Blitzlicht) auf Bedeutungsvolles. As with much of Wool’s work, they [die Fotos; Anm. K.W.] tread an odd line between a stark emptiness and full-blown romance of the city at night. ‘The photographs do embrace that aesthetic’, he explains. ‘But then I try always to subvert it, by taking a picture of what you would least expect. Maybe it’s a photograph of nothing instead of something very loaded, but it gives you that same kind of romantic view. I do the same thing in my paintings’.45

Aus diesem Erscheinen, in dem auch eine starke Zurückgenommenheit des Künstlers deutlich wird – Wool fotografiert in vielen Fällen ohne durch den Sucher zu schauen46  –, können wir parallel zu den Erkenntnissen aus dem Unterkapitel von „Horizontalität und Vertikalität“ zu Walter Benjamin eine Mystifizierung der Stadterfahrung ableiten, in der die menschliche Dominanz und Kontrolle im urbanen Kontext relativiert werden. Der Prozess des Erscheinens im Bild, resultierend aus einer heterogenen Ansammlung banaler, alltäglicher Zeichen, steht im Zentrum der Bilderfahrung bei Christopher Wool. Er vereint Zeichen und Bild und erweitert den Bildbegriff des „Here and Now“. So formuliert der Autor und Musiker Richard Hell, ein enger Freund Wools, als dessen fiktives Ich in dem Text „What I would say if I were Christopher Wool“: Ich will nicht, dass meine Arbeiten sich verschwitzt und gequält anfühlen. Ich wäre gern ein Schnulzensänger, scheinbar unangestrengt, glatt. Das heißt nicht, dass es wirklich leicht ist. Und es bedeutet nicht, dass man kein Rückgrat oder keinerlei Aggressionen hat. Wie Frank

Situationen fotografisch und transformiert Verfalls-, Auflösungs- oder Deformationsprozesse in seinen Malereien. Zur Beobachtung von Resten, Weggeworfenem und Übersehenem hielt auch Dieter Roth seine Studierenden an. So war es eine Aufgabe für die Studierenden an der Rhode School of Design, an der Dieter Roth 1965 als Lehrer unterrichtete, „Texte über weggeworfene Fundstücke wie Glasscherben, Nägel, Schrauben und Ähnliches [zu; eigene Ergänzung; K.W.] schreiben.“ (Vischer/ Walter 2003, S. 94.) Die Nähe zu den Motiven Wools ist offensichtlich. Sein erstes Künstlerbuch aus dem Jahr 1984 trägt den Titel „93 Drawings Of Beer On The Wall“. Nach Dirk Dobke und Bernadette Walter ging es Roth darum, seinen amerikanischen Studenten zu vermitteln, „dass es neben der perfekten Hochglanzwelt mit ihren Konsumgütern und beeindruckenden technischen Apparaten auch Unbedeutendes, Abfall und scheinbar Belangloses zu entdecken gibt.“ (Vischer/Walter 2003, S. 94.) Die Beschäftigung mit dem niedrigen Material geht jedoch über eine konsum- und technikkritische Haltung hinaus. 45 Jeffrey 2003 [abgerufen am 8.6.2015]. 46 Hell 2012, S. 233.

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 Weltbezug: Urbanität

Sinatra. Oder Miles Davis. Ich will, dass meine Dinge einfach in Erscheinung treten. Nicht gemalt werden. Einfach in Erscheinung treten.47

Wools Freund Jim Lewis beschreibt diesen Prozess wie folgt: „When you multiply missunderstandig ... meaning emerges.“48 Das in „East Broadway Breakdown“ thematisierte Ineinandergreifen von Innen und Außen bzw. Innen-Außen-Verlagerungen trete, so Fionn Meade, auch in Wools gemalten Bildern auf und stehe im Zusammenhang mit seiner Abwendung von der Beschäftigung mit ausradierten Abstraktionen von Innenräumen – in den überlappenden und den Graffiti-Leinwänden der mittleren bis späten 1990er-Jahre, bei denen Applikationen bestehender Tapeten und andere typische Innendekorationsmaterialien zum Einsatz kamen – und seinem neu erwachenden Interesse für Formen des urbanen Außenraums.49 Untitled, 1997, liegen die bereits beschriebenen Vergrößerungen von benutzten Tapetenmustern zugrunde, die konfrontiert werden mit an Graffiti angelehnten gesprayten Formen, die dem urbanen Außenraum entstammen.

Annäherung an Untitled, 1997 Das Bild Untitled (Abb. 21), 1997, irritiert zunächst hinsichtlich der Frage seiner Bildgrenze. Aufgrund der „Rahmung“ durch ein mit schwarzer Farbe gespraytes Rechteck wird der Blick auf die darin befindlichen Motive fokussiert. Das Rechteck, welches aufgrund der Linienstärke und des starken Schwarz-Weiß-Kontrastes als eine Art visueller Rahmen fungiert, ist jedoch nicht deckungsgleich mit dem Bildformat, sondern kleiner und nach rechts oben versetzt. Durch seine optische Dominanz scheint es jedoch das Bildformat auf den ersten Blick stärker zu definieren als der Bildträger selbst. So können wir zunächst zwei Bildebenen ausmachen: die materielle Bildebene des Bildträgers und den gesprayten Rahmen. Beide stehen in einer offensichtlichen Nicht-Deckungsgleichheit zueinander. Dazwischen befinden sich weitere Bildebenen, die schichtenartig aufgebaut sind: Wir können vier aus Tapetenmustern angeeignete Pattern, welche vergrößert und per Siebdruckverfahren gedruckt wurden, unterscheiden: Die Kombination einer Kreuzform, bestehend aus Ovalen und rautenartigen Formen mit kreisförmig angeordneten Pünktchen50, leicht geschwungene rasterartige

47 Richard Hell: Whitewall, Nr. 3, Herbst 2006, S. 91, übersetzt in: Parkett, Nr. 83, 2008, S. 148. 48 Richard Prince: WOOL.WLOO.OLOW.OOWL.LOWO.OWOL.OOLW.LOOW, in: Christopher Wool 2013, S. 237. 49 Meade 2008, S. 129 f. 50 Abb. z.B. in: Ann Goldstein (Hrsg.): Christopher Wool, Ausst.-Kat. The Museum of Contemporary Art Los Angeles, (19.07.1998–18.10.1998) und Carnegie Museum of Art Pittsburgh, (21.11.1998– 31.01.1999), S. 33, S. 55, S. 178.



Annäherung an Untitled, 1997 

Abb. 21: Christopher Wool: Untitled, 1997, Emailfarbe auf Aluminium, 274,32 × 182,88 cm

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Linien, die sich teilweise durchkreuzen und so rechteckige Formen erzeugen, die z.T. schraffiert sind, einfache und doppelte Kreuzformen, die diagonal angeordnet sind51 und eine dynamische Anordnung von Punkten und Kreisen (siehe Groove II). Diese wurden im Siebdruckverfahren auf eine Aluminiumplatte gedruckt, wobei die Muster nicht in einem All-over-Prinzip über das Format gelegt wurden: Im oberen Teil bleibt ein schmalerer und unten ein breiterer weißer Streifen stehen. Die Siebdruckmuster sind Vergrößerungen von Motiven aus den Roller-Paintings.52 Die unterste Schicht der zuerst gedruckten Muster wurde komplett mit einer gesprayten, lasierenden, weißen Farbschicht überzogen. Auf dieser liegen noch einmal versetzt die gleichen Muster, die an dekorative Formen aus den 1950er-Jahren erinnern. Auch diese wurden im Siebdruckverfahren gedruckt, wobei die Ränder der Siebdruckplatten insbesondere am oberen und unteren Rand als brüchige Linien stehen bleiben. Auf das rasterartig verteilte Muster wurden wiederum weiße Flecken gesprayt. Diese treten ausschließlich innerhalb des gesprayten Rechtecks auf und sind auch hier tendenziell mittig angeordnet. Sie legen durch die Erhöhung der Kontraste und die Störungen im Muster, die sie erzeugen, neben der Verdichtung der Formen

51 Abb. z.B. in: Ann Goldstein (Hrsg.): Christopher Wool, Ausst.-Kat. The Museum of Contemporary Art Los Angeles, (19.07.1998–18.10.1998) und Carnegie Museum of Art Pittsburgh, (21.11.1998– 31.01.1999), S. 72, S. 93. 52 „The silkscreen patterns of these works are drawn from blow-ups of the earlier roller patterns.“ Ann Goldstein (Hrsg.): Christopher Wool, Ausst.-Kat. The Museum of Contemporary Art Los Angeles, (19.07.1998–18.10.1998) und Carnegie Museum of Art Pittsburgh, (21.11.1998–31.01.1999), S. 262.



Annäherung an Untitled, 1997 

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Abb. 22–26: Strukturanalysen zu Abb. 21

einen Fokus auf das Zentrum des Bildes, welcher mit der sequenziellen Anordnung der Pattern kontrastiert. Die Formen, die durch die weiße Lasur schimmern, bewegen sich optisch auf der Ebene der „zweiten“ Schicht, d.h. sie treten aus der obersten Bildebene zurück und gehen eine Verbindung mit den Formen ein, die unter der ersten Lasur durchschimmern. Das so aufgebaute Spannungsverhältnis zwischen der Materialität der Farbe und ihrer optischen Wirkung, entstanden durch einen Akt der „Auslöschung“, wird verstärkt durch „Farbnasen“, d.h. durch Linien, die durch Herunterlaufen der Farbe aus den übersprayten Flecken entstehen. Da diese wiederum über die schwarzen Formen fließen, wird offensichtlich, dass die weiße Farbe später aufgetragen wurde, obwohl sie an der Stelle der gesprayten Flecken optisch weiter hinten zu stehen scheint. Wool enttarnt hier die Täuschungsanfälligkeit der reinen opticality und setzt die Materialität der Farbe in Widerspruch zu ihrer rein optischen Wirkung. Dabei wird das Zentrum des Bildes durch Verdichtung der Pattern, zunehmende Störungen, die Regelmäßigkeit des Musters und Auflösung der Flächigkeit betont. Ein asynchrones Element zu der zentralen Ausrichtung des Bildes – die Bilder Wools zeigen wie in „Exkurs Musik: Groove“ beschrieben, Parallelen zur Mehrstimmigkeit von Musikstücken auf – ist die weniger offensichtliche sequenzielle Rhythmisierung der Bildfläche in der Vertikalen durch die Verteilung der einzelnen Formen und Motive der Pattern. Die Siebe mit den jeweiligen, in sich regelmäßigen Pattern sind als Abfolge über die Fläche verteilt (Abb. 22–26). Direkt an die linke Bildkante anschließend wird das Pattern mit den zusammengesetzten Kreuzformen und den „Punktblumen“ sichtbar. Sowohl oben und unten als auch rechts bleibt ein breiter weißer Rand stehen (siehe Abb. 22). Nicht ganz an den linken Bildrand anschließend und ein Stück weiter nach oben versetzt sehen wir die Ebene mit den gewellten Rasterformen (Abb. 23). Das Pattern der kleineren Kreuzformen bildet im rechten Bilddrittel einen vertikalen Streifen (Abb. 24). An die

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 Weltbezug: Urbanität

rechte Bildkante anschließend, jedoch ca. ein Viertel von der linken Bildkante entfernt abschließend sowie oben und unten die anderen Ebenen überlappend, aber nicht ganz bis zum oberen und unteren Bildrand durchlaufend, sehen wir ein viertes Pattern mit Punkten und Kreisen (Abb. 25). Die Pattern sind am rechten und linken Bildrand zu identifizieren, in der Mitte werden sie durch die Überlagerungen zu einem Amalgam, in welchem die einzelnen Bildelemente nicht mehr unabhängig voneinander betrachtet werden können. Das Bild wird aus semitransparenten Schichten aufgebaut, die übereinander liegen. Durch die Schichtungen entsteht eine spezifische Räumlichkeit. Diese öffnet sich jedoch nicht im Sinne eines illusionistischen Raums nach hinten, sondern entwickelt sich, ausgehend von der undurchdringlichen Ebene des Aluminiumgrundes, nach vorne. Das Zusammenwirken dieser Bildebenen und gegenläufigen Rhythmisierungen der Bildfläche führt zu einem ambivalente Erleben von Oberfläche . Wirkt das Bild an den Rändern ausschließlich flächig, entsteht zur Mitte durch die beschriebene Überlappung verschiedener Bildebenen eine Öffnung und mehrdeutige Raumwirkung, wobei eine Bildebene den Blick auf eine dahinterliegende zuzulassen oder zu verschleiern scheint. Unterstützend wirkt hier auch die unterschiedliche räumliche Wirkung der Schwarz-Weiß-Anteile. Die mittlere Partie, die mehr SchwarzAnteile und eine Vielzahl von unterschiedlichen Formen enthält, tritt optisch nach vorne. Die so entstehende Ambivalenz lässt sich jedoch nicht auflösen, sondern verbleibt in einem Zustand des Sowohl-als-auch. Dieser Verweis eines Bildes auf ein anderes ist ein Merkmal, das das Werk Wools grundsätzlich prägt. Wie in den Kapiteln „Roller-Paintings“ und „Bildstrukturen und Minimalismus“ exemplarisch dargelegt, sind hierbei die Auseinandersetzung mit zentralen Paradigmen des US-amerikanischen Modernismus und der Minimal Art sowie die damit verbundene Absage an eine ideologisierende Einengung und Vereinnahmung der Malerei von zentraler Bedeutung. Aufgrund dieses Bezugs zu elementaren Seherfahrungen wählt Wool Ornamente, die elementaren Grundformen ähnlich sind, die wenig historisierend wirken und kein Material imitieren. Die Einführung der Ornamente aus dem Bereich der Innenraumdekoration und deren Transformationen im Bild reichen jedoch über ausschließlich ästhetische Fragestellungen hinaus.

Innen: Ornament und Tapetenmuster Die Auseinandersetzung mit dem Dekorativen und damit auch mit dem Ornamentalen prägt die abstrakte Malerei seit ihrem Entstehen. Sei es in Form einer direkten Auseinandersetzung mit dem Dekorativen (Matisse) oder von Abgrenzung (Klee, Mondrian, aber auch Eva Hesse u.a.). Stark verkürzt kann man in dem hier besprochenen Zeitraum von einem Wandel in der Bewertung des Dekorativen, ausgehend von einer Ablehnung desselben durch die modernen und modernistischen Maler hin



Innen: Ornament und Tapetenmuster 

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zu einer reflexiven und selbstreflexiven Haltung bezüglich des Stellenwerts des Ornaments in der (abstrakten) Malerei (Stella, Taaffe, Wool u.a.), sprechen.53 In den 1980er-Jahren stand die Diskussion um das Ornamentale in einem spezifischen Kontext: Im Rahmen einer selbstreflexiven Auseinandersetzung mit der Moderne und mit der dort postulierten Abgrenzung gegenüber dem Dekorativen und dem Ornament war es nicht nur für Christopher Wool ein geeignetes Bildmedium. Nach Markus Brüderlin ist das Ornament ein Schlüsselbegriff für das Verständnis der Abstraktion der achtziger und neunziger Jahre. Denken wir an die Malerei [...] eines [...] Christopher Wool, oder erinnern wir uns an Frank Stellas Wandlung von den Black Paintings zu den opulenten, rokokohaften Metallreliefs, ebenso an Sol LeWitts Weg von der Askese der kaum sichtbaren Liniennetze zum dekorativen Reichtum der farbigen Wandmalereien.54

Er betont die Rückwärtsgewandtheit in der Auseinandersetzung der abstrakten Malerei insbesondere mit der Moderne im Hinblick auf ein tieferes Verständnis der Gegenwart. Ausflüge in die Kunstgeschichte und die Bestände der Moderne oder, um mit Adornos Worten zu sprechen, ‚die Versenkung in die geschichtliche Dimension‘ haben auch die Aufgabe prospektiv aufzudecken, ‚was einst ungelöst blieb‘.55

Mangel an künstlerischem Wert Die Kritik an der Ideologisierung der Abstraktion und die Aufdeckung zentraler Widersprüche in den u.a. von Clement Greenberg geprägten ästhetischen Hierarchisierungen und Verabsolutierungen des Modernismus durch das Benutzen banaler Tapetenmuster wurden bereits dargelegt. Für Greenberg war die Tapete Inbegriff eines Mangels an künstlerischem Wert und wurde immer wieder als explizites Gegenbeispiel zu dem, was er unter Kunst verstand, benutzt.56 Die Tapete stand exemplarisch

53 Siehe hierzu u.a. Markus Brüderlin: Ornament und Abstraktion. Kunst der Kulturen, Moderne und Gegenwart im Dialog, Basel 2001. 54 Brüderlin 1993, S.101. 55 Ebd., S. 101 f. 56 Siehe u.a. Clement Greenberg: Die Krise des Staffeleibildes (1948), in: Ders. 2009; Clement Greenberg: Review of Exhibitions of Worden Day, Carl Holty, and Jackson Pollock, 1948, in: Ders.: The Collected Essays and Criticism, Bd. 2, S. 201. Die Diskreditierung von abstrakter Malerei durch einen Vergleich mit Tapeten ist bis heute relevant, wie sich z.B. auch aus dem unüberhörbar ironischen Ton in der Rezension zum zur Verleihung des Turner-Preises an Tomma Abts „Die Seligsprechung der Tapete zur Kunst“ heraushören lässt. Dort heißt es: „Mit Tomma Abts geht die Rückkoppelung von Kunst und Alltag in die nächste Runde. Auf die Tapetenwerdung der Avantgarde folgt nun die Seligsprechung der Tapete zur Kunst.“ Niklas Maak: Turner-Preis für Tomma Abts. Die Seligsprechung der Tapete zur

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 Weltbezug: Urbanität

für das Dekorative „als Bedrohung für die westliche Tradition des Staffeleibildes“57 und wurde als „repetitiv“, „monoton“, „mechanisch“ (im Gegensatz zu „erspürt“) oder „bedeutungsleer“ beschrieben. Nach Markus Brüderlin war es gerade Greenbergs „apodiktisch eingeforderte Verflächigung des Bildraums (etwa im All Over)“, welche „das Tafelbild rein formal in einen ontologischen Status“ brachte, „der dem eines dekorierten Objektes ähnlich war und mit der Tapete zu konkurrieren begann“58. Deshalb musste sich die abstrakte Malerei explizit von dieser abgrenzen. Der abwertende Vergleich von Malerei mit Tapetenmustern reicht bis in das späte 19. Jahrhundert zurück. Er brachte eine der modernen Kunst zugrunde liegende Angst zum Ausdruck, dass diese in eine rein dekorative Form abgleiten und damit ihre Autonomie verlieren würde.59 Dieser ungelöste Konflikt, die damit einhergehenden Prozesse der Ausgrenzung, die diesen Konflikt begleitende Argumentationsnot, verbunden mit einer einseitigen Fortschrittsdynamik der US-amerikanischen Modernisten kumuliert im Objekt der Tapete. Die mit der Tapete verbundene Argumentation ist auf ornamentale Strukturen des Alltags übertragbar. Christian Spies beschreibt bezüglich der Gemäldeserie Silikat von Gerhard Richter, diese zeige nicht „die sichtbare Erscheinung einer farbigen oder schwarzweißen Oberfläche“ , sondern verwandle „die regelmäßige Struktur des Kristallgitters mit malerischen Mitteln auf der Bildoberfläche in eine ornamentale Struktur“60. Die Mikrostrukturen sind Trägerstrukturen, die der Logik der zweidimensionalen Leinwand und der darauf angebrachten Farbe folgen. Damit bilden sie eine Vermittlungsebene, auf der andere Ebenen der Darstellung ausformuliert werden können. [...] Kurz gesagt: Das Ornament bildet eine Matrix aus, in die die

Kunst, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ), 5.12.2006 [http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/ kunst/turner-preis-fuer-tomma-abts-die-seligsprechung-der-tapete-zur-kunst-1384989.html, abgerufen am 13.3.2014]. Auch Andy Warhol könnte seine Cow-Wallpaper als Reaktion auf eine Ausstellungskritik entwickelt haben. Siehe hierzu Elissa Auther: Das Dekorative, Abstraktion und die Hierarchie von Kunst und Kunsthandwerk in der Kunstkritik von Clement Greenberg, in: Jennifer John, Sigrid Schade (Hrsg.): Grenzgänge zwischen den Künsten. Interventionen in Gattungshierarchien und Geschlechterkonstruktionen, Bielefeld 2008, S. 115. 57 Auther 2008, S.110. 58 Brüderlin 1993, S. 109. 59 „In 1874, for instance, the French critic Louis Leroy mocked Monet’s Impression, Sunrise (1874), decrying, ‘Wallpaper in its embryonic state is more finished than that seascape.’ One year later the British critic Tom Taylor would similarly evaluate two of Whistler’s paintings from the Nocturne series, asserting that ‘they only come one step nearer pictures than delicately graduated tints on a wallpaper would do.’“ Elissa Auther: Warhol, Wallpaper and Contemporary Installation Art, in: Maria Elena Buszek (Hrsg.): Extra/Ordinary: craft and contemporary art, Durham NC, 2011, S. 119. 60 Christian Spies: Das Ornament als Matrix. Zwischen Oberfläche und Bild, in: Vera Beyer und Christian Spies (Hrsg.): Ornament. Motiv – Modus – Bild, München 2012, S. 388.



Innen: Ornament und Tapetenmuster 

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verschiedenen Ebenen des Bildes, von seiner materialen Basis bis zu seiner wiedererkennbaren Darstellung vermittelt werden können.61

Richter benutzt also die Banalität der ornamentalen Struktur62 nicht, um dieselbe darzustellen, sondern als Organisationsform von Farbe, die das Zusammenwirken der malerischen Mittel zur Anschauung bringt. Dies gilt zwar einerseits auch für Wool, andererseits agiert er mit seiner Malerei immer auch vor der Folie des US-amerikanischen Modernismus und den dort implizierten künstlerischen Wertmaßstäben. Im Gegensatz zu der von Spies beschriebenen vermittelnden Funktion des Ornaments bei Richter zeigt Untitled, 1997, zunächst eine schwarz-weiße Oberfläche, deren Oberflächenstruktur weder der Trägerstruktur folgen kann, da der Bildträger aufgrund seiner Glätte gar keine Struktur besitzt, noch der Logik der darauf angebrachten Farbe im Sinne einer malerischen Spur oder eines Gestus. Das Ornament ist zunächst Ausdruck einer Trennung oder Diskrepanz, es zeigt ein unverbundenes Nebeneinander, ein Nicht-Verwobensein von Bildträger, Farbe und Farbauftrag. Der Ursprung dieses Charakters von Bildern als reine, projektive Oberfläche wird in der Pop-Art und hier besonders bei Andy Warhol gesehen. Andy Warhol fügt dieser undurchdringlich geschlossenen Oberfläche Newmans das ontologische Statement hinzu, dass es eine Oberfläche aus Bildern ist, welche uns die Illusion vorgaukelt, dass es hinter dieser Illusion noch etwas anderes gäbe, was wir als Realität, als Wirklichkeit oder als das unmittelbar Gegebene ansehen könnten. Aber er zeigt, dass dies eine Selbsttäuschung ist.63

Ähnlich konstatiert Hans Dieter Huber für Christopher Wool: Die Welt ist für ihn ein Text, eine Textur oder ein Ornament, hinter dem es nichts gibt außer anderen Texten, Texturen oder Ornamenten. Es gibt keine ‚unmittelbar gegebene Realität‘ hinter den mit Schablone gemalten Buchstaben, auf welche sich das Geschriebene jemals beziehen könnte.64

Obwohl sich Wool nicht auf eine „unmittelbar gegebene Realität“ bezieht, öffnet er, ausgehend von zeichenhaft organisierten Strukturen, durchaus den konnotativen Raum für dieselben, welcher einer rein simulacren Lesart des Bildes entgegensteht.65

61 Spies 2012, S. 393 f. 62 „Ornamente malen ist doch das Dümmste, was man machen kann.“ Gerhard Richter im Interview mit Benjamin H. D. Buchloh 2004, in: Dietmar Elger und Hans Ulrich Obrist (Hrsg.): Gerhard Richter. Text 1961–2007. Schriften, Interviews, Briefe, Köln 2008, S. 497. 63 Huber 2009, S. 104. 64 Ebd., S. 105. 65 Auch in der Rezeption Warhols wird zwischen der „simulacren“ der „referentiellen“ Lesart unterschieden. Zentral im Hinblick auf die Differenzierung der beiden Lesarten ist Hal Fosters Aufsatz: „Death in America“. „It is no surprise that the simulacral reading of Warholian Pop is advanced by critics associated with poststructuralism, for whom Warhol is Pop and, more importantly, for whom

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Häuslichkeit, Kunsthandwerk und Weiblichkeit Neben einem Mangel an künstlerischem Wert war es jedoch auch ihre Abhängigkeit vom häuslichen Innenraum und damit ein Mangel an Autonomie, was die Tapete diskreditierte. Its place and function within the home as a single, dependent element in a larger ensemble of domestic furnishings sharply distinguishes it from ‘fine art’, which in the modernist conception, was constructed as autonomous or aesthetically free from the contingencies of everyday world or its display. The rhetorical force of critical evaluations of modern painting as wallpaper turns on the preservation of this conception.66

Harold Rosenberg verwendete 1952 den Begriff „apocalyptic wallpaper“ (den Glenn O’Brien in seinem Artikel über Christopher Wool „Apocalypse and wallpaper“ ironisch aufgreift), um mangelnde Authentizität, Risikofreude und daraus resultierend rein formalistische Effekte in der abstrakten, gestischen Malerei zu kritisieren. ‘Works of this sort’, he exclaimed, ‘lack the dialectical tension of a genuine art, associated with risk and will [...] Satisfied with wonders that remain safely inside the canvas, the artist accepts the permanence of the commonplace and decorates it with his own daily annihilation. The result is apocalyptic wallpaper.’67

Als „risikolos“ und „willenlos“ kann das Auftragen der Tapeten bei Wool zunächst als Infragestellung der von Rosenberg etablierten Vorstellung des Expressiven verstanden werden, welche für Letzteren in direktem Zusammenhang mit der Aktion des Malens stand. Dieser gängigen Gleichsetzung von Expressivität und malerischer Aktion eine andere Idee von Expressivität entgegenzusetzen ist ein Anliegen Wools. Expressivität entsteht bei Wool aus der emotionalen Aufgeladenheit des angeeigneten Materials und der spezifischen Art der Organisation im Bild. Die expressive Wirkung dieses Zusammenspiels ist für Wool nicht vorhersehbar (siehe S. 40, Zitat zu Fußnote 89). Die von Greenberg vorgenommene Hierarchisierung des Dekors einer Tapete und den Ansprüchen der Kunst bezieht der Kunsthistorikerin Elissa Auther zufolge das Kunsthandwerk insgesamt ein. Authers zentrale These besagt, die Unterdrückung des Weiblichen bilde den Schlüssel für die Abwertung des Dekorativen und damit

the theory of the simulacrum, crucial as it is to the poststructuralist critique of representation, sometimes seems to depend on the example of Warhol as Pop. [...] The referential view of Warholian Pop is advanced by critics and historians who tie the work to different themes: the worlds of fashion, celebrity, gay subculture, the Warhol factory, and so on.“ Hal Foster: Death in America, in: October, Cambridge MA, 1996, H. 75, S. 38. 66 Auther 2011, S. 118 f. 67 Ebd., S. 119.



Innen: Ornament und Tapetenmuster 

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auch des Kunsthandwerks.68 Das Kunsthandwerk wurde von Massenproduktion und modernem Design verdrängt, wozu nach Auther die Kunstkritik Greenbergs beitrug.69 Sie belegt, „dass die rhetorische Wirkung der Gegenüberstellung von Abstraktion und Dekoration auf derjenigen von Kunst und Kunsthandwerk beruht“70. Ähnliche Äußerungen findet sie bei Robert Morris: Robert Morris’s recollection that ‘the great anxiety’ for artists of the period was the potential for one’s work to ‘fall into the decorative, the feminine, the beautiful, in short, the minor’ captures the web of pejorative associations circling around the term.71

Obwohl Wools Tapetenmuster – im Gegensatz beispielsweise zu Robert Gobers Tapeten – sicherlich weder als Rehabilitierung des Kunsthandwerks noch als Bewusstmachung von Genderfragen zu verstehen sind, sind sie in der Geste der Aneignung ein ironischer Seitenhieb und damit deutlich kritisch gegenüber einer Kunstkultur – und hier speziell einer Kultur der abstrakten Malerei – der Ausgrenzung, in der „Kunsthandwerk“, „Weiblichkeit“ und „Feminisierung“ verbreitete Negativkriterien waren.72 Wool evoziert durchaus gängige Vorstellungen und Urteile geschlechtsspezifischer Zuordnungen visueller Qualitäten, ohne jedoch explizit oder eindeutig Stellung zu beziehen. Den Umgang mit geschlechtsspezifischen Ausdrucksformen bringt auch Richard Prince zum Ausdruck, wenn er eine frühe Arbeit Wools, die er erworben hat, den Gegensatz zwischen Motiv und Grund wie folgt beschreibt: The painting is feminine, delicate. The pattern is whispered on. It’s married to the surface like a vein in marble. It appears to have always been there. The stretcher is covered in one sheet of aluminium. The metal male chromosome that’s underneath all that delicacy keeps some kind of secret, heavy desire.73

Auch wenn Prince mit dieser Beschreibung alle Klischees geschlechtsspezifischer Ausdrucksformen bedient, macht die Passage deutlich, dass Wool bewusst

68 „Hinter der durch die ästhetische Hierarchisierung reproduzierten Gegenüberstellung von Kunst und Handwerk verbirgt sich das Thema der Geschlechterdifferenz, und so behandelt dieser Aufsatz auch die Unterdrückung von Weiblichkeit als Schlüssel für die abwertenden Eigenschaften des Dekorativen in Greenbergs Schriften.“ Auther 2011, S. 99. 69 Ebd., S. 111. 70 Ebd., S. 99. 71 Auther 2011, S. 116. 72 Siehe auch Peter J. Schneemann: „Die Studie von Ann Eden Gibson [Abstract Expressionism: Other politics, New Haven 1997; Anm. K.W.] deckte 1997 die Macht des Diskurses der Abstrakten Expressionisten auf, den sie als ‚heterosexual, male and white‘ bloßstellte. [...] Gibsons Forschungsergebnisse demonstrieren die praktischen Folgen der Paradigmen für die Kunstgeschichte im Sinne von Ausgrenzung und Dominanz.“ Schneemann 2003, S. 6. 73 Prince 2013, S. 234.

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geschlechtsspezifische Konnotationen evoziert und mit einer einseitigen Abwertung weiblich konnotierter ästhetischer Kategorien bricht. Damit zeigt er gleichzeitig Prozesse der Wertung im System der Kunst auf. Vergleichbar mit Warhol oder Prince, die sich beide nicht eindeutig kritisch positionieren, benötigt Wool „eine kritische Rezeptionsleistung, um als künstlerisch-kritische Funktion verstanden zu werden“74. Verbunden mit dem ungebrochenen Selbstbezug des Künstlers und der damit einhergehenden Konzeption von Authentizität im US-amerikanischen Modernismus war ein Pathos, in dem keine Form von Distanz in Form von Ironie oder Witz einen Platz hatte. Demgegenüber bringt Wool in einer Podiumsdiskussion im Zusammenhang mit Clement Greenberg seine Vorstellung bezüglich der abstrakten Malerei wie folgt auf den Punkt: But I like the idea that an abstract [...] painting could actually be funny. [...] Since some of the sort of postmodernist ideas of what art in general could be, I think, it’s all opened up immensly.75

Um das Verständnis für Wools Umgang mit den appropriierten Präbildern weiter zu vertiefen, wird im Folgenden der Versuch unternommen, ihn in seinem zeitgenössischen Umfeld, das die Kunstszene um 1980 in New York in großem Maße definierte, zu verorten.

Künstlerisches Umfeld: „Appropriation Art“ Karen Marta: Aber ich glaube, der Kanon der modernen Malerei hat auf gewisse Weise etwas mit den Möglichkeiten, den visuellen Optionen, die den Künstlern offen stehen, angestellt, hat sie teilweise reduziert, verarmen lassen. Es muß etwas mit diesem Zusammenhang zu tun haben, dass so viele Künstler sich nun plastischer Sprache bedienen [...] Christopher Wool: Ich gehöre zu der Generation, die diese Optionen und auch das Auflösen der Optionen, Postmodernismus gesehen hat [...] und in gewisser Weise entsteht gerade durch das ‚Es-hinter-sich-haben‘ eine Freiheit. Zum Beispiel Künstler wie Jenny Holzer oder Sherrie Levine oder Richard Prince haben meiner Generation diese Möglichkeit, an Kunst zu glauben, wiederhergestellt, nicht unbedingt einen Glauben an die Malerei, aber sie haben gezeigt, daß es immer noch definitive Möglichkeiten für und mit der Kunst gibt, etwas zu sagen, und von einer Position aus, in der nicht mehr viel möglich schien, haben sie die Dinge geöffnet, angekurbelt.76

Christopher Wool beschreibt hier die für ihn fruchtbare Wirkung der künstlerischen Arbeit dreier Künstler, die Anfang der 1980er-Jahre im Zentrum oder im weiteren

74 Römer 2001, S. 127. 75 Hammer Museum (Hrsg.): [http://hammer.ucla.edu/watchlisten/watchlisten/show_id/32216 abgerufen am 27.3.2014]. 76 Koether/Marta 1990, S. 48.



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Umfeld einer Gruppe standen, die als „Appropriation Artists“ bezeichnet wurde.77 Ähnliches spiegelt die zitierte Aussage Richard Floods, in der die von Christopher Wool akzeptierte Peergroup, Künstler seiner Generation, die ihm nahestehen, benannt wird. „Akzeptierte Peergroup Richard Prince, Sherrie Levine, Cindy Sherman […]“78 Dass Wool als Maler einer Gruppe von Künstlern, die mit fotografischen Mitteln arbeitet, eine solche Bedeutung für seine Arbeit zuspricht, ist bemerkenswert. Gerade diese Gruppe war von der US-amerikanischen Kunstkritik der 1980er-Jahre in einem medienübergreifenden Kontext verortet worden, in dem Malerei als akademisch galt und damit als anachronistisches Medium in Frage gestellt wurde. Wool betont aber immer wieder, dass er sich als Maler versteht und bewusst für die Malerei entschieden hat. Chuck Close: Für die jungen Künstler heute ist die Situation ganz anders, denn sie wählen die Malerei als eine Möglichkeit unter vielen anderen Kunstformen wie etwa die Installation. Als ich auf der Kunstakademie war, war ein Künstler einfach ein Maler. Christopher Wool: Das stimmt nicht ganz, denn viele Künstler deiner Generation gehörten zu den ersten, die Dinge machten, die nichts mit Malerei oder Bildhauerei zu tun hatten. Ich bin eindeutig im Wissen um diese Generation aufgewachsen. Wir hätten alle jederzeit problemlos einen anderen Weg einschlagen können.79

Die problematische Position der Malerei in der Kunst seiner Generation scheint Wool auch selbst so empfunden zu haben, als er seine künstlerische Ausbildung als Maler von 1978 bis 1980 für zwei Jahre unterbrach, um Filme zu drehen.80 Über Wools Orientierung an antimalerischen Positionen der Kunst als Begründung gerade seiner Malerei wird im Folgenden ein zentrales Motiv für Wools Werke zu suchen sein.81 Die Bedeutung von Aneignungsstrategien für Wool in diesem Zusammenhang wurde u.a. von Anne Pontégnie durchaus bereits benannt, aber weder ausgearbeitet noch differenziert.82

77 „Jenny Holzer hovers around the edges of Pictures art, and in many ways she was a fellow traveller with artists such as Lawler, Charlesworth, and Kruger.“ Eklund 2009, S. 151. 78 Flood 2008, S. 147. 79 Allan Schwartman: Künstler im Gespräch I, in: Curiger 1997, S. 37. 80 „In dieser Zeit studierte er vorübergehend an der New York University. Im Jahr 1981 kehrte er wieder zur Malerei zurück.“ Goldstein 2004, S. 191 f. 81 Dass Christopher Wool eine Ausnahmefigur in der Malerei der 1980er-Jahre darstellt, der geprägt ist u.a. von KünstlerInnen wie Sherrie Levine und Richard Prince und für nachfolgende Generationen von MalerInnen bedeutsam, stellen auch die KuratorInnen Johanna Burton, Jeffrey Deitch, James Meyer und Scott Rothkopf in einer Roundtable-Diskussion zur aktuellen abstrakten Malerei fest. Deitch 2012, S.17. 82 Siehe hierzu Pontégnie 2002, S.  17, und Meade 2008, S.  135: „Und wenn auch viel darüber geredet wurde, dass Wools Vertrauen in den Siebdruck eine Art Warhol’scher Schachzug sei, der auf

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Als „Appropriation Artists“ wurde eine Gruppe von Künstlern im New York der 1980er-Jahre bezeichnet, welche die meist fotografische Aneignung einer vorgefundenen Bildlichkeit in das Zentrum ihrer künstlerischen Auseinandersetzung stellte und „zu einer eigenständigen Kunstform“83 erhob. Das Interesse an Prinzipien der Aneignung wird seit den 1960er-Jahren als eine der zentralen künstlerischen Strategien beschrieben und wurde schon frühzeitig in unterschiedlichen Ausstellungen reflektiert und eingeordnet, wie u.a. Julia Gelshorn und Stefan Römer darlegen.84 Hervorzuheben für die hier relevante Fragestellung, die sich auf den US-amerikanischen Raum beschränkt, ist die Ausstellung „Art about Art“ des amerikanischen Kunstkritikers Leo Steinberg 1978 im Whitney Museum of American Art. In der Ausstellung wurde insbesondere die Selbstbezüglichkeit der Pop-Art mit den dazugehörenden künstlerischen Strategien untersucht. Steinberg stellt in der Einleitung zum Ausstellungskatalog Überlegungen dazu an, wie der Einfluss von Kunst auf Kunst genauer zu fassen sei. Statt der Idee eines passiv verstandenen Einflusses betont er die Bewusstheit von künstlerischen Entscheidungen auch bezüglich motivischer oder stilistischer Anspielungen. Aneignungen kann nach Steinberg keine allgemeingültige Funktion zugeschrieben werden. Dem impliziten moralischen Vorwurf, der in der Übernahme von motivischen oder stilistischen Anspielungen mitschwinge, setzt er die Unmöglichkeit entgegen, in Bildern Zitate oder andere Anleihen beispielsweise durch Anführungszeichen kenntlich zu machen, wie dies in Texten möglich sei. So sei es die Aufgabe des Rezipienten/der Kunstkritik, die spezifischen Differenzen der künstlerischen Strategien herauszuarbeiten.85 Mit der Appropriation Art erfährt die Tradition des Zitierens,

die Appropriationdiskussion im Zusammenhang mit der Ausstellung ‚Pictures‘ (1977) zurückgehe, die unmittelbar vor Wools Ankunft in der New Yorker Kunstszene stattfand.“ 83 Gelshorn 2003, S. 11. 84 Katrin Sello: Vom Nutzen und Nachteil des Zitierens für die Kunst, in: Gerhard Ahrend und Karin Sello (Hrsg.): Nachbilder. Vom Nutzen und Nachteil des Zitierens für die Kunst, Ausst.-Kat. Kunstverein Hannover, 10.6.–29.7.1979, S. 9–14; Uli Bohnen (Hrsg.): Hommage – Démontage, Ausst.-Kat. Neue Galerie Aachen, Sammlung Ludwig Ludwigshafen, Wilhelm-Hack-Museum Gelsenkirchen, Städtisches Museum Utrecht, Kunstmuseum Hedendaage und Museum für Moderne Kunst Wien 1988/89; Jean Lipman/Richard Marshall (Hrsg.): Art about Art, Ausst.-Kat. Whitney Museum of American Art New York, North Carolina Museum of Art Raleigh, Frederick S. Wight Art Gallery University of California Los Angeles und Portland Art Museum,1978/79; Gelshorn 2003, S. 10; Stefan Römer: Der Begriff des Fake (Diss. Humboldt-Universität zu Berlin 1998), veröffentlicht: o.D. [http://edoc.hu-berlin.de/ dissertationen/roemer-stefan-1998-07-09/PDF/Roemer.pdf, abgerufen am 15.7.2015]. 85 Einen möglichen Widerspruch zwischen der hier implizierten individuellen künstlerischen Haltung, die an eine spezifische künstlerische Verantwortung gebunden ist, die den Künstler vom Fälscher unterscheidet, und dem durch die Appropriation Artists in Frage gestellten Konzept von Autorenschaft arbeitet Sherri Irvin in ihrem Artikel „Appropriation and Authorship in Contemporary Art“ heraus. Sie kommt zu der zentralen These: „We will find that, contrary to what has often been thought, the work of the appropriation artists affirms and exposes, rather than undermines, the artists’ ultimate authorial status.“ Irvin 2005, S. 124. Interessant wäre, im Anschluss zu untersuchen, inwieweit die hier formulierte Radikalität des Ansatzes von den Appropriation Artists selbst formuliert



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Kopierens und Paraphrasierens in der Kunst eine programmatische Zuspitzung, die in der Kunstgeschichte vielfach reflektiert und analysiert wurde.86 Durchgängig bleibt in der Analyse der für die 1980er-Jahre klischeehaft verhärtete Gegensatz zwischen der kritischen Appropriation Art, die sich aus der konzeptuellen Kunst herleitete, und kommerzieller Appropriationsverfahren, die diese marktstrategisch platzierten, einen unkritischen Stilpluralismus vertretend, bestehen. Da keine künstlerische Strategie vorher so ausschließlich mit Bildzitaten gearbeitet hat, dass sie nicht durch Transmutation, Collage oder Montage manipulierte, gehe ich davon aus, dass speziell die Appropriation Art Ende der 70er Jahre eine starke Verschiebung der künstlerischen Konvention darstellt, die durch die konzeptuelle Kunst in der zweiten Hälfte der 60er Jahre eingeleitet wurde. Um eine solche Verschiebung konstatieren zu können, muß ein Großteil der westlichen Kunstpraktiken ausgeblendet werden, die nicht als konzeptuell bezeichnet werden können; die konzeptuellen Praktiken heben sich durch ihre kunstkritische, medienkritische, epistemologie- und ideologiekritische selbstreflexive Haltung ab.87

Aktuelle Ausstellungen versuchen, einen neuen Blick auf diese Zeit zu entwickeln, wie z.B. „This will have been: Art, Love & Politics in the 1980s“ im Museum of Contemporary Art Chicago, 2012, oder „Flashback. Eine Revision der Kunst der 80er Jahre“ im Kunstmuseum Basel 2005/06. „You will not find, for instance, a section on ‘appropriation’ or ‘neo-expressionism’ in either the exhibition or the catalogue.“88 An dieser Schnittstelle zwischen Strategien der konzeptuellen Kunst und der Malerei bewegt sich Christopher Wool. An der vermeintlichen Vereinnahmung oder Banalisierung künstlerischer Mittel und Strategien aus der Konzeptkunst entzündet sich auch die Kritik vonseiten der konzeptuellen Künstler. MP: Well, I think that, no, I know that several conceptual artists really hate you for entering their grounds on this formal level [...] MP: Maybe one reason for this could be that your work kind of proves that as soon as you use a canvas and you do anything with a canvas, you are doing painting. And what conceptual artists

oder von außen an sie herangetragen wurde. Diese Untersuchung ist allerdings im hier anvisierten Rahmen nicht zu leisten. Im Hinblick auf Christopher Wool wird jedoch auf den von Irvin aufgeworfenen Widerspruch zurückzukommen sein. 86 Crimp 1984 (urspr. 1979); Buchloh 2006 (urspr. 1982); Ferrer 1985; Marter 1985; Robert S. Nelson: Appropriation, in: Robert S. Nelson und Richard Shiff (Hrsg.): Critical Terms for Art History, Chicago 1996, S. 116–128: Crimp 1996; Rebbelmund 1999; Stefan Römer: Wem gehört die Appropriation art?, in: Texte zur Kunst, Jg. 7, 1997, H. 26, S. 128–137; Römer 2001; Groys 2001; Appropriation Now! 2002; Gelshorn 2003; Irvin 2005; Perdomo 2012. 87 Römer 1998, S. 86. Neben der kritischen Positionierung in der Kunst war ein weiterer Teil der Institutionskritik das Schaffen unabhängiger Sub-Institutionen. Christopher Wool hat dieses Ansinnen schon früh von sich gewiesen und den Begriff des Politischen differenziert. 88 Molesworth 2012, S. 15.

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did was try to prove sometimes that you can have letters and then it wouldn’t be a painting any more, which never works. And I think this could be the source of this dislike.89

Dieser historische Gegensatz zwischen einer traditionell orientierten Form von Malerei und einer von der materiellen und formalen Ebene losgelösten kritischen Konzeptkunst kann am Beispiel des Werks von Christopher Wool differenziert werden. Während Crimp die „Relation zwischen der Materialverwendung, Levines historische Reflexion der ‚Aneignung über die Aneignungsstrategie selbst‘ und der spezifischen Rolle der Fotografie für entscheidend“90 hielt und damit einen Schwerpunkt auf die Reflexion der Präsenz von neuen Medien legte, sah Buchloh die Appropriation Art in einer materialistisch kunsthistorischen Tradition der Kunstgeschichte. Künstlerische Appropriation beschreibt Benjamin Buchloh als eine „Überprüfung lokaler, zeitgenössischer Codes der künstlerischen Praxis durch Bezug auf frühere Stile, motivische Vorläufer oder unterschiedliche Produktions- und Rezeptionsformen“91 und bezieht den Begriff auf die ersten politisch motivierten Collagisten sowie auf Walter Benjamins Montage- und den damit verbundenen Allegoriebegriff. Aus diesem Ansatz resultiert der kritische Anspruch, der für beide Autoren mit der Appropriation Art verbunden sein muss. Während Buchloh also den kulturellen Apparat in das Zentrum der künstlerischen Kritik stellt, fasst Crimp diese Kritik insofern weiter, als er einen anderen Bildbegriff zugrunde legt und den Künstler als produzierenden Rezipienten begreift, der, bedingt durch veränderte Rezeptions- und Produktionsbedingungen von Bildern, zu einem neuen und kritischen Verständnis von Begriffen der Subjektivität, Originalität und Autorenschaft kommt. Unterschiedliche Auffassungen bezüglich der Mediengebundenheit von „Appropriation“ zeichnen sich also ebenso deutlich ab wie zentrale Unterschiede bezüglich des für beide relevanten kritischen Anspruchs der Appropriation Art. Beide Auffassungen sollen helfen, Wools künstlerische Praktiken in der Umgebung der Kunst und Kunstkritik seiner Generation zu kontextualisieren. Der u.a. durch Crimp definierte neue Bildbegriff war bedingt durch veränderte Rezeptions- und Produktionsformen in den 1970er-Jahren, insbesondere das Fernsehen.92 Die Generation der Appropriation Artists war die erste Generation, die in eine Bilderwelt hineingeboren wurde, die Teil einer sich ausdehnenden Konsumkultur war.

89 Prinzhorn 1997 [abgerufen am 6.6.2015]. 90 Römer 1998, S. 81. 91 Gelshorn 2003, S. 199. 92 Römer 1998, S. 80.



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It was precisely this transformation of the American economy from one based on need to one of desire, dependent on the continual prompting of consumption at the deepest level of subjectivity, that shaped their outlook on the world.93

Es war also nicht ein künstlerisches Medium, was die Künstler verband, sondern die Auseinandersetzung mit einer neuen Bilderfahrung und damit einem neuen Bildverständnis. Christopher Wool wird weder dem engeren noch dem erweiterten Kreis der Appropriation Artists zugeordnet. Es stellt sich jedoch die Frage, ob und inwieweit er durch Strategien der Aneignung die von ihm selbst beschriebene künstlerische Öffnung und Neuorientierung, die ursprünglich mit Bildstrategien der fotografischen Aneignung und dem damit einhergehenden kritischen Anspruch verbunden war, im Medium der Malerei hervorbringen konnte. Damit hängt auch die Frage nach der medienspezifischen Anbindung von Bildaussagen zusammen, welche in dieser Zeit intensiv gestellt und problematisiert wurde. Obwohl sich Christopher Wool in seinen Aussagen nie explizit auf theoretische Texte bezieht, sondern mehr oder weniger ausschließlich Bezüge zu Künstlern und Kunstwerken dokumentiert sind, ist davon auszugehen, dass er den intensiven Austausch von Künstlern und Kunstkritikern Anfang der 1980erJahre verfolgt und in seiner Malerei verarbeitet hat.94 Zudem verweist die Bezeichnung seiner Werke als „pictures“ (statt beispielsweise „paintings“) direkt auf den Kunst­ kritiker Douglas Crimp und die von ihm kuratierte gleichnamige Ausstellung.

„Pictures“ Einvernehmlich wird die mittlerweile legendäre Ausstellung „Pictures“ im alternativen Artists Space im Jahr 1977 als grundlegend für die Begriffsbildung der Appropria-

93 Eklund 2009, S. 16. 94 Den Bezug zwischen Lektüre und künstlerischer Produktion behauptet Julien Fronsacq in seinem Vortrag am 6.11.2009 zu Christopher Wool im Centre Georges Pompidou. „[…] je vais donc présenter la chronologie [...] de la production de Christopher Wool et puis [...] je vais la confronter aux lectures qu’aurais pu effectué Christopher Wool ou qu’il a effectué. Je veux croire, que ces lectures ont déterminés les gestes entamés par Christopher Wool.“ [http://www.dailymotion.com/video/xb4xtt_peintureparlee-christopher-wool-un_creation, abgerufen am 28.4.2015]. Obwohl diese Behauptung spekulativ bleibt, sind Aussagen Wools’ in Vorträgen und Interviews, explizite Bezugnahmen auf Künstler, die mit Strategien der Aneignung gearbeitet haben, sowie Freundschaften und zwei Kooperationen, beispielsweise mit Richard Prince, jedoch sichere Belege dafür, dass sich Wool auf jeden Fall über die Kunst mit Fragen von Aneignung und den damit verbundenen Veränderungen bezüglich der Wertmaßstäbe von US-amerikanischer Kunst, wie Originalität, Autonomie oder Selbstreferenzialität, auseinandergesetzt hat.

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tion Art gesehen.95 Im Katalogtext zur Ausstellung96 beschreibt Crimp den radikalen Bruch mit der sogenannten modernistischen Tradition und den damit verbundenen künstlerischen Strategien, indem er zunächst den von Michael Fried in „Art and Objecthood“97, 1967 in Artforum erschienen, abwertend benutzten Begriff der „Theatralität“ neu bewertet und die damit verbundene Auflösung einer mediengebundenen Reflexion der einzelnen Künste einfordert. Diese u.a. von Michael Fried vertretene Einschränkung der Kunst auf die Auseinandersetzung mit einer einzelnen Kunstgattung, verbunden mit einem spezifischen Medium, kritisiert Crimp. The work that has laid most serious claim to our attention throughout the seventies has been situated between, or outside the individual arts, with the result that the integrity of the various mediums – those categories the exploration of whose essences and limits constituted the very project of modernism – has dispersed into meaninglessness.98

Interessanterweise beschreibt Crimp einerseits einen Bildbegriff, der vom Medium gelöst ist, und behauptet eine gewisse Neutralität gegenüber dem Denken in künstlerischen Medien99, andererseits wird sehr deutlich, dass für ihn die Koppelung verschiedener Medien sowie die Integration neuer Medien in die künstlerische Aktivität relevante Kunst ausmachen.100 Dieser (unausgesprochene) Fokus erklärt sich aus der heutigen Perspektive aus Crimps Intention, verschiedene Anliegen aus der Performance-Kunst auf die Fotografie zu übertragen und die Faszination durch die „Affi-

95 Vgl. dazu Römer 1997, S. 128; Foster/Krauss/Bois/Buchloh 2004, S. 580. Douglas Eklund beschreibt die Entwicklung im Ausstellungswesen in New York im Katalogtext zur Ausstellung „The pictures Generation, 1974–1984“ sehr differenziert und integriert die Ausstellung in eine kontinuierliche Entwicklung, an deren Beginn er den Boom neuer Bildungsinstitute in den USA der 1970er-Jahre – darunter auch das für die Pictures Generation prägende California Institute of Arts (CalArts) – setzt. Auch das Ausstellungswesen in New York Anfang der 1970er-Jahre mit den entsprechenden Initiatoren, wie z.B. Helene Winer, mit der Crimp sehr intensiv zusammenarbeitete, wird umfassend aufgearbeitet. Dennoch wird auch in seiner Darstellung „Pictures“ als Ausgangspunkt einer „new tendency“ beschrieben. Vgl. Eklund 2009, S. 112 f. 96 Gezeigt wurden die Künstler Troy Brauntuch, Jack Goldstein, Sherrie Levine, Robert Longo und Philip Smith. 97 Hier zitiert nach: Fried 1998, S. 1011 ff. 98 Wallis 1984, S. 176. 99 „The ease with which many artists managed, some ten years ago, to change mediums – from sculpture, say to film (Serra, Morris, et al.) or from dance to film (Rainer) – or were willing to ‘corrupt’ one medium with another – to present a work of sculpture, for example, in a form of a photograph (Smithson, Long) – or abjured any physical manifestation of the work (Barry, Weiner) makes it clear that the actual characteristics of the medium, per se, cannot any longer tell us much about an artist’s activity.“ Crimp 1984, S. 176. 100 „This is not to say that there is not a great deal of art being produced today that can be categorized according to the integrity of its medium, only that that production has become thoroughly academic.“ Crimp 1984, S. 176.



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zierungskraft“, die durch den Einbezug von Zeit und Erzählerischem hervorgerufen wird.101 Das Interesse an Interdisziplinarität und einer intermediären Sensibilität, welches in „Pictures“ offenbar wurde, war symptomatisch für ein neues Bildverständnis, das beeindruckt war von experimentellem Theater und Performance-Kunst. While it is important not to mythologize such spaces [alternative, nichtkommerzielle Ausstellungsorte, wie Artists Space; Anm. K.W.], this period just after Pictures, in a sense, did most truly reflect a flowering of the intermedia sensibility introduced in the exhibition – an awareness that the image was not exclusively something on the wall but the linchpin for a range of activities attached to ‘no specific medium, […] as transparent as light, as flimsy as decals meant to dissolve in water’.102

Der von Crimp vertretene Bildbegriff beruht auf der durch den Poststrukturalismus beeinflussten These, dass – auch aufgrund der Macht der Massenmedien und der durch sie veränderten Produktions- und Rezeptionsbedingungen – Bilder immer auf andere Bilder verweisen, und widerspricht somit der Vorstellung eines autonomen Bildes. Crimp war hier insbesondere durch Roland Barthes’ kritische Semiotik beeindruckt.103 Nach Crimp ist es die Aufgabe der Kunst, die impliziten Bedeutungsschichten von Bildern offenzulegen.104 Auf diesem Gedanken fußt seine berühmte Aussage: Those processes of quotation, excerptation, framing, and staging that constitute the strategies of the work I have been discussing necessitate uncovering strata of representation. Needless to say,

101 „Ich denke nicht, dass ich damit unterstellt habe, das Medium wäre ‚sekundär‘. Wie hätte ich das tun können, wenn ich eigentlich zu erklären versuchte, wie die offensichtlichen Privilegien eines Mediums – der Performance – in ein anderes Medium übertragen werden – in die Fotografie? Aber der Punkt ist die Übertragung oder eben der Zusammenbruch von Spezifität. Wenn man die Affizierungskraft einer Performance in einem Bild erreichen kann, dann gehört ‚Theatralität‘ weder nur zum einen noch zum anderen Medium oder gar in den Zwischenraum, wie Frieds dogmatische modernistische Kritik uns glauben machen wollte. Die Vorstellung, dass ein Medium von ‚seinen eigenen internen Gesetzlichkeiten bestimmt‘ wird, würde uns genau auf diesen Dogmatismus zurück werfen.“ Douglas Crimp: „Der Kampf geht weiter.“ Ein E-Mail-Austausch mit Douglas Crimp über Appropriation Art, in: Texte zur Kunst: Appropriation Now!, Jg. 12, 2002, H. 46, S. 38. 102 Eklund 2009, S. 118 f. 103 „Als ich ‚Pictures‘ schrieb, hatte ich die grundlegenden Arbeiten gelesen, die sich mit dem Thema Repräsentation auseinander setzten – also de Saussure, Barthes, Derrida zum Beispiel. Ich stand besonders unter dem Eindruck von Barthes’ Versuchen, Praktiken der Repräsentation zu entnaturalisieren, zu zeigen, wie konventionell selbst die scheinbar realistischsten, wahrsten und sogar indexalischen Formen der Repräsentation sind.“ Crimp 2002, S. 40. 104 Am Beispiel einer Arbeit von Sherrie Levine legt er diese Bedeutungsschichten dar und folgert: „These pictures have no autonomous power of signification (pictures do not signify what they picture); they are provided with signification by the manner in which they are presented (on the faces of coins; in the pages of fashion magazines).“ Crimp 1984, S. 185.

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we are not in search of origins, but structures of signification: underneath each picture, there is always another picture.105

Nach Stefan Römer wendet sich Crimp hiermit gegen „diejenige Kunsttheorie, die die zeitgenössische Kunst nicht erst seit der Pop-Art von Zitaten beherrscht sieht und damit beschäftigt ist, ikonografische Nachahmungslinien zu zeichnen und phänomenologische Ursprungsquellen zu suchen“106. Im Rückblick beschreibt Crimp selbst seinen einseitigen Fokus auf Aspekte der Intermedialität und erkennt seine Unterschätzung der Bedeutung der in der Pop-Art praktizierten Öffnung zwischen „High“ und „Low“. Wenn ich heute auf diese Strategie zurückschaue, diese beiden Entwicklungen miteinander zu verbinden, dann überrascht mich vor allem, was ich beim Angriff auf die Spezifizität des Mediums alles übersehen habe, besonders wie die neueren Arbeiten Grenzen aufgeweicht haben und zwar nicht nur die zwischen den Medien, sondern vielmehr solche zwischen Hoch- und Popkultur. Aus dieser Sicht betrachtet müsste man Cindy Sherman und Jack Goldstein wohl eher mit der Pop Art in Verbindung bringen als mit der Minimal Art.107

Auf die mit dieser einseitigen Fokussierung verbundene Ablehnung des Tafelbildes und des Mediums Malerei zugunsten einer Polarisierung zwischen den „neuen“ und den „alten“ Medien reagierte der Maler Thomas Lawson. Für ihn standen die Veränderungen einer medial geprägten Wirklichkeit nicht im Widerspruch zur Praxis der Malerei.

„Last Exit: Painting“ Lawson versuchte, die im Wesentlichen von den Kunstkritikern der Zeitschrift October vertretene malereikritische Haltung aufgrund ihrer ideologischen Tendenzen zu problematisieren, ohne diese jedoch in gleicher Weise ideologisch zu verbrämen, wie dies Kritiker wie beispielsweise Barbara Rose taten.108

105 Ebd., S. 186. 106 Römer 1997, S. 129. 107 Crimp 2002, S. 36. 108 Die Ausstellung „American Painting: The Eighties“, die Barbara Rose 1979 in der Grey Art Gallery, New York, kuratierte, wurde einhellig als eine rückwärtsgewandte Ausstellung kritisiert, die einen Glauben an die Traditionen des Modernismus und insbesondere die der Malerei zum Ausdruck bringen sollte, deren Aktualität jedoch nicht offenbaren konnte. U.a. Thomas Lawson: Last Exit: Painting, in: Brian Wallis: Art after modernism: Rethinking representation, New York 1984, S. 154. Crimp 1996, S. 104 ff.



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Sein Manifest „Last Exit: Painting“ 109 vergegenwärtigt den Vorgang der künstlerischen Selbstreflexion.110 Publiziert 1981 in Artforum, dokumentiert der Text aus heutiger Sicht die Diskussion Anfang der 1980er-Jahre anschaulich, in der einige Künstler begannen, Malerei als Medium der Kritik speziell durch Strategien der Aneignung wieder neu in Betracht zu ziehen.111 Lawson kam 1975 mit einem Stipendium aus Schottland nach New York, um dort, zusammen mit Craig Owens und Douglas Crimp, an der City University of New York zu studieren. Er publizierte eine Reihe wichtiger Aufsätze und Essays in Art in America und Artforum. Seine Analyse der Krise des Modernismus, die aus seiner Sicht in dessen Bedeutungslosigkeit mündete und aus der eine Situation der Konfusion und Unsicherheit Anfang der 1980er-Jahre entstand, schließt an Crimp an. As the modernist idea became debased, its deliberate sparseness worn through overuse, the acting-out of impulse, rather than the reflective discipline of the imagination, became the measure of satisfaction and value. As a result the modernist insistence on an essential meaninglessness at the center of artistic practice came actually to mean less and less. From being a statement of existential despair it degenerated into an empty, self-pitying, but sensationalist, mannerism.112

Die Verbindung zwischen dem Diskurs der Kunst und dem Alltagsleben war verloren, was u.a. Lawson zu einer harschen Kritik der bereits erwähnten Ausstellung von Barbara Rose veranlasste. Sein niederschmetterndes Urteil lautet: „Modernism has been totally co-opted by its original antagonist, the bourgeoisie.“113 Aus einem Mangel an Sicherheit entwickelte sich nach Lawson a „plethora of morbid symptoms“, zu denen er das Aneignen von Stilen und Bildern anderer Epochen und Kulturen zählt. Diese seien für ihn Ausdruck eines nostalgischen Bedürfnisses, eine undifferenzierte Vergangenheit wiederzuentdecken, wie dies bei-

109 Lawson 1984. 110 Die Relevanz, die die Auseinandersetzung unter Künstlern für die Ausbildung des eigenen Werks, aber auch zur Ausbildung relevanter Kriterien für Kunst in einer bestimmten Zeit im Gegensatz zum Einfluss der Lektüre kunstkritischer Texte hat, betont Amy Sillman in einer Diskussionsrunde, an der auch Christopher Wool anlässlich der Ausstellung „Oranges and Sardines. Conversations on abstract painting“ 2008 im Hammer Museum in Los Angeles teilnahm. Über die zeitgenössische Situation sagt sie u.a. auf die Frage nach dem „contemporary framework for discourse“: „[...] I think that there is plenty of framework around [...] but I also think, that painters have taken up that model for themselves.“ [https://vimeo.com/90582985, abgerufen am 10.6.2015]. Ähnliches bringt auch Christopher Wool zum Ausdruck, wenn er im Katalog zur oben erwähnten Ausstellung statt einer Biografie eine Liste mit für ihn relevanten Ausstellungen aus den Jahren 1966 bis 2006 veröffentlicht. 111 1981 ist auch das Jahr, in dem Christopher Wool nach zwei Jahren Auszeit, in denen er an der New York University Film studiert und filmische Versuche unternommen hatte, wieder zur Malerei zurückkehrte. Meade 2008, S. 135. 112 Lawson 1984, S. 155. 113 Ebd., S.156.

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spielsweise in den für ihn pseudoexpressionistischen, marktstrategisch platzierten Werken von Julian Schnabel, Francesco Clemente oder den deutschen Malern Rainer Fetting oder Salomé zum Ausdruck komme. Lawson vermisst die ernsthafte historische Auseinandersetzung und konstatiert stattdessen eine Verbindung von scheinbarer, modischer Rebellion gegen den Mainstream des radikalen Modernismus und den Modernismus selbst. Die Verblendung durch die Malerei-Heroen war nach Douglas Eklund erster Ausdruck von Einschränkungen durch US-amerikanische Konservative.114 Dieses Vorgehen habe auch Auswirkungen auf Fragen der künstlerischen Aneignung. „Appropriation becomes ceremonial, an accommodation in which collage is understood not as a disruptive agent, a device to question perception – but as a machine to foster unlimited growth.“115 Hier stimmt Lawson in seiner Kritik mit den Analysen von Buchloh und Crimp dahingehend überein, dass diese Art der malerischen Aneignung von Gegensätzen eine kritische Auseinandersetzung unterbinde.116 Im Gegensatz zu Crimp jedoch ist diese Analyse für Lawson nicht mit dem „Tod der Malerei“ und einer einseitigen Aufwertung institutions- und medienkritischer Positionen verbunden. So sieht Lawson beispielsweise in der Position Daniel Burens, die Crimp in seinem Essay „The End of Painting“117 beispielhaft hervorhebt, deshalb keinen fundamentalen Unterschied zu den Arbeiten beispielsweise von David Salle, da sich dieser in der Art, wie seine Arbeiten in der Realität dargestellt und verbreitet werden, um für die Kunstwelt überhaupt sichtbar zu sein, d.h. mit den fotografischen Aufzeichnungen seiner Arbeiten in ihrem jeweiligen urbanen Kontext, Mitteln bedienen muss, die er zu unterminieren meinte. Dies sei neben dem dekorativen Aspekt die Nähe der Fotos zur französischen Décollage der 1950er-Jahre. Lawson verallgemeinert diese Kritik und schlägt hier eine andere Richtung ein als Crimp und Buchloh. Much activity that was once considered potentially subversive, mostly became it held out the promise of an art, that could not be made into a commodity, is now as thoroughly academic as painting and sculpture, as a visit to any art school in North America will quickly reveal. And not only academic, but marketable, with ‘documentation’ serving as the token of exchange, substituting for the real thing in a cynical duplication of the larger capitalist marketplace.118

Paradoxerweise sieht Lawson in einer Passage über Daniel Buren – aus Crimps Text „Das Ende der Malerei“, in dem Crimp über Burens Reflexionen über die Malerei „als

114 Eklund 2009, S. 293. 115 Lawson 1984, S. 159. 116 „The forced unification of opposites is a well-established rhetorical tactic for rendering discourse immune from criticism. The capacity to assimilate anything and everything offers the prospect of combining the greatest possible tolerance with the greatest possible unity, which becomes a repressive unity.“ Lawson 1984, S. 159. 117 Crimp 1996, erstmals erschienen: The end of painting, in: October, Frühjahr 1981. 118 Lawson 1984, S. 161.



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Code“ deren Ende einläutet – die Begründung, um Malerei als kritische Kunstform zu legitimieren: Es ist grundlegend für Burens Werk, dass er sich der Hilfe gerade dieser Institutionen bedient, die er als notwendig zum Verständnis des Kunstwerks sichtbar zu machen versucht. Das ist der Grund, weshalb sein Werk nicht nur in Museen und Galerien erscheint, sondern auch als Malerei posiert.119

Was Crimp im Werk Burens positiv hervorhebt, ist die Reflexion malereiimmanenter Fragestellungen und der Darstellung von Zusammenhängen, in und mit denen künstlerische Institutionen arbeiten.120 Lawson sieht in diesem Zitat jedoch die Möglichkeit für die Malerei, als subversives Mittel die „Illusionen der Gegenwart“ („illusions of the present“) zu dekonstruieren. Erklären lässt sich dieser Widerspruch damit, dass Crimp und Lawson in den jeweiligen Kontexten unterschiedliche Auffassungen von dem haben, was Malerei ist. Für Lawson – selbst Maler – ist sie eine Aktivität, die nach wie vor in engem Zusammenhang mit dem Individuum, „that last refuge of the mythology of individuality“121, steht, während Crimp in der für ihn relevanten Malerei Burens – in Abgrenzung zur „Malerei wie gewöhnlich“122 oder „Malerei als ‚purer Schwachsinn‘“123 – die Malerei als Code beschreibt.124 Dieser Auffassung von Malerei als Metamalerei widersetzt sich Wool. Oh, and then with the conceptual artists – it’s not personal [die Ablehnung; Anm. K.W.]. It’s the work, not them. I think, the way I used text was not didactic. I was not speaking about art, I was just making paintings.125

Für Lawson enthält Malerei deshalb, stärker noch als Fotografie, die Möglichkeit der Kritik, da sie angesichts der Mediatisierung unserer Wahrnehmung das unerwartete Medium ist, das als Tarnung genutzt werden kann. D.h. mit dem Mittel der Malerei kann man die medial geprägte Gegenwart reflektieren. Das Paradox der Fotografie, dass uns eine distanzierte Realität unmittelbarer scheint, indem sie uns suggeriert, „dabei zu sein“, könne durch die Malerei unter-

119 Crimp 1996, S. 103. 120 „Nur dadurch kann sein Werk die Frage aufwerfen: Was ermöglicht es, Malerei zu sehen? Was ermöglicht es, Malerei als Malerei zu sehen? Und, unter diesen Präsentationsbedingungen – zu welchem Zweck Malerei?“ Crimp 1996, S. 103. 121 Lawson 1984, S. 156. 122 Crimp 1996, S. 120. 123 Ebd., S.121. 124 Ebd., S. 120 f. 125 Prinzhorn 1997 [abgerufen am 6.6.2015].

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wandert werden. Die offensichtlichen Methoden einer Kunst, die mit dem Gebrauch des Mediums Fotografie selbst die dunklen Geheimnisse der durch die Fotografie aufgeworfenen Fragen auslotet („art that plumbs the dark secrets of the photographic question“), hält Lawson für zu deklarativ um einen wirklich tiefen Zweifel zu säen. Diese Möglichkeit der Subversion sieht er in der Malerei. „The appropriation of painting as a subversive method allows one to place critical aesthetic activity at the center of the marketplace, where it can cause the most trouble.“126 Sie sei das Medium, das eng verknüpft ist mit Fragen von Illusion, und stelle eine unendliche Matrix von Repräsentationen dar: „The discursive nature is persuasively useful, due to its characteristic of being a never-ending web of representations.“127 Die Theoretisierung der Malerei durch Lawson und die darum geführten Debatten – entstanden aus einer tiefen Krise der Malerei – waren auch für Wool produktiv und sicherlich Gründe, die ihn zu einer aneignungsbasierten Malerei veranlassten, die zunächst buchstäblich als „Tarnung“ bezeichnet werden kann. Obwohl Wool weder institutions- noch direkt medienkritisch arbeitet, können seine Bilder als Reflexion einer medial geprägten Wirklichkeit verstanden werden, denn es ist nicht nur die Fotografie, die eine historische Ablösung der Nachahmungstheorie einleitet, sondern gleichermaßen die Druckgrafik.128 Während Lawson in der Malerei eine Möglichkeit sieht, das Paradox der Fotografie subversiv zu reflektieren, kann diese Strategie bei Wool auf die Druckgrafik bezogen werden. Egenhofer beschreibt die Reproduktion der malerischen Spur im Siebdruck bei Wool als „verdinglichte[n; K.W.] Schatten ihrer selbst“129, d.h. im Druck wird die im Ausgangsmaterial der Pattern enthaltene Anonymisierung wiederholt, jedoch auch materialisiert. Diese doppelte Negation wird jedoch durch die Qualitäten des „Handgemachten“ gebrochen, worauf noch eingegangen werden wird. Zunächst sei festgehalten, dass Wools Malereien sowohl als malereihistorische Reflexion verstanden werden können als auch außermalerische Bezüge – hier zu einer veränderten, medial geprägten Wirklichkeit – herstellen.

Strategien der Aneignung: Das Ornament als allegorische Figur In seinem programmatischen Text „The Allegorical Impulse: Toward a Theory of Postmodernism“ aus dem Jahr 1980 führt Owens, Mitautor der Zeitschrift October, anknüpfend an Walter Benjamin und Paul de Man, die Allegorie als zentrale „theoreti-

126 Lawson 1984, S. 164. 127 Ebd. 128 Römer 2001, S. 81. 129 Egenhofer 2012



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sche, strukturelle und ästhetische Figur für den US-amerikanischen Kunstdiskurs“130 ein, um die „metatextuelle Dimension in der künstlerischen Praxis um 1980“131 zu kommentieren. Owens’ Interpretation stellt den Versuch dar, „unter der mutmaßlichen heterodoxen Oberfläche der Gegenwartskunst einen zugrundeliegenden Impuls zu fassen, der dieser Heterodoxie Kohärenz verleiht“.132 Dabei war das kritische Hinterfragen etablierter Machtstrukturen der Kunst für die AutorInnen zentral. „Bemerkenswert erwies sich Owens damalige These, eine allegorische Kunst würde ästhetische mit sozialen Bezügen verbinden.“133 Nach Owens waren es die Verdrängung und Ächtung der Allegorie als „Modus künstlerischer Bedeutung“134 seit der Romantik und die damit verbundene Reduktion der modernistischen Kriterien ästhetischer Qualität, welche die Kunst der 1980er-Jahre nicht angemessen analysierbar machten. Die Auseinandersetzung mit Geschichte, in Form eines Kommentars oder Kritik bedürfe der allegorischen Reinterpretation.135 In diesem Sinne wird Allegorie zum Modell allen Kommentars, aller Kritik, insofern es diesen darum geht, einen Primärtext gemäß seiner figurativen Bedeutung umzuschreiben. Mich interessiert jedoch, was passiert, wenn diese Beziehung innerhalb von Kunstwerken statthat, wenn sie deren Struktur beschreibt. Allegorische Bilder sind appropriierte Bilder; der Allegoriker erfindet keine, er konfisziert sie.136

Bezug nehmend auf Walter Benjamin beruht nach Owens die zunehmende Relevanz allegorischer Ausdrucksformen auf dem Bedürfnis, dieser in der US-amerikanischen Moderne empfundenen Geschichtslosigkeit entgegenzuwirken.137 Das zentrale Verfahren, das für Owens die Verbindung zwischen Allegorie und der Gegenwartskunst der 1980er-Jahre herstellt, ist das der Appropriation. Allegorie liegt nach Owens vor, wenn Beziehungen zwischen Texten und/oder Bildern untereinander hergestellt werden. „[…]; the allegorist does not invent images but confiscates them. He lays claim to the culturally significant, poses as its interpreter.“138

130 Lobeck 2002, S. 39. 131 Ebd. 132 Einführung zu Craig Owens: Der allegorische Impuls. Zu einer Theorie des Postmodernismus, in: Harrison/Wood 1998, S. 1308. 133 Lobeck 2002, S. 40. 134 Harrison/Wood 1998, S. 1309. 135 Owens 1998, S. 1309. 136 Owens 1998, S. 1310. 137 „Allegory first emerged in response to a similar sense of estrangement from tradition; throughout its history it has functioned in the gap between a present and a past.“ Craig Owens: The Allegorical Impulse. Toward a Theory of Postmodernism (1980) in: Wallis 1984, S. 203. 138 Owens 1984, S. 205.

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Owens argumentiert mit Roman Jakobson, die Allegorie beinhalte sowohl Metapher als auch Metonymie, was eine Vermischung verschiedener stilistischer Kategorien zur Folge habe. Dies zeige sich auch in der Vermischung von Text und Bild. This blatant disregard for aesthetic categories is nowhere more apparent than in the reciprocitiy which allegory proposes between the visual and the verbal: words are often treated as purely visual phenomena, while visual images are offered as script to be deciphered. [...] In allegory, the image is a hieroglyph; an allegory is a rebus –­writing of concrete images.139

Auch Benjamin H. D. Buchloh veröffentlichte 1982 einen Text zur Allegorie mit dem Titel: „Allegorische Verfahren. Über Appropriation und Montage in der Gegenwartskunst“140, in dem er die Bedeutung der Allegorie für den US-amerikanischen Kunstdiskurs thematisiert. Unter Rückbezug auf Walter Benjamins Allegoriebegriff – „Ursprung des deutschen Trauerspiels“ (1928) erschien 1977 in der amerikanischen Übersetzung und wurde im Zusammenhang mit einer „warenkritischen Kulturttheorie“ rezipiert – werden die Aneignungsstrategien und die in den Bildern enthaltenen Prozesse von Entwertung und neuer Sinnstiftung, Prozesse des Entlehnens, Übersetzens und Kommentierens sowie die mit diesen Prozessen verbundene Vorstellung von Beliebigkeit der Verbindung zwischen Bild und Bedeutung der „Appropriation Artists“ u.a. bei Buchloh und Owens als Allegorien verstanden. Buchloh geht von zwei gegensätzlichen Praktiken im Bereich der Montage-Ästhetik aus, deren Ursprung er in der Avantgarde der 1920er-Jahre – insbesondere im Dada – sieht, welche „historisch in fundamentale Widersprüche münden“141. Er stellt die ästhetisierende und poetisierende Praxis von Kurt Schwitters, die den Werken der Surrealisten vorausgeht (die dann mehr oder weniger direkt in eine Verwertung als Ware überführt wurden), gegen die politisch motivierten Collagen von John Heartfield, aus denen sich für ihn richtungsweisende Montage- und Agitprop-Ansätze beispielsweise der russischen Avantgardisten wie El Lissitzky oder Alexander Rodschenko entwickeln konnten.142 Die historische Entwicklung des zweiten Ansatzes

139 Ebd., S. 208 f. 140 Benjamin H. D. Buchloh: Allegorische Verfahren. Über Appropriation und Montage in der Gegenwartskunst, in: Alexander Alberro: Art after conceptual art, Köln 2006; ursprünglich erschienen als: Allegorical Procedures. Appropriation and montage in contemporary art, Artforum, Nr. 1, 1982. 141 Buchloh 2006, S. 32. 142 Eine ähnliche Differenzierung der Montage nimmt Peter Bürger in seinem einflussreichen Essay „Theorie der Avantgarde“ vor, in dem er die kubistische Collage von der Fotomontage John Heartfields abgrenzt. Letztere beschreibt er, wie Buchloh, als klar politisch motiviert sowie durch antiästhetische Momente geprägt. Im Gegensatz zu Buchloh hält Bürger jedoch das der kubistischen Collage innewohnende Bildprinzip für eine „Theorie der Avantgarde“ für fruchtbarer, da in dieser elementare Techniken der Bildkonstitution, wie das Aufbrechen der bildnerischen Einheit durch das offensichtliche Einfügen von Realitätsfragmenten in das Bild offensichtlicher zum Tragen kämen. Die Fotomontage nimmt für ihn eine „Zwischenstellung zwischen filmischer Montage und Bild-Montage ein



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zeichnet er auf der Basis von Walter Benjamins Theorie der Allegorie und Montage nach.143 Stefan Römer sieht in Buchlohs Essay eine Verbindung der materialistischen Theorie der Montage Benjamins mit Barthes’ Modell der Gegenmythologisierung.

[...], insofern oftmals in ihr die Tatsache des Montierens zum Verschwinden gebracht ist.“ Peter Bürger: Theorie der Avantgarde, Frankfurt am Main 1974, S. 104. Die kubistische Collage sei beispielhaft für das „avantgardistische“, „nicht-organische Kunstwerk“, welches er dem „klassischen“, „organischen“ Kunstwerk gegenüberstellt. 143 Buchloh nennt als eine zentrale Quelle seiner Argumentation den Essay von Harald Steinhagen „Zu Walter Benjamins Begriff der Allegorie“. (Harald Steinhagen: Zu Walter Benjamins Begriff der Allegorie, in: Walter Haug (Hrsg.): Formen und Funktionen der Allegorie, Stuttgart 1979, S. 666–685). Benjamins Beschäftigung mit der Allegorie, für sein Denken ein zentraler Begriff, manifestiert sich in der Auseinandersetzung mit einzelnen geschichtlichen Erscheinungsformen der Allegorie. Nach Steinhagen basieren die allegorischen und emblematischen Formen des 16. und 17. Jahrhunderts auf der metaphysischen und ontologischen Substanzlosigkeit, die im Barock reflektiert wird und welche durch die „Supposition von Sinn“ abgewendet werden soll. Allegorische Verfahren seien also Verfahren, in denen „Sinn oder Bedeutung auf ein qualitätsloses oder entqualifiziertes Material“ (Steinhagen 1979, S. 669) projiziert werde. Die Bedeutungen würden nicht in den Dingen gefunden oder entdeckt, sondern in die Dinge hineingedeutet. Zuvor müssen die Elemente jedoch aus ihrem Funktionszusammenhang genommen und damit entwertet werden. Ziel sei es, in einer dialektischen Bewegung den Verfall rückgängig zu machen und „in der Realität ein geheimes Ordnungsgefüge zu restituieren, das um der Glaubwürdigkeit willen an den Dingen selbst als deren Ordnung zur Erscheinung kommen muss.“ (Steinhagen 1979, S. 670) Der Allegoriker stifte also durch die subjektive Projektion, d.h. durch die Verbindung isolierter Realitätsfragmente, Sinn. Dieser Akt „des Weisens“ ist ein Akt souveräner Willkür. Um die Gefahr purer Subjektivität (und damit Beliebigkeit) zu überwinden, müsse einerseits deren Unvermeidbarkeit und Vorrang anerkannt werden, dann jedoch einem Prozess der Kritik unterzogen und schrittweise korrigiert werden. In den Baudelaire-Fragmenten begründet Benjamin Allegorie und Emblem als zeitgenössische Kunstformen und beschreibt die Collage- und Montagetechniken des Dadaismus und des Surrealismus als eine Weiterentwicklung der barocken Allegorie. Die Entwertung der Dingwelt werde nun jedoch durch die Waren produzierende Gesellschaft vorgenommen. So wie die Leiche das wichtigste Requisit im barocken Trauerspiel darstellte, ist die Dirne bei Baudelaire die „menschgewordene Allegorie [...]. Im entseelten, doch der Lust noch zu Diensten stehenden Leib vermählen sich Allegorie und Ware“. (Walter Benjamin: Gesammelte Schriften, Band I, Teilband 3, S.  1151.) Die Melancholie des Allegorikers ist im 19. Jahrhundert und Anfang des 20. Jahrhunderts keine Frage von persönlicher Eigenschaft, sondern bedingt durch die technischen Entwicklungen und die damit verbundene gesellschaftliche Warenproduktion . Die Allegorie ist in ihrer beliebigen Verbindung von Bedeutung und Bild die poetische Form des Verhältnisses von Ware und Preis. Ihr Gebrauchswert ist irrelevant geworden. Durch diese Parallele sei die Allegorie gleichzeitig Abbild und Reflexion des Warencharakters. Hierin liege ihre aufklärerische Intention. Auf diesen modernen Allegorie-Begriff Benjamins und das in ihm enthaltene aufklärerische und kritische Potential bezieht sich Buchloh. Indem in der Montage Signifikat und Signifikant voneinander getrennt und in neuen Kombinationen zusammengefügt werden, „unterzieht er das Zeichen der gleichen Funktionstrennung, die der Gegenstand bei seiner Transformation als Ware durchlaufen hat. (Buchloh 2006, S. 33), d.h. durch den Akt der Entwertung findet ein Protest gegen die Degradierung der Dinge zur Ware statt. Dieser Akt der Fragmentierung bedeutete somit eine Art Rehabilitation.

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 Weltbezug: Urbanität

Er fasst den Ansatz Buchlohs wie folgt zusammen: „Demnach wird ein aus seinem Zusammenhang gerissenes Motiv mittels Recodierung in eine künstlerische Aussage integriert, um den kulturellen Apparat im Sinne Benjamins umzufunktionieren.“144 Diese Umfunktionierung des kulturellen Apparates sei verbunden mit einer grundsätzlichen Veränderung der Rolle der Autoren. Diese müssten „von Lieferanten ästhetischer Waren zu einer aktiven Kraft bei der Transformation des existierenden kulturellen Apparates werden“145, d.h. Künstler müssten durch die Reflexion des kulturellen Apparates – der Produktionsbedingungen, unter denen überhaupt künstlerische Arbeiten entstehen – diesen und damit ihre Rolle darin verändern. Mittels einer Kritik der Institutionen und aktualisierter Begriffe wie der Ortsspezifik [...] wurde die Appropriation Art in eine Konzeptkunst-Genealogie der Kunst-, Ideologie- und Epistemologiekritik eingegliedert, da sie die (männlichen) Mythen der Moderne – die Begriffe der Autorenschaft, Authentizität, Originalität und die Hierarchie zwischen hoher und populärer Kultur  – konkret angriff.146

Ob dies mit dem Medium Malerei möglich sei, war eine zentrale Frage in der Diskussion um das „Ende der Malerei“ Mitte der 1980er-Jahre, die Owens, Buchloh und Crimp (bis auf wenige Ausnahmen, wie beispielsweise die Malerei von Daniel Buren147) verneinten. Die Verbindung zwischen Kunstwerk und kulturellem Apparat erläutert Buchloh am Beispiel von Jasper Johns’ „Flag“ (1955). Er kontrastiert das Werk, das eine Art des Bildermachens in die Malerei der New York School [einführt; K.W.], die bis dahin unbekannt war: die Aneignung eines Objekts oder Bildes, dessen strukturelle kompositorische und chromatische Aspekte den Entscheidungsprozess des Künstlers beeinflussten, noch bevor sie Eingang in seine Malerei gefunden haben,148

mit den Ready-mades von Duchamp und kommt zu dem Schluss, dass es Johns und anderen Künstlern beispielsweise der Pop-Art nicht gelänge, durch Selbstreflexivität die eigenen Produktionsbedingungen kritisch zu hinterfragen. Statt dessen leiste die Vereinigung „relativer Radikalität“ und „relativer Konventionalität“ eine Versöhnung, „die in erster Linie der Bewältigung des Konfliktes zwischen individueller künstlerischer Praxis und kollektiver Massenproduktion dient“149. Daraus resultiere auch die schnelle Popularität, die der Pop-Art zukam.150

144 Römer 1997, S. 130. 145 Buchloh 2006, S. 50. 146 Römer 2001, S. 102. 147 Crimp 1996, S. 119 ff. 148 Buchloh 2006, S. 36. 149 Ebd., S. 37. 150 Zur Einseitigkeit dieser Interpretation, welche bildtheoretische Fragestellungen nicht berücksichtigt, siehe z.B. Stefan Neuner: Die Zweiheit des Bildes. Jasper Johns, Richard Wollheim und Lud-



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Diesen Konflikt zwischen hoher Kunst und Massenkultur, der nach Buchloh in der Pop-Art vorschnell versöhnt wurde, gelte es nicht zu befrieden, sondern in der Kunst zu reflektieren, wie dies seiner Meinung nach in der Konzeptkunst der 1960erJahre von Künstlern wie Marcel Broodthaers oder Lawrence Wiener geschehen sei. Die „paradigmatische Verschiebung“, die u.a. mit den Appropriation Artists Ende der 1970er-Jahre einsetze, sei die, dass sich diese außerhalb der modernistischen Tradition bewegen und auf „jene Diskurse der Massenkultur konzentrierte[n; K.W.] welche die Erfahrungen des Alltagslebens maßgeblich konditionieren und kontrollieren“151. Diese Radikalität spricht er der Malerei genauso wie einen für relevante Kunst wesentlichen „Schockmoment“152 ab, der im Gegensatz dazu beispielsweise bei den Ready-mades von Marcel Duchamp eintrete. Neben dieser falschen Versöhnlichkeit kritisiert er an der Malerei ihre mangelnde Loslösung vom Subjekt des Malers. Abgesehen von ein paar wenigen Ausnahmen ist das Subjekt der Malerei schlußendlich immer ein erneut im Mittelpunkt stehender Autor, während bei gegenwärtigen Montageverfahren das Subjekt – so wie Barthes dies auf brillante Weise prognostiziert hat – letztendlich der Leser bzw. der Betrachter ist.153

Diese radikal ideologiekritische Argumentation, die auch in polemische Attacken ausarten konnte154, wird hier im Rückblick distanzierter betrachtet, „denn Konzeptualität knüpft sich kaum alleine an einzelne künstlerische Medien“155.

wig Wittgensteins Problem des „Sehen-als“, in: Richard Heinrich, Elisabeth Nemeth, Wolfram Pichler und David Wagner (Hrsg.): Image and Imaging in Philosophy, Science and Arts, Volume 1, Heusenstamm 2011, S. 219–250. 151 Buchloh 2006, S. 43. In der Analyse und Dekonstruktion der Ideologie des Alltagslebens sowie der Massenmedien sieht Buchloh eine Parallele zu Roland Barthes’ „Mythen des Alltags“ (1957). Mit dem Argument, Barthes’ Ansatz lasse sich als „historische Fortsetzung“ von Benjamins Theorie lesen, da beide „die Entwertung der zur Ware gewordenen Gegenstände wiederholen“, begründet er sein methodisches Vorgehen, diese für die Interpretation von Arbeiten aus den 1980er-Jahren heranzuziehen, wobei er sie durch die Methode der kritischen Mythologie ergänzt sehen möchte. 152 „Für mich zählt ein dreifaches Engagement: Es bezieht sich erstens auf das Begehren, zweitens auf eine fast schockhafte Erfahrung von Erkenntnis oder Befreiung und drittens, ganz klar, auf eine Form des deprivilegisierten politischen Denkens, implizit oder explizit. Eine Kunst, die sich auf Privilegien bezieht oder beruft oder diese als gegeben akzeptiert, ist für mich undenkbar und wird von mir nie als Kunst gesehen, obwohl es viel davon gibt.“ In: Kunstforum: Pluralismus war mir schon immer zuwider. Benjamin H. D. Buchloh im Gespräch mit Georg Imdahl, Kunstforum-Gespräche, Band 200, 2010, S. 412. 153 Buchloh 2006, S. 48. 154 „Ein wichtiger Unterschied besteht in der Art und Weise bzw. in dem Ausmaß, in dem sich die Idee der Fragmentierung, wie sie allegorische Verfahren kennzeichnet, von der phallokratischen Tendenz der Malerei abhebt, derzufolge Fragmentierung in erster Linie zerbrochene Untertassen, verbranntes Holz oder zerknittertes Stroh bedeutet.“ Buchloh 2006, S. 48 f. 155 Einleitung von Philipp Kaiser zur Ausstellung „Flashback Eine Revision der Kunst der 80er Jahre“, Kunstmuseum Basel, 2005, S. 17.

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 Weltbezug: Urbanität

Aus der Distanz scheint die vereinfachende Opposition zwischen Konzeptkünstlern und rückwärtsgewandten akademischen Malern, die die 1980er-Jahre prägten, nicht gerechtfertigt. Selbst offensichtlich und radikal mit Strategien der Aneignung arbeitende MalerInnen wie Elaine Sturtevant oder Mike Bidlo wurden nicht zur dikursiven Formation der Appropriation Art gerechnet, was auch nach Stefan Römer die limitierte Strategie der Appropriation Artists offenbart.156 Die Notwendigkeit, die oben beschriebene Dichotomie aufzulösen und die Kunst der 1980er -Jahre neu zu bewerten, beschreibt auch Philipp Kaiser im Vorwort zu der von ihm kuratierten Ausstellung „Flashback. Eine Revision der Kunst der 80er Jahre“ im Kunstmuseum Basel. Das Phänomen der figurativen Malerei, die erst in Italien, dann in Berlin, Köln und Hamburg, aber auch in Basel für Aufsehen sorgte, hielt in vielen Fällen nicht allzu lange an. Der Mythos der Vorherrschaft einer subjektzentrierten, antikonzeptuellen Bauchmalerei hält sich dennoch hartnäckig im Bewusstsein vieler. Auf der gegnerischen Seite steht ein Heer amerikanischer Kritiker, deren Abscheu gegenüber einer als regressiv empfundenen Malerei nicht größer sein könnte. So wurde die binäre Formel Neoexpressionisten versus Konzeptualisten diskursprägend, wenngleich durch eben diese Dichotomie der figurativen Malerei eine aus heutiger Sicht unverständliche Macht eingeräumt wurde. Wohl deshalb erreichte die Polemik damals ihren Höhepunkt, sodass ausnahmslos alle Malerei, ob neoexpressiv, figurativ oder abstrakt, suspekt erschien.157

Auch Douglas Crimp erkennt im Rückblick eine mangelnde Differenzierung bezüglich der Betrachtung von Malerei der frühen 1980er-Jahre, schreibt diese jedoch nach wie vor den „Befürwortern traditioneller Malerei“ zu. Gleichzeitig stimmt es vielleicht, dass Neo-Expressionismus zu der Überschrift wurde, unter der eine generelle Neubelebung der Malerei in den frühen achtziger Jahren zusammengefasst wurde. Das macht in gewisser Weise Sinn, da das Argument, das uns damals in Bezug auf jede Form von Malerei aufgedrängt wurde, lautete, Malerei sei nur als das Produkt eines autonomen künstlerischen Subjekts zu verstehen. [...] Deshalb denke ich, der Wunsch keine Differenzierung innerhalb des Gebiets der Malerei vorzunehmen, war ein Anliegen der Befürworter traditioneller Malerei, nicht das ihrer Kritiker. Und diese Tendenz setzt sich fort.158

Überzeugend ist diese Argumentation nicht, da offenbleibt, von wem das Argument, Malerei sei substanziell mit der Vorstellung eines autonomen künstlerischen Subjekts verbunden, aufgedrängt wurde und wieso diese Argumentation nicht kritisch hinterfragt werden konnte und kann. Es ist festzuhalten, dass das Aufgreifen des Tapetenmusters bei Wool als konzeptuelle Geste verstanden werden muss, in der er die Vorstellung des autonomen Kunst-

156 Römer 1998, S. 83. 157 Kaiser 2005, S. 16. 158 Crimp 2002, S. 43.



Künstlerisches Umfeld: „Appropriation Art“ 

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werks hinterfragt und das Bild bewusst für verschiedene Wechselwirkungen von Werk und Kontext öffnet. In diesem Sinne kann es als allegorisch verstanden werden. Markus Brüderlin benutzt für einen solchen Einsatz von Ornamenten den Begriff des „konzeptuellen Dekors“. Dieser trage die Frage nach dem Kontext nicht aus dem gesellschaftlichen Zusammenhang an das Werk heran, sondern entwickle sie aus der Problemgeschichte der abstrakten Malerei selbst, um von da aus zu einer Interaktion mit kunstexternen Bedingungen und Einflüssen zu gelangen. Dabei bilde die Autonomie, die sich die moderne Kunst über das Museum bis zum „White Cube“ erkämpft habe, eine wichtige Voraussetzung. Die „Konzeptionalisierung des Dekors“ entspräche der von der Systemtheorie geforderten Wechselwirkung von Werk und Kontext, der Beziehung von Betrachter und Werk, dem Zusammenhang von Selbstdarstellung und Milieu, Selbstreferenz und sozialen, historischen Aspekten, mit denen sich das kontextuell bewusste Werk strukturell vernetze und kopple.159 Diskursive Bezüge unterschiedlicher Art werden bei Wool auf vielerlei Weise hergestellt: Die inhärenten Bezüge zum Kontext der US-amerikanischen modernistischen Malerei wurde ebenso bereits dargelegt wie die wahrnehmungspsychologische Öffnung in den Raum durch eine oftmals zentrifugale Wirkung des Rasters oder die bewusste Herstellung eines eigenen Kontextes in Künstlerbüchern oder Ausstellungskatalogen. Auch die Beziehungen zwischen Wools Fotografien und Bildern zeigen Analogien zwischen urbaner Lebenswelt und malerischen Gesten auf. Das Aufgreifen massenproduzierter Tapetenmuster stellt den Kontext zu „Maschinenornament“, Tapeten und Massenkultur her, der Druck den zu einer medial geprägten Wirklichkeit. Das Aufgreifen von gesprayten Linien zeigt Bezüge zu Graffitis im urbanen Außenraum auf, über die Art des Farbauftrags wird die zeitgenössische Subkultur von Punk und New Wave evoziert. Auch die Hängung der Bilder beeinflusst diese in ihrer Wirkung stark, was Achim Hochdörfer am Beispiel von Wools Retrospektive im Solomon R. Guggenheim Museum in New York wie folgt beschreibt: In his work, however, this loss [of autonomy; Anm. K.W.] is not an inert given to be commented on. It is an unfolding process, a border conflict between pictorial immanence and its undoing. His paintings are parergonal: They don’t merely blur the distinction between what lies within the frame and what’s beyond it, but take this blurring as a precondition of perception. They cannot be seen as distinct from their contexts. According to their setting – museum, private collection, corporate collection, domestic space – they take on different meanings. [...] As documented by the artist (who has photographed his works at collectors’ homes and other sites), the pictures behave differently depending on the context; they can come across as grumpy or intellectual, reticent or cheeky, distressing or amusing.160

159 Brüderlin 1993, S. 103. 160 Hochdörfer 2014, S. 280.

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 Weltbezug: Urbanität

Diese Offenheit und Vieldeutigkeit des Bildes ist im Bild selbst angelegt, also „precondition of perception“, und insofern verallgemeinerbar, als dass Wool an der traditionellen Form des Tafelbildes festhält und keine anderen Formen der Verwischung der Grenze zwischen Raum und Bild wählt, wie den installativen Kontext oder eine „shaped canvas“-Form. Der „Konzeptualisierung des Ornaments“ wohnt nach Brüderlin eine Kritik an der utopischen Aufgeladenheit der abstrakten Malerei inne. Die Entkoppelung von Abstraktion und Utopie, Form und Inhalt begann schon in den 1920er-Jahren und deren Gleichsetzung wurde in den dreißiger Jahren durch den faschistischen Modernismus korrumpiert. In den fünfziger Jahren sollte die Verknüpfung in der Pattstellung der beiden aus dem Weltkrieg hervorgegangenen Machtblöcke nochmals ideologisch mobilisiert werden, und seit den sechziger Jahren können sich die ungegenständlichen Tendenzen lediglich noch an deren Aura aufladen. Die abstrakten Strategien der achtziger Jahre beginnen mit der Unangemessenheit dieser Verknüpfung von Form und Utopie aufmerksam zu machen und die semiotischen Vorgänge der Entleerung und Aufladung der Zeichen als künstlerisches Substrat zu verwenden. Auf diesen Zusammenhang zwischen dem Erlöschen des avantgardistischen, gesellschaftsutopischen Impulses und dem Ornamentalisieren paßt die Gleichung: Abstrakte Malerei minus Avantgarde = Ornament.161

Betrachten wir die Allegorie als Reflexion des Zeichens im Zeichen, in dem das von ihr präsentierte gleichzeitig dementiert wird, kann Wools Verfahren durchaus als allegorisch bezeichnet werden. Durch das Aufzeigen immanenter Widersprüche in der abstrakten US-amerikanischen modernistischen Kunst insbesondere im Hinblick auf ihre transzendentale Aufladung kann das Ornament hier im Sinne Brüderlins als „kritische Form“ verstanden werden. Die Banalität der Pattern Wools ist also nicht nur ironisch zu verstehen, sondern öffnet auch eine Vielzahl von Möglichkeiten, Bilder zu erzeugen. Als ‚kritische Form‘ erkannt, würden nämlich auch die positiven Aspekte der obigen Gleichung angesprochen, indem diese nicht nur einen Verlust – die Kluft zwischen Utopie und Form – herausstellen, sondern auch die notwendige Differenz, die es möglich macht, den Wandel des Verhältnisses von Avantgarde und Ornament in einem historisch-dialektischen Funktionszusammenhang zu beschreiben. So kann die Abkoppelung des abstrakten Formenpotentials vom Untergrund der sozial- und gesellschaftsutopischen Ideen aus heutiger Sicht auch als Gewinn potentieller Bewegungsfreiheit gesehen werden. Es fällt – vielleicht berechtigterweise – noch schwer, dies zu akzeptieren, aber die Künstler scheinen längst instinktiv von dieser gleichsam negativdialektischen Möglichkeit der Erneuerung der Malerei durch das Ornament Gebrauch zu machen und den Widerspruch in der Konzeption der Avantgarde produktiv werden zu lassen.162

161 Brüderlin 1993, S. 107. 162 Brüderlin 1993, S. 106.

Graffiti 

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In diesem Widerspruch schafft Wool – neben den malereiimmanenten Fragestellungen – hier auch Bezüge zu anonymen Gestaltungsakten im urbanen Kontext, welche (einst) subkulturelle Ausdrucksformen, wie Graffiti, einbeziehen.

Graffiti Wool has dramatically underscored this framing function in other paintings by superimposing swooping, dripping lines of black spray enamel to create an emphatic inner border. [...] This manner of marking is indelibly linked to adolescent urban graffiti, and a mature middle-class artist quite obviously must use the device with extreme discretion to keep it credible. To this end, Wool’s evident formal discipline is crucial [...] The rawness of the roller marks, the sprayed streaks and blobs, keeps the refined picture-making honest in terms of real-world observation and location; [...]. On longer reflection, there is also an inner tension between the two kinds of marking, in that the figured rollers signify the overpainted interior and the graffiti-style spraying conjures up the street and the walls outside of buildings.163

Thomas Crow beschreibt in diesem Textausschnitt die Spannung zwischen Markierungen des städtischen Innen- und Außenraums, die in Untitled, 1997, auf zwei Arten hervorgebracht wird: die Pattern der Tapetenrollen evozieren den übermalten Innenraum, der graffitiartig gesprayte Rahmen und die Punkte stehen für den urbanen Außenraum. Das einzigartige Phänomen der Entstehung des Graffiti in den ärmsten Gegenden New Yorks Ende der 1970er-Jahre kann hier nicht dargelegt werden. Die Synthese von Graffiti, Hip-Hop und Breakdance, welche die New Yorker Subkultur entscheidend prägte und weltweiten Einfluss ausübte, entstand in einer Zeit ökonomischer und politischer Umbrüche164 und war Ausdruck von radikaler Rebellion und Widerstand: „[...] spray painting was seen [...] as a sign, that the city had lost control.“165 Den tendenziell reaktiven und destruktiven Charakter von Graffitis beschreiben Kirk Varnedoe und Adam Gopnik in ihrem bedeutenden Buch „High & Low. Moderne Kunst und Trivialkultur“. Sie zeigen ihn beispielsweise an Duchamps „L.H.O.O.Q.“ auf, das im Zusammenhang mit der auch für „Untitled“, 1997, relevanten Strategie der Aneignung und Montage als ein Schlüsselwerk zu verstehen ist. „L.H.O.O.Q.“ zeigt nach Varnedoe das Graffiti-Machen eher als reaktive, denn als kreative Tätigkeit, die völlig

163 Crow 1998, S. 279 f. 164 „The unfulfilled promise of ’60s idealism clashing with the disappointing reality in America in the mid-’70s led to angry and antiauthoritarian art forms such as graffiti and punk rock.“ Jeffrey Deitch: Art in the streets, in: Deitch/Columbus 2011, S. 10. 165 Charlie Ahearn, Patti Astor, Fab 5 Freddy, Lee Quinones, with Jeffrey Deitch and Carlo McCormick: The birth of Wild style, in: Deitch/Columbus 2011, S. 51.

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 Weltbezug: Urbanität

aufgehe im Kritisieren und Kommentieren dessen, was andere gemacht haben, statt im direkten Ausdruck der eigenen Person.166 Das Interesse an Destruktivität als einem Grundimpuls für den menschlichen Ausdruck zeigen sie u.a.167 an den Fotografien Brassaïs auf. Nach Varnedoe und Gopnik gaben die Surrealisten einen „entscheidende[n; K.W.] künstlerische[n; K.W.] Impuls für eine Neubewertung der Graffiti“, obwohl sie sich nicht direkt für die sie umgebenden „schroffen oft unflätigen Formen“168 des Großstadtgraffiti interessierten. Statt formaler Aspekte war es die Sichtbarwerdung durch die Gesellschaft unterdrückter und zensierter Impulse im Graffiti, die die Surrealisten interessierte. Doch mit ihrer Verehrung des Unbewußten verband sich der unausgesprochene Gedanke, daß die wahren, ergiebigsten Quellen der Kreativität eben genau jene Impulse waren, die die abendländische Zivilisation unterdrückt und zensiert hatte und die sich an den unreinen Rändern entluden, dort wo die Kontrolle der Gesellschaft nachließ und ihre bourgeoisen Prämissen angreifbar wurden.169

Es waren im Wesentlichen Brassaïs Fotografien von Einritzungen und -kerbungen in die Wände von Pariser Häusern, die das Graffiti in die Avantgardekunst einführten. Brassaï stellte wie bereits andere Autoren und Künstler vor ihm170 die Nähe zur Kinderzeichnung her. Ihn interessierte jedoch weniger die Unschuld oder Naivität von Kinderzeichnungen, wie andere Künstler zu Beginn des 20. Jahrhunderts, sondern er stellte die authentische Wildheit und den Ausdruck von Schmerz in den Zeichnungen in den Mittelpunkt. Die Straßenzeichnungen waren keine Lebenslinien, die in eine uns früher allen gemeinsame Unschuld zurückführten, sondern Zeichen für die alltäglichen Qualen der menschlichen condition, die in der Jugend besonders schmerzhaft erfahren werden.171

Destruktive Energien als einen Grundimpuls der schöpferischen Tätigkeit anzuerkennen war ein Anliegen Brassaïs und anderer. Dies besitzt mit Sicherheit auch für Wool Gültigkeit. Im Prinzip kann man in Untitled, 1997, von zwei Arten der Auslöschung sprechen: Der Camouflage-Effekt der Tapeten172 überdeckt die Wände und macht bestimmte Merkmale derselben u.U. „unsichtbar“ – löscht diese sozusagen aus.

166 Kirk Varnedoe und Adam Gopnik: High & Low. Moderne Kunst und Trivialkultur, München 1990, S. 55. 167 Siehe auch Asger Jorn: „The Danish painter Asger Jorn considered vandalism to be at the center of human aesthetic strategy.“ Diederichsen 2011, S. 281. 168 Varnedoe/Gopnik 1990, S. 57. 169 Ebd., S. 59. 170 1848: Rodolphe Töpffer; 1910: G.H. Luquet; Künstler: Pieter Saenredam, Gerard Houckgeest im 17. Jahrhundert, in Varnedoe/Gopnik 1990, S. 51–53. 171 Varnedoe/Gopnik 1990, S. 58. 172 Brinson 2013, S. 40.

Graffiti 

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Das Graffiti ist wiederum eine Markierung, die im Wesentlichen das Ziel hat, reine Präsenz darzustellen173 und sich gegen seine Umgebung zu behaupten. Die Art der Auslöschung der Tapetenmuster hat einen verschleiernden, indirekten Charakter, die der graffitiartigen Spur einen offensiven, aggressiven. Während bei Duchamp die hohe Malerei und das Graffiti als „unverbesserlich ungezogene[r; K.W.], jugendliche[r; K.W.] Bruder [...]“174 miteinander in Beziehung gesetzt werden, sind dies bei Wool zwei visuelle Anlehnungen an den urbanen, kollektiven Alltag: das dekorative Muster und das Graffiti. Es ist nicht das Ausgangsmaterial, das „Präbild“, welches kritisch auf die „hohe Malerei“ Bezug nimmt, sondern die Neukontextualisierung und montageartige Konfrontation der angeeigneten Pattern und gesprayten Linien in einem Bildformat sowie die im Prozess entstehenden Beziehungen zwischen Mikro- und Makrostrukturen. Festzuhalten ist jedoch, dass das graffitiähnliche Zeichen in Untitled, 1997, als oberste Farbschicht auch bei Wool eine reaktive, kommentierende Funktion hat. Diese kommentiert und bewertet jedoch nicht ein Ideal der hohen Kunst neu, sondern fungiert als emotional aufgeladenes Zeichen des anonymen Großstadtlebens. Der destruktive Akt bezieht sich nur teilweise auf das zugrunde liegende Pattern – in erster Linie vermittelt er die assoziative emotionale Aufgeladenheit des urbanen Zeichens in seiner Unbestimmtheit. Während bei Duchamp die „Entwertung“ des Präbildes durchaus noch mit dem Autor verbunden ist, liegt in Wools Neukontextualisierung des Graffiti eher eine Aufwertung der anonymen, nicht institutionsgebundenen, rebellischen Stimme der Straße vor.175 Die Loslösung des Schriftzeichens von seiner Ausrichtung am Logos hin zu einem rein emotionalen Zeichen ist nach Diedrich Diederichsen der zentrale „Schock“, der mit dem Graffiti verbunden ist. This is the distinction between the logogenic and the pathogenic elements of symbolic production: The logogenic elements generate meaning, while the pathogenic elements generate emotion. [...] The shock of the discovery that in graffiti the pure use of signs becomes pathogenic,

173 „Of course, it is logically difficult not to design a piece of writing: Every decision regarding the size, width, shape, or color of a letter is a design decision. Nevertheless, these written texts are not shaped by visual intentions; at first glance, they too stand entirely under the sign of communication. On closer inspection, however, it becomes apparent that, just like American tags, their aim is to mark urban areas with their presence.“ Diederichsen 2011, S. 285. 174 Varnedoe/Gopnik 1990, S. 55. 175 Das Aufgreifen und die Transformation einzelner Aspekte des Graffiti in der Hochkunst war in den 1980er-Jahren für viele Künstler Thema. „Several of the most innovative New York artists of the early ‚80s, especially Basquiat, Haring and Kenny Scharf, built on the innovations of graffiti artists to create fresh advances in painting on canvas. This dialogue drew graffiti into the art-world mainstream, giving graffiti artistic credibility and keeping it from being categorized as a form of folk art.“ Deitch 2011, S. 11.

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 Weltbezug: Urbanität

and that it does so, moreover, to precisely the extent that it withdraws from all known semantic and pragmatic contexts, weighs even more heavily than the breaking of taboos inherent in the illegitimate or illegal activity of ‘scrawling’ or the aggression of marking the public space with one’s name.176

Die evozierte Emotion des gesprayten Rahmens in Untitled, 1997, lässt sich einerseits – dem Graffiti folgend – als aggressiver Akt des Vandalismus beschreiben, sie ist jedoch auch, offener, Markierung von Präsenz, einer materiellen Versicherung der eigenen Existenz an einem bestimmten Ort.177 Den performativen Charakter des Graffiti stellte u.a. auch Rosalind Krauss in ihren Interpretationen Twomblys heraus.178 Auch wenn es Spuren eines ganz elementaren „Ich war hier“ von Lord Byron auf der Akropolis oder Arthur Rimbaud auf dem Luxortempel in Ägypten gibt, sind es meist die Machtlosen, die ihren Unmut gegen den Status quo auf den Wänden hinterlassen. One early poster artist, perhaps, was Martin Luther, who spread his version of God’s word by nailing his tracts on the door. There is a long lineage of political statements, protests, and advocacies made on the streets [...]179

Insofern sind Graffitis auch als Zeugnisse einer negierten Geschichte, eines Akts des Widerstands gegen den Konsens, die unsichtbaren Reglementierungen, die den urbanen Alltag dominieren, zu verstehen.180 Nach Diedrich Diederichsen stellt das Graffiti eine Schwelle dar, in der das universelle, konventionelle, symbolische Zeichen zu einem auratischen Verweis auf die absolute Einzigartigkeit seines Schöpfers sowie den Moment und den Ort seines Entstehens wird. Diese Beziehung zwischen konventioneller Zeichenhaftigkeit und einem persönlichen „Stil“ kehre Christopher Wool um, indem er den persönlichen Stil des Malers – und damit die traditionelle Vorstellung des Authentischen und Originalen – in die persönliche Standardisierung eines Schrifttyps umwandelt. „Wool devotes himself to the possibility of converting the traditional auratic singularity of the painter’s ‘signature’ personal style into the personal standardization of a typeface.“181 Auf der Schwelle zwischen zeichenhaften urbanen Spuren und deren Transformation in eine der Hochkultur zuzuordnende Fotografie arbeitete, neben vielen FotografenInnen wie Walker Evans, Edward Weston, Ansel Adams, Lee Friedlander oder Helen Levitt, auch der US-amerikanische Fotograf Aaron Siskind. Dieser fotografierte

176 Diederichsen 2011, S. 284. 177 „On closer inspection, however, it becomes apparent that, [...], their aim is to mark urban areas with their presence.“ Diederichsen 2011, S. 285. 178 Rosalind Krauss: Cy’s up – Cy Twombly, Artforum, Vol. 33, September 1994, S. 118. 179 Carlo McCormick: The writing on the wall, in: Deitch/Columbus 2011, S. 20 f. 180 McCormick 2011, S. 22. 181 Diederichsen 2011, S. 287.

Graffiti 

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in den 1940er- und 1950er-Jahren Spuren auf Wänden in Form von Spritzern, Tropfspuren oder Mustern und stutzte die ursprünglichen Mitteilungen und Bilder zurecht, so daß sie abstrakte Kompositionen ergaben, in denen Elemente von Grund und Figur ineinandergreifen, wobei er die kalligraphischen, gestischen Energien innerhalb des Potentials der Graffiti fand.182

Mit der Wahl eines vergrößernden, abstrahierenden Ausschnitts und der damit einhergehenden Dekontextualisierung entzieht Siskind die Spuren auf den Wänden in gewisser Weise dem Leben der Straße und transformiert sie zu abstrakten Bildern, deren elementare und dynamische Expressivität große Ähnlichkeiten zu Bildern von Franz Kline und Clyfford Still aufweist. Die unter dem Einfluss einer neuen Vorstellung des Unterbewussten entstandenen Arbeiten von Jackson Pollock veränderten ab den 1930er-Jahren den Blick auf die Graffitis. „Die aufgewühlte Oberfläche der Leinwände [...] eröffnete einen Weg für die Würdigung des Erscheinungsbildes rauher Wände, die mit Texturen zufällig angehäufter Zeichen überlagert sind.“183 Siskind extrahierte den Kontext der Straße und transformierte die Zeichen auf den Wänden zu abstrakten Kompositionen, welche Bezüge zu hochkulturellen Bildern aufweisen. Obgleich formal ähnliche Interessen an informellen Formen auf der Straße zu konstatieren sind, geht Wool vierzig Jahre später geradezu umgekehrt vor. Er führt in Formen der amerikanischen Hochkultur, d.h. in die abstrakte Malerei, Zeichen der Straße ein und zeigt so gesamtkulturelle Zusammenhänge und intertextuelle Bezüge scheinbar elementarer Zeichen auf. Dies erfolgt jedoch nicht in Form eines direkten Imports184 oder Zitats, sondern Wool arbeitet mit der Unbestimmtheit des urbanen Zeichens als solchem. Er führt intertextuelle Bezüge des urbanen Lebens und der dort dominierenden Subkultur in die Malerei ein und hinterfragt damit gängige Paradigmen der US-amerikanischen modernistischen Malerei wie Originalität und Authentizität. Dies geschieht immer im Zusammenspiel aller Parameter der Malerei mit großer formaler Diziplin. To this end, Wool’s evident formal discipline is crucial. He assembles combinations of these devices with a graspable sense of theme and variation, systematically working through possible permutations. [...] Seeing the paintings side by side, the viewer is more than encouraged to make

182 Varnedoe/Gopnik 1990, S. 59. 183 Varnedoe/Gopnik 1990, S. 59. 184 „[...] nur Außenstehenden [...] erschien es je vielversprechend, das Ignorieren des Rahmens zu übertragen, indem sie einen Rahmen (Rahmen) in der Galerie ignorieren (Wand besprühen), den anderen aber unangetastet lassen (Galerie).“ Diederichsen 1992, S. 111.

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 Weltbezug: Urbanität

fine judgements as to the relative success of each variation and to marvel in general at the complexity that his intentionally restricted vocabulary can generate.185

In dem vorliegenden Zitat Thomas Crows klingt die Mehrdeutigkeit des gesprayten Rahmens an. Neben dem Verweis auf urbane subkulturelle Zeichen ist der gesprayte „Rahmen“ gleichermaßen formales Element eines reduzierten Bildvokabulars, Verweis auf eine traditionelle Bildvorstellung.186 Ann Goldstein sieht in ihm eine Anspielung auf die Bildtradition des Bildes als Fenster. In his most recent works, Wool has applied a black, spraypainted, rectangular ‘frame’ to the surface. Streaming with drips, these ‘frames’ hover over the surface, reinforcing it while at the same time alluding to the convention of the painting as a ‘window’.187

Wool versieht in anderen Bildern eben diesen Rahmen mit einem Kreuz, was den Verweis auf das Fenster noch verstärken könnte. Der „Blick durch das Fenster“ gibt jedoch nicht den Blick auf eine wie auch immer geartete ontologische Wirklichkeit frei, sondern richtet ihn auf ein Bild mit einem explizit opaken Bildgrund. Den Blick durch ein Fenster auf ein Bild zeigen auch Fotografien Wools in seinem Katalog zur Ausstellung im MoCA, Los Angeles.188 Sowohl in Untitled, 1997, als auch in den Fotografien (Abb. 27–29) bildet der „Rahmen“ die oberste Bildebene und schafft Distanz zu dem dahinterliegenden Bild, ohne jedoch im traditionellen Bildsinn einer ästhetischen Grenze den Zugang zu diesem zu eröffnen. Stattdessen werden die Pattern und der gesprayte Rahmen in einer Montage miteinander konfrontiert. In beiden Fällen sind Rahmen und Bild nicht miteinander verbunden, sondern stellen zwei voneinander losgelöste Ebenen dar. Die komplexe räumliche Wirkung der Pattern, die durch ihre Überlagerungen und Übersprayungen entsteht, wurde bereits beschrieben. Sie richtet sich im Wesentlichen auf die optische Wirkung des Bildes. Demgegenüber ist der brachial wirkende Rahmen eine eindeutige elementare rechteckige Form, die auf den körperlichen Akt des Sprayens verweist.

185 Crow 1998, S. 279 f. 186 „As Wool’s paintings have developed over the last decade, these incipient effects have been sustained by the introduction of two further devices that very much belong to traditional picture making, but which in his hands either follow directly from his initially pared-down technical repertoire or carry equally impeccable precedents in a down-scale urban vernecular.“ Crow 1998, S. 279. 187 Goldstein 1998, S. 262. 188 Exemplarische Abbildungen in: Ann Goldstein (Hrsg.): Christopher Wool, Ausst.-Kat. The Museum of Contemporary Art Los Angeles, (19.07.1998–18.10.1998) und Carnegie Museum of Art Pittsburgh, (21.11.1998–31.01.1999), S. 134, S. 137, S. 141.

Graffiti 

Abb. 27: Fotografie aus der Galerie Samia Saoma, Paris, 1995

Abb. 28: Fotografie aus der Nationalgalerie Prag, 1994

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Abb. 29: Fotografie aus der Nationalgalerie Prag, 1994

Das Ineinanderwirken auf unterschiedliche Art entmaterialisierter „Bilder von Bildern“ mit meist rasterartigen Strukturen, die auf ihre Materialität als Farbe, Druck oder körperliche Spur und damit auf ihre malerielle Präsenz verweisen, zeigt sich auch in den Fotografien. Hier konfrontiert Wool ein Bild, welches hinter teilweise spiegelndem Glas noch ungreifbarer wirkt, mit den Fenster- oder Türrahmen, die als rasterartige Struktur vor dem Bild stehen. Um den gesprayten Rahmen in seiner Hybridität zwischen graffitiähnlichem Zeichen einerseits und elementarem, abstraktem Bildzeichen andererseits besser zu verstehen, wird hier das Verhältnis zwischen der Linie als Form der reinen Präsenz und der Linie als Spur näher untersucht. In der ihnen innewohnenden „Prozessualität der Zeichenbildung“189 ist der gesprayte Rahmen Wools vergleichbar mit den Linien Cy Twomblys. Martina Dobbe beschreibt den Unterschied der Linie als Form der reinen Präsenz bei Pollock im Gegensatz zur Linie als Spur bei Twombly wie folgt: Spuren im Sinne des indexalischen Verweises auf den (körperlich/gestisch/aktional) bestimmten Prozess ihrer Entstehung weisen beide Bilder auf. Aber Twomblys Graphismen sind, anders als Pollocks ‚absolute‘ Linien, optisch weniger präsent, weniger ‚da‘, verabsolutieren sich nicht im Hinweis auf sich selbst. [...] Zweifellos sind auch Pollocks Linien Spuren seiner Aktionen, Spuren als sichtbare Hinweise auf etwas, ‚das selbst nicht mehr gegenwärtig da ist‘ – die Aktion

189 Martina Dobbe: Medialität, Schrift und Bild. Aspekte der bildtheoretischen Diskussion des Werks von Cy Twombly, in: Thierry Greub (Hrsg.): Cy Twombly. Bild, Text, Paratext, München, 2014, S. 415.

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 Weltbezug: Urbanität

bzw. den Maler in der Aktion. Aber indem Pollock die Linie optisch verabsolutiert, präsentiert sich die absolute Linie als eine Linie ‚ohne Geschichte‘, als Präsenz bzw. im Präsens, ohne dass sie sich – materialiter – in ihrer Gegenwärtigkeit bricht. Bei Twombly ist die Linie als Spur hingegen eine Art ‚Selbstauslöschung, die Auslöschung ihrer eigenen Präsenz‘ – Spur mithin im Sinne eben jener ‚Differenz‘, die Derrida als Kennzeichen der Schrift-als-Spur beschrieben hat: ‚différer la présence‘.190

Affinität und Differenz zwischen Wool und Pollock wurden bezüglich der Bildfläche und des Bildraums bereits analysiert. Auch hinsichtlich der Präsenz ihrer Linie sind sie, vergleichbar mit dem Verhältnis zwischen Pollock und Twombly, das Martina Dobbe beschreibt, voneinander abgrenzbar. Ebensowenig wie bei Twombly der Verweis auf die Schrift als direkte Referenz zu verstehen ist, sondern durch das Modell der Spur die „Möglichkeit [gewonnen wird; K.W.] [,] die – unbestimmte – Schrift bei Twombly in ihrer Unbestimmtheit zu charakterisieren“191, ist das Graffiti bei Wool als solch direkte Referenz zu verstehen. Auch in Untitled, 1997, kann die gesprayte Linie als Spur verstanden werden. Die Spur impliziert „das stets gleichzeitige Ziehen und Sich-Entziehen einer anschaulichen Präsenz“192. Ein wesentliches Merkmal dieses „Sich-Entziehens“, der „Selbstauslöschung“ der gesprayten Linie in Untitled, 1997, ist – neben ihrer Neukontextualisierung auf einem rechteckigen Bildformat und der Konfrontation mit den Pattern – ihre Loslösung vom glatten Grund. Diese steht im Gegensatz zu ihrer Verbundenheit mit der rauen Wand im Kontext der Stadt, welche ja geradezu physische Voraussetzung für Graffitis ist. Bei Wool hingegen scheint die Linie vor den Pattern zu schweben. Diese Form der Entkoppelung von Bildgrund und Linie wird in anderen Graffiti assoziierenden Sprühbildern, z.B. dem bekannten „He said she said“ oder „The flam“ aus dem Jahr 2001193, durch die Transformation in Siebdruck oder ihre ausschnitthafte Angeschnittenheit erreicht. Somit ist der gesprayte Rahmen einerseits elementare Manifestation eines körperlichen Aktes im Sinne einer Markierung („mark-making“), emotionales Zeichen für destruktive oder aggressive Energien, welche im Kontrast steht zu den optisch wirkenden Pattern. Andererseits wird die gesprayte Linie durch die Loslösung vom Grund als schwebend erlebt und ist in dieser Manifestation der eigenen Widersprüchlichkeit Spur in dem Sinn, wie Dobbe sie beschreibt. In dem Zusammenwirken von (Graffiti-)Zeichen, Bild und Grund thematisiert auch Wool „das fundierende Potenzial des Grundes in statu nascendi“194.

190 Ebd., S. 412–414. 191 Dobbe 2014, S. 415. 192 Ebd., S. 413. 193 Wool 2012, S. 270 f. 194 Dobbe 2014, S. 417.



Handmade – Readymade 

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In diesem selbstreflexiven Aufzeigen der „Ermöglichungsbedingungen“ des Grundes für Zeichen und Bild in den aufgezeigten Erscheinungsformen zwischen ikonografischem Verweis, Optikalität und Materialität, zwischen anonymer Konventionalität und Individualität, und zwischen „High and Low“ leisten die Bilder Wools unter Einbezug zeitgenössischer urbaner Erfahrungen einen wesentlichen Beitrag zur Frage, was ein Bild leisten kann. Die so formulierte Divergenz zwischen Materialität, Optikalität und Ikonografie verweist auch auf den Produktionsprozess des Bildes. Die Produktionsästhetik, die auf den Akt des Werdens verweist, „arbeitet die Struktur dieses Risses heraus, der jede Darstellung von ihrem Gewordensein trennt“195. Die Bedeutung seines prozessorientierten Vorgehens hebt Wool immer wieder hervor.

Handmade – Readymade CW: [...] I guess you could equate visualizing the process of making the work with visualizing the actual inspiration for the work itself.“196 [...] the work looks both out to the world and inward in an obsessive self-replication, is both attracted to the expressive potential of gesture and relentlessly mediates this same impulse [...]197

Paradoxerweise nimmt Wool jedoch seriell produzierte Waren zum Ausgangspunkt seiner Bildproduktion. Indem Wool keine teuren, qualitiativ hochwertigen Tapeten verwendet, sondern ihr billiges, maschinell hergestelltes „Fake“, wird implizit auch der Verdrängungsmechanismus des traditionsbewussten Handwerks durch die Industrie beispielhaft in der Wahl des Materials evoziert. Auch das Ausgangsmaterial gleicht einem „Schatten“: „Während Taaffes Konzept darin bestand, die Malerei als ihren eigenen Doppelgänger darzustellen, [...] präsentiert Wool sie als trostlosen, harten Schatten ihrer selbst. Seine getrocknete Blume ist bloß noch ein klägliches Trugbild der Blüte.“198 Gleichzeitig verweist er auf eine urbane Realität, in der die Erinnerung an einen und der Verlust eines in der Tradition des Handwerks gestalteten, geschützten Innenraum(s), und damit die Erinnerung an das Haus als Zufluchtsort, nachhallt. Es wird jedoch keine Wertung in Form von nostalgischer Wiederbelebung oder kritischer Transformation sichtbar. Hier steht Wool ganz deutlich in einer künstlerischen Tradition der Moderne.

195 Sebastian Egenhofer: Produktionsästhetik, Zürich 2010, S. 7. 196 Temkin/Frankel 2005, S. 130. 197 Brinson 2013, S. 35. 198 Perrone 1992, S. 106.

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 Weltbezug: Urbanität

Die Identifikation mit den sozialen Praktiken der Massenunterhaltung – ob unkritisch reproduziert, karikiert, oder in abstrakte Arkadien verwandelt – bleibt eine stete Konstante der frühen Moderne. [...] In der jüngsten Geschichte hat sich diese Dialektik am lebendigsten in den Gemälden, Assemblagen und Happenings der Künstler wiederholt, die der New York School auf den Fersen folgten: bei Johns, Rauschenberg und Warhol.199

Wool manipuliert das angeeignete Material im Verlauf seiner Arbeit immer stärker. Somit benutzt er die massenproduzierten Tapetenmuster immer weniger in Form eines Ready-made, sondern führt zunehmend eine manuelle, „handgemachte“ Ästhetik ein. Dies geschieht im Wesentlichen über Störungen, welche teilweise bereits beschrieben wurden.200 Interessant ist in diesem Zusammenhang ein Vergleich zweier Fotos, die Wool und Warhol beim Drucken zeigen. Wool selbst – in Arbeitskleidung mit Gasmaske, Handschuhen und Knieschonern ausgestattet – kniet in dem auf dem Boden liegenden Sieb und zieht die Rakel darüber. Sein Blick ist auf den gerade stattfindenden Prozess und damit auf das entstehende Bild gerichtet. Der mechanische Prozess des Druckens ist u.a. durch die Stärke des Drucks noch steuerbar und somit seiner reinen Mechanik enthoben. Wool wirkt, als „male“ er mit der Rakel, da er nicht den maximalen Druck auf die Rakel ausübt, sondern eher besonnen und nuancierend zu agieren scheint. Demgegenüber hockt Warhol in Alltagskleidung, nur mit Handschuhen ausgestattet, vor dem Sieb, während seine Assistentin sehr kraftvoll die Rakel über das Sieb zieht. Ihr Blick geht nach unten, konzentriert auf den physischen Prozess des Ziehens. Der konzeptuelle und der physische Anteil des „Bildermachens“ sind im Gegensatz zu Wools Arbeitsweise getrennt. Auch wenn die „Entdeckung des Fehlers“ beim Drucken sicherlich Warhol zugeschrieben werden kann201 und auch Wool die seiner Meinung nach unterschätzte Prozessorientierung bei Warhol betont202, scheint Warhols Kunstpraxis zumindest bei den Siebdrucken noch stärker auf ein Konzept bezogen als die Kunstpraxis Wools. Die Faszination für die Einfachheit des „Handgemachten“ im Zusammenspiel mit vorgefundenem Material bezeichnet Wool mit dem Begriff „Garage-Band-Ästhetik“ und empfand diese beispielhaft bei den „sinks“ von Robert Gober: MP: And what about Gober as a sculptor? What were the common points of interest? CW: We had been friendly and I went to his studio when he made his first sink. [...] What impressed me about the sink is that kind of almost garage band aesthetic. That is not how you

199 Thomas Crow: Moderne und Massenkultur in der bildenden Kunst, in: Texte zur Kunst, 1990 [ursprünglich 1981], H. 1, Berlin, S. 45. 200 Die Eingriffe in die Pattern werden zwischen 1988 und 1999 immer stärker. 201 Deitch 2013, S. 5. 202 Temkin/Frankel 2005, S. 130.



Handmade – Readymade 

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do something. It is not how well you do something, it’s what you do. [...] Gober, you know, he sculpted something, he didn’t readymake it. So I learned something about making paintings. The quality that went into making it being so important to the strength that the piece had was something I had forgotten about.203

Wool betont hier den Aspekt des „Machens“ und distanziert sich damit von einer bestimmten Vorstellung von „Können“ oder Virtuosität. Beide, Gober und Wool, gehen von vorgefertigten, massenproduzierten Produkten mit den ihnen eigenen Implikationen aus und laden sie durch dezidiert händische Manipulationen expressiv auf. Dabei nimmt der Arbeitsprozess einen großen Stellenwert ein. In den früheren Roller-Paintings legt Wool insbesondere durch das Abrutschen mit der Musterrolle die Entstehungsbedingungen der Rollens offen und hinterfragt damit auch einen übersteigerten Wirkungsanspruch von Kunst, indem „der Fehler“, der im Zusammenhang mit einem mechanischen Prozess entsteht, in den Mittelpunkt gestellt wird. In Untitled, 1997, hingegen entwickeln die fragmentierten, vergrößerten und geschichteten Muster einen Eindruck von Kontrollverlust und haben einen aggressiven Charakter. Wie bereits beschrieben, war Wool schon seit 1983 von dem Verfahren des händischen Manipulierens mechanischer Objekte bei Robert Gober beeindruckt. Nach Katherine Brinson war er von der Verletzlichkeit und der schwer fassbaren psychologischen Kraft der banalen Formen überwältigt.204 Brinson sieht Parallelen in den Arbeiten beider Künstler und beschreibt das Ineinanderwirken der massenproduzierten, anonymen und kontrollierten Formen und der diese auflösenden Manipulationen als grundlegend für Wools Werk.

203 Prinzhorn 1997 [abgerufen am 17.3.2014]. Auch in der sehr persönlichen Biografie in der Monografie „Wool“ wird die Bedeutung Gobers für Wool deutlich. Des Weiteren wird auf eine von zwei Gemeinschaftsarbeiten verwiesen. „1983 sees the first of Robert Gober’s sinks at Gober studio‚ I realized he had done something. And I realized I had to do something’ [...] 1988 collaborative installation with Robert Gober one painting by Wool (Apocalypse now) one sculpture by Gober (Three Urinals) one collaborative photograph (Untitled) and a mirror Gary Indiana contributes a short piece of fiction to the accompanying publication.“ Wool 2012, S. 403. Auch Gober beschreibt die gemeinsame Ausstellung in seinem Katalog und dokumentiert damit ihre Bedeutsamkeit: „Die Fotografie, die wir gemeinsam machten, ging auf ein Bild aus ‚Slides of a Changing Painting‘ zurück. Chris bedruckte den Stoff für das Kleid mithilfe von Farbrollern, die er schon beim Malen seiner Bilder benutzt hatte, und ich nähte das Kleid. [...] Schließlich gingen wir mit dem Kleid zurück in denselben Wald und fotografierten es an einem dort stehenden Baum. Ich glaube, Chris hat das Foto gemacht, das wir am Ende verwendeten.“ (Theodora Vischer: Robert Gober. Skulpturen und Installationen 1979–2007, Göttingen 2007, S.  192). Für die Documenta IX entstand eine weitere Gemeinschaftsarbeit, in der eine Serie von GummistempelBildern Wools mit vergrößerten Weinblatt-Motiven (diejenigen, die auch auf dem Kleid waren) auf Tapeten Gobers hing, die eine Art Herbstlandschaft zeigten. 204 Brinson 2013, S. 39.

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 Weltbezug: Urbanität

Wool’s roller paintings permit a similar trace of hand’s caprices. They are threaded through with woozy glitches wherein the patterned icon is elongated or skipped altogether, in a strangely disarming systematic breakdown that is amplified by the choice of unforgiving industrial materials. Scanning the surface of the works, the eye lights on these mishaps, and they accrue a special emotional charge. A vein of slipped paint amid a vacuous sea of clovers or fleur-de-lis appears as a bodily lesion – a surprising moment of deeply human mortification within a depersonalized framework. This precarious truce between control and its relinquishment was to prove foundational for Wool’s subsequent work.205

Der Kurator Julien Fronsacq spricht von „gestualité mechanique“206, der Kurator und Kunsthistoriker Achim Hochdörfer beschreibt die Interdependenz von reproduktiven und improvisierenden Strategien.207 Im Kern stehe für ihn jedoch eine intensive Expressivität. Diese entsteht im Wesentlichen durch die Störimpulse, mit denen Wool die Pattern transformiert.

Störimpulse Während in den Roller-Paintings die beschriebene Stauchung und Streckung einzelner Pattern ein wesentlicher Störimpuls war, kann man diese in Untitled, 1997, wie folgt differenzieren: 1. Vergrößerung und Vergröberung, 2. Flecken und Verschmutzungen, 3. Überlagerungen und Auslöschungen, 4. Fragmentierung. Zu 1. Vergrößerung und Vergröberung In Untitled, 1997, erhalten die Punkte durch die relative Grobheit der schwarzen Formen, ihre Überlagerungen und Übersprayungen wie unter einer Lupe den Charakter von „Einschusslöchern“. Scheinbar selbstreferenzielle Formen werden zu Markierungen eines unheimlichen und gewalttätigen Aktes. Ann Goldstein spricht von „roher Energie“208. Durch die zunehmende Vergrößerung und Vergröberung der bekannten, im kulturellen Gedächtnis gespeicherten Formen wird zunächst ein Eindruck von Grobheit und auch Vereinzelung geschaffen. Dadurch dass zum einen die Formen,

205 Ebd., S. 39. 206 Julien Fronsacq: Christopher Wool, Untitled (2002), Vortrag in der Reihe „Une peinture parlée“, Centre Georges Pompidou, Paris 2009 [http://www.dailymotion.com/video/xb4xtt_peinture-parleechristopher-wool-un_creation, abgerufen am 24.3.2014]. 207 „But here, too, inside and outside depend on and interact with each other. If the ergon or artwork ist the proper site of pure expression, then in Wool’s parergonal painting, expression steps outside itself, as it were. Affect is channeled in fits and starts through such mediated forms as catchphrases and graffiti – prefabricated elements that are combined intuitively, spontaneously.“ Hochdörfer 2014. 208 „Die Banalität, die man mit Warhols Siebdruck-Blumen verbindet, wird von der rohen Energie überwältigt, die Wools intensive und scheinbar unkontrollierte Schöpfungen ausstrahlen.“ Goldstein 2012, S. 182.



Handmade – Readymade 

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zum anderen aber auch die Zwischenräume größer werden, verlieren die Pattern ihre Leichtigkeit und Kontinuität, welche durch das Flimmern der kleinteiligen Formen erzeugt wird.209 Stattdessen stehen die Formen zunächst isoliert nebeneinander. Zu 2. Flecken und Verschmutzungen Die Materialität der Farbe, d.h. ihre physischen Eigenschaften, werden durch die Opakheit des weißen Bildträgers, durch den Druckprozess und der dabei durch „fehlerhaftes Drucken“ stehen bleibenden Farbe sowie die herunterlaufende gesprayte Farbe betont. Assoziationen zu Verschmierungen und Verschmutzungen werden hervorgerufen, die durch eine gewisse Form der Nachlässigkeit entstehen – Nachlässigkeit, die als Aggression oder Indifferenz verstanden werden kann. Sie ist, wie Richard Hell beschreibt, jedoch auch mit Lockerheit210 und Schnelligkeit verbunden. Dieselbe Haltung [wie in den Fotos; Anm. K.W.] prägt auch Wools Malerei, die ebenso locker und nachlässig agiert, mit einfachen Mitteln und offenbar schnell zusammengezimmerten Rahmen auskommt und freizügige Schwünge und Gesten liebt.

Wool selbst beschreibt die Arbeit an den Bildern als Energieausbruch, ein sehr schnelles, plötzliches Ereignis, was jedoch nicht bedeute, dass seine Bilder schnell entstünden. I do things quickly but that doesn’t mean the paintings happen [...] quickly, but its burst of energy. And I’m looking for that moment. So I work until that moment happens or until I realize it happened an hour ago and I missed it.211

Diese Nachlässigkeit und das daraus entstehende „Chaos“ in Wools Formenwelt wird abhängig vom Zeitkontext unterschiedlich interpretiert. Das beschreibt auch Joan Waltemath in einem Roundtable-Gespräch zu Wools Retrospektive im Solomon R. Guggenheim Museum 2013: I think anyone living downtown at that time learned to see all that chaos and debris as extremely liberating and not as abject as it reads today. It was freedom and makes today feel like living in a straightjacket.212

209 Diese Art der Wirkung ist bei der Konzeption von Tapetenmustern von großer Bedeutung. 210 Hell 2012, S. 233. 211 Christopher Wool in: The Chicago Tribune (Hrsg.): Opening Sunday – Christopher Wool emerged from New York’s art scene in the 1980s to become one of the most important abstract painters of his generation, 2014 [http://www.frequency.com/video/opening-sundaychristopher-wool-emerged/151372975/-/5-65206, abgerufen am 24.3.2014]. 212 The Editors: A Critics’ Roundtable on Christopher Wool at the Guggenheim, in: artcritical – the online magazine of art and ideas, 22.1.2014 [http://www.artcritical.com/2014/01/22/christopher-woolroundtable/, abgerufen am 3.4.2014].

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 Weltbezug: Urbanität

Unabhängig von ihrer Interpretation ist Wools Schwarz-Weiß-Ästhetik mit Flecken, Spritzern, Brüchen u.Ä. auch eine Referenz an die Punk-Rock-Ästhetik seiner Zeit.213 Die Ränder des Siebs deuten oftmals eine eigenständige rasterartige Struktur an, welche im Kontrast zu bewegteren und runderen Formen der Pattern selbst steht. In Untitled, 1997, bilden sie ein „Echo“ zu den Außenrändern des Bildes, eine brüchige Wiederholung zwischen den Bildrändern und dem gesprayten Rechteck. Interessant ist hier, dass keine direkte Verbindung zwischen den Rändern des Siebes und den einzelnen Pattern zu entstehen scheint. Die „ikonische Kapazität des Siebs“214 wirkt losgelöst von ihrem jeweiligen Motiv. Sie artikuliert sich hier insbesondere in der spezifischen schichtenartig aufgebauten Räumlichkeit, welche Distanz herstellt (die dann wieder in Teilen aufgebrochen wird). Die Pattern sind vom Bildrand gelöst und werden so stark auf das Innere des gesprayten Rahmens bezogen wahrgenommen, dass kein direkter visueller Bezug zu den Linien des Siebrandes hergestellt wird. Diese Beziehungslosigkeit zwischen Sieb und Motiv wird in der Beziehungslosigkeit zwischen Sieb und Bildgrund verdoppelt. Zu 3. Überlagerungen und Auslöschungen Durch die Verschiebungen, Überlagerungen und Auslöschungen verlieren die Pattern die ihnen eingeschriebene Ordnung. Die weiß übersprayten Ornamente werden durch das Zusammenwirken mit dem weißen Hintergrund quasi ausgelöscht. Das Prinzip der Auslöschung nimmt seit den 1990er-Jahren zunehmend Raum in Wools Werk ein. Ann Goldstein beschreibt den Prozess der Überlagerung und des Auslöschens einzelner Bildteile durch Übermalung oder in einer späteren Werkphase durch Wegwischen als additive und subtraktive Prozesse.215 Tilgungen werden zu einem wesentlichen Teil der Bildgenese und damit Leerstellen zu einem bedeutenden Teil des Bildes. Wool selbst beschreibt diese als „Verdeckung, die Bild geworden ist“216. Die Beziehungen werden in großem Maße durch das Übereinander verschiedener Schichten definiert. Die so entstehenden, nicht mehr im Einzelnen zu identifizierenden Schichten und der „fehlerhafte“ Druck lassen die regelmäßige Ordnung eines All-over-Pattern aus den Fugen geraten. Besonders irritierend ist hierbei das Verschwinden der weiß übersprayten Pattern durch ihr Verschmelzen mit dem weißen Hintergrund. Das Formengefüge bildet ein Amalgam aus Formen, dessen Herstellungsprozess nicht mehr nachvollzogen werden kann. Die Bildelemente sind innerhalb des gesprayten Rahmens zentriert. Durch die Ausfransungen der Ränder und die vielfachen Überlagerungen dieser undefinierten Bildbereiche entstehen unterschiedliche räumliche Wirkungen. Während die Bild-

213 Deitch 2012, S. 6. 214 Egenhofer 2012, S. 197. 215 Goldstein 2012, S. 182. 216 Ebd.



Exkurs: Flanieren und „dérive“  

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ränder ohne Überlagerungen flächig wirken, entsteht in der Bildmitte eine spezifische Form von Bildtiefe. Die vielfachen Brüche, die durch die Überlagerungen und Tilgungen entstehen, bringen eine Konstellation von Zeiten zur Erscheinung. „Die Gegenwart stellt sich als der Punkt heraus, in dem Vergangenheit und Zukunft aus einem Bild heraus in eine Konstellation treten und lesbar werden.“217 Dieses Erscheinen in der Zeit wurde beschrieben. Zu 4. Fragmentierung Die einzelnen Pattern werden nicht mehr im All-over-Prinzip angeordnet. Sie werden fragmentiert, ohne erkennbar vollständige Siebe auf einzelne Bereiche der Oberfläche aufgetragen. Insofern fehlt ein Rahmen, Zonen mit ausgefransten Rändern, bruchstückhaft zusammenhängende Konfigurationen von Formen überlagern einander. Ludger Schwarte legt mit Bezugnahme auf den Kunsthistoriker und Philosophen Edgar Wind in seinem Text „Fulgurationen. Kairos und Plötzlichkeit“ die Vorstellung einer konfiguralen Zeitlichkeit im Bild dar. In der konfiguralen Zeitlichkeit der Bilder erscheine das ‚Jetzt‘ nicht mehr als Punkt in einer Kette, sondern als Streuung von Ergeignissen in einem ‚Spielraum‘ [...]. Die Erscheinung eines Ereignisses im Bild macht sie mit außerbildlichen Ereignissen (früheren oder späteren) verknüpfbar. Das Filmsehen beruht darauf.218

Auf die Parallele des Bildgrundes bei Wool zu einem Bildschirm („screen“) wurde hingewiesen.219 Der Bildraum auf dem sich „die Spur konträrer Ereignisse, Kräfte oder abwesender Dinge“220 materialisiert, ist unbestimmt. „Bilder erfahren wir als eine ereignishafte Präsentation von Zeit und zugleich als Gestaltung von Lebendigkeit.“221

Exkurs: Flanieren und „dérive“ Das Problem, wie aus einer Häufung fragmentarischer Eindrücke ein künstlerisches Bild in dem Sinn hergestellt werden könne, dass es nicht bei einem „willkürliche[n; K.W.] Ausschnitt aus einem indifferenten Feld minutiöser, gleichwertiger und miteinander wetteifernder Reize“222 bleibt, stellte sich schon für die Impressionisten.

217 Ludger Schwarte: Fulgurationen. Kairos und Plötzlichkeit, in: Emmanuel Alloa (Hrsg.): Erscheinung und Ereignis. Zur Zeitlichkeit des Bildes, München 2013, S. 80. 218 Schwarte 2013, S. 82. 219 Auch Meade hebt den Aspekt „des Filmischen“ bei Wool hervor. Meade 2008, S. 133. 220 Schwarte 2013, S. 84. 221 Ebd. 222 Crow 1990, S.68.

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 Weltbezug: Urbanität

Thomas Crow zeigt in seinem bedeutenden Aufsatz „Moderne und Massenkultur in der bildenden Kunst“ auf, dass die Schlüssigkeit dieser Lösungen [...] in großem Umfang von der vorgefundenen Struktur der gemalten Schauplätze ab[hing; K.W.]. Das Seebad oder die grelle Einkaufsstraße bot eine ‚Realität‘, die bereits eine Ansammlung gleichwertiger und unverbundener Oberflächenreize war. Die Trennung von Sinneseindruck und Beurteilung war kein Patent der Künstler, sondern bereits von der entstehenden Freizeitindustrie erfunden worden, um in bestimmten Bereichen den Eindruck von Natürlichkeit und Freizügigkeit zu erwecken.223

Demzufolge erhielt im Impressionismus „die Freizeit einen obsessiven Charakter und ausschließlichen Wert“224, das Bild wurde „weniger zu einer Darstellung, als zu einer Feier von Geste, Farbe und Form – zu ihrer selbst willen betriebenen Bildereignissen“225. In dieser Genealogie des impressionistischen Flaneurs, die sich im situationistischen „dérive“ fortsetzt, kann Wool verortet werden.226 „Dass Wools Malstil sich schon länger auf den zerstreuten Stil des städtischen Passanten stützt, gesteht der Künstler aufgrund eines anekdotischen Straßenerlebnisses gerne zu.“227 Die Wirkung des urbanen Lebens abseits seiner funktionalistischen Abläufe auf das Gefühlsleben wurde durch die Situationisten „psychogeographisch“, d.h. mit Hilfe von Methoden wie dem „détournement“ oder „dérive“, untersucht. „Dérive“ bezeichnet das ziellose Umherschweifen und absichtsvolle Verirren in der Stadt. 1958 ist dann das Umherschweifen viel einfacher definiert worden als ‚mit den Bedingungen der städtischen Gesellschaft verbundene experimentelle Verhaltensweise: Technik des eiligen Durchquerens abwechslungsreicher Umgebungen. Im besonderen Sinne auch: die Dauer einer ununterbrochenen Ausübung dieses Experiments‘.228

Wools Fotos, insbesondere East Broadway Breakdown, könnten als direkte Umsetzung einer solchen „dérive“ gesehen werden. Diese Art und Weise, sich einer Vielzahl zufälliger Eindrücke beim Umherschweifen auszusetzen, verdeutlichte die Kuratorin

223 Crow 1990, S. 68. 224 Ebd., S. 69. 225 Ebd. 226 Wools Affinität zur Situationistischen Internationale zeigt sich auch ganz direkt in einer Serie von vier Word-Paintings aus den Jahren 1990/91, in denen er ohne Satzzeichen in unterschiedlicher formaler Ausführung folgende Passage aus Raoul Vaneigems „Traité du savoir-vivre à l’usage des jeunes générations“ („Handbuch der Lebenskunst für die jungen Generationen“) zitiert: „The show is over the audience get up to leave their seats time to collect their coats and go home they turn around no more coats and no more home.“ 227 Meade 2008, S. 128. 228 Simon Ford: Die Situationistische Internationale. Eine Gebrauchsanleitung, Hamburg 2007, S. 39.



Haltung: „The Cool“ 

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Katherine Brinson mit der Hängung der Serie in Wools Retrospektive im Solomon R. Guggenheim Museum. In some ways, Wool’s photographs correlate to the Situationist notion of the dérive, an undirected excursion through the urban landscape that aimed to dislodge established patterns of behavior and shed light on meanings hidden beneath the spectacle of the city’s surface. East Broadway Breakdown embodies this spirit of surrender to dislocation, an aleatory mode that is reflected in the presentation of the works as exhibited objects, when they are printed in small format and hung in a dense, double row around a gallery space.229

Mit der Methode der „Zweckentfremdung“ wurden u.a. Fragmente der „dérives“, wie Werbeslogans und andere kulturelle Aneignungen, in einen neuen Zusammenhang gebracht, damit ihrer ursprünglichen Funktionalität enthoben und mit einer radikal kritischen Funktion bedacht.230 Die Aneignung massenmedialer Bilder im „détournement“ ist ursprünglich als ein Instrument des Widerstands zu verstehen. Der Kunsthistoriker Simon Ford legt dar, dass diese Form des „kreativen Plagiats“ keinesfalls neu war, sondern „in den Collagen der Dadaisten, der Surrealisten und, in unmittelbarer Nähe, in den Wort-, Buchstaben- und Piktogramm-Collagen der Lettristen“231 ihre Vorläufer fand.

Haltung: „The Cool“ „Coolness ist ein Begriff, der heutzutage einen maximalen Grad an Entleerung erreicht hat.“232 Auch wenn aus heutiger Sicht der Begriff „cool“ durch übermäßigen Gebrauch abgenutzt und entleert erscheint, war er insbesondere in den 1980er-Jahren ein Adjektiv, das in der Kunstliteratur insbesondere für das Frühwerk von Christopher Wool vielfach verwendet wurde.233

229 Brinson 2013, S. 45. 230 „Sie [die Zweckentfremdung; Anm. K.W.] muss, da sie frontal mit allen gesellschaftlichen Konventionen zusammenstößt, als ein mächtiges kulturelles Werkzeug im Dienst eines richtig verstandenen Klassenkampfes zur Verfügung stehen. Ihre billigen Produkte bilden das schwere Geschütz, mit dem in alle chinesischen Mauern der Intelligenz eine Bresche geschossen werden kann. Das ist ein echtes Mittel der proletarischen Kunsterziehung, der erste Entwurf eines literarischen Kommunismus.“ Guy Debord und Gil J. Wolman: Gebrauchsanweisung für die Zweckentfremdung, in: Roberto Orth (Hrsg.): Der Beginn einer Epoche. Texte der Situationisten, Hamburg 2008, S. 23. 231 Ford 2007, S. 41. 232 Diederichsen: Coolness. Souveränität und Delegation, in: Jörg Huber (Hrsg.): Person/Schauplatz, Wien 2003, S. 243. 233 Loock 2009, S. 19; Calwell 1989, o.S.; David Rimanelli: Exile on East Broadway, in: Christopher Wool, Ausst.-Kat. IVAM Institut Valencià d’Art Modern,und Éditions des Musées de Strasbourg, 2006, S. 209; Meade 2008, S. 132; Kelsey 2012, S. 16, S. 20.

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 Weltbezug: Urbanität

Zunächst war es in den 1960er-Jahren eine Beschreibung der – im Gegensatz zum bis dahin dominierenden abstrakten Expressionismus in New York – distanzierten Zurückhaltung, des Verzichts auf Emotionalität und der Vermischung von „High and Low“. Dies betraf auch die Einführung neuer Materialien und künstlerischer Techniken. So fanden z.B. Materialien und Methoden „aus dem Bereich der industriellen Technik, der kommerziellen Prozesse und Vorstellungen“234 bei so unterschiedlichen Künstlern wie Roy Lichtenstein oder Andy Warhol, aber auch bei Joseph Albers, Frank Stella, Ellsworth Kelly, Donald Judd oder Larry Poons, Eingang in die Kunst.235 Das Kunstwerk bringt sich wieder als ‚Objekt‘ – statt als ‚individueller persönlicher Ausdruck‘ – zur Geltung (selbst als maschinell oder in Massen hergestelltes Objekt, das sich den volkstümlichen Künsten nähert).236

Neben Warhol ist Larry Poons ein Künstler, den Wool intensiv studiert hat. Tworkov explained what Poonses work was about. That was very exciting to me. I thought of Poonses work like probably a lot of people as dot paintings. But he was trying to teach me about drawing. He was explaining how Poons used dots and ellipses [...], how he managed to make the color and the dots and ellipses work as drawing. And he did this by showing me [...] a color range [...]. I have one piece of paper, where Tworkov had cut out ellipses for me placing them on an orange field explaining what Poonses work was all about.237

Von zentraler Bedeutung ist in diesem Zusammenhang die von Bice Curiger kuratierte Gruppenausstellung „Birth of the Cool“ 1997 in den Deichtorhallen Hamburg und dem Kunsthaus Zürich, in der eine neue Generation US-amerikanischer Maler unter dem Leitmotiv „Cool“ – als deren Urväter/-mutter waren Georgia O’Keeffe, Barnett Newman und Jackson Pollock vertreten – einer großen Öffentlichkeit präsentiert wurde.238 Wesentliche Merkmale der „coolen“ US-amerikanischen Malerei des 20.  Jahrhunderts waren nach Curiger die Vermischung von „High and Low“239 und

234 Susan Sontag: Die Einheit der Kultur und die neue Erlebnisweise, in: Dies.: Kunst und Antikunst. 24 literarische Analysen, Frankfurt am Main 1982, S. 345. 235 Irving Sandler: The New Cool Art, in: Art in America, 1965, H. 52, S. 96–100; Susan Sontag: One culture and the new sensibility, in: Against Interpretation and other Essays, New York 1966, S. 293– 304. 236 Sontag 1982, S. 346. 237 Vortrag von Christopher Wool über die Bedeutung des Werkes von Brice Marden für die eigene Arbeit im MoMA, New York, anlässliche der Ausstellung „Brice Marden: A Retrospective of Paintings and Drawings“ am 13.11.2006. [http://www.moma.org/audio_file/audio_file/112/BriceMardenArtistsTalk_111306.mp3; 43:26, abgerufen am 3.12.2014]. 238 Ein Bild Wools wurde für den Umschlag des Ausstellungskatalogs verwendet. 239 „Eine geradezu ontologische Vorliebe für die Vermischung von ‚High and Low‘ ist zuweilen erkennbar, die an die Tradition einer Tabula rasa-Bereitschaft anknüpft, im Mitdenken von Freiheit,



Haltung: „The Cool“ 

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somit eine Auflösung der „Kunstsprache“, die Veränderung der Bildpräsenz durch eine wachsende Mediatisierung sowie die bereits beschriebene Auseinandersetzung mit dem kollektiven Fundus an Bildern. Die Verbindung des Gestischen mit dem Konzeptuellen und der Verlust eines Glaubens an die Authentizität des Ausdrucks bedingten einander.240 Beat Wyss stellt in seinem Textbeitrag zum Katalog, „Kunst aus der Kühle“, die kühle und ohne Erziehungsanspruch vorgetragene Analyse „wie die Schönheit des Scheins gemacht wird.“241, die Darstellung des „matter of fact“ spezifischer gesellschaftlicher Bedingungen der amerikanischen Pop-Art heraus und grenzt diese von der europäischen ab. In dieser Tradition bewegt sich Wool. Zur Beschreibung der künstlerischen Haltung Wools werden auch semantisch ähnliche Adjektive wie „reserviert“, „distanziert“, „kontrolliert“ oder „smooth“ herangezogen. Die fiktive Beschreibung Wools durch seinen Freund Richard Hell, in der sich dieser zwischen (scheinbarer) Leichtigkeit, Zurückhaltung und einer daraus resultierenden „Magie“ bewegt, wurde bereits erwähnt.242 Dass diese Leichtigkeit erst im Ergebnis entsteht, jedoch in keiner Weise den wirklichen Arbeitsprozess spiegelt, formuliert Wool deutlich. CW: Das sind so viele Kämpfe [...] nicht urteilen, ist manchmal die beste Art, mich selbst zu zwingen, die ‚Dinge neu zu sehen [...] Ich finde es gut, dass du das Wort für ‚Farbe/malen‘ wie das Wort für ‚Schmerz‘ buchstabiert hast ... ‚Zum Schmerz zurückzukehren‘, so fühlt es sich oft an ... [‘At what point do you nevertheless go back to previous painting?’ ... I like how you misspellt paint as pain ... ‘to go back to paining’ is often how it feels.‘]243

Insofern soll der Begriff „cool“ hier nicht psychologisierend verstanden werden244, sondern als Beschreibung einer künstlerischen Haltung oder „Gesinnung“.

im Einbringen der Dimension ‚Lebensgefühl‘: Das Ich auf der ständigen Suche eines Ausgleichs, im Einssein, im Mitschwingen mit der Welt, im permanenten Wunsch, sich selbst zu durchschauen.“ Curiger 1997, S. 10. 240 Ebd., S. 14. 241 Wyss 1997, S. 131. 242 Hell, Richard. „What I Would Say If I Were Christopher Wool.“ Whitewall, issue 3, Fall 2006, S. 88–101. 243 Gespräch via E-Mail zwischen Ulrich Loock und Christopher Wool 3.–5.5.2004, in: Malerei Herbert Brandl Helmut Dorner Adrian Schiess Christopher Wool, Ausst.-Kat. ZKM Museum für Neue Kunst Karlsruhe, 2004, S. 41. 244 „It’s [Wool’s work; Anm. K.W.] too often understood as ironic or psychologized as cool or cold in the literature.“ Siegel 2014 „[abgerufen am 30.6.2015]. Dass „cool“ nicht mit „cold“ gleichzusetzen ist, zeigen Charakterisierungen Wools. Siehe hierzu z.B. die Beschreibung von Glenn O’Brien: „Pollock und Wool sind völlig verschiedene Wesen. Pollock ist zum Beispiel tot. Er war laut, grob, betrunken und nach allem, was man hört, ziemlich unausstehlich. Wool lebt. Ist außerdem cool, trocken, feinsinnig und ziemlich liebenswürdig. Ihre Gemeinsamkeit findet sich in ihrem Werk.“ (O’Brien 2012, S. 16.) Ähnlich wie O’Brien beschreibt ihn der Schriftsteller und Freund Wools Jim Lewis als „toughtful

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 Weltbezug: Urbanität

„‚Coolness ist der Wunsch, in seiner Haltung elementar zu sein, wach und existentiell‘, schreibt Bice Curiger.“245 Dies soll im Folgenden konkretisiert werden.

Rücknahme von Farbe: Schwarz Auch der Kunstkritiker Thomas Crow hebt in der Beschreibung eines Atelierbesuchs bei Christopher Wool die „Coolness“ der Bilder hervor und verbindet deren Reserviertheit auch mit einer Verweigerung, den visuellen Blendungen der Farbe nachzugeben und sich auf die Farben Schwarz und Weiß zu beschränken. In seinem Artikel „STREETCRIESINNEWYORK. On the Painting of Christopher Wool“ beschreibt er das Zusammenwirken der Bilder mit dem Umraum wie folgt: This writer may be biased by the memory of a first view of Wool’s work in the studio. Looking southwest from its large, upper-floor windows on the far fringe of the Lower East Side, the most vivid possible sunset hung in the sky over the Hudson and New Jersey beyond, transforming the World Trade Center towers and the city-scape of lower Manhattan into a fantasy spectacle of reflected reds, violets and golds. The utter contrast between the saturated chromatic tableau framed by the studio walls and the stubborn black and white panels leaning against them fairly shouted – against all caution over pathetic fallacies – that a lesson lay in this dialectical image. For the easily seduced, occasional visitor to New York, the paintings counseled a cool reserve to the Gershwinesque chords of the Manhattan sublime. And their own refusal of its visual blandishments urged instead a view closer to the street beneath one’s feet – and to the modes of life lived amid razor-wire grittiness, in almost subterrenean indifference to that consumable panorama of the city. What is more, these painted aluminium panels, resolute in their refusal of colorful enticements to the viewer, contain within themselves an entire history of the local aesthetic, geographical, and commercial ecology that made them possible.246

Crow bringt hier den widerständigen Blick auf die Stadt New York, der sich nicht den offensichtlichen Verführungen der Stadt hingibt, sondern einen näheren Blick auf die lokale Ästhetik, verbunden mit deren Geschichte und Lebensweisen erzeugt, in Verbindung mit Wools Verzicht auf Farbe. Ähnlich setzt Curiger im Vorwort einer der Farbe Schwarz gewidmeten Ausgabe der Zeitschrift Parkett, in der Robert Frank, Wade Guyton und Christopher Wool vertreten waren, den spezifisch urbanen Blick im Werk Wools in Beziehung zur „coolen“ Wirkung der Farbe Schwarz: „[...] das cool urbane, unterirdisch bewegte Schwarz von Christopher Wools Malerei“247.

and willfull“ (Lewis 1998, S. 283). Benjamin Weissman nennt sein Verhalten „gentle, mild, recessive, with an undertow of nerves“, spricht von „W’s quiet, understated demeanour“. Weissman 2007. 245 Petra Kipphoff: Wache Bilder. Ausstellung in den Deichtorhallen Hamburg: „Birth of the Cool“ – die andere amerikanische Malerei, in: DIE ZEIT 11/1997, 7.3.1997, S.  1 [http://www.zeit.de/1997/11/ Wache_Bilder, abgerufen am 26.11.2014]. 246 Crow 1998, S. 273. 247 Bice Curiger: Schwarz, in: Parkett, Nr. 83, 2008, S. 6.



Haltung: „The Cool“ 

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Der scheinbar offensichtliche Bezug des Schwarz zum urbanen Raum deckt sich zunächst nicht mit Wools eigenen Aussagen, in denen er Reduktionen in seiner Malerei und damit auch seinen Verzicht auf Farbe kunstimmanent begründet.248 Er selbst erklärte den Verzicht auf Farbe mit der Notwendigkeit, die eigene Position durch Reduktion zunächst zu klären, um sie dann gegebenenfalls erweitern zu können und bezieht sich auf die Positionen Ad Reinhardts und Andy Warhols.249 Die Farbe bei Wool gründet also – mit den Ambivalenzen des Bildraums vergleichbar – einerseits in der Tradition der autonomen Farbe des Modernismus und weist andererseits gleichermaßen über den Gebrauch als „reine“ Farbe hinaus, indem dieselbe durch Assoziationen an die außermalerischen Welt affiziert wird. Wools Schwarz bricht die Vorstellung einer „totalen Farbe“ auf. Die totale Farbe des Abstrakten Expressionismus zielte in der Lesart der Modernisten auf eine ausschließlich optische Geltung von Farbe, mit der die ‚Positivierung der Farbe als eines selbstreferentiellen [...] Sichtbarkeitswertes‘ noch einmal gesteigert, der Anspruch der autonomen Farbe noch einmal radikalisiert, ja Farbe als Medium der Malerei, als ‚color itself‘, tatsächlich zu sich selbst geführt ist.250

Zunächst wird nun der von Wool hergestellte Bezug zur New Yorker Malerei seit den 1950er-Jahren untersucht, in der die Farbe Schwarz von besonderer Bedeutung war. Die Reduktion auf die Farbe Schwarz war insbesondere für New Yorker Maler zwischen 1940 und 1960 ein spezifisches Merkmal: Mark Rothko, Ad Reinhardt, Robert Rauschenberg und Frank Stella schufen jeweils spezifische Bildserien, die sich mit Schwarz auseinandersetzten, die sogenannten Black Paintings. Auch für viele Werke anderer Künstler der New York School wie Jackson Pollock, Willem de Kooning, Clyfford Still, Franz Kline oder Robert Motherwell ist die Farbe Schwarz prägend. Schwarz war für die Abstrakten Expressionisten eine geheiligte Farbe, es war ihr Lapislazuli; sie umgaben es mit einem mystischen Nimbus, teils aufgrund seiner Kargheit, teils vielleicht, weil es etwas großartig Machohaftes an sich hatte, wenn man ein ordentlich kräftiges Schwarz zustande brachte.251

248 Siehe im Kapitel „Roller-Paintings“ das Unterkapitel „Innerbildliche Flächenorganisation – Jackson Pollock, ,No. 32‘, 1950, und Christopher Wool, ‚Untitled‘, 1987“. 249 Genau diese klärende Funktion in der Reduktion auf die Farbe Schwarz arbeitet Susanne Rosenthal für Frank Stella und Robert Rauschenberg heraus, deren „Black Paintings“ am Anfang ihres jeweiligen Gesamtwerks stehen. Im Gegensatz dazu sieht sie diese, meiner Meinung nach zu Recht, bei Reinhardt als „Bausteine[] seines Manifests der großen Verweigerung“, d.h. als Teil seines Gesamtkonzeptes, welches den Höhepunkt seines Gesamtwerks darstellte und nach Rosenthal in einem Stadium des Übergangs verharrt. Susanne Rosenthal: Die Black Paintings. Übergänge und Selbstportraits, in: Susanne Rosenthal (Hrsg.): Black Paintings, Ausst.-Kat. Haus der Kunst München, 2006/07, S. 79. 250 Dobbe 1999, S. 273. 251 David Sylvester: Newman – II (1994), in: Ders.: About Modern Art. Critical Essays 1948–96, London 1996, S. 397.

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 Weltbezug: Urbanität

Ohne an dieser Stelle die Rolle von Schwarz für die jeweiligen Künstler vertieft erläutern zu können, seien hier – Susanne Rosenthal in ihrem Kapitel „Schwarz in der Kunst – Kunst in New York“ im Katalogtext zur Ausstellung „Black Paintings“ folgend  – verkürzend zwei unterschiedliche Konzepte zweier Generationen gegenübergestellt: 1. Die erste Generation der New York School, geprägt durch Surrealismus und abstrakte Kunst, stellte, wie im obigen Zitat beschrieben, den mystischen und archaischen Aspekt der Farbe ins Zentrum. Die meisten Künstler vor allem der ersten Generation der New York School interessierten sich für die primitive Kunst, für einen mythologischen, ritualistischen, naturalistischen und psychologischen Primitivismus und Archaismus, für Schamanismus und die Rituale der nordamerikanischen Kwakiutl-Indianer. Hinter diesem Interesse verbarg sich nicht zuletzt die Suche nach den eigenen Wurzeln. [...] Der Primitivismus fasste das Dasein als Kontinuum ohne Anfang und Ende auf – ein Verständnis, das man auch in Pollocks All-over-Technik ausgedrückt sehen mag.252

Spirituelle Sujets wie Dasein und Natur, biblische Themen oder die Nacht finden beispielsweise auch Ausdruck in den Arbeiten von Richard Pousette-Dart, dem Lehrer Wools am Sarah Lawrence College Bronxville NY im Jahr 1972.253 2. Die jüngere Generation der New York School, insbesondere Frank Stella, war stärker durch den französischen Existenzialismus und das absurde Theater von Samuel Beckett beeindruckt und geprägt.254 Das Schwarz und die sich ständig wiederholenden Streifen sind vielmehr direkter Ausdruck einer Wirklichkeitserfahrung und Weltsicht, wie sie die ‚schwarze Literatur‘ des Absurden exemplarisch für die Nachkriegsgeneration formuliert und auf die Bühne gebracht hat. [...] Nicht nur die schwarze Farbe der Bilder und ihre Verbindung mit Melancholie, Sorgen, Trauer und Unglück sind Beckett’s schwarzem Humor eng verbunden. Auch die Prinzipien der Wiederholung, der Symmetrie und der daraus resultierenden Paarbildung, die für Stella’s Werk so konstitutiv sind, sind in Beckett’s schriftstellerischem Werk als Organisationsprinzipien der Texte angelegt.255

Die hier beschriebene Verbindung des Prinzips der Wiederholung mit der Farbe Schwarz ist für das Frühwerk Wools durchaus ebenfalls prägend256, auch wenn dieser

252 Rosenthal 2006, S. 17. 253 Titel von Pousette-Dart sind beispielsweise: Nachtgeräusche (1944), Nachtwelt (1948), Nachtformen (1949/59). (Rosenthal 2006, S. 18) Auch wenn Wool nur ein Jahr bei Pousette-Dart studierte, hatte er nach Wools eigenen Bekundungen einen sehr positiven und prägenden Einfluss auf den Künstler, was z.B. auch die Organisation einer Ausstellung von Pousette-Darts Arbeiten mit dem Titel „East River Studio“ im Jahr 2011 in Zusammenarbeit mit Pousette-Darts Tochter zeigt. 254 Rosenthal 2006, S. 18. 255 Hubertus Gaßner und Christoph Vitali (Hrsg.): Frank Stella, München 1995, S. 79. 256 Stella selbst äußerte sich konkret zum Einfluss Becketts auf seine Bildkonzeption: „Die Idee der Wiederholung reizte mich sehr, und es lagen gewisse literarische Strömungen in der Luft, die damit



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die Wiederholung gleichbleibender Elemente, welche „die Vorstellung endloser Wiederholung ohne Anfang und Ende und damit das Gefühl einer absurden, bodenlosen Existenz“257 erzeugen, ihrer existenzialistischen Aufladung enthebt und durch Bezüge zur Banalität des Alltags entscheidend uminterpretiert. Ein weiterer Grund im Hinblick auf den Ausschluss von Farben und Mehrfarbigkeit war für Frank Stella, aber auch für andere US-amerikanische Maler der Nachkriegszeit wie die reduktionistischen Maler Robert Ryman oder Agnes Martin, im Zusammenhang mit einer nicht relationalen Malerei bedeutsam. So, wie im Bereich der Komposition statt relationaler Beziehungen nicht relationale Prinzipien wie Symmetrie und Wiederholung als strukturierende Prinzipien angestrebt wurden, sollten auch im Bereich der Farbe Farbphänomene, welche relationale Beziehungen schaffen, so weit wie möglich einer Eigenständigkeit in der Wirkung weichen. Beispielhaft sei hier zunächst Barnett Newmans Kritik an Piet Mondrian erwähnt, der nach Newman mit seiner Malerei der Natur als außerbildlicher Entsprechung in einer Weise verpflichtet bleibe, die jeder unmittelbar optischen Erfahrbarkeit widerspräche.258 Bei Mondrian verschlinge die Geometrie die Metaphysik, d.h. vor allem jenes Erfahrungspotential, das optisch überwältigend ist; Mondrian verrate die expressiven Kräfte der Farbe [...]. Kurz gesagt: Der Neoplastizismus bleibe bei der Abstraktion stehen; er erreiche ‚the transcendence of objects‘, nicht aber ‚the reality of the transcendental experience‘.259

Für Newman kann diese Kunst nur dekorativ sein. „The best that can be said for this type of art is that it is decorative, that it satisfies man’s taste for beauty.“260 Auch die relationale Farblehre Josef Albers, der am Black Mountain College unterrichtete, provozierte SchülerInnen wie Eva Hesse oder Robert Rauschenberg zu eigenen, seiner Lehre widersprechenden Positionen.261

korrespondierten. Damals war [...] Samuel Beckett gerade sehr populär. Beckett ist sehr schmal [...] es schien mir, als ob Streifen, sich wiederholende Streifen, einer beckettartigen Situation näher kämen als beispielsweise eine große leere Leinwand.“ Frank Stella, Radiointerview aus der Serie „U.S.A. Artists“, National Educational Television, New York, 27.3.1966, in: Gaßner/Vitali 1995, S. 79. 257 Ebd., S. 80. 258 Dobbe 1999, S. 309. 259 Ebd., S. 309 f. 260 Barnett Newman: The Plastic Image, in: John O’Neill (Hrsg.): Selected Writings, Berkeley, S. 141. 261 „Der Maler, Farbtheoretiker und ehemalige Bauhaus-Professor Josef Albers (1888–1976), bei dem Rauschenberg am Black Mountain College in North Carolina studiert hatte [...], wies ihm schon früh einen Weg in einer Theorie, an der sich sein Schüler reiben konnte: Die Lehre, eine Farbe sei dazu bestimmt, eine andere besser aussehen zu lassen, schüchterte diesen ein, denn er empfand jede Farbe als eigenständig. So brach Rauschenberg aus der von Albers geforderten Kontrolle und Ordnung und dem Denken in Farbbeziehungen aus und konzentrierte sich mit seinen Black und White Paintings auf die Wirkung jeweils einer einzigen Farbe.“ Rosenthal 2006, S. 25.

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Susanne Rosenthal beendet das Eingangskapitel im dritten Teil ihrer Analyse der Black Paintings von Robert Rauschenberg, Ad Reinhardt, Frank Stella und Mark Rothko, „Die Black Paintings als Übergänge“, wie folgt: „Bei allen vier Künstlern ist das Sehen selbst, die Wahrnehmung ein Thema.“262 Ein Grund hierfür ist, neben der beschriebenen Kraft als Bedeutungsträger für Inhalte absoluten Charakters, der neutrale Ausdruckswert von Schwarz. Es bildet einen neutralen Grund, weil es der Grund des Absoluten ist, das alle Inhalte in sich trägt, obwohl es keinen zur Erscheinung kommen lässt. Das Schwarz hat die Weite der Unbestimmtheit, der Allbestimmtheit. Es scheint, als sei die Einheit aller bestimmten Inhalte schwarz.263

Wie bereits dargelegt, spielen Fragen der Wahrnehmung bei Wool eine zentrale Rolle. Durchgängig sind wahrnehmungspsychologische Grundmuster, in denen vorgegebene Ordnungen durch Störungen und Irregularitäten durchbrochen werden, von großer Bedeutung und werden auch als Korrektiv zur Subjektivität, die sich in den Appropriationen artikuliert, eingesetzt. Insofern steht Wool hier durchaus in der modernistischen Tradition. Gleichzeitig öffnet er die modernistische „absolute Farbe“ für diskursive Bezüge insbesondere im Hinblick auf eine mediatisierte Bildwelt und hinterfragt damit ihre transzendentale Aufladung. Dies wird im Folgenden exemplarisch an Loose Booty, 1995, untersucht. Das Schwarz in Loose Booty, 1995, Untitled, 1997, und Parkett, 2008 Druckerzeugnisse Schon durch die Tatsache, dass die Pattern gedruckt und nicht gemalt werden, bekommt das Schwarz eine spezifische Qualität. Die beschriebene mystische oder existenzialistische Konnotation wird zugunsten einer Referenz an ursprünglich banale Tapetenmuster jedoch im weiteren Sinn an Druckerzeugnisse und damit auch an deren massenkulturelle Verbreitung aufgebrochen. Zu den assoziativen Verbindungen mit Reproduktionen, wie Drucken und Kopien, können die Punkte aus Loose Booty durchaus als „Vorläufer“ gesehen werden, denn u.a. Punkte bilden die „Infrastrukturen“ des reproduzierten Bildes. Und Reproduktionstechnologien reduzieren ihrer Natur nach alle visuellen Informationen – ob Text, Bild, Farbe oder Gestaltungselement – auf eine gemeinsame Matrix: den Benday-Dot, die Körnung der Photokopie, die dots per inch und gescannten Linien des Tintenstrahldruckers, ja sogar das Pixelraster des Fernsehbildschirms und Computermonitors. Ob als Linie, Raster, Punkt

262 Rosenthal 2006, S. 79. 263 Max Raphael: Die Farbe Schwarz. Zur materiellen Konstituierung der Form, Frankfurt am Main 1984, S. 30 f.



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oder Kopierfleck realisiert: Solche Infrastrukturen sind, wie wir sehen werden, im Werk beider Künstler, von zentraler Bedeutung.264

Der Verweis auf Druckerzeugnisse und Zeichen wird verstärkt durch die bereits beschriebenen Verschmierungen und Spritzer, die auch durch das Auftragen auf den harten und glatten Aluminiumgrund entstehen. Exkurs: Buchcover Parkett, 2008 Die Umwertung von Schwarz oder auch Grau durch deren Verweis auf alltägliche Druckerzeugnisse zeigt sich auch in der Gestaltung des Covers der Zeitschrift Parkett aus dem Jahr 2008 (Abb. 30), das Wool zusammen mit Wayde Guyton erstellte. Da in diesem „Monochrom“ die Verwendung der Farbe bei Wool in exemplarischer Weise sichtbar wird, soll hier in einem Exkurs der Untersuchungsgegenstand über die Pattern-Paintings hinaus erweitert werden, um die so gewonnenen Erkenntnisse auf eben jene zurückzubeziehen. Das Cover stellt die gedruckte Schwarz-Weiß-Fotokopie des Deckblattes der Ausgabe Parkett, Nr. 32, aus dem Jahr 1992 dar (Taf. VII).265 Diese wurde im unteren Teil überdruckt, -sprüht oder -malt, sodass das ursprüngliche Bild und die Schrift ausgelöscht wurden. Helle vertikale Schlieren und tropfenartige Formen durchziehen das Grau in vertikaler Richtung. Ein weißer Punkt mit weichen Umrissen strahlt heraus, an einigen Stellen schimmern weiße Buchstaben durch (6 × IN, 2 × E?RT, T). Die Wiederholung der Buchstaben sowie die Kenntnis des Originalcovers lassen erkennen, dass es sich nicht um die Originalschrift handelt, sondern die Buchstaben von Wool/ Guyton eingefügt wurden.266 Die malerische Oberfläche geht fast übergangslos in die materialhafte Oberfläche des Buchcovers über, welche insbesondere in den leicht abgestoßenen Rändern und Ecken sichtbar wird. Die Originalschrift „Parkett“ und die Angaben zum Band am oberen Rand wurden stehen gelassen – die Angaben wurden durch Überdrucken aktualisiert. Das Verschmelzen eines angeeigneten Motivs mit den Eingriffen des Künstlers, der aufgetragenen Farbe mit dem reproduzierten Grau der Fotokopie bringen einerseits die Vorstellung von Original und Reproduktion ins Wanken. Der beschriebene allegorische Gebrauch des Gedruckten verkehrt die modernistische Vorstellung von Original und Kopie. „Das Cover bringt auch die Reproduktion symbolisch – als Selbstgemachtes – ins Spiel.“267

264 Liz Kotz: Der Verrat der Bilder. Christopher Wool und Wade Guyton, in: Parkett, Nr. 83, 2008, S. 171. 265 Die Ausgabe Nr. 32 war Imi Knoebel und Sherrie Levine gewidmet. In der Ausgabe Nr. 33 aus demselben Jahr wurden Christopher Wool und Rosemarie Trockel präsentiert. 266 Es könnte sich um das Wort INSERT handeln, welches auf der Rückseite des Buchs steht „Insert: Kerstin Brätsch“. 267 Curiger 2008, S. 6.

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Gleichzeitig stellt das Grau als Quasi-„Monochrom“ eine Selbstthematisierung des Farbwerts dar. Es ist weder reine Darstellungsfarbe eines Drucks oder einer Kopie im Sinne einer alltäglichen Reproduktionspraxis noch autonome Farbe in der Tradition des US-amerikanischen Modernismus. Die Farbe ist einerseits das „Trompe-l’Œil“ eines technischen „Kopiergraus“, verweist andererseits jedoch in den wolkigen Auslöschungen im mittleren Bereich auf die gegenteilige Tradition einer monochromen Malerei, die eine ursprüngliche Kunsterfahrung jenseits jeder technischen Vermitteltheit sucht.268 Die Auslöschung des Originalcovers ist jedoch nicht als reine Negation zu verstehen, wie dies beispielsweise Julia Friedrich für Gerhard Richters Grau darlegt – sie spricht von einer „gespenstische[n; K.W.], negative[n; K.W.] Qualität des Grau“. „Ein ‚Graues Bild‘ veranschaulicht so gesehen die Abwesenheit eines, dieses Bildes.“269 Wie ist die ambivalente Verbindung zwischen Negation und Affirmation, Materialität und Entmaterialisierung, Banalität und Transzendenz also zu verstehen? Festzuhalten ist zunächst, dass sich die Funktion der Farbe innerhalb der Abbildung verändert. Blicken wir in das Zentrum, überwiegt durch die wolkige Wirkung der Farbe ihr autonomer Charakter, der sich an den Rändern auflöst, verflacht und sozusagen enttarnt wird. Das Erzeugen von Bildtiefe in der Bildmitte durch die Überlagerung asynchroner Elemente (Originalfarbe des Covers, Schrift, übersprühte Farbe), welche zum Rand hin abnimmt und sich quasi in ihre Bestandteile auflöst, ist ein Phänomen, das sich in vielen Werken Wools, u.a. auch in Loose Booty und noch stärker in Untitled, 1997, zeigt. Das Aufeinanderprallen zweier unterschiedlicher Funktionen der Farbe – der darstellenden und der autonomen Farbe – und das Zusammenwirken derselben in der Beziehung des Bildrandes zur Bildmitte (ohne einen sichtbaren Bruch zu erzeugen) ist in der Gestaltung des Buchcovers exemplarisch nachvollziehbar. Katy Siegel beschreibt in ihrem Vortrag „The Bifurcation of Painting, or Process and Reality“ im Solomon R. Guggenheim Museum am 17.1.2014, anlässlich der Retrospektive von Christopher Wool, die Verbindung scheinbar widersprüchlicher Kategorien wie Repräsentation und Abstraktion, Bild und Prozess, die „forced marriage of concepts“270, als exemplarisch für eine Gruppe von MalerInnen, wie Christopher Wool, Albert Oehlen oder Charline von Heyl, die in den 1980er-Jahren die Grundlagen für ihr Werk schufen.

268 „Wesentliche Vertreter der monochromen Tradition des zwanzigsten Jahrhunderts zielen darauf ab, eine Kunst fern der Vergänglichkeit, der Moden und der technischen Vermitteltheit zu schaffen, sie versuchen die Malerei an ihre Wurzel zurückzuführen, sie zielen mit Rothkoauf ein ‚reassessment of art experience‘.“ Julia Friedrich: Grau ohne Grund. Gerhard Richters Monochromien als Herausforderungen der künstlerischen Avantgarde“, Köln 2009, S. 184. 269 Friedrich 2009, S. 188. 270 Siegel 2014, abgerufen am 5.12.2014].



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Abb. 30: Christopher Wool, Wayde Guyton: „Parkett“, Nr. 83, 2008

Die bereits beschriebene Infragestellung bestehender Kategorien nennt auch sie als einen Grund für diese Vorgehensweise: The reason to put together uncommensurable categories like seer and seen, image and material process is not to heal a rift or to recapture a golden unity. It’s for the pleasure of this tension. Even more important, ultimately, it’s to demonstrate that the categories themselves are not necessary, even to demonstrate their absurdity.271

271 Ebd. [1:47:35, abgerufen am 5.12.2014].

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Die Abhängigkeit des individuellen Sehprozesses von Kategorien und anderen kontextuellen Zusammenhängen wird auch demonstriert, indem innerhalb eines Bildes „vergleichendes Sehen“ initiiert wird. Ziel dieser in der Tradition Heinrich Wölfflins stehenden Methode, bei der üblicherweise zwei Kunstwerke miteinander verglichen werden, ist es, das genaue Sehen zu schulen. „Wölfflin geht es um die genaue Wahrnehmung von jeweils besonderen Kunstwerken, George Brecht geht es um die Reflexionen zum Sehen allgemein.“272 Durch das vergleichende Sehen kann der Betrachter die Verwandlung und Wandlungsfähigkeit der jeweiligen bildnerischen Elemente in Abhängigkeit von ihrem jeweiligen Kontext nachvollziehen. Dabei sind die „Kategorien“ nicht in eine duale oder didaktische Polarisierung auflösbar. Sie bleiben wertfrei und erschöpfen sich nicht in reiner Kritik oder Auslöschung. Durch die Ambivalenz in den Bildern Wools, die sich hier in der Mehrdeutigkeit der Farbe oder in der Mehrdeutigkeit des Raums äußert, wird betont, dass das wichtigste Instrument der Schöpfer von Mehrfachbildern der Zuschauer selbst bleibt, mit seiner Fähigkeit, seine Aufmerksamkeit zu entwickeln und ein ‚Betrachter‘ im vollen Sinn zu werden. Indem das mehrdeutige Bild eine anhaltende Aufmerksamkeit einfordert und belohnt, indem es ausschließlich nacheinander wahrnehmbare Aspekte ausbreitet, offenbart es die zeitliche Dimension der Wahrnehmung und etwas, das wir als die Beweglichkeit des feststehenden Bildes bezeichnen können.273

In dem beschriebenen Cover von Parkett und in anderen Arbeiten, wie Untitled, 1997, überlagert Wool mehrere Schichten unterschiedlicher Pattern, Übersprühungen, Auswischungen etc. Diese erzeugen insbesondere zur Bildmitte hin auch durch den Farbgebrauch eine spezifisch amalgam-artige, nicht illusionistische, unsystematische Räumlichkeit, die ansatzweise schon in den Frühwerken zu erkennen war. Es entsteht – vergleichbar mit dem besprochenen Cover – ein Gegensatz zwischen Bildmitte und den Rändern, insbesondere den Ecken. Die unterschiedliche Wirkung der Pattern oder des Farbtons Grau wird jedoch nicht offensichtlich gegenübergestellt, sondern verschmilzt im Bild durch bruchlose, fließende Übergänge. In bestimmten Bereichen des Bildes wird das Nacheinander des Prozesses – wie beschrieben – zu einem synchronen Erscheinen. Diese spezifische Wirkung der Bildmitte stellt auch Siegel heraus und beschreibt in der Folge eine im Hinblick auf den Modernismus veränderte Beziehung zwischen Betrachter und Bild. Die letztendlich unergründbare Tiefe und Komplexität der Einheit „Bild“ zu erfassen und zu akzeptieren, dass es „seine eigene Realität habe“, erweitere

272 Angeli Janhsen: Neue Kunst als Katalysator, Berlin 2012, S. 152. 273 Dario Gamboni: Ambiguität in der Kunst: Bildtheorie und Interpretationsverfahren, in: Verena Krieger und Rachel Mader (Hrsg.): Ambiguität in der Kunst. Typen und Funktionen eines ästhetischen Paradigmas, Köln 2010, S. 217.



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den Blick um eine „imaginative Empathie“ für die Dinge. Der modernistische Rückbezug des Blicks auf die alleinige Perspektive des Betrachters werde damit erweitert. Wool had spray paint just for him a kind of drawing, separate from painting and also obscuring schmears of really like painty paint and between these drawing and painting marks there are also layers of previous rollers and stamps as many as eight to ten layers often with erasures and white-outs between them. But as he says if the image is piling up or means or separate like a stack of pancakes – and I think that is a great way to describe just layered images – they wouldn’t work. When we see the painting we’re getting all of these moments together, as John Kelsey puts it: Seeing as if from the middle of the work. So here some kind of interior or middle space is restaured to painting. Not a Newman sense of the side to side lateral space of the painting measured edge to edge but middle in the sense of depth which is also a prohibited modernist term. To attempt a spacial depth rather than to stop like an absolut modernist at the surface of things is to attempt to the interiority of an entity [...] to register that entities complexity and it’s reality rather than simply one’s own view or image of that entity. So not just what this thing looks like to me, not just what it does for me but that it has it’s own reality. Such painting displays an element of imaginative empathy for things in the world that approaches the metaphysical expanding reality beyond any single fixed perspective on that reality including our own.274

Underground/Punk: Dringlichkeit Neben der Anspielung auf Druckerzeugnisse zeigt die Qualität des Schwarz deutliche Parallelen zur Underground-Ästhetik des Punk der 1970er-Jahre.275 Wools inten-

274 „[...] Increasingly in Wool’s work, as you can see in the show, there are more and more of these desynchronised elements going from one to two to a real plurality further [...] the dualism of representation and abstraction or image and process.“ Siegel 2014. 275 Christopher Wool hat in den späten 1970er-Jahren die Punk- und Clubszene in Downtown Manhattan miterlebt und über die Bedeutung dieser Szene gesprochen. „Mit Freunden unterhielt ich mich kürzlich über die späten 70er Jahre, über die Zeit des Punks. Statt von Bohème würden wir eher von einem letzten, wirklich existenten Underground sprechen. Warhol und die Factory waren Underground. Dann, nach dem Punk, gab es keinen wirklichen Underground mehr. Und das war – so vermute ich – das Ende der Avantgarde. Ich weiß nicht, ob Punk das Ende oder der Anfang vom Ende war. Oder ob Warhol das Ende oder der Anfang war [...]“ Eva Meier: Manhattan nach Warhol und Nan Goldin. Interview mit Christopher Wool, in: Die Beute. Neue Folge, Nr. 1, Subversion des Kulturmanagements, Berlin 1998, S. 30; siehe auch Meade 2008, S. 129; Banks 2012, S. 352. Obwohl Wool Teil der New Yorker Underground-Szene war und die Aufbruchstimmung der 1970er-Jahre als Befreiung beschreibt (Meier 1998, S. 31), sieht er die zunehmende Kommerzialisierung der Kunst in den 1980er-Jahren, die mit dem Verlust dieses Befreiungsgefühls verbunden war, losgelöst von seiner persönlichen Situation. „Aber individuell fühlte ich mich deswegen nicht blockiert oder eingesperrt. Man musste nach anderen Möglichkeiten suchen [...] für mich als Maler und visuell arbeitenden Künstler veränderten sich die Dinge gar nicht so sehr.“ Meier 1998, S. 31. Als Beispiel für die relative zeitliche Ungebundenheit, mit der Wool Worte, Zeichen, Muster oder Techniken aus der Massenkultur oder urbanen Welt auf-

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sives Erleben dieser für New York ikonischen Zeit wurde bereits beschrieben. Meade verweist auf den Zusammenhang urbaner Zerfallsprozesse mit der Entwicklung der Underground-Kultur. Auch dass er die No-Wave-Post-Punk-Szene der späten 70er Jahre in Downtown-New York aus erster Hand miterlebte – einschließlich der damit verbundenen Experimentalfilme von James Nares, Amos Poe, John Lurie und anderen Leuten aus demselben lose zusammengewürfelten Milieu –, erinnert an ein Moment des antiästhetischen Stils, der mit urbanen Zerfallsprozessen einherging und Wools Werk nachhaltig beeinflusst hat.276

U.a. als Reaktion auf die (farbenfrohe) Hippiebewegung war die Endzeitstimmung des Punk, der als Protestbewegung einer perspektivlosen Jugendgeneration Ende der 1960er-Jahre in England und den USA entstanden war, farblich fest mit der Farbe Schwarz bzw. dem Schwarz-Weiß-Kontrast verbunden. Neben Themen wie Finsternis, Hoffnungslosigkeit, Hässlichkeit, das Böse, Widerwillen und Unterdrückung, die in der Punk-Kultur mit Schwarz verbunden werden, ist die Schwarz-Weiß-Ästhetik der Zeit auch gekoppelt an die Idee der einfachsten Mittel, des Billigen und Dilettantischen, an eine Trash-Ästhetik, die als Provokation gegen konventionelle Vorstellungen opponierte.277 Auch die Ästhetik von billigen SchwarzWeiß-Kopien, sei es auf Flugblättern oder T-Shirts, der ein gewisses Agitationspotential eingeschrieben war, war verbunden mit der Idee, durch einfache Mittel schnell eine große Öffentlichkeit zu erreichen. Das Gefühl der Dringlichkeit entsprang dem Bedürfnis, eine Aussage zu verbreiten. Die Technik des Siebdrucks fand in dieser Zeit in Form von T-Shirt-Aufdrucken Eingang in die Jugendkultur und Underground-Szene. Wie Punk musikalisch keinen Sinn ergab, ergab er sozial viel Sinn: In wenigen Monaten schuf er eine neue Kombination visueller und verbaler Zeichen, die unklar und aufschlussreich zugleich waren, je nachdem, wer sie sah. Allein durch seine Künstlichkeit, dass er es sich nicht nehmen ließ, eine Situation zu konstruieren und anschließend als Schwindel fallenzulassen – [...]. Einkaufen, Straßenverkehr und Werbung, die als Verführungen in das Alltagsleben eingebauten welthistorischen Zumutungen – in gewisser Weise ließ sich Punk am einfachsten als neue Variante der alten, von der Frankfurter Schule geübten Kritik an der Massenkultur verstehen, [...]. Doch jetzt brachen die Prämissen der alten Kritik an einer Stelle aus, die keiner aus der Frankfur-

greift, sei hier das Word-Painting mit der Aufschrift „YOU MAKE ME“ aus dem Jahr 1997 erwähnt. Wool nimmt ein Satzfragment auf, das Richard Hell auf dem Cover des für die Punk-Musik extrem bedeutenden Albums „Blank Generation“ aus dem Jahr 1977 auf seine Brust geschrieben hat. Deutlich wird in der zeitlichen Verschiebung von eher zeitgebundenen Phänomenen der Populärkultur eine Reflexion aus der Distanz (statt Identifikation oder Kritik), was auch Wools singuläre Position ausmacht. „Wool selbst fühlt sich keiner Bewegung zugehörig, er ist nicht der Typ für Clubmitgliedschaften und bestimmt kein Mitläufer.“ O’Brien 2012, S. 15. „L’œuvre de Christopher Wool tient une place à part dans le paysage de l’art d’aujourd’hui.“ Hergott 2012, S. 23. 276 Meade 2008, S. 128 f. 277 Der für Wool prägende Eindruck einer „garage-band-aesthetic“ bei Robert Gober wurde bereits erwähnt.



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ter Schule, [...] vorhergesehen hatte: aus dem Popkult-Herz der Massenkultur: Seltsamer noch, die alte Kritik der Massenkultur gebärdete sich nun als Massenkultur, zumindest als vielgestaltige Möchtegern-Massenkultur. Falls Punk eine Geheimgesellschaft war, so ist es schließlich das Ziel jeder Geheimgesellschaft, die Welt zu übernehmen, so wie jede Rock-Band das Ziel hat, dass alle ihr zuhören.278

Wurden Bezüge zur Populärkultur im Wesentlichen im Hinblick auf die Word-Paintings279 herausgearbeitet, geschah dies im Hinblick auf die Pattern-Paintings bisher weniger. Die Einführung einer „Ästhetik der Straße“ und eine Rekontextualisierung im Galerien- und Museumskontext finden hier jedoch auch bereits statt. Auch auf die Ästhetik des Punk bezogen kann übertragen werden, was Greil Marcus bezüglich der Word-Paintings beschreibt: Du betrittst die Ecke einer Galerie und siehst dich Worten wie ‚CATS IN BAGS BAGS IN RIVER‘ [...] gegenüber oder auch einfach nur ‚RUN‘ [...], und sie kommunizieren nicht wie bequeme Aneignungen primitivistischen Straßendiskurses, sondern wie eine ausgefeilte, perfektionistische Vorstellung eben jenes Diskurses, reduziert auf das nicht weiter Reduzierbare, um dann mit völlig neuem Ansatz aufzuleben.280

Indem das Pattern so auf den Aluminiumgrund gebracht wird, dass die weißen Streifen stehen bleiben, werden der Charakter der Aneignung und Präsentation und damit auch die bei Greil erwähnte Künstlichkeit dieses Vorgangs offensichtlich. Neben dem Farbwert selbst und dem grafischen Muster, sind es im Wesentlichen der Farbauftrag, die Verschmierungen, Übermalungen, Überlagerungen und Flecken, die an die Ästhetik des Punk denken lassen. Ein „antiästhetischer Stil“,281 geprägt durch Dilettantismus und Aggression, war an ein apokalyptisches Lebensgefühl gebunden.282 Auch Wool spielt mit seinen Verschmierungen, Verzerrungen und Überlappungen – die durchaus vergleichbar sind mit gebrochenen Akkorden – im Druck der Pattern auf gesellschaftliche Fakten an. Er spricht von einer Realität des Angegriffenseins, von Aggression und Anonymität. Richard Hell beschreibt in seinem Essay „Christopher Wools Fotografien“ den Bezug zwischen der fotografischen Realität und dem malerischen Werk des Künstlers.

278 Marcus 1996, 69 ff. 279 Marcus 1992. 280 Marcus 1996, S. 95. 281 Meade 2008, S. 129. 282 „Die Punks, die 1977 Platten machten, wussten nicht, welche Akkorde als nächstes an der Reihe waren [...] und sie stürzten sich auf gesellschaftliche Fakten. Das Bewusstsein, daß sich ein gesellschaftliches Faktum durch einen gebrochenen Akkord ansprechen ließ, schuf Musik, die dein Bewusstsein davon veränderte, was Musik bewirken konnte, somit veränderte sie dein Bewusstsein von dem gesellschaftlichen Faktum: Es war zerstörbar. Das war das Neue daran – im Rock’n’Roll der fünfziger Jahre hatte es keine Endzeitstimmung gegeben.“ Marcus 1996, S. 80.

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Zudem weisen sie [die Fotografien; Anm. K.W.] Parallelen zu Wools Gemälden auf, die natürlich keineswegs gegenständlich, figurativ [...] oder im engeren Sinne illustrativ zu nennen sind. Betrachtet man East Broadway Breakdown im Kontext des Gesamtwerks, wird deutlich, dass Wools Malerei den Fotografien eine zusätzliche Dimension verleiht, und dass umgekehrt von den Fotografien eine ähnliche Wirkung auf die Malerei ausgeht. [...] Die Gemälde scheinen uns durch die Fotografien zu erklären: ‚Sieh hin, das ist alles nicht erfunden. Das gibt’s wirklich da draußen in der Welt‘.283

Es ist eine Welt der „Poesie des peripheren Sehens“284, des Übersehenen, des Düsteren und der Gleichgültigkeit, gepaart mit Spuren von Aggression, aber auch Energie und Dringlichkeit.285 Energie ist ein ganz wesentliches Moment in den Arbeiten Wools. Der von ihm beschriebene Energieausbruch („burst of energy“) wurde gleichermaßen beschrieben wie die Tatsache, dass die Bilder nicht schnell entstünden. Dies scheint einer der wesentlichen Punkte zu sein, an denen Wool den Straßendiskurs transformiert. Die Energie des Punk beinhaltet ein Getrieben-Sein, eine staccatohafte Beschleunigung, die auf dem Bewusstsein gründet, dass dieser risikohafte Moment der Intensität im Jetzt ein kurzer ist, dass Energie und Wille vergehen können. Punk war nichts Bleibendes. [...] Er war eine Gelegenheit, zur späteren Beurteilung von allem Darauffolgenden dienende Randereignisse zu schaffen, Ereignisse, die alles, was folgte, unzulänglich erscheinen lassen sollten – auch das war die Bedeutung von No-future, der Nicht-Zukunft.286

Der Enegieausbruch wird evoziert, jedoch durch die beschriebene verstärkte Zeitlichkeit u.a. durch Mehrschichtigkeit in den Bildern transformiert und ihrer Direktheit enthoben.

Jazz und Funk: Im-Moment-Sein Auch der Bezug zu Jazz und Funk gibt einen direkten Hinweis auf den Begriff des Cool, wurde dieser doch maßgeblich geprägt durch den Jazz im New York der späten 1940er-Jahre. Wool selbst verweist vielfach auf sein intensives Interesse an Jazz und benennt eine Vielzahl von Bildern nach Musikstücken oder LP-Titeln.287 Die Aufnahmen zur allerdings erst 1957 veröffentlichten Langspielplatte „Birth of the Cool“ von

283 Hell 2012, S. 234. 284 Ebd., S. 233. 285 Ebd. 286 Marcus 1996, S. 81. 287 „Minor Misharp“ verweist z.B.auf ein Hardbop-Jazz-Stück eingespielt von Freddie Hubbard oder Tommy Flanagan; „Little Birds have fast hearts“ auf die gleichnamige LP von Peter Brötzmann; „The Flam“ auf den Titel einer LP des Free-Jazz-Saxophonisten Frank Lowe.



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Miles Davis und seinem damaligen Ensemble fanden 1949 und 1950 in New York statt – „Coolness“ ist in spezifischer Weise mit den USA und insbesondere mit New York verbunden. „But cool as we know it was made in New York.“288 Ein wesentliches Merkmal des „Cool Jazz“ ist die Rücknahme der direkten, individuellen Emotion. „Miles Davis setzte in seiner Musik ‚Birth of the Cool‘ die Antithese zu Charlie Parkers Expressionismus, es war die ‚Mäßigung als ein Akt des Widerstandes‘.“289 Nach Gabriele Mentges wird die „Entdeckung der Coolness als Haltung, Einstellung und Gefühl“290 weitgehend unumstritten bereits im Zeitraum vor dem Zweiten Weltkrieg der afroamerikanischen Jazzkultur zugeschrieben.“ Die erste wichtige US-amerikanische Untersuchung des Kunsthistorikers Robert Faris Thompson „An Aesthetic of the cool“ aus dem Jahr 1973 leitet Coolness aus den Wurzeln in Westafrika her. Farris übersetzte ein zentrales Konzept der Yoruba – iututu – mit „cool“. Es beschreibt ein Ideal spezifisch männlichen Verhaltens („character“), das im „religiösen Ritual seine prägnante visuelle Ausdrucksform erhält, wenn das Gesicht des Gläubigen – besessen von der spirituellen Macht der Götter – zur Furcht einflößenden Maske erstarrt“291. Für die in die USA verschleppten Sklaven war die Musik bekanntermaßen das kulturelle Ausdrucksmittel. Annette Geiger, Gerald Schröder und Änne Söll fassen in der Einleitung „Coolness. Zur Ästhetik einer kulturellen Strategie und Attitüde“ die Bedeutung der afroamerikanischen Musik für die US-amerikanische Gesellschaft zusammen. Es zeige sich auch im Blues die für Coolness spezifische Beherrschung oder auch Unterdrückung aggressiver Impulse. Letztere seien im stark christlich geprägten Milieu mit Schuldgefühlen verbunden, was neben der melancholischen Intonation auch in den Liedtexten zum Ausdruck komme.292 Über die US-amerikanische Jugend der weißen Mittelschicht hätten sich zunehmend coole Verhaltensweisen in verschiedenen Jugendkulturen auf unterschiedliche Arten ausgebildet und eigene Codes des Cool hervorgebracht.293 Auch Norman Mailer sieht in seinem Essay „The white negro“ den Ursprung des coolen Hipster im Jazz und seinen Einfluss auf eine

288 Lewis MacAdams: Birth of the Cool. Beat, Bebop & the American Avantgarde, London 2002, S. 28. 289 Curiger 1997, S. 10. 290 Gabriele Mentges: Coolness. Zur Karriere eines Begriffs, in: Geiger/Schröder/Söll 2010, S. 30. 291 Annette Geiger, Gerald Schröder und Änne Söll: Coolness. Eine Kulturtechnik und ihr Forschungsfeld. Eine Einleitung, in: Geiger/Schröder/Söll 2010, S. 12. 292 Geiger/Schröder/Söll 2010, S. 12. 293 Neben den afroamerikanischen und weißen Wurzeln in den USA betonten Dick Pountain und David Robins auch die spezifisch europäischen Traditionslinien des Cool im Dandytum des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Ein weiterer Ursprung wird von Andreas Urs Sommer im Ideal der stoischen Affektbeherrschung gesehen (Geiger/Schröder/Söll 2010, S. 12 f.). Darauf wird hier jedoch nicht eingegangen werden, geht es doch in diesem Zusammenhang um den spezifisch coolen Ausdruck im Jazz.

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Nachkriegsgeneration, die die Lehren aus der Desillusionierung und der Abscheu – entstanden aus der amerikanischen Depression und dem Krieg – gezogen hatte.294 Eine Grundlage für die Entwicklung des Jazz lag in den Lebensbedingungen der afroamerikanischen Bevölkerung während der Nachkriegszeit, als sie in permanenter Bedrohung lebte.295 Aus diesem ausgeprägten Bewusstsein für die körperliche Gegenwart sei der Jazz entstanden. „[...] it spoke in no matter what laundered way of instantaneous existential states to which some whites could respond, it was indeed a communication by art because it said, ‘I feel this, and now you do too’.“296 Die ungeschützte, da regellose, aber gelingende Kommunikation, die unterschiedliche Formen annehmen kann, nennt Mailer „swing“ – dieser bilde die Basis für das Lernen oder generell für die Möglichkeit von Entwicklung. For to swing is to communicate, is to convey the rhythms of one’s own being a lover, a friend, or an audience, and – equally necessary – be able to feel the rhythms of their response. To swing with the rhythms of another is to enrich oneself – the conception of the learning process as dug by hip is that one cannot really learn until one contains within oneself the implicit rhythm of a subject or the person.297

Das beschriebene asynchrone Miteinanderwirken verschiedener Bildebenen und der explizierte prozess- und körperorientierte Charakter sind hier durchaus mit dem „Swing“ vergleichbar. Vorgegebene Pattern werden manipuliert und so miteinander in Beziehung gebracht, dass ein Rhythmus entsteht – „die Tapete beginnt zu tanzen“. Dabei sollen abschließend zwei Aspekte betrachtet werden: 1. Das Zusammenwirken bereits existierender Pattern mit spontanen Setzungen 2. Rhythmus verstanden als synthetisierendes Element heterogener Bildelemente Zu 1: Im Gegensatz zu den „Gray Paintings“, die John Corbett mit „monumentale[] Soloimprovisationen“ beschreibt298, stellt Julia Friedrich in ihrem Vergleichder Bilder Wools mit dem Jazz das Zusammenwirken improvisierter, freier Elemente mit klaren Mustern heraus. Die Befreiung gehe aus der „neuen Organisation de[s] Ganzen“ hervor.

294 „But the presence of Hip as a working philosophy in the sub-worlds of American life is probably due to jazz, and its knifelike entrance into culture, its subtle but so penetrating influence on an avantgarde generation – that postwar generation of adventurers, who [...] had absorbed the lessons of disillusionment and disgust of the twenties, the depression, and the war.“ Norman Mailer: Advertisements for myself, New York 1981, Erstauflage 1959, S. 301 f. 295 „The negro has the simplest of alternatives: live a life of constant humility or ever-threatening danger. In such a pass where paranoia is as vital to survival as blood, the negro has stayed alive and begun to grow by following the need of his body where he could.“ Mailer 1981, S. 302 f. 296 Mailer 1981, S. 303. 297 Ebd., S. 312. 298 Corbett 2012, S. 7.



Haltung: „The Cool“ 

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Manche halten den Free Jazz für eine endgültige Befreiung des Solisten. Aber wenn alle zu gleicher Zeit befreit werden und ihre Soli blasen, entsteht entweder eine fröhliche Kakophonie oder eben ein ‚strong frame‘. Hier gibt es klare Muster und Bilder, auch wenn sie anders ausfallen als die gewohnten. Das ist bei Sun Ra ebenso der Fall wie bei Ornette Coleman oder Cecil Taylor. Die Befreiung des einzelnen Elements führt zu einer rigorosen Überprüfung des Ganzen, des Verhältnisses der Schichten zueinander. Damit verschiebt sich die Aufmerksamkeit, damit verschieben sich die Prioritäten. Diese Verschiebung gehört zu den verblüffenden Effekten des Free Jazz und zu denen von Christopher Wools Kunst. Befreiung geht nicht aus individueller Geste, sondern aus der neuen Organisation des Ganzen hervor.299

Doch auch Corbett macht deutlich, dass die Soloimprovisation kein rein spontaner Akt sei, sondern immer mit bereits existierenden Versatzstücken arbeite. Insofern sei die scheinbar diametrale Entgegensetzung von „Komposition“ und „Improvisation“ zu relativieren. „Dutch pianist Misha Mengelberg, for instance, prefers the more holistic term ‚instant composition‘.“300 Die Auflösung dieses Gegensatzes verfolge auch Wool und enttarne damit den Mythos, der abstrakte Expressionismus sei ein rein authentischer Gestus. To be quite specific about this mythology, it takes as a given the idea that a gesture – particularly one that results in a sweeping, continuous, often curvilinear mark – in an index of an authentic expression, made in a single moment of uninhibited passion. This is related to the assumption that action painting is ‘genuine’, ‘honest’, ‘unfiltered’, and other such loaded terms, the same kind of words associated with the ‘autobiographical stories’ told by soloists in jazz.301

Die Verkehrung des „Originalen“, „Authentischen“, in das „Reproduzierte“ und damit die Relativierung dieser Kategorien wurde bereits dargelegt. Zu 2: Corbett zeigt eine weitere Parallele zwischen den mehrschichtigen Drucken Wools und Musik am Beispiel von Evan Parkers ElectroAcoustic Ensemble auf: Die Gruppe besteht aus einem Team improvisierender Instrumentalisten und einem Team, welches mit Sound-Prozessoren arbeitet. Durch die unterschiedliche Manipulation der Töne könne der Hörer nicht heraushören, wer was wann tue. Stattdessen komme der Zuhörer in einen „Zustand des ausschließlichen Hörens“ („[...] a state of just hearing what’s happening rather than wondering who did what and when“).302 Dieser Eindruck kann jedoch, wie dargelegt wurde, kein Zustand der reinen Wahrnehmung, der absoluten Präsenz sein, sondern basiert auf einem gebrochenen Charakter der Wahrnehmung. Dennoch wird diese perzeptuell organisiert. Das spezifische Zusammenwirken diskontinuierlicher und asynchroner Bildelemente, welches hier insbesondere an „Untitled“, 1997, denken lässt, fokussiert den Betrachter auf das

299 Friedrich 2009, S. 53. 300 Corbett 2012, S. 10. 301 Ebd., S. 8 f. 302 Corbett 2012, S. 12.

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 Weltbezug: Urbanität

Sehen. Das „Jetzt“ dieses Moments wurde mit Winds Vorstellung der konfiguralen Zeitlichkeit in Beziehung gesetzt, welche den ereignishaften Charakter dieses Moments betont. Denselben beschreibt auch Jonathan Crary als Moment der Aufmerksamkeit bei Cézanne wie folgt: bei Cézanne erleben wir eine motorische und sensorische Aufmerksamkeit für das ununterbrochene Entstehen und Sichauflösen von Beziehungskonstellationen, zu deren konstitutiven Elementen das eigene Ich zählt.303

Diese Beschreibung kann unter veränderten Bedingungen auf Wool übertragen werden. Dabei ist es der aus diesem Amalgam entstehende Rhythmus, der das Bild vor einem Eindruck von Willkür und Beliebigkeit bewahrt. Dieser Moment der Synthese kann „nur provisorisch und nur durch die Versenkung ins Werk selbst beantwortet werden“304. Hierzu sollen die bisher geleisteten Ausführungen dieser Studie einen Beitrag leisten.

303 Crary 2002, S. 241. 304 Ebd., S. 261.

Schluss Mit der vorliegenden Studie wurde die Werkphase der Pattern-Paintings von Christopher Wool erstmals anhand von Einzelbildanalysen monografisch untersucht und kunsthistorisch eingeordnet. In dieser Schaffensperiode findet eine Entwicklung statt, welche sich durch eine zunehmende Komplexität der Arbeiten in Form von Manipulationen durch Verzerrungen, Vergrößerungen, Fragmentierungen, Schichtungen und Auslöschungen der angeeigneten Pattern auszeichnet. Dabei entwickelt Wool in Abgrenzung zur abstrakten Malerei des US-amerikanischen Modernismus einen Bildbegriff, der diesem auf einer kritischen Basis neue Möglichkeiten öffnet. Hierbei wurden insbesondere vier Aspekte herausgearbeitet, die für Wools Bildverständnis charakteristisch sind: 1. Wool dekonstruiert und „entsakralisiert“ den modernistischen Topos des All-over, indem er u.a. in Abgrenzung zu Jackson Pollock die Verflechtungen der Figur-GrundBeziehungen trennt und die Entität des Bildes zentrifugal öffnet. Er knüpft an die Auflösung der „Architektur des Bildraums“ der Moderne an, löst jedoch den dort manifesten Bezug der Bildstruktur zum äußeren Bildrand auf. Wool verunmöglicht so die idealisierende Verabsolutierung der Bildfläche und die damit verbundene Möglichkeit der Transzendierung. In Abgrenzung zu Greenbergs medienspezifischer Argumentation, verbunden mit dem Kriterium der „Reinheit“, führt Wool durch die ready-made-artige Übernahme vorgefundener Muster konzeptuelle Strategien in die Bildfindung ein. Diese brechen einerseits die Unmittelbarkeit der Bildwirkung auf und verweisen auf verschiedene malereihistorische, aber auch gesellschaftliche Kontexte. Andererseits können sie als „Meta-Metapher [...] für die metaphorische Struktur der Kunst [hier besser: des Bildes; Anm. K.W.] selbst“1 gelesen werden. 2. Wools Verwendung der Tapetenmuster kann auch als „parodistische Appropriation“ gelesen werden, welche die Überhöhung des Rasters in der Moderne als Inbegriff ursprünglicher Reinheit entlarvt. Gleichzeitig löst er u.a. durch die von ihm verwendeten Druck- und Reproduktionstechniken die im Minimalismus postulierte Einheit zwischen Bild und Bildträger auf. Er offenbart die Diskrepanz zwischen ästhetischer und physischer Fläche und eröffnet der ästhetischen Fläche damit neue Möglichkeiten. Durch die Entmaterialisierung des Bildes gewinnt dieses an Beweglichkeit und Flüchtigkeit, die Bedeutung der mentalen Beteiligung des Betrachters wird betont. Gleichzeitig evozieren die Druck- und Reproduktionstechniken eine veränderte, medial geprägte Wirklichkeit und verweisen damit ebenso wie die Fotografie auf eine historische Ablösung der Nachahmungstheorie. In der für Wool typischen

1 Rebentisch 2013, S. 128.

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 Schluss

Dialektik des „Yes, but ...“ stellt er die visuelle Grundstruktur des Rasters jedoch nicht nur in Frage, sondern nutzt sie als elementare Bildstruktur, die die logischen Bedingungen des Visuellen aufzeigt, eine selbstreflexive Wahrnehmung ermöglicht und einem einseitigen Subjektivismus entgegenwirkt. Gerade im Zusammenwirken historisch-reflexiver und metaphorischer Konzepte mit einer sichtbaren Thematisierung wahrnehmungspsychologischer und -physiologischer Vorgänge liegt die spezifische Qualität von Wools Werk. 3. Durch die Überlagerung asynchroner, sequenzieller Bildstrukturen entstehen simultane Sekundärstrukturen, welche als Repräsentanten des im Bild wirksamen Widerspruchs zwischen Sukzessivität und Simultanität gelesen werden können. Dabei können die sequenziellen Bildstrukturen der Ebene des Zeichens zugeordnet werden, die simultanen der Ebene des Bildes. Damit verschränkt Wool zwei elementar entgegengesetzte Dimensionen von Bildlichkeit miteinander: die prozessbetonte, zeichenhafte, horizontale, welche aufgedrückt wird, und die räumlich simultane, darstellende, vertikale, welche hervortritt. Wool setzt also zwei gegensätzliche Bewegungen zueinander in Beziehung: das Drücken und das Hervortreten. Der körperliche Akt und damit die horizontale Ebene bleiben hier in der vertikalen Stellung des Bildes „in der Weise des Entzugs gegenwärtig“2. Die doppelte Negation ist jedoch nicht ausschließlich als Materialisierung von Abwesenheit zu verstehen. Durch die Störungen, Sekundärstrukturen, die zunehmenden Überlagerungen und Brüche, die jedoch nicht als Schichten, sondern gleichzeitig wahrgenommen werden, entwickelt Wool eine spezifische Form von unsystematischer Räumlichkeit. In ihr kommt eine eigene Zeiterfahrung zur Erscheinung, die Parallelen aufzeigt zu Edgar Winds Vorstellung der konfiguralen Zeitlichkeit. Sie zeichnet sich durch das nicht lineare Zusammenwirken verschiedener Ereignisse in einem „Spielraum“ aus. Dieses prozessorientierte Verständnis des Bildes impliziert auch die Vorstellung eines Vorher und Nachher und zeigt damit Bezüge zum Filmsehen auf.3 Insofern kann hier von einer Veränderung des Bildraums vom modernistischen „field“ zum postmodernistischen „screen“ gesprochen werden. 4. Indem sich Wool zeichenhafte Elemente aus dem urbanen Umfeld der Stadt New York, wie Tapetenmuster, graffitiähnliche gesprayte Zeichen oder Textfragmente aneignet und transformiert, reagiert er auf die bedeutungslos gewordene abstrakte Malerei der 1980er-Jahre, die jeden Bezug zum Alltagsleben verloren zu haben schien. Dabei richtet er den Fokus auf urbane Zeichen, welche aus dem Wertekontext der hohen Kunst ausgeschlossen waren, wie Tapetenmuster oder Graffiti. Von der Tradition der Pop-Art abweichend, lädt Wool die anonymen Zeichen der Straße

2 Egenhofer 2008, S. 258. 3 Schwarte 2013, S. 82.

Schluss 

 201

jedoch durch eine Ästhetik des „Handgemachten“ emotional auf und bildet somit auch ein persönliches Lebensgefühl ab – eine Erfindung, die hier mit dem Begriff des „handmade-readymade“ beschrieben wurde. In der so sichtbaren Beziehung zwischen konventioneller Zeichenhaftigkeit und der künstlerischen Handschrift des Malers verkehrt Wool traditionelle Verfahren: Statt konventionelle Zeichen für seine persönliche Handschrift zu nutzen, unterwirft er seine persönliche Handschrift dem konventionellen Zeichen und führt diese dann ex negativo durch Manipulationen unterschiedlicher Art wieder ein. Das urbane Zeichen wird dabei nicht direkt „importiert“, sondern in seiner Unbestimmtheit offengehalten und transformiert. Wool zeigt so intertextuelle Bezüge scheinbar elementarer Zeichen auf und hinterfragt zentrale modernistische Paradigmen wie Authentizität und Originalität. In diesem Punkt steht er den sogenannten Appropriation Artists nahe. Während diese jedoch medien- oder institutionskritische Fragestellungen in das Zentrum ihrer künstlerischen Vorgehensweisen rückten und sich damit dezidiert von der Malerei abwandten, kritisiert Wool die Malerei „von innen“ – insbesondere durch das Aufzeigen immanenter Widersprüche der US-amerikanischen modernistischen Malerei im Hinblick auf ihre transzendentale Aufladung. Durch die Öffnung des Bildes auf Kontexte unterschiedlicher Art und die „Erfindung“ eines Bildraums, welcher auf mediatisierten Wirklichkeitserfahrungen basiert, öffnet er dem Bild neue Möglichkeiten. Durch die Überlagerung und Konfrontation gegensätzlicher künstlerischer Konzepte und die daraus resulitierende dialektische Bewegung wirken die Bilder Wools jedoch immer auch selbstreflexiv.

Schluss

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Bildnachweis Abb. 1 Holzwarth 2012, S. 39; Abb. 2 Christopher Wool 1998, S. 13; Abb. 3 Christopher Wool 1998, S. 33; Abb. 4 Christopher Wool 1998, S. 37; Abb. 5 Christopher Wool, S. 143; Abb. 6 Christopher Wool, S. 144; Abb. 7–12, 14, 22–26 Kirsten Waldmann; Abb. 13 Holzwarth 2012, S. 117; Abb. 15 Heinrich Klingmann: Groove – Kultur – Unterricht. Studien zur pädagogischen Erschließung einer musikkulturellen Praktik, Bielefeld 2010, S. 207; Abb. 16 Christopher Wool, S. 48; Abb. 17 Holzwarth 2012, S. 290; Abb. 18 Holzwarth 2012, S. 15; Abb. 19 Holzwarth 2012, S. 13, Foto: Eugene Richards; Abb. 21 Christopher Wool, 1998, S. 75; Abb. 27 Christopher Wool, 1998, S. 134; Abb. 28 Christopher Wool, 1998, S. 137; Abb. 29 Christopher Wool, 1998, S. 141; Taf. I Holzwarth 2012, S. 36; Taf. II Brinson 2013, S.37; Taf. III Holzwarth 2012, S. 146; Taf. IV https://www.kunstsammlung. de/entdecken/sammlung/schwerpunkte/amerikanische-kunst-nach-1945.html, abgerufen am 24.3.2014; Taf.V Kirsten Waldmann; Taf. VI https://www.sfmoma.org/artwork/74.96, abgerufen am 12.3.2015; Taf. VII http://www.parkettart.com/books/32-volume.html, abgerufen am 12.3.2015.