Die 'Novelas ejemplares' von Cervantes: Wahrnehmung und Perspektive in der spanischen Novellistik der frühen Neuzeit [Reprint 2012 ed.] 9783110913804, 9783484550254

Against the backdrop of discussion on spatial experience in the early modern age the author compares the portrayal of pe

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German Pages 241 [244] Year 1996

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Table of contents :
Einführung
1. Wahrnehmung und ihre Darstellung
1.1. Situative und textuelle Wahrnehmung
1.2. «Los ojos del cuerpo» und «los ojos del entendimiento»
1.3. Produktive Aspekte der sprachlichen Konstruktion
2. Narrative Innovation bei der Darstellung von Wahrnehmung
2.1. Vorbemerkungen
2.2. Ansätze zur focalisation interne
2.3. Zum Verhältnis von Wahrnehmungs- und Erzählperspektive
2.4. Ansätze zur focalisation externe
3. Leib, Wahrnehmung und soziale Praxis
3.1. Die Augen des Leibes und das Zyklopenauge am Hirtenstab
3.2. Der gläserne Leib
4. Die Dynamisierung der Wahrnehmungsperspektive
4.1. Dynamik im Barock
4.2. Die Dynamisierung der Wahrnehmungsobjekte in den Novelas ejemplares
4.3. Die Wahrnehmungssubjekte
4.4. Der Wahrnehmungsakt
5. Subjekt-Objekt-Konstituierung
5.1. «Entre los pies de Preciosa»: Die Problematisierung der Weltmitte
5.2. «Hacer pepitoria»: Zur Gewaltausübung durch den Blick
5.3. Sehen ohne gesehen zu werden?
5.4. «Todo esto estaba oyendo Carriazo»: Hierarchisierte Wahrnehmungsperspektiven
6. Konfigurationen von Wahrnehmungsperspektiven
6.1. Die Novelas ejemplares
6.2. Der Don Quijote
6.3. Zum raumkonstituierenden Aspekt der Wahrnehmungsperspektiven
7. Perspektivierung von Erkenntnis
7.1. Duale und multiple Konzeptionen von Perspektive: Die literarische Tradition und Cervantes
7.2. Barocke engaño-desengaño-Antithetik oder ‹natürlicher› Wahrnehmungs- und Erkenntnisprozeß?
7.3. Zum Konzept von Erkenntnis
Schlußbemerkungen
Literaturverzeichnis
1. Siglen
2. Primärliteratur
3. Sekundärliteratur
4. Abbildungsverzeichnis
Namenregister
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Die 'Novelas ejemplares' von Cervantes: Wahrnehmung und Perspektive in der spanischen Novellistik der frühen Neuzeit [Reprint 2012 ed.]
 9783110913804, 9783484550254

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mimesis Untersuchungen zu den romanischen Literaturen der Neuzeit Recherches sur les littératures romanes depuis la Renaissance

Herausgegeben von / Dirigées par Reinhold R. Grimm, Joseph Jurt, Friedrich Wolfzettel

25

Caroline Schmauser

Die von Cervantes Wahrnehmung und Perspektive in der spanischen Novellistik der Frühen Neuzeit

Max Niemeyer Verlag Tübingen 1996

Gedruckt mit Unterstützung des Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG Wort

D 83 Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Schmauser, Caroline: Die »Novelas ejemplares« von Cervantes : Wahrnehmung und Perspektive in der spanischen Novellistik der frühen Neuzeit / Caroline Schmauser. - Tübingen : Niemeyer, 1996 (Mimesis ; 25) NE: GT ISBN 3-484-55025-2

ISSN 0178-7489

© Max Niemeyer Verlag GmbH & Co. KG, Tübingen 1996 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier Satz und Druck: Allgäuer Zeitungsverlag GmbH, Kempten. Einband: Heinr. Koch, Tübingen.

Vorbemerkung

Ich möchte an dieser Stelle all denen danken, die zum Zustandekommen dieses Buches beigetragen haben. Dabei gilt mein besonderer Dank Herrn Prof. Dr. Michael Neriich, der diese Arbeit anregte und unterstützte, vor allem aber seit unserer ersten Begegnung meine Neugier und meine Lust an der wissenschaftlichen Arbeit ermutigte. Von den zahlreichen Gesprächspartnern, die mir auf vielfältige Weise beiseite standen, sei hier vor allem Herr Prof. Dr. Harald Weinrich genannt, dessen Forschungskolloquien mich durch ihre konstruktive Diskussionsatmosphäre überaus motivierten. Aus ganzem Herzen danke ich Frau Prof. Dr. Monika Walter, die mich darin bestärkte, den eingeschlagenen Weg konsequent und unbeirrt weiterzugehen. Eine große Hilfe waren mir Frau Christine Werg und Frau Rosemarie Bergner durch ihre Genauigkeit und Geduld beim Korrekturlesen. Der Studienstiftung des Deutschen Volkes danke ich für die finanzielle Förderung, die sich auch auf meinen mehrmonatigen Forschungsaufenthalt in den USA erstreckte, und der Verwertungsgesellschaft Wort für den Druckkostenzuschuß zu dieser Veröffentlichung. «Nicht zuletzt» bin ich den Autoren des 16. und 17. Jahrhunderts zu Dank verpflichtet - allen voran Cervantes.

V

In Erinnerung an Brigitte Schmauser und Herbert Justus Schmauser

Inhalt

Einführung 1. 1.1. 1.2. 1.3.

Wahrnehmung und ihre Darstellung Situative und textuelle Wahrnehmung «Los ojos del cuerpo» und «los ojos del entendimiento» . Produktive Aspekte der sprachlichen Konstruktion . . . .

2.

Narrative Innovation bei der Darstellung von Wahrnehmung Vorbemerkungen Ansätze zur focalisation interne Zum Verhältnis von Wahrnehmungs- und Erzählperspektive Ansätze zur focalisation externe

2.1. 2.2. 2.3. 2.4. 3. 3.1. 3.2. 4. 4.1. 4.2. 4.3. 4.4. 5. 5.1. 5.2. 5.3. 5.4.

1 16 16 31 37

43 43 44 57 68

Leib, Wahrnehmung und soziale Praxis Die Augen des Leibes und das Zyklopenauge am Hirtenstab Der gläserne Leib

76

Die Dynamisierung der Wahrnehmungsperspektive . . . . Dynamik im Barock Die Dynamisierung der Wahrnehmungsobjekte in den Novelas ejemplares Die Wahrnehmungssubjekte Der Wahrnehmungsakt

94 94

Subjekt-Objekt-Konstituierung «Entre los pies de Preciosa»: Die Problematisierung der Weltmitte «Hacer pepitoria»: Zur Gewaltausübung durch den Blick Sehen ohne gesehen zu werden? «Todo esto estaba oyendo Carriazo»: Hierarchisierte Wahrnehmungsperspektiven

76 83

97 108 114 129 129 139 146 151

VII

6. 6.1. 6.2. 6.3.

7. 7.1. 7.2. 7.3.

Konfigurationen von Wahrnehmungsperspektiven Die Novelas ejemplares Der Don Quijote Zum raumkonstituierenden Aspekt der Wahrnehmungsperspektiven

161 161 172

Perspektivierung von Erkenntnis Duale und multiple Konzeptionen von Perspektive: Die literarische Tradition und Cervantes Barocke engaño-desengaño-Antithetik oder Wahrnehmungs- und Erkenntnisprozeß? Zum Konzept von Erkenntnis

192

183

192 200 211

Schlußbemerkungen

215

Literaturverzeichnis 1. Siglen 2. Primärliteratur 3. Sekundärliteratur 4. Abbildungsverzeichnis

219 219 219 221 228

Namenregister

231

VIII

Einführung

Die Ausbildung des räumlichen Vorstellungs- und Darstellungsvermögens gehört zu den elementaren Voraussetzungen für den kosmologischen Konstruktionssinn der Neuzeit. Mehr als Denkform, wird Perspektivität zur Lebensform, wenn die Leidenschaft der Reflexion auf den eigenen Standort so genannt werden darf. Der junge Kopernikus hatte während seiner Studienzeit in Krakau einen besondern Fleiß auf die Perspektive verwendet [...]. Kepler hat dann im Vorwort zu seiner Dioptrik von 1611 so etwas wie freie Variationen einer spekulativen Perspektive gegeben [...].'

Im Jahre 1613 erscheinen Cervantes' Novelas ejemplares. Auch in bezug auf sein Werk - besonders den Don Quijote - wurde in der wissenschaftlichen Literatur des 20. Jahrhunderts wiederholt von Perspektivismus gesprochen. Dies geschah in metaphorischem, linguistischem oder erzählperspektivischem Sinne, nicht im Hinblick auf das «räumliche Vorstellungs- und Darstellungsvermögen», von dem Blumenberg bezüglich der kosmologischen Studien der Neuzeit spricht. Es ist jedoch aufschlußreich, gerade diesem Aspekt nachzugehen: Die einzelnen Figuren im Text nehmen das Geschehen aus verschiedenen Blickwinkeln wahr. Die Wahrnehmungsperspektiven der Figuren - zu denen neben den visuellen auch auditive gehören - werden vom Autor räumlich-szenisch dargestellt. Der Begriff der Perspektive soll daher in der vorliegenden Arbeit in seiner lokalen Verankerung und seiner Anbindung an den konkreten Wahrnehmungsakt untersucht werden. Es stellt sich die Frage, wie die Wahrnehmungsperspektiven im einzelnen beschrieben werden können. Ist ihnen quantitativ und qualitativ tatsächlich Bedeutung zuzumessen? Und können so verschiedene Werke wie Keplers Dioptrik und Cervantes' Novelas ejemplares vor dem gleichen geistigen Hintergrund gesehen werden? Folgen wir Walter Benjamin, so ist dies zu vermuten. Er ist der Meinung, daß innerhalb «großer geschichtlicher Zeiträume [...] sich mit der gesamten Daseinsweise der menschlichen Kollektiva auch die Art und Weise ihrer Sinneswahrnehmung [verändert].» Er spricht davon, daß der Modus, nach dem sich die menschliche Wahrnehmung strukturiert, nicht nur natürlich, sondern auch historisch bedingt ist. Von der Kunst erhofft sich Benjamin «Schlüsse auf die Organisation der Wahrnehmung» in ihrem geschichtlichen Zusammenhang. 2 1

2

Hans Blumenberg: Die Genesis der kopernikanischen Welt, Frankfurt am Main 1981, p. 619-620 (Hervorhebung durch Blumenberg). W. Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Drei Studien zur Kunstsoziologie, Frankfurt am Main 1963, p. 17 [Erste Veröffentlichung in der Zeitschrift für Sozialforschung 1 (1936)]. I

Eine Organisation von Wahrnehmung ist in der künstlerischen Perspektive immer schon enthalten. Es stellt sich nun die Frage, ob sich zwischen der perspektivischen Wahrnehmung, die in den cervantinischen Texten nachweisbar ist, und der Perspektive in den bildenden Künsten der Renaissance eine Verbindung herstellen läßt. Das Wort perspectiva stammt aus dem Lateinischen. Boethius verwendet es zweimal zur Bezeichnung einer Unterdisziplin der Geometrie. 3 Diese Bedeutung bleibt bis zum Beginn der Renaissance bestehen. Wie in der Kunstwissenschaft festgestellt wurde, 4 ist es wahrscheinlich, daß der Terminus nicht von perspicere=durchsehen, hineinsehen herzuleiten ist, sondern von perspicere=genau, deutlich sehen, gewiß wahrnehmen, da er so die wörtliche Übersetzung des griechischen optiké techne darstellt. Erst Dürer deutet die Perspektive im Sinne des Durch-Sehens. 5 Die antike und mittelalterliche perspectiva naturalis (oder communis) beruht auf antiken Sehtheorien und betrifft seit Euklids Theoremen unter anderem die Sehpyramide und Erscheinungen des Sehens wie die Verkürzung, Hintereinanderordnung, Konvergenz der Tiefenlinien etc.; es wird eine Geometrisierung des Sehens, keine Konstruktion eines künstlerischen Flächenbildes angestrebt. Diese Perspektivkonzeption wird in der Renaissance von der perspectiva artificialis (oder pingendi) abgelöst, bei der es um die Darstellung der dreidimensionalen Wirklichkeit auf der zweidimensionalen Bildebene geht. Es handelt sich dabei nicht um einen plötzlichen Umbruch, sondern um eine allmähliche Entwicklung, die über Künstler wie Giotto (12661337), die Gebrüder Lorenzetti (erstes Drittel Trecento) und Filippo Brunelleschi (1377-1446) verläuft und mit der costruzione legittima Albertis (1404-1472) die erste echte zentralperspektivische Konstruktion erhält, bei welcher der freigewählte Augenpunkt alle Linien des Bildes bestimmt. 6 Das Bild basiert auf einem Koordinatensystem, wird zu einem Gefüge geometrisch-mathematischer Abhängigkeiten. 3

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Boethius: Analyt. poster. Aristot. Interpretatio. In: Boethius: Opera, Basel 1570, 1,7; 1,10. Cf. Erwin Panofsky: «Die Perspektive als symbolische Form>» [192425], In: Aufsätze zu Grundfragen der Kunstwissenschaft, ed. H. Oberer, E. Verheyen, Berlin 3 1980, p. 99. Cf. unter anderem Panofsky: Die Perspektive als , p. 99-167, hier p. 127, Fußnote 3. Ob man an der italienischen Bezeichnung prospettiva ein neues Bewußtsein von Raumtiefe ablesen soll oder dies lediglich einen phonetischen Grund hat (Vermeidung der drei Konsonanten rsp), ist nicht eindeutig geklärt. Alberti beschreibt in seinem berühmten Traktat Della pittura libri tre, das 1435 handschriftlich erschien, sowohl den Sehvorgang als auch ein perspektivisches Konstruktionsverfahren, das für die folgenden Jahrzehnte als «Konstruktion nach Gesetzen» bestimmend wurde (cf. Leon Battista Alberti: Della pittura, ed. Luigi Malle, Florenz 1950). Unter den Künstlern, die sich in der Folgezeit in Form von Bildern und Skulpturen bzw. Abhandlungen mit der Perspektive auseinandersetzten, sind unter anderem Masaccio, Paolo Uccello, Piero della Fran-

Hartmut Girke sieht in der Bildraumausprägung bei den Malern des 15. Jahrhunderts jedoch auch die Faszination ausgedrückt, daß in diesen Bildräumen «die oder zu vermeiden; es soll auch der Eindruck entstehen, als werde die Unterhaltung von persönlich Anwesenden geführt.» (Marcus Tullius Cicero: Laelius de amicitia. Ad. T. Pomponium Atticum/Laelius. Über die Freundschaft. T. Pomponius Atticus gewidmet, München 1961, p. 8 und 9). Auch Autoren wie Juan de Valdés oder Luis Alfonso de Carvallo verwenden Ciceros Begründung in ihrem Werk. 20 Cf. Platon: «Nachher allerdings spricht er als Chryses und versucht in uns möglichst den Eindruck zu erwecken, als ob nicht Homer, sondern der alte Priester spreche.»; «Gerade das Gegenteil [von mittelbarer Wiedergabe, C. S.] geschieht, wenn man die Zwischenstücke des Dichters zwischen den Reden herausnimmt und nur die Wechselreden übrigläßt.» (Der Staat, p. 171 und 172). 28

hier die Formulierung: «El coloquio traigo en el seno; púselo en forma de coloquio [...].» Dennoch zeigen sich die Grenzen eines solchen Versuches. Campuzano muß als Aufzeichnender die Sprecher immer noch jeweils bezeichnen (auch wenn er ausdrücklich versucht, diesen Textanteil gering zu halten): Dem jeweiligen Redebeitrag geht die Namensnennung voraus. Er als Wahrnehmender konnte die beiden Sprecher stimmlich und wohl auch räumlich (in ihrer jeweiligen relativen Position zu ihm) unterscheiden, dem Leser ist dies nicht möglich. Campuzano ist sich, wie seine Worte beweisen, dessen wohl bewußt. Die Wahrnehmungsbedingungen Campuzanos und des Lesers sind in keiner Weise identisch. An diesem Punkt zeigt sich, daß Gérard Genettes oben zitierte Zweifel an der Möglichkeit von Mimesis im schriftlich fixierten Text auf relativ abstrakter Ebene bleiben. Er fragt: «[...] que se passe-t-il donc lorsqu'il s'agit [...] non de paroles, mais d'événements et d'actions muettes?» 21 Was verbirgt sich hinter den «Ereignissen» und den «stummen Handlungen»? An wen sind sie gebunden? Ist es nicht der Leib des Menschen? Harald Weinrich schreibt in seinem Artikel Über Sprache, Leib und Gedächtnis: « [...] .» (Ludovico Ariosto: Orlando Furioso, ed. Cesare Segre, 2 vol., Mailand 1982, II, Canto XXXIV, Str. 83, p. 903). Robert Ricard: «Paravicino, Rabelais, le soleil et la ». In: Bulletin Hispanique LVII (1955), p. 327-330, hier p. 329.* Zit. nach Ricard, p. 329.

seiner Verankerung im Leib; das Subjekt der Erfahrung reduziert sich auf die Betrachterposition. Die Beobachtung kann nicht mit Erfahrung gleichgesetzt werden, da sich der Betrachter weigert, an dem Gesehenen teilzuhaben und Auswirkungen der Ereignisse auf die eigene Person einzugestehen. Der junge Gelehrte will zu Anfang die ganze Umgebung neugierig mit seinem Blick erfassen: «Y habiendo cumplido con el deseo que le movió a ver lo que había visto, determinó volverse a España y a Salamanca a acabar sus estudios [...].» (II, 51). Er ist während seiner Italienreise noch fähig, die Welt mit Hilfe seiner verschiedenen Sinne zu erkunden; so testet er mit Hilfe seines Geschmackssinnes die verschiedensten Weine: «Allí conocieron la suavidad del Treviano, el valor del Montefrascón, la fuerza del Asperino, [...] la dulzura y apacibilidad de la señora Guarnacha [...].» (II, 48). Auch kann er hier noch über die optischen Eindrücke staunen: Admiráronle [...] los rubios cabellos de las genovesas y la gentileza y gallarda disposición de los hombres, la admirable belleza de la ciudad [...]. Contentóle Florencia [...]. Visitó sus templos, adoró sus reliquias y admiró su grandeza; [...] admiraba [...]. Notó también [...]. (II, 48-49).

Schon hier jedoch sammelt er alles und Gesehene katalogisierend; die Passage zeichnet sich durch ungewöhnlich viele Enumerationen aus. Der Reisende ordnet die Eindrücke wie in einem Herbarium: «Todo lo miró, y notó y puso en su punto.» (II, 49). Nach seiner Heimkehr aus Italien ist der junge Gelehrte nicht mehr fähig, sich zu wundern und Dinge zu bewundern. Sein Blick stellt sich in wesentlichen Merkmalen als Vorläufer des wissenschaftlichen Blickes dar, den Werner Kutschmann für das 17. Jahrhundert konstatiert. Kutschmann schreibt: [...] daß es sich bei diesem um ein einseitiges und rudimentäres, fast nur noch auf Lese- oder Ablese-Vorgänge beschränktes Sehen handelt; das Auge hat nur noch bloße Daten, Numeri und Symbole zu erfassen und ist damit gerade in seinen charakteristischen Fähigkeiten, zu staunen, zu schauen und schauend zu erkennen, eingeschränkt [...]. Gerade das originäre Entdeckungsund Erkenntniskonstitutionsvermögen des Auges ist damit aber ausgeschaltet für die Wissenschaft [.. ,].27

Michel Foucault weist den wissenschaftlichen Blick im Kapitel «voir, savoir» seines Buches Naissance de la clinique erst im 18. Jahrhundert nach. Er beschreibt ausführlich die Auswirkungen, die der medizinische Blick hat: «Le regard clinique opère sur l'être de la maladie une réduction nominaliste.» An anderer Stelle vermerkt er: «[...] le regard du clinicien devient l'équivalent foncionnel du feu des combustions chimiques, c'est par lui que la pureté essentielle des phénomènes peut se dégager: il est l'agent

27

Kutschmann, p. 399.

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séparateur des vérités.» Der klinische Blick ist seiner Analyse zufolge «par essence démystificateur.» 28 Auch in der Literatur des beginnenden 19. Jahrhunderts findet man ähnliche Hinweise zum Auge. So betrachtet Novalis den Gesichtssinn als einen «absoluten Sinn». Das Auge, das über den anderen Sinnesorganen steht, soll zum «vollkommenen Leiter» werden: «Das Auge ist der vollkommenste unsrer Sinne - das beste Liquido-Organ. [...]. Alle Sinne sollten Augen werden. Fernrohre.» 29 In den Werken Ε. T. A. Hoffmanns werden das Auge und der Gesichtsinn ebenfalls immer wieder thematisiert. Es wäre denkbar, daß Hoffmann, der ja für El coloquio de los perros eine «Fortsetzung» verfaßte, 30 auch bei der Darstellung der Augen-Thematik von seiner Cervantes-Lektüre beeinflußt worden ist. Wie Peter Utz in seiner Untersuchung zum Goldnen Topf schreibt, erfolgt dort eine «Warnung vor der Hypostasierung des isolierten Auges». Der isolierte Blick provoziert die Unlesbarkeit der Welt und läßt sein Subjekt ebenso erstarren wie seinen Gegenstand. Anselmus wird zur Strafe in eine gläserne Flasche gesperrt, wo ihm dann tatsächlich nur noch das Augenlicht bleibt. Utz führt aus, daß hier, wie in Nathanaels «Perspectiv» im Sandmann, die Isolierung des Blickes die Entfremdung des ganzen Körpers mit sich bringt. Anselmus' «Fall ins Kristall», der ihm prophezeit worden ist, stellt so einen Rückfall aus der sinnlichen Weite der Synästhesie in das Gefängnis einer auf das Auge fixierten Aufklärung dar. 31 28

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M. Foucault: Naissance de la clinique. Une archéologie du regard médical, Paris 1963, p. 120, 121 und 123 (Hervorhebung durch M. F.). Zitiert nach Peter Utz: Das Auge und das Ohr im Text: literarische Sinneswahrnehmung in der Goethezeit, München 1990, p. 222. «Nachricht von den neuesten Schicksalen des Hundes Berganza» [1814], In: E. T. A. Hoffmann: Fantasiestücke in Callots Manier. Blätter aus dem Tagebuche eines reisenden Enthusiasten, Vorrede Jean Paul, Berlin und Weimar 2 1982, p. 97-171. Utz, p. 285. Hinweise auf das Glas-Motiv sind desgleichen in der modernen Kunst zu finden. Bei Marcel Duchamps Das Große Glas (1915-23) kann das Glas als Symbol seiner Trennung von den anderen und vom Kosmos gelesen werden. Auch in der Architektur des ausgehenden 20. Jahrhunderts begegnet uns das Problem der Materialität des Glases. In einer Ausgabe der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom August 1988 schreibt Barbara Basting in ihrem Artikel «Die Isolierung der Sinne. Wie die Glasarchitektur der Postmoderne die Wahrnehmung betäubt: Eine Fahrt mit der Londoner Untergrundbahn» über die moderne überirdische Dockland-Linie und die Docklands: «[...] ein gigantisches Konglomerat postmoderner Architektur [...] eine fast unheimliche Sterilität. Das liegt sicher zum einen Teil an der baukastenmäßig unwirklichen, unter Ausklammerung der Natur konzipierten Architektur, die auch durch die sich in ihr bewegenden Menschen nicht lebendiger wirkt; es liegt aber vor allem an der Betrachterperspektive, die die Bahntrasse erzwingt [...]. Wie Richard Sennett in seinem Essay Plate Glass (Raritan, Spring 1987) darlegt, wo er vor allem

Der Licenciado registriert die optischen Phänomene und hat dann bereits seine Antwort und sein Urteil parat: «Pasando un día por la casa llana y venta común vio que estaban a la puerta della muchas de sus moradoras, y dijo que eran bagajes del ejército de Satanás que estaban alojados en el mesón del Infierno.» (II, 55). Von einer einzelnen Beobachtung wird zudem sehr schnell auf allgemeine Phänomene bzw. Kategorien von Phänomenen geschlossen, ohne daß ein Induktionsschluß eigentlich schon gerechtfertigt wäre: Una vez, cuando no era de vidrio, caminé una jornada en una mula de alquiler tal, que le conté ciento y veinte y una tachas, todas capitales y enemigas del género humano. Todos los mozos de muías tienen su punta de rufianes, [...]. Si sus amos [...] son boquimuelles, hacen [...]. Si son extranjeros, los roban; si estudiantes, los maldicen; si religiosos, los reniegan; y si soldados, los tiemblan. (II, 61).

Die aktuelle Sinneswahrnehmung ist lediglich Auslöser für die vorgefertigte Meinung, die sich an alter Seherfahrung und kynischer Lebenseinstellung orientiert. Im Gegensatz zu anderen Novellen von Cervantes, die gerade die Prozeßhaftigkeit des Erkenntnisvorgangs betonen, handelt es sich hier um eine punktuelles Registrieren und sofortiges Urteil. Muß nicht sogar die Frage gestellt werden, ob wir in der Phase nach der Reise beim Licenciado überhaupt noch von Neugier sprechen können, wie dies Forcione für die ganze Novelle tut? 32 Der junge Mann, «nuestro curioso», wie der Erzähler vom Protagonisten während der Italienreise mit Recht schreibt, scheint später, nach seiner Bildungsreise, eben nicht mehr wirklich neugierig zu sein. Oft ist die aktuelle Wahrnehmung des Gläsernen Lizentiaten lediglich Auslöser für Feststellungen und Urteile, die sein zutiefst pessimistisches Welt- und Menschenbild bekräftigen; Auslöser für Erinnerungen an alte Erlebnisse, die nicht ihn selbst betrafen, sondern von ihm ebenfalls nur beobachtet wurden: «Acuérdaseme que cuando yo era hombre de carne, y no de vidrio, como agora soy, que a un médico destos de segunda clase le despidió un enfermo por curarse con otro [...].» (II, 63).

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die Rolle des Glases in der Architektur untersucht, ist es selten das Material an sich, das - im Falle von Glas etwa - den Eindruck der erzeugt. Entscheidender sind die Raumerfahrungen, die der architektonische Umgang mit einem Material provoziert oder verhindert. Ein zentraler, von Sennett angeführter Aspekt ist sicherlich die Isolierung der Sinne voneinander, die durch die gläserne Architektur gerade aufgrund ihrer Transparenz gesteigert wird: Man sieht, ohne zu hören, zu riechen, zu fühlen. Auch beim Licenciado geht mit der Glasexistenz und der Anerkennung des Gesichtssinns ein Ausschalten der anderen Sinne mit Ausnahme des Gehörs einher; und dies, obwohl die hier angeführten Fälle sich vom Fall des Lizentiaten unterscheiden: In den modernen Zitaten steht das Glas zwischen dem Leib des Menschen und seiner Umwelt, beim Licenciado ist das Glas zum Leib selbst geworden. Forcione: Cervantes and the Humanist Vision, p. 225-240. Cf. dazu auch Dümchen, p. 116-117.

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Der erste Teil des Satzes suggeriert ein Erlebnis, das mit seiner eigenen Leiblichkeit und Existenz zu tun hat; die Fortsetzung klärt jedoch darüber auf, daß andere Personen betroffen waren, und es sich um einen unbekannten Kranken handelte. Auch hier erinnert sich der junge Gelehrte nur an die leiblichen Probleme eines anderen, obwohl er zur Datierung der Beobachtung ganz abstrakt auf sein einstiges fleischliches Dasein hinweist. Wie sich der Gesichtssinn aus seiner Verankerung im Leib löst und der Leib in der Vorstellung einer Glas-Existenz soweit wie möglich entmaterialisiert wird, zeigt sich auch in seinem Umgang mit der Sprache der Versuch, Materialität abzulehnen: Der Gelehrte will die von ihm registrierten Phänomene in ihren wesentlichen Merkmalen erfassen und komprimiert diese Erkenntnisse sprachlich in Apophtegmata. Er befindet sich damit auf einer Linie mit zahlreichen Sprachtheoretikern des 16. Jahrhunderts, die ein Zurücktreten des Mediums der Sprache hinter die inhaltliche Aussage fordern. Wörter sollen nicht um ihrer selbst willen geliebt werden, sondern nur um der Wahrheit willen, die in ihnen ausgedrückt wird. 33 Erasmus und seine spanischen Anhänger schätzen daher auch Sprichworte, bei denen formale Kürze und inhaltliche Klarheit einander entsprechen. Apophtegmata überschreiten das Partikulare, funktionieren auf einem Niveau äußerster Abstraktion und schaffen Distanz zwischen dem Autor (oder Sprecher) und dem besprochenen Phänomen. Sprache soll bei diesen Sprachtheoretikern so transparent wie möglich werden. Malcolm K. Read, der auf das sinnliche und kreative Wesen der Sprache verweist, geht so weit zu sagen: «The word, deprived of its sexuality, adrift from its paradisiacal origins, withers and dies. [...]. Stripped of flesh, reduced to abstraction, language becomes an expression of death.» 34 Parallelen zum Licenciado sind offensichtlich. Wie das Medium des Auges soll auch das der Sprache bei ihm zum «vollkommenen Leiter», d.h. entmaterialisiert werden. Die lebendige Vielfalt der Welt wird in doppelter Weise auf Kategorien reduziert: durch die Art und Weise der Wahrnehmung wie durch 33

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Cf. unter anderem Fray Luis de Granada: «De la oración y consideración». In: Obras de Fray Luis de Granada, ed. D. Buenaventura Carlos Aribau, 3 vol., Madrid 1944-1945, II, p. 120; Juan de Valdés: Diálogo de la lengua, ed. Juan M. Lope Blanch, Madrid 1969, p. 144. Malcolm Κ. Read: «The Word Made Flesh: Magic and Mysticism in Erasmian Spain». In: M. K. Read: The Birth and the Death of Language: Spanish Literature and Linguistics 1300-1700, Potomec, Maryland 1983, p. 117. Cf.: «In both spiritual and religious terms, Erasmianism presupposed a flight from the body. It aspired to spiritual clarity, that is to say, as regards language, to an idiom washed clean of matter, a medium whose mediacy is denied.» (M. K. Read:« The Structure of Repression in Renaissance and Baroque Linguistics». In: M. K. Read: Visions in Exile. The Body in Spanish Literature and Linguistics: 15001800, Amsterdam/Philadelphia 1990, p. 11).

die der Versprachlichung der gesammelten Beobachtungen. Michael Neriich konstatiert in seiner Untersuchung zu Montaigne dessen «horreur [...] pour tout ce qui est langage réductionniste, vulgairement appelé (ou )» und verweist auf ähnliche Sprachkritik bei Cervantes: [...] dès que Don Quijote entre dans son rôle et langage de spécialiste de la chevalerie [...], il devient fou et incapable de déchiffrer la réalité et le des autres, et El coloquio de los perros se termine sur l'hospitalisation de quatre penseurs systématiques dans un asile de fous [...]. 35

Der gläserne Lizentiat will seine ganze Umgebung, die ganze Welt und Menschheit intellektuell erfassen und ebenfalls systematisieren. «Cervantes, as he conceived the figure of his insane man of letters, glimpsed the restlessness and voracity that are characteristic of the intellect in its hunger for knowledge and that have been described, with both admiration and dismay, by philosophers and theologians throughout history.»36 Wie Forcione darlegt, greift Cervantes hiermit ein auch bei Erasmus von Rotterdam nachzulesendes Nachdenken über die Früchte des Baumes der Erkenntnis wieder auf, das alte Thema vom Sündenfall und vom Wissen, sowie die Diskussion über die Berechtigung der Neugier. 37 Der Erkenntnisdrang des Licenciado bleibt jedoch meiner Ansicht nach nur innerhalb der Grenzen seines inzwischen verfestigten Weltbildes bestehen. Ausgegrenzt werden alle neuen Aspekte der Welt, die diesem widersprechen könnten. Forcione schreibt zu Recht, daß der Licenciado scheitert, weil seine Suche nach Wissen nicht auf das richtige Ziel ausgerichtet ist. Seiner scientia fehlt die caritas (Charitas), die die Wissenschaft erst zur humanitas werden läßt. 38 Wahres Wissen, so schreibt auch Erasmus, ist mit ethischer Höherentwicklung verbunden; bloße scientia steht der erstrebenswerten sapientia gegenüber. 39 Vergleicht man mit dem Licenciado die Hunde in der letzten cervantinischen Novelle, so stellt man fest, daß diese auf die nämliche Gefahr des kynischen Redens und Urteilens über die Welt hinweisen und ihrerseits, nach der am eigenen Leib gemachten Erfahrung, vor dem pauschalen Werturteil meist zurückschrecken. Sie stellen ihre Kraft in den Dienst des «guten Christen Mahudes», der für die humanitas tätig ist. Das Begreifen der gesellschaftlichen Mißstände und menschlichen Unzulänglichkeiten 35

Apollon et Dionysos, p. 78-79. Forcione: Cervantes and the Humanist Vision, p. 231. 37 Cervantes and the Humanist Vision, p. 225-240. Zur Thema der Neugier cf. auch Hans Blumenberg: Die Legitimität der Neuzeit, Frankfurt am Main 1966. 38 «Frustra intelligas, nisi diligas quod percipisti. [...] Scientia, si absit charitas, inflat [...].» Erasmus von Rotterdam, zit. nach Forcione: Cervantes and the Humanist Vision, p. 307. 39 Cf. Cervantes and the Humanist Vision, p. 232, 252, 275, 307 und 315. 36

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führt Berganza nicht nur zu scharfer Kritik, wie das beim Licenciado der Fall ist. Er weist in seiner Erzählung immer wieder auf den Schmerz hin, nicht helfen und keine Abhilfe schaffen zu können. Da den Licenciado die Spezialisierung auf den Geist im wieder gesundeten Zustand nicht ernähren kann und er fast verhungert, wendet er sich nun seinerseits der «Hand» zu; er wird Soldat und schwenkt damit von den letras zu den armas über: «[...] determinó de dejar la Corte y volverse a Flandes, donde pensaba valerse de las fuerzas de su brazo, pues no se podía valer de las de su ingenio [...] se fue a Flandes donde la vida que había comenzado a eternizar por las letras la acabó de eternizar por las armas [...].» (II, 74). Es deutet sich ein weniger einsames Leben («en compañía de su buen amigo el capitán Valdivia») sowie eine gewisse Versöhnung von Körper und Geist an: «[...] dejando fama en su muerte de prudente y valentísimo soldado.» (II, 74). In der Sekundärliteratur wird der Tod des Licenciado auf dem Schlachtfeld meist sehr negativ als völliges Scheitern eingestuft. Forcione ist einer der wenigen, der die Schlußpassage ganz positiv liest: «In the last line of the story he suddenly emerges from his solitude, and he appears as a good friend, a good citizen, and a , who readily confronts the dangers of history that he had continually shunned while immersed in his fragile paradise of intellectuality.» 40 Es muß jedoch darauf hingewiesen werden, daß das Todesmotiv die Novelle von Anfang an begleitet. Der Tod wurde in allen Phasen des Lebens des Licenciado in verschiedenen Vorformen bzw. verwandten Formen thematisiert: von dem schlafenden Zustand am Anfang der Novelle über den Stupor, der der Verabreichung des Aphrodisiakums folgt, bis zur Bedrohung durch den Hungertod. Der ehemalige Gelehrte stirbt nun nicht an den Folgen eines Lebens im Dienste der letras, sondern durch die armas. Anders ist die gesellschaftliche Bewertung, die einem Tod auf dem Schlachtfeld beigemessen wird: «[...] dejando fama en su muerte de prudente y valentísimo soldado.» (II, 74). Die Kombination der Adjektive «prudente» und «valentísimo» weist darauf hin, daß eine gewisse Versöhnung von armas und letras, und damit von Leib und Geist, erzielt worden ist. D e r Gelehrte hatte eine Kommunikation durch Berührung immer abgelehnt und sich gegen sie gewehrt. 41 Im Glas-Stadium standen ihm nur 40 41

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Cervantes and the Humanist Vision, p. 316. Schon Lactanz ordnete den Tastsinn der Wollust zu. Andererseits wird der Tastsinn häufig auch als der zuverlässigste unter den Sinnen betrachtet. Insgesamt gehört der Tastsinn in der Tradition meist zu den niederen Sinnen. Leone Ebreo spricht so von den «sentimenti materiali»: Geruchs-, Geschmacks- und Tastsinn, und den «sentimenti spirituali»: Gesichtssinn und Gehör. Die Bewertung der Sinne im allgemeinen und die Hierarchie der einzelnen Sinne im besonderen

das Sehen und Hören als aktive Sinneswahrnehmungen zur Verfügung. Das Glas verweist einerseits auf den hoch entwickelten Gesichtssinn, andererseits auf die hohe Empfindlichkeit durch Berührung. Der Licenciado verweigert die Berührung anderer Menschen nicht erst als gläserner Mensch, sondern bereits vorher: Er lehnt den körperlichen Kontakt mit dem anderen Geschlecht entschieden ab. Interessanterweise ist beim Gesichtssinn die aktive und aggressive Komponente betont, die analytische Kraft, die sich nach außen in die Welt richtet; beim Tastsinn hingegen die passive, erleidende, die Gefahr für die eigene physische Existenz beinhaltet. 42 Das Auge wird hier mit dem Geist verbunden, die Hand mit der leiblichen Existenz. So schreibt auch Erasmus im Enchiridion militis christiani: «Hoc enim est, quod sensit Paulus scribens Corinthiis: A n nescitis, quoniam, qui adhaeret meretrici, unum corpus efficitur? Qui autem adhaeret domino, unus spiritus est. Meretricem lubricam hominis partem appellat.» 43 Der Geist verweist auf den «Weg des Lebens». Die Sinneswahrnehmungen wirken beim Licenciado nicht zusammen; Gesichtssinn und Gehör sind von den anderen Sinnen isoliert. Die Ausgewogenheit ist gestört; alle Kommunikationswege sind davon betroffen. Der Gelehrte kann wohl eigentlich hören und reden, aber er ist unfähig, sich mit seinen Zeitgenossen zu verständigen, die er nur als Objekte sehen kann. Bei Erasmus heißt es im Lob der Torheit.

folgt zwar einer langen Tradition, es finden aber darüber immer wieder neue Diskussionen statt. So ist zum Beispiel die Kritik an der ethischen Unzulänglichkeit der Sinne in den Autos sacramentales verbunden mit der Frage nach der Hierarchie der Sinne. Es können in einzelnen Fällen alle Sinne, auch die niedrigen, höhere Fähigkeiten erlangen. Auge und Ohr ringen in manchen Jahrhunderten um die Vorrangstellung: Das Auge wird manchmal als das am besten geeignete Organ zur intellektuellen Erkenntnisgewinnung betrachtet, das Ohr jedoch besonders geschätzt wegen seiner engeren Verbindung zu Gott (zum Wort Gottes). 42 Cf. «Picábale una vez una avispa en el cuello, y no se la osaba sacudir, por no quebrarse; pero, con todo eso, se quejaba. Preguntóle uno que cómo sentía que aquella avispa, si era su cuerpo de vidrio.» (II, 71); «[...] no se pudiera defender de los muchachos si su guardián no le defendiera.» (II, 63); «Arrimóse un día con grandísimo tiento, por que no se quebrase, a la tienda de un librero [...].» (II, 60); «[...] los grandes gritos que daba cuando le tocaban o a él se arrimaban, por el hábito que traía, por la estrecheza de su comida, por el modo con que bebía, por el no querer dormir sino al cielo abierto en el verano y el invierno en los pajares [...].» (II, 73) etc. 43 Erasmus von Rotterdam: Enchiridion militis christiani, München 1964, p. 53. (Deutsche Übersetzung: «Das ist es, was Paulus meint, wenn er an die Korinther schreibt: Den verführerischen Teil des Körpers nennt er eine Hure.» [Enchiridion. Handbüchlein eines christlichen Streiters, üb. und ed. Werner Welzig, Graz/Köln 1961, p. 47.]) Cf. 1 Kor. 6,16-20. Cf. auch 1 Kor. 7,1: «Wovon ihr aber mir geschrieben habt, darauf antworte ich: Es ist dem Menschen gut, daß er kein Weib berühre.» 91

Dagegen kommt unter jenen Göttern der Weisheit entweder überhaupt keine Freundschaft zustande oder nur eine griesgrämige und freudlose [...]. Das ist auch kein Wunder bei Eigensinnigen und so übertrieben Scharfäugigen, daß sie an den Freunden mit Adlerblick und unfehlbar wie die Epidaurische Schlange auch den kleinsten Fehler ausmachen. Wie blind sind sie dabei gegen die eigenen Schwächen und bemerken nicht, wie ihnen der Mantel schief hängt. Es gehört nun einmal zum menschlichen Wesen, daß jeder Charakter sein gerüttelt Maß an Fehlern hat. [...]. Wie könnte unter jenen Argusaugen angenehme Freundschaft auch nur eine Stunde währen, wenn nicht die von den Griechen so genannte Gelassenheit hinzuträte? 44

Der Licenciado will nicht nur ein transparentes und unsichtbares Sinnesorgan haben, sondern mit seinem ganzen Leib unsichtbar werden, seine ganze körperliche Existenz mit all ihren Bedürfnissen auslöschen. Er will seine eigene Objekthaftigkeit verleugnen. Indem er quasi unsichtbar wird, ist er scheinbar nicht mit dem gleichen analytischen Instrumentarium erfaßbar, das er selbst zur Erfassung und Beurteilung seiner Umwelt verwendet. Gerade durch seine gläserne Materialität wird er - in seiner Einbildungskraft und damit auch in seinen realen Lebensumständen - jedoch zum materiellen Objekt seiner Umwelt. 45 Er kritisiert alle Gesellschaftsgruppen und wird seinerseits Thema ihrer Gespräche. Die gleiche Aggressionshaltung, die der Licenciado nach außen richtet, kommt auf ihn zurück; während sein Vorgehen intellektueller Art ist, wird er unter anderem mit der rohen Behandlung und dem derben Spott der Gassenjungen konfrontiert. Ohren und Sprache sind auf beiden Seiten eingeschlossen. Augen und Geist stehen jedoch gegen Hand und Leib. Der stark materielle Charakter des Tastsinns und der Berührung steht gegen die und eher immaterielle visuelle Sinneswahrnehmung. Wie bereits Forcione ausführt, widerspricht sich der Licenciado Vidriera selbst. Er wirft den anderen streng und unduldsam vor, was er ebenso praktiziert: das bösartige Reden von den anderen. 46 Es mangelt ihm in dramatischer Weise an Selbsterkenntnis. Diese Tatsache zeigt sich jedoch nicht nur auf der von Forcione angesprochenen sprachlichen Ebene, sondern, wie wir gesehen haben, auf noch existentiellere Weise in des Licenciado Behauptung (oder seinem Glauben), aus Glas zu sein. In Covarrubias' Tesoro de la Lengua Castellana o Española von 1611 findet man unter dem Eintrag VIDRIO das Sprichwort: «El que tiene el tejado de vidrio [sic!], no tire piedras al de su vezino [...].» Covarrubias erläutert: «[...] vale tanto como el que conociere de sí alguna falta, no heche las de 44

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Erasmus von Rotterdam: Das Lob der Torheit. Encomium moriae, üb. und ed. Anton J. Gail, Stuttgart 1987, p. 24-25. Covarrubias vermerkt unter dem Eintrag VIDRIO interessanterweise: «Hombre vidrioso, el que es de condición delicada y que se siente de qualquiera cosa que le digan.» (Tesoro, p. 1006). Forcione: Cervantes and the Humanist Vision, p. 279-280.

los otros en la calle.»47 Der Gelehrte hingegen will zum Kritiker und Richter über die Menschheit werden, ohne seinem eigenen Blick oder dem eines anderen ausgesetzt und unterworfen zu sein. Sein intellektueller Erkenntnisdrang führt zu keinen positiven Ergebnissen, da es ihm nicht gelingt, Wahrnehmung, Leib, Geist und soziale Praxis in einem existentiellen Zusammenhang zu begreifen.

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Tesoro, p. 1006.

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4. Die Dynamisierung der Wahrnehmungsperspektive

4.1. Dynamik im Barock Wie das letzte Kapitel zeigte, wird in den Novelas ejemplares die Wahrnehmung in ihrer leiblichen Verankerung betrachtet und in einen existentiellen Rahmen gestellt. Im folgenden soll dem Charakter der Wahrnehmung selbst nachgegangen werden. Die Überlegungen zur focalisation gaben bereits einige Hinweise auf eine dynamische Ausprägung der Wahrnehmung, die hier nun systematischer untersucht werden wird. Auf der Grundlage der These von der Dynamik im Barock soll die Frage gestellt werden, in welchem Maße das Phänomen der Dynamik bei Cervantes als epochen- und zeitgeistspezifisch zu betrachten ist, bzw. in welchem Umfang in den Novelas ejemplares Aspekte von Dynamisierung auftreten, die über die bekannten Aspekte hinausgehen. Seit Wölfflin gilt als einer der fundamentalen Wesenszüge des Barock die Bewegung.1 Dieser Begriff wird eng mit anderen wie Vielfalt, Wechselhaftigkeit, Zeit, Vergänglichkeit, Transformation, Gelegenheit in Zusammenhang gebracht. José Antonio Maravall betont in seinen Werken den sozialen Hintergrund dieser Phänomene in bezug auf Spanien: Einer Gesellschaft, die sich nach einer Phase der Expansion in einer tiefen ökonomischen, sozialen und politischen Krise befindet, und in der die Menschen mit einer sich schnell verändernden, proteischen Realität konfrontiert sind, entspricht eine Mentalität, für die Konzepte mit dynamischem Charakter wichtige Bedeutung erlangen. 2 So ließen sich auch zahlreiche Zitate aus staatspolitischen, philosophischen oder literarischen Texten anführen, die diese These untermauern. «No hay cosa estable en este mundo» schreibt Francisco Santos, 1

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Heinrich Wölfflin: Renaissance und Barock. Eine Untersuchung über Wesen und Entstehung des Barockstils in Italien [1888], Basel/Stuttgart 6 1965. Zur Problematik des Barockbegriffs und -konzepts cf. unter anderem Anmerkung 5 sowie René Wellek: «The Concept of Baroque in Literary Scholarship» [1945]. In: R. Wellek: Concepts of Criticism, New Haven/London 2 1964, p. 69-127, und Ulrich Schulz-Buschhaus: «Gattungsmischung - Gattungskombination - Gattungsnivellierung. Überlegungen zum Gebrauch des literarhistorischen Epochenbegriffs ». In: Epochenschwellen und Epochenstrukturen im Diskurs der Literatur- und Sprachhistorie, ed. Hans Ulrich Gumbrecht, Ursula Link-Heer, Frankfurt 1985, p. 213-233. Cf. unter anderem: «Un esquema conceptual de la cultura barroca». In: Cuadernos Hispanoamericanos 273 (1973), p. 423-461, hier p. 428.

und Saavedra Fajardo: «Ninguna cosa permanece en la naturaleza Das Prinzip des movimiento erlangt nicht nur als philosophisches Kriterium Bedeutung, sondern ebenso als ästhetisches. Maravall charakterisiert die Barockmalerei als «pintura de lo inacabado, variable, movedizo, inestable, adecuada para captar al hombre y la vida. Tal adaptación se explica en tanto que el humano posee, no un ser hecho, sino un ser haciéndose, un fieri, no un factum [. ..].»4 Hier wird immer wieder besonders Velázquez genannt, der es unternahm, die Bewegung selbst zu malen, wie Maravall schreibt. Heinrich Wölfflin weist in seinem Buch über die bildende Kunst in Renaissance und Barock darauf hin, daß die von ihm definierten Merkmale des Barock auch in der Literatur nachzuweisen sind. Er gibt mit seiner Untersuchung, die eine Gegenüberstellung des Anfangs von Ariosts Orlando Furioso (1516) und Tassos Gerusalemme Liberata (1584) enthält, den Anstoß zur Erforschung des literarischen Barock. Nach Wölfflin wird für die Literatur der Barockzeit das dynamische Konzept in verschiedenen Ausprägungen nachgewiesen: Neben der Darstellung der Geschwindigkeit von Schiffen, des Windes oder der Zeit sind unter anderem der homo viator, die Wolke und das fließende Wasser beliebte Themen; daneben gibt es die verschiedensten Varianten von Vergänglichkeits- oder Transformationsmetaphern wie Ruinen, Proteus, Circe und dergleichen mehr. 5 Auf Grund der Bedeutung der Dynamik für die Barockzeit verwundert es nicht, wenn Hatzfeld, einer der Vertreter der These von Cervantes als Barockautor, dieses Phänomen bei ihm feststellt und interpretiert. Die Frage, ob Cervantes der Renaissance oder dem Barock zuzurechnen ist, ist ein beliebtes Thema der Forschungsliteratur gewesen: In den Anfängen dieser Debatte sind vor allem der frühe Castro auf der einen, Hatzfeld auf der anderen Seite zu erwähnen. Auch in der gegenwärtigen Se-

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Francisco Santos: Día y noche de Madrid, BAE, vol. XXXIII, p. 382, und Saavedra Fajardo: Empresa, LXXXIII; beide zit. nach Maravall: Esquema, p. 431. La cultura del Barroco, Barcelona 1975, p. 517. Maravall lehnt sich in dieser einprägsamen Charakterisierung der Barockmalerei stark an Wölfflin an, der seinerseits schrieb: «Der Barock giebt [sie!] nirgends das Fertige und Befriedigte, nicht die Ruhe des Seins, sondern die Unruhe des Werdens, die Spannung eines veränderlichen Zustandes. Es resultirt [sie!] hieraus in anderer Hinsicht wiederum ein Bewegungseindruck.» (Wölfflin, p. 49.) Cf. unter anderem Fritz Strich: «Die Übertragung des Barockbegriffs von der bildenden Kunst auf die Dichtung». In: Die Kunstformen des Barockzeitalters, ed. R. Stamm, Bern 1956, p. 243 -265; die verschiedenen Studien Helmut Hatzfelds, so die Studie: Der gegenwärtige Stand der romanistischen Barockforschung, München 1961 (Bayerische Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-historische Klasse. Sitzungsberichte 1961, t. 4); Der literarische Barockbegriff, ed. W. Barner, Darmstadt 1975 (Wege der Forschung, t. 358), sowie Jean Roussets La littérature de l'âge baroque en France. Circé et le paon, Paris 1953.

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kundärliteratur finden wir Überlegungen zu diesem Themenkomplex. Forcione diskutiert z.B. immer wieder, welches philosophische Gedankengut Cervantes geprägt hat und wie es in seinen Texten wirksam wird. Obwohl er den Schwerpunkt auf das humanistische Gedankengut (speziell Erasmus) setzt, nennt er in der konkreten Analyse auch zahlreiche Indizien für die barocke Zeitströmung. Cervantes sollte nicht nur einer Epoche zugeordnet werden. Manche Phänomene sind mit Blick auf die humanistische Tradition oder die philosophischen Diskussionen des 16. Jahrhunderts besser verständlich, andere weisen deutliche Züge auf (ohne sich hierin zu erschöpfen). Hierzu gehört, wie wir sehen werden, der dynamische Aspekt. 6 Hatzfeld ist der Literaturwissenschaftler, der am differenziertesten auf den dynamischen Aspekt im Werk von Cervantes eingeht; zu den Novellen äußert er sich jedoch diesbezüglich nicht. In den Estudios sobre el Barroco stellt er einen Vergleich der Bodas de Camacho aus dem Don Quijote mit den Bodas der Soledad Primera von Góngora an und kommt, was die Dynamik betrifft, zu folgendem Schluß: Während wir bei Góngora statische Beschreibungen vorfinden, verwendet Cervantes einen «dinamismo personalizante», bei dem auch die verschiedenartigen Gesten und Bewegungen der Personen dargestellt werden. 7 In seinen Untersuchungen zum Don Quijote8 schreibt er, anstelle einer «Beschreibung der Situationen» gebe es in diesem Werk eine «Beschreibung der Gesten». Hier bleibt freilich unklar, was genau unter der alternativen «Beschreibung der Situationen» verstanden werden soll. Hatzfelds aufschlußreiche Beobachtungen beziehen sich lediglich auf die Objektwelt. Der Literaturwissenschaftler stellt fest, daß die Objekte der Wahrnehmung in Bewegung beschrieben und zum Teil durch ihre spezifische Bewegungsweise charakterisiert werden. Ich möchte im folgenden in den Novelas ejemplares weitere Aspekte einer Dynamisierung aufzeigen, die bislang in der Forschungsliteratur zu Cervantes noch nicht registriert worden sind und die sich am Thema der Wahrnehmungsperspektive orientieren. Es soll untersucht werden, ob ein dynamisches Konzept a) über Hatzfelds Beobachtungen hinaus für die Wahrnehmungsobjekte, des weiteren jedoch auch b) für die Wahrnehmungssubjekte und c) für den Akt der Wahrnehmung nachweisbar ist. 6

Es bleibt an dieser Stelle anzumerken, daß die Belegstellen für die Dynamik im literarischen Barock, die in der wissenschaftlichen Literatur angeführt werden, häufig Texten aus der Mitte des 17. Jahrhunderts entnommen sind (cf. unter anderem Maravalls und Roussets Untersuchungen). Cervantes hingegen starb bereits 1616. Die cervantinischen Novellen sollen in der hier vorliegenden Untersuchung weiterhin mit den Novellen des Textkorpus verglichen werden, die zum Teil vorher, zum Teil nachher entstanden sind. 7 Helmut Hatzfeld: Estudios sobre et Barroco, Madrid 1964, p. 283. 8 Helmut Hatzfeld: El como obra de arte del lenguaje, Madrid 21966, p. 106.

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4.2. Die Dynamisierung der Wahrnehmungsobjekte in den Novelas

ejemplares

Wenden wir uns zunächst den Objekten der Wahrnehmung zu. Cervantes liefert in den Novellen fast keine exakten, exhaustiven Beschreibungen von Gegenständen, Gebäuden oder Landschaften. Bereits Hatzfeld weist auf diesen Tatbestand hin und stellt, etwas unscharf formuliert, fest, die Landschaften «no se describen, sino que se sugieren [...].» Des öfteren postuliert er bei Cervantes einen «impressionistischen» Stil. Daß Cervantes jedoch nicht bei der bloßen Darstellung der Sinneseindrücke bleibt, wird die Untersuchung im weiteren zeigen. Hatzfeld erläutert außerdem noch ein spezielles erzähltechnisches Verfahren: Die Deskriptionen werden bei Cervantes durch Ausrufe ersetzt, die sich auf die Objekte beziehen und die diese in die jeweilige Situation integrieren. Auch Tasso verwendet laut Hatzfeld dieses Verfahren: «Erminia exclama mirando las tiendas de los cristianos y pensando en Tancredo: »9 Ich sehe in diesem Verfahren außerdem eine Emotionalisierung des Textes, die eine größere Identifikation des Lesers erlaubt und eine aktive Rezeptionshaltung fordert. Der Leser bekommt nicht präsentiert, was er zu sehen hat, sondern wird angeregt, die Leerstellen des Textes mit eigenen Vorstellungen zu füllen. 10 Das Verfahren der Exklamationen erlangt in den Novelas ejemplares jedoch keine wesentliche Bedeutung. 11 In den wenigen ausführlichen Raumbeschreibungen, z. B. der Deskription des Schlafzimmers Rodolfos in La fuerza de la sangre, zeigt sich die Funktionalität der Raumverweise. Die von Leocadia wahrgenommenen (innen)architektonischen Details im Zimmer ihres Verführers haben die 9 10

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Estudios sobre el Barroco, p. 140-141. Während die Malerei in erster Linie die «ojos exteriores» beschäftigt, wendet sich die Literatur stärker an die «ojos interiores», wobei, wie an diesem Beispiel deutlich wird, auch in der Literatur je nach Erzähltechnik Unterschiede im Grad der Aktivierung der «inneren Augen» bestehen. In der Malerei werden ebenfalls die ojos interiores aktiviert, wie z. B. Shakespeares Beschreibung eines Gemäldes des Falles Trojas in The Rape of Lucrece zeigt: «For much imaginary work was there; / Conceit deceitful, so compact, so kind, / That for Achilles' image stood his spear, / Grip'd in an armed hand; himself behind, / Was left unseen, save to the eye of mind: / A hand, a foot, a face, a leg, a head, / Stood for the whole to be imagined.» Zit. nach Gombrich, p. 211. Ich möchte es an dieser Stelle bei diesen kurzen Anmerkungen belassen, da meine Arbeit keine vergleichende Untersuchung wahrnehmungsspezifischer Aspekte der Literaturund Kunstrezeption einschließt. Zur intendierten und notwendigen Selektion beim Vorgang der Kunstproduktion und den «Leerstellen» cf. unter anderem Gombrich, bes. p. 206-226. Ein Beispiel für das Vorkommen derartiger Verfahren in den Novelas ejemplares ist der Beginn des Amante liberal. « - ¡ O h lamentables ruinas de la desdichada Nicosia [...].» (I, 137).

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Rolle von Indizien (sind zum Teil auch metaphorischer Art) und werden nicht um ihrer selbst willen angeführt. Im Don Quijote gibt Cervantes im Namen des Übersetzers der Aufzeichnungen folgenden ironischen Hinweis: Aquí pinta el autor todas las circunstancias de la casa de don Diego, pintándonos en ellas lo que contiene una casa de un caballero labrador y rico; pero al traductor desta historia le pareció pasar estas y otras semejantes menudencias en silencio, porque no venían bien con el propósito principal de la historia, la cual más tiene su fuerza en la verdad que en las frías digresiones. (DQ II, XVIII, 157).

Erfolgt doch einmal eine detailliertere Raum- und Objektbeschreibung, so hat diese nicht den dekorativen Charakter, den ihr Casalduero zuweist, 12 sondern tatsächlich mit dem «propósito principal de la historia» oder zumindest einem wichtigen Anliegen der Novelle zu tun: Wird in Rinconete y Cortadillo das Erdgeschoß von Monipodios Haus mit verschiedenen Einzelstücken, wie z.B. einem «cántaro desbocado» (I, 209) beschrieben, so ist diese Beschreibung des armseligen Zustandes des Hauses Teil der Demontage des von Monipodio und seinen Untergebenen propagierten Bildes von der Macht und Würde ihrer Gaunerzunft und ihres Anführers. Zusammen mit anderen optischen Elementen (wie dem Aussehen Monipodios) und akustischen Faktoren (wie der Gaunersprache und der Solözismen) dient sie der Kontrastbildung von Anspruch und kommt. Da der einzelne Eindruck Momentcharakter hat, kann bzw. muß er unter Umständen durch nachfolgende Eindrücke korrigiert, zumindest aber durch diese ergänzt werden. Die Auftritte werden in den Novelas ejemplares nicht nur meist minutiös in ihrem Ablauf und mit allen visuellen und auditiven Details beschrieben, sondern vollziehen sich auch des öfteren in mehreren Etappen. Ein Beispiel ist der Auftritt Loaysas vor Leonora in der Novelle El celoso extremeño, der von ihm sorgfältig geplant und vorbereitet wird. Um zur jungen Frau des alten Mannes in das vielfach abgesicherte Haus zu gelangen, verkleidet sich der junge Mann in der ersten Phase als «pobre tullido» und stellt sich mit einer alten Gitarre an die äußere Tür des Anwesens des Carrizales, wo der Bedienstete Luis wohnt. Loaysa beginnt zu spielen und zu singen. Er präsentiert sich hier noch nicht als visuell wahrnehmbares, sondern als auditiv wahrnehmbares Objekt: [...] se daba priesa a cantar romances [...] con tanta gracia, que cuantos pasaban por la calle se ponían a escucharle, y siempre, en tanto que cantaba, estaba rodeado de muchachos; y Luis el negro, poniendo los oídos por entre las puertas, estaba colgado de la música del virote, y diera un brazo por poder abrir la puerta y escucharle más a su placer [...]. (II, 107-108).

Die Leute auf der Straße können den verkleideten Loaysa zwar sehen, nehmen ihn aber nur in seiner Qualität als Musiker, d.h. mittels ihres Gehörs wahr («se ponían a escucharle»). Der schwarze Diener hingegen kann ihn zu dieser Zeit noch gar nicht sehen. Er ist deswegen in der nächsten Etappe, in der Loaysa zu ihm in seinen Bereich des Anwesens eintreten kann, erstaunt über dessen Aussehen: Luis hatte sich unter seinem «Orfeo y maestro» eine ganz andere Erscheinung vorgestellt als die mit den zwei Krücken: «y tan andrajoso, y tan fajada su pierna» (II, 112). ii6

Gehör und Gesichtssinn scheinen einander hier zu widersprechen und Luis erkennt sofort, daß zwischen dem Aussehen und der Stimme keine Kongruenz besteht. Der auditive Eindruck hat bei dem Diener eine bestimmte Erwartung hervorgerufen, der nun nicht entsprochen wird. Auch im folgenden bleibt jedoch das Gehör bestimmend: Loaysa «suspendió al pobre negro de manera que estaba fuera de sí escuchándole.» (II, 113). Auch der erste Kontakt zu den Frauen (dritte Phase) stellt sich mittels akustischer Reize her; es ist nun Luis, dessen Katzenmusik die Aufmerksamkeit der Frauen hervorruft (II, 113-114). Er ist es auch, welcher der dueña einredet, die jungen Frauen müßten den fremden Musiker einmal sehen: «[...] a fe que os holgásedes de verle.» Konrad Thorer übersetzt in seiner deutschen Fassung: «[...] und ihr hättet meiner Treu eure Freude an seinem Anblick.» 44 Ähnlich übersetzt Anton M. Rothbauer die Textstelle: «[...] und wahrhaftig, Ihr hättet Eure Freude daran, ihn zu sehen.» 45 Der Kontext legt es jedoch nahe, daß mit ver eher «hören» oder «treffen» gemeint ist, also ver in seiner sinnesübergreifenden Bedeutung verwendet wird. Der Schwarze sagt gleich darauf: «[...] hasta que veáis lo que yo sé y él me ha enseñado [...]» (II, 114), und eine der Sklavinnen meint: «[...] que me muero por oír una buena voz, que después que aquí nos emparedaron, ni aun el canto de los pajaros habernos oído.» (II, 114). Kurz darauf heißt es: «Despidiéronse las criadas con prometerles el negro que cuando menos se pensasen las llamaría a oír una buena voz [...]» (II, 114), wiederum etwas später: «[...] bajasen todas al torno a oír la voz [...].» (II, 115). Die vierte Phase des Eindringens in das Haus, d. h. der vierte Auftritt Loaysas, ist ebenfalls auf die akustisch-auditive Kommunikation beschränkt: Die Frauen Leonoras bekommen den Musiker nicht zu Gesicht, er stellt sich wiederum den Ohren, nicht den Augen der anderen vor (II, 115). Daraus erwächst bei diesen jedoch der intensive Wunsch, die Identität des Unbekannten zu erfahren und ihn zu sehen - es handelt sich hier nun tatsächlich um die visuelle Sinneswahrnehmung: «Rogáronle que hiciese de suerte que ellas le viesen [...].» (II, 116). Es erfolgt eine Verlagerung der Wahrnehmungsmodi, die mit dem allmählichen Vor- und Eindringen Loaysas in den privaten Bereich der jungen Ehefrau, die er verführen will, einhergeht. Die räumliche und qualitative Dynamik der fortschreitenden Ereignisse ist somit gekoppelt an die qualitative Dynamisierung der Wahrnehmung, die durch den allmählichen Wechsel innerhalb der dominanten Wahrnehmungsmodi bzw. durch ihre Kombination erfolgt. Loaysa und die Frauen beschließen, was zu tun ist: «Todos le 44 45

Thorer-Übersetzung, p. 336. Miguel de Cervantes: Gesamtausgabe in vier Bänden, vol. 1: Exemplarische Novellen. Die Mühen und Leiden des Persiles und der Sigismundo, ed. und üb. Anton M. Rothbauer, Stuttgart 1963, p. 405. 117

rogaron que los trújese con brevedad [los = los polvos, C. S.], y quedando de hacer otra noche con una barrena el agujero en el torno y de traer a su señora para que le viese y oyese, se despidieron [...].» (II, 116). Die Dynamisierung der Wahrnehmung betrifft auch hier den quantitativen und qualitativen Aspekt der Wahrnehmungssubjekte: Erscheint zuerst der Diener, so kommen als nächste die Dienerinnen Leonoras und zuletzt sie selbst dazu. In jeder Phase gibt es Zuhörer (Zuschauer), auf die es Loaysa gar nicht ankommt. In der ersten Phase sind dies die Leute auf der Straße. In den anderen beiden Fällen handelt es sich um die Personen, die in der vorherigen Phase noch die Adressaten waren: Luis, dann die Frauen Leonoras. Es kommt in der Folge zu den zwei Auftritten des jungen Mannes, auf die sein ganzer Plan und die bisherigen Auftritte angelegt waren. Davon ist der erste wohl der wahrnehmungsperspektivische Höhepunkt (II, 117-118). Er wird am detailliertesten beschrieben. Loaysa macht auf die Frauen einen großen Eindruck, weil sie sonst nicht die Gelegenheit haben, Männer zu sehen. Für Loaysa erwächst die Bedeutung seines erneuten Auftrittes aus der Tatsache, daß nun Leonora anwesend ist (qualitativer Aspekt der Wahrnehmungssubjekte, nicht -Objekte, denn er selber kann sie noch nicht sehen) und er seinem Ziel stetig näher rückt. Den Blicken der anderen wird im Laufe der Novelle immer mehr von Loaysas Erscheinung präsentiert: die Stimme, der verkleidete Anblick, der unverkleidete Anblick. Es ist Loaysas eigentliches Ziel, selbst zu sehen. Dafür nimmt er es in Kauf, sich den verschiedensten Personen vorzuführen. Im vorletzten Auftritt, bzw. der vorletzten Phase des verzögerten Auftrittes, macht die dueña ihrer unerfahrenen jungen Herrin die hör- und sichtbaren Reize des jungen Mannes schmackhaft. Sie schildert «la suavidad de la música y de la gallarda disposición del músico pobre (que, sin haberle visto, le alababa y le subía sobre Absalón y sobre Orfeo) [...].» (II, 117). Daraufhin kommt es zur Beschreibung des Mannes; die Wahrnehmung erfolgt jedoch durch den Filter des Erzählers, der dessen aktuelles Aussehen in Relation zu den vorherigen Phasen bringt: «Lo primero que hicieron fue barrenar el torno para ver al músico, el cual no estaba ya en hábitos de pobre, sino con unos calzones grandes de tafetán leonado [...].» (II, 117). Es folgen eine ausführliche Schilderung der Kleidung Loaysas und ein weiterer Hinweis darauf, daß der Leser nicht aus der Perspektive der Frauen sieht: Der Erzähler verfügt über Informationen aus der Innenperspektive des Mannes («imaginando que se había de ver en ocasión que le conviniese mudar de traje.» [II, 117]). Der Erzähler prägt auch weiterhin die Darstellung der Wahrnehmungsperspektiven der naiven Frauen: Era mozo y de gentil disposición y buen parecer; y como había tanto tiempo que todas tenían hecha la vista a mirar al viejo de su amo, parecióles que miraban a un ángel. Poníase una al agujero para verle, y luego otra; y por que le pudiesen Il8

ver mejor, andaba el negro paseándole el cuerpo de arriba abajo con el torzal de cera encendido. Y después que todas le hubieron visto, hasta las negras bozales, tomó Loaysa la guitarra [...]. (II, 117).

Es besteht wiederum eine deutliche Trennung zwischen dem Aussehen des Mannes und dem Eindruck, den er auf die nicht an Männer gewöhnten Frauen macht. Die Textstelle zeigt außerdem, wie bestimmend der prozeßhafte Charakter der Wahrnehmung, der in den verschiedenen fragmentarischen, sich steigernden Auftritten Loaysas zu Tage trat, auch in der Mikrostruktur dieses einzelnen wichtigen Auftrittes ist. Dynamisch ist hier nicht das Verhalten des jungen Mannes, sondern das Rezeptionsverhalten der Frauen sowie die Art und Weise, auf die der junge Mann präsentiert wird: Noch ist nur der Blick durch das Schlüsselloch möglich, und so kommt es zu einem räumlich-materiell bedingten Wechsel der Wahrnehmungsträger bei gleichzeitiger Fixierung des Augpunktes, der durch das Schlüsselloch gegeben ist. Im Gegensatz zu anderen Stellen in den Novellen, an denen wahrnehmungsgebundenes Erzählen festzustellen war, erfährt der Leser hier nicht, was die Frauen aus diesem Blickwinkel eigentlich sehen. Das Aussehen Loaysas wurde bereits im Absatz vorher ohne einen aktuellen Wahrnehmungsvorgang beschrieben. Hier nun wird hingegen der Akzent auf den Präsentations- und Rezeptionsvorgang gelegt. Loaysa selbst bleibt offensichtlich unbeweglich stehen, sein Körper wird jedoch von dem Diener mit einer Kerze von Kopf bis Fuß beleuchtet, so daß die Dynamik im Zeigen liegt, das statische Objekt in filmischer Weise erfaßt wird. Kombiniert sind hier somit statische Elemente (das Schlüsselloch als eine Art Peilstab; das eine, unbewegliche Auge der jeweiligen Betrachterin und das Objekt der Wahrnehmung) und dynamische Elemente (der Wechsel der Wahrnehmungssubjekte; die Präsentation des Objektes). In Lope de Vegas Guzmán el bravo wartet Don Félix vor seinem Haus auf einen möglichen Gegner («que saliese caballero a la palestra y arena, como los antiguos decían» [L 260]). Es heißt: [...] hizo una noche fijar una tienda en la plaza, cubierta de diferentes armas, y él amaneció a la puerta con muchas cajas y trompetas, armado de [...] con la mano siniestra en la espada, [...]. Ponía terror don Félix en la postura que estaba, levantada la visera, por donde solo descubría los airados ojos y los bigotes negros, como rayos de luto de las muertes que amenazaba. Allí estuvo ocho días [...]. (L 260).

Don Félix wird zur Skulptur; er weiß, daß er betrachtet werden kann, und stellt sich der Situation entsprechend dar. Dabei ahmt er alte Vorbilder nach. Seine Haltung ist , er wird tatsächlich zum Standbild - harrt er doch ganze acht Tage auf dem Platz aus! Auch die Augen verlieren ihre Lebendigkeit und sind bildgewordenes, stilisiertes Element der Darstellung: «[...] levantada la visera, por donde solo descubría los airados ojos y los bigotes negros, como rayos de luto de las muertes que 119

amenazaba.» Während bei Cervantes statische und dynamische Elemente miteinander verwoben sind, und so unter anderem Loaysa in seiner statischen Haltung mit dynamischen Mitteln ins Bild gebracht wird, ist Don Félix die Personifikation der Skulptur eines militärischen Helden. Lope verzichtet auf die Beschreibung des Vorganges einer Wahrnehmung durch Personen im Text. Auch als endlich ein Kontrahent kommt, wird dies nur als Tatsache erwähnt, der Akt der Wahrnehmung jedoch nicht thematisiert. Es sei an dieser Stelle angemerkt, daß die prozeßhafte Darstellung Loaysas in Cervantes' Text noch betont wird durch den Hell-Dunkel-Kontrast der Szene, den Hatzfeld an verschiedenen anderen Stellen des Werkes von Cervantes nachwies, und den er, in Anlehnung an die Terminologie in der Malerei, als claroscuro-Technik bezeichnete. 46 Führt man diesen Gedanken weiter aus, so läßt sich feststellen, daß in der Gestalt des «negro», der die angezündete Kerze in der Hand hält, bereits Licht und Dunkelheit in einer Person komplementär vereint sind bzw. der Schwarze als Medium selbst kaum oder nicht sichtbar ist. Auch die Möglichkeiten des Zeigens und Verhüllens, des Sehens und Nicht-Sehens finden in diesem Vorgang der Kerzenführung in der Dunkelheit Ausdruck. Die Selektion, Präsentationsweise und Reihenfolge, die der Schwarze wählt, entscheiden darüber, ob bzw. wann die jeweilige Betrachterin etwas sehen kann. Es handelt sich um eine Fokussierung, bei der notwendigerweise mit der Anstrahlung der einen Körperzone die anderen mehr oder weniger unsichtbar werden. 4 7 Der Vermittler Luis weist hier Parallelen zum Dichter auf, der ebenso darüber entscheidet, was in welchem Augenblick zur Darstellung kommen soll und aus dem Schweigen heraus versprachlicht wird. Selektion und formale Kriterien der Strukturgebung sind da wie dort ausschlaggebend. Luis legt Wert darauf, den Körper trotz der materiellen Zwänge, welche die Verwendung nur einer Kerze mit sich bringt, als Einheit zu erfassen und dabei eine bestimmte Vorgehensweise einzuhalten, die den Körper sukzessive sichtbar macht. Auffällig ist, daß hierauf eine weitere der Künste zur Sprache gebracht wird: die Musik. Gleich nachdem der visuelle Rezeptionsvorgang abgeschlossen ist, erfolgt der auditive. Die Musik wird hier sowohl durch ein Instrument als auch durch die menschliche Stimme repräsentiert. Der Augenschmaus ist jedoch noch getrennt vom Ohrenschmaus. Loaysa wird nicht gesehen, während er gehört wird. Dies ist erst mit der letzten Phase des Auftrittes möglich: [...] le metió dentro, y luego todas las demás se le pusieron a la redonda. Luego fue a dar las nuevas a su señora [...]. En esto llegó toda la caterva junta, y el músico en medio, alumbrándolos el negro y Guiomar la negra. Y viendo Loaysa a Leonora, hizo muestras de arrojársele a los pies para besarle los manos [...]

46 47

Cf. unter anderem: Estudios sobre el Barroco, Madrid 1966, p. 305. Cf. II, 185.

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fuéronse a la sala, donde había un rico estrado, y cogiendo al señor en medio, se sentaron todas. Y tomando la buena Marialonso una vela, comenzó a mirar de arriba abajo al bueno del músico, y una decía: «¡Ay, qué copete que tiene tan lindo y tan rizado!» Otra: «[...].» (II, 1 2 4 - 1 2 5 ) .

Ganz deutlich wird die räumliche Getrenntheit beider bis dahin durch die verschlossene Tür separierten Gruppen aufgehoben. Die Frauen nehmen den jungen Mann dreimal in ihre Mitte: Bei den ersten beiden Malen besteht dennoch eine Trennung, da die Frauen sich um ihn herumstellen, beim drittenmal hingegen sitzt er genau zwischen ihnen. Selbst hier noch durchläuft der Sehvorgang verschiedene Phasen; erst in der letzten betrachten die Frauen den Mann ganz genau. Dabei wird der Vorgang vom letzten Auftritt nochmals durchgespielt: Nun ist es die dueña, die den Körper des Musikers von oben bis unten mit einer Kerze beleuchtet. Aus der Nähe werden Körper und Kleidung des jungen Mannes bis ins einzelne Detail betrachtet. Der Mann kann jetzt von allen Frauen gleichzeitig betrachtet werden, ohne daß diese ihre Sitzplätze verlassen müßten, er kann also aus den verschiedenen Perspektiven angesehen werden. Der Augpunkt ist nicht mehr fixiert wie im Falle des Schlüsselloches, sondern vervielfältigt und beweglich. Eine jede interessiert sich für einen anderen Körperteil des jungen Mannes, eine jede trifft ihre Selektion nun selbständig, die Kerze und das Kerzenlicht sind nicht mehr strukturbildend, wie dies in der vorherigen Phase noch der Fall war. Loaysa verfolgt zwar das Ziel, die junge Ehefrau des anderen zu verführen, tut dies aber nicht aus wirklichem Verlangen. Er handelt planmäßig wie bei der Eroberung einer Festung und nimmt Wall für Wall ein. Während es immer wieder zu einer ausführlichen Beschreibung der Sinnlichkeit der Frauen kommt, die sehen und hören wollen, wird der Blick des jungen Mannes nicht thematisiert. Loaysa versucht nicht, Leonora seinerseits durch das Schlüsselloch zu betrachten. Auch als er in der Szene des ersten Zusammentreffens die junge Frau sieht, werden nur die rituellen Gesten des Fußfalles und des versuchten Handkusses erwähnt. Wie wir gesehen haben, handelt es sich bei den zahlreichen Teilauftritten Loaysas um einen langsam fortschreitenden, sich langsam ergänzenden Wahrnehmungs- und Darstellungsprozeß. Seine Dynamik betrifft sowohl die Struktur der einzelnen Teilauftritte als auch deren Zusammenwirken. Wahrnehmung erfolgt wiederum nicht in einem Schritt, sondern durch ein allmähliches Zusammenfügen der einzelnen Bausteine und Perspektiven. Dabei ergibt sich selbst am vorläufigen Endpunkt kein einheitliches Bild; die Wahrnehmungsraster und -interessen der Wahrnehmungssubjekte lassen auch bei voller und ungehinderter Wahrnehmungsbandbreite und -möglichkeit einzelne subjektive Akzente setzen, die Selektion erfolgt individuell. Nicht immer gelingt den Wahrnehmungsträgern (hier den jungen Frauen) die Syntheseleistung, aus den einzelnen selektierten Teilen die Einheit des Wahrnehmungsobjektes herzustellen. 121

Bei María de Zayas gibt es kaum Hinweise auf eine prozeßhafte Wahrnehmung. Wie andersartig ihre Darstellung von Wahrnehmung ist, zeigte sich bereits am Beispiel aus dem Desengaño cuarto. In derselben Novelle erfolgt an entscheidender Stelle, kurz vor dem Ende, die Darstellung des Geschehens nach Don Jaimes Entdeckung, seine Ehefrau zu Unrecht verdächtigt und mißhandelt zu haben. Sein neuer Bekannter Don Martin soll die Rehabilitierte nun aus ihrer kerkerähnlichen Behausung herausholen. Als diese sich auf sein Rufen nicht zeigt, will er sie holen gehen: Y viendo que no respondía, pidió le acercasen la luz, y decía bien, que ya Elena le tenía. Y entrando dentro, vio a la desgraciada dama muerta estar echada sobre unas pobres pajas, los brazos en cruz sobre el pecho, la una mano tendida, que era la izquierda, y con la derecha hecha con sus hermosos dedos una bien formada cruz. El rostro, aunque flaco y macilento, tan hermoso, que parecía un ángel [...]. (MZ 252).

Kaum hat Don Martín die enge Tür durchschritten, sieht er Elena auch schon und erkennt sofort, daß sie tot ist. Dazu bedarf es hier keines Näherherangehens und keiner Kontrolle. Der Zustand des Nicht-Wissens wird durch einen einzigen Blick vom Zustand des Gesehenhabens und Wissens abgelöst. Der verengte Raum der «estrecha puerta», die Schwelle zwischen den beiden Räumen, ist gleichzeitig der Umschlagpunkt zwischen beiden Zuständen. Die Frau wird nach abgeschlossenem irdischem Martyrium zur Heiligen. Die Schönheit ihrer Finger ist geknüpft an das Zeichen des Kreuzes, das von ihnen nachgebildet wird. Der Begriff «ángel», in der Literatur der Zeit so oft profanisiert, behält hier seine sakrale Konnotation. Kurz sei hier noch eine andere Textpassage aus Lopes Guzmán el bravo angeführt. Don Félix besucht nach einem einführenden Briefwechsel zum ersten Male Felicia, die großes Interesse an ihm gezeigt hat: Subió a verla en el hábito que le halló el estar de guarda, una cuera de ante sobre un jubón de tela, [...]. Era don Félix moreno; tenía más de agradable que de hermoso; [...] modestia y cortesía, no a la traza de la lindeza de ahora, con alzacuello de tela, que por disfraz llaman gola, horrible traje de hombres españoles. No hubo hablado un rato don Félix con Felicia, cuando ella se prometió en su imaginación que sería mujer dichosa si le conquistaba la voluntad [...]. (L 209).

Die im Text ausführliche (und hier nur auszugsweise wiedergegebene) Beschreibung der Kleidung des jungen Mannes erfolgt aus der Perspektive des Erzählers, der wertende Kommentare abgibt und Bezüge zur eigenen Gegenwart des Erzählens herstellt. Dem «Era don Félix moreno» steht keine als subjektiv dargestellte Wahrnehmungsvariante Felicias gegenüber. Der Wunsch der Frau, den Mann an sich zu binden, entsteht im Verlauf eines kurzen Gespräches mit ihm. Dieser Wunsch wird nicht explizit an Sinneswahrnehmung gebunden; wie er aufkommt, ist nicht eindeutig angegeben. Im Gegensatz zu der Darstellung von Loaysas Auftritten wird hier der 122

Wahrnehmungsakt als solcher nicht thematisiert. Nur die Vermittlung der Information über das Aussehen Don Félix' interessiert. In Cervantes' Novelas ejemplares hingegen ist Dynamik nicht nur thematisch und motivisch (wie etwa in der rekurrierenden Darstellung von Reisen) von Bedeutung. Die Texte weisen bezüglich der Wahrnehmungsperspektive ebenfalls in großem Maße dynamische Aspekte auf. Diese prägen nicht nur die Objekte der Wahrnehmung, wie dies bei den anderen Novellenautoren des Textkorpus im wesentlichen der Fall ist, sondern auch die Wahrnehmungssubjekte und den Akt der Wahrnehmung. Bei Cervantes hat die Wahrnehmungsperspektive generell dynamischen, nicht statischen Charakter. Statt der Frage, wer was sieht und hört, tritt die Frage nach dem Wie in den Vordergrund. Als Beispiele wurden in diesem Kapitel die Auftritte von Novellenfiguren diskutiert. Diese werden in den cervantinischen Novellen mit ungewöhnlicher Häufigkeit und über lange Passagen hin dargestellt und fallen nicht nur als dramatische Elemente im Erzähltext auf. Die Analyse einiger Auftritte zeigte, daß diesen nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ Bedeutung für die Novellensammlung zukommt. Häufig stehen die verschiedenen Auftritte einer Novelle in thematischem Zusammenhang und können strukturbildende Funktion aufweisen. Die Dynamik der Wahrnehmung betrifft sowohl die Makro- als auch die Mikrostruktur der Auftritte. Die Charakterisierung der Personen erfolgt durch ihre Bewegung; die Art und Weise der aktiven Bewegung oder des passiven Bewegtwerdens gibt Hinweise auf die aktuelle Situation bzw. die Veränderungen der Personenkonstellationen. Wird die Problematik der klassischen Zentralperspektive der bildenden Kunst unter anderem darin gesehen, daß sie, auf der Basis eines «stillgesetzten Blickes [...] die Erfindung einer beherrschten Welt [bedeutet,] wo alles zusammengeht, was der ungezwungene Blick vergebens zusammenzubringen versucht [..., wobei] diese Domestikation des Blickes auf Kosten der Leibhaftigkeit und Lebhaftigkeit der Dinge geht», 48 so liegen die Dinge im Falle von Cervantes' Novellen anders: Es gibt dort den «ruhenden Himmelsbetrachter der Antike» nicht mehr. 49 Die Wahrnehmungsobjekte, bei denen es sich meist um Personen, kaum um Gegenstände oder Landschaften handelt, sind ebenso in Bewegung wie die Subjekte. Neben der räumlichen Dynamik der Objekte kommt es häufig zu einer personellen: Die Anzahl der Objekte während eines Wahrnehmungsvorganges nimmt ab oder zu. Dazu tritt eine Dynamisierung auf Subjektseite, 48

49

Bernhard Waidenfels: «Das Zerspringen des Seins. Ontologische Auslegung der Erfahrung am Leitfaden der Malerei». In: Leibhaftige Vernunft. Spuren von Merleau-Pontis Denken, ed. Alexandre Métraux, Bernhard Waidenfels, München 1986 (Übergänge, t. 15), p. 144-161, hier p. 150. Hervorhebung durch den Autor. Cf. Hans Blumenberg für die Zeit nach der Kopernikanischen Wende: «Der ruhende Himmelsbetrachter der Antike wird als trügerische Fortschreibung der

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die ebenfalls lokal und/oder personell geprägt sein kann. Schließlich wird der Akt der Wahrnehmung nicht als punktuelles und in sich abgeschlossenes Ereignis gesehen - wie dies etwa bei Maria de Zayas der Fall ist - , sondern in seiner Prozeßhaftigkeit erfaßt. Hierbei gibt es sowohl Schilderungen von sich langsam differenzierender Wahrnehmung als auch die qualitativer Sprünge>. Die Wahrnehmungsleistung basiert auf einem Netzwerk von visuellen und auditiven Elementen (die anderen Sinne finden in den Novellen selten Erwähnung). Dabei werden die situativen, physischen und psychischen Abhängigkeiten des Wahrnehmungsvorganges thematisiert; ebenso die Überprüfung und gegebenenfalls Korrektur des bisher Wahrgenommenen. Auch der Einfluß der Wahrnehmungserfahrung und -raster findet Erwähnung. Obwohl auch bei den anderen Novellenautoren des Textkorpus - mit Ausnahme Timonedas - die Dynamik generell thematische und motivische Bedeutung hat, kommt es sehr selten zu einem Niederschlag des dynamischen Prinzips in bezug auf die Darstellung der Wahrnehmung. Falls es zu einer Dynamisierung kommen sollte, so betrifft diese im wesentlichen nur die Objektwelt oder stellt sich als Abfolge verschiedener, in sich abgeschlossener Einzelwahrnehmungen dar. Der Wahrnehmungsakt wird kaum differenziert ausgestaltet und meist nicht als Prozeß, sondern als punktuelles Ereignis dargestellt. 50 Die epistemologischen Aspekte der unterschiedlichen Darstellung von Wahrnehmung bei Cervantes und den anderen Autoren des Textkorpus werden uns vor allem im letzten Kapitel noch beschäftigen. Bereits hier seien jedoch einige Anmerkungen zu Cervantes' Bewertung der Dynamik der Wahrnehmung gemacht, der wir uns auf kontrastivem Wege - mit Hilfe von Zurbaráns Heiligengemälden, den Santas - nähern wollen (siehe Abbildung 7 und 8). Bei Cervantes läßt sich in der Gestaltung der Auftritte nicht der moralisierende und pessimistische Zug feststellen, der Novellen wie die Desengaños amorosos und andere vom desengaño bestimmte Texte prägt, 51 und den Orozco Díaz auch bei den Santas Zurbaráns konstatiert; er macht die Charakteristika gerade am dynamischen Akzent fest: Estas figuras aparecen en actitud de andar, como si pasaran ante una puerta - con este sentido se concibe el marco - y se detuvieran un instante para que las contempláramos y, a veces, también para mirarnos y obligarnos a fijar en ellas la atención. Su actitud sería, pues, con su aspecto de transitar o pasar, como una alusión a lo transitorio y pasajero de la belleza y de las galas del mundo. 52

50

51 52

paradiesischen Rechte und Vorteile des Menschen erkannt.» (Genesis, p. 7 3 7 738). Die Darstellung von Wahrnehmungsvorgängen läßt sich lediglich bei Céspedes y Meneses feststellen. Es kommt auch bei ihm jedoch nicht zu einer Vernetzung der drei bei Cervantes festgestellten Arten der Dynamisierung. Zum Begriff des desengaño cf. Kapitel 7. Orozco Diaz, p. 33.

124

Die Darstellungen der Santa Casilda und der Santa Apolonia, die Orozco Díaz' Aufsatz beigegeben sind, lassen den Charakter von Leocadias Auftritt in der Schlußszene von La fuerza de la sangre, der mit der Tradition der Madonnenbilder in Verbindung steht, besser erfassen. Die Heiligen (oder Damen mit Heiligenattributen) scheinen tatsächlich, wie Orozco Díaz schreibt, am Betrachter vorüberzugehen und Nachdenklichkeit auszustrahlen. Wie in der cervantinischen Novelle gewinnen auch die Perspektiven der Wahrnehmungsobjekte - hier der jeweiligen Heiligen Bedeutung. Im Gegensatz zu Leocadia sind sie jedoch keine strahlenden Erscheinungen, die ihren Auftritt haben, dabei nachdrückliche Präsenz gewinnen und zum Mittelpunkt der Anwesenden werden. Auf diesen Bildern ist laut Orozco Díaz die Ephemerität der Erscheinung und des Augenblicks thematisiert. Folgt man diesem Interpretationsansatz, so liegt in der Bewegung von der einen Seite des Bildes zur anderen in zeitlichem Sinne eine Bewegung von vergangener Zeit in zukünftige, die Mittelposition der Bilder ist nicht betont. Die Flüchtigkeit und Unbestimmtheit der augenblicklichen zeitlich-räumlichen Position werden durch mehrere Faktoren suggeriert: das geraffte Kleid der Santa Casilda, die jeweilige

Abb. 7 und 8: Zurbarán: Santa Casilda (um 1638-1640) und S. Polonia Apolonia) (um 1636)

(=Santa

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Haltung des Kopfes, der sich nicht auf der Achse des Rumpfes befindet, die Fußhaltung, und der unklare Schwerpunkt der Figuren (der Kopf der Heiligen läßt ihn an anderer Stelle vermuten als die Stoffmengen). Auch mit Hilfe der Akzentsetzung durch Licht und Schatten gerät der verborgene Schwerpunkt der Figuren in Bewegung, es kommt zu einer Art glissement. In der untersuchten Schlußszene von La fuerza de la sangre ist die zeitliche Komponente des Auftrittes ebenfalls wesentlicher Bestandteil der dargestellten Wahrnehmungssituation, der dargestellte Augenblick erhält jedoch eigene und positive Bedeutung. Vergangenheit und Zukunft sind in den Hinweisen auf konträr bzw. analog gestaltete Situationen in der Vergangenheit und durch den Ausblick in die Zukunft präsent, nehmen der gegenwärtigen Situation jedoch nicht die Bedeutung - im Gegenteil. Der Auftritt gestaltet sich nicht als Ausdruck der Ephemerität (Leocadia verläßt auch den Raum nicht wieder), sondern als ein dynamischer Prozeß in verschiedenen Phasen, denen allen Bedeutung beigemessen wird. Die Dynamik kann bei Cervantes die Bedeutung von Unruhe oder Ruhelosigkeit haben. Otis Green zählt in Cervantes' Werk achtmal direkte Anspielungen auf die Confessiones des Augustinus, in denen dieser über die irdische Ruhelosigkeit und die erst bei und in Gott gefundene Ruhe schreibt. Cervantes stellt die Zitate jedoch teilweise in einen neuen Kontext, der dem irdischen Bereich weitaus mehr Bedeutung zumißt. 53 Darüber hinaus wird die Bewegung auch als ein Faktor dargestellt, der die Ruhe ergänzt. 54 Häufig scheint die Dynamik wertfrei konstatiert zu werden. Die Figuren im Text müssen sie als Faktum anerkennen. Die komplexe Dynamisierung der Wahrnehmungsperspektive, die bei Cervantes vorliegt, läßt sich nicht nur im Kontext der Dynamik der Barockzeit sehen, sondern auch im Zusammenhang mit einer größeren, anfangs nur hier und da sichtbar werdenden Entwicklung, deren Anfänge 53

Otis Green, vol. III, p. 177 und 291. Bei Augustinus heißt es: «[...] denn auf dich hin hast du uns gemacht, und unruhig ist unser Herz, bis es ruht in dir.» (Aurelius Augustinus: Bekenntnisse, üb. und ed. Kurt Flasch, Burkhard Mojsisch, Stuttgart 1989, p. 33. Cf. auch p. 70 und 78). Cervantes hingegen schreibt in La Galatea: «Pero viendo el Hacedor y Criador nuestro que es propia naturaleza del ánima nuestra estar continuo en perpetuo movimiento y deseo, por no poder ella parar sino en Dios, como en su propio centro, quiso, porque no se arrojase a rienda suelta a desear las cosas perecederas y vanas, y esto sin quitarle la libertad del libre albedrío, ponerle encima de sus tres potencias una despierta centinela que le avisase de los peligros que la contrastaban y de los enemigos que la perseguían [...].» {La Galatea. In: M. de Cervantes: Obras completas, ed. Angel Valbuena Prat, 2 vol., Madrid 18 1990,1, p. 842b). 54 Zur Bewertung der Dynamik cf. auch meinen Aufsatz «Dynamism and Spatial Structure in Las dos doncellas». In: Cervantes's and the Adventure of Writing, p. 175-203. 126

Ernst Cassirer bei Giordano Bruno konstatiert, und die im Zusammenhang mit der Raumkonzeption steht: Der unendliche Raum wird erfordert als das Vehikel der unendlichen Kraft: und diese ist wiederum nichts anderes als ein Ausdruck des unendlichen Lebens des Universum [...]. Auch hier [bei Giordano Bruno] ist es somit ein dynamisches Motiv, das die Starrheit des Aristotelisch-scholastischen Kosmos durchbricht und überwindet. Aber es ist nicht, wie bei Kepler und Galilei, die Form der neuen Wissenschaft der Dynamik, sondern ein neues dynamisches Weltgefühl, das hier den Ausschlag gibt.55 Paul Zumthor befindet sich in dieser Argumentationstradition, wenn er zwischen den beiden Raumvorstellungen einen langsamen Übergang im Zeitraum von 10 Jahrhunderten sieht, die entscheidende Umbruchsperiode jedoch in der Zeit zwischen 1450 und 1550 ansetzt. 56 Im Gegensatz dazu befindet sich Peter Czerwinski, der die Meinung vertritt, daß «ein