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German Pages [185] Year 2016
KOSMO
A
POLIS Erik Oddvar Eriksen
Die Normativität der Europäischen Union
https://doi.org/10.5771/9783495860526 .
R
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Erik Oddvar Eriksen Die Normativität der Europäischen Union
KOSMOPOLIS
A
https://doi.org/10.5771/9783495860526 .
Die Europäische Union befindet sich aktuell in der größten Krise seit ihrer Gründung. Angesichts dessen ist es von besonderer Wichtigkeit, die normativen Grundlagen und Perspektiven dieser transnationalen politischen Organisation (erneut) zu bestimmen. Erik O. Eriksen unternimmt in seinem Buch eine kritische Rekonstruktion derjenigen Prinzipien, die dem europäischen Integrationsprozess bisher zugrunde lagen. Dabei ermöglicht der von ihm gewählte pragmatistische Ansatz eine neue dynamische Perspektive auf diesen Prozess. Diese Perspektive greift nicht mehr auf die klassischen starren Kategorien etwa der Souveränität oder der politischen Selbstbestimmung zurück, sondern begreift die sukzessive Herausbildung der Europäischen Union als reflexive Integration. In einer tour de force zeigt Eriksen, in welcher Weise Prinzipien der Demokratie, Deliberation, Gerechtigkeit, des Rechtsstaats sowie der Solidarität in einem normativen Gefüge zueinander stehen, das den Integrationsprozess weiter antreibt. Zugleich weist er auf die Gefahr hin, dass sich im Zuge der Eurokrise zwischen den EU-Mitgliedstaaten eine dauerhafte Willkürherrschaft herausbildet, in der die wirtschaftlich starken den schwächeren Staaten weitreichende Umstrukturierungsmaßnahmen aufzwingen. Es ist die Stärke des Buches, aufzeigen zu können, wo tatsächlich die normativen Ressourcen der europäischen Integration liegen, die gegen eine solche Rückkehr zur einer individualstaatlichen Interessenspolitik in Stellung gebracht werden können.
Der Autor: Erik Oddvar Eriksen ist Professor für Politikwissenschaften und Leiter des ARENA Zentrums für Europäische Studien an der Universität Oslo (Norwegen). Er gehört zu den bedeutendsten Denkern der europäischen Integration, was sich in einer Reihe von international stark rezipierten Publikationen ausdrückt.
https://doi.org/10.5771/9783495860526 .
Erik Oddvar Eriksen
Die Normativität der Europäischen Union Aus dem Englischen von Philipp Schink
Verlag Karl Alber Freiburg / München
https://doi.org/10.5771/9783495860526 .
KOSMOPOLIS Politische Philosophie und Rechtsphilosophie heute Herausgegeben von Matthias Lutz-Bachmann, Andreas Niederberger und Philipp Schink
Band 2
Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2014 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise GmbH, Trier ISBN (Buch) 978-3-495-48646-7 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-86052-6
https://doi.org/10.5771/9783495860526 .
Inhalt
Vorwort 1.
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7
Die Muss-Vorstellungen der europäischen Integration . . . .
11
Ein besseres Europa ohne Blaupause . Normativität . . . . . . . . . . . . . Kooperationen, die fest verankert sind Das Ethos der Integration . . . . . . . Warum Demokratie? . . . . . . . . . Rekonstruieren und Beurteilen . . . . Überblick des Buchs . . . . . . . . .
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16 21 23 26 31 33 37
. . . . . Das Rätsel der supranationalen Integration . . . . . . . Die Bewältigung des Problems kollektiven Handelns . . Integration durch Deliberation . . . . . . . . . . . . . Deliberativer Supranationalismus . . . . . . . . . . . Gemeinschaftlich geschaffenes Recht . . . . . . . . . . Gerechtigkeit im Sinne von Unparteilichkeit . . . . . . Gleicher Wert und Nicht-Diskriminierung . . . . . . .
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41
Die europäische Demokratie . . . . . . . . . . . . . . .
67
2.
3.
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Ein Supranationalismus auf freiwilliger Basis
Meilensteine der Demokratisierung . . . . . . . . . . Die Forderung nach einer europäischen Demokratie . . Kodizes und Einrastmechanismen . . . . . . . . . . . Bedingungen für eine angemessene Regierungsführung Kontestation und Demokratisierung . . . . . . . . . . Das Aufspüren von Inkonsistenzen . . . . . . . . . . . Die normative Kraft des Parlamentarismus . . . . . . . Schlussfolgerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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44 48 52 55 58 61 63
69 73 74 75 77 80 83 85
5 https://doi.org/10.5771/9783495860526 .
Inhaltsverzeichnis
4.
Demokratische Alternativen oder Sackgassen? . . . . . . .
87
Alternative eins: Die delegative Demokratie Alternative zwei: Die Audit-Demokratie . . Die nationale Demokratie retten? . . . . . . Jenseits der nationalstaatlichen Demokratie? Alternative drei: Ein föderales Europa . . . Komplexität und Heterogenität . . . . . . . Die Zurückweisung des Supranationalismus Alternative vier: Transnationale Demokratie Die zurückgewonnene Repräsentation . . . Schlussfolgerung . . . . . . . . . . . . . .
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90 94 98 101 104 106 109 112 115 117
5.
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119
Eine kosmopolitane europäische Zukunft
Kommandobrücken . . . . . . . . . . . Die Fusion konstitutioneller Ordnungen Wird die Demokratie kompromittiert? . Regierung ohne Staat . . . . . . . . . . Parlamentarische Verflechtung . . . . . Ein geschichteter öffentlicher Raum . . Das konstituierende Subjekt . . . . . . Würde als ›Grundnorm‹ . . . . . . . . Die politische universitas der EU . . . . Die Moralität der Mit-Gesetzgebung . . Die kosmopolitane conditio . . . . . . . Regionaler Kosmopolitanismus . . . . . 6.
. . . . . . . . . . . .
. . . . . . . . . . . .
Fraternité – der fehlende Imperativ der Integration
. . . . 155
Der Imperativ, der fehlt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Institutionelle Demütigung und abnormale Politik . . . . . . Integration und die Suche nach Führung . . . . . . . . . . . Bibliographie
121 125 127 132 135 138 142 143 145 148 150 153
157 159 162
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167
6 https://doi.org/10.5771/9783495860526 .
Vorwort
»Die Europäische Union ist die wichtigste und erfolgreichste institutionelle Neuerung seit der Entstehung des demokratischen Wohlfahrtsstaats.« (Müller 2013: 401)
Die europäische Integration ist ein unvollendeter Prozess und die Europäische Union ein offenes Vorhaben. Immer noch besteht die Frage, ob es einen dritten Weg zwischen einem Intergouvernementalismus und dem Aufbau supranationaler staatlicher Strukturen geben kann. Seit den frühen 1990er Jahren jedoch tritt solch eine Alternative zunehmend zu Tage. Nun hat dieser dritte Weg einer nicht-staatlichen Föderation tiefreichende historische Wurzeln in Europa. Schon seit der Französischen Revolution haben Nationalstaaten nicht als abgeschlossene geographische Entitäten isoliert existiert, sondern haben stets miteinander interagiert und einander immer wieder auch nachteilig beeinflusst. Mit der Zeit haben so Interdependenz und ein gegenseitiger Austausch zugenommen. Diese Entwicklung wird nun durch die EU stark beschleunigt, da ihre Institutionen Mechanismen bieten, die ihre Mitgliedsstaaten darin bestärken, die Auswirkungen von Entscheidungen auf andere Länder zu berücksichtigen. Zudem hat sie ihre Mitgliedsländer auch insgesamt einer supranationalen Kontrolle unterworfen. Von einem kosmopolitanen Gesichtspunkt aus betrachtet besteht die Notwendigkeit eines mehrstufigen Herrschaftssystems, in dem überstaatliche Behörden das Verhalten auf den niedrigeren Ebenen überwachen und sicherstellen, dass dort die Kriterien von Nichtbeherrschung und Demokratie eingehalten werden. Dies wirft nun die Frage auf, ob der Integrationsprozess die Idee einer kosmopolitanen Bürgerschaft in die Realität umsetzen wird. Nun verfolgt die EU eine moderne, von der Nation getrennte Konzeption von Regierung: In ihr ist das Gemeinwesen nicht durch präpolitische Grenzen oder Machtverhältnisse vorbestimmt. Damit sind die europäischen Bürger 7 https://doi.org/10.5771/9783495860526 .
Vorwort
nicht länger ausschließlich Bürger eines Nationalstaats, sondern auch der EU und der internationalen Gemeinschaft. In diesem Buch verfolge ich die Idee, dass das normative Fundament der EU mit den veränderten Parametern der Machtpolitik verknüpft ist, wodurch die staatliche Souveränität an die Achtung der Demokratie und der Menschenrechte gekoppelt worden ist. Die Europäische Gemeinschaft ist zu einem selbstständigen Gemeinwesen geworden, in dem der Demokratie der Status eines Verfassungsgrundsatzes zukommt. Sie wurde durch Willen und Stärke der europäischen Akteure realisiert und wird für die absehbare Zukunft den europäischen Handlungsraum prägen. Aber wie war dieser Schachzug, der die Integration bewirkte, überhaupt möglich, und was ist sein Kernanliegen? Um die Normativität des europäischen Projekts angemessen analysieren zu können, werde ich den Integrationsprozess aus einer bestimmten theoretischen Perspektive rekonstruieren. Das Kernelement des von mir verfolgten pragmatischen Ansatzes findet sich dabei in der Kraft von Gründen, wie sie bei der Lösung von Problemen und Konflikten in Rechtsordnungen wirkt. Dieser Ansatz beruht also, um problematische Situationen angemessen erfassen zu können, auf dem reflexiven Gebrauch von Wissen. Ergänzt wird er dabei durch das Einbeziehen etwaiger Pfadabhängigkeiten, die helfen, umstrittene politische Maßnahmen und Linien gewissermaßen zu verankern oder ›einrasten zu lassen‹ und die die Mitgliedsstaaten fest in ein System der Kooperation einbinden. In dem vorliegenden Buch identifiziere ich dabei die zentralen Gründe als Imperative – als normative Muss-Vorstellungen [engl. musts] – der europäischen Integration. Hierdurch versuche ich, die der EU zugrundeliegende Struktur herauszuarbeiten, was es dann wiederum ermöglicht, ihre Beständigkeit besser zu verstehen – zu verstehen, was sie, inmitten der Krisen, Konflikte und Enttäuschungen, die wir tagtäglich beobachten, am Laufen hält.
Danksagung Ich möchte meine tiefste Dankbarkeit gegenüber Professor Matthias Lutz-Bachmann von der Goethe-Universität Frankfurt ausdrücken, der zusammen mit Professor Andreas Niederberger und Doktor Philipp Schink dieses Buchprojekt ins Leben gerufen hat. Ich danke zudem allen Teilnehmern der Veranstaltungen in Frankfurt am 22. und 8 https://doi.org/10.5771/9783495860526 .
Vorwort
23. April 2013, bei denen frühere Fassungen des Buches diskutiert wurden. Ich stehe besonders in der Schuld von Dr. Rosa Sierra (Goethe-Universität Frankfurt), Dr. Oliver Eberl (TU Darmstadt) sowie Prof. Claudia Landwehr (Gutenberg-Universität Mainz), die das Buch ausführlich kritisch kommentiert haben. Über die Jahre hinweg habe ich mit vielen Wissenschaftlern kooperieren dürfen. Ich bin John Erik Fossum vom Zentrum für Europawissenschaften (ARENA) in Oslo für die Zusammenarbeit im RECON-Projekt (Reconstituting Democracy in Europe 1) dankbar. Außerdem bin ich Christopher Lord, Andreas Gimmel, Espen D. H. Olsen und Helena Sjursen zu Dank verpflichtet, die das Buch vorab gelesen und wertvolle Kommentare gegeben haben. Ich bedanke mich auch bei Marit Eldholm, Kadri Miard und Helena Seibicke, die mich administrativ unterstützt haben. Philipp Schink bin ich nicht nur für seine kompetente Übersetzung des kompletten Manuskripts vom Englischen ins Deutsche, sondern auch für sein Fragen nach Klarstellungen, die zu Verbesserungen des Texts geführt haben, sehr dankbar. Dieses Buchprojekt wurde großzügig vom Norwegischen Forschungsrat im Rahmen der Forschungsinitiative anlässlich des zweihundertjährigen Verfassungsjubiläums (GRUNNLOV) gefördert.
1
Siehe http://www.sv.uio.no/arena/english/research/projects/recon/
9 https://doi.org/10.5771/9783495860526 .
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1. Die Muss-Vorstellungen der europäischen Integration
»Ziel der Union ist es, den Frieden, ihre Werte und das Wohlergehen ihrer Völker zu fördern.« (Vertrag von Lissabon, Artikel 3.1) 2
Die Europäische Union (EU) 3 ist beispiellos. Sie hat keinen Vorläufer und kann als Großexperiment verstanden werden, um nach bindenden konstitutionellen Prinzipien und institutionellen Arrangements zu suchen, die jenseits einer fest im Nationalstaat verwurzelten Form politischer Herrschaft liegen. Sie zeugt davon, dass eine historische Aussöhnung zwischen den europäischen Staaten stattgefunden hat und Lernprozesse institutionalisiert wurden. Der ›Naturzustand‹ zwischen den Staaten ist in Europa domestiziert worden. Feindseligkeit und ein harter Wettbewerb wurden durch eine friedliche Kooperation ersetzt. Vor diesem Hintergrund betrachtet, sind die aktuellen Klagen über die EU einigermaßen verwirrend. Woher kommt solch eine Wut über die Finanzkrise der Eurozone, wenn doch trotz der offenkundig begrenzten Ressourcen und Machtinstrumente der EU so viel erreicht wurde? 4 Warum stehen Intellektuelle wie Jürgen Habermas, Amartya Sen, Ulrich Beck, Salman Rushdie, Julia Kristeva, Anthony Giddens und George Soros der derzeitigen Entwicklung so kritisch gegenüber? Den politischen Führern
Der Vertrag von Lissabon trat am 1. Dezember 2009 in Kraft. Siehe Vertrag von Lissabon, Amtsblatt der Europäischen Union, 2007/C 306/01. Siehe auch die konsolidierten Fassungen des Vertrags über die Europäische Union und des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union, Amtsblatt der Europäischen Union, 2012/C 326. 3 Die heutige Europäische Union nahm ihren Anfang 1958 als Europäische Wirtschaftsgemeinschaft und wurde durch den 1993 in Kraft getretenen Vertrag von Maastricht (formell: Vertrag über die Europäische Union, EUV) in ›Europäische Union‹ umbenannt. Der Einfachheit halber verwende ich den Ausdruck ›EU‹, um die gesamte Periode zu beschreiben. 4 2012 wurde der EU sogar der Friedensnobelpreis verliehen. 2
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Die Muss-Vorstellungen der europäischen Integration
Europas werden Inkompetenz und untaugliche Maßnahmen vorgeworfen. In ihrem Ringen mit den globalen Finanzmärkten wird die EU kritisiert, sie sei in eine Machtpolitik alten Stils zurückgefallen und diktiere den Schuldnerländern, den zahlungsunfähigen Mitgliedern der Eurozone, einfach ihre Bedingungen. Den Kritikern zufolge herrscht eine sklavische Ergebenheit hinsichtlich ökonomischer Lösungsansätze – der Diktate der Finanzmärkte und dem Mantra des Neoliberalismus –, bei der den politischen und sozialen Auswirkungen keinerlei Aufmerksamkeit gewidmet wird. Dieses, so wird behauptet, ende in einem auf intergouvernementalen Strukturen fußenden postdemokratischen Exekutivföderalismus (Habermas 2011a; vgl. 2013). Aber auch elder statesmen wie Helmut Kohl, Helmut Schmidt, Jacques Delors, Giscard d’Estaing sowie der ehemalige deutsche Außenminister Joschka Fischer, das Mitglied des Europäischen Parlaments Daniel Cohn-Bendit und ehemalige Ministerpräsidenten wie Guy Verhofstadt beklagen die derzeitige Lage und sind wütend über die täglich getroffenen Maßnahmen. 5 Sie warnen vor der Rückkehr von Protektionismus, Nationalismus und selbst militärischen Konflikten. Ihnen zufolge wird die europäische Idee verraten; es gebe keine Vision, keinen nach vorne weisenden Vorschlag – nur ein von ökonomischen Kalkülen diktiertes technokratisches Regieren. Die Vision der deutschen Kanzlerin Angela Merkel bestehe schlicht in Krisenmanagement und Schadensbegrenzung. Das gesamte Integrationsprojekt werde aufs Spiel gesetzt. Der akuten Krise der Eurozone sei mit einer ›Mauer aus Worten‹ und der finanzpolitischen Übereinkunft, die Haushaltsvorschriften zu verschärfen, begegnet worden, und dies stelle eine Politik dar, die schließlich in Austerität und sozialem Elend enden müsse. 6 Über lange Zeit sei zugelassen worden, dass
»Für eine engere politische Union«, Brief von Jürgen Habermas und 18 weiteren Personen, Die Zeit online, 23. Juni 2011, http://www.zeit.de/wirtschaft/2011-06/ offener-brief-griechenland-europa. 6 Siehe auch »Solidarity: For Sale?«, Europe in Dialogue 2012/01, Bertelsmann Stiftung, http://www.bertelsmann-stiftung.de/cps/rde/xbcr/SID-FCCFDD00-4C93DF6F /bst/xcms_bst_dms_35357_35358_2.pdf; »What does German Think about Europe?«, herausgegeben von Ulrike Guérot und Jacqueline Hénard, European Council on Foreign Relations, Juni 2011, http://ecfr.eu/content/entry/what_does_germany_think_ about_europe. 5
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Die Muss-Vorstellungen der europäischen Integration
sich die Schuldenkrise der Staaten entfaltet; aufgrund bornierter Politiker herrsche nun Unsicherheit, Stillstand und Lähmung. 7 Warum diese Wut, warum solch harte Worte? 8 Warum die vielen desillusionierten Erwartungen der EU gegenüber? Schließlich sind doch die Kompetenzen der EU in sozialen und ökonomischen Belangen verschwindend gering. Die EU hat keine Kompetenz in fiskalischen Belangen; sie kann keine Ressourcen umverteilen, Staatsanleihen ausgeben, kein Geld drucken und hat keine souveräne Steuerbasis. Die Europäische Zentralbank (EZB) kann auch nicht als Notfall-Kreditgeber auftreten. All dies gehört zu dem Kompetenzbereich der Mitgliedsstaaten. Zudem weist der Binnenmarkt ein strukturelles Ungleichgewicht auf. Eine Währungsunion ohne eine Fiskalunion lässt sich nicht aufrechterhalten. Gegenwärtig fehlen jedoch auf der europäischen Ebene der benötigte Wille und die Ressourcen für eine gemeinsame Finanzpolitik, die redistributive Maßnahmen einschließt. Es existiert keine echte politische Einheit. Dies alles ist wohlbekannt und resultiert aus der mangelnden Bereitschaft der Mitgliedsstaaten, der Union weitere (Macht-)Kompetenzen und Ressourcen zu übertragen. So wird ein gemeinschaftliches Handeln durch die Politik der europäischen Staaten behindert (Scharpf 2010). Zudem stellt sich die Frage, warum nun die EU denunziert wird, wenn doch die Europäische Währungsunion (EWWU) während der Hochzeit des auf die Liberalisierung des Arbeitsmarktes, Privatisierung sowie den Abbau von Subventionen ausgerichteten neoliberalen Zeitgeists geschaffen wurde? 9 Seit es in den späten 1970er Jahren Siehe den von Frank Bsirske et al. initiierten Aufruf »Europa neu begründen!«, den 35 Personen aus Wissenschaft, Gewerkschaften und Politik (u. a. auch Habermas) unterschrieben haben, http://www.europa-neu-begruenden.de/archiv/pdf/2012/ europa_neu_begruenden.pdf. 8 Um Habermas zu zitieren: »Die politischen Eliten haben ja gar kein Interesse daran, der Bevölkerung zu erklären, dass in Straßburg wichtige Entscheidungen getroffen werden, die fürchten doch nur den eigenen Machtverlust«. »Ich beschimpfe die politischen Parteien. Unsere Politiker sind längst unfähig, überhaupt etwas anderes zu wollen, als das nächste Mal gewählt zu werden, überhaupt irgendwelche Inhalte zu haben, irgendwelche Überzeugungen.« Siehe »Jürgen Habermas, der letzte Europäer«, Der Spiegel 47/2011. Siehe ebenfalls ›Wir sind Europa! Manifest zur Neugründung Europas von unten‹, initiiert von Ulrich Beck und Daniel Cohn-Bendit, http:// manifest-europa.eu/allgemein/wir-sind-europa?lang=en. Vgl. Beck 2012. 9 Schon vor Beginn der Krise enthielt die Währungsunion wohl viele Lücken, Inkonsistenzen und Asymmetrien (Verdun 2000). Siehe hierzu auch Streeck 2011, Vogl 2010, des Weiteren Crouch 2008; vgl. Lord 2012; Streeck 2013, Majone 2013. 7
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Die Muss-Vorstellungen der europäischen Integration
durch Ronald Reagan und Margaret Thatcher eingeführt wurde, besteht ein neoliberales Wirtschaftsregime, das darauf abzielt, staatliche Eingriffe in die Wirtschaft weitgehend abzuschaffen. Die nachfrageorientierten Keynesianischen Programme wurden durch die angebotsorientierten monetaristischen Programme der Chicagoer Schule ersetzt. Das Europäische Währungssystem wurde geschaffen, um den destabilisierenden Auswirkungen des Zusammenbruchs der Bretton Woods-Ordnung, 10 als das System fester Wechselkurse inmitten der ersten tiefen Nachkriegsrezession zerfiel, begegnen zu können. In dem neu etablierten System wirkte eine Regulierung weitestgehend negativ; sie bestand in der Beseitigung von Schranken für einen effektiven Binnenmarkt (Scharpf 1999). Allerdings verlieh schon der Vertrag von Rom (1957) den fundamentalen Marktfreiheiten und dem Wettbewerbsrecht eine größere Bedeutung. In den Augen vieler hatte die EU vor allem den Zweck, einen ungehinderten Wettbewerb durchzusetzen und die Wettbewerbsbedingungen anzugleichen: die freie Zirkulation von Gütern und Arbeit. Dabei soll der einzelne Mitgliedsstaat für die sozio-ökonomischen Ziele sowie die gesellschaftliche Wohlfahrt sorgen. Die EU hat nahezu keine positiven Befugnisse, um eine erneute Regulierung und Umverteilung auf der europäischen Ebene sicherzustellen. Preisstabilität, nicht Umverteilung ist in der EU Verfassungsnorm. Dabei ist die EU nicht bloß ein Instrument, um politisch mit der wirtschaftlichen Globalisierung Schritt zu halten (vgl. Habermas 1998), vielmehr hat sie angesichts des strukturellen Neoliberalismus’ in ihrem Aufbau selbst zu dieser beigetragen. Die Europäische Währungsunion wurde nicht mit den erforderlichen finanzpolitischen Möglichkeiten ausgestattet, um Krisen zu handhaben, Schulden ›umzulegen‹ und Wachstum zu stimulieren. Warum wird also der EU in so scharfen Worten Untätigkeit und Verantwortung für die sozio-ökonomischen Verheerungen vorgeworfen? Ein Teil der Antwort findet sich in der Tatsache, dass die strukturelle Schwäche der EWWU etliche Staaten ihres Rechts auf demokratische Selbstbestimmung beraubt hat. Es gibt folglich einen direkten und leicht nachvollziehbaren Hintergrund für die Kritik an der Art und Weise, wie die Krise der Eurozone angepackt wurde. Obwohl Das Abkommen von Bretton Woods basierte auf dem Konsens, dass eine Kontrolle der Kapitalmärkte sinnvoll sei, um einen Schutz von inländischen Strategien, die durch den freien Kapitalverkehr über Grenzen hinweg gefährdet waren, zu gewährleisten (Rodrik 2011: 93).
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Die Muss-Vorstellungen der europäischen Integration
ihnen ein europäisches Mandat in diesen Belangen fehlt, haben sich die Regierungschefs auf eine Reihe von Finanz-, Wirtschafts-, Sozialund Lohnmaßnahmen verständigt, die Auswirkungen auf das Wohlergehen vieler Europäer haben. Dem Vertrag von Lissabon zufolge gehören solche Angelegenheiten eigentlich in die Zuständigkeit der einzelnen Mitgliedsstaaten. Darüberhinaus sind es nicht demokratisch gewählte, rechenschaftspflichtige Politiker, die über die zukünftigen Lebensbedingungen der europäischen Bürger entscheiden, sondern vielmehr tut dies die selbsternannte Troika – der Internationale Währungsfond (IWF), die Europäische Kommission und die Europäische Zentralbank (EZB). Die EWWU, die das Ergebnis des Vertrages über die Europäische Union (EUV) ist, hat eigene neue Verträge nach sich gezogen, die zu dem Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) und Fiskalpakt geführt haben. 11 Beide sind außerhalb des Vertrags von Lissabon und des Stabilitäts- und Wachstumspakts geschaffen worden. Sie treten nationalstaatliches Recht 12 mit Füßen und stellen einen Bruch des EU-Rechts dar.
11 Die Europäische Finanzstabilisierungsfazilität (ESFS) wurde 2010 als provisorischer Stabilisierungsmechanismus für die Mitgliedsstaaten der Eurozone geschaffen, um »die finanzielle Stabilität im gesamten Euro-Währungsgebiet zu wahren« (Erklärung der Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union, 11. Februar 2010, http://www.consilium.europa.eu/uedocs/cms_data/docs/pressdata/ de/ec/115271.pdf). Dies sollte im Rahmen der gesamtwirtschaftlichen Anpassungsprogramme durch Finanzhilfen für Mitgliedsländer erfolgen. Im Oktober 2010 wurde dann entschieden, einen dauerhaften Rettungsmechanismus, den Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM), zu gründen, der im Oktober 2012 in Kraft trat. Mit dem Euro-Plus-Pakt (der im März 2011 angenommen wurde) haben sich einige Länder auf politische Reformen verpflichtet, um ihre Wettbewerbsfähigkeit und finanzpolitische Stärke zu erhöhen. Die wirtschaftspolitische Steuerungsstrategie der EU, Sixpack, trat im Dezember 2011 in Kraft und bündelt eine Reihe von europäischen Gesetzgebungsmaßnahmen, die auf eine Reform des Stabilitäts- und Wachstumspakts (Euro-Stabilitätspakt) abzielen und ein neues gesamtwirtschaftliches Überwachungsverfahren einführen. Schließlich ist der Vertrag über Stabilität, Koordinierung und Steuerung in der Wirtschafts- und Währungsunion (der auch als SKS-Vertrag oder Europäischer Fiskalpakt bekannt ist) ein zwischenstaatlicher Vertrag, der als neue und strengere Variante des Euro-Stabilitätspakts eingeführt wurde. Der SKS-Vertrag wurde durch alle Mitgliedsländer der EU außer der Tschechischen Republik und dem Vereinigten Königreich unterzeichnet und trat für die 16 Staaten, die ihn vor diesem Datum ratifiziert hatten, im Januar 2013 in Kraft. 12 Agustín José Menéndez, »The EU’s unconstitutional treaties«, European Voice, 28. Juni 2012, http://www.europeanvoice.com/article/imported/the-eu-s-unconstitutio nal-treaties/74716.aspx.
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Die Muss-Vorstellungen der europäischen Integration
»Stabilitätsmechanismen, wie die Europäische Finanzstabilisierungsfazilität (EFSF) und der ESM wirken als separate Finanzinstitute außerhalb des von den Europäischen Verträgen abgesteckten Rahmens. Dabei haben sie eigene Entscheidungsstrukturen und operieren hinter einem Schutzschild von weitreichender Immunität und Verschwiegenheit. Zwischenstaatliche Stabilitätsmechanismen verbleiben sowohl außerhalb des Geltungsbereichs der Vertragsbestimmungen als auch des ergänzenden Sekundärrechts. Eine solche institutionelle Entwicklung lässt eine mögliche Kontrolle durch das Europa-Parlament oder die nationalen Parlamente, geschweige denn durch die Zivilgesellschaft oder die Bürgerschaft, extrem schwierig werden.« (Tuori 2012: 47) 13
Amartya Sen könnte von daher recht haben, wenn er behauptet, dass »es nicht nur der Euro [ist]: Europas Demokratie selbst steht auf dem Spiel.« 14
Ein besseres Europa ohne Blaupause Aber es steckt noch mehr dahinter. Wäre die EU eine gewöhnliche internationale Organisation – ausschließlich in den Händen der Vertragsparteien –, dann hätte das Ignorieren demokratischer Verfahren, die Nichtbeachtung sozialer Belange sowie der Interessen Dritter wohl kaum solch einen Wirbel verursacht. Wenn Europa immer noch ein Kontinent souveräner Nationalstaaten wäre und die EU lediglich eine internationale Organisation, dann wäre das Verfolgen nationaler
In dem Europäischen Fiskalpakt wird indes festgehalten: »Binnen höchstens fünf Jahren ab dem Inkrafttreten dieses Vertrags werden auf der Grundlage einer Bewertung der Erfahrungen mit der Umsetzung des Vertrags (…) die notwendigen Schritte mit dem Ziel unternommen, den Inhalt dieses Vertrags in den Rechtsrahmen der Europäischen Union zu überführen.« Von daher könnte der Pakt letzten Endes nicht inkompatibel mit dem EU-Recht sein, siehe auch De Witte 2013. 14 Amartya Sen, »It isn’t Just the Euro: Europe’s Democracy itself is at Stake«, The Guardian, 22. Juni 2011, http://www.guardian.co.uk/commentisfree/2011/jun/22/ euro-europes-democracy-rating-agencies. Hinsichtlich einer harten, nicht rechenschaftspflichtigen Governance, siehe ebenfalls Menedez 2013 sowie den Bericht des Europäischen Parlaments von 2011 über das Europäische Semester für die Koordinierung der Wirtschaftspolitik. In diesem wird festgehalten, »dass die demokratische Glaubwürdigkeit der europäischen Integration durch die bisherige Art und Weise des Umgangs mit der Eurokrise enorm gelitten hat,« http://www.europarl.europa.eu/ sides/getDoc.do?pubRef=-//EP//TEXT+REPORT+A7–2011–0384+0+DOC+XML +V0//DE. 13
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Ein besseres Europa ohne Blaupause
Interessen mit Hilfe jedweden brauchbaren Instruments wohl kaum überraschend. Wäre die EU also nur ein Teil internationaler Beziehungen gewesen – eine Organisation mit der speziellen Aufgabe, die Probleme ihrer Mitgliedsstaaten zu lösen –, dann hätten Demokratie, Solidarität sowie die gemeinsame Verpflichtung für das Wohlergehen aller zu sorgen, wohl kaum auf der Tagesordnung gestanden. Tatsächlich ist die EU aber mehr, und wenn man die Frustration über den aktuellen Zustand verstehen will, muss man eine Erklärung finden, worin dieses ›Mehr‹ besteht. Ein Teil des Problems besteht allerdings darin, dass es keine Einigung darüber gibt, was die EU ist oder sein sollte. Für viele Wissenschaftler und Entscheidungsträger ist die EU in der Tat bloß ein Instrument, das den Interessen der Mitgliedsstaaten dient. In ihren Augen konnte der Krise nicht in anderer Weise begegnet werden. Folgt man jedoch Kosmopolitanern oder Föderalisten, dann ist die genuin europäische Vision eine andere. Es ist die Idee eines besseren Europas: Die Vision eines europäischen bonum commune, eines humanitären, vereinigten und demokratischen Europas. Die europäische Integration war verbunden mit dem Versprechen von Frieden und Demokratie; dem Versprechen, die europäische Demokratie vor Diktatur und Krieg, Krise und Elend zu schützen. In den Worten Francis Fukuyamas: »Die europäische Lesart lautet anders: Europa strebt eine Weltordnung an, die den Bedingungen der Ära nach dem Kalten Krieg angepasst ist und die auf Regeln basiert, die für alle verbindlich sind. Diese Weltordnung, die keine massiven ideologischen Streitigkeiten und keine militärischen Konflikte in großem Maßstab kennt, räumt den Konfliktlösungsmethoden Konsens, Dialog und Verhandlungen weitaus mehr Raum ein als bisher.« (Francis Fukuyama) 15
Dieser Vision wohnte das Versprechen inne, dass ein Transfer von Macht mit einer weiteren Demokratisierung einhergehen würde. Die Bürger sollten selbst in der Lage sein, ihr Schicksal zu beeinflussen. Auch wenn nun eine europäische Demokratie anfänglich keine Rolle spielte, vollzog sich der Integrationsprozess selbst doch durch einen Multilateralismus und rechtliche Verfahren, die demokratisch legitimiert waren. Die Integration der europäischen Staaten und Bür-
Francis Fukuyama, »Das Ende des Westens«, Die Welt, 3. September 2002. Siehe auch Hitchock 2003 und Judt 2005. Siehe weiterhin Mitrany 1933.
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Die Muss-Vorstellungen der europäischen Integration
ger entstand nicht durch Blut und Eisen, sondern auf friedliche und zivilisierte Weise durch das Medium des Rechts. 16 »Zunächst war [die Europäische Union] vor allem eine wirtschaftliche und technische Interessensgemeinschaft. Endlich ist Europa auf dem Weg, ohne Blutvergießen zu einer großen Familie zu werden – eine grundlegende Neuordnung, die selbstverständlich ein anderes Konzept als das vor fünfzig Jahren verfolgte verlangt, als sechs Länder die Initiative ergriffen.« 17
Angetrieben wurde der europäische Integrationsprozess durch das Recht, welches ein reflexives Medium ist, um Probleme und Konflikte in modernen Gesellschaften zu lösen. Recht ist ein bewusstes und selbst-referentielles Medium, welches nicht für längere Zeit vollständig autopoetisch sein kann, ohne dabei andere soziale Kräfte zu ›irritieren‹ (pace Niklas Luhmann). Das moderne Recht ist eng mit Demokratie verbunden, da das Rechtssystem die Regeln, die es anwendet, in legitimer Weise nur durch einen offenen und inklusiven Entscheidungsprozess erhalten kann. In der heutigen modernen Welt kann es kein legitimes Recht ohne Demokratie geben. Vor diesem Hintergrund kann man die wütenden Reaktionen und Vorwürfe hinsichtlich der Handhabung der Krise der Eurozone durch die EU und ihre Hauptstaaten verstehen. Diese vollzog sich, ohne groß durch die Bevölkerungen autorisiert worden zu sein. 18 Die Legitimität der politischen Ordnung Europas wird also durch die Überschreitung von Kompetenzen und das Ignorieren rechtlicher Verfahren unterminiert. Darüberhinaus belegen die Reaktionen von Intellektuellen wie auch der betroffenen Parteien auf die Reformen und Austeritätspolitik der Krise, dass Risiken kollektiviert wurden und sich Mentalitäten europäisiert haben. Heute sind die Adressaten von Ansprüchen nicht mehr nur die Staaten, sondern ebenso die EU und ihre Machthaber. Umverteilungskämpfe sind auf der europäischen Ebene (wieder) aufDiese Strategie übersetzt sich für das Recht – und zwar sowohl für das Europa- wie auch das nationalstaatliche Recht – darin, grundlegend den Zielen der europäischen Integration verpflichtet zu sein. Siehe Schmid 2011. 17 Die Erklärung von Laeken zur Zukunft der Europäischen Union, Europarat, 15. Dezember 2001, zugänglich unter: http://www.europarl.europa.eu/brussels/ website/media/Basis/Organe/ER/Pdf/Erklaerung_Laeken.pdf. 18 Die Fonds sind als Kreditvertrag auf freiwilliger Basis zwischen den Ländern der Eurozone aufgebaut worden. Sie stellen von daher ein Ad-hoc-Abkommen dar, und die bereits oben erwähnte Troika stellt sicher, dass die Maßnahmen implementiert werden. Diese Institutionen standen niemals zur Wahl und entsprechend wurde auch niemals über sie abgestimmt. 16
18 https://doi.org/10.5771/9783495860526 .
Ein besseres Europa ohne Blaupause
getaucht und sind zu einem deutlichen Merkmal des repräsentativen Systems der EU geworden (Statham und Trenz 2012). Die europäische Öffentlichkeit entsteht sozusagen dadurch, dass die Protestierenden ihre Unzufriedenheit mit dem zeigen, was sie als die ›Kommandobrücken‹ der Europäischen Union in Brüssel (die Kommission), Frankfurt (die EZB) und Luxemburg (EuGH) ausmachen. Dies folgt logisch daraus, dass die Vision eines besseren Europas dem Integrationsprojekt innewohnt: ein vereinigtes Europa auf Grundlage der an die Französische Revolution erinnernden Prinzipien von Gleichheit, Freiheit und Solidarität. Durch die Wende hin zur Herausbildung von europäischen Nationalstaaten wurde die Revolution in ihrem Gefolge allerdings um ihren kosmopolitanen Gehalt gebracht. 19 Während der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts unterminierte der Nationalismus das universalistische Potential der humanitären und demokratischen Prinzipien. Das Europa nach 1945 (und nach 1989) könnte in der Lage sein, diese Prinzipien zu neuem Leben zu erwecken und sie auf der richtigen Ebene, d. h. oberhalb des kriegstreiberischen internationalen ›Staatensystems‹, zu installieren. 20 Ein besseres Europa, eine Gesellschaft, die nicht mehr auf Demütigung beruht, sollte aufgebaut werden. Anstelle des demütigenden Vertrages von Versailles bekam Deutschland 1952 den Schuman-Plan, der den Status Deutschlands verbesserte. 21 Aufbauend auf der Idee eines Friedens ohne Demütigung wurde ein neues Regime europäischer Kooperation auf den Weg gebracht. Dieses hatte weitreichende Auswirkungen und schaffte das Recht der einzelnen Staaten ab, das Gesetz in ihre eigenen Hände zu nehmen. Mit den Worten Jean Monnets, des ›Gründungsvaters der europäischen Integration‹ und ersten Staatsmanns der Interdependenz: »Wir beginnen einen Prozess kontinuierlicher Reform, der die Welt von morgen bleibender prägen könnte, denn die im Westen weitverbreiteten Prinzipien der Revolution.« (Duchêne 1994: 390) Diese Entwicklung bescherte rund 60 Millionen Menschen einen eigenen Staat, ließ dabei allerdings rund 25 Millionen zu Minderheiten in ihrem ›eigenen‹ Land werden. 20 Schon Thucydides wies darauf hin, dass im Bereich internationaler Beziehungen die Stärkeren tun, was sie wollen, während die Schwachen ertragen, was sie ertragen müssen. 21 Dem Präsidenten des Europäischen Parlaments, Martin Schulz, zufolge, war es ein »Schuman-Plan statt Versailler Vertrag« (zitiert nach: »Die Wunde der Vergangenheit«, Der Spiegel, 13/2013). 19
19 https://doi.org/10.5771/9783495860526 .
Die Muss-Vorstellungen der europäischen Integration
Es ist bemerkenswert, dass der ›Masterplan‹ dieses Projekts anfänglich überhaupt nicht klar ausbuchstabiert wurde – wenn es überhaupt jemals solch einen Plan gegeben hat. Der europäische Integrationsprozess wurde weder durch Ideologie noch durch Blaupausen oder Großentwürfe vorangetrieben, sondern durch das nüchterne und pragmatische Lösen von Problemen (siehe beispielsweise Lenaerts und Desomer 2002: 1223). Allerdings muss man bedenken, dass der Integrationsprozess dennoch von Anfang an normativ aufgeladen war – mit einer Vielzahl an Bezügen auf Werte wie Frieden, Wohlstand, Kooperation, Demokratie etc. Monnet setzte nun auf die ›Schritt für Schritt‹-Methode und auf das, was er ein dynamisches Ungleichgewicht nannte. »Der Bau Europas stellt eine große Transformation dar, die lange dauern wird (…). Nichts wäre gefährlicher, denn Schwierigkeiten als Scheitern zu interpretieren« (Jean Monnet, zitiert nach McCormick 2012: 4). Sicherlich würde es Rückschläge geben, aber im Hinblick auf ein bis dato beispielloses Ziel – eine demokratische supranationale Föderation – wurde ein stückweise voranschreitender Konstruktionsprozess in Gang gesetzt. Und tatsächlich gelang es in Europa den Staaten, die internationalen Beziehungen zwischen sich zu domestizieren und eine durch das Recht vereinte Union zur friedlichen und gedeihlichen Kooperation zu schaffen. Wir beobachten die Entwicklung einer politischen Ordnung, die weder auf einem kulturell homogenen Volk aufbaut, noch durch Zwang oder rohe Gewalt hervorgebracht wurde. Die EU stellt ein auf Freiwilligkeit beruhendes, wenn auch machtvolles Gebilde dar, das die Identitäten seiner einzelnen Mitgliedsparteien achtet. »Die Europäische Union ist die erste – qua Definition auf Freiwilligkeit beruhende – Föderation in der Geschichte der Menschheit, die die Unterschiedlichkeit der sie konstituierenden Parteien anerkennt. Die EU ist ein politischer Körper, der sich verpflichtet hat, die unterschiedlichen nationalen Identitäten seiner Mitgliedsstaaten und Bürger zu achten, zugleich unterwirft sie diese jedoch in vielen wichtigen Bereichen der Rechtsprechung einer gemeinsamen Regierung.« (Offe und Preuss 2007: 194)
Es ist eine neue politische Ordnung entstanden, und zwar eine, die die Lage der Dinge zwischen den europäischen Staaten verändert hat. Das klassische Völkerrecht gewährleistete den gleichen Status der souveränen Staaten und die staatliche Unabhängigkeit von äußerer Einmischung. Es existierte keine supranationale Macht, um Völkerrechtsverletzungen zu sanktionieren und zu bestrafen, noch um im 20 https://doi.org/10.5771/9783495860526 .
Normativität
Falle von Menschenrechtsverletzungen in die inneren Angelegenheiten von Staaten einzugreifen. Durch das Integrationsprojekt strebten nun die europäischen Staaten danach, die internationale Anarchie und Aggression zu überwinden. Eine friedliche Beilegung von Konflikten wurde durch die Institutionalisierung von supranationalen Streitbeilegungsmechanismen erzwungen. Im Frühling des Jahres 1945 »war den meisten Beobachtern klar, dass ein System souveräner Nationalstaaten keine eingebauten Mechanismen hat, um neuerliche Katastrophen zu verhindern« (Fossum und Menéndez 2011a: 78). Wie jedoch wurde das kriegstreiberische Staatensystem genau unter Kontrolle gebracht; durch welche Mittel und welche Mechanismen?
Normativität Um die hohen Erwartungen an die EU zu verstehen, muss man ein Verständnis von der Normativität des europäischen Integrationsprojekts gewinnen. Der Begriff der Normativität bezieht sich auf verschiedene Arten von Wertungen oder Präskriptionen – Muss-Vorstellungen oder Imperative. Dabei umfasst er zuallererst moralische Normen. Auch sind bestimmte Rechte, Werte, Rollen und Institutionen derartig moralisch aufgeladen, dass sie auf Muss-Vorstellungen hinauslaufen; sie üben normativen Druck aus und erzwingen bestimmte Handlungen. Unter Normativität verstehe ich also nicht einfach nur den diesem Projekt innewohnenden Wert, sondern eine normative Bewertung, die zu Übereinkunft und Handlung verpflichtet. 22 Normativität bezieht sich auf Handlungspräskriptionen – Muss-Vorstellungen oder Imperative. Muss-Vorstellungen drängen Akteure zum Handeln. Prototypisch tauchen sie in Gestalt von Pflichten auf. Was sind die normativen Kräfte oder Quellen der Normativität – die Autorität oder die bindende Wirkung eines Anspruchs –, die eine Akzeptanz und Folgebereitschaft im europäischen Integrationsprozess wahrscheinlich werden lassen? 23 Das europäische Projekt beinhaltet bestimmte Prinzipien und Werte, ohne die die EU nicht verwirklicht worden wäre. Bezüglich Kantianischer und instrumenteller Verwendungsweisen von Normativität siehe Korsgaard 1996 sowie auch Stemmer 2008. 23 Akzeptanz bedeutet eine Forderung oder Entscheidung gutzuheißen, während etwas zu befolgen bloß bedeutet, eine verbindliche Entscheidung einzuhalten. 22
21 https://doi.org/10.5771/9783495860526 .
Die Muss-Vorstellungen der europäischen Integration
Nur um dies klarzustellen: nicht die Wünsche, Interessen und Motive, die man aus dem Prozess der europäischen Integration herauslesen kann, sind die Quellen der Normativität. Beispiele hierfür wären etwa die Interessen von Frankreich oder Deutschland und die Motive der USA. Die Zusammenlegung der materialen Grundlagen, um Krieg zu führen, »gab Frankreich Sicherheit vor dem Risiko eines wiederauflebenden deutschen Militarismus und befreite Deutschland von der ökonomischen Bevormundung durch die Alliierten« (Anderson 2009: 9). Die Einheit Westeuropas wurde als »Bollwerk gegen den Kommunismus« verstanden wie auch als »notwendiges Gegengewicht zu Washington« (ebd.: 10). Die Schaffung der Europäischen Gemeinschaft entsprach vielen Interessen: Dem Interesse der USA, eine Schranke gegen die Sowjetunion zu errichten, dem Frankreichs, »primus inter pares westlich der Elbe« zu werden wie auch dem Anliegen Deutschlands, »wieder den Rang einer etablierten Macht zurückzuerlangen und die Aussicht auf eine Wiedervereinigung offenzuhalten« (ebd.: 21; vgl. Adenauer 1955). Während die Motive und Interessen nun tatsächlich vielfältig sein können, müssen wir, um die Integration erklären zu können, den grundlegenden normativen Konsens rekonstruieren, d. h. den Konsens darüber, was getan werden soll: die Muss-Vorstellungen oder Imperative des Integrationsprozesses. Diese stellen die unausweichlichen Voraussetzungen der Integration dar. Damit Muss-Vorstellungen zum Tragen kommen können, müssen sie mittels überzeugender Gründe artikuliert werden, d. h. anhand von Gründen, die eine verpflichtende Kraft haben und Befolgungsressourcen mobilisieren. Den Austausch von Argumenten oder die Deliberation verstehe ich als ein Verfahren, um Geltungsansprüche einzulösen, um festzusetzen, was richtig oder gerecht bei der Entscheidungsfindung ist. Hierbei beziehe ich mich auf Sprechakt-Theorien in der Tradition von Searle und Habermas (sowie ihren Vorläufern wie etwa Pierce, Austin, Apel), aber auch auf die Rolle, die das Vorbringen von Gründen in praktischen und rechtlichen Angelegenheiten spielt (Scanlon, Brandom, Raz, Alexy, Forst). Gründe zählen. Akteure sind in der Lage, Gründe für ihr Handeln anzugeben und zu bewerten; Gründe zu erkennen, zu beurteilen und sich durch sie motivieren zu lassen. Um kollektive Entscheidungen treffen zu können, müssen Akteure ihr Handeln an Gründen ausrichten und befolgen, was diese praktisch vorgeben. Eine Deliberation nötigt Akteure, durch Bezug auf Muss-
22 https://doi.org/10.5771/9783495860526 .
Kooperationen, die fest verankert sind
Vorstellungen zu argumentieren – seien diese nun Ausdruck des Gemeinwohls oder von Gerechtigkeit und Menschenrechten. Muss-Vorstellungen führen jedoch nicht automatisch zu Handlungen, sondern tun dies nur unter bestimmten Umständen: Etwa wenn Trittbrettfahrerei oder die Missachtung von Regeln sanktioniert werden und es Mechanismen dafür gibt, bestimmte Verhaltensmuster durchzusetzen. Nur wenn solche Bedingungen gegeben sind, wird der Austausch von Argumenten Konsequenzen für das Verhalten der Akteure haben. Mit anderen Worten: Muss-Vorstellungen müssen institutionalisiert werden; zudem muss eine bestimmte Konstellation von Machtkompetenzen gegeben sein, damit Widersacher in ihren Handlungsmöglichkeiten eingeschränkt und Übereinkünfte in praktische Resultate umgesetzt werden können.
Kooperationen, die fest verankert sind In der Geschichte der europäischen Integration waren bestimmte Einrast-Mechanismen [lock-in mechanisms] wichtig. Institutionelle Pfadabhängigkeiten haben geholfen, dass umstrittene europäische Institutionen und politische Maßnahmen ›einrasten‹ konnten (Parsons 2002). Dabei haben diese Mechanismen die Mitgliedsstaaten fest in kooperative Strukturen und Abläufe eingebunden. Dies war z. B. der Fall bei der Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS, Montanunion) im Jahr 1952. Dadurch, dass die materiellen Mittel zur Kriegsführung ›vergemeinschaftet‹ und der Hohen Behörde der EGKS (die später zur Europäischen Kommission wurde) unterstellt wurden, sollte es strukturell unmöglich werden, Kriege zu beginnen. So wurde das Friedensmotiv durch die Institutionalisierung der hochgradigen Interdependenz zwischen den Staaten entschieden gestärkt. 24 In den 1950er Jahren führte die Zusammenarbeit bei Kohle und Stahl die Staaten in ein verbindliches System der Kooperation. Als der Enthusiasmus für den Supranationalismus dann Mitte der 1950er
Dies bedeutet nicht, dass die Einrast-Mechanismen die Gründung der EGKS erklären. Vielmehr konstituierten sie, zusammen mit den mit ihnen einhergehenden Kompetenzfallen, entscheidende Vorbedingungen für die ›Materialisierung‹ der EGKS.
24
23 https://doi.org/10.5771/9783495860526 .
Die Muss-Vorstellungen der europäischen Integration
Jahre erlahmte, erschufen die EGKS-Mitgliedsstaaten auf der Konferenz von Messina (Juni 1955) zwei neue Gemeinschaften – die Europäische Atomgemeinschaft (Euratom) und die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG). Vorsichtig hinsichtlich der Frage der Souveränität initiierten die Außenminister den Integrationsprozess von neuem, indem sie die Gründung eines allgemeinen europäischen Binnenmarkts beschlossen. Dies führte wiederum dazu, dass den bestehenden Institutionen der EGKS neue und wichtige Aufgaben und Kompetenzen übertragen wurden: Es kam zu der Schaffung eines Ministerrats, einer Kommission, einer gemeinsamen parlamentarischen Versammlung sowie eines Gerichtshofs. Mit seinen Bestimmungen zu freiem Verkehr und dem Diskriminierungsverbot erlegte der in den Verträgen von Rom (1957) begründete gemeinsame Markt den Mitgliedsländern ein neues Kooperationsschema auf, das verpflichtenden Charakter hatte und mit neuen Einrast-Mechanismen versehen war, die den Weg für eine fortgesetzte Integration ebneten. 1987 entschied sich dann die Europäische Gemeinschaft (EG) in der Einheitlichen Europäischen Akte (EEA), ihren Binnenmarkt zu vollenden. Durch die Beseitigung eines breiten Spektrums nichttarifärer Handelshemmnisse, einschließlich von Grenzkontrollen, nationalen Standards, bevorzugter Beschaffungspolitik und Industriesubventionen, sollte dies vor Ende 1992 erfolgen. Darüber hinaus ersetzte die EEA auf der Ebene des Ministerrats das Prinzip der Einstimmigkeit bei Wahlen – was beinhaltete, dass die einzelnen Nationen ein Vetorecht hatten. Für Angelegenheiten, die den Binnenmarkt betreffen, wurde ein Mehrheitswahlsystem eingeführt. Zudem wurde der Binnenmarkt durch ein ausgefeiltes und leistungsfähiges Rechtssystem – das EU-Recht – untermauert. Dabei wurde davon ausgegangen, dass dieses Recht Vorrang gegenüber dem nationalen Recht und einen direkten Einfluss auf die innerstaatliche Gerichtsbarkeit hat, ungeachtet dessen, ob es in dieser ausdrücklich qua Gesetzgebung inkorporiert wurde. Heute ist dieses Kooperationsschema im Zuge des Vertrages von Maastricht (1992), des Binnenmarkts und der Europäischen Währungsunion wesentlich erweitert worden. Der ›Delors-Bericht‹ (1989) hatte zum Ziel, die Europäische Währungsunion in drei Stufen zu schaffen, was in der Einführung des Euros bis spätestens 1999 kulminieren sollte. Innerhalb der Eurozone erfüllt der Euro heutzutage eine entscheidende Funktion als Einrast-Mechanismus. Die Staaten finden 24 https://doi.org/10.5771/9783495860526 .
Kooperationen, die fest verankert sind
sich selbst verstrickt in eine Situation geteilter Souveränität und kollektivierter Risiken (vgl. Offe 2013). Der Satz, wenn der Euro fällt, fällt die EU, mag falsch sein, tatsächlich aber symbolisiert er die Art der wechselseitigen Abhängigkeit und der damit einhergehenden Risiken, mit denen wir es in der EU zu tun haben. So belegt etwa die Krise der Eurozone, dass sich das europäische Integrationsprojekt zu einer Gemeinschaft von Risiko und Risikomanagement entwickelt hat. Sie stellt nunmehr eine hochintegrierte Schicksalsgemeinschaft* dar. Alle sitzen nun im selben Boot und ein Ausscheren oder Aufkündigen der Folgebereitschaft würde alle negativ beeinflussen. Uneinigkeit oder Stillstand hinsichtlich dringend erforderlicher Maßnahmen hat systemweite Auswirkungen: rasch ansteigende Zinssätze, vergrößerte Schuldenprobleme und abnehmende Wachstumsraten. In dieser Struktur können Länder der Eurozone sich nicht aus dem Euro ausklinken und einfach wieder nationale Währungen einführen, ohne dass sie massiv den Interessen ihrer eigenen Bürger (z. B. durch kurzfristige Zahlungsunfähigkeit) schaden wie auch denjenigen dritter Parteien, da die Kosten einer Abwertung gewissermaßen exportiert werden. Deshalb gibt es einen Einer-für-alle-und-alle-für-einen-Effekt. Hinter dem Rücken der Bürger ist ein Solidaritätsprinzip institutionalisiert worden. Es ist sozusagen die List der Vernunft am Werk, und zwar in dem Sinne, dass es Übertragungseffekte gibt, die neue integrative Initiativen erfordern. 25 Die weitergehende Integration ist zu einem funktionalen Erfordernis wie auch zu einer Gerechtigkeitsverpflichtung geworden: Diejenigen Länder, die die Währungsunion geschaffen und von ihr profitiert haben, haben die Pflicht, sie wieder in Ordnung zu bringen. In Kapitel 6 werde ich diesen Punkt weiter ausführen. Neben den funktionalen Einrast-Mechanismen ist in Rechtsordnungen auch der Imperativ, Entscheidungen und Urteile zu begründen, fest verankert. Darüber hinaus sind Muss-Vorstellungen in den Menschenrechtsbestimmungen der Gemeinschaft und dem durch den Europäischen Gerichtshof (EuGH) durchgesetzten Rechtssystem institutionalisiert; ebenso auch in der zivil-demokratischen Struktur der die EU bildenden Mehrebenen-Konstellation, durch die Ansprü-
Hierauf gründen die Neo-Funktionalisten (z. B. Haas 1961; Hoffman 1966; Sandelholz und Stone Sweet 1998; Schmitter 2012) ihre Voraussagen, ohne allerdings in der Lage zu sein, die Feedback-Mechanismen zu identifizieren.
25
25 https://doi.org/10.5771/9783495860526 .
Die Muss-Vorstellungen der europäischen Integration
che und Kritik artikuliert werden können. Faktoren wie diese sind jedoch nicht in der Lage, die Integration zu erklären, da ein Akteur – sei dies nun eine Institution oder Organisation – fehlt, der über eine zentrale Handlungsfähigkeit verfügt. Einrast-Mechanismen, strukturelle Randbedingungen und normative Bindungen handeln nicht: Sie konvertieren nicht automatisch Muss-Vorstellungen in praktische Resultate. Sie bewirken allerdings eine kommunikative Interaktion, die Begründung von Positionen und geben Akteuren Handlungsgründe (die manchmal ihren Selbstinteressen zuwiderlaufen). In der EU wurde der Imperativ des Begründens von Positionen und politischen Maßnahmen rechtlich fest verankert. In dem vorliegenden Buch versuche ich zu begründen, worin diese Muss-Vorstellungen bestehen oder bestanden haben und was sie uns über die Natur des europäischen Integrationsprojekts und der EU sagen. Im zweiten Kapitel beschäftige ich mich dabei zuerst mit jenen Muss-Vorstellungen, die im Zusammenhang mit dem Problem stehen, wie man die freiwillige Abtretung von Souveränitätsrechten, die das bestimmende Charakteristikum und Rätsel der europäischen Integration darstellt, verstehen muss. Im dritten Kapitel dann setze ich mich mit Muss-Vorstellungen auseinander, wie sie in den symbolischen Kodizes und Kategorien des demokratischen Rechtsstaats* zu finden sind. Hier bilden sie die Begriffe, auf die sich Akteure beziehen können, wenn sie die bestehenden Herrschaftsstrukturen anfechten und eine Demokratisierung einfordern.
Das Ethos der Integration Es waren einige wenige Akteure, die den Integrationsprozess initiierten. In unkartiertem Gelände begannen sie, einen Prozess mit unbekannten Auswirkungen in Gang zu setzen. Die Idee selbst war dabei nicht neu: Zwischen den Jahren 1306 und 1945 haben Historiker 182 Groß-Entwürfe für die Europäische Einheit gezählt. ›L’idée européenne‹ geisterte schon für einige Jahrhunderte herum, als am 9. Mai 1950 der französische Außenminister Robert Schuman seinen Plan für Europa vorschlug. Einen Plan, der »ein Schlüsselelement im Aufbau Europas repräsentierte. Er markierte die Anfänge der französisch-deutschen Aussöhnung, eine Vorbedingung für jedwede Organisation in West-Europa, und erschuf die erste europäische supranationale Institution« (Gerbet 183: 101). 26 https://doi.org/10.5771/9783495860526 .
Das Ethos der Integration
Häufig wird die europäische Integration durch den wirtschaftlichen Nutzen erklärt und dadurch, wie sie den materialen Eigeninteressen dient. Allerdings sollte man sich Max Webers Erkenntnis ins Gedächtnis rufen, dass »Interessen ohne (…) Ideen, die ihnen Flügel verleihen, wenig überzeugen; auf der anderen Seite jedoch können sich Ideen geschichtlich nur dann und insofern durchsetzen, als sie mit realen Interessen verbunden sind« (Bendix 1960/1977: 47). Ideen sind die »Weichensteller« zwischen verschiedenen materialen Möglichkeiten (Weber 1958: 280). Da sich die Verhältnisse in Europa und der Welt und entsprechend auch die Gemeinschaften verändert haben, mag die Kraft des Friedens-Prinzips, die dem Integrationsprozess anfänglich ›Flügel verlieh‹, heutzutage nicht mehr hinreichen. Ursprünglich wurden die Gemeinschaften als Weg betrachtet, einen dauerhaften Frieden zu schaffen. Hierbei konnten sie sich auf ein Prinzip beziehen, das unbestritten war. Den globalen Friedenszustand sicherzustellen, kann selbst als »ein Menschenrecht von herausragender Bedeutung« (Apel 2001: 33) betrachtet werden. Frieden jedoch beinhaltet nicht einfach die Abwesenheit von Krieg, sondern auch, dass man unter menschenwürdigen Bedingungen lebt, d. h. als jemand geachtet wird, der mit an der Gesetzgebung beteiligt ist. Würde und Gerechtigkeit erfordern Demokratie. Nichtsdestotrotz ist die Demokratie zwischen Staaten die Achillesferse der Demokratietheorie. Die Demokratisierung immer weiterer Staaten bietet selbst keine Versicherung dafür, dass es eine Demokratie zwischen den Staaten gibt. Da die Entscheidungsträger vorrangig eine Verantwortung gegenüber ihrer eigenen Bevölkerung haben, sind Staaten auf Selbsterhaltung ausgerichtet. Staaten sind, sozusagen, durch das Volk eingeschränkt: »Das Individuum mag für sich selbst sagen: ›Fiat justitia, pereat mundus (Es soll Gerechtigkeit geschehen, und gehe die Welt darüber zugrunde).‹ Staaten jedoch haben nicht das Recht, dies im Namen derer zu sagen, die ihre Schutzbefohlenen sind« (Morgenthau und Thompson 1993: 12). Da sie strukturell die Interessen ihrer eigenen Bevölkerung über die Menschenrechte stellen, können Demokratien illiberal sein. Daniele Archibugi weist darauf hin, dass, obwohl es keine Verbindung zwischen nationalstaatlicher und globaler Demokratie gibt, dennoch eine eindeutige Verbindung zwischen Frieden und Demokratie besteht (Archibugi 2008). Im fünften Kapitel werde ich versuchen, in dem Prinzip der Würde eine Erklärung dieses Phänomens 27 https://doi.org/10.5771/9783495860526 .
Die Muss-Vorstellungen der europäischen Integration
zu finden. Das Recht des Individuums auf den Schutz seiner Würde ist ein Prinzip, das schließlich einen Brückenschlag ermöglicht. Es ist sowohl mit der kosmopolitanen Norm der gleichen Achtung für jedes Individuum verbunden als auch mit der Demokratie, da diese das individuelle Recht gewährt, an der Gesetzgebung zu partizipieren. Würde, wie Immanuel Kant formulierte, wohnt selbstgegebenen Gesetzen inne. In Kontrast zu dem staatlichen Primat der Selbsterhaltung war das europäische Projekt von Anfang an universalistisch ausgerichtet. Als kategorischen Imperativ hatte es den Frieden zu seiner moralischen Grundlage. Seitdem haben sich die Gemeinschaften zu einem Wirtschaftsblock und einer ›humanitären Macht‹ entwickelt, die einer anderen Legitimationsgrundlage bedürfen. Nun ist durchaus strittig, was die EU ist, wie sie verstanden und gerechtfertigt werden kann. Auch wenn heutzutage die meisten Fachleute darin übereinstimmen, dass die EU kein Staat, zugleich jedoch mehr als eine internationale Organisation ist, ist unklar, worin dieses ›Mehr‹ besteht. Im Hinblick auf die Natur der EU gibt es etliche konkurrierende Konzeptionen. Besteht sie in einem Bund oder einem Staatenverbund*, einer Quasi-Föderation oder nur aus dem ›Völkerrecht plus …‹ und was wären die hieraus folgenden möglichen Entwürfe für eine Demokratie? Einige würden behaupten, dass die EU unter Bezug auf die (überwiegend) wirtschaftlichen Präferenzen der europäischen Nationalstaaten legitimiert werden kann (Moravcsik 1998), andere hingegen nehmen an, dass das europäische kollektive Eigeninteresse entscheidend ist und die EU deswegen zu einem Bundesstaat werden muss. Wiederum andere gehen davon aus, dass die EU zu einer Union wird, deren Aufgabe in dem Schutz von Minderheiten besteht sowie darin, eine Rolle bei der globalen Steuerung zu übernehmen. Diese Entwicklung der EU könnte dann auf einer kosmopolitanen Grundlage gerechtfertigt werden (Archibugi 1998; Held 2010; Beck und Grande 2004). Die letztere Rechtfertigung hat dabei Eingang in die EU-Verträge gefunden. Im Artikel 1a des Vertrages von Lissabon heißt es: »Die Werte, auf die sich die Union gründet, sind die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören.«
28 https://doi.org/10.5771/9783495860526 .
Das Ethos der Integration
Der Schutz von Grundrechten ist in der EU zentral geworden. Die vertragliche Anerkennung der Charta der Grundrechte der Europäischen Union im Jahr 2000 26 und der bevorstehende Beitritt der Union zu der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) 27 bekunden die Bedeutung von Rechten in der EU, die auf den Schutz der Würde abzielen. Dieses Werte-Fundament hat auch Eingang in die praktischen politischen Maßnahmen und Strategien gefunden: Das Wirken der EU politisch an bestimmte Richtlinien zu binden, wurde 1995 in Form der Menschenrechtsklausel 28 in allen Kooperationsabkommen zwischen EU und Nicht-EU-Ländern inkludiert (Art. 21 EUV). 29 Wir werden später sehen, dass, mit dieser Idee übereinstimmend, die EU besser als eine regionale kosmopolitane Ordnung verstanden werden sollte, denn als ein entstehender Bundesstaat. Über ein halbes Jahrhundert lang war Europa bemüht zu zeigen, dass es möglich ist, an die Stelle von Macht Recht zu setzen und die internationalen Beziehungen verbindlichen rechtlichen Abkommen zu unterwerfen. Da sich Europa selbst demokratischen Prinzipien verpflichtet, stellt es einen bedeutenden Beitrag für die Konstitutionalisierung einer Weltgesellschaft dar. 30 Dabei bildet der formale Gerechtigkeitsgrundsatz einen intrinsischen Bestandteil dieser Entwicklung. Dieser ist ein Grundsatz von Gleichbehandlung und rechtlicher Konsistenz und ist fest in den Freizügigkeits- und Nichtdiskriminierungsbestimmungen des EU-Rechts verankert. Diese Bestimmungen, ebenso wie auch die EU-Rechtsnorm der unmittelbaren Anwendbarkeit, erinnern an die kosmopolitane Feststellung, jedem Menschen komme der gleiche Wert zu und jeder habe den Anspruch auf Gleichbehandlung. Gerechtigkeitsgrundsätze sind Gleichbehandlungsprinzipien. Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Amtsblatt der Europäischen Union 364/2000. 27 Mit dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon wurde der Beitritt der EU zur EMRK rechtsverbindlich. 28 Die Ausdrücke Konditionalitätsklausel und Menschenrechtsklausel werden synonym als Sammelbegriffe für die Kombination aus einer Klausel, die die wesentlichen und fundamentalen Elemente bestimmt (Artikel 9 des Abkommens von Cotonou), und einer Aussetzungsklausel (Artikel 96 und 97 des Abkommens von Cotonou, Artikel 366a des Lomé-Abkommens), verwandt. 29 Siehe ebenso Saltnes 2013; Zaru 2011; Eriksen et al. 2003; von Bogdandy et al. 2012. 30 Heute stellen Rechte, deren Einhaltung durch Normenkontrollverfahren abgesichert wird, die wesentliche Komponente des Konstitutionalismus dar. 26
29 https://doi.org/10.5771/9783495860526 .
Die Muss-Vorstellungen der europäischen Integration
Der EuGH beansprucht nun, dass die Befolgung der EU-Regularien eine Vorbedingung der Gleichbehandlung der Bürger ist. Eine Minimaldefinition des Kosmopolitanismus lautet, dass es Personen seien, die von unhintergehbarem moralischem Wert sind – und nicht etwa Gruppen, Nationen oder Staaten. Der Status unhintergehbarer moralischer Wichtigkeit kommt entsprechend jedem Menschen gleichermaßen zu und dieser besondere Status hat weltweit Geltung. Personen sind von unhintergehbarem moralischem Wert für jeden (Pogge 2011: 215 f.). Jeder Mensch hat gleichen Wert und jedem gebührt die unparteiliche Prüfung seiner oder ihrer Ansprüche uns gegenüber. Habermas (2011b) zufolge ist die moralische Quelle der Menschenrechte die Menschenwürde – gleicher Wert und gleicher Achtung jeder Person –, die nur durch die Mitgliedschaft in einem sich selbst regierenden Gemeinwesen eingelöst werden kann. Der Anspruch auf Demokratie folgt aus den Menschenrechten, da nur die Mitgliedschaft in einem solchen Gemeinwesen Gleichheit und den Schutz des Rechts der Individuen auf Würde sicherstellen kann. Während die Menschenrechte universell sind und sich auf die Menschheit schlechthin beziehen, ist die Demokratie gegenwärtig auf bestimme Gemeinschaften von Rechtsgenossen begrenzt, die sich vereinigen, um bindende kollektive Entscheidungen zu treffen. Es besteht ein Spannungsverhältnis zwischen Demokratie und Menschenrechten, das nicht einfach durch ein Weltbürgerrecht aufgelöst werden kann. Da es keine Garantie hinsichtlich der rechtmäßigen Institutionalisierung und Partizipation gibt, kann die kosmopolitane conditio, die die Konstitutionalisierung des Völkerrecht erfordert, ihre Legitimität nicht aus dem Völkerrechtsregime selbst ziehen oder von der vermeintlichen Geltung humanitärer Normen. Menschenrechte, die den Schutz von Würde und Freiheit gewährleisten, stellen ein kontext-transzendierendes Prinzip dar, das einer angemessenen Institutionalisierung harrt. Unter menschenwürdigen Bedingungen zu leben, beinhaltet, dass man nicht willkürlicher Herrschaft unterworfen wird: Daher beinhaltet dieser Grundsatz, dass man in einer Republik lebt, die sich selbst regiert. Somit verlangt, wie schon erwähnt, die Gerechtigkeit die Demokratie. Kann es denn dann politische Ordnungen jenseits des Nationalstaats geben, die das Spannungsverhältnis zwischen Demokratie und Menschenrechten auflösen können? Die EU stellt ein faszinierendes Ex30 https://doi.org/10.5771/9783495860526 .
Warum Demokratie?
perimentarium dar, um diese Möglichkeit auszutesten. Sie gewährt den europäischen Bürgern das europäische Bürgerrecht; 31 sie räumt ihnen zahlreiche Rechte ein, die von den nationalen Gerichten, wie schwach auch immer, befolgt werden. Zusammen mit der Inkorporierung der Menschenrechtsbestimmungen in den nationalen Verfassungen beinhaltet dies, dass den Bürgern Rechte gewährt werden, die gegen die nationalen Verwaltungen in Anschlag gebracht werden können. Die Bürger sind nicht länger einzig Mitglieder eines Nationalstaates, sondern auch der EU und der internationalen Gemeinschaft.
Warum Demokratie? Warum wurde die Europäische Gemeinschaft schließlich zu einem eigenen Gemeinwesen, und zwar zu einem, bei dem die Demokratie einen der Verfassungsgrundsätze darstellt? Die Rekonstruktion der Normativität der EU hilft dabei, das Rätsel aufzuklären, dass, obwohl die postnationale Demokratie in Europa umstritten ist, sie dennoch zu einer Verfassungsnorm der EU gemacht wurde. Wie wir sehen werden, hat der Umstand, dass sich die Integration unter demokratischen Staaten vollzieht, eine rekursive Wirkung auf die EU selbst. Sie konnte nicht nach weniger streben, als es ihre Bestandteile tun. Denn es ist nicht konsistent, bei innerstaatlichen Angelegenheiten auf Demokratie zu pochen und dennoch auf der internationalen Ebene, in einem Kontext von Herrschaft und entpolitisierten Entscheidungsprozessen, den Wert der Demokratie zu verneinen. Auch könnte man dafür argumentieren, in modernen Staaten sei die Demokratie, aufgrund der Erosion von traditionellen oder religiösen Legitimationsgrundlagen im Zuge der Aufklärung, das einzig verbleibende Legitimationsprinzip von politischer Macht. »Obwohl die Demokratie bislang weder universell praktiziert noch tatsächlich universell akzeptiert wird, hat eine demokratische Governance im allgemeinen Klima der Weltöffentlichkeit den Status eines allgemeinen Rechts erlangt.« (Sen 1999: 5) 32 Artikel 8 des Vertrags von Maastricht lautet folgendermaßen: »Es wird eine Unionsbürgerschaft eingeführt. Unionsbürger ist, wer die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt.« 32 Siehe auch Fukuyama 2011; Buchanan 2002. 31
31 https://doi.org/10.5771/9783495860526 .
Die Muss-Vorstellungen der europäischen Integration
Akteure werden, indem sie demokratischen Verfahren unterworfen sind, in einen europäischen normativen Kontext eingebettet, den sie nicht kontrollieren. In diesem Kontext muss das politische Machtzentrum sich bewähren und in der Lage sein, gegenüber den Wählern, die es zur Rechenschaft ziehen können, umfassende und überzeugende Gründe für seine Existenz zu liefern. Die EU ist zu einer machtvollen Entität geworden und zwar zu einer, die europäische Kommandobrücken aufbaut. Es gibt in Europa einen transnationalen Kontext wechselseitiger Beeinflussung und Beeinträchtigung, der Forderungen nach Gerechtigkeit und Demokratie aufwirft. Aus diesem Grund gehe ich von Folgendem aus: Wenn die Integration einen Punkt erreicht hat, an dem die supranationalen Institutionen Einfluss über die Bürger und Staaten ausüben, wenn die EU mehr ist als eine internationale Organisation – also eine machtvolle Entität, die Beherrschungsverhältnisse etabliert –, dann taucht der Ruf nach einer europäischen Demokratie auf.
Beherrschung besteht in einer Herrschaft ohne Rechtfertigung, und das Recht, nicht willkürlich beherrscht zu werden, ist ein Grundrecht (Pettit 1999; Richardson 2002; Forst 2007). Akteure und Institutionen sind für die Folgen ihres vorsätzlichen Handelns verantwortlich. Darum werden den betroffenen Parteien, wenn ihnen ein Schaden zugefügt wird, Erklärungen, Rechtfertigungen und Kompensationen geschuldet (Habermas 2012c: 298). Die Idee deliberativer Demokratie beinhaltet, dass bei jeder politischen Entscheidung denjenigen die Gründe und Rechtfertigungen angemessen erklärt werden, die von ihnen betroffen sind. Die Machthaber haben die Pflicht, auf Forderungen der betroffenen Parteien zu antworten, die dann ein Recht darauf haben, für das, was ihnen widerfährt, eine Begründung zu erhalten. Da sie zusammen mit den ihnen korrespondierenden Pflichten in der Form zwangsbewehrter Rechte in einem politisch-rechtlichen Komplex institutionalisiert ist, ist diese Pflicht mehr als bloß ein moralischer Imperativ. Diese Annahmen bilden den Hintergrund dessen, was ich als institutionelle Variante der deliberativen Demokratie ansehe. Nämlich, das Bürgern im Lichte der Standards, die ihnen zugänglich sind, eine Rechtfertigung für die Ausübung politischer Macht geboten werden muss, die Überzeugungskraft hat. 33 Neue Formen von Autorität jen33
Während ich, wie wir noch sehen werden, annehme, dass die normative Kraft die-
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Rekonstruieren und Beurteilen
seits des Nationalstaats können nur dann legitimiert werden, wenn man sich eines Rechtsfertigungsschemas, das bereits in ihren konstitutiven Bestandteilen etabliert ist, bedient. Solche symbolischen Standards, über die eine allgemeine Einigung besteht, spiegeln sich in den Grundprinzipien des parlamentarischen Systems des demokratischen Rechtsstaats wider. Dadurch haben sie eine wichtige Rolle dabei gespielt, die Demokratie in den Vordergrund des Integrationsprozesses zu rücken. Ich werde diesen Punkt im dritten Kapitel näher erläutern. Die Theorie der Deliberation erklärt die realen Auswirkungen von Rechtfertigung und Begründung als ein kombiniertes Resultat der zwingenden Kraft des besseren Arguments und der rechtlichen Institutionalisierung kommunikativer Parität – von Freiheit und Gleichheit. Dieser Ansatz verlangt auch nach starken Institutionen; nach Mitteln und Möglichkeiten, Rechte wirklich werden zu lassen, politische Entscheidungen zu überwinden und grundlegend zu revidieren. Wie im vierten Kapitel näher diskutiert werden wird, kristallisieren sich gegenwärtig alternative Konzeptionen von Demokratie in Europa heraus. Diese unterscheiden sich in ihrer Antwort auf die Frage, auf welcher Ebene die demokratische Kerneinheit angesiedelt werden sollte – auf der nationalen, der transnationalen oder supranationalen Ebene. Im fünften Kapitel diskutiere ich die demokratischen Erfindungen, die durch den europäischen Integrationsprozess hervorgebracht wurden. Die EU stellt eine komplexe Struktur dar, die nur schwerlich durch die Rechtskategorien Statismus/Nicht-Statismus zu erfassen ist. Zu einem hohen Grad stellt sie einen Kompromiss zwischen unterschiedlichen Belangen dar; zudem handelt es sich bei ihr auch um eine Entität, die weiterhin in Bewegung ist.
Rekonstruieren und Beurteilen Die übergreifende Frage des vorliegenden Buchs richtet sich auf die grundlegende Natur der EU und wie diese legitimiert werden kann. ser Standards von den in ihnen enthaltenen moralischen Kernprinzipien herrührt, behaupten Kommunitaristen einfach, dass »die Werte, die die sozialen Praktiken von Menschen leiten, von den Teilnehmern durch Verfahren bestimmt werden sollten, die sich im Laufe der Zeit als für solche Entscheidungen adäquat herausgebildet haben« (Shapiro 2012: 308). Siehe auch Walzer 1983: 10 ff.; vgl. MacIntyre 1984: 181 ff.
33 https://doi.org/10.5771/9783495860526 .
Die Muss-Vorstellungen der europäischen Integration
Warum gibt es sie? Zu was ist sie gut? Um die Normativität der EU herausarbeiten zu können, werde ich die unvermeidbaren Voraussetzungen der Integration rekonstruieren. Dabei gehe ich davon aus, dass diese Voraussetzungen der Integration die Form normativer Imperative annehmen, die in der Deliberation zur Wirkung kommen – d. h. in einer auf eine Entscheidungsfindung abzielenden Rechtfertigung und Begründung. Um zu diesen Voraussetzungen vorzudringen, stelle ich mir, als methodologisches Hilfsmittel, den Integrationsprozess bis zu dem Vertrag von Lissabon so vor, als ob er sich durch einen Prozess der Deliberation vollzogen hätte; als ob der zwanglose Zwang des besseren Arguments (Habermas 1981: 52) am Werke gewesen wäre. Es ist also eine auf stilisierten Tatsachen beruhende Rekonstruktion, die aus der Perspektive von Akteuren durchgeführt wird, die sich selbst als Mitglieder einer rechtlich organisierten Gemeinschaft begreifen. Wenn Akteure in eine normative Situation gebracht werden, die sie nicht kontrollieren, wenn nicht gewählt werden kann und glaubhafte Drohungen fehlen, dann müssen diese Akteure aus Gründen der Handlungskoordination und zur Lösung weiterer Probleme das Recht befolgen und sich auf einen Begründungsprozess begeben. Um zu einer Einigung mit Akteuren zu gelangen, mit denen sie sich in einem Verhältnis wechselseitiger Abhängigkeit befinden, müssen sie ihre Handlungen erklären und rechtfertigen. Daher besteht das Ziel nicht darin, die ›Integration zu erklären‹, sondern aus einer distinkten Perspektive ihre normative Grundlage zu rekonstruieren. Im Folgenden versuche ich die Voraussetzungen der Integration aufzudecken, indem ich danach frage, worin Akteure normativ übereinstimmen müssen, damit eine Integration stattfinden und unter Bedingungen von Freiheit, Gleichheit und komplexer zwischenstaatlicher Interdependenz schließlich die Form, die sie angenommen hat, annehmen konnte. Um eine vollständige Erklärung des Integrationsprozesses, der konstitutionellen und institutionellen Struktur der EU liefern zu können, ist eine Untersuchung der zugrundeliegenden Muss-Vorstellungen unumgänglich. In sehr vereinfachter Weise könnte man sagen, dass es ohne dieses keine europäische Integration gäbe. Sie stellen die notwendigen, allerdings nicht hinreichenden Bedingungen der Integration dar. Sie sind notwendig, um Abkommen schließen, Probleme und Konflikte lösen zu können. Imperative liefern Akteuren Gründe, gegen ihre eigenen Interessen und die eigene Identität zu handeln, jedoch nur, wenn bestimmte Be34 https://doi.org/10.5771/9783495860526 .
Rekonstruieren und Beurteilen
dingungen gegeben sind; am wichtigsten ist dabei, dass die Akteure sich sicher sein können, dass auch die anderen beteiligten Parteien es ihnen gleichtun. Unter den Muss-Vorstellungen des europäischen Integrationsprozesses sind Werte wie Frieden, Demokratie, Unparteilichkeit und Würde, 34 und trotz ihres unbestimmten Charakters haben sie einen quasi-empirischen Status sowie eine quasi-empirische Kraft als Anforderungen an Akteure und ›institutionelle Einrast-Mechanismen‹ erlangt. 35 Normative Verbindlichkeiten sind zunehmend in Rechtssystemen und institutionellen Ordnungen präzisiert und verankert, was auch bei der sichtbar werdenden Konstitutionalisierung der Weltordnung beobachtet werden kann. Aufgrund der Fortentwicklung des Völkerrechts im Gefolge der Vereinten Nationen (UN) und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) sowie der Inklusion von Menschenrechtsklauseln in den Verfassungen der Nationalstaaten kann man davon sprechen, dass wir eine Kosmopolitanisierung der Staaten erleben. 36 Höherstufige, universalistische Prämissen der Konfliktlösung sind auf nationalen wie subnationalen Ebenen verankert. In Einklang mit dieser Entwicklung hinterfragen die Vertreter einer kosmopolitanen Demokratie den Begriff staatlicher Souveränität und argumentieren, indem sie Bezug auf das Werk von Hans Kelsen (1920, 1944) und anderen nehmen, das Konzept der Souveränität sei auf allen Ebenen durch das des Konstitutionalismus zu ersetzen. Damit meinen diese Autoren nicht, dass bereits eine globale Verfassung – ein kosmopolitanes Recht der Völker 37 – existiert, sondern dass es, kontrafaktisch, Da die europäische Integration sich stark um den freien Güter- und Kapitalverkehr dreht, würden manche vielleicht auch Eigentumsrechte in diese Liste aufnehmen. Diese bilden allerdings keinen Teil der oben stehenden Rekonstruktion, da die Reichweite und der Status von Eigentumsrechten umstritten sind. Man könnte zudem auch Solidarität in die Liste aufnehmen, worauf ich im letzten Kapitel zurückkommen werde. 35 Diese Werte lassen sich in Prozessen finden, in denen Forderungen erhoben, Entscheidungen und Verhältnisse angefochten und politisiert werden, aber auch in bestimmen Beschlussfassungsprämissen, die in rechtlichen und politischen Dokumenten niedergelegt sind. 36 Für die Idee eines ›Kosmopolitanismus in einem Land‹ siehe auch Niesen 2012. 37 Insofern sich Staaten allerdings selbst in einen Diskurs einbringen, gibt es tatsächlich eine wirksame völkerrechtliche Regelung (Koskenniemi 2005). Siehe ebenfalls die Debatte um die lex mercatoria und den transationalen Konstitutionalismus (FischerLescano und Teubner 2006). Siehe des Weiteren Kadelbach und Günther 2011 sowie Luhmann 1995: 571 ff.; Cohen 2012. 34
35 https://doi.org/10.5771/9783495860526 .
Die Muss-Vorstellungen der europäischen Integration
eine Ordnung gibt, die normative Legitimität anstrebt und die infolgedessen freistehende Standards der Beurteilung und Kritik etabliert. Der Konstitutionalismus ebnet den Weg für ein Entkoppeln der Demokratie von der Staatsform. Er ermöglicht ein Verständnis von demokratischen Kriterien, die weder den Staat noch die natio oder den demos oder irgendwelche anderen umfassenden Weltanschauungen voraussetzen. Die Legitimität politischer Ordnungen misst sich nun daran, ob sie den freistehenden Standards der Nicht-Beherrschung 38 entsprechen oder nicht. Es sind nun auch diese Standards der Nicht-Beherrschung, aus deren Perspektive ich in dem vorliegenden Buch die Rekonstruktionen des europäischen Integrationsprozesses und seiner Normativität vornehmen werde. Beherrschung bezeichnet »Un-Freiheit«, und zwar in dem Sinne, dass Menschen der »Macht anderer« unterliegen; sie umgibt der »Hauch von Unrechtmäßigkeit« und kann durch politisches Handeln verändert werden, insbesondere durch die Demokratisierung von Institutionen, die über große Macht verfügen (Shapiro 2012: 307 ff.). 39 Die Demokratisierung beinhaltet die Prinzipien der Autonomie und der Rechenschaftspflicht. Autonomie beschreibt dabei das grundlegende demokratische Prinzip, dass jene, die durch Gesetze betroffen sind, auch dazu autorisiert sein sollten, sie zu erlassen. Diesem Kriterium wohnt die Möglichkeit parlamentarisch-demokratischer Institutionen inne, in einer solchen Weise auf die öffentliche Meinung und Debatte zu reagieren, dass die Entwicklung der politischen Gemeinschaft so verstanden werden kann, als würden die Bürger direkt sich selbst regieren. Das Prinzip der Rechenschaftspflicht bezeichnet ein Verhältnis, in dem die Entscheidungsträger von der Bürgerschaft zur Verantwortung gezogen werden können und in dem, im schlimmsten Fall, es möglich ist, inkompetente Regierungsmitglieder abzusetzen. Seine Basis liegt in dem Recht der Öffentlichkeit, eine angemessene Rechtfertigung und Begründung der Handlungen der Funktionäre und anderer Amtsträger zu erhalten. Dabei erfordert dieses Prinzip Transparenz und Die Idee der Freiheit im Sinne von Nicht-Beherrschung bezieht sich auf die Verfassung der zwischen Akteuren bestehenden Beziehungen und stellt damit eine Alternative sowohl zu den libertären als auch zu den ergebnisorientierten Freiheitskonzeptionen dar (Schink 2013: 228). 39 Beherrschung entsteht aus dem illegitimen Gebrauch von Macht, wobei ich hierunter auch Formen nicht-autorisierter und nicht-rechenschaftspflichtiger Machtverhältnisse jenseits des Nationalstaats fasse. 38
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Überblick des Buchs
Offenheit wie auch Aktivität auf Seiten der Regierten, aber sicherlich auch, dass auf ein Fehlverhalten angemessen reagiert wird. Es bezieht sich auf ein Verhältnis, das eher multilateral denn unilateral ist, eher dialogisch denn monologisch. Somit hat dieses Prinzip auch einen deliberativen Charakter, da die Deliberation eine Zweiweg-Kommunikation zwischen den Repräsentanten und den Repräsentierten beinhaltet, in der beide Seiten Fragen stellen und Antworten geben. Der Kern der Rechenschaftspflicht besteht in der Rechtfertigung und der Kern der Rechtfertigung wiederum in guten Argumenten. In ihrer Quintessenz besteht sie in einer Verpflichtung gegenüber der Öffentlichkeit, gute Argumente für die eigenen Urteile, Entscheidungen und Handlungen zu liefern (Grimen et al. 2012).
Überblick des Buchs Schon seit längerem gibt es ein akademisches Ringen um die Frage, wie man den europäischen Integrationsprozess erklären kann. Wird er einzig von den Staaten, die ihre Handlungen koordinieren und ihre Probleme effizient lösen müssen, vorangetrieben – oder beschwört er den Anspruch der Föderalisten auf ein vereinigtes und demokratisches Europa herauf? In dem vorliegenden Buch nun schlage ich eine alternative Herangehensweise vor, die darauf abzielt, die Voraussetzungen der Integration zu rekonstruieren. Es mag zutreffen, dass das »föderalistische Projekt von Anfang an dem Untergang geweiht war. In Ermangelung eines europäischen demos würde es einer europäischen Föderation an den materiellen und normativen Ressourcen fehlen, um die Versorgung mit denjenigen öffentlichen Güter zu gewährleisten, die die Leute mittlerweile von dem Staat, ob nun zentralistisch oder föderal, erwarten« (Majone 2005: 218). Wenn dem so ist, wie erklärt man aber dann den tatsächlich erreichten Grad der Integration? Im zweiten Kapitel werde ich die Muss-Vorstellungen der Integration diskutieren. Dabei werde ich zunächst die Unzulänglichkeiten der vorherrschenden Perspektiven auf die europäische Integration erörtern, wenn es um das Problem der Erklärung der Abtretung von Souveränitätsrechten geht. Im Anschluss werde ich einen pragmatischen Ansatz reflexiver Integration darlegen. Dies dient dazu, herauszufinden, ob man auf einer besseren Grundlage eine Erklärung der europäischen Integration liefern kann, ohne dabei einen demos 37 https://doi.org/10.5771/9783495860526 .
Die Muss-Vorstellungen der europäischen Integration
und die Existenz harter Durchsetzungsmittel, die etwa auf militärischer oder ökonomischer Macht beruhen, vorauszusetzen. Nun tritt in einer Situation, in der Entscheidungen getroffen werden, die beteiligten Akteure zu einem gemeinsamen Entschluss kommen müssen und es zudem kein Machtmonopol gibt, das Prinzip der Deliberation als eine Muss-Vorstellung der Handlungskoordinierung in den Vordergrund. In einem deliberativen Kontext spielt eine Gerechtigkeit im Sinne von Unparteilichkeit, die in den Anti-Diskriminierungs- und den Freizügigkeitsbestimmungen der EU institutionalisiert ist, eine wichtige Rolle als allgemein anerkannte Norm des Entscheidungsprozesses. Im dritten Kapitel schlage ich vor, die grundlegenden Sprachkodizes des demokratischen Rechtsstaats als ein weiteres Set von Voraussetzungen der europäischen Integration zu verstehen. Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte sowie die mit ihnen verbundenen Prinzipien der Gewaltenteilung, Wahlen und Rechenschaftspflicht von Regierungen stellen die diskursiven Kodizes der politischen Institutionen dar, die der gemeinsamen Verfassungstradition der EU-Mitgliedsstaaten entspringen. Als Mittel der Lösung gemeinsamer Probleme sind sie tief in der paneuropäischen, westlichen politischen Kultur verwurzelt. Diese Kodizes erhellen das Rätsel, dass die europäische parlamentarische Demokratie in den Mittelpunkt gerückt ist, obwohl Idee und Möglichkeit einer post-nationalen Demokratie umstritten sind. Im vierten Kapitel analysiere ich, wie die EU in demokratischen Begriffen verstanden werden kann, aber auch, warum viele der zur Debatte stehenden Alternativen Sackgassen darstellen. Das heutige Europa ist durch eine komplexe Interdependenz gekennzeichnet, die in einer sich auf mehrere Ebenen erstreckenden Struktur politischer Steuerung und Koordination (Governance) eingelassen ist. Wie würde in der heutigen, eng zusammenhängenden Welt ein demokratisches Europa aussehen können? Hier diskutiere ich vier Alternativen. Der Standardlösung zufolge würde sich die EU zu einem föderalen europäischen Staat entwickeln, in dem die Nationalstaaten in Gliedstaaten, ähnlich der deutschen Bundesländern, übergehen würden. Wenn nun die EU bereits mehr ist als ein durch das Völkerrecht reguliertes zwischenstaatliches Arrangement, jedoch daran gehindert wird, sich zu einem Föderalstaat zu entwickeln, welche Optionen stehen uns dann noch zur Verfügung? Die in zwei Varianten auftretende intergouvernementale Alternative beinhaltet einen Rückbau der EU. 38 https://doi.org/10.5771/9783495860526 .
Überblick des Buchs
Sowohl was die Fähigkeit zur Problemlösung angeht als auch hinsichtlich der demokratischen Selbstbestimmung würde ein solcher Rückbau allerdings mit schwerwiegenden Einbußen für die Mitgliedstaaten einhergehen. Willkürliche Herrschaft würde zunehmen. Transnationalisten und Kosmopolitaner, deren Lösung in transnationalen Strukturen der politischen Steuerung und Koordination besteht, hingegen hinterfragen kritisch Positionen, die auf der Existenz von Nationalstaaten beruhen. In diesen Ansätzen wird danach gefragt, ob nicht die Demokratie von ihrer vermeintlichen Fundierung im Nationalstaat getrennt werden kann. Jedoch ist auch diese Alternative eine Sackgasse, da Beherrschungsstrukturen nicht durch Netzwerke politischer Steuerung und Koordination einfach gekapert werden können. Um Beherrschungsverhältnisse zu verhindern, bedarf es vielmehr starker Institutionen. Um den bis dahin identifizierten Problemen begegnen zu können, mache ich mich im fünften Kapitel daran, ein neues Modell der Mehrebenen-Konstellation, die die EU ausmacht, zu entwerfen. Dieses Modell definiert die EU als eine regionale Unterorganisation einer kosmopolitanen Ordnung. Dabei versteht das vorliegende Buch, im Widerspruch zu Habermas’ Vorschlag einer Föderation von Nationalstaaten, die EU als ein regionales kosmopolitanes Gebilde. Sie ist eine nicht-staatliche Quasi-Föderation, die auf demokratische Innovationen zurückgreifen kann, die der europäische Integrationsprozess hervorgebracht hat. Diese Innovationen kann man an etlichen neuen Arrangements erkennen, wie etwa der Verschmelzung verschiedener Verfassungstraditionen (hierunter versteht man die Entstehung einer neuen Rechtsordnung etwa durch die Fusionsverträge, der verschiedene nationalstaatliche rechtliche Kompetenzen untergeordnet sind), der geteilten Souveränität, einer staatenlosen Regierung, einer parlamentarischen Verflechtung sowie einem mehrstufigen öffentlichen Bereich. Zusammengenommen bilden diese Innovationen einige funktionale Äquivalente nationalstaatlicher Demokratie. Das bestimmende Merkmal dieser Ordnung ist nicht Souveränität und Selbstbestimmung, sondern Ko-Mitgliedschaft und Mit-Bestimmung. Im sechsten Kapitel schließlich ziehe ich ein Resümee und stelle in Bezug auf die gegenwärtige Krise der Eurozone einige Überlegungen an, wobei ich aus der Perspektive der Solidarität, die das fehlende Bindeglied der Normativität der EU ist, argumentieren werde. Da die EU auf eine Gesellschaft abzielt, die nicht mehr auf Demütigung beruht, bringt sie in vielerlei Hinsicht den großen europäischen Zivili39 https://doi.org/10.5771/9783495860526 .
Die Muss-Vorstellungen der europäischen Integration
sationsprozess voran. Allerdings kommt es durch die Art und Weise, wie die europäischen Institutionen ihre Bürger bei der Handhabung der Krise der Eurozone behandeln, wieder erneut zu einer auf Demütigung beruhenden Politik. Die Bewältigung der Krise der Eurozone ist indessen zu einer Frage der Gerechtigkeit geworden, da einige von demselben Wirtschaftsregime profitieren, andere hingegen unter ihm leiden. Es gibt von daher Gründe für eine Solidarität. Eine europäische Solidarität ist nicht etwas, was die Forderungen der Gerechtigkeitspflichten übersteigen würde.
40 https://doi.org/10.5771/9783495860526 .
2. Ein Supranationalismus auf freiwilliger Basis
»Die Union bietet ihren Bürgerinnen und Bürgern einen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts ohne Binnengrenzen, in dem – in Verbindung mit geeigneten Maßnahmen in Bezug auf die Kontrollen an den Außengrenzen, das Asyl, die Einwanderung sowie die Verhütung und Bekämpfung der Kriminalität – der freie Personenverkehr gewährleistet ist.« (Vertrag von Lissabon, Artikel 2.2)
Dieses Kapitel findet seinen Ausgang in dem Phänomen, dass supranationale Institutionen, die doch die Autonomie und Souveränität der Nationalstaaten einschränken, von diesen Staaten freiwillig geschaffen wurden. Für die etablierten theoretischen Ansätze hinsichtlich der Herausbildung von Staaten und staatsähnlichen Gemeinwesen stellt der europäische Integrationsprozess ein Rätsel dar. Ohne dass sie dazu ›gezwungen‹ worden wären, haben demokratische Nationalstaaten ihre Souveränität zusammengelegt und haben damit ein politisches Gebilde geschaffen, dessen demokratische Berufung es, wenn es um die Loyalität der Bürger geht, durchaus in Konkurrenz zu ihnen treten lassen könnte. Dieser Prozess vollzog sich dabei innerhalb eines Systems, das weder über die zentralen physischen Zwangsmittel, die wir mit einem souveränen Staat assoziieren, verfügt noch über eine eigenständige Identität, die eine Grundlage für Vertrauen und Folgebereitschaft abgeben würde. Im Allgemeinen wird eine Integration als ein Prozess definiert, in dem Akteure ihre Loyalitäten und Handlungen zu einem neuen Zentrum hin verlagern, das autorisiert ist, Interessen zu regulieren und Ressourcen zuzuteilen. Wie ist dies möglich, wenn die üblichen Integrationsressourcen, wie etwa territoriale Kontrolle und kollektive Identität, knapp sind? Das heißt, wenn eine Integration nicht qua Macht durchgesetzt oder aufgrund einer geteilten Identität motiviert werden kann? Einer Lesart zufolge wurde die europäische Integration durch 41 https://doi.org/10.5771/9783495860526 .
Ein Supranationalismus auf freiwilliger Basis
kühne Initiativen engagierter europäischer Führungspersönlichkeiten bewirkt und im Wesentlichen aus ökonomischen Gründen von den entsprechenden Interessensgruppen unterstützt. Somit würde sie ein Eliten-Projekt darstellen, das auf Bereiche begrenzt war, die für die entsprechenden Eliten von gemeinsamem Interesse gewesen sind. Konflikte hinsichtlich der Ausdehnung der Kompetenzen der Gemeinschaft wären schließlich im Zuge komplexer Verhandlungen auf Regierungskonferenzen (RKs) beigelegt worden, wo zu später Stunde und hinter verschlossenen Türen in Bezug auf Vertragsänderungen Abmachungen getroffen worden wären. Dies spiegele die Konstellation von Zwängen und Möglichkeiten wider, die interdependente Staaten in einem weitgehend auf Selbsthilfe beruhenden internationalen System 40 hätten bzw. mit denen sie konfrontiert wären. Während es nun eine ganze Reihe unterschiedlicher Ansätze im Hinblick auf die Erklärung des europäischen Integrationsprozesses gibt – wie etwa Theorien rationaler Entscheidung (rational choice), (Neo-)Funktionalismus, verschiedene Spielarten des Kommunitarismus und der deliberativen Theorie –, sind die Theorien rationaler Entscheidung sicherlich vorherrschend. Eine Variante von ihnen geht nun davon aus, der Integrationsprozess sei wesentlich durch asymmetrische Machtverhältnisse bedingt und systemische Zwänge würden ihn in einer ökonomischen Richtung vorantreiben. 41 Diese Art der Kooperation werde dabei durch Institutionen, die eher einer zwischenstaatlichen, denn einer supranationalen Logik folgten, gestützt. Die ungleiche Verteilung von Ressourcen – Macht – zwischen den Mitgliedsstaaten stelle den entscheidenden Faktor bei der Entscheidungsfindung dar. Zudem müsse man nicht die Existenz postnationaler Identitäten postulieren, um den Integrationsprozess zu verstehen, da diese nicht erforderlich seien, um die Beziehungen auf dem gegenwärtigen Niveau der Integration zu stabilisieren. Zweifellos spielen bei politischen Integrationsprozessen die strategischen Berechnungen eines wechselseitigen Vorteils eine große Hierunter wird das durch das klassische Völkerrecht ermöglichte Staatensystem verstanden, in dem der gleiche Status souveräner Staaten sowie die Unabhängigkeit eines Staates von äußerer Einmischung garantiert wurde. 41 »Die europäische Integration dient als Beispiel einer spezifisch modernen Form der Machtpolitik. Diese wird aus überwiegend wirtschaftlichen Gründen von demokratischen Staaten durch die Ausbeutung asymmetrischer Interdependenzen und die Manipulation institutioneller Verpflichtungen auf friedlichem Wege verfolgt.« (Moravcsik 1998: 5) 40
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Ein Supranationalismus auf freiwilliger Basis
Rolle. Es ist jedoch unzureichend, den Integrationsprozess einzig als ein Ergebnis des strategischen Verfolgens von nationalen Vorteilen anzusehen. Denn wie können ungleich aufgestellte Regierungen, die jeweils ihre eigenen Wirtschaftsinteressen verfolgen, in rationaler Weise miteinander verhandeln und dennoch zu einem System mit gewissen demokratischen Eigenschaften kommen? Dazu kommt, dass ein auf Theorien rationaler Entscheidung basierender intergouvernementalistischer Erklärungsansatz sich vor allem auf zwischen den starken Staaten geschlossene sogenannte Grand Bargains, d. h. themenübergreifende Kompromisse, fokussiert. Diese sind qua Definition intergouvernemental, von daher beantwortet dieser Ansatz die Frage, ob die EU intergouvernemental oder supranational ist, schon durch die Wahl seiner Forschungsmethodologie (Sweet und Sandholz 1998: 12; Garrett und Tsebelis 1996). Auf der anderen Seite geraten jedoch auch jene Ansätze in Probleme, die nach einer europäischen Identität verlangen, die auf präpolitischen Werten und einem Gemeinschaftsgefühl gründet. Auf Gefühlen basierende Haltungen, Solidarität oder patriotische Gesinnung sind wichtig für eine Integration, können allerdings kaum die Grundlage einer stabilen politischen Ordnung darstellen. Max Weber zufolge können »Sitte oder Interessenslage so wenig wie rein affektuelle oder rein wertrationale Motive der Verbundenheit (…) verläßliche Grundlagen einer Herrschaft darstellen« (Weber 1921/1972: 122). Ohne eine entwickelte Legitimationsbasis, die auf einer rationalen Rechtsgrundlage basiert, wird solch eine Ordnung instabil sein. In richtiger Weise institutionalisiert, hat eine Rechtsordnung die Autorität, ihre Befolgung zu erzwingen, und zwar ohne auf rohe Gewalt – die Androhung physischer Sanktionen – zurückgreifen zu müssen. In der EU fehlt jedoch nicht nur eine kollektive Identität, sondern eben auch weitgehend die Möglichkeit der Androhung von direkten Durchsetzungsmaßnahmen, da die Mitgliedsstaaten sich weiterhin das Gewaltmonopol vorbehalten. Die Theorie der demokratischen Deliberation wiederum geht von der Fähigkeit der Akteure aus, reflexiv in einen Rechtfertigungsprozess einzutreten und ihre Interessen, Präferenzen und Handlungspläne mit argumentativen Mitteln, d. h. indem sie Wissensansprüche erheben, zu harmonisieren. Diese Herangehensweise stellt nicht nur eine Alternative zu dem auf der Theorie rationaler Entscheidung 42 42
Dieser Ansatz stellt auch eine Alternative zu der neofunktionalistischen Perspekti-
43 https://doi.org/10.5771/9783495860526 .
Ein Supranationalismus auf freiwilliger Basis
basierenden intergouvernementalen Ansatz dar, sondern auch zu der kommunitaristischen Position, die davon ausgeht, für eine Integration sei ein demos mit einer stark entwickelten Identität – einem europäischen Gemeinschaftsgefühl – notwendig. In dem vorliegenden Kapitel setze ich mich mit dem theoretischen Rätsel der Integration auseinander, dass Staaten aus freien Stücken Souveränitätsrechte an eine supranationale Vereinigung abtreten.
Das Rätsel der supranationalen Integration Bei einer Integration dreht es sich darum, eine kohärente und stabile Interaktionsstruktur zwischen Parteien zu schaffen, die nicht notwendigerweise schon stark entwickelte gemeinsame Interessen haben. Dabei müssen vielfältige Interessen und Werte koordiniert werden, damit diese schließlich zu der Stabilität einer Ordnung beitragen, anstatt sie zu unterminieren. Um die Schaffung einer Einheit zu ermöglichen, müssen Interessen entsprechend integriert und unterschiedliche Handlungspläne harmonisiert werden. Die politische Ordnung muss selbsterhaltend sein, d. h. sie muss die Ressourcen für die Integration selbst bereitstellen. »Eine politische Integration kann man als den Prozess definieren, mittels dessen politische Akteure aus unterschiedlichen nationalen Kontexten überzeugt werden, ihre Loyalitäten, Erwartungen und politischen Handlungen zu einem neuen Zentrum hin zu verlagern, dessen Institutionen die Jurisdiktion über die vorher existierenden Nationalstaaten bereits haben oder aber anstreben. Ein politischer Integrationsprozess hat eine neue politische Gemeinschaft als Endergebnis, die die vorher existierende überlagert.« (Haas 1958: 16)
Man muss jedoch eine politische Integration nicht als die Überlagerung einer politischen Ordnung durch eine andere begreifen. Stattdessen kann man sie auch als ein kumulatives Muster der Anpassung verstehen, indem Akteure sich um eine Einigung bemühen und davon absehen, Vorschläge einfach mit einem Veto zurückzuweisen – bzw. sind solche Veto-Rechte einfach nicht erlaubt. 43 Bei einer politive eines ›unreflektierten‹ Übertragungsprozesses von ›niedriger‹ auf ›hohe Politik‹ dar (Haas 1961). 43 In ähnlicher Weise hat Karl Deutsch die Integration definiert. Diese sei die »Verwirklichung eines ›Gemeinschaftssinns‹ innerhalb eines Gebiets sowie von Institutio-
44 https://doi.org/10.5771/9783495860526 .
Das Rätsel der supranationalen Integration
schen Integration handelt es sich um einen Prozess, in dem Loyalitäten von eng umgrenzten Bezugsrahmen zu größeren hin verschoben werden. Es handelt sich also um den Aufbau von Gemeinschaften und die Erweiterung der Grenzen von Loyalität und Solidarität. Man muss allerdings beachten, dass dies nicht unbedingt die Transformation einer losen Sammlung von Akteuren zu einer festen Gruppe mit einer klar umrissenen Kollektividentität impliziert. Damit eine politische Integration stattfinden kann, müssen bis dato diversifizierte Verhaltensmuster wie auch Spaltungen zwischen den vormals autonomen Einheiten überwunden werden und in einer stabilen politischen Struktur zusammengebracht werden. Diese Muster können dabei teilweise ökonomischen Charakter haben, teilweise sozialen und teilweise politischen. Tatsächlich ist die EU heutzutage in vielen Bereichen eine übergeordnete politische Gemeinschaft. Um dieses supranationale Gebilde zu ermächtigen, im Namen aller zu handeln, haben die Nationalstaaten aus freien Stücken ihre Souveränität und Autonomie eingeschränkt. Der Europäische Gerichtshof hielt dazu fest: »Durch die Gründung einer Gemeinschaft für unbegrenzte Zeit, die mit eigenen Organen, mit der Rechts- und Geschäftsfähigkeit, mit internationaler Handlungsfähigkeit und insbesondere mit echten, aus der Beschränkung der Zuständigkeit der Mitgliedsstaaten oder der Übertragung von Hoheitsrechten der Mitgliedsstaaten auf die Gemeinschaft herrührenden Hoheitsrechten ausgestattet ist, haben die Mitgliedsstaaten ihre Souveränitätsrechte beschränkt und so einen Rechtskörper geschaffen, der für ihre Angehörigen und sie selbst verbindlich ist.« 44
In dieser immer noch umstrittenen Entscheidung aus dem Jahr 1964 setzte sich die Gemeinschaft als ein supranationales Gebilde konstitutioneller Natur. Die Europäischen Verträge hatten somit die Funktion einer übergeordneten rechtlichen Struktur erhalten. Sie schufen sowohl eine einheitliche, von den nationalstaatlichen unterschiedene europäische Bürgerschaft als auch ein Set autonomer europäischer Körperschaften: die Europäische Kommission, den Europäischen Rat, nen und Praktiken, die stark und breitgefächert genug sind, um auf ›lange‹ Zeit hin verlässliche Erwartungen einer ›friedlichen Veränderung‹ in der Bevölkerung sicherzustellen.« (Deutsch, zitiert nach Wallace 1990: 9). 44 Kursivierung durch den Autor. Urteil des Gerichtshofes vom 15. Juli 1964. Antrag auf Vorabentscheidung im Sinne von Artikel 177 des EWG-Vertrags, enthalten im Beschluss des Friedensgerichts in Mailand vom 20. Februar 1964 in der anhängigen Streitsache Flaninio Costa gegen E.N.E.L. – Rechtssache 6–64.
45 https://doi.org/10.5771/9783495860526 .
Ein Supranationalismus auf freiwilliger Basis
den Rat der Europäischen Union, den Europäischen Gerichtshof und das Europäische Parlament. Diese Institutionen machen das europaweite Recht und sind dabei nur der Union selbst verpflichtet. Im Unterschied zu einer internationalen Organisation verfolgt die EU ihre Angelegenheiten nicht durch Diplomatie oder primitives Feilschen, sondern durch ein Set von Institutionen und Verfahren, das vorrangige Geltung gegenüber dem nationalen Recht beansprucht. Auf diese Weise wurde das zentralste Element des Völkerrechts und das bestimmende Charakteristikum internationaler Organisationen – die alleinige Verantwortlichkeit der Staaten – überstiegen. »[D]er zentralste Rechtsartefakt des Völkerrechts: die Vorstellung (und offizielle Doktrin) einer exklusiven staatlichen Verantwortlichkeit, mit den sie begleitenden Prinzipien der Reziprozität und Gegenmaßnahmen, lassen sich nicht mehr in der Rechtsordnung der Gemeinschaft finden« (Weiler 1991: 2422). In Europa sind wir Zeuge eines Konsolidierungsprozesses und der Entstehung ›unilateraler‹ Institutionen geworden, die nun das Potenzial besitzen, die Präferenzen und Interessen der Nationalstaaten außer Kraft zu setzen. Wie im vierten Kapitel ausgeführt werden wird, hat sich die EU über das Völkerrechts-System der Selbsthilfe und des Prinzips, Gleiches mit Gleichem zu vergelten, hinausentwickelt. Den europäischen Staaten ist es nicht erlaubt, andere europäische Staaten, die die geltenden Normen oder Verträge verletzen, selbst zu sanktionieren, stattdessen müssen sie sich an den Europäischen Gerichtshof wenden. Dies bedeutet, dass sich die EU über das System der internationalen Beziehungen und dessen im Intergouvernemantalismus liegender Legitimationsbasis hinaus entwickelt hat (vgl. Lord 2011: 86). Im Allgemeinen wird angenommen, die Legitimität internationaler Verhandlungen hinge von Pareto-Verbesserungen ab. Das auf den italienischen Ökonomen Vilfredo Pareto zurückgehende Kriterium beinhaltet, dass einzig Entscheidungen, die für niemanden unvorteilhaft sind und die mindestens eine der beteiligten Parteien besser stellen, getroffen werden sollten. Aus diesem Grund bietet es sich als Legitimationskriterium für internationale Verhandlungen an: So lange es also durch die Eliminierung negativer Externalitäten Effizienzgewinne gibt, sollten Akteure (bestimmte Bedingungen vorausgesetzt) in der Lage sein, diese Gewinne zu realisieren. Die EU ist zu mehr denn Pareto-Verbesserungen in der Lage. In vielen Bereichen haben die Nationalstaaten ihre Veto-Rechte aufgegeben und haben 46 https://doi.org/10.5771/9783495860526 .
Das Rätsel der supranationalen Integration
akzeptiert, dass sie in Wahlen überstimmt werden können. Nicht nur um der Kooperation mit anderen Staaten willen haben sie Einschränkungen ihrer Souveränität akzeptiert –, sondern auch um »eine Rechtsordnung« zu schaffen, »die den Frieden und die Gerechtigkeit unter den Völkern gewährleistet«. Aus diesem Grund werden, wie es etwa im Artikel 11 der italienischen Verfassung heißt, »die auf diesen Zweck gerichteten überstaatlichen Zusammenschlüsse« gefördert und begünstigt. Alle Gründungsmitglieder der Europäischen Gemeinschaften wurden nach dem Zweiten Weltkrieg als demokratische Staaten mit einer starken Betonung der Menschenrechte und des Völkerrechts wiederaufgebaut und banden sich qua verfassungsgebender Macht des Volkes an das Unterfangen der europäischen Vereinigung. Eine noch engere Union zwischen den Völkern Europas wurde in dem Vertrag von Rom (1957) ins Auge gefasst. Schon damals übertrugen die Mitgliedsstaaten einer internationalen Körperschaft weit mehr Kompetenzen, als im Völkerrecht üblich. »Rechtlich gesehen war von Anfang an klar, dass der EWG-Vertrag von 1957, wie zuvor auch der EGKS-Vertrag von 1951, eine besondere, supranationale Organisation mit konstitutionellem Charakter geschaffen hat« (Pernice 2009: 369). Seit dieser Zeit haben viele neue Verträge, wie auch Gesetzgebung, Rechtsauslegung und -praxis, zu einem gewaltigen Transfer von Kompetenzen auf die europäische Ebene geführt. Heute gibt es auf der nationalstaatlichen Ebene nahezu keinen Politikbereich und nichts von öffentlichem Belang, was durch die Union unangetastet geblieben ist. Die EU ist supranational und hat durchaus die Fähigkeit, ihre konstituierenden Parteien zu kontrollieren und sich über sie hinwegzusetzen. Es lässt sich eine Bewegung über die westfälische Ordnung hinaus feststellen, d. h. über eine internationale Ordnung hinaus, die auf den Grundsätzen der Ko-Existenz und Nichteinmischung zwischen souveränen Staaten, mit den damit einhergehenden Prinzipien der Selbsthilfe, gegründet ist. 45 Aber wie ist dies möglich, wenn die Europäische Union doch ein Gemeinwesen ist, das über keine Zwangsbefugnisse verfügt; wenn ihr echte hierarchische Rechtsprinzipien und wirkmächtige Durchsetzungsmittel fehlen? Der europäi»Internationale Abkommen inter se, d. h. zwischen zwei oder mehreren Mitgliedsländern der EU, sind zulässig, allerdings nur innerhalb der Grenzen, die durch die durch das EU-Recht entstehenden Verpflichtungen festgelegt worden sind« (De Witte 2013: 13).
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47 https://doi.org/10.5771/9783495860526 .
Ein Supranationalismus auf freiwilliger Basis
sche Integrationsprozess stellt ein Rätsel für die etablierten Theorien dar, da die Mitgliedsstaaten Teile ihrer Souveränität abgetreten haben, ohne dazu gezwungen worden zu sein – und zwar an ein Gebilde, dessen demokratische ›Berufung‹ es, wenn es um die Loyalität der Bürger geht, in Konkurrenz zu den Nationalstaaten treten lassen könnte. Dieser Prozess fand innerhalb eines Systems statt, dem anfänglich jegliche Zwangsgewalt fehlte und das auch auf keine eigene Identität zurückgreifen konnte, um eine Regelbefolgung zu gewährleisten. In einer Situation nun, in der interdependente Akteure zu einer gemeinsamen Entscheidung kommen müssen und es kein Gewaltmonopol gibt, tritt eine Deliberation in Verbindung mit dem Recht in den Vordergrund. Diese spielt eine entscheidende Rolle dabei, das Problem kollektiven Handelns und der Nichtbeachtung von Beschlüssen und Gesetzen zu überwinden. Bevor ich diese Punkte weiter untersuche, werde ich klarer veranschaulichen, worin die zu erklärende Problematik genau besteht und wo die Schwierigkeiten bei den Lösungen, die die Ansätze der rationalen Entscheidung respektive des Kommunitarismus anbieten, liegen.
Die Bewältigung des Problems kollektiven Handelns Das Grundproblem von Integration – das in der Abtretung von Souveränitätsrechten besteht – stellt sich als Problem kollektiven Handelns dar. Es ergibt sich aus den Schwierigkeiten, die mit der freiwilligen Bereitstellung eines öffentlichen Guts verbunden sind, d. h. eines Guts, dessen Konsumtion per Definition nicht auf diejenigen beschränkt werden kann, die es herstellen. Wie kann man Akteure zu einer Kooperation bewegen und davon abhalten, ›auf dem Trittbrett zu fahren‹, d. h. ein Gut zu nutzen, ohne zu dessen Existenz beizutragen? Wenn der Zugang zu einem öffentlichen Gut – wie etwa Frieden, Freizügigkeit, ein gemeinsamer Markt – nicht auf diejenigen beschränkt werden kann, die das Gut bereitstellen, dann haben rationale Akteure einen Anreiz, nicht zu kooperieren. Dies liegt daran, da, im Falle, sie tragen zu der Produktion eines solchen Guts bei, sie riskieren, mehr beizutragen, als sie schließlich erhalten und sie sich so in die Position des ›Dummen‹ bringen (Axelrod 1984). Zwar würden alle Mitglieder einer Gruppe von einem öffentlichen oder Kollektivgut profitieren, jedoch wäre es für den einzelnen Akteur sogar noch profitabler, wenn andere das Gut bereitstellen würden und sie selbst eben 48 https://doi.org/10.5771/9783495860526 .
Die Bewältigung des Problems kollektiven Handelns
Trittbrettfahren könnten. Die Bereitschaft, zu der Bereitstellung der öffentlichen Güter beizutragen, hängt von der Einschätzung des einzelnen Akteurs ab, wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, dass andere in gleicher Weise motiviert sind und eben nicht abtrünnig werden, d. h. ihrerseits ›auf dem Trittbrett fahren‹. Die Aufgabe besteht entsprechend darin, kooperative Übereinkommen zu etablieren, und zwar dergestalt, dass jeder erkennt, dass alle mehr erreichen, wenn sie von egoistischen Strategien Abstand nehmen. Um in größeren Kollektiven das Problem kollektiven Handelns zu lösen, ist es erforderlich, dass Souveränitätsrechte abgetreten werden (Olson 1965). 46 Man kann sich nicht damit bescheiden, dass Akteure entsprechend gemeinsamer Handlungsnormen eigenständig handeln, da es eben keine Garantie der Befolgung dieser Normen gibt. Thomas Nagel zufolge muss die Nichtbeachtung von Beschlüssen und Normen von einer durchsetzungsfähigen Instanz sanktioniert werden, damit eine Gerechtigkeit gewährleistet werden kann. Solange es keine Befolgungsgarantie gibt – dass andere die Kooperationsnormen einhalten, wenn ich es tue –, kann weder das kollektive Eigeninteresse noch die Beseitigung moralisch willkürlicher Ungleichheiten oder der Schutz von Menschenrechten verwirklicht werden. Eine freiwillige Kooperation, die auf dem wechselseitigen Anerkennen eines gemeinsamen Interesses beruht, kann dies nicht leisten. Eine Gerechtigkeit im Sinne eines wechselseitigen Vorteils kann weder Standards einer egalitären Gerechtigkeit auf den Weg bringen noch gegen ›Abtrünnigkeit‹ vorbeugen. Die Befolgung von Normen und sozioökonomische Gerechtigkeit erfordern Maßnahmen, die kollektiv beschlossen und durch eine Entität, die den Schutz der Souveränität garantiert, mit Zwang durchgesetzt werden, d. h. durch ein zentralisiertes System, das die Regeln festlegt und das Gewaltmonopol besitzt (Nagel 2005: 115–16). Von einem normativen Gesichtspunkt aus betrachtet, erfordert eine politische Integration Gerechtigkeit im Sinne von Unparteilichkeit, d. h. die Schaffung einer Grundlage für ein Übereinkommen, das »für alle gleichermaßen akzeptierbar ist« (Barry 1989: 8). Die FähigSiehe ebenfalls Elster 1989: 17 ff. sowie 2007: 264: »Wenn beide Spieler rational an ihrem Eigeninteresse orientiert sind und voneinander wissen, dass dem so ist, dann sollte es eigentlich in einmaligen Interaktionen zu keinem Transfer kommen, dennoch aber ist in Experimenten ein positives Niveau von Transfer und Rücktransfer die Regel.« Siehe auch Collignon 2003.
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49 https://doi.org/10.5771/9783495860526 .
Ein Supranationalismus auf freiwilliger Basis
keit, gemeinschaftliche Probleme und Konflikte zu lösen, muss Vorrang gegenüber einer Maximierung von Eigeninteressen haben. Damit aber Gerechtigkeit im Sinne von Unparteilichkeit tatsächlich ein Auslöser von kollektiv verbindlichen Entscheidungen sein kann, bedarf es einer zentralisierten Fähigkeit, die Nichtbefolgung von Beschlüssen und Normen zu sanktionieren. Eine Integration erfordert verbindliche Regeln sowie Institutionen, die die Kompetenz haben, im Namen aller zu handeln. Damit es zu einer Integration kommen und damit diese stabil sein kann, muss es möglich sein, das Eigeninteresse der jeweiligen Parteien außer Kraft zu setzen. Wie aber kann man dies erklären, wenn doch die konventionellen Ressourcen für eine Integration fehlen, der Integrationsprozess aus freien Stücken zustande kam und Zwang oder andere Druckmittel bei den Verhandlungen kaum zur Verfügung standen? Zivil-Republikanismus und Kommunitarismus behaupten nun, dass ohne eine kollektive Identität, die durch ein Staatsvolk symbolisiert wird, es keine einer Regierung übertragene Autorität geben kann, im Namen aller zu regieren. In dieser Perspektive hängt die Fähigkeit der Handlungskoordination von einer kollektiven Identität ab und sodann von der Androhung des Ausschlusses derjenigen, die nicht die Regeln und Normen befolgen. 47 Dieser Ansatz bezieht sich also auf die drängende Frage nach der Wertegrundlage Europas, der Gemeinsamkeit, des geteilten Zusammen- und Zugehörigkeitsgefühls und der Erwartungen, die zu der Integration führen. Die Bandbreite hier reicht von der kulturellen Tradition der griechischen oder römischen Antike, der christlich-jüdischen Religion über das humanistische Erbe der Aufklärung bis zu dem Friedensmotiv und der Idee eines vereinigten Europas. Sie alle verweisen auf eine motivationale Grundlage der Integration, die durch eine kollektive Selbstdeutung im Hinblick darauf, ›wer wir sind‹, zum Ausdruck gebracht werden kann. Diese ethischen Werte könnten die sogenannten nichtmajoritären Legitimationsquellen bilden, die kollektive Entscheidungsfindungen möglich machen. Das Mehrheitsprinzip stütze sich auf ein Zugehörigkeitsgefühl und eine Solidarität unter Bürgern, die nur durch die symbolische Gründung eines demos – eines Volks – vorstellbar werden würde. Für die Herausbildung einer kollektiven Siehe Scharpf (1988): 258), der weiterhin behauptet, ein Lösen von Problemen basiere auf dem »Appell an gemeinsame (›solidarische‹) Werte« und auf einem »Rückgriff auf Ostrakismos und Exklusion als ultimative kollektive Sanktion«.
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Die Bewältigung des Problems kollektiven Handelns
Identität, die stark genug wäre, um sicherzustellen, dass Landsleute sich nicht nur als Mitglieder einer auf Freiheit, sondern auch auf Gleichheit und Solidarität beruhender Gesellschaft verstehen, sei eine gemeinsame kulturelle Grundlage erforderlich (Offe 1998; Grimm 2004). Aber Probleme bestehen auch dann, wenn ein solidarischer Wille und gemeinsame Interessen der Beteiligten 48 gegeben sind, und zwar nicht nur diejenigen, auf die Thomas Nagel hinweist. So kann etwa die Idee einer Gemeinschaft der Verpflichtung (Miller 1995: 83–84), in der Akteure, die in keinem näheren Zusammenhang zueinander stehen, sich selbst als einander wechselseitig verpflichtet verstehen, keine Normenbefolgung sicherstellen. Eine Ordnung, die allein auf Verpflichtungen oder sozialen Normen aufruht, wäre instabil. Normen bringen keine genau bestimmten Ergebnisse hervor, da sie unter Bedingungen von Pluralismus und Komplexität nicht von jedem in der gleichen Weise verstanden werden. Auch könnte es für die einzelnen Handelnden gute Gründe geben, in bestimmten Fällen gerade nicht den Regeln zu folgen, also abtrünnig zu werden. Normen geben nicht exakt an, wie man handeln soll, oder, im Falle eines Konflikts zwischen ihnen, wie man die richtige Norm auswählen soll. Normen interpretieren sich nicht selbst; sie instruieren nicht Handelnde und können zudem in der Praxis kollidieren. Der letzte Punkt beinhaltet dabei, dass Rechtsordnungen nicht nur erforderlich sind, um negative Externalitäten, Trittbrettfahrertum und moralisch risikoreiches Verhalten – welches darin besteht, dass jemand, wenn die Person nicht selbst, sondern andere für einen etwaig entstehenden Schaden aufkommen, bereit ist, ein hohes Risiko einzugehen – handhaben zu können. Da durchaus das Problem bestehen kann, welches Recht nun genau in einem spezifischen Fall Anwendung finden soll, werden Gesetze auch gebraucht, um derartige Konflikte zwischen Rechten handhaben zu können. Sogar Engel benötigen positives Recht, um zu wissen, wie sie handeln sollen. Aus diesem Grund kann die Lösung des Problems kollektiven Handelns nicht einzig auf Verpflichtungen, Normen und bürgerlichem Vertrauen – auf den Bürgertugenden und geglückten Sozialisationsprozessen – beruhen, da es gute Gründe für die Handelnden geben könnte, in spezifischen Situationen nicht den ideal richtigen Normen zu folgen. Von einem normativen Gesichtspunkt aus besteht das Problem Sowie ihren geteilten Auffassungen, Deutungen und der sachkundigen Aufmerksamkeit Kontingenzen gegenüber (Baier 1986: 245 ff.).
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Ein Supranationalismus auf freiwilliger Basis
der Gewissheit nicht nur in der Regelbefolgung (in dem Sinne, dass ich gewiss sein kann, dass andere sich an die Regeln halten, wenn ich dies tue), sondern ebenfalls auch darin, ob diese Gewissheit rechtmäßig ist. Um eine solche Gewissheit gewährleisten zu können, kann man sich nicht allein auf das Vertrauen in andere Personen verlassen, da »dies bedeuten würde, sich von deren willkürlicher Entscheidung abhängig zu machen« (Mikalsen 2012: 34; vgl. Kant 1785/1993). Zudem gibt es auch das Problem der Unbestimmtheit, da allgemeine Grundsätze des Rechts im Hinblick darauf, was wem gehört, was als Erfüllung eines Vertrages gilt, unbestimmt sind (ebd., siehe auch Ripstein 2009: 145 ff.). Der späte Ludwig Wittgenstein erinnert uns daran, dass informelle Normen ebenso wie auch kodifiziertes Recht nicht in der Lage sind, die Regeln ihrer eigenen Anwendung festzulegen. Die Lösung des Rätsels der Abtretung von Souveränitätsrechten unter Bedingung fehlenden Sanktionsvermögens kann folglich nicht in der normativen Infrastruktur einer Zivilgesellschaft gesucht werden. In Handlungssystemen, die nicht über effektive Sanktionsmittel verfügen, müssen Stabilität und Einheit durch andere Ressourcen geschaffen werden. Der Ausgangspunkt für Vertreter des deliberativen Ansatzes ist nun, dass die gemeinsame Lösung von Problemen und die Bewältigung von Konflikten auch dann stattfinden, wenn derlei Vorbedingungen und Sanktionsmittel nicht existieren. Wie kann das sein?
Integration durch Deliberation Der europäische Integrationsprozess wird weder durch große Pläne oder ein utopisches Ideal angetrieben noch durch Identität oder Gewalt, sondern durch ein pragmatisches Lernen und Lösen von Problemen. Die Vorzüge einer Kooperation und gemeinsamen Kontrolle von hochwichtigen Ressourcen haben dabei selbst den Prozess angespornt. Von daher müssen wir die Erklärung in den Ressourcen der menschlichen Intelligenz und der sozialen Kooperation suchen; darin, wie Handelnde Probleme und Konflikte lösen und gemeinsame Ziele kooperativ erreichen können, ohne auf Machtinstrumente zurückzugreifen. Dabei können auch Verhandlungstheorien, die sich um glaubwürdige Drohungen und Warnungen drehen – um Kompensationszahlungen, Kuhhandel und Paketlösungen –, Teil einer 52 https://doi.org/10.5771/9783495860526 .
Integration durch Deliberation
solchen Erklärung sein. Jedoch setzen diese einen Kontext voraus, in dem Möglichkeiten von ›Zuckerbrot und Peitsche‹ tatsächlich gegeben sind und zum Einsatz kommen können. In Verhandlungen, die von Drohkulissen gerahmt werden, ist es nicht das Gewicht der Argumente, sondern die Anzahl der Stimmen oder realisierbaren Drohungen, welche eine Befolgung sicherstellen. In Entscheidungskontexten allerdings, die nicht auf Zwang beruhen, wenn also auf Macht basierende Drohungen oder selektive Güter 49 nicht zur Verfügung stehen, wird eine Deliberation unverzichtbar. Wenn Drohungen fehlen, müssen Akteure, damit sie zu einer Lösung eines gemeinsamen Problems gelangen können, ihre Differenzen in höherem Maße durch Gespräch und Argumentation klären. Die der Argumentation innewohnende Normativität des Argumentierens ergibt sich daraus, dass nur durch den Gebrauch von Argumenten kollektive Entscheidungen ohne Zwang getroffen werden können. Interdependente Akteure, die gemeinsame Angelegenheiten klären und Handlungen in kooperativer Weise koordinieren wollen, sind mit zwei Arten von Aufgaben konfrontiert: Erstens müssen sie identifizieren, was die fraglichen Angelegenheiten sind, und zu einer Übereinkunft darüber gelangen, worin genau das Problem besteht. Zweitens müssen sie sich darüber einigen, ob das vorliegende Problem überhaupt gelöst werden soll und falls dem so sein sollte, auf welche Weise und mit welchen Mitteln. Das Medium hierfür ist die Rechtfertigung und Begründung der Positionen und Überzeugungen, die die beteiligten Akteure vertreten. Dies nötigt die Akteure, ihre Handlungspläne offenzulegen und, so es ihnen gegenüber Zweifel oder Unklarheiten, Interessenskonflikte oder unterschiedliche Präferenzen hinsichtlich möglicher Ergebnisse gibt, sie zu rechtfertigen. Anhänger deliberativer Theorien argumentieren, dass die Lösung für das Problem kollektiven Handelns in dem Entscheidungsfindungsprozess gesucht werden sollte. In einem solchen Prozess werden Normen und Prinzipien einem interpretativen und rechtfertigenden Austausch von Gründen unterworfen. Die Deliberation stellt Unter selektiven Gütern versteht man im Anschluss an Olson (1965) Güter, die von einem Interessensverband alleinig für seine Mitglieder hergestellt werden, von daher zusätzliche Anreize für einen weiteren Verbleib in dem Verband darstellen und somit dessen strategischen Handlungsspielraum gegenüber seinen Mitglieder erhöhen.
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Ein Supranationalismus auf freiwilliger Basis
einen kognitiven Prozess dar, um in einer praktischen Handlungssituation Gründe abwägen und einschätzen zu können, um zu fairen und rationalen Entscheidungen zu gelangen. So versteht etwa John Dewey Rationalität als eine reflexive Haltung, durch die eine Verantwortung für Konsequenzen akzeptiert wird und Korrekturen vorgenommen werden können. Ihm zufolge dient die öffentliche Deliberation der Untersuchung gemeinschaftlicher Lösungen von Problemen und wird durch Erfahrung sowie den Austausch von Gründen gestützt. Dabei ist dieses Lösen von Problemen inhärent mit der Suche nach Wissen verbunden, d. h. nach einer Form von Untersuchung und Reflexion, die auf der Praxis von Begründung und Rechtfertigung beruht. Sie ist nicht einfach die Suche nach Mitteln für vorgegebene Zwecke, sondern hat direkt mit dem Setzen von Zwecken und Zielen selbst zu tun; damit, gemeinsame Interessen überhaupt erst zu bestimmen. Entsprechend dient eine deliberative Untersuchung dem Zweck, die beteiligten Akteure aufzuklären und neues Licht auf die zur Diskussion stehenden Probleme zu werfen. Wenn in ihr gezeigt wird, dass die Akteure sich über ›Tatsachen‹ oder Prinzipien, die für das Problem relevant sind, täuschen, dann könnte eine Deliberation sogar, wenn sie gut ist, die Einstellungen und Überzeugungen der Akteure ändern (vgl. Elster 1998: 11). Sie ist als Mechanismus zu verstehen, der Fehlannahmen und Wahrheit aufspürt wie auch einen rechtfertigenden Charakter hat. In einer Deliberation werden Gründe nachvollzogen und generiert (Laden 2005: 329). Somit ist das Prinzip der Deliberation entscheidend für die Demokratie, da sie den Grundsatz der Rechtfertigung gegenüber den von Entscheidungen betroffenen Parteien enthält, aber aufgrund ihrer epistemischen Vorzüge auch einen Mechanismus darstellt, der auf die Lösung von Problemen gerichtet ist. Im Besonderen ist dies der Fall bei kollektiven Entscheidungsprozessen in Kontexten, in denen Positionen nicht mit Zwang durchgesetzt werden, sondern die vielmehr auf dem zwanglosen Austausch von Gründen beruhen, welcher wiederum davon abhängt, dass Wissensansprüche erhoben und eingelöst werden. In den meisten Handlungsbereichen moderner Gesellschaften ist die Entwicklung demokratischer Kommunikation eine Voraussetzung für experimentelle Untersuchungen [engl. inquiry], d. h. für das pragmatische Lösen von Problemen. Entsprechend baut dieser Ansatz also nicht schon auf dem Postulat einer kollektiven Identität oder eines gemeinsamen Interesses auf. Vielmehr geht er davon aus, dass das gemeinsame Werte-Fundament während desjeni54 https://doi.org/10.5771/9783495860526 .
Deliberativer Supranationalismus
gen Prozesses etabliert wird, in dem sich die Akteure mit den Problemen, mit denen sie konfrontiert sind, auseinandersetzen und diese schließlich lösen. »Die Erkenntnis der schädlichen Folgen erzeugte ein gemeinsames Interesse, das zu seiner Aufrechterhaltung bestimmte Maßnahmen und Gesetze erforderte, zusammen mit der Auswahl bestimmter Personen als deren Hüter, Deuter und, wenn nötig, deren Vollstrecker.« (Dewey 1996: 30)
Wenn also Konsequenzen von Handlungen und Entscheidungen erkannt wurden und sie Gegenstand der Deliberation geworden sind, dann kommt es durch eine indirekte und breit gefächerte Interaktion zur Herausbildung von Öffentlichkeitsbereichen. In der Folge steigen Organisationsgrad und Regulationsfähigkeit eines Gemeinwesens.
Deliberativer Supranationalismus Anhänger deliberativer Theorien betonen den Aspekt der Freiwilligkeit und Kooperation im Prozess der Willensbildung, wie es in Reaktion auf Wissensansprüche zu Lerneffekten kommt und wie sich Meinungen herausbilden und durch Institutionen und Verfahren integriert werden. Typischerweise wird ein deliberativer Prozess durch Rechtsregeln unterstützt, die ihm eine Struktur, ein Ziel und auch eine Frist vorgeben. Dies hat Politikwissenschaftler dazu veranlasst, zur Bezeichnung der charakteristischen Eigenschaft des in Europa neu erreichten Integrationsniveaus den Ausdruck des deliberativen Supranationalismus zu gebrauchen. Dieser Perspektive zufolge sind es nicht die Interessen der Mitgliedsstaaten, die die europäische Politik bestimmen, sondern vielmehr werden diese durch ein Set von europäischen Institutionen dienstbar gemacht und domestiziert, geformt und vermittelt – und diese Institutionen legen dann die allgemeinen Spielregeln fest. Das bestimmende Merkmal der Supranationalität in Europa besteht nicht bloß in der Hierarchisierung von Kompetenzebenen, sondern eher in der Beachtung einer gemeinsamen Rechtsstruktur. Diese hat dabei die Funktion, gemeinsame Vereinbarungen schließlich in verbindliche Maßnahmen zu überführen. »Man kann die Vorrangstellung [des Europa-Rechts] nicht adäquat verstehen, wenn man diese einem transnationalen Rechtskorpus zuschreibt. Das Europa-Recht erfordert die Identifikation von Regeln und Grundsätzen, die
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Ein Supranationalismus auf freiwilliger Basis
die Koexistenz unterschiedlicher nationaler Wählerschaften und die Vereinbarkeit von deren Zielen mit gemeinsam geteilten Anliegen sicherstellen.« (Joerges 1996: 319)
In dieser Struktur sind die Mitgliedsstaaten nicht nur durch die Autorität des besseren Arguments gebunden, sondern auch durch die Gewalt des Rechtsmediums. Die internationalen Beziehungen einer gemeinsamen Rechtsordnung zu unterwerfen, verändert im Grunde genommen die Logik dieser Beziehungen. Diese Struktur schafft weder zwischenstaatliche Konflikte ab noch markiert sie das Ende von Machtpolitik; stattdessen beschränkt sie diese auf eng umgrenzte Bereiche und erlegt feindseligem Verhalten Grenzen auf. Man hat die empirische Basis des deliberativen Supranationalismus vorrangig in dem System von Komitologie-Ausschüssen gefunden, welches den Prozess der Gestaltung und der Aufnahme legislativer Akte innerhalb der Grenzen der delegierten Autorität der Kommission beschreibt. Überwiegend sind die Mitglieder dieser Ausschüsse Beamte und Experten, die von den Repräsentanten der Regierungen der einzelnen Nationalstaaten wie auch von den betroffenen Interessensgruppen, ausgewählt werden. Wie dieses System es fertiggebracht hat, eine Marktintegration mit sozialen Maßnahmen wie etwa Gesundheitsschutz und Sicherheit am Arbeitsplatz zu kombinieren sowie dabei den Standard des Umweltschutzes zu heben (Sabel und Zeitlin 2010), ist eine gut dokumentierte Erfolgsgeschichte und hat die Zustimmung zu diesem System und die weitere Integration befördert. Das Besondere an dem Komitologie-System – im Gegensatz zu anderen internationalen Ausschüssen – besteht darin, dass die Ausschüsse im Hinblick auf deren Implementation an Entscheidungen beteiligt sind, die die nationalstaatlichen Regierungen direkt binden. Diese Eigenschaft, in Kombination mit seiner deliberativer Ausrichtung und der Inklusion vieler von Entscheidungen potenziell betroffener Parteien, hat zu dem Vorschlag geführt, das KomitologieSystem markiere den Beginn einer neuen politischen Ordnung, die einem deliberativen Supranationalismus mit demokratischen Vorzügen ähnlich sei (Joerges 2002: 141; vgl. Joerges und Neyer 1997). Von den ersten Anfängen der europäischen Integration an war dieses System von Ausschüssen für die Mitgliedsstaaten ein Vehikel der Kontrolle und Aufsicht. Tatsächlich war es konzipiert worden, um den Supranationalismus einhegen zu können. Diese Form der Regulierung ist für die Mitgliedsstaaten deshalb akzeptierbar, da sie in dem 56 https://doi.org/10.5771/9783495860526 .
Deliberativer Supranationalismus
Gesetzgebungsprozess eine starke Rolle spielen (Gehring 1999). Das Komitologie-System ist jedoch ein trojanisches Pferd, da es zu einer Herausbildung von europäischen Identitäten und Konzeptionen eines europäischen bonum commune führt. Es bringt Akteure aus den Mitgliedsstaaten in Foren zusammen, in denen diese für praktische Probleme Lösungen finden müssen, und zwar auf einer Grundlage, die nicht fix ist, sondern beständig unter der Weisung steht, sich durch den ›allgemeinen Willen‹ der Gemeinschaft anleiten zu lassen und im Schatten des Europa-Rechts zu operieren. Die Integration unterschiedlicher Perspektiven und Präferenzen, die für eine gemeinsame Lösung von Problemen notwendig ist, erfordert eine EntscheidungsAutonomie und ein nicht-imperatives Mandat, – so dass Akteure, wenn dies für kollektive Entscheidungen erforderlich sein sollte, ihre ursprünglichen Ansichten ändern oder modifizieren können. Zwangsfrei zu einer Übereinkunft zu gelangen, erfordert notwendigerweise einen deliberativen Prozess, in dem Ansprüche erhoben und gerechtfertigt werden. Dieser ist aber auch ein Lernprozess, da wenigstens einer der Beteiligten seine Ansichten ändern muss, damit man im Konfliktfalle dennoch zu einer Einigung kommen kann (Eriksen 2013). Wir sind also mit folgender paradoxen Situation konfrontiert: Die Struktur, die eingeführt wurde, um den Supranationalismus zu kontrollieren, erleichtert umgekehrt supranationale Einstellungen und ist ein Mittel dazu, ein neues Integrationsniveau zu erreichen. Sie ebnet den Weg zu einer verstärkten Integration. Abgesehen von den demokratietheoretischen Problemen, die dies aufwirft – da wäre z. B. das Problem, die Rechenschaftspflicht eines solchen Systems 50 sowie dessen Autorisierung durch die Bürger sicherzustellen –, stellt sich die Frage, wie man es zu dieser paradoxen Situation kommen lassen konnte? Einige Antworten hierauf finden sich in der Rolle des Rechts und des besonderen Typs von Supranationalismus, der die EU kennzeichnet. Um den deliberativen Supranationalismus der EU erklären zu können, muss dabei nicht nur das Komitologie-System berücksichtigt werden, sondern ebenso auch das Rechtssystem der EU.
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Siehe beispielsweise Schmalz-Bruns 1999, Weiler 1999b.
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Ein Supranationalismus auf freiwilliger Basis
Gemeinschaftlich geschaffenes Recht Viel von dem Impetus des europäischen Integrationsprozesses stammte von den Gerichten und dem Rechtssystem (Weiler 1999a; Stein 1981, Stone Sweet 2004). 51 Das ursprüngliche Rechtssystem wiederum rührte aus dem Vertragsrecht. Paradoxerweise lieferten die Europäischen Verträge, die in weiten Teilen entworfen waren, um die Kontrolle durch die Mitgliedsstaaten sicherzustellen, »zur gleichen Zeit eine hinreichende Rechtsgrundlage für den EuGH, auf der dieser eine verfassungsrechtliche Interpretation der Verträge vornehmen konnte« (Boerger-De Smedt 2012: 340). Der supranationale Charakter der Rechtsstruktur der EU hat seine Anfänge in der Akzeptanz einer verfassungsrechtlichen Interpretation der Gründungsverträge, die schon in den 1950er und explizit in den 1960er Jahren zu finden ist. Dies transformierte die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) von einem internationalen Regime in ein quasi-föderales Rechtssystem, das auf den Regeln eines rechtlich übergeordneten Konstitutionalismus basiert. Dieses System wurde durch den EuGH mittels zwei miteinander kombinierter Doktrinen geschaffen: mittels des Grundsatzes der unmittelbaren Wirkung, der, unter bestimmten Bedingungen, den vollständigen Rechtscharakter von EU-Normen bestätigt und mittels des Grundsatzes des Vorrangs des Unionsrechts, demzufolge in Fällen, in denen es zu einem irreduziblen Konflikt innerhalb des Anwendungsbereichs der Verträge kommt, die Normen der Europäischen Gemeinschaft einen Vorrang gegenüber den nationalstaatlichen haben. 52 Der supranationale Charakter wurde dabei durch die steigende Anzahl von EU-Verordnungen und die Ausweitung der EU-Rechtsprechung noch weiter unterstrichen. Der Europäische Gerichtshof agiert nun als ein Treuhänder des Vertrags über die Europäische Union und nicht als ein Agent der Mitgliedsstaaten. Die Integration vollzieht sich also durch das Recht, jedoch ist das Recht nicht ein bloßer technischer MechaHinsichtlich der Gefahr, dass Wissenschaftler »ihren Blick von normativen Annahmen trüben lassen« könnten, die der Perspektive zugrunde liegen, eine »Konstitutionalisierung« der Verträge hätte ein europäisches Rechtsstaatsprinzip geschaffen, siehe Rasmussen 2010. 52 Die hier relevanten Fälle sind: Rechtssache 26/62, Algemene Transporten Expeditie Onderneming Van Gend en Loos v Nederlandse Administratie der Belastingen [1963] sowie Rechtssache 6/64, Costa, vgl. Fußnote 44. Hinsichtlich des supranationalen Charakters des EU-Rechts siehe Weiler 1999a; Alter 2001; Stone Sweet 2004. 51
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Gemeinschaftlich geschaffenes Recht
nismus zur Handlungskoordination. Wenn Rechtsordnungen einen geeigneten institutionellen Rahmen erhalten, dann gewährleisten sie eine wechselseitige Rechtfertigung und den zwanglosen Zwang des besseren Arguments. Die Sprache des Rechts ersetzt sozusagen die Sprache der Macht (Kratochwil 1995). Rechtsordnungen sind Friedensordnungen, die auf der sanften Gewalt der Vernunft aufruhen (Kelsen 1944). Sie verpflichten und treiben Akteure dazu, davon abzusehen, ihre Zwecke einfach durch Drohungen oder Warnungen zu verfolgen. In Europa induzieren das ›übergeordnete‹ Recht und die autorisierten Entscheidungsgremien, denen es ja an effektiven Sanktionsmöglichkeiten fehlt, den Verfahren eine deliberativen Logik; den freien, der Disziplin des Rechts unterworfenen Austausch von Gründen. Auf diese Weise werden die Bürden der Argumentation in Entscheidungsgremien institutionalisiert, so dass die Akteure ihre Standpunkte mit nachvollziehbaren und akzeptierbaren Argumenten rechtfertigen müssen. Das Darlegen von Gründen und eine kritische Auseinandersetzung werden im Allgemeinen durch Mechanismen wie etwa öffentliche Debatten, peer-review- und Normenkontroll- sowie Beschwerdeverfahren befördert. In den EU-Verträgen ist die Bedingung, Gründe und Rechtfertigungen zu geben, fest verankert (Shapiro 2002; 228 ff.; Majone 1998: 21). Die Verpflichtung, Entscheidungen zu begründen, ist von den Verfassern der Verträge festgelegt worden: Im Artikel 5 des Vertrages von Paris und dem Artikel 190 des Vertrages von Rom heißt es: »[D]ie Verordnungen, Richtlinien, Entscheidungen und Rechtsakte des Rats und der Kommission [sind] mit Begründungen zu versehen.« (Siehe Vertrag von Lissabon, Artikel 253). In ähnlicher Weise legt der Artikel 41.2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, die feierlich auf dem EU-Gipfel in Nizza proklamiert wurde, fest, dass es ein Recht auf gute Verwaltung gebe, die »die Verpflichtung der Verwaltung« beinhaltet, »ihre Entscheidungen zu begründen.« Wenn eine Deliberation innerhalb eines Rechtskontextes stattfindet, dann ist sie darauf ausgerichtet, tatsächlich innerhalb einer bestimmten Frist zu einem Ergebnis zu führen. Recht strukturiert die Entscheidungsfindung in einer bestimmten Weise und gewährleistet eine reflexive und bewusste Herangehensweise an die einzelnen Themen und Fälle. Recht ist räumlich, zeitlich und funktional spezifiziert und diszipliniert die Teilnehmer im Hinblick auf soziale und epistemische Randbedingungen. Es gewährleistet die Existenz 59 https://doi.org/10.5771/9783495860526 .
Ein Supranationalismus auf freiwilliger Basis
von Gegenargumenten, unparteilichen Begründungen und einer Entscheidung innerhalb eines bestimmten Zeitraums. Damit kompensiert das Recht die Fallibilität deliberativer Verfahren und verbessert ihre unvollkommene prozedurale Fairness (Alexy 1989: 179; Habermas 1992: 256 f.). Folglich verringert es das Unbestimmtheitsproblem der Deliberation und überführt Absprachen in Rechte, Gesetze oder Verträge, die dann für alle Mitglieder in gleicher Weise verbindlich sind. Nun wird normalerweise der koordinative Effekt des Rechts allerdings in dessen Rückendeckung durch Gewalt gesehen. In Rechtssystemen werden Personen, die den Gesetzen nicht folgen, schließlich durch das staatliche Gewaltmonopol sanktioniert. Recht stabilisiert Verhaltenserwartungen (Luhmann 1995: 136) und ist eine Gerechtigkeitsbedingung; dadurch, dass es die Nichtbefolgung von Beschlüssen und Gesetzen sanktioniert, erlaubt es den Bürgern, pflichtgemäß zu handeln, ohne am Ende der Dumme zu sein (Apel 1998: 755; vgl. Nagel 2005). Wie aber kann dies eine Funktion des Rechts sein, wenn doch der EU eine dem staatlichen Gewaltmonopol analoge Sanktionsgewalt fehlt? Die Bindungswirkung des EU Rechts ist weder in der Existenz eines Gewaltmonopols auf der europäischen Ebene noch in der letztinstanzlichen Entscheidungsgewalt der EU begründet. Die EU hat nicht die Kompetenz, ihre eigene Kompetenz auszuweiten (Kompetenz-Kompetenz), sie hat formell gesehen nicht das letzte Wort bei Rechtsfragen und verfügt nicht über tatsächliche Zwangsmittel. Die Europäische Gemeinschaft ist von den Organisationskompetenzen der Mitgliedsstaaten abgekoppelt, welche das Gewalt- und Besteuerungsmonopol behalten und die wichtigsten Umsetzungsträger der EU-Verordnungen sind. In diesem Sinne ist das Recht der Mitgliedsstaaten nicht dem EU-Recht untergeordnet. Das Rechtssystem der EU ist also weit weniger hierarchisch, als es dies im Allgemeinen bei nationalstaatlichen Ordnungen der Fall ist. Es ist eher so, dass die Beziehungen zwischen der EU und der nationalstaatlichen Ebene durch Kooperation und wechselseitige Anerkennung gekennzeichnet sind. Eine autonome Rechtsebene wird geschaffen, die nicht durch die üblichen Machtinstrumente abgestützt wird. Die Bereitschaft, den Regeln und Vorgaben zu folgen, wird einfach vorausgesetzt. Warum aber sollte man dann dem Recht Folge leisten? Ich denke, die Antwort kann in den charakteristischen Eigenschaften des bestehenden Systems, dem Rechtsdiskurs und den Rechtsprechungsnormen gefunden werden. 60 https://doi.org/10.5771/9783495860526 .
Gerechtigkeit im Sinne von Unparteilichkeit
Gerechtigkeit im Sinne von Unparteilichkeit Die Aufgabe besteht also weiterhin darin zu klären, was Akteure dazu bringen könnte, gemeinsame Positionen zu übernehmen und freiwillig Souveränitätsrechte abzutreten. Eine erste Antwort kann in dem Umstand gefunden werden, dass das entstandene Rechtsystem eines ist, in dem die Rechtsprechung auf der nationalstaatlichen Ebene – insbesondere jene auf den niedrigeren Ebenen – ein fester Bezugspunkt des Rechts ist, auf das sich die Richter der Europäischen Gerichte stützen. Eine der besonderen Eigenschaften der EU besteht darin, dass die »nationalen Gerichte und der Europäische Gerichtshof in einem einheitlichen System der Normenkontrolle integriert sind« (Weiler 1994: 515). Im Falle einer gemeinsam geteilten Grundlage der Rechtsprechung ist nicht erforderlich festzulegen, wer die letzte rechtliche Entscheidungsinstanz ist, damit ein Rechtssystem effektiv sein kann (ich werde hierauf noch im fünften Kapitel zurückkommen). Die Existenz des gemeinsamen Rechtsdiskurses in Europa ist ein intrinsischer Bestandteil dieses Teils der Erklärung. Solch ein System gemeinsam geteilter Kompetenzen kann dank eines gemeinsamen Rechtsrahmens funktionieren und »dank der Sprache einer begründeten Interpretation, logischen Deduktion, systemischen und temporalen Kohärenz. Diese stellen die Artefakte dar, auf die sich die nationalen Gerichte teilweise stützen, um einen Rechtsgehorsam innerhalb ihrer eigenen Ordnungen zu erreichen« (Weiler 1994: 521). Obgleich weniger hierarchisch, gibt es nichts in der Logik rechtlicher Argumentation oder in der Anwendung und Übernahme von Regeln, das dieses System von dem abhebt, was wir mit einer auf Gewaltenteilung basierenden demokratischen Regierung verbinden. Die Autorität des Rechts sowie der Rechtsdiskurs selbst stellen einen Teil der Antwort auf das genannte Rätsel dar. Diese Autorität wiederum beruht auf dem deontologischen Prinzip, dass Versprechen ebenso wie Verträge gehalten werden sollten. Schon früh war pacta sunt servanda ein durch göttliche Kräfte geschütztes moralisches Prinzip. Es kann im alten chinesischen und ägyptischen Recht gefunden werden, es wurde von Sokrates und Aristoteles gelobt und im corpus juris civilis des römischen Rechts weiterentwickelt und fest verankert. Der zweite Teil der Antwort auf die Frage nach der freiwilligen Abtretung von Souveränitätsrechten kann in den etablierten formalen Gerechtigkeitsprinzipien, die die normative Grundlage der Beilegung von Konflikten darstellen, gefunden werden, d. h. in den Prin61 https://doi.org/10.5771/9783495860526 .
Ein Supranationalismus auf freiwilliger Basis
zipien der Gleichbehandlung, Unparteilichkeit und rechtlichen Konsistenz. Diese sind im EU-Recht fest in den Prinzipien der Freizügigkeit und Antidiskriminierung verankert. Im Artikel 8 des Vertrages von Lissabon heißt es, dass die Union in all ihren Aktivitäten das Prinzip der Gleichheit aller ihrer Bürger beachten muss und diesen gleichermaßen die Aufmerksamkeit ihrer Institutionen, Körperschaften, Ämter und Vertretungen zukommen soll. Dabei führt diese Gleichheitsnorm zwar nicht zu einer Gerechtigkeit im sozio-ökonomischen Sinne, 53 jedoch zu einer Gerechtigkeit im Sinne von Unparteilichkeit, die durch das Prinzip der Nichtdiskriminierung spezifiziert wird. Diese Norm bietet sich gewissermaßen geradezu an, Teil der Lösung des Rätsels zu sein, dass eine Integration auch unter Abwesenheit einer Hierarchie stattfinden kann. In deliberativen Prozessen sind Gerechtigkeit und ihre Korollarien von Unparteilichkeit, Nicht-Bevorzugung und Gleichheit die unumgänglichen Voraussetzungen von Einigungen, die nicht auf Zwang beruhen. Die Gerechtigkeit wirkt als ›Weichensteller‹ zwischen den materiellen Interessen und ethischen Werten, da sie die Maßstäbe dafür setzt, wie in Fällen, in denen Lösungen gravierende Auswirkungen auf die Interessen und Identitäten der Beteiligten haben, gehandelt werden soll. Zudem hat in der noumenalen Welt, in der Kant zufolge (1785/ 1993) der Mensch frei und nicht als phänomenales Wesen den kausalen Gesetzen unterworfen ist, d. h. in dem Bereich der Gründe das Prinzip, dass alle, die von einer Entscheidung betroffen sind, auch das Recht haben mitzubestimmen, die höchste normative Autorität. 54 In einem allgemeinen praktischen Diskurs bietet die Gerechtigkeit ein kontext-transzendierendes Prinzip. Sie etabliert für den Umgang mit Interessens-, Werte-, und Normenkollisionen einen neutralen Maßstab – einen Trumpf. Gerechtigkeit beinhaltet den Grundsatz der Billigkeit, d. h. mit anderen Worten, dass alle das erhalten sollen, was ihnen gemäß der Formel, dass gleiche Fälle gleich und ungleiche unDas für eine Umverteilung und sozio-ökonomische Gerechtigkeit grundlegende Prinzip der Kompensation der am schlechtesten gestellten Akteure findet sich in den Struktur- und Kohäsionsfonds der EU, die darauf abzielen, die regionalen Ungleichheiten zu verringern. Diese Fonds sind für die Regionen gedacht, deren Bruttoinlandsprodukt pro Einwohner unter 75 Prozent des EU-Durchschnitts liegt. Siehe: http://ec.europa.eu/regional_policy/index_en.cfm 54 Eine Fassung des kategorischen Imperativs lautet: »Demnach muß ein jedes vernünftige Wesen so handeln, als ob es durch seine Maximen jederzeit ein gesetzgebendes Glied im allgemeinen Reiche der Zwecke wäre.« 53
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Gleicher Wert und Nicht-Diskriminierung
gleich behandelt werden soll, zusteht. 55 In modernen Demokratien, die beanspruchen, für alle akzeptierbar zu sein, ist es ein höherrangiger Grundsatz, dass jenes, was für alle gleichermaßen gut ist, einen Vorrang erhält. In modernen Demokratien stellt diese Norm ein höherrangiges Prinzip dar, das die Zustimmung aller gebietet. Jene, die dies verneinen, begehen einen performativen Fehler. 56 Im öffentlichen Raum wird die Norm der Unparteilichkeit den Gesprächspartnern als eine conditio sine qua non gewissermaßen aufgezwängt. Eine Kooperation zu ungleichen Bedingungen ist ohne Zwang nicht möglich, daher rührt auch die Normativität des moralischen Ideals der Gleichheit. In einem nicht auf Zwang beruhenden Entscheidungsprozess ist eine Deliberation unverzichtbar und Normen, die das Richtige und Falsche angeben, stellen wichtige ›Berechtigungsnormen‹ dar. Solche Normen enthalten auch Inferenzregeln, d. h. Regel, wie man aus einer bestimmten Prämisse Schlüsse zieht. In einem Prozess praktischer Argumentation erklären oder rechtfertigen solche bestätigten Normen Handlungen und die zu ihnen führenden Überlegungen und Schlussfolgerungen. Moralische Normen, die sich auf das stützen, was für alle gleichermaßen gut ist, haben, so wird angenommen, einen Vorrang vor Einzelbelangen und können das Problem kollektiven Handelns dann überwinden, wenn sie an das Rechtsmedium und das Mehrebenen-System von Europa-Recht und Sanktion angeschlossen sind.
Gleicher Wert und Nicht-Diskriminierung Eine Gerechtigkeit im Sinne von Unparteilichkeit bildet einen entscheidenden Teil der Normativität der EU. Da sie eine Norm darstellt, die in den Fällen, in denen unterschiedliche Interessen und Konzepte Hier handelt es sich um eine Interpretation von Aristoteles’ berühmtem Diktum der Gerechtigkeit, ›jedem das seine‹ (lat. suum cuique). 56 Jene, die gegen das Prinzip der Unparteilichkeit argumentieren, verfangen sich in einem performativen Selbstwiderspruch, da sie bereits zu Beginn der Diskussion dieses Prinzip implizit akzeptiert haben. Hier sei an die unvermeidbaren Voraussetzungen kommunikativen Handelns erinnert, die Habermas in der Parität, Freiheit und Gleichheit der Diskursteilnehmer gegeben sieht. Unsere unbedingten Prinzipien müssen Gesetze der Autonomie sein (Kant 1785/1993; Korsgaard 1996). Auf der anderen Seite wiederum hat jeder ein starkes Interesse daran, nicht in unfairer Weise behandelt zu werden (Stemmer 2008). 55
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Ein Supranationalismus auf freiwilliger Basis
des Gemeinwohls aufeinandertreffen und eine einzige ›richtige‹ Entscheidung erforderlich ist, eindeutige Ergebnisse garantiert, stellt sie eine unumgängliche Voraussetzung politischer Integration dar. Zudem ist sie auch eine Muss-Vorstellung, die fest in den Freizügigkeits- und Antidiskriminierungsklauseln des EU-Rechts verankert ist. In Artikel 45 des Vertrages über die Arbeitsweise in der EU wird näher ausgeführt, dass der Grundsatz der Freizügigkeit die Abschaffung jedweder Diskriminierung auf Grundlage von Nationalität hinsichtlich Beschäftigung, Gehalt und anderweitiger Arbeits- und Anstellungsbedingungen zwischen Arbeiternehmern der Mitgliedsstaaten enthält. Eine durch das Recht induzierte Unparteilichkeit spielt eine große Rolle bei der Erklärung des De-facto-Niveaus der Normbefolgung und des freiwilligen Abtretens von Souveränitätsrechten in Europa. In der Mehrebenen-Konstellation der EU verbindet das Recht in vielseitiger Weise Willen mit sanften Sanktionen. Solche sanften Sanktionen könnten etwa das öffentliche Anprangern von Regel-Verletzern oder die normative Kraft von performativen Widersprüchen und kognitiven Dissonanzen sein, aber auch der Aufweis von Inkohärenzen, begrifflichen Widersprüchen und den Kosten, die mit einem Außenseitertum einhergehen usw. Wenn sie erkennen, dass die Einhaltung des EU-Rechts eine Vorbedingung für gleiche Rechte und Mitgliedsstatus sind, sehen sich Akteure, die eigentlich nicht bereit sind, den Normen zu folgen, veranlasst, ihre Meinungen zu ändern. Gerechtigkeit im Sinne der Unparteilichkeit ist eine Voraussetzung für jedwede politische Ordnung, um Stabilität unter Bedingungen von Freiheit und Gleichheit erreichen zu können. Die besondere Form, die die Suche nach Gerechtigkeit und einem, um mit Rawls zu sprechen, ›fairen Kooperationsschema‹ in der EU angenommen hat, deutet weniger auf Beziehungen auf der Basis von Nationalstaaten und sozio-ökonomischer Gerechtigkeit hin und mehr auf eine schwächere Weise des Zusammenschlusses und eine abstraktere Form der Solidarität. Der Supranationalismus der EU spiegelt keine Gruppenidentität wider: »Die Freizügigkeitsbestimmungen erlauben keinen Ausschluss durch staatliche Mittel (…) und mit dem strikten Verbot einer Diskriminierung bezüglich Nationalität oder Bürgerschaft kann eine nationale Differenzierung sich nicht so leicht auf die künstlichen Grenzen stützen, die der Staat bereithält« (Weiler 1999a: 342). Die Prinzipien der Freizügigkeit und Antidiskriminierung entkoppeln Nationalität und Bürgerschaft, und stellen nichts anderes dar, denn 64 https://doi.org/10.5771/9783495860526 .
Gleicher Wert und Nicht-Diskriminierung
den Kern der EU-Bürgerschaft (Preuss 1998; Olsen 2012); »Der Unionsbürgerstatus ist dazu bestimmt, der grundlegende Status der Angehörigen der Mitgliedstaaten zu sein, der es denjenigen unter ihnen, die sich in der gleichen Situation befinden, erlaubt, unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit (…) die gleiche rechtliche Behandlung zu genießen.« 57 Universalität und Nicht-Exklusion treten in den Vordergrund des Integrationsprozesses und, da sie auch eine Voraussetzung für eine Einigung unter Fremden sind, geschieht dies nicht nur aus historischen, d. h. kontingenten Gründen. Gerechtigkeitsprinzipien sind Friedensprinzipien und beschwören die kosmopolitane These des gleichen Werts und der Gleichbehandlung aller Menschen herauf. Sie reflektieren den kosmopolitanen Grundsatz, dass jeder Mensch den gleichen Wert hat und wir jedem Menschen eine unparteiliche Erwägung seiner Ansprüche uns gegenüber schulden. Um jedoch die gleichen Rechte jedes Bürgers zu achten, muss eine Mitgliedschaft in der Körperschaft, die die Gesetze beschließt und erlässt, gewährt werden. Wie kann in der EU, die doch gewissermaßen um demos und Staatlichkeit gebracht ist, die Idee einer postnationalen Demokratie auf die Agenda gesetzt werden? Und nicht nur in Gestalt irgendeiner Demokratie, sondern sogar der einer parlamentarischen Demokratie? Dabei ist es eine Sache, die Grundlage für eine Bewegung zum Supranationalismus hin zu rekonstruieren, eine ganz andere ist es zu erklären, warum sie die jetzige Gestalt angenommen hat. Wie Geoffrey Garrett formuliert, gibt es »viele Lösungen für Probleme kollektiven Handelns, die potenziell mit dem Pareto-Kriterium übereinstimmen würden« (Garrett 1992: 559–60). Während Muss-Vorstellungen wie Frieden, Unparteilichkeit und Menschenrechte Vorbedingungen der Integration gewesen sind, ist es unklar, warum die Demokratie zu einer konstitutionellen Norm der EU geworden ist, wenn es darum geht, Einigungen herbeizuführen. Anfänglich war die europäische Integration darauf ausgerichtet, die Mitgliedsstaaten ›für die Demokratie sicher‹ zu machen. Warum ist dann die Demokratie zu einem der hauptsächlichen Rechtfertigungsprinzipien geworden? Im nächsten Kapitel untersuche ich, warum dem so ist und warum dies auf eine Unterstützung der parlamentarischen DemokraRechtssache C-184/99 Urteil des Gerichtshofes vom 20. September 2001. – Rudy Grzelczyk gegen Centre public d’aide sociale d’Ottignies-Louvain-la-Neuve, http:// eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=CELEX:61999J0184:DE:HTML
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65 https://doi.org/10.5771/9783495860526 .
Ein Supranationalismus auf freiwilliger Basis
tie hinausgelaufen ist. Zusätzlich zu der Kodifizierung und Institutionalisierung einer Grundrechtscharta und eines Kompetenzenkatalogs können in dem Konstitutionalisierungsprozess der EU als weitere zentrale Elemente die Entwicklung repräsentativer parlamentarischer Institutionen genannt werden.
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3. Die europäische Demokratie
»Die überlieferten Nationalstaaten, insbesondere ihre demokratischen Parlamente und ihre Regierungen, bilden somit bis heute das Handlungszentrum des europäischen Einigungsprozesses.« (Lutz-Bachmann 1995:75)
Das europäische Integrationsprojekt stellt eine Reaktion auf eine Vergangenheit dar, die durch Kriege geprägt war. Es entstand in den Ruinen des Zweiten Weltkriegs und zielte darauf ab, nationalistischer Aggression und zwischenstaatlichen Kriegen ein Ende zu setzen. 58 Von Anfang an war es ein normatives Projekt, in dem es um die (Selbst-)Einhegung Deutschlands, die Beendigung von Krieg in Europa sowie um das Erreichen von Stabilität, Wohlstand und einer friedlichen Koexistenz ging. Die neue politische Ordnung wurde dabei auf freiwillige Weise und durch eine verstärkte ökonomische Zusammenarbeit geschaffen. Jedoch waren es nicht nur die Motive der Föderalisten, die von den Vereinigten Staaten von Europa träumten, oder die mit einer Interdependenz einhergehenden technischen Imperative und die von (Neo-)Funktionalisten besonders hervorgehoben werden, die die Herausbildung der Europäischen Gemeinschaft in erster Linie befeuert haben. Der europäische Integrationsprozess war das unmittelbare Ergebnis der allgemeinen, jeden Nationalstaat Europas betreffenden Katastrophe des Zweiten Weltkriegs. Dieser Krieg stellt für ganz Europa ein unglaubliches Unglück dar. Überall litten die Menschen Not und Verzweiflung. Krieg und Besatzung herrschten von der Arktis bis zum Mittelmeer, vom Atlantik bis zum Kaukasus. Die Europäischen Gemeinschaften wurden geschaffen, um dauerhaftes Leid, zwischenstaatliche Kriege und einen zukünftigen Zusammenbruch der Wirtschaft zu verhindern. Die Phase der Rekonstruktion war dabei auch eine Zeit, die geprägt war von dem Umsturz der 58
Dieses Kapitel greift zurück auf Eriksen et al. 2005; Eriksen und Fossum 2012a.
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Die europäische Demokratie
amoralischen Unrechtsregime der Vorkriegszeit sowie von einer unruhigen und hochgradig instabilen internationalen Ordnung. Die Erfahrungen der Weimarer Republik standen den Menschen lebhaft vor Augen und die Bevölkerungen wählten links. Eingedenk des Schicksals der Weimarer Republik bestand die Aufgabe der Integration entsprechend nicht darin, die Europäischen Gemeinschaften zu demokratisieren, sondern, in einer Zeit, in der 25 Prozent der Wähler in Frankreich und Italien kommunistische Parteien wählten, die Nationalstaaten für die Demokratie sicher zu machen (Milward 1984). Das Besondere an der Demokratie, wenn man sie als Muss-Vorstellung begreift, ist nun, dass sie ein Ideal darstellt, das auf inklusive Verfahren verweist, die durch die Rechte der Bürger auf Partizipation und Rechenschaft konstituiert werden. Sie überlässt es dabei den Bürgern, ihre nähere Gestalt in praktischer und institutioneller Hinsicht zu bestimmen. Da tatsächlich bestehende institutionelle Ordnungen jeweils auch schwer zu rechtfertigende spezielle Traditionen, Gebräuche und Machtkonstellationen reflektieren, können sie allerdings nur Annäherungen an ideale demokratische Verfahren sein. Eine echte Demokratie wurde noch nie verwirklicht. Weder haben Nationalstaaten noch Föderationen eine perfekte demokratische Form angenommen. 59 Entsprechend sollten wir zwischen den die Demokratie rechtfertigenden Gründen und den Formen ihrer Institutionalisierung unterscheiden und folglich zwischen der Demokratie im Sinne eines Legitimationsprinzips und im Sinne ihrer Organisationsform. Machthaber können ihre Entscheidungen überhaupt nur rechtfertigen, und Bürger diese kritisch überprüfen, wenn sie demokratische Verfahren befolgen; nur wenn auf diese Verfahren zurückgegriffen wird, können kollektive Ziele auf legitime Weise erreicht werden; nur hierdurch können Gesetze sanktioniert, verändert und korrekt durchgesetzt werden. Die Demokratie ist, mit anderen Worten, nicht mit einer spezifischen Organisationsform identisch, sondern stellt vielmehr ein Prinzip dar, welches verdeutlicht, was es heißt, politische Ergebnisse in richtiger Weise herbeizuführen. In modernen Staaten ist das Demokratieprinzip nur unvollständig und halbherzig institutionalisiert, nichtsdestotrotz aber wirkt es als ein kritischer Maßstab. Die verschiedenen organisatorischen Manifestationen dieses Dieser Umstand war schon Jean-Jacques Rousseau bekannt. Luhmann (2000) hält die Verwirklichung einer ›echten Demokratie‹ für blanke Illusion und Dahl (1971) wählte zur Charakterisierung moderner Demokratien den Ausdruck der ›Polyarchie‹.
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Meilensteine der Demokratisierung
Prinzips verweisen auf Formen wie direkte oder partizipatorische Demokratie und auf indirekte, repräsentative Formen wie etwa die parlamentarische und präsidentielle Demokratie. Dabei reflektieren diese Organisationsformen die spezielle Verbindung von Institutionen, Verfahren, Entscheidungsprozessen, Regeln, Kompetenzen und Sanktionen. Diese bilden die maßgeblichen Regierungsstrukturen und ermöglichen Entscheidungen, die die ganze Bevölkerung betreffen und allgemein verbindlich sind. In dem Teil, der nun folgt, werde ich erstens die ›Bewegungskurve‹ der Demokratie der EU nachzeichnen – d. h. die Meilensteine ihrer Demokratisierung. Indem ich diesen Prozess rekonstruiere, analysiere ich auch die Inkonsistenz, die sich daraus ergibt, wenn die Demokratie als ein Prinzip zwar auf die Mitgliedsländer, nicht aber auf die EU selbst angewendet wird. Anschließend richte ich die Aufmerksamkeit auf die Kontestations- und Politisierungsprozesse, die nach Maastricht (1992) stattgefunden haben. In einem letzten Schritt diskutiere ich, warum die Unterstützung für eine postnationale Demokratie die Gestalt einer Unterstützung für die parlamentarische Demokratie angenommen hat.
Meilensteine der Demokratisierung Auf der europäischen Ebene gelangte die Demokratie 1976 zu vollem Ausdruck. Durch die damals getroffene Entscheidung, die Repräsentanten des Europäischen Parlaments in allgemeinen Wahlen bestimmen zu lassen, wurde dieses zu dem einzig genuin supranationalen Parlament der Welt. Überdies schuf der Vertrag von Maastricht das EU-Bürgerrecht, welches, ebenso wie andere Individualrechte, eine wichtige Komponente der Demokratie im Sinne einer Selbstgesetzgebung darstellt. Fest verankert und zu einem konstitutionellen Prinzip wurde das Bekenntnis zur Demokratie dann in dem Vertrag von Amsterdam (1997). Schließlich wurde in dem Vertrag von Lissabon (2007) das Recht des EU-Parlaments, gemeinsam mit dem EU-Rat durch sogenannte ›ordentliche Gesetzgebungsverfahren‹ gesetzgeberische Aufgaben auszuüben, eingeführt. Dies betrifft dabei die überwiegende Mehrheit der Gesetzgebung innerhalb des Gemeinsamen Marktes ebenso wie im Bereich Justiz und Inneres. Somit lässt sich eine deutliche Zunahme der Fähigkeiten des EU-Parlaments verzeichnen, die Kommission zur Rechenschaft zu ziehen und die Wahl der 69 https://doi.org/10.5771/9783495860526 .
Die europäische Demokratie
Kommissionsmitglieder zu kontrollieren. Damit die nationalen Parlamente in den Gesetzgebungsverfahren gewissermaßen den ›Schutz‹ des Subsidiaritätsprinzips gewährleisten konnten, wurde in dem Lissaboner Vertrag ein ›Frühwarn-Mechanismus‹ eingerichtet. Zudem wurde in ihm die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, die den Teil II des hinfälligen Verfassungsvertrages (2004) bildete, durch einen Querverweis ersetzt, der den verbindlichen Charakter der Charta etablierte und ihr eine gleiche Rechtswirkung wie den Verträgen einräumte (Art. 6.1. Vertrag der Europäischen Union). 60 Einen festen Platz erhielt das Demokratieprinzip dann in dem Artikel 10 des Vertrages. 1. Die Arbeitsweise der Union beruht auf der repräsentativen Demokratie. 2. Die Bürgerinnen und Bürger sind auf Unionsebene unmittelbar im Europäischen Parlament vertreten. Die Mitgliedsstaaten werden im Europäischen Rat von ihrem jeweiligen Staats- oder Regierungschef und im Rat von ihrer jeweiligen Regierung vertreten, die ihrerseits in demokratischer Weise gegenüber ihrem nationalen Parlament oder gegenüber ihren Bürgerinnen und Bürgern Rechenschaft ablegen müssen. 3. Alle Bürgerinnen und Bürger haben das Recht, am demokratischen Leben der Union teilzunehmen. Die Entscheidungen werden so offen und bürgernah wie möglich getroffen. 4. Politische Parteien auf europäischer Ebene tragen zur Herausbildung eines europäischen politischen Bewusstseins und zum Ausdruck des Willens der Bürgerinnen und Bürger der Union bei. Zudem schuf der Vertrag von Lissabon ein Initiativrecht der Bürger. Dieses ermöglicht, dass, so sich mindestens eine Millionen Unterzeichnende finden, die Kommission mittels eines Bürgerbegehrens beauftragt werden kann, entsprechende Gesetzgebungsvorschläge auszuarbeiten (Art. 11.4 des Vertrags über die Europäische Union (EUV) und Art. 24 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV)). Die Unionsbürgerschaft wurde dadurch geEin zusätzliches Protokoll sieht spezifische Maßnahmen für das Vereinigte Königreich und Polen vor, die bei der Justiziabilität der Charta nationale Ausnahmefälle etablieren, vgl. Protokoll Nr. 30 ›Über die Anwendung der Charta der Grundrechte der Europäischen Union auf Polen und das Vereinigte Königreich‹.
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Meilensteine der Demokratisierung
stärkt und weiterentwickelt und das Recht der Bürger, den Europäischen Gerichtshof anzurufen, erweitert. Was verglichen mit internationalen Organisationen somit neu und wichtig an der EU ist, sind ihre supranationalen demokratischen Eigenschaften, die auch das Mehrheitswahlrecht beinhalten. Sie weist Elemente der Repräsentation, der Offenheit, Transparenz, Inklusion und der durch Wahlen ausgeübten Kontrolle der Politik auf. Die Institutionen der EU – insbesondere der EuGH und das EU-Parlament –, die Regierungen und Parlamente der Mitgliedsstaaten, sozialen Bewegungen und der Druck der Bevölkerung haben in einem jahrzehntelangen Prozess die EU zu einem postnationalen Gemeinwesen werden lassen. Dieses strebt nach direkter Legitimität, was bedeutet, dass die machtausübenden Institutionen durch das Volk autorisiert werden und gegenüber den von Entscheidungen betroffenen Parteien direkt rechenschaftspflichtig sein sollten (Bentham und Lord 1998). Für die europäische Demokratie stellte der 1992 geschlossene Vertrag von Maastricht schließlich den Wendepunkt dar. Von diesem Zeitpunkt an ging es nicht mehr nur darum, die Mitgliedsstaaten für die Demokratie sicher zu machen, sondern vielmehr um die direkte Legitimation eines supranationalen Gemeinwesens. Einige betrachten diesen Wechsel als Ergebnis der Entwicklungen in den 1980er Jahren, als die neoliberale Rhetorik der Freiheit und des freedom of choice bei der Herausbildung eines einheitlichen europäischen Marktes an Einfluss gewann – aber natürlich hatte diese Entwicklung einen längeren Verlauf (vgl. Schulz-Forberg und Stråth 2010: 4). Folgende Stationen lassen sich als die zentralen Meilensteine der Demokratisierung der EU festhalten: • Ein immer engerer Zusammenschluss der Staatsvölker Europas (Vertrag von Rom, 1957); • eine neue, auf dem Völkerrecht beruhende Rechtsordnung (Rechtsprechung des EuGH von 1963 und 1964) 61; • Direktwahlen des Europäischen Parlaments; diese wurden zum ersten Mal 1979 abgehalten; • die Unionsbürgerschaft (Vertrag von Maastricht 1992); • die Festschreibung von Demokratie als konstitutioneller Norm (Vertrag von Amsterdam 1997); Rechtssache 6/64, vgl. Fußnote 44, sowie Rechtsache 26/62 Van Gend und Loos, vgl. Fußnote 52.
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Die europäische Demokratie
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die auf der Regierungskonferenz im Jahr 2000 proklamierte Charta der Grundrechte der Europäischen Union; die Ausdehnung der Kontrolle der Kommission durch das Europäische Parlament (Vertrag von Lissabon 2007); die Einführung des Mitentscheidungsverfahrens, die das Europäische Parlament zu einer dem Rat gleichberechtigten gesetzgeberischen Körperschaft werden ließ (Vertrag von Lissabon 2007); das Recht auf ein Bürgerbegehren. Dieses ermöglicht, so sich mindestens eine Millionen Unterzeichnende aus einer signifikanten Anzahl von Mitgliedsstaaten finden, die Kommission zu beauftragen, hinsichtlich einer spezifischen Angelegenheit initiativ zu werden (Vertrag von Lissabon 2007).
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Um jedwedes Missverständnis zu vermeiden: Es existiert so lange keine Demokratie, solange es nicht in den Europa-Wahlen darum geht, eine Regierung oder einen Präsidenten zu wählen. Nichtsdestotrotz wurden in der EU durch den Vertrag von Maastricht und seinen Folgen zunehmend Fragen der Demokratie und Legitimität wichtig. In den Verträgen von Amsterdam und Nizza, und insbesondere in dem 2001 in Laeken eingeleiteten konstitutionellen Prozess, bekundete die EU eine tiefe Sorge hinsichtlich ihrer eigenen demokratischen Legitimität. Indem die EU die Einberufung eines deliberativ verfassten Konvents vorsah, initiierte sie sogar einen Verfassungsgebungsprozess, der in Einklang mit den besten demokratischen Traditionen steht. Die Entscheidung, einen Konvent über die Zukunft Europas einzuberufen, wurde 2001 auf dem Gipfel von Laeken getroffen. 62 Später dann wurde dieser Konvent, der den Entwurf für den Verfassungsvertrag der EU (der von achtzehn Mitgliedsstaaten ratifiziert wurde) ausarbeitete, Verfassungskonvent genannt. Jedoch wurde dieser Vertrag im Jahr 2005 in Frankreich und den Niederlanden in zwei Volksabstimmungen abgelehnt, was zu neuen Verhandlungen führte, die wiederum in den Vertrag von Lissabon mündeten. Auch wenn der Vertrag von Lissabon im Vergleich mit dem Verfassungsvertrag aus konstitutioneller Perspektive verwässert ist – wurden doch alle verfassungsrechtlichen Symbole gestrichen –, ist doch sein überwiegender Inhalt übernommen worden. Nun stellt sich aber
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Erklärung von Laeken, vgl. Fußnote 17.
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Die Forderung nach einer europäischen Demokratie
die Frage, wie es dazu gekommen ist, dass die Demokratie überhaupt eine konstitutionelle Norm in der EU wurde?
Die Forderung nach einer europäischen Demokratie Eine postnationale Demokratie ist umstritten. Dennoch aber wurde seit den ersten Anfängen der europäischen Integration von einem breiten Spektrum von Akteuren – von zentralen Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens über die Kernländer bis hin zu EU-Institutionen – die Forderung nach einer repräsentativen Demokratie auf EUEbene erhoben. Demokratische Föderalisten hielten hier das Steuer in der Hand (sowohl in den Mitgliedsstaaten als auch auf der EU-Ebene) und verteidigten eine enge semantische Verknüpfung zwischen den Grundsätzen der Demokratie und des Parlamentarismus. Jean Monnet war es, der bekannterweise den Anspruch geltend machte: »Nicht Staaten verbinden wir, sondern Völker vereinigen wir«; und, »in einer Welt, in der die Autorität einer Regierung in repräsentativen parlamentarischen Versammlungen wurzelt, kann Europa nicht ohne eine solche Versammlung erbaut werden.« Und schon 1942 argumentierte Altiero Spinelli in dem Manifest von Ventotene für ein föderales Europa und war maßgeblich an der Gründung des Europäischen Parlaments beteiligt (vgl. Spinelli 2007). Zudem spielte die Herausbildung der christlich-demokratischen Parteien im Europa der Nachkriegszeit eine entscheidende Rolle für die politische Integration Europas. Die Christdemokraten Alcide De Gasperi, Konrad Adenauer und Robert Schuman waren Mitbegründer der Europäischen Gemeinschaft. »Diese Staatsführer traten für Subsidiarität und ein Europa ein, das in seinem ›christlich-humanistischen‹ Erbe vereint wäre« (Müller 2013: 239). Sie waren ›Personalisten‹, die sowohl an einen Supranationalismus wie auch an Subsidiarität, an Würde wie auch an eine Eliten-Demokratie geglaubt haben. Als politische Akteure waren jedoch nicht nur zentrale Persönlichkeiten, sondern ebenso auch die Mitgliedsstaaten von Bedeutung. Zur Zeit ihrer Gründung schlug Deutschland während der Verhandlungen über den Schuman-Plan vor, dass die EU einen föderalen, demokratischen Staat zur normativen Vorlage haben sollte – und Deutschland hat seitdem an diesem Vorschlag festgehalten. Im Jahr 2000 löste dann Joschka Fischer in einer Rede an der Berliner Humboldt-Universität die Debatte über eine EU-Verfassung aus und for73 https://doi.org/10.5771/9783495860526 .
Die europäische Demokratie
derte den Übergang von einem Staatenverbund hin zu einer vollständig parlamentarisierten Föderation. Die meisten der Institutionen der EU haben zu unterschiedlichen Zeiten als zentrale Akteure der Demokratisierung fungiert. Von den ersten Anfängen an hat das EUParlament immer wieder auf die doppelte Legitimation der Union (durch die Bürger und die Staaten) und die Notwendigkeit, demokratische Prinzipien in der EU fest zu verankern, hingewiesen. Zudem fasste der EuGH Grundrechte als Kernprinzipien des EU-Rechts auf und trug von Beginn an dazu bei, die Rolle des Europäischen Parlaments zu stärken. Dieser Entwicklung wurde dann in der Festschreibung der Unionsbürgerschaft in den Maastricher Verträgen weiteres Gewicht verliehen. Es ist nun aber eine Sache, dass Forderungen von institutionellen Akteuren erhoben werden; eine andere ist es zu klären, wieso überhaupt die Demokratie während des Integrationsprozesses die normative Vorlage – eine Muss-Vorstellung – sein konnte. Im Folgenden werde ich die Lösung dieses Rätsels in den üblichen demokratischen Normen suchen, auf die bei Entscheidungsfindungsprozessen zurückgegriffen werden kann. Dabei befinde ich mich in Übereinstimmung mit der zentralen Annahme der deliberativen Demokratie, dass Bürgern gegenüber Beschlüsse und Gesetze im Lichte vereinbarter institutioneller Standards gerechtfertigt werden müssen. Hierbei spielten, und spielen immer noch, die Kodizes und Kategorien des demokratischen Verfassungsstaats eine zentrale Rolle als Imperative der Integration.
Kodizes und Einrastmechanismen Rechtliche Regelungen und demokratische Verfahren begründen Auswahlmöglichkeiten, Räume, in denen sich Akteure begegnen können, und Verhaltensmaßregeln, die einer deliberativen Entscheidungsfindung förderlich sind. Zudem begründen sie auch die grundlegenden Sprachkodizes oder symbolischen Kategorien, die notwendig sind, um Akteure in die Lage zu versetzen, allgemeine Angelegenheiten durch einen Bezug auf Rechte und Verfahren zu regeln. Da die rechtlich-demokratischen Arrangements Rechtfertigungs- und Geltungskriterien verkörpern, konstituieren sie eine gemeinsame Sprache – ein Medium –, die es Akteuren ermöglicht, sich in Bezug auf kollektive Verbindlichkeiten und Haltungen zu beratschlagen und 74 https://doi.org/10.5771/9783495860526 .
Bedingungen für eine angemessene Regierungsführung
eine Einigung zu erreichen. Demokratie, Rechtsstaatlichkeit (rule of law) und Menschenrechte mit ihrem jeweiligen weiteren Beiwerk – der Gewaltenteilung, einer rechenschaftspflichtigen Regierung sowie Wahlen – repräsentieren die diskursiven Kodizes der politischen Institutionen, die den gemeinsamen Verfassungstraditionen der EUMitgliedsstaaten entspringen. Sie sind als Muss-Vorstellungen tief in der paneuropäischen, westlichen politischen Kultur eingebettet. Solche Kodizes bereiten den gemeinsamen Grund dafür, dass Akteure einander politisch vertrauen können. Sie liefern einen Nährboden für Kooperation und Deliberation, für Lernprozesse, das Lösen von Problemen und die Beilegung von Konflikten. Diese Standards werfen Licht auf das Rätsel, dass die postnationale Demokratie, obwohl sie in Europa umstritten ist, zu einer konstitutionellen Norm der EU gemacht wurde. 63 Der Ruf nach einer europäischen Demokratie erhob sich schließlich, als die Integrationsprozesse, die darauf aus waren, die ›Nationalstaaten für die Demokratie sicher zu machen‹, über einen Intergouvernementalismus hinausführten. Dies liegt daran, dass mit derartigen Prozessen ein Machtzuwachs für expertokratische Körperschaften, die selbst nicht rechenschaftspflichtig sind, einhergeht. In zunehmendem Maße wurde die Diskrepanz zwischen den technokratischen und entpolitisierten europäischen Institutionen und den Werten und Grundsätzen, zu denen sich die EU verpflichtet hat, erkannt – und mit der Zeit entwickelte sich dies schließlich zu einem politischen Problem. Unter Bedingungen der Politisierung und des Streits sind derartige Inkonsistenzen kaum beizubehalten. Aber zuerst sollte beachtet werden, dass bei der Verankerung der Standards vor allem auch die BeitrittsBedingungen der EU für Bewerberländer eine Rolle gespielt haben.
Bedingungen für eine angemessene Regierungsführung Der europäische Integrationsprozess selbst trug auf der nationalstaatlichen Ebene zu einer Stabilisierung des Übergangs zur Demokratie In diesem Kontext ist darauf hinzuweisen, dass Regierungen der Übertragung von Befugnissen an das Europäische Parlament deswegen zugestimmt haben, da sie – zumindest einige von ihnen – vermuteten, es würde schwer gegenüber der heimischen Öffentlichkeit zu verteidigen sein, dass eine derartige Machtfülle bei einem Ministerrat konzentriert sein sollte, der nicht einer Kontrolle auf der europäischen Ebene unterliegt.
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Die europäische Demokratie
bei: Zuerst in Westdeutschland und Italien, dann in den 1970er Jahren in Griechenland, Portugal und Spanien; und noch später wiederum in den zentral- und osteuropäischen Beitrittsländern. In den 1970er Jahren dann war die Debatte im Europäischen Rat über die zweite Erweiterung ein bedeutender Faktor bei der Etablierung der Demokratieförderung als wichtige neue Legitimationstrategie des Europarates. Diese neue Strategie ergänzte dabei das alte Ziel der Friedenssicherung (Sjursen 2006; Verney 2006; siehe auch Judt 2005). Es wurde nun offenkundig deutlich gemacht, dass die EU ausschließlich aus demokratischen Staaten besteht. Eine Mitgliedschaft in der EU ist unvereinbar mit Despotismus und Totalitarismus. Dass der EU ihre demokratische Legitimität ein großes Anliegen war, spiegelt sich auch in den im Jahr 1993 in der Deklaration von Kopenhagen aufgeführten Kriterien wider, die die Auswahl der Staaten betreffen, die sich um eine Mitgliedschaft in der EU bewerben konnten. Um ein Mitglied der EU zu werden, muss ein Staat in der Lage sein, die folgenden drei Bedingungen, die auf der Tagung des Europäischen Rats in Kopenhagen festgelegt wurden, zu erfüllen: 64 • Er muss eine funktionierende Marktwirtschaft haben, die dem Wettbewerbsdruck und dem Marktkräften innerhalb der EU gewachsen ist; • Die Institutionen, die Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte gewährleisten, müssen stabil sein; • Er muss in der Lage sein, die mit der EU-Mitgliedschaft einhergehenden Verpflichtungen, eingeschlossen die Ziele der wirtschaftlichen und politischen Union, zu übernehmen. Zudem wird als weitere Bedingung der Schutz von und Respekt für Minderheiten aufgeführt. Europas Haltung zu und die Festlegung auf demokratische Normen und Arrangements hilft sicherzustellen, dass derlei Forderungen durch viele institutionelle Strukturen getragen werden, die den Demokratisierungsprozess antreiben. Dies gilt auch für Zentral- und Osteuropa, da die westeuropäische Vorlage für eine Demokratie – ihre liberale repräsentativ-parlamentarische Version – das einzige erreichbare Muster für diese Staaten nach 1989 war (Müller 2013: 397; Fukuyama 1992). Schlussfolgerungen des Vorsitzes des Europäischen Rates in Kopenhagen, 21.–22. Juni 1993, S. 13, http://www.consilium.europa.eu/ueDocs/cms_Data/docs/pressData/ de/ec/72924.pdf (zugegriffen am 11. 03. 2014).
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Kontestation und Demokratisierung
Die derzeit bestehenden politischen Anforderungen an eine Mitgliedschaft greifen weit in die Regierungssysteme der individuellen Staaten ein. Die EU fordert nicht nur, dass die Bewerberstaaten ein demokratisches Regierungssystem haben. Sie verlangt auch spezifische Standards für Individualrechte, ordnet den Bürgern neue Rechte zu und greift somit weit in die jeweiligen Strukturen jedes innenpolitischen Systems ein. Auf diese Weise bestätigt die Erweiterung der EU, dass in Europa ein neuer Typus politischer Ordnung entsteht, und zwar eine Ordnung, die selbst für die Mitgliedsstaaten starke Einrastmechanismen etabliert. Augenblicklich fanden sich die neuen, nunmehr ›freien‹ Staaten durch nicht-majoritäre Institutionen eingeschränkt – durch bindende nationale Verfassungen und zunehmend durch das Völkerrecht und supranationale Institutionen. Die gegenwärtig vorliegende Regierungsform, die das wesentliche Orientierungsmuster nach 1945 gewesen ist, kann man als gefesselte Demokratie bezeichnen (Müller 2013). Sie stellt eine Form von Demokratie dar, in der eine politische Autorität oberhalb der Staaten legitimerweise darüber befinden kann, was ›Recht und Gesetz‹ ist und auch die Kompetenz hat festzulegen, was die Maßstäbe einer angemessenen Regierungsführung sind. Diese neue Ordnung bildet einen Sachverhalt ab, in dem die Legitimität von Gesetzen nicht mehr in einer Demokratie im Sinne einer autonomen, sich selbst regierenden Schicksalsgemeinschaft wurzelt. Stattdessen gründet sie in einer Demokratie im Sinne einer (selbst- und) ko-regierenden Bürgerschaft, deren Entscheidungen mit den Grundsätzen der Menschenrechte, die ihrer Natur nach universell und kosmopolitan sind, übereinstimmen. Diese ursprünglich den Bewerberstaaten oktroyierten Standards wurden mit der Zeit nun auf die EU selbst angewandt.
Kontestation und Demokratisierung Seit der Ratifizierung des Vertrages von Maastricht sind insbesondere die Korollare der Demokratie – wie etwa eine durch Wahlen ausgeübte Kontrolle, Gewaltenteilung sowie die Rechenschaftspflicht der Exekutive – die allgemeinen Verständniskategorien und gemeinsamen Evaluationsmaßstäbe geworden, auf die Akteure im Umgang mit der EU Bezug nehmen. Wir erleben eine Entwicklung von einer Situation, in der die Demokratie ausschließlich für Nationalstaaten als Leitnorm diente, zu einer, in der sie auch bei der Evaluierung der 77 https://doi.org/10.5771/9783495860526 .
Die europäische Demokratie
EU ein zunehmend relevanter Maßstab geworden ist. Die öffentliche Meinung fing an zu erkennen, dass die Union ein Demokratiedefizit birgt und begann damit, dies zunehmend zu thematisieren. Zudem erkannten die Staatsoberhäupter, führende Mitglieder des EU-Parlaments und weitere EU-Offizielle, dass die starke Opposition gegenüber und lautstarke Kritik an diesem Sachverhalt die Entwicklungsfähigkeit und Stabilität des Integrationsprozesses gefährdete und von daher Abhilfe geschaffen werden musste. »Eine Debatte, die einmal auf die ökonomischen und politischen Eliten beschränkt war, fand ihren Weg nun zu einem größeren Publikum. Die ›immer engere Union‹ war auf einmal tatsächlich in greifbare Nähe gerückt und erschien nun für viele nicht übermäßig attraktiv. In nahezu allen Mitgliedsländern sanken zum ersten Mal in der Existenz der Europäische Gemeinschaft die Zahlen, die die Unterstützung der europäischen Integration anzeigten.« (Abromeit 2001: 178)
In diesem Zusammenhang sind auch die Volksentscheide über den Vertrag von Maastricht, die das Ende des permissiven Konsenses kennzeichneten, wichtig. Zu dieser Zeit entzogen die Völker Europas (insbesondere, aber bei Weitem nicht als einzige, die Dänen und Franzosen) ihre ›stillschweigende Zustimmung zu der Integration‹. Dies hatte zur Folge, dass die Machteliten in der EU zunehmend mit einer tiefgreifenden Kritik der EU, diese sei eine technokratische Maschinerie und ein Elitenprojekt, konfrontiert wurden (Siedentop 2000). Der Ruf nach mehr Transparenz und Demokratie wurde allgegenwärtig, als schließlich während der 1990er Jahre die Demokratie zurückschlug. Mit den Worten eines in diesem Bereich zentralen Politikwissenschaftlers: »Es war die öffentliche Reaktion, die regelmäßig und ausgesucht feindselig war, sowie die sich anschließende öffentliche Debatte, die beinahe dazu geführt haben, Maastricht zu versenken. Dieses Ereignis kann als der wichtigste konstitutionelle ›Moment‹ in der Geschichte des europäischen Konstrukts gelten.« (Weiler 1999a: 4)
Die Verträge von Maastricht halfen dabei, ein Bezugssystem zu generieren, in dem die Demokratie zunehmend als übergreifende Norm dient, auf die sich Befürworter wie Gegner beziehen können. Innerhalb dieses Rahmens muss jeder weitere integrative Schritt mit Bezug auf die Demokratie begründet werden. Durch die Verankerung der Europäischen Bürgerschaft in dem Vertrag von Maastricht wurde dieser Entwicklung dann weiteres symbolisches und substantielles Ge78 https://doi.org/10.5771/9783495860526 .
Kontestation und Demokratisierung
wicht verliehen. In der Folge diente der starke Begriff der Bürgerschaft dann dazu, einen Bürgeraktivismus hervorzurufen sowie als Ansporn für weitere institutionelle Reformen. Diese könnten schließlich den Bürgern das Vertrauen geben, dass sie in einem System rechtlicher und politischer Institutionen leben, das ihnen erlaubt, sich gegenseitig als Bürger einer europäischen politischen Ordnung anzusehen, über deren Gesetze sie gemeinsam entscheiden. Dazu kommt, dass die nach Maastricht einsetzende Politisierung des Integrationsprozesses durch den Widerstand gegen die von Brüssel betriebene ›Homogenisierung‹ vorangetrieben wurde. Dabei gewinnt die Angst hiervor Teile ihres Impetus aus der Erfahrung mit den Nationenbildungsprozessen auf der nationalstaatlichen Ebene. Europas Anerkennung von Diversität spiegelt sich in einer subtilen Veränderung in dem credo der Union wider: Von der ›immer engeren Union‹ der Verträge von Rom und Maastricht zu Laekens unitas in diversitate – ›vereint in Verschiedenheit‹. 65 Eine Politisierung und Kontestation hat zwar zugenommen, ist aber mit der Zeit institutionalisiert und normalisiert worden. Europaskeptische Parteien sind zu einem integralen Bestandteil des repräsentativen Systems der EU geworden. Während des Ratifizierungsprozesses des Maastrichter Vertrages wurde klar herausgestellt, dass der adäquate Standard, an dem man die Union messen muss, ein demokratischer sein würde. Die Bürger haben diesen Standard der EU und den Erklärungen und Begründungen der Entscheidungsträger entgegengehalten. Dabei haben sie klar gemacht, dass sie mit den Antworten, die sie erhalten hatten, und mit dem, was sie über die EU herausgefunden hatten, nicht zufrieden waren. Seit dieser Zeit können Wissenschaftler und Kritiker im Rückgriff auf ein wesentlich expliziteres System von Standards beurteilen, ob die von der EU beschlossenen Maßnahmen überhaupt angebracht und sachgemäß sind. Eine Identifizierung von Doppelmoral und kognitiven Dissonanzen 66 wurde erheblich erleichtert.
Letzterer Begriff tauchte um das Jahr 2000 in dem Vokabular der Union auf und stellt das Motto der EU dar, siehe http://europa.eu/abc/symbols/motto/index_en.htm (zugegriffen am 6. September 2013). Das Ziel, zu einer immer engeren Union zu gelangen, wird allerdings in den Verträgen beibehalten. 66 D. h. das Missempfinden, das erfahren wird, wenn man zugleich zwei oder mehrere Ideen oder Überzeugungen hat, die miteinander konfligieren. 65
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Die europäische Demokratie
Das Aufspüren von Inkonsistenzen Der deliberativen Theorie zufolge wird unter Bedingungen von Freiheit und Gleichheit das Bestehen von Doppelmoral und kognitiven Dissonanzen grundsätzlich zu einem Problem. Die Deliberation stellt einen Prozess sicher, der auf dem Austausch von Gründen beruht und in dem Rechtfertigungen verlangt und geliefert werden. Unter günstigen Bedingungen werden daher in der Deliberation Täuschungsmanöver und Ungerechtigkeit aufgespürt. Von den Entscheidungsträgern wird erwartet, dass sie ihre Ansichten und Handlungen gegenüber den betroffenen Parteien erklären und rechtfertigen und sie, sollten Fehler und Inkonsistenzen entdeckt werden, abändern. Ein erhellendes Beispiel für die Abschaffung von illegitimen Rechtfertigungsversuchen, die von direkter Bedeutung für das europäische Integrationsprojekt gewesen ist, ist das Ende der Kolonisation nach dem Zweiten Weltkrieg. Wie konnte im Einklang mit den Normen und Prinzipien, die den Kampf gegen Nazismus und Faschismus bestimmten, eine Kolonisation aufrechterhalten werden? Waren die politisch-moralischen Argumente, die im Kampf gegen Nazi-Deutschland dazu dienten, den Widerstand zu organisieren, Soldaten einzuberufen und zu mobilisieren, bloße Lippenbekenntnisse? War bei der Mobilisierung im Kampf gegen unmittelbare Feinde der Bezug auf Menschenrechte und Demokratie, auf die Werte der ›freien Welt‹, einfach nur ein strategisches Mittel, um die unterschiedlichen Parteien zu Kooperation und Opfern zu bewegen und die Mächtigen zu schützen? Und nicht Prinzipien von universellem Wert und Reichweite? Man kann es so verstehen, dass Staatsoberhäupter und andere Führungspersönlichkeiten schlicht dazugelernt haben, ihre Ansichten geändert und mit falschen Annahmen aufgeräumt haben; oder dass sie schließlich doch ihre Lippenbekenntnisse tatsächlich wahrmachen mussten. Wie dem auch sei, so oder so musste mit dem doppelzüngigen Gerede Schluss gemacht werden: »Wie ein Abgeordneter am 3. September 1939 im britischen Unterhaus erklärt hatte, ging es in diesem Krieg darum, ›auf unverrückbaren Grundfesten die Rechte des Individuums zu begründen; und es ist ein Krieg für die Sicherung und Wiedergeburt der menschlichen Persönlichkeit‹. Nicht einmal ein Churchill – denn er war es, der die Kriegsziele so definierte – konnte von derlei Verkündigungen leicht zurückrudern.« (Müller 2013: 262 f.) 67 67
Ein weiteres Beispiel stellen die sowjetischen Oppositionellen dar, die, um die Un-
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Das Aufspüren von Inkonsistenzen
Freiheit konnte nicht länger nur einigen bevorzugten Völkern gewährt werden. Die 1953 in Kraft getretene Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) machte, zusammen mit der UN-Deklaration von 1948, deutlich, dass Menschenrechte nicht länger den Weißen vorbehalten waren. 68 Auch wurde hinsichtlich des europäischen Integrationsprozesses zunehmend klar, dass es auch hier eine gewisse Doppelzüngigkeit gab. Könnte die EU denn selbst ein Mitglied der Union werden, wenn sie sich darum bewürbe? Diese durchaus berechtigte Frage half dabei, systematisch Druck auf die Institutionen der EU auszuüben, damit diese sich an demokratischen Normen orientieren und ein institutionelles Gefüge entwickeln konnten, das mit diesen Normen übereinstimmt. Die deliberative Theorie geht davon aus, dass Erklärungen und Rechtfertigungen, so sie ins Bewusstsein gebracht und öffentlich gemacht, offen vorgetragen und verbalisiert werden, reziprok und allgemein sind, kritisch überprüft werden. Kollektive Glaubensvorstellungen, die intern mehrdeutig sind, aber auch Rechtfertigungsversuche, die selbstwidersprüchlich sind, werden so aufgedeckt. Von daher dient die öffentliche Deliberation dazu, aufzudecken, wenn mit zweierlei Maß gemessen wird oder es inkonsistente Begründungen gibt: Werden Gründe darauf geprüft, ob sie mit den Normen der Gleichheit und Unparteilichkeit übereinstimmen, dann werden Inkohärenzen und Inkonsistenzen aufgespürt. Man nimmt an, dass die Erfahrung kognitiver Dissonanzen Akteure dazu bringt, neue Gedanken oder Überzeugungen anzunehmen oder bestehende Ansichten zu modifizieren, um schließlich den Konflikt zwischen verschiedenen Kognitionen zu reduzieren (vgl. Festinger 1957). Dies kann auch das Ergebnis sein, wenn Akteure dazu neigen, in strategischer Weise zu handeln. Akteure mögen lügen – ihre Präferenzen falsch darstellen – und einander täuschen, indem sie so tun, als würden sie Tugenden und sozialen Normen huldigen, nichtsdestotrotz ist, wie ich schon weiter oben gezeigt habe, Unparteilichkeit ein Imperativ, wenn es darum rechtmäßigkeit des Umgangs mit Oppositionsgruppen aufzudecken, für die Achtung der von der Stalin’schen Verfassung gewährten Bürgerrechte plädierten. Ihr credo lag in einer strikten Legalität: sie verlangten schlicht ›Respektiert die sowjetische Verfassung‹ (Müller 2013: 384). Heutzutage scheint es mitunter so, als würden chinesische Dissidenten einen ähnlichen Weg einschlagen. 68 Selbst wenn Belgien dieses Prinzip nicht auf den Kongo ausdehnte und es in Frankreich erst 1975 ratifiziert wurde.
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Die europäische Demokratie
geht, eine Einigung zu erzielen, die nicht auf Zwang oder Macht beruht: Um Kontrahenten dazu zu bringen, eine andere Position anzunehmen, müssen sich Akteure auf Normen der Unparteilichkeit berufen. Indessen kann dieser Bezug auf Unparteilichkeitsnormen sowohl Auswirkungen auf den Status der Normen als auch auf das System von Überzeugungen der Akteure haben. Scheinheiligkeit ist der Laster Beitrag zur Tugend, da das Nachahmen eines Altruismus zu einer Umwandlung, einem Präferenzwechsel führen kann, so dass die Akteure zu verstehen beginnen, dass nicht-konsequentialistische Argumente durchaus ihr Gutes haben (Elster 2007). Elster zufolge motiviert uns der Umstand, als rational erscheinen zu wollen, dazu, Gründe für unsere Handlungen anzugeben, in deren Licht unsere Handlungen dann als rational erscheinen und eben dies kann dann eine Veränderung unserer ursprünglichen Präferenzen bewirken. Folglich können die Akteure damit beginnen, den Normen Glauben zu schenken und sie zu ihren eigenen zu machen. Man könnte noch hinzufügen, dass die zivilisierende Kraft der Scheinheiligkeit die Existenz von Normen, die für gültig gehalten werden, voraussetzt. Unabhängig der jeweiligen Motive hat das Einhalten von Normen zum Ergebnis, dass die Akteure deren Geltung bestätigen und ihre handlungsorientierende Relevanz bekräftigen. Im Allgemeinen kann man davon sprechen, dass kognitive Dissonanzen bestehende Ordnungen delegitimieren und politisieren. Die starke Opposition gegenüber dem undemokratischen Zustand der Union und die vielfältige, lautstark vorgebrachte Kritik hieran, bedrohten die Lebensfähigkeit und Stabilität des Integrationsprozesses, weshalb dringend Abhilfe geschaffen werden musste. Diese Kritik und die Forderungen nach Demokratie stießen – in unterschiedlichem Maße – Veränderungen in Verfahren, bestehende Formen der Volksbefragungen, der Transparenz und Offenheit an und resultierten schließlich in einer Unterstützung der parlamentarischen Demokratie. Auch wenn Möglichkeit und Legitimität einer postnationalen Demokratie umstritten sind, und auch wenn die EU keine parlamentarische Demokratie ist, hat der Weg der institutionellen Reform nun diese Gestalt angenommen. Hierbei spielten ebenfalls bestimmte organisatorische Einrastmechanismen eine Rolle.
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Die normative Kraft des Parlamentarismus
Die normative Kraft des Parlamentarismus Warum hat sich das parlamentarische Modell als Rechtfertigungsmuster ›durchgesetzt‹, wenn man doch davon ausgehen muss, dass die erforderlichen Vorbedingungen fehlen? Warum hat der Demokratisierungsprozess diesen speziellen institutionellen Weg genommen, obwohl es keinen europäischen demos gibt; wenn viele Wissenschaftler, Kritiker und sogar Vertreter der Mitgliedsstaaten vor einer Parlamentarisierung auf europäischer Ebene gewarnt haben? 69 Nun sollte das Prinzip des Parlamentarismus nicht so verstanden werden, dass es einfach einen praktischen Mechanismus für die Aggregation von Wählerstimmen darstellt oder schlicht eine bestehende Tradition widerspiegelt. Vielmehr sollte man es als Verkörperung des modernen Legitimationsprinzips der Regierung durch Diskussion (Baker 1942; Mill 1861/1984) begreifen. Das Prinzip des Parlamentarismus übt einen normativen Druck aus, da einzig Parlamente die Kompetenz haben, für das Volk zu sprechen – sie stellen die institutionelle Verkörperung der Volkssouveränität dar. Der Parlamentarismus operationalisiert die grundlegenden Prinzipien der Volkssouveränität und politischen Gleichheit. Wenn Formen der Repräsentation benötigt werden, damit eine Demokratie Bestand haben kann, dann ist es schwierig, gangbare Alternativen zu dem Parlamentarismus zu entwickeln. François Guizot zufolge ist das Parlament »infolgedessen der Platz, an dem die unter den Menschen verstreuten, ungleich verteilten Vernunftpartikel sich sammeln und zur öffentlichen Herrschaft bringen« (Schmitt 1926/1961: 44). In einer Demokratie besteht das politische Herrschaft legitimierende Prinzip in der Zustimmung der Bürger, das institutionelle Gefüge jedoch, mittels dessen diese Zustimmung gebildet, vermittelt und ausgeführt wird, läuft Gefahr, sich aufgrund einer zunehmend komplexen politischen Agenda zu verselbstständigen. Parlamente wirken der Tendenz entgegen, dass Debatten in Diskussionen zwischen Experten verschwinden. Indem sie die Vermittlung zwischen Bürgern und politischen Institutionen gewährleistet, ist die parlamentarische Debatte ein unverzichtbares Element, um epistokratische Entwicklungen zu korrigieren. Sie hat die doppelte Funktion, den ›Willen des Volkes‹ zu institutionalisieren und sicherzustellen, »Eine Parlament ohne ein Volk ist begrifflich unmöglich, praktisch despotisch.« (Weiler et al. 1995: 4).
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Die europäische Demokratie
dass die konkrete Politik, die die Exekutive beschließt, auch in diesem Willen verankert ist. Auch liefert sie den Rahmen, in dem im Zuge der Legislation eine Deliberation und Rechtfertigung stattfinden kann. In parlamentarischen Demokratien wird der Deliberationsprozess derartig institutionalisiert und prozeduralen Beschränkungen unterworfen, dass die Bürger sich nicht direkt durch die Aggregation von Präferenzen regieren. Stattdessen werden die von einer repräsentativen Körperschaft erlassenen Gesetze und kollektiven Entscheidungen dem Test der öffentlichen Vernunft – einer öffentlichen Untersuchung und Prüfung – und dem ›Urteil der Wähler‹ (Manin 2007: 262) unterworfen. Das Parlament ist »gleichzeitig Beschwerdeausschuß der Nation und Kongreß der Volksmeinung, ein Forum, auf dem nicht nur die vorherrschende Meinung des Volkes, sondern auch einzelner Gruppierungen und, soweit als möglich, die Meinung jeder bedeutenden Persönlichkeit aus seiner Mitte auftreten und die Diskussion herausfordern kann (…) wo diejenigen, deren Meinung unterliegt, die Genugtuung haben, daß ihre Ansicht Gehör gefunden hat und nicht durch einen bloßen Willkürakt, sondern aus Gründen verworfen wurde, die mehr Gewicht haben und sich dadurch den Vertretern der Mehrheit des Volkes empfehlen.« (Mill 1861/1971: 101)
Das Prinzip des Parlamentarismus liefert die Richtlinien für die Schaffung von repräsentativen, auf die Deliberation und Entscheidungsfindung ausgerichteten Körperschaften. Es beinhaltet Regeln für die Repräsentation, für Wahlen und die Zusammensetzung der Entscheidungsgremien. Des Weiteren Regeln für die Delegation, für Anhörungen wie auch für eine rationale Debatte wie etwa jene Normen, die Reden, Erwiderungen und Referaten zugrunde liegen, eingeschlossen spezifische zeitliche Begrenzungen zur Verhinderung von Ermüdungsreden (sogenannte Filibuster-Reden) oder ›irrelevanten‹ Nachträgen usw. Parlamente verbinden Regeln, die der Inklusion der von Entscheidungen betroffenen Parteien dienen, mit Regeln für Deliberation und Wahlen, die darauf abzielen, eine öffentliche Debatte, das Verdikt der Wähler, sicherzustellen. Die Prinzipien des Parlamentarismus kombinieren also partizipatorische und epistemische Funktionen, Möglichkeiten des Anfechtens und der Rechtfertigung und könnten von daher so verstanden werden, dass sie die Präsumtion rationaler und allgemein akzeptierbarer Ergebnisse gewährleisten (Waldron 1999: 49 ff.). Kollektive Entscheidungen, die solchen prozeduralen Zwängen unterworfen werden, 84 https://doi.org/10.5771/9783495860526 .
Schlussfolgerung
können nunmehr berechtigterweise beanspruchen, auf demokratische Weise gerechtfertigt worden zu sein. Das Europäische Parlament ist – angesichts des inhärenten Werts des Prinzips des Parlamentarismus – in der Lage gewesen, seinen normativen Vorteil dazu zu nutzen, andere Akteure (wie die Kommission, den EuGH und den Europarat) dazu zu bringen, der Rolle und dem Status des Europäischen Parlaments mehr Bedeutung beizumessen. Mit der Zeit hat das Europäische Parlament auch mehr formale Machtmittel erlangt, was eine Entwicklung darstellt, die von der überwiegenden Zahl der nationalen Parlamente unterstützt worden ist. Um erklären zu können, warum das Modell, das die skizzierten demokratischen Reformen animiert hat, nun gerade das parlamentarische Prinzip gewesen ist, muss man auch den institutionellen und organisatorischen Kontext, in dem es verortet ist, berücksichtigen. Dabei muss die gestärkte Rolle der Mitwirkung der nationalen Parlamente bei Aktivitäten der EU hervorgehoben werden. Sie bekundet, dass das Europäische Parlament in eine größere Konstellation organisierter demokratischer Herrschaft in Europas Mehrebenen-System eingebunden ist. In diesem System sind, wie wir in Kapitel 5 weiter sehen werden, die europäische und nationale Ebene miteinander verwoben. Da es ein fest etabliertes Prinzip der repräsentativen Demokratie ist, stellt das parlamentarische System eine organisatorische Muss-Vorstellung und ein Handlungsprogramm bereit. Da eine strukturelle Äquivalenz unerlässlich wurde, kam es einem organisatorischen Einrastmechanismus gleich: es wurde unumgänglich, dass auf der EU-Ebene die gleiche Struktur existiert wie auf der nationalstaatlichen Ebene. Das parlamentarische System der EU stützt sich zudem auf die nationalen Parlamente und kann daher auf eine wohlerprobte Vorlage vertrauen, die auf ein Programm der Verwirklichung demokratischer Legitimität hinausläuft.
Schlussfolgerung Die deliberative Theorie postuliert, dass Akteure ihre unterschiedlichen Unterfangen mittels kommunikativer Mittel harmonisieren, wenn sie eine Einigung darüber erzielen, welche Norm oder MussVorstellung in einem fraglichen Problemkontext Anwendung finden soll. Wenn sich Akteure reflexiv an einem Rechtfertigungsprozess beteiligen, dann testen sie dabei auch die Geltung der Norm. In Ver85 https://doi.org/10.5771/9783495860526 .
Die europäische Demokratie
bindung mit dem Medium des Rechts kann dies erklären, warum politische Ordnungen entstehen können, die nicht mit den anfänglichen Präferenzen und Interessen der Akteure übereinstimmen. Akteure sind in normative Kontexte eingebettet, die sie nicht kontrollieren, und werden durch die Rechtfertigungs-Spiele, in die sie eingebunden werden, beeinflusst (oder genötigt). In diesem Fall sind die Regeln der Vernunft und die Grundsätze der Unparteilichkeit entscheidende Elemente in dem Prozess der Einigung und Überwindung von Problemen kollektiven Handelns. In gleicher Weise haben Akteure die Kodizes und Kategorien des modernen Verfassungsstaats – der liberalen parlamentarischen Demokratie, die als Verkörperung der Demokratie insgesamt angesehen wird – in Anschlag gebracht, um demokratische Reformen einzuleiten sowie einen normativen Druck auf jene Mitgliedsländer auszuüben, die der Konstitutionalisierung und Parlamentarisierung der EU ablehnend gegenüberstehen. Einzig Parlamente haben die Kompetenz erlangt, für das Volk sprechen zu können. Für das Prinzip des Parlamentarismus sprechen zwingende normative Gründe, was Aufschluss über die Frage ermöglicht, warum dieses Prinzip einen solchen Stellenwert erlangt hat und warum relativ starke Nationalstaaten Teile ihrer Souveränität an ein supranationales Parlament – das die Herrschaft der Bürger, nicht die der Staaten symbolisiert – abgetreten haben. Jedoch ist die Legitimation und Möglichkeit einer postnationalen Demokratie umstritten. Das dem so ist hat den europäischen Integrationsprozesses gewissermaßen an seiner Vollendung gehindert: an der Etablierung einer vollständig parlamentarisierten Demokratie. Da nun die Demokratie allerdings ein Prinzip darstellt, das in vielen unterschiedlichen institutionellen Formen und Ordnungen eine Verkörperung finden kann, werde ich im nächsten Kapitel eine Reihe von alternativen Vorstellungen diskutieren, was eine europäische Demokratie beinhalten sollte.
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4. Demokratische Alternativen oder Sackgassen?
»Die Doktrin, die Demokratie setze den Glaube voraus, es gäbe ein objektiv feststellbares Gemeinwohl und die Menschen wären in der Lage, dieses zu erkennen und es von daher zum Gegenstand ihres Willens zu machen, ist falsch. Träfe sie zu, wäre Demokratie nicht möglich.« (Kelsen 1955: 2)
Was neu und interessant an der EU ist, sind ihre Bemühungen, willkürliche Herrschaft jenseits des Nationalstaats einzudämmen. 70 Die Union weist Elemente der Repräsentation, Offenheit, Transparenz, Inklusion und der Kontrolle durch Wahlen auf. Die Institutionen der EU, insbesondere der EuGH und das Europäische Parlament, die Regierungen und Parlamente der Mitgliedsstaaten, soziale Bewegungen und öffentlicher Druck, haben die EU in einem jahrzehntelangen Prozess zu einem postnationalen Gemeinweisen werden lassen, das sich um eine direkte Legitimität bemüht. Legitimität in dem Sinne, dass die machtausübenden Institutionen durch die Bürger autorisiert sein sollten und sie direkt gegenüber Parteien, die von den fraglichen Entscheidungen betroffen sind, Rechenschaft abgeben müssen. Dieser Umstand wird allerdings in vielen Ansätzen, die sich darum bemühen, den komplexen Charakter der EU zu erfassen, nicht erkannt. So etwa nicht in den Vorschlägen, sie als consortio und condominio (Schmitter 2000), deliberativen Supranationalismus (Joerges und Neyer 1997), Imperium (Münkler 2005: 245 ff.), kosmopolitisches Empire (Beck und Grande 2004), republikanisches Imperium (Offe und Preuss 2007), oder Mehrebenen-Governance (Hooghe und Marks 2003) zu verstehen. Keiner dieser Vorschläge, weder consortio, condominio noch Imperium thematisiert dabei direkt die Demokratie. Darüber hinaus Dieses Kapitel greift auf Eriksen und Fossum 2012b zurück. Vgl. ebenso Eriksen und Fossum 2004 sowie Eriksen 2009.
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Demokratische Alternativen oder Sackgassen?
bleibt offen, in welcher Weise ein deliberativer Supranationalismus oder eine Mehrebenen-Governance demokratisch sein können. Allen diesen Vorschlägen ist gemein, dass in ihnen die Demokratie als Bezugspunkt entweder gänzlich fehlt oder unterentwickelt ist. Und dem Begriff des Imperiums ein ›kosmopolitisch‹ oder ›republikanisch‹ hinzuzufügen, lässt es nur zu einem Oxymoron werden. Der Begriff des Imperiums kann nur in metaphorischem Sinne verwandt werden, da die EU weder, wie ein Imperium, durch die Grenzen ihres politischen Systems bestimmt ist noch über die Machtbasis eines Hegemons verfügt. Wie wir gesehen haben, ist sie eine supranationale politische Ordnung, die die Unterschiede der sie konstituierenden Teile anerkennt und in einem gewissen Ausmaß auch von diesen Teilen, d. h. den Mitgliedsländern, kontrolliert wird. Wie aber kann das Demokratie-Prinzip dann bei der EU zum Tragen kommen? Zunächst muss gesehen werden, dass Demokratie ein Prinzip ist, dass bestimmte Bedingungen etabliert: Es ist eine unvermeidbare Voraussetzung für die Rechtfertigung politischer Macht, da es die Bedingungen festlegt, unter denen Bürger sich in autonomer Weise über gemeinsame Angelegenheiten einigen können. Allerdings handelt es sich um ein Prinzip, welches unterschiedliche organisatorische Formen und Gestalten annehmen kann. Das eigentliche Konzept der Demokratie beinhaltet, dass die Bürger selbst über die Bedingungen der Kooperation befinden. Von daher kann also die Frage, welche Form der Demokratie, direkt oder repräsentativ, parlamentarisch oder präsidentiell, die beste ist, nicht einzig mittels theoretischer Mittel geklärt werden. Bisher hat die EU-Demokratie nicht ihre eigene Form gefunden; eine postnationale Demokratie ist umstritten und die Wende zum Parlamentarismus hat keine Vollendung gefunden. Verglichen mit einem ›gewöhnlichen‹ Parlament verfügt das Europäische Parlament über eine geringere Macht, um die Exekutive zu autorisieren und zu kontrollieren. Zudem existiert keine europäisierte Parteienstruktur, nur eine geringe Wahlbeteiligung, und nationale Themen dominieren die Wahlen in einem Maße, dass Politikwissenschaftler zu ihrer Charakterisierung den Begriff der ›second order elections‹ (Nebenwahlen) vorgeschlagen haben (Reif und Schmitt 1980). Dem normativen Maßstab von Autonomie und Rechenschaftspflicht zufolge, der im Kapitel 1 skizziert wurde, ist die Demokratie nicht auf den nationalstaatlichen Rahmen und dessen Annahme von Souveränität, einem demos, Territorium und einer Nation beschränkt; daher kann 88 https://doi.org/10.5771/9783495860526 .
Demokratische Alternativen oder Sackgassen?
sie also dazu dienen, einem nicht-staatlichen Gemeinwesen einen demokratischen Charakter zu geben. 71 Freistehende Maßstäbe, wie die eben angeführten, sind erforderlich, da das Völkerrecht sich verändert hat, es kosmopolitaner geworden ist und in Europa eine gemeinsam geteilte Souveränität über ein Territorium besteht. Diese Entwicklungen manifestieren sich in einer veränderten Souveränitätskonzeption: von der ungeteilten staatlichen Kontrolle über ein Territorium hin zu einer stärker multidimensionalen und disaggregierten Konzeption (Morgan 2005; Slaughter 2004). Das heutige Europa ist durch eine komplexe Interdependenz, die in einer mehrere Ebenen umspannenden Konfiguration eingebettet ist, geprägt. Wie würde nun ein demokratisches Europa in der heutigen vernetzen und verzahnten Welt aussehen? Es gibt verschiedene Alternativen, wie Europa der Interdependenz zwischen den Staaten und dem mutmaßlichen Demokratiedefizit der neu entstehenden Ordnung begegnen kann. 72 Ich unterscheide hier zwischen vier Formen, die sich nicht mit der Unterscheidung von staatlicher-/nicht-staatlicher Demokratie einfach vereinbaren lassen. Verglichen mit der heutigen EU würde die erste intergouvernementale Alternative der delegativen Demokratie sowie die zweite der Audit-Demokratie eine Rücknahme des Integrationsniveaus bedeuten. Aber könnten unter den gegenwärtigen Bedingungen einer komplexen Interdependenz und Globalisierung der Abbau von Supranationalität und die Rücknahme der europäischen Integration die nationale Demokratie retten? Die dritte Möglichkeit einer Föderation, die als Vorlage für eine Demokratie auf europäischer Ebene den Staat ansieht, beinhaltet, dass weitere Kompetenzen auf die europäische Ebene verlagert werden. Die vierte Möglichkeit besteht in der transnationalen Demokratie, die auf einer schlankeren Struktur basiert, in der deliberative Governance-Strukturen und sich überkreuzende öffentliche Diskurse für eine demokratische Legitimation sorgen. Im Eine weitere Prämisse des vorliegenden Buches besteht in der Annahme, eine wahre Republik setze Demokratie voraus, eine Demokratie jedoch nicht den Staat. 72 Bezüglich dieser Debatte vgl. auch Majone 1998 und Moravcsik 2002, die dafür argumentieren, es gäbe kein solches Defizit. Andrew Moravcsik zufolge sind »eine verfassungsrechtliche Gewaltenteilung, eine indirekte demokratische Kontrolle mittels der nationalen Regierungen und die zunehmende Kontrolle des Europäischen Parlaments ausreichend, um sicherzustellen, dass die EU-Politik in nahezu allen Fällen sauber, transparent, effektiv und politisch responsiv gegenüber den Forderungen der europäischen Bürger ist« (2002: 605). 71
89 https://doi.org/10.5771/9783495860526 .
Demokratische Alternativen oder Sackgassen?
Hinblick auf die normativen Kriterien von Autonomie und Rechenschaftspflicht sowie dem Kriterium der Realisierbarkeit sind nun alle vier Alternativen mit einer Reihe von Einwänden konfrontiert. Gemäß der Formel, dass ein Sollen ein Können impliziert, muss in jeder ›nicht-utopischen‹ Theorie ein normatives Modell empirisch realisierbar sein. Stellen die vier genannten Möglichkeiten nun tragfähige Alternativen oder vielmehr Sackgassen dar?
Alternative eins: Die delegative Demokratie Dass der Nationalstaat der Rahmen von Demokratie ist, ist die zentrale Prämisse des ersten, am weitesten verbreiteten Ansatzes. Seine letztendliche Rechtfertigung findet dieses Modell in der Behauptung, außerhalb des Nationalstaats seien die Bedingungen für Gerechtigkeit und Demokratie nicht gegeben. John Rawls (1971, 1999) zufolge besteht eine ideale gerechte Welt aus Staaten, die im Inneren gerecht sind. Die von Rawls verfolgte Konzeption der Gerechtigkeit beruht dabei vollends auf den zwischen Menschen bestehenden Verbindungen. Sie ist von positiven Rechten abhängig, die wir gegenüber unseren Mitbürgern oder denjenigen, mit denen wir uns in einem institutionellen Kontext befinden, haben – und nicht gegenüber anderen Personen oder Gruppen. Diese Rechte verdanken sich dem Umstand, dass Akteure durch ein System zentralisierter, von einem Gewaltmonopol gestützter Herrschaft vereinigt werden. Nun begründet der Kontext eines über die Zwangsgewalt verfügenden Staates besondere Ansprüche und Verpflichtungen. Er lässt Forderungen nach Demokratie und sozio-ökonomischer Gerechtigkeit entstehen, da moralisch willkürliche Quellen von Ungleichheit einen Bruch des Prinzips gleicher Bürgerschaft darstellen. Wie wir im zweiten Kapitel gezeigt haben, rühren in dieser Perspektive Gerechtigkeitsnormen von den charakteristischen Beziehungen her, die Menschen in einem staatlichen Rahmen einander gegenüber haben. Somit wird der Staat zu einem Auslöser für die Prinzipien des gleichen Stellenwerts und gleicher Achtung. Hieraus folgt, dass die EU so lange nicht als Demokratie angesehen werden könne, solange sie nicht das Gewaltmonopol innehabe. Da dem nun jedoch nicht so ist, könne man sie nur als eine internationale Organisation ansehen, die durch ihre Mitgliedstaaten kontrolliert werde und das zugehörige Modell demokratischer Rechen90 https://doi.org/10.5771/9783495860526 .
Alternative eins: Die delegative Demokratie
schaftspflicht sei eben entsprechend das delegative Modell. Die Mitgliedsstaaten delegieren Kompetenzen an die Union, wobei diese Delegation im Prinzip auch wieder zurückgenommen werden kann (vgl. Pollack 2003). Auf Seiten der Mitgliedsstaaten beinhaltet eine Delegation eine Form der Selbstbindung, sie geht allerdings auch mit einer Reihe starker Kontrollmöglichkeiten einher. Diese sind durch die Mitgliedsstaaten oktroyiert worden, um sicherzustellen, dass die Staaten weiterhin selbst die Quelle der demokratischen Legitimität der EU bleiben. Durch die in den Verträgen festgehaltenen Bestimmungen sowie durch eine Reihe von Institutionen, die jedem Mitgliedsland ein Vetorecht einräumen, autorisieren die Mitgliedsstaaten den Handlungsspielraum der EU und begrenzen ihn zugleich. Dieses Modell kann daher als ein Weg verstanden werden, durch die Schaffung europäischer Institutionen, die gegenüber den nationalen Demokratien rechenschaftspflichtig sind, die demokratischen Probleme zu adressieren, die durch eine komplexe zwischenstaatliche Abhängigkeit und Globalisierung aufgeworfen werden. In Übereinstimmung mit der Logik demokratischer Delegation, d. h. dass Angelegenheiten nur dann delegiert werden können, wenn damit kein schwerwiegender Verlust nationaler Souveränität einhergeht, lägen die der EU übertragenen Kompetenzen vor allem im Bereich des Gemeinsamen Marktes. 73 Der Rahmen für ein gemeinsames Handeln in anderen Politikbereichen wäre recht eng – wie auch der Rahmen für eine gerechtigkeitsorientierte Umverteilung. Diesem Modell zufolge hätte die EU nur einen sehr begrenzten Raum für eine Außen- und Sicherheitspolitik, welche zudem vollständig von den Präferenzen der Mitgliedsstaaten abhängig sein würde. Die fiskalische Basis der EU wäre sehr eingeschränkt, da sie auf den Beiträgen der Mitgliedsländer beruhen würde und nicht auf der Fähigkeit der EU, Steuern zu erheben. Die EU würde entsprechend auf einer Problemlösungsstrategie und einem konsequentialistischen LegitimitätsAuf das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung wird sich in Artikel 5 des Vertrages über die Europäische Union bezogen: »(1) Für die Abgrenzung der Zuständigkeiten der Union gilt der Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung. Für die Ausübung der Zuständigkeiten der Union gelten die Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit. (2) Nach dem Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung wird die Union nur innerhalb der Grenzen der Zuständigkeiten tätig, die die Mitgliedstaaten ihr in den Verträgen zur Verwirklichung der darin niedergelegten Ziele übertragen haben. Alle der Union nicht in den Verträgen übertragenen Zuständigkeiten verbleiben bei den Mitgliedstaaten.«
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91 https://doi.org/10.5771/9783495860526 .
Demokratische Alternativen oder Sackgassen?
verständnis basieren. Ein auf die Lösung von Problemen gerichtetes Gebilde, das gewissermaßen von den Mitgliedsländern abgeleitet ist, befasst sich mit Problemen, die nicht moralische Ansprüche beschwören oder Identitäten in negativer Weise beeinträchtigen. So verstanden würde die EU eine auf Verträgen beruhende Ordnung sein, ein einzigartiger institutioneller Typ einer internationalen Organisation oder eines internationalen Regimes, bei dem die Mitgliedsländer die ›Unterzeichner der Verträge‹ wären. Die Staaten, nicht die Bürger würden die ›Wählerschaft‹ bilden und wären die alleinige Legitimitätsquelle. Dabei handeln sie entweder auf eigene Faust oder indem sie qua Delegation Kompetenzen auf die Union übertragen inter-national. Die formale Vorlage hierzu findet sich in der Idee eines Vertrages, in dem die ›pouvoir constituant‹ als Rechtsbeziehung zwischen eigenständigen Parteien strukturiert ist. Diese ähnelt einer ›Verabredung unter Ehrenleuten‹, die ebenfalls darin besteht, dass die Beteiligten weiterhin eigenständig und souverän sind. Die Unterzeichnenden repräsentieren individuelle Modalitäten der Regierung und keinen Gesellschaftsvertrag zwischen den Mitgliedern einer Gemeinschaft. Auf einem Vertrag basierende Ordnungen stellen keine normativen Kriterien politischer Legitimität auf (Frankenberg 2000: 260 f.) und verändern nicht die Formen der Selbsteinschätzung (Hegel 1821/1967: § 45). Mit dieser Strategie sind nun offenkundige Vorteile verbunden. Beispielsweise ist es bei dieser Strategie nicht erforderlich zu klären, welche Belange kollektiv sind und welche Angelegenheiten von jedem Mitgliedsland separat gehandhabt werden. Effizienz im Sinne der Befriedigung der Interessen der Mitglieder ist hier das Kriterium, welches einem Abkommen Legitimität verleiht. Eine spezielle Grundlage von Werten – eine kollektive Identität –, um Legitimität zu gewährleisten, ist nicht erforderlich. Die EU wäre bloß ein Mittel effizienter Entscheidungsfindung und Ausdruck eines Verständnisses von ›Gerechtigkeit im Sinne eines wechselseitigen Vorteils‹. Von daher ergibt sich auch der Bezug auf den Begriff der ›Ergebnis-orientierten Legitimation‹, der die positiven Folgen hervorhebt, d. h. dass diese wechselseitig von Vorteil für die beteiligten ›Interessensgruppen‹ sind. Eine so verfasste Organisation unterliegt nur solange einer demokratischen Kontrolle, wie die Nationalstaaten die an sie delegierten Kompetenzen überwachen, abändern oder aufheben können. Die der Union selbst zukommende Legitimität würde auf ihrer Fähigkeit aufruhen, substantielle, pareto-optimale Ergebnisse hervorzubrin92 https://doi.org/10.5771/9783495860526 .
Alternative eins: Die delegative Demokratie
gen. Das Prinzip der Pareto-Optimalität besagt dabei, dass nur jene Entscheidungen richtig sind, die niemanden schlechter- und wenigstens eine der beteiligten Parteien besserstellen – und wenn dies gegeben ist, dann können internationale Verhandlungen Legitimität beanspruchen. Das Bestehen des den Mitgliedsländern zukommenden Vetorechts ist hier selbst schon ausreichend für eine Legitimität, da es beinhaltet, dass die Parteien nicht einer Entscheidung zustimmen werden, die ihren Interessen zuwiderläuft oder abträglich ist. Das Problem hierbei ist jedoch, erstens, dass die Unfähigkeit, kollektiv zu handeln, zunimmt, wenn die Vetospieler stärker werden und sich die Vetopunkte vervielfachen. Diejenigen, die über mehr Ressourcen verfügen, können ihre Widersacher überbieten, was wahrscheinlich die Aufrechterhaltung des status quo zur Folge haben wird (Tsebelis 2002). Das zweite Problem besteht darin, dass Ordnungen, die auf einem Abgleich oder einer Konvergenz von Interessen beruhen, von Natur aus unbeständig sind, da sich die Akteure angesichts besserer Optionen jedes Mal aus der Kooperation ausklinken werden. Interessen generieren instabile Gleichgewichte (Axelrod 1984) und bedürfen zudem selbst einer Legitimation. Das zugrundeliegende Modell demokratischer Autorisierung intergouvernementaler Körperschaften besagt, dass die Mitgliedsstaaten als Vertragsparteien etwaige Abkommen im Sinne der jeweils auf der nationalen Ebene festgelegten Präferenzen schließen. Zudem ist dieses Modell in eigener Weise mit Problemen der Demokratie konfrontiert. Zuallererst gibt es aufgrund eines ›agency drift‹ [als ›agency drift‹ bezeichnet man den Fall, in dem Regulierungsinstanzen die ihnen aufgetragenen Regulierungsziele aus den Augen verlieren und beginnen, eigene Interessen zu verfolgen] oder von Präferenz-Abweichungen, d. h. einer endogenen Präferenzformation, ein Kontroll-Problem. Was für eine Gewissheit haben die Mitgliedsstaaten, dass die Union – deren Entscheidungsträger, damit sie Probleme rational lösen können, eine gewisse Autonomie hinsichtlich von Entscheidungen brauchen – in Übereinstimmung mit ihren Interessen handelt? Die Entscheidungsträger werden ihre Beschlüsse notwendigerweise innerhalb eines großen Ermessensspielraums treffen. Das Problem bei Ermessensspielräumen ist jedoch, dass diese das Risiko beinhalten, dass die Bürger »einer Form der Beherrschung unterworfen werden, die darin besteht, dass sie der willkürlichen Macht anderer schutzlos ausgeliefert sind« (Richardson 2002: 3). 93 https://doi.org/10.5771/9783495860526 .
Demokratische Alternativen oder Sackgassen?
Ein sich daran anschließendes Problem – welches mit dem Umstand zu tun hat, dass die EU wesentlich komplexer als eine internationale Organisation ist – besteht in einer durch die Integration begünstigten Technokratie und Exekutivherrschaft, d. h. der Umgehung demokratischer Institutionen sowohl auf der Ebene der Union als auch auf der der Mitgliedsstaaten. All dies läuft auf massive Probleme hinaus, mit der die intergouvernementale Ordnung konfrontiert ist, soll sie denn die Kriterien von Autonomie erfüllen. Nicht die Bürger oder ihre Repräsentanten treffen die Entscheidungen, sondern Repräsentanten der Staaten und Bürokraten oder Experten. Auch ist es aufgrund der langen Delegationskette und dem Fehlen effektiver Sanktionsmechanismen nicht möglich, die Kriterien der Rechenschaftspflicht zu erfüllen. Einige sehen nun den Versuch der EU, die Exekutivherrschaft durch eine Entwicklung und Stärkung des Europäischen Parlaments zu bekämpfen, als Teil des Problems an. Nicht nur erachten sie das Europäische Parlament als ungeeignet, um Beherrschung zu reduzieren, das Übergewicht der Exekutive sowie eine Epistokratie einzuschränken, vielmehr gehen sie davon aus, dass diese Probleme sich durch eine weitere Förderung der Integration noch verschlimmern werden (Abromeit 1998; Schmitter 2000). Aber stellt die Entwicklung des Europäischen Parlaments dann einfach eine Anomalie des Modells delegierter Demokratie dar – oder können wir dieses Modell so anpassen, dass es der gegenwärtigen Rolle des Europäischen Parlaments entspricht?
Alternative zwei: Die Audit-Demokratie Man kann das Modell delegierter Demokratie so ausweiten, dass es das Europäische Parlament inkludieren könnte. Allerdings würde ihm dann eine begrenztere Funktion als Agent einer Audit-Demokratie zukommen. Diese Lösung postuliert, dass die entstehende Struktur auf der europäischen Ebene als ein Regulationsregime wirkt, welches tief in weitreichenden institutionellen Arrangements verankert ist, die einen öffentlichen (oder halb-öffentlichen) Charakter aufweisen (Eberlein und Grande 2005: 97). Es stelle ein Regime zur Lösung von Problemen dar, das einen eingegrenzten Kompetenzbereich hat. Das Europäische Parlament würde entsprechend als ein Instrument betrachtet werden, dessen Sinn darin bestünde, Entscheidungsprozesse durch ein öffentliches Forum zu überprüfen. Indem es ein zusätz94 https://doi.org/10.5771/9783495860526 .
Alternative zwei: Die Audit-Demokratie
liches Forum bieten würde, um Informationen, die hinsichtlich der Tätigkeit der Union relevant sind, vorbringen zu können, würde das Europäische Parlament, zusammen mit anderen supranationalen Institutionen (beispielsweise Gerichten, unabhängigen Banken und Agenturen), den Mitgliedsländern – vor allem deren Parlamenten – helfen, die Tätigkeit der Union zu überwachen und zu kontrollieren, Untersuchungskommissionen und andere Körperschaften einzurichten, um eine kritische Prüfung von Aspekten der Aktivitäten der Union vorzunehmen und zivilgesellschaftliche Akteure einzuschalten. Diese Institutionen würden eigens mit einem Mandat ausgestattet, das es ihnen erlaubt, von supranationalen Entscheidungsgremien Rechenschaft zu verlangen. Aufgrund der Verfassung wären sie von einer Legitimierung und Autorisierung der Rechtsetzung ausgeschlossen wie auch von einer Ausweitung der Kompetenzen der Union. Mit anderen Worten würde das Europäische Parlament in der Perspektive dieses Ansatzes ein Parlament sein, welches darauf beschränkt wäre, eine begrenzte Aufsichtsfunktion einzunehmen. Die Tätigkeit des Europäischen Parlaments würde mit der intergouvernementalen Logik so lange übereinstimmen, solange seine delegierten Gesetzgebungskompetenzen durch Verträge festgelegt sind. Ein derartiges Arrangement könnte sogar so verstanden werden, dass das Europäische Parlament in den Gesetzgebungsprozessen der EU als ›Double‹ für die nationalen Parlamente fungiert. Aufgrund der ›second-order‹ Wahlen (der Nebenwahlen, siehe oben) bestünde das Europäische Parlament in gewisser Hinsicht aus eben genau den nationalen Parteien, die schon die nationalen Parlamente bilden. Das Europäische Parlament wäre in einer besseren Position als die einzelnen nationalen Parlamente, wenn es darum geht, Informationsasymmetrien, die bei dem Monitoring der EU-Gesetzgebung entstehen, zu bewältigen: Das Europäische Parlament wäre in den Institutionen der EU dauerhaft präsent und würde sich ausschließlich auf Angelegenheiten der Union konzentrieren. Das sich daraus ergebende Modell der EU setzt voraus, dass die Institutionen auf der Ebene der Union nur mit einem eng begrenzten Mandat ausgestattet sind. Innerhalb dieses Modells bliebe die Struktur der EU-Ebene ein funktionales Regime, gegründet, um Probleme anzugehen, die die Mitgliedsländer nicht zu lösen vermögen, wenn sie unabhängig voneinander agieren. Wenn es darum geht zu entscheiden, welche Politikfelder auf der EU-Ebene verhandelt werden sollen, wäre der relevante Bestimmungsfaktor die Fähigkeit der EU, 95 https://doi.org/10.5771/9783495860526 .
Demokratische Alternativen oder Sackgassen?
die schwindende Kapazität der Nationalstaaten in einem globalisierten Kontext Probleme effektiv lösen zu können, zu kompensieren. Dies gilt dabei insbesondere für die Fähigkeit, grenzübergreifende Probleme handhaben zu können (wie etwa wirtschaftlichen Wettbewerb, Umweltprobleme, Migration, Terrorismus und grenzüberschreitende Kriminalität). Entsprechend wird davon ausgegangen, dass die EU bloß eine kompensatorische Funktion hat. Giandomenico Majone zufolge benötigt solch ein Regulationsregime keine von den Bürgern ausgehende Legitimation im eigentlichen Sinne. Politisch unabhängige Institutionen wie etwa Fachagenturen, Zentralbanken, Normenkontrollorgane sowie die Delegation von politischen Entscheidungskompetenzen an unabhängige Regulationsausschüsse würden für die erforderliche Legitimität eines Gebildes sorgen, das geschaffen wurde, um die von den Mitgliedsländern wahrgenommenen Probleme zu lösen. Die Annahme ist hier, die EU generiere Ergebnisse, die pareto-effizient sind. Sie ermögliche also wechselseitig annehmbare Effizienzgewinne und ließe die Präferenzen der Mitgliedsländer intakt, da sie in ihrem Handeln selbst auf eine regulatorische, nicht-redistributive Politik beschränkt wäre. Majone plädiert nun für die Delegation politischer Entscheidungskompetenzen an nicht-majoritäre Institutionen, d. h. an Institutionen, die weder direkt gewählt noch durch gewählte Amtsträger direkt geleitet werden. Dabei sieht er durchaus die sich daraus ergebenden Probleme von Rechenschaftspflicht und Legitimität, behauptet jedoch, diese könnten gelöst werden, indem bestimmte Politikfelder abgeteilt würden. »Im Falle von Effizienzfragen ist eine Delegation legitim, d. h. in den Fällen, in denen das Ziel darin besteht, eine Lösung zu finden, die die Bedingungen aller, oder fast aller, Individuen oder Gruppen in der Gesellschaft verbessert. Auf der anderen Seite sollte eine redistributive Politik, die darauf abzielt, die Bedingungen einer Gruppe in der Gesellschaft auf Kosten einer anderen zu verbessern, nicht an unabhängige Experten delegiert werden.« (Majone 1996: 5)
Die Unterscheidung in dieser Weise vorzunehmen, ist jedoch problematisch. Erstens, da die Entscheidung, bestimmte Probleme als technische, einzig Effizienz-Überlegungen unterliegende zu institutionalisieren, im Kern eine politische Entscheidung ist. Ein Problem ist nie bloß technisch und eine ›ergebnis-orientierte Legitimation‹ nie neutral. Beispielsweise ist es eine politische Entscheidung von grund96 https://doi.org/10.5771/9783495860526 .
Alternative zwei: Die Audit-Demokratie
legender Bedeutung, den freien Handel und Wettbewerb oder die Währungsstabilität durch Behörden überwachen zu lassen, die der Kontrolle der betroffenen Parteien entzogen sind. Zweitens hat sich die Europäische Union von ihren bescheidenen Anfängen zu einem Gebilde entwickelt, dessen Einfluss nahezu alle Bereiche öffentlicher Politik abdeckt. Die EU reguliert nicht bloß. Durch das Etablieren von Standards und Regeln übernimmt sie durchaus immer wieder Funktionen, die das Marktgeschehen ausgleichen. Damit ist die EU zu einem politischen Gemeinwesen geworden, das Funktionen ausübt, die in ganz Europa Auswirkungen auf die Interessen und Identitäten der Menschen haben. Häufig verschaffen ihre regulatorischen Entscheidungen manchen Gruppen einen Nutzen, während sie wiederum für andere Kosten verursachen. Somit affiziert sie durchaus die zur Verfügung stehenden Zwangs- und Durchsetzungsmittel, die öffentliche Finanzwirtschaft sowie die Verwaltung der Mitgliedsländer. Die Entscheidungen der EU wirken sich zunehmend auf die Setzung nationaler Prioritäten aus, sie beeinflussen die innerstaatliche Allokation von Ressourcen und schränken die Souveränität und Autonomie der Staaten der Eurozone ein. Sie betreffen staatliche Kernfunktionen und haben distributive Effekte. Die EU ist nicht bloß ein Win-Win-Arrangement, sondern hat distributive Ergebnisse, die rechtfertigungsbedürftig sind. Sie stellt eine Entität dar, die, wie wir später noch sehen werden, Verpflichtungen generiert. Selbst mit dem Europäischen Parlament als Kontrollinstanz ist das bestehende System zu komplex, als dass es durch die ›Unterzeichner der Verträge‹ kontrolliert werden könnte. Die Entwicklungen, die die EU politisch, institutionell und konstitutionell genommen hat, haben den intergouvernementalen Legitimationsmodus obsolet werden lassen. Die mit der jetzigen EU verbundenen Prinzipien, die Realität der Europäischen Staatsbürgerschaft, die organisatorischen und institutionellen Strukturen und Aktionsprogramme – alle diese Punkte hinterlassen bei Analysten wie auch bei Entscheidungsträgern den Eindruck, die EU habe sich zu einem eigenständigen politischen Gemeinwesen entwickelt und sei nicht mehr bloß von den Mitgliedsländern abgeleitet. Wenn nun der Beauftragte – die EU – in vielen Angelegenheiten die Auftraggeber – die Mitgliedsländern – beeinflusst, dann wird überdies deren Position als Ort von Autonomie und Rechenschaftspflicht untergraben. Damit die EU den intergouvernementalen Kriterien demokrati97 https://doi.org/10.5771/9783495860526 .
Demokratische Alternativen oder Sackgassen?
scher Legitimität – den Anforderungen von Autonomie und Rechenschaftspflicht auf der nationalen Ebene – entsprechen könnte, müsste es eine massive Rückverlagerung von Kompetenzen von der europäischen Ebene geben. Jedoch könnte eine allgemeine ›Repatriierung‹ von EU-Kompetenzen sehr dramatisch sein, da die Mitgliedsländer, wie ich später zeigen werde, ihre Verfassungen umschreiben und ihre internationalen Beziehungen neu aushandeln müssten. Damit die EU einer rein intergouvernementalen Lösung oder einer Variante der Audit-Demokratie entsprechen würde, bedürfte es eines bedeutenden Abbaus der EU, der auf eine systematische Veränderung revolutionären Ausmaßes hinausliefe.
Die nationale Demokratie retten? Um das Bisherige zusammenzufassen: Wenn alles darauf hinauslaufen würde, dass die EU einfach ein spezifischer Typ einer internationalen Organisation wäre, dann wären ihre Auswirkungen auf die Kerneigenschaften der Demokratien der Mitgliedsländer nicht sonderlich dramatisch. Wäre die EU einfach ein Instrument der Nationalstaaten zur Verwirklichung ihrer wechselseitigen Interessen, dann würde sie die Integrität und Identität ihrer konstituierenden Teile bewahren. In diesem Fall wäre die EU eine Organisation, die auf delegierten Kompetenzen aufbauen würde und in der die Mitgliedsländer ein Vetorecht hätten und in der Lage wären, ihre Repräsentanten zu kontrollieren. Wenn die Mitgliedsländer Kompetenzen an die Union delegieren, Kompetenzen, die grundsätzlich wieder entzogen werden können, dann ist die nationalstaatliche Demokratie sicherlich nicht gekippt worden. Wenn die EU jedoch ein machtausübendes System ist, das Beherrschungsverhältnisse begründet, dann ist die Autorisierung von Ministern durch Wahlen auf der nationalen Ebene sowie deren Rechenschaftspflicht gegenüber den nationalen Parlamenten für eine demokratische Legitimität nicht mehr hinreichend. Wenn Niveau und Ausmaß der europäischen Integration die staatlichen Kernfunktionen beeinträchtigen, dann besteht auf europäischer Ebene ein Legitimierungsbedarf, der über das hinausreicht, was Effizienz oder Gerechtigkeit im Sinne wechselseitigen Vorteils leisten können. Es existiert in Europa durchaus ein spezieller Zusammenhang von sozialer Kooperation, der Verpflichtungen und legitime Ansprüche ent98 https://doi.org/10.5771/9783495860526 .
Die nationale Demokratie retten?
stehen lässt. Wenn alle durch das EU-Recht direkt betroffen oder ihm unterworfen sind, wenn die EU an der Freiheit, Sicherheit und dem Wohlergehen aller Bürger rührt, dann tritt eine Gerechtigkeit im Sinne von Unparteilichkeit in den Vordergrund, d. h. eine von allen Standpunkten aus annehmbare Übereinkunft ist erforderlich. Dass die EU über einen Intergouvernementalismus hinausgeht, hat damit zu tun, dass es auch eine Bewegung über das Völkerrecht und den jurisdiktionellen Pluralismus, die die konstitutionelle Grundlage der westfälischen internationalen Ordnung bildeten, hinaus gibt. Wie im zweiten Kapitel erwähnt, stellt die EU kostspielige Anforderungen an ihre Mitgliedsstaaten, während sie gleichzeitig den Gebrauch von innerstaatlichen Gegenmaßnahmen und Reziprozitätsmechanismen, wie wir sie von der Doktrin der internationalen Beziehungen her kennen, untersagt. Auf eine ›Selbsthilfe‹ abzielende Maßnahmen, zum Beispiel ›Vergeltungsmaßnahmen‹, stehen in Einklang mit der allgemeinen Herangehensweise des Völkerrechts. Staaten sind in dieser Perspektive nur in dem Maße verpflichtet, ihre vertraglich festgelegten Verpflichtungen zu erfüllen, in dem ihre Vertragspartner im Gegenzug auch den ihren entsprechen (do ut des). Demgegenüber erlegt die EU ihren Mitgliedsländern Verpflichtungen auf, die zwingend sind und automatisch Anwendung finden. Dabei zeigt sich die Absage der EU an die Prinzipien von Wechselseitigkeit und zwischenstaatliche Gegenmaßnahmen in einer Reihe von Grundsatzurteilen des Europäischen Gerichtshofs. Diese beinhalten den Fall Essevi, in dessen Urteil der EuGH festhielt: »Vor allem sei darauf hingewiesen, dass die Mitgliedsstaaten keinesfalls gleichartige Vertragsverstöße anderer Mitgliedsstaaten anführen können, um sich den für sie aus den Vertragsbestimmungen ergebenden Verpflichtungen zu entziehen.« 74 In ähnlicher Weise wird in der Rechtssache Guy Blanguernon erklärt: »Ein Mitgliedstaat kann nämlich die Nichterfüllung der ihm nach dem EWG-Vertrag obliegenden Verpflichtungen nicht unter Berufung darauf, andere Mitgliedstaaten kämen ihren Verpflichtungen ebenfalls nicht nach, rechtfertigen, da die Mitgliedstaaten in der durch den EWG-Vertrag ge-
74 Siehe die verbundenen Rechtssachen 142/80 und 143/80, Amministrazione delle Finanze dello Stato gegen Essevi SPA und Firma Carlo Salengo [1981] Bericht über die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (ECR) 1413. Siehe auch die verbundenen Rechtssachen 90/63 und 91/63, Kommission der EWG gegen Großherzogtum Luxemburg und Königreich Belgien [1964] ECR 625.
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Demokratische Alternativen oder Sackgassen?
schaffenen Rechtsordnung die Durchführung des Gemeinschaftsrechts nicht an eine Bedingung der Gegenseitigkeit knüpfen können.« 75
Nun hat sich der Bereich von Politikfeldern, der durch diese Verpflichtungen der EU – jus cogens-Normen – abgedeckt wird, im Laufe der Zeit dramatisch ausgedehnt. In etlichen Bereichen gelten nunmehr erga omnes-Verpflichtungen 76 sowie unilaterale statt bi- und multilaterale Maßnahmen. Erga omnes-Verpflichtungen brechen mit dem intergouvernementalen Paradigma des Völkerrechts, da sie die Parteien einer höherrangigen Norm, wie etwa dem Verbot von Folter und Todesstrafe, unterwerfen (Hitzel-Cassagnes 2012). Der EuGH mit seiner obligatorischen Gerichtsbarkeit stellt ein neues System der Befolgung und Einhaltung dar: Der ›Alles-oderNichts-Effekt‹ bedeutet, dass die Staaten »außer Stande sind, eine selektive Anwendung der Verpflichtungen der Europäischen Gemeinschaft zu praktizieren« (Weiler 1982: 53, 54). Der ›Alles oder Nichts Effekt‹ mündet »in der Ersetzung des nahezu freiwilligen Charakters staatlichen Gehorsams, der die klassische internationale Rechtsordnung mit ihren bindenden richterlichen Verfahren charakterisiert« (Weiler 1982: 54). Die europäischen Staaten haben die internationalen Beziehungen untereinander domestiziert. Heute existiert tatsächlich eine übergeordnete politische Gemeinschaft, der die Staaten untergeordnet sind. Folglich hat sich die EU über das Völkerrecht und seine auf Gegenmaßnahmen und einer ›Wie du mir, so ich dir‹-Wechselseitigkeit beruhenden Logik hinaus entwickelt. Das Fazit besteht nun darin, dass selbst wenn die Rechtsgrundlage der EU durch internationale Verträge geschaffen wurde, ihre Kompetenzen und ihre rechtssetzenden Befugnisse so weit in die Arbeitsbedingungen ihrer Mitgliedsstaaten hineinreichen, dass die EU nicht mehr auf dieser Grundlage allein legitimiert werden kann. Der europäische Integrationsprozess hatte Auswirkungen auf die nationalstaatliche Demokratie und seine Rechtsgrundlage wurde gewissermaßen europäisiert. Eine bedeutende Anzahl von Gesetzen und Änderungs- oder Zusatzartikeln, die in den Mitgliedsländern verabschiedet werden, stammen aus den bindenden Entscheidungen, Anordnungen und Regulationsvorschriften der EU. Zudem treffen Rechtssache 38/89 Strafsache gegen Guy Blanguernon [1990] ECR I-0083. Dies sind Verpflichtungen, die gegenüber allen anderen Mitgliedern der internationalen Gemeinschaft bestehen, unabhängig davon, ob diese nun einen Vertrag unterzeichnet haben oder nicht.
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Jenseits der nationalstaatlichen Demokratie?
nationale Gerichte Entscheidungen auf der Grundlage von EU-Recht. Aus diesem Grund kann die demokratische Legitimität der Mitgliedsstaaten nicht unabhängig von der EU begründet werden. Diese Staaten sind so sehr ineinander verwoben, dass das Muster legitimer Autorität in den Staaten transformiert wurde. Es hat also in der Tat eine ›Verfassungsrevolution‹ in Europa gegeben, und zwar in dem Sinne, dass eine neue Ordnung entstanden ist, die die Souveränität der Nationalstaaten eingeschränkt hat, zusammengelegt und zu einer geteilten Angelegenheit hat werden lassen. Dadurch ist eine Ordnung entstanden, die nicht länger ausschließlich durch die sie konstituierenden Parteien kontrolliert wird. Von daher würde ein Rückzug von der EU auf einen Schritt hinauslaufen, der konterrevolutionär wäre (vgl. Morgan 2005).
Jenseits der nationalstaatlichen Demokratie? Wie bereits erwähnt, ist der Integrationsprozess allerdings mit einer Dominanz von Verrechtlichung und Exekutive belastet. Es ist ein Prozess, der die parlamentarische Souveränität auf der Ebene der Mitgliedsländer ausgelaugt und große Kritik provoziert hat. So sehen konservative Europaskeptiker die europäische politische Integration als synonym mit den Faktoren an, die das Wesen nationaler Selbstständigkeit und Identität auszehren. 77 Sozialdemokraten und Kommunitaristen wiederum behaupten, dass der europäische Integrationsprozess eine neoliberale supranationale Ordnung stützt. Diese Ordnung untergrabe dabei sowohl das System der Risikoregulation wie auch der Solidaritätsmaßnahmen, die ein prägender Zug des europäischen Wohlfahrtsstaats gewesen seien. 78 Man geht davon aus, dass diese Faktoren zusammengenommen ein System von mehrstufigen Demokratiedefiziten stützen. Viele Demokratietheoretiker
Für eine Auswahl europaskeptischer Schriften, siehe Holmes 1996. Siehe auch Hooghe 2007, Hooghe und Marks 2007. 78 Siehe Greven 2000, Miller 1995, Scharpf 1999 und Streeck 2000. Siedentop (2000) verleiht diesem Argument eine besondere Wendung. Obwohl er einen europäischen Föderalstaat unterstützt, argumentiert er, der gegenwärtige Integrationsprozess sei eine unglückliche Verbindung eines französischen étatisme und neoliberalen Ökonomismus. Diese Mischung drohe die Chance für eine Demokratie in Europa zu untergraben. 77
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Demokratische Alternativen oder Sackgassen?
gehen noch weiter und argumentieren, das Demokratiedefizit sei nicht bloß eine kontingente, im Zusammenhang mit der Globalisierung stehende Angelegenheit. Vielmehr bezöge sich dieses Defizit auf das Fehlen einer zentralen bürgerlich-demokratischen Infrastruktur aus intermediären Institutionen und Mitteln, einschließlich einer gemeinsamen europäischen öffentlichen Sphäre (Grimm 2004). Einige unterstreichen dabei den strukturellen Charakter des Problems: Dieses werfe ein Schlaglicht auf Begrenzungen im Umfang repräsentativer Demokratie, die dieser innewohnen würden. Beispielsweise hat Robert A. Dahl (1999) argumentiert, eine repräsentative Demokratie jenseits einer bestimmten, auf der Ebene von Nationalstaaten verorteten Schwelle könne nicht funktionieren. Diesem Gedankengang nach besteht folglich zwischen Nationalstaat und Demokratie ein intrinsischer Zusammenhang. 79 Eine repräsentative Demokratie auf die europäische Ebene auszuweiten, würde die Kette demokratischer Legitimation verlängern und die Entfremdung der Bürger erhöhen. Jedoch kann dem Argument einer die Größe betreffenden ›angemessenen Schwelle‹ begegnet werden, da •
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die tatsächliche Verortung dieser Schwelle eine Interpretationsangelegenheit ist und zudem sich mit verändernden historischen Verhältnissen auch ändert; schon die amerikanischen Föderalisten erkannt haben, dass die richtige Größe einer Republik keinesfalls evident sei; gegenwärtig die einzelnen Bürger aufgrund der hochgradigen Interdependenz auf der internationalen Ebene beständig ›auswärtigen‹ Entscheidungen unterworfen sind; ein Umstand, der selbst einer Legitimation sowie einer ›spezialisierten‹ Form der Demokratie bedarf; aufgrund des Fehlens jeder Form einer direkten internationalen Repräsentation ›das relative Gewicht der Stimme jedes einzelnen Individuums sogar noch wesentlich stärker diskontiert werden sollte‹ (Marchetti 2006: 302); und schließlich
Dies ist allerdings eine heftig umstrittene These, vgl.: »Die Doktrin, die Demokratie setze den Glaube voraus, es gäbe ein objektiv feststellbares Gemeinwohl und die Menschen wären in der Lage, dieses zu erkennen und es von daher zum Gegenstand ihres Willens zu machen, ist falsch. Träfe sie zu, wäre Demokratie nicht möglich« (Kelsen 1955: 2).
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102 https://doi.org/10.5771/9783495860526 .
Jenseits der nationalstaatlichen Demokratie?
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eine öffentliche Deliberation und die Vermittlung der Partizipation durch verschiedene öffentliche Bereiche den Verlust eines direkten Einflusses überwiegen können (Bohman 2005: 33).
Folglich ist eine Demokratie jenseits des Nationalstaats keine begriffliche Unmöglichkeit. In der Praxis kann es allerdings schwierig sein, demokratische Kriterien wie etwa Repräsentation, Wahlen, öffentliche Debatte und politischen Wettbewerb zu erfüllen (Cheneval 2011: 39). Die auf der Hand liegende Lösung hierfür besteht für Verfechter der Zwischenstaatlichkeit darin, die Integration zurückzudrängen und die Befugnisse und Kompetenzen der EU zu repatriieren. Auch für Nostalgiker der Wohlfahrtstaats besteht das Rezept darin, das Niveau der europäischen Integration eher wieder zurückzunehmen, denn es weiter zu erhöhen (Streeck 2013: 235 ff.). Aber kann das Zurücknehmen der europäischen Integration die nationale Demokratie unter Bedingungen einer intensiven wechselseitigen Abhängigkeit sowie der Globalisierung retten? Es gibt keinen status quo ex ante. In Anbetracht der Komplexität des Integrationsprozesses und der ökonomischen, sozialen, militärischen und politischen Interdependenzen, die damit einhergehen, könnte man auch fragen, ob dies überhaupt machbar wäre. Sind die Bürger der Mitgliedsländer auf eine ›Konterrevolution‹ und die damit vielleicht verbundenen ökonomischen, zivilen und politischen Verluste vorbereitet? Was für eine Art der internationalen Ordnung gäbe es zudem überhaupt, zu der man zurückkehren könnte? Es gibt keinen status quo ex ante. Nun wohnt dem Kriterium der Autonomie das Erfordernis einer Handlungsfähigkeit inne, d. h. der Fähigkeit, Ziele zu verwirklichen. Um autonom sein zu können, bedarf es der Fähigkeit, gemeinsame Handlungsnormen zu bestimmen und eine gewisse Kontrolle über die relevante Umgebung ausüben zu können. Die EU abzuschaffen, würde die Fähigkeit vermindern, hinsichtlich gemeinsamer Probleme kollektiv zu handeln. In gleicher Perspektive gilt, dass wenn die EU abgeschafft werden würde, jedes Schuldnerland der Eurozone erheblich wehrloser gegenüber der Macht der Finanzmärkte wäre (Offe 2013: 8). Zudem besteht die Gefahr, dass Europa auf die erbärmliche Machtpolitik einer internationalen Ordnung zurückgeworfen würde, die in nationalistischen Kämpfen um Einfluss, Dominanz und religiösen sowie xenophoben Eifer gefangen wäre. Die Vorzüge einer intergouvernementalen Lösung können auch 103 https://doi.org/10.5771/9783495860526 .
Demokratische Alternativen oder Sackgassen?
deswegen bezweifelt werden, da die hauptsächliche Herausforderung an die nationalen Demokratien nicht von der europäischen Integration ausgeht, sondern vielmehr davon, dass diese einem Ausschluss von Entscheidungen ausgesetzt sind, d. h. einem Ausschluss von wichtigen und mit Macht ausgestatteten Orten der Entscheidungsfindung. Die Herausforderung, vor der die Anhänger der nationalen Demokratie stehen, besteht darin, dass in dem heutigen Europa eine Reihe von Prozessen, die im Allgemeinen unter der Überschrift der ›Denationalisierung‹ (Zürn 1998) oder Globalisierung zusammengefasst werden, die Bedeutung des Nationalstaats als Verkörperung demokratischen Regierens unterminieren. Die Frage ist nun, ob eine Demokratie auf der europäischen Ebene dies kompensieren kann.
Alternative drei: Ein föderales Europa Viele der Entscheidungen, die die Bürger der Nationalstaaten tangieren, werden anderorts gefällt; oder aber notwendige kollektive Entscheidungen werden überhaupt nicht getroffen. Tatsächlich offenbaren diese Vorgänge die abnehmenden Steuerungskapazitäten auf Seiten des Nationalstaats. 80 Angesichts dieser Entwicklung sehen einige Politikwissenschaftler die europäische Integration nicht als die Nemesis der Demokratie an, sondern als ein Mittel, um die Demokratie auf die europäische Ebene gewissermaßen hochzuladen. Befürworter eines europäischen Föderalstaates argumentieren z. B., die beste Versicherung, um die Demokratie auch auf der Ebene der Mitgliedsländer zu erhalten, bestünde darin, die Demokratie auf der supranationalen Ebene zu instituieren. 81 Innerhalb einer derartigen Konstellation könnten die Mitgliedsländer nicht länger souveräne Nationalstaaten sein. Wenn man den Einfluss und die Kontrolle über die Verhältnisse, die die Bedürfnisse, Werte und Lebenschancen von Individuen wie auch deren politische Autonomie betreffen, weiter sicherstellen wolle, dann müsse die Souveränität geopfert werden. Dem demokratischen Credo zufolge geht alle politische Autorität Bartolini (2004) meint dies in der geschwächten Macht der Zentren, eine Kontrolle über die Peripherien auszuüben, erkennen zu können. Dieser Sicht wird wiederum die Position entgegengehalten, die europäische Integration stärke den Staat. Siehe hierzu vor allem Moravcisk 1994, Milward 1992. 81 Siehe z. B. Cohn-Bendit und Verhofstadt 2012, Mancini 1998, Morgan 2005, Verhofstadt 2006. 80
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Alternative drei: Ein föderales Europa
von dem im Namen des Volkes erlassenen Recht aus. Die Legitimität des Rechts rührt aus der Präsumtion der Autonomie her, d. h. dass das Recht vom Volk oder dessen Repräsentanten – der pouvoir constituant – erlassen wurde und für jeden Teil des politischen Gemeinwesens in gleichem Maß und Umfang verbindlich gilt. Dieser Umstand wohnt dem Rechtsmedium sozusagen selbst inne, da von ihm nicht willkürlich Gebrauch gemacht werden kann. Um seine Integrität zu wahren, muss es den Grundsätzen der Rechtsstaatlichkeit und des gleichen Respekts für alle entsprechen. Eine Gemeinschaft, die durch das Recht integriert wird, kann nur dann beanspruchen, gerechtfertigt zu sein, wenn die Gesetze in richtiger Weise erlassen und Rechte auf gleicher Basis zugewiesen werden. Die herkömmliche Gestalt einer solchen Gemeinschaft ist der demokratische Verfassungsstaat, der auf direkter Legitimation gegründet ist und sich im Besitz eigener Zwangsgewalt befindet. Ein föderaler europäischer Staat wäre institutionell so ausgestattet, dass er eine direkte Legitimation beanspruchen und diese auch in rechtlich verbindlicher Weise fest verankern könnte. Ein solcher Staat würde eine Reihe von Grundrechten, Formen der Repräsentation und Verfahren, die der europaweiten Meinungs- und Willensbildung dienen, beinhalten. Föderale staatliche Strukturen erhöhen dabei nicht nur Autonomie und Rechenschaftspflicht, sondern können ebenso die durch Globalisierung und komplexe Interdependenz hervorgebrachte Inkongruenz massiv reduzieren. Ein föderales Modell einer europäischen Demokratie, wie es hier dargelegt wird, beinhaltet, dass die grundlegenden strukturellen und substantiellen Verfassungsgrundsätze des Unionsrechts wie auch die Zwangsmaßnahmen, die erforderlich sind, um eine effiziente und konsistente Durchsetzung der Normen zu gewährleisten, auf den beiden zentralen Regierungsebenen (der Mitgliedsländer und der Europäischen Union) institutionalisiert würden. Dieses Modell setzt voraus, dass Schulausbildung, symbolische Maßnahmen und soziale Redistributionsmittel auf beiden Ebenen eingerichtet würden. Das ist erforderlich, damit der Prozess der Sozialisierung der Völker Europas zu ›Europäern‹ kompatibel damit wird, dass die Bürger ihre distinkten lokalen und regionalen Identitäten behalten können. Auch müsste ebenso eine Reihe von klar umrissenen Kriterien festgelegt werden, wer als Europäer gelten kann und wer nicht. Dabei würde die argumentative Last darin bestehen, positiv zu identifizieren, was Europa ist und wie man Europäer von Nicht-Europäern unterschei105 https://doi.org/10.5771/9783495860526 .
Demokratische Alternativen oder Sackgassen?
den kann, damit sich die notwendige gesellschaftliche Basis und ein ›Wir-Gefühl‹ herausbilden könne. Beide sind dabei für ein kollektives Handeln in regulatorischen und redistributiven Angelegenheiten sowie für eine gemeinsame europäische Außen- und Sicherheitspolitik unerlässlich. Die EU würde rechtlich als ein Staat anerkannt werden, der das Recht hätte, erstens polizeiliche und militärische Gewalt zur Kontrolle seines Territoriums und des Schutzes seiner Souveränität auszuüben und zweitens Vorkehrungen gegen die rechtliche Abspaltung jedweder Untereinheit von der Union zu treffen.
Komplexität und Heterogenität Der Mustervorlage des Föderalstaates zufolge bedarf ein Macht ausübendes Gebilde wie die EU einer demokratischen Reform – es benötigt eine formale Verfassung mit Rechten, mit Bestimmungen hinsichtlich einer Gewaltenteilung und für die Einrichtung von repräsentativen und rechenschaftspflichtigen Institutionen. Diese Punkte würden dann die direkte Inklusion der Bürger oder ihrer Repräsentanten in den Entscheidungsfindungsprozess der EU ermöglichen. Damit eine solche Ordnung maßgeblich und legitim sein kann, wäre ein, auf einem symbolischen kollektiven ›Wir‹ basierendes verfassungsgebendes Subjekt – ein demos –, erforderlich. Häufig wird davon ausgegangen, dass eine qua Recht integrierte staatliche Ordnung darauf aufruht, dass bei den ihr unterworfenen Bürger die Auffassung existiert, man teile eine gemeinsames Schicksal. Solch ein in gemeinsamen Verwundbarkeiten wurzelndes ›imaginiertes gemeinsames Los‹ wird als erforderlich angesehen, damit die Menschen zu Landsleuten werden, die bereit sind, kollektive Verpflichtungen für das gegenseitige Wohlergehen zu übernehmen. Auch setze der Verfassungsrahmen der Föderalstaaten ein ›Staatsvolk‹ – einen verfassungsgebenden demos – voraus. Dieser stelle eine pouvoir constituant dar, die aus den Mitgliedern der Union gebildet wird, in deren Namen besondere kollektive Machtbefugnisse gerechtfertigt werden. Wenn es um die Rolle einer kollektiven Identität geht, stellt sich allerdings die Frage, ob Europa wirklich die notwendigen kollektiven Ressourcen und den politischen Willen besitzt, um das Staatsmodell einer repräsentativen Demokratie auf der europäischen Ebene zu kopieren. Denn die EU hat ja wesentlich schwächere Fähigkeiten zur Sozialisierung als irgendein Staat. Obwohl die EU mittlerweile den 106 https://doi.org/10.5771/9783495860526 .
Komplexität und Heterogenität
überwiegenden Teil der Politikbereiche beeinflusst, ist es nichtsdestotrotz wahr, dass die Mitgliedsländer immer noch die wichtigsten traditionellen Mechanismen der Sozialisierung ihrer Bürger beibehalten wie etwa das Schulsystem, eine Landesprache, den öffentlichen Rundfunk sowie die Wehrpflicht (insofern diese immer noch existiert). Während die EU in zunehmendem Maße diese Themenfelder beeinflusst, ist sie jedoch weit davon entfernt, sie vollends zu übernehmen. Dass die Bürger und ihre Repräsentanten ihre nationale Identität für die Entwicklung einer postnationalen Identität, wie sie eine europäische Föderation erfordern würde, aufgeben werden, ist nicht sehr wahrscheinlich. Im Unterschied zum Staat verfügt die EU auch über ungewöhnlich schwache Zwangsmittel. Wenn es um Ressourcen, die Genehmigung von Gesetzen und deren Befolgung sowie um die Aktualisierung der Autorisierung von Verträgen geht, ist die EU von den Regierungen der Nationalstaaten abhängig. Sie verfügt zudem über keine souveräne Steuerbasis und hat keine Befugnisse in finanzpolitischen Fragen. Das soll jedoch nicht heißen, die EU habe keine Macht. Die Auswirkungen, die die EU zeitigt, sind durchaus erheblich. Behördliche Anordnungen, die auf der nationalstaatlichen Ebene wie auf der der EU erlassen wurden, wurden integriert und um »bestehende Ordnungen herum geschichtet, so dass eine Exekutiv-Ordnung entstanden ist, die mehr und mehr einen zusammengesetzten und angehäuften Charakter hat« (Curtin und Egeberg 2008: 639). Die EU lässt sich vor allem als ein politisches System charakterisieren, das, um Ordnung und Zweck zu schaffen, in ausgiebiger Weise vom Recht Gebrauch macht. Die Schaffung von Recht wie auch dessen Durchsetzung vollzieht sich dabei innerhalb einer Struktur, die hierarchische und horizontale Verfahren miteinander kombiniert. Allerdings fehlt klarerweise eine zentrale Körperschaft mit höherrangigen Ressourcen und Kompetenzen. Zudem (und auch hier weicht sie in beträchtlichem Maße von dem Staatenmodell ab) beruht die EU auf einem inkohärenten System einer differenzierten Kontrolle ihres Gebiets. Was die Grenzkontrolle betrifft, sind das Vereinigte Königreich und Irland nur assoziierte Mitglieder, d. h. keine Vollmitglieder des auf dem Abkommen von Schengen basierenden Systems, wohingegen Norwegen, das nicht Mitglied in der EU ist, diesem beigetreten ist. Und bei weitem haben nicht alle Mitgliedsstaaten der EU den Euro übernommen. Dies sind nur einige Beispiele für eine funktionale Differenzierung 107 https://doi.org/10.5771/9783495860526 .
Demokratische Alternativen oder Sackgassen?
in der EU. Zudem weist die EU gemischte Formen der Repräsentation auf, da sowohl Gewählte wie Nicht-Gewählte, sowohl Regierungen wie auch Gruppen, die bestimmte Funktionen erfüllen, einbezogen werden. Was den Entscheidungsprozess betrifft, so ist dieser in zwei Weisen institutionalisiert: durch die Gemeinschafts-Methode, die auf dem Mitentscheidungsverfahren basiert, und die intergouvernementale Methode; des Weiteren gibt es aber auch noch informelle Methoden. Das Ergebnis besteht nun darin, dass die EU ein aus mehreren Teilen bestehendes Gemeinwesen – eine sich auf mehrere Ebenen erstreckende Konstellation – ist, die durch folgende Punkte charakterisiert wird: • •
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Gewaltige Diskrepanzen in der Größe der Mitgliedsländer (von Deutschland bis Luxemburg); Mehrere Ebenen der Politik (die der Union, der Mitgliedsländer und subnationaler Einheiten) wie auch mehrere Dimensionen (territoriale und ›funktionale‹); Eine signifikante institutionelle Inkongruenz auf der vertikalen Ebene, begründet in föderalen (Deutschland, Belgien und Österreich), quasi-föderalen (Spanien und das Vereinigte Königreich) sowie verschiedenen Formen einheitlicher Strukturen auf der Ebene der Mitgliedsländer; Eine starke institutionelle Heterogenität auf der horizontalen Ebene und hochgradig komplexe formale (institutionalisierte) Wege der Entscheidungsfindung; auf der Unionsebene drückt sich dies in verschiedenen Repräsentations- und Rechenschaftssystemen (die fest in supranationalen und internationalen Strukturen verankert sind) aus, noch stärker ist dies jedoch auf der Ebene der Mitgliedsländer (verschiedene Formen von parlamentarischen und Präsidialsystemen); Komplexe informelle Wege der Entscheidungsfindung zwischen Akteuren, die verschiedene Grade der Institutionalisierung aufweisen. Ein Handeln in Politikbereichen, die durch verschiedene Grade der Europäisierung sowie eine unterschiedliche Anzahl von Teilnehmern gekennzeichnet sind. Das Problem, eine Einigung über politische Maßnahmen unter unterschiedlichen Regeln der politischen Entscheidung zu erzielen.
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Die Zurückweisung des Supranationalismus
Die asymmetrische Größe und Macht der Mitgliedsländer machen es schwer, das Prinzip der formalen Gleichheit zwischen den Staaten (zusätzlich zu dem der Bürger) zu verankern. Es gibt schlichtweg zu viele Deutsche, damit das ›ein Mensch, eine Stimme‹-Prinzip Anwendung finden könnte. Das europäische Gemeinwesen ist in dem Sinne einzigartig, dass es ein komplexes Gebilde ist, das in seiner eigenen Organisation etliche Föderationen enthält. Die Vereinigten Staaten von Europa wären in der Lage, die Anforderungen von Autonomie und Rechenschaftspflicht zu erfüllen, wären aber unter den gegenwärtigen sozio-ökonomischen, politischen und institutionellen Bedingungen kaum realisierbar. Die Chancen einer Realisierbarkeit haben jedoch auch etwas mit dem verbreiteten Verständnis der EU zu tun.
Die Zurückweisung des Supranationalismus Auch wenn die EU sich deutlich von einem Staat unterscheidet, hat sie sich mit der Zeit schrittweise auf die Eigenstaatlichkeit hin bewegt. Dennoch klammern sich Politologen, Kommentatoren und Politiker an der These fest, die EU sei intergouvernemental – die supranationale Struktur der EU unterläge der Kontrolle ihrer Mitgliedsstaaten. Damit übereinstimmend hat das deutsche Bundesverfassungsgericht in seiner, den Vertrag von Lissabon betreffenden Entscheidung vom 30. Juni 2009 festgehalten, die EU sei ein »auf dem Prinzip der umkehrbaren Selbstbindung beruhender Staatenverbund [Hervorhebung durch den Autor]« (Absatz 233). 82 Anwendung findet hier das erwähnte Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung 83 und es wird neuerlich formuliert, eine Demokratie sei nur auf der nationalstaatlichen Ebene möglich: »Die ›Verfassung Europas‹, das Völkervertrags- oder Primärrecht, bleibt eine abgeleitete Grundordnung.« (Absatz 231). Demokratische Kriterien finden hier keine Anwendung, da es Staaten und nicht Bürger sind, die hier die Beschluss des deutschen Bundesverfassungsgerichts vom 30. Juni 2009, 2 BvE 2/ 08, zugänglich unter http://www.bverfg.de/entscheidungen/es20090630_2bve00020 8en.html, zuletzt zugegriffen am 06. Januar 2013. Siehe diesbezüglich auch Eriksen und Fossum 2011. 83 »Das europarechtliche Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung und die europarechtliche Pflicht zur Identitätsachtung sind insoweit vertraglicher Ausdruck der staatsverfassungsrechtlichen Grundlegung der Unionsgewalt.« (Absatz 234) 82
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Demokratische Alternativen oder Sackgassen?
›Wählerschaft‹ stellen. Staaten sind die einzigen Quellen der Legitimität und sie agieren international auf Grundlage ihrer indirekten oder delegierten regierungsamtlichen Befugnisse. Folglich müssen »[s]olche Integrationsschritte (…) von Verfassungs wegen durch den Übertragungsakt sachlich begrenzt und prinzipiell widerruflich sein« (Absatz 233). Das Gericht verfechtet hier, dass der Integrationsprozess bezüglich der Schaffung von Kompetenzen auf der EU-Ebene mittlerweile die Grenze der Belastbarkeit für die deutsche Demokratie erreicht hat. Damit befindet es sich in Übereinstimmung mit den beiden sogenannten Solange-Beschlüssen, die das Bundesverfassungsgericht 1974 und 1986 traf. 1974 wurde in der Rechtsprechung zu Solange I festgehalten, solange das Europäische Recht (noch) nicht in gleichem Maße wie das nationale Recht einen Schutz der Grundrechte gewährleiste noch über ein ähnliches Niveau der demokratischen Legitimität gesetzgebender Gewalt verfüge, so lange würde das Verfassungsgericht damit fortfahren, das abgeleitete Gemeinschaftsrecht gemäß der Maßstäbe der nationalen Verfassung zu prüfen. In dem Solange II Beschluss von 1986 drückte das Gericht dann allerdings seine Zufriedenheit aus, das geforderte Niveau eines Rechtsschutzes sei mittlerweile von dem Gemeinschaftsrecht (sic!) erreicht worden (Sadurski 2008). Im Juni 2009 jedoch befand das Bundesverfassungsgericht, selbst nach dem Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon weise die EU Demokratiedefizite auf. Es fehle, »der Europäischen Union auch nach Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon an einem durch gleiche Wahl aller Unionsbürger zustande gekommenen politischen Entscheidungsorgan mit der Fähigkeit zur einheitlichen Repräsentation des Volkswillens. Es fehlt, damit zusammenhängend, zudem an einem System der Herrschaftsorganisation, in dem ein europäischer Mehrheitswille die Regierungsbildung so trägt, dass er auf freie und gleiche Wahlentscheidungen zurückreicht und ein echter und für die Bürger transparenter Wettstreit zwischen Regierung und Opposition entstehen kann« (Absatz 280). 84
Diese Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts wurde von Rechtswissenschaftlern einer tiefgreifenden Kritik unterzogen. 85 Bezüglich ungleicher Repräsentation als einem eher unangebrachten Punkt siehe Christopher Lord und Johannes Pollak (2012). 85 Für kritische Erwiderungen siehe den Sonderteil des German Law Journal über den Lissabon-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (Grosser 2009; Halberstam und 84
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Die Zurückweisung des Supranationalismus
Aber während Kritiker auf Defizite in den empirischen Annahmen und normativen Überlegungen des Gerichts hingewiesen haben, bestand bisher kaum ein Interesse daran, die von dem Gericht behauptete Verbindung zwischen den Konzepten der Demokratie und des politischen Gemeinwesens zu untersuchen. Wie soll man vom Standpunkt der Demokratie aus die Bedeutung der Entwicklung der EU über einen Intergouvernementalismus hinaus einschätzen? Tatsächlich unterstreicht die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts selbst die Notwendigkeit, über verschiedene Alternativen zum Intergouvernementalismus und indirekten Demokratie in Europa nachzudenken. Im Gegensatz zu einem politischen Machiavellismus und einer ›rigiden Souveränitätsvorstellung‹ schreibt das deutsche Grundgesetz dem Bundesverfassungsgericht zufolge »demgegenüber die Friedenswahrung und die Überwindung des zerstörerischen europäischen Staatenantagonismus als überragende politische Ziele der Bundesrepublik fest« (Absatz 224). Und weiter: »Die deutsche Verfassung ist auf Öffnung der staatlichen Herrschaftsordnung für das friedliche Zusammenwirken der Nationen und die europäische Integration gerichtet. Weder die gleichberechtigte Integration in die Europäische Union noch die Einfügung in friedenserhaltende Systeme wie die Vereinten Nationen bedeuten eine Unterwerfung unter fremde Mächte« (Absatz 220). In dieser Passage scheint das Gericht nun eher mit einer Konzeption sich verändernder staatlicher Souveränität übereinzustimmen, die sich mehr in Richtung kosmopolitaner, denn klassisch westfälischer staatlicher Prinzipien entwickelt. Man bleibt also etwas verwirrt zurück. Wie schon mehrfach darauf hingewiesen wurde, existiert in der EU wirklich ein Legitimationsbedürfnis. Wie kann man eine Legitimierung nun erreichen, wenn sowohl die intergouvernementale Lösung als auch die eines Föderalstaates ausgeschlossen sind? Kann eine Entwicklung, über die westfälische Ordnung hinaus und auf einen Kosmopolitanismus hin, eine bessere, passendere Version einer EU-Demokratie bieten? Die entscheidende Frage, die diese Analyse aufwirft, ist nun, ob Staatsform und kollektive Identität notwendige Vorbedingungen der Demokratie sind, wie es John Rawls und Thomas Nagel annehmen. Oder kann eine schlankere Struktur, die aus rechtlichen Verfahren und einem sich vielfach überschneidenden Möllers 2009; Kiiver 2009; Leibfried und van Elderen 2009; Niedobitek 2009; Schorkopf 2009; Schöneberger 2009; Tomuschat 2009; Wohlfahrt 2009).
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Demokratische Alternativen oder Sackgassen?
öffentlichen Diskurs bestehen, die demokratische Legitimität verbürgen? Dieser Perspektive zufolge ist die Demokratie als ein Prinzip zu verstehen, das mit vielen institutionellen Arrangements kompatibel ist und nicht notwendig von den Bedingungen staatlicher Souveränität abhängt.
Alternative vier: Transnationale Demokratie Der Bezugsrahmen sowohl für den intergouvernementalen als auch den föderalen Ansatz bleibt der Nationalstaat, und beide Ansätze diskutieren die Perspektive der Demokratie in den entsprechenden Begrifflichkeiten. Dabei operieren beide im Horizont der westfälischen Ordnung und von daher innerhalb der Bedingungen staatlicher Souveränität. Der normative Maßstab einer nicht-willkürlichen Herrschaft, d. h. von Autonomie und Rechenschaftspflicht, ist, wie zuvor schon erwähnt, jedoch nicht an die Mustervorlage des Nationalstaats gebunden. Da zudem die Eingriffe der EU in die Interessen und Präferenzen der Staaten und Bürger Europas Gewinner und Verlierer hervorbringen – die EU fördert und droht, belohnt und bestraft und transformiert Identitäten –, existiert ein transnationaler Kontext der Gerechtigkeit und Demokratie jenseits des Nationalstaats. Hieran anknüpfend argumentieren Vertreter eines Transnationalismus und einer Mehrebenen-Governance, in Europa bestünde ein Demokratisierungsbedürfnis. Jedoch sehen sie die Lösung für die Herausforderung, mit der Europa konfrontiert ist, weder in der Rettung des Nationalstaats noch darin, eine eigentlich auf dem Staat basierende Demokratie auf EU-Ebene hochzuladen. Vielmehr wird die EU als eine Einheit sui generis, als eine mögliche Alternative zu dem Model des Nationalstaats, verstanden. 86 Manche Politikwissenschaftler halten die EU dabei als einen Typ politischen Gemeinwesens hoch, der Aussicht darauf hat, eine Demokratie jenseits des Nationalstaats zu entwickeln. 87 So betrachtet John Ruggie (1993) die EU als Fall entflochtener staatlicher Autorität, die mit einer Veränderung der Liesbet Hooghe und Gary Marks (2003) skizzieren zwei Modelle einer sich auf mehrere Ebenen erstreckenden Governance, unter denen ›MLG II‹ dem GovernanceAnsatz, der nicht staatsbezogen ist, am nächsten steht. 87 Siehe vor allem Schmitter 1996, 2000. Siehe auch Hoskyns und Newman 2000, Preuss 1998, Weiler 1999a, 2001a, Zürn 1998. 86
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Alternative vier: Transnationale Demokratie
Grundsätze territorialer Souveränität einhergehe. Anhänger von Transnationalismus und Mehrebenen-Governance portraitieren die EU so, dass sie aus neuen Governance Strukturen besteht, die zusammengenommen eine Alternative zu einer Regierung oberhalb des Nationalstaats bilden. Für sie wohnt die Souveränität den problemlösenden Einheiten selbst inne. Eine Vielzahl von supranationalen Organisationen, transnationalen Privatakteuren, die so etwas wie eine ›globale Autorität‹ darstellen, sowie Governance-Netzwerken beteiligen sich an der Schaffung von Normen, Regeln und Regulation jenseits des Staates. Diese beruhen auf einem privatrechtlichen Institutionsrahmen, beanspruchen jedoch, da sie dem öffentlichen Interesse dienen, Legitimität. Dichte transnationale Netzwerke und administrative Koordinationssysteme waren nun der Legitimität der EU intrinsisch, und einige Autoren haben diesen Umstand so gedeutet, dass er auf eine Form eines transnationalen Konstitutionalismus hinauslaufen würde (Fischer-Lescano und Teubner 2006; Joerges et al. 2004). Diese Debatte fokussiert dabei die Bedingungen, unter denen ein Entscheidungsprozess in derlei Bereichen als legitim erachtet werden kann. Wenn ein selbstregierendes Kollektiv allerdings Teil mehrerer – nationaler, internationaler und globaler – Gemeinschaften ist, dann wird der Ort wie auch der Fokus der Demokratie rätselhaft (Held 1995: 225). Damit übereinstimmend behaupten einige Befürworter der deliberativen Demokratie, dass die Gestaltung von Politik in Komitees und Netzwerken, ergänzt durch zivilgesellschaftliche Vereinigungen, NROs und soziale Bewegungen, einen transnationalen kommunikativen Raum geschaffen hätten. 88 Wie auch andere ›Mechanismen‹ der demokratischen Kontrolle und Anfechtung, wie etwa Wahlen und eine freie Presse, Aktivisten und Akademiker, können diese Räume als Mechanismen der Rechenschaftspflicht und des Feedbacks verstanden werden, die dazu da sind, einen Fallibilismus und eine experimentelle Haltung zu institutionalisieren. Diese Mechanismen sind dabei alle in dem Maße von Wert für die Demokratie, indem sie das Anfechten von Entscheidungen, Meinungsverschiedenheiten sowie eine Politisierung von entpolitisierten Angelegenheiten befeuern. Eine Deliberation in einer spontan entstehenden und horizontal dispersierten Polyarchie lässt festgefügte Weltbilder und InterpretaSiehe Bohman 2007a, 2005; siehe des Weiteren Cohen und Sabel 1997, 2003, Gerstenberg 2002, Sabel und Zeitlin 2010, Zeitlin und Trubek 2003.
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Demokratische Alternativen oder Sackgassen?
tionsrahmen zerspringen. Experimentelle Untersuchungen verhindern Beherrschung und lösen falsche Konsense auf. 89 Transnationalisten wie etwa Joshua Cohen und Charles Sabel (1997, 2003) sowie James Bohman (2005, 2007a) argumentieren für die normative Geltung eines dem europäischen System von Governance nachgebildeten polyzentrischen Systems einer direkt-deliberativen Polyarchie. 90 Sie verstehen die EU als ein mehrstufiges, großflächiges und multi-perspektivisches Gemeinwesen, das auf einem disaggregierten demokratischen Subjekt sowie auf Strukturen vielfältiger und verstreuter demokratischer Autorität beruht. Ihre Behauptung ist dabei, dass transnationale Zivilgesellschaft, Netzwerke und Komitees, NROs und öffentliche Foren alle als Arenen dienen würden, in denen Akteure und Bürger der EU aus unterschiedlichen Kontexten – nationalen, organisatorischen und professionellen – zusammenkämen, um verschiedene Arten von Angelegenheiten zu lösen und in denen verschiedene Zugangsmöglichkeiten sowie eine offene Deliberation eine demokratische Legitimität gewährleisten würden. Die lokale Lösung von Problemen, die Institutionalisierung von Verbindungen zwischen Einheiten sowie die Existenz von Agenturen, die die Entscheidungsfindung in und zwischen Einheiten überwachen, tragen dazu bei, dass diese Struktur einer demokratischen Governance dienlich ist. Einige der Verfechter der deliberativen Demokratie argumentieren, dass wir im Zusammenhang mit der Erfahrung der europäischen Integration die Demokratie selbst, entlang der Linien transnationaler deliberativer Demokratie, neu überdenken müssen – und nicht auf spezifischen Begriffen der Repräsentation aus dem Kontext eines sich selbstregierenden Kollektivs beharren sollten. In der heutigen interdependenten Welt »ist das Hauptthema nicht das reale oder vermutliche Demokratiedefizit, sondern das Kriterium der Demokratie »Wie können wir sicherstellen, dass die Öffentlichkeit hinreichend verlässlich informiert wird und die verschiedenen Ideen und Argumente berücksichtigt werden? (…) Wir könnten mit John Stuart Mill annehmen, dass eine lebendige öffentliche Kultur, in der unterschiedliche Ideen vertreten sind und verschiedene ›Experimente, wie zu leben sei‹ existieren, eine systematische Verzerrung von Informationen verhindert und eine unkritische Übernahme dieser oder jener vorherrschender Gewohnheiten und Meinungen erschwert« (King 2003: 35; vgl. E. Anderson 2006). 90 Cohen und Sabel (1997) machen sich ebenso einen transnationalen Begriff von Demokratie zu eigen. Allerdings sind sie hinsichtlich der Notwendigkeit, existierende Demokratiekonzeptionen durchzuarbeiten, weniger umfassend. 89
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Die zurückgewonnene Repräsentation
selbst (…)« (Bohman 2007a: 10). Das Ergebnis dieser Überlegungen ist schließlich, dass wir die Bedeutung von Demokratie, insbesondere die Annahme, die Demokratie benötige eines einheitlichen demos’, neu durchdenken müssen. Demokratie und Nationalstaat sollten entkoppelt werden, da für die Gewährleistung »des Rechts, nicht willkürlich beherrscht zu werden«, und die »Verwirklichung der politischen Menschenrechte« eine politische Gemeinschaft »eine Gemeinschaft innerhalb einer größeren politischen Gemeinschaft sein muss, eine Sammlung von demoi, die sich als größere demokratische Gemeinschaft integrieren« (ebd.: 150). Somit bedürfe es eines Sets »verstreuter Öffentlichkeiten« und eines demokratischen Minimums, das aus einer beschränkten »materialen normativen Kompetenz« sowie der »geteilten Fähigkeit« bestehe, »eine Deliberation über den Inhalt institutioneller Vorhaben zu initiieren« (Bohman 2007b; vgl. Dryzek 2006). Diese Punkte sind am Ende jedoch nicht so minimal, wie behauptet. Das Recht darauf, nicht willkürlich beherrscht zu werden, ist recht anspruchsvoll (vgl. Forst 2007). Es erfordert eine Demokratie in einem robusten und institutionalisierten Sinne. Damit Gesetze nicht durch andere bestimmt werden, ist die Institutionalisierung und effektive Durchsetzung von Rechten erforderlich: Die Institutionalisierung politischer Rechte, die stark genug sind, um die Menschen in eine vereinigte Bürgerschaft zu verwandeln, die in der Lage ist, eben jene Gesetze zu beeinflussen, denen sie gehorchen müssen. Da Bohmans Konzeption einer Herrschaft jenseits des Staates einen solchen institutionellen Rückhalt blockt, kann sie nicht angemessen den Herausforderungen begegnen, die mit der Existenz nur schwacher Zwangsmittel einhergehen. Wie können ohne die Sanktionsfähigkeit des Staats Ziele verwirklicht und Rechte geschützt werden? Wäre ein solches System in der Lage ›zu liefern‹, und wie könnte es die Veränderungen bewirken, die aus Gerechtigkeitsgründen erforderlich wären? Könnte eine deliberative Governance zudem den gleichen Zugang und die öffentliche Rechenschaftspflicht in einer solchen komplexen Mehrebenenkonstellation, wie es die EU ist, sicherstellen?
Die zurückgewonnene Repräsentation Das Problem dieser Perspektive besteht darin, dass die EU sich über einen Intergouvernementalismus hinausentwickelt und eigene Machtinstrumente gewonnen hat. Die EU schafft Beherrschungsver115 https://doi.org/10.5771/9783495860526 .
Demokratische Alternativen oder Sackgassen?
hältnisse, folglich existieren Kommandobrücken, die von den unterworfenen Parteien gekapert werden müssen. Wenn dies der Fall ist, dann gibt es einen Ruf nach einer demokratischen Domestizierung von politischer Macht und der institutionellen Ordnung, auf der sie aufbaut. Um willkürliche, ungerechtfertigte Beherrschung zu verhindern, sollten die Kommandobrücken durch machtvolle, sich in der Hand der Bürger befindende Institutionen gekontert werden. Der Ausdruck transnationale Governance, der das Auftreten neuer Formen rechtlicher und politischer Zusammenarbeit öffentlicher und privater Akteure auf internationalen wie regionalen Ebenen beschreibt, passt einfach nicht gut auf das europäische Experiment. Nun werden die Begriffe Governance und transnational verbunden, um einen begrifflichen Apparat zu gewinnen, mit dem man die weit fluidere post-westfälische Welt – eine Welt, in der Territorialität und Funktionalität nicht zusammenhängen – erfassen kann. Verglichen mit diesen Entwicklungen hat Europa einen wesentlich stärker institutionellen Weg eingeschlagen, und zwar einen, in dem sich Territorium und Funktion durchaus überschneiden. Darüber hinaus wurden in Europa Beherrschungsverhältnisse etabliert, für deren Eindämmung der Ansatz transnationaler Governance nicht die benötigten Ressourcen besitzt. Zu dem in transnationalen Strukturen auftretenden Problem der begrenzten Fähigkeit der Bürgerschaft, die jeweilige Politik beeinflussen und verändern zu können, tritt das Problem von Ungleichheit und einer parteiischen oder zumindest voreingenommenen Repräsentation hinzu. Solange nicht alle Betroffenen tatsächlich Gehör gefunden haben, können wir nicht wissen, ob das Ergebnis eines Deliberationsprozesses legitim ist, d. h. wert, anerkannt zu werden. Wir können nicht wissen, ob es den gemeinsamen Willen verkörpert. Nicht-ideale Bedingungen führen zu nicht-idealen Ergebnissen. Solange nicht ein kritischer Schwellenwert für die Deliberation identifiziert wird, in welchem Umfang eine öffentliche Deliberation in Netzwerken und neuen Governance Strukturen erforderlich ist und welcher Art sie sein sollte, solange ist es problematisch, für die Deliberation einen demokratischen Wert zu behaupten. Wenn nicht alle an der Rechtsetzung beteiligt sein können, dann brauchen wir Kriterien, um zu entscheiden, wer denn überhaupt die betroffenen Parteien sind, wer autorisiert ist, um kollektive Entscheidungen zu treffen und welche Verfahren benötigt werden, mittels derer die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden können. Kurz gefasst, es 116 https://doi.org/10.5771/9783495860526 .
Schlussfolgerung
sind demokratische repräsentative Institutionen erforderlich, die jedem, zumindest nominell, durch das Wahlrecht eine Mitsprachemöglichkeit eröffnen. Die Bedeutung solcher Strukturen wird durch die gemeinsame Erfahrung unterstrichen, dass sogar eine Entscheidung, die optimal ist, auf Widerstand trifft, wenn sie nicht in einer prozedural richtigen Weise zustande gekommen ist. 91 Von daher bedarf es einer Regierung, d. h. einer autorisierten Herrschaft, die durch rechenschaftspflichtige und durch das Volk gewählte Institutionen ausgeübt wird und die der Überwachung durch Gerichte unterliegt. Da sie die Möglichkeit der Bürger begründen, sich durch das Medium des Rechts selbst-reflexiv zu regieren, ist das politische Partizipationsrecht als Recht aller Rechte anzusehen. Nur die Institutionalisierung und Durchsetzung politischer Rechte gibt einem modernen politischen Gemeinwesen eine vernünftige Legitimationsbasis, da hierdurch ein selbst-korrigierendes Verfahren geschaffen wird. Recht ohne Selbstgesetzgebung ist Heteronomie! Es ist von daher nicht richtig, von einem demokratischen Minimum zu sprechen, wie es James Bohman (2007a, 2007b) und John Dryzek (2006) tun. Entweder gibt es eine Demokratie, und dies beinhaltet die Existenz von Partizipationsrechten, durch die eine öffentliche Kontrolle von Macht und Regierungsgewalt ausgeübt werden kann, oder es gibt sie nicht. Anstelle von einem demokratischen Minimum zu sprechen, sollte man vielmehr das Minimum institutioneller Voraussetzungen ausdeuten, das für ein Bestehen der Demokratie erforderlich ist.
Schlussfolgerung Wie immer man sich die Demokratie nun genau vorstellt, in jedem Fall erfordert sie irgendein Minimum institutioneller Ordnung, da eine Deliberation selbst nicht die volle Last demokratischer Legitimität tragen kann. Das Minimum institutioneller Voraussetzungen, auf das wir im nächsten Kapitel zurückkommen werden, erfordert keine staatsartigen Strukturen, vielmehr geht es über diese klar hinaus, ist aber zugleich auch verschieden von den transnationalen Governance»Wenn eine Option, die zwar von Leuten präferiert wird, diesen jedoch oktroyiert wird, statt von ihnen gewählt zu werden, dann könnten diese Leute eine Präferenz für eine Option entwickelt, die von ihnen ursprünglich niedriger eingestuft worden ist« (Elster 2000: 95, Fußnote 15).
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Demokratische Alternativen oder Sackgassen?
Netzwerken. Anhänger transnationaler Governance stützen sich auf die Theorie deliberativer Demokratie, da sie diese für geeignet halten, um die spezifische experimentelle Form der Demokratisierung zu erklären, die sie in der EU gegeben sehen. Aber dieser Ansatz beruht auf einem Missverständnis: die Demokratisierung der EU entwickelt sich entlang der Linien repräsentativer Demokratie und weist, wie wir in dem vorhergehenden Kapitel gesehen haben, klare Ähnlichkeit mit nationalen Arrangements auf. Auf der anderen Seite lässt die Debatte über die europäische Demokratie deutlich werden, dass das zentrale Thema sich darum dreht, festzulegen, was Demokratie für eine Bedeutung haben kann, wenn der Nationalstaat nicht mehr einfach als Grundlage vorausgesetzt werden kann und eine föderalstaatliche Lösung nicht realisierbar ist. Die EU stellt ein noch nie dagewesenes, komplexes und vielseitiges Gebilde dar, dessen Identität, Legitimität und demokratische Qualität umstritten ist. Allerdings wurden nur geringe systematische Anstrengungen unternommen, um zu spezifizieren, wie eine mit kosmopolitanen Normen angefüllte Europäische Union Beherrschungsverhältnisse abwenden und den demokratischen Kernprinzipien von Autonomie und Rechenschaftspflicht entsprechen kann. Die Ausgangsbasis ist dabei, dass die Kerngrundsätze von Autonomie und Rechenschaftspflicht eine Kongruenz zwischen dem politischen und gesellschaftlichen Raum voraussetzen. Und eine Kongruenz ist erforderlich, damit das Prinzip, dass alle gleichermaßen dem Recht unterliegen, mit dem Prinzip versöhnt werden kann, dass alle, die von Entscheidungen und Gesetzen betroffen sind, auch an diesen mitwirken können. Wie wir sehen werden, muss dies jedoch nicht auf eine exklusive territoriale Kontrolle hinauslaufen.
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5. Eine kosmopolitane europäische Zukunft
»Lasst uns daran erinnern, dass die Einigungsbewegung in Europa gerade einen Versuch darstellte, eine regionale Organisation zu schaffen, und dass, in dem reduzierten Maßstab eines halben Kontinents, ihre Ursprünge und Quellen dem Prozess ähnelten, den Kant in seiner Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht erträumte.« (Hoffman 1966: 863)
Wenn sich nun die EU über eine zwischenstaatliche, dem Völkerrecht unterliegende Ordnung hinaus entwickelt hat, aber daran gehindert wird, zu einem Föderalstaat zu werden, welche Optionen bleiben uns dann noch übrig? In der EU gibt es keine in der erforderlichen Weise gewählte, ›das Volk‹ symbolisierende Versammlung, folglich scheint das eine souveräne Herrschaft legitimierende Prinzip einer Bürgerschaft in der institutionellen Ordnung der Gemeinschaft keinen Platz zu haben. Man könnte jedoch ein Legitimationsprinzip aus dem Herrschaftssystem gewinnen, das dem europäischen Verfassungsgebungsprozess sowohl unterliegt wie auch aus ihm hervorgeht. Dieses System hat deutlich werden lassen, dass die EU ein regierungsähnliches Gebilde darstellt, das der Fusion der konstitutionellen und demokratischen Traditionen Europas entsprungen ist. Dabei sind durch die von der EU übernommenen Grundsätze und Werte die Standards einer demokratischen Regierung in den Vordergrund getreten. Der institutionelle Komplex der Union – d. h. die Kompetenzen, Rechte, Verfahren, politischen Gestaltungsprozesse und Orte, die sie für die Partizipation, Kontestation und Repräsentation bereitstellt –, zeugt von der Tatsache, dass die EU sich in Richtung einer auf Rechten basierenden Quasi-Föderation bewegt, die über eine gewisse demokratische Legitimität verfügt. Auch wenn die EU nicht die souveräne Kontrolle in einem klar umgrenzten Territorium innehat, beansprucht sie doch, eine legitime Autorität zu besitzen, die auf fest verankerten Rechtsgrundsätzen sowie einer Reihe von repräsentati119 https://doi.org/10.5771/9783495860526 .
Eine kosmopolitane europäische Zukunft
ven politischen Institutionen, die der Herausbildung eines kollektiven Willens dienen, beruht. Die Mehrebenen-Konstellation, die die Union ausmacht, besitzt nicht die organisatorischen Kompetenzen und Möglichkeiten eines Staates und hat, was die Demokratie angeht, Defizite. Die Bürger können sich nicht in vollem Umfang durch eine von ihnen ernannte und ihnen gegenüber verantwortliche Regierung selbst regieren. Verschärft wird dieser Missstand noch dadurch, dass außerhalb der üblichen, in dem Abkommen von Lissabon festgelegten Verfahren nun die Regierungen der europäischen Länder Verträge untereinander schließen, um die Krise der Eurozone handhaben zu können. Was institutionelle Reformen wie auch die Frage betrifft, welche Art von Kompetenzen und Funktionen in Europa ›vergemeinschaftet‹ werden sollen, gibt es eine unvollendete Agenda (Eriksen 2009). Auch ist nicht klar, was die EU ist oder was zu sein sie anstreben sollte. Um die Frage sowohl nach ihrem Charakter als auch nach ihrer Legitimationsbasis angehen zu können, muss sich die EU, wie schon in den vorhergehenden Kapiteln deutlich wurde, in einen größeren kosmopolitanen Bezugsrahmen stellen. Zudem bleibt die eigentlich demokratische Frage weiterhin unbeantwortet: Was muss geschehen, damit wir, die Bürger Europas, uns selbst als Mitgesetzgeber in der Mehrebenen-Konstellation der EU begreifen können? Wie wendet man die Prinzipien der Demokratie auf die europäische Ordnung an, wenn doch eine Zentralgewalt – die organisierte Handlungsfähigkeit, die Bürgerschaft zu schützen und Rechte geltend zu machen – fehlt? Ich betrachte nun die EU als ein eigenständiges Gemeinwesen, das auf einer autorisierten Regierung basiert. Dabei ist diese wiederum als die politische Organisation der Gesellschaft zu verstehen, d. h. als die institutionelle Strukturierung einer politischen Einheit. Eine nichtstaatliche Einheit kann dann ein Regierungssystem bilden, insofern sie die Funktion einer sanktionierten Rechtsprechung ausübt. Ich betrachte die EU demnach nicht als eine Föderation von Nationalstaaten, sondern als eine Quasi-Föderation von Staaten und Bürgern, die in einem gemeinsamen, universalistisch untermauerten Rechtsrahmen vereint sind. Der Umstand, dass sich die EU verbindlich der Achtung und Wahrung grundlegender Menschenrechtsprinzipien verschrieben hat, bedeutet, dass sie eine Berufung gegenüber einer Gemeinschaft hat, die breiter und universeller ist, denn die einer multinationalen Föderation. Um dieses Konzept der EU – die EU als eine regional-kosmopolitane Einheit – aus der Perspektive eines deli120 https://doi.org/10.5771/9783495860526 .
Kommandobrücken
berativen Institutionalismus rekonstruieren zu können, beziehe ich mich auf die folgenden demokratischen Innovationen, die der europäische Integrationsprozess mit sich gebracht hat: auf die Verschmelzung verschiedener Verfassungstraditionen, eine geteilte Souveränität, eine staatenlose Regierung, eine parlamentarische Verflechtung und einen mehrschichtigen öffentlichen Raum. Diese Innovationen lassen es dabei möglich werden, die EU als ein regionales kosmopolitanes Gemeinwesen zu begreifen.
Kommandobrücken Zuerst sollten wir zu der Grundfrage zurückkommen, die sich die ganze Zeit im Hintergrund der vorliegenden Abhandlung befand. Ist es wahr, dass es ohne die »Ermöglichungsbedingung der Souveränität« – ohne »irgendeine Form von Recht, (…) eine zentralisierte politische Autorität, die die Regeln festlegt und [ohne] ein zentralisiertes Gewaltmonopol« – keine Gerechtigkeit und Demokratie geben kann, wie es Thomas Nagel (2005: 116) behauptet? Den ›Souveränisten‹ zufolge stammen Gerechtigkeitsnormen aus den besonderen Beziehungen, die Menschen in dem Bezugsrahmen eines Staates zueinander haben – und dieser Rahmen ist eben dadurch gekennzeichnet, dass in ihm Verpflichtungen generiert und mit Zwang durchgesetzt werden. Entsprechend würden jenseits des Nationalstaates Demokratie und Gerechtigkeit nicht gelten. 92 Verpflichtungen zwischen Nationen, die im Prinzip der Verteilungsgerechtigkeit wurzelten, würden schlicht nicht existieren. Jedoch ist das in der EU so: In Europa ist ein transnationaler Kontext von Gerechtigkeit, Bürgerrechten und Freizügigkeit gegeben. Da von ›Weltbürgern‹ nicht erwartet werden kann, dass sie sich als freie und gleiche Menschen verstehen, die sich in einer fairen Weise aufeinander beziehen sollten, ist Rawls (1999) der Ansicht, dass wir nicht mit Zwangsgewalt ausgestattete gesellschaftliche Institutionen aufbauen können, die auf der Annahme beruhen, die Bürger verstünden sich doch in einer solchen Weise. Diese Position gerät in die Nähe zu einem kommunitaristischen Standpunkt, da sie behauptet, nur im Falle, dass eine kollektive Identität bestünde – ein Selbstverständnis, das für alle vernünftigerweise akzeptierbar ist –, Zwang gegenüber Individuen ausgeübt werden könne (Wenar 2002: 63). Zudem »setzen [Souveränisten] eine Konklusion als Prämisse, wenn sie argumentieren, dass ein bestimmter Kontext sozialer Kooperation oder eine politische Gemeinschaft eine notwendige Vorbedingung für die Anwendung des Konzepts sozialer oder politischer Gerechtigkeit ist« (Forst 2011b: 8).
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Auch wenn die EU kein Staat ist, der über das Monopol legitimer Gewaltausübung verfügt, kommt sie doch, verglichen mit den üblichen Systemen und internationalen Organisationen im transnationalen Bereich, einer mit großer Macht ausgestatteten Kommandobrücke gleich, die von der Bürgerschaft gekapert werden muss. Die Instrumente der Selbsthilfe der europäischen Staaten, wie Reziprozität und Gegenmaßnahmen, wurden entfernt und die Institutionen der EU tangieren nunmehr die Freiheit, Sicherheit und das Wohlergehen aller Bürger – sie fördern und drohen mit Sanktionen, belohnen und bestrafen EU-Bürger wie auch dritte Parteien. Von daher existiert durchaus ein besonderer Kontext sozialer Kooperation, der entsprechend auch Verpflichtungen und berechtigte Ansprüche entstehen lässt. Ebenso gibt es Beherrschung und moralisch willkürliche Quellen von Ungleichheit, die einen Verstoß gegen das Prinzip gleicher Bürgerschaft darstellen. Auch haben die Europäischen Verträge die Funktion einer übergeordneten Rechtsstruktur erhalten, die sowohl eine von den nationalen verschiedene, einheitliche Bürgerschaft als auch ein Set autonomer Körperschaften auf der europäischen Ebene etabliert. In Europa besteht also folglich ein Kontext der Gerechtigkeit und Demokratie, der dem eines Nationalstaats vergleichbar ist. Indessen gibt es noch eine zweite Behauptung der ›Souveränisten‹. Diese besteht in der Annahme, dass die Errichtung einer supranationalen, mit Zwangsgewalt ausgestatteten Macht auf einen Wettstreit mit den Nationalstaaten um die endgültige Entscheidungskompetenz – um die Kontrolle der zentralisierten Entscheidungsgewalt – hinauslaufen würde. 93 Wie wir aber sehen werden, zeigt der Fall der EU, dass es keinen Kampf um die letzte Entscheidungsbefugnis geben muss, wenn alle Gerichte die gleiche Rechtsgrundlage haben. Allerdings sollte man auch die normative Prämisse, die der Behauptung der ›Souveränisten‹ unterliegt, hinterfragen: Dass es ein einheitliches souveränes Volk geben würde, das in der Lage wäre, sich selbst auf einem klar umrissenen Gebiet, durch ein einheitliches Set von Institutionen, in der Form eines kollektiven Staatssubjekts zu regieren. In diesem Gedankengang werden jedoch Volkssouveränität und staatliche Souveränität miteinander vermischt. Letztere hat mit
Bezüglich dieser Debatte siehe auch die Beiträge in Niesen und Herborth (2007). Siehe ebenso Habermas (2004) und Scheuerman (2008).
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Kommandobrücken
der ›Willkür‹ 94 zu tun – mit der Handlungsfreiheit, die durch das klassische Völkerrecht garantiert wird –, die notwendig ist, um äußere Handlungen zu vollziehen. Die staatliche Souveränität stellt die Fähigkeit des Staates dar, sein Gebiet und seine Agenda zu kontrollieren. Ein Staat ist im positiven – und nicht bloß negativen und formalen – Sinne nur dann souverän, wenn er die Ressourcen kontrolliert, die für eine Selbstbestimmung und Erreichung seiner Ziele erforderlich ist (Jackson 1990). Diese Konzeption unterscheidet sich klar von einer Autonomie unter den ›Gesetzen der Freiheit‹, die die Bürger als Mitglieder einer sich selbst regierenden Körperschaft genießen (Habermas 2011a). Diese bestehen in den die Würde der Bürger schützenden Rechten, keinem Gesetz gehorchen zu müssen, außer dem, das sie selbst gemacht haben (Kant 1785/1993). Diese Art von Autonomie ist zwingend erforderlich, damit die Bürger sich selbst, entweder direkt oder durch ihre Repräsentanten, als Gesetzgeber verstehen können. Staatliche Souveränität und Volkssouveränität miteinander in einem Begriff eines einheitlichen Volks zu verschmelzen, das in der Lage ist, kollektiv zu handeln (einem kollektiven Staatssubjekts), lässt somit ineinanderfallen, was begrifflich und normativ auseinandergehalten werden sollte. Beide Konzepte beziehen sich auf verschiedene Entitäten – auf die Bürger und den Staat – und auf verschiedene Funktionen – die Herausbildung des Willens des Volkes und kollektives Handeln. Allerdings besteht eine empirische Verbindung zwischen diesen beiden Arten der Souveränität, da die staatliche Souveränität Kompetenzen und Fähigkeiten umfasst, die für den Schutz der Freiheit und Sicherheit der Bürger sowie für die Erreichung politischer Ziele erforderlich sind. Da es sich jedoch um eine empirische Verbindung handelt, beinhaltet dies nicht, dass eine Einschränkung staatlicher Souveränität notwendigerweise auch eine Einschränkung der Volkssouveränität bedeutet. Das Abtreten oder Zusammenlegen staatlicher Souveränität mag erforderlich sein, um eine supranationale Kooperation sowie ein Lösen von Problemen zu erleichtern – um die Systemeffektivität zu erhöhen (Dahl 1994; Dahl und Tufte 1973). Insofern dieser Prozess die demokratischen Verfahren intakt lässt, impliziert er keine Entrechtung und Entmündigung (Habermas Hier im Sinne der Fähigkeit des Willens zu küren, d. h. zwischen verschiedenen Handlungsmöglichkeiten auswählen zu können, gemeint und nicht in dem heutige geläufigen pejorativen Sinne.
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Eine kosmopolitane europäische Zukunft
2011a: 48–50). Ganz im Gegenteil: Unter Bedingungen intensiver staatlicher Interdependenz und Globalisierung wird ein größeres System im Allgemeinen sogar demokratischer als ein kleines sein, da es seine Bürger stärker in die Lage versetzt, mit Eventualitäten und Kontingenzen umzugehen. Demokratie beinhaltet heute, dass politische Handlungsfähigkeiten jenseits der nationalen Grenzen ausgedehnt werden müssen, wenn dies erforderlich ist, um eine Kontrolle der politischen Agenda und eine Verbesserung der Systemeffektivität zu erlangen. Die Globalisierung, eine vermehrte internationale Kooperation und europäische Integration haben die Grundbedingungen demokratischer Selbstherrschaft verändert. Nicht nur existiert aufgrund der besonderen Kooperationsverhältnisse ein Kontext der Gerechtigkeit und Demokratie jenseits des Nationalstaates in Europa, zudem gibt es auch Institutionen und Strukturen, die Kommandobrücken darstellen, die von der Bürgerschaft gekapert werden müssen. Auf der europäischen Ebene existieren autoritative Institutionen, ausgestattet mit dem organisierten Vermögen, bindende Entscheidungen zu treffen und Ressourcen zuzuteilen. Deswegen existiert, um den europäischen Demokratisierungsprozess verstehen und bewerten zu können, die Notwendigkeit, Standards zu etablieren, die nicht den Nationalstaat oder andere auf Gruppen basierende Formen mysteriöser Kollektividentitäten oder umfassender Weltanschauungen voraussetzen. Der normative Rahmen des reflexiven Ansatzes bezüglich der Integration hält an den beiden bereits erwähnten Kriterien der Autonomie und Rechenschaftspflicht fest, die beide als freistehende Bewertungsmaßstäbe zu verstehen sind. 95 Um diese Kriterien zu erfüllen, müssen einige minimale institutionelle Voraussetzungen bestehen; insbesondere (a) das Rechtsstaatsprinzip, das den gleichen Schutz aller Individuen verbürgt; (b) politische Partizipationsrechte, eingeschlossen repräsentative Verfahren der Entscheidungsfindung (Wahlen); (c) durch Kommunikationsrechte und Vereinigungsfreiheit konstituierte staatsfreie Räume in der Zivilgesellschaft.
Partizipation ist nicht viel wert, solange sie nicht in Einfluss mündet. Aus diesem Grund weist die Autonomie zwei Dimensionen auf: eine, die sich auf die Autorisierung durch das Volk bezieht, auf Wahlen und Gesetzgebungsverfahren, und eine, die sich auf die organisierte Fähigkeit zu handeln bezieht, d. h. auf die politisch-administrative Fähigkeit, kollektive Ziele zu verwirklichen und Ressourcen zuzuweisen.
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Die Fusion konstitutioneller Ordnungen
Kann die Mehrebenen-Konstellation der EU diesen Anforderungen nahekommen? In Bezug auf die Befriedung von Konflikten zwischen Staaten und hinsichtlich einer Stabilisierung der postnationalen Demokratie mittels funktionaler Äquivalente einer staatlichen Herrschaft weist die EU eine Reihe von Innovationen auf. Diese Neuerungen sind hilfreich, wenn es darum geht, das Problem anzugehen, wie die weiter oben erwähnten Prinzipien auf eine Union Anwendung finden sollen, der es an einer Zentralgewalt – einem vollständig organisierten Handlungsvermögen – fehlt, um die Bürgerschaft zu schützen und Rechte effektiv werden zu lassen. Ich beginne mit einigen konstitutionellen Eigenarten.
Die Fusion konstitutioneller Ordnungen Einer weit verbreiteten Ansicht zufolge gibt es tatsächlich keine konstitutionelle Einheit in der EU, und zwar in dem Sinne nicht, dass es keine Bereitschaft gibt, den EuGH als alleinige gerichtliche Leitinstanz beider Rechtsordnungen in Betracht zu ziehen. Vielmehr herrscht ein Verfassungspluralismus vor: »Die maßgeblichen Organe der EU bleiben in ihren Ansprüchen auf eine eigenständige Autorität unversöhnlich. Jedoch fahren die relevanten Verfassungsorgane der 27 Mitgliedsländer ebenso damit fort, plausible und robuste Ansprüche auf ihre eigene ursprüngliche und letztgültige verfassungsmäßige Autorität in allen Belangen ihres nationalen Geltungsbereichs zu erheben, und dies schließt auch das gemeinschaftlich entworfene supranationale Gebäude mit ein.« (Walker 2010: 5) 96
Allerdings wurde durch die EU eine eigenständige Verfassungstradition geschaffen, die John Erik Fossum und Augustín José Menéndez (2011a; 2011b) zufolge den ersten Fall darstellt, in dem aus einer Reihe schon bestehender staatlicher Verfassungen eine neue konstitutionelle Ordnung geschaffen wurde. Anfänglich wurde die EU durch eine genau umschriebene und historisch spezifische konstitutionelle Autorisierung geschaffen. Und zwar in dem Sinne, dass die Verfassungen der Mitgliedsstaaten eine supranationale Integration autorisiert haben. Dieser Prozess entstand mit dem ›synthetischen konstitutionellen Moment‹, das allerdings keine Antwort auf Forderungen
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Für eine Diskussion in jüngerer Zeit siehe Avbelj und Komárek (2012).
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Eine kosmopolitane europäische Zukunft
der Bevölkerungen darstellte, sondern das regulatorische Ideal sowie – was in den Europäischen Verträgen zum Ausdruck kommt – einige praktische Grundlagen eines gemeinsamen Verfassungsrechts erzeugte. Dieses System ist mit einer vorbehaltlichen Lizenz der Mitgliedsstaaten versehen worden, welche beinhaltet, dass die Struktur und weitere Integration der EU die Menschenrechte und demokratische Normen einhalten muss. Der demokratische Charakter des Konstitutionalismus der EU hängt an diesem grundlegenden Erfordernis. Nämlich auf der einen Seite sicherzustellen, dass das System der EU kompatibel mit den wesentlichen Normen und Prinzipien ist, die den Verfassungen der Mitgliedsländer gemeinsam sind. Auf der anderen Seite jedoch supranationale Institutionen aufzubauen, die es den Bürgern erlauben, sich selbst als Autoren der Gesetze zu begreifen, denen sie unterliegen. Eine direkte Autorisierung durch die Bevölkerungen ist nicht abgeschafft worden, sondern wurde vielmehr, um Frieden zu bewahren und mit Beherrschung umgehen zu können, suspendiert. Schon dieser Umstand allein hat an sich Legitimationskraft. Mit den Worten von Weiler: »Die Akteure der Mitgliedsländer, die mit der Wahrung und Auslegung ihrer Verfassungen betraut sind, halten die europäische Verfassungsdisziplin nicht deswegen ein, da sie diese als Teil der Rechtsdogmatik ansehen (…) Vielmehr erachten sie ihre Akzeptanz der Verfassungsdisziplin als einen autonomen, freiwilligen Akt, der bei jeder Gelegenheit der Unterordnung endlos erneuert wird und nur in den separaten Bereichen, die durch Europa regiert werden, gilt. Europa ist dabei in diesem Verständnis vor allem der aggregierte Ausdruck anderer Willen, anderer politischer Identitäten, anderer politischer Gemeinschaften.« (Weiler 2001b: 68)
Je weiter allerdings der Konstitutionalisierungsprozess voranschreitet, desto größer wird auch die Notwendigkeit einer direkten Autorisierung und Bestätigung durch die Bevölkerungen. Mit dieser Diagnose stimmt auch das Bundesverfassungsgericht überein, wenn es in dem bereits erwähnten Beschluss zu dem Vertrag von Lissabon festhält: »Das Grundgesetz ermächtigt den Gesetzgeber zwar zu einer weitreichenden Übertragung von Hoheitsrechten auf die Europäische Union. Die Ermächtigung steht aber unter der Bedingung, dass dabei die souveräne Verfassungsstaatlichkeit auf der Grundlage eines Integrationsprogramms nach dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung und unter Achtung der verfassungsrechtlichen Identität als Mitgliedstaaten gewahrt bleibt und zu-
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Wird die Demokratie kompromittiert?
gleich die Mitgliedstaaten ihre Fähigkeit zu selbstverantwortlicher politischer und sozialer Gestaltung der Lebensverhältnisse nicht verlieren.« (Absatz 226)
Auch wenn es keine formale Verfassung der EU gibt und die EU-Verträge nicht demokratischen Standards entsprechen, begründet das EU-Recht, welches den demokratischen Verfassungen der Mitgliedsländer entspringt und in ihnen eingebettet ist, eine Präsumtion der Akzeptierbarkeit. Die Einhaltung und Beachtung dieser Rechtsstruktur stellt nicht nur sicher, dass die Struktur der EU als verfassungsrechtlich autorisiert verstanden wird, sondern ebenfalls, dass sie ein Element der Autorisierung durch die Bevölkerungen aufweist. Nun kann eine Einhaltung des EU-Rechts auch erwartet werden: erstens, aufgrund der anfänglich freiwilligen Autorisierung der europäischen Integration bei der Gründung der Montanunion sowie den folgenden Aufnahmeanträgen einzelner Staaten, die oftmals durch Volksentscheide unterstützt wurden, und zweitens, da die Repräsentanten der Bürger in den Entscheidungsfindungsverfahren, in denen das EURecht gemacht wird, involviert sind.
Wird die Demokratie kompromittiert? In Einklang mit dieser Perspektive argumentiert Habermas (2011a) 97, dass die grundlegende ›konstitutionelle‹ Ordnung der EU für zwei große Innovationen im Prozess der Pazifizierung des Naturzustandes zwischen den Staaten stehen würde: Erstens werde die Vorrangstellung des EU-Rechts in den Gebieten zugestanden, in denen sie die Kompetenzen hat. Die bindende Wirkung des EU-Rechts sei jedoch weder in einem Gewaltmonopol auf der europäischen Ebene gegründet noch in der abschließenden Entscheidungshoheit der EU. Die EU verfüge nicht über die Befugnis, ihre eigenen Kompetenzen zu erweitern und sie besitze keine Zwangsmittel. Sie kann jedoch nichtsdestotrotz aus den am Ende des vorigen Abschnitts genannten Gründen auf eine Befolgung der von ihr erlassenen Gesetze und Richtlinien zählen. Die zweite Innovation hänge damit zusammen, dass die verfassungsgebende Gewalt von den Bürgern und den Staaten (den europäischen Völkern) gemeinsam geteilt wird. Die Demokratie in der Habermas bezieht sich dabei auf die Arbeiten von Bogdandy 2006, Bogdandy und Bast 2006 sowie Franzius 2010.
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Eine kosmopolitane europäische Zukunft
Union beruht also auf zwei Säulen. 98 Die EU sei somit als eine Union der Staaten und der Bürger zu verstehen – versinnbildlicht werde dies durch die Rolle des Europarats, der aus den Repräsentanten der Mitgliedsstaaten und dem direkt gewählten Europäischen Parlament zusammengesetzt ist, respektive die Staaten und die Bürger repräsentiert. Die Verträge sprächen von den Völkern der Mitgliedsländer und von den Bürgern der Union. 99 Es ist eben diese Konstruktion, auf die sich Habermas stützt, wenn er nicht einen europäischen Bundesstaat vorhersieht, der auf Hierarchie und der Einheit des Rechts aufbaut, die direkt von einem bevollmächtigten Parlament und von Grundrechten ausgehen. Vielmehr verfolgt Habermas das Modell einer Föderation von Nationalstaaten, die in der gemeinsam geteilten Souveränität zwischen den »verfassungsgebenden Subjekten der Bürger und der Staatsvölker« begründet ist (Habermas 2011b: 83). Der Nationalstaat wird dabei als der wesentliche Kontext von Solidarität und demokratischer Legitimation betrachtet. Jedoch passt der Ausdruck ›eine Föderation von Nationalstaaten‹ nicht gut zu der Idee von Demokratie im Sinne einer sich selbstregierenden Bürgerschaft, wie er auch nicht gut zu Habermas’ eigener Forderung passt, das ›Volk‹ oder die ›Nation‹ nicht zu substantialisieren (Habermas 2011a: 77 f.). 100 Die Volkssouveränität tritt immer nur im Plural auf – sie fordert den Zugang von Personen, nicht Gruppen oder Staaten, zu den Verfahren der Mitgesetzgebung. Aus dem Blickwinkel demokratischer Selbstregierung kann die Souveränität der Bürger nicht auf- oder mit anderen geteilt werden. Ein Kollektivsubjekt wie ›ein Volk‹ oder ein Staat kann der Volkssouveränität nicht gleichwertig oder ebenbürtig sein, da dies den Unterschied zwischen Volks- und staatlicher Souveränität verwischen würde. In diesem Fall würde das Demokratieprinzip keinen unveräußerlichen deontologischen Status haben. Wie kann man die Autonomie der Bürger sicherstellen, wenn auch die Autonomie eines kollektiven (Groß-)Subjekts – des Staats – abgesichert werden muss? Diese Konstruktion einer Föderation von Nationalstaaten entwertet das DemoVgl. die Artikel 9 bis 12 und 19 (2) des Vertrags über die Europäische Union und vergleiche mit Peters 2001. Siehe zudem auch Bogdandy et al. 2012: 497. 99 Hinsichtlich der Formulierung ›Föderation der Nationalstaaten‹ und ›die Völker Europas‹ in der Grundrechtscharta der EU siehe auch Meyer 2003: 24 ff. 100 Supra-individuelle Entitäten, wie es etwa ein Volk, eine Mehrheit oder ein Staat sind, stellen selbstbeglaubigende Quellen berechtigter Ansprüche dar (Michelman 1997: 152). Das Volk ist als eine körperlose Kategorie zu verstehen (Lefort 1988). 98
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Wird die Demokratie kompromittiert?
kratieprinzip der Selbstregierung der Bürger. Es würde kein Kriterium geben, was angeben könnte, wie man dem Autonomieprinzip – Bürger sollten nur denjenigen Gesetzen Folge leisten, deren Autoren sie auch gewesen sind – näherkommen kann, wenn dieses Prinzip gegen das Staatsprinzip aufgerechnet und abgewogen wird. Deshalb kann es zwar eine Zusammenlegung staatlicher Souveränität geben, aber man kann nicht mehreren Instanzen politisch unterworfen sein. Die internationalen Beziehungen zu domestizieren sollte nicht auf Kosten des Demokratieprinzips gehen. Zudem sind auch empirische Gründe hier anzuführen; selbst wenn die Mitgliedsstaaten de facto ›die Herren der Verträge‹ sind, hat mit der Zeit der Kampf für ›ein Europa der Bürger‹ dem entgegengesteuert (besonders eindrücklich kommt dies in der Charta der Grundrechte und dem Entwurf des Verfassungsvertrages zum Ausdruck). Die zwei verfassungsgebenden Subjekte haben nicht nur miteinander kooperiert, sondern standen bei dem Aufbau der EU auch im Wettstreit zueinander. Anfänglich mögen die Europäischen Gemeinschaften nicht viel Macht oder viele Kompetenzen besessen haben, mit dem Ziel der Förderung von Integration und engerer Zusammenarbeit und dem einhergehenden Erwerb angeforderter Mittel haben sie jedoch die anfänglichen Vertragsparteien in engagierte Mitglieder verwandelt. In den letzten Jahrzehnten hat sich das europäische Gemeinwesen deutlich verändert – von einer weitgehend wirtschaftlichen Organisation, deren Legitimität von den Mitgliedsländern abgeleitet wurden, zu einer Entität, die heute behauptet, eine unabhängige Quelle demokratischer Legitimität zu repräsentieren. Es hat ein Kampf der ›Bürger Europas‹ stattgefunden, der die Form eines Kampfes für ein mit mehr Macht ausgestattetes Europäisches Parlament und einer auf Grundrechten basierenden Verfassung angenommen hat. Vor diesem Hintergrund könnte man Habermas Modell nun in Frage stellen. Die Idee zweier verfassungsgebender Subjekte lässt die EU im Hinblick auf grundlegende Prinzipien letzten Endes konstitutionell wackelig werden. Damit eine Ordnung Stabilität und Legitimität erlangen kann, ist eine Übereinkunft bezüglich der Grundstruktur wie auch der korrespondierenden Struktur des Gemeinwesens erforderlich. Im Hinblick auf die relevanten Charakteristika der zu regulierenden politischen Gemeinschaft wie auch im Hinblick auf die zu verwirklichenden Zwecke und Interessen, benötigen Herrschaftssysteme der Rechtfertigung. In welcher Eigen129 https://doi.org/10.5771/9783495860526 .
Eine kosmopolitane europäische Zukunft
schaft sind die Europäer gleich? Wenn die EU die Individuen dazu auffordert, sich selbst als Europäer und nicht mehr nur als Bürger von Nationalstaaten zu verstehen –, was könnte dann als ein Auslöser gleicher Beachtung und gleichen Respekts angesehen werden? Die Frage ist, welches die konstitutiven Normen – das europäische Gemeinwohl – sind, die die charakteristischen Beziehungen der europäischen Bürger zum Ausdruck bringen und die die Basis für eine Solidarität zwischen Europäern sein könnten. Worin besteht die politische universitas der EU und wo hat sie ihren Ort (vgl. Jackson 2000: 346)? Die Schwachstelle von Habermas Rekonstruktion einer legitimen EU liegt darin, dass in seinem Ansatz das erforderliche einheitsstiftende Element der europäischen politischen Ordnung fehlt. Da sein Vorschlag zudem die Nationalstaaten im Grunde unverändert lässt, fällt er der Gefahr anheim, den status quo – ein inkohärentes politisches und rechtliches System – zu rechtfertigen. Obwohl ich Habermas Idee eines Europas als Föderation von Nationalstaaten, die auf einer zwischen den Individuen und ›den Völkern‹ geteilten Souveränität beruhen, zurückweise, möchte ich damit nicht auch die seinem Ansatz zugrundeliegenden Bedenken verwerfen, die er bezüglich von nationalen Identitäten und Solidarität wie auch im Hinblick auf die Realisierbarkeit einer Föderalisierung hegt. Nun sind es insbesondere nationale Sensibilitäten, um deren Ausgleich sich Föderationen bemühen. Ihre Struktur besteht ja gerade aus Regelungen des Minderheiten- und Nationalitätenschutzes, der durch eine Spezifizierung der Befugnisse der Wählerschaften, eine dezentralisierte Selbstherrschaft, Stimmengewichtung etc. gewährleistet werden soll. Auch gibt es durch ein Zweikammersystem, eine erforderliche Zweidrittelmehrheit, Gewaltenteilung und Normenkontrolle Beschränkungen einer Mehrheitsherrschaft. Der Föderalismus stellt ein demokratisches Regierungssystem dar, in dem die Souveränität zwischen einem zentralen Regierungsorgan und den konstituierenden politischen Einheiten (wie etwa Staaten oder Provinzen) verfassungsrechtlich aufgeteilt ist. Bezogen auf bestimmte Themen eröffnet er Wählerschaften, die die unteren Einheiten einer Föderation bilden, die Möglichkeit, eine letztgültige Entscheidung zu treffen. Innerhalb einer einheitlichen Ordnung, die auf einer Quelle der Legitimation basiert, wird die Regierungsgewalt zwischen den Regierungen auf der nationalen und der Ebene der Provinzen/Bundesländer ver- und geteilt. Der Föderalismus ist ein politisches Herrschaftssystem, in dem eine Gruppe von Mitgliedern durch einen Pakt 130 https://doi.org/10.5771/9783495860526 .
Wird die Demokratie kompromittiert?
integriert wird und die Bürger durch ein Regierungshaupt repräsentiert werden. Die individualistische Grundlage der Föderationen, die die moderne Verfassungsgrundnorm des Schutzes der Menschenwürde widerspiegelt, kehrt also gerade nicht Differenzen und besondere Identitäten unter den Teppich. Vielmehr reflektiert sie eine Teilung der moralischen Arbeit, d. h. dass Verfassungen mittels eines höherrangigen Rechts Menschenrechte schützen, wie sie auch regionale und ›nationale‹ Wählerschaften mit dem Recht auf Selbstbestimmung versehen. Das positiv-rechtlich geschützte Recht auf Selbstherrschaft innerhalb einer übergreifenden Föderalstruktur ist entscheidend, wenn es darum geht, die Kriterien von Autonomie und Rechenschaftspflicht zu erfüllen. Es spiegelt die Einsicht wider, dass Grenzen dadurch moralische Bedeutung erlangen, dass sie einer Selbstregierung Beschränkungen auferlegen (Macedo 2004). Der Föderalismus wirft als seinen Schatten nicht einen Super- oder Megastaat voraus, als vielmehr eine rechtliche und politische Struktur, die, um den Schutz der Integrität aller Parteien zu gewährleisten, begrenzt ist, während sie zugleich so ausgestattet ist, dass kollektive Ziele erreicht werden können (Cohen 2012: 88). Durch den Beitritt zu den Europäischen Gemeinschaften sind die europäischen Nationalstaaten tiefgehend geprägt worden, und, wie wir bereits gesehen haben, hat der Integrationsprozess ihren Entscheidungsspielraum eingeschränkt und kollektive Identitäten europäisiert. Zudem ist die EU ein eigenständiges politisches Gemeinwesen, das zur Steuerung des globalen Geschehens beiträgt. Sie besitzt übergeordnete politische Entscheidungskompetenzen, jedoch weder eine kollektive Identität noch die Zwangsinstrumente eines Staates. Gegenwärtig erleben wir eine Föderation ohne einen Staat, was die Frage aufwirft, wie eine solche Föderation zusammenhalten und effektiv sein kann, ohne die Kompetenz zu haben, sich über den Nationalstaat hinwegzusetzen, nationale Mentalitäten einzuschränken wie auch zu erweitern? Und wie kann sie ohne ein Wir-Gefühl und ohne einen Sinn für finalité legitim sein, die doch die benötigte Grundlage für kollektive europäische Entscheidungen liefern könnten? Mit anderen Worten, was könnte in einem nichtstaatlichen Gemeinwesen das funktionale Äquivalent zu einer auf dem Staat basierenden Demokratie sein? Zusätzlich zu den erwähnten Innovationen der Fusion verschiedener Verfassungstraditionen und der Zusammenlegung und gemeinsamer Ausübung von Souveränität, schlage ich als funktionale Äquivalente eine Regierung ohne Staat, eine parlamentarische Ver131 https://doi.org/10.5771/9783495860526 .
Eine kosmopolitane europäische Zukunft
flechtung sowie einen mehrstufigen öffentlichen Raum vor. Zusammen mit der Bedeutung des Schutzes der Menschenrechte konstituieren sie Elemente des regionalen kosmopolitanen Modells.
Regierung ohne Staat Während ein zentrales, mit besseren Ressourcen ausgestattetes Organ offensichtlich fehlt, besitzt die EU doch ein fest etabliertes Rechtssystem, und es existieren Herrschaftsverhältnisse, die auf Zustimmung beruhen. Somit hat sie durchaus die Rechtskompetenz, in bestimmten Bereichen staatliche Aufgaben auszuüben. Diese übt die EU dabei ohne die Androhung von Gewalt aus, allerdings werden Mechanismen einer horizontalen Durchsetzung angewendet, die in ihrer Effektivität von der Existenz von zwangsbewehrten Durchsetzungsmöglichkeiten abhängen, die von der nationalstaatlichen Ebene ihre Schatten werfen. Bei der Implementierung von Politik und Recht der Union wird einzig darauf gebaut, dass die Mitgliedsstaaten von ihren Durchsetzungsstrukturen Gebrauch machen. In der EU handelt es sich mehr um ›niedrigere‹, denn ›hohe Politik‹, mehr um gemeinsam abgestimmtes Handeln, denn Auferlegung. Wie aber kann eine solche Ordnung überhaupt zusammenhängen? Robert M. MacIver (1928: 277) zufolge sollten wir »zwischen der Regierung und dem Staat unterscheiden, und das Verfassungsrecht nicht als den Staat, sondern als die Regierung bindend betrachten. Sie bindet den Gesetzgeber bei der Gesetzgebung selbst.« Die Kategorie der Regierung nimmt hier Bezug auf die politische Organisation einer Gesellschaft sowie auf die Tatsache, dass ein Staat nicht bloß, worauf Max Webers berühmte Definition anspielt, eine Hobbesianische Zwangsordnung ist. Eine Regierung ist auch ein Ausdruck des gemeinsamen Willens und der öffentlichen Meinung. 101 Somit bezieht sich diese Kategorie auf ein innerhalb eines Herrschaftssystems autorisiertes Organ, das die Befugnis und Macht hat, Regeln, Gesetze und Verordnungen zu erlassen und durchzusetzen. Sie verweist auf die politische Organisation einer Gemeinschaft und deren 101 Vgl. Hegel 1821/1967; Arendt 1969. Ein ordnungsgemäß konstituierter Staat geht entsprechend über ein »bloßes Monopol legitimer Gewalt« hinaus; er beruht auf einer »wechselseitigen Anerkennung von Gleichheit« (Wendt 2003: 513). Vgl. Streit 1940: 8 ff.
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Regierung ohne Staat
Legitimationsgrundlage – eine nichtstaatliche Konzeption einer rechtlich verfassten Gemeinschaft. Die charakteristische Eigenschaft einer Regierungsgewalt besteht nicht in der Fähigkeit, Zwang auszuüben, sondern vielmehr in dem Vermögen, gemeinsam zu handeln und innerhalb eines rechtlichen Rahmens anerkannt zu werden. Wie wir wissen, fehlen der EU die zentralen Definitionsmerkmale eines Staates, nämlich die Instrumente, zum Erreichen kollektiver Ziele Ressourcen mobilisieren zu können. So verfügt sie nur über schwache Durchsetzungsmechanismen und ist bei der Implementierung ihrer Politik hauptsächlich auf die Verwaltungen der Mitgliedsstaaten angewiesen. Dabei ist sie in den klassischen Staatsaufgaben, der internen und externen Kontrolle, besonders schwach. Sie verfügt weder über einen Polizeiapparat noch über eine eigene Armee, auch gibt es keine europäischen Gefängnisse. Am schwächsten sind die für die territoriale Kontrolle zuständigen Institutionen der EU in den zentralen Staatsaufgaben: Militär, Sicherheit, Steuerwesen und Polizei. 102 Wenn nun die EU einer nichtstaatlichen Föderation ähnelt, dann nur unter dem wichtigen Vorbehalt, dass ihr ›Föderalismus‹ um andere Probleme und Methoden der territorialen Kontrolle herum organisiert ist, als es bei jeder staatlichen Föderation der Fall wäre. Dieser Umstand sollte für jene beruhigend sein, die die Herausbildung eines europäischen Superstaats befürchten, da er auf der supranationalen Ebene die Hebelkraft sowohl des europäischen Gesetzgebers als auch des Gerichts verringert. Wie aber kann die EU demokratisch sein, ohne ein Staat zu sein, der auf einer kollektiven Identität beruht? Wenn eine Regierung eine gemeinsame präpolitische Identität voraussetzt, eine Identität, die in einem klar definierten demos eingebettet ist, dann erfüllt die EU nicht die Kriterien eines Regierungssystems. Wir sollten jedoch nicht nur die Kategorie der Regierung von den mit Bestrafung verbundenen Konnotationen des Staates ablösen, wir sollten sie auch von der Nation befreien. Die Kategorie der Regierung beschreibt einen Umstand geordneter Herrschaft. Eine Regierung übt die Funktionen der Gesetzgebung, der Interpretation und Anwendung von Recht, der Umsetzung und Implementierung kollektiver Beschlüsse aus. Dieser Typus einer historisch spezifischen 102 Die EU stellt in erster Linie immer noch eine Macht zivilen Typs dar, da eigene militärische Fähigkeiten kaum existieren, obwohl die einzelnen Mitgliedsstaaten durchaus sehr bedeutende militärische Fähigkeiten haben.
133 https://doi.org/10.5771/9783495860526 .
Eine kosmopolitane europäische Zukunft
Ordnung, der die Rationalität, Fähigkeit zur Disziplinierung sowie Bevölkerungskontrolle moderner Herrschaftssysteme umfasst, ist wichtig, um so etwas wie Staatlichkeit erklären zu können. Allerdings ist die Krux der Regierung nicht der Staat in seinem kollektivistischen, nationalistischen und hierarchischen Verständnis, sondern die konstitutionelle Demokratie. Verfassungen sollten von der Staatsform abgekoppelt werden und stattdessen in einen Zusammenhang mit dem Projekt der Moderne gestellt werden, dessen normatives telos darin besteht, dass die Adressaten von Gesetzen auch ihre Autoren sind (Frankenberg 1996; Brunkhorst 2002). Solch eine Konzeption der Regierung findet ihre Inspiration in der Idee der Aufklärung, einer Selbstregierung von freien und gleichen Bürgern und betrachtet die Demokratie als »eine revolutionäre Regierungsform. Denn ihr Ziel besteht darin, einen Ort für den beständigen Wandel innerhalb der Regierung zu finden. Ihr Recht existiert, um Freiheit zu befördern, ihre Gewalt existiert, um Recht zu schützen« (Lindsay 1947: 266). Eine demokratische Regierung nimmt also nicht auf eine Schicksalsgemeinschaft Bezug, die sich selbst autonom regiert, sondern auf eine horizontale Assoziation freier und gleicher Bürger, die sich selbst durch Recht und Politik regieren – vereint in der wechselseitigen Anerkennung fairer Gesetzgebungsstrukturen. Die institutionelle Struktur der EU weist klare Affinitäten zu einem solchen Verständnis demokratischer Regierung auf. Der EU fehlt ein wirklich hierarchisches Rechtssystem und sie steht gegen einen doktrinären Nationalismus. Der Supranationalismus der EU spiegelt keine Gruppenidentität wider. Formal ausgedrückt kann sie qua staatlicher Mittel keine Ausschlüsse vornehmen und kann niemanden auf Grundlage seiner Nationalität diskriminieren. Gleichzeitig sollte man hinzufügen, dass die meisten der EU-Mitgliedsländer darauf beharren, ihre nationalen Identitäten beizubehalten und die EU auch formal daran gebunden ist, diese zu achten (Artikel 4.2 Vertrag über die Europäische Union). Dieses Modell begreift die EU somit als eine Regierung, die auf einer Differenzierung von Staatsaufgaben basiert, bei der die klassischen Zwangselemente eine geringere Rolle einnehmen, hingegen die normativ-institutionellen Elemente in ihrer Bedeutung höher eingestuft werden. Von daher liefert es eine organisatorische Mustervorlage, die ein eingeschränktes Set von Maßnahmen besitzt, um eine Implementierung und Befolgung sicherzustellen. Eine entsprechend der Grundsätze dieses Modells aufgebaute Organisation kann in 134 https://doi.org/10.5771/9783495860526 .
Parlamentarische Verflechtung
einem höheren Maß einer territorial-funktionalen Differenzierung Rechnung tragen, denn eine staatsartige Entität. Sie setzt nicht die Art von ›Homogenität‹ oder starker kollektiver Identität voraus, von der oft angenommen wird, sie sei für eine umfassende Allokation von Ressourcen, Umverteilung und Erreichung von Zielen erforderlich. Eine solche Organisation beruht auf einer Arbeitsteilung zwischen den Ebenen, einem Aufteilen der Souveränität, und dies entlastet die zentrale Ebene von bestimmten anspruchsvollen Entscheidungen. Die EU befindet sich weitgehend im Einklang hiermit: Sie besitzt gut entwickelte legislative, judikative und exekutive Funktionen und hat Kompetenzen und Fähigkeiten erlangt, die denjenigen einer autoritativen Regierung ähneln. Ihre institutionelle Struktur ist zwar komplex, jedoch »erlässt sie dennoch Gesetze, übt eine Verwaltung aus und spricht Recht. Die Legitimität dieser Prozesse muss zudem nach den gleichen Maßstäben beurteilt werden, die man auf jedwede Regierung anwenden würde« (Chalmers et al. 2006: 87). Aber wie können die Bürger, die nur schwache europäische Rechte besitzen, lernen zu unterscheiden, ob sie nun zu einer nationalen oder zu einer europäischen Gemeinschaft gehören? In Europa, wo allein Parlamente die Kompetenz haben, für die Bevölkerungen zu sprechen, tritt folglich der parlamentarische Komplex in den Mittelpunkt.
Parlamentarische Verflechtung Um es nochmals in Erinnerung zu rufen: Der Vertrag von Lissabon hält fest, dass »[d]ie Arbeitsweise der Union (…) auf der repräsentativen Demokratie [beruht]«, sowie dass »die Bürgerinnen und Bürger (…) auf Unionsebene unmittelbar im Europäischen Parlament vertreten [sind]« (Artikel 10.1–2, Vertrag über die Europäische Union). 103 Auf den ersten Blick mag das Europäische Parlament schwach erscheinen, es ist allerdings in eine größere Konstellation demokratischer Herrschaft in Europas Mehrebenen-System einge103 Der Vertrag von Lissabon hält ferner fest: »Alle Bürgerinnen und Bürger haben das Recht, am demokratischen Leben der Union teilzunehmen. Die Entscheidungen werden so offen und bürgernah wie möglich getroffen« (Artikel 10.3, Vertrag über die Europäische Union). Und weiterhin: »Politische Parteien auf europäischer Ebene tragen zur Herausbildung eines europäischen politischen Bewusstseins und zum Ausdruck des Willens der Bürgerinnen und Bürger der Union bei« (Artikel 10.4, Vertrag über die Europäische Union).
135 https://doi.org/10.5771/9783495860526 .
Eine kosmopolitane europäische Zukunft
bettet, in der die europäische und die nationale Ebene miteinander verflochten sind. Wenn man die Rolle der nationalen Parlamente wie auch die ihnen zur Verfügung stehenden Instrumente der interparlamentarischen Kooperation berücksichtigt – COSAC, 104 das Netzwerk der Ständigen Vertretungen in Brüssel, den Informationsaustausch durch IPEX und EZPWD 105 –, dann gewinnt man ein anderes, stärkeres Bild des repräsentativen Systems der EU. Bereits 1990 wies der Europarat den nationalen Parlamenten eine aktivere Rolle zu, und die Erklärung 13 des Vertrags von Maastricht mahnte einen verstärkten Kontakt zwischen dem Europäischen Parlament und den nationalen Parlamenten an. Im Vertrag von Amsterdam dann erhielt die interparlamentarische Koordination eine vertragliche Grundlage. Alle nationalen Parlamente haben besondere Ausschüsse für Europäische Angelegenheiten eingerichtet, und die Kooperation zwischen diesen und dem Europäischen Parlament bildet den Hintergrund der COSAC-Konferenzen, die seit 1989 zweimal im Jahr stattgefunden haben. Dieses Netzwerk der interparlamentarischen Zusammenarbeit wurde als eine intermediäre öffentliche Sphäre analysiert, die darauf ausgerichtet ist, das wechselseitige Verständnis in Europa zu steigern (Blichner 2000: 142 ff.). Aufgrund der in dem Vertrag über die Europäische Union festgehaltenen Frühwarnmechanismen sind die nationalen Parlamente in dem legislativen Prozess der EU als ›Wachhunde der Subsidiarität‹ vorgesehen: »Die nationalen Parlamente tragen aktiv zur guten Arbeitsweise der Union bei, indem sie (…) dafür sorgen, dass der Grundsatz der Subsidiarität (…) beachtet wird« (Artikel 12, Vertrag über die Europäische Union). Dieser Vertrag versetzt jedes nationale Parlament in die Lage, eine begründete Stellungnahme abzugeben, sollte ein Vorhaben das Subsidiaritätsprinzip verletzen. Eine solche Stellungnahme liefe auf die Forderung hinaus, dass die Maßnahmen der EU unberechtigt seien und die Angelegenheit auf der nationalen Ebene verbleiben sollte. Daher ist die Kommission nicht nur gegenüber dem Europäischen Parlament rechenschaftspflichtig, sondern ebenso auch gegenüber den nationalen Parlamenten. Diese haben bei der Gesetzgebung der 104 Konferenz der Ausschüsse für Gemeinschafts- und Europa-Angelegenheiten der Parlamente der Europäischen Union (COSAC). 105 Der Interparlamentarische EU-Informationsaustausch (IPEX) sowie das Europäische Zentrum für Parlamentarische Wissenschaft und Dokumentation (EZPWD) wurden für die Erfassung und den Austausch von Informationen etabliert.
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Parlamentarische Verflechtung
EU frühzeitig ein Mitspracherecht und können den Entscheidungsträgern auch vor den Verhandlungen der Mitgliedsländer im Rat signalisieren, was akzeptierbar wäre. Somit haben sie sozusagen den Status einer »virtuellen dritten Kammer« in der EU erlangt (Cooper 2012). Ausgehend von diesem komplexen institutionellen System für eine interparlamentarische Zusammenarbeit und anderen Formen des informellen Kontakts schlagen Crum und Fossum vor, von einem mehrstufigen parlamentarischen Feld in Europa zu sprechen. Dieses wäre so beschaffen, dass es möglich sei, »die demokratische Repräsentation als Ergebnis des Zusammenspiels einer Vielfalt von Prozessen aufzufassen« (2009: 31). »[D]ie mehrstufige Konfiguration, die die EU ausmacht, wurde auf zwei Kanälen demokratischer Repräsentation aufgebaut; der eine führte direkt durch das Europäische Parlament, der andere indirekt durch die nationalen Parlamente und Regierungen. Diese offenkundige Zwei-Kanal-Struktur der Repräsentation ist kein Übergangsphänomen; es ist wahrscheinlich, dass die beiden Kanäle nebeneinander fortbestehen, wie es mittlerweile tatsächlich auch in dem Vertrag über die EU anerkannt wird (Artikel 10, Vertrag über die Europäische Union). Während sowohl das Europäische wie auch die nationalen Parlamente beanspruchen können, ›das Volk‹ in den Entscheidungsprozessen der EU zu repräsentieren, läuft das sich daraus ergebende System nicht auf den Typ einer hierarchischen Herrschaftsstruktur hinaus, den man in Föderalsystemen findet.« (Crum und Fossum 2012: 98)
Indem die mehrstufige parlamentarische Verflechtung die nationalen Parlamente mit einem zusätzlichen Mitspracherecht darüber versorgt, ob Entscheidungen auf die europäische Ebene verlagert werden sollen, wird der Prozess der demokratischen Autorisierung von Entscheidungen mit einem zusätzlichen Schutz ausgestattet. Die Herkunft des Parlamentarismusprinzips und der repräsentativen Demokratie schlechthin in Europa reflektiert daher nicht bloß die Macht und Tätigkeit des Europäischen Parlaments, sondern ebenso die komplexe Weise, in der es mit den nationalen Parlamenten verbunden ist und von diesen unterstützt wird. Um die Rolle des Europäischen Parlaments, seine putative Macht (d. h. die Fähigkeit zu glaubwürdigen Drohungen) und demokratische Bedeutung erklären zu können, muss das interparlamentarische Zusammenwirken berücksichtigt werden. Unter diesem Gesichtspunkt scheint der oft getätigte Hinweis auf das Fehlen von Loyalität und repräsentativem Charakter unangebracht zu sein. Wenn man den mehrstufigen Charakter des 137 https://doi.org/10.5771/9783495860526 .
Eine kosmopolitane europäische Zukunft
europäischen Parlamentarismus berücksichtigt, dann ist die Vorstellung ›eines Parlaments ohne demos‹ unzutreffend. Auch im Hinblick auf das Parlament gibt es eine Verschmelzung verschiedener Ordnungen, da es gewissermaßen besondere Schauplätze gibt, in denen die Bürger Europas dazu aufgerufen werden, das europäische bonum commune und nicht einzig das nationale Gemeinwohl in den Blick zu nehmen. Die EU weist eine Reihe von Arrangements auf, die die Europäer in ihrer Kapazität als europäische Bürger und in ihrer Kapazität als Bürger der Mitgliedsstaaten adressieren. Diese Struktur bietet dabei einen Rechenschaftsmechanismus, der sensitiv gegenüber der Vielzahl demokratischer Wählerschaft ist.
Ein geschichteter öffentlicher Raum Die Entwicklung der postnationalen Demokratie in Europa hängt nicht nur von Institutionen, Repräsentation und Rechten ab, sondern ebenso auch von dem Entstehen eines übergreifenden kommunikativen Raums, der als öffentliche Sphäre fungiert. Die Prozeduralisierung der Volkssouveränität – die Ausdruck darin findet, dass die Annahme einer notwendigen Voraussetzung eines Kollektivsubjekts aufgegeben wird sowie darin, dieses Kollektivsubjekt eher in einen Zusammenhang mit der Beziehung zwischen der zivilgesellschaftlichen Sphäre und den gesetzgeberischen Organen zu stellen – eröffnet einen konzeptuellen Raum für transnationale kommunikative Räume, d. h. für das Entstehen zivilgesellschaftlicher Beziehungen jenseits des Nationalstaats (Eriksen 2005; 2009). Wir können zwischen drei Typen von Öffentlichkeit in Europas mehrstufiger Struktur unterscheiden: allgemeine, starke und transnationale Öffentlichkeiten. Übergreifende allgemeine Öffentlichkeiten sind kommunikative Räume der Zivilgesellschaft, in denen alle sprachlich kompetenten Personen auf einer freien und gleichen Grundlage teilnehmen können. Auch wenn es Räume für die Erzeugung kollektiver Bedeutung und Identität durch die pan-europäische Medien gibt und Englisch sich zu einer lingua franca entwickelt, sind gegenwärtig immer noch nicht die Kriterien eines allgemeinen öffentlichen Raums erfüllt. Es ist noch ein weiter Weg von der Sorte von Debatten und Verbreitung von Informationen, wie sie gegenwärtig in Europa stattfindet, bis zu dem Typ einer engagierten öffent138 https://doi.org/10.5771/9783495860526 .
Ein geschichteter öffentlicher Raum
lichen Deliberation, der für die Herausbildung einer kollektiven Meinung und eines kollektiven Willens erforderlich wäre. Eine solche Deliberation hätte eine allgemeine Debatte über identische Themen und Politikvorschläge, die in ganz Europa von gleicher Relevanz wären, zur Voraussetzung. Vor dem Hintergrund einer breiten Mobilisierung von öffentlicher Unterstützung, die durch intermediäre Organisationen und politische Parteien wirksam in den Regierungskomplex einströmt, würde eine solche Deliberation eine kollektive Entscheidungsfindung möglich machen. 106 Wie allerdings auch die Reaktionen auf die gegenwärtige Krise zeigen, bleibt die für eine vollständig demokratische Regierung erforderliche allgemeine europäische öffentliche Sphäre jedoch latent (Statham und Trenz 2012; Liebert et al. 2013). Während jedoch auf der europäischen Ebene weitgehend gemeinsame kommunikative Systeme der Massenmedien, die echte, der Formation eines Kollektivwillens dienliche öffentliche Debatten erleichtern würden, fehlen, gibt es dennoch eine Vielzahl von starken Öffentlichkeiten. Diese bestehen in rechtlich institutionalisierten und geregelten Diskursen zwischen speziell ernannten oder gewählten Personen, die autorisiert sind, kollektiv verbindliche Entscheidung zu treffen. Sie werden gebildet durch (a) institutionalisierte Räume der Deliberation, in denen (b) eine Deliberation den Entscheidungen vorangeht, und (c) Entscheidungsträger zur Rechenschaft gezogen werden. Da sie in erster Linie organisatorische Formen darstellen, die darauf ausgerichtet sind, Politikfelder zu integrieren und einen Konsens herzustellen, schwankt der demokratische Wert dieser starken Öffentlichkeiten allerdings. In der EU gibt es eine ganze Bandbreite von ihnen, und diese reichen dabei von den Kerneinheiten der Entscheidungsprozesse wie dem Rat, der Kommission und dem Europäischen Gerichtshof, über den Nexus mit angrenzenden Ausschüssen – Expertenausschüsse, dem Ausschuss der Ständigen Vertreter (AStV), dem Komitologie-System, der Konferenz der Europaausschüsse (COSAC) – bis hin zu dem Europäischen Parlament und den beiden Übereinkommen über Verfassungsangelegenheiten, wobei die beiden letztgenannten eine Beteiligung der Bevölkerung auf breiter 106 Dies erreicht nicht die Ebene der Massenkommunikation in einem gemeinsamen politischen Bereich, in dem die Bürger die gleichen Angelegenheiten, zur gleichen Zeit, unter den gleichen Kriterien der Relevanz, diskutieren (Habermas 1996). Vgl. B. Peters 2005.
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Eine kosmopolitane europäische Zukunft
Basis ermöglichen. Zusammengenommen stellen sie ein starkes System deliberativer Interaktion dar, in dem es auch durchaus zu einer Kontestation von Entscheidungen und Richtlinien kommt. Allerdings ist die EU eine hochkomplexe Institution mit vielen Zugangsmöglichkeiten und Orten der Deliberation, des Verhandelns und der Entscheidungsfindung. Öffentlichkeiten entspringen also auch den Politiknetzwerken der Union. Es entstehen also neue Kommunikationsformen und die Beteiligung der Bürger an der öffentlichen Debatte kann als eher spontan und frei gewählt, denn obligatorisch und natürlich betrachtet werden. Rund um Politiknetzwerke, die durch eine Ansammlung von Akteuren mit einem gemeinsamen Interesse an bestimmten Themen, Problemen und Lösungen konstituiert werden, entwickeln sich transnationale Öffentlichkeiten. Solche Sach- oder Fachnetzwerke drehen sich um die gemeinsamen Interessen von Akteuren, die diese in bestimmten Themenbereichen haben; sie fluktuieren, wachsen und schrumpfen, und manchmal tun sie dies zyklisch. Insofern es in dem Sinne eine Kopplung zwischen den Kollektivakteuren und der Zielgruppe gibt, dass die Akteure nicht nur unter sich selbst kommunizieren, sondern ebenso auch von anderen gehört werden, nehmen Interessensgruppen die Form von Öffentlichkeiten an. Soweit die Kommunikation von einem ›unbestimmten Publikum‹ – einer Öffentlichkeit – mitverfolgt werden kann, kommt es zu einer Form einer transnationalen Resonanz (Trenz und Eder 2004: 8–9); und soweit es verschiedene Typen von Öffentlichkeit gibt, die sich mit den gleichen Themen beschäftigen, haben diese einen epistemischen wie auch demokratischen Wert. Dabei sind Skandale und Kampagnen zweckdienliche Vehikel transnationaler Öffentlichkeiten (Ebbinghausen und Neckel 1989). Sie stellen die legitimierenden und delegitimierenden Funktionen der schweigsamen beziehungsweise sprechenden Öffentlichkeiten dar. Die Öffentlichkeitseffekte des Schengenabkommens (und der Kritiken daran), der europäischen Kampagnen gegen Rassismus, gegen den Rinderwahn, der Anklagen wegen Korruption und Betrug in der Santer-Kommission, der sich in den Augen der Öffentlichkeit zu einem Skandal entwickelte und schließlich in der Abberufung der Kommission im Jahr 1999 mündete –, dies alles sind Beispiele von transnationalen öffentlichen Ereignissen. Spätere Ereignisse, die von den Protesten gegen den Einmarsch in den Irak (2002/2003) über die Verfassungskrise (2004/2005) bis zu den Demonstrationen und Protesten gegen die Austeritätspolitik der Finanzkrise der Eurozone im 140 https://doi.org/10.5771/9783495860526 .
Ein geschichteter öffentlicher Raum
Jahr 2011 reichen, stellen ebenfalls öffentliche Ereignisse mit einer weitreichenden europäischen Resonanz dar. Das Fazit hiervon ist, dass sich nicht eine einheitliche Form von Diskurs entwickelt, sondern vielmehr Diskurse, die entsprechend der europäischen Themenfelder und Politiken variieren. In dieser Struktur mag die Fähigkeit, Diskurse zu manipulieren und zu homogenisieren, begrenzt sein, das Ergebnis besteht allerdings in einem geschichteten öffentlichen Raum, in dem unterschiedliche Öffentlichkeiten ein Mitsprecherecht haben und einander kontrollieren können. Das Problem dieser Struktur besteht dabei darin, dass sie segmentiert ist, da die Diskurse bezüglich nationaler und funktionaler Belange eine gewisse Befangenheit aufweisen; diese Struktur bevorzugt systematisch bestimmte Teilnehmer, bestimmte Arten der professionellen Expertise, bestimmte Weltanschauungen und situationsbezogene Beschreibungen; und dies führt dazu, dass andere Diskurse wegdefiniert oder ausgeschlossen werden. Die Segmentierung nimmt dabei die Form permanenter Strukturen einer funktionalen und territorialen Differenzierung an, die durch unterschiedliche und abgegrenzte Teilnehmerkreise und Untergruppen von Akteuren und Diskursen gebildet werden. Zusammengenommen konstituiert die Verschmelzung von Verfassungsordnungen, einer staatenlosen Regierung, parlamentarischen Verflechtung sowie eines geschichteten öffentlichen Raums einige der funktionalen Äquivalente einer staatsbasierten Demokratie. Die bestimmenden Merkmale dieser Ordnung sind nicht Souveränität und Unabhängigkeit, sondern eine Ko-Mitgliedschaft und MitBestimmung. Sie stellt keine Ordnung mit klar umrissenen Kompetenzen und Befugnissen dar, mit delegierten Kontrollmöglichkeiten und Rechenschaftspflichten, sondern eine Ordnung, in der die Souveränität zusammengelegt ist und die Entscheidungskompetenzen zwischen den nationalen und europäischen Ebenen geteilt wird. Die nationalen und europäischen normativen Ordnungen werden indes mit einer globalen Ordnung ergänzt, die Aufschluss darüber gibt, dass die EU nicht mit den Nationalstaaten um die letztendliche Entscheidungsgewalt – um die Kontrolle einer zentralisierten Gewalt – konkurrieren muss. Sie stellt keine Konstitution bereits schon konstitutionalisierter Ordnungen dar.
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Eine kosmopolitane europäische Zukunft
Das konstituierende Subjekt Aufgrund der zusammengelegten Souveränität der Staaten und der gemeinsamen Verfassungstraditionen der europäischen Staaten ist die Frage nicht, welche Ebene die letztendliche Entscheidungsgewalt hat, sondern vielmehr, ob die Entscheidung dem Recht entspricht; ob die gemeinsamen Rechtsnormen korrekt angewendet werden. Die EU hat nur im applikativen Sinn einen Vorrang, nicht wenn es um die Geltung geht. Das Gemeinschaftsrecht belässt »inkonsistentes nationales Recht gültig, aber unangewendet« (Bogdandy 2006: 14). Die mehrstufige Rechtsordnung Europas, in der die nationalstaatlichen Gerichte und der EuGH (und in einigen Fällen auch der Europäische Menschengerichtshof) sich die rechtsprechende Gewalt teilen, gewährleistet prinzipiell die gerichtliche Überwachung von Gesetzen, die Fähigkeit mit ›Kollisionen rechtlicher Normen‹ umzugehen, und dass in rechtlich schwierigen Fällen innerhalb einer bestimmten Zeit auch Entscheidungen getroffen werden. Aber auf welcher Grundlage geschieht dies? Was ist das alleinstehende einheitsstiftende Prinzip? Die konstituierenden Subjekte der Verträge sind Staaten und das konstituierende Subjekt der Verfassungen ist das Individuum. Beide Linien der Autorisierung haben einen einheitlichen Ursprung: die Bürger als Mitglieder der Union und als Mitglieder eines oder mehrerer Mitgliedsstaaten. Einzig die Rechte des Individuums und das mit ihnen einhergehende rechtliche Verfahren und die Rechtsdisziplin verleihen in der europäischen Mehrebenen-Konstellation dem EU-Recht Einheit und Kohärenz. Auf der grundlegenden Ebene gibt es keine Konkurrenz zwischen den Mitgliedsstaaten und der europäischen Ebene; die Grundeinheit, für die beide Ebenen die Legitimität beanspruchen können, ist das Individuum, seine Würde und Autonomie. Selbst in einer mehrstufigen Konfiguration wie der EU gibt es und kann es nur ein konstituierendes Subjekt geben. Wenn eine gemeinsame Rechtsgrundlage existiert und das Individuum die einzige Legitimationsquelle der EU ist, dann ist es nicht notwendig, ein für allemal festzulegen, wer die letztendliche Entscheidungsgewalt hat: die EU oder die Mitgliedsstaaten. Es besteht nicht die Notwendigkeit, genau zu bestimmen, wer die Kompetenz hat zu entscheiden, wer die Kompetenz hat (die sogenannte Kompetenz-Kompetenz), da einem überstaatlichen (auf demokratischem Wege erlassenen) Recht unterstellt zu sein nicht bedeutet, dass man 142 https://doi.org/10.5771/9783495860526 .
Würde als ›Grundnorm‹
durch eine fremde Gewalt beherrscht wird, sondern vielmehr bedeutet es, dass man einem Recht unterliegt, das man mit verfasst hat. Die gemeinschaftliche europäische Herrschaft beinhaltet die Fähigkeit, den Gebrauch der Regierungsgewalt mitzubestimmen und nicht, die letzte Entscheidungsgewalt über sie zu haben. Somit kann die Vorrangstellung des EU Rechts, die besagt, dass im Falle eines Konflikts mit nationalem Recht das europäische Recht maßgeblich sein soll, als eine Kollisionsnorm begriffen werden. 107 »Das Gemeinschaftsrecht muss insofern höher stehen, allerdings nur so weit, wie eine solche Vorrangstellung erforderlich ist, um die Koexistenz der nationalen Rechtsordnungen effektiv zu organisieren; solch eine Vorrangstellung gilt nicht bedingungslos und muss tatsächlich unter Bezug auf das ›Regulierungsinteresse‹ abgestuft werden.« (Fossum und Menéndez 2011a: 74)
Was aber, wenn nicht der Schutz der Menschenrechte, könnte die Basis dafür bilden, die Vorrangstellung des EU-Rechts als Kollisionsnorm zu begründen? Ähnlich argumentieren Armin von Bogdandy et al. (2012), indem sie sich auf die Solange-II-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts berufen, die auf einen Schutz der Grundrechte gegenüber den EU-Mitgliedstaaten abzielte. Jede Verletzung der Menschenrechte durch die Mitgliedsstaaten verletze auch die ›Substanz der Unions-Bürgerschaft‹. Auf Grundlage der europäischen Bürgerschaft und auf Grundlage der verabschiedeten Europäischen Grundrechtscharta, die nur im Falle, die Mitgliedsstaaten implementieren Unionsrecht, Anwendung findet, hält die Solange-II-Entscheidung fest, dass »Mitgliedsstaaten bezüglich des Schutzes von Grundrechten so lange autonom bleiben, solange davon ausgegangen werden kann, dass sie den Kern der Grundrechte, der im Artikel 2 des Vertrags über die EU verankert ist, sicherstellen« (Bogdandy et al. 2012: 491).
Würde als ›Grundnorm‹ Sowohl im rechtlichen als auch im normativen Sinn stellt der einzelne Bürger die alleinige Legitimationsquelle moderner Verfassungs107 Jedoch ist eine Nicht-Befolgung tatsächlich selten und nicht sonderlich gravierend. Die Einhaltung der Gesetze und Richtlinien in Europa ist insgesamt beeindruckend (Zürn und Joerges 2005).
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Eine kosmopolitane europäische Zukunft
ordnungen dar. Da sie den Rechtsgrundsatz einer auf Rechten basierenden gerichtlichen Entscheidung universalisieren, sind alle modernen Rechtsordnungen im Kern individualistische Ordnungen. Sie stützen sich auf einen verfahrensrechtlichen Konsens – auf die Richtigkeit der Regel von Einbeziehung, Anhörung, Deliberation und Entscheidungsfindung. Das Recht des einzelnen menschlichen Wesens stellt die Grundlage des modernen Rechts dar, was letzten Endes auf ein Recht der Achtung der menschlichen Würde hinausläuft (vgl. Mirandola 2012). Dies gilt ebenfalls in der EU, da die einzige Autorität, die dem bestehenden Rechtssystem Einheit und Kohärenz geben kann, das Individuum in Form eines mit Rechten ausgestatten Subjekts ist. Das deutsche Bundesverfassungsgericht formuliert in dem sogenannten Lissabon-Urteil von 2009 den grundlegenden Punkt wie folgt: »Der Verfassungsstaat bindet sich mit anderen Staaten, die auf demselben Wertefundament der Freiheit und Gleichberechtigung stehen und die wie er die Würde des Menschen und die Prinzipien gleich zustehender personaler Freiheit in den Mittelpunkt der Rechtsordnung stellen.« (Absatz 221)
Von den beiden Kriterien der Autonomie und Rechenschaftspflicht, die Ordnungen erfüllen müssen, um Beherrschung zu bekämpfen, eignet sich nun die Autonomie für eine weitergehende Spezifizierung. Selbst und Gesetz werden in dem Begriff der Autonomie verbunden. Diese hat zwei Wurzeln: autos (= Selbst) und nomos (= Gesetz). Autonomie ist die Grundlage für Würde und ist, Kant zufolge, in dem Rechtsetzungsverfahren verortet. Dass Gesetze selbst-gegeben sein müssen, ist dabei der Kern der Würde: »Denn es hat nichts einen Wert, als den, welchen ihm das Gesetz bestimmt. Die Gesetzgebung selbst aber, die allen Wert bestimmt, muß eben darum eine Würde, d. i. unbedingten, unvergleichbaren Wert haben, für welchen das Wort Achtung allein den geziemenden Ausdruck der Schätzung abgibt, die ein vernünftiges Wesen über sie anzustellen hat. Autonomie ist also der Grund der Würde der menschlichen und jeder vernünftigen Natur.« (Kant 1785/1993: 69) 108
108 Vgl. Habermas 2011b, der Menschenwürde als die moralische Quelle der Menschenrechte ansieht und siehe Joas 2011 bezüglich einer kommunitaristischen Interpretation. Hinsichtlich von Kants Begriff selbstgegebener Gesetze siehe auch Ripstein 2009 und Mikalsen 2012.
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Die politische universitas der EU
Die Würde liegt also in der Gesetzgebung und dieser Umstand versieht die Gesetze mit der Auflage, ›selbst-gegeben‹ sein zu müssen. Dies enthält dabei nicht nur das Recht, seine Ziele autonom zu setzen und sie in rationaler Weise zu verfolgen, sondern ebenfalls das Recht auf Mit-Gesetzgebung. Die individuelle Autonomie wird nun allerdings durch den Umstand eingeschränkt, dass die Autonomie jedes einzelnen mit der Freiheit aller koexistieren muss. Es gibt ein Recht darauf, dass die eigene Würde respektiert wird, und dies kann nur dadurch sichergestellt werden, dass man das Recht erhält, an der Gesetzgebung teilzuhaben (Rosen 2012: 62; 100). Würde ist ein Wert an sich und stellt eine Grundlage dar, um Rechte herzuleiten. Das Recht des Individuums auf den Schutz seiner Würde ist, wie schon im ersten Kapitel angedeutet wurde, mit der kosmopolitanen Norm der gleichen Achtung des Individuums und der Demokratie verzahnt, da sie dem Individuum das Recht gewährt, an der Gesetzgebung teilzuhaben. Der Kosmopolitanismus impliziert die Universalisierung der Menschenwürde – alle Menschen besitzen sie gleichermaßen –, jedoch erfordert das Recht auf Achtung der Würde die Demokratie, d. h. ein umgrenztes Territorium. Die Würde gewährt dem Menschen die Mitgliedschaft in zwei Gemeinschaften: in dem moralischen Gemeinwesen – in der Gemeinschaft aller Menschen – und in einem Staat.
Die politische universitas der EU Auf der einen Seite beinhaltet das Recht auf den Schutz der Würde den Anspruch auf Demokratie, der nur durch die Mitgliedschaft in einer bestimmten politischen Ordnung – mit territorialen Grenzen – eingelöst werden kann. Auf der anderen Seite bestehen Anreize für nationale Demokratien, auf Kosten anderer ein Trittbrettfahrertum zu pflegen und negative Externalitäten ohne Kompensation auf dritte Parteien abzuwälzen. Ein einzelner Staat kann die Rechte seiner eigenen Bürger verletzen, kann es unterlassen, Individuen, die keine Rechte als Bürger haben, zu respektieren und kann die legitimen Interessen anderer Staaten missachten. Folglich werden die Integration selbst und eine Demokratie unter den Staaten zu kategorischen Imperativen. Das Demokratieprinzip erfordert, dass die Bürger, sollten ihre Rechte auf Achtung ihrer Würde verletzt worden sein, ihre Beschwerden vor eine übergeordnete Autorität bringen können. Jedes 145 https://doi.org/10.5771/9783495860526 .
Eine kosmopolitane europäische Zukunft
›Volk‹ kann Fehler machen und braucht Korrektive; Mehrheitsentscheidungen können die Rechte von Individuen und Minderheiten verletzen, und es kann der Fall sein, dass nationale Verfassungsgerichte nicht existieren oder nicht in der Lage sind, einen Schutz zu gewährleisten. Damit eine wahre Republik verwirklicht werden kann, muss es den Bürgern möglich sein, wenn ihre Rechte bedroht sind, sich an Institutionen oberhalb des Nationalstaates zu wenden. Folglich gibt es Gründe, die für die Existenz von Institutionen sprechen, die gewissermaßen oberhalb eines bestimmten Staates, dem die Individuen angehören, existieren und die die Grundrechte der Bürger schützen. Damit die Würde der Weltbürger – der kosmou politês – geachtet wird, müssen die Menschenrechte in Körperschaften oberhalb der Nationalstaaten institutionalisiert werden, die so verfasst sind, dass sie tatsächlich die einzelnen Regierungen und internationalen Akteure in ihrem Handeln binden können. Schon der Grundsatz des negativen Friedens erfordert eine übergeordnete Instanz, die das wechselseitige Recht auf Nicht-Intervention schützt (Niederberger 2009: 293). Organisationen auf einer intermediären Ebene – zwischen der staatlichen Ebene und der von Weltorganisationen – verringern Beherrschung, erleichtern die Rechenschaftspflicht über Grenzen hinweg und geben der ›internationalen Gemeinschaft‹ eine gewisse Handlungsfähigkeit. Das Prinzip der Würde ist fest in der UN-Charta verankert, in vielen internationalen Abkommen und Verträgen sowie in nationalen Verfassungen, insbesondere in der deutschen Verfassung. So nimmt das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung über den Vertrag von Lissabon etliche Male auf diesen Grundsatz Bezug (Absätze 57, 122, 147, 188). Auch spielt er eine prominente Rolle in den EU-Verträgen, etwa in dem Artikel 2 des Vertrages von Lissabon sowie in der EU-Grundrechtscharta. Letztere erachtet jene Menschenrechte, die auf den Schutz der Würde abstellen, als legitimatorische Kernprinzipien: In Artikel 1 wird festgehalten, dass die Würde des Menschen unantastbar ist. Sie muss geachtet und geschützt werden. Artikel 3 spezifiziert dann das Recht auf Unversehrtheit der Person und in Artikel 4 wird das Verbot von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe festgehalten. Die Präambel der Charta hält fest: »In dem Bewusstsein ihres geistig-religiösen und sittlichen Erbes gründet sich die Union auf die unteilbaren und universellen Werte der Würde des
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Die politische universitas der EU
Menschen, der Freiheit, der Gleichheit und der Solidarität. Sie beruht auf den Grundsätzen der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit. Sie stellt die Person in den Mittelpunkt ihres Handelns, indem sie die Unionsbürgerschaft und einen Raum der Freiheit, der Sicher- heit und des Rechts begründet.« [Kursivierung durch den Autor]
Man kann folglich davon sprechen, dass der institutionellen Ordnung der EU die Grundnorm der Achtung der Würde einer Person zugrunde liegt. Die Würde des Menschen bildet die wahre Basis der Grundrechte (Meyer 2003: 59). Sie stellt ein Prinzip dar, das tiefer geht, denn die gewöhnlichen Rechte, gemäß derer wir in Europa leben, und das einer Spezifizierung und Institutionalisierung bedarf. Entsprechend begreife ich Würde als eine grundlegende Muss-Vorstellung der europäischen Integration. 109 Sie konstituiert die moralischaffektive Basis für Frieden und einer auf Rechten aufruhenden Demokratie und war ein wichtiges einheitsstiftendes Prinzip, das es den Europäern möglich machte, sich mit ihrer kriegerischen Vergangenheit auseinanderzusetzen. Wenn wir die Prinzipien der Französischen Revolution mit der Geschichte der Brutalität und Gewalt, die zuallererst den Integrationsprozess eingeleitet hat, in einen Kontext setzen und sie als Gegengewicht hierzu betrachten, dann können wir in Übereinstimmung mit Theodor W. Adorno den kategorischen Imperativ wie folgt reformulieren: ›Denke und handle so, dass sich die Geschichte von Auschwitz nicht wiederholt‹ (Adorno 1980: 358, Reformulierung durch den Autor). Warum jedoch Würde? Warum könnte nicht Sicherheit den Grundwert bilden – schließlich haben wir alle, wie es sich auch im Primat der Selbsterhaltung von Staaten widerspiegelt, ein Interesse daran zu überleben. Glyn Morgan schlägt Sicherheit als das zentrale Rechtfertigungsprinzip, dem – pace Hobbes – alle zustimmen könnten, vor, da diese sowohl »eine Voraussetzung individuellen Wohlergehens« sei als auch, John Stuart Mill zufolge, »eine Voraussetzung der Entwicklung des Handels« (Morgan 2005: 98–99). Alle haben ein Interesse an Sicherheit. Aus zwei Gründen ist es allerdings problematisch, Sicherheit als grundlegendes einheitsstiftendes Prinzip zu betrachten: Erstens, da nicht klar ist, welche Art von Rechten und institutionellen Strukturen erforderlich ist, um Sicherheit zu gewährleisten. Beispielsweise ist es, wenn es um historische Erklärungen 109 Dabei hat die Würde sowohl einen religiösen/katholischen Ursprung wie auch einen säkularen, siehe Rosen (2012) und Joas (2011).
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Eine kosmopolitane europäische Zukunft
geht, nicht klar, ob es die EU, die Vereinigten Staaten (und der Marshall-Plan), die NATO oder der harmlose Nationalismus der europäischen Staaten gewesen sind, die Frieden und Stabilität im Nachkriegs-Europa sichergestellt haben. 110 Es ist umstritten, ob die EU aus Sicherheitsgründen erforderlich wäre. Zweitens war zwar für Hobbes (1651) Sicherheit – das Recht auf Leben – das wichtigste Naturrecht, jedoch haben die Bürgerkriege in Europa klar werden lassen, dass der Fall der Religionsfreiheit dieser These widerspricht: Glaubensfreiheit kann durchaus höher geschätzt werden als das eigene Leben (vgl. Höffe: 62). Auch würden etwa Kantianer sagen, dass Sicherheit als einheitsstiftender und konsensbildender Grund nicht tief genug reicht, um die Stabilität einer politischen Ordnung zu gewährleisten. Eine Person könnte ihr Leben verlieren, ohne ihre Würde zu verlieren. Folglich beinhaltet Frieden nicht bloß die Abwesenheit von Krieg, sondern auch, unter würdigen Bedingungen zu leben – als Bürger einer Republik. Sicherheit kann demnach kein alleinstehendes Rechtfertigungsprinzip sein. Das letztendliche Ziel des Integrationsprozess, und dem die anderen wie Frieden, Gerechtigkeit oder Demokratie korrespondieren, besteht in dem Schutz der Würde des Individuums. Dies stellt eine grundlegende Norm dar, der trotz aller anderen Meinungsverschiedenheiten in Bezug auf Werte und Interesse tatsächlich alle zustimmen könnten. Dieses Prinzip kann nicht mit wechselseitig akzeptierbaren Gründen zurückgewiesen werden und in der Tat haben Katholiken, Protestanten und Humanisten energisch für es gekämpft, wobei sie dabei von Liberalen, Konservativen und Sozialisten unterstützt wurden.
Die Moralität der Mit-Gesetzgebung Menschenrechte, die für liberale politische Ordnungen grundlegend sind, enthalten einen moralischen Kern, der sich auf die Würde bezieht. Die menschliche Würde sollte um jeden Preis geachtet werden! Aber moralische Prinzipien werden auch als praktische Grundlagen 110 Hinsichtlich der ersten Position siehe Beetham und Lord (1998: 102–3) und für die Position, dass die NATO unter der Führung der USA verantwortlich war, siehe Offe und Preuss (2007: 190). Siehe weiterhin Milward 1992; Moravcsik 1998; Wallace 1994.
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Die Moralität der Mit-Gesetzgebung
der politischen Verfahren moderner Gesellschaften institutionalisiert. Sie bilden die Basis, um Probleme und Konflikte in einer zwanglosen Weise zu lösen. Folglich bestehen moralische Prinzipien nicht allein deswegen, da sie gemäß der autonomen moralischen Vernunft richtig sind. Da sie als grundlegende positivrechtliche Rechte interpretiert, spezifiziert und eingegrenzt worden sind, stellen sie nicht allein ›Sollens-Präskriptionen‹ dar, deren Befolgung moralische Pflicht ist. Sie sind somit fest verankert und auch mit Werten und ethischer Substanz jenseits ihres rationalen Gehalts erfüllt. Niklas Luhmann (1965: 13 ff.) zufolge haben die positiven Grundrechte den Status einer Rollenerwartungen stabilisierenden Institution gewonnen. Den Schutz der Würde gewährleistende Rechte bilden den Kern moderner Verfassungen – da sie die Regeln einer freien und gleichen Assoziation von sich selbst regierenden Bürgern festlegen – sowie der prozeduralen Arrangements moderner repräsentativer Ordnungen. Gleiche Menschenrechte, die Übertragung des Stimmrechts, das Prinzip ›ein Mensch, eine Stimme‹, Meinungsfreiheit, Deliberationsregeln, Wahlen und Verhandlungen – all dies bildet den normativen Kern moderner repräsentativer Demokratien und hat den europäischen Integrationsprozess in starker und bleibender Weise geprägt. Der Schutz der Würde erfordert die Abschaffung von Beherrschung mittels einer Partizipation in einem Verfahren, in dem alle Beteiligten als Mitgesetzgeber wirken. Das Prinzip der Würde und das damit einhergehende moralische Paket wird in den Inklusionsregeln und den Gleichbehandlungsklauseln reflektiert, die in den gegenwärtigen politischen Strukturen ebenso verankert sind, wie sie auch in der Kontestation, der Kritik und Opposition zu vorherrschender Machtstrukturen sichtbar werden. Diese Rechte und Regeln sind dem Konsens förderliche Prinzipien, die die innere Würde und äußere Freiheit der Individuen schützen. Sie verlangen von allen, eingehalten zu werden. Die Regeln für eine Inklusion und Gleichbehandlung verkörpern die Prinzipien gleicher Bürger- und Mitgliedschaft in einer Vereinigung, die inklusiv und kontinuierlich mit Prozessen der kollektiven Selbstbestimmung beschäftigt ist – mit Prozessen der Meinungs- und Willensbildung. Nur Vereinigungen, die Repräsentanten in eine Struktur politischer Rechenschaftspflicht einbinden – von Kontestation und öffentlicher Deliberation –, können beanspruchen, politische Gleichheit institutionalisiert und die Würde des Individuums geschützt zu haben. Letzteres erfordert dabei mehr als ein 149 https://doi.org/10.5771/9783495860526 .
Eine kosmopolitane europäische Zukunft
gleiches Wahlrecht und faire Entscheidungsfindungsverfahren. Als entscheidende Bedingung erfordert es eine öffentliche Deliberation innerhalb des Parlaments. »Selbst Maßnahmen, die in einwandfreien demokratischen Verfahren Zustimmung gefunden haben, werden wahrscheinlich als Formen willkürlicher Herrschaft angesehen, wenn sie nicht auch durch ein öffentliches Forum begleitet werden, das es jenen, die alternative Ergebnisse bevorzugt hätten, ermöglicht, selbst zu sehen, dass ihre Ansichten diskutiert und Gründe dafür vorgebracht wurden, warum sie schließlich nicht berücksichtigt worden sind.« (Lord 2007: 147–148)
Der zugrundliegende moralische Standard der Achtung der Würde stellt ein höherrangiges Prinzip dar, das nicht die gleiche Art der Geltung hat wie die Verfassungsgrundsätze, gemäß derer wir leben; er ist vielmehr konstitutiv für das Konzept grundlegender individueller Menschenrechte sowie für eine politische Gleichheit. Hier liegt meines Erachtens die normative Basis deliberativer Demokratie. Denn nur auf der Basis eines solchen grundlegenden substantiellen Prinzips kann man private Autonomie wie auch das Argument erklären, dass die Gründe oder der Wille jedes Teilnehmers in dem politischen Prozess gleich zählen sollten. Der gleiche Wert von Personen konstituiert die letztgültige Basis für die Rechtfertigung von Gewalt wie auch der Staatsform, da der Zwangscharakter von positivem Recht intrinsisch mit den gleichen Freiheiten aller verbunden ist – ein Gemeinwesen kann legitimerweise dann Gewalt anwenden, wenn es eine Einhaltung der Gesetze sicherstellen will. Um nun herausfinden zu können, wie nahe die EU an eine Staatlichkeit herankommen wird, muss man die Aufmerksamkeit auf den Charakter und die Zukunft des Staatensystems richten.
Die kosmopolitane conditio Staaten sind in der Westfälischen Ordnung souverän, haben festgelegte territoriale Grenzen und das Recht, ihre inneren und äußeren Angelegenheiten autonom zu regeln, ohne dass externe Akteure kontrollieren, ob die Staaten den Schutz der Menschenrechte gewährleisten. Jedoch sind, wie wir gesehen haben, die rechtlichen Entwicklungen über das letzte Jahrhundert hinweg beachtlich und einer ihrer Hauptbeweggründe ist der Schutz der Menschenrechte gewesen. So150 https://doi.org/10.5771/9783495860526 .
Die kosmopolitane conditio
wohl Personen als auch Gruppen sind als Völkerrechtssubjekte anerkannt worden. Der Zustand organisierter Anarchie, der die Westfälische Welt charakterisiert hat, wird durch eine bedingte staatliche Souveränität ersetzt; eine Souveränität, die von der Einhaltung der Souveränität der Bürger abhängt. Das Konzept der Souveränität selbst hat sich zudem auch geändert: Von der Bedeutung, die oberste Rechtsgewalt des Staates zu sein, die die Gesetzesgeltung innerhalb eines bestimmten Territoriums gewährleistet und unabhängig von jedweder äußeren Macht ist (Morgenthau und Thompson 1993: 321), zu der Bedeutung, dass die staatliche Gewalt höherrangigen Prinzipien unterworfen ist. Grundsätzlich haben Staaten nur so lange das Recht auf politische Souveränität und territoriale Integrität, wie sie in einer moralisch tolerierbaren Weise regiert werden. Jedoch kann die Pflicht zu intervenieren oder Hilfe zu leisten, nicht auf die internationale Gemeinschaft im Ganzen entfallen, da diese keine Handlungsfähigkeit und kein Handlungszentrum besitzt. Entsprechend gibt es »ein generelles moralisches Argument für die Existenz einer internationalen Regierung – wenigstens dafür, politische Institutionen zu schaffen und zu entwickeln, die Gewalt nicht nur zwischen, sondern auch innerhalb von Staaten verhindern können« (Nardin 2006: 458, 463). Was jedoch könnte die richtige Form einer solchen Regierung sein? Während Kommunitaristen Gefahr laufen, den Nationalstaat als einzig mögliche Form der Vereinigung eines Volks anzusehen und so den Nationalstaat als Zweck an sich vorzustellen, laufen Kosmopolitaner die entgegengesetzte Gefahr, alle Unterschiede und Differenzen unter den Teppich zu kehren. Für Letztere haben Grenzen nur einen abgeleiteten Status und keinen unabhängigen Wert: Die Zuordnung von Verantwortlichkeiten folgt aus einer institutionellen Arbeitsteilung. Gemeinschaften, die auf einer niedrigeren Ebene – lokale, nationale und regionale Regierungen – angesiedelt sind, wären folglich lediglich aus Klugheitsgründen erforderlich. In dieser Perspektive wird die Freiheit und das Wohlergehen der Menschen am besten dadurch sichergestellt, dass die menschliche Bevölkerung in verschiedenen Gesellschaften organisiert wird, von denen jede ihre eigenen politischen Institutionen hat, die entsprechend darauf spezialisiert sind, sich um die Interessen und Rechte der Bürger zu kümmern. Für Kosmopoliten und Liberale haben Grenzen keinen intrinsischen Wert: Patriotismus übertrumpft nicht die Liebe der Menschheit (Nussbaum 1996: 17). Aus einer liberalen oder auf Rechten basierenden (ebenso wie auch instrumentel151 https://doi.org/10.5771/9783495860526 .
Eine kosmopolitane europäische Zukunft
len) Perspektive wird der Kosmopolitanismus so verstanden, dass er eine »Unterstützung für ein mehrstufiges System der Governance [bereitstellt], in der supra-staatliche politische Autoritäten die Handlungsweise der Staaten (und machtvoller ökonomischer und sozialer Institutionen) überwachen und danach trachten, die Übereinstimmung der staatlichen Handlungsweisen mit kosmopolitanen Gerechtigkeitsidealen sicherzustellen« (Caney 2005: 182). Allein, Demokratie ist ein aus der Würde wie auch aus den Menschenrechten folgender Anspruch. Sie stellt ein unveräußerliches Recht dar, welches, damit es realisiert werden kann, Grenzen bedarf. Das Recht auf kollektive Selbstbestimmung erfordert eine Abgrenzung von Gebieten, Mitgliederrechte, Institutionen und Verfahren. Demokratie jenseits des Nationalstaats ist denkbar und die praktische Vernunft schreibt einen entsprechenden Integrationsprozess vor. Es müssen dabei allerdings die mit Repräsentation, Wahlen, öffentlicher Debatte und politischem Wettbewerb verbundenen demokratischen Bedingungen erfüllt werden, denn diese sind aufgrund der Kriterien der Autonomie und Rechenschaftspflicht zwingend erforderlich. Viele Akademiker betrachten Europa als einen besonders relevanten Schauplatz für das Entstehen einer kosmopolitanen wie auch postnationalen Demokratie. 111 Eine multidisziplinäre Gruppe von Wissenschaftlern knüpft in verschiedener Weise an einen Transnationalismus an; an den Begriff der Vorstellung der EU als neuer Form der Gemeinschaft; und an das globale transformative Potenzial der EU aufgrund ihres Agierens als ziviler Macht. Auch offiziellen Dokumenten zufolge ist, da die EU das Individuum ins Zentrum stellt, der Kosmopolitanismus Teil ihrer Selbstidentität; und Wissenschaftler erkennen die EU zunehmend als einen Teil und Vorreiter einer entstehenden demokratischen Weltordnung. Jedoch kann die kosmopolitane conditio, die die Konstitutionalisierung des Völkerrechts erfordert, ihre Legitimität nicht aus dem Völkerrechtsregime selbst ziehen oder von der vermeintlichen Geltung humanitärer Normen. Menschenrechte bilden nicht an sich eine sinnstiftende gesellschaftliche Ordnung. Die Zahl und der Gehalt der Rechte müssen festgelegt werden (Koskenniemi 1991: 399) und sie müssen in der Kultur und Praxis verwurzelt sein (Habermas 1996). Die die Rechte tragenden Weltbürger haben nicht viel gemeinsam außer ihrer gemeinsamen 111 Siehe beispielsweise Habermas 1998; Archibugi 1998; 2008; Held 1995; Beck und Grande 2004; Delanty und Rumford 2005.
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Regionaler Kosmopolitanismus
Menschlichkeit (Maus 2006). Allerdings ist die EU, wie wir gesehen haben, ein stark verankertes, auf Rechten aufruhendes Gemeinwesen, zudem eines, das einen ausgeprägt regionalen Wirkungsbereich hat. Sie ist in einer politischen Kultur eingelassen und basiert auf einem gemeinsamen konstitutionellen Komplex sowie auf den Werten und demokratischen Praktiken in Europa. Diese normative Infrastruktur verleiht den Verfahren sowie der kollektiven Entscheidungsfindung der postnationalen Union Legitimität und konstituiert einen wichtigen Teil des gemeinsamen Selbstverständnisses der Bürgerschaft. Wenn der Staat in solch einen rechtlich regulierten Bereich eingelassen ist, dann ist es möglich, ihn nicht als eine dichotome Variable zu betrachten, sondern im Sinne von Graden von Staatlichkeit – dann befindet er sich auf einem Kontinuum, das einen autarken Staat und die Weltgesellschaft als Endpunkte hat. Die Zwangsmittel zum Schutz der Rechte und der Verwirklichung kollektiver Ziele wären dann zwischen den Ebenen aufgeteilt. Innerhalb eines solchen Rahmens könnte die EU für ihre Entscheidungen Legitimität beanspruchen, indem sie sich auf die Rechtsform, in der die Entscheidungen gekleidet sind, bezieht, anstatt auf irgendeine Form der kollektiven Identität oder Überlegenheit.
Regionaler Kosmopolitanismus Das Ergebnis ist nun, dass Organisationen auf der intermediären Ebene in den Vordergrund treten, und zwar nicht einzig – der institutionellen Arbeitsteilung folgend, die der Kosmopolitanismus verlangt – als Instrumente der Politik, sondern als unverzichtbares Mittel, um das unveräußerliche Recht auf Selbstregierung – auf Demokratie – zu verwirklichen. Landesgrenzen erlangen eine moralische Bedeutung aufgrund des Umstands, dass sie die Grenzen der Selbstregierung bilden. Die EU ist das bekannteste Beispiel für derartige regionale Organisationen – und ist die einzige politische Organisation jenseits des Nationalstaats, die mit einem demokratischen Mandat und einer gewissen Fähigkeit, kollektiv zu handeln, ausgestattet ist. Sie erfüllt gewisse staatliche Funktionen und hat gewisse repräsentative Strukturen. Eine intermediäre Ordnung, die ›das Individuum ins Zentrum ihrer Aktivitäten rückt‹, kann als ein regionaler Unterfall einer im Entstehen begriffenen größeren kosmopolitanen Ordnung verstanden werden. Die Grenzen der EU könnten aus dieser Perspektive so153 https://doi.org/10.5771/9783495860526 .
Eine kosmopolitane europäische Zukunft
wohl im Hinblick darauf gezogen werden, was die Union selbst benötigt, um eine selbsttragende und gut funktionierende demokratische Entität zu sein, als auch darauf, was die Unterstützung und weitere Entwicklung ähnlicher regionaler Vereinigungen im Rest der Welt verlangen würde – d. h., im Hinblick auf die Entwicklungsfähigkeit regionaler Kooperationen wie etwa die Afrikanische Union, die postsowjetischen Staaten, Mercosur, der Verband Südostasiatischer Nationen (Association of South East Asian Nations: ASEAN) sowie das Nordamerikanische Freihandelsabkommen (North American Free Trade Agreement: NAFTA). Die Grenzen der EU könnten folglich im Hinblick auf die funktionellen Erfordernisse sowohl der EU selbst als auch anderer Regionen gezogen werden – und zwar jeweils innerhalb des Rahmens eines reformierten globalen Systems. Dieser Gedanke impliziert, dass die Union eine politische Ordnung wäre, deren interne Standards auf seine auswärtigen Angelegenheiten projiziert würden; und weiterhin, dass sie ein Gemeinwesen darstellen würde, das seine Handlungen höherstufigen Prinzipien unterwerfen würde – einem ›kosmopolitanen Recht der Völker‹. Die Fähigkeit, Gesetze durchsetzen zu können, ebenso wie das demokratische Mandat einer solchen Ordnung wären eher schwach, wenn auch ihr moralischer Stellenwert hoch wäre. Mit anderen Worten, ein derartiger regionaler Unterfall einer kosmopolitanen Ordnung könnte im normativen Sinne stark sein, da er sich auf einen weitreichenden Konsens bezüglich eines moralischen Individualismus und des Schutzes von Menschenrechten stützen könnte. Eine solche Entität könnte eine Antwort auf die Forderung darstellen, nicht das Modell eines Staats auf der europäischen Ebene zu replizieren, da das ›Staatensystem‹ überhaupt erst internationale Organisationen notwendig mache. Für einander wie auch für den universellen Schutz der Menschenrechte stellen die Nationalstaaten ein Problem dar und das Staatenmodell auf die europäische Ebene zu übertragen, würde dieses Problem auf der globalen Ebene schlicht wiederholen; von daher stellt diese Option eine Antwort von gestern auf Probleme von gestern dar. Die EU sollte den Staat eher zügeln, denn wiederholen. Angesichts der Normativität der EU sind wir besser in der Lage zu verstehen, worum es in der gegenwärtige Krise der Eurozone geht. Viele der emotionalen Reaktionen auf die Handhabung der Krise durch die Troika spiegeln den Verrat an der Idee eines besseren Europas wider.
154 https://doi.org/10.5771/9783495860526 .
6. Fraternité – der fehlende Imperativ der Integration
»Die Solidarität ist die Tugend, die gefordert wird, wenn man die Knappheit natürlicher Ressourcen fühlt.« (Steinvorth 1998: 69)
In vielerlei Hinsicht treibt die EU den großen europäischen Zivilisationsprozess voran – und zwar sowohl durch die Pazifizierung des Konflikts zwischen Staaten als auch durch die Schaffung einer Demokratie zwischen Staaten. Martti Koskenniemi (2006) spricht von der kantianischen konstitutionellen Geisteshaltung, d. h. von der Überzeugung, die politische Autonomie der Bürger müsse durch verfassungsrechtliche und repräsentative Strukturen abgesichert werden. Dies stellt auch die Geisteshaltung der Französischen Revolution dar, die von sozialen Bewegungen und ihrem Streben nach sozialer Gerechtigkeit weiterentwickelt wurde. Rechtsordnungen sind Friedensordnungen und indem die konstitutionelle Demokratie auf die europäische Ebene übertragen wurde, hat die EU zu der Abschaffung willkürlicher Herrschaft beigetragen. An die Stelle eines brutalisierten, trat ein zivilisiertes Europa. Die in den letzten 60 Jahren vorfindlichen Prozesse, die den Schutz der Würde, eine Verrechtlichung und Demokratisierung zum Ziel haben, führten zu einer nicht mehr auf Demütigung beruhender Gesellschaft. Diese Entwicklung vollzog sich anhand politischer Experimente, die in den folgenden demokratischen Innovationen mündeten: Verschmelzung der Verfassungstraditionen, geteilte Souveränität, staatenlose Regierung, parlamentarische Verflechtung sowie ein geschichteter öffentlicher Raum. Da diese Neuerungen es möglich machen, die EU gemäß der Standards von Autonomie und Rechenschaftspflicht zu beurteilen, stellen sie die funktionalen Äquivalente einer staatsbasierten Demokratie dar. Es bestehen autoritative Institutionen, die über das organisierte Vermögen verfügen, verbindliche Entscheidungen zu treffen und Ressourcen zu verteilen. Das EuroGemeinwesen ist ein Gemeinwesen, dessen Regierungssystem Eigen155 https://doi.org/10.5771/9783495860526 .
Fraternité – der fehlende Imperativ der Integration
schaften aufweist, die demokratischen Kriterien nahekommen: Das Rechtsstaats-Prinzip ist fest verankert; es gibt ein formales Recht auf politische Partizipation sowie staatsfreie Räume für öffentliche Debatten. Die informellen und unbändigen Kommunikationsflüsse, die die öffentliche Debatte in Europa charakterisieren, finden zwar in verstreuten Foren und Arenen statt, sind aber nicht ohne Einfluss und Wirkung, und von daher nicht ohne demokratischen Wert. Sie zeugen davon, dass sich die europäische Demokratie über das AuditModel hinaus entwickelt hat, da diese öffentlichen Debatten nicht ohne Schlagkraft und Einfluss sind. Eine Meinungsbildung kann in einer ganzen Reihe von Öffentlichkeiten stattfinden, welche einander kontrollieren und so verstreute Foren der Selbstidentifikation und Willensbildung schaffen. Die EU repräsentiert das Bemühen, ein distinktes Modell eines Gemeinwesens zu bilden, das sich auf komplexe Verbindungen mit einem öffentlichen Raum stützt, der sowohl in der Zivilgesellschaft wurzelt als auch in der globalen Gemeinschaft. Sie hat ihren Zuständigkeitsbereich ausgeweitet und hat sich zu einem Gemeinwesen mit den folgenden Merkmalen entwickelt: Die EU besitzt • • • • •
eine institutionelle Struktur mit repräsentativen Qualitäten; eine Organisation mit eigenen Kompetenzen und Fähigkeiten; Verträge, die auf einen Grundrechtsschutz abzielen und die als Stellvertreter für eine Konstitution dienen; Vorschriften für Transparenz und Mechanismen für Volksbefragungen sowie eine im Entstehen begriffene Struktur ziviler und politischer Organisationen.
Nun besitzt die EU nicht im gleichen Maß eine direkte territoriale Kontrolle, wie wir es von einem souveränen Staat her kennen. Dennoch ist das Muster demokratischer Herrschaft das des modernen Verfassungsstaats. Um zu gewährleisten, dass die EU nicht zu einer alle Macht an sich reißenden Entität wird – einem möglichen Leviathan, der die Welt tyrannisiert –, besitzt dieses zum Teil selbsternannte demokratische System der Gesetzgebung und Normeninterpretation auf der europäischen Ebene eine Reihe von integrierten Sicherheiten sowie ein System gegenseitiger Kontrolle. Die EU ist keine von außen auferlegte Struktur, kein Super-Staat zweiter Natur, sondern eine selektiv institutionalisierte politische Vereinigung, die 156 https://doi.org/10.5771/9783495860526 .
Der Imperativ, der fehlt
von der Kette demokratischer Legitimation der Mitgliedsstaaten abhängt. Auf dieser Grundlage sowie auf derjenigen der Würde als zentralem einheitsstiftendem Element, kann die EU als ein regionales kosmopolitanes Gemeinwesen verstanden werden. Das Problem an dieser Lösung besteht darin, dass sie beschreibt, was alle miteinander gemein haben und nicht, was eine Anzahl von Akteuren zu einer Gruppe – einem Staatsvolk – werden lässt. Eine solche Gruppe würde einige Besonderheiten aufweisen, eine kollektive Identität, die deutlich von anderen Identitäten unterschieden werden kann, und könnte deshalb zu einer Grundlage für Solidarität und kollektives Handeln werden. Während die EU auf einer abstrakteren Form der Solidarität und auf Gerechtigkeit im Sinne von Unparteilichkeit gegründet ist, sind spezifische Bindungen und Tugenden erforderlich, um eine kollektive Identität herauszubilden, die stark genug für eine Umverteilung und sozio-ökonomische Gerechtigkeit ist. Die Krise der Eurozone offenbart die integrierte Schwäche des bestehenden Systems sowie dessen uneingelöstes normatives Potenzial.
Der Imperativ, der fehlt Durch die Klärung der Normativität der EU und durch die Spezifikation der Imperative der Integration haben wir gesehen, was die Europäer vereint. Die normativen Imperative begründen Kriterien, denen zufolge sich die Europäer selbst zu europäischen Bürgern ernennen können. In der Liste der Muss-Vorstellungen, die wir zuvor als unausweichliche Voraussetzungen der Integration rekonstruiert haben – Frieden, Würde, Menschenrechte, Unparteilichkeit, Demokratie – fehlt jedoch offensichtlich etwas. Wenn man die bestehende Liste mit der berühmten Vorlage der Französischen Revolution Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit oder (wie wir heute sagen würden) Solidarität vergleicht, dann fehlt letztere. 112 Solange das europäische Integrationsprojekt als vorteilhaft für jeden dargestellt werden konnte, solange wurde von den Bürgern Eu112 Es gibt ein ›Recht auf Solidarität‹ in der Grundrechtscharta der EU, dies ist aber weitgehend nur ein Orientierungspunkt für die Politik und stellt kein substantielles Recht dar (Menéndes 2003: 179 ff.). Bezüglich von Brüderlichkeit als Solidarität siehe Habermas 2013: 108; siehe weiterhin Brunkhorst 2002.
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Fraternité – der fehlende Imperativ der Integration
ropas nicht verlangt, im Namen der Solidarität zu handeln. Wie wir gesehen haben, lässt sich das Integrationsprojekt so nun aber nicht angemessen beschreiben, da die europäische Integration weit mehr ist denn eine Angelegenheit gemeinsamer Annehmlichkeit. Seit seinen Anfängen haben normative Muss-Vorstellungen den Integrationsprozess angeleitet. Wie immer dem auch sei, dieses sich hartnäckig haltende Porträt der EU als eines wechselseitig segensvollen Arrangements hat sich definitiv mit der Krise der Eurozone erledigt. Die Finanzkrise hat das Integrationsprojekt ersichtlich zu einer Sache der Moral werden lassen. Die europäische Integration ist nicht einzig ein Win-Win-Arrangement; es ist nicht bloß eine Angelegenheit von gemeinsamer Annehmlichkeit und Entscheidung, sondern eine Sache von Gerechtigkeit und Solidarität. Für die Mitglieder der Eurozone ist es eine Pflicht geworden, die Krise zu lösen. Allein, Solidarität ist Mangelware: Die gesellschaftliche Solidarität neigt dazu, an den nationalen Grenzen aufzuhören. Für eine sozio-ökonomische Gerechtigkeit, d. h. für eine Umverteilung sozialer Güter über die Grenzen hinweg, hat die EU kaum Kompetenzen und nur eingeschränkte Ressourcen. Da es keine gesamteuropäische Verantwortung und – gewissermaßen – Haftung gibt, existieren für eine Solidarität strukturelle Hindernisse. Solidarität ist allerdings keine absolute, sondern eine relative Kategorie. Wie stark sie besteht, ist immer eine Frage des Willens und der Grade. Während Gerechtigkeit moralisch geboten ist, um die Autonomie und die Selbstachtung des Individuums abzusichern, und durch unparteiliche Gesetze erreicht werden kann, hat die Solidarität, die ebenfalls moralisch gefordert ist, eine andere Grundlage und Logik. Kant zufolge wird Gerechtigkeit formal bestimmt, während Solidarität material ist. Solidarität hat mit spezifischen Zielen zu tun – mit der Verringerung des Elends und der Verbesserung des Wohlergehens einer Gruppe. Sie steht im Zusammenhang mit den Erfahrungen von Rechtsverletzungen und Ungerechtigkeit und mit dem kollektiven Wir-Gefühl, das in einem Kontext mobilisiert werden kann, in dem Bindungen und ethische Verpflichtungen existieren. Solidarität ist eine Frage des Willens und der Bürde von Landsleuten, ihren Beitrag hierzu zu leisten. Sie besteht darin, gegenseitig für Missgeschicke einzutreten, und dies hängt wiederum von einer gemeinsamen Identität und einer geteilten Konzeption des Gemeinwohls ab. Solidarität kann weder erkauft noch administrativ durchgesetzt werden, da sie der gelebten Bereitschaft entspringt, betroffenen Parteien 158 https://doi.org/10.5771/9783495860526 .
Institutionelle Demütigung und abnormale Politik
beizustehen: den gemeinsamen Interessen, die artikuliert werden können und den Tugenden der Kooperation und Entlastung, die mobilisiert werden können. Die Solidarität ist die Tugend, die gefordert ist, wenn es einen Mangel an grundlegenden Ressourcen gibt, die der Befriedigung dringender Bedürfnisse und berechtigter Interesse dienen (Steinvorth 1998: 69). Bei Solidaritätsdiskursen wird an Akteure in ihrer Kapazität als Mit-Menschen – als Landsleute, Kameraden und Gefährten – appelliert, mehr zu tun, als von ihnen aufgrund der Normen der Unparteilichkeit erwartet werden kann. Die Solidarität ist sozusagen eine Frage der Supererogation, d. h. eine Frage des Handelns, das über die Forderungen der Pflicht hinausgeht. Dies bedeutet allerdings nicht, dass Solidarität lediglich eine Frage des Altruismus ist. Prototypisch werden Akteure dazu aufgefordert, anderen, die in Not sind, zu helfen, sei es indem sie ein gerechteres Wirtschaftssystem, ein besseres politisches Regime oder eine bessere Politik, die von gemeinsamem Interesse sind, aufbauen. Auch kann man erwarten, dass, indem man denen hilft, die gerade in Not sind, einem selbst zu einem späteren Zeitpunkt geholfen wird. Der Begriff der Solidarität enthält daher eine Dimension der Wechselseitigkeit (Habermas 2013), und zwar nicht nur in dem Sinn, dass die Anstrengungen der Akteure zu einem späteren Zeitpunkt kompensiert werden, sondern ebenso in dem Sinn, dass Akteure, die erfolgreich ein robusteres politisches und wirtschaftliches Regime aufbauen, langfristig davon selbst profitieren werden. Die Bezugspunkte Nation, Klasse und die gemeinsame Erinnerung an eine heroische Vergangenheit werden oft als einheitsstiftende Kräfte gebraucht, um Menschen für kollektives Handeln mobilisieren zu können. Aber auch geteilte Traumata und Unglücksfälle können manchmal ebenso effektiv sein, wenn es darum geht, über eine Pflichterfüllung hinausgehende Anstrengungen zu mobilisieren.
Institutionelle Demütigung und abnormale Politik Heute droht die Finanzkrise, die sich zu einer sozialen, wirtschaftlichen und politischen Krise entwickelt und Risiken im großen Maßstab umverteilt hat, die Normativität der EU zunichte zu machen, indem sie die Beweggründe, Mitglied in der EU zu werden, gewissermaßen ausrangiert. Das Integrationsprojekt wurde auf dem Grund159 https://doi.org/10.5771/9783495860526 .
Fraternité – der fehlende Imperativ der Integration
satz von Frieden und Kooperation ohne Demütigung gegründet. Die Art und Weise, in der die Krise der Eurozone gehandhabt wurde, hat Demütigungen jedoch wieder zurückgebracht – nicht bloß in Form von wirtschaftlicher oder sozialer Exklusion, sondern in der Weise einer exekutiven, intergouvernementalen Vorherrschaft. Gemessen an den europäischen Maßstäben handelt es sich hierbei um eine abnormale Politik. Die schwelende Krise, die vielen nicht getroffenen Entscheidungen, das politische Hin und Her sowie die von der Troika initiierten Austeritätsprogramme haben den europäischen Zivilisierungsprozess zum Stillstand gebracht (vgl. Schäfer und Streeck 2013; Streeck 2013). In mancher Hinsicht wurde dieser Prozess sogar umgekehrt. Die Autonomie der Bürger und zahlungsunfähiger Staaten wurde eingeschränkt und verringert, und ein neuer nicht rechenschaftspflichtiger hierarchischer Zusammenschluss (die Troika) fällt Entscheidungen, die schwerwiegende Folgen haben. In Europa findet heute zwischen Gruppen und Staaten ein Anprangern und Bloßstellen statt, das Bilder von Versorgern und Verschwendern, Gebern und Nehmern erzeugt. In Folge des wirtschaftlichen Zusammenbruchs nehmen Demütigungen wieder dramatisch zu. Für Selbstachtung und Selbstwertgefühl hat der Ausschluss vom Arbeitsmarkt, von Beihilfen und Rente massive Auswirkungen (Margalit 1996). Die Unterwerfung unter hegemoniale Kräfte, anstatt unter gemeinschaftlich gesetztes Recht, unterminiert die Idee gleicher Bürgerschaft. An die Stelle von Ko-Mitgliedschaft und Mitbestimmung treten willkürliche Vorherrschaft und Diktate. In diesem Zusammenhang kommt Claus Offe in einem Interview zu dem Schluss: »[Die] reichen Länder Europas diktieren den ärmeren die Austeritätskur, damit diese wieder das Vertrauen der Finanzwirtschaft zurückgewinnen. Sie machen dies trotz sämtlicher Belege dafür, dass eine Austeritätspolitik eine hochgiftige Medizin ist. Eine Überdosis von ihr wird den Patienten töten (statt Wachstum anzuregen und die Steuerbasis auszubauen), in welchem Falle die schwächsten Mitglieder der Eurozone (und schließlich alle von ihnen) noch stärker von den Kreditgebern abhängig werden, was diesen dann erlaubt, immer höhere und noch weniger tragbare Raten zu verlangen. Es wird immer schwieriger, sich vorzustellen, wie die europäischen politischen Eliten sich selbst am Schopfe packen und diesem Teufelskreis entkommen könnten.« (Offe, zitiert nach Brunkhorst 2013)
Die Reaktionen auf das Krisenmanagement der Eurozone – die starken Emotionen, die es hervorruft – sind im Lichte der Normativität der EU leichter zu verstehen. Wir können dadurch besser die Reaktio160 https://doi.org/10.5771/9783495860526 .
Institutionelle Demütigung und abnormale Politik
nen darauf begreifen, wie die gegenwärtige Krise gehandhabt wird, den entrüsteten Aufschrei über den Verrat und die Preisgabe der Aufgabe und sozusagen Berufung der EU. Für viele gilt nicht länger das Versprechen eines demokratischen, auf dem Schutz der Würde aufbauenden Europas. Dieses Versprechen wurde durch die Unfähigkeit gebrochen, die hohen Anforderungen, die mit der Verschuldung verbunden sind, mittels autorisierter und demokratisch verantwortlicher Institutionen zu bewältigen. Dabei führte diese Unfähigkeit zu steigenden Kreditkosten, steigender Arbeitslosigkeit und strukturellen Ungleichgewichten. Eine Machtpolitik alten Stils hat sich wieder etabliert und die Menschen fühlen sich gedemütigt – sie leiden unter Ausschließung und neuen Formen der Vorherrschaft. Sukzessive ersetzt Heteronomie die Autonomie, wodurch Millionen von europäischen Bürgern desillusioniert werden. Der wirtschaftliche Zusammenbruch der Eurozone zeigt dabei eindrücklich die gemeinsame Verletzbarkeit und den Grad der Betroffenheit und globalen Interdependenz, der mittlerweile erreicht wurde. Auch macht er deutlich, dass unter dem gleichen Wirtschaftsregime einige profitieren und andere leiden, was den Aufruf zur Solidarität der Gewinner gegenüber den Verlierern des Integrationsprojekts rechtfertigt. Es ist nun einmal so: Arrangements, die distributive Resultate haben, bedürfen der Rechtfertigung (vgl. Shapiro 2012: 301). Die Eurozone stellt ein distributives Arrangement dar und die Umverteilung von Risiken geht mit der Integration einher. Diejenigen, die die Währungsunion aufgebaut und/oder von ihr profitiert haben, haben die Pflicht, sie zu verbessern. Sie sind die Adressaten der Verpflichtungen, die durch den Integrationsprozess generiert wurden. Dabei haben sie insbesondere die Pflicht, den Integrationsprozess wieder in demokratische Bahnen zurückzuleiten: Der Zusammenbruch macht klar, dass eine Währungsunion ohne eine politische Union aussichtlos und undemokratisch ist und zudem die Länder finanzwirtschaftlich fragil werden lässt. Von ihren Anfängen an sollte die Europäische Währungsunion durch eine parallele Entwicklung zu einer Europäischen Politischen Union begleitet werden. Der Mangel an Einheit, Solidarität und eines kollektiven Wir-Gefühls wurden als Haupthindernisse für eine weitere Integration erachtet. Heute jedoch ist Solidarität zu einer funktionalen Muss-Vorstellung geworden, und zwar in dem Sinne, dass eine Solidarität dringend benötigt wird, um die Krise der Eurozone zu bewältigen: Wenn alle für einen einstünden, wären alle besser dran. Beispielsweise würden die 161 https://doi.org/10.5771/9783495860526 .
Fraternité – der fehlende Imperativ der Integration
Kreditkosten für hochverschuldete Länder sinken, wenn die EZB erklären würde, sie übernähme die Verantwortung. Zudem scheint es durchaus angebracht zu sein, von der allmählichen Herausbildung eines europäischen Wir-Gefühls auszugehen, das sich auf Grundlage eines zunehmenden Anerkennens der Mitverantwortung für die düstere Situation in den von der Krise geschüttelten Ländern vollzieht. Die Vermittlung der fürchterlichen Auswirkungen der Sparmaßnahmen, das Aufzeigen, dass der Integrationsprozess Gewinner und Verlierer hervorgebracht hat, die Gefahr von Rückschlägen und die Unfähigkeit, zukünftige Katastrophen zu verhindern – all das sind Bestandteile eines Risikoszenarios, das zu verdeutlichen allein schon zu einem moralischen Lernprozess und zu einer grenzüberschreitenden Solidarität beitragen könnte. Und genau dieses ist dringend erforderlich, um Gefahren und Zufälle, d. h. Risiken, zu verhindern: Schäden, zu denen es möglicherweise zukünftig kommen könnte, und es die Notwendigkeit gibt, dass diese schon jetzt vorhergesehen und verhindert werden (Beck 2012). Eine solche Ungewissheit bedeutet ein Anwachsen von Risiken, gegen die man sich nicht wappnen oder versichern kann, und dieser Umstand ist eine nur allzu gut bekannte Erfahrung von ausgeschlossenen oder unterprivilegierten Gruppen. Aber wird der Protest dieser Gruppen einen europaweiten Widerhall finden und werden die Mächtigen und Entscheidungsträger in der Lage sein, auf vermeintliche Forderungen nach Solidarität hin zu handeln? Die politische Ordnung Europas stellt eine Struktur von Möglichkeiten dar, die offen ist für den Gebrauch wie den Missbrauch. Die große Frage ist letztlich, wie sich die Bilanz von Risiken und Möglichkeiten entwickeln wird (Giddens 2014: 14).
Integration und die Suche nach Führung Die Frage ist, ob eine Fiskalunion entstehen und eine Umverteilung stattfinden kann, ohne dass auf der europäischen Ebene starke Sanktionsmechanismen existieren, wie wir sie von den Staaten her kennen. Kurz gefasst, kann es eine Transferunion ohne einen Staat geben? Gewiss sind, um die Finanzmärkte und Steuerparadiese kontrollieren zu können, starke Institutionen vonnöten. Es wird weithin angenommen, dass ein Gewaltmonopol erforderlich ist, um Steuern zu erheben und eine Umverteilung durchzusetzen. Wie man so schön sagt, zahlt niemand freiwillig und erst recht nicht, wenn nicht jeder 162 https://doi.org/10.5771/9783495860526 .
Integration und die Suche nach Führung
den gleichen Betrag und die gleiche Leistung beisteuert. Majone (2013) zufolge liegt die Herausforderung darin, den Widerspruch der Eurozone aufzulösen. Dieses würde nun die Sanktions- und Solidaritätsressourcen eines Staates erfordern, müsste jedoch vor dem Hintergrund einer Konstruktion stattfinden, in der die Mitglieder weder souveräne Staaten noch Mitglieder einer Föderation sind. Nun gibt es, dem Tenor dieses Buchs zufolge, Anhaltspunkte dafür, dass weder ein sanktionsbewehrter Staat noch ein äußerer Feind oder eine kollektive Identität benötigt werden, um eine funktionstüchtige Fiskalunion aufzubauen. Für diese Annahme spricht Folgendes: Erstens waren Solidarität und eine europäische Identität fast immer Mangelware in Europa, was jedoch die EU nicht davon abgehalten hat, mit der Zeit an Größe und Kompetenz zuzunehmen. Die EU hat sich zu einer machtausübenden Entität entwickelt, in der die Verträge als Stellvertreter einer Verfassung dienen und politisch-repräsentative Institutionen existieren. Europäisches Recht wird in ganz Europa befolgt. Die EU hat ein Fundament, das einem Staat ähnelt und das ein Auslöser für egalitäre Gerechtigkeitsstandards sein könnte. Zweitens hat die Eurozone ihre Mitglieder zu einer Schicksalsgemeinschaft zusammengebracht, in der alle voneinander abhängig sind und in der einige von demselben Wirtschaftsregime profitieren, während andere unter ihm leiden. Es gibt also Gründe für Solidarität. Eine europäische Solidarität liegt nicht jenseits dessen, was uns Pflichten gebieten. Die Krise der Eurozone zu beheben, ist eine Sache der Gerechtigkeit geworden. Frieden und Gerechtigkeit haben die europäische Integration von Beginn an begleitet und könnten erneut die treibenden Faktoren werden. Drittens gibt es gewisse Anzeichen für eine Transferunion, da die EZB mehr und mehr als Notfall-Kreditgeber für Staaten einspringt und der Finanzsektor durch die langsame Schaffung einer Bankenunion stabilisiert wurde. Viertens ist eine Fiskalunion nicht länger mehr eine utopische Idee, da sie tatsächlich zu einer Strategie gemacht wurde, um die Krise lösen zu können. »Eine (gegenwärtig schrumpfende) Minderheit von EU-Enthusiasten unter den Eliten wie auch Nicht-Eliten hat so viele Jahre lang davon geträumt, den Integrationsprozess zu vertiefen, und plötzlich, unter dem Einfluss der Krise, wurde dies zum Fahrplan einer zwingend erforderlichen Rettungsaktion, die die Stär163 https://doi.org/10.5771/9783495860526 .
Fraternité – der fehlende Imperativ der Integration
kung der finanzpolitischen und ökonomischen Regulierungskapazitäten auf EU-Ebene zu einem klaren Imperativ hat werden lassen.« (Offe 2013: 599) Folglich bestehen also keine prinzipiellen Hindernisse für eine weitergehende Integration. Die Normativität der konstitutionellen Demokratie, die bis dato den vorangegangenen Integrationsschritten – den Verfahren und kollektiven Entscheidungsprozessen der Union – Legitimität verliehen hat, könnte auch den Weg für eine verstärkte Integration ebnen. Eine weitergehende Integration hängt nach wie vor vom Willen und Vermögen der Mitgliedsstaaten ab, diese herbeizuführen. Die nötigen Maßnahmen erfordern Führung, Willen und Kompetenz und ohne eine Mobilisierung der Bevölkerungen wird nichts passieren. Die Dringlichkeit der Angelegenheit, die düstere ökonomische, soziale und politische Lage in vielen Ländern verlangen nach Sofortmaßnahmen, um eine Fiskalunion auf einer verfassungsrechtlichen Grundlage zu schaffen. Während Kant in seiner Grundlegung der Metaphysik der Sitten als ›Veto‹ der praktischen Vernunft festhält, ›es soll kein Krieg sein‹, könnte man heute sagen, der gleiche Grund schreibe uns die Integration vor. Eine weitergehende Integration ist ein kategorischer Imperativ. In der vorliegenden Abhandlung habe ich die Imperative der europäischen Integration rekonstruiert. Dies ist nicht das Gleiche wie eine kausale Erklärung des Integrationsprozesses. Was Letztere betrifft, erinnert uns das vorliegende Buch an die Bedeutung von Führung und Entschlossenheit, auf die der Integrationsprozess die meiste Zeit über angewiesen war. So behauptet Craig Parsons etwa, die französische Regierung sei maßgeblich für die Form, die die EU in ihren Entwicklungsjahren angenommen hat, verantwortlich. Wegen der Franzosen wurde das Modell einer Gemeinschaft und keine intergouvernementale Lösung gewählt. Wäre das Letztere ausgesucht worden, dann würde Europa in den internationalen Beziehungen nicht die Ausnahme, sondern die Regel darstellen, derzufolge »die Mitgliedsstaaten Probleme immer noch durch diplomatische Mittel lösen müssten.« (Parsons 2002: 48) Mit anderen Worten, wenn nicht die Franzosen in den 1950er Jahren insistiert und ihre Auffassung durchgesetzt hätten, dann gäbe es in Europa keine supranationale Gemeinschaft, sondern ein intergouvernementales Arrangement. Die Zwietracht, die heute aufgrund der Krise und dem Fehlen einer einflussreichen und kompetenten politischen Union gedeiht, wäre die normale Situation. Heute jedoch ist eine intergouvernementale 164 https://doi.org/10.5771/9783495860526 .
Integration und die Suche nach Führung
Machtpolitik in Europa abnormal geworden. Dies erinnert trefflich an Max Webers Einsicht, die Ideen der Führungspersonen seien sowohl ein autonomer Kausalfaktor, die aus einer Reihe von strukturellen Optionen eine Wahl treffen, als auch ein entscheidender Handlungsfaktor. Man sollte nicht vergessen, dass ohne Konrad Adenauers Beharrlichkeit der Schuman-Plan nie verwirklicht worden wäre (Milward 1984: 390; Rittberger 2005: 91; Adenauer 1955). Wenn die Würfel gefallen sind, mag gehandelt werden, hoffentlich nicht zu spät. Und hier sei nochmals an Jean Monnets Gesetz erinnert: »Der Mensch akzeptiert Veränderungen nur unter dem Druck der Notwendigkeit, welche er aber erst im Krisenfall erkennt« (Jean Monnet 1979: 109).
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