Die demokratische Legitimation der Europäischen Union: Eine Analyse der These vom Demokratiedefizit der Europäischen Union aus gemeineuropäischer Verfassungsperspektive [1 ed.] 9783428483075, 9783428083077


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German Pages 161 Year 1995

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Die demokratische Legitimation der Europäischen Union: Eine Analyse der These vom Demokratiedefizit der Europäischen Union aus gemeineuropäischer Verfassungsperspektive [1 ed.]
 9783428483075, 9783428083077

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WINFRIED KLUTH

Die demokratische Legitimation der Europäischen Union

Schriften zum Europäischen Recht Herausgegeben von

Siegfried Magiera und Detlef Merten

Band 21

Die demokratische Legitimation der Europäischen Union Eine Analyse der These vom Demokratiedefizit der Europäischen Union aus gemeineuropäischer Verfassungsperspektive

Von Dr. Winfried Kluth

Duncker & Humblot · Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Kluth, Winfried: Die demokratische Legitimation der Europäischen Union : eine Analyse der These vom Demokratiedefizit der Europäischen Union aus gemeineuropäischer Verfassungsperspektive I von Winfried Kluth. - Berlin : Duncker und Humblot, 1995 (Schriften zum europäischen Recht ; Bd. 21) ISBN 3-428-08307-5 NE:GT

Alle Rechte vorbehalten

© 1995 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Fotoprint: Color-Druck Dorfi GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0937-6305 ISBN 3-428-08307-5

Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier gemäß der ANSI-Norm für Bibliotheken

Vorwort Die vorliegende Untersuchung, hervorgegangen aus einem Vortrag vor der Juristischen Fakultät der Universität zu Köln, unternimmt den Versuch, die in den letzten Jahren weit verbreitete These vom Demokratiedefizit der Europäischen Union einer kritischen Analyse zu unterziehen und zu entkräften. Sie arbeitet zugleich die konstitutiven Merkmale und Eigenarten der Verwirklichung des Demokratieprinzips in der Europäischen Union heraus und liefert damit einen Beitrag zur andauernden Verfassungsdiskussion der Europäischen Union. Dazu bedient sie sich einer Vorgehensweise, die sowohl dogmen- und ideengeschichtliche als auch verfassungsrechtsvergleichende Momente aufgreift. Daß dabei nicht alle Feinheiten ausgeleuchtet werden konnten und insbesondere der Rückgriff auf die wissenschaftliche Diskussion in anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union nur punktuell erfolgen konnte, war durch den begrenzten zeitlichen Rahmen, der für die Erstellung der Arbeit zur Verfügung stand, bedingt. Der Dank des Verfassers gilt zunächst Professor Karl Heinrich Friauf, der den nötigen Freiraum für die Durchführung des Vorhabens gewährte, sowie den Professoren Magiera, Merten und Sirnon für die Aufnahme der Arbeit in die Schriften zum Europäischen Recht. Sebastian Jochern hat den fertigen Text kritisch gelesen und zahlreiche Anregungen gegeben. Die Übersetzungen der Zusammenfassung besorgten Darnon Davison, Professor Jose Esteve Pardo, Ralf Magagnoli, Albert Meintrup und lna Maria Pernice. Mein Vater unterzog sich der Mühe des Korrekturlesens. Ihnen allen gebührt herzlicher Dank. Köln, den 15. September 1994

Winfried Kluth

Inhaltsverzeichnis I. Die These vom DemokratiedefiZit der Europäischen Union

11

II. Die Entwicklung der Diskussion bis zum Unions·Vertrag

17

. 17 Die Bestandsaufnahme in großen Lehrbüchern in den siebziger Jahren .. 21 Der Verfassungsentwurf des Europäischen Parlaments vom 14.02.1984 ..22 Die Grundrechtsdebatte der achtziger Jahre . . . . . . . . . . . . . . . .23 Die Maastricht-Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 Die Urteile des spanischen und des französischen Verfassungsgerichts .. 27 Weiterer Gang der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .28

1. Die Gründungsphase . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

2. 3. 4. 5. 6. 7.

111. Verwirklichungsbedingungen der Demokratie als einer formalen Herrschaftsordnung

30

1. Gemeinsame Grundlagen moderner Demokratiekonzeptionen . . . . . . 30 2. Demokratie, Volk und Volkssouveränität . . . . . . . . . . . . . . . . .33 3. Ideengeschichtliche Einordnung der Lehre von der Volkssouveränität . . 37 4. Voraussetzungen demokratischer Legitimationsprozesse . . . . . . . . . 39 a) Das Volk als responsiver Akteur im politischen Prozeß . . . . . . .. 39 b) Rechtlich-formale Bedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .40 c) Inhaltliche Repräsentation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .41 5. Der Unionsbürger als Legitimationssubjekt der Europäischen Union . . . 42

IV. Analyse der Voraussetzungen demokratischer Legitimation in der Europäischen Union

44

1. Übersicht zum Problem- und Meinungsstand . . . . . . . . . . . . . . . 44 2. Die Europäische Union als Herrschaftsordnung . . . . . . . . . . . . . 45 3. Die Voraussetzungen inhaltlicher Repräsentation auf der Gemeinschaftsebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 a) Sozio-kulturelle Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .50 (1) Bestimmung des Anforderungsniveaus . . . . . . . . . . . . . . .50 (2) Feststellbare Homogenität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56

8

Inhaltsverzeichnis

(a) Wirtschaftsordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 (b) Politische Ordnung . . . . . . . ~ . . . . . . . . . . . . . . .57 (c) Kulturelle Ordnung . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . .. .59 (d) Bilanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 60 b) Politisch-institutionelle Voraussetzungen .. . . . . . . . . . . . . . 60 (1) Die Einwände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 (2) Bedingungen für die Entwicklung einer Repräsentationsstruktur .. 61 (3) Europäische politische Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . 62 (a) Die Medien . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 (b) Die Parteien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 (c) Inkurs: Der neue Art. 138a EGV .. . . . . . . . . . . . . . . 63 (4) Bewertung der politisch-institutionellen Entwicklung . . . . . . . .65 4. Demokratie ohne Volk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66

V. Verankerung und Verwirklichung des Demokratieprinzips im Gemeinschaftsrecht

67

1. Verankerung in der Präambel des Unionsvertrages . . . . . . . . . .. . 67 2. Einzelne Entfaltungen im EGV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .69 a) Wahl des Europäischen Parlaments . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 b) Rechtsetzungsbefugnisse des Europäischen Parlaments . . . . . . . . 71 (1) Das Kodezisionsverfahren nach Art. 189b EGV . . . . . . . . . . 71 (2) Die Zustimmung des Europäischen Parlaments . . . . . . . . . . .73 (3) Das Verfahren der Zusammenarbeit nach Art. 189c EGV . . . . . .73 (4) Die Anhörung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 (5) Das Vorschlagsrecht gern. Art. 138b EGV . . . . . . . . . . . . . 76 c) Ernennung und Kontrolle der Kommission . . . . . . . . . . . . . . .76 d) Weitere Kontrollbefugnisse des Europäischen Parlaments .. . . . . . 77 e) Verwirklichung des Typus "parlamentarisches Regierungssystem" . . .78 3. Mittelbare demokratische Legitimation der Union durch die im Rat vereinigten Vertreter der Mitgliedstaaten? . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 a) Die Organstellung des Rates im Schnittkreis von Gemeinschaftsrecht und mitgliedstaatlichem Verfassungsrecht . . . . . . . . . . . . . .. 79 b) Bindung der Staatenvertreter an Grundrechte der nationalen Verfassungen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 c) Die Reichweite der mitgliedstaatliehen demokratischen Legitimation des Handeins der Regierungsvertreter im Rat . . . . . . . . . . . . 82 d) Möglichkeit einer plural-territorialen demokratischen Legitimation auf Unionsebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .83 (1) Der Befund in den Verfassungen der Mitgliedstaaten . . . . . . . .83 (a) Die Stellung des Bundesrates im Grundgesetz . . . . . . . . . 83

Inhaltsverzeichnis

9

(b) Die regionalen Repräsentationsorgane in den Verfassungen anderer Mitgliedstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . .85 (2) Übertragbarkeit als allgemeiner Rechtsgrundsatz in das Gemeinschaftsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 (3) Einzelheiten des Legitimationsmodus: Bestellung und Rückkopplung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 4. Die doppelte Legitimationsbasis der Europäischen Union . . . . . . .87

VI. Das Legitimationsniveau in der Europäischen Union

88

1. Anknüpfungspunkte zur nonnativen Bestimmung des Legitimations-

niveaus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .88 2. Das parlamentarische Regierungssystem als Maßstab demokratischer Legitimation der Europäischen Union . . . . . . . . . . . . . . . . 90 a) Die Verwirklichung des Typus des parlamentarischen Regierungssystems in den Verfassungen der Mitgliedstaaten . . . . . . . . . 90 b) Vergleich mit den institutionellen Regelungen des EGV . . 93 3. Offenheit für eine komplexe gemischte Verfassung . . . . . . . . . . . . 95

VII. Ausblick auf weitere Aspekte der Verfassungsdiskussion in der Europäischen Union

97

1. Die Achtung der Kompetenzen der Mitgliedstaaten . . . . . . . . . . . .97 2. Zur Qualität des Gemeinschaftsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 3. Der Verfassungsentwurf vom 14. Februar 1994 . . . . . . . . . . . . . 101 a) Entstehungsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 b) Grundkonzeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .1 02 c) Institutionelle Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .1 04 d) Bewertung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .105

VIII. Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse

107

IX.Summary

112

X. Resume

116

XI. Riassunto

120

Xß. Resomen

123

Anhang: Entwurf einer Verfassung der Europäischen Union

127

Literaturverzeichnis

149

Sachregister

158

I. Die These vom Demokratiedertzit der Europäischen Union "Demokratie ist wie kaum ein anderer Begriff der politischen Theorie zum Signalwort für positive Wertungen in der Sprache der Politik geworden. Aber auch kaum ein anderer politischer Begriff schillert so sehr in seinen Bedeutungen und dient so viel weniger der Verständigung als der Auseinandersetzung. Im politischen Kontext sind «demokratisch» und «undemokratisch» Chiffren der Zustimmung und Ablehnung, gleich brauchbar als Feldzeichen der Angreifer wie der Verteidiger beliebiger Positionen." 1 Diese Charakterisierung des Demokratieprinzips durch den Politikwissenschaftler Fritz Scharpf hat sich im Streit um den Vertrag über die Europäische Union2, auch Maastrichter Vertrag genannt, wieder einmal als zutreffend erwiesen. Befürworter und Gegner der Integration bemängelten ein Demokratiedefizit der Europäischen Union3, leiteten daraus jedoch gegensätzliche Schlußfolgerungen ab. Während den einen die Übertragung von Rechtsetzungsbefugnissen auf das Europäische Parlament nicht weit genug ging, und sie deshalb das deutsche Zustimmungsgesetz zum Unions-Vertrag für verfassungswidrig hielten, ging den anderen schon die im Unions-Vertrag vorgesehene Übertragung weiterer Zuständigkeiten auf die Europäische Union und das Europäische Parlament zu weit. Die Europäische Union sei zu einer eigenständigen demokratischen Legitimation gar nicht imstande; ihr fehlten die Eigenschaften eines "melting pot of nations", ohne den es kein europäisches Volk als Subjekt demokratischer Legitimation der Unionsgewalt geben könne.4 Der Unions-Vertrag erzeuge eine übermäch-

I Scharpf, Demokratietheorie zwischen Utopie und Anpassung, S. 8. Zur Vieldeutigkeit des Demokratiebegriffs vgl. auch Stern, Staatsrecht, Bd. I,§ 18 13. 2 Vertrag vom 7.2.1992 (Text u.a. Bulletin der Bundesregierung Nr. 16 v. 12.2.1992., S. 113). 3 Anders z.B. Kommissionspräsident Delors, Entwicklungsperspektiven der Europäischen Gemeinschaft, S. I (9) dessen Stellungnahmeaufgrund seines Amtes aber wenig Gehör fand. Von einer ausreichenden demokratischer Legitimation ausgehend auch lsensee, Europa - die politische Erfindung eines Erdteils, S. 103 (133). 4 So etwa Ossenbüh/, DVBI. 1993, S. 629 (634) unter Hinweis auf eine Stellungnahme vom Fritz Scharpf vor der Gemeinsamen Verfassungskommission. Ebenso Grimm, in: Der Spiegel Nr. 43/1992, S. 57 f. ; Philipp, ZRP 1992, S. 433 (437); Klein, EuR 22 (1987), S. 97 (102 ff.); Rupp, ZRP 1990, S. I (3); Scharpf, in: Staatswissenschaften und Staatspraxis, 3 (1992), S. 293 (295 ff.).

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I. Die These vom Demokratiedefizit der Europäischen Union

tige Exekutiv-Rechtsetzung5, die weder mit dem Grundsatz der Gewaltenteilung noch mit dem Demokratieprinzip vereinbar sei. 6 Aus dem Blickwinkel des Grundgesetzes führe dies zu einer Aushöhlung demokratisch legitimierter Staatlichkeit, wie sie durch Art. 79 Abs. 3 GG gewährleistet werde. Der Unions-Vertrag bedürfe deshalb der Zustimmung des Volkes, das alleine eine Verfassungsänderung dieser Reichweite legitimieren könne. 7 Das Demokratiedefizit der Europäischen Union wird in der Literatur als GeburtsfehlerS, als skandalös9 und als kaum lösbares Dilemma!O bezeichnet. Zu seinem Nachweis - wenn er überhaupt für erforderlich gehalten wird 11 -, verweist man selten 12 auf das Gemeinschaftsrecht, häufig aber auf das mitgliedstaatliche Verfassungsrecht oder allgemeine Rechtsüberzeugungen. Sich dieser Einschätzung zu widersetzen erscheint als undemokratisch und führt zu dem Verdacht, einem verhängnisvollen bürokratischen Eurozentralismus den Weg zu bereiten 13 . Läßt man diese eher plakativen Kennzeichnungen hinter sich und wendet sich den in der These vom Demokratiedefizit implizit formulierten Sachfragen zu, so erweist sich, daß es dabei in der Tat nicht um eine Marginalie oder ein Moment bloßer politischer Rhetorik geht, sondern um Grundfragen der Verfassungsordnung und Überlebensfähigkeit des Prozesses der europäischen Integration in der Europäischen Union. Um dies zu verdeutlichen, bedarf es 5 Zu Begriff und Rechtfertigung vgL /psen, Exekutiv-Rechtsetzung, passim. 6 Die Verfassungswidrigkeit des Zustimmungsgesetzes des Deutschen Bundestages zum Unions-Vertrag wurde in mehreren Verfassungsbeschwerdeverfahren geltend gemacht. Über zwei von ihnen entschied der Zweite Senat des BVerfG durch Urteil vom 12.10.1993, 2 BvR 2134/92 und 2159/92, BVerfGE 89, 155 ff.; weiter: EuGRZ 1993, S. 429 ff. (voller Wortlaut); ZIP 1993, S. 1636 ff. (voller Wortlaut); JZ 1993, S. 1100 ff.; NJW 1993, S. 3047 ff. Dazu Anmerkungen von Bleckmann/Pieper, RIW 1993, S. 970 ff.; Götz, JZ 1993, S. 1081 ff.; Häde, BB 1993, S. 2457 ff.; Lenz, NJW 1993, S. 3038 f.; Tomuschat, EuGRZ 1993, S. 489 ff.; lpsen, EuR 29 (1994), S. I ff. 7 So die Beschwerdeführer zu I. und 2 im Maastricht-Verfahren vor dem BVerfG, vgl. BVerfGE 89, 155 (169 f.). VgL in diesem Sinne Huber, Maastricht- ein Staatsstreich?, S. 32 ff.; Streinz, DVBL 1990, S. 949 (957 ff.); Scllilchtschneider, Die Europäische Union und die Verfassung der Deutschen, S. 3 ff. Früher schon Badura, in: VVDStRL 23 (1966), S. 34 (72 ff.). 8 So Ress, Parlamentarische Legitimierung, S. 625. 9 So Stau.lfenberg, in: 59. Deutscher Juristentag Hannover 1992, Sitzungsbericht T, S. 33. 10 So Klein, in: VVDStRL 50 (1991), S. 56 (75). 11 Zumeist wird offenbar von der Evidenz des Demokratiedefizits ausgegangen; vgl. etwa Streinz. Europarecht, Rdnr. 281; von Münch, Staatsrecht Bd. I, Rdnr. 972. Ausführlich dagegen Ress, Parlamentarische Legitimierung, S. 628 ff. 12 Ausreichend differenzierend insoweit nur Ress, Parlamentarische Legitimierung, der zwischen gemeinschaftsrechtlichen und verfassungsrechtlichen Pflichten zur Beseitigung des von ihm konstatierten Demokratiedefizits unterscheidet. 13 Vgl. von Senger zu Etter/in, Das Europa derEurokraten, S. 16 ff.

I. Die These vom Demokratiedefizit der Europäischen Union

13

emer Offenlegung der verschiedenen Argumentationsebenen, die durch die These vom Demokratiedefizit angesprochen werden, ohne daß dies im Einzelbeitrag immer deutlich wird. Dabei ist auf die ambivalente Verwendung der These pro und contra Integration Rücksicht zu nehmen. Wenn Befürworter der Integration die These vom Demokratiedefizit formulieren, geht es vorrangig um eine normative, auf institutionelle Reform abzielende Kritik. Sie geht aus vom ßild eines demokratischen Legitimationsprozesses, wie er in den Mitgliedstaaten verwirklicht ist und dessen zentraler Bezugspunkt in der Existenz eines das "Volk" repräsentierenden Parlamentes gesehen wird, das mit umfassender Rechtsetzungsbefugnis sowie Regierungseinsetzung und -kontrolle betraut ist.14 Je nachdem, ob man einen entsprechenden Wandel der institutionellen Struktur der Union bereits aktuell für gemeinschaftsrechtlich geboten oder nur für wünschenswert hält, bewegt sich die Argumentation auf der normativ-rechtlichen oder rechtspolitischen Ebene. Die in der deutschen staatsrechtlichen Diskussion - jedenfalls bis zum Maastricht-Urteil des Bundesverfassungsgerichts - dominierende kritische Variante der These vom Demokratiedefizit zielt auf eine tieferliegende Schicht ab. Ihr geht es - verfassungspolitisch - in erster Linie um eine Verhinderung weiterer Integrationsschritte und eine Bewahrung deutscher Staatlichkeit.15 Sie erstrebt deshalb eine Verfestigung der derzeitigen institutionellen Ordnung, weil nach ihrer Einschätzung in der Europäischen Union die Voraussetzungen für die Entfaltung einer originären demokratischen Legitimation auf der Unionsebene nicht gegeben sind und es deshalb bei einer von den Mitgliedstaaten beherrschten supranationalen Organisation bleiben müsse, deren Kompetenzen im Verhältnis zu den Mitgliedstaaten überdies stärker als bislang zu beschränken seien. Diese Argumentation stützt sich vor allem auf soziale Tatsachen bzw. deren Interpretation: das Fehlen einer einheitlichen politischen Kultur und Kommunikation, der mangelhaften Entwicklung eines europäischen Parteiensystems und damit einer für inhaltliche Repräsentationsprozesse kaum ausreichenden sozialen Homogenität. Sie sieht deshalb die Europäische Union als ein nach wie vor zu disparates soziales und politisches Gebilde, in dem das

14 So z.B. Ress, Parlamentarische Legitimierung, S. 636. In diese Richtung weisen auch die Verfassungsentwürfe des Europäischen Parlaments vom 14.02.1984 und von dessen Institutionellem Ausschuß vom 14.02.1994. 15 Vgl. z.B. Kircllhof, EuR 26 (1991) Beiheft 1, S. 11 ff.; Stöcker, Der Staat 31 (1992), S. 495 ff.; Herdegen, EuGRZ 1992, S. 589 ff.

14

L Die These vom Demokratiedefizit der Europäischen Union

für die Demokratie unverzichtbare Mehrheitsprinzip noch nicht zur Anwendung gelangen könne. Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Maastricht-Urteil die normativen Ansatzpunkte und auch die strukturellen Einschätzungen der Beschwerdeführer akzeptiert. Es geht mit ihnen davon aus, daß auf der Ebene der Europäischen Union derzeit die Voraussetzungen für eine vollwertige demokratische Eigenlegitimation noch nicht gegeben sind.l6 Zugleich betont es, daß auch in einer supranationalen Gemeinschaft demokratische Legitimation vonnöten ist. I? Es sieht jedoch, anders als die Beschwerdeführer, in der indirekten demokratischen Legitimation des Rates eine ausreichende demokratische Legitimationsbasis und hält überdies die durch den Unions-Vertrag zusätzlich übertragenen Kompetenzen nicht für so gewichtig, daß von einer Gefährdung der Staatlichkeil der Bundesrepublik gesprochen oder eine solche ernsthaft befürchtet werden müsse.l8 Die Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts haben den Streit beendet, und der Unions-Vertrag ist in Kraft getreten.19 Die angesprochenen Fragen sind indes durch die knappen Ausführungen im Urteil weder erschöpfend noch befriedigend beantwortet. Vielmehr begnügt sich das Bundesverfassungsgericht mit einigen Pinselstrichen, Andeutungen und Autoritätszitaten und sucht selbst einen Ausweg in der dynamischen Betrachtungsweise: "Entscheidend ist somit sowohl aus vertraglicher als auch aus verfassungsrechtlicher Sicht, daß die demokratischen Grundlagen der Union schritthaltend mit der Integration ausgebaut werden und auch im Fortgang der Integration in den Mitgliedstaaten eine lebendige Demokratie erhalten bleibt."20 Dabei wird nicht geklärt, welche normativen und materialen Anforderungen an die institutionelle Ordnung der Europäischen Union aus dem Demokratieprinzip abzuleiten sind und in welchen Bahnen eine künftige stärkere Demokratisierung zu verlaufen hat. Das gilt vor allem für die Frage, ob eine Verlagerung der Rechtsetzungszuständigkeit auf das Europäische Parlament zulässig oder gar geboten erscheint. Eine solche Zurückhaltung kann dem Gericht nicht zum Vorwurf gemacht werden. Es hatte

16 BVerfGE 89, 155 (184 f.) Es ist aber zu beachten, daß das BVerfG diese Einschätzung auf 186 relativiert. 17 BVerfGE 89, ISS (182). 18 BVerfGE 89, ISS (188 ff.). l9 In Kraft getreten am 1.11.1993; deutsches Zustimmungsgesetz v. 28.12.1992, BGBI. I, s. 12S1 ff.

S.

20 BVerfGE 89, ISS (213) Schlußsatz der Entscheidung.

I. Die These vom Demokratiedefizit der Europäischen Union

15

nicht über die Zukunft zu entscheiden und deshalb gut daran getan, sich nicht voreilig festzulegen. Die Auseinandersetzung mit der These vom Demokratiedefizit kann indes an diesen Fragen nicht vorbeigehen, muß sich ihnen in allen ihren Nuancierungen und Varianten stellen, um den künftigen Verlauf der Verfassungsdiskussion, der durch den neuen Verfassungsentwurf des Institutionellen Ausschusses des Europäischen Parlaments vom 14.02.199421 neu angefacht worden ist, vorzubereiten. Eine diesem Anliegen verpflichtete Analyse der These vom Demokratiedefizit muß sowohl die Möglichkeit einer originären demokratischen Legitimation der Europäischen Union, als auch die Reichweite ihrer normativen Umsetzung durch das geltende institutionelle Recht untersuchen. Dabei gebührt den Einwänden, die eine demokratische Legitimation aufgrund der gegenwärtigen sozialen, strukturellen und kulturellen Voraussetzungen für nicht realisierbar halten, der sachliche und logische Vorrang. Nur unter der Voraussetzung, daß ein demokratischer Legitimationsprozeß auf der Ebene der Union überhaupt möglich ist, kann die Frage nach dem Niveau seiner normativen und institutionellen Ausgestaltung sinnvoll gestellt und beantwortet werden. Für den Charakter der Untersuchung hat dies zur Folge, daß sie sich nicht auf eine rein normative Analyse beschränken kann, sondern sich zunächst mit den vorrechtlichen Bedingungen demokratischer Legitimation auseinandersetzen muß, mit der Frage also, von welchen sozialen, kulturellen und strukturellen Bedingungen Demokratie abhängt und ob diese auf der Ebene der Europäischen Union derzeit erfüllt sind bzw. in absehbarer Zeit erfüllt werden können. Dieser Fragestellung sind der dritte und vierte Teil der Arbeit gewidmet. Unter der Voraussetzung ihrer positiven Beantwortung - die sich in der Erstreckung der Untersuchung auf diesen Bereich bereits hier andeutet - ist sodann im Wege einer rechtlich-normativen Analyse der Frage nachzugehen, in welcher Weise das Demokratieprinzip im Recht der Europäischen Union verankert und institutionell verwirklicht ist sowie der damit verbundenen Frage, welches Legitimationsniveau dabei erreicht wird. Diese Gesichtspunkte stehen im fünften und sechsten Teil der Arbeit im Mittelpunkt. Sie sind methodisch dadurch gekennzeichnet, daß hier der Versuch unternommen wird, sie aus einer rechtsvergleichenden, gemeineuropäischen Verfassungsperspektive22 heraus zu beantworten, also unter Rückgriff auf das Verfassungsrecht der Mitgliedstaaten der Union. Dieser für das sekundäre Gemeinschaftsrecht bereits gängige Ansatz ist im Bereich des primären Gemeinschaftsrechts bislang nur für die Grundrechte 21 Abgedruckt im Anhang. 22 Zu Begriffund Konzept: Häberle, EuGRZ 1991, S. 261 ff.

16

I. Die These vom Demokratiedefizit der Europäischen Union

fruchtbar gernacht worden, während er im Bereich der Diskussion um das institutionelle Recht noch wenig Beachtung gefunden hat. Die Untersuchung widmet sich zur Abrundung und besseren Einordnung der Diskussion über die demokratische Legitimation der Europäischen Union im siebten Teil schließlich in einer knappen tour d'horizon weiteren Aspekten der Verfassungsdiskussion zu. Dabei soll der Blick auf eine Reihe von Themen gelenkt werden, die auf den ersten Blick in keinem direkten Verhältnis zur Frage der demokratischen Legitimation der Union stehen, in der rechtlichen und politischen Diskussion aber häufig damit verknüpft werden. In diesem Zusammenhang soll auch der vorn Institutionellen Ausschuß des Europäischen Parlaments am 10. Februar 1994 vorgelegte Entwurf für eine Verfassung der Europäischen Union im Lichte der Ergebnisse der Untersuchung gewürdigt werden. Zunächst soll jedoch im anschließenden zweiten Teil ein knapper Rückblick auf die Entwicklung der Diskussion von den Anfangen der Integrationsbewegung bis zum Maastricht-Urteil des Bundesverfassungsgerichts vorangestellt und damit zugleich die zeitliche Dimension der Thematik in groben Umrissen eingefangen werden.

II. Die Entwicklung der Diskussion bis zum Unions-Vertrag

1. Die Gründungsphase Die Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft erfolgte, wie vorher bereits die Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl, im hergebrachten Geiste einer internationalen Organisation: als Akt der Gründungsstaaten, die nicht nur die Herren der Verträge waren, sondern überdies die Gemeinschaft wie eine Anstalt steuerten. Zweifelsohne verfolgte man von Beginn an weiterreichende politische Ziele, doch schlugen diese sich zunächst nicht in der institutionellen Ordnung und im rechtlichen Verständnis der EWG nieder. Dies verdeutlicht exemplarisch eine Bestandsaufnahme von Karl Heinrich Friauf aus dem Jahre 1964 zur "Problematik rechtsstaatlicher und demokratischer Strukturelemente in zwischenstaatlichen Gemeinschaften". I Ausgehend von einer völkerrechtlichen Betrachtungsweise gelangt Friauf in einem ersten Schritt zu dem Schluß, daß Rechtsstaatlichkeil und Demokratie auf der Grundlage des Völkerrechts nicht zu den Vorgaben für die institutionelle Gestaltung zwischenstaatlicher Gemeinschaften gerechnet werden können. Solche Vorgaben seien nur ausgehend vom nationalen Verfassungsrecht zu entwickeln.2 Das deutsche Grundgesetz sei den Gefahren der Verfassungsdurchbrechung durch die auswärtige Gewalt mit der Entwicklung von zwei Schutzmechanismen begegnet. Zum einen durch die Notwendigkeit der Transformation von völkerrechtlichen Verpflichtungen in das nationale Recht und zum anderen mit der Begründung der Zuständigkeit des Parlaments zum völkerrechtlich verbindlichen Vertragsabschluß. Auf diese Weise sei eine Überprüfung der völkerrechtlich einzugehenden Pflichten am Maßstab des nationalen Verfassungsrechts sowie ihre demokratische Legitimation abgesichert worden.3

I DVBI. 1964,781 ff. Vgl. auchAchterberg,EuR3 (1968), S. 240ff. 2 Friauf, DVBI. 1964, S. 781 f. 3 Friauf, DVBI. 1964, S. 781 (782). 2 Kluth

18

II. Die Entwicklung der Diskussion bis zum Unions-Vertrag

Im Falle der Übertragung von Hoheitsrechten auf eine supranationale Gemeinschaft wie der EWG komme es jedoch zu einer Überspielung dieser Sicherungsmechanismen, da diese zu Rechtsetzungsakten befugt sei, die ohne nationale Transformation in den Mitgliedstaaten wirken. Auch sei die Mitwirkung des Parlaments auf den Gründungsakt beschränkt und erfasse nicht die weiteren Rechtsetzungsaktivitäten. Die Regierungskontrolle durch die nationalen Parlamente sei zu schwach, um dem Handeln des Ministerrates echte demokratische Legitimation zu vermitteln. Da der Ministerrat als Exekutivorgan einzustufen sei, komme es zu einer Entmachtung der nationalen Parlamente und einer Umgehung der herkömmlichen parlamentarisch-demokratischen Sicherung der auswärtigen Gewalt. 4 Es stelle sich deshalb die Frage, ob ausgehend von den nationalen Verfassungen bestimmte Anforderungen an die institutionelle Struktur der EWG gestellt werden müßten, die diesen Mangel ausgleichen können. Einer solchen Folgerung steht, nach Ansicht von Friauf, auf den ersten Blick die im Kern zutreffende Lehre von der originären Entstehung der Gemeinschaftsgewalt entgegen. Dabei sei aber zu bedenken, daß der EWG trotz ihrer eigenen Rechtsetzungsmacht kein "eigenständiges Sein im substantiellen Sinne" zukomme. Das zeige sich insbesondere daran, daß man nicht versucht habe, die EWG auf der Basis eines "europäischen Volkes" zu legitimieren.s Die Gemeinschaft sei deshalb nach wie vor zu ihrer Legitimation und zur Sicherung ihrer Effektivität auf die Staatsgewalt der Mitgliedstaaten angewiesen. Das bedeute aber, daß sie zugleich deren elementare Strukturerfordernisse respektieren müsse. Dabei könne der einzelne Staat zwar keine Reproduktion seiner eigenen Ordnung erwarten. Wohl aber müsse verlangt werden, daß bestimmte Wertungen "im Ergebnis" Beachtung finden.6 Die EWG stelle nämlich keine herkömmliche internationale Organisation dar. Sie nehme vielmehr im Unterschied zu diesen staatliche Befugnisse kraft übertragener Hoheitsgewalt wahr und unterliege deshalb, wenn auch abgeschwächt, gleichartigen Legitimationsanforderungen. Das materiale Ausmaß der Legitimation müsse dabei dem Ausmaß der eingeräumten Hoheitsbefugnisse korrespondieren. 7

4 Friauf, DVBI. 1964, S. 781 (783). 5 Friauf, DVBI. 1964, S. 781 (786). 6 Friauf, DVBI. 1964, S. 781 (787). Vgl. zu diesem Aspekt auch Tomuschat, in: Dolzer (Hrsg.), Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Art. 24 Rdnr. 56 (Zweitbearbeitung 1981). Neuerdings Zuleeg, NJW 1994, S. 545 (548). 7 Friauf, DVBI. 1964, S. 781 (787).

I. Die Gründungsphase

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Diese Gedanken, die sich in ihren Grundzügen dreißig Jahre später im Maastricht-Urteil des Bundesverfassungsgerichts8 wiederfinden, markieren den Auftakt für einen Umdenkungs- und Entwicklungsprozeß zur Erfassung der dogmatischen und institutionellen Eigenart der Europäischen Gemeinschaften. 9 Indes kam die in den 60er Jahren angestoßene Diskussion in den späten sechziger und in den siebziger Jahren durch die Schwierigkeiten im Fortgang der Integration zum Erliegen.IO Insbesondere die Luxemburger Beschlüsse II führten dazu, die Europäischen Gemeinschaften vorübergehend noch stärker aus dem Blickwinkel eines nationalen Interessenarrangements denn als eigenständig wirkende Institutionen zu erfahren und zu begreifen. Zudem bildete sich das Europarecht als eigene Rechtsmaterie heraus mit der Folge, daß die Bezüge zum Staatsrecht und seinen Strukturprinzipien in den Hintergrund traten und vor allem das Bemühen dominierte, die dynamische, integrative Ordnung der EWG durch neue Begriffe (Zweckverband etc.) und Denkmuster zu umschreiben. Die Entwicklung der wissenschaftlichen Diskussion spiegelt sich andeutungsweise auch in einer Reihe einschlägiger Judikate deutscher Gerichte wieder. Den sensiblen Auftakt bildete im Jahre 1963 ein Urteil des Finanzgerichts Rheinland-Pfalz, das - in verblüffender Übereinstimmung mit den jetzt gegen den Unions-Vertrag vorgebrachten Rügen12- zu dem Ergebnis gelangte, der Bundesgesetzgeber verletze Art. 79 Abs. 3 GG, wenn er einer Exekutivbehörde (gemeint war der EWG-Ministerrat) gestatte, Gesetze zu erlassen.13 Das Gericht fand damit weder in Rechtsprechung noch Literatur Gefolgschaft und sicher fehlte es hier am rechten Gespür für die qualitative Reichweite der institutionellen Anforderungen, die sich aus Art. 79 Abs. 3 GG ableiten lassen.14 Doch darf dabei nicht vergessen werden, daß damit ein verfassungsrechtlicher Ansatz formuliert wurde, zu dem das Bundesverfassungsgericht sich - freilich bei Zugrundelegung anderer Maßstäbe - auch im Maastricht-Urteil bekennt.

8 Vgl. etwa BVerfGE 89, 155 (172, 179, 182 u.a.). Auch Art. 23 Abs. I GG n.F. folgt im Grunde diesem Gedankengang. 9 Vgl. ergänzend die vorangehende Studie von Friauf, Die Staatenvertretung in supranationalen Gemeinschaften, diss. iur. Marburg 1959. 10 Vgl. dazu lpsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, 6/29 ff. II Dazu Streinz, Die Luxemburger Beschlüsse. 12 Vgl. BVerfGE 89, 155 (165 ff.). 13 NJW 1964, S. 811 ff. 14 Diese Problematik ist auch durch Art. 23 GG n.F. nicht gelöst worden.

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II. Die Entwicklung der Diskussion bis zum Unions-Vertrag

In seinen frühen Entscheidungen hat das Bundesverfassungsgericht selbst jedoch Fragen der institutionellen Ordnung und der demokratischen Legitimation der Europäischen Gemeinschaft im Vergleich zu anderen rechtsstaatliehen Fragen, insbesondere der Grundrechtsbindung der Gemeinschaftsgewalt, eher an den Rand gedrängt. Zwar konnte man in seiner sog. Solange-I-Entscheidung vom 29.5.1974 lesen, die EWG entbehre noch eines "unmittelbar demokratisch legitimierten, aus allgemeinen Wahlen hervorgegangenen Parlaments, das Gesetzgebungsbefugnisse besitz(e) und dem die zur Gesetzgebung zuständigen Gemeinschaftsorgane politisch verantwortlich" seien.I5 Wer daraus den Schluß gezogen hatte, das Bundesverfassungsgericht laste der Gemeinschaft damit ein Demokratiedefizit an, sah sich aber spätestens in der Solangeli-Entscheidung vom 22.10.1986 korrigiert. Dort stellte das Gericht klar, daß die Äußerungen in der Solange-I-Entscheidung lediglich als Beschreibung des tatsächlichen Integrationszustandes und nicht als Formulierung eines verfassungsrechtlichen Erfordernisses oder gar Defizits gemeint waren.l6 In der Eurocontrol-Entscheidung, die allerdings nicht die Europäischen Gemeinschaften betrafl7, betonte das Bundesverfassungsgericht wiederum, daß Art. 24 Abs. I GG dem bundesdeutschen Gesetzgeber ein "weites Ermessen" einräumt, ob und inwieweit einer zwischenstaatlichen Einrichtung Hoheitsrechte übertragen und in welcher Weise diese Einrichtungen rechtlich und organisatorisch ausgestaltet werden.IB Sieht man von der frühen Entscheidung des Finanzgerichts Rheinland-Pfalz einmal ab, so hat sich die deutsche Rechtsprechung in den sechziger und siebziger Jahren, ähnlich wie die Wissenschaft, kaum und eher am Rande mit Fragen der institutionellen Ordnung der EWG beschäftigt. Die Dominanz der "typisch deutschen" Grundrechtsperspektive prägte die Diskussion.l9

BVerfGE 37,271 (280). BVerfGE 73, 339 (385). Ähnliche Schlußfolgerungen konnte man bereits aus der Entscheidung vom 22.5.1979 zum Wahlrecht zur Buropawahl ableiten, BVerfGE 51, 222 (240 ff.). 17 Eurocontrol ist eine durch das Internationale Übereinkommen über Zusammenarbeit zur Sicherung der Luftfahrt vom 13.12.1960 (BGBI. II 1963, S. 776) geschaffene internationale Organisation mit Sitz in Brüssel, die mit der Durchftihrung der Luftverkehrs-Sicherungsdienste betraut 15

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ist.

18 BVerfGE 58 I LS 2 b). Die Entscheidung behandelte im Schwerpunkt die Frage nach den Anforderungen an den Rechtsschutz. 19 Vgl. auch den Rückblick von Jpsen, Die europäische Integration in derr deutschen Staatsrechtslehre, S. 163 ff.

I. Die Gründungsphase

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2. Die Bestandsaufnahme in großen Lehrbüchern in den siebziger Jahren Eine aufschlußreiche Bestandsaufnahme für den Entwicklungsprozeß in den 70er Jahren erlauben die in dieser Zeit veröffentlichten Lehrbücher von Hans Peter lpsen (1972) und Leontin-Jean Constantinesco (1977). Beide betonen die Eigenständigkeil der Gemeinschaftsordnung als Rechts- und Integrationsordnung und bemühen sich um ihre dogmatische Verortung. Dabei wird vor allem der dynamische, prozeßhafte Charakter der Gemeinschaft betont und zum Leitbild der rechtlichen Analyse erhoben.20 Im Hinblick auf die institutionelle Ordnung heben beide Autoren die Eigenständigkeil der Gemeinschaften, hervor vor allem im Blick auf die Verwirklichung der Gewaltenteilung bzw. Funktionentrennung. Bemerkenswert ist jedoch, daß insbesondere Ipsen auf der anderen Seite keinen Bedarf für eine weitergehende demokratische Legitimation der Gemeinschaftsgewalt anerkennt und sich mit der durch die Mitgliedstaaten vermittelten demokratischen Legitimation begnügt. Versuche, die demokratische Legitimation der Gemeinschaft durch eine Stärkung der Kompetenzen der Versammlung zu erhöhen, hält er als Übernahme eines etatistischen Schema für verfehlt. 21 Constantinesco schenkt der Frage der demokratischen Legitimation kaum Aufmerksamkeit.22 Selbst bei der Darstellung der Versammlung wird auf die Frage, ob und inwieweit sie dem Gemeinschaftshandeln eine demokratische Legitimation vermittelt, mit keinem Wort eingegangen.23 Prägend für die Sicht der Gemeinschaft in dieser Zeit war die von Hans Peter Ipsen eingeführte Kennzeichnung als "Zweckverband funktionaler Integration". 24 Diese bewußt von allen staats- und völkerrechtlichen Kategorien abweichende Bezeichnung war kennzeichnend für das Bemühen, die Eigenständigkeit und Einzigartigkeit der EWG und des Europarechts herauszustellen. Durch die Betonung von Funktionalität und Zweckhaftigkeit der EWG wurde das politische Moment in den Hintergrund gedrängt, die technokratische Sicht trat in den Vordergrund. Die Lösung von den staats- und völkerrechtlichen 20 Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, z.B. 5170 ff., 8/24 ff.; Constantinesco, Das Recht der Europäischen Gemeinschaft I, z.B. S. 135 ff., 363 ff. 21 Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, 6/47. 22 So fehlt ein entsprechendes Stichwort im Sachverzeichnis. 23 Constantinesco, Das Recht der Europäischen Gemeinschaften I, S. 451 ff. Das gleiche gilt für Nicolaysen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, I. Auf!. 1979, § 5 111. 24 lpsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, 8/24 ff. Dazu die Analyse von Everling, Vom Zweckverband zur Europäischen Union, S. 595 ff.

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II. Die Entwicklung der Diskussion bis zum Unions-Vertrag

Kategorien führte ihrerseits zu einer Abdämpfung des rechtswissenschaftliehen Dialogs, vor allem von seiten der Staatsrechtslehre. 25 Die repräsentative Darstellung in den großen Lehrbüchern zeigt, daß das Gespür für institutionelle Grundsatzfragen im allgemeinen und die Frage der demokratischen Legitimation der Gemeinschaften im besonderen in den 70er Jahren wenig entwickelt war und sogar hinter den Stand des Problembewußtseins von Mitte der 60er Jahre zurückgefallen war. Die technokratische Bewältigung der Integration, ihre Festigung und Vertiefung stand im Vordergrund des Interesses.

3. Der Verfassungsentwurf des Europäischen Parlaments vom 14.02.1984 Eine Belebung der institutionellen Diskussion brachte erst in den 80er Jahren die sog. Verfassungsdiskussion, die durch den Verfassungsentwurf des Europäischen Parlaments vom 14. Februar 198426 in Gang gesetzt wurde. Dieser Entwurf umfaßte 87 Artikel. Seine Präambel bekundet in der ersten Erwägung die Absicht, "das Werk der demokratischen Einigung Europas ... fortzusetzen" und formuliert in der zweiten Erwägung als ein Ziel, "wirksamere und demokratischere Institutionen mit den zur Erreichung dieser Ziele erforderlichen Mitteln auszustatten". Art. 1 bezeichnet die Organisation als "Europäische Union", Art. 3 begründet eine Unionsbürgerschaft und Art. 4 führt eine Grundrechtsverbürgung ein. Der Union wird in Art. 5 ein eigenes Hoheitsgebiet zugeordnet und in Art. 6 eigene Rechtspersönlichkeit zuerkannt. Art. 7 bezieht sich auf den Gemeinschaftlichen Besitzstand, d.h. den Bestand des bereits erlassenen primären und sekundären Gemeinschaftsrechts. Als Institutionen der Union nennt Art. 8 das Europäische Parlament, den Rat der Union, die Kommission, den Gerichtshof sowie den Europäischen Rat. Die im vorliegenden Zusammenhang interessierenden Aspekte des institutionellen Rechts sind die folgenden: Gemäß Art. 14 wird das Europäische Parlament von "den Bürgern der Union gewählt", und zwar nach einem einheitlichen Wahlverfahren. Aufgaben des Parlaments sind gern. Art. 16 die Mitwirkung am Gesetzgebungs- und Haushaltsverfahren, am Abschluß internationaler Überein25 Im von der Staatsrechtslehre am meisten beachteten Bereich, der Grundrechtsbindung, wurde allerdings durch den Solange-I-Beschluß von 1974 (BVerfGE 37, 271 ff.) ein markanter Akzent gesetzt, der jedoch die Diskussion des institutionellen Rechts kaum tangierte. 26 Vgl. dazu lpsen, Der Staat, 24 (1985), S. 325 ff.; Pemice, EuR 19 (1984), S. 126 ff. und die Beiträge in Schwarze/Bieber, Eine Verfassung fiirEuropa, dort S. 315 ff. mit Abdruck des Entwurfs und weiterer in diesem Kontext wichtiger Dokumente.

3. Der Verfassungsentwurfvom 14.02.1984

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kommen sowie die Ennöglichung der Einsetzung der Kommission durch Billigung ihres politischen Programms. Dazu kommen als weitere Aufgaben die politische Kontrolle der Kommission bis zu einem Mißtrauensantrag und Untersuchungsbefugnisse. Für den Rat wird in Art. 23 - vorbehaltlich abweichender Regelungen - das Prinzip der Mehrheitsentscheidung vorgeschrieben. Der Rat der Union setzt sich gern. Art. 20 wie gehabt aus den Vertretern der Mitgliedstaaten zusammen. Die Gesetzgebungsbefugnis wird in Art. 36 dem Parlament und dem Rat der Union gemeinsam bei aktiver Beteiligung der Kommission zugewiesen. 27 Das Recht der Gesetzesinitiative gebührt gern. Art. 37 Abs. 1 grundsätzlich der Kommission, doch kann diese auch durch Parlament und Rat zu bestimmten Vorlagen veranlaßt werden. Das in Art. 38 geregelte Gesetzgebungsverfahren sieht eine generelle Beteiligung des Parlaments vor. Der Entwurf wurde als - vorschneller - Schritt zu einer bundesstaatliehen Ordnung verstanden und ist in diesem Zusammenhang wegen seines "etatistischen" Gepräges kritisiert worden.28 Daß der Entwurftrotz intensiver Diskussion ohne greifbare praktische Ergebnisse blieb, dürfte aber insbesondere damit zusammenhängen, daß er durch den Refonnprozeß, den die Einheitliche Europäische Akte und der Maastrichter Unionsvertrag auslösten, überholt wurde.

4. Die Grundrechtsdebatte der achtziger Jahre Die seit Mitte der 80er Jahre in der deutschen Staatsrechtslehre intensiver geführte Debatte über das Verhältnis von Grundgesetz und Gemeinschaftsrecht29 war in erster Linie grundrechtsorientiert, darüber hinaus jedoch, soweit rechtsstaatliche und institutionelle Fragen überhaupt in den Blick genommen wurden, weit von der Differenziertheil entfernt, die Mitte der 60er Jahre erreicht war.30 Im Vordergrund stand dabei die Frage nach dem Geltungsrang 27 Ob man dabei von einem Zweikammersystem sprechen kann, wie Ipsen, in: Der Staat

(1985), S. 325 (335) meint, erscheint fraglich. 28 Ipsen, in: Der Staat 24 (1985), S. 325 (347 ff.).

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29 Vgl. insbes. Streinz, Bundesverfassungsgerichtlicher Grundrechtsschutz und Europäisches Gerneinschaftsrecht, passim und m.w.N. 30 Vgl etwa Seeler, EuR 25 (1990), S. 99 ff. der bei weitem hinter dem differenzierenden Ansatz von Friauf, DVBI. 1964, S. 781 ff. zurückbleibt. ln neueren Lehrbüchern wird auf die institutionellen Fragen zwar durchweg eingegangen, doch kommt diesem Aspekt im Vergleich zu anderen Standardfragen, wie etwa dem Verhältnis von Gemeinschaftsrecht und nationalem Recht, nur eine untergeordnete Bedeutung zu, vgl. etwa Oppermmm, Europarecht, Rdnr. 205 ff.; nur referierend im Hinblick auf das Demokratiedefizit Streinz, Europarecht, Rdnr. 281 ff.

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II. Die Entwicklung der Diskussion bis zum Unions-Vertrag

des sekundären Gemeinschaftsrechts gegenüber den Grundrechten des Grundgesetzes und ihrer Bewahrung durch das Bundesverfassungsgericht.31

5. Die Maastricht-Diskussion Der Abschluß des Unions-Vertrages löste in der Bundesrepublik- wie auch in den meisten anderen Mitgliedstaaten - eine Fundamentalkritik einiger Wirtschaftswissenschaftler und Staatsrechtslehrer aus. Während die Ökonomen vor allem die Schwächung der Deutschen Mark und die Einführung einer europäischen Industriepolitik als unverantwortbare Maßnahme und Abkehr vom Geist der sozialen Marktwirtschaft brandmarkten32 und argumentierten, es könne nicht politisch richtig sein, was sich ökonomisch als falsch erweise33, sahen einige Staatsrechtslehrer im Unions-Vertrag einen Angriff auf das Verfassungsgefüge des Grundgesetzes. So hieß es etwa: "Das Vorhaben einer Europäischen Union ... zielt auf einen Einschnitt in das staatsrechtliche Eigenleben der Mitgliedstaaten der Gemeinschaft, dessen Dramatik kaum überzeichnet werden kann .... Der Vertrag von Maastricht rührt an den Grundfesten des staatsrechtlichen Gefüges aller zwölf Mitgliedstaaten."34 Andere sahen aufgrund der Fülle der auf die Europäische Union übergehenden Kompetenzen die Staatlichkeit des deutschen Staates gefahrdet und damit Art. 79 Abs. 3 GG als verletzt.35 Im gleichen Kontext bewegen sich die Befürchtungen von Doehring, der eine Gefahr darin sieht, daß auf der einen Seite die Mitgliedstaaten nicht mehr "total verantwortlich" sind, weil ihre "amputierte Souveränität" dies nicht zulasse, auf der anderen Seite jedoch die Europäische Union diese Lücke nicht schließen könne, weil auch sie keine umfassende Kompetenz besitze. 36 An Art. 79 Abs. 3 GG orientieren sich auch diejenigen, die eine Zustimmung zum Unionsvertrag nur auf der Grundlage eines Verfassungsreferendums und

31 Zu einem Großteil wurde die Debatte unter dem Stichwort "Solange-III" gefiihrt. Vgl. Sclwlz, NJW 1990, S. 941 ff.; Everling, EuR 25 (1990), S. 195 ff.; Tomuschat, EuR 25 (1990), S. 340 ff.; Ehlermann, EuR 26 (1991) Beiheft I, S. 27 ff. 32 Zur wirtschaftspolitischen Debatte vgl. Möschel, JZ 1992, S. 877 ff.; Mestmäcker, FAZ Nr. 236 v. 10.10.1992, S. 15. 33 So Barbier, in: FAZ Nr. 126 v. 31.07.1992, S. 29. 34 Herdegen, EuGRZ 1992, S. 589. 35 So etwa Schachtschneider/Emmerich-Fritsche/Beyer, JZ 1993, S. 751 ff.; in die gleiche Richtung Kirchlwf, HStR VII, § 183 Rdnr. 57 ff. sowie ders., EuR 26 (1991) Beiheft 1, S. 11 ff.; vgl. auch Stöcker, Der Staat 31 (1992), S. 495 ff.; Herdegen, EuGRZ 1992, S. 589 (590). 36 Doehring, ZRP 1993, S. 98 (100).

5. Die Maastricht-Diskussion

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d.h. durch eine Verfassungsänderung für möglich halten.37 Ähnliches gilt für Huber, der unter Hinweis auf Art. 79 Abs. 3 GG die Anerkennung bzw. Einführung "positiver demokratischer Kompetenzen" des Europäischen Parlaments für unzulässig hält. 38 Eine weitere Kritiklinie orientierte sich an den Auswirkungen auf das bundesstaatliche Binnengefüge und konstatierte dessen weitere Schwächung und Aushöhlung durch die Hochzonung von Zuständigkeiten der Bundesländer auf die Gemeinschaftsebene.39 Um die damit verbundene Verschiebung der innerstaatlichen Mitwirkung von der Länderlegislative auf die Bundesexekutive aufzufangen, wurde in Art. 23 GG n.F. ein spezielles Verfahren zur Beteiligung der Länder eingeführt und diesen Einwänden insoweit Rechnung getragen. 40 Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Maastricht-UrteiJ 41 diese Kritikansätze grosso modo aufgegriffen42 und die normativen Ansatzpunkte der Kritiker in vielen Aspekten43 grundsätzlich bestätigt44. Es hat jedoch den Unions-Vertrag und die mit ihm verbundene Erweiterung der Zuständigkeiten der Europäischen Union in concreto als mit dem Grundgesetz, insbesondere mit Art. 79 Abs. 3 GG, vereinbar angesehen. Dabei wählt das Bundesverfassungsgericht einen dogmatisch, im Hinblick auf das aus Art. 173, 177 EGV folgende Interpretationsmonopol des EuGH, bedenklichen Zugang, indem es über den Ulnweg des deutschen Zustimmungsgesetzes eine detaillierte Auslegung einzelner Kompetenzvorschriften des Unions-Vertrages vornimmt und diese zur verbindlichen Verhaltensmaßgabe für deutsche Staatsorgane erhebt. Dieses Vorgehen gipfelt in der autoritativen Anweisung: "Würden etwa europäische Einrichtungen oder Organe den Unions-Vertrag in einer Weise handhaben, die von dem Vertrag, wie er dem deutschen Zustimmungsgesetz45 zugrunde liegt, nicht mehr gedeckt wäre, so wären die daraus hervorgehenden Rechtsakte im deutschen Hoheitsbereich nicht verbindlich. Die deutschen Staatsorgane wären 37 So z.B. Wolf, JZ 1993, S. 594 ff.; Rupp, NJW 1993, S. 38 ff.; vgl. zum Thema auch Koenig, DVBI. 1993, S. 140 ff. 38 Huber, Maastricht- ein Staatsstreich?, S. 32 f. 39 Vgl. etwa Philipp, ZRP 1992, S. 433 ff.; gemäßigter Brenner, DÖV 1992, S. 903 ff. 40 Dazu di Fabio, Der Staat 32 (1993), S. 191 ff.; Ossenbühl, DVBI. 1993, S. 629 (636 f.). 41 BVerfGE 89, 155. 42 Was nicht verwundert, da der Berichterstatter Kirchhof ihnen ausweislich seiner einschlägigen Veröffentlichungen im Zeitraum vor dem Urteil selbst zuneigte. 43 Abgelehnt wurde jedoch die Berufung auf das Widerstandsrecht des Art. 20 Abs. 4 GG und die Verletzung von Grundrechten durch den Beitritt zur Europäischen Union. 44 Das gilt insbesondere für die Notwendigkeit der demokratischen Legitimation der Unionsgewalt und die Ableitung der Grenzen der Übertragung von Hoheitsgewalt aus Art. 79 Abs. 3 GG. 45 Zu ergänzen wäre: nach der Interpretation des BVerfG.

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II. Die Entwicklung der Diskussion bis zum Unions-Vertrag

aus verfassungsrechtlichen Gründen gehindert, diese Rechtsakte in Deutschland anzuwenden."46 Das Bundesverfassungsgericht mißt in seinem Urteil die institutionelle Ordnung der Union nur und ausschließlich an den Anforderungen, die Art. 38 Abs. 1 GG als neues Grundrecht des einzelnen Wahlbürgers auf Teilhabe an der demokratischen Legitimation der deutschen Staatsgewalt47 an die Übertragung und Ausübungskontrolle von Hoheitsrechten auf eine supranationale Gemeinschaft stellt.48 Entscheidend ist danach, daß dem deutschen Wahlbürger über den Bundestag ein ausreichender Einfluß auf das hoheitliche Handeln der supranationalen Gemeinschaft verbleibt. 49 Das hat zur Folge, daß man dem Urteil keine Gesamtwürdigung der institutionellen Ordnung der Europäischen Union entnehmen oder unterstellen kann. 50 Nach dem Maastricht-Urteil des Bundesverfassungsgerichts haben die aus der Perspektive des Grundgesetzes formulierten Einwände gegenüber der Europäischen Union (jedenfalls für die Rechtspraxis) erheblich an Gewicht verloren. Die autoritativ prägende Kraft der verfassungsgerichtlichen Entscheidung wird den weiteren Gang der Diskussion entscheidend beeinflussen. Um so wichtiger erscheint es, die dort angedeuteten Argumentationspfade präzise auszuloten. Das ist vor allem insofern bedeutsam, als das Gericht an zentralen Stellen dynamische Maßgaben entwickelt. Das gilt insbesondere für den unscharfen Topos des "Kooperationsverhältnis"51 bei der Sicherung der Grundrechte und das Erfordernis einer fortschreitenden Entwicklung einer eigenständigen demokratischen Legitimation der Union 52.

46 BVerfGE 89, 155 (188), vgl. auch S. 210 im Hinblick auf die Auslegung von Kompetenzvorschriften unter Anwendung der "implied powers" Lehre und des "effet utile". 47 Zu dessen Ableitung und Inhalt BVerfGE 89, 155 (171 f.). Siehe dazu die berechtigte Kritik von Tomuschat, EuGRZ 1993, S. 489 f. 48 BVerfGE 89, 155 (181). 49 BVerfGE 89, 155 (182 ff.). 50 Zutreffend Götz, JZ 1993, S. 1081 (1082); vgl. auch lpsen, EuR 29 (1994), S. 1 (20) mit dem im Hinblick auf die Prüfungszuständigkeit des BVerfG fragwürdigen Hinweis, das BVerfG atgumentiere in "autonomer, introvertierter Sichtbeschränkung auf die deutsche Verfassungsordnung" und eine daraus folgende teilweise "Gemeinschafts-Blindheit". 51 BVerfGE89, 155(175). 52 BVerfGE 89, 155 (184, 213).

6. Spanisches und französisches Verfassungsgericht

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6. Die Urteile des spanischen und des französischen Verfassungsgerichts Aufschlußreich ist in diesem Zusammenhang schließlich ein Blick auf die verfassungsrechtliche Diskussion in anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Stellvertretend sei dabei auf die Entwicklung in Frankreich und Spanien hingewiesen, weil in beiden Ländern die Verfassungsgerichte mit dem UnionsVertrag befaßt waren. 53 Das spanische Verfassungsgericht war von der Regierung zur Klärung der Frage angerufen worden, ob zur Einführung des passiven Kommunalwahlrechts für Unionsbürger Art. 13 Abs. 2 der spanischen Verfassung geändert werden müsse. Dies wurde vom Verfassungsgericht bejaht und daraufhin vom spanischen Parlament entsprechend umgesetzt. Aufschlußreich ist in diesem Zusammenhang zunächst, daß sich die verfassungsrechtlichen Bedenken sowohl der Regierung als auch des Verfassungsgerichts auf diesen - auf den ersten Blick marginalen - Punkt beschränkten. Darüber hinaus ist aber auch bemerkenswert, daß das spanische Verfassungsgericht einen Vorrang des Gemeinschaftsrechts vor dem nationalen Verfassungsrecht ablehnt und deshalb die spanische Gesetzgebung weitergehenden staatlichen Rechtsbindungen unterliegt, als dies etwa in der Bundesrepublik anerkannt ist. 54 Interessant ist zudem die Argumentation des spanischen Verfassungsgerichts, durch die Beteiligung der Unionsbürger an der Legitimation der Kommunalverwaltung werde nicht die Souveränität des spanischen Volkes angetastet, da dessen durch die Verfassung verbürgte souveräne Rechte dadurch nicht tangiert würden.55 Der französische Conseil constitutionel hat sich in drei Verfahren mit der Vereinbarkeit der französischen Zustimmung zum Unionsvertrag mit der französischen Verfassung beschäftigt. 56 In der ersten Entscheidung stellte der

53 Zu Spanien: LOpez Castillo/Polakiewicz, EuGRZ 1993, S. 277 ff.; zu Frankreich: Walter, EuGRZ 1993, S. 183 f'f.; siehe den Abdruck der Entscheidungen in EuGRZ 1993, S. 187 ff., 193 ff. und 196 ff. 54 Vgl. dazu LOpez Castillo/Polakiewicz, EuGRZ 1993, S. 277 (283 ff.). 55 EuGRZ 1993, S. 285 (288). Diesen Aspekt hat das BVerfG in seiner Entscheidung zum kommunalen Ausländerwahlrecht nicht thematisiert und sich auf einen knappen Hinweis beschränkt, aus dem geschlossen werden kann, daß eine entsprechende Änderung des Art. 28 Abs. 1 GG (jetzt Satz 3 dieser Vorschrift) mit Art. 79 Abs. 3 GG vereinbar ist, vgl. BVerfGE 83, 37 (59). 56 Entscheidung Nr. 92-308 DC v. 9.04.1992; Nr. 92-312 DC v. 2.09.1992; Nr. 92-313 v. 23.09.1992, abgedruckt in EuGRZ 1993, S. 187 ff.

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Il. Die Entwicklung der Diskussion bis zum Unions-Vertrag

Conseil constitutionel fest, daß es zur Einführung des Unionsbürgerwahlrechts bei den Kommunalwahlen einer Verfassungsänderung bedürfe. Die weiteren Rügen, die eine Verfassungsverletzung durch die Einführung der gemeinsamen Währungs- und Wechselkurspolitik sowie die Vorschriften über die Einreise in den Binnenmarkt und den Personenverkehr im Binnenmarkt betrafen, führten zu der Feststellung, daß auch zur Einführung der Wirtschafts- und Währungsunion eine vorherige Änderung einzelner Bestimmungen der französischen Verfassung erforderlich sei. Bezüglich der weiter gerügten Regelung des Art. 1OOc Abs. 3 EGV hielt der Conseil constitutionel schließlich ebenfalls eine Verfassungsänderung für erforderlich. Die Maastricht-I-Entscheidung betraf im Grunde Punkte, deren Umsetzung auch nach dem Grundgesetz ohne Verfassungsänderung nicht möglich gewesen wäre. Sie bietet aber, anders als das Maastricht-Urteil des Bundesverfassungsgerichts, dem dezisionistischen Entscheidungsstil französischer Gerichte folgend, keine Anhaltspunkte für weitergehende dogmatische bzw. verfassungsrechtliche Erwägungen. Die beiden weiteren, nach der entsprechenden Verfassungsänderung vom 25.06.1992 ergangenen Maastricht-Urteile, bestätigen sodann die Vereinbarkeil des Vertrages mit der angepaßten Verfassung. Auch aus ihnen lassen sich keine weiterführenden Erkenntnisse ableiten. Die Entscheidungen sowohl des spanischen als auch des französischen Verfassungsgerichts machen deutlich, daß aus dem Blickwinkel beider Verfassungsordnungen eine Aushöhlung der nationalen Souveränität, die insbesondere in Frankreich eine große Rolle spielt, als auch der demokratischen Legitimation durch den Unions-Vertrag, nicht befürchtet wird. Der Gleichklang der verfassungsgerichtlichen Judikate, das Maastricht-Urteil des Bundesverfassungsgerichts eingeschlossen, ist zwar allein kein ausreichender argumentativer Beleg für die Richtigkeit dieser Auffassung. Er dürfte jedoch als gewichtiges verfassungspolitisches Indiz für die Vereinbarkeil des Unions-Vertrages mit den nationalen, integrationsoffenen Verfassungen einzuordnen sein.

7. Weiterer Gang der Untersuchung Im Anschluß an diese notwendigerweise kursorische Betrachtung der Entwicklung von wissenschaftlicher Diskussion und Rechtsprechung zur institutionellen Ordnung der Europäischen Gemeinschaften bzw. der Europäischen Union, ist nunmehr in systematischer Abfolge nach den Verwirklichungsbedingungen der Demokratie und ihrem Vorliegen in der Europäischen Union zu

7. Weiterer Gang der Untersuchung

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fragen. Dabei ist es das besondere Anliegen der Untersuchung, sich von der staatlich-nationalen Perspektive zu lösen und nach den besonderen, eigenständigen Kriterien und Bedingungen der Entfaltung des Demokratieprinzips auf der supranationalen Ebene zu fragen bzw. diese zu entwickeln.

111. Verwirklichungsbedingungen der Demokratie als einer formalen Herrschaftsordnung

1. Gemeinsame Grundlagen moderner Demokratiekonzeptionen Als gemeinsame Grundlage der modernen Demokratietheorien und demokratischen Verfassungskonzeptionen erweist sich der Gedanke der Selbstregierung und Selbstbestimmung des Volkes.! Von ihm geht die Attraktivität2 und Akzeptanz der Demokratie als freiheitssichernder Herrschaftsform aus. Um den Gedanken der Selbstregierung kreisen die Lehre vom Staatsvertrag bei Locke ebenso wie die Erwägungen Kants.3 Das Bundesverfassungsgericht hat diese Konzeption treffend in die Worte gefaßt: "Der Staat des Grundgesetzes ist der Entscheidungs- und Verantwortungszusammenhang - zunehmend eingebettet in internationale Wirkungsbereiche - vermittels dessen sich das Volk nach der Idee der Selbstbestimmung aller in Freiheit und unter der Anforderung der Gerechtigkeit seine Ordnung, insbesondere seine positive Rechtsordnung als verbindliche Sollensordnung setzt. Weil er der freien Selbstbestimmung aller unter Gewährleistung von Frieden und Ordnung einen institutionellen Rahmen verbürgt, kommt dem Staat Hoheitsgewalt, d.h. die Macht zu, Akte zu setzen, die für alle verbindlich sind, insbesondere Recht zu schaffen und Herrschaftsorgane einzusetzen. "4 Demokratische Freiheitssicherung ist dabei jedoch keine unmittelbare, materiell faßbare wie bei den Grundrechten. 5 Demokratische Freiheitsgewähr ist

1 Böckenförde, HStR I, § 22 Rdnr. 35; Starck, HStR II, § 29 Rdnr. 9. Noch prägnanter wird auch von der Identität von Regierenden und Regierten gesprochen. So etwa Schmitt, Verfassungslehre, S. 234; Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie, S. 14, 85. Dazu und zur unterschiedlichen Akzentuierung bei Schmitt und Kelsen Dreier, Staatssoziologie und Demokratietheorie bei Hans Kelsen, S. 251 f. 2 Zu Demokratie als Synonym der guten Staatsform vgl. Stern, Staatsrecht Bd. I,§ 18 I I. 3 Böckenförde, HStR I, § 22 Rdnr. 36. 4 BVerfGE 44, 125 (142). 5 Zu den Unterschieden grundrechtlicher und demokratischer Freiheitssicherung vgl. Starck, HStR II, § 29.

1. Gemeinsame Grundlagen moderner Demokratiekonzeptionen

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vielmehr formal6 und inhaltsoffen und mündet in eine institutionelle Ordnung, in die Gewährleistung demokratischer Mitwirkungsfreiheit und die dadurch ermöglichte kollektiv-autonome Freiheit der Willensbildung. 7 Um dies zu ermöglichen, baut der demokratische Verfassungsstaat westlicher, pluralistischer Prägung auf komplexen institutionellen Grundlagen auf. 8 Er ist regelmäßig als parlamentarisches Repräsentativsystem mit zahlreichen gesellschaftlichen Vermittlungsinstanzen ausgebildet. Dabei spielen neben den Parteien9 vor allem die großen InteressenvertretungenlO, die Religionsgesellschaftenil und die Medienl2 eine entscheidende Rolle. In der deutschen Geschichte hat vor allem die Weimarer Zeit gezeigt, daß Demokratie nicht dekretiert werden kann, sondern aus institutionellen und geistigen Voraussetzungen hervorgehen muß.13 Diese Voraussetzungen können aus dem Blickwinkel des Verfassungsrechts als Verfassungserwartungen bezeichnet werden.14 Sie sind dadurch gekennzeichnet, daß Recht und Staat sie nicht selbst hervorbringen oder garantieren können, sondern daß sie vielmehr von den Bürgern in freier Selbstverantwortung entfaltet und regeneriert werden müssen. Dies gilt vor allem für den Gebrauch der politischen GrundrechteiS und die Mitwirkung der Bürger am politischen Willensbildungsprozeß in und durch die Parteien. Das strukturelle 6 Wenn demgegenüber etwa von Stern, Staatsrecht Bd. 1, § 18 II 6 (S. 622) betont wird, das demokratische Prinzip des Grundgesetzes sei "material determiniert", so bezieht sich diese Aussage auf das Verfassungsganze, das häufig, jedoch begrifflich unscharf, mit Demokratie gleichgesetzt wird (dazu Sternberger, Die neue Politie. S. 156 ff.). Demokratie als Verfahren der Herrschaftslegitimation bleibt auch unter dem Grundgesetz für sich betrachtet formal. 7 Böckenförde, HStR I, § 22 Rdnr. 37 f. 8 Stern, Staatsrecht Bd. 1, § 18 I 5 m.w.N. 9 Vgl. Kunig, HStR II, § 33; Stern, Staatsrecht Bd. 1, § 13 IV; Badura, Die parteienstaatliche Demokratie und die Gesetzgebung, passim; Herzog, Verfassungsrechtliche Grundlagen des Parteienstaates. Speziell zum Zusammenhang Parteien/Repräsentation Wefelmeier, Repräsentation und Abgeordnetenmandat, S. 138 ff. 10 Aus ihrer Übermacht droht der Rückfall in den Korporatismus; vgl. zu den Grundlagen Mayer-Tasch, Korparatismus und Autoritarismus. Zu aktuellen Tendenzen vgl. Zippelius, Allgemeine Staatslehre, § 26 III - VI. 11 Zur Rolle der Kirchen vgl.lsensee, in: Essener Gespräche 25 (1991), S. 104 ff. 12 Vgl. dazu umfassend Zippelius, Allgemeine Staatslehre, § 28 m.w.N.; s.a. Fraenkel, Demokratie und öffentliche Meinung, in: ders., Deutschland und die westlichen Demokratien, S. 232 ff.; Stern, Staatsrecht Bd. 1, § 22 II 5 f). Allgemein zur Rolle der freien Meinungsbildung für die Demokratie BVerfGE 20, 56 (99 ff.); 44, 125 (139 f.); 57, 295 (320 ff.). 13 Insofern grundlegend: Heller, Politische Demokratie und soziale Homogenität, S. 421 ff. Vgl. auch Fraenkel, Möglichkeiten und Grenzen politischer Mitarbeit der Bürger in einer modernen parlamentarischen Demokratie, S. 261 ff. 14 Dazu Isensee, HStR V, § 115 Rdnr. 222 ff. 15 Dazu Isensee, HStR V, § 115, Rdnr. 224.

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III. Verwirklichungsbedingungen der Demokratie

Dilemma der freien Gesellschaft, daß sie den Erfolg ihrer politischen Konstituierung der freien, eigenverantwortlichen Entscheidung ihrer Bürger überläßt, kann verfassungsrechtlich nicht überwunden werden, ohne daß das System seine eigenen Grundlagen verleugnet. So wie die normative Gewährleistung von Grundrechten noch kein reales Gemeinwohl hervorbringt16, garantiert die verfassungsrechtliche Gewähr demokratischer Institutionen noch keinen legitimationsvermittelnden, gesellschaftlich-staatliche Integration bewirkenden politischen Prozeß. Zutreffend wird in diesem Zusammenhang deshalb auf die sog. republikanischen Tugenden verwiesen, d.h. auf Haltungen, die einen Menschen- bzw. Bürgertypus kennzeichnen, der bereit ist, selbstlos für das Gemeinwesen tätig zu werden.l7 Entsprechende Grundhaltungen bilden sich erfahrungsgemäß gegenüber Gemeinschaften aus, die vom einzelnen als überlebensnotwendig oder wenigstens nützlich erkannt werden. Dies war in der Neuzeit in Westeuropa vor allem der Nationalstaat18. Er bezeichnete einen fest umrissenen Lebensraum, innerhalb dessen dem einzelnen Sicherheit und - im Rahmen der Nationalökonomie und Wohlfahrtspflege - wirtschaftliche Absicherung garantiert wurden. Zudem entwickelten sich die Nationalstaaten in Zeiten außenpolitischer Bedrohungen und Gefahren zu Schicksalsgemeinschaften mit einem hohen ldentifikationspotential, das nicht selten auf die Staatsoberhäupter oder führende Politiker übertragen wurde. In diesem gesamtstaatlichen Rahmen konnten sich im 19. und 20. Jahrhundert in den meisten europäischen Staaten die Bedingungen demokratischer Legitimation im Übergang von der Monarchie zur Republik herausbilden.l9 Die Verfassung wurde dabei zum Programm der Nationalen Repräsentation.20 Die Tatsache, daß die allermeisten Nationalstaaten über ein hohes Maß an sprachlicher, religiöser und kultureller Homogenität verfügten, ließ vor allem den Aufbau der gesellschaftlich-politischen Vermittlungsinstitutionen und den Abbau politischer Privilegien zur zentralen Aufgabe der Demokratisierungsbewegung werden. Es bedurfte insofern lediglich einer Neuorientierung, nicht des Aufbaus neuer Identifikations- und Kommunikationsstrukturen. 16 Isensee, HStR V, § 115 Rdnr. 223. 17 Vgl.lsensee, HStR I,§ 13 Rdnr. 104 ff.; ders., JZ 1980, S. 1 ff. 18 Vgl. Hattenhauer, Europäische Rechtsgeschichte, S. 600 ff. 19 Zum Verhältnis Nation und Demokratie vgl. Klein, Demokratie und Nation, S. 345 ff. Eine zu einseitige Bindung der Demokratie an den Staat vertrat z.B. Kaiser, in: VVDStRL 23 (1969), S. 1 (22 f.). Daß 6 der EU-Mitgliedstaaten formal weiterhin als Monarchie firmieren, steht dem nicht entgegen, da die Monarchen keine selbständige Herrschaftsmacht besitzen. 20 So der Titel des Beitrages von H. Krüger, FS E.R. Huber, 1973, S. 95 ff.

2. Demokratie, Volk und Volkssouveränität

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Aufgrund dieser an den Staat geknüpften Entwicklungsgeschichte besitzen die moderne Demokratietheorie und die Staatspraxis keine sicheren Erfahrungen und Erkenntnisse über die Möglichkeiten und Bedingungen demokratischer Legitimation auf der supranationalen Ebene. Das auf den Staat fixierte dogmatische Modell des demokratischen Verfassungsstaates muß deshalb angepaßt und weiterentwickelt werden, soll es auch für die Europäische Union als Maßstab und Bauform dienen. Insbesondere der Nachweis eines vom Demokratieprinzip geforderten einheitlichen Legitimationssubjektes, eines Volkes also, sowie die institutionelle und sozialpsychologische Sicherung formaler und inhaltlicher Repräsentation als Vorbedingung einer effektiven Herrschaft des Volkes durch die Gemeinschaftsorgane sind dabei problematisch. Deshalb muß zunächst der Frage nachgegangen werden, inwieweit demokratische, vom Gedanken der Volkssouveränität getragene Legitimation auf ein Volk angewiesen ist und welche Bedingungen eine formalrechtlich als Wahlvolk organisierte Population erfüllen muß, um diese Funktion auch material auszufüllen. Zur Beantwortung dieser Frage bedarf es zunächst einer Vergewisserung über den dogmatischen Zusammenhang zwischen Volk, Volkssouveränität und Demokratie.

2. Demokratie, Volk und Volkssouveränität In Art. 20 Abs. 2 GG sowie im Verfassungsrecht der übrigen Mitgliedstaaten der Europäischen Union erscheint Demokratie durchweg als auf der Volkssouveränität21 bzw. der Souveränität der Nation22 aufbauendes Prinzip. Insoweit das Demokratieprinzip positivrechtlich auf das Prinzip der Volkssouveränität gründet, setzt es auch normativ-tatbestandlieh ein Volk als Legitimationssubjekt voraus.

21 Vgl. neben Art. 20 Abs. 2 GG: Art. 25 belgisehe Verf. vom 7.02.1831, zuletzt geändert am 16.02.1993; Art. 3 französische Verf. vom 4.10.1958, zuletzt geändert am 25.06.1992.; Art. 1 Abs. 2 griechische Verf. vom 9.06.1975, zuletzt geändert am 12.03.1986; Art. l und 6 Abs. l irische Verf. vom 1.07.1937 zuletzt geändert am 26.ll.l992; Art. I Satz 2 italienische Verf. vom 22.Il.l967; Art. 32 Iuxemburgische Verf. vom I7.10.1868, zuletzt geändert am 25.11.1983; Art. 3 portugiesische Verf. vom 2.04.1976, zuletzt geändert am 25.1l.l992; Art. I Abs. 2 spanische Verf. vom 29.12.1978, zuletzt geändert am 27.08.1992; keine ausdrückliche Bestimmung finden sich allerdings in der niederländischen (Verf. vom 17.02.1983) und der dänischen (Verf. vom 5.06.I953) Verfassung. Die Verfassungen der Mitgliedstaaten sind nach der von Adolf Kimme/ vorgelegten Übersetzung, 3. Aufl. I993, zitiert. 22 So der Verfassungstext in Art. 25 belgisehe Verf.; Art. I irische Verf.; Art. I Satz 2 italienische Verf.; Art. 32 Iuxemburgische Verf. Der Sache nach liegt darin kein Unterschied, wie die weitere Analyse zeigen wird. 3 Kluth

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III. Verwirklichungsbedingungen der Demokratie

Zur Vermeidung von Mißverständnissen und begrifflichen Kurzschlüssigkeiten ist in diesem Zusammenhang darauf hinzuweisen, daß die positivrechtliche Verknüpfung von Volkssouveränität und Demokratie keine Identität beider Prinzipien bedeutet.23 Das ergibt sich bereits aus dem Umstand, daß beide sich staatstheoretisch nicht bedingen. 24 So ist auch im Begründungszusammenhang anderer Staatsmodelle von Volkssouveränität die Rede. 25 Auf der anderen Seite kann das mit Demokratie verbundene Konzept der Identität von Herrschenden und Beherrschten26 auch unabhängig und außerhalb eines Volkes verwirklicht werden. Für den deutschen Verfassungsraum wird dies besonders deutlich am Beispiel der Geschichte der Körperschaften des öffentlichen Rechts. Diese wurden zu Beginn des 19. Jahrhunderts im kommunalen Bereich, vor allem aber bei der Organisation von Handwerk, Handel und Wirtschaft genutzt, um demokratische Selbstbestimmung in einem Binnenbereich des konstitutionellen Verfassungssystems zu verwirklichen.27 Das demokratische Prinzip wurde hier für einen besonders entwickelten Teilbereich der bürgerlichen Gesellschaft zur Anwendung gebracht, bevor es nach 1918 auch im staatlichen Bereich Geltung erlangte. 28 Für die Europäische Union wirft das die Frage auf, ob und unter welchen Voraussetzungen die ihrer Herrschaftsgewalt unterworfenen Unionsbürger, die ja selbst Mitglieder der Staatsvölker der Mitgliedstaaten sind, als europäisches Volk und damit als Subjekt demokratischer Legitimation auf der Unionsebene angesehen werden können. Nähert man sich dieser Frage vom positiven Gemeinschaftsrecht aus, so spricht insbesondere die Formulierung des Art. 137 EGV, nach der das Europäische Parlament aus Vertretern der "Völker der in der Gemeinschaft zusammengeschlossenen Staaten" besteht, gegen die Annahme eines (Unions-) Volkes. Das gleiche gilt für das im Unions-Vertrag ausgesprochene Bekenntnis zur Stärkung der nationalen Identität in den Mitgliedstaaten. Gewißheit darüber, ob und unter welchen Voraussetzungen von einem Unionsvolk gesprochen werden kann, vermittelt nur eine Analyse des präzisen 23 Es muß deshalb auch vor kurzschlüssigen Wortableitungen gewarnt werden. Die Staatsphilosophie hat dies lange Zeit vermieden, indem etwa Kant (etwa in seiner Schrift "Zum ewigen Frieden") von der Republik sprach, wenn er im heutigen Sinne die Demokratie meinte. Zum Begriffssinn der Republik vgl. /sensee, JZ 1980, S. 1 ff. 24 Vgl. Jestaedt, Demokratieprinzip und Kondominialverwaltung, S. 161. 25 Vgl. den Überblick möglicher Konstellationen bei G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 719 ff. 26 Vg1. zu diesem Topos Schmitt, Verfassungslehre, S. 234. 27 Dazu Bieback, quademi fiorentini, Heft 11112 (198111983), S. 859 (861 ff. m.w.N.). 28 Zu diesem Übergang vgl. Bieback, quademi fiorentini, Heft 11/12 (1982/1983), S. 859 (874 ff.).

2. Demokratie, Volk und Volkssouveränität

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Aussage- und dogmatischen Bedeutungsgehaltes, der dem Volk als Legitimationssubjekt im Konzept der Volkssouveränität zufällt. Volks-"souveränität" bedeutet zunächst, daß das Volk "über seine Regierungsform selbst entscheidet"29: Das Volk als.pouvoir constituant.30 Darüber hinaus geht vom Volk aber auch innerhalb der gewählten Staatsform "alle Gewalt aus": das Volk als pouvoir constitue.31 Das Grundgesetz gestaltet diesen Legitimationsprozeß mehrstufig aus. Nach Art. 20 Abs. 2 GG übt das Volk selbst und unmittelbar die Staatsgewalt durch Wahlen und Abstimmungen aus. Dabei steht Art. 38 GG als weitere Konkretisierung im Mittelpunkt. Daneben übt das Volk die Staatsgewalt durch die besonderen Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung aus. 32 Dabei ist darauf zu achten, daß die Errichtung und Tätigkeit dieser Organe durch ununterbrochene Legitimationsketten mit der unmittelbaren Äußerungsform des Volkswillens in den Parlamentswahlen verbunden ist. 33 Der Begriff des Volkes erweist sich in diesem Kontext als ein genuin politischer, dem gegenüber ein Kulturvolk-Konzept als nachgeordnet und nur bedingt bedeutsam erscheint. 34 Das gilt jedenfalls, solange man den staatsrechtlichen Zusammenhang nicht verläßt, in dessen Rahmen das Demokratieprinzip den Volksbegriff ausschließlich und formal an die Staatsangehörigkeit und den status activus anknüpft.35 So können auch Staaten, die mehrere kulturelle Völker umgreifen, wie etwa Spanien, Belgien und die Vereinigten Staaten, trotz aller kulturellen und ethnischen Unterschiede auf ein einziges Staatsvolk als Legitimationssubjekt verweisen. 36 Im Rahmen dieser formalen 29 So treffend Art. I der irischen Verfassung. 30 Ob die Tatsache, daß der pouvoir constituant nach heutiger, bereits auf Locke zurückgehender Auffassung nicht gänzlich ungebunden ist, sondern z.B. die Menschenrechte beachten muß, die Rede von Souveränität verbietet, wäre zu überlegen. Dagegen mit guten Gründen Heller, Souveränität, S. 31 ( 185 f.). 31 Dieses Element findet sich in Art. 20 Abs. 2 GG; Art. 25 belgisehe Verf.; Art. 3 Abs. I französische Verf.; Art. I Abs. 3 griechische Verf.; Art. 6 Abs. I irische Verf.; Art. I Satz 2 italienische Verf.; Art. 3 Abs. I portugiesische Verf.; Art. I Abs. 2 spanische Verf. 32 Vgl. BVerfGE 89, 155 (171). 33 Vgl. dazu Jestaedt, Demokratieprinzip und Kondominialverwaltung, S. 163 ff. 34 Zutreffend: E. Kaufmann, Zur Problematik des Volkswillens, S. 20 (22). Zum Volk als Natur- und Kulturbildung vgl. Heller, Staatslehre, S. 166 ff. und 178 ff. 35 Grawert, in: Der Staat 23 (1984), S. 179 (292 f.); Böckenförde, HStR I, § 22 Rdnr. 26. 36 Dabei soll nicht übersehen werden, daß es zwischen den verschiedenen Gruppen zu Spannungen kommen kann, die z.B. im Rahmen eines föderalen Systems abgefangen werden können. 3*

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III. Vetwirklichungsbedingungen der Demokratie

Ordnung erlaubt das Staatsrecht bei innerstaatlicher, föderaler bzw. dezentraler Aufgliederung eine Unter- und Ausgliederung von Legitimationssubjekten. So sieht das Grundgesetz in Art. 28 Abs. 1 S. 2 GG das "Volk" in den Ländern und Kommunen als eigenständige Legitimationssubjekte an, als Teil-Völker.37 Das ist möglich und unschädlich, da alle Ausübung und Legitimation von Staatsgewalt durch die eine Staatsangehörigkeit verklammert ist und durch eine zwingende Normen- und Legitimationshierarchie die gesamtstaatliche Einheit gewahrt ist. Der an die Staatsangehörigkeit anknüpfende Volksbegriff versagt demgegenüber als Orientierungspunkt im Bereich der suprastaatlichen Ordnungen. Ohne das formale Band der Staatsangehörigkeit zerfließt das Volk in einer Vielzahl von Ordnungskriterien38, die für sich allesamt nicht geeignet sind, die geschichtlich gewordene politische Wirklichkeit der heutigen Staatenwelt zu erfassen. 39 Weiterhelfen könnte das Völkerrecht, das in seiner sog. drei-Elemente-Definition den Staat durch die Merkmale Staatsgebiet, Staatsgewalt und Staatsvolk beschreibt bzw. definiert. Wie jedoch die Schwierigkeiten bei der Bestimmung des Subjektes des Selbstbestimmungsrechts der Völker zeigen, stellen sich auch dem Völkerrecht analoge Bestimmungsschwierigkeiten. So zeigt etwa die von Dietrich Murswiek in diesem Zusammenhang in die völkerrechtliche Diskussion eingeführte Unterscheidung zwischen einem offensiven und einem defensiven Selbstbestimmungsrecht der Völker, daß es selbst in dieser zentralen Frage an Klarheit und Eindeutigkeit fehlt und der Volksbegriff jeweils funktionsabhängig zu bestimmen ist. 40 Dabei bestehen nach Murswiek offensives und defensives Selbstbestimmungsrecht nebeneinander und stehen unterschiedlichen Subjekten zu: das offensive Selbstbestimmungsrecht dem Volk im ethnischen Sinne, das defensive dem rechtlich rein formal bestimmten Staats-

37 Vgl. eingehend Jestaedt, Demokratieprinzip und Kondominialvetwaltung, S. 210 ff. 38 Rasse, Sprache, Religion, politische Gefahrengemeinschaft etc. Vgl. Zippelius, Allgemeine Staatslehre, § II . 39 So etwa hinsichtlich der Sprache einerseits Deutschland und Österreich, andererseits Belgien und Schweiz; hinsichtlich der Kultur und Abstammung einerseits die Einheit Frankreichs, andererseits die Vielfalt Spaniens und auch Deutschlands und Großbritanniens. Die religiöse Einheit besteht heute nur noch im allgemeinen christlichen, überkonfessionellen Rahmen und ninunt auch dort ab; vgl. zur Thematik die Beiträge in: Michael Zöller (Hrsg.), Europäische Integration als Herausforderung der Kultur- Pluralismus der Kulturen oder Einheit der Bürokratien? Zum gewandelten Selbstverständnis der katholischen Kirche vgl. Ratzinger, Christliche Orientierung in der pluralistischen Welt?, S. 20 ff. 40 Murswiek, in: Der Staat 23 ( 1984), S. 523 ff.

3. Ideengeschichtliche Einordnung der Volkssouveränität

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volk.41 Dies zeigt, daß es auch im Völkerrecht an eindeutigen Kriterien zur Bestimmung des Volksbegriffes fehlt. Es verweist vielmehr zurück auf das Staatsrecht und seine formalen Kategorien. Das Volk wird ihm als politisches Subjekt durch den Staat konstituiert.42 Der Rekurs auf das Völkerrecht hilft deshalb bei der Klärung des Volksbegriffs nicht·entscheidend weiter. 43

3. Ideengeschichtliche Einordnung der Lehre von der Volkssouveränität Hilft der positivrechtliche Befund bei der Beantwortung der Frage, ob es in der Europäischen Union ein Legitimationssubjekt für die Verwirklichung des Demokratieprinzips auf der supranationalen Ebene gibt bzw. geben kann, nicht weiter, so bedarf es eines Rückgriffs auf die ideengeschichtlichen Grundlage der Lehre von der Volkssouveränität. Die Einft.ihrung der Volksherrschaft und Volkssouveränität als neue Grundlage der staatlichen Herrschaftslegitimation44 birgt im historischen Kontext sowie ideengeschichtlich einen doppelten Sinn- und Aussagegehalt: die Absage sowohl an transzendete45 als auch an ständische Herrschaftslegitimation und -ordnung. Volkssouveränität und in ihrem Gefolge Demokratie zielen so auf die Garantie der Herrschaft einer unbestimmten Allgemeinheit46 ab, die durch nichts anderes definiert, ist als das gebietsgesellschaftliche47 Zusammenwirken, wobei das die Mitwirkung legitimierende Band der gleiche Bürgerstatus ist.48 Es besteht also ein sachlicher Zusammenhang zwischen dem Volksbegriff - auf den die Volkssouveränitätsdoktrin aufbaut - und dem egalitären, gebietsgesellschaftlichen Zusammenwirken der Bürger bei der Legitimation staatlicher Herrschaft. Aufgrund dieser - unausgesprochenen - Beziehung 41 Murswiek, in: Der Staat 23 (1984), S. 523 (533).

42 Vgl. DahmJDelbrücldWolfrum, Völkerrecht 1/1, §

12 II I (S. 127). 43 Vgl. auch Lübbe, Abschied vom Superstaat, S. 69 ff.

44 Zur Genese im einzelnen siehe Kielmansegg, Volkssouveränität. Vgl. weiter Jestaedt, Demokratieprinzip und Kondominialverwaltung, S. 156 ff. m.w.N. 45 Vgl. Böckenförde, HStR I,§ 22 Rdnr. 61. 46 Zum Begriff: Böckenförde, HStR I, § 22 Rdnr. 31 und 33; vgl. auch die Übernahme in BVerfGE 83, 37 (55); weiter Schmidt-Aßmann, in: AöR 116 (1991), S. 329 (349). 47 Das gebietsgesellschaftliche Zusanunenwirken tritt damit an die Stelle der verschiedenen Personenverbände und sozialen Rollen, die im mittelalterlichen Staat die politische Ordnung bestimmten. 48 Böckenförde, HStR I,§ 22 Rdnr. 26. Vgl. auch lsensee, HStR I,§ 13 Rdnr. 114: "Der demos der demokratischen Verfassung ist der Verband der Staatsangehörigen, nicht die fluktuierende offene Gesellschaft der Gebietszugehörigen".

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III. Verwirklichungsbedingungen der Demokratie

stehen Volk/Nation, Staat und Demokratie für die herkömmliche Dogmatik in einem wechselseitigen Bedingungsverhältnis.49 Da der Staat die politische Handlungseinheit ist, die das Schicksal der Nation bestimmt, ist in seinem Rahmen die Herausbildung politischer Privilegien durch die Exemtion politischer Teilbereiche aus dem gesamtstaatlichen Legitimationszusammenhang zu verhindern und dadurch die staatsbürgerliche Gleichheit zu effektuieren und abzusichern. Für den innerstaatlichen Bereich folgt daraus, daß korporative, verbandliehe und genossenschaftliche50 Zusammenschlüsse, wie sie etwa im Bereich der funktionalen Selbstverwaltung51, also etwa bei den berufsständischen Kammern, den Wasser- und Bodenverbänden und anderen Realkörperschaften und der Sozialversicherungen anzutreffen sind, in ihrem Binnenbereich keine von einem "Volk" ausgehende demokratische Legitimation verwirklichen können. Die das Verbandsvolk52 bildenden Pflichtmitglieder sind keine Repräsentation des Staatsvolkes, das sich durch die Gebietszugehörigkeit konstituiert, sondern durch bestimmte Funktionen und Interessen geeinte Verbände. Die vom Grundgesetz anerkannten Subjekte demokratischer Legitimation werden durch Art. 20 Abs. 2, 28 Abs. 1 GG abschließend bestimmt: Das Volk in Bund, Ländern und Kommunen. 53 Dagegen läßt sich für die supranationale Ebene ein solches Verbot nicht ableiten, aus den Verfassungen der Mitgliedstaaten schon deshalb nicht, weil sie dort keine Wirkung entfalten können. Aber auch dogmatisch steht einer demokratischen Legitimation auf der supranationalen Ebene die Idee der Volkssouveränität nicht im Wege. Insoweit in der Europäischen Union der einzelne Bürger der Gemeinschaftsgewalt nicht mehr nur durch Vermittlung des Staates begegnet, sondern deren Rechts- und Herrschaftsordnung ihn auch unmittelbar betrifft, ihn zum berechtigten und verpflichteten Subjekt macht, ist 49 In diesem Sinne di Fabio, in: Der Staat 32 (1993), S. 191 (200 f.). 50 Zur Verwirklichung des Gedankens der Genossenschaft in diesem Bereich vgl. Irriger, Genossenschaftliche Elemente bei öffentlich-rechtlichen Körperschaften, insbes. S. 41 ff. , 99 ff. 51 Zum Begriff: Emde, Die demokratische Legitimation der funktionalen Selbstverwaltung, S. 5 ff. Darunter werden alle Träger nicht-kommunaler Selbstverwaltung wie Industrie- und Handelskammern, Handwerkskammern, Wasser- und Bodenverbände, Universitäten etc. gefaßt. 52 Vgl. Oebbecke, in: VerwArch. 81 (1990), S. 349 ff.; Jestaedt, Demokratieprinzip und Kondominialverwaltung, S. 213 ff. 53 Ob den Wahlen und anderen Bestimmungsakten innerhalb der Träger funktionaler Selbstverwaltung in einem anderen Sinne "demokratische" Legitimationsfunktionen zugesprochen werden können, indem etwa der Gedanke der Partizipation fruchtbar gemacht wird, ist eine andere Frage. Vgl. dazu BVerfGE 83, 37 (51, 55); Jestaedt, Demokratieprinzip, S. 537 ff. Zur Funktion der Freiheitssicherung in solchen Organisationsformen vgl. Kluth, DVBI. 1986, S. 716 ff.

4. Voraussetzungen demokratischer Legitimationsprozesse

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die Beschränkung demokratischer Legitimation auf den Staat aufgebrochen. Gebietsgesellschaftliches Zusammenwirken der Bürger ist damit grundsätzlich auf der überstaatlichen, supranationalen Ebene möglich. Ob es tatsächlich der Fall ist, hängt vor allem davon ab, ob auch in einer supranationalen Gemeinschaft die notwendigen, im folgenden zu erörternden, Rahmenbedingungen demokratischer Legitimationsprozesse gegeben sind.

4. Voraussetzungen demokratischer Legitimationsprozesse a) Das Volk als responsiver Akteur im politischen Prozeß

"Demokratie, soll sie nicht lediglich formales Zurechnungsprinzip bleiben, ist vom Vorhandensein bestimmter vorrechtlicher Voraussetzungen abhängig, wie einer ständigen freien Auseinandersetzung zwischen sich begegnenden sozialen Kräften, Interessen und Ideen, in der sich auch politische Ziele klären und wandeln ... und aus der heraus eine öffentlichen Meinung den politischen Willen vorformt."54 Mit diesen Worten umschreibt das Bundesverfassungsgericht die Anforderungen an demokratische Legitimationsprozesse. Dabei erweckt es den Anschein, als ob sich politische Meinungen und Positionen "an der Basis" bilden und von dort aus den politischen Prozeß und über diesen die Staatswillensbildung und Entscheidung prägen. Ein solches Konzept entspricht jedoch weder der Realität, noch dem Verständnis des politischen Prozesses, wie er sich in den Regelungen des Grundgesetzes und der dazu ergangenen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts abzeichnet. Deshalb bedarf es ergänzend und korrigierend zu den zitierten Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts einiger Hinweise zur Rolle des Volkes im politischen Prozeß. Die Demokratiekonzeptionen der westlichen Verfassungsstaaten gehen nicht von einem personifizierten oder organischen Volksverständnis aus. 55 Vielmehr gilt auch in der Demokratie, wie Hermann Heller treffend bemerkt hat, das "Gesetz der kleinen Zahl".56 Nicht "das Volk" handelt und bringt politische Ideen hervor. Vielmehr gilt der Satz Erich Kaufmanns, daß "die Vielheit ihrem 54 BVerfGE 89,

155 (185).

55 So schon Heller, Staatslehre, S. 183. Vgl. auch den zutreffenden Hinweis auf den pluralistischen Volksbegriffbei Heller, a.a.O. S. 185 und Häberle, in: AöR 112 (1987), S. 54 (85). 56 Heller, Staatslehre, S. 279. Stern, Staatsrecht Bd. I, § 18 II 4. spricht vom "ehernen Gesetz der Oligarchie", dem auch die Demokratie unterliege.

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III. Verwirklichungsbedingungen der Demokratie

Wesen nach nichts Positives, keine Inhalte schaffen kann"57. Die moderne empirische Demokratieforschung hat dem die Erkenntnis hinzugefügt, daß die Volkswillensbildung durch einen responsiven Charakter gekennzeichnet ist: das Volk wählt aus zwischen den politischen Konzeptionen, die von den politischen Eliten zur Wahl gestellt werden. 58 Es liegt ein dialogischer und dialektischer Prozeß vor.59 In diesem Prozeß spielen vor allem die Parteien eine zentrale Rolle. Sie prägen den parteienstaatlichen Parlamentarismus für den Peter Badura feststellt: "Das Volk, der Volkswille und die parlamentarische Repräsentation durch die Volksvertretung sind existent, wirksam und verbindlich nur in den verfassungsmäßigen Institutionen und Verfahren der Demokratie". 60 Im folgenden sind die Bedingungen ihrer wirksamen Entfaltung zu prüfen. b) Rechtlich-formale Bedingungen Als wichtigste rechtlich-formale Bedingungen demokratischer Herrschaftslegitimation erweisen sich auf der Grundlage dieser Konzeption die Gewährleistung rechtlicher Legititionsmechanismen durch Wahl und Emennung6l, die rechtlich abgesicherte Unabhängigkeit der Repräsentanten auf der Grundlage des Amtsgedankens62, um eine Repräsentation des ganzen Volkes zu ermöglichen und schließlich der effektive Verantwortlichkeitszusammenhang zwischen dem Volk und den Organen.63

51 E. Kaufmann, Zur Problematik des Volkswillens, S. 20 (26). Vgl. Böckenförde, HStR II, § 30 Rdnr. 5 ff. m.w.N. Noch weitergehend Haupt,

Über den Bau demokratischer Institutionen im Prozeß der europäischen Einigung, S. 217 (222 f.) unter Bezug auf eine systemtheoretische Beschreibung: "Nicht das Volk, sondern das Auswahlverfahren herrscht". 59 Zusammenfassend: Böckenförde, HStR II, § 30 Rdnr. 21 f. 60 Badura, Die parteienstaatliche Demokratie und die Gesetzgebung, S. 15. 61 Den formalen Aspekt hat das Bundesverfassungsgericht mit dem Hinweis verdeutlicht, daß die Demokratie unbeschadet der bestehenden sozialen Unterschiede im Bereich der politischen Willensbildung alle Staatsbürger gleich bewertet, BVerfGE 51, 222 (234) unter Verweis auf 8, 51 (69); 14, 121 (132); 41, I (12). Das gilt nicht nur für das Grundgesetz, sondern prägt Demokratie als Rechtsbegriff überhaupt, vgl. Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie, S. 98; Fromme, DÖV 1970, S. 518 (524); Jestaedt, Demokratieprinzip und Kondominialverwaltung, S. 173 f. 62 Dazu Hennis, Amtsgedanke und Demokratiebegriff, S. 323 ff. aufS. 327 zugespitzt mit der These: "Der zentrale Begriff der repräsentativen Demokratie ist nicht die Volkssouveränität, nicht der Wille, sondern das Amt." 63 Dazu und zum Ganzen Böckenförde, HStR II, § 30 Rdnr. 15; vgl. auch BVerfGE 5, 85 (204 f.). 58

4. Voraussetzungen demokratischer Legitimationsprozesse

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c) Inhaltliche Repräsentation

Darüber hinaus ist eine inhaltliche Repräsentation erforderlich, die nicht auf absolute Werte64, sondern den realen Volkswillen gerichtet sein muß65. Sie ist immer nur aufgegeben, jedoch institutionell nicht garantiert und garantierbar66 und ihrerseits gleichfalls vom Vorliegen bestimmter vor-verfassungsrechtlichen Gegebenheiten abhängig. Die vor-verfassungsrechtlichen Bedingungen einer effektiven demokratischen Legitimation können im Anschluß an eine von Ernst-Wolfgang Böckenförde vorgeschlagene Systematisierung in sozio-kulturelle, politischstrukturelle und ethische Voraussetzungen unterschieden werden. 67 Im vorliegenden Zusammenhang interessieren von ihnen nur diejenigen, deren Vorliegen auf der Gemeinschaftsebene fraglich ist bzw. bestritten wird. Deshalb können Aspekte, wie etwa das Vorliegen einer Emanzipationsstruktur in der Gesellschaft68, die Abwesenheit theokratischer Religionsformen69 und ein entwickeltes Schulsystem70, als selbstverständlich vorhanden eingestuft und aus der weiteren Untersuchung ausgeklammert werden.? I Problematisch bzw. fraglich ist auf der Gemeinschaftsebene dagegen das Vorliegen einer ausreichenden sozialen Homogenität, die ein Wir-Bewußtsein trägt, sowie die Möglichkeit der Beurteilung der politischen Entscheidungen bzw. Alternativen durch den einzelnen12, die Möglichkeit von Information und Kommunikation innerhalb des politischen Systems73, sowie die Vermittlung von Entscheidungsinhalten durch die Parteien und anderen politischen Instanzen. Im Bereich der ethischen Voraussetzungen könnte schließlich fraglich sein, ob sich auf der Gemeinschaftsebene bereits ein "Ethos der Partner-

64 So aber die Konzeption von uibholz, Das Wesen der Repräsentation, S. 32 ff. 6S Dazu grundlegend: Drath, Die Entwicklung der Volksrepräsentation, S. 260 ff., auch mit dem Hinweis, daß die inhaltliche Repräsentation mit dem Problem der sozialen und politischen Mindesthomogenität auf das Engste verbunden ist, S. 290. 66 Böckenforde, HStR li, § 30 Rdnr. 24. 67 Böckenförde, HStR I, § 22 Rdnr. 58 ff. 68 Böckenförde, HStR I, § 22 Rdnr. 60. 69 Böckenförde, HStR I,§ 22 Rdnr. 61.

70 Böckenförde, HStR I, § 22 Rdnr. 67. 71 Aus dem Blickwinkel dieser Kriterien ergeben sich auch Anhaltspunkte flir die Ost-Abgrenzung bei einer möglichen Erweiterung der Europäischen Union. 72 Böckenförde, HStR I,§ 22 Rdnr. 70 ff. Vgl. dazu BVerfGE 89, 155 (185). 73 Böckenförde, HStR I, § 22 Rdnr. 68.

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III. Verwirklichungsbedingungen der Demokratie

schaft"74 entwickelt hat und eine ausreichende Orientierung am gemeinsamen Wohl der Gemeinschaft75 gegeben ist. Alle diese Voraussetzungen sind insbesondere entscheidend für die Anwendbarkeit des Mehrheitsprinzips in der Gemeinschaft, das einen gesicherten sozialen Grundkonsens voraussetzt, ohne den für einzelne Gruppen nachteilige bzw. belastende Entscheidungen auf Dauer nicht hingenommen werden.76

S. Der Unionsbürger als Legitimationssubjekt der Europäischen Union Die Besinnung auf die ideengeschichtlichen Ursprünge der Lehre von der Volkssouveränität zeigt, daß das Demokratieprinzip mit dem Verweis auf das Volk als Subjekt demokratischer Herrschaftslegitimation nicht lediglich formal auf das Staatsvolk als die Gemeinschaft der Bürger im status activus aufbaut. Vielmehr wird damit an das gebietsgesellschaftliche Zusammenwirken der Bürger als einer unbestimmten Allgemeinheit unter bestimmten sozio-kulturellen, politisch-strukturellen und ethischen Voraussetzungen angeknüpft. Im bislang durch das Verfassungsrecht zugrundegelegten Normalfall, daß das Staatsvolk zugleich eine kulturelle und politische Einheit im nationalen Rahmen repräsentiert, treten diese Bedingungen demokratischer Legitimation nicht in den Vordergrund; sie werden stillschweigend als gegeben angenommen bzw. vorausgesetzt. Daraus kann indes nicht der Schluß gezogen werden, daß demokratische Legitimation nur im Kontext herkömmlicher Nationalstaaten möglich ist.77 Die einzelnen Bestimmungsmomente lassen sich vielmehr grundsätzlich vom Nationalstaat lösen, ohne daß sich am Legitimationskonzept Änderungen ergeben.78 Die Erweiterung des Demokratiekonzepts auf die supranationale Ebene wirft jedoch die Frage auf, ob auch dort - soweit die einzelnen Bedingungen erfüllt sind - bezüglich der Herrschaftsunterworfenen von einem "Volk" gesprochen werden kann bzw. soll. Wemer von Simson befürwortet dies, muß dafür jedoch eine gewisse Doppeldeutigkeit des 74 Böckenförde, HStR I, § 22 Rdnr. 76. 75 Böckenförde, HStR I, § 22 Rdnr. 78. 76 Dazu Heun, Das Mehrheitsprinzip in der Demokratie, S. 175 ff. 77 In diese Richtung tendierend z.B. lpsen, Exekutiv-Rechtsetzung, S. 425 (435 ff.). Auf die dort angeführten strukturellen Besonderheiten, die eine demokratische Legitimation auf der Gemeinschaftsebene hindem sollen, ist weiter unten einzugehen. Für eine Neuorientierung im hier vorgeschlagenen Sinne spricht sich dagegen Everling, ZfRV 1992, S. 241 (256) aus. Gegen eine ahistorische Fixierung auf den Staat auch Tomuschat, EuGRZ 1993, S. 489 (496). 78 So auch Schwarze, JZ 1993, S. 585 (589). Früher bereits Zuleeg, in: Der Staat 17 (1978), S. 27 (33): geschichtliche aber keine denknotwendige Verk-nüpfung.

5. Der Unionsbürger als Legitimationssubjekt

43

Begriffs in Kauf nehmen, der im bisherigen Sprachgebrauch eng an die Nation und die Vorstellung vom Kulturvolk angelehnt ist.79 Eine solche Mehrdeutigkeit sollte bei Schlüsselbegriffen aber vermieden werden und steht im Widerspruch zum Integrations-Konzept des Unions-Vertrages. Aber auch der Vorschlag, von einer zwölffach gebündelten Volkssouveränität auszugehenBO, hilft jedenfalls beim Europäischen Parlament nicht weiter, läßt er doch den Bezug zur Eigenständigkeil und Unabgeleitetheit der demokratischen Legitimation der Union vermissen. Es ist daher vorzuziehen, anstelle des Volkes den Bürger, dessen Selbstbestimmung und Freiheit das Demokratieprinzip sichern will, als Ursprung der hoheitlichen Gewalt der Europäischen Union zu begreifenBI. Damit wird eine "Demokratie ohne Volk" auf der supranationalen Ebene grundsätzlich möglich, ohne daß Abstriche am vertrauten und bewährten Legitimationskonzept erforderlich sind. 82

79 von Simson, EuR 27 (1992), S.

1 (11).

80 So Ress, Parlamentarische Legitimierung, S. 647. 81 Vgl. in diesem Sinne auch Häberle, Diskussionsbeitrag in VVDStRL 33 (1975), S. 136: "Ist es nicht höchste Zeit, daß wir von der Bürgerdemokratie sprechen, alle Formen von Volks-Demokratien, ihr "Zurück-zu-Rousseau" und ihre Einheitsfiktion fallenlassen und einfach sagen, daß der Pluralismus der entscheidende Gesichtspunkt ist?"; Haverknte, Verfassungslehre, S. 330 ff. 82 Ebenso Zuleeg, JZ 1993, S. 1069 (1071).

IV. Analyse der Voraussetzungen demokratischer Legitimation in der Europäischen Union 1. Übersicht zum Problem- und Meinungsstand Literatur und Rechtsprechung äußern sich zur Frage, ob auf der Gemeinschaftsebene die Voraussetzungen für eine demokratische Legitimation gegeben sind, zumeist nur knapp und apodiktisch. So wird unter Verweis darauf, daß es (zur Zeit) kein europäisches Volkl, keine europäischen Parteien, keine gemeinsame Sprache und - als Folge all dessen - keinen gemeinsamen Raum politischer Kommunikation2 und Repräsentation3 gebe, der Schluß gezogen, daß unerläßliche Voraussetzungen für einen demokratischen Legitimationsprozeß nicht gegeben seien. 4 Andere, unter ihnen der deutsche Altmeister des Buroparechts Hans Peter Ipsen, halten eine demokratische Legitimation durch das Europäische Parlament für mit der Struktur der Europäischen Union unvereinbar und stehen einer Orientierung am parlamentarischen Regierungssystem auch prinzipiell ablehnend gegenüber. 5 Diejenigen, die eine demokratische Legitimation der Union nicht nur für möglich, sondern überdies für geboten halten, äußern sich ebenfalls recht verhalten. So geht das Bundesverfassungsgericht im Maastricht-Urteil6 zwar davon aus, daß ein weiterer Ausbau der Aufgaben und Befugnisse der Gemeinschaft eine ergänzende demokratische Legitimation durch das Europäische I So etwa Tomuschat, EuGRZ 1993, S. 489 (491); Zuleeg, JZ 1993, S. 1069 (1071); /sensee, Europa - die politische Erfindung eines Erdteils, S. 133; /psen, Exekutiv-Rechtsetzung, S. 435; Kohler, EuR 13 (1978), S. 333 ff. 2 BleckmiJnn, ZRP 1990, S. 265 (267); von Münch, Staatsrecht Bd. I, Rdnr. 971 f .; lpsen, Exekutiv-Rechtsetzung, S. 436; Grimm, in: Der Spiegel, Nr. 43/1992, S. 57 f. 3 Lepsius, Zwischen Nationalstaatlichkeil und westeuropäischer Integration, S. 180 (192); lpsen, Exekutiv-Rechtsetzung, S. 435 ff. 4 Vgl. weiter zu den angesprochenen Einzelpunkten Ossenbühl, DVBI. 1993, S. 629 (634); di Fabio, in: Der Staat 32 (1993), S. 191 (203 f.); lsensee, Europa- die politische Erfindung eines Erdteils, S. 133; Scharpf, Demokratietheorie zwischen Utopie und Anpassung, S. 293 (296 f.). 5 lpsen, Exekutiv-Rechtsetzung, S. 425 ff. Zurückhaltender ders., EuR 29 (1994), S. 1 (5 f.). 6 BVerfGE 89, 155 (184 f.). Ähnlich Lenz, NJW 1993, S. 1962 (1963); Schwarze, JZ 1993,

s. 585 (589).

2. Die Europäische Union als Herrschaftsordnung

45

Parlament erforderlich macht und hält dies prinzipiell auch für möglich. Es ist jedoch der Ansicht, daß "zur Zeit" die tatsächlichen Bedingungen für eine inhaltliche Repräsentation noch nicht vorliegen. Insbesondere fehle eine ausreichend dichte politische Kommunikation auf der europäischen Ebene. 7 Andere Stimmen plädieren für dogmatische Neuorientierungen und versuchen, das Fehlen eines europäischen Volkes durch die Annahme einer zwölffach gebündelten VolkssouveränitätS oder den Verweis auf den Bürger als Legitimationssubjekt9 zu überwinden. Schließlich wird von einer normativen Ebene aus ohne ausdrückliche Bedachtnahme auf die strukturellen Gegebenheiten schlicht gefordert, daß die entsprechenden Voraussetzungen "geschaffen" werden müssen, soweit sie noch nicht vorliegen.IO Das weit gefächerte Meinungsspektrum kann indes nicht darüber hinwegtäuschen, daß die spezifischen Bedingungen demokratischer Legitimation auf der supranationalen Ebene in aller Regel nicht hinreichend bedacht bzw. erkannt werden.II Nach wie vor werden zu voreilig Konzepte des staatlichen Bereichs übernommen. Aber auch dort, wo die Besonderheiten der supranationalen Ebene erkannt werden, fehlt es nicht selten an einer zutreffenden Analyse bzw. Einschätzung der institutionellen und strukturellen Gegebenheiten in der Europäischen Union. Es bedarf deshalb einer schrittweisen Entwicklung der einzelnen Bedingungen demokratischer Legitimation auf der Unionsebene.

2. Die Europäische Union als Herrschaftsordnung Demokratische Herrschaftslegitimation ist nur innerhalb eigenständiger Herrschaftsordnungen möglich, die den einzelnen Bürger als Zurechnungsend7 Allerdings ist die Position des BVerfG nicht ganz klar. Eine Seite später heißt es nämlich: "Bereits in der gegenwärtigen Phase der Entwicklung kommt der Legitimation durch das Europäische Parlament eine stützende Funktion zu, die sich verstärken ließe, wenn es nach einem in allen Mitgliedstaaten übereinstimmenden Wahlrecht gern. Art. 138 Abs. 3 EGV gewählt würde und sein Einfluß auf die Rechtsetzung der Europäischen Gemeinschaften wüchse", BVerfGE 89, 155 (186). 8 Ress, Parlamentarische Legitimierung, S. 646 f. In diese Richtung auch lsensee, Buropa - die politische Erfindung eines Erdteils, S. 133 mit dem Hinweis, die demokratische Grundnorm müsse in der Weise abgewandelt werden, daß alle Gewalt der Europäischen Gemeinschaft von den Völkern der Mitgliedstaaten ausgehe. 9 Zuleeg, JZ 1993, S. 1071 f. und 1074. 10 So etwa Ress, JuS 1992, S. 985 (988 f.). Eine differenzierte strategische Vision bietet dagegen Jacqui, Integration 1989 S. 61 ff. II Das BVerfG kommt insoweit über eine verbale Anerkennung der Besonderheiten auch nicht hinaus, vgl. BVerfGE 89, 155 (182).

46

IV. Voraussetzungen demokratischer Legitimation in der EU

subjekt anerkennen. Nach der ständigen Rechtsprechung des EuGH12, die nach vereinzeltem Zögern von sämtlichen Mitgliedstaaten und ihren Organen anerkannt wurdel3, formiert die Europäische Union eine selbständige, supranationale14 Rechtsordnung15, die den Unionsbürgern Grundfreiheiten 16 und Grundrechte17 garantiert und sie zu Adressaten begünstigender und belastender Regelungen macht. Es besteht ein rechts- und pflichtenbegründender18 Status der Über- und Unterordnung (Subjektionsverhältnis) im Verhältnis Gemeinschaft-Unionsbürger, wie es für eine selbständige Rechtsordnung typisch ist.l9 Sichtbarer Ausdruck dieses gemeinschaftsrechtlichen Bürgerstatus ist nunmehr die Unionsbürgerschaft20, die der Unions-Vertrag eingeführt hat.21 Sie regelt den Bürgerstatus, insbesondere den status activus. Im einzelnen gehören

dazu das Wahlrecht22 zum Europäischen Parlament (Art. Sb Abs. 2 EGV) und den nationalen Kommunalvertretungen (Art. Sb Abs. I EGV), der konsularische und diplomatische Beistand, den alle Mitgliedstaaten den Unionsbürgern gewähren (Art. Sc EGV) und das allgemeine Aufenthaltsrecht (Art. Sa EGV). Hinzu

kommen

als

primärrechtliche

Gewährleistungen

der

Grund-

rechtsschutz23 und die Rechtsschutzverbürgung gegenüber der Gemein-

12 Grundlegend: EuGH Rs. 6/64, Costa!ENEL, Slg. 1964, S. 1251 (1269); Rs. 14/68, Wilhelrn!Bundeskartellamt, Slg. 1969, 1 (14); Rs. 11n0, Internationale Handelsgesellschaft/Einfuhr- und Vorratsstelle für Getreide und Futtermittel, Slg. 1970, S. 1125 (1135). 13 Zuleeg, in: G-T-E, EWGV, Art. I Rdnr. 29; Oppermann. Europarecht, Rdnr. 389 ff. m.w.N. 14 Der Begriff taucht erstmals im EGKS-Vertrag auf, der in Art. 9 Abs. 5 und 6 vom "überstaatlichen" Charakter der Tätigkeit spricht. Überstaatlich ist jedoch die deutsche Fassung von supranational. Wenn von Bogdandy, Integration 1993, S. 210 ff. die supranationale Union als "neuen" Herrschaftstypus vorstellt, so erscheint dies reichlich verspätet; vgl. insoweit Friauf, Die Staatenvertretung in supranationalen Gemeinschaften, S. 133 f. 15 In diesem Sinne auch BVerfGE 89, ISS (17S, 182 f.). 16 Vgl. dazu statt aller: Behrens, EuR 27 (1992), S. 145 ff. 17 Grundlegend: EuGH Rs. 29/69, Stauder, Slg. 1969, S. 419 (425); Rs. 4n3, Nold. S1g. 1974, S. 491 (507); einen aktuellen Überblick über den Stand der Grundrechtsentwicklung bietet jetzt Rengeling, Grundrechtsschutz in der Europäischen Gemeinschaft. 18 Zu den Pflichten des Marktbürgers vgl.Jpsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, 42/1 ff. 19 Vgl. ausftihrlich auch Everling, ZfRV 1992, S. 241 f. Vgl. auch Zuleeg, JZ 1993, S. 1069 (1071) zum "rechtlichen Zusammenhalt" der Gemeinschaft und seiner Bedeutung für die demokratische Legitimation. 20 Zuvor sprach man vom Marktbürger, vgl. lpsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, 8/6. 21 Dazu Fischer. EuZW 1992. S. 566 ff.; Hobe, in: Der Staat 32 (1992), S. 245 ff. ; früher bereits Oppermann, Sinn und Grenzen einer EG-Angehörigkeit, S. 713 ff.; Magiera, DÖV 1987, S. 221 ff. 22 Zu seiner Bedeutung Everling, ZfRV 1992, S. 241 (24S). 23 Dazu im vorliegenden Zusammenhang auch Everling, ZfRV 1992, S. 241 (248 ff.).

2. Die Europäische Union als Herrschaftsordnung

47

schaftsgewalt sowie der Staatsgewalt der Mitgliedstaaten, insoweit sie bzw. ihre Organe gegen Gemeinschaftsrecht verstoßen24. Die Europäische Union unterscheidet sich bereits insofern grundlegend und kategorial von den herkömmlichen internationalen Organisationen, die in der Regel nur die Staaten als Rechtssubjekte ansprechen, jedenfalls die Rechtsstellung der Bürger nur vermittelt durch staatliche Rechtsetzungsakte bestimmen. 25 Über diese eher formalen Gesichtspunkte hinaus kann die Besonderheit der Europäischen Union aber auch positiv näher beschrieben werden: durch die Eigenständigkeil ihrer Rechtsordnung, die Existenz eines spezifisch europäischen Gemeinwohls und die Anwendbarkeit des Mehrheitsprinzips. Eigenständigkeil bedeutet hier nicht "unabgeleitet" in dem Sinne, daß die EG-Rechtsordnung26 das Werk eines unabhängigen europäischen pouvoir constituant ist. 27 Vielmehr ist die völkerrechtliche Basis und die Stellung der Mitgliedstaaten als "Herren der Verträge" auch heute noch - wenn auch abgeschwächt - gegeben.28 Die Eigenständigkeil zeigt sich positiv in der Existenz eines thematisch und dogmatisch29 selbständigen Rechtscorpus30, dessen letztverbindliche Interpretation dem EuGH vorbehalten ist, sowie dem Anwendungsvorrang dieser Rechtssätze gegenüber dem mitgliedstaatliehen Recht31. Die Europäische Union bzw. ihre Organe und Tätigkeiten sind zudem auf ein spezifisch europäisches Gemeinwohl ausgerichtet.32 Dies belegen bereits die Integrationsnormen der mitgliedstaatliehen Verfassungen, insoweit sie von der Einsicht getragen sind, daß es zunehmend politische Aufgaben gibt, die im nationalen Bereich nicht bzw. nicht befriedigend erfüllt werden können. 33 Es handelt sich dabei um Sachbereiche, die durch die Mitgliedstaaten alleine oder im koordinierten Zusammenwirken nicht bzw. nicht in der gleichen Art und 24 Dazu Oppermann, Europarecht, Rdnr. 644 ff. m.w.N.; vgl auch Everling, ZfRV

(251 ff.).

1992. S. 241

25 Everling, ZfRV 1992, S. 241 (242). 26 Zur "europäischen Rechtsordnung" vgl. Götz, JZ 1994, S. 265 ff. 27 Tomuschat, BK, Art. 24 Rdnr. 17 spricht deshalb von einer zugleich originären und abgeleiteten supranationalen Hoheitsgewalt 28 Vgl. dazu Blanke, DÖV 1993, S. 412 (418 ff.) m.w.N. 29 Das gilt insbesondere für die Auslegungsgrundsätze, vgl. dazu Oppermann, Europarecht, Rdnr. 577 ff. 30 Zur Frage seiner Hierarchisierung vgl. Heintzen, EuR 29 (1994), S. 35 ff. 31 Grundlegend zu beiden Aspekten: EuGH Rs. 6/64 Costa/ENEL, EuGHE 1964, S. 1251 ff. 32 Dazu Tsatsos, EuGRZ 1994, S. 45 (50); 33 Tomuschat, BK, Art. 24 Rdnr. I unter Hinweis auf die Entstehungsgeschichte. Vgl. auch Kraußer, Das Prinzip begrenzter Ermächtigung, S. 51 .

48

IV. Voraussetzungen demokratischer Legitimation in der EU

Weise verwirklicht werden können wie durch eine supranationale Gemeinschaft. 34 Das gilt für die Gewährleistung der Grundfreiheiten und einen einheitlichen Rechtsschutz, vor allem aber für die effektive Garantie einer marktwirtschaftliehen Wettbewerbsordnung im Binnenmarkt. So kann nur eine europäische Kartell- und Fusionskontrolle wirksam dafür sorgen, daß die Wettbewerbsordnung im Binnenmarkt aufrechterhalten wird, denn nationale Maßnahmen sind gegenüber international tätigen Unternehmen zunehmend wirkungslos.35 Das gleiche gilt für den Umweltschutz, der gleichfalls effektiv nur in internationaler Kooperation verwirklicht werden kann. 36 Damit ist in zentralen Politikbereichen eine kaum substituierbare Zuständigkeit und Verantwortung der Europäischen Union festzustellen, der ein spezifisches Gemeinwohl der Europäischen Union korrespondiert. Daß es in diesem Bereich auch Defizite gibt, ist allerdings ebensowenig zu verleugnen. So entsprechen den weitgehenden Freiheiten der Unionsbürger zur Zeit noch keine gleichermaßen weitreichenden gemeinschaftlichen Maßnahmen zur Gewährleistung der sozialen37 und inneren Sicherheit38. Hier besteht ein besonderer Handlungsbedarf, für den in Art. J des Unions-Vertrages und im Abkommen über die Sozialpolitik39 wichtige Grundlagen geschaffen wurden. Vor allem die Entwicklung der Sicherheitspolitik dürfte in der Zukunft eine Bewährungsprobe für die Europäische Union darstellen. Indikator für die Existenz einer Herrschaftsordnung in der Europäischen Union ist zudem die weitreichende Anwendung des Mehrheitsprinzips. An dieser Stelle40 ist zunächst zu konstatieren, daß weite Bereiche der Rechtsetzung dem einfachen oder qualifizierten Mehrheitsprinzip unterliegen. Das Mehrheitsprinzip ist dabei nicht so sehr Ausfluß des Demokratieprinzips41, als vielmehr Indikator einer selbständigen Herrschaftsordnung, die nicht in jedem 34 Das europäische Gerneinwohl korreliert damit negativ mit dem Grundsatz der Subsidiarität. Seine Verankerung im Unions-Vertrag konkretisiert insofern indirekt das Europäische Gemeinwohl. 35 Vgl. zu diesem Zusammenhang auch Kennedy, In Vorbereitung auf das 21. Jahrhundert, S. 68 ff., 328 ff. 36 Daß eine Zusammenarbeit darüber hinaus in weltweiter Dimension erforderlich und sinnvoll ist, steht der Bewertung von regionalen Kooperationen nicht entgegen. 37 Zum Stand der sozialen Sicherheit vgl. Junker, JZ 1994, S. 277 ff. 38 Zu den Problernen der inneren Sicherheit vgl. etwa Doehring, ZRP 1993, S. 98 (101 f.). Zu dem insofern bedeutsamen Schengener Abkommen vgl. Nanz, Integration 1994, S. 92 ff. 39 Dazu im einzelnen Kliemann, Auf dem Weg zur Sozialunion?, S. 171 ff. 40 Auf die Frage nach den sozialen Voraussetzungen seiner Anwendung ist an späterer Stelle einzugehen. 41 Hofmann/Dreier, Mehrheitsprinzip und Minderheitenschutz, § 5 Rdnr. 48.

3. Die Voraussetzungen inhaltlicher Repräsentation

49

ihrer Akte auf allseitige vertragliche Vereinbarung angewiesen ist. Seine Einführung ist deshalb ein verläßlicher Gradmesser für die Eigenständigkeil einer Herrschaftsordnung, seine Infragestellung, wie bei den sog. LuxemburgerBeschlüssen, ein untrügliches Krisensymptom. Im Ergebnis kann die Europäische Union als selbständige Herrschaftsordnung angesehen werden. Sie ist gekennzeichnet durch einen ausgeformten Bürgerstatus, der einen fest umrissenen status activus sowie umfangreiche Rechtsverbürgungen umfaßt, durch eine selbständige Rechtsordnung, ein eigenes Gemeinwohl und die weitreichende Geltung des Majoritätsprinzips. Deshalb ist in der Europäischen Union sowohl formal als auch material eine ausreichende rechtliche Basis für demokratische Herrschaftslegitimation im Wege des gebietsgesellschaftlichen Zusarnrnenwirkens gegeben.42

3. Die Voraussetzungen inhaltlicher Repräsentation auf der Gemeinschaftsebene Wie die allgerneinen Überlegungen zu den Voraussetzungen demokratischer Herrschaftslegitimation gezeigt haben, setzt die mit dem Demokratieprinzip verbundene Einführung des Mehrheitsprinzips voraus, daß in einer politischen Gerneinschaft die Bereitschaft vorhanden ist, sich in Einzelfragen überstimmen zu lassen und diese Entscheidungen gleichwohl als verbindlich zu akzeptieren, ohne die Gesamtordnung in Frage zu stellen. 43 Das setzt voraus, daß die Vorteile eines solchen Herrschaftsordnung und die grundsätzliche Rationalität des Entscheidungsverfahrens anerkannt werden. Zudem muß gewährleistet sein, daß die Majorität grundsätzlich bereit ist, die Rechte und berechtigten Interessen der Minderheit zu achten. Alle diese Faktoren können unter dem Sammelbegriff der sozialen Homogenität als Voraussetzung demokratischer Herrschaft zusammengefaSt werden. Homogenität bezeichnet dabei im Gegensatz zu Identität lediglich eine gewisse Gleichartigkeit, Gleichgerichtetheit und Vereinbarkeit von Überzeugungen und Institutionen. Sie verlangt vor allem negativ das Fehlen grundsätzlicher Unvereinbarkeilen und Widersprüche im Hinblick auf die politische Ordnung.

42 In diesem Sinne wohl auch Ever/ing, ZfRV 1992, S. 241 (253 ff. ) zugleich mit Hinweis auf die zu beachtenden Grenzen der Einbeziehung des Bürgers in die Gemeinschaftsgewalt. 43 Vgl. dazu Heun, Das Mehrheitsprinzip in der Demokratie, S . 175 ff.; Dreier, ZParl 1986, S. 94 ff. 4 Kluth

50

IV. Voraussetzungen demokratischer Legitimation in der EU

a) Sozio-kulturelle Grurullagen (1) Bestimmung des Anforderungsniveaus

Die Beurteilung der sozio-kulturellen Gegebenheiten in der Europäischen Union kann von der sicheren Feststellung ausgehen, daß von einem kulturellen europäischen Volk nicht die Rede sein kann.44 Dies dürfte eine der wenigen Feststellungen sein, über die ein allgemeines Einvernelunen erzielt werden kann. Das Bekenntnis des Unions-Vertrages45 zur Wahrung und Förderung der nationalen Identitäten der Mitgliedstaaten46 läßt auch deutlich erkennen, daß hier auch kein Ziel der Integration gesehen wird. 47 Die eigentliche Schwierigkeit bei der Beurteilung der sozio-kulturellen Voraussetzungen besteht darin, die richtigen Bewertungsmaßstäbe anzulegen. Auch hier können die herkömmlichen nationalen bzw. staatlichen Kriterien deren Konkretisierung schon erhebliche Probleme bereitet - nicht ohne weiteres auf die Gemeinschaftsebene übertragen werden. Die Staaten sind aufgrund der sehr viel intensiveren Einbeziehung der Bürger in die gemeinsame staatliche Lebensordnung auf eine weitaus tragfähigere Akzeptanz und Homogenität der politischen Gemeinschaft angewiesen. Die Gründe liegen auf der Hand: die Staaten "verwalten" das Gewaltmonopol und tragen nach wie vor die soziale Letztverantwortung48 für ihre Bürger. Das zeigt z.B. daran, daß das allgemeine Aufenthaltsrecht der Unionsbürger nach Art. 8a Abs. 1 EGV durch den Nachweis eines gesicherten Lebensunterhaltes und einer Krankenversicherung bedingt ist, damit die Sozialsysteme der Mitgliedstaaten nicht durch Angehörige anderer Mitgliedstaaten belastetet werden. 49 Die Mitgliedstaaten fordern 44 Dies bestätigen auch die Umfragen des Euro-Barometers, vgl. Angelucci, Die europäische Identität der Europäer, S. 303 (317 m.w.N.). Es kann jedoch von einer im Entstehen begriffenen europäischen Gesellschaft gesprochen werden, vgl. Schink, Auf dem Weg in eine europäische Gesellschaft, S. 269 ff. 45 Art. F Abs. 1 und vierte Erwägung der Präambel. 46 Die im übrigen Beitrittsvoraussetzung ist. Vgl. dazu lpsen, Über Verfassungs-Homogenität in der Europäischen Gemeinschaft, S. 159 ff. m.w.N. 47 Vgl. auch Isensee, Europa- die politische Erfindung eines Erdteils, S. 131 f. mit dem Hinweis, daß Europa seiner Idee nach zunächst Vielheit ist und erst danach Einheit sowie daß die Staaten die eigentlichen Garanten der Vielgestalt Europas sind. 48 Die Europäische Union trägt eine soziale Letztverantwortung zur Zeit nur im Agrarsektor, in dem sie eine volle politische Kompetenz durch ihre umstrittene Agrarmarktordnung verwirklicht. Vgl. Eiden, § 22 in: Bleckmann, Europarecht Der Systemfehler der EG-Agrarpolitik wird in der Option für eine Preispolitik anstelle von direkten Einkommensübertragungen gesehen. 49 Vgl. Art. I der Richtlinie über das Aufenthaltsrecht, ABlEG 1990 Nr. L 180, S. 26. Dazu Fischer, EuZW 1992, S. 566 (568).

3. Die Voraussetzungen inhaltlicher Repräsentation

51

von ihren Bürgern - vor allem finanzielle - Solidarität einSO und garantieren ihrerseits innere und äußere Sicherheit sowie soziale Wohlfahrt. Die soziale Letztverantwortung tragen sie selbst in Bereichen, in denen die Rechtsetzungskompetenz der Europäischen Union übertragen worden ist. Auch die zunehmende internationale Verflechtung, wie sie besonders in den Bereichen Wirtschaft, Handel und Umwelt festzustellen ist, wirkt sich auf innerstaatliche Entscheidungsprozesse aus und verändert diese. SI Die Eigenart und Einzigartigkeit der staatlichen Ordnung ist dadurch aber nicht - wie man auf den ersten Blick annehmen könnte- aufgehoben. Vielmehr wird durch die nur partielle Verlagerung von Zuständigkeiten auf die internationale Ebene die staatliche Verantwortung gegenüber gesellschaftlicher Selbststeuerung sogar verdichtet. 52 Demgegenüber erweist sich die Europäische Union auch heute noch als thematisch beschränkte Rechts- und Herrschaftsordnung. Das weiterhin gültige Prinzip der begrenzten Ermächtigung ist Ausdruck der gebündelten Teilsouveränität53 der Union im Gegensatz zur umfassenden, auf einer KompetenzKompetenz beruhenden Souveränität der Mitgliedstaaten. Es entfaltet, wie das Bundesverfassungsgericht in seinem Maastricht-Urteil bekräftigt hat54, trotz einer großzügigenSS Inanspruchnahme vom Kompetenzen durch die Organe der Gemeinschaft56 nach wie vor Rechtswirksamkeit und sichert die vertikale Gewaltenteilung zwischen Union und Mitgliedstaaten.57 Überdies dient es der Kompetenzbegrenzung im Verhältnis der Union zu den Bürgern sowie der Sicherung ihrer demokratischen Legitimation über die Parlamente der Mitgliedstaaten, die nur der Übertragung von bestimmten Hoheitsrechten 58 im Rahmen eines vorhersehbaren Integrationsprogramms zugestimmt haben. 59

50 Sie zeigt sich in verschiedenen Formen der Umverteilung. Vgl. zu diesem Gesichtspunkt Haverlwte, Verfassungslehre, S. 278 ff. 51 Dazu Scheuner, Die internationalen Probleme der Gegenwart und die nationale Entscheidungsstruktur, S. 255 ff. 52 So weiten sich etwa die Aufsichts- und Schutzpflichten des Staates bei Auslandsaktivitäten privater Verbände aus. Vgl. dazu Heintzen, Auswärtige Beziehungen privater Verbände, insbes. S. 134 ff. m.w.N. Daß es zugleich zu einer steigenden Abhängigkeit des Staates von gesellschaftlichen Aktivitäten kommen kann, steht auf einem anderen Blatt. 53 Kraußer, Das Prinzip begrenzter Ermächtigung, S. 21. 54 BVerfGE 89, ISS (192 f.). 55 Der EuGH hat - soweit ersichtlich - bislang nur in einem Fall einen Rechtsakt wegen Überschreitung der EG-Kompetenz für nichtig erklärt, und zwar EUGH verb. Rs. 281. 283-285, 287/85, EuGHE 1987, 3203 ff. Zur sonstigen Rechtsprechung des EuGH vgl. Kraußer, Das Prinzip begrenzter Ermächtigung, S. 64 ff. m.w.N. 56 Dazu im einzelnen Kraußer, Das Prinzip begrenzter Ermächtigung, S. 37 ff. 57 Vgl. zur Thematik auch Lenz, EuGRZ 1993, S. 57 ff. 4*

52

IV. Voraussetzungen demokratischer Legitimation in der EU

Auch die Mitgliedstaaten, die trotz aller Kritik an der Kommission und dem Europäischen Gerichtshof die eigentlich treibenden Kräfte der Integration waren und sind60, gehen vom Prinzip der begrenzten Ermächtigung aus. Dies zeigt z.B. der Umstand, daß sowohl bei der Einheitlichen Europäische Akte als auch beim Unions-Vertrag in einer Reihe von Sachbereichen die Kompetenzen der Gemeinschaft im Vergleich zur bis dahin zu beobachtenden Praxis zurückgeschnitten, vor allem aber im Hinblick auf Ziele und Befugnisse konkretisiert wurden, wie etwa im Bereich der Kultur- und Bildungspolitik.61 In diesem Zusammenhang ist auch zu beachten, daß die neuen Säulen der Union, die in den Titeln V und VI des Unions-Vertrages geregelte Zusammenarbeit in den Bereichen Außen- und Sicherheitspolitik sowie Innen- und Justizpolitik intergouvernementalen Charakter besitzen und damit nicht Teil der selbständigen Rechtsordnung der Gemeinschaft sind. 62 Trotz der erheblichen Ausweitung der Kompetenzen, die die Europäischen Gemeinschaften seit ihrer Gründung erfahren haben, ist nach wie vor von einer sektoralen und zugleich punktuellen Zuständigkeit auszugehen. Dieser besondere Zuschnitt der Kompetenzen der Europäischen Union wirkt sich auf die Anforderungen an die soziale Homogenität aus. Sie muß vor allem im Bereich der thematischen Schwerpunkte der Gemeinschaftstätigkeit nachgewiesen werden. Die Betätigung der Europäischen Union findet ihren Schwerpunkt nach wie vor im wirtschaftlichen Bereich.63 Andere Sektoren werden meist aufgrund ihrer inneren Zusammenhänge mit wirtschaftlichen Gegebenheiten erfaßt.

58 Die Verfassungen der Mitgliedstaaten erlauben durchweg nur die Übertragung einzelner Hoheitsrechte. Am stringentesten insoweit § 20 der dänischen Verfassung. Vgl. Kraußer, Das Prinzip begrenzter Ermächtigung, S. 22 mit Fn. 35. Dazu auch BVerfGE 89, 155 (184; 191 ff.). 59 Dazu im einzelnen Kraußer, Das Prinzip begrenzter Ermächtigung, S. 21 ff. 60 Es wird oft übersehen, daß die wesentlichen Integrationsfortschritte durch Ratsbeschlüsse und Vertragserweiterungen verwirklicht werden (vgl. dazu Kraußer, Das Prinzip begrenzter Ermächtigung, S. 68 ff.) und nicht von Organen der EG den Mitgliedstaaten abgerungen werden, wie es insbesondere manche Kritiker des EuGH suggerieren. 61 Vgl. die Nachweise bei Kraußer, Das Prinzip begrenzter Ermächtigung, S . 111 zur EEA. 62 Vgl. BVerfGE 89, 155 (190). 63 So auch BVerfGE 89, 155 (190). Von den Schwerpunkten der Politikbereiche ist die übergeordnete Zielsetzung der Gemeinschaft zur Sicherung von Frieden und Freiheit zu unterscheiden, die durch die Herrschaftsordnung verwirklicht, in ihr aber nicht kompetentiell thematisiert ist.

3. Die Voraussetzungen inhaltlicher Repräsentation

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Ihre einzelnen Politiken finden ihren Kern in der Gewährleistung und Sicherung der Grundfreiheiten64 und im Diskriminierungsverbot65, das vor allem bis zur Vollendung des Binnenmarktes die Rechtsetzung und Rechtsangleichung maßgeblich prägte. 66 In diesem Bereich stehen der Abbau von Hemmnissen und die Schaffung eines einheitlichen Binnepmarktrechtes im Vordergrund. Die EG-Rechtsetzung wirkt sich dabei als Deregulierung aus, insofern an die Stelle von zwölf verschiedenen rechtlichen Regelungen eine einzige (im Falle echter Rechtsangleichung) bzw. eine zu beachtende (im Falle der gegenseitigen Anerkennung) Regelung tritt. Im Bereich der übrigen Politiken wird zum großen Teil ebenfalls das Prinzip der Rechtsangleichung angewendet, doch trifft man bei ihnen auch auf weitergehende Regelungsmechanismen bis hin zum Aufbau eigenständiger Marktordnungen und eigener institutioneller Vorkehrungen. Dieser Bereich kann hier nur im Rahmen eines knappen Überblicks berücksichtigt werden. Zu den bedeutendsten Politikbereichen gehört nach dem Unions-Vertrag die Wirtschafts- und Währungspolitik der Art. 102a ff. EGV.67 Sie ist marktwirtschaftlich ausgerichtet68 und zielt auf eine Koordinierung der Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten ab. Dazu werden Koordinierungsprogramrne ausgearbeitet, vor allem aber die staatlichen Finanzen und die Haushaltspolitik einheitlichen Regeln unterworfen. Hinzu kommt eine stringente Währungspolitik, die maßgeblich in der Verantwortung der neu errichteten Europäischen Zentralbank ressortiert. Die marktwirtschaftliche Ordnung im Binnenmarkt wird u.a. durch die Wettbewerbspolitik nach Art. 85 ff. EGV gesichert. Sie soll einerseits Kartelle, andererseits das Entstehen, Verstärken und den Mißbrauch marktbeherrschender Stellungen von Unternehmen verhindern. Dazu ist in Art. 87 EGV ein

64 Dazu Bleckmann, Europarecht (Fn. 113), §§ 14 - 16; Streinz, Europarecht, §§ 12 - 14. Zusammenfassend Behrens, EuR 27 (1992), S. 145 ff. 65 Bleckmann, Europarecht, § 17. 66 Die Besonderheiten weiter Bereiche der EG-Rechtsetzung, die sich aus ihrem Charakter als Rechtsangleichung ergeben, werden bislang zu wenig berücksichtigt; vgl. den Hinweis von Ipsen, Exekutiv-Rechtsetzung, S. 427 ff. Sie liegen zum einen in einer weitgehenden inhaltlichen Bindung an die Vorgaben des Rechts der Mitgliedstaaten und- soweit der Weg der gegenseitigen Anerkennung nach Art. IOOb EGV beschritten wird - einer formalen Eröffnung von Freiheitsräumen ohne inhaltlichen Eingriff in den mitgliedstaatliehen Rechtsbestand. 67 DazuetwaHäde,EuZW 1992,5. 171 ff. 68 Zur Bedeutung für die Annahme einer EG-Wirtschaftsverfassung vgl. Basedow, Von der deutschen zur europäischen Wirtschaftsverfassung, S. 26 ff.

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besonderes Instrumentarium vorgesehen, das ausnahmsweise ein unmittelbares administratives Handeln der Union vorsieht.69 Ergänzend zu diesen beiden Politiken dienen die Technologie- und Forschungspolitik gern. Art. 130f. ff. EGV sowie die Industriepolitik gern. Art. 130 EGV der Sicherung der internationalen Wettbewerbsfahigkeit der europäischen Industrien. Diesem Ziel dient indirekt auch die Verkehrspolitik nach Art. 74 ff.EGV sowie die Politik der transeuropäischen Netze gern. Art. 129b ff. Es handelt sich damit um spezifisch ordnungspolitische Instrumentarien, deren Vereinbarkeil mit der marktwirtschaftliehen Zielsetzung des Binnenmarktes nicht unumstritten ist. 70 Die Gemeinschaft handelt in diesem Bereich - außer bei der Verkehrspolitik, die in weiten Bereichen auf Rechtsangleichung und Harmonisierung abzielt - vornehmlich durch die finanzielle Unterstützung von Projekten. Die EG-Zuständigkeit im Bereich der Umweltpolitik nach Art. 130r ff. EGV wurde eingeführt, um die von umvermeidlichen Umweltmaßnahmen ausgehenden wettbewerbsverzerrenden Wirkungen im Binnenmarkt abzumildern und zugleich das Schutzniveau in der Gemeinschaft insgesamt anzuheben. 71 Es handelt sich um eine intensiv regelnde Politik, die vorwiegend innovativ tätig ist, d.h. Bereiche betrifft, in denen bislang noch keine mitgliedstaatliehen Regelungen vorlagen, wie. z.B. die UVP-Richtlinie12, die Richtlinie über den freien Zugang zu Umweltinformationen73 und die Öko-Audit-Verordnung 74 veranschaulichen. Eine Sonderstellung nimmt - wie vordem in den Mitgliedstaaten - die Landwirtschafts- und Fischereipolitik nach Art. 38 ff. EGV ein. 75 Der ausgeprägt protektionistische Charakter dieses Politikbereiches zeigt sich vor allem im Autbau einer eigenständigen, zentral gesteuerten EG-Marktordnung. Dement-

Vgl. im einzelnen Oppermann, Europarecht, Rdnr. 939 ff. Vgl. Imrrumga, EuZW 1994, S . 14 ff. 71 Vgl zur Entwicklung Pieper, in: Bleckmann, Europarecht, § 28 Rdnr. 1910 ff. 72 Richtlinie 85/337/EWG v. 27.6.1985, ABlEG Nr. L 175/40 v. 5.07.1985. 73 90/313/EWG, ABlEG Nr. L 158, S. 56. Vgl. zur Richtlinie Erichsen, Das Recht auf freien Zugang zu Informationen über die Umwelt, in: NVwZ 1992, S. 409 ff.; Hegele/Röger (Hrsg), Umweltschutz durch Umweltinformation, 1993. 74 Verordnung (EWG) Nr. 1836/93, ABlEG Nr. L 168 S. 1 v. 10.7.1993. Dazu Sellner/Schnutenhilus, NVwZ 1993, S. 928 ff. 75 Vgl. Eiden, in: Bleckmann, Europarecht, § 22. 69

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sprechend ist in diesem Sektor eine überdurchschnittlich hohe Regelungsdichte anzutreffen. Der Verbraucherschutz nach Art. 129a EGV, der bereits vor dem UnionsVertrag über den Weg der Rechtsangleichung praktiziert wurde 76, gehört zu den sozialstaatliehen Komponenten der EG-Politiken und flankiert insoweit die Wirtschafts- und Wettbewerbspolitik. Er wird durch den Erlaß von Rechtsakten, vornehmlich durch Rechtsangleichung nach Art. 1OOa EGV, umgesetzt. Der Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen der Arbeitskräfte dient die Sozialpolitik nach Art. 117 ff. EGV. Dieser Politikbereich ist durch den Widerstand des Vereinigten Königreiches teilweise aus dem EGV gelöst und in einem separaten Abkommen zur Sozialpolitik durch die 11 anderen Mitgliedstaaten weitergeführt worden. 77 Neben rechtsetzenden Maßnahmen im Bereich des Arbeitsrechts und der Gleichstellung von Männem und Frauen in der Arbeitswelt ist vor allem die Einrichtung des Europäischen Sozialfonds hervorzuheben. Zu erwähnen sind schließlich die Bereiche Kulturpolitik (Art. 128 EGV), Entwicklungszusammenarbeit (Art. 130u ff. EGV) sowie Außen-Handelspolitik (Art. 110 ff.). Diese tour d'horizon der Politikbereiche zeigt zunächst, daß die Europäische Union nur in wenigen Teilgebieten - vor allem in der Landwirtschaftspolitik über eine umfassende Regelungszuständigkeit verfügt und sich ansonsten auf Maßnahmen der Rechtsangleichung, der Unterstützung und der Sicherung der marktwirtschaftlichen, durch die Grundfreiheiten geprägten Ordnung, beschränkt. Dies entspricht dem Prinzip der begrenzten Ermächtigung sowie der speziellen Regelungstechnik der Richtlinien, die in der Regel nur Zielvorgaben machen.78 Die unterschiedliche Struktur mitgliedstaatlicher und gemeinschaftsrechtlicher Kompetenzen kann auch aus dem Blickwinkel der Grundrechtserheblichkeit erfaßt und veranschaulicht werden. Die Entscheidungen der Gemeinschaft beziehen sich nur in Ausnahmefallen auf elementare Persönlichkeitswerte. Sie betreffen in erster Linie den Bereich des wirtschaftlichen und sozialen 76 Oppermann, Europarecht, Rdnr. 2037. 77 Vgl. die Darstellung bei Schuster, EuZW 1992, S. 178 ff. 78 Vgl. im einzelnen Grabitz, EWGV, Art. 189 Rdnr. 57 ff. Zur einebnenden Entwicklung von Richtlinie und Verordnung vgl. Oppermann, Europarecht, Rdnr. 457.

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Verkehrs. Insofern ist grundsätzlich von einer weitaus geringeren Eingriffsintensität im Vergleich zu staatlichen Maßnahmen auszugehen, die etwa im Bereich der öffentlichen Sicherheit und Ordnung in höherem Maße sensible Bereiche berühren. Dies kann auch grundrechtssystematisch verdeutlicht werden: Der Schwerpunkt der Maßnahmen der Europäischen Union betrifft den thematischen Bereich der Art. 12 (Berufsfreiheit) und des Art. 14 (Eigentum) des Grundgesetzes, während elementare, persönlichkeitsschützende Grundrechte wie Art. 2 (Persönlichkeitsrecht, Leben und körperliche Unversehrtheit), Art. 4 (Religions-, Weltanschauungs-, und Gewissensfreiheit) und teilweise Art. 5 Abs. 1 (Meinungs- und Medienfreiheit) sowie Art. 8 (Versammlungsfreiheit) nur selten und eher peripher betroffen sind. 79 (2) Feststellbare Homogenität Zu beantworten ist die Frage, welches Maß an sozialer Homogenität im Bereich der für die Unionszuständigkeit maßgeblichen gesellschaftlich-politischen Felder in den Mitgliedstaaten festzustellen ist. Dazu kann auf die rechtlichen, politischen und sozialen Verhältnisse in den Mitgliedstaaten sowie auf Erkenntnisse der Meinungsforschung zurückgegriffen werden. Sachlich ist zwischen der Wirtschaftsordnung, der politischen Ordnung sowie der kulturellen Ordnung zu unterscheiden. (a) Wirtschaftsordnung

Wie gezeigt, normiert der EGV explizit eine Wirtschaftsordnung.80 Sie beruht nicht nur auf der ausdrücklichen gestalterischen Entscheidung der Mitgliedstaaten, sondern entspricht deren politischer Binnenordnung, die in unterschiedlichem Ausmaß in den Verfassungen auch normativ abgesichert ist. 81 Insgesamt kann von einer auf sozialpolitisch geordnetem Wettbewerb und Berufsfreiheit82 aufbauenden Ordnung gesprochen werden, die durch andere Gemeinschaftsbelange wie den Umwelt- und Verbraucherschutz korrigiert wird. 79 Vgl. dazu die Nachweise bei Rengeling, Grundrechtsschutz, S. 110 ff. und die dort abzulesende sachliche Gewichtung im Vergleich zu den Wirtschaftsgrundrechten.

80 Vgl. dazu ausführlich Basedow, Von der deutschen zur europäischen Wirtschaftsverfassung,

s. 13 ff.

81 Dazu Verfassungen überprüfen und einige Hinweise bringen. 82 Zur Verwirklichung der Berufsfreiheit in den Mitgliedstaaten vgl. Stad/er, Die Berufsfreiheit in der europäischen Gemeinschaft.

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Großes Gewicht kommt in diesem Zusammenhang der Gewährleistung der Grundfreiheiten zu. Die Ermöglichung von Reisefreiheit und wirtschaftlicher Freizügigkeit innerhalb des Binnenmarktes und nicht zuletzt das Engagement der Europäischen Union für Umwelt- und Verbraucherschutz wirken sich stark und positiv auf die Ausbildung eines Teileinheitsbewußtseins aus. 83 Dies bestätigen die Erkenntnisse der Meinungsforschung, nach denen im sachlichen Bereich der Politik der Europäischen Union auch von einem Ethos der Partnerschaft ausgegangen werden kann, das durch das zunehmende Bewußtsein über den globalen Wettbewerb des Wirtschaftsraumes Europa mit den Wirtschaftsräumen Asien und Amerika gestärkt wird. 84 Im wirtschaftlichen Bereich kann auch am ehesten von der Herausbildung eines Bewußtseins der Schicksalsgemeinschaft gesprochen werden. Im Bereich der Wirtschaftsordnung kann demnach einerseits von einer weitgehenden Homogenität der nationalen ordnungspolitischen Grundkonzeptionen und andererseits von der Herausbildung einer Gemeinschafts-Identifikation auf der Grundlage der durch die Union geschaffenen gemeinsamen europäischen Wirtschaftsordnung im Binnenmarkt gesprochen werden, die Ausdruck einer bereits vorhandenen und Grundlage einer wachsenden sozialen Homogenität gleichermaßen ist. (b) Politische Ordnung

Im Bereich der politischen Ordnung stellt sich vor allem die Frage, ob in der Union bereits ein ausreichend gefestigter poltischer Grundkonsens anzutreffen ist, der eine Anwendung des Mehrheitsprinzips ermöglicht. Dazu ist zunächst festzustellen, daß das Mehrheitsprinzip in allen Mitgliedstaaten - bei allen Unterschieden im Wahlsystem - als demokratisches Entscheidungsverfahren anerkannt ist. Damit ist zwar noch nicht gesagt, daß die Unionsbürger diese Instrumente der Herrschaftsorganisation auch in der Europäischen Union für anwendbar halten. Der Konsens über die "Vernünftigkeit" von Mehrheitsprinzip und parlamentarischer Regierungskontrolle ist aber eine wichtige Voraussetzung für ihre Akzeptanz auf der Unionsebene. Zwei Ergebnisse der Euro-Barometer-Umfragen geben weiteren Aufschluß. Auf die Frage "Sind Sie für oder gegen die Möglichkeit, bis zum Jahre 1992 eine Europäische Union mit einer Europäischen Regierung, die dem Europa83 So zutreffend Lübbe, Abschied vom Superstaat, S. 115, 119. 84 Vgl. Reif, Wahlen, Wähler und Demokratie in der EG, S. 43 ff.

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Parlament verantwortlich ist, zu bilden?" antworteten im europäischen Durchschnitt im Zeitraum 1987 bis 1990 49% bis 55% der Befragten positiv. Dabei waren jedoch starke nationale Schwankungen zu beobachten. Während in Frankreich und Italien die Zustimmung zwischen 66% und 77% lag, belief sich die Zustimmung in Dänemark nur auf Größen zwischen 13% und 23% und im Vereinigten Königreich auf 36%.85 Daraus spricht eine weitreichende Anerkennung der Union als eigenständiger und lebensfähiger Herrschaftsordnung, in der die Verwirklichung demokratischer Grundsätze erwartet wird. Aus einer anderen Euro-Barometer-Umfrage geht hervor, daß das wichtigste Motiv für die Bejahung der Europäischen Integration in der Sicherung des friedlichen Zusammenlebens der verschiedenen Völker, Nationen und Kulturen gesehen wird. 86 Regionalismus und die Betonung der kulturellen und politischhistorischen Identität der einzelnen Staaten bzw. Nationen stehen demnach der europäischen Integration nicht im Wege; sie sind vielmehr ihr Motor und Anlaß in einer zunehmend internationalisierten Welt. Dieser Erkenntnis kommt überragende Bedeutung zu. Der Umstand nämlich, daß der Union die Friedenssicherung als wichtigste Aufgabe zugeschrieben wird, stellt sie auf eine Stufe mit den Staaten, deren erste und vornehmste Aufgabe gleichermaßen darin besteht, Frieden und Sicherheit zu gewährleisten. Gleichzeitig ist die Friedenssicherungsfunktion - in der Tradition von Hobbes und Locke - das stärkste Argument für die Anerkennung formaler Herrschaftsregeln wie dem Mehrheitsprinzip. 87 Deshalb ist auch im Bereich der politischen Ordnung von einer gefestigten sozialen Homogenität in den für die Ausbildung einer eigenständigen demokratischen Legitimation entscheidenden Aspekten auszugehen.SS 85 Zitiert nach Angelucci, Die europäische Identität der Europäer, S. 303 (311) 86 Vgl. Angelucci, Die europäische Identität der Europäer, S. 303 (316). Vgl. in diesem Zusam-

menhang auch die Ausführungen von Noelle-Neumann, Die Bürger, S. 38: "Wenn es nach KostenNutzen-Denken ginge, müßten die Deutschen die Europäische Gemeinschaft, die Europäische Union ablehnen . ... Aber die Deutschen lehnen Europa nicht ab."; und S. 64: "Die Deutschen sind für Europa - durch dick und dünn -, weil sie nämlich das Gefühl haben, daß hier die Zukunft liegt. Für mich ist die größte Überraschung, daß eine Bevölkerung über Kosten-Nutzen-Denken hinweg eine Zukunftswitterung hat.". 87 Vgl.lsensee, HStR I,§ 13 Rdnr. 74 ff. 88 Differenzen in Sachfragen, wie etwa der Währungspolitik und - immer wieder - der Landwirtschaftspolitik, sind unschädlich, solange der Vorrang der Friedenssicherungsfunktion anerkannt wird. Dies ist bislang immer noch der Fall gewesen und müßte ggfs. häufiger verdeutlicht werden. Zudem fand die Maastricht-Diskussion über eine bedeutsame kompetentielle Erweiterung der Union im Rahmen einer wirtschaftlichen Rezession und eines nachlassenden Sicherheitsbedürfnisses statt. Angesichts solcher Verstärkermomente muß der mittlerweile vollzogene Zustimmungsprozeß als bestandene Bewährungsprobe interpretiert werden, die eher für als gegen das politische System und die soziale Homogenität in der Union spricht.

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(c) Kulturelle Ordnung

Die sprachlichen und kulturellen Unterschiede in den Mitgliedstaaten sowie die besondere Betonung der Achtung der nationalen und regionalen ldentitäten im Unions-Vertrag widerstreiten der Annahme sozialer Homogenität nicht. Buropa und europäische Kultur waren schon immer durch das Miteinander zahlreicher Völker und Kulturen auf engem Raum geprägt. 89 Zudem begünstigt das Hineinwachsen in höhere Ordnungen eine Vertiefung der Verwurzelung in den niedrigeren sozialen Ordnungen. Die wachsende Bedeutung der Regionen und Nationen ist deshalb auch kein Widerspruch zur europaweiten Integration, sondern eine Folge der natürlichen Reaktion, daß ein Handeln in größeren sozialen und räumlichen Zusammenhängen die Vergewisserung des eigenen Standpunktes und Herkommens als unverzichtbares Fundament dieses Handeins fördert. Die Möglichkeit und Notwendigkeit höherstufiger Repräsentation läßt die elementaren sozialen Einheiten stärker ins Bewußtsein treten. 90 Solange eine soziale Ordnung sich nicht transzendiert, wird sie als solche und in ihrer Eigenart weniger intensiv erfahren. Im Bereich der Wertorientierung91 wird durch die gemeinsame christlichabendländische Kultur92, die sich heute in ihrem säkularisierten Destillat insbesondere im Bekenntnis zu den Menschenrechten manifestiert, eine tragfähige Basis vermittelt, wenn auch die religiöse Basis dieser Wertorientierung schmaler geworden ist. 93 (d) Bilanz

Die soziale Homogenität in der Europäischen Union erweist sich damit als hinreichend groß, um eine demokratische Eigenlegitimation zu tragen. Bei aller kulturellen Vielfalt und Divergenz verleiht das Bekenntnis zur Sicherung einer europäischen Friedensordnung als wichtigstes Anliegen der Integration der Union einen gesicherten Grundkonsens, der die Anwendung des Mehrheits89 So Isensee, Europa- die politische Erfindung eines Erdteils, S. 131; vgl. auch Hattenhauer, Europäische Rechtsgeschichte, passim. Speziell zur Sprache: Chargraff, Vaterländer, Muttersprachen. Über den Begriff des Europäers, in: FAZ Nr. 106 v. 7.5.1994, Beilage "Bilder und Zeiten". 90 Dazu Lübbe, Abschied vom Superstaat, S. 63. 91 Ihre Bedeutung für die Prägung der europäischen Identität wird jedoch gering veranschlagt, vgl. Angelucci, Die europäische Identität der Europäer, S. 303 (316). 92 Dazu die Beiträge in Lobkowicz (Hrsg.), Das europäische Erbe und seine christliche Zukunft, insbes. S. 95 ff. 93 Vgl. dazu die Beiträge in Zöller, Europäische Integration als Herausforderung der Kultur.

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prinzips jedenfalls in Bereichen ermöglicht, die nicht direkt elementare Felder mitgliedstaatlicher Restsouveränitäten berühren. Die Bedeutung dieser Einstellung bzw. Motivation für die Herstellung einer tragfähigen sozialpsychologischen Basis des Integrationsprozesses kann deshalb kaum hoch genug eingeschätzt werden. Bedenkt man weiter, mit welcher Selbstverständlichkeit heute die pragmatischen Errungenschaften des Binnenmarktes hingenommen werden, so dürfte vollends deutlich werden, daß trotz aller Dissonanzen und nationalen Vorbehalte in Einzelfragen, in der Europäischen Union bereits von einer stark ausgeprägten sozialen Homogenität auszugehen ist, die sich zwar noch nicht direkt in einem ausgeprägten europäischen Bewußtsein, wohl aber in einer starken Akzeptanz der elementaren Anliegen und Leistungen des Integrationsprozesses widerspiegeln. Da politische Prozesse gerade dazu dienen, Einigung in Streitfragen zu ermöglichen, ist dies der erforderliche und ausreichende Rahmen zum Aufbau einer politisch tragfahigen Ordnung in der Europäischen Union. Die Maastricht-Kontroverse dürfte in diesem Lichte eher als Bestätigung denn als Infragestellung der politischen Kultur in der Europäischen Union gewertet werden.

b) Politisch-institutionelle Voraussetzungen ( l) Die Einwände

Im Bereich der politisch-institutionellen Grundlagen werden zur Zeit die größten und entscheidenden Defizite der Europäischen Union für die Entfaltung des Demokratieprinzips gesehen. 94 Hier - so lautet die Kritik - fehle es teils aus sprachlichen Gründen, teils aus mangelndem Interesse an einer lebendigen europäischen politischen Ebene mit eigenem Gewicht, durch die der Unionsbürger in die Entscheidungen eingebunden werde. Die Aufmerksamkeit sei nach wie vor überwiegend bis ausschließlich auf den nationalen politischen Raum gerichtet.95 Deshalb könne derzeit von einer effektiven demokratischen Legitimation des Europäischen Parlaments und damit von Repräsentation überhaupt nicht die Rede sein. 96

94 So etwa Grimm, in: Der Spiegel, Nr. 43/1992, S. 57 f.; Breuer, NVwZ 1994, S. 417 (424 f. m.w.N.). Dieser Meinung neigt auch das BVerfG zu, BVerfGE 89, 155 (184 f.); vgl. auch Tomuschat, EuGRZ 1993, S. 489 (493 f.). 95 So die Feststellung von Jacqui, Integration 1989, S. 61 (63 ff.). 96 lpsen, Exekutiv-Rechtsetzung, S. 435 f. ; Lepsius, Nationalstaat oder Nationalitätenstaat als Modell für die Weiterentwicklung der Europäischen Gemeinschaft, S. 19 (39).

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Weiter wird darauf hingewiesen, daß sich der Bürger nur deshalb mit seinem nationalstaatliehen System vertraut fühle, weil soziopolitische Vermittlungsstrukturen die objektive Komplexität des politischen Prozesses reduzieren. Diese Mechanismen der Komplexitätsreduktion seien im politischen System der Europäischen Union noch unterentwickelt.97 Solange die nationalen Regierungen in der Gemeinschaft das Heft in der Hand behielten, könnten sich Interessengruppen und politische Bewegungen nicht effektiv europäisieren. Da ihr Einfluß durch nationale Instanzen vermittelt werden müsse, werde die spezifisch nationale Interessendefinition und Organisationsform konserviert und verstärkt.98 Das Bundesverfassungsgericht hat schließlich in seinem Maastricht-Urteil das Fehlen einer funktionierenden europaweiten politischen Kommunikation bemängelt, deren (baldige) Entwicklung jedoch für möglich gehalten und den betroffenen Organen entsprechende "gute Absichten" attestiert. 99 (2) Bedingungen für die Entwicklung einer Repräsentationsstruktur

Diese Einwände beruhen zwar weitgehend auf zutreffenden Bestandsaufnahmen, legen jedoch falsche Beurteilungskriterien an und gelangen deshalb zu unzutreffenden Schlußfolgerungen. So wird verkannt, daß sich echte Repräsentation nur dort entwickeln kann, wo Entscheidungen getroffen bzw. Befugnisse ausgeübt werden.IOO Dem Europäischen Parlament sind Befugnisse in einem beachtenswerten, Entscheidungen von politischem Gewicht ermöglichenden Umfang erst durch den Unions-Vertrag101 zugewachsen.102 Wirksame Legitimationsvermittlung zwischen den Unionsbürgern und dem Europäischen Parlament ist aufgrund der dialektischen Struktur des Repräsentationsprozesses, der nur durch Gestaltungsvorschläge und -akte des Repräsentativorgans in Gang gebracht werden kann, demnach erst nach Inkrafttreten des Unions-Vertrages möglich bzw. zu erwarten. Erst dann wird auch 97 So Reif, Wahlen, Wähler und Demokratie in der EG, S. 46. 98 Scharpf, in: PVS 26 (1985}, S. 323 (348). 99 BVerfGE 89, 155 (185). IOO Als Negativbeispiel aus dem innerstaatlichen Bereich sei auf die Bedeutungslosigkeit der sog. Sozialwahlen verwiesen. Sie hat ihren Grund in der fast vollständigen gesetzlichen Deterrninierung der sozialen Selbstverwaltung, so daß die Organe der Selbstverwaltung praktisch keine Entscheidungs und Gestaltungsfreiräume besitzen. 101 Der Zuwachs an Kompetenzen, die die EEA mit sich brachte, kann aufgrunddes geringeren Umfanges und der kurzen Zeitspanne von 6 Jahren vernachlässigt werden. 102Die Stärkung der Stellung des Parlamentes war insbesondere durch die Bundesrepublik eingefordert worden. Vgl. Schmuck, in: Europa-Archiv 1992, S. 97 (98).

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den diese Prozesse tragenden Institutionen, den Parteien und Medien, eine größere Aufmerksamkeit geschenkt und deren Bedeutung wachsen. Politiker werden erst dann ihre Aktivitäten in den europäischen Bereich verlagern, wenn dort eine realistische Aussicht auf Einflußnahme und Machtausübung besteht. Anderes zu denken und zu verlangen, würde an der Realität des politischen Systems vorbeigehen. Das gleiche gilt für die Medien, die aufgrund der Überfülle von Nachrichten nur über Themen berichten, die von politischer Tragweite sind und den Themen der nationalen Politik jedenfalls gleichwertig sind. (3) Europäische politische Kommunikation (a) Die Medien

Die Entwicklung einer europäischen politischen Kommunikation und Repräsentation setzt weder eine einheitliche Sprache noch eine einheitliche Medienund Parteienlandschaft voraus, so wünschbar letztere auch ist. Im Medienbereich genügt es als Minimalbedingung einer europäischen politischen Kommunikation, daß die Bürger sich in ihrer Sprache informieren können. Dabei ist vor allem bedeutsam, daß die entsprechenden Sachinformationen über Themen der Buropapolitik überhaupt vermittelt werden. Ob dies durch ein nationales oder ein europäisches Medium erfolgt, ist insofern zweitrangig. Allerdings ist nicht zu verkennen, daß dabei leicht die "nationale" Sicht die Auswahl und Darstellung der Themen prägt. Die Beurteilung der gleichen Fragen in anderen Teilen der Union, die für eine europäische Meinungsbildung wichtig ist, dürfte unter diesen Voraussetzungen leicht vernachlässigt werden. Dennoch wird man nicht leugnen können, daß die Mindestbedingungen einer funktionierenden politischen Kommunikation über Themen der europäischen Politik auch durch den Einsatz nationaler Medien gesichert sind. (b) Die Parteien

Der an die Medien adressierte Vorwurf, ihnen fehle die länderübergreifende Aktion, trifft auch die Parteien, die bislang überwiegend auf der nationalen Ebene organisiert sind und auf der Unionsebene lediglich mit den Parteien gleicher oder ähnlicher politischer Grundausrichtung kooperieren. Auch insoweit stellt sich die Frage, ob unter diesen Voraussetzungen eine die Union stützende Repräsentationsleistung erbracht werden kann.

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Ländervergleichend kann insoweit zunächst darauf verwiesen werden, daß in zahlreichen Staaten, auch innerhalb der Europäischen Union, regionale Schwerpunktparteien existieren. Die neueren Entwicklungen in Norditalien unterstreichen dies. Die Existenz von Schwerpunktparteien ist auch kein Zeichen politischen Verfalls, sondern eine Reaktion gegen zu starke zentralistische Tendenzen sowie die Mißachtung von kulturellen Minderheiten etc. Nicht das politische System als solches wird durch sie in Frage gestellt, sondern seine konkrete Ausgestaltung und politische Praxis. Auch der in Spanien, Belgien und Italien zu beobachtende Trend zum Förderatismus ist Ausdruck eines politischen Anpassungsprozesses und kein Indiz für eine Abdankung des Staates oder des Parteiensystems an sich. Für die Erzeugung einer Repräsentationsleistung durch das Europäische Parlament ist zudem vor allem von Bedeutung, daß sich die Abgeordneten und damit auch die Parteien als Repräsentanten aller Unionsbürger verstehen und nicht lediglich als Interessenvertreter einer Region. Ein Indiz dafür, daß dies der Fall ist, kann in der Tatsache gesehen werden, daß die einzelnen Parteien im Europäischen Parlament nach ihren politischen Richtungen organisiert sind und - jedenfalls überwiegend 103 - in diesem politischen Verbund handeln und abstimmen. Eine andere Frage ist es, ob dieser tatsächlich funktionierende Repräsentationsprozeß an der Basis bewußt gemacht wird und so ein Repräsentationsbewußtsein bei den Unionsbürgern erzeugt. Dies verweist wiederum auf die Leistung der Medien, deren Aufgabe104 es ist, das politische Geschehen im europäischen Parlament zu publizieren.

(c) Inkurs: Der neue Art. /38a EGV In Anerkennung der Bedeutung der politischen Parteien für die Integration und die Legitimationsvermittlung in der Union ist in Art. 138a EGV eine Entwicklungsbestimmung aufgenommen worden, deren normativer Gehalt sich allerdings nicht leicht erschließt. Nach dieser Regelung sind politische Parteien auf europäischer Ebene wichtig als Faktor der Integration in der Union. Sie 103 Daß es bei Fragestellungen, die bestimmte regionale Interessen (wie z.B. die Fischereirechte im Zusammenhang mit den Beitrittsverhandlungen Norwegens) besonders betreffen, zu anderen Frontverläufen kommt, liegt in der Natur der Sache und entspricht dem Prinzip der Repräsentation. 104Beachtenswert ist in diesem Zusammenhang die Feststellung von Noelle-Neumann, daß die Medien diese Aufgabe -jedenfalls bislang - nicht erfüllen. Sie schlägt deshalb eine verstärkte Aktivität der Regierungen auf diesem Gebiet vor; vgl. Noelle-Neumann, Die Bürger, S. 35 f. und 68 f.

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IV. Voraussetzungen demokratischer Legitimation in der EU

tragen dazu bei, ein europäisches Bewußtsein herauszubilden und den politischen Willen der Bürger der Union zum Ausdruck zu bringen. Über den programmatischen Gehalt hinaus dürften dieser Vorschrift Maßgaben für ein zu entwickelndes europäisches Parteienrecht zu entnehmen sein.l05 Diese dürften vor allem darin zu sehen sein, welche organisatorischen Anforderungen an die Anerkennung einer Partei als europäischer Partei zu stellen sind. Sie erschließen sich vor allem aus der Funktion, die Art. 138a EGV den europäischen politischen Parteien zuweist. Um die Stoßrichtung der Vorschrift im Kontext des Ausbaus der Repräsentationsfunktion des Europäischen Parlaments und der demokratischen Eigenlegitimation der Union zu entfalten, müssen zunächst eine Reihe von negativen Vorgaben in den Blick genommen werden, die sich aus Art. 138a EGV ableiten. So reicht eine Betätigung in nur einem Mitgliedstaat für eine europäische Partei nicht aus, da eine solche Partei nicht auf "europäischer Ebene" tätig ist. Zudem kann eine solche Partei nicht die entscheidende Vor-Integrationsleistung106 erbringen, die darin besteht, daß bereits innerhalb der parteilichen Willensbildung ein europäischer Konsens in Sachfragen auf der Grundlage der jeweiligen programmatischen Option gebildet wird. Umgekehrt dürfte es jedoch nicht erforderlich sein, daß eine europäische Partei in allen Mitgliedstaaten repräsentiert ist. Die Frage, ob eine Tätigkeit mindestens in zwei Mitgliedstaaten oder - was näher liegt - in mindestens vier oder fünf Mitgliedstaaten gefordert werden muß, kann hier nur angesprochen werden. Als mögliche organisatorische Varianten werden ein konföderiertes Modell (Dachorganisationen der nationalen Parteien gleicher programmatischer Ausrichtung), ein föderatives Modell (gleichzeitige und automatische Mitgliedschaft der Mitglieder nationaler Parteien in einer europäischen Partei) und ein supranationales Modell (eigenständige europäische Parteimitgliedschaft ohne Vermittlung durch nationale Parteien) diskutiert.l07 Art. 138a EGV bringt indirekt zum Ausdruck, daß die Mitgliedstaaten bei Abschluß des Unionsvertrages im Bereich der politischen Parteien auf europäischer Ebene von einem Handlungs- und Entwicklungsbedarf ausgegangen I05so zutreffend Tsatsos, EuGRZ 1994, S. 45 (46); in diese Richtung auch Geiger, EG-Vertrag, Art. 138a Rdnr. I. 106zu dieser Aufgabe der Parteien vgl. Wefelmeier, Repräsentation und Abgeordnetenmandat, S. 116 ff.; Hofmann/Dreier, Repräsentation, Mehrheitsprinzip und Minderheitenschutz, § 5 Rdnr. 19 f. 107 Tsatsos, EuGRZ 1994, S. 45 (47).

3. Die Voraussetzungen inhaltlicher Repräsentation

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sind. Dies darf indes nicht dazu verleiten, den zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Unions-Vertrages bereits erreichten politisch-institutionellen Standard zu unterschätzen. Nur deshalb, weil über Jahre hinweg eine europäische Zusammenarbeit zwischen den "nationalen" Parteien praktiziert wurde, bestehen heute die Möglichkeiten für engere Zusammenarbeit und auch dafür, dem Europä~ ischen Parlament neue Rechtsetzungs- und Kontrollaufgaben zu übertragen. Auf der Grundlage der erweiterten Befugnisse des ParlamentslOS und bei Zugrundelegung von entsprechenden Erfahrungssätzen ist davon auszugehen, daß sich in den kommenden Jahren ein selbständiges Parteien- und Interessenvertretungssystem entwickelt. Dabei spielt es ohne Zweifel eine wichtige Rolle, wie die neue Stellung des Europäischen Parlaments in der Öffentlichkeit vermittelt wird. Von besonderer Bedeutung dürfte es in diesem Zusammenhang sein, ob es gelingt, die Wahlen zum Europäischen Parlament mit der Entscheidung für einen bestimmten Kommissionspräsidenten zu verbinden und so - wie auf der mitgliedstaatliehen Ebene - die Parlamentswahlen als indirekte Regierungswahlen zu prägen. (4) Bewertung der politisch-institutionellen Entwicklung Auch die politisch-institutionellen Strukturen in der Europäischen Union sind demnach zum gegenwärtigen Zeitpunkt bereits in der Lage, einen selbständigen Legitimationsprozeß auf Unionsebene zu tragen. Dabei ist zu berücksichtigen, daß zur Zeit alleine die Potentialität für den Auf- und Ausbau selbständiger, europäischer Kommunikations- und Repräsentationsstrukturen erforderlich sind, da bislang Bedarf und kompetentielle Voraussetzungen für eine solche Entwicklung nicht gegeben waren. Hinzu kommt, daß die derzeit funktionierenden institutionellen Mechanismen im Bereich der Medien, Parteien und Verbände völlig ausreichen, da- soweit es entsprechend gewichtige politische Vorgänge gibt - eine ausreichende Information der Bürger ebenso gewährleistet ist wie eine europaweite Zusammenarbeit der national organisierten Parteien im Europäischen Parlament. Da die Parteien im Parlament nach politischen Richtungen und nicht nach Nationen kooperieren, ist auch von einer echten Repräsentation der Unionsbürger im Europäischen Parlament auszugehen.

IOSoazu im einzelnen unter V. 2. 5 Kluth

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IV. Voraussetzungen demokratischer Legitimation in der EU

4. Demokratie ohne Volk Die Europäische Union verfügt damit über die unerläßlichen Vorbedingungen für die Entfaltung inhaltlicher Repräsentation und den Aufbau demokratischer Eigenlegitimation. Diese geht zwar nicht von einem europäischen Volk, sondern von den Unionsbürgern aus. Auch eine solche "Demokratie ohne Volk"109 verwirklicht auf der supranationalen Ebene ohne Abstriche am Wesen der demokratischen Legitimation die Aufgabe der Herrschaftslegitimation. Der Einwand, in der Europäischen Union könne es keine demokratische Legitimation geben, weil ein europäisches Volk weder vorhanden noch in Sicht sei, verfängt in dieser Allgemeinheit nicht. Entscheidend ist vielmehr, ob auf der Ebene der Europäischen Union die rechtlichen und tatsächlichen Voraussetzungen für die Entfaltung eines demokratischen Legitimations- und Repräsentationsprozesses vorliegen. Dies ist, wie die Einzelanalyse ergeben hat, in einem ausreichend entwickelten Maße der Fall. Damit kommt es für die Verwirklichung des Demokratieprinzips auf der Unionsebene entscheidend darauf an, ob das institutionelle Recht der Gemeinschaft eine ausreichende Grundlage für seine Umsetzung bietet.

109Vgl. auch Zuleeg, JZ 1993, S. 1069 (1071 f .).

V. Verankerung und Verwirklichung des Demokratieprinzips im Gemeinschaftsrecht 1. Verankerung des Demokratieprinzips in der Präambel des Unionsvertrages Als ausdrücklich auf die Europäische Gemeinschaft bzw. Union bezogenes Verfassungsprinzip taucht das Demokratieprinzip im Vertragstext erst in jüngster Zeit auf.1 Lange Jahre hindurch konnte man dem Gemeinschaftsrecht nur die Forderung nach demokratischer Ordnung in den Mitgliedstaaten als Ausdruck des sog. Homogenitätsgebotes entnehmen.2 Daraus konnte allenfalls auf Umwegen, über die Annahme eines allgemeinen gemeinschaftsrechtlichen Rechtsgrundsatzes, ein in der Gemeinschaft geltendes Demokratieprinzip abgeleitet werden.3 Hinzu kamen verschiedene Bekenntnisse zur Demokratie auf Gipfeltreffen, denen jedoch die Qualität von Rechtsakten abging. 4 Bereits mit der Einheitlichen Europäischen Akte, vor allem aber durch den Unions-Vertrag, hat sich diese Lage grundlegend gewandelt.5 Der UnionsVertrag erwähnt das Demokratieprinzip ausdrücklich in der dritten und fünften Erwägung der Präambel und bezieht es auch auf die Verfassung der Gemeinschaft bzw. Union. In der dritten Erwägung bestätigen die vertragschließenden Staaten ihr bereits in der Einheitlichen Europäischen Akte6 sowie mehreren Gipfeltreffen bekundetes Bekenntnis zu den Grundsätzen der Freiheit, der Den Zustand bis zum Jahr 1984 beschreibt und analysiert Hilf, EuR 19 (1984), S. 9 ff. 2 Dazu lpsen, Über Verfassungs-Homogenität in der Europäischen Gemeinschaft, S. 152 ff. 3 Dazu Zuleeg, in: Der Staat 17 (1978), S. 27 (44). Ausführlich Ress, Parlamentarische Legitimierung, S. 640 ff. Vgl. auch Hilf, EuR 19 (1984), S. 9 ff. Zur Möglichkeit der Ableitung institutioneller Strukturprinzipien aus allgemeinen Rechtsgrundsätzen vgl. grundsätzlich Ress, in: ZaöRV 36 (1976), S. 227 (247 ff.). 4 Erstmals Erklärung des Europäischen Rates vom 8. April 1978 in Kopenhagen, Buli-EG Nr. 3/1978, S. 5 (auch EA 1978, D 284). Vgl. auch die Feierliche Deklaration des Europäischen Rats v. 19.6.1983 in Stuttgart, Bull-EG Nr. 6/1983, S. 26. Zur rechtlichen Qualität vgl. Ress, Parlamentarische Legitimierung, S. 625 (632 m.w.N.). 5 Insoweit ist es dogmatisch fragwürdig, daß Zuleeg, JZ 1993, S. 1069 ff. das Demokratieprinzip vorrangig aus der vor diesem Wandel ergangenen Rechtsprechung des EuGH ableitet. 6 Dazu Ress, Parlamentarische Legitimierung, S. 633 ff.

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V. Verwirklichung des Demokratieprinzips im Gemeinschaftsrecht

Demokratie und der Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten und der Rechtsstaatlichkeit. In der fünften Erwägung wird der Wunsch zum Ausdruck gebracht, "Demokratie und Effizienz in der Arbeit der Organe7 weiter zu stärken". Beide Bekundungen besitzen rechtliche Erheblichkeit und Verbindlichkeit einmal als AuslegungsregeL 8 In diesem Sinne hat der EuGH Vertragspräambeln in mehreren Entscheidungen bei der Interpretation von Vorschriften, die die Beteiligung des Europäischen Parlaments betrafen, herangezogen und sie im Lichte des im Gemeinschaftsrecht "in beschränktem Umfang geltenden" demokratischen Prinzip interpretiert. 9 Zum anderen können in der Präambel aber auch selbständige rechtliche Grundsätze ausgesprochen sein, die im strikt normativen Vertragstext keinen Niederschlag gefunden haben.IO Es bedarf dazu jedoch einer im Wortlaut eindeutig erkennbaren Absicht der Vertragsparteien.11 Das Demokratieprinzip wird - spätestens seit der EEA - übereinstimmend und unbestritten zu diesen Grundsätzen gerechnet.12 Als konkretisierungsbedürftiger Grundsatz ist ein so verankertes Demokratieprinzip jedoch nicht in der Lage, explizite institutionelle und kompetentielle Regeln zu derogieren. Es findet vielmehr seine Grenze in den ausdrücklichen Zuständigkeitsregeln des EGV. Auszugehen ist deshalb von einer prinzipiellen, ihrem dogmatischen Gehalt nach jedoch zunächst noch undifferenzierten Geltung des demokratischen Prinzips im Gemeinschaftsrecht.13

Gemeint sind die Organe der Union. 8 Grabitz, EWGV, EEA, Rdnr. II; Hilf!Pache, in: G-T-E, EWGV, EEA- Prämbel Rdnr. 7. 9 EuGH, Rs. 138n9, SA Rocquette Freres gegen Rat, Slg. 1980, S. 3333 (3360); EuGH, Rs. 139n9, Maizena GmbH gegen Rat, Slg. 1980, S. 3393 (3424). 10 So allgemein Badura, Staatsrecht, S. 52; ihm folgend Grabitz, EWGV, EEA, Rdnr. 13; Hilf!Pache, G-T-E, EWGV, Rdnr. II. Vgl. auch Ress, Parlamentarische Legitimierung, S. 633. II Ress, Parlamentarische Legitimierung, S. 633. 12 Grabitz, EWGV, EEA Rdnr. 13; Zuleeg, JZ 1993, S. 1069 ff. Zur Rspr. des EuGH vgl. die Nachweise in Fn. 9. 13 Ebenso Ress. Parlamentarische Legitimierung, S. 643. 1

2. Einzelne Entfaltungen im EGV

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2. Einzelne Entfaltungen im EGV a) Wahl des Europäischen Parlaments

Seine wichtigste Entfaltung findet das Detpokratieprinzip in Art. 137 EGV, der die Wahl des Europäischen Parlaments regelt. Da das Fehlen eines einheitlichen europäischen Volkes der Annahme einer demokratischen Legitimation auf gesamteuropäischer Ebene nicht entgegenstehtl4, stellt die Europawahl den fundamentalen demokratischen Eigenlegitimationsakt der Union dar. Dagegen wird der Einwand erhoben, daß von einer (echten oder vollwertigen) demokratischen Legitimation des Europäischen Parlamentes erst dann die Rede sein könne, wenn das grundlegende Prinzip der Wahlrechtsgleichheit15 an die Stelle der bislang praktizierten Besetzung nach Länderproporz unter Abweichung von der Bevölkerungsgröße trete.I6 Dieser Einwand ist nicht unberechtigt, besitzt die formale Gleichheit für das Demokratieprinzip doch grundlegende Bedeutung.l7 Nicht ohne Grund hat der Unions-Vertrag, um hier schnelle Fortschritte zu ermöglichen, durch eine Änderung des Art. 138 Abs. 3 EGV die Einführung eines einheitlichen Wahlverfahrens erleichtert.18 Eine strikte Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichheit der Wahl ist aber auch damit nicht unter allen Umständen sichergestellt, da ein einheitliches Verfahren alleine noch keine Erfolgswertgleichheit garantiert. Fraglich ist, welche rechtlichen Konsequenzen aus dem Fehlen schematisch-formaler Wahlrechtsgleichheit bei den Buropawahlen abzuleiten sind. Der Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit ist auf der einen Seite ein elementarer Ausdruck des demokratischen Prinzips, insoweit er die formal gleiche Herrschaftsteilhabe der Bürger sichert.19 Andererseits sind auch im innerstaat-

Siehe oben unter III. 5. Zu ihren Anforderungen und ihrer Ausgestaltung vgl. Stern, Staatsrecht Bd. I, § 10 II 3. 16 Zur derzeitigen Rechtslage ausführlich: Huber, in: Staatswissenschaften und Staatspraxis, 3 (1992), S. 349 (362 ff.). 17 Vgl statt aller: Jestaedt, Demokratieprinzip und Kondominialverwaltung, S. 174 ff. 18 Die Ennächtigung zum Erlaß eines einheitlichen Wahlverfahrens stammt bereits aus der Ursprungsfassung des Vertrages. Sie sah bislang jedoch einen einstimmigen Ratsbeschluß vor. Das Europäische Parlament hatte auch bereits 1960 von seinem Initiativrecht Gebrauch gemacht. Vgl. zu weiteren Einzelheiten /psen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1215 ff. 19 BVerfGE II, 351 (360); zuletzt 69, 92 (106). Vgl. Stern, Staatsrecht Bd. I, § 18 I 4 c); Huber, in: Staatswissenschaften und Staatspraxis, 3 (1992), S. 349 (367 ff. m.w.N.). 14

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V. VeiWirklichung des Demokratieprinzips im Gemeinschaftsrecht

liehen Bereich Einschränkungen der Wahlrechtsgleichheit verfassungsrechtlich zugelassen, soweit dies zur Sicherung des parlamentarischen Systems erforderlich erscheint. So hat das Bundesverfassungsgericht die Einführung einer 5% Klausel mit dieser Begründung grundsätzlich gebilligt.20 Auch für das Wahlrecht gilt mithin der allgemeine Grundsatz, daß widerstreitende Verfassungswerte in einer Art und Weise auszulegen und umzusetzen sind, daß eine praktische Konkordanz erzeugt wird. Eine ähnliche Überlegung kann zur Rechtfertigung der Besonderheiten der Sitzverteilung im Europäischen Parlament angeführt werden. Die Begünstigung der kleinen Mitgliedstaaten bei der Sitzverteilung im Parlament21 hängt damit zusammen, daß diese sich nur "ausreichend" repräsentiert fühlen, wenn ihnen ein über ihren prozentualen Bevölkerungsanteil hinausgehender Sitzanteil zukommt.22 Es handelt sich dabei um einen Fall der sog. vitalen mitgliedstaatliehen Interessen, für deren Anerkennung Art. 137 EGV, der das Europäische Parlament aus den "Vertretern der Völker der in der Gemeinschaft zusammengeschlossenen Staaten" gebildet sieht, eine tragfähige normative Basis liefert. Diese Regelung steht auch nicht der Annahme einer auf die Unionsbürger rückführbaren demokratischen Legitimation entgegen, da diese damit nicht grundsätzlich, sondern nur in ihrem formalen Modus verändert wird.23 Die Abweichung vom Grundsatz der streng formalen Wahlrechtsgleichheit bei den Wahlen zum Europäischen Parlament infolge der Bevorzugung der kleinen Mitgliedstaaten ist damit gemeinschaftsrechtlich gerechtfertigt und steht der Annahme einer demokratischen Legitimation des Europäischen Parlaments nicht entgegen. Dringend erforderlich ist indes die Einführung eines einheitlichen Wahlverfahrens nach Art. 138 Abs. 3 EGV, da unterschiedliche Wahlverfahren in den einzelnen Mitgliedstaaten nicht durch das Prinzip des Institutionenschutzes gerechtfertigt werden können. Eine Auslegung des Art. 138 Abs. 3 EGV im

20 BVerfGE 1, 208 (256 f.), st. Rspr. zuletzt 71, 81 (97). Zur 5%-Kiausel bei der Buropawahl BVerfGE 51, 222 ff. Dazu kritisch Murswiek, JZ 1979, S. 48 ff. 21 Vgl. Art. 2 des Aktes des Rates über die Einführung der allgemeinen und unmittelbaren Wahlen vom 20.9.1976, ABI. EWG 1976 Nr. L 278/1. 22 So auch Huber, in: Staatswissenschaften und Staatspraxis, 3 (1992), S. 349 (370). Eine ausreichende, d.h. nicht ins statistisch Unbedeutende absinkende Repräsentanz stellt einen Fall der elementaren mitgliedstaatliehen Interessen dar, die von der Gemeinschaft zu achten sind. 23 Ebenso Huber, in: Staatswissenschaften und Staatspraxis, 3 (1992), S. 349 (371).

2. Einzelne Entfaltungen im EGV

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Lichte des gemeinschaftsrechtlichen Demokratieprinzips führt deshalb zu einer sofortigen und strikten Handlungspflicht des Europäischen Parlaments.24 Ein demokratisch legitimiertes Europäisches Parlament ist nur die Basis originärer, innergemeinschaftlicher demokratischer Legitimation. Es kommt weiter darauf an, wie diese Legitimation dem Handeln der Union mitgeteilt wird. Im Vordergrund stehen dabei einmal die Vermittlung inhaltlicher Legitimation durch Rechtsetzung und zum anderen personeller Legitimation durch Regierungsernennung und -kontrolle. b) Rechtsetzungsbefugnisse des Europäischen Parlaments

Die begrenzten Rechtsetzungsbefugnisse des Europäischen Parlaments sind das meistverwendete Beispiel zur Demonstration des Demokratiedefizits der Europäischen Union. Tatsächlich ist das Europäische Parlament auch durch den Unions-Vertrag nicht als Hauptrechtsetzungsorgan ausgestaltet worden. Es wäre aber falsch und irreführend, eine maßgebliche Beteiligung des Europäischen Parlaments an der EG-Rechtsetzung zu leugnen. Im einzelnen ist heute von vier verschiedenen Beteiligungsformen des Europäischen Parlaments an der Rechtsetzung der Union auszugehen25: dem Kodezisionsverfahren nach Art. 189 b, dem - nicht ausdrücklich geregelten - Verfahren der Zustimmung, dem Verfahren der Zusammenarbeit nach Art. 189 c sowie der Anhörung26 des Europäischen Parlaments. Um den Einfluß des Europäischen Parlaments auf die Rechtsetzung nach den einzelnen Verfahrensarten bestimmen zu können, bedarf es einer näheren Betrachtung ihres Anwendungsbereiches und Ablaufs. ( 1) Das Kodezisionsverfahren nach Art. 189 b EGV Das Kodezisionsverfahren erlaubt keinen Erlaß von Rechtsakten gegen das Mehrheitsvotum des Europäischen Parlaments. Ihm wird eine Veto-Position 24 Deshalb geht Huber, in: Staatswissenschaften und Staatspraxis, 3 (1992), S. 349 (372) zutreffend von der Nichtigkeit des Art. 7 Abs. 2 [bei Huber heißt es falschlieh Abs. 3] des Aktes des Rates zum Wahlverfahren (Fn. 134). Zu dieser Schlußfolgerung dürfte auch Grabitz/l..iiufer, EWGV, Art. 138 Rdnr. 4 gelangen, der Art. 7 Abs. 2 nur als ersten Schritt und für eine begrenzte Zeit als vertragskonfonn einstufte. Nur sanft mahnend in diesem Zusammenhang BVerfGE 89, 155 (186). 25 Zum aktuellen Stand der Rechte des Europäischen Parlaments vgl. den Bericht von Boest, EuR 27 (1992), S. 182ff. 26 Auch für die Anhörung gibt es im EGV keine allgemeine Verfahrensvorschrift.

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V. Verwirklichung des Demokratieprinzips im Gemeinschaftsrecht

eingeräumt. Da dem Parlament jedoch kein Initiativrecht zusteht, mangelt es ihm auf den ersten Blick immer noch an positiven Gestaltungsmöglichkeiten, wie sie für eine wirksame und prägende Einflußnahme auf die Rechtsetzung erforderlich wären.27 In Wirklichkeit werden dem Parlament aber durch die Einführung des Vermittlungsverfahrens nach Art. 189b Abs. 4 EGV positive Gestaltungsmöglichkeiten, wenn auch in beschränktem Umfang, eröffnet. In diesem Verfahren verhandelt das Parlament direkt mit dem Rat ohne Beteiligung der Kommission. Das entspricht in etwa der Tätigkeit des Vermittlungsausschusses nach Art. 77 GG. Mit dem Kodezisionsverfahren ist damit eine neue Qualität der Beteiligung des Parlamentes an der Rechtsetzung erreicht und damit die Chance für das Parlament gegeben, seine Befähigung zur Mitwirkung an der Rechtsetzung unter Beweis zu stellen. Die Beteiligung des Parlaments an der Gestaltung der nach diesem Verfahren erlassenen Rechtsakte wird nach außen hin dadurch dokumentiert, daß sie gern. Art. 191 EGV durch den Präsidenten von Rat und Europäischem Parlament gemeinsam unterzeichnet werden. Der sachliche Anwendungsbereich des Kodezisionsverfahrens erstreckt sich auf folgende Bereiche: - Art. 49 (Freizügigkeit); - Art. 4 Abs. 2, 56 Abs. 2, 57 Abs. 2 Satz 3, 66 (Niederlassungsrecht); -Art. 100a Abs. 1, lOOb (Binnenmarkt und Rechtsangleichung); - Art. 26 Abs. 4 (Fördermaßnahmen im Bildungsbereich); - Art. 28 Abs. 5 (Fördermaßnahmen im Kulturbereich); - Art. 29 Abs. 4 (Fördermaßnahmen im Gesundheitswesen); -Art. 29a Abs. 2 (spezifische Maßnahmen der Verbraucherpolitik); -Art. 29d Abs. 1 (Leitlinien Transeuropäische Netze); -Art. 30i (Rahmenprogramm Forschung und Technologie);

-Art. 30s Abs. 3 (Aktionsprogramme Umwelt).28

27 Bereits an dieser Stelle sei darauf hingewiesen, daß in den Mitgliedstaaten das Gros der Gesetzesintitiativen von der Regierungsbürokratie ausgearbeitet wird. Gesetzgebungsinitiativen des Parlaments sind äußerst selten, zumal dieser Weg oft aus rein verfahrensrechtlichen Gründen gewählt wird und nicht immer Ausdruck materieller parlamentarischer Initiative ist. Vgl. Stern, Staatsrecht Bd. 2, § 37 III 4 b) und die statistischen Hinweise bei von Mutius, Jura 1980, S. 278. 28 Vgl. auch die Auflistung bei Boest, EuR 27 (1992), S. 182 (192).

2. Einzelne Entfaltungen im EGV

73

Das Kodezisionsverfahren betrifft also durchweg gewichtige Bereiche des Gemeinschaftsrechts. Bereits 1996 ist gern. Art. 189b Abs. 8 EGV zu prüfen, ob das Verfahren in seinem Anwendungsbereich ausgeweitet wird. (2) Die Zustimmung des Europäischen Parlaments Das Verfahren der Zustimmung ist im EGV als Verfahren nicht eigens geregelt und beschränkt sich auf eine Zustimmung des Europäischen Parlaments am Ende des Verfahrens.29 In der Praxis kommt es jedoch auch zu einer früheren konsultativen Beteiligung des Parlaments. Ihren Schwerpunkt findet diese Verfahrensart im Bereich der auswärtigen Beziehungen der Union. Im einzelnen sind folgende Sachbereich betroffen: - Art. 8a Abs. 2 (Aufenthaltsrecht); - Art. 105 Abs. 6 (Übertragung von Aufgaben an EZB); -Art. 106 Abs. 5 (Änderung des Statuts des ESZB); -Art. 130d (Struktur- und Kohäsionsfonds); -Art. 138 Abs. 3 (einheitliches Wahlverfahren); - Art. 237 (Beitritt); -Art. 238 i.V.m. 228 Abs. 3 (Assoziierung); -Art. 228 Abs. 3 (bestimmte internationale Verträge). (3) Das Verfahren der Zusammenarbeit nach Art. 189 c EGV Für das bereits vor dem lokrafttreten des Unions-Vertrages vorgesehene und praktizierte Verfahren der Zusammenarbeit ist charakteristisch, daß die Letztentscheidung alleine beim Rat bleibt, das Parlament aber durch die Vorlage von Abänderungsvorschlägen oder eine Ablehnung das erforderliche Quorum für den Ratsbeschluß erhöhen kann. Der Rat kann den Rechtsakt gegen das Votum des Parlamentes nur noch einstimmig verabschieden. Auch dieses Verfahren, dessen Anwendungsbereich durch den Unions-Vertrag ausgedehnt wurde30, verleiht dem Parlament einen gewichtigen gestalterischen Einfluß auf die Rechtsetzung, wie die Analyse der bisherigen nach diesem Verfahren 29 Vgl. Boest, EuR 27 (1992), S. 182 (192 f.). 30 Vgl. auch dazu die Auflistung bei Boest, EuR 27 (1992), S.

182 (193 f.)

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V. Verwirklichung des Demokratieprinzips im Gemeinschaftsrecht

durchgeführten Rechtsetzungsakte gezeigt hat. 31 Denn obwohl dem Rat das Letztentscheidungsrecht bleibt, ist er politisch doch gezwungen, auf die Forderungen und Einwendungen des Parlamentes jedenfalls im Wege eines Kompromisses einzugehen. Das Verfahren der Zusammenarbeit erstreckt sich auf folgende Sachbereiche: - Art. 6 (Diskriminierungsverbot); -Art. 75 Abs. 1 (Verkehrspolitik); - Art. 103 Abs. 5 (multilaterale Überwachung der Wirtschaftspolitik); -Art. 104a Abs. 7 (Zugang zu Finanzinstitutionen); -Art. 104b Abs. 2 (Verbot der Kreditfinanzierung); - Art. 105a Abs. 2 (Umlauf von Münzen); -Art. 118a Abs. 2 (Arbeitsschutz); -Art. 125 (ESF); -Art. 127 (berufliche Bildung); -Art. 129d (Transeuropäische Netze); - Art. 130e (EFRE); -Art. 130o Abs. 2 (Implementierung von Forschung und Technologie Rahmenprogrammen); - Art. 130s Abs. 1 (Umweltpolitik); - Art. 130s Abs. 3 Satz 2 (Umsetzung Aktionsprogramme Umweltpolitik); - Art. 130w Abs. 1 (Entwicklungszusammenarbeit).

31 Vgl. die Statistik des Europäischen Parlaments, ABlEG Nr. C 158 v. 17.6.1991, S. 255, wonach 32% der Vorschläge des Parlaments in den endgültigen Rechtstexten ihren Niederschlag gefunden haben. Auf die Bedeutung dieser "informellen" Mitwirkungsmöglichkeiten wies auch das BVerfG in seiner Entscheidung zur Buropawahl hin: BVerfGE 51, 222 (242 f.).

2. Einzelne Entfaltungen im EGV

75

(4) Die Anhörung In einem erheblichen Prozentsatz der Rechtsetzungsak.te ist die Beteiligung des Europäischen Parlaments auf ein Anhörungsrecht beschränkt. Die Einschätzung der politischen und damit zugleich legitimatorischen Bedeutung der Anhörung dürfte die meisten Schwierigkeiten bereiten. Ähnlich wie bei dem Verfahren der Zusammenarbeit ist aber auch hier davon auszugehen, daß Einwendungen und Abänderungsvorschläge des Parlaments einiges Gewicht besitzen, so daß es sich bei der Anhörung nicht um eine reine Formsache handelt. Deshalb vermittelt auch die Anhörung des Parlaments der EG-Rechtsetzung ein gewisses Maß an demokratischer Eigenlegitimation. Die Anhörung des Europäischen Parlaments durch den Rat ist in folgenden Bereichen vorgeschrieben:

-Art. 8b (Kommunal- und EP-Wahlrecht der Unionsbürger); - Art. 8e (Unionsbürgerschaft); - Art. 43 (Agrarpolitik); - Art. 57 Abs. 2 Satz 2 (Handwerksordnung); -Art. 75 Abs. 3 (Verkehrsordnung); - Art. 87 (Kartellrecht); - Art. 94 (Beihilfen); - Art. 99 (Steuern); -Art. 100 (Rechtsangleichung); -Art. 100c (Visapolitik); -Art. 104c Abs. 14 (Haushaltsdefizite); -Art. 106 Abs. 6 (Statut ESZB); -Art. 109 Abs. 1 (ECU-Wechselkurssystem); - Art. 109f Abs. 6 (Konsultation EWI); -Art. 109f Abs. 7 (Übertragung von Aufgaben aufEWI); -Art. 109j Abs. 2-4 (Konvergenzkriterien); - Art. 130 Abs. 3 (lndustriepolitik); -Art. 130b (spezifische Maßnahmen außerhalb der Fonds);

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V. Verwirklichung des Demokratieprinzips im Gemeinschaftsrecht

-Art. 130i Abs. 4 (spezifische Forschungsprogramme); -Art. 130o (gemeinsame Unternehmen); - Art. 130s Abs. 2 (bestimmte Maßnahmen im Umweltbereich); -Art. 201 (Eigenmitte1); -Art. 209 (Haushaltsordnung);

-Art. 228 (internationale Abkommen); - Art. 235 (Lückenfüllung). (5) Das Vorschlagsrecht gern. Art. 138b EGV Ergänzend zu diesen Befugnissen besitzt das Europäische Parlament gern. Art. 138b Abs. 2 EGV das Recht, die Kommission durch Mehrheitsbeschluß zur Unterbreitung geeigneter Vorschläge zum Erlaß eines Gemeinschaftsaktes aufzufordern.32 c) Ernennung und Kontrolle der Kommission

Zu den klassischen Parlamentsaufgaben gehört neben der Rechtsetzung die Ernennung und Kontrolle der Regierung. 33 Auch in diesem Bereich hat der Unions-Vertrag die Stellung des Parlamentes wesentlich gestärkt, indem seine Beteiligung an der Ernennung der EG-Kornmission neu geregelt wurde. Wurden bislang die Mitglieder von den Regierungen der Mitgliedstaaten nach Art. 11 FusV im gegenseitigen Einvernehmen - ohne Beteiligung des Parlaments - ernannt, so sieht Art. 158 Abs. 2 EGV nunmehr ein Zustimmungsvotum des Parlaments vor. Zugleich wurde die Amtszeit der Kommission der Wahlperiode des Parlaments angeglichen.34 Im einzelnen ist dabei folgendes Verfahren einzuhalten: Zunächst benennen die Regierungen der Mitgliedstaaten nach Anhörung des Europäischen Parlaments im gegenseitigen Einvernehmen den Präsidentenkandidaten. In Konsultation mit diesem werden die weiteren Kornmissionsmitglieder vorgeschlagen. Das gesamte Kollegium stellt sich dann dem Zustimmungsvotum des 32 Da die Vorschrift durch den Unions-Vertrag eingeführt wurde, fehlt es noch an praktischen Erfahrungen über ihre Wirkweise. 33 BVerfGE 51,222 (241). 34 Geiger, EG-Vertrag, Art. 158 Rdnr. 7.

2. Einzelne Entfaltungen im EGV

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Europäischen Parlaments. Liegt dieses vor, so erfolgt die Ernennung der gesamten Kommission durch die Regierungen der Mitgliedstaaten im gegenseitigen Einvernehmen. Das damit installierte Verfahren ist dem Kodezisionsverfahren im Bereich der Rechtsetzung vergleichbar. In der Praxis ist davon auszugehen, daß die Benennung der Kandidaten vorab mit dem Europäischen Parlament bzw. den Vertretern der stärksten Fraktionen abgestimmt wird, so daß über die formale Ausgestaltung als bloße Zustimmung hinaus eine echte Mitentscheidung des Parlaments bei der Personenauswahl möglich sein dürfte. Auch im Bereich der Regierungsbestellung besitzt das Europäische Parlament damit eine echte Mitverantwortung und verleiht damit zugleich der Kommission eine originär gemeinschaftsrechtliche demokratische Legitimation. Diese Veränderungen werden zu Recht als die wichtigste Stärkung der Stellung des Parlamentes durch den Unions-Vertrag eingestuft. 35 Die Beteiligung des Europäischen Parlaments an der Einsetzung der Kommission wird ergänzt durch das in Art. 144 EGV vorgesehene Mißtrauensvotum. Mit diesem Kontrollinstrument kann das Europäische Parlament mit Zwei-Drittel-Mehrheit die Kommission (geschlossen) zum Rücktritt zwingen. Dadurch wird eine echte und wirksame politische Verantwortlichkeit der Tätigkeit der Kommission gegenüber dem Parlament garantiert. 36

d) Weitere Kontrollbefugnisse des Europäischen Parlaments Neben diesen Befugnissen in zentralen Bereichen besitzt das Europäische Parlament eine Reihe von weiteren Zuständigkeiten, vornehmlich mit Kontrollcharakter, die dem Standard der Rechte der mitgliedstaatliehen Parlamente entsprechen und eine wichtige Ergänzung der bereits erörterten Zuständigkeiten darstellen. Das gilt vor allem für das politisch sehr wirksame Recht, gern. Art. 138c EGV Untersuchungsausschüsse einzusetzen. Aber auch der Ernennung eines Bürgerbeauftragen nach Art. 138e EGV, dem Fragerecht gegenüber der Kommission gern. Art. 140 Abs. 3 EGV sowie der Erteilung der haushaltsrechtlichen Entlastung gern. Art. 206 EGV kommt erhebliche Bedeutung zu.

35 So Wesse/s, Integration 1992, S. 2 (10). 36 Bieber, in: G-T-E, EWGV, Art. 144 Rdnr. I; Geiger, EG-Vertrag, Art. 144 Rdnr. I.

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V. Verwirklichung des Demokratieprinzips im Gemeinschaftsrecht

e) Verwirklichung des Typus "parlamentarisches Regierungssystem"

Das Europäische Parlament vermittelt demnach den Organen der Union und ihren Handlungen partiell, soweit seine Mitwirkungsbefugnisse reichen, eine originäre demokratische Legitimation. Durch seine Beteiligung an der Rechtsetzung, Kommissionseinsetzung und -kontrolle wird zugleich in der institutionellen Ordnung der Europäischen Union die Struktur des Typus des gemeineuropäischen37 parlamentarischen Regierungssystems aufgenommen, der durch die Repräsentationsfunktion des Parlaments, die Freiheit des Abgeordnetenmandats, ein funktionsfähiges Parteiensystem, die Anerkennung und Sicherung der Eigenständigkeit der Regierungsfunktion, die Kontrollfunktion des Parlaments sowie die Existenz bestimmter politischer und bürgerlicher Freiheitsrechte gekennzeichnet ist. 38 Jedenfalls in ihren Grundzügen sind nach lokrafttreten des Unions-Vertrages alle diese Bedingungen in der Europäischen Union gegeben, wenn auch in manchen Bereichen bislang nur schwach und entwicklungsbedürftig. Das steht einer Zuordnung der neu geschaffenen institutionellen Ordnung, die am Beginn ihrer Entfaltung in neue Dimensionen steht, zum Typus des parlamentarischen Regierungssystems nicht im Wege. Im Gegenteil: Erst diese Zuordnung weist den Weg für die weitere Entwicklung und vermittelt den rechten Verständnisrahmen für die in Teilbereichen noch recht verworrene und unübersichtliche institutionelle Ordnung. Indes bleibt mit dem Rat das zweite Entscheidungszentrum der Union ohne originär gemeinschaftsrechtliche demokratische Legitimation. Es stellt sich daher die Frage, ob es möglich ist, die demokratische Legitimation, die die im Rat vertretenen Repräsentanten der Regierungen der Mitgliedstaaten besitzen, in das Legitimationskonzept der Union zu integrieren.

3. Mittelbare demokratische Legitimation der Union durch die im Rat vereinigten Vertreter der Mitgliedstaaten Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Maastricht-Entscheidung dazu ausgeführt: "Die Europäische Union ist nach ihrem Selbstverständnis als Union der Völker Europas ein auf eine dynamische Entwicklung angelegter Verbund demokratischer Staaten; nimmt er hoheitliche Aufgaben wahr und übt dazu 37 Zur Verwirklichung des Typus in allen EG-Mitgliedstaaten vgl. im einzelnen die Ausführungen unter VI. Eine ausführliche entwicklungsgeschichtliche Darstellung des Typus liefert von Beyme, Die parlamentarischen Regierungssysteme in Europa. 38 Stern, Staatsrecht Bd. I, § 22 II 5.

3. Mittelbare demokratische Legitimation durch den Rat

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hoheitliche Befugnisse aus, sind es zuvörderst die Staatsvölker der Mitgliedstaaten, die dies über die nationalen Parlamente zu legitimieren haben."39 Die Annahme, durch die Vertreter der Mitgliedstaaten im Rat werde dessen Handeln demokratisch legitimiert, ist communio oppinio. Ihre dogmatische Ableitung ist nichts destoweniger problembeladen, bedarf jedenfalls der dogmatischen Aufhellung. a) Die Organstellung des Rates im Schnittkreis von Gemeinschaftsrecht und mitgliedstaatlichem Verfassungsrecht

Der Rat besteht gern. Art. 146 "aus je einem Vertreter jedes Mitgliedstaats auf Ministerebene, der befugt ist, für die Regierung des Mitgliedstaats verbindlich zu handeln". Er ist das institutionelle Bindeglied zwischen der Union und den Mitgliedstaaten.40 Diese formale Kennzeichnung gibt allerdings keine Auskunft über die Reichweite der aus dem mitgliedstaatliehen Verfassungsrecht folgenden Rechtsbindungen, denen die Staatenvertreter im Rat unterliegen. Da es sich beim Rat um ein Organ der Gemeinschaft handelt, ist für die Bestimmung der Reichweite von Rechtsbindungen, die im mitgliedstaatliehen Verfassungsrecht ihren Ursprung haben, das Gemeinschaftsrecht selbst maßgeblich.41 Es läßt jedoch zu, daß die Regierungen ihre Vertreter Weisungen unterwerfen.42 Allerdings müssen solche Weisungen in Einklang mit den Erfordernissen gemeinschaftsfreundlichen Verhaltens stehen43, die sich u.a. aus

39 BVerfGE 89, 155 (184). Das BVerfG verkennt bzw. unterschätzt an dieser Stelle (anders offenbar S. 186) freilich die aktuell gegebene Eigenlegitimation, die durch das Europäische Parlament bereits jetzt vermittelt wird. Dies mag auch daran liegen, daß das Gericht die institutionellen Zusammenhänge und tatsächlichen Voraussetzungen der Repräsentation eher kursorisch untersucht, wie seine knappen Hinweise zeigen. 40 Vgl. dazu im einzelnen lpsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, 13n ff.; Friauf, Die Staatenvertretung in supranationalen Gemeinschaften, S. 43 ff. 41 Grundlegend: Friauf, Die Staatenvertretung in supranationalen Gemeinschaften, S. 128: "Der Ministerrat ist ... in seiner Eigenschaft als Träger unmittelbarer hoheitlicher Eingriffsrechte ein ausführendes Organ, dessen Tätigkeit in vollem Umfang von der Rechtsordnung der Gemeinschaft abhängt und ihr entsprechen muß. Die Mitwirkungsrechte, die den einzelnen Regierungen im Rat zustehen, sind dieser Rechtsordnung hierarchisch untergeordnet. Sie müssen sich in jedem einzelnen Fall nach Inhalt, Umfang und Zielrichtung aus ihr heraus rechtfertigen lassen." 42 So Grabitz/Hamier, EWGV, Art. 146 Rdnr. 1; Bleckmann, Europarecht, Rdnr. 42; Oppermann, Europarecht, Rdnr. 248; 43 Vgl. auch dazu bereits Friauf, Die Staatenvertretung in supranationalen Gemeinschaften, S. 129: "Allein das Gesamtinteresse der Gemeinschaft darf und muß die oberste Richtschnur ihres Handeins bilden".

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V. Verwirklichung des Demokratieprinzips im Gemeinschaftsrecht

Art. 5 EGV ergeben.44 Umstritten ist jedoch, ob die verfassungsrechtlichen Bindungen der Vertreter im Rat so weit gehen, daß sie auch an die jeweiligen Grundrechte der nationalen Verfassungsordnung gebunden sind. Dieser Frage kommt insoweit paradigmatische Bedeutung zu, als die Grundrechte der Mitgliedstaaten einerseits über die allgemeinen Rechtsgrundsätze in das Gemeinschaftsrecht einfließen und die Grundrechtsbindung zum anderen rechtsstaatliehen Kernbereich der Verfassungsbindung von Staatsorganen zu rechnen ist. Aus ihrer Beantwortung kann deshalb in besonderer Weise Aufschluß über die Reichweite mitgliedstaatlicher Rechtsbindung im Rat erwartet werden. b) Bindung der Staatenvertreter an Grundrechte der nationalen Verfassungen Die Befürworter einer Grundrechtsbindung des Abstimmungsverhaltens der Vertreter der Bundesrepublik im Rat berufen sich zur Begründung auf Art. 1 Abs. 3 GG. Diese die Grundrechtsbindung aller Staatsgewalt begründende Vorschrift ziele auf eine umfassende und wirksame Sicherung der rechtlichen und tatsächlichen Geltung der Grundrechte ab. Sie erfasse alle Äußerungsformen der deutschen Staatsgewalt, auch beim Tätigwerden in grenzüberschreitenden, internationalen Beziehungen.45 Die Gegenansicht46 wendet dagegen ein, eine Grundrechtsbindung der deutschen Mitglieder im HG-Ministerrat sei weder grundrechtstheoretisch noch grundrechtskollisionsrechtlich zu begründen. Als Abwehrrechte entfalteten die Grundrechte keine Wirkung, weil - wie das Bundesverfassungsgericht47 in seinem Beschluß zur EG-Tabakrichtlinie zutreffend ausgeführt habe - die Zustimmung im Rat noch nicht den Rechtskreis des Bürgers berühre. 48 Bei Anwendung der grundrechtliehen Schutzpflichtenlehre stelle sich zunächst die Frage nach der Eingriffskonstellation. Diese müsse so gedacht werden, daß die Bedrohung bzw. der Eingriff von den anderen Mitgliedern des HG-Ministerrates ausgeht, da nur ihnen gegenüber eine Schutzmaßnahme (im Sinne grundrechtskonformen Verhaltens) der deutschen Mitglieder in Betracht komme. Unzweifelhaft seien aber die Repräsentanten der anderen Mitgliedstaaten nicht an die deutschen Grundrechte gebunden. Das wäre indes nicht hinderlich, da auch 44 EuGH, Rs. 2 u. 3/60, Niederrheinische Bergwerks AG/Hohe Behörde, Slg. 1961 S. 311; Rs. 14/68, Walt Wilhelm, Slg. 1969, S. 1 (27). Vgl. auch Grabitz/Hamier, EWGV, Rdnr. I; Grabitz, EWGV, Art. 5 Rdnr. 4 ff. 45 Friauf, Bindung deutscher Verfassungsorgane, S . 11 (33 ff.). 46 Vgl. Heintzen, in: Der Staat 31 (1992), S. 367 ff. m.w.N. 47 BVerfG, NJW 1990, S. 974. 48 Heintzen, in: Der Staat 31 (1992), S. 367 (371 ff.).

3. Mittelbare demokratische Legitimation durch den Rat

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deutsche Privatpersonen nicht zu den Grundrechtsadressaten gehören. Hinzu komme aber, daß ihr Verhalten den Einwirkungen der deutschen Staatsgewalt entzogen sei, nur den gemeinschaftsrechtlichen und internationalrechtlichen Rechtsbindungen unterliegt. Deshalb scheidet auch die Konstruktion einer Grundrechtsbindung über die Lehre von den grundrechtliehen Schutzpflichten aus. 49 Dagegen wird die These von der absoluten Wirkung der Grundrechte ins Feld geführt.50 Nach ihr kommt es nicht darauf an, "wer" die (deutschen) Grundrechte gefährdet. Auf jeden Fall muß der (deutsche) Staat zu ihrem Schutz eingreifen. Diese, zugegebenermaßen nicht mit Blick auf internationale Sachverhalte formulierte These vermag indes den Einwand nicht zu entkräften, daß die Grundrechtsbindung und damit auch die grundrechtliche Schutzgewähr dort ihre Grenze findet, wo der Einfluß- bzw. Geltungskreis deutscher Hoheitsgewalt endet. Schließlich läßt sich auch aus den heute allgernein anerkannten objektivrechtlichen Wirkungen der Grundrechte nichts anderes herleiten. Als abstrakte, konkretisierungsbedürftige Verhaltensmaßgaben fließen die deutschen Grundrechte bereits in den Bestand der allgerneinen Rechtsgrundsätze des Gerneinschaftsrechts ein. Daß sie dabei unter Umständen Einschränkungen ihrer normativen Geltungsweite nach den Maßstäben des Grundgesetzes hinnehmen müssen, liegt in der Natur dieses Rechtsinstitutes, widerspricht aber auch nicht den Prinzipien der objektiv-rechtlichen Grundrechtsgeltung, nach der die Grundrechte lediglich als Maximen, Grundsätze und Prinzipien normative Geltung entfalten. 51 Aber auch wenn man davon ausgeht, daß die Grundrechte über die allgerneinen Rechtsgrundsätze hinaus Direktiven und Kriterien für die Ausübung der auswärtigen Gewalt entfalten52, führt dies nicht zu einer anderen Bewertung, da auch nach dieser Ansicht die Grundrechte nur als Abwägungsbelange zu berücksichtigen sind, nicht aber eine strikte Rechtsbindung erzeugen.53

49 50 5I 52 53

Heintzen, in: DerStaat 31 (1992), S. 367 (374 ff.). Stern, Staatsrecht Bd. 3/1, § 69 IV 5 c) (S. 948 f.). Heintzen, in: Der Staat 31 (1992), S. 367 (378 f.). So vertreten etwa von Tomusclu.Jt, VVDStRL 36 (1978); S. 7 (42 ff.) . Vgl. Heintzen, in: Der Staat 31 (1992), S. 367 (379).

6 Kluth

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V. Verwirklichung des Demokratieprinzips im Gemeinschaftsrecht

c) Die Reichweite der mitgliedstaatliehen demokratischen Legitimation des Handeins der Regierungsvertreter im Rat

Die Ablehnung einer Grundrechtsbindung der deutschen Mitglieder des Rates schließt indes nicht ohne weiteres die mitgliedstaatlich begründete demokratische Legitimation ihres Verhaltens aus. Insofern ist darauf hinzuweisen, daß die Reichweite der in Art. 20 Abs. 2 GG und Art. l Abs. 3 GG normierten Rechtsbindungen der Ausübung deutscher Staatsgewalt nicht identisch ist, vielmehr in beiden Fällen funktionen- und bereichsspezifisch ermittelt werden muß. 54 Das hängt damit zusammen, daß demokratische Legitimation und grundrechtliche Rechtsbindung in unterschiedlichem Verhältnis zur Staatsgewalt stehen. Während die Grundrechte der formierten und ausgeübten Staatsgewalt Bindungen auferlegen und dabei gewissermaßen von außen an sie herantreten, wirkt sich die demokratische Legitimation auf ihren Konstitutionsprozeß aus, ist ihr also im Prinzip immanent. Insofern ist nach dem Grundgesetz ausgeübte Staatsgewalt immer demokratisch legitimiert, geht vom Volke aus. Zudem entfaltet die demokratische Legitimation des Handeins der deutschen Mitglieder des Ministerrates aus der Perspektive des Art. 20 Abs. 2 GG keine Rechtswirkungen nach außen, die in den Bereich der anderen Mitgliedstaaten hineinwirken. Für die Reichweite der demokratischen Legitimation kommt es deshalb auch nicht darauf an, die Schnittstelle zwischen Staats- und Gemeinschaftsgewalt im Handeln des Rates dogmatisch-begrifflich trennscharf zu bestimmen. Demokratisch legitimiert ist das Verhalten der Staatenvertreter nämlich jeweils insoweit, als eine rechtlich verbindliche Einflußnahme durch die Leitungsorgane des Mitgliedstaates (Regierung/Parlament) möglich ist und dadurch demokratische Legitimation vermittelt wird. Das ist soweit und solange der Fall, als die Vertreter der Mitgliedstaaten den nationalen Weisungen folgen können und nicht zwingende Bindungen des Gemeinschaftsrechts entgegenstehen. Wo diese Grenze überschritten wird und damit ein Konflikt zwischen gemeinschafts- und verfassungsrechtlich begründeten Bindungen droht, tritt ein anderes Rechtsregime in Kraft, das lediglich an den Schutz der verfassungsrechtlichen Identität der Bundesrepublik anknüpft und seine Maßstäbe aus Art. 23 Abs. l und 79 Abs. 3 GG gewinnt. 55

54 Vgl. Schmidt-Aßmann, AöR 116 (1991), S. 338; Oebbecke, Weisungs- und unterrichtungsfreie Räume in der Verwaltung, S. 78; Heintzen, in: Der Staat 31 (1992), S. 380; Jestaedt, Demokratieprinzip und Kondominialverwaltung, S. 233 ff.

3. Mittelbare demokratische Legitimation durch den Rat

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Die von den einzelnen Mitgliedstaaten bzw. ihren Völkern ausgehende demokratische Legitimation des Verhaltens ihrer Vertreter im Rat, ist staatlichen Ursprungs und kann aus der Verfassungsperspektive der Mitgliedstaaten diesen Ursprung auch nicht transzendieren, also aus sich heraus keine Rechtswirkungen auf der Gemeinschaftsebene entfal~en. Es handelt sich insofern um zwölf einzelne Stränge, die unverbunden im Rat enden. Es stellt sich daher die Frage, ob das Gemeinschaftsrecht ein dogmatisches Instrumentarium bereithält, die in den einzelnen Strängen geführten Legitimationspotentiale zu verknüpfen und dem Handeln des Organs und damit der Gemeinschaft verfügbar zu machen. d) Möglichkeit einer plural-territorialen demokratischen Legitimation auf Unionsebene (1) Der Befund in den Verfassungen der Mitgliedstaaten (a) Die Stellung des Bundesrates im Grundgesetz Im Grundgesetz lenkt dies den Blick auf die Stellung des Bundesrates. 56 Auch dieses an der Bundesgesetzgebung mitwirkende Organ verfügt nicht über eine unmittelbar durch das Gesamtstaatsvolk vermittelte demokratische Legitimation, sondern stützt sich auf die - in Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GG vorgeschriebene - Legitimation durch die jeweiligen Länder-Staatsvölker. 57 Die Regelungen über die Mitwirkung des Bundesrates an der Bundesgesetzgebung repräsentieren einen spezifischen Modus der Vermittlung demokratischer

55 Zutreffend auch insofern Heintzen, in: Der Staat 31 (1992), S. 385 ff. Vgl. in diesem Zusammenhang auch BVerfGE 89, 155 (182). 56 Vgl. auch den Hinweis von Tomuschat, EuGRZ 1993, S. 489 (493). 57 Vgl. zuletzt BVerfGE 83, 37 (53). Zur Staatsqualität der Länder und speziell zum Staatsvolk in den Ländern vgl. lsensee, HStR IV, § 98 Rdnrn. 21 ff. und 45 ff. Entgegen Isensee ist es möglich und zutreffend das Volk in den Bundesländern als Teil-Volk zu bezeichnen und nicht lediglich als Volksteil zu qualifizieren (in diesem Sinne auch BVerfGE 83, 37 [53)). Das Volk in den Ländern fungiert als universales Legitimationssubjekt der Landesstaatsgewalt Diese ist in ihrem Bestand nicht vom Wirken des Bundes abhängig und deshalb auch nicht auf das Bundes-Staatsvolk riickführbar. Diese integrale Stellung als Legitimationssubjekt wird durch die Bezeichnung als TeilVolk besser zum Ausdruck gebracht als durch den Begriff Volksteil, der ein Tätigwerden des Gesamtstaatsvolkes suggeriert. Dagegen ist bei den Kommunen von einem Volksteil (und zwar primär des Landes-Teilvolkes und in zweiter Hinsicht des Bundesvolkes) auszugehen, da sich das Volk hier nur bereichsspezifisch (Verwaltungslegitimation) und in Bezug auf einen Verwaltungsträger konstituiert. In Abgrenzung dazu sind wiederum die Mitglieder von öffentlich-rechtlichen Körperschaften als Verbandsvolk zu klassifizieren, wenn man in diesem Zusammenhang überhaupt den Volksbegriff ins Spiel bringen will.

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V. VeiWirklichung des Demokratieprinzips im Gemeinschaftsrecht

Legitimation im Bundesstaat.58 Der Bundesrat ist einerseits (nur und ausschließlich) ein Organ des Bundes59, repräsentiert aber andererseits die Länder60. Die in ihm tätigen Organwaller sind zugleich solche des Bundes wie auch der Länder.61 All dies macht zusammen mit der Tatsache, daß die Länder im Bundesrat nicht formal gleichbehandelt werden, sondern ihnen gern. Art. 51 Abs. 2 GG Stimmen je nach Einwohnerzahl zugewiesen werden und gern. Art. 52 GG bei Abstimmungen das Mehrheitsprinzip gilt, den besonderen unitarischen Charakter dieses föderalen Organs aus. 62 Der Bundesrat ist - anders als etwa der amerikanische Senat - keine zweite Kammer, sondern Repräsentation der Länderregierungen. Ihm eignet also eine exekutivische Struktur.63 Die damit einhergehende lediglich mittelbare demokratische Legitimation verursacht aufgrund der ausdrücklichen Entscheidung des Grundgesetzes für diesen Typus jedoch kein Legitimationsdefizit64, denn nach dem Grundgesetz bedeutet verfassungsmäßige Legalität zugleich demokratische Legitimität. 65 Klaus Stern hat die Stellung des Bundesrates im Verfassungsgefüge interessanterweise unter Verweis auf den EG-Ministerrat - zutreffend als Anwendungsfall des Typus einer gemischten Verfassung66 charakterisiert.67 In diesem Sinne kann davon gesprochen werden, daß im System der demokratischen Legitimation des Grundgesetzes unitarisch-demokratische Legitimation (durch den Bundestag) und föderal-demokratische Legitimation (durch den Bundesrat) zusammentreten. 68 Das Grundgesetz selbst institutionalisiert im Bundesrat also eine exekutivisch vermittelte territorial-plurale demokratische

58 Vgl. Draht, Die Entwicklung der Volksrepräsentation, S. 260 (318 ff.). 59 Vgl. Herzog, HStR II, § 44 Rdnr. 2; Pol/mann, Repräsentation und Organschaft, S. 116 ff. 60 Pollmann, Repräsentation und Organschaft, S. 104 ff., 148. 61 Pollmann, Repräsentation und Organschaft, S. 119 ff. 62 Vgl. Herzog, HStR II, § 44 Rdnr. 4 ff. 63 Herzog, HStR II, § 44 Rdnr. 14. 64 Herzog, HStR II, § 44 Rdnr. 25 f. 65 BVerfGE 62, 1 (43). 66 Vgl. dazu ausführlich Sternberger, Die neue Politie, S. 156 ff. Die Lehre von der gemischten Verfassung geht auf Anstoteies zurück (insbes. Politik, viertes Buch), der den Staat, im Gegensatz zu Platon, seinem Wesen nach als Vielheit auffasste. Steroberger sieht den modernen Verfassungsstaat als Mischung aus Oligarchie und Demokratie. Dabei verortet er das oligarchische Element in der Herrschaft der politischen Klasse, die sich gegenüber dem Volk zu verantworten hat. 67 Stern, Staatsrecht Bd. 1, § 19 III8 (S. 735 f.). 68 Stern, Staatsrecht Bd. 1, § 19 III 8 (S. 735 f.).

3. Mittelbare demokratische Legitimation durch den Rat

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Legitimation bei der Ausübung der gesetzgebenden Gewalt des Bundes und damit auf höchster Ebene. (b) Die regionalen Repräsentationsorgane in den Verfassungen anderer Mitgliedstaaten

In den Verfassungen der übrigen EU-Mitgliedstaaten finden sich zwar keine dem Bundesrat direkt vergleichbaren Institutionen, doch kennen Belgien69, Frankreich70, ltalien71, die Niederlanden und Spanien73 den Senat74, der neben den vom Gesamtstaatsvolk direkt gewählten Abgeordnetenkammern der territorialen/regionalen Repräsentation dient. Dagegen kennen die Verfassungen von Dänemark, Griechenland, Irland- dessen Senat durch die Universitäten gewählt wird (und der damit eine Sonderstellung einnimmt75)-, Luxemburg, Portugal und Großbritannien keine solche territoriale Repräsentation. (2) Übertragbarkeit als allgemeiner Rechtsgrundsatz in das Gemeinschaftsrecht Dieser gemischte Befund läßt nach den auch auf das Demokratieprinzip anwendbaren76 Grundsätzen, die im Europäischen Gemeinschaftsrecht für die Herausbildung allgemeiner Rechtsgrundsätze gelten 77, den Schluß zu, daß eine Vermittlung demokratischer Legitimation auf dem Wege territorial-pluraler Repräsentation nicht ausgeschlossen, vielmehr grundsätzlich möglich ist. Insbesondere der Umstand, daß die größeren Mitgliedstaaten mit beachtlichen historisch-kulturellen Binnenuntergliederungen diese Form demokratischer Repräsentation neben der unmittelbar auf das Gesamtstaatsvolk bezogenen Form vorsehen, spricht dafür, diese Form demokratischer Legitimation auch auf der Gemeinschaftsebene anzuerkennen.

69 Vgl. Art. I, 3ter. 26,53 belgisehe Verf. 70 Vgl. Art. 24 französische Verf. 71 Vgl. Art. 55,57 italienische Verf. 72 Art. 51, 55 niederländische Verf. 73 Art. 66, 69 spanische Verf. 74 Die Bezeichnungen weichen in den einzelnen Verfassungen voneinander ab. Der Einfachheit halber wird hier nur von Senat gesprochen. 75 Vgl. Art. 15 irische Verf. 76 Vgl. Ress, Parlamentarische Legitimierung, S. 640 und ders., in: ZaÖRV 36 (1976), S. 227 (247 ff.). 77 Dazu Bleckmann, Europarecht, Rdnr. 282 ff.

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V. VeiWirklichung des Demokratieprinzips im Gemeinschaftsrecht

Dabei soll nicht verkannt werden, daß zwischen den einzelnen Regelungen graduelle Unterschiede bestehen und eine echte Regierungsrepräsentation nur durch das Grundgesetz vorgesehen ist, während die anderen Verfassungen direkt oder indirekt gewählte parlamentarische Repräsentationsorgane konstituieren.78 In der entscheidenden Frage, ob eine plural-territorial gegliederte Vermittlung demokratischer Legitimation möglich erscheint, sind diese Unterschiede aber von geringem Gewicht und stehen deshalb der Anerkennung eines allgemeinen Rechtsgrundsatzes auf der Ebene des Gemeinschaftsrechts nicht entgegen. (3) Einzelheiten des Legitimationsmodus: Bestellung und Rückkopplung

Die demokratische Legitimation der Vertreter der Mitgliedstaaten im Rat ist eine mittelbare. Sie beruht auf der Wahl der Regierungen entweder durch das nationale Parlament, wie in der Bundesrepublik, Spanien, oder auf der Einsetzung durch den direkt gewählten Präsidenten oder den König, der auf die Mehrheitsverhältnisse im Parlament Rücksicht nehmen muß.79 Hinzu kommt die demokratische Legitimation der Regierungstätigkeit infolge ihrer Verantwortlichkeit gegenüber dem Parlament. Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Maastricht-Urteil, anknüpfend an eine entsprechende Erklärung der Regierungen der Mitgliedstaaten80, die große Bedeutung unterstrichen, die den einzelstaatlichen Parlamenten in der Union zukommt und auf die Notwendigkeit ihrer größeren Beteiligung hingewiesen. 81 Es hat diese Rolle vor allem für die Entscheidung über den Eintritt in die dritte Stufe der Währungsunion betont. 82 Die damit angesprochene demokratische Rückkopplung83 ist in Art. 23 Abs. 2 und 3 GG n.F. institutionell abgesichert und korrigiert insofern für den Bereich der Europäischen Union die Zuweisung der auswärtigen Gewalt zum Bereich der Regierung in Art. 32 GG. Die verstärkte Einforderung einer parlamentarischen Kontrolle des Verhaltens der Regierungsvertreter im Rat erweist sich dogmatisch als Ausübung der Regierungsverantwortlichkeit und stellt insoweit das Legitimationsgefüge 78 Reformprojekte zur Umwandlung der Senate in Regierungsvertretungen analog dem Modell des Bundesrates werden zur Zeit in Spanien, Belgien und Italien diskutiert. 79 Vgl. dazu die Nachweise unter VI 2. a). 80 Vgl. deren Abdruck BGBI. 1992 II S. 1321. 81 BVerfGE 89, 155 (191). 82 BVerfGE 89, 155 (202 ff.). 83 Wortprägung von /psen, EuR 29 (1994), S. 1 (5).

4. Die doppelte Legitimationsbasis der Europäischen Union

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weder in Frage noch verändert es seine Struktur. Die parlamentarische Rückkopplung bedeutet deshalb auch keinen Bruch mit der vorrangigen Zuordnung der auswärtigen Gewalt zum Bereich der Regierung. Vielmehr wird lediglich die Notwendigkeit der Aktualisierung der dem Parlament ohnehin zustehenden Rechte betont. Dies gilt auch für Art. 23 Abs. 2 und 3 GG n.F., insoweit dort Informationspflichten ausdrücklich geregelt werden, die dem Grunde nach84 bereits bisher aus den Prinzipien der Regierungsverantwortlichkeit und der Organtreue ableitbar waren. 85

4. Die doppelte Legitimationsbasis der Europäischen Union Die Europäische Union verfügt damit über eine doppelt begründete demokratische Legitimation: eine unitarische über die Unionsbürger bzw. die Völker in den Mitgliedstaaten und das Europäische Parlament, die sich mit abgestufter Intensität auf die Teilbereiche Rechtsetzung und die Einsetzung und Kontrolle der Kommission erstreckt, sowie eine plural-territoriale, die durch die Vertreter der Regierungen im Rat vermittelt wird. Beide Legitimationsstränge wirken in weiten Bereichen mit unterschiedlicher Gewichtsverteilung zusammen, wie etwa bei der Einsetzung der Kommission und in weiten Bereichen der Rechtsetzung und besitzen daneben Bereiche alleiniger Legitimationsvermittlung. Als theoretischer Rahmen, der diese doppelte Legitimation auffängt, bietet sich auch für das Gemeinschaftsrecht der Typus der gemischten Verfassung an, allerdings mit einer anderen Akzentuierung, als sie bei Anwendung dieses Modells auf Staaten gebräuchlich ist. Für die Union gewinnt das Modell der gemischten Verfassung seine besondere Prägung dadurch, daß in dieser Herrschaftsordnung nicht nur die Unionsbürger, sondern auch die Mitgliedstaaten als Legitimationssubjekte fungieren, denen gegenüber die ihr Handeln zu verantworten hat und die über den Rat eine nach wie vor völkerrechtlich begründete Basis der Unionsverfassung sichern. 86

84 Ob die bewußt mahnende Formulierung "berücksichtigen" mehr rechtliche Bindungen erzeugt als die bislang geltenden allgemeinen Grundsätze, muß bezweifelt werden. 85 Der Sonderausschuß, der diesen Passus vorgeschlagen hat, sprach deshalb auch von einer verfassungsrechtlichen Klarstellung des Mitspracherechts des Deutschen Bundestages, vgl. BTDrucks. 12/3896, S. 19. 86 Zutreffend insoweit Kirchhof, EuR Sonderheft 111991, S. II ff.; Heintzen, in: Der Staat 31 (1992), S. 386 m.w.N.

VI. Das Legitimationsniveau in der Europäischen Union

1. Anknüpfungspunkte zur normativen Bestimmung des Legitimationsniveaus Wie das Bundesverfassungsgericht in seinem Maastricht-Urteil in allgemeingültiger Weise erneut hervorgehoben hat, genügt den Anforderungen des Demokratieprinzips nicht die bloß formale demokratische Legitimation, wie sie durch die sog. Legitimationsketten 1 sichergestellt wird. Vielmehr muß ein "hinreichend effektiver Gehalt an demokratischer Legitimation, ein bestimmtes Legitimationsniveau" erreicht werden.2 Zweifel an einem ausreichenden Legitimationsniveau könnten sich bereits aus der fünften Erwägung der Präambel des Unions-Vertrages ergeben, insoweit diese es den Mitgliedstaaten zur Aufgabe macht, "Demokratie und Effizienz in der Arbeit der Organe weiter zu stärken". Indes stellt ein solcher zukunftsgerichteter Auftrag keinen aktuell verbindlichen normativen Maßstab dar, sondern die Begründung einer auf einer politischen Wertung beruhenden Handlungspflicht pro future. Zudem ist es für das auf Integration gerichtete Gemeinschaftsrecht auch heute noch typisch, daß Handlungsaufträge erteilt und Entwicklungsziele vorgegeben werden, ohne daß damit der Ist-Zustand als rechtlich mangelbehaftet anzusehen wäre. Als normative Maßgaben, an denen ein Legitimationsdefizit grundsätzlich ablesbar wäre, kommen der Grundsatz der Demokratie in seiner Geltungsweise als allgemeiner Rechtsgrundsatz sowie ggfs. Anforderungen der Verfassungen der Mitgliedstaaten, aus deutscher Sicht insbesondere Art. 23 Abs. 1 GG, in Betracht.3

I Es handelt sich um Wahl- und Bestellungsakte. Vgl. im einzelnen Böckenförde, HStR I, § 22 Rdnr. 11 und im einzelnen Rdnr. 14 ff. 2 BVerfGE 89, 155 (182) unter Verweis aufBVerfGE 83, 60 (72). 3 V gl. dazu die ausführliche Analyse von Ress, Parlamentarische Legitimierung, passim.

1. Anknüpfungspunkte zur Bestimmung des Legitimationsniveaus

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Als allgemeiner Rechtsgrundsatz des Gemeinschaftsrechts kann das Demokratieprinzip zwar die expliziten Zuständigkeitsregeln EGV nicht derogieren, wohl aber eine Handlungspflicht der Mitgliedstaaten begründen, wenn der prinzipielle Gehalt des Demokratieprinzips in den Einzelbestimmungen mangelhaft entfaltet wäre. Das zu prüfen ist ein Anliegen dieser Untersuchung und kann deshalb erst nach deren Abschluß festgestellt werden. Demgegenüber lassen sich aus dem nationalen Verfassungsrecht keine verbindlichen gemeinschaftsrechtlichen Pflichten ableiten. Beide Rechtsräume sind getrennt und ihr Kommunikationsforum sind die erwähnten allgemeinen Rechtsgrundsätze, durch die Rechtsgehalte des Verfassungsrechts der Mitgliedstaaten Eingang in das Gemeinschaftsrecht finden können. Findet sich ein Rechtssatz nur in der Verfassung eines Mitgliedstaates, wie es etwa bei Art. 23 Abs. 1 GG der Fall ist, so scheidet die Ableitung eines allgemeinen Rechtsgrundsatzes aus. Es bleibt dann nur der Weg, von der Union eine entsprechende Rücksichtnahme auf die jeweilige verfassungsrechtliche Sonderlage einzufordern, da ansonsten der Mitgliedstaat - soweit er nicht bereit oder in der Lage ist, seine Verfassung anzupassen und diese eine Abweichung nicht duldet- aus der Union unter Inanspruchnahme des faktischen Machtkerns seiner Souveränität4 auszutreten, um seine Verfassungsordnung zu schützen. Normative Maßgaben zur Feststellung eines bestimmten Legitimationsniveaus lassen sich auch daraus nicht ableiten. Als tragfaltiger Anknüpfungspunkt bleibt damit alleine der Rückgriff auf das Demokratieprinzip als allgemeinem Rechtsgrundsatz. Es kann in der Weise als Maßstab zur Überprüfung des Legitimationsniveaus in der Union herangezogen werden, als sich aus ihm bestimmte institutionelle Ausformungen, insbesondere bezüglich der Rechtsetzungszuständigkeit und RegierungskontrolJe, ableiten lassen. Ein solcher Maßstab ist anband einer Analyse der Verfassungen der Mitgliedstaaten und unter Berücksichtigung der Besonderheiten einer supranationalen Organisation zu ermitteln.

4 Entgegen den Andeutungen des BVerfG im Maastricht-Urtei1- BVerfGE 89, 155 (188 ff.)kennt das Gemeinschaftsrecht kein einseitiges Austrittsrecht In diesem Sinne auch Götz, JZ 1993, S. 1081 (1985); Tomuschat, EuGRZ 1993, S. 489 (494); lpsen, EuR 29 (1994), S. I (16 f.).

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VI. Das Legitimationsniveau in der Europäischen Union

2. Das parlamentarische Regierungssystem als Maßstab demokratischer Legitimation der Europäischen Union a) Die Verwirklichung des Typus des parlamentarischen Regierungssystems in den Verfassungen der Mitgliedstaaten

Das Demokratieprinzip entfaltet als Herrschaftsorganisationsprinzip mikroskopische und makroskopische Wirkungen. Im mikroskopischen Bereich ist es vor allem der Gedanke der formalen, schematischen GleichheitS, der rechtliche Vorgaben der Herrschaftslegitimation, insbesondere für das Wahlrecht, vermittelt. Im makroskopischen Bereich sind es allgemeine institutionelle Vorgaben. In ihrem Zentrum steht das parlamentarische Regierungssystem als die regelmäßige und genuine6 Entfaltungsform demokratischer Herrschaftsorganisation in einer pluralistischen7 und komplexen8 modernen Industriegesellschaft. Art und Ausmaß seiner Entfaltung können deshalb als Maßstab für die institutionelle Entfaltung des Demokratieprinzips in einer Herrschaftsordnung herangezogen werden. Das parlamentarische Regierungssystem9 ist vor allem durch die Verantwortlichkeit der Regierung gegenüber dem demokratisch legitimierten Parlament gekennzeichnet.IO Diese erhält ihren besonderen Sinn aus dem Umstand, daß die Regierungsgeschäfte unmöglich durch die Repräsentativversammlung selbst ausgeführt werden können. II Die Ausgestaltung des par-

5 Vgl. Jestaedt, Demokratieprinzip und Kondominialverwaltung, S. 174 ff. 6 So Stern, Staatsrecht Bd. 1, § 22 II I. Als zweite genuine Entfaltungsform nennt Stern das Präsidialsystem. Unter den EG-Mitgliedstaaten wird vor allem Frankreich als Präsidialsystem eingestuft, doch dürfte die Erfahrung der auch zur Zeit praktizierten Kohabitation gezeigt haben, daß der Charakter als parlamentarisches System ebenso stark, wenn nicht sogar stärker ausgeprägt sein dürfte. Jedenfalls ist es mit dem (reinen) Präsidialsystem der USA nicht vergleichbar. 1 Das Merkmal pluralistisch verweist insbesondere auf die Vielfalt weltanschaulicher Positionen, aus denen sich unterschiedliche Bewertungen von Interessen und Prioritäten ableiten. Vgl. Fraenkel, Der Pluralismus als Strukturelement der freiheitlich-rechtsstaatliehen Demokratie, S. 297 ff. 8 Komplexität verweist auf die hohen Anforderungen an die Organisation und Steuerung von Entscheidungsabläufen sowie die notwendige Spezialisierung im Bereich der technischen und sozialen Entwicklungen, die der Staat zu steuern bzw. zu kontrollieren hat. 9 Zu seiner Entfaltung unter dem Grundgesetz vgl. auch die Beiträge von Meyer und Oppermann in VVDStRL 33 (1975), S. 7 ff. und 69 ff. mit einer zeitbedingt kritischen Bestandsaufnahme. 10 Badura, HStR I, § 23 Rdnr. 8 ff. II So bereits die grundlegende Erkenntnis von John Stuart Mill, Considerations on Representative Governrnent, 1861, Kap. V: "Die wahre Aufgabe einer Repräsentativversammlung besteht

2. Das parlamentarische Regierungssystem als Maßstab

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lamentarischen Regierungssystems kann verschiedenartig sein, muß jedoch eine rechtlich sanktionierte Abhängigkeit der Regierung vom Parlament einschließen.12 Die Verantwortlichkeit kann sich bereits in der Bestellung der Regierung oder in ihrer Kontrolle bzw. Absetzung äußern. Da sich die rechtsverbindliche Kontur des gemeineuropäischen Typus des parlamentarischen Regierungssystems primär aus den Regelungen der Verfassungen der Mitgliedstaaten ergibt, ist zunächst auf deren Regelungsmodi einzugehen. Für den Akt der Regierungsernennung bzw. -einsetzung führt dies zu folgendem Ergebnis: in Belgienl3, Dänemark14, Luxemburg15, den Niederlanden 16 und dem Vereinigten Königreich 17 ernennt der König bzw. Großherzog den Regierungschef, der seinerseits die weiteren Regierungsmitglieder benennt. In Frankreich18, Griechenland19, Italien20 und PortugaJ21 kommt diese Aufgabe dem Präsidenten zu. Nur in Deutschland22 und Spanien23 wird der Regierungschef vom Parlament gewählt. In allen Staaten ist die Regierung dem Parlament verantwortlich und kann durch Vertrauensentzug gestürzt werden.24 Daneben sehen die Verfassungen weitere, unterschiedlich ausgestaltete Kontrollbefugnisse vor.

nicht darin, das Geschäft der Regierung selbst zu verrichten, wozu sie ganz ungeeignet ist, sondern darin, die Regierung zu überwachen und zu kontrollieren" zitiert nach Badura, HStR I, § 23 Rdnr. 11. 12 Badura, HStR I,§ 23 Rdnr. 14. Demnach fehlte es vor lnkrafttreten des Unions-Vertrages in der Europäischen Gemeinschaft an einem Wesenselement des parlamentarischen Regierungssystems. 13 Art. 65 belgisehe Verf. 14 § 14 dänische Verf. 15 Art. 33, 76, 771uxemburgische Verf. 16 Art. 43 niederländische Verf. 17 Dazu Loewenstein, Staatsrecht und Staatspraxis von Großbritannien, Bd. I, S. 374 ff. 18 Art. 8 französische Verf. 19 Art. 37, 81 griechische Verf. 20 Art. 92 italienische Verf. 21 Art. 190 portugiesische Verf. 22 Art. 63 GG. 23 Art. 99 spanische Verf. 24 Vgl. Art. 90 belgisehe Verf.; § 15 dänische Verf.; Art. 67 f. GG; Art. 20, 49, 50 französische Verf.; Art. 84 griechische Verf.; Art. 28 irische Verf.; Art. 94 italienische Verf.; Art. 82 Iuxemburgische Verf.; Art. 42 Abs. 2 niederländische Verf.; Art. 193, 198 portugiesische Verf.; Art. 108 spanische Verfassung. Zur Staatspraxis in Großbritannien vgl. Loewenstein, Staatsrecht und Staatspraxis von Großbritannien, S. 380, 423 ff.

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VI. Das Legitimationsniveau in der Europäischen Union

Die Eigenständigkeil der Regierung gegenüber dem Parlament bzw. die Machtbalance zwischen beiden und - soweit die Verfassung ihn mit echten politischen Befugnissen ausstattet - dem Präsidenten, ist in den einzelnen Mitgliedstaaten ebenfalls unterschiedlich ausgestaltet. Das wird insbesondere am Beispiel der Verteilung der Rechtsetzungsbefugnisse deutlich. Die Verfassungen von Frankreich25 und Portugal26 verteilen die Gesetzgebungszuständigkeiten enumerativ zwischen Regierung und Parlament. Die Verfassungen von Belgien27, Dänemark28, Griechenland29, Luxemburg30 und den Niederlanden3 1 gehen ausdrücklich, das Grundgesetz der Sache nach32, von einer gemeinsamen Gesetzgebungsbefugnis von Exekutive und Parlament aus. Die Analyse der Verfassungslage in den Mitgliedstaaten erbringt damit ein im Kerngehalt (parlamentarische Kontrolle der Regierung) übereinstimmendes, in den Einzelheiten jedoch stark divergierendes Bild des Typus parlamentarisches Regierungssystem. Alle Verfassungen kennen eine effektive, allerdings normativ unterschiedlich abgesicherte Bindung der Regierungsbildung an die Mehrheitsverhältnisse im Parlament sowie die Möglichkeit, die Regierung bei Vertrauensverlust zu stürzen. Die Selbständigkeit bzw. Stärke der Regierung im Bereich der Rechtsetzung reicht in den einzelnen Mitgliedstaaten gleichfalls unterschiedlich weit. In allen Mitgliedstaaten ist die Regierung an der Gesetzgebung maßgeblich beteiligt33, diese also kein Monopol des Parlaments. Am weitesten gehen dabei die Verfassungen von Frankreich und Portugal, die die Gesetzgebungszuständigkeiten zwischen Regierung und Parlament enumerativ verteilen. Das heutige parlamentarische Regierungssystem, wie es in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union anzutreffen ist, wird demnach nicht durch einen aktiven politischen Primat des Parlaments, sondern vielmehr durch eine 25 Art. 34 und 37 französiche Verf. 26 Art. 164 d) und 201 portugiesische Verf. 27 Art. 26 belgisehe Verf. 28 § 3 dänische Verf. 29 Art. 26 griechische Verf. 30 Art. 34 und 461uxemburgische Verf. 31 Art. 81 niederländische Verf. 32 Nach dem Grundgesetz ist nicht nur mit dem Bundesrat ein Exekutivorgan maßgablieh an der Gesetzgebung des Bundes beteiligt, sondern in der Praxis wird der wesentliche Inhalt der Gesetze durch die Regierung bestimmt, die ihre Ministerien die Vorlagen erarbeiten läßt, die im parlamentarischen Verfahren in der Großzahl der Fälle kaum verändert werden. 33 Für Großbritannien konstatiert Loewenstein, Staatsrecht und Staatspraxis, S. 374 sogar, daß die Regierung selbst "die politischen Entscheidungen triffi und diese vom Parlament in Gesetze umwandeln läßt".

2. Das parlamentarische Regierungssystem als Maßstab

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dominante Rolle der Regierung bestimmt, der gegenüber dem Parlament effektive Kontrollrechte zustehen. Das parlamentarische Regierungssystem ist dabei - ähnlich wie das Präsidialsystem der Vereinigten Staaten von Amerika34 stark durch rechtsstaatliche Momente bestimmt, allen voran den Grundsatz der Gewaltenteilung. Insoweit kann zu seiner Charakterisierung auch auf die von Karl Loewenstein zur englischen Verfassungslage ausgesprochene treffliche Formulierung verwiesen werden: "Das Kabinett führt, das Parlament folgt ihm. "35 Ihr steht im übrigen eine Aussage des Bundesverfassungsgerichts zur Rolle des Bundestages nahe: "Der Bundestag ... regiert und verwaltet nicht selbst, sondern er kontrolliert die Regierung". 36 b) Vergleich mit den institutionellen Regelungen des EGV

Die vergleichende Verfassungsanalyse fördert ein Bild des parlamentarischen Regierungssystems zutage, in dem die Gewichte weitaus stärker auf die Seite der Regierung verschoben sind, als dies aus dem Blickwinkel des Demokratieprinzips zunächst zu erwarten gewesen wäre. Vor allem im Bereich der Gesetzgebung muß von einem verfassungsrechtlich fundierten und nicht etwa contra constitutionem, lediglich faktisch ausgehBildeten Übergewicht des Regierungseinflusses, ausgegangen werden. Vor diesem Hintergrund erweist sich das institutionelle System des EGV dem Standard der Mitgliedstaaten nicht nur als artverwandt, sondern in weiten Bereichen als gleichwertig. So gehen etwa die Befugnisse des Europäischen Parlaments bei der Ernennung der Kommission weiter, als dies in der großen Mehrzahl der Mitgliedstaaten bei der Regierungsernennung der Fall ist. Seine Befugnisse zur Kontrolle der laufenden Regierungstätigkeit weichen von den entsprechenden Befugnissen der mitgliedstaatliehen Parlamente nur in Nuancen ab und müssen vor allem durch eine effektivere Organisation der Parteienorganisation auf europäischer Ebene verstärkt werden. Schließlich ist dem Europäischen Parlament durch das Instrument des Mißtrauensvotums nach Art. 144 EGV auch eine wirksame Einforderung der Verantwortlichkeit der Kommission möglich, die sich von den Regelungen der mitgliedstaatliehen Verfassungen jedoch dadurch unter34 Dazu Zippelius, Staatslehre, § 42. 35 Loewenstein, Staatsrecht und Staatspraxis von Großbritannien, Bd. 1, S. 374. Aus dieser, den tatsächlichen und von den Verfassungen vorgezeichneten Machtverhältnissen entsprechenden Konstellation zeigt sich, daß die vom Bundesverfassungsgericht entwickelte Wesentlichkeitslehre ein Abwehrinstrument im Prozeß der Verlagerung des politischen Machtzentrums vom Parlament in die Regierung ist. 36 BVerfGE 1, 372 (394). Von daher erschließt sich auch die Bedeutung der Kontrolle für die demokratische Verfassungsordnung, vgl. dazu Krebs, Kontrolle in staatlichen Entscheidungsprozessen, S. 120 ff. und S. 220 ff.

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VI. Das Legitimationsniveau in der Europäischen Union

scheidet, daß der Antrag nur bei Vorliegen einer Zwei-Drittel-Mehrheit erfolgreich ist und damit noch größerer Wert auf politische Stabilität gelegt wird.37 Der EGV verwirklicht damit nach dem durch den Unions-Vertrag geschaffenen Stand die Regierungskontrolle durch das Parlament in einer den mitgliedstaatliehen Verfassungen durchaus gleichwertigen Art und Weise. Im Bereich der Rechtsetzungsbefugnisse sind die Abweichungen vom mitgliedstaatliehen Verfassungsstandard auf den ersten Blick größer. Das gilt vor allem im Vergleich zum Grundgesetz. Wie der Überblick gezeigt hat, steht dem Europäischen Parlament nach dem Unions-Vertrag nur in einem Teilbereich ein Mitentscheidungsrecht zu und seine positiven Gestaltungsbefugnisse sind kaum entwickelt. Die praktische Analyse hat jedoch auch gezeigt, daß die vorhandenen Rechte jedoch politisch gewichtiger sind als dies zunächst den Anschein hat. Die rechtsvergleichende Betrachtung fördert aber auch zutage, daß die Verfassungen von Frankreich und Portugal ebenfalls die Rechtsetzungsbefugnisse enumerativ zwischen Parlament und Regierung verteilen. In den meisten anderen Staaten besitzen Regierungen auch bei gemeinsamer Gesetzgebungszuständigkeit von Regierung und Parlament in der Praxis ein erhebliches gestalterisches Übergewicht. Die genaue Analyse zeigt, daß auch im Bereich der Rechtsetzung die Unterschiede zwischen dem mitgliedstaatliehen Standard und dem der Europäischen Union sehr viel geringer und weniger gewichtig sind, als dies eine an abstrakten Prinzipien orientierte Betrachtung glauben macht. Soweit man den feststellbaren Abweichungen ein größeres Gewicht beimißt, und eine dem Grundgesetz vergleichbare Allzuständigkeit des Europäischen Parlaments für die Rechtsetzung und ein umfassendes Initiativrecht verlangt, muß auf eine aus der Verfassung der Union abzuleitende immanente Grenze der Übertragung von Rechtsetzungsbefugnissen vom Rat auf das Parlament hingewiesen werden. Diese ergibt sich aus der doppelten Verfassungsbasis der Europäischen Union38, die zum einen auf den Mitgliedstaaten, zum anderen auf die Unionsbürger aufbaut und zudem durch eine Teil-Souveränität charakterisiert ist. Die Übertragung einzelner Hoheitsrechte bzw. Politikbereiche von den Mitgliedstaaten auf die Europäische Union führt zu einer asymmetrischen Zuständigkeits- und Verantwortungsverteilung, die in der institutionellen Ordnung der Union zu berücksichtigen ist.39 Da den Mitgliedstaaten in wesent37 Das konstruktive Mißtrauensvotum des Grundgesetzes, das nur einmal erfolgreich angewendet wurde, geht von vergleichbar hohen Anforderungen aus. 38 Vgl. dazu oben V. 4. 39 Vgl. dazu auch Doehring, ZRP 1993, S. 98 (100).

3. Offenheit für eine komplexe gemischte Verfassung

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liehen Politikfeldern die Letztverantwortung verbleibt, sie insbesondere die soziale Letztverantwortung für ihre Bürger weiterhin tragen, muß in all den Sachgebieten, in denen Entscheidungen der Union unmittelbare Rückwirkungen auf die verbleibenden mitgliedstaatliehen Zuständigkeits- und Verantwortungsbereiche besitzen, eine Einflußnahme der nationalen Regierungen gewährleistet bleiben. Wäre dies nicht der Fall, so würde die nationale Politik durch Entscheidungen der Europäischen Union auch in Bereichen determiniert, für die keinerlei Zuständigkeiten der Union vorliegen. Das aber würde in der Tat zu einem Demokratiedefizit führen, da die Union mangels Verbandskompetenz für diesen Bereich keine Legitimation vermitteln könnte und die mitgliedstaatliehen Kanäle der Legitimationsvermittlung ausgeschaltet wären. Die in der Europäischen Union feststellbare Kompetenzverschränkung fordert deshalb ein besonderes Modell der Legitimationsverklammerung, das durch den Rat verwirklicht wird. Dieser Umstand spiegelt sich im übrigen in der sachlichen Verteilung der Rechtsetzungsbefugnisse zwischen Rat und Parlament sowie dem jeweils geforderten Quorum wieder. Die Forderung einer Rechtsetzungs-Allzuständigkeit des Europäischen Parlaments zur Minderung eines vermeintlichen Demokratiedefizits entpuppt sich damit als gefährliche Sinnverkehrung. Sie erweist sich als eine Forderung, die grundlegende Verfassungstrukturen der Europäischen Union verkennt und selbst unweigerlich ein normativ erhebliches Demokratiedefizit auf der mitgliedstaatliehen Ebene erzeugen würde. Die doppelte (demokratische) Legitimation der Europäischen Union ist deshalb kein Übergangsstadium oder eine bloß behelfsmäßige Lösung40, sondern der verfassungsdogmatisch geforderte Modus demokratischer Legitimation einer bipolar fundierten Herrschaftsordnung mit weitreichenden Kompetenz- und Verantwortungsverschränkungen.41

3. Offenheit für eine komplexe gemischte Verfassung Die auf der Grundlage eines gemeineuropäischen Verfassungsvergleichs durchgeführte Analyse gelangt damit zu dem Ergebnis, daß mit dem UnionsVertrag auf der Gemeinschaftsebene der Typus des parlamentarischen Regierungssystems in einer den verfassungsrechtlichen Regelungen der Mitgliedstaaten durchweg gleichwertigen Art und Weise verwirklicht worden ist. Die 40 Dies scheint die Prämisse der Verfassungsentwürfe des Europäischen Parlaments zu sein, insoweit sie von einer legislatorischen Allzuständigkeit des Parlaments ausgehen. 41 Dies ist wohl auch die Sicht des Bundesverfassungsgerichts, wenn es davon spricht, daß die Eigenlegitimation durch das Europäische Parlament zur mitgliedstaatlich vennittelten "hinzutritt", BVerfGE 89, !55 (184). Ebenso etwa See/er, EuR 25 (1990), S. 99 (115).

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VI. Das Legitimationsniveau in der Europäischen Union

feststellbaren Abweichungen sind eine notwendige Konsequenz und Forderung der bipolaren Fundierung der Union. Anband des so gewonnenen normativen Maßstabs kann ein Demokratiedefizit der Europäischen Unions nicht festgestellt werden. Überdies erscheint ein Abweichen von den derzeit im EGV angelegten Strukturen als bedenklich, insoweit die den Mitgliedstaaten verbleibende Letztverantwortung für zahlreiche Politikbereiche es verlangt, daß sie wirksame Mitsprache- und Mitentscheidungsrechte in allen Fällen besitzen, in denen sich Entscheidungen auf der Unionsebene unmittelbar und nachhaltig auf ihre Verantwortungsbereiche auswirken können. Eine volle Verlagerung der Rechtsetzungsbefugnisse auf das Europäische Parlament wäre mit dem Demokratieprinzip insoweit nicht vereinbar, als es die demokratische Legitimation und Verantwortlichkeit der Mitgliedstaaten in den ihnen verbliebenen Politikbereichen aushöhlen würde. Wie Michael Stolleis zutreffend angemerkt hat42, ist es an der Zeit, in der verfassungsrechtlichen Analyse der Europäischen Union über die durch das 18. und 19. Jahrhundert vermittelten national- und machtstaatlichen Prägungen hinaus- bzw. zurückzugehen und erneut einen offenen Sinn für komplexe Verfassungskompositionen43 zu gewinnen44, wie sie etwa die Verfassung des deutschen Reiches kennzeichneten.45 Worauf dabei besonders zu achten ist, sei abschließend in einem Ausblick auf weitere Themen der Verfassungsdiskussion und den Verfassungsentwurf des Institutionellen Ausschusses des Europäischen Parlaments vom 14. Februar 1994 skizziert.

42 Stolleis, in: FAZ v 24.8.1992, S. 23. 43 lpsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, 54/124 spricht von einer offenen Gestaltform ohne Staatlichkeits-Präjudiz. So allgemein muß man sich jedoch nicht ausdrücken. Vielmehr handelt es sich um ein auf drei Wirkungsebenen konzentriertes Verfassungsgeflecht Union-Bürger (Grundrechte etc.); Union-Mitgliedstaaten (Subsidiarität etc.); Mitgliedstaaten untereinander (struktureller Interessenausgleich etc.). 44 Ähnlich Haupt, Über den Bau demokratischer Institutionen im Prozeß der europäischen Einigung, S. 217 (232 f.). 45 Dazu Samuel Pufendorf, Die Verfassung des deutschen Reiches (Original: De statu imperii Germanici), Erstausgabe 1667 Die aus der ersten Auflage dieser Schrift starrunende Formulierung vom "monströsen" und disharmonischen Charakter der Verfassung des deutschen Reiches (6. Kapitel§ 9 und 7 Kapitel§ 8), die auch auf den Unions-Vertrag übertragen worden ist (u.a. Groß, FAZ Nr 171 v 25.7 1992, S. 25), wurde von Pufendorfin der zweiten Auflage, im 7. Kapitel durch den Begriff "irregulär" ersetzt, der die Sache wohl auch besser trifft. Zudem: Wer den Text Pufendorfs liest, wird erkennen, daß sein Lamento von einem Ideal des monarehieben Einheitsstaates getragen ist und viele seiner Einwände, wie z.B. die imperiale Schwäche des Reiches, aus heutiger Sicht nicht mehr als Mangel empfunden werden. Zudem erftillt die Europäische Union, anders als das Deutsche Reich, die von Pufendorf angeführten Bedingungen (insbesondere die gleiche Staatsform) eines stabilen Staatenbundes (7 Kapitel § 7).

VII. Ausblick auf weitere Aspekte der Verfassungsdiskussion in der Europäischen Union 1. Die Achtung der Kompetenzen der Mitgliedstaaten Die Erkenntnis, daß es in der Europäischen Union kein normativ feststellbares Demokratiedefizit gibt, bedeutet nicht, daß es an Problemen und Defiziten überhaupt mangelt. Diese liegen jedoch - abgesehen von strukturellen Fragen, wie sie sich etwa im Bereich der Landwirtschaftspolitik, der Finanzierung der Union und des Haushaltsrechts stellen 1 - vor allem im rechtsstaatlichen und kompetentiellen Bereich. Das Bundesverfassungsgericht hat sie in seinem Maastricht-Urteil deutlich angesprochen2 und damit eine Kritik aufgegriffen, die in der deutschen europa- und staatsrechtlichen Debatte schon seit mehreren Jahren vorgetragen wird.3 Im einzelnen geht es um die Auslegung von Vertragsbestimmungen, Verständnis und Handhabung des Subsidiaritätssprinzips4 und des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit5 sowie der Regelung in Art. F Abs. 3 des Unions-Vertrages. In diesem Streit hat das Bundesverfassungsgericht durch sein Urteil die deutschen Staatsorgane auf bestimmte Auslegungsvarianten des Unions-Vertrages bzw. des durch ihn modifizierten EGV festgelegt und hervorgehoben, daß eine auf abweichendem Verständnis beruhende Praxis der Unionsorgane die Bundesrepublik nicht bindet: "Würden etwa europäische Einrichtungen Vgl. dazu den Überblick vön Biehl, Die EG-Finanzverfassung: Struktur, Mängel und Refonrunöglichkeiten, S. 355 ff. 2 BVerfGE 89, 155 (191 ff.). 3 Vgl. den Überblick bei Hillgruber, Grenzen der Rechtsfortbildung durch den EuGH - Hat Europarecht Methode?, S. 31 ff. m.w.N.; Lenz, EuGRZ 1993, S. 57 ff. 4 Darauf kann hier nicht näher eingegangen werden. Vgl. aus der mittlerweile unübersehbaren Literaturfülle etwa Konow, DÖV 1993, S. 405 ff. und Pieper, DVBI. 1993, S. 705 ff. 5 Die vom Bundesverfassungsgericht vorgenommene Auslegung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit, der nicht nur auf das Gemeinschaft-Bürger-Verhältnis beschränkt wird, sondern auch im Verhältnis Union-Mitgliedstaaten wirken soll, weicht von der für den Bereich des Staatsorganisationsrecht vom Zweiten Senat in BVerfGE 83, 310 Leitsatz 6 getroffenen Feststellung ab, daß aus dem Rechtsstaatsprinzip abgeleitete Schranken, wie der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, im komptenzrechtlichen Bund-Länder-Verhältnis nicht anwendbar sind. 7 Kluth

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VII. Ausblick auf weitere Aspekte der Verfassungsdiskussion

oder Organe den Unions-Vertrag in einer Weise handhaben oder fortbilden, die von dem Vertrag, wie er dem deutschen Zustimmungsgesetz zugrundeliegt, nicht mehr gedeckt wäre, so wären die daraus hervorgehenden Rechtsakte im deutschen Hoheitsbereich nicht verbindlich".6 Konstruktiv erreicht es dieses Ergebnis, indem die Vertragsauslegung in die Auslegung des Transformationsgesetzes hineingezogen wird. Da eine demokratisch legitimierte Übertragung von Hoheitsgewalt nur so weit reicht, wie das Transformationsgesetz sie mit der geforderten Bestimmtheit vornimmt, kann auf diesem Umweg das aus Art. 177 EGV folgende Interpretationsmonopol des EuGH umgangen und Deutschland auf eine durch das Bundesverfassungsgericht am Zustimmungsgesetz exemplifizierte Auslegung festgelegt werden. Dies ist jedoch sowohl methodisch als auch im Hinblick auf die aus dem EGV der Bundesrepublik erwachsenden völkerrechtlichen Bindungen bedenklich.? In der Zielsetzung ist dem Bundesverfassungsgericht jedoch beizupflichten. 8 Die Europäische Union ist nach dem Unions-Vertrag nicht mehr auf eine extensive Vertragsauslegungen unter Berufung aus den "effet utile" und die Lehre von den "implied powers" zur Gewinnung neuer Kompetenzen angewiesen.9 Deshalb muß auch der EuGH, der sich bislang als "Motor der Integration" dieser Interpretationselemente bedient hat10, sein Selbstverständnis der geänderten Lage anpassen 11 und seine Aufgabe nunmehr zumindest auch im Schutz der den Mitgliedstaaten verbliebenen Kompetenzen erkennen.12 Dieses Ziel kann durch eine stärkere Beachtung des Prinzips der begrenzten Ermächtigung erreicht werden.

6 BVerfGE 89, 155, LS 6 und S. 188. 1 Ebenso Pemice, EuZW 1993, S. 649. 8 So auch Tomuschat, EuGRZ 1993, S. 489 (495) insbesondere unter Hinweis auf das ERASMUS und das Francovich-Urteil des EuGH. Tomuschat weist aber auch auf die nicht minder weitherzige Rechtsfortbildung durch das Bundesverfassungsgericht hin, die im Maastricht-Urteil vor allem bei der Auslegung des Art. 38 GG zu konstatieren ist. 9 BVerfGE 89, 155 (210). Beachtenswert ist auch, daß der Unions-Vertrag manche bislang vom EuGH in freier Rechtsschöpfung begrundeten Kompetenzen ausdrucklieh enger faßt, als es die Spruchpraxis tat. 10 Bislang ist EuGH, verb. Rs. 281, 283-285, 287/85, EuGHE 1987, 3203 (3252 f.) die einzige Nichtigerklärung einer Norm wegen Eingriff in die Kompetenzen der Mitgliedstaaten. Vgl. dazu Kraußer, Das Prinzip der begrenzten Ermächtigung, S. 23. 11 Zur zunehmenden Bedeutung der Kompetenzabgrenzung bereits Everling, EuR 22 (1987),

s. 214 (217, 235)

12 Die entspricht dem Übergang von einer "Wandel-Verfassung" zu einer statischen Verfassung; vgl. Kirchhof, EuR 26 (1991), Beiheft I, S. 11 (16) der dem finalen Charakter des EGV den instrumentalen Charakter des GG gegenüberstellt.

2. Zur Qualität des Gemeinschaftsrechts

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Wenn das Bundesverfassungsgericht in dieser Frage durch den Verweis auf die Pflicht deutscher Staatsorgane zur Gehorsamsverweigerung eine begrenzte Konfliktstrategie gegenüber dem EuGH verfolgt, so geschieht dies nicht zuletzt vor dem Hintergrund der positiven Erfahrungen, die es durch eine vergleichbare Strategie im Bereich des Grundrechtsschutzes durch die Solange-IEntscheidung gemacht hat. Bundesverfassun~sgericht und EuGH begegnen sich hier als politische Organe und verlassen die Sphäre rein juristischer Argumentation.l3 Dem "Hüter der deutschen Verfassung" und dem "Motor der europäischen Integration" steht dies zu, solange dadurch der Bereich rechtlicher Argumentation nicht verlassen wird. Die Argumente des Bundesverfassungsgericht aber besitzen Methode und verfolgen ein elementares rechtsstaatliches Anliegen: die Wahrung der Kompetenzordnung als Grundlage des Freiheitsschutzes. Sie sind deshalb - trotz bzw. jenseits der erwähnten methodischen und kompetentiellen Bedenken - ein (positiver) Beitrag zur Sicherung der politisch-institutionellen Ordnung in der Europäischen Union, auf die eine demokratische Legitimation aufbauen kann. Wie neuere Urteile des EuGH zeigen, scheint dieses Ansinnen in Luxemburg Gehör gefunden zu haben.l4

2. Zur Qualität des Gemeinschaftsrechts Ein zweiter Blick gilt der Qualität des Gemeinschaftsrechts.IS Sie ist für die Akzeptanz der Integration und insbesondere ihrer Verdichtung durch den Unions-Vertrag und darüber hinaus von erheblicher Bedeutung. In der politischen Diskussion des Maastrichter Vertrages war in diesem Zusammenhang zu vernehmen, die europäische Integration führe zu einer überbordenden EuroBürokratie16 und habe eine unerträgliche Regelungsflutl7 zur Folge. Ähnlich

13 Der Verfasser neigt deshalb zu einer politisch-strategischen Deutung dieser Passage des Urteils, da sie aus internationalrechtlicher Sicht kaum haltbar ist. Denkbar ist auch, daß das BVerfG durch seine Ausführungen ein elementares mitgliedstaatliches Interesse der Bundesrepublik formulieren wollte, das die Organe der Europäischen Union zu berücksichtigen haben. 14 Der EuGH hat sich in zwei Urteilen zur Freiheit des Warenverkehrs überraschend und in bisher kaum bekannter Deutlichkeit von bisher vertretenen Positionen abgewandt und dadurch die Regelungsfreiräume der Mitgliedstaaten vergrößert. Vgl. EuGH Rs. C-267/91 u. C-268/91, Keck, EuZW 1993, S. 770 f.; dazu Ress, EuZW 1993, S. 745; Möschel, NJW 1994, S. 429 f.; EuGH Rs. C-292/92, Hünermund, EuZW 1994, S. 119; dazu Petschlre, EuZW 1994, S. 107 ff. 15 Dazu beispielhaft flir den Bereich des Gesellschaftsrechts Hirte, Der qualifizierte faktische Konzern, S. 36 f. 16 Vgl. von Senger zu Etter/in, Das Europa derEurokraten, S. 16 ff. 7•

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VII. Ausblick auf weitere Aspekte der Verfassungsdiskussion

wie die These vom Demokratiedefizit stehen auch diese Vorwürfe bei näherem Zusehen auf tönernen Füßen. Die Vorstellung von einer bürokratischen Kopflastigkeil der EG verkennt, daß in den Behörden der Union weniger Bedienstete arbeiten, als in der Verwaltung einer Millionenstadt bzw. eines durchschnittlichen Bundeslandes.l8 Auch von einer unkontrollierten und unsinnigen Regelungsflutl9 kann nicht ohne nähere Differenzierung gesprochen werden.20 Zum einen reduziert sich die Zahl der Rechtsakte drastisch, wenn die zahlreichen Anpassungsregelungen des Agrarsektors abgezogen werden. Hinzu kommt, daß die Rechtsetzung einer im Aufbau begriffenen Rechtsordnung21 nicht mit seit langen Jahren institutionalisierten Rechtsordnungen verglichen werden dürfen.22 Auch die Wiedervereinigung hat in Deutschland - besonders in den neuen Bundesländern - eine Regelungsspringflut hervorgerufen, ohne daß dies als anormal empfunden wurde. Zugleich ist aber zu bedenken, daß eine gemeinschaftsrechtliche Harmonisierung von Rechtsmaterien aus der Sicht des betroffenen Bürgers deregulierend wirkt, da er es im Binnenmarkt nicht mehr mit zwölf verschiedenen, sondern - im sachlichen Kern - mit einer Regelung23 zu tun hat. Auch darf nicht vergessen werden, daß die Union in mehreren Bereichen, wie etwa dem Arbeits-, Verbraucher- und Umweltschutz in vielen Mitgliedstaaten Pionierleistungen vollbracht hat, die ohne externe Vorgaben, jedenfalls in überschaubaren Zeiträumen, kaum verwirklicht worden wären. Das gilt in weiten Bereichen auch für den Grundrechtsschutz, das Verwaltungsverfahren und das Prozeßrecht. Mehr (Gemeinschafts-) Recht bedeutet insofern auch mehr Freiheitssicherung und dies sollte sachlich angemessener gewürdigt werden, indem nicht nur auf die Zahl der Rechtsetzungsakte abgestellt wird. Schließlich ist zu beachten, daß die EG-Rechtsetzung durch Riebt-

17 Es wird davon gesprochen, daß 80% des in den Mitgliedstaaten geltenden Wirtschaftsrechts im weitesten Sinne Gemeinschaftsrecht ist und fast jedes zweite deutsche Gesetz seinen Ursprung in Brüssel habe; vgl. Rabe, NJW 1993, S. I ff. u.a. unter Verweis auf Bangemann, in: Bruckner, Europa transparent: Informationen, Daten, Fakten, S. 5. 18 Vgl. dazu auch Lübbe, Abschied vom Superstaat, S . 135. 19 Der Spiegel v. 23.3.1992 ist sich nicht zu schade, den EGV als "Ermächtigungsgesetz" zu titulieren und die Regelungen als "Folterwerkzeuge zur Entmachtung des Parlaments" zu bezeichnen. 20 Zum Umfang der Rechtsetzung vgl. etwa Rabe, NJW 1993, S. I (2). 21 Das gilt für die Europäische Union jedenfalls insoweit, als ihr neue Aufgabenfelder oder Zielvorgaben zugewiesen werden, wie es in der Einheitlichen Europäischen Akte und dem UnionsVertrag in erheblichem Ausmaß der Fall war. 22 Das gilt besonders für die Phase der Vollendung des Binnenmarktes. 23 Und zwar entweder, im Falle der Rechtsangleichung, mit der einheitlich umgesetzten EGRegelung, oder, bei Anwendung des Herkunftslandprinzips, der Regelung seines Heimatlandes.

3. Der Verfassungsentwurfvom 14. Februar 1994

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Iinien in der Regel nur Segmente erfaßt, so daß ein einziges einschlägiges mitgliedstaatliches Gesetz materiell regelmäßig viel mehr regelt als zahlreiche EG-Richtlinien. 24 In technischer und formaler Hinsicht unterscheidet sich die Qualität europäischer Rechtsakte nicht erkennbar von der nationalen Rechtsetzung, zumal die moderne Gesetzgebung in den Mitgliedstaaten selbst nicht im besten Ruf steht. 25 Nicht selten verfügt das Gemeinschaftsrecht sogar über ein höheres Maß an inhaltlicher Konsistenz.26 So sind es in den meisten Fällen auch nicht die formalen Qualitäten, sondern die unterschiedlichen ordnungspolitischen Konzeptionen, die zur Kritik am Gemeinschaftsrecht führen, wobei institutionelle und strukturelle Kritikpunkte, insbesondere der als mangelhaft empfundene Grundrechtsschutz27, nicht selten vorgeschoben werden, um die eigentlich maßgeblichen wirtschaftlichen Interessen und ordnungspolitischen Einwände zu kaschieren.

3. Der Verfassungsentwurfvom 14. Februar 1994 a) Entstehungsgeschichte

Mitten hinein in den institutionellen Umbruch, den der Unions-Vertrag ohne Zweifel bedeutet, hat der Institutionelle Ausschuß des Europäischen Parlaments kurz vor dem Ende der Legislaturperiode einen Verfassungs-Entwurf für die Europäische Union vorgelegt.28 Er ist das Produkt einer vierjährigen Diskussion im Ausschuß und Nachfolger des vom Parlament 1984 (Spinelli-Entwurf) verabschiedeten Verfassungsentwurfs.29

24 Götz, NJW 1992, S. 1849 (1850). 25 So könnten die kritischen Anmerkungen von Wägenbauer zur Klarheit der Gesetzessprache in der EG mit gleichem Recht dem Bundestag oder den Landtagen gemacht werden, vgl. Wägenauer, EuZW 1993, S. 713. 26 Vgl. dazu die Analyse von Tomuschat, Normenpublizität und Normenklarheit in der Europäischen Gemeinschaft, S. 461 ff. 27 Wo dieser thematisch begründet ist, weil das Gemeinschaftsrecht ein bestimmtes Grundrecht, wie etwa die Religions- und Weltanschauungsfreiheit, nicht kennt, soll dem nach dem Konzept des sog. Kooperationsverhältnisses durch das Bundesverfassungsgericht abgeholfen werden; vgl. BVerfGE 89, 155 (175); das Konzept erläuternd: Kirchhof, EuR Beiheft 1/1991, S. 11 (24 f.). 28 PE 203.601/endg. Siehe den Abdruck im Anhang. 29 Vgl. den Abdruck im Anhang Nr. I bei Schwarze/Bieher (Hrsg.), Eine Verfassung für Europa.

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VII. Ausblick auf weitere Aspekte der Verfassungsdiskussion

Der Entwurf wurde dem Europäischen Parlament zugeleitet, das jedoch angesichts der bevorstehenden Neuwahlen nicht mehr in eine Sachdiskussion eintreten konnte und sich deshalb mit einer allgemein gehaltenen, durchweg kritischen Stellungnahme und einer Zurückverweisung an den Institutionellen Ausschuß begnügte. 30 Wie die ausführliche Begründung des Entwurfs erkennen läßt, hat sich der Institutionelle Ausschuß von dem Gedanken leiten lassen, durch einen knappen und übersichtlichen Verfassungsentwurf dem nach dem Abschluß des UnionsVertrages zu beobachtenden Europessimismus entgegenzuwirken und der Europäischen Union ein leichter faßbares und vermittelbares institutionelles Gepräge zu verleihen. Durch den Verfassungs-Entwurf sollen die tatsächlichen Verhältnisse in der Europäischen Union deutlicher als bisher aufgezeigt werden. Insbesondere soll der Fiktion einer weiterhin unberührten Souveränität der Mitgliedstaaten sowie der Zweideutigkeit ein Ende gesetzt werden, die es nationalen Regierungen erlaubt, sich die Verdienste der Gemeinschaftsaktionen, falls diese Gefallen finden oder Erfolg haben, selbst zuzuschreiben und die Verantwortung für ihr Scheitern Brüssel zuzuschreiben. Diese sehr zutreffenden Beobachtung fügt die Begründung ein zweites ebenfalls zutreffendes Motiv hinzu: Nach dem Wandel in Osteuropa könne der weitere Aufbau Europas nicht mehr als Sachzwang31 und Selbstverständlichkeit angesehen werden und von einer stillschweigenden Zustimmung der Bürger ausgehen. Die politischen, rechtlichen und ethischen Gründe für die europäische Integration müssten vielmehr anband einer klaren Konzeption, wie sie der Verfassungsentwurf liefere, vorgestellt und für sie um Zustimmung geworben werden. lobesondere diese letztgenannte Zielsetzung wurde auch bei der im Europäischen Parlament über den Entwurf geführten Aussprache generell akzeptiert und unterstützt. 32 b) Grundkonzeption Die in Art. 2 niedergelegten Ziele der Union bieten eine prägnante und zutreffende Wiedergabe des Integrationsprozesses. Dabei entspricht die gewählte Reihenfolge auch den Wertungen, wie sie nach den Erkenntnissen der Euro-Barometer-Analysen die Unionsbürger in den Mitgliedstaaten teilen. Vorrangiges Ziel der Integration ist demnach die europaweite Sicherung des 30 Vgl. Hilf, Integration 1994. S. 68 (71). 3I Vgl. auch von Simson/Schwane, Europäische Integration und Grundgesetz, S. 51. 32 Hilf, Integration 1994, S. 68 (70).

3. DerVerfassungsentwurf vom 14. Februar 1994

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Friedens und der Demokratie, gefolgt von wirtschaftlichem und sozialem Fortschritt, Vollbeschäftigung und Umweltschutz. Beachtlich ist zudem die stärkere Betonung der kulturellen Vielfalt in der Europäischen Union sowie - als Kontrast dazu - die Bekräftigung ihrer Identität auf der internationalen Ebene, der als Motiv der Integration nach der Überwindung des Ost-West-Konflikts größere Bedeutung zukommt. Der Verfassungs-Entwurf ist sichtlich um Kürze und Übersichtlichkeit bemüht. Doch wird die Beschränkung auf nur 47 Artikel vor allem durch zwei Verweisungs-Tricks erreicht: Der in die Verfassung aufgenommene Grundrechtskatalog wird als separater Anhang behandelt (auf den Art. 7 verweist) und der gesamte Rechtsbestand (sog. acquis communautaire) einschließlich der Kompetenzordnung wird schlicht durch einen weiteren Verweis in Art. 8 Abs. 1 übernommen. Der Entwurf geht weiter von einer fortbestehenden bipolaren Struktur aus, wie sie eine supranationale Gemeinschaft kennzeichnet. So heißt es in Art. 1 Abs. 1: "Die Europäische Union besteht aus den Mitgliedstaaten und deren Bürgern; alle Macht der Union geht von den Bürgern aus". Interessant sind in diesem Zusammenhang die Ausführungen in der Begründung, die als Elemente der Supranationalität u.a. das Mehrheitsvotum im Rat, Verordnungen mit unmittelbarer Wirkung für die Bürger, die Vollstreckbarkeit der Urteile des Gerichtshofes sowie die Kontrolle der Rechtsakte des Rates durch den Gerichtshof anführt. Die Aufnahme eines eigenständigen Grundrechtskatalogs anstelle des Verweises auf die EMRK, wie er sich in Art. F Abs. 2 des Unions-Vertrages findet, kann gleichfalls als Schritt hin zu mehr Transparenz gewertet werden, wenngleich es noch einer genaueren Untersuchung des Gewährleistungsumfanges bedarf. Bedeutsam und hervorzuheben ist schließlich die Bestätigung des Prinzips der begrenzten Ermächtigung in Art. 8 Abs. I, ergänzt durch den Verweis auf das Subsidiaritätsprinzip und den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in Art. 10. Beide den Kompetenzbestand der Mitgliedstaaten schützenden Regelungen werden zudem effektuiert durch die Einführung einer neuen Verfahrensart vor dem EuGH in Art. 39, durch die die Einhaltung der Aufteilung der Zuständigkeiten überprüft werden kann.

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VII. Ausblick auf weitere Aspekte der Verfassungsdiskussion

c) Institutionelle Ordnung

Das vom Entwurf gezeichnete Schema der institutionellen Ordnung der Europäischen Union muß im Vergleich zu früheren Diskussionsmodellen als konservativ bezeichnet werden.33 Es behält im großen und ganzen die bereits im Unions-Vertrag geschaffenen Strukturen bei, verdeutlicht indes in mancher Hinsicht deren Konturen und vereinfacht an einigen Stellen - auf allerdings problematische Art und Weise- die Zuständigkeits- und Verfahrensregelungen. Entsprechend der allgemeinen Stimmungslage geht der Entwurf, wie bereits beschrieben, von der Beibehaltung des Konzepts der supranationalen Gemeinschaft aus, sieht also keine Staatsgründung etwa im Sinne eines europäischen Bundesstaates vor.34 Die Begründung diskutiert in dieser Frage ausdrücklich vier Modelle, die zudem näher umschrieben werden. Unterschieden wird zwischen einem zwischenstaatlichen, konföderalen Modell (1 ), einem föderalistischen Modell (2), einem föderalistischen Modell auf der Grundlage der Regionen (3) sowie einem föderalistischen Modell mit kooperativer und dezentralisierter Struktur (4). Während das erste Modell im Bereich der intergouvernementalen Zusammenarbeit verwirklicht ist, kommt für die institutionelle Ordnung der Europäischen Union selbst nur eines der föderalen Modelle in Betracht. Das rein föderale Modell (2) scheidet aus, da es dem erklärten politischen Willen der meisten Mitgliedstaaten und dem Argwohn der Unionsbürger gegenüber einer weiteren Machtzentralisierung zuwiderläuft. Das auf die Regionen aufbauende föderale Modell (3) wird für nicht praktikabel gehalten, so daß nur das föderalistische Modell mit kooperativer und dezentralisierter Struktur (4) als Ordnungsrahmen bleibt. Ihm wird am ehesten die Integration der zum Teil in Spannungsverhältnissen zueinander stehenden Ziele zugetraut. Auch die Frage nach dem Verhältnis der beiden Rechtskörper zueinander wird in Art. 1 Abs. 6 herkömmlich gelöst: Es ist keine dem Art. 31 GG vergleichbarer Geltungsvorrang vorgesehen, sondern es bleibt beim bloßen Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts. Veränderungen gegenüber dem Unions-Vertrag sind demgegenüber bei der Stellung des Europäischen Parlaments festzustellen. Nach Art. 14 besteht das 33 So spricht die Stellungnahme des Ausschusses flir Auswärtige Angelegenheiten und Sicherheit auch von einem "Mangel an Ambitionen und Weitsicht" und moniert die Zurückhaltung bei der Verwirklichung einer föderalen Ordnung. 34 So auch Hilf, Integration 1994, S. 68 (72).

3. Der Verfassungsentwurfvom 14. Februar 1994

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Europäische Parlament "aus Vertretern der Bürger der Union, die in allgemeiner unmittelbarer und geheimer Wahl für eine Dauer von fünf Jahren nach einem einheitlichen Wahlverfahren gewählt werden". Damit wird ein einheitliches Wahlvolk und Legitimationssubjekt kreiert und eine unitarische und egalitäre Repräsentation gemäß den klassischen Grundsätzen des formalen demokratischen Prinzips ermöglicht. Zugleich erweitert der Entwurf in Art. 15 die Befugnisse des Europäischen Parlaments. Allerdings kommt der Wahl des Präsidenten der Kommission im Vergleich zum Verfahren des Unions-Vertrages kaum weiterreichende Bedeutung zu. Wichtiger ist die Erweiterung der Gesetzgebungszuständigkeiten, die durch den Entwurf auf alle Materien ausgedehnt und einheitlich dem durch den Unions-Vertrag eingeführten Mitentscheidungs- oder Kooperationsverfahren unterworfen werden. Eine solche Vereinfachung erscheint unter dem Aspekt der Verfahrenstransparenz und einer bruchloseren Verwirklichung des demokratischen Prinzips zwar auf den ersten Blick sinnvoll und begrüßenswert. Sie übersieht jedoch, daß die derzeitige Ausgestaltung der Gesetzgebungszuständigkeiten zwischen Rat und Parlament nicht, wie Hilf meint35, einer nachvollziehbaren Begründung entbehrt, sondern Ausdruck der Tatsache ist, daß die einzelnen Materien unterschiedlich eng mit den den Mitgliedstaaten verbliebenen Zuständigkeiten und Letztverantwortlichkeilen verknüpft sind und insofern auch entsprechende direkte, ausschlaggebende Einflußnahmen der Mitgliedstaaten über den Rat möglich bleiben müssen, soll nicht die demokratische Legitimation in den Mitgliedstaaten in Frage gestellt werden. Der Entwurf denkt insofern das Modell der supranationalen Gemeinschaft nicht zu Ende, sondern begnügt sich mit einer formalen Übernahme staatlich geprägter institutioneller und legitimatorischer Konzeptionen. 36 d) Bewertung

Sieht man von den konstruktiven Mängeln ab, insbesondere von der Umgehung einer ausdrücklichen Regelung der Kompetenzen der Europäischen Union, so enthält der Entwurf eine Reihe von wichtigen Fortschritten im institutionellen Bereich. Die Anerkennung der supranationalen Verfassung als 35 Hilf, Integration 1994, S. 68 (74). 36 Es ist jedoch zu berücksichtigen, daß die Begründung ausdrücklich die Möglichkeit einer unterschiedlichen Beteiligung von Rat und Parlament arn Rechtsetzungsverfahren differenziert nach Sachmaterien vorsieht.

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VII. Ausblick aufweitere Aspekte der Verfassungsdiskussion

Dauerzustand und nicht lediglich als Durchgangspunkt zu einem Bundesstaat, dürfte der wichtigste Erkenntnisfortschritt in der Verfassungsdiskussion sein. Ilun entsprechen der Ausbau der bipolaren, doppelten Legitimationsbasis der Europäischen Union, vor allem die stärker unitarische Konzeption des Europäischen Parlamentes, das nunmehr zutreffend als Repräsentant der Unionsbürger und nicht mehr lediglich der Völker in den Mitgliedstaaten fungiert. Damit wird auch das Konzept einer Demokratie ohne Volk akzeptiert, wie es in dieser Untersuchung formuliert und dogmatisch als tragfähig erwiesen wurde. Wegweisend ist auch die akzentuierte Erweiterung der Verfahrensarten vor dem EuGH durch ein Kompetenzschutzverfahren. Die Einführung einer solchen Verfahrensart könnte dazu beitragen, das Selbstverständnis des EuGH insofern fortzuentwickeln, als er sich nicht mehr nur als "Motor der Integration" sondern zugleich als Wahrer der Kompetenzordnung in der Union, insbesondere auch der Kompetenzen der Mitgliedstaaten und damit der bipolaren supranationalen Ordnung der Union versteht. Dies entspricht den Forderungen, die das Bundesverfassungsgericht in seinem Maastricht-Urteil formuliert hat, und denen der EuGH in neueren Entscheidungen offenbar bereits Rechnung getragen hat. 37 Dagegen muß die einheitliche Behandlung aller Gesetzgebungsmaterien und die gleichgewichtige Beteiligung von Rat und Parlament an allen Gesetzgebungsakten als verfehlt bezeichnet werden, da sie nicht ausreichend berücksichtigt, welche unterschiedlichen Rückwirkungen auf die verbliebenen nationalen Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten von den einzelnen Aufgaben ausgehen. Eine solche Konzeption provoziert demokratische Legitimationsdefizite im Bereich der Mitgliedstaaten und ist deshalb abzulehnen. Die auf den ersten Blick konfuse Zuweisung der Gesetzgebungszuständigkeiten und Verfahrensarten nach dem Unions-Vertrag ist bei näherem Zusehen Ausdruck einer solchen Rücksichtnahme auf den mitgliedstaatliehen Bereich und sollte deshalb beibehalten werden. Da auch in diesem Fall die demokratische Legitimation der Gemeinschaftsakte ausreichend gesichert ist, bestehen auch keine grundsätzlichen verfassungsdogmatischen Bedenken gegenüber einer solchen Konzeption.

37 Vgl. dazu Petschke, EuZW 1994, S. 107 ff.; zurückhaltender Möschel, NJW 1994, S. 429 f.

VIII. Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnissei 1. Die Verfassungen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union gestalten die Demokratie als formale Herrschaftsordnung aus, die auf dem Prinzip der Volkssouveränität aufbaut. Daraus könnte gefolgert werden, daß es ohne Volk keine Demokratie geben kann. Auf dieser Annahme baut unter anderem die These vom Demokratiedefizit der Europäischen Union auf.2 2. Die ideengeschichtliche Untersuchung des Demokratieprinzips führt zu der Erkenntnis, daß seine Kernaussage in der Gewährleistung der politischen Selbstbestimmung liegt, auf deren Sicherung auch die Volkssouveränität abzielt. Sowohl die Theoriegeschichte als auch die Institutionengeschichte zeigen zudem, daß die Verwirklichung von Demokratie nicht an ein Volk als Legitimationssubjekt gebunden ist, sondern auch bei anderen Gemeinschaften verwirklicht werden kann. Ein Beispiel dafür sind die berufsständischen Körperschaften, in denen demokratische Strukturen verwirklicht wurden, als der deutsche Staat noch als konstitutionelle Monarchie organisiert war. 3 3. Demokratische Herrschaftslegitimation setzt einen politischen Prozeß voraus, der als Volkswillensbildung bezeichnet werden kann. In diesem Prozeß übernimmt das Volk, verstanden als die Gesamtheit der Aktivbürger, die Rolle eines responsiven Akteurs, d.h. es verfolgt nicht von sich aus Ziele, sondern ist auf das Wirken einer politischen Klasse angewiesen, die Vorschläge für die Gestaltung politischer Entscheidungen erarbeitet und diese bei den Parlamentswahlen und in der öffentlichen politischen Diskussion zur Abstimmung stellt. 4 4. Demokratische Herrschaftslegitimation in diesem Sinne ist nur möglich, wenn in einem politischen System eine Reihe von Bedingungen erfüllt sind. Es handelt sich dabei zum einen um rechtlich-formale Bedingungen, wie z.B. Wahlen, zeitliche Begrenzung der politischen Ämter etc., zum anderen um vorverfassungsrechtliche Bedingungen. Bei ihnen wird zwischen sozio-kulturellen 1 Die Zusanunenfassung beschränkt sich auf die Abschnitte 1II bis VII. 2 Vgl. Abschnitt III. I. und 2. 3 Vgl. Abschnitt 111. 3. und 5. 4 Vgl. Abschnitt 111. 4 a).

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VIII. Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse

Bedingungen, politisch-strukturellen und ethischen Voraussetzungen unterschieden.5

5. Auf der Grundlage dieser Anforderungen an die Verwirklichung von Demokratie stellt sich bei der Europäischen Union zunächst die Frage, auf welches Legitimationssubjekt abzustellen ist. Da es - jedenfalls zur Zeit - kein europäisches Volk gibt, kommt nur der Unionsbürger in Frage. Als politischer Aktivbürger kommt er als Legitimationssubjekt jedoch nur in einer eigenständigen Herrschaftsordnung in betracht. 6 6. Die Europäische Union ist als selbständige, wenngleich nicht unabgeleitete Herrschaftsordnung einzuordnen. Sie kann deshalb auch ein eigenständiges Legitimationssystem verwirklichen. 7 7. In den Mitgliedstaaten der Europäischen Union ist eine ausreichende sozio-kulturelle Homogenität zur Verwirklichung inhaltlicher Repräsentation gegeben. Zu unterscheiden ist zwischen den Bereichen Wirtschaftsordnung, politische Ordnung und Kultur. 8 8. Auch im Bereich der politisch-institutionellen Rahmenbedingungen sind die elementaren Voraussetzungen für einen politischen Repräsentations- und Legitimationsprozeß (Medien- und Parteiensystem) gegeben. 9 9. Das Demokratieprinzip ist in der Präambel des Unions-Vertrages normativ als Prinzip verankert.IO Es findet seine erste und elementare Entfaltung in der Wahl zum Europäischen Parlament. II 10. Das Europäische Parlament verleiht im Bereich seiner Zuständigkeiten der Rechtsetzung und der Kommission eine unitarische demokratische Eigenlegitimation.I2 11. Aufgrund der erweiterten Befugnisse des Europäischen Parlaments bei der Rechtssetzung und der Ernennung und Kontrolle der Kommission verwirk5 Vgl. Abschnitt III. 4 b) und c).

6 7 8 9 10 11 12

Vgl. Abschnitt III. 5. Vgl. Abschnitt IV. 2. Vgl. Abschnitt IV. 3. a). Vgl. Abschnitt IV. 3. b). Vgl. Abschnitt V l. Vgl. Abschnitt V. 2. a). Vgl. Abschnitt V. 2. b) bis d).

VIII. Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse

109

licht die Europäische Union nach dem Inkrafttreten des Unions-Vertrages den Typus des parlamentarischen Regierungssystems.l3 12. Neben der demokratischen Legitimation, die durch das Europäische Parlament vermittelt wird, bleibt ein weiter Bereich der Rechtsetzung und anderer Zuständigkeiten des Rates auf diesem Wege ohne demokratische Legitimation. Es stellt sich von daher die Frage, inwieweit auch der Rat demokratisch legitimiert ist. 13. Der Rat ist zugleich Organ der Union und Bindeglied zwischen der Union und den Mitgliedstaaten. Die aus dem nationalen Verfassungsrecht erwachsenden Rechtsbindungen der Vertreter der Mitgliedstaaten finden an den gemeinschaftsrechtlichen Bindungen ihre Grenze.l4 14. Als Repräsentanten der nationalen Regierungen verfügen die Vertreter der Mitgliedstaaten im Rat über eine mittelbare demokratische Legitimation. In Analogie zur demokratischen Legitimation des deutschen Bundesrates und der entsprechenden Organe in anderen Mitgliedstaaten (Senate, zweite Kammern), kann insofern von einer plural-territorialen demokratischen Legitimation des Rates gesprochen werden. Diese tritt ergänzend zu der unitarischen Legitimation durch das Europäischen Parlament hinzu und sichert eine flächendeckende demokratische Legtitimation des Handeins der Europäischen Union. IS 15. Die vom Bundesverfassungsgericht geforderte Rückkopplung der Regierungsvertreter an das Parlament ist Ausfluß der parlamentarischen Verantwortlichkeit der Regierung und insofern systemkonform.l6 16. Die Europäische Union verfügt demnach über eine doppelte demokratische Legitimation (Parlament und Rat) und eine doppelte Legitimationsbasis (Unionsbürger und Regierungen/Parlamente der Mitgliedstaaten). I? 17. Demokratie verlangt ein bestimmtes Legitimationsniveau. Dieses findet seinen Maßstab am Typus des parlamentarischen Regierungssystems, wie er aus einer rechtsvergleichenden Analyse der Verfassungen der Mitgliedstaaten abzuleiten ist. Der konkrete Vergleich ergibt, daß die Verwirklichung des

13 14 15 16 17

Vgl. Abschnitt V. 2. e). Vgl. Abschnitt V. 3. a). Vgl. Abschnitt V. 3. d). Vgl. Abschnitt V. 3. d). Vgl. Abschnitt V. 4.

VIII. Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse

110

Demokratieprinzips in der Europäischen Union in allen wesentlichen Punkten dem Typus des parlamentarischen Regierungssystems genügt.18 18. Umgekehrt ergeben sich aus den Besonderheiten der supranationalen Struktur der Europäischen Union, insbesondere ihrer durchgehenden bipolaren Struktur, auch Grenzen für die Übertragung von Rechtsetzungszuständigkeiten auf das Europäische Parlament. Die Mittlerstellung des Rates darf nicht beliebig ausgehölt werden. Die in der Europäischen Union verwirklichte Kompetenzverschränkung verlangt eine entsprechende Legitimationsverklammerung.19 19. Im Ergebnis ist ein normativ erhebliches Demokratiedefizit der Europäischen Union, ihrer Organe und Handlungen, nicht feststellbar.20 20. Neben der Frage der demokratischen Legitimation erweist sich die Achtung der Kompetenzen der Mitgliedstaaten durch die Einrichtungen und Organe der Europäischen Union als bedeutsamer Aspekt der Verfassungsdiskussion. Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Maastricht-Entscheidung in diesem Zusammenhang eine Abkehr von den Interpretationstopoi der "implied powers" und des "effet utile" gefordert und dies dadurch bekräftigt, daß es die deutschen Staatsorgane bei einer weiteren Anwendung dieser Grundsätze zur Gefolgschaftsverweigerung verpflichtet hat.21 21. Der Vorwurf, das Gemeinschaftsrecht leide an mangelhafter technischer und inhaltlicher Qualität, hält einer Überprüfung nicht stand. Weder in formaler noch in inhaltlicher Hinsicht sind gewichtige Unterschiede zum Standard der nationalen Rechtsetzung festzustellen. Auch der Hinweis auf die Regelungswut der Gemeinschaftsorgane ist nicht stichhaltig, da eine im Auf- und Ausbau begriffene Rechtsordnung in dieser Hinsicht nicht mit den etablierten mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen verglichen werden kann. 22

22. Der vom Institutionellen Ausschuß des Europäischen Parlaments am 14.02.1994 vorgelegte Entwurf einer Verfassung der Europäischen Union ist ein Versuch, die institutionellen Strukturen und Ziele der Europäischen Union

18 19 20 21 22

Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.

Abschnitt VI. I. Abschnitt VI. 2. Abschnitt VI. 2. Abschnitt VII. I. Abschnitt VII. 2.

VIII. Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse

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zu verdeutlichen. Im Anhang zum Entwurf wird ein eigenständiger Grundrechtskatalog vorgelegt. 23 23. Der im Vergleich zum Entwurf von 1984 konservative Vorschlag basiert auf dem derzeitigen bipolaren Konzept einer supranationalen Gemeinschaft und betont in besonderer Weise den Schutz der Kompetenzen der Mitgliedstaaten, u.a. öurch die Einführung einer besonderen, dem Kompetenzschutz dienenden Verfahrensart vor dem EuGH. Allerdings ist zu bemängeln, daß er auf eine systematische Ordnung der Gemeinschaftskompetenzen verzichtet und lediglich auf den gemeinschaftsrechtlichen Besitzstand verweist. 24 24. Die Vorschläge zur Vereinheitlichung der Rechtsetzung im Entwurf gehen zu weit. Sie übersehen die mit der Verteilung der Rechtsetzungszuständigkeit zwischen Parlament und Rat verbundene Rücksichtnahme auf die Interessen der Mitgliedstaaten im Bereich der ihnen verbliebenen Kompetenzen und gefährden die demokratische Legitimation auf der mitgliedstaatliehen Ebene.25

23 Vgl. Abschnitt VII. 3. a). 24 Vgl. Abschnitt VII. 3. b) und c). 25 Vgl. Abschnitt VII. 3. d).

IX. Summary 1. The constitutions of the member-states of the European Union bave developed the idea of democracy as a formal system of govemment, wbicb is based on sovereignty of the nation. Therefore one can infer that without a nation, there can be no democracy. The tbesis tbat there is a Iack of democracy in tbe European Union is based on this assumption. 2. Historical and theoretical researcb into the Principle of Democracy Ieads to the conclusion that its centrat statement lies in the guarantee of political autonomy, wbicb the sovereignty of the nation also tries to protect. The bistory of the theory, as weil as the bistory of the institution, sbow that tbe realization of democracy does not require a nation as subject for Iegitimation, but can also be realized in other communities. An example for this are the professional corporations, in wbicb democratic structures bave been used, even at a time wben the German state was still a constitutional monarcby. 3. Democratic Iegitimation of power requires a political process, whicb we can call the formation of the people's will. In this process, the people, wbo are understood to be the wbole of active citizens, take the role of the responsive, i.e. they do not persue aims by themselves, but rather are dependent on the actions of a political class that works out proposals for political decisions, and puts them to the vote at parliamentary elections and public political discussion. 4. Democratic Iegitimation of power, in this sense, is only possible wben a number of conditions are fulfilled witbin the system. This involves, on one band, legal formalities; e.g. elections, terms for political office, etc. On the otber band, there are pre-constitutional legal conditions. In these cases one must distinguisb among socio-cultural, politico-structural and ethic conditions. 5. Taking tbese requirements for the realization of democracy into account, the question arises: Whicb subject for Iegitimation sbould be cbosen for tbe European Union? That there is not (at least at the moment) a European nation, we could only cboose a citizen of tbe European Union. As a politically active

IX. Summary

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citizen, he could only be a subject of Iegitimation in an autonomous system of power. 6. The European Union can be classified as an independent, although not altogehter underived system of power. Therefore, an independant system of Iegitimation can be realized within it. 7. lt is given that there is sufficient socio-cultural homogeneity in the European Union, in order to have internal representation. One must the distinguish amongst economic systems, political systems, and culture. 8. Where the politico-institutional prevailing conditions are concerned, there exist already the elementary requirements necessary for a political representation and determination process. 9. The Principle of Democracy has its basis in the Preamble of the Treaty of the European Union (Maastricht-Treaty), and will experience its initial development in the European Parliament elections. 10. The European Parliament lends unified self-determination to its area of jurisdiction over the legislation and to the European Commission. 11. On the basis of the expanded authority of the European Parliament in legislation and in the appointment and Supervision of the European Commission, the European Union will attain a parliamentary governmental system after the ratification of the European Union Treaty. 12. Along with democratic Iegitimation, which was brought about by the European Parliament, there still rests another area of legislation by the European Council; in this respect, without democratic Iegitimation. The question arises: To what degree is the European Council democratically justified? 13. The European Council is, at the same time, an institution of the European Union and the binding member between the European Union and the member-states. The legal bounds of the representatives of the member-states, which have grown from national constitutional laws, are limited by European Community law. 14. As representatives of the national governments, the representatives of the member-states of the council have the ability to use indirect Iegitimation. One

8 Kluth

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IX. Summary

can in this respect, speak of the council as having a plural-territorial democratic Iegitimation, in analogy to the German Federal Council and the equivalent Organisation in other member-states (Senate, lower house). This complements unified Iegitimation by means of the European Parliament, and insures a far reaching democratic Iegitimation of the actions of the European Union. 15. The creation of links to the European Parliament by the govemmental representatives, which was demanded by the German Constitutional Court in its Maastricht verdict, is a result of the parliamentary responsibility of the govemment; and, seen from this perspective, conforms to the system. 16. The European Union has, therefore, double democratic Iegitimation (i.e. European Parliament and European Council) and a double basis for Iegitimation (i.e. Citizens of the Union and govemments/parliaments of the member- states) at its disposal. 17. Democracy requires a certain Ievel of Iegitimation. The basis for comparison can be determined by a comparative analysis of the constitutions of the member-states, within the framework of a parliamentary form of rule. 18. Conversley, Iimits for the carrying over of legislative jurisdiction to the European Parliament arise, due to the particularities of the supranational structure of the European Union; particularly conceming the continually arising bipolar structure of the Union. The mediatory role of the European Council must not be allowed to be undermined at will. The overlapping jurisdictions that exist in the European Union will result in a corresponding cramping of Iegitimation. 19. As a result, we cannot determine for certain whether a normatively considerable Iack of democracy in the European Union, its organs or actions exists. 20. Besides the question of democratic Iegitimation, an important aspect of the constitutional discussion is the observance of jurisdiction of the memberstates by the institutions of the European Union. The German Constitutional Court demanded the rejection of the traditional interpretations of "implied powers" and "effet utile", and thus strengthened the rejection by requiring Geman institutions to refuse to follow the European Union if it continues to follow those principles.

IX. Summary

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21. The accusation that European Community law suffers from a Iack of technical and substantial quality does not hold true when looked at a second time. In neither the formal sense, nor in the substantial sense does any significant difference exist between the standards of legislation in the European Community and national legislation; nor does the implication of excessive legislation hold true, while it is impossible to compare the established law of the member-states with a law that has yet to be established or extended. 22. The draft of the Constitution of the European Union - presented by the Institutional Committee of the European Parliament, on February 14th, 1994 tries to clarify the institutional aims and structures of the European Union. The appendix to the draft gives its own catalogue of fundamental rights. 23. The new draft is, in comparison with the draft of 1984, more conservative. It is based on the current bipolar conception of a supranational community, and stresses particularly the protection of the authority of the member-states, for instance by introducing an jurisdiction-protecting method of procedure in the European Court of Justice. One must criticise, though, that the present draft does not introduce a systematic order of jurisdiction in the European Community, but rather refers to the present conditions. 24. The draft's proposals for the unification of legislation go too far. With the division of legislative power between the European Parliament and the European Council they overlook the necessity of considering the interests of the member-states where their remaining power is concerned. In this way, they endanger democratic Iegitimation on the Ievel of the member-states.

s•

X. Resurne 1. Le principe democratique est consacre par les constitutions de tous les Etats membres de I'Union europeenne. 11 est Jie au principe de Ia souverainete du peuple ou a Ia souverainete de Ia nation. On pourrait en deduire qu'il n'y a pas de democratie sans peuple. La these du deficit democratique de I'Union europeenne se base entre autres sur cette supposition. 2. Si l'on etudie le principe democratique du point de vue de I'histoire des idees, on doit reconnaitre que son essence consiste en Ia garantie de l'autodetermination, assurance qui est visee par la souverainete du peuple. Comme l'histoire de la theorie, l'histoire des institutions montre aussi, que la realisation de Ia democratie n'est pas liee a un peuple en tant que sujet de Iegitimation. Au contraire, Ia democratie peut etre realisee au sein d'autres communautes. Peuvent servir d'exemple les collectivites corporatives, dans lesquelles des structures democratiques se realisaient, quand l'etat allemand etait encore organise comme monarchie constitutionnelle. 3. La Iegitimation du pouvoir democratique presuppose un processus politique, qu'on peut qualifier de formation de Ia volonte populaire. Dans ce processus, le peuple, compris comme l'ensemble des citoyens actifs, assume le röle d'un "acteur repondant". Cela signifie que le peuple ne poursuit pas des buts de soi-meme, mais qu'il depend de l'activite d'une classe politique, qui elabore des propositions pour les decisions politiques et qui se soumet aux electeurs lors de l'election du Parlement et de Ia discussion politique publique. 4. La Iegitimation du pouvoir democratique dans ce sens necessite, que Je systeme politique satisfasse a plusieurs conditions. 11 s'agit d'un cöte des conditions juridiques et formelles, comme par exemple les elections, Ia Iimitation temporelle des fonctions politiques et, de l'autre cöte, des conditions pre-constitutionnelles. En ce qui conceme ces dernieres, on distingue les conditions sociales et culturelles, politiques et structurelles et les conditions ethiques.

X. Resurne

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5. Sur Ia base de ces conditions imposees a Ia realisation de Ia democratie, on se demande d'abord quel sujet de Iegitimation est determinant au sein de !'Union europeenne. Puisqu'il n'existe pas de peuple europeen - en tout cas pour l'instant - seule le citoyen de !'Union europeenne entre en ligne de campte. En tant que citoyen politiquement actif on ne peut pourtant le considerer comme sujet de Iegitimation que dans un ordre de pouvoir autonome. 6. L'Union europeenne dispose d'un ordre juridique propre et d' organes pour l'exercice du pouvoir. Elle peut donc etre appelee systeme de pouvoir independant. Pour cette raison eile peut realiser un systeme de Iegitimation democratique. Ainsi les conditions juridiques et formelles posees pour une democratie europeenne sont accomplies. 7. On peut constater egalement une homogeneite sociale et culturelle suffisante dans les Etats membres de l'Union europeenne. Cela conceme particulierement les domaines economique et politique. II y a certes de plus grandes differences dans le domaine culturel, mais l'homogeneite des valeurs est suffisante. 8. Dans le domaine politique et institutionnel, il s'agit de permeUre un processus de representation et de Iegitimation par les medias et les partis politiques. L'orientation nationale des medias et des partis politiques, qu'on peut observer, inciterait a penser le contraire. Une analyse plus profonde montre cependant, que les problemes de politique europeenne peuvent etre mis en evidence meme dans les conditions (de base) actuelles. Voila pourquoi il faut admettre que les exigences minimales de !'ordre politique institutionel sont respectees. En consequence, les conditions imposees a Ia realisation du principe democratique dans !'Union europeenne sont remplies. 9. Le principe democratique est fixe dans Ia preambule du traite de l'Union europeenne. II s'accomplit de maniere elementaire a l'occasion de l'election du Parlement europeen. 10. Dans Je cadre de ses competences, Je Parlement europeen contere a Ia legislation et a l'activite de Ia Commission, qu'il avait elue auparavant, une Iegitimation democratique europenne. 11. Grace a l'accroissement des pouvoirs du Parlement europeen dans le domaine de Ia legislation, du choix des membres et du contröle de la Commission, l'Union europeenne met en place apres l'entree en vigueur du traite de !'Union, un gouvernement de type parlementaire.

118

X. Resurne

12. Outre Ia Iegitimation democratique, conferee par Je Parlement europeen, de ]arges secteurs de Ia legislation et d'autres pouvoirs du Conseil derneureut sans Iegitimation democratique. Ainsi Ia question est de savoir, dans quelle mesure Je Conseil est legitime de maniere democratique. 13. Le Conseil est a Ia fois un organe de l'Union et un Iien entre l'Union et les Etats membres. L'obligation de respecter Je droit constitutionnel national, a laquelle sont soumis les representants des Etats membres, est limitee par ]es dispositions du droit communautaire. Cela vaut egalerneut pour l'obligation de respecter les droits fondamentaux nationaux. 14. En tant que representants des gouvernements nationaux, les membres du Conseil disposent d'une Iegitimation indirecte. Par analogie avec celle du "Bundesrat" (Conseil federal allemand) et des organes correspondands dans d'autres Etats membres (chambres hautes, senats), on peut parler sur ce point d'une Iegitimation democratique federale. Celle-ci complete Ia Iegitimation "unitaire" du Parlement europeen et assure une Iegitimation democratique globale de J'action communautaire. 15. La surveillance plus etroite des representants des gouvernements par le Parlement europeen revendiquee par le "Bundesverfassungsgericht" (Ia Cour constititionnelle federale allemande) dans son arret "Maastricht" exprime Ia responsabilite parlementaire du gouvernement. Elle est donc conforrne du systeme egalerneut au point de vue du droit communautaire. 16. L'Union europeenne dispose donc d'une double Iegitimation democratique (Parlement et Conseil) et d'une double base de Iegitimation (Citoyens de I'Union et gouvernements/parlements des Etats membres). 17. La democratie exige un niveau de Iegitimation determine. Ce niveau doit pouvoir se mesurer par Ia verification de l'existence d'un gouvernement de type parlementaire. Verification rendue possible par comparaison des constitutions des Etats membres. Concretement on etablit aussi l'existence du principe democratique ausein de l'Union europeenne. 18. D'autre part les caracteristiques de Ia structure de l'Union europeenne, surtout sa structure bipolaire a tous les niveaux, imposent des limites pour Ia delegation des pouvoirs legislatifs au Parlement. Le röle de mediateur du Conseil ne doit pas etre sape. L'interdependance des competences au sein de l'Union europeenne exige une cooperation correspondante des systemes de Iegitimation.

X. Resurne

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19. Dans l'ensemble, on ne peut pas parler d'un deticit democratique juridiquement considerable de l'Union europeenne, de ses organes non plus que de ses actes. 20. Ormis Ia question de Ia Iegitimation democratique, le respect des competences des Etats membres par les organes et institutions de l'Union europeenne se revele etre un aspect significatif de Ia discution sur les problemes constitutionnels. Dans son arret "Maastricht" le "Bundesverfassungsgericht" a revendique a ce propos un abandon des methodes d'interpretation de "l'effet utile" et de "implied powers". 11 a renforce cet avis en obligeant les organes d'Etat allemands a refuser d'obtemperer en cas d'une application ulterieure de ces principes. 21. Reprocher au droit communautaire son insuffisance en ce qui conceme le contenu et Ia technique legislative ne resiste pas a un examen. On ne peut constater des differences importantes par rapport au standard de Ia legislation nationale ni sur Ia forme ni sur le fond. De meme le renvoi a Ia "fureur reglementaire" des institutions communautaires n'est pas plausible, puisqu'un ordre juridique en cour de constitution n'est pas comparable a cet egard aux Ordres juridiques etablis des Etats membres. 22. Le projet d'une constitution de l'Union europeenne soumis le 14.02.1994 par le comite constitutionnel du Parlement europeen represente un effort de definition des structures et objectifs institutionnels de l'Union europeenne. Dans l'annexe du projet, le Parlement presente un texte juridique qui consacre ses droits fondamentaux propres. 23. Cette proposition est conservatrice comparee a celle de 1984. Elle se fonde sur Ia conception actuelle bipolaire d'une organisation supranationale et souligne de facon particuliere Ia protection des competences des Etats membres, entre autres par l'instauration d'un recours avant Ia CJCE, dont l'objectif est Ia sauvegarde des competences. Cependant on doit remarquer que systematique des pouvoirs cette conception renonce a un ordre communautaires en renvoyant uniquement aux acquis communautaires. 24. Les propositions dans le projet pour l'uniformisation de Ia legislation vont trop loin. Elles omettent de considerer Ies interets des Etats membres dans leur domaine de competence d'une part, et Ia repartition du pouvoir entre Parlement et Conseil d'autre part. Ainsi elles portent atteinte a Ia Iegitimation democratique au niveaudes Etats membres.

XI. Riassunto 1. Le eostituzioni degli stati membri dell' Unione Europea (UE) formano Ia demoerazia eome ordine govemativo, il quale si fonda sul prineipio della sovranita popolare. 2. Per quanto riguarda Ia storia delle idee Ia garanzia di una autodeterminazione politica si rivela eome nucleo della sovranita popolare. Si vede ehe il eontenuto del principio demoeratieo e esitente anehe senza un popolo eome base legittimatoria. In questo senso si puo parlare di "demoerazia senza popolo". 3. Il popolo agisee nel proeesso politieo quanto attore rispondente, eioe egli ha bisogno di una classe politiea, ehe elabora e presenta proposte per Ia formazione delle deeisioni politiehe. 4. La realizzazione della legittimazione govemativa riehiede un proeesso di rappresentanza effettivo, il quale e realizzabile soltanto se esiste una serie di eondizioni giuridieo-formali e preeostituzionali. Oggi si distinguono eondizioni soeio-eulturali, politieo-strutturali ed etiehe.

5. Nell' EU Ia legittimazione demoeratiea puo essere basata sul cittadino dell' Unione come soggetto legittimatorio. 6. L' UE e classificabile eome ordine govemativo autonorno, benehe dedotto. Essa potra realizzare un sistema legittirnatorio autonomo. 7. Negli stati membri dell' UE esiste un' omogeneita socio-culturale, ehe e suffieiente per Ia realizzazione di una rappresentanza politiea. Si possono distinguere i settori regolamento eeonomieo, politico e eulturale. 8. Anche nel settore delle condizioni fondamentali politico-istituzionali esistono le condizioni basilari per un processo politico di rappresentanza e legittimazione (sistema partitico e stampa).

XI. Riassunto

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9. n prineipio demoeratico e aneorato in modo normativo nel preambolo del trattato sull' Unione (tratt. di Maastricht). 10. Esso si esprime prineipalmente nelle elezioni per il parlamento europeo. 11. II parlamento europeo da nell' ambito delle sue eompetenze alla legislazione e alle azioni della eommissione una autolegitimazione unitariademoeratica. 12. Dopo Ia ratifiea del trattato sull' Unione anche l'UE realizza il tipo di un sistema govemativo parlamentare. 13. II eonsiglio e nel tempo stesso l'organo dell' unione e il legame tra l'unione e gli stati membri. I Iegami giuridiei dei rappresentanti degli stati membri ehe risultano dalle leggi costituzionali vengono limitati dai Iegami giuridici eomunitari. 14. La legittimazione democratiea dei membri del eonsiglio, mediata da ogni stato membro puo funzionare in modo analogo al Bundesrat tedesco (eamera delle regioni) e alle istituzioni corrispondenti degli altri stati membri eomunitari eome legittimazione pluri-democratica sullivello dell' unione. 15. L'aeeoppiamento dei rappresentanti di govemo al parlamento nazionale, ehe e stato rivendieato dal Bundesverfassungsgericht (eorte costituzionale), e il risultato della responsabilita governativa e eorrisponde pereio alle regole del sistema. 16. L'UE dispone quindi di un doppio fondamento di legittimazione (parlamento e consiglio) e di un doppio fondamento di soggetto di legittimazione (eittadini dell'unione e parlamenti degli stati mebri). 17. II livello di legittimazione dovra essere misurato eon il parametro istituzionale del tipo di un sistema di govemo parlamentare. 18. Dalle partieolarita dell'unione sovranazionale e dalla sua struttura bipolare risultano i limiti delle deleghe del potere legislativo al parlamento europeo. 19. Come risultato non si puo costatare quindi un defieit democratico normativo dell'UE, dei suoi organi e delle sue azioni.

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XI. Riassunto

20. Oltre Ia questione della legittimazione democratica il rispetto delle competenze delle istituzioni e degli organi dell'UE si mostra come fattore importante del discorso sulla costituzione. 11 Bundesverfassungsgericht ha rivendicato nella sua decisione sulla costituzionalita del trattato di Maastricht un ritiro dalle nozioni interpretative degli "implied powers" e del "effet utile" conferrnando ehe nel caso di una ulteriore applicazione di questi principi gli organi statali tedeschi sono obbligati a rifiutare l'esecuzione. 21. 11 rimprovero, ehe il diritto unitario soffre di una mancanza di qualita formale e sostanziale, non regge a una profonda indagine scientifica. Ne formalmente ne sostanzialmente si possono costatare grandi differenze con lo standard della legislazione nazionale. Anche l'argomento dello zelo di regolamento da parte degli organi comunitari non regge, perehe un ordine giuridico nella fase di costruzione non e paragonabile con gli ordini da lungo stabiliti negli stati membri. 22. 11 progetto di una costituzione comunitaria - presentato il 14-2-94- e un tentativo di manifestare le strutture e Je mete deii'UE. Nell' appendice del progetto viene presentato un proprio catalogo di diritti fondamentali. 23. La proposta, se paragonata con il progetto del '84 manifesta tendenze conservatrici, si fonda su un concetto odierno bipolare di una comunita sovranazionale e accentua in modo particolare Ia protezione delle competenze degli stati membri - tra I'altro introducendo una procedura speciale per Ia protezione delle competenze davanti alla corte costituzionale europea. Purtroppo i1 progetto rinuncia a un eieneo sistematico delle competenze comunitarie e menziona soltanto il "acquis communautaire". 24. Le proposte per Ia standardizzazione della Iegislazione vanno troppo oltre. Esse dimenticano il rispetto degli interessi degli stati membri nella sfera delle competenze rimaste a loro, connesso con Ia competenza legislative tra parlamento e consiglio, e mettono in pericolo Ia legittimazione democratica sul livello dello stato membro.

XII. Resurnen I. EI principio democnitico esta cimentado en las Constituciones de los Estados miembros de Ia Union Europea, conectado con el principio de soberanfa popular o bien de soberanfa nacional. Se podrfa concluir que sin pueblo no puede darse ningun tipo de democracia. Sobre esta suposici6n se basa, entre otras, Ia tesis del deficit democratico de Ia Uni6n Europea. 2. Si se analiza el principio democratico desde el punto de vista de Ia historia de las ideas, se puede observar que su nucleo consiste en Ia garantfa de autodeterminaci6n polftica, cuyo aseguramiento tambien es objetivo de Ia soberanfa popular. Tanto Ia historia de las ideas como Ia evoluci6n institucional muestran que Ia realizaci6n de Ia democracia no esta vinculada a un pueblo como sujeto de Iegitimaci6n; tambien se puede realizar en otras comunidades. Un ejemplo lo ofrecen las corporaciones profesionales, en las que existen estructuras democraticas desde que el Estado aleman todavfa estaba organizado como Monarqufa constitucional. 3. La legitimaci6n democnitica del poder presupone un proceso polftico que puede ser caracterizado como formaci6n de Ia voluntad popular. En este proceso, el pueblo, entendido como Ia totalidad de los ciudadanos activos, asume el papel de un "actor de respuesta", es decir no desarrolla un objetivo trazado por el mismo sino que responde a lo dispuesto por una clase polftica que elabora propuestas de decisi6n polftica y las somete a votaci6n en las elecciones al parlamento y en Ia discusi6n polftica publica. 4. En este sentido Ia legitimaci6n democratica del poder s6lo es posible cuando en un sistema polftico se da una serie de condiciones. Se trata por un parte de condiciones de caracter jurfdico-formal como, por ejemplo, elecciones, limitaci6n temporal de los cargos polfticos, etc; por otro lado se trata de condiciones de orden pre-constitucional. En estas se han de distinguir condiciones socioculturales, polftico-estructurales y presupuestos eticos. 5. Sobre Ia base de estas exigencias a Ia realizaci6n de Ia democracia, con relaci6n a Ia Uni6n Europea se plantea en primer termino Ia cuesti6n de cmil es

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el sujeto a legitimar democniticamente. Dado que, al menos por el momento, no existe el pueblo europeo, solo puede entrar en consideraci6n el ciudadano de Ia Uni6n. Sin embargo, un ciudadano polfticamente activo s6lo puede ser considerado como sujeto de legitimaci6n en un orden aut6nomo de poder. 6. La Union Europea dispone de su propio Ordenamiento y de su propia estructura organica de poder. Por ello puede ser considerado como un sistema aut6nomo, si bien no primario. Puede por tanto conformar su propio sistema aut6nomo de legitimaci6n democratica. En el plano juridico-formal se dan, pues, las condiciones para una democracia europea. 7. En los Estados miembros de Ia Union Europea se observa tambien una homogeneidad socio-cultural suficiente, especialmente en el orden polftico y econ6mico. En el ambito cultural las diferencias son ciertamente mas ostensibles, pero tambien aquf se da una homogeneidad suficiente en el orden de valores. 8. En el ambito de las condiciones polftico-institucionales Ia cuesti6n es si es posible un proceso de representaci6n polftica y de legitimaci6n a traves de los medios de comunicaci6n y de los partidos polfticos; su ostensible orientaci6n nacional permite una valoracion negativa. Un analisis preciso muestra sin embargo que, tambien en las condiciones actuales, se pueden tratar temas de polftica europea. Se da por ello el mfnimo exigible del orden polfticoinstitucional. Por lo tanto, concurren las condiciones para Ia realizaci6n del principio democratico en Ia Union Europea. 9. EI principio democratico esta normativamente afirmado en el Preambulo del Tratado de Ia Union. Encuentra su primer y eiemental desarrollo en Ia elecci6n al Parlamento Europeo. 10. En el ambito de sus competencias, el Parlamento Europeo concede a su normativa y a Ia actuacion de Ia Comisi6n por el elegida su propia legitimaci6n democratica. 11. Sobre Ia base de las facultades ampliadas del Parlamento Europeo para dictar normas y de control sobre Ia Comisi6n, Ia Uni6n Europea realiza, tras Ia entrada en vigor del Tratado de Ia Union, el tipo de sistema parlamentario. 12. Junto a esta legitimacion democratica, que se canaliza a traves del Parlamento Europeo, existen normas y competencias del Consejo que carecen

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de legitimacion democnitica. Por ello se plantea Ia cuestion de hasta que punto tambien el Consejo se halla legitimado democraticamente. 13. EI Consejo es al mismo tiempo organo de Ia Union y eslabon entre Ia Union y los Estados miembros. Las vinculaciones que el derecho constitucional de los Estados supone a los representantes de los Gobiemos de los Estados miembros en el Consejo estan limitados por el derecho comunitario. Esto rige tambien para Ia vinculacion a los derechos fundamentales nacionales. 14. Corno representantes de los Gobiernos nacionales, los miembros del Consejo gozan de una legitimacion democratica mediata. Analogamente a Ia legitimacion del Bundesrat aleman y de otros similares de los Estados miembros (Senados, segundas Camaras), se puede hablar de una legitimacion del Consejo sobre Ia base del pluralismo territorial. Resulta un complemento de Ia legitimaci6n unitaria y respalda Ia legitimaci6n democratica de Ia actividad de Ia Uni6n Europea. 15. La estrecha vinculacion del Gobierno al Parlamento exigido por el Tribunal Constitucional Federal en su sentencia sobre el Tratado de Maastricht es expresi6n de Ia responsabilidad parlamentaria del Gobierno y se ajuste al sistema del Derecho de Ia Union. 16. La Union Europea goza asf de una doble legitimacion democnitica (Parlamento y Consejo) y una doble base legitimatoria (Ciudadanos de Ia Union y Gobiernos/Parlamentos de los Estados miembros). 17. La democracia exige un mfnimo nivel de legitimaci6n. Su valoraci6n se efectua con arreglo al tipo de sistema parlamentario, como se desprende de un amilisis comparado de las Constituciones de los Estados miembros. EI amilisis concreto muestra que Ia realizacion del principio democnitico en Ia Uni6n Europea responde en todos los puntos esenciales al modelo de Gobierno parlamentario. 18. En sentido contrario, de las peculiaridades de Ia estructura supranacional de Ia Union Europea, especialmente de su estructura bipolar, se derivan limites a Ia trasferencia de competencias normativas al Parlamento Europeo. La posici6n mediadora del Consejo no se puede socavar aleatoriamente. La afirrnaci6n en Ia Uni6n Europea del principio de delimitaci6n competencial exige un correlativa especificidad en Ia legitimacion.

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19. En conclusi6n no puede comprobarse Ia existencia de un considerable deficit democnitico en Ia normativa, organizaci6n y actividad de Ia Uni6n Europea. 20. Junto a Ia cuesti6n de Ia legitimaci6n democnitica se plantea tambien el tema del respeto de las competencias de los estados miembros por parte de los 6rganos de Ia Union Europea. EI Tribunal Constitucional Federal, en su sentencia sobre el Tratado de Maastricht, ha postulado Ia renuncia al criterio interpretativodelos "implied powers" y del "effet utile" y ha afirmado que los 6rganos estatales alemanes estan obligados a rechazar Ia aplicaci6n de estos principios. 21. La crltica quese formula al Derecho Europeo por falta de sustantividad y calidad tecnica no es admisible. Ni desde el aspecto formal, ni desde el material, se detectan diferencias apreciables respecto al nivel de las normativas nacionales. Tampoco Ia objeci6n del furor normativo de los 6rganos de Ia Comunidad resulta admisible, porque no puede en modo alguno puede compararse un sistema en construcci6n con el sistema ya establecido de los Estados miembros. 22. La propuesta de borrador de una Constitucion de Ia Union Europea, presentada por Ia Comision Institucional del Parlamento Europeo ell4-II-1994, es un intento de clarificar Ia estructura institucional y los objetivos de Ia Union Europea. Corno complemento de ese borrador esta previsto un catalogo propio de derechos fundamentales. 23. En comparaci6n con el conservador borrador de 1984 se afirma ahora un concepto bipolar de Comunidad supranacional y se hace hincapie en Ia proteccion de las competencias de los Estados miembros, entre otras f6rmulas, a traves de un procedimiento de protecci6n de competencias ante el Tribunal de Ja Union Europea. Hay que destacar sin embargo que se renuncia a una ordenaci6n sistematica de las competencias con remisi6n al sistema actual. 24. Las propuestas para Ia unificaci6n normativa en el borrador van demasiado lejos. Desconocen que con Ia partici6n de Ia competencia normativa entre Parlamento y Consejo se trata de mantener los intereses de los Estados miembros en el mantenimiento de sus competencias y se deteriora Ia legitimaci6n democnitica en el plano de los estados miembros.

Anhang Entwurf einer Verfassung der Europäischen Union des Institutionellen Ausschusses des Europäischen Parlaments vom 14. Februar 19941 Präambel Im Namen der europäischen Völker, - in der Erwägung, daß ein immer engerer Zusammenschluß der europäischen Völker und das Entstehen einer europäischen politischen Identität wichtige Aspekte der Kontinuität des europäischen Integrationsprozesses, der durch die ersten Gemeinschaftsverträge eingeleitet wurde, und der föderal ausgerichteten Entwicklung sind, - in der Überzeugung, daß sich die Zugehörigkeit zur Europäischen Union auf gemeinsame Werte der ihr angehörenden Völker gründet, insbesondere auf Freiheit, Gleichheit, Solidarität, menschliche Würde, Demokratie, Achtung der Menschenrechte, Vorrang der Rechtsstaatlichkeit, - in dem Bestreben, die Solidarität zwischen diesen Völkern unter Achtung ihrer Vielfalt, ihrer Geschichte, ihrer Kultur, ihrer Sprache, ihrer institutionellen und politischen Strukturen zu stärken, - überzeugt von der Notwendigkeit, die die Bürger betreffenden Entscheidungen so bürgernah wie möglich zu treffen und Zuständigkeiten nur dann auf höhere Ebenen zu übertragen, wenn erwiesen ist, daß dies dem allgemeinen Wohl dient, - eingedenk dessen, daß die Europäische Union auf die wirtschaftliche Entwicklung, den sozialen Fortschritt, die Stärkung des Zusammenhalts, die aktive Beteiligung der regionalen und lokalen Gebietskörperschaften unter Achtung der Umwelt und des Kulturerbes abzielt, I PE 203.601/endg.

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Anhang: Verfassungsentwurfvom 14. Februar 1994

- in dem Bestreben, den Bürgern und den in der Europäischen Union lebenden Menschen bessere Lebensbedingungen sowie eine aktive Rolle bei der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung zu sichern, - in der Überzeugung, daß die Europäische Union einen wirksamen Beitrag zur Sicherheit ihrer Völker, zur Unverletzlichkeit ihrer Außengrenzen, zur Wahrung des internationalen Friedens, zur dauerhaften und umweltverträglichen sowie gerechten wirtschaftlichen Entwicklung aller Völker der Erde und zum angemessenen weltweiten Umweltschutz leisten muß, - unter Hinweis darauf, daß die Europäische Union den europäischen Staaten offensteht, die die Aufnahme wünschen und die gleichen Werte teilen, die gleichen Ziele verfolgen und den gleichen gemeinschaftlichen Besitzstand akzeptieren, - in dem Bewußtsein, daß einige Mitgliedstaaten auf dem Weg der Integration rascher und weiter voranschreiten können als die anderen, sofern die doppelte Voraussetzung erfüllt ist, daß jederzeit jeder Mitgliedstaat, der dies wünscht, die Möglichkeit haben muß, diesen Vorsprung aufzuholen, und daß die von ihm verfolgten Ziele mit der jetzigen Union in Einklang stehen, haben die Mitgliedstaaten und das Europäische Parlament diese Verfassung der Europäischen Union angenommen, um - ihre Ziele zu präzisieren, - die Effizienz, Transparenz und demokratische Ausrichtung ihrer Organe zu verbessern, - ihre Beschlußfassungsverfahren zu vereinfachen und zu verdeutlichen, - die Menschenrechte und Grundfreiheiten rechtlich zu gewährleisten.

Anhang: Verfassungsentwurfvom 14. Februar 1994

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Titel 1: Grundsätze Artikel] - Die Europäische Union 1. Die Europäische Union (im folgenden "Die Union" genannt) besteht aus den Mitgliedstaaten und deren Bürgern; alle Macht der Union geht von den Bürgern aus.

2. Die Union achtet die historische, kulturelle und sprachliche Identität der Mitgliedstaaten und ihren verfassungsrechtlichen Aufbau. Sie übt ihre Befugnisse und Zuständigkeiten unter Anwendung des Grundsatzes der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit aus. 3. Die Union besitzt Rechtspersönlichkeit 4. Die Union wird mit den Mitteln ausgestattet, die für die Wahrnehmung ihrer Zuständigkeiten und die Verwirklichung ihrer Ziele erforderlich sind, und strebt eine eingehendere und kohärentere Integration auf der Grundlage des gemeinschaftlichen Besitzstandes an. 5. Die Mitgliedstaaten arbeiten untereinander und mit den Organen der Union solidarisch zusammen, um die Ziele der Union zu erreichen. Die Organe der Union erfüllen die Aufgaben, die ihnen durch die Verfassung übertragen werden. 6. Das Recht der Union hat Vorrang vor dem Recht der Mitgliedstaaten. Artikel 2 - Ziele der Union

Die Union verfolgt im Rahmen ihrer Zuständigkeiten folgende wesentliche Ziele: die europaweite Sicherung des Friedens, der Wahrung der Demokratie, des wirtschaftlichen und sozialen Fortschritts, der Vollbeschäftigung und des Umweltschutzes; die Entwicklung eines Rechts- und Wirtschaftsraums ohne Binnengrenzen, für den der Grundsatz der sozialen Marktwirtschaft gilt; die Unterstützung der Mitgliedstaaten und ihrer Bürger bei ihrer Anpassung an innere und äußere Veränderungen im wirtschaftlichen, politischen und sozialen Bereich; die Förderung der kulturellen und geistigen Entfaltung ihrer Völker unter Achtung von deren Vielfalt; 9 Kluth

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Anhang: Verfassungsentwurfvom 14. Februar 1994

die Bekräftigung ihrer Identität auf internationaler Ebene durch ein gemeinsames Vorgehen zur Förderung des Friedens, der Sicherheit und der Schaffung einer auf Gerechtigkeit, Recht, Umweltschutz und wirtschaftlichem und sozialem Fortschritt beruhenden freien und friedlichen Weltordnung. Artikel 3 - Die Unionsbürgerschaft

Jede Person, die die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaates besitzt, ist aufgrunddieser Tatsache Bürger der Union. Artikel 4 - Das Wahlrecht der Bürger

Jeder Bürger der Union mit Wohnsitz in einem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit er nicht besitzt, hat an seinem Wohnort unter den gleichen Bedingungen wie die Staatsangehörigen des betreffenden Mitgliedstaates das aktive und passive Wahlrecht bei Kommunalwahlen und Europäischen Wahlen. Der genaue Umfang dieser Rechte kann durch ein Organgesetz festgelegt werden. Das Wahlrecht der Bürger kann durch em Verfassungsgesetz ausgedehnt werden. Artikel 5 - Die politische Tätigkeit der Bürger

Jeder Bürger hat das Recht, im gesamten Hoheitsgebiet der Union eine politische Tätigkeit auszuüben. Jeder Bürger hat das Recht auf Zugang zu den öffentlichen Ämtern der Union. Jeder Bürger der Union, der sich außerhalb dieser aufhält, genießt den diplomatischen und konsularischen Schutz der Union oder andernfalls des Mitgliedstaats, der in dem ausländischen Staat, in dem er sich aufhält, vertreten ist. Artikel 6 - Die Freizügigkeit der Bürger

Jeder Bürger genießt im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten Freizügigkeit, Niederlassungsfreiheit und freien Aufenthalt. Er kann dort unter den gleichen Bedingungen wie die Staatsangehörigen des betreffenden Mitgliedstaats eine Tätigkeit seiner Wahl ausüben, allerdings vorbehaltlich der Beschränkungen, die für Stellen in der öffentlichen Verwaltung, die der Wahrnehmung staatlicher Hoheitsaufgaben dienen, gelten. Die Union trägt dazu bei, die Chancengleichheit insbesondere dadurch zu gewährleisten, daß sie sich bemüht, die Hindernisse für die Inanspruchnahme und die effektive Ausübung der Rechte des Bürgers zu beseitigen.

Anhang: Verfassungsentwurfvorn 14. Februar 1994

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Jeder Bürger hat das Recht, die Union zu verlassen und dorthin zurückzukehren. Die Bürger der Union und die Bürger von Drittländern sowie die Staatenlosen, die sich in der Union autbalten, haben das Recht, sich im Falle von Mißständen an einen vom Europäischen Parlament ernannten Bürgerbeauftragten zu wenden oder eine Petition an das Europäische Parlament zu richten. Artikel 7- Von der Union verbürgte Menschenrechte

Innerhalb des Geltungsbereichs des Unionsrechts gewährleisten die Union und die Mitgliedstaaten die Achtung der in Titel VIII aufgeführten Rechte. Die Union achtet die Grundrechte, die durch die Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten und durch andere einschlägige internationale Vertragswerke gewährleistet werden und aus den gemeinsamen Verfassungsgrundsätzen der Mitgliedstaaten hervorgehen.

Titel II: Zuständigkeiten der Union Artikel 8 - Übertragung von Zuständigkeiten

1. Die Union verfügt nur über die in dieser Verfassung und in den Gemeinschaftsverträgen festgelegten Zuständigkeiten und macht sich den gemeinschaftlichen Besitzstand zu eigen. 2. Die Union und die Mitgliedstaaten wirken solidarisch auf die Erfüllung der gemeinsamen Aufgaben und die Erreichung der gemeinsamen Ziele hin. Sie unterlassen alles, was die Verwirklichung der in der Verfassung festgelegten Ziele gefährden könnte. 3. Die Bestimmungen der Verträge, die ihre Ziele und ihren Geltungsbereich betreffen und die durch diese Verfassung nicht geändert werden, sind Bestandteil des Rechts der Union. Sie können nur nach dem Verfahren der Verfassungsänderung geändert werden. 4. Die übrigen Bestimmungen der Verträge sind ebenfalls Bestandteil des Unionsrechts, sofern sie nicht mit der Verfassung unvereinbar sind. Sie können nur nach dem Verfahren des Organgesetzes geändert werden. 5. Die Rechtsakte der Europäischen Gemeinschaften sowie die im Rahmen der Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten getroffenen Maßnahmen bleiben weiterhin in Kraft, sofern sie nicht mit der Verfassung unvereinbar sind und solange sie nicht durch Rechtsakte oder Maßnahmen der Organe der Union gemäß deren jeweiligen Zuständigkeiten ersetzt werden.

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Anhang: Verfassungsentwurfvom 14. Februar 1994

6. Die Union achtet die von den Europäischen Gemeinschaften eingegangenen Verpflichtungen, insbesondere die mit einem oder mehreren Drittstaaten oder einer internationalen Organisation geschlossenen Abkommen und Übereinkommen.

Artikel9- Verwirklichung der Ziele Ist ein Tätigwerden der Union erforderlich, um eines ihrer Ziele zu erreichen, ohne daß die Verfassung oder die Verträge die hierfür erforderlichen Handlungsbefugnisse vorsehen, so werden diese Befugnisse durch ein Organgesetz übertragen.

ArtikellO- Subsidiaritätsprinzip und Grundsatz der Verhältnismäßigkeit Die Ausübung der Befugnisse der Union, ebenso wie ihre Ausweitung gemäß Art. 9, unterliegt dem Subsidiaritätsprinzip und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Nach dem Subsidiaritätsprinzip wird die Union nur tätig, sofern und soweit die Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahmen auf der Ebene der Mitgliedstaaten nicht ausreichend verwirklicht und daher wegen ihres Umfangs oder ihrer Wirkungen besser auf der Ebene der Union erreicht werden können. Gemäß dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gehen die Maßnahmen der Union nicht über das für die Erreichung der Ziele der Verfassung erforderliche Maß hinaus.

Artikelll - Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten Die Union wirkt darauf hin, die bestehenden Formen der Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten zu verstärken und darauf die gemeinschaftlichen Verfahren und Mechanismen anzuwenden. Zu diesem Zweck wird die Union tätig, indem sie gemeinsame Standpunkte festlegt und gemeinsame Aktionen im Rahmen der vom Europäischen Rat und vom Europäischen Parlament aufgestellten allgemeinen Leitlinien durchführt.

Artikell2- Förderung der Maßnahmen der Mitgliedstaaten Die Union kann in Bereichen, die unmittelbar mit den von der Union verfolgten Zielen verbunden sind oder mit diesen in Zusammenhang stehen, Maßnahmen der Mitgliedstaaten empfehlen, fördern oder Anreize dazu geben, ohne daß dies bindenden Charakter hätte.

Anhang: Verfassungsentwurfvom 14. Februar 1994

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In diesen Bereichen kann die Union außerdem koordinierte Tätigkeiten der Mitgliedstaaten fördern und eine angemessene Unterstützung dazu leisten.

Titel 111 - Institutioneller Rahmen Artikel13 - Organe 1. Die Organe der Union sind:

das Europäische Parlament, der Europäische Rat, der Rat, die Kommission, der Gerichtshof. 2. In der Verfassung vorgesehene spezielle Aufgaben nehmen wahr: der Ausschuß der Regionen, die Europäische Zentralbank, der Rechnungshof, der Wirtschafts- und Sozialausschuß. 3. Unbeschadet der Bestimmungen der Verträge können durch Organgesetze weitere Institutionen sowie Agenturen mit eigener Rechtspersönlichkeit geschaffen und mit besonderen Aufgaben betraut werden. Darin werden ihre Satzung und insbesondere die Modalitäten ihrer Kontrolle festgelegt.

Artikel14- Europäisches Parlament- Zusammensetzung Das Europäische Parlament besteht aus Vertretern der Bürger der Union, die in allgemeiner unmittelbarer und geheimer Wahl für eine Dauer von fünf Jahren nach einem einheitlichen Wahlverfahren gewählt werden. Die Zahl der Sitze, die Grundsätze für ihre Verteilung und das Wahlverfahren werden durch ein Verfassungsgesetz festgelegt.

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Anhang: Verfassungsentwurfvom 14. Februar 1994

Artike/15 - Europäisches Parlament - Befugnisse Das Europäische Parlament: wirkt mit dem Europäischen Rat an der Aufstellung der allgemeinen politischen Leitlinien der Union mit; erläßt die Gesetze, verabschiedet den Haushaltsplan und billigt die internationalen Verträge der Union zusammen mit dem Rat; wählt den Präsidenten der Kommission und spricht dieser sein Vertrauen aus; übt die politische Kontrolle über die Tätigkeit der Union aus und kann Untersuchungsausschüsse einsetzen; übt die ihm von der Verfassung und von den Gemeinschaftsverträgen übertragenen Ernennungsbefugnisse aus; übt die sonstigen in der Verfassung und in den Gemeinschaftsverträgen vorgesehenen Befugnisse aus. Artike/16- Europäischer Rat Der Europäische Rat besteht aus den Staats- bzw. Regierungschefs der Mitgliedstaaten sowie dem Präsidenten der Kommission. Der Europäische Rat gibt der Union die erforderlichen Impulse für ihre Weiterentwicklung und legt unter Mitwirkung des Europäischen Parlaments die allgemeinen politischen Leitlinien fest. Artike/17- Rat- Zusammensetzung Der Rat besteht aus einem für Fragen der Union zuständigen Minister je Mitgliedstaat. Dieser leitet eine gemäß den nationalen Verfassungsbestimmungen gebildete Delegation. Jede Delegation gibt eine einheitliche Stimme ab. Artike/18 - Rat - Befugnisse Der Rat: erläßt die Gesetze, verabschiedet den Haushaltsplan und billigt die internationalen Verträge der Union zusammen mit dem Europäischen Parlament; koordiniert die Politiken der Mitgliedstaaten, wenn die Verfassung dies vorsieht;

Anhang: Verfassungsentwurfvom 14. Februar 1994

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übt die ihm von der Verfassung und von den Gemeinschaftsverträgen übertragenen Ernennungsbefugnisse aus; übt die sonstigen in der Verfassung und in den Gemeinschaftsverträgen vorgesehenen Befugnisse aus. Artikell9- Präsidentschaft des Rates

Der Präsident des Rates wird mit der nicht gewogenen Mehrheit von fünf Sechsteln der Mitgliedstaaten für eine Amtszeit von einem Jahr gewählt. Dieses Mandat kann verlängert werden und darf drei Jahre nicht übersteigen. Artikel 20 - Abstimmung im Rat

Die Beschlußfassung im Rat erfolgt stets mit doppelter Mehrheit, und zwar mit der Mehrheit der Staaten und der Mehrheit der Bevölkerung. Die einfache Mehrheit umfaßt die Mehrheit der Staaten, sofern sie die Mehrheit der Bevölkerung vertreten. Die qualifizierte Mehrheit umfaßt zwei Drittel der Staaten, sofern sie zwei Drittel der Bevölkerung vertreten. Die besonders qualifizierte Mehrheit ist nicht erreicht, wenn entweder mindestens ein Viertel der Mitgliedstaaten, dem mindestens ein Achtel der Unionsbevölkerung entspricht, oder ein Achtel der Mitgliedstaaten, dem mindestens ein Viertel der Unionsbevölkerung entspricht, dagegen stimmen. Artikel 21 -Kommission -Zusammensetzung und Unabhängigkeit 1. Die Zusammensetzung der Kommission wird durch ein Organgesetz festgelegt.

2. Die Mitglieder der Kommission üben ihre Tätigkeit in voller Unabhängigkeit zum allgemeinen Wohl der Union aus. Sie dürfen bei der Erfüllung ihrer Pflichten Anweisungen von einer Regierung oder einer anderen Stelle weder anfordern noch entgegennehmen. Sie haben jede Handlung zu unterlassen, die mit ihren Aufgaben unvereinbar ist. Jeder Mitgliedstaat verpflichtet sich, diesen Grundsatz zu achten und nicht zu versuchen, die Mitglieder der Kommission bei der Erfüllung ihrer Aufgaben zu beeinflussen. Artikel 22 - Kommission - Ernennung -Mißtrauensantrag 1. Die Kommission wird nach dem Verfahren des Absatzes 2 für eine Amtszeit von fünf Jahren ernannt.

Anhang: Verfassungsentwurfvom 14. Februar 1994

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2. Zu Beginn jeder Wahlperiode wird der Präsident der Kommission auf Vorschlag des Europäischen Rates vom Europäischen Parlament mit der Mehrheit der ihm angehörenden Mitglieder gewählt. Die Mitglieder der Kommission werden vom Präsidenten im Einvernehmen mit dem Rat, der mit qualifizierter Mehrheit beschließt, ausgewählt. Die so gebildete Kommission tritt ihr Amt an, nachdem ihr das Europäische Parlament sein Vertrauen ausgesprochen hat. 3. Das Europäische Parlament kann mit der Mehrheit seiner Mitglieder und mit einer Vorankündigung von mindestens drei Werktagen über einen Mißtrauensantrag abstimmen; die Annahme dieses Antrags hat den geschlossenen Rücktritt der Mitglieder der Kommission zur Folge, die bis zu ihrer Ersetzung weiterhin die laufenden Geschäfte führen. Artikel 23 - Der Präsident der Kommission

Der Präsident der Kommission verteilt die Zuständigkeiten auf die Mitglieder der Kommission. Er koordiniert die Arbeiten der Kommission und hat bei Stimmengleichheit die ausschlaggebende Stimme. Er kann auf Antrag des Europäischen Parlaments oder des Rates einem Mitglied der Kommission das Mandat entziehen. Artikel 24 - Kommission - Befugnisse

Die Kommission: überwacht die Einhaltung der Verfassung und der Rechtsakte der Union, ist an der gesetzgebenden Gewalt beteiligt und hat das Initiativrecht, führt den Haushaltsplan und die Gesetze der Union aus und verabschiedet die Durchführungsverordnungen gemäß den Bestimmungen der Verfassung,

handelt die internationalen Verträge der Union aus und schließt sie ab, übt die sonstigen in der Verfassung und in den Gemeinschaftsverträgen vorgesehenen Befugnisse aus. Artikel 25 - Der Gerichtshof

Die Aufgaben des Gerichtshofes sind in den Artikeln 36 bis 39 festgelegt.

Anhang: Verfassungsentwurfvom 14. Februar 1994

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Der Gerichtshof besteht aus Richtern und Generalanwälten. Diese sind unter Persönlichkeiten auszuwählen, die jede Gewähr für Unabhängigkeit bieten und in ihrem jeweiligen Staat die für die höchsten richterlichen Ämter erforderlichen Voraussetzungen erfüllen oder Juristen von anerkannt hervorragender Bedeutung sind; sie werden vom Europäischen Parlament mit der Mehrheit seiner Mitglieder und vom Rat für eine Amtszeit von neun Jahren ernannt; Wiederernennung ist nicht zulässig. Die Modalitäten dieser Ernennung werden durch ein Organgesetz geregelt. Artikel 26 - Der Präsident des Gerichtshofes

Die Richter wählen aus ihrer Mitte den Präsidenten des Gerichtshofes für die Dauer von drei Jahren. Wiederwahl ist zulässig. Artikel 27 - Organisation und Satzung des Gerichtshofes 1. Ein auf Vorschlag des Gerichtshofs erlassenes Organgesetz legt die Verfahrensordnung, die Zahl und das Statut seiner Mitglieder, die Bildung der Kammern des Gerichtshofs und die Fälle fest, in denen der Gerichtshof in Vollsitzung tagen muß.

2. Der Gerichtshof verfügt im Rahmen des Haushaltsplans der Union über die Finanz- und Verwaltungsautonomie. Artikel 28 - Sonstige Gerichte

Durch ein Organgesetz können auf Vorschlag des Gerichtshofes ein oder mehrere sonstige Gerichte eingesetzt werden, die für Entscheidungen über einzelne Gruppen von Klagen zuständig sind und gegen deren Entscheidungen ein gegebenfalls auf Rechtsfragen beschränktes Rechtsmittel beim Gerichtshof eingelegt werden kann. Die Aufgaben, die Zusammensetzung und die Verfahrensordnungen werden gemäß den Artikeln 25, 26 und 27 festgelegt. Artikel 29 -Ausschuß der Regionen

Der Ausschuß der Regionen besteht aus gewählten Vertretern der von den Mitgliedstaaten anerkannten regionalen und lokalen Gebietskörperschaften. Er ist zu allen Gesetzgebungsinitiativen auf Gebieten, die in einem Organgesetz aufgelistet werden, vorab zu hören.

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Anhang: Verfassungsentwurfvom 14. Februar 1994

Artikel 30 - Die Europäische Zentralbank Die Europäische Zentralbank gibt die Banknoten der Union aus, sichert die Stabilität der Währung und nimmt die in der Verfassung vorgesehenen Befugnisse wahr. Sie genießt die für die Ausübung ihrer Aufgaben erforderliche Unabhängigkeit. Der Gerichtshof sorgt für die Achtung dieser Unabhängigkeit.

Titel IV- Die Aufgaben der Union Kapitel 1 - Grundsätze Artikel31 - Rechtsakte der Union 1. Die Organe der Union erlassen gemäß der Verfassung: die Verfassungsgesetze, die die Verfassung ändern oder ergänzen; das Europäische Parlament stimmt mit der Mehrheit von zwei Dritteln seiner Mitglieder und der Rat mit besonderer qualifizierter Mehrheit ab2; Die Organgesetze, die insbesondere die Zusammensetzung, die Aufgaben oder Tätigkeiten der Organe und Institutionen der Union regeln; das Europäische Parlament stimmt mit der Mehrheit seiner Mitglieder und der Rat mit qualifizierter Mehrheit ab3; die ordentlichen Gesetze; das Europäische Parlament stimmt mit absoluter Mehrheit der abgegebenen Stimmen und der Rat mit einfacher Mehrheit ab4. 2. Die Organe der Union erlassen gemäß den Gesetzen und der Verfassung: Durchführungsverordnungen; einzelne Beschlüsse. 3. Die Gesetze und Verordnungen sind im Hoheitsgebiet der Union in allihren Teilen verbindlich. Die Beschlüsse sind für ihre Adressaten verbindlich.

2 Während einer Übergangszeit von fünf Jahren einstimmig. 3 Während einer Übergangszeit von fünf Jahren mit besonderer qualifizierter Mehrheit. 4 Während einer Übergangszeit von fünf Jahren mit qualifizierter Mehrheit.

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4. Die Gesetze können die Form von Rahmengesetzen annehmen, wenn sie sich darauf beschränken, allgemeine Grundsätze festzulegen, eine Handlungsverpflichtung für die Mitgliedstaaten und die sonsigen Behörden begründen und den nationalen Behörden sowie den Behörden der Union deren Durchführung übertragen. Das Gesetz kann Bestimmungen vorsehen, die im Falle der Untätigkeit der Mitgliedstaaten bei der Durchführung der Rahmengesetze Anwendung finden.

Kapitel 2 - Die Legislativgewalt Artikel 32 - Gesetzesinitiative

Die Gesetze der Union werden vom Europäischen Parlament und vom Rat erlassen. Die Initiative für ordentliche Gesetze und für Organgesetze liegt bei der Kommission, sofern die Verfassung sie nicht dem Gerichtshof überträgt. Falls die Kommission untätig bleibt, können das Europäische Parlament und der Rat im gegenseitigen Einvernehmen einen Gesetzesvorschlag vorlegen. Die Initiative für Verfassungsgesetze kann vom Europäischen Parlament, der Kommission, -dem Rat oder einem Mitgliedstaat ausgeübt werden. Artikel 33 - Übertragung der Gesetzgebungsbefugnis

Durch ein Organgesetz, das Inhalt, Zweck, Ausmaß und Dauer der Ermächtigung bestimmt, kann die Kommission beauftragt werden, Rechtsakte zu erlassen, die von den geltenden ordentlichen Gesetzen abweichen oder diese ändern können.

Kapitel 3 - Die Exekutivgewalt Artikel 34 -Ausführung der Gesetze

Die Mitgliedstaaten führen die Gesetze der Union aus. Unbeschadet des Absatzes 1 besitzt die Kommission die Befugnis, die für die Ausführung der Gesetze der Union erforderlichen Verordnungen zu erlassen; sie kann in den in den Verträgen oder dem Organgesetz vorgesehenen Fällen einzelne Maßnahmen zur Anwendung des Rechts der Union ergreifen. Dem Rat kann diese Befugnis in spezifischen Bereichen durch Gesetz übertragen werden.

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Artikel 35 - Überwachung der nationalen Durchführungsmaßnahmen

Die Kommission überwacht die Durchführung der Gesetze der Union durch die Mitgliedstaaten. Ein Organgesetz legt die Modalitäten dieser Überwachung fest.

Kapitel 4 - Die Rechtsprechung Artikel 36 - Rechtsprechende Gewalt

Der Gerichtshof und die sonstigen gemeinschaftlichen und nationalen Gerichte gewährleisten im Rahmen ihrer jeweiligen Zuständigkeiten die Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung dieser Verfassung sowie aller Rechtsakte der Union. Die einheitliche Auslegung des Rechts der Union wird insbesondere durch die Ausübung der Vorabentscheidungsbefugnis gewährleistet. Artikel 37- Zuständigkeiten des Gerichtshofes

Die in dieser Verfassung und in den Gemeinschaftsverträgen vorgesehenen Zuständigkeiten des Gerichtshofes können nur durch ein Verfassungsgesetz geändert werden. Artikel 38- Verletzung der Menschenrechte

Der Gerichtshof ist für jede Klage zuständig, die von einer Privatperson wegen der Verletzung eines von der Verfasung garantierten Menschenrechts durch die Union erhoben wird. Die Bedingungen für die Einreichung einer derartigen Klage und die Strafen, die der Gerichtshof verhängen kann, werden durch ein Verfassungsgesetz geregelt. Artikel 39 - Einhaltung der Aufteilung der Zuständigkeiten

Der Rat, die Kommission, das Europäische Parlament oder ein Mitgliedstaat können eine Nichtigkeitsklage gegen einen Rechtsakt, der über die Zuständigkeiten der Union hinausgeht, nach der endgültigen Verabschiedung des Rechtsakts und vor seinem Inkrafttreten erheben. Ein Verfassungsgesetz legt die Modalitäten für diese Klage fest.

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Kapitel 5 - Finanzen Artikel40 - Finanzielle Mittel und Haushaltsplan

1. Das Gesetz bestimmt die Art und den Höchstbetrag der finanziellen Mittel der Union. Für dieses Gesetz ist die Zustimmung der Mehrheit der Mitglieder des Europäischen Parlaments und von zwei Dritteln der Abstimmenden sowie die besondere qualifizierte Mehrheit im RatS erforderlich. 2. Alle jährlichen Einnahmen und Ausgaben der Union werden im Haushaltsplan veranschlagt. Dieser wird alljährlich nach dem Gesetzgebungsverfahren verabschiedet. 3. Bei jedem Vorschlag für neue Ausgaben muß ein Vorschlag für die entsprechenden Einnahmen unterbreitet werden. 4. Die Union unterliegt der gleichen Haushaltsdisziplin, die das Recht der Union den Mitgliedstaaten auferlegt.

Kapitel 6 - Koordinierung der Politiken der Mitgliedstaaten Artikel41 -Grundsatz

In den Bereichen, die Gegenstand einer Koordinierung oder der Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten sind, übt der Rat die ihm übertragenen Befugnisse aus. Die Kommission und das Europäische Parlament sind an der Aktion des Rates beteiligt.

Titel V - Außenbeziehungen Artikel 42 - Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik 1. Der Europäische Rat bestimmt die Grundsätze und die allgemeinen Leitlinien der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik, einschließlich der gemeinsamen Verteidigungspolitik und der gemeinsamen Verteidigung.

2. Der Rat beschließt auf Vorschlag der Kommission oder auf Antrag eines Mitgliedstaats gemeinsame Standpunkte und Aktionen der Union. Außer in Fällen größter Dringlichkeit konsultiert er das Europäische Parlament nach

5 Während einer Übergangszeit von zehn Jahren Einstimmigkeit.

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geeigneten Modalitäten. In allen Fällen hält er das Europäische Parlament auf dem laufenden und erstattet ihm über seine Aktionen Bericht. Der Rat entscheidet einstimmig, mit Ausnahme der Fälle, in denen er auf Vorschlag der Kommission mit besonderer qualifizierter Mehrheit entscheidet. Nach einem Zeitraum von fünf Jahren entscheidet er mit qualifizierter Mehrheit und ausschließlich auf Vorschlag der Kommission. Artikel43- Vertretung der Union

Je nach Themenbereich wird die Union nach außen durch den Präsidenten des Rates oder den Präsidenten der Kommission vertreten. Die diplomatische Vertretung der Union obliegt der Kommission, die sie in der mit dem Rat vereinbarten Form wahrnimmt. In den Ländern, in denen die Union nicht vertreten ist, kann sie mit dem Rat vereinbaren, den geeignetsten Mitgliedstaat für die Wahrnehmung der Unionsvertretung zu benennen. Artikel44- Verträge 1. Die Union hat das Recht, Verträge abzuschließen.

2. Die von der Kommission ausgehandelten Verträge werden dem Europäischen Parlament und dem Rat zur Zustimmung unterbreitet; das Parlament beschließt mit der Mehrheit seiner Mitglieder und der Rat mit qualifizierter Mehrheit. Die Kommission bekundet sodann die Einwilligung der Union. 3. Ein Organgesetz legt die Bedingungen fest, unter denen die Zustimmung nach einem vereinfachten internen Verfahren erteilt werden kann. 4. Die auf diese Weise geschlossenen Verträge sind für die Organe der Union und die Mitgliedstaaten verbindlich. 5. Das Europäische Parlament, die Kommission, der Rat oder ein Mitgliedstaat können ein Gutachten des Gerichtshofes über die Vereinbarkeil eines Vertrages mit dieser Verfassung einholen. Ist dieses Gutachten ablehnend, so kann der betreffende Vertrag gegebenenfalls nur durch ein Verfassungsgesetz gebilligt werden. 6. Soll ein internationaler Vertrag geschlossen werden, der Änderungen der Verfassung bedingt, so sind diese Änderungen zuvor durch ein Verfassungsgesetz anzunehmen. 7. Die Kündigung der Verträge erfolgt nach den für ihren Abschluß vorgesehenen Verfahren.

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Titel VI: Beitritt zur Union Artikel45 - Beitritt neuer Mitglieder Jeder europäische Staat, dessen Institutionen und Regierungssystem auf rechtsstaatlichen demokratischen Grundsätzen beruhen, der die Grundrechte, die Minderheitenrechte und das Völkerrecht achtet und sich verpflichtet, den gemeinschaftlichen Besitzstand zu übernehmen, kann beantragen, Mitglied der Union zu werden. Die Beitrittsmodalitäten werden durch einen Vertrag zwischen der Union und dem beitrittswilligen Staat geregelt. Dieser Vertrag muß durch ein Verfassungsgesetz gebilligt werden.

Titel VII: Schlußbestimmungen Artikel 46 - Schlußbestimmungen Die Mitgliedstaaten, die dies wünschen, können untereinander Bestimmungen erlassen, die es ihnen ermöglichen, auf dem Weg der europäischen Integration weiter und rascher vorarrz.uschreiten als die anderen, sofern die doppelte Voraussetzung erfüllt ist, daß sich jeder Mitgliedstaat, der dies wünscht, diesem Schritt jederzeit anschließen kann und die Bestimmungen, die er erläßt, mit den Zielen der Union und den Grundsätzen ihrer Verfassung vereinbar sind. Sie können insbesondere für die unter Titel V und VI des Vertrags über die Europäische Union fallenden Bereiche andere Bestimmungen erlassen, die nur für sie verbindlich sind. Die Mitglieder des Europäischen Parlaments, des Rates und der Kommission, die den anderen Mitgliedstaaten angehören, enthalten sich bei Beratungen und Abstimmungen über Entscheidungen, die aufgrund dieser Bestimmungen getroffen werden, der Stimme. Artikel47 -lnkrafttreten Die Verfassung ist angenommen und tritt in Kraft, wenn sie von der Mehrheit der Mitgliedstaaten, die vier Fünftein der Bevölkerung entspricht, ratifiziert worden ist. Die Mitgliedstaaten, die die Ratifizierungsurkunden nicht innerhalb der festgesetzten Fristen hinterlegen konnten, haben sich zwischen dem Austritt aus der Union und dem weiteren Verbleib in der so umgestalteten Union zu entscheiden.

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Entscheidet sich einer dieser Staaten für den Austritt aus der Union, so werden besondere Abkommen geschlossen, um ihm einen vorrangigen Status in seinen Beziehungen zur Union einzuräumen.

Titel VIII: Von der Union verbürgte Menschenrechte 1. Recht auf Leben

Jeder hat das Recht auf Leben und auf die Achtung seiner körperlichen Unversehrtheil sowie auf Freiheit und Sicherheit. Niemand darf zum Tode verurteilt oder der Folter bzw. unmenschlichen oder erniedrigenden Strafen oder Behandlungen unterworfen werden.

2. Würde des Menschen Die Würde des Menschen ist unantastbar: Sie umfaßt insbesondere das Grundrecht der Person auf ausreichende Mittel und Leistungen für sich und ihre Familie. 3. Rechtsgleichheit

a) Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich. b) Jede Benachteiligung, die in der Rasse, der Hautfarbe, im Geschlecht, in Sprache, Religion, in den politischen oder sonstigen Anschauungen, in nationaler oder sozialer Herkunft, in der Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit, im Vermögen, in der Geburt oder im sonstigen Status begründet ist, ist verboten. c) Die Gleichheit von Männern und Frauen ist zu gewährleisten. 4. Gedankenfreiheit

Das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit wird gewährleistet. Das Recht auf Kriegsdienstverweigerung wird gewährleistet; die Ausübung dieses Rechts darf nicht zu Diskriminierungen führen. 5. Meinungs- und lnformationsfreiheit

a) Jeder hat das Recht auf freie Meinungsäußerung. Dieses Recht schließt die Freiheit der Meinung und die Freiheit zum Empfang und zur Mitteilung von Nachrichten oder Gedanken ein.

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b) Kunst, Wissenschaft und Forschung sind frei. 6. Privatleben

a) Jeder hat das Recht auf Achtung und Schutz seiner Identität. b) Die Achtung der Privatsphäre und des Familienlebens, des Ansehens, der Wohnung und des privaten Post- und Fernmeldeverkehrs wird gewährleistet. c) Eine Überwachung von Personen oder Organisationen durch staatliche Behörden kann nur dann vorgenommen werden, wenn sie von einer zuständigen Justizbehörde ordnungsgemäß genehmigt wurde.

7. Schutz der Familie Jeder hat das Recht, eine Familie zu gründen. Die Familie genießt rechtlichen, wirtschaftlichen und sozialen Schutz. Darüber hinaus werden Vaterschaft und Mutterschaft sowie die Rechte des Kindes geschützt. 8. Versammlungsfreiheit

Jeder hat das Recht, friedliche Versammlungen und Kundgebungen zu veranstalten und daran teilzunehmen. 9. Vereinigungsfreiheit

Jeder hat das Recht auf Vereinigungsfreiheit 10. Eigentumsrecht

Das Recht auf Eigentum ist gewährleistet. Niemandem darf sein Eigentum entzogen werden, es sei denn, daß das öffentliche Interesse dies notwendigerweise verlangt, und nur unter den durch Gesetz vorgesehenen Bedingungen und gegen angemessene und vorherige Entschädigung. 11. Berufsfreiheit und Arbeitsbedingungen

a) Die Union anerkennt das Recht auf Arbeit: Die Union und ihre Mitgliedstaaten ergreifen die erforderlichen Maßnahmen, um dieses Recht in die Praxis umzusetzen.

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b) Jeder hat das Recht, seinen Beruf und seinen Arbeitsplatz frei zu wählen und seinen Beruf frei auszuüben. c) Niemandem darf aus willkürlichen Gründen eine Arbeit verweigert und niemand darf zu einer bestimmten Arbeit gezwungen werden. 12. Kollektive soziale Rechte

a) Den Arbeitnehmern wird das Recht gewährleistet, gemeinsam die Verteidigung ihrer Rechte zu organisieren, darunter auch das Recht, Gewerkschaften zu gründen. b) Das Recht auf Verhandlungen zwischen den Sozialpartnern sowie das Recht auf Abschluß von Tarifverträgen auf Unionsebene werden gewährleistet. c) Das Recht auf kollektive Maßnahmen, einschließlich des Streikrechts, wird gewährleistet. d) Die Arbeitnehmer haben das Recht, regelmäßig über die Wirtschafts- und Finanzsituation ihres Unternehmens unterrichtet und zu Beschlüssen, die ihre Interessen berühren können, gehört zu werden. 13. Sozialer Schutz

a) Jeder hat das Recht, in den Genuß von Maßnahmen zu kommen, die seine Gesundheit erhalten. b) Jeder, der nicht über ausreichende Mittel verfügt, hat Anspruch auf soziale und medizinische Hilfe. c) Arbeitnehmer, Selbständige und ihre anspruchsberechtigten Angehörigen haben das Recht auf soziale Sicherheit oder eine gleichwertige Regelung. d) Jeder, der aus Gründen, die er nicht zu verantworten hat, nicht über eine menschenwürdige Wohnung verfügt, hat Anspruch auf entsprechende Unterstützung durch die zuständigen staatlichen Stellen. 14. Recht auf Bildung

a) Jeder hat das Recht auf Bildung und Ausbildung gemäß seinen Fähigkeiten. b) Die Lern- und Lehrfreiheit ist gewährleistet. c) Das Recht der Eltern auf Erziehung der Kinder gemäß ihren religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen wird unter Achtung des Rechts des Kindes auf seine eigene Entwicklung gewährleistet.

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15. Recht auf Zugang zu Informationen

Jeder hat das Recht, sich über ihn betreffende Verwaltungsdokumente und sonstige Daten zu informieren und ihre Berichtigung zu verlangen. 16. Politische Parteien

Die Gründung politischer Parteien ist frei. Sie müssen sich an den gemeinsamen demokratischen Grundsätzen der Mitgliedstaaten orientieren. 17. Zugang zum Recht

a) Jeder hat das Recht auf ein ordnungsgemäßes Verfahren durch einen vom Gesetz bestimmten Richter. b) Jeder hat das Recht, daß seine Sache in billiger Weise öffentlich und innerhalb einer angemessenen Frist von einem unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht gehört wird. c) Der Zugang zum Recht ist gewährleistet. Für diejenigen, die nicht über ausreichende Mittel verfügen, um einen Rechtsbeistand in Anspruch zu nehmen, wird eine Rechtshilfe bereitgestellt. 18. Ne bis in idem

Niemand darf wegen einer Handlung, wegen der er bereits freigesprochen oder verurteilt wurde, erneut verfolgt oder verurteilt werden. 19. Rückwirkungsverbot

Niemand kann für Handlungen oder Unterlassungen zur Rechenschaft gezogen werden, für die zum Zeitpunkt ihrer Begehung nach geltendem Recht keine Verantwortlichkeit bestand. 20. Petitionsrecht

Jeder hat das Recht, sich schriftlich mit Eingaben oder Beschwerden an die staatlichen Behörden zu wenden, die verpflichtet sind, darauf zu antworten. 21. Recht auf Achtung der Umwelt

Jeder hat das Recht auf Schutz und Erhaltung seiner natürlichen Umwelt.

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22. Grenzen

Die Achtung der in dieser Verfassung garantierten Rechte und Freiheiten darf nur durch ein Gesetz eingeschränkt werden, das ihren Wesensgehalt innerhalb der für die Erhaltung einer demokratischen Gesellschaft vertretbaren und erforderlichen Grenzen wahrt. 23. Schutzniveau

Keine Bestimmung dieser Verfassung darf als Beschränkung des durch das Recht der Union, das Recht der Mitgliedstaaten und das Völkerrecht gebotenen Schutzes ausgelegt werden. 24. Rechtsmißbrauch

Keine Bestimmung dieser Verfassung darf so ausgelegt werden, daß sich daraus irgendein Recht ergibt, eine Tätigkeit auszuüben oder eine Handlung vorzunehmen, welche auf die Einschränkung oder Abschaffung der in dieser Verfassung angeführten Rechte und Freiheiten abzielt.

Literaturverzei