DIE NEUE HEIMAT (1950–1982): Eine sozialdemokratische Utopie und ihre Bauten 9783955534776, 9783955534769

“Housing for all?“ The “New Home” was the largest and most important non-governmental housing group in post-war Europe

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German Pages 236 Year 2019

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Table of contents :
Inhalt
Vorwort
„Hohe Häuser, lange Schatten“. Die Bauten des Gewerkschaftsunternehmens Neue Heimat
Urbanität durch Dichte. Die Neue Heimat und ihr Leitbild
Die Neue Heimat und der Städtebau – und heute?
Die Wohnungsfrage
Eliten im Selbstgespräch. Die Rolle der Konzernzeitschrift „Neue Heimat Monatshefte“ in der deutschen Baudebatte nach 1950
„Spielplätze und sonstige Anpflanzungen“. Landschaft, Familie und Kindheit gestalten, 1955–1980
Von konventionell bis rationell. Zur Bautechnik der Neuen Heimat
Von der Ladenzeile zum Shoppingcenter. Eine Entwicklungsgeschichte
Krankenhäuser als hochorganisierte Gesundheitsmaschinen? – Die Mediplan, eine Tochtergesellschaft der Neuen Heimat
Die Neue Heimat entdecken
Veränderung verhandeln. Neue Heimat und danach
Fotoessay, 2018
TRADITION UND NEUBEGINN IN DER NACHKRIEGSZEIT. DER WIEDERAUFBAU VON WOHNSIEDLUNGEN
DAS ANTIMODELL ZUM WOHNEN IN DER STADT. VON DER GARTENSTADT ZUR „GEGLIEDERTEN UND AUFGELOCKERTEN STADT“
„WOHNUNGEN, WOHNUNGEN UND NOCHMALS WOHNUNGEN“. DIE PRODUKTION DER STADT IN SERIE – HOMOGENE STRUKTUREN, FUNKTIONSTRENNUNG UND NACHBARSCHAFTEN
„WENN SIE WOLLEN, KÖNNEN SIE BEI UNS EINE GANZE STADT BESTELLEN.“ DER TRAUM VOM URBANEN UND DIE AUTONOME GROSSSIEDLUNG FÜR DIE MASSE
ZURÜCK ZUR STADT! VON DER FLÄCHEN- ZUR ALTSTADTSANIERUNG
WEITER WOHNEN WIE GEWOHNT? VERSUCHSSIEDLUNGEN UND BÜRGERBETEILIGUNG
VON DER UNIVERSITÄT ÜBER KRANKENHÄUSER BIS ZU EINKAUFSZENTREN – „WIR MACHEN ALLES.“ NEUE HEIMAT KOMMUNAL UND NEUE HEIMAT STÄDTEBAU
ANHANG
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DIE NEUE HEIMAT (1950–1982): Eine sozialdemokratische Utopie und ihre Bauten
 9783955534776, 9783955534769

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DIE NEUE HEIMAT [1950–1982] E I N E S OZ I A L D E M O KR AT I S C H E U TO P I E U N D I H R E B AU T E N

Hg . A N D R E S L E P I K U N D H I L D E ST R O B L

DIE NEUE HEIMAT [ 1 9 5 0 –1 9 8 2 ] E I N E S OZ I A L D E M O K R AT I S C H E U TO P I E U N D I H R E B AU T E N

Werbeaufnahmen der Neuen Heimat Bayern in Neuperlach, Foto: Studio Reinhold + Hohloch

ANDRES LEPIK Vorwort 

6

H I L D E ST R O B L „Hohe Häuser, lange Schatten“. Die Bauten des Gewerkschaftsunternehmens Neue Heimat

8

OLIVER SCHWEDES Urbanität durch Dichte. Die Neue Heimat und ihr Leitbild

20

THOMAS SIEVERTS Die Neue Heimat und der Städtebau – und heute?

26

WA LT E R S I E B E L Die Wohnungsfrage

34

MICHAEL MÖNNINGER Eliten im Selbstgespräch. Die Rolle der Konzernzeitschrift „Neue Heimat Monatshefte“ in der deutschen Baudebatte nach 1950

SILKE LANGENBERG Von konventionell bis rationell. Zur Bautechnik der Neuen Heimat

56

VERA SIMONE BADER Von der Ladenzeile zum Shoppingcenter. Eine Entwicklungsgeschichte

66

F R A N Z L A B RYG A Krankenhäuser als hochorganisierte Gesundheitsmaschinen? – Die Mediplan, eine Tochtergesellschaft der Neuen Heimat

78

ANDREAS HILD UND ANDREAS MÜSSELER Die Neue Heimat entdecken

86

N O R B E R T K L I N G U N D M A X OT T Veränderung verhandeln. Neue Heimat und danach

94

40

S I N A B R Ü C K N E R -A M I N „Spielplätze und sonstige Anpflanzungen“. Landschaft, Familie und Kindheit gestalten, 1955–1980

48

M Y R Z I K U N D JA R I S C H Fotoessay, 2018

100

TRADITION UND NEUBEGINN IN DER N AC H K R I E G S Z E I T. D E R W I E D E R AU F B AU VO N WO H N S I E D L U N G E N

Z U R Ü C K Z U R STA DT ! VO N D E R F L ÄC H E N - Z U R A LT STA DT SA N I E R U N G Hamburg Alsterzentrum

184

Hamburg Barmbek-Nord

126

Fürth Gänsbergviertel

187

Hamburg Veddel

128

Hameln Altstadtsanierung

190

DA S A N T I M O D E L L Z U M WO H N E N I N D E R STA DT. VO N D E R G A R T E N STA DT Z U R „G E G L I E D E R T E N U N D AU F G E L O C K E R T E N STA DT “ Hamburg Gartenstadt Hohnerkamp

132

Karlsruhe Dörfle

193

W E I T E R WO H N E N W I E G E WO H N T ? V E R S U C H S ­ SIEDLUNGEN UND BÜRGERBETEILIGUNG

München Parkstadt Bogenhausen

Heidelberg Emmertsgrund

Kassel Gartenstadt Auefeld

Hamburg Mümmelmannsberg

134

198

137

202

Bremen Neue Vahr

Kassel documenta urbana

140

206

Hamburg Neu-Altona

144

München Am Hasenbergl

148

VO N D E R U N I V E R S I TÄT Ü B E R K R A N K E N H ÄU S E R B I S Z U E I N K AU F S Z E N T R E N – „W I R M AC H E N A L L E S . “ N E U E H E I M AT KO M M U N A L U N D N E U E H E I M AT STÄ DT E B AU

„WO H N U N G E N , WO H N U N G E N U N D N O C H M A L S WO H N U N G E N “ . D I E P R O D U K T I O N D E R STA DT I N S E R I E – H O M O G E N E ST R U K T U R E N , F U N K T I O N S T R E N N U N G U N D N AC H B A R S C H A F T E N

Frankfurt Nordwestzentrum

212

Hamburg Congress Centrum (CCH) mit Hotel Loews Plaza

215

Nürnberg-Langwasser Nachbarschaft U

152

Laatzen Leine-Einkaufszentrum

218

Walldorf Neutra-Siedlung

155

Berlin Internationales Congress Centrum

221

Kiel Mettenhof

157

Berlin Kreuzberg Klinikum Am Urban

224

Darmstadt Kranichstein

161

Aachen Universitätsklinikum

227

Stuttgart Fasanenhof  –   Fasan I

164

Kassel Aufbau- und Verfügungszentrum

231

„W E N N S I E WO L L E N , KÖ N N E N S I E B E I U N S E I N E G A N Z E STA DT B E ST E L L E N . “ D E R T R AU M VO M U R B A N E N U N D D I E AU TO N O M E GROSSSIEDLUNG FÜR DIE MASSE ANHANG Lübeck Buntekuh

168

Frankfurt Nordweststadt

KURZBIOGRAFIEN DER A U TO R I N N E N U N D A U TO R E N

171

234

174

235

177

236

Mannheim Vogelstang München Neuperlach

DA N K IMPRESSUM

Andres Lepik

München Neuperlach, Eröffnung des Informationspavillons mit Hans-J. Vogel, Foto: Pablo Johannes, 1969

VO R WO R T

E

S I S T H Ö C H S T E Z E I T, die Geschichte der Neuen Heimat einmal genau zu betrachten. Dafür gibt es mindestens drei wichtige Gründe. Erstens: 37 Jahre nach dem Neue-Heimat-Skandal, der schließlich zum Untergang des Gewerkschaftsunternehmens führte, wird gegenwärtig in Deutschland der Ruf nach bezahlbarem Wohnraum immer lauter, und es ist offensichtlich, dass es den Städten und Kommunen für die rasche Umsetzung dieser Forderung an einem vergleichbaren Instrument fehlt, wie es die Neue Heimat für die Zeit ihres Bestehens war. Als größtes und mächtigstes gemeinnütziges Wohnungsbauunternehmen widmete sie sich in der Nachkriegszeit der Entwicklung von Sozialwohnungen – im Durchschnitt über 90 Prozent des gesamten Wohnungsbestands der Neuen Heimat – und bezahlbarem Wohnraum in ganz Westdeutschland, und sie genoss über die längste Zeit ihres Bestehens bundesweit das Vertrauen der politischen Vertreter sowie der Regionalpolitik – quer durch die Parteien. Ihr Scheitern hat nach 1986 eine Lücke hinterlassen, deren Konsequenzen aktuell immer deutlicher werden. Ein zweiter Grund für eine Beschäftigung mit der Geschichte des Wohnungsbauunternehmens ist, dass die Leistungen und Erfolge der Neuen Heimat über lange Zeit von dem Skandal ihres Untergangs überschattet wurden, während die Erinnerung an die positiven Seiten für die gegenwärtige Generation von Architekten, Politikern und Planern deswegen nahezu ­verloren schien. Dabei können viele der Akteure, das heißt Zeitzeugen, Politiker und ­Architekten, noch aktiv zu einer Aufarbeitung beitragen. Es ist wichtig, das vorhandene Wissen – aber auch das noch vorhandene Material – zu schürfen und öffentlich zu machen. Denn aus den positiven Erfahrungen lassen sich ganz sicher auch Erkenntnisse für die Gegenwart ableiten. Und der dritte, nicht weniger wichtige Grund ist der Umstand, dass der überwiegende Teil des Wohnungsbestands, den die Neue Heimat entwickelt hat – circa 460.000 Wohneinheiten – noch immer steht, bewohnt wird und einen Teil unserer Städte prägt. Somit stellt sich die drängende Frage, wie dieser Bestand sinnvoll weiter genutzt, saniert, umgebaut oder gar weiterentwickelt werden kann.

6

Als Architekturmuseum der TUM können wir die jahrzehntelange Geschichte der Neuen Heimat selbstredend nicht mit allen politischen, ökonomischen, zeitgeschichtlichen sowie sozialen Aspekten und Hintergründen aufarbeiten. Was wir mit unserer Ausstellung und dem vorliegenden Katalog aber erreichen wollen, ist, eine neue Aufmerksamkeit für die Leistungen aber auch Fehlentwicklungen der Neuen Heimat zu schaffen. Warum tun wir das? Wir haben seit 2013 zahlreiche Ausstellungen der sozialen Dimension von Architektur gewidmet und dazu gehörte immer auch die Frage nach der Geschichte, Gegenwart und Zukunft des Wohnens. So haben wir die Anregung von Christiane Thalgott gerne aufgegriffen, die uns schon vor einigen Jahren auf die Neue Heimat als mögliches Ausstellungsthema aufmerksam machte und dabei auch auf die besondere Bedeutung von Neuperlach in München verwies, die größte „Entlastungsstadt“ für geplant 80.000 Bewohner, welche die Neue Heimat je entwickelt hat. Hinzu kam, dass wir von Beginn der Forschungen an mit Ullrich Schwarz vom Hamburgischen Architekturarchiv zusammengearbeitet haben –  ein Wunschpartner für dieses Projekt, denn in diesem Archiv der Hamburgischen Architektenkammer liegt ein großer Teil des Materials, das nach der Abwicklung der Neuen Heimat in Hamburg im Jahr 1991 gerade noch gerettet werden konnte. Somit war es auch von Anfang an die gemeinsame Absicht, die Ausstellung nach ihrer ersten Station in München auch in Hamburg zu zeigen. Dies gelang mit der Zusage von Hans-Jörg Czech vom Museum für Hamburgische Geschichte, und so freuen wir uns sehr, dass sie damit ebenfalls am Ursprungsort der Neuen Heimat präsentiert werden kann. Denn der Wohnungsbaukonzern hatte seinen Siegeszug 1950 in Hamburg begonnen und sich dann über die ganze Bundesrepublik verbreitet. Auch das Ende der Neuen Heimat ging wiederum von Hamburg aus, denn es war das Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“, der die am Ende korrupten Strukturen an die Öffentlichkeit und damit zu Fall brachte. Die Ausstellung schöpft neben dem Archiv der Hamburgischen Architektenkammer auch aus einer Vielzahl an Originalplänen, Fotos und Modellen aus dem Archiv des Architekturmuseums der TUM – dazu zählt beispielsweise ein riesiges Präsentationsmodell von Neuperlach aus dem Informationspavillon vor Ort – sowie aus dem Bestand der Neuen Heimat Bayern, den die WSB Bayern in München aufbewahrt. Zudem werden zahlreiche Originalmaterialien aus städtischen Archiven und Privatbeständen einen Einblick in die Planungsschritte und Dimensionen der Bautätigkeit der Neuen Heimat ermöglichen. Wir sind allen Leihgebern und der großen Zahl an Zeitzeugen, die uns nicht nur für Interviews zur Verfügung standen, sondern uns mit Wissen aus erster Hand berieten, für ihre wertvolle Unterstützung sehr dankbar. Trotz der Vielfalt an neu und wiederentdeckten Dokumenten ist uns bewusst, dass wir mit der Neubetrachtung der Neuen Heimat nicht die Ersten und nicht die Einzigen sind. Schon 2008 hatte sich Peter Kramper in einer detaillierten Untersuchung der Wirtschaftsgeschichte der Neuen Heimat gewidmet und damit die zentrale Basis für weitere Forschung geschaffen. Und jüngst hat Michael Mönninger die Monatshefte der Neuen Heimat in einer breit angelegten Studie analysiert. Andreas Hild und Andreas Müsseler haben vor Kurzem die Siedlung Neuperlach in einer großen Publikation gewürdigt und hier auf die möglichen Potenziale der Weiterentwicklung verwiesen. Aber an die Darstellung der Geschichte der Neuen Heimat und ihrer prägenden Bauten in einer Gesamtperspektive als Ausstellung hat sich bislang keiner gewagt. Wir denken, dass dies wichtig ist, um die aktuelle Relevanz der Neuen Heimat einer breiten Öffentlichkeit vorzustellen und damit die laufende Debatte um den Wohnungsnotstand in Deutschland mit einigen Argumenten aus der Geschichte anzureichern.

7

Hilde Strobl

Neue Vahr, Bremen, Foto: Franz Scheper

„ H O H E H ÄU S E R , L A N G E S C H AT T E N “ D I E B A U T E N D E S G E W E R KS C H A F T S U N T E R N E H M E N S N E U E H E I M AT 8

G

E G E N WÄ R T I G ist es still geworden um die Neue Heimat, das Gewerkschaftsunternehmen, das noch lange nach dem Neue-Heimat-Skandal 1982 in den Medien und der öffentlichen Diskussion präsent war. Es war ein Schock für die bundesdeutsche Bevölkerung, dass Mitglieder des Vorstands jenes Unternehmens, das im Zeichen gemeinnützigen Handelns bürgerschaftliche und politische Unterstützung fand, Millionenbeträge durch Nebengeschäfte über Strohmänner in die eigenen Taschen hatten fließen lassen. Die anschließende Aufdeckung des finanziellen Bankrotts der Neuen Heimat und die daraus resultierende Zerschlagung des Konzerns versetzten Hunderttausende Mieter in Angst um die Zukunft der eigenen Wohnung. Heute ist nur noch wenigen bekannt, wie weitreichend die Bauaufgaben des europaweit größten nichtstaatlichen Wohnbaukonzerns waren. Zwischen 1950 und 1982 hingegen gab es kaum jemanden in der Bundesrepublik, der nicht in der einen oder anderen Weise mit der Neuen Heimat in Berührung kam. Insgesamt realisierte das Unternehmen in der Bundesrepublik in diesem Zeitraum über 460.000 Wohnungen, die meisten davon als Mietwohnungen, aber auch Eigenheime als Reihen- und Fertighäuser.1 Und wer nicht bei der Neuen Heimat wohnte, besuchte einen von ihr entwickelten Kindergarten, eine Schule, ein Schwimmbad, eine Universität oder ein Krankenhaus – oder kaufte in einem Einkaufszentrum der Neuen Heimat ein. Durch die Gründung der Tochtergesellschaft Neue Heimat Kommunal (ab 1964), die sich auf den Bau öffentlicher Einrichtungen konzentrierte, und des erwerbswirtschaftlich orientierten Konzerns Neue Heimat Städtebau (ab 1969) baute das Unternehmen seinen Wirkungskreis durch die Ausweitung seiner Bauaufgaben aus. Realisiert wurden deutschlandweit über 570 öffentliche und über 100 gewerbliche Bauten. Allein durch das Bauvolumen stellte der Konzern einen wichtigen wirtschaftlichen Faktor im Baugewerbe und auf dem Arbeitsmarkt dar: „Jeder zwölfte Bauarbeiter ist für die Neue Heimat beschäftigt“, heißt es 1968 in einem Werbefilm über die Aufbauleistungen des Unternehmens. 2

„WO H N U N G E N , WO H N U N G E N U N D N O C H M A L S WO H N U N G E N “ Ausstellung und Katalog fokussieren auf die Neugründung der Neuen Heimat nach dem Zweiten Weltkrieg als Gewerkschaftsunternehmen – auch wenn der gewerkschaftliche Wohnungsbau in Deutschland an eine bis in die Weimarer Republik zurückreichende Tradition anknüpft.3 Zur Bekämpfung des großen Ausmaßes der Wohnungsnot der Zwischenkriegszeit war auf Initiative der freien Gewerkschaften Hamburgs, des Sozialdemokratischen Vereins Hamburg und weiterer Verbände 1926 die Gemeinnützige Kleinwohnungsbaugesellschaft Groß-Hamburg gegründet worden. Sie errichtete Kleinwohnungen für minderbemittelte Bevölkerungsschichten und in erster Linie für Arbeiterfamilien. Im Zuge der „Machtergreifung“ durch die Nationalsozialisten 1933 gleichgeschaltet und der Deutschen Arbeitsfront übereignet, wurde die Gesellschaft mit einem Bestand von 4.200 Wohnungen im Jahr 1939 in „Neue Heimat, gemeinnützige Wohnungs- und Siedlungsbaugesellschaft der Deutschen Arbeitsfront im Gau Hamburg, G.m.b.H“ umbenannt. Über die Hälfte der Wohnungen wurden 1943 durch Bombenangriffe zerstört. 4 Nach dem Zweiten Weltkrieg beschlagnahmten die Besatzungsmächte den Bestand der Neuen Heimat und übergaben sie 1950 – unter der Vermögenskontrolle der Alliierten – dem neu gegründeten Deutschen Gewerkschaftsbund. Die Unternehmensgruppe Neue Heimat entstand schließlich bis 1954 aus der Zusammenführung vieler einzelner Hamburger Wohnungsbaugesellschaften aus der Zeit der Weimarer Republik.5 Unter der Geschäftsführung von Heinrich Plett konzentrierte

9

sich das Wohnungsunternehmen Neue Heimat Hamburg zunächst auf den Wiederaufbau ihrer Bestandssiedlungen aus den 1920er-Jahren, wie Barmbek-Nord und das Hafenarbeiter­quartier Veddel. Die intensive Bautätigkeit der Neuen Heimat begann mit der Verabschiedung des Ersten Wohnungsbaugesetzes 1950 zur Förderung des sozialen Wohnungsbaus – 1,8 Millionen Sozialwohnungen sollten in einem Zeitraum von 6 Jahren in der Bundesrepublik entstehen und dem 1950 auf insgesamt 6,3 Millionen bezifferten Wohnungsfehlbestand entgegenwirken. 6 Die Wohnungsnot der Nachkriegszeit knüpfte an die noch nicht gelöste Wohnungsfrage der Weimarer Republik an. Über 20 Prozent der Wohnungen waren zudem zerstört, während zugleich die Bevölkerungszahlen mit den Kriegsheimkehrern und Flüchtlingsströmen stiegen.7 In einer Publikation zum 50-jährigen Bestehen der Neuen Heimat wird die Devise der ersten Jahre des Unternehmens klar formuliert: „Vor dem ungeheuren Ausmaß der Zerstörungen und der Wohnungsnot in Hamburg ergab sich für die Neue Heimat die Aufgabe, mit allen Mitteln und Möglichkeiten ‚Wohnungen, Wohnungen und nochmals Wohnungen‘ zu bauen.“8 In Hamburg wurden von der Neuen Heimat bis 1952 2.500 Wohnungen in geschlossenen Wohnanlagen auf Trümmerflächen und neu erschlossenen Baugebieten errichtet. 9 Plett organisierte das der Gemeinnützigkeit verpflichtete Unternehmen, das dadurch steuerbefreit wirkte, nach privatwirtschaftlichen Managementmethoden mit der Unterstützung durch Fördermittel, den Kapitalmarkt und der Industrie. 10 Aufgrund der 1959 bereits 100.000 geschaffenen Wohnungen wird Plett – im „Spiegel“ als „Gewerkschafts-Baulöwe“ bezeichnet – mit dem Schlagzeilen machenden Zitat wiedergegeben: „Wir bauen unsere Häuser mit anderer Leute Geld, und wenn wir es vom Teufel holen.“ 11 Die Medien, gezielt und werbewirksam gelenkt, unterstützten zunächst die Bekanntheit und positive Resonanz – genauso wie sie später den Neue-Heimat-Skandal einleiteten und den Niedergang begleiteten. 12

ENTWICKLUNG ZUM Ü B E R R E G I O N A L E N G R O S S KO N Z E R N Wenn der Stadtplaner Rudolf Hillebrecht 1948 die Wohnung als „Schlüssel zu unserer Zukunft“ bezeichnete, 13 verwies er damit auf das übergeordnete Ziel der Wohnraumschaffung: Das ab 1919 in der Weimarer Reichsverfassung verankerte Recht auf Wohnen war – in Abgrenzung zur Zeit des Nationalsozialismus – Ausweis einer sozialen Wohnungspolitik und damit ein wichtiges Element des Demokratisierungsprozesses der Nachkriegszeit. Die Neue Heimat und die Gewerkschaften standen zu Beginn weder aufgrund ihrer Monopolbildung im Sozialwohnungsbau – zwischen 1952 und 1960 entstanden jährlich 10.000 bis 20.000 Wohnungen 14 – noch durch die Bauergebnisse in der Kritik. Mit den ersten Großsiedlungen, die der Tradition der Gartenstädte der 1920er- und 1930er-Jahre folgten, legten sie einen städtebaulichen Kurs vor, der breite Zustimmung fand. Mit Hans Bernhard Reichow, dem Verfasser der Publikation „Organische Stadtbaukunst. Von der Großstadt zur Stadtlandschaft“ (1948), engagierte die Neue Heimat für die Hamburger Gartenstädte Hohnerkamp und Farmsen einen Vertreter des Siedlungsbaus in „Stadtlandschaften“, die sich durch großzügige Grünflächen, terrassierte Abstufungen der Gebäudehöhen und eine „organische“, von Hauptverkehrswegen abgeleitete, sich verästelnde Wegführung auszeichneten. Ein Ansatz, der in sich in der „gegliederten und aufgelockerten Stadt“ (1957) fortsetzte, 15 die in Funktionsbereiche und Nachbarschaften organisiert war. Zum Hauptvertreter dieser städtebaulichen Ausrichtung für die Siedlungen der Neuen Heimat zählt Ernst May, der von 1954 bis 1956 Leiter der Planungsabteilung war. May, der den Strukturplan für Neu-Altona in Hamburg und die Neue Vahr in Bremen entwickelte

10

und auch für den Bau der Verwaltungszentrale der Neuen Heimat Hamburg in der Lübecker Straße verantwortlich war, 16 gehörte zum Kreis der renommierten Architekten, deren unmittelbare Mitarbeit das Unternehmen suchte. Auch Victor Gruen, Richard Neutra und Alvar Aalto erhielten Aufträge von der Neuen Heimat. Aaltos Wohnhochhaus in der Neuen Vahr Bremen stellte nicht nur ein Markenzeichen des zur Entstehungszeit größten Siedlungsprojekts des Unternehmens dar, sondern war ein richtungsweisendes Signal für die Ausweitung des Siedlungsbaus sowohl in Höhe, in Dimensionen als auch regional. Ab 1953 weitete die Neue Heimat ihren Wirkungsbereich durch die Eingliederung gemeinnütziger Stadtbaugesellschaften auf weitere Städte respektive Bundesländer aus. Bald gehörten zum stetig wachsenden Großkonzern 27 gemeinnützige Wohnungs- und Siedlungsgesellschaften, darunter Neue Heimat Bremen, Neue Heimat Schleswig Holstein (Kiel), Essen, Berlin sowie Neue Heimat Nordrhein-Westfalen (Köln, Essen, Düsseldorf) im Jahr 1954, ein Jahr später Neue Heimat Bayern (München) und Schwaben (Augsburg), im Jahr 1956 Neue Heimat Baden Württemberg (Stuttgart) und ab 1960 Neue Heimat Südwest (Frankfurt). 17

STÄ DT E B AU A L S „ D I E N ST A M F O R T S C H R I T T “ Wurde das Gewerkschaftsunternehmen als Hauptverwaltung der Neuen Heimat in Hamburg Lösungsmodell der Wohnungsfrage nach von Ernst May, 1955/56 dem Zweiten Weltkrieg propagiert, erlebte der weitgehend gesättigte Wohnungsmarkt und der durch die Ölkrise 1973/74 geschwächte Bausektor parallel mit dem Niedergang der Neuen Heimat in den 1980er-Jahren einen herben Tiefschlag. 18 Die Kritik an der in den 30 Jahren zuvor  – nicht nur von der Neuen Heimat, sondern bundesweit  – entstandenen Architektur mag ein weiterer Grund für die bislang ausstehende Beschäftigung mit den Bauten der Neuen Heimat sein. Die Großsiedlungen, die zumeist an fehlender Infrastruktur, mangelndem städtischem Angebot und medial verbreiteten wie auch belegten sozialen Problemen gemessen werden, sind ebenso mit einem Negativimage belegt wie strukturalistische, in Systembau

11

Überwindung der Wohnsituation in kriegszerstörten Städten – das Versprechen der Neuen Heimat, Hamburg, 1950er-Jahre, Foto: Herbert Dombrowski

geschaffene Universitäts-, Krankenhaus- und Verwaltungsbauten oder über­d imensionierte Großprojekte wie das Congress Centrum Hamburg oder das ICC in Berlin. Dass mittlerweile einzelne Bauten der Neuen Heimat wie die Neutra-Siedlung in Walldorf (1986), das AaltoHochhaus (1998), die Gartenstadt Farmsen (2003) und das Universitätskrankenhaus Aachen (2008) unter Denkmalschutz stehen, belegt den gegenwärtigen Perspektivwechsel durch den zeitlichen Abstand. Für weitere Bauten, wie das ICC Berlin, wird die Unterschutzstellung diskutiert. Und jüngste Studien zur Neuen Vahr in Bremen und München Neuperlach arbeiteten durch eine Neudefinition der Großsiedlungen Chancen für eine Weiterentwicklung des Bestands heraus. 19 Die eigentliche Kritik an den Bauten aus der Hochphase der Neuen Heimat zwischen der Mitte der 1960er- bis zum Ende der 1970er-Jahre entzündete sich an der Bauweise und den sichtbaren Folgen einer Industrialisierung der Bauproduktion, da mit den wachsenden Möglichkeiten des industriellen Bauens zugleich die Maßstäblichkeit der Bauvolumen wuchs. Die Dimensionen wiederum bedingten Aspekte der Wirtschaftlichkeit gleichwie ästhetische Parameter in Abhängigkeit von Material und Technik. Durch die Normierung von Baufertigteilen, die Rationalisierung der Baukonstruktion und Montagetechniken war die Neue Heimat in der Lage, schnell und vergleichsweise kostengünstig Wohnanlagen realisieren. Vorfertigung, Montageverfahren und mechanisierte Serienproduktion führten zu kürzeren Produktionszeiten und damit zu finanzieller Ersparnis; darüber hinaus ermöglichten sie eine Beschäftigung der Arbeiter im Winter – was wiederum den gewerkschaftlichen Zielen entgegenkam. Die Produktionsstrategie der Großsiedlungen war an die Vision eines gesellschaftsprägenden Einflusses des Städtebaus geknüpft, an

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die Vorstellung einer Planbarkeit sozialer Strukturen im Großsiedlungsbau mit kommunikativen Angeboten und infrastruktureller Versorgung.20 „Städtebau hat praktische Politik zu sein“, so Albert Vietor, der Stadtentwicklung als „Dienst am Fortschritt“ bezeichnete; und weiter: „Sie ist, so hoffen wir, Weg zu einer besseren und schöneren Welt.“ 21 Mitte der 1960er-Jahre war das Unternehmen auf dem Höhepunkt der Macht und zugleich der Modernisierung des Bauwesens. Diese verstand das Gewerkschaftsunternehmen analog zu einer wirtschaftspolitischen und gesellschaftlichen Modernisierung – und knüpfte damit an die Ziele der ihr nahestehenden Sozialdemokraten an. In zahlreichen Filmen zu Werbezwecken und in der ab 1954 erscheinenden unternehmenseigenen Zeitschrift „Neue Heimat Monatshefte für neuzeitlichen Wohnungsbau“ wurde für ein besseres Leben geworben und eine neues Zuhause gepriesen. Denn das verhieß Wachstum der Familien, Wohnen im Grünen trotz großer Wohnanlagen, modernes Design, technischen Komfort und Fortschritt – auch als Sozialwohnung. Unter retardierender Nennung von enormen Zahlen an fehlendem Wohnraum, die weiterhin in die Millionen gingen, wurde ein modernes Leben als Gegenbild zum Wohnen in den noch bis in die 1960er-Jahre von den Kriegserschütterungen geprägten Altstädten, Notwohnungen und Nissenhütten regelrecht beworben. 22 In der Argumentation der Neuen Heimat waren die „WohnFords“ (Walter Prigge) des sozialen Wohnungsbaus 23 – zweckmäßige, einer breiten Bevölkerung zugängliche, standardisierte Wohnungen – die Konsequenz aus sozialpolitischen wie städtebaulichen Leitbildern. Und sie folgten der Vorstellung eines modernen Lebens mit zeitgemäß komfortablen Ausstattungen: von der Neue-Heimat-Kücheneinrichtung von Ingeborg Spengelin24 bis zur Heizung, vom Autowaschplatz bis zu zentralen Müllentsorgung.

N E U E H E I M AT I N T E R N AT I O N A L A L S B AU B OT S C H A F T E R D E U T S C H L A N D S Die Tochtergesellschaft Neue Heimat International (NHI) wurde 1962 gegründet und zeigt sich aus heutiger Perspektive als Ergebnis des unbedingten Expansionswillens ebenso wie eines selbstbewussten Sendungsbewusstseins gegenüber der nun etablierten Marke „Neue Heimat“.25 Während sich das gemeinnützige Unternehmen, so die öffentliche Meinung, auf nationale Bauaufgaben und die Behebung des bestehenden Wohnungsmangels konzentrieren sollte, sah Vietor in der Erschließung neuer Märkte keinen Widerspruch: „Während in Deutschland die Baukapazität für den Wohnungsbau voll ausgelastet ist, gibt es auf dem Kapitalmarkt noch genügend Gelder für den Wohnungsbau. So ist es natürlich, wenn wir Kapital für den Bau von Wohnungen ins Ausland exportieren – im Übrigen eine einzigartige Möglichkeit, um der Bundesrepublik Sympathien zu verschaffen!“26 Schon Jahre zuvor hatte sein Vorgänger Heinrich Plett öffentlich wirtschaftliche Argumente für eine globale Ausrichtung benannt. 27 Zudem wurden seitens der Befürworter Aspekte der internationalen Solidarität und des zu erwartenden Engagements der Gewerkschaften in der bundesdeutschen Entwicklungshilfe aufgeführt – dies mit Fokus auf günstigen Wohnungsbau und moderne Montagetechniken. 28 Ein Austausch mit dem Wohnungsbauminister von Ceylon (heute Sri Lanka) – ein Besuch der Neuen Vahr seinerseits und ein Aufenthalt von Vorständen der Neuen Heimat in der Hauptstadt Colombo andererseits – sollte zum Bau einer ceylonesischen Großsiedlung vergleichbar mit der Neuen Vahr führen. 29 Im Rahmen der Gemeinnützigkeit war der Neuen Heimat zwar keine Auslandstätigkeit erlaubt, doch mit Zustimmung

13

des Deutschen Gewerkschaftsbundes konnte eine Ausnahmebewilligung erwirkt werden. Das Projekt in Ceylon scheiterte allerdings noch während der Planungsphase. 30 Seinen wichtigsten Partner fand die neu gegründete Tochter NHI allerdings weniger in der Entwicklungs­ hilfe als vielmehr beim europäischen Nachbarn Frankreich. Als Beteiligte an der Gesellschaft SOCOFA (Société de Construcion Franco-Allemande) und später an MANERA S.  A., 31 die sich beide dem Sozialwohnungsbau widmeten, 32 wurden neben zahlreichen weiteren Siedlungsbauten die als Lagunenstadt entwickelte Wohn- und Ferienanlage Port Grimaud sowie eine Wohnanlage im Pariser Vorort Port Marly umgesetzt. 33 Nach Karl H. Hoffmann konnten in Frankreich bis 1974 rund 12.000 Wohnungen unter der Federführung der NHI gebaut werden. 34 Weitere Projekte wurden zusammen mit Partnergesellschaften in den jeweiligen Ländern in Italien, Israel, Venezuela, Malaysia oder Mexiko realisiert, darunter neben Wohnungen auch Ferienanlagen, Bürohäuser sowie Hotelkomplexe und Kongresszentren wie das berühmte Kongresszentrum in Monaco (Centre de Congrès Auditorium de Monte Carlo). In den neu gegründeten afrikanischen Staaten wie Ghana oder Tansania widmete sich die NHI erneut Entwicklungshilfeprojekten 35 – mit unterschiedlichem Erfolg: In Teshie-Nungua (Ghana) setzte sie zum Beispiel eine Siedlung für Landarbeiter mit an die klimatischen Bedingungen angepassten Haustypen um. 36 Insgesamt scheiterte die NHI aufgrund verschiedener Faktoren in den Entwicklungsländern: mangelnde finanzielle Unterstützung, Fehleinschätzungen der örtlichen Situation und Schwierigkeiten in der Umsetzung, aber auch die ausbleibende Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit führten Mitte der 1970er-Jahre zum Ende der Initiative. Doch auch im Hinblick auf ihre Bautätigkeit in Europa und einzelnen Schwellenländern stand die Wirtschaftlichkeit der NHI in keinem Verhältnis zu Einsatz und Aufwand und blieb ein reines Zuschussgeschäft. Die NHI, die der Neuen Heimat auf längere Sicht einen erweiterten Wohnbaumarkt sichern sollte, wenn dieser in der Bundesrepublik stagnieren würde, trug dagegen einen ganz wesentlichen Anteil an der Milliardenpleite der Unternehmensgruppe. Als die enormen Verluste längst sichtbar waren, wurden in den 1970er-Jahren in der Hoffnung auf Wertsteigerung weiterhin Grundstücke für 1,7 Milliarden DM in Mexiko, Venezuela und Brasilien gekauft, die sich letztlich nicht verkaufen ließen.37

„ H O H E H ÄU S E R , L A N G E S C H AT T E N “ : PA R T I Z I PAT I O N A L S M A S S N A H M E G E G E N Z U N E H M E N D E K R I T I K Die Großsiedlungen der Neuen Heimat wie Lübeck Buntekuh, Kiel Mettenhof, Mannheim Vogelstang und München Neuperlach wurden in den späten 1960er-Jahren als eigenständige Trabanten- und Entlastungsstädte außerhalb der Stadtzentren entwickelt. Der Fokus veränderte sich explizit vom Wohnen hin zum Städtebau, und so wurde auch der Titel der unternehmenseigenen Zeitschrift ab der ersten Ausgabe des Jahres 1968 umbenannt in „Monatshefte für neuzeitlichen Wohnungs- und Städtebau“. Großprojekte wie „Hannibal“ in Stuttgart Asemwald oder „Großer Kurfürst“ in Bremen sind dem Größenwahn der Neuen Heimat zuzuschreiben, denn quantitativ war der Wohnungsmangel zu diesem Zeitpunkt behoben. Zugleich wuchs die Kritik an mangelnder Lebensqualität durch Unterversorgung an öffentlichen Einrichtungen und infrastrukturellen Angeboten. Christian Farenholtz, Leiter der GEWOS (Gesellschaft für Wohnungs- und Siedlungswesen), forderte daher eine Entwicklung der Siedlungen als strukturelle Gesamteinheit, anstatt reine „Schlafstädte“ mit wenig Urbanität zu erzeugen. 38 Hinzu kamen große soziale Probleme aufgrund einer stark homogenen Gesellschaftsstruktur, die auf den hohen Grad an Sozialbindungen

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der Wohnungen zurückzuführen war. Als Gegenmaßnahme forderten protestierende Bürger, Stadttheoretiker und Soziologen eine aktive Wohnungspolitik nach sozialen Aspekten. Ausgelöst durch Jane Jacobs’ „Tod und Leben großer amerikanischer Städte“ (1963) wurde auch in Deutschland eine Debatte um die Gesellschaftsprägung durch Architektur sowie die Bildung einer städtischen „Gesellschaft durch Dichte“ geführt. 39 „Wie kann in dieser sich ständig steigernden Maßstabsvergrößerung der Verkehrsbahnen, der Produktions- und Wohnstätten der immer gleich bleibende Maßstab von Tisch und Bett seine Gestaltung behalten?“, so Jacob Berend Bakema. Und weiter: Identifikation bilde sich durch ein Beteiligt-Fühlen aus.40 Die Neue Heimat reagierte auf den öffentlichen Kurswechsel und bezog zum einen den Sozialpsychologen Alexander Mitscherlich, Autor der programmatischen Schrift „Die Unwirtlichkeit unserer Städte. Anstiftung zum Unfrieden“ (1965), von Beginn an in die Planungen für die Großsiedlung Heidelberg Emmertsgrund mit ein.41 Auch für die Entwicklung Neuper­ lachs wurde er als Berater hinzugezogen. Zum anderen wurden in Hamburg Mümmelmannsberg erste partizipative Ansätze in Parkstadt Bogenhausen, Karikatur von Ernst Hürlimann der Mitgestaltung durch die Bewohner erprobt, die die Grundrisse von Wohnungen selbst entwerfen respektive bestimmen konnten. Die Neue Heimat hatte im Rahmen des von der Zeitschrift „Stern“ ausgeschriebenen Wettbewerbs ELEMENTA 72 ein spezielles Montagebausystem entwickelt, das in Mümmelmannsberg in rund 100 Sozialwohnungen zum Einsatz kam und den Mietern in bedingtem Umfang eine individuelle Gestaltung der Grundrisse ermöglichte. 42 Zur Aufwertung des Images wurde darüber hinaus ein werbewirksamer Bürgerwettbewerb lanciert, der 1974 vom „Hamburger Abendblatt“ unter dem Motto „So wollen wir wohnen“ veröffentlicht wurde: Unter 6.000 Einreichungen für eine Zweier-Wohngemeinschaft mit Gemeinschaftsraum in Mümmelmannsberg wurde der Entwurf von Sabine Hemprich ausgewählt, die einen Achteck-Wohnungsgrundriss mit 66 Quadratmetern Wohnfläche entwickelt hatte. Dieser wurde achtmal gebaut, und Albert Vietor begrüßte, dass die „Verbraucher von Wohnungen zu Wort gekommen“ seien. 43 In Relation zum Ausmaß der sozialen Brennpunkte in Mümmelmannsberg erschienen die ergriffenen Maßnahmen jedoch unverhältnismäßig und geradezu marginal: Ein Werkbericht der Neuen Heimat schildert Übergriffe von Jugendlichen auf Nachbarn, mutwillige Zerstörungen von Spielplätzen, Einbrüche, Brände und Lärmbelästigungen.44 Auch über die Situation in Mannheim

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Vogelstang veröffentlichte die Neue Heimat eine in Auftrag gegebene Sozialstudie, in der die fehlende Kommunikationsstrukturen der Bewohner untereinander beklagt wurde.45 Erst vehemente Bürgerproteste führten in Darmstadt Kranichstein zur Bildung einer Interessensvertretung der Bewohner in Form von „Anwaltsplanern“. 46 Die Neue Heimat dokumentierte diese in dem Filmbeitrag „Hohe Häuser, lange Schatten“ 47 und bestärkte darin ihren initiativen Gestaltungswillen der Mieterbeteiligung und -betreuung. Maßnahmen wie der Einsatz von Sozialarbeitern, die Bildung von Gemeinschaftseinrichtungen und Bürgerzeitungen als Kommunikationsmedium oder die Wahl von Mieterbeiräten, welche Vorschläge zur besseren Ausgestaltung der Stadtteile beitragen sollten, wurden aufgrund einer stärkeren Ausdifferenzierung der Gesellschaft bei sinkender Wohnungsnachfrage geradezu notwendig. Sie vermochten der öffentlichen Kritik und dem Imageverlust der Großsiedlungen –  und auch der Neuen Heimat – jedoch wenig entgegenzusetzen.

Z U R Ü C K Z U R STA DT. SA N I E R U N G S F R AG E Die zeitgleich gewaltige Expansion des Unternehmens durch die Gründung der Neuen Heimat Städtebau (1969) und die damit erschlossenen verschiedensten Funktions- und Leistungsbereiche des kommerziellen Städtebaus eröffneten der Neuen Heimat einen weiten Markt. Und zwar nicht nur hinsichtlich einzelner Großprojekte wie Kongresszentren und Kliniken, sondern vor allem im Bezug auf die öffentlichen und gewerblichen Bauten der eigenen neuen Städte. Die Neue Heimat als Planungs- und Ausführungseinheit lieferte alles aus einer Hand: „Wenn Sie wollen, können Sie bei mir eine ganze Stadt bestellen. Wir machen alles“,48 so Albert Vietor 1970. Mitten in die Debatte nach dem Urbanitätsanspruch der Großsiedlungen in der Peripherie der Städte platzierte die Neue Heimat eine spektakuläre Vision: die großflächige Überbauung des Hamburger Viertels St. Georg, inmitten der historischen Stadt. Hier sollte ein Alsterzentrum auf über 19 Hektar Fläche samt Wohnhochhäusern mit 63 Stockwerken und 6.000 Wohnungen und über 400.000 Quadratmetern Gewerbeflächen entstehen. Das durchaus auch auf Zuspruch stoßende Projekt scheiterte unter anderem am Widerstand der Grundeigentümer. Die allgemeine Forderung der Neuen Heimat nach einer Boden- und Sanierungsreform, die derartige Großprojekte und die notwendige Flächensanierung, das heißt den Abriss des Bestands, ermöglichen sollte, fand ihre Erfüllung in der Verabschiedung des Städtebaufördergesetzes 1971 – 

Achteckhaus Hamburg Mümmelmannsberg, Bürgerwettbewerb 1974, Foto: 1977

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zu spät für die Realisierung des Alsterzentrums. Das Gesetz, das es der öffentlichen Hand unter anderem ermöglicht, im Interesse von Großinvestoren Kleineigentümer in den historischen Altstädten zu enteignen und damit den bis dahin nach dem Bundesbaugesetz sehr schwierigen und langwierigen Prozessen entgegenzuwirken, ist maßgeblich auf Druck großer Baugesellschaften und der Neuen Heimat verabschiedet worden.49 Das Interesse des Konzerns an Stadtsanierungen war durchaus groß und reichte von der Altstadtsanierung über Objektsanierung bis zum Gewerbe- und Wohnungsneubau. Bis zu diesem Zeitpunkt hatten sich die Städte aufgrund der erforderlichen Einzellösungen und -erschließungen und der damit verbundenen Planungsunsicherheit nur zögerlich an zusammenhängende Sanierungsmaßnahmen gewagt. Mit der Einführung des Denkmalschutzes 1975 verlagerte sich die Diskussion um eine Spezifizierung der Sanierung zugunsten des Bestand­ schutzes, doch für einige Altstadtensembles wie dem Fürther Gänsberg war dies zu spät. Die Sanierungstätigkeiten der Neuen Heimat waren jedoch nicht ausschließlich auf wirtschaftliches Interesse zurückzuführen, so Peter Kramper. Denn mit dem Ziel, eine funktionsfähige Wirtschafts-, Verkehrs- und Bewohnerstruktur zu unterstützen, waren die Sanierungsmaßnahm vielmehr strukturpolitisch begründet.50 Sich abzeichnende Grenzen des Wachstumsglaubens, Kritik am Urbanitätsverlust und die daraus abzuleitende Orientierung zurück zur Stadt – 1971 auf dem Deutschen Städtebautag in München unter dem Motto „Rettet unsere Städte jetzt!“ formuliert – lassen den eingeschlagenen Kurs der Neuen Heimat hin zu bestehenden Stadtstrukturen nur konsequent erscheinen.

DA S G R O S S E S C H E I T E R N Ein Bericht im „Spiegel“ am 8. Februar 1982 machte einen Veruntreuungsskandal von Geldern durch Vorstandsmitglieder der Neuen Heimat in Millionenhöhe öffentlich. 51 Die systematische Hinterziehung von – durch die Gemeinnützigkeit – nicht zuletzt auch öffentlichen Mitteln hatte ihren Anfang in den 1960er-Jahren beim Ankauf der Grundstücke für den Bau der Entlastungsstadt Neuperlach durch das Unternehmen Terrafinanz genommen. Dieser war über Strohmänner gedeckt, gehörte aber letztlich Vietor und weiteren vier Managern der Neuen Heimat. Terrafinanz erwarb die Grundstücke und verkaufte sie zu weitaus höheren Preisen an die Neue Heimat Bayern. 52 Zudem sollen unter anderem über zu hohe Heizkostenabrechnungen der Firma Tele-Therm und überhöhte Nebenkostenabrechnungen Gelder in die Taschen der Geschäftsführer geflossen sein. 53 1986 wurde die Neue Heimat durch einen Treuhänder abgewickelt, die riesigen Immobilienbestände an den Berliner Bäcker Horst Schiesser zum symbolischen Preis von einer DM verkauft. Schiesser musste die Bestände kurze Zeit später an die Beteiligungsgesellschaft der Gewerkschaften zurück übertragen. Die schließliche Abwicklung durch die regionalen Gesellschaften an die Landesregierungen und an städtische und private Wohnungsunternehmen in den Jahren 1987 bis 1990 kostete die Gewerkschaften Milliarden DM.54

Verwaltungssitz der Neuen Heimat Bayern in München Neuperlach von Hans Maurer und Horst Mauder, 1965–1971

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Doch auch ohne den Betrugsskandal war die Neue Heimat zu einem zu großen „Tanker“ geworden, der kurz vor dem Untergang stand, so Peter Kramper. Als größter Kreditnehmer der Bundesrepublik und immenser Hypothekenschuldner wirkte das Unternehmen mit geringem Eigenkapital und hohem Personalstand in weit verzweigten und kaum mehr zu überblickenden Gesellschafterstrukturen und verschrieb sich einem permanenten Wachstum, das in Zeiten der Bedarfsdeckung des Wohnungsmarktes jedoch rückläufig wirkte. 55 Dagegen konnten auch die Expansionsbewegungen nichts ausrichten. Sie waren mit der Gemeinnützigkeit letztendlich nicht zu vereinbaren und verwandelten den Kurs – indem die Risiken von Großprojekten wie dem Uniklinikum Aachen und der Investitionsbereitschaft in Auslandsgeschäfte unterschätzt wurden – vielmehr ins Gegenteil. Gerade durch die Orientierung auf dem freien Markt und dem zunehmenden Imageverlust fand das Unternehmen auch politisch immer weniger Unterstützung.56 Die Projekte der Neuen Heimat sind sowohl Ergebnis eines einzigartigen Zusammenspiels von wirtschaftlichen Interessen und Politik als auch Ausdruck und Spiegelbild der bundesdeutschen Sozialgeschichte. Der Neue Heimat gelang es, im Zuge des deutschen „Wirtschaftswunders“ der Hoffnung auf ein besseres Leben für eine breite Bevölkerungsschicht programmatisch Ausdruck zu verleihen. Eine Hoffnung, die mit den Bauten der Neuen Heimat konkrete Realität wurde und den Lebensalltag vieler Menschen veränderte. Der skandalträchtige Zusammenbruch des Unternehmensgeflechts markierte das Ende einer Epoche. Die bislang ausstehende Aufarbeitung der Geschichte der Neuen Heimat ist auch eine Folge ihrer Rezeptionsgeschichte: Die oftmals sofortige Assoziation mit als problematisch rezipierten Großsiedlungen behinderte durchaus lange Zeit eine deutlich komplexere und historisch angemessenere Einschätzung der Bauprogramme und des baupolitischen Anliegens. Dass 1988 im Zuge des Steuerreformgesetzes die Wohnungsgemeinnützigkeit abgeschafft wurde, war nicht zuletzt eine Reaktion auf den Betrugsskandal der Neuen Heimat und den damit verbundenen Verlust der Akzeptanz öffentlicher Subventionen für gemeinnützig agierende Baugesellschaften.

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Die Zahlen beziehen sich auf die systematische Auflistung aller Bauten der Neuen Heimat durch das Hamburgische Architekturarchiv unter Rückgriff auf die Akten aus dem Bestand des Unternehmens (Aufarbeitung im Zusammenhang der Ausstellungsvorbereitung: Karl H. Hoffmann). 2 Film „Neue Heimat Report“ (1968), Hamburgisches Architekturarchiv. 3 Vgl. Kramper 2008 (wie Anm. 2), S. 56–71. 4 Julius Brecht/Erich Klabunde, Wohnungswirtschaft in unserer Zeit, Hamburg 1950, S. 250–257. 5 Neue Heimat (Hg.), 50 Jahre Neue Heimat, Hamburg 1976, S. 4–12; Heinrich Plett, „Wohnungen für 330.000 Menschen. Unternehmensgruppe Neue Heimat Hamburg: Rückblick und Ausblick“, in: Neue Heimat Monatshefte für neuzeitlichen Wohnungsbau (NHM) 10/1956, S. 1–36. 6 Günther Schulz, Wiederaufbau in Deutschland. Die Wohnungsbaupolitik in den Westzonen und der Bundesrepublik von 1945 bis 1957, Düsseldorf 1994, S. 40; Werner Durth, „Vom Überleben. Zwischen totalem Krieg und Währungsreform“, in: Ingeborg Flagge (Hg.), Geschichte des Wohnens, Bd. 5, Stuttgart 1999, S. 17–78, hier S. 60. 7 Zur Wohnungssituation der Nachkriegszeit vgl. Klaus von Beyme u. a. (Hg.), Neue Städte aus Ruinen. Deutscher Städtebau der Nachkriegszeit, München 1992, S. 7–8.

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8 Neue Heimat (Hg.), 50 Jahre Neue Heimat, Hamburg 1976, S. 15. Vgl. Titel der Publikation Neue Heimat (Hg.), „Wohnungen, Wohnungen und nochmals Wohnungen. Eine Reise durch gewerkschaftseigene Wohngebiete in Deutschland“, Hamburg 1956. 9 50 Jahre Neue Heimat 1976 (wie Anm. 11), S. 16. 10 Erwin K. Scheuch/Ute Scheuch, Manager im Größenwahn, Hamburg 2003, S. 129–146. 11 O. Verf., „Neue Heimat. Die Bauland-Fresser“, in: Der Spiegel, 4.3.1959, S. 26–42, hier S. 27. 12 Vgl. Günter Schifferer, Politische Skandale und Medien. Der Fall Neue Heimat, Hamburg 1988; Gert Kähler, „PresseSpiegel: Gefundenes Fressen“, in: Ullrich Schwarz/Hartmut Frank (Hg.), Das Gesicht der Bundesrepublik. Bauten und Projekte 1947–1985, Hamburg/München 2019 (im Druck). 13 Rudolf Hillebrecht, Fundamente des Aufbaus, Hamburg 1948, S. 98. 14 Auflistung der Wohnungsneubauten in Kramper 2008 (wie Anm. 2), S. 618–619. 15 Johannes Göderitz/Roland Rainer/Hubert Hoffmann, Die gegliederte und aufgelockerte Stadt, Tübingen 1957. Vgl. zur Entwicklungsgeschichte seit 1944 in der von Albert Speer geleiteten Akademie für Städtebau, Reichs- und Landesplanung: Werner Durth, „Vom Überleben. Zwischen totalem Krieg und Währungsreform“, in: Ingeborg Flagge

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(Hg.), Geschichte des Wohnens, Bd. 5, Stuttgart 1999, S. 17–78, hier S. 33–36; siehe auch Hans B. Reichows Beitrag, „Organische Verkehrsplanung. Ihre Voraussetzung und Ziele“, in NHM 11–12/1955, S. 1–10. Zum Verhältnis zwischen Ernst May und der Neuen Heimat vgl. Michael Mönninger, „Neue Heime als Grundzellen für einen gesunden Staat“. Städte- und Wohnungsbau der Nachkriegsmoderne. Die Konzernzeitschrift „Neue Heimat Monatshefte“, Berlin 2018, S. 12–15. Vgl. Chronologie der Unternehmensgruppe in: Neue Heimat (Hg.), 50 Jahre Neue Heimat, Hamburg 1976, S. 27–35, zur Unternehmensstruktur siehe ebd., S. 230–234. Zur Entwicklung von Wohnungsmarkt und -politik nach dem Zeiten Weltkrieg vgl. Björn Egner, „Wohnungspolitik seit 1945“, in: APuZ 20–21/2014,13–18. Katja-Annika Pahl u. a. (Hg.), Potenzial Großsiedlung. Zukunftsbilder für die Neue Vahr, Berlin 2018; Andreas Hild/ Andreas Müsseler (Hg.), Neuperlach ist schön, München 2018. Vgl. Kramper 2008 (wie Anm. 2), S. 277–282, 418–419. Albert Vietor, „Stadterneuerung – wirtschaftliche Probleme und Lösungen“, Vortrag anlässlich der Internationalen Bau-Fachausstellung CONSTRUCTA II in Hannover, 23.1.1967, Archiv der Forschungsstelle für Zeitgeschichte, Hamburg; zit. nach Kramper 2008 (wie Anm. 2), S. 347. NHM 1/1958 ist einer ausführlichen Dokumentation von Wohnlagern in Deutschland gewidmet sowie Statistiken zum Wohnungsdefizit und zur Mietsteigerung. Vgl auch: Günther Baumann, „Am Rande des Wirtschaftswunders. Noch fehlen 3 Millionen Wohnungen, befinden sich mindestens 1,5 Millionen Menschen in Elendsquartieren“, in: ebd, S. 1–22. „Und neues Leben blüht aus den Ruinen“, heißt es im von der Neuen Heimat produzierten Film „12 Jahre danach. Ein Filmbericht über die Aufbauleistung der gewerkschaftseigenen Unternehmens-Gruppe Neue Heimat Hamburg“ (1957), Hamburgisches Architekturarchiv. Siehe auch die Neue-Heimat-Filmproduktion „Die im Schatten leben“ (1961) von Hans Jürgen Wolff, Hamburgisches Architekturarchiv. Walter Prigge, „Wohn-Fords. Stichworte zum ideologischen Staatsapparat Sozialer Wohnungsbau“, in: ders./ Wilfried Kaib (Hg.), Sozialer Wohnungsbau im internationalen Vergleich, Frankfurt am Main 1988, S. 65–78. Ingeborg Spengelin, „Neue Heimat-Küche. Kombinationsküche für den sozialen Wohnungsbau“, in: NHM 4/1954, S. 24–29. Peter Scheiner/Hans Henning Schmidt, Neue Heimat – Teure Heimat. Ein multinationaler Gewerkschaftskonzern, Stuttgart 1974, S. 163–170. O. Verf. „Neue Heimat baut jetzt in vielen Teilen der Welt“, in: Hamburger Abendblatt, 12.12.1964, S. 14. Plett schlug im November 1960 öffentlich eine Entlastung des Kapitalmarkts durch Kapitalexporte vor. Dadurch sollte der dauerhaften Unterbewertung der D-Mark und der sich daraus ergebenden Hochzinspolitik entgegengewirkt werden. Scheiner/Schmidt 1974 (wie Anm. 28), S. 165; Kramper 2008 (wie Anm. 2), S. 244; Ulrich Meins, „Wohnungsbau und Kapitalexport. Ein aktueller konjunkturpolitischer Diskussionsbeitrag“, in: NHM 1/1961, S. 22–24. Herbert Weisskamp/Ulrich Meins, „Im Ausland bauen“, in: NHM 11/1963, S. 25–35, hier S. 32; Ulrich Meins, „Wohnungsbau und Entwicklungshilfe. Keine einseitige Förderung gewerblicher Objekte“, in: NHM 10/1964, S. 24–26; Ulrich Schuster, „Wohnungsbau. Stiefkind der Entwicklungshilfe. Industrielle Förderung allein schafft neue Spannungen“, in: NHM 6/1967, S. 1–7. Herbert Weisskamp, „Ceylon. Wohnungen für Hunderttausend“, in: NHM 3/1962, S. 32–44. Kramper 2008 (wie Anm. 2), S. 250. Ulrich Meins, „Zwischen Eiffelturm und Mittelmeer“, in: NHM 9/1974, S. 1–13. O. Verf., „Deutsch-französische Wohnungsbaugesellschaft gegründet“, in: NHM 7/1963, S. 56. Ulrich Meins, „Wohnungsbau im Schatten des Eiffelturms“, in: NHM 9/1969, S. 35–47; ders., „Bauen in Frankreich“, in: NHM 11/ 1972, S. 1–14; ders., „Beiderseits des Mittelmeeres“, in: NHM 5/1976, S. 40–52. Karl H. Hoffmann, „Hoch geflogen und tief gestürzt. Die 23 Jahre der Neuen Heimat International“, in: Schwarz/Frank 2019 (wie Anm. 15; im Druck).

35 O. Verf., “Hebung des Wohnstandards in Afrika“, in: NHM 4/1961, S. 50; o. Verf., „Minister aus Ghana bei der Neuen Heimat“, in: NHM 8/1963, S. 41. 36 O. Verf., „Einfamilienhäuser am Äquator“, in: NHM 1/1969, S. 34–35; zum Bau einer Siedlung mit 1.000 Einfamilienhäusern in Accra (Ghana) siehe o. Verf., „Wohnungsbau über Grenzen hinweg“, in: NHM 12/1964, S. 37–38, hier S. 38. 37 Vgl. Kramper 2008 (wie Anm. 2), S. 251; Peter Christ, „Hoffen auf einen sanften Tod“, in: Die Zeit, 29.6.1984, https://www.zeit.de/1984/27/hoffenaufeinensanften-tod (15.12.2018). 38 Christian Farenholtz, „Großsiedlungen – politischer Sachzwang oder Weg zu einer Qualität städtischen Lebens“, in: NHM 3/1974, S. 10–16. 39 Vgl. Gerhard Boeddinghaus, Gesellschaft durch Dichte. Kritische Initiativen zu einem neuen Leitbild für Planung und Städtebau 1963/1964, Braunschweig/Wiesbaden 1995. 40 Jacob Berend Bakema, „Identität und Intimität der Großstadt“, in: Bauen+Wohnen, 1/1964, S. 20–23, hier S. 20. Zum Architekten als „Sozialingenieur“ vgl. Sonja Hnilica, Der Glaube an das Große in der Architektur der Moderne. Großstrukturen in der Architektur der 1960er und 1970er Jahre, Zürich 2018, S. 170–174. 41 Alexander Mitscherlich, „Sozialpsychologische Anmerkungen zum Bauvorhaben Heidelberg-Emmertsgrund“, in: ders., Thesen zur Stadt der Zukunft, Frankfurt am Main 1971, S. 120–136 (Vortrag in einer Sendung des Westdeutschen Rundfunks, 12.11.1965); ders., „Psychologie im Städtebau. Wechselbeziehung zwischen der Planungstätigkeit des Architekten und dem Wissen des Sozialpsychologen am Beispiel Heidelberg-Emmertsgrund“, in: NHM 12/1969, S. 1–9; vgl. Ilse Irion/Thomas Sieverts, Neue Städte. Experimentierfelder der Moderne, Stuttgart 1991, S. 77–86. 42 O. Verf., „Fertigteilbau. Elementa 72“, in: Deutsche Bauzeitung 7/1976, S. 21–38, hier S. 32; o. Verf., „Auch in Hamburg bestimmen Sozialmieter den Grundriß ihrer Wohnungen selbst“, in: NHM 9/1976, S. 21–24. 43 Zit. nach NHM 5/1976, S. 58; Heinz Gürtler, „So wollen wir wohnen“, in: NHM 12/1974, S. 20–24; Neue Heimat Unternehmensgruppe, Jahresbericht 1978/79, Hamburg 1979, S. C7. 44 Neue Heimat (Hg.), Werkbericht III: Hamburg Mümmelmannsberg. 10 Jahre nach Grundsteinlegung, Hamburg 1980, S. 24–25; vgl. auch Manfred Fuhrich/Christel Neusüß/Renate Petzinger u. a., Neue Heimat. Gewerkschaften und Wohnungspolitik, Hamburg 1983, S. 158–160. 45 Neue Heimat Bayern/Neue Heimat Baden-Württemberg (Hg.), Alte Menschen, Hausfrauen und Kinder in einem neuen Wohngebiet, München 1973 (= Praxis und Städtebau, 10). 46 Michael Andritzky/Peter Becker/Gert Selle, Labyrinth Stadt. Planung und Chaos im Städtebau. Ein Handbuch für Bewohner, Köln 1975, S. 157–182. 47 Filmdokumentation „Hohe Häuser, lange Schatten“ von Walter Walpuski (1968), Hamburgisches Architekturarchiv. 48 Welt am Sonntag, 31.5.1970. 49 Roland Günter, „Das STBauFG als Instrument zur Enteignung von Großgrundbesitz“, in: Arch+ 30/1976, S. 22–24; Scheiner/Schmidt 1974 (wie Anm. 28), S. 152–162. 50 Kramper 2008 (wie Anm. 2), S. 399–401. 51 O. Verf., „Gut getarnt im Dickicht der Firmen“, in: Der Spiegel, 8.2.1982, http://www.spiegel.de/spiegel/print/d14342289.html (29.1.2019). 52 Fuhrich/Neusüß/Petzinger 1983 (wie Anm. 47), S. 197. 53 Ebd., S. 198. 54 Zum Skandal und zur Abwicklung der Neuen Heimat siehe Franz Kusch, Macht, Profitgier & Kollegen. Die Affäre Neue Heimat, Stuttgart 1986, S. 12; Scheuch/Scheuch 2003 (wie Anm. 13), S. 144–153; Andreas Kunz, Die Akte Neue Heimat. Krise und Abwicklung des größten Wohnungsbaukonzerns Europas 1982–1998, 2 Bde., Frankfurt am Main/New York 2003, S. 363–365; Herfried Münkler, „Neue Heimat“, in: Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland (Hg.), Skandale in Deutschland nach 1945, Bonn 2007, S. 120–127. 55 Dieter Hoffmann, „Der Fall ‚Neue Heimat‘. Eine unternehmenstheoretische Betrachtung“, in: Zeitschrift für öffentliche und gemeinschaftliche Unternehmen, 10, 1987, H. 4, S. 341–360. 56 Kramper 2008 (wie Anm. 2), S. 12 u. S. 596–606.

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Oliver Schwedes

Neckaruferbebauung Nord und Collini-Center, Mannheim, Luftaufnahme, 1980

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I E G R O S S P R O J E K T E der Neuen Heimat repräsentieren das seinerzeit dominierende Leitbild des modernen Städtebaus „Urbanität durch Dichte“. 1 Bis heute wird die Entstehungsgeschichte der Großstrukturen des modernen Städtebaus zumeist als ein Entwicklungspfad dargestellt, der geradewegs in den Fehlplanungen der 1960er-/1970er-JahreSiedlungen mündete. 2 Dabei wird übersehen, dass der sich zu Beginn der 1960er-Jahre durchsetzende Leitgedanke das Produkt kontroverser Auseinandersetzungen war, die bis zu den Anfängen des modernen Städtebaus zurückreichen. Das Projekt des Neuen Bauens war von

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Anfang an umstritten, und die Kämpfe um die sozialen Inhalte moderner Architektur hatten schon in den 1920er-Jahren eingesetzt. Gegen eine Tradition sozialutopischer Überlegungen neuer Stadtkonzepte – von Ebenezer Howard bis Bruno Taut, der durch seine Arbeit im Rahmen des genossenschaftlichen Wohnungsbaus gelernt hatte, den „genialen“ Architekten in sich zurückzunehmen, um seine Entwürfe stattdessen an den konkreten Bedürfnissen der Bewohner zu orientieren – wandten sich Vertreter des modernen Städtebaus wie Ludwig Mies van der Rohe, Ludwig Hilberseimer und Le Corbusier. Während Taut und seine Schüler zu dem Ergebnis kamen, dass die Wohnungsfrage nicht allein mit technischen Mitteln zu lösen sei, sondern immer im Kontext sozialer Veränderungen gedacht werden müsse, setzten Letztere ganz auf eine nach sozialtechnischen Kriterien moderner Hygiene, einer monumentalen Ordnung und einem rasanten Verkehrssystem konzipierte Stadt. Neben Taut kritisierte vor allem Hannes Meyer, der 1928 als Direktor des Bauhauses die Nachfolge von Walter Gropius antrat, sowohl das seinerzeit aufkommende einseitig funktionalistische Planungsverständnis wie auch den damit zumeist verbundenen autoritären Habitus der Architektenzunft. Demgegenüber entwickelte Meyer ein kollektivistisch-politisches Entwurfsverständnis, demzufolge Bauen als ein Gestaltungsprozess verstanden wurde, in dem die Bewohner einen integralen Bestandteil darstellten. In dem Maße, wie sich im europäischen Städtebau der Nachkriegszeit vor allem Le Corbusiers einseitig ökonomisch-technizistischer Fortschrittsglaube durchsetzte, trat diese Traditionslinie zunehmend in den Hintergrund. Zwischen der „Erklärung von La Sarraz“ durch die CIAM (Congrès Internationaux d’Architecture Moderne) 1928 und der durch Le Corbusier redigierten zweiten Erklärung, die 1933 als „Charta von Athen“ veröffentlicht wurde, fand eine Kontroverse bezüglich der inhaltlichen Programmatik des modernen Städtebaus statt. Dabei zeichnet sich die von Le Corbusier verfasste zweite Erklärung gegenüber dem ursprünglichen Text durch ihren unpolitischen Charakter aus. Der Unterschied liegt in der Tilgung aller auf gesellschaftspolitische Veränderung zielenden städtebaulichen Überlegungen. So fehlt insbesondere der Gedanke einer aktiven Beteiligung der zukünftigen Bewohner am Planungsprozess, dem Le Corbusier seine Vorstellung eines Übermenschen entgegenhielt, der seiner Überzeugung nach letztendlich zu bestimmen habe, was richtiger Städtebau sei. Es war demnach nur konsequent, dass sich Le Corbusier die Umsetzung seiner autoritären Planungsgedanken von diktatorischen Herrschaftsregimen versprach. Nachdem er 1930 bei den Wettbewerben für die Zentralbebauung Moskaus im Rahmen des ersten Fünfjahresplans (1928–1932) nicht zum Zuge gekommen war, erhoffte er sich die Realisierung seiner Pläne durch die Faschisten. Dabei diente er sich sowohl dem italienischen Duce wie auch dem französischen Vichy-Regime an, wiederum jeweils ohne Erfolg. Le Corbusiers autoritäres Planungsverständnis im Städtebau sollte sich erst mit der Verallgemeinerung der industriellen Massenfertigung in der Nachkriegszeit in Verbindung mit einer sozial­ staatlichen Zentralisierung und Regulierung im Städtebau gegenüber konkurrierenden Tradi­ tionslinien durchsetzen und das Bauen und Planen in der westlichen Welt dominieren. Gleichwohl hatte Corbusier das richtige Gespür, wenn er insbesondere in den faschistischen Regimen jene Organisationsformen angelegt sah, die seinen Planungsvorstellungen entsprachen. Schließlich hatte der Nationalsozialismus auch die Durchsetzung des Fordismus in der Nachkriegszeit wesentlich vorbereitet. Die Bündelung der größten Wohnungsbaugenossenschaften unter dem Dach der Hamburger Neuen Heimat sowie ihr hierarchisch organisierter und zentralistisch geführter Aufbau im Kontext des Deutschen Gewerkschaftsbunds in der Nachkriegszeit hatten

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ihre Wurzeln ebenso in der Zeit des Nationalsozialismus, wie sich aus jener Zeit maßgebliche Gedanken eines forcierten industriellen Wohnungsbaus und wesentliche konzeptionelle städtebauliche Überlegungen der Nachkriegszeit speisten. Diese grundlegende Neuorganisation durch die Nationalsozialisten zum Zweck der Effizienzsteigerung des Massenwohnungsbaus ging einher mit einer Entdemokratisierung, die sich ebenfalls als Hypothek für den gemeinnützigen Wohnungsbau der Nachkriegsjahrzehnte erweisen sollte. Dennoch setzten sich auch in der Nachkriegszeit die Kontroversen um die politische Programmatik und die sozialen Inhalte eines modernen Städtebaus fort. In Deutschland hatte der Architekt und Stadtplaner Rudolf Schwarz schon 1947 in einem Aufsatz den „Maschinenmenschen“ und dessen technischen Herrschaftsanspruch im Neuen Bauen kritisiert. Damit setzte er eine Kulturkritik der modernen Architektur in Deutschland fort, die seit Mitte der 1920er-Jahre zu ­einer einseitigen, allein auf formale und technische Aspekte zielenden Interpretation des modernen Bauens geführt hatte, während demgegenüber die soziale und politische Programmatik des modernen Städtebaus negiert wurde. Schwarz wiederholte seine Kritik 1953 in der Zeitschrift „Baukunst und Werkform“ und löste damit eine heftige Kontroverse aus. Seine konservativ geprägte Kritik am Funktionalismus war jedoch, wie schon in den 1920er-Jahren, im Wesentlichen ästhetisch begründet und damit selbst wieder Ausdruck der damals scheinbar unpolitischen deutschen Nachkriegsverhältnisse. Indem Schwarz die Bauhaus-Architekten zudem der Halbbildung bezichtigte, brachte er seinerseits mit dem Habitus des erhabenen Bildungsbürgers einen ebenfalls autoritären Charakter zum Ausdruck. Sein zwiespältiges Verhältnis zur modernen Architektur drückte sich insbesondere in seiner engen Freundschaft zu Mies van der Rohe aus. An ihm schätzte Schwarz den Baumeister, der jene Formen setzt, in deren Grenzen sich das Leben entfalten solle, zugleich jedoch ignorierte er in Mies van der Rohe den Vertreter einer entschlossenen Modernität, der er nicht folgen konnte. Indem er sich nach formalen Kriterien vom modernen Städtebau distanzierte, war Rudolf Schwarz zum einen unter ästhetischen Gesichtspunkten sicherlich der Architekt einer anderen Moderne, zum anderen stand auch er mit seiner Vorstellung eines modernen Städtebaus, der sich in der dominierenden Figur eines genialen Stadtbaumeisters manifestieren sollte, in der Tradition eines nichtdemokratischen Planungsverständnisses. Die von Schwarz im Nachkriegsdeutschland ausgelöste Bauhaus-Debatte beschränkte sich mithin auf einen Bruderkrieg von Avantgardisten untereinander, ohne dass politische Inhalte angesprochen wurden, die etwa das Selbstverständnis des Baumeisters im Kontext demokratischer Gesellschaftsverhältnisse thematisierten. Westdeutschland verharrte zu dieser Zeit in politischer Reaktion gegenüber dem inneren und ­äußeren Feind, wodurch nicht zuletzt die Stadtplanungsdiskurse innovationshemmend beeinflusst wurden. Nicht zufällig erreichten daher die Bundesrepublik in den 1950er-Jahren die ersten zukunftsweisenden Ideen zum modernen Städtebau der Nachkriegszeit aus der Schweiz. Max Frisch – damals erfolgreicher Architekt – initiierte 1957 in der Zeitschrift „Bauwelt“3 eine Diskus­ sion über das Planungsverständnis von im Städtebau engagierten Funktionseliten, indem er daran  erinnerte, dass es sich bei städtebaulicher Planung um die Ausübung von politischer Macht handle. Daher könne sich auch der Planer nicht auf die vermeintlich unpolitische Position des Fach­menschen zurückziehen. Frisch verwies damit auf die Notwendigkeit einer demokratischen Legitimation von Stadtplanung. Neben der Demokratisierung des Städtebaus forderte er zudem ein prozessuales Planungsverständnis. Im Zentrum stand dabei der Gedanke ständiger Veränderung. Eine Stadt sollte in Zukunft nicht mehr von Anfang bis zum Ende geplant und fix und fertig

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Regensburg Altstadt und Großsiedlung Königswiesen, Foto: Reisinger, 1977

auf der grünen Wiese errichtet werden. Frisch formulierte stattdessen den Gedanken einer Rahmenplanung, die Raum für zukünftige, für die Zeitgenossen noch unabsehbare Entwicklungen ließ. Seine Idee einer Experimentierstadt war somit der explizite Gegenentwurf zu den im Gefolge von Le Corbusier in der Nachkriegszeit kursierenden autoritären Planungsvorstellungen. Auch noch zu Beginn der 1960er-Jahre, als sich die Borniertheit bundesdeutscher Nachkriegsverhältnisse durch Ansätze öffentlicher Auseinandersetzungen zu lichten begann, wurden unter dem Leitbild „Urbanität durch Dichte“ unterschiedliche Standpunkte zukünftiger moderner Stadtentwicklung diskutiert. Es wurde deutlich, dass sich hinter dem von den meisten Architekten und Stadtplanern geteilten Leitbild zum Teil sehr unterschiedliche Gesellschaftskonzepte verbargen, die wiederum die jeweilige Vorstellung von der Rolle des Architekten beziehungsweise Stadtplaners im städtebaulichen Entwicklungsprozess verschiedenartig akzentuierten. Die beiden von Gerhard Boeddinghaus in Erinnerung gebrachten Tagungen „Gesellschaft durch Dichte“ und „Großstadt, in der wir leben möchten“ aus den Jahren 1963/64 verdeutlichen Planungsvorstellungen, die nicht durch Allmachtsvorstellungen des Planers dominiert sind.4 Vielmehr macht dort schon der Landschaftsarchitekt Erich Kühn in seiner Einführung deutlich, dass das neue Paradigma der Verdichtung einerseits eine historische Gegenbewegung darstellte.5 Sie grenzte sich

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Heidelberg Emmertsgrund, zentrale Ladenstraße, 1974

kritisch ab von dem noch in den 1950er-Jahren vorherrschenden, am Ideal der Gartenstadt orientierten städtebaulichen Konzept der weiträumig gegliederten und aufgelockerten Stadtlandschaft, der Auflösung der Siedlungen ins Formlose. Andererseits warnte Kühn auch vor möglichen Gefahren, die mit dem neuen Dichteparadigma einhergehen, welches er mit einer Medizin verglich, die das Leben retten, aber auch töten könne. Dichte allein, so Kühn, garantiere noch keine Stadt. Der Aufruf des Architekten Günter Günschel zu einem kritischen Urteilsvermögen aller an der Stadtplanung Beteiligten sowie die Aufforderung zur generellen Partizipation der Bevölkerung an städtebaulichen Planungsprozessen repräsentiert den kritischen Grundtenor nahezu aller Beiträge dieser Tagungen: „Machen wir uns mit dem Gedanken vertraut, dass die Grundlage eines konstruktiven und kollektiven Bewusstseins im Wesentlichen die Verwirklichung des sich selbst erkennenden Individuums ist und dass jegliches Führenlassen und Organisierenlassen diesen Prozess stört, wenn nicht gar in Frage stellt.“6

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Die geschilderte Kontroverse zeigt: Das Problem war nicht die inhaltliche Ausrichtung eines einzigen Planungsverständnisses unter dem Leitbild „Urbanität durch Dichte“, vielmehr ist die Auswahl eines bestimmten Stadtplanungskonzepts neben anderen erklärungsbedürftig. Denn offenbar folgten Anfang der 1960er-Jahre unterschiedliche Eliten diesem Leitgedanken, wobei jedoch die jeweiligen Planungsverständnisse deutlich divergierten. Dennoch werden die städtebaulichen Großprojekte der Neuen Heimat bis heute zumeist an jenen Maßstäben gemessen, die das hegemoniale Projekt „Urbanität durch Dichte“ vermeintlich vorgegeben hat. Dabei geraten jene Akteure aus dem Blickfeld, die mit ihren alternativen Entwürfen nicht an der Umsetzung beteiligt wurden. Im Ergebnis bleiben dann jene sozialen Machtfigurationen unberücksichtigt, welche dazu führten, dass andere städtebauliche Vorstellungen nicht artikuliert, geschweige denn realisiert werden konnten. Das Leitbild „Urbanität durch Dichte“, wie es sich zu Beginn der 1960er-Jahre durchsetzte, fügt sich in einen gesellschaftlichen Konsens zentralistisch geplanter und hierarchisch organisierter Massenfertigung mit dem Ziel, binnen kürzester Zeit so viel Wohnraum zu schaffen wie möglich. Indem das Leitbild auf diese Weise einem vorherrschenden sozialen Bedürfnis nach Wohnraum entsprach, war es der ideologische Ausdruck eines hegemonialen Projekts, das unterschiedliche soziale Akteure mit ihren je verschiedenen Interessen zusammenführte, während andere ausgeschlossen wurden. Hier deutet sich ein Demokratiedefizit an, das durch rationalisierte Entwurfsstrategien legitimiert wurde. Diese zeichneten sich durch geschlossene städtebauliche Konzeptionen aus und waren daher nicht für Ansätze aktiver Mitbestimmung im Planungsprozess geeignet. Darüber hinaus, so wurde seinerzeit argumentiert, hätte die drängende Wohnungsnachfrage keine zeitraubende Bürgerbeteiligung erlaubt. Dieses Argument bildet die Brücke zur aktuellen wohnungspolitischen Diskussion, wo erneut aufgrund drängender Wohnungsnot als Ergebnis jahrzehntelanger politischer Versäumnisse demokratische Beteiligungsverfahren zugunsten beschleunigter Planungsprozesse abgekürzt werden sollen. Demgegenüber verweisen konkrete Handlungsalternativen, die damals durch autoritäre Planungsverfahren verhindert wurden, auf das emanzipatorische Potenzial gesellschaftlicher Mitbestimmungsverfahren. Indem sich die städtebaulichen Großprojekte der Neuen Heimat mit ihren vielfach unwirtlichen Lebensverhältnissen nicht etwa als das Ergebnis gemeinwohlorientierter Planung offenbaren, sondern als Resultat undemokratischer Aushandlungsprozesse, wird der lange Zeit diskreditierte Planungsgedanke rehabilitiert. Mit dieser Perspektive bietet sich die Besinnung auf jene radikaldemokratische Tradition des modernen Städtebaus an, dessen Planungsverständnis sich immer schon an den konkreten Bedürfnissen der Menschen orientiert hat. Im Gegensatz zu dem lange Zeit vorherrschenden neoliberalen Planungsverständnis geht es heute um die Ergänzung des Städtebaus durch politische Konzepte, die sich an den Anforderungen der Bevölkerung orientieren und nicht durch Kapitalinteressen dominiert werden. Wie immer eine solche städtebauliche Neuorientierung in Zukunft auch ausbuchstabiert wird, vieles spricht für die Notwendigkeit eines neuen Leitbilds, das sich an dem demokratischen Gedanken sozialer Gerechtigkeit orientiert.

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Der Artikel basiert auf dem Beitrag des Autors (geb. Schöller): „Urbanität durch Dichte – ein umkämpftes Konzept. Dargestellt am Beispiel des Großsiedlungsbaus der ‚Neuen Heimat‘“, in: Die alte Stadt 28/2001, S. 111–129. Vgl. Sonja Hnilica, Der Glaube an das Grosse in der Architektur der Moderne. Grossstrukturen der 1960er und 1970er Jahre, Zürich 2018.

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Bauwelt 29/1957, S. 729. Vgl. Gerhard Boeddinghaus, Gesellschaft durch Dichte. Kritische Initiativen zu einem neuen Leitbild für Planung und Städtebau 1963/1964, Braunschweig/Wiesbaden 1995. Erich Kühn, zit. nach ebd., S. 23 ff. Günter Günschel, zit. nach ebd., S. 39–40.

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Thomas Sieverts

Mannheim Vogelstang, Fußgängerbereich im Zentrum, Foto: Kurt Otto, 1971

D I E N E U E H E I M AT U N D D E R STÄ DT E B AU –   U N D H E U T E ?

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I E 1 9 6 0 E R - J A H R E bedeuteten einen Einschnitt in der Nachkriegsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland: Der Wiederaufbau der Städte nach den Zerstörungen des Kriegs war mehr oder weniger abgeschlossen, die Nachkriegszeit ging zu Ende, und neue Aufgaben zeichneten sich ab. Unter der Perspektive neuer Fragen und Methoden gründeten wir, drei Studienfreunde, nach dem Diplom 1962 Mitte der 1960er-Jahre die „Freie Planungsgruppe Berlin“ (FPB),1 das wohl erste selbstständige Stadtplanungsbüro in Deutschland. Darüber kamen wir als junge Planer bald mit der Neuen Heimat in Berührung, die sich an neuen Methoden für die Planung der sich als neues Arbeitsfeld abzeichnenden systematischen Stadt­ erneuerung interessiert zeigte.

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Mit Albert Vietor, dem Geschäftsführer der Neuen Heimat, diskutierten wir 1977 bei einer Veran­ staltung der Evangelischen Akademie Kloster Loccum zum Thema „Stadtkultur“ bis spät in die Nacht, auf Paul Seitz stieß ich als Kollege an der Hochschule der Bildenden Künste in Berlin. Seitz war Geschäftsführer der Neuen Heimat Kommunal, Spezialist für seriellen Montagebau, und er entwarf Typenelemente für den Schul-, Hallenbad- und Universitätsbau. Mit dem Kopf der Neuen Heimat Bayern, Ludwig Geigenberger, kamen wir nach dem Gewinn des zweiten Preises für das neue Zentrum in München Neuperlach ins Gespräch. Diese „Granden“ der Neuen Heimat hatten als Kinder noch das Elend der Arbeiterwohnungen aus dem 19. Jahrhundert erlebt und waren geprägt vom sozialdemokratisch-gewerkschaftlichen Glauben an den Fortschritt durch die Moderne, kaum betroffen von den Zweifeln, die uns damals schon umtrieben. In den 1980er-Jahren schrieben Ilse Irion und ich ein Buch über „Neue Städte als Experimentierfelder der Moderne“, ausgerichtet auf einen Vergleich der räumlichen Strukturen.2 Wir wollten damit zeigen, dass es sich hierbei um eine breite städtebauliche Strömung handelte, die Würdigung und Aufmerksamkeit verdient. Das große Werk des Wirtschaftshistorikers Peter Kramper aus dem ersten Jahrzehnt des neuen Jahrtausends (2008 veröffentlicht), „Die Neue Heimat – Unternehmenspolitik und Unternehmensentwicklung im gewerkschaftlichen Wohnungs- und Städtebau 1950–1982“,3 öffnete den Blick auf die weiteren politischen und wirtschaftlichen Zusammenhänge, in denen die Neue Heimat entstanden ist und gearbeitet hat. Doch: Wie stehen wir heute zum Städtebau der Neuen Heimat aus den 1960er-Jahren?

D I E N E U E H E I M AT VO R N E U E N AU F G A B E N N AC H D E M E N D E D E S W I E D E R AU F B AU S Nach Beseitigung der ärgsten, aus den Kriegszerstörungen resultierenden Wohnungsnot musste sich die Neue Heimat auf eine neue Situation einstellen. Sie hatte bis dahin nur Wohnungen in größtmöglicher Zahl als Wohnsiedlungen gebaut, meist ohne städtebauliche Ambitionen. Als bei Weitem größtes Wohnungsunternehmen der Bundesrepublik musste sie sich jetzt auf eine nachlassende Wohnungsnachfrage einstellen. Sie hatte unternehmerisches Glück, das sie dann freilich auch beherzt am Schopf packte: Denn zu dieser Zeit traten einschneidende Veränderungen in der Stadtentwicklung ein, die zu einer neuen Nachfrage führten: Mit der Modernisierung und Rationalisierung der Landwirtschaft kam es zu verstärkten Land-Stadt-Wanderungen, mit der weiteren Industrialisierung zu neuen Arbeitsplatzballungen und mit der Tertiärisierung der Wirtschaft zu einer Umstrukturierung der Innenstädte – beschleunigt durch einen breiten Zuwachs an Wohlstand und Kaufkraft. Dieser Wohlstandszuwachs ließ die Nachfrage nach größeren, besser ausgestatteten Wohnungen und vor allem auch nach Einrichtung der Infrastruktur sprunghaft anwachsen. Es stieg zum Beispiel der Bedarf an Läden, jetzt in Form von Einkaufszentren, an Schulen verschiedener Art, an Universitäten, an Krankenhäusern und an Sporteinrichtungen. Die schnell zunehmende Motorisierung wiederum verlangte nach Straßen und Stellplätzen. Gleichzeitig wurde die langjährige Vernachlässigung des Wohnungsbestands, der den Krieg überstanden hatte, sichtbar. Dieser verlangte nach breit angelegter Erneuerung. Kurz: Der mehr oder weniger bewältigte Ersatz der im Krieg zerstörten Wohnungen wurde abgelöst durch eine gewaltige neue Nachfrage, verursacht von Erneuerungsbedarf, Wirtschaftswandel, Wirtschaftswachstum, Motorisierung und Kaufkraftzuwachs. Ein riesiger neuer Markt war im Entstehen.

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Hinzu trat in der kultur- und sozialpolitischen Diskussion dieser Jahre eine grundsätzliche Kritik an den Wohn- und Siedlungsbauten der unmittelbaren Wiederaufbauzeit, und zwar nicht nur in der Bundesrepublik, sondern in fast allen europäischen Ländern – und diese sollte die weitere Entwicklung stark beeinflussen. Die Wohnraumschaffung nach dem Krieg versuchte der dringenden Forderung nach preisgünstigem Wohnraum nachzukommen. Innerhalb von sechs Jahren sollten 1,8 Millionen Wohnungen in Deutschland geschaffen werden.4 Die Wohnsiedlungen der Nachkriegszeit waren vielfach den Prinzipien der gegliederten und aufgelockerten Stadt verpflichtet und in der formalen Tradition der englischen Gartenstadtbewegung angelegt worden. Der Grundbaustein dieser Siedlungen war die auf eine Grundschule bezogene „Wohnnachbarschaft“ in vergleichsweise geringer Wohndichte und mit dezentralen Versorgungszentren. Diese Prinzipien wurden jetzt aus sozialwissenschaftlicher und städtebaulicher Sicht als „antiurban“ heftig kritisiert: Aus gesellschaftlichen und architektonischen Gründen wurden eine viel höhere Baudichte, eine Konzentration der Versorgungseinrichtungen an neuen Plätzen sowie eine Mischung der Arbeitsplätze mit der Wohnbebauung gefordert, um „Urbanität“ zu schaffen. Diese Kritik traf sich gut mit stadtwirtschaftlichen Erkenntnissen, die aufgrund stark gestiegener Grundstückspreise eine höhere Baudichte und aufgrund der höheren Wirtschaftlichkeit größere Einzugsgebiete sowie eine Vergrößerung und Zentralisierung der Versorgungseinrichtungen forderten. Gefragt waren jetzt neue, integrierte Stadtteile von hoher Dichte!

D I E N E U E H E I M AT U N D D I E B E WÄ LT I G U N G D E R N E U E N AU F G A B E N Auf diese tief greifenden Veränderungen reagierte die Neue Heimat als Unternehmen geschickt. Sie erkannte schnell, dass sich hier für sie als dem größten Bauträger der Bundesrepublik große neue Chancen auftaten. Die Neue Heimat stellte ihre Organisation in kurzer Zeit entsprechend um. Sie straffte und konzentrierte die der föderalen Struktur der Bundesrepublik folgende dezentrale Organisation ihrer Unternehmungsverwaltungen. Sie baute ihre Planungsabteilungen aus, auch für Spezialaufgaben wie zum Beispiel den Bau von Krankenhäusern, Schulen und Universitäten. Sie bildete außerdem eine eigene Gesellschaft für das Bauen öffentlicher Infrastrukturen, die Neue Heimat Kommunal, und später wurden verschiedene Unternehmensteile zusammengefasst in der Neue Heimat Städtebau. Diese wurden ergänzt durch Trägergesellschaften für Gewerbebau. Die Neue Heimat vollzog mit der Straffung ihrer Unternehmungsführung und der neuen arbeitsteiligen Spezialisierung bei der Produktion ihrer Dienstleistungen so etwas wie eine Wende zu einer Art von Fordismus analog zur Industrie und erhöhte damit ihre Produktivität für den neuen großen Markt. Den mit den neuen komplexeren Aufgaben des Städtebaus sichtbar werdenden Bedarf an prakti­ scher Stadtforschung griff sie weitsichtig mit der Gründung einer eigenen Forschungsgesellschaft – der GEWOS – auf und gewann für ihren Beirat fast alle prominenten Vertreter dieser noch jungen Sozialwissenschaft. Die jeweils von den Gebietskörperschaften an die GEWOS in Auftrag gegebenen orts- und projektbezogenen Voruntersuchungen nutzte die Neue Heimat geschickt für die Einwerbung neuer Aufträge. Aber es wäre ungerecht, die GEWOS nur als Instrument der Akquise zu kritisieren: Die GEWOS brachte die praktische, anwendungsbezogene Stadtforschung voran, und sie überlebte letztlich den Untergang der Neuen Heimat, wenn auch in anderer Form.

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Bremen Neue Vahr, Luftaufnahme, 1959

Die Neue Heimat beschäftigte sich auch als einer der ersten großen Bauträger mit der industriellen Montagebauweise, deren Hauptnutzen sich freilich nicht in den erwarteten Baukostensenkungen, sondern in der Verkürzung der Bauzeiten (Zinseinsparungen) und der Rationalisierung der Arbeitsvorgänge bei geringerem Facharbeitereinsatz (Facharbeitermangel) herausstellte. Durch ihre Größe und spezialisierte Leistungsfähigkeit und überdies die gute politische Vernetzung über die Gewerkschaften und die SPD war die Neue Heimat in der Lage, mehrere Großanlagen in der Bundesrepublik als in die Stadt integrierte neue eigenständige Stadtteile zu bauen. Es begann 1957 bis 1962 – um nur einige wesentliche Beispiele zu nennen – mit dem Bau der Neuen Vahr in Bremen (1957–1962). Diese war noch deutlich in fünf Nachbarschaften gegliedert und zeigt damit noch nicht alle Eigenschaften eines eigenständigen, in die Stadt integrierten Stadtteils, sondern ist mit ihren Zeilenreihungen noch als eine Großwohnsiedlung anzusehen. Es setzte sich fort mit der Nordweststadt Frankfurt (1959–1972), die ebenfalls noch Züge der alten Nachbarschaftsgliederung zeigt, freilich schon in neuen städtischeren Raumkon­ stellationen: Mit dem in sich abgeschlossenen, von Straßen umgebenen, hoch konzentrierten Stadtzentrum als eigenständige Großform zeigt sich schon der neue Charakterzug eines eigenständigen Stadtteils. Später kamen dann mit München Neuperlach (1960 Beschluss durch den Stadtrat, Rahmenplanung 1961–1966, Wettbewerb 1967, Ausführung im Wesentlichen 1974–1989) und mit Mannheim Vogelstang (Planung 1960–1964, Ausführung 1964–1972) Stadtteile mit noch gemäßigter Verdichtung hinzu, die nicht mehr die alte Nachbarschafts-

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München Neuperlach, Marx-Einkaufszentrum, 1975

gliederung zeigten, sondern als neue, städtebaulich integrierte Stadtteile auftraten. Diese Entwicklung wurde mit der Großsiedlung Heidelberg Emmertsgrund (1968 – ca. 1975) abgeschlossen. Hier gingen der Grad der Verdichtung und der Funktionsmischung in gebauter sowie freier Fläche über das von den Bewohnern akzeptierte Maß hinaus, weshalb die Konzeption nicht durchgehalten werden konnte. Trotz dieser Mängel war die Konsequenz der Neuen Heimat beachtlich, die sich am Beispiel Emmertsgrund zeigte: Trotz schwerer wirtschaftlicher Nachteile hielt man am theoretischen Leitbild eines verdichteten, gemischten und an Sozialmaßstäben orientierten Stadtteils fest. Der alte gewerkschaftlich-sozialdemokratische Fortschrittsglaube war noch ungebrochen und damit auch die unkritische Begeisterung für die in dieser Zeit schnell wachsende Automotorisierung!

AU F ST I E G U N D FA L L D E R N E U E N H E I M AT Die Neue Heimat war nicht der Erfinder dieser Großanlagen, aber ein wichtiger, von der Aufgabe überzeugter Vollstrecker einer städtebaulich ideologischen Strömung, die ganz Europa erfasst hatte. Es ist dies auch die Zeit, in der in Ost und West – und innerhalb des Westens auch quer zu verschiedenen politischen Strömungen in den einzelnen Ländern – eine gewisse Konvergenz im Städtebau festzustellen ist. Gemeinsam war ihnen die leidenschaftliche Ablehnung der histo-

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Frankfurt Nordweststadt, Foto: Kraus, 1967

rischen Stadt des 19. Jahrhunderts. Historische und ortsspezifische Traditionen waren bei der Planung unbedeutend geworden. Gemeinsam war auch der Glaube an Planbarkeit und Machbarkeit durch eine umfassende, wissenschaftlich fundierte Herangehensweise. Das Ziel, allen Menschen materiell gerecht zu werden und ihnen gleiche Chancen zu bieten, lag allen diesen Planungen zugrunde. Ansätze zu einer Planwirtschaft waren auch im Westen mit dem Stichwort der „Globalsteuerung der Wirtschaft“ zu erkennen. Die Anwendung der Montagebauweise mit Baufertigteilen führte in dieser Zeit quer durch Europa zu ähnlichen architektonischen Erscheinungsformen. Insgesamt war die Neue Heimat mit diesen Prinzipien und Zielen sehr erfolgreich und prägte die Wohnungsund Städtebaupolitik in der Bundesrepublik stark. Der soziale Erfolg dieser neuen Stadtteile ist unterschiedlich und bis heute umstritten. Am besten von den Einwohnern angenommen wurden jene neuen Stadtteile, die der Verdichtungsideologie nur teilweise und in milderer Form entsprachen und gewohnte, wenn auch abgewandelte städtebauliche Formen zum Beispiel als Baublöcke und straßenbegleitende Bebauung zeigten, wie etwa München Neuperlach oder Mannheim Vogelstang. Auch Frankfurt Nordweststadt lässt sich zu dieser Gruppe zählen, während die von der Neuen Heimat entwickelten Extremvorstellungen städtebaulicher Großformen, wie das Alsterzentrum in Hamburg (1965), nicht realisiert werden konnten oder, wie Osterholz-Tenever in Bremen (ab 1970), bald schwere soziale Probleme zutage treten ließen.

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Bremen Osterholz-Tenever, 1980

Die Bedingungen, unter denen die neuen Stadtteile entstanden, lösten sich ironischerweise unter kräftiger Beteiligung der Neuen Heimat auf: Der dringlichste Nachholbedarf an Wohnungen und Infrastruktureinrichtungen war in den 1970er-Jahren erst einmal weitgehend erschöpft. Die so lukrative Flächensanierung stieß auf wachsenden Widerstand.5 Die Wünsche weiter Teile der Bevölkerung gingen nicht mehr ausschließlich in Richtung materieller Wohlstandsmehrung. Forderungen nach Mitbestimmung, der Wert von Lebensqualität und Fragen der Ökologie gewannen an Gewicht und machten Planungen schwieriger und langwieriger. Das Europäische Denkmalschutzjahr 1975 setzte ein starkes Zeichen für eine andere, in einer historischen Tradition stehende Stadt. Der Versuch der Neuen Heimat, mit ihren riesigen, nun nicht mehr in Deutschland ausreichend nachgefragten Kapazitäten ins Ausland auszuweichen, war nicht erfolgreich. Die Neue Heimat war zu einem Dinosaurier geworden, und sie hatte keinen Platz mehr in der gewandelten Gesellschaft. So verschwand sie, anscheinend unter ihren Skandalen, in Wirklichkeit jedoch zerbrach sie an der neuen Realität.

DA S E R B E D E R N E U E N H E I M AT Die neuen Stadtteile, die die Neue Heimat vom Ende der 1950er- bis Mitte der 1970er-Jahre baute, sind heute, grob gerechnet, etwas mehr oder etwas weniger als ein halbes Jahrhundert alt und stehen zur Erneuerung an.

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Neue Stadtteile dieser Größenordnung sind seit jener Zeit in Deutschland nicht mehr gebaut worden, und auch die gegenwärtige Diskussion über den Wohnungsmarkt und seine Engpässe wird an dieser Situation vermutlich wenig ändern, der „Zeitgeist“ weht in andere Richtungen. Das gilt auch für viele andere Länder in Europa. So gesehen sind die neuen Stadtteile der 1960er-Jahre des vorigen Jahrhunderts einer abgeschlossenen Phase der zentraleuropäischen Stadtentwicklung zuzurechnen und damit zu einem Thema der modernen Stadtgeschichte geworden. Gleichzeitig werden an anderen Stellen der Welt weiterhin große, völlig selbstständige neue Städte und auch Großsiedlungen als große Stadterweiterungen gebaut. Diesen Doppelcharakter von Geschichtlichkeit und konzeptioneller Aktualität muss man bei einer Betrachtung und Darstellung der ursprünglichen Entwicklungen der neuen Stadtteile beachten. Denn auch bei uns stellt sich in der stadtplanerischen Praxis die Frage nach ihrem Charakter: Soll man sie als Zeugnisse einer abgeschlossenen Epoche behandeln oder als noch konzeptionell aktuelle „unvollendete Moderne“, deren Anspruch es auch unter veränderten Bedingungen weiterzuführen gilt? Die Zeiten der Gründung und des Baus neuer Städte sind in Europa nicht nur in materieller Hinsicht vorbei, sondern auch in einem geistigen Sinn. Denn diese neuen Stadtteile waren zumeist nicht nur räumlich gesondert und herausgehoben, sondern auch als zeitlich abgeschlossene Siedlungsgebilde entworfen worden, wie für einen Zustand der endgültigen Fertigkeit und Ganzheit. Es gab keine konzeptionelle Offenheit für geschichtlichen Wandel. Man tat so, als wisse man ein für alle Mal, was den Menschen frommt: Auch im Paradies ist Geschichte ja zu Ende und aufgehoben worden. Diese Auffassung erweist sich heute als falsch und verhängnisvoll, denn ihre beabsichtigte und vermeintliche Fertigkeit birgt gleichzeitig eine Fülle von Konflikten: Wenn sie – gemessen an ökonomischen und sozialen Kriterien – erfolgreich geworden sind, sind die neuen Stadtteile weiterhin aktive Entwicklungsgebiete und haben wegen der Starrheit ihrer Konzeption vitale Anpassungsprobleme. Die weniger erfolgreichen neuen Stadtteile leiden schon seit Längerem, zum Teil seit vier bis fünf Jahrzehnten, unter schweren sozialen und ökonomischen Problemen, die nur mit kontinuierlicher Sozialarbeit kontrolliert und stabil gehalten werden können. In beiden Fällen – dem des Erfolgs und dem des Scheiterns – erweist sich die Eigenschaft des „Fertigen“, das konzeptionell kaum Entwicklungen zulässt, als schweres Hindernis bei der Anpassung an sich wandelnde Bedingungen. Dies wird noch verstärkt durch die Starrheit baulich verdichteter und industriell hergestellter Stadtstrukturen. Man sollte aber gerechterweise feststellen, dass die meisten dieser neuen Stadtteile inzwischen ein normales Alltagsleben zeigen und sozial unauffällig sind. Trotzdem muss man auch diese neuen Stadtteile aus ihrer stahlbetonierten Versteinerung befreien und öffnen für eine Entwicklung, die wieder Spielräume ermöglicht und soziale Aneignungsprozesse erlaubt, in der diese Gebilde in Würde altern und Patina ansetzen können.

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Egbert Kossak, Thomas Sieverts und Herbert Zimmermann. Ilse Irion/Thomas Sieverts, Neue Städte. Experimentierfelder der Moderne, Stuttgart 1991. Peter Kramper, Neue Heimat. Unternehmenspolitik und Unternehmensentwicklung im gewerkschaftlichen Wohnungs- und Städtebau 1950–1982, Stuttgart 2008.

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Siehe Förderungen durch das „Erste Wohnungsbaugesetz“ 1950 mit dem Ziel der Schaffung von Mietwohnungen und durch das „Zweite Wohnungsbaugesetz“ 1956 zur Förderung des Eigenheimbaus. Siehe Michael Andritzky, Peter Becker und Gert Selle (Hg.), Labyrinth Stadt. Planung und Chaos im Städtebau. Ein Handbuch für Bewohner, Köln 1975.

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Walter Siebel

D I E WO H N U N G S F R AG E

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I E WO H N U N G S F R AG E ist im 19. Jahrhundert entstanden, als mit der industriellen Urbanisierung die Städte geradezu explosionsartig anwuchsen und sich die Lebensverhältnisse der Menschen radikal änderten.1 Sie beinhaltete daher von Anfang an zwei Fragen: Wie kann die Masse der neuen Städter mit Wohnraum versorgt werden, und was kann unter den so grundlegend geänderten Verhältnissen menschenwürdiges Wohnen überhaupt heißen? Auf beide Fragen schien in den 1920er-Jahren die Antwort gefunden: der soziale Wohnungsbau als Lösung der Versorgungsfrage, die Wohnung für die Kleinfamilie als Lösung der Frage nach dem menschenwürdigen Wohnen.2 Heute sind beide Fragen wieder offen.

D I E F R AG E D E R WO H N U N G SV E R S O R G U N G Die industrielle Großstadt, wie sie sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch in Deutschland entwickelt hat, war der Ort, wo sich die neue soziale Klasse des Proletariats zuerst bildete und für das Bürgertum auf bedrohliche Weise sichtbar wurde. Ihre Lebensumstände ­empörten die humanitär Gesinnten, die in den Arbeiterquartieren häufig ausbrechenden Krankheiten bedrohten auch die bürgerlichen Viertel, und ihre politischen Organisationen stellten die bürgerlich-kapitalistische Ordnung grundsätzlich infrage.3 Die soziale Frage hat als eine Frage der städtischen Arbeiterschaft begonnen 4 und sie wurde in einer Mischung aus humaner Verantwortung und Angst mit städtischen Reformen beantwortet. Die Städte entwickelten eine Armuts-, Gesundheits-, Wohnungs-, Planungs- und Infrastrukturpolitik, die zum Vorbild für den Ausbau des Wohlfahrtsstaats nach den beiden Weltkriegen geworden ist. Die Weimarer Republik kann das „goldene Zeitalter der Wohnungspolitik“5 genannt werden. Artikel 155 der Weimarer Verfassung erhob die Versorgung aller mit ausreichendem Wohnraum zum Gebot. Das war die Basis für umfangreiche Eingriffe in die Finanzierung, die Planung, die Produk­ tion und die Verteilung von Wohnungen. Die Tradition eines sozialen Wohnungsbaus wurde von der Bundesrepublik 1949 – wenn auch mit erheblichen Abstrichen – fortgeführt. 1974 aber erklärte man die Wohnungsfrage für gelöst und beschloss den Rückzug des Staates aus dem Wohnungsmarkt. Heute spricht man von neuer Wohnungsnot. Was daran ist neu?

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Die neue Wohnungsnot ist zunächst einmal die alte. Das Grundproblem hat sich nicht geändert, dass nämlich der Wohnungsmarkt eine für angemessen gehaltene Wohnung nur zu Preisen zur Verfügung stellt, die die Zahlungsfähigkeit beträchtlicher Teile der Bevölkerung übersteigen. Neu ist allerdings die Spreizung der Einkommensverteilung, die auf die Wohnungsmärkte durchschlägt; 6 dies auch deshalb, weil politisch gewollt das marktferne Segment der sozial gebundenen Wohnungen von fünf Millionen Wohneinheiten Anfang der 1970er-Jahre auf circa eine Million heute geschrumpft ist. Anstelle der Objektförderung wurde zwar die Subjektförderung ausgeweitet, wodurch die Optionen auch einkommensschwächerer Haushalte auf den Wohnungsmärkten gestärkt wurden. Aber eben dies ist auch einer der Gründe für die Internationalisierung deutscher Wohnungsmärkte, die wiederum neue Versorgungsprobleme erwarten lässt. Die Bereitschaft von Eigentümern ehemals gemeinnütziger Bestände, diese zu verkaufen, und die teilweise Garantie der Mietzuflüsse durch Subventionierung (Wohngeld) oder Übernahme der Mietzahlungen (Hartz IV) durch die Kommunen haben Voraussetzungen geschaffen für den Einstieg global agierender Investoren gerade in das Segment ehemals gemeinnütziger Bestände. Angesichts der Finanzierungsstrategien dieser Investoren und der Volatilität auf den Kreditmärkten sind pessimistische Prognosen nicht ohne Weiteres von der Hand zu weisen. Neu sind ferner die starken Wanderungsbewegungen in die Bundesrepublik und innerhalb von Ost nach West und vom Land in die Stadt. Menschen sind mobil, Wohnungen aber sind im Wortsinn Immobilien, sie können nur in Ausnahmefällen transportiert werden. Deshalb sind Wohnungsmärkte überwiegend lokal organisierte Märkte. Die starken Wanderungsbewegungen schaffen Leerstände beispielsweise in Görlitz und Wohnungsnot in München. Zudem ist die Produktion von Wohnungen äußerst langwierig, weshalb Wohnungsmärkte auf Nachfrageverschiebungen sehr träge reagieren. Wer aber heute eine Wohnung sucht, dem helfen Wohnungen, die erst in sechs Jahren auf den Markt kommen, wenig. Schließlich sind die möglichen stadtentwicklungspolitischen Folgen einer Kumulation von Armut und sozialen Belastungen in benachteiligten Wohnquartieren neu. Solche Häufungen von Problemlagen können zu Abwärtsspiralen führen: Wenn das Image eines Wohngebiets sich verschlechtert, wandern Mittelschichtshaushalte ab, die Kaufkraft sinkt, das örtliche Angebot an Gütern und Dienstleistungen wird eingeschränkt, Banken vergeben nur noch zurückhaltend Kredite in diese Quartiere, die Eigentümer unterlassen Investitionen, das Gebiet verkommt auch äußerlich. Wenn dann noch der Anteil der Kinder aus „bildungsfernen“ Haushalten in den örtlichen Schulen steigt, so ist das Anlass für weitere Fortzüge deutscher Mittelschichtsangehöriger und bildungsorientierter Migrantenfamilien. Zurück bleiben die Haushalte, die keine Alternativen auf dem Wohnungsmarkt haben, in der Regel die ökonomisch und sozial schwachen. In einer Art passiver Segregation ist dann ein sozialer Brennpunkt entstanden. Solche Teufelskreiseffekte sind, einmal in Gang gekommen, kaum steuerbar, weil sie auf den freiwilligen Standortentscheidungen privater Haushalte beruhen. Entscheidend aber ist, dass die Frage der Wohnungsversorgung in einer marktförmig und demokratisch organisierten Gesellschaft immer offenbleiben wird. In einer reichen Gesellschaft wie der bundesrepublikanischen ist es wenig sinnvoll, Not absolut zu definieren als Hunger oder Obdachlosigkeit. Als Not gilt, was hinter einem durchschnittlichen Lebensstandard in einem nicht mehr für tolerabel gehaltenen Maß zurückbleibt. Das gilt für die Definition von Armut ebenso wie für die Definition von „Wohnungsnot“. Heute wird von Unterversorgung gesprochen, wenn nicht

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für jedes Haushaltsmitglied ein Zimmer verfügbar ist. Das wäre um 1900 für die Masse der Städter unvorstellbarer Luxus gewesen. Damals begann die statistisch registrierte Wohnungsnot, wenn sechs Personen pro heizbarem Zimmer gezählt wurden. Was als Wohnungsnot angesehen wird, hängt demzufolge davon ab, was in einer Gesellschaft als angemessene Wohnung definiert ist. Die Wohnungsversorgung ist Teil einer moralischen Ökonomie, in der nach kulturellen Normen und politisch gesetzten Standards darüber entschieden wird, was noch als angemessene Versorgung akzeptabel erscheint. Und diese Standards steigen mit dem Wohlstand einer Gesellschaft. Deshalb wird es immer Versorgungsprobleme auf dem Wohnungsmarkt geben, die zum Anlass von politischen Interventionen werden. Wohnungsnot ist unabschaffbar.

D I E F R AG E N AC H D E R M E N S C H E N W Ü R D I G E N WO H N U N G Die Wohnung ist ein sehr besonderes Gut. Deutsche verbringen im Durchschnitt mehr als die Hälfte ihrer wachen Zeit in der Wohnung und dem näheren Wohnumfeld. Die Wohnung ist der Mittelpunkt des privaten Lebens, ein symbolisch hoch aufgeladener Ort, an den vielfältige Erinnerungen gebunden sind, ein Ort der Geborgenheit, der Intimität, der Körperlichkeit und Emotionalität, sie ist das Gegenüber des öffentlichen Raums und der Welt des Berufslebens, ein Ort der freien Zeit, und doch auch Ort und Gegenstand vielfältiger Arbeiten, der klassischen Hausarbeit wie berufsbezogener Arbeiten, bei Eigentümern auch Ziel umfänglicher Arbeiten beim Bau, Umbau und Erhalt der eigenen Wohnung. Ob man in seiner Wohnung immer „Behagen“ 7 oder gar „Wonne“ 8 empfindet, wie es die Etymologie des Wortes Wohnen nahelegt, sei dahingestellt, aber es gibt wohl keinen bedeutsameren Ort im Leben eines Menschen als seine Wohnung. So ist es kein Wunder, dass auch die Frage nach der menschenwürdigen Wohnung eine zentrale Frage der Gesellschaftspolitik ist. Anfang des 20. Jahrhunderts sind zwei konträre Antworten formuliert worden: 9 Die bürgerlichen Wohnungsreformer wollten die bürgerliche Lebensweise – nur etwas bescheidener und billiger – auch den Arbeitern ermöglichen, ohne den Warencharakter der Wohnung anzutasten. Die Sozia­ listen dagegen wollten die traditionell „weibliche“ Hausarbeit vergesellschaften und die Frauen in das System der Erwerbsarbeit eingliedern, und die Wohnung sollte als öffentliche Infrastrukturleistung bereitgestellt werden. Die bürgerlichen Reformer haben sich durchgesetzt. Sie betrieben eine Art Pädagogik von oben, die in der Wohnung neben dem Militär und den Schulen die dritte Erziehungsanstalt sah. Einer Allianz von Wohnungsreformern, Architekten und Fabrikherren schien die (Werks-)Wohnung für die Kleinfamilie das geeignete Mittel gegen „das Politisieren in der Kneipe“ (Alfred Krupp). Aber diese Erziehungsbemühungen wären nicht erfolgreich gewesen, wären ihnen nicht pragmatische Interessen der Arbeiter entgegengekommen. Die sozialistischen Reformer versprachen das Paradies, aber das würde dauern, und ihre Wohnungen waren nirgends zu besichtigen. Die bürgerliche Familienwohnung dagegen war die Wohnform derer, denen es erkennbar besser ging, und jeder hatte sie tagtäglich vor Augen. Außerdem gab es nichts anderes auf dem Wohnungsmarkt – im Werkswohnungsbau schon gar nicht. In den 1950er- und 1960er-Jahren glaubte man, eine endgültige Antwort gefunden zu haben, als all das auch für Arbeiter selbstverständlich schien, was mit dem Wohnen assoziiert wurde: das Leitbild der Kleinfamilie von berufstätigem Mann, Hausfrau und Kindern, die strikte Trennung von Arbeit und Freizeit und das Einfamilienhaus draußen vor der Stadt als das ideale Gehäuse des Wohnens. Aber diese Lebensweise ist historisch gesehen sehr jung.

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Das idealtypische Modell der vormodernen Lebensweise, das „ganze Haus“, 10 war eine Selbstversorgungseinheit, in der Essen und Essenszubereitung, Arbeit und Erholung, Schlafen, Sich-Reinigen, Miteinander-Sprechen, Eltern und Kinder, Familie und Gesinde weder räumlich noch zeitlich sorgfältig voneinander geschieden waren. Dementsprechend gab es kein Wohnen als das Gegenüber der Welt der Arbeit und des öffentlichen Lebens. Schon im Mittelalter hatte die Auslagerung von Arbeiten aus den geschlossenen Kreisläufen von Produktion und Konsum des „ganzen Hauses“ begonnen. Im Zuge der industriellen Urbanisierung wurde diese Einheit weitgehend aufgelöst. Mit der Auslagerung der Erwerbsarbeit verschwanden die nicht verwandten Arbeitskräfte, später auch die entfernteren Verwandten aus der Wohnung, bis zuletzt nur noch Eltern mit ihren Kindern zurückblieben. Der Haushalt wurde zum Familien- und Konsumhaushalt, eingebunden in ein hochkomplexes System privater und öffentlicher Versorgungsapparaturen. Gleichzeitig wurden körperliche Funktionen und emotionale Regungen hinter die Mauern der Privatheit zurückgenommen. Der „Verhäuslichung der Vitalfunktionen“11 entsprach die Polarisierung des Alltags in eine öffentliche, entsinnlichte und eine private, intimisierte Sphäre, und diese Polarisierung wurde verinnerlicht: „Es scheiden sich […] im Leben der Menschen selbst mit der fortschreitenden Zivilisation immer stärker […] ein heimliches Verhalten und öffentliches Verhalten voneinander. Und diese Spaltung wird den Menschen […] zur zwingenden Gewohnheit, daß sie ihnen selbst kaum noch zu Bewußtsein kommt.“12 Industrielle Urbanisierung, bürgerliche Wohnungsreform und der „Prozeß der Zivilisation“13 haben das moderne Wohnen als Ort eines von Berufsarbeit entlasteten und emotional aufgeladenen privaten Lebens in der Kleinfamilie geschaffen. Die Wohnung hat erwerbsbezogene Funktionen verloren, aber an emotionaler Bedeutung gewonnen. Daher ist die Rede vom Funktionsverlust der Wohnung im Zuge der Urbanisierung missverständlich, genauer wäre es, wie in der Familiensoziologie üblich, von Funktionswandel zu sprechen. Die Wohnung als Raum der Erholung und familialer Privatheit und damit als das Gegenüber des öffentlichen Raums und der beruflichen Arbeitswelt ist eine idealtypische Definition des modernen Wohnens. Sie verdeckt vielfältige Differenzierungen. Aber dieser Idealtypus ist im Verlauf des 20. Jahrhunderts zum Leitbild der Wohnungspolitik und in Gestalt des Einfamilienhauses am Stadtrand zum Inbegriff eines gelungenen Wohnens geworden. Er wurde institutionalisiert in den Richtlinien des sozialen Wohnungsbaus, in Förderbestimmungen, Gesetzen, DIN-Normen und den Kategorien der amtlichen Statistik. Und er prägte die Wohnwünsche einer überwältigenden Mehrheit der Deutschen. Schon in den 1970er-Jahren begannen die Menschen jedoch, aus diesem Modell wieder auszuwandern in andere Lebensformen. Die Wohnstandortpräferenzen ändern sich. Die Kernstädte gewinnen wieder an Attraktivität.14 Suburbanisierung ist eng an die familiale Lebensweise und die traditionelle geschlechtliche Arbeitsteilung gebunden. Angesichts der gestiegenen Lebenserwartung und der gesunkenen Geburtenraten verliert die Familienphase relativ an Gewicht. Entscheidend aber sind die berufliche Emanzipation der Frau und der Wandel der Arbeitsbedingungen. Für Haushalte mit zwei Berufstätigen, die zu flexibilisierten und individualisierten Zeiten an unterschiedlichen Orten arbeiten, wird das Wohnen im Umland, fern von den innerstädtischen Arbeitsplätzen, zu aufwendig. Außerdem sind in Suburbia die haushaltsbezogenen Dienstleistungen, die es erleichtern, Familie und Beruf zu vereinbaren, nicht ausreichend verfügbar. Wer heute vom Wohnen spricht, meint nicht nur das Gehäuse der Wohnung. Private und öffentliche Dienstleistungen, Verkehrsanbindungen, soziale und technische Infrastrukturen und die Qualität der Freiräume spielen bei der Definition von Wohnqualität eine immer größere Rolle. Das

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hängt nicht nur mit der Integration der Frauen ins Erwerbsleben und dementsprechend gestiegenen Ansprüchen an Entlastung durch haushaltsbezogene Dienstleistungen zusammen, sondern auch mit der Alterung der Bevölkerung. Die Lebenszeit nach dem Ende der Berufstätigkeit hat sich verlängert auf 20 bis 30 Jahre, und diese Zeit wird überwiegend in der Wohnung und der näheren Wohnumgebung verbracht. Das zwingt dazu, Wohnqualität sehr viel weiter zu definieren: räumlich über die Wohnung hinaus in das Wohnumfeld, inhaltlich über architektonisch/ technische Bedingungen (Barrierefreiheit) hinaus in einen weiten Bereich personenbezogener Dienstleistungen, Gesundheit, Pflege, Sicherheit etc. Und schließlich wird auch die Digitali­ sierung erheblich dazu beitragen, die Qualitätsstandards von Wohnungen und ihrem Umfeld zu differenzieren und zu erhöhen.15 Die Vorstellungen vom richtigen Wohnen gestalten sich immer weiter aus. Neue oder auch sehr alte Wohnweisen werden durch traditionell orientierte Zuwanderer importiert. Die traditio­ nelle Wohnform in islamischen Städten ist nicht durch Polarität und Wechselbeziehung zum öffentlichen Raum16 geprägt. Dominant ist vielmehr das Interesse, die Frauen vor dem Blick des Fremden zu schützen. Deshalb müssen zum Beispiel die Eingänge einander gegenüberliegender Häuser so versetzt sein, dass man beim gleichzeitigen Öffnen der Türen nicht ins Innere des anderen Hauses sehen kann. Innerhalb der Wohnungen gelten ähnliche Vorsichtsmaßnahmen. Auch sollten „reine“ und „unreine“ Tätigkeiten (Essenszubereitung und Körperpflege) so weit wie möglich voneinander entfernt liegen. Abgesehen von solchen „importierten“ Variationen des Wohnens, die sich auf Dauer abschleifen dürften, gibt es vielfältige Änderungen des Zusammenlebens in der Wohnung. Wohnung und Familie sind keine selbstverständliche Einheit mehr. Die klassische Biografie von Herkunftsfamilie, relativ kurzer Zeit der beruflichen Orientierung, Familiengründung und längerer Familienphase, gefolgt von einer wiederum relativ kurzen Phase des „leeren Nests“ tritt in den Hintergrund. Zwischen Auszug aus dem elterlichen Haushalt und Berufseintritt/Familiengründung dehnt sich die „Postadoleszenz“ als eine Phase des Experimentierens mit verschiedenen Lebensentwürfen. Auch die Phase des Alters dauert länger. Die familiale Phase, soweit sie überhaupt eingegangen wird, bleibt demgegenüber relativ kurz und wird durch die geringere Kinderzahl auch absolut kürzer, abgesehen davon, dass sie öfter durchbrochen wird von Scheidung und Wiederverheiratung. Die Differenzierungen des Lebenslaufs gehen einher mit den sogenannten neuen Haushaltstypen: Wohngemeinschaften, Singles, unverheiratet zusammenlebende Paare, Alleinerziehende, multilokales Wohnen etc. Entsprechend differenzierter werden die Anforderungen an die Wohnungen (zum Beispiel neutrale, möglichst flexible Grundrisse) und die Bauträgerschaft (zum Beispiel Wohngruppen, Genossenschaften, Wohnprojekte) etc.17 Auch das Verhältnis von Wohnen und beruflicher Arbeit ändert sich. Es schwindet das strikte Gegenüber von Wohnen und Arbeiten, Arbeitszeit und Freizeit. Berufsbezogene Arbeiten werden wieder in die Wohnung zurückverlagert. Die Zeiten der Aus-, Fort- und Weiterbildung werden länger, und viel davon wird zu Hause erledigt. Die berufliche Arbeit wird auch aufgrund technischer Entwicklungen (Homeoffice) räumlich und zeitlich flexibler und sie wird zugleich individualisiert und entgrenzt. Die Geschichte des Wohnens folgt der Figur einer Spindel: Aus einer Fülle sehr verschiedener Wohnformen hatte sich gegen Mitte des vorigen Jahrhunderts die private, kleinfamiliale Wohnform als Gegenwelt zur beruflichen Arbeit für kurze Zeit durchgesetzt – gleichsam die Taille der

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Spindel –, und seitdem differenzieren sich wieder die unterschiedlichsten Lebens- und Wohnweisen aus. Und ein Trend wird weiterhin Bestand haben: Bei steigendem Wohlstand und immer kleineren Haushalten wird mehr Wohnfläche pro Kopf nachgefragt. Derselbe Wohnungsbestand, der in den 1950er-Jahren für eine Millionenstadt gereicht hätte, kann heute nur noch 400.000 Menschen beherbergen. Auch die zweite der beiden Wohnungsfragen wird niemals endgültig beantwortet werden.

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Der Beitrag ist die stark erweiterte und überarbeitete Fassung von Walter Siebel, „Wohnen“, in: Görres-Gesellschaft (Hg.), Staatslexikon, 8. Aufl., in Vorbereitung (erscheint voraussichtlich 2019). Hartmut Häußermann/Walter Siebel, Soziologie des Wohnens. Eine Einführung in Wandel und Ausdifferenzierung des Wohnens, 2. Aufl., Weinheim/München 2000. Friedrich Engels, „Die Lage der arbeitenden Klasse in England“, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 2, Berlin 1957, S. 228–305. Martin Kronauer, „Stadt und soziale Frage – eine Problemskizze“, in: Norbert Gestring/Jan Wehrheim (Hg.), Urbanität im 21. Jahrhundert. Eine Fest- und Freundschaftsschrift für Walter Siebel, Frankfurt am Main/New York 2018, S. 149–174. Häußermann/Siebel 2000 (wie Anm. 2), S. 125. GdW Bundesverband deutscher Wohnungs- und Immobi­ lienunternehmen e. V. (Hg.), Wohntrends 2035, Berlin 2018. Zur Definition vgl. Duden, Bd. 7: Etymologie. Herkunftswörterbuch der deutschen Sprache, Mannheim 1963, S. 770. Friedrich Kluge, Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, 23., erw. Aufl., Berlin/New York 1995, S. 896.

9 Häußermann/Siebel 2000 (wie Anm. 2), Kap. 4. 10 Otto Brunner, „Das ‚ganze Haus‘ und die alteuropäische Ökonomik“, in: Ders., Neue Wege der Verfassungs- und Sozialgeschichte, 2. vermehrte Auflage, Göttingen 1968. 11 Peter Gleichmann, „Wandel der Wohnverhältnisse, Verhäuslichung der Vitalfunktionen, Verstädterung und siedlungsräumliche Gestaltungsmacht“, in: Zeitschrift für Soziologie 5, 1976, H. 4, S. 319–329. 12 Norbert Elias, Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen, Frankfurt am Main 1976, S. 262. 13 Ebd. 14 Walter Siebel, Die Kultur der Stadt, 2. Aufl., Berlin 2016, S. 154–180. 15 GdW 2018 (wie Anm. 6), S. 49–73. 16 Hans Paul Bahrdt, Die moderne Großstadt. Soziolo­g ische Überlegungen zum Städtebau, hg. von Ulfert Herlyn, Opladen 1998. 17 Christine Hannemann, „Urbanität und Wohnen“, in: Ges­ tring/Wehrheim 2018 (wie Anm. 4), S. 64–80, hier S. 60.

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Michael Mönninger

Neue Heimat Monatshefte 1/1954, 2/1954

E L I T E N I M S E L B STG E S P R ÄC H D I E R O L L E D E R KO N Z E R N Z E I T S C H R I F T „ N E U E H E I M AT M O N AT S H E F T E “ I N D E R D E U T S C H E N B A U D E B AT T E N AC H 1 9 5 0

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O H N U N G S - U N D S TÄ DT E B A U sind nicht nur künstlerisch-technische, sondern auch eminent politische Disziplinen. Sie brauchen eine überzeugende Öffentlichkeitsarbeit, wenn sie erfolgreich sein wollen. Wie wichtig Kommunikation und Selbstdarstellung im Bereich des Bauens sind, hatte der Architekt und Stadtplaner Ernst May (1886–1970) erkannt – und dies nicht erst seit seiner Berufung zum Planungschef der Neuen Heimat in Hamburg 1954. Schon als Stadtbaurat in Frankfurt am Main von 1925 bis 1930 hatte er mit seiner Zeitschrift „Das Neue Frankfurt“ für die Siedlungen des Neuen Bauens geworben. Das Blatt war zugleich ein Instrument des Stadtmarketings, das der Stadt Frankfurt zu so etwas wie einer Corporate Identity verhalf. 1 Nach Mays Vorbild gründete auch der Berliner Stadtbaurat Martin Wagner 1929 die Zeitschrift „Das neue Berlin“ als Forum für die großen Bauprojekte der Weimarer Republik.

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1950 zählte die Bundesrepublik 15 Millionen Haushalte, aber lediglich 9,5 Millionen intakte Wohnungen.2 Mit seiner Einstellung als Leiter der Planungsabteilung der gewerkschaftseigenen Neuen Heimat 1954 schob Ernst May nicht nur die ersten Neubausiedlungen vor allem in Norddeutschland an. Zur selben Zeit rief er auch die „Neue Heimat Monatshefte für neuzeitlichen Wohnungsbau“ ins Leben. 3 Die Bedeutung, die der Konzern dem Blatt beimaß, zeigte sich darin, dass May sie gemeinsam mit der Neue-Heimat-Geschäftsführung herausgab und gestaltete. Die „Monatshefte“ galten bald als „elitäre Hochglanzpublikation“ 4 und sollten weit über die Binnenkommunikation der rasch wachsenden Neuen Heimat hinaus die Kontakte zur Fach­öffentlichkeit pflegen. Mit großem Pathos kündigte May im ersten Heft an: „Zweck dieser Monatshefte soll es sein, dem Wohnungsbau, der Schaffung neuer Heime als Grundzellen eines gesunden Staates, Bausteine beizusteuern.“ Dazu wolle er „berufene Mitarbeiter unseres Landes wie des Auslandes zu Worte kommen lassen, um die eigene Arbeit der Neuen Heimat mit den Spitzenleistungen anderer zu vergleichen“. 5 Die „Monatshefte“ wurden in hochwertigem Farbdruck hergestellt, das Layout professionell gestaltet und die Beiträge nicht nur von Mitarbeitern der Neuen Heimat, sondern auch von Journalisten, Architekten und Baupolitikern geschrieben. Um ein internationales Publikum zu erreichen, erschienen die Bildunterschriften von 1956 an auch in englischer und französischer Übersetzung, und ab Mitte der 1960er-Jahre wurden zahlreiche Schwerpunktartikel ebenfalls dreisprachig veröffentlicht. Die Redaktionsthemen umfassten über den konzerneigenen Wohnungs- und Siedlungsbau hinaus auch größere städtebauliche und sozialpolitische Felder. Die „Monatshefte“ waren „mehr als ein bloßes Organ der Selbstdarstellung, sondern eine Bauzeitschrift, die mit ihren bundesdeutschen Konkurrenten mithalten konnte“. 6 Die durchschnittliche Monatsauflage von rund 5.000 Exemplaren wurde neben einem kleineren Verkaufsanteil im Zeitschriftenhandel mehrheitlich kostenlos und gezielt an Führungskräfte in Politik, Wirtschaft, Verwaltung und Medien abgegeben. Die 32 Jahrgänge der Zeitschrift von 1954 bis 1981 beziehungsweise 1986 7 lesen sich wie ein Geschichts­atlas des deutschen Wohnungs- und Städtebaus nach 1945, der die Genese und Transformation der urbanen Paradigmen und Ideologien dokumentiert. Zugleich sind die ­„Monatshefte“ auch ein Spiegel der inneren Dynamik einer gewerkschaftlichen Institution, die sich als quasiöffentlicher Leistungsträger verstand und mit ihren engen Verbindungen zu Politik, Medien, Verbänden und Wissenschaft die Leitbilder und baulichen Erscheinungsformen der Bundesrepublik grundlegend geprägt hat. Die „Monatshefte“ waren zum einen normativ ein publizistisches Werkzeug, das zur Durchsetzung der Konzerninteressen in der Fachwelt von Planern und Politikern diente und Überzeugungsarbeit für das Modell der Zukunftsstadt jenseits historischer Bedingtheiten leistete. Zugleich reflektierten die Hefte auch deskriptiv die Konsumwünsche und Wohnideale der Nutzer, indem sie Studien und Mieterumfragen der konzerneigenen Forschungsstelle GEWOS (Gesellschaft für Wohnungs- und Siedlungswesen) enthielten, die zwischen planerisch-architektonischer Konzernmacht und öffentlicher Meinungsbildung zu vermitteln versuchte.8 In den „Monatsheften“ schrieben renommierte Autoren wie Ernst May, Hans-Bernhard Reichow, Martin Schwonke, Hans-Paul Bahrdt, Alexander Mitscherlich, Victor Gruen, aber auch Unternehmensführer wie Heinrich Plett, Albert Vietor oder Christian Farenholtz. Sie entfalteten in dieser ­publizistischen Echokammer ihre zeitgebundene Expertise, die aufgrund der Nähe zu den Entschei-

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Neue Heimat Monatshefte 4/1954, 1/1955

dungsträgern und Ausführungsorganen in der Neuen Heimat von einer besonderen instrumentellen Vernunft geprägt war: Der Kontakt mit der Macht nährte konkrete Umsetzungshoffnungen und setzte praktische Gestaltungsenergien frei. Während andere Bauzeitschriften damals einen allgemeinen baukulturellen Diskurs um die Wünschbarkeit von architektonischen Innovationen pflegten, führten in den „Monatsheften“ Fachleute und Führungseliten gleichsam ein öffentliches Selbstgespräch, bei dem die kruden Handlungsperspektiven der Machbarkeit im Vordergrund standen. Immer wieder stellten Expertengruppen unverblümt ihre eigene Fachkenntnis in den Mittelpunkt. So plädierte der Göttinger Soziologe Martin Schwonke 1964 für die Soziologie als neue Leitdisziplin der künftigen Planung; der Frankfurter Psychoanalytiker Alexander Mitscherlich wiederum forderte 1969 diese Rolle für die Psychologie.9 Die städtebaulichen Leitbilder, die in den „Monatsheften“ propagiert wurden, waren gleichermaßen Stimulus wie Reflex der großen planerischen Modelle nach 1945. In den ersten Jahren richtete das Blatt alle Aufmerksamkeit auf Planungen gemäß dem Gartenstadtideal dezentraler begrünter Wohnumfelder. Nach 1960 empfahlen die „Monatshefte“ dann den Bau immer kompakter werdender Großsiedlungen und von 1966 an schließlich die Projektierung von Megastrukturen. Seit 1970 folgten Berichte und Empfehlungen für radikale Kahlschlag- und Flächensanierungen in Innenstädten. Erst von der Mitte der 1970er-Jahre an schwenkten die Autoren der „Monatshefte“ auf bestandserhaltende Strategien um, weil sie die Kritik der aufkommenden Denkmalschutzbewegung und den Widerstand der Hausbesetzerszene nicht länger ignorieren konnten. Bemerkenswert ist, dass in den meisten Aufsätzen baukulturelle und ästhetische Kategorien fehlen, wenn es um die Gestaltung der Neubauten und Siedlungen ging. Individuelle Nutzungsansprüche, affektive Werte in der Aneignung und identifizierbare Eigenheiten der Bau-

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Neue Heimat Monatshefte 6/1956, 8|9/1956

form spielten meist nur eine untergeordnete Rolle. Wegen dieses funktionalistischen Tunnelblicks reichten die stereotypen Eigenschaftswörter „kühn“ und „großzügig“ aus, wenn es um die Charakterisierung städtebaulicher Figuren und Häuser ging; und als häufigste soziale Tätigkeit jenseits der Vitalfunktionen wurde das „Bummeln“ in Einkaufszentren und Grünzonen genannt. Als Subjekte, Akteure oder ökonomische Teilhaber ihres Habitats kamen die Bürger nicht vor. Die „Monatshefte“ reflektieren unverstellt das Politik- und Gesellschaftsverständnis der Planungselite der jungen Bundesrepublik. Das Land praktizierte in seinen wesentlichen Wachstumsjahrzehnten nach 1960 auch im Städtebau eine politische Zentralplanung mit kybernetischen Steuerungsmodellen, wie sie der weitverzweigte Neue-Heimat-Konzern auch in seiner inneren Organisationsstruktur selbst ausbildete. Anschaulich fassbar machen die „Monatshefte“ die abstrakten Konzepte der damaligen Politik- und Gesellschaftstheorie. Dazu zählen Begriffe wie „formierte Gesellschaft“, „Globalsteuerung“ oder „Systemplanung“, die die ökonomischen wie sozialpsychologischen Verflechtungen in einer geradezu korporatistisch abgefederten Marktgesellschaft bezeichnen. Deutlich tritt in den „Monatsheften“ das protagonistische Planungsdenken der Neuen Heimat im Sinne einer autoritären Fürsorglichkeit hervor, indem die Bewohner als Konsumenten zwar mit den Mitteln der Marktforschung befragt, aber nicht als Individuen beteiligt wurden. Das passte auch nicht in das Selbstverständnis des Konzerns als universeller Systemanbieter großtechnischer Baulösungen, der sämtliche Gewerke und Disziplinen der Immobilienwirtschaft lückenlos integrierte. „Wenn Sie wollen“, so brüstete sich der Neue-Heimat-Geschäftsführer Albert Vietor 1970, „können Sie bei uns eine komplette Stadt bestellen“.10

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Neue Heimat Monatshefte 11/1956, 6/1964

Die „Monatshefte“ sollten die Öffentlichkeit für die neuen sozioökonomischen und urbanistischen Ideale gewinnen und zugleich die expansiven Konzerninteressen durchzusetzen helfen. Vor allem aus den Beiträgen der Geschäftsführer Heinrich Plett und Albert Vietor sprechen die imposante Selbstbegründung und das große Sendungsbewusstsein des Gewerkschaftskonzerns. Die Neue Heimat zehrte lebenslang vom moralischen Kapital ihres Ursprungs in der Arbeiterselbsthilfe und marktfernen Bedarfsdeckungswirtschaft der 1920er-Jahre, selbst dann noch, als der Konzern Spielcasinos und Luxushotels wie in Monte Carlo baute. 11 Für den guten Zweck einer erhofften gewerkschaftlichen Gegenmacht gegen die kapitalistische Ökonomie akzeptierte auch die beteiligte Öffentlichkeit die immer umfassender werdenden urbanistischen Masterpläne und ausufernden Investitionen in aller Welt. Wie eng die Leitung der Neuen Heimat den eigenen Firmenerfolg mit dem gesellschaftlichen Wohlergehen verbunden sah, zeigen die „Monatshefte“ mit Aufsätzen Ende der 1960er-Jahre, die das steigende Anspruchsniveau im Städtebau mit der Ausweitung der angebotenen Bauleistungen gleichsetzen. In seinem Beitrag „Auf dem Weg zur Stadt von morgen“ 12 sah Albert Vietor große Unzufriedenheit sowohl mit der Gartenstadt als auch mit der modernen zonierten Stadt der Charta von Athen, die nun einer Mischung von Wohnungen, Betrieben, Bildung, Kultur und Erholung weichen müsse. Damit meinte er allerdings nicht eine Rückkehr zu den verpönten historischen Städten, sondern dichtere und intensivere Großstrukturen, wie sie die Neue Heimat von Hamburg-Mümmelmannsberg bis München Neuperlach nach 1970 realisierte. Damals zielte der Konzern längst nicht mehr nur auf die Hebung des Wohnstandards, sondern auf die umfassende Verbesserung des Lebensstandards und der Wirtschaftskraft in Deutschland. Daher forderte Vietor, dass Wohnungsunternehmen sich zu „städtebaulichen Trägerorga-

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Neue Heimat Monatshefte 10/1968, 3/1974

nisationen“ entwickeln müssen, die „die Zielvorstellungen des politischen Bauherrn rationell […] verwirklichen“.13 Er plädierte für eine neue Sichtweise auf den Städtebau als „Chance zur Verbesserung der Wirtschaftsstruktur, zur Erhöhung der Wirtschaftskraft, also zur Vermehrung des allgemeinen Wohlstands“, was schließlich zu einer „gerechteren gesellschaftlichen Ordnung und Chancengleichheit“ führe. Vietor wies auf die Denkfabrik der Neuen Heimat hin, die GEWOS, durch deren systematische Stadtforschung sich das Neue-Heimat-Programm auf ganzer Breite entfalten könne: „Forschung – Programmierung – Planung – Finanzierung – Realisierung gehören zusammen“. 14 Das beständige Crescendo der Wachstums- und Erfolgsberichte in den „Monatsheften“ liest sich heute noch beeindruckend. Schlagzeilen wie „Wohnungen für 330.000 Menschen“, „Neue Wohnepoche“, „60.000 Wohnungen seit 1956“, „Vom Wohnungsunternehmen zur Städtebaugruppe“ und „Im Ausland bauen“ suggerierten unbegrenzte Wachstumsperspektiven und die  Notwendigkeit einer stetigen Ausweitung der Geschäftsfelder: Über die Großwohnan­ lagen hinaus entstanden Stadtteilzentren, Kommunalbauten, Kongresscenter, Krankenhäuser, ­Schulen, Universitäten und Freizeitanlagen. Nahezu unbeirrbar blieb der Hamburger Konzern auf Wachstumskurs und berichtete 1976 aus Anlass eines internen Firmenjubiläums über das kaum noch überschaubare Geflecht von Tochtergesellschaften im In- und Ausland. 15 Obwohl bereits Mitte der 1970er-Jahre der Wohnungsbedarf nahezu gedeckt und das Auftragsvolumen der Bauwirtschaft in Westdeutschland um 30 Prozent geschrumpft war, warnte Albert Vietor, dass von 1978 an wieder eine neue Wohnungsnot entstehe, wenn nicht jährlich bis zu 500.000 Einheiten neu errichtet würden. 16

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Neue Heimat Monatshefte 12/1976, 10/1977

Vietor hatte bei seiner Prognose allerdings zu weit nach vorn geschaut. Tatsächlich zählte die Bundesrepublik infolge von Ölpreisschock und Rezession seit 1974 ein Überangebot von 400.000 Wohnungen. 17 Doch erst mit dem Mauerfall wuchs die Nachfrage wieder, sodass nach 1990 die jährlichen Fertigstellungen auf jene halbe Million Wohnungen stiegen, die Vietor gefordert hatte. Nur war die Neue Heimat aufgrund ihrer falschen Wachstumserwartungen, überzogenen Grundstücksreserven und immensen Verschuldung bereits 1986 bankrottgegangen.

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Vgl. Wolfgang Voigt, „Stratege für die Neue Stadt: Ernst May auf drei Kontinenten“, in: Claudia Quiring u. a. (Hg.), Ernst May 1886–1970. Neue Städte auf drei Kontinenten, München/New York 2011, S. 229–241, hier S. 231. 2 Vgl. Günther Schulz, Wiederaufbau in Deutschland. Die Wohnungsbaupolitik in den Westzonen und der Bundes­ republik von 1945 bis 1957, Düsseldorf 1994, S. 40. 3 Vgl. Michael Mönninger, „Neue Heime als Grundzellen für einen gesunden Staat“. Städte- und Wohnungsbau der Nachkriegsmoderne. Die Konzernzeitschrift „Neue Heimat Monatshefte“, Berlin 2018. 4 Peter Kramper, Neue Heimat. Unternehmenspolitik und Unternehmensentwicklung im gewerkschaftlichen Wohnungs- und Städtebau 1950–1982, Stuttgart 2008, S. 216. 5 Ernst May, „Unser Ziel“, in: Neue Heimat Monatshefte (im Folgenden: NHM) 1/1954, S. 4–8; dokumentiert in: Mönninger 2018 (wie Anm. 3), S. 72–75. Die Frage der Zuständigkeit für die NHM war für May untrennbar mit seiner planerischen Arbeit verbunden. Da er sich nicht nur in der Redaktion, sondern auch bei den Bauprojekten kujoniert fühlte, schied er Anfang 1956 bei der Neuen Heimat aus, blieb ihr jedoch als Berater und freier Architekt weiterhin eng verbunden. Mays Nachfolger bei den NHM wurden von 1956 bis 1962 die Hamburger

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Architekten Herbert Sprotte und Peter Neve. Verantwortlicher Redakteur wurde der Hamburger Zeitungsjournalist Günter Baumann; vgl. „Weit unter dem erstrebten Niveau“, in: Die Zeitschrift; siehe Mönninger 2018 (wie Anm. 3), S. 16–21. 6 Peter Krieger, Wirtschaftswunderlicher WiederaufbauWettbewerb. Architektur und Städtebau der 1950er Jahre in Hamburg, Diss. Univ. Hamburg 1995, S. 25. 7 1978 übernahm der Berliner Architekt und Publizist Lothar Juckel die Redaktion und ging auf deutliche Distanz zur Konzernpolitik, verzichtete dafür aber auch auf jegliche Kritik. Von 1982 an, als „Der Spiegel" den Korruptionsskandal in der Konzernleitung aufdeckte, gab Juckel der Zeitschrift den neuen Titel „Stadt“, änderte ihre Erscheinungstermine auf vierteljährlich und stellte 1986 mit der Auflösung des Konzerns das Blatt ein. 8 Die 1963 gegründete GEWOS war ein konzerneigener Think Tank, der nicht nur Mieterbefragungen durchführte, sondern auch Lobbyarbeit und Auftragsakquisition bei Kommunen betrieb; siehe Mönninger 2018 (wie Anm. 3), S. 64. Die zahlreichen Beispiele für interessegeleitete Analysen der GEWOS reichen von den Abrissempfehlungen für die Altstadt von Hameln (Karl Schneider, „Hameln – Erneuerung einer Stadt“, in: NHM 7/1968, S. 1–14; siehe Mönninger

Neue Heimat Monatshefte 3/1979, 1/1981

2018 [wie Anm. 3], S. 422–423) bis hin zu Rechtfertigungen von Großsiedlungen (z. B. in Albert Vietors Aufsatz „Von den Bewohnern akzeptiert: Neue Vahr“, in: NHM 3/1971, S. 12–17; siehe Mönninger 2018 [wie Anm. 3], S. 319–321), oder bei Stefan Grzimek, „Neuperlach bewährt sich“, in: NHM 6/1976, S. 16–25; siehe Mönninger 2018 [wie Anm. 3], S. 339–342). Auch Alexander Mitscherlich verfasste seine Gutachten für die Großsiedlung Heidelberg-Emmertsgrund im Auftrag der GEWOS. 9 Vgl. Martin Schwonke, „Endlose Bandstadt oder Megalopolis“, in: NHM 6/1964, S. 1–10; siehe Mönninger 2018 (wie Anm. 3), S. 234–240. Vgl. Alexander Mitscherlich, „Psychologie im Städtebau“, in: NHM 12/1969, S. 1–9; siehe Mönninger 2018 (wie Anm. 3), S. 308–314. 10 „Ich liefere auch eine Stadt“, Interview mit Albert Vietor, in: Welt am Sonntag, 31.5.1970. Vietor führte in diesem Zeitungsgespräch weiter aus: „Wir machen alles, von der Strukturanalyse über die Baulandbeschaffung, Finanzierung, Städte-, Tiefbau- und Hochbauplanung bis zur schlüssel­ fertigen Übergabe – zu festen Preisen und Terminen.“ 11 Vgl. Herbert Weisskamp, „Kongresscentrum in Monte Carlo“, in: NHM 4/1972, S. 1–10; siehe Mönninger 2018 (wie Anm. 3), S. 356–358.

Albert Vietor, „Auf dem Weg zur Stadt von morgen“, in: NHM 4/1969; S. 1-7; siehe Mönninger 2018 (wie Anm. 3), S. 134  f. 13 Ebd., S. 4; siehe Mönninger 2018 (wie Anm. 3), S. 135. 14 Ebd., S. 7; siehe Mönninger 2018 (wie Anm. 3), S. 138. 15 Demnach bestand die Neue Heimat aus 5 Regionalgruppen, 17 gemeinnützigen und 8 kommerziellen Tochtergesellschaften im Inland sowie weiteren 8 kommerziellen Tochtergesellschaften im Ausland. Vgl. „50 Jahre Neue Heimat“, in: NHM 5/1976, S. 1–11. Das Datum des Jubiläums geht auf die Vorgängergesellschaft der Neuen Heimat zurück, die als „Gemeinnützige Kleinwohnungsbaugesellschaft“ (GKB) 1926 in Hamburg gegründet wurde. 16 Albert Vietor, „Aufgaben und Ziele der Wohnungs- und Städtebaupolitik neu überdenken“, in: NHM 12/1976, S. 11–14; siehe Mönninger 2018 (wie Anm. 3), S. 165. 17 Vgl. Lidwina Kühne-Büning, Werner Plumpe und Jan-Otmar Hesse, „Zwischen Angebot und Nachfrage, zwischen Regulierung und Konjunktur. Die Entwicklung der Wohnungsmärkte in der Bundesrepublik, 1949–1989/1990–1998“, in: Ingeborg Flagge (Hg.), Geschichte des Wohnens. Von 1945 bis heute. Aufbau – Neubau – Umbau, Ludwigsburg/Stuttgart 1999, S. 153–232, hier S. 205. 12

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Sina Brückner-Amin

München Neuperlach, Wasserspielplatz 1986

„ S P I E L P L ÄT Z E U N D S O N ST I G E ANPFLANZUNGEN“ L A N D S C H A F T, FA M I L I E U N D K I N D H E I T G E STA LT E N , 1 9 5 5 –1 9 8 0

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G

I N G E E S N AC H D E N K I N D E R N , die mit ihren Familien in die Städte und Wohngebiete der Neuen Heimat einzogen, hätten die Häuser erst gar nicht auf die freie Wiese gebaut werden müssen. So lässt sich zumindest der Ansatz verstehen, den Hildegard Richter 1954 in den „Neue Heimat Monatsheften“ formuliert.1 „Was gehört in so ein Kinderland? Zunächst sollte es möglichst viel von der grünen lebendigen Natur einfangen. Wiesen, Bäume, Buschwerk, Wasser sollten seine Grundelemente sein.“2 Das klingt nach einem Ort, der Freiheit zum Herumrennen und Schmutzig-Machen, zum Lernen und Freunde-Finden bietet und folglich der beste Platz zum Aufwachsen wäre. Doch nicht nur das sind die entscheidenden Funktionen eines Spielareals in der Nachkriegszeit. „Wenn man außerdem bedenkt, daß Spiel nicht nur Üben von Körperund Geistesfunktionen, sondern auch Vorwegnahme von späteren Lebens- und Arbeitsfunktionen ist, so wird klar, wie wichtig es ist, daß das Kind in seinem Spiel die Entwicklung nimmt, die die Menschheit nahm, daß es mit Dingen aufwächst, spielt, arbeitet und übt, die früher Arbeitsmaterial und Arbeitsgeräte der Menschheit waren [...].“3 Richter argumentiert hier ganz im Sinne der Reformpädagogik, dass sich im Freispiel sämtliche lebenswichtige Fähigkeiten des Kindes ausbilden, seien diese praktischer, sozialer oder emotionaler Natur. Als unbeschriebenes Wesen auf die Welt gekommen, die sich zu diesem Zeitpunkt ebenfalls in einem tabula-rasa-artigen Zustand befindet, durchlebe das Kind nicht nur die individuelle Entwicklung im Aufwachsen, sondern ebenfalls die gesamte Evolution, „die die Menschheit nahm“4. Dieser Universalitätsanspruch, der zusätzlich an die Vorstellung eines „natürlichen Urzustands“ gebunden wird, war in den 1950er-Jahren eine Haltung, die nicht nur die Pädagogik durchzog, sondern auch in der bildenden Kunst – bevorzugt der Kunst am Bau5 – und der Landschaftsarchitektur6 zu finden ist. Kinder nehmen hier die Rolle der „Garanten des Morgen“7 ein. Ihnen möglichst viel Luft, Licht und Bewegungsfreiheit zu geben und die städtischen, zumeist engen Wohnverhältnisse auszugleichen, wurde mit Spielplätzen, aber auch mit Spielbereichen und Kinderzimmern im geförderten Wohnungsbau versucht.8 Das Kinderzimmer taucht als ausgewiesener Teil des Grundrisses im Kontrast zur schlicht betitelten „Kammer“ erst nach dem Zweiten Weltkrieg auf. Gleichzeitig kamen Kindermöbel auf den Markt, die erstmals in Serie produziert und einer breiten Käuferschicht zugänglich gemacht wurden.9 Folgt man den Empfehlungen der Pädagogin Lotte Tiedemanns, die 1956 in den „Neue Heimat ­Monatsheften“ abgedruckt werden, ging es buchstäblich darum, Gewächshäuser für Kinder einzurichten: Die „Sonnenbestrahlung des Kindes ist wichtig“ und der „Wechsel der Reize ist notwendig – Wind-, Luft- und Temperaturwechsel –, um die Anpassungsfähigkeit des Körpers zu entwickeln; vergleiche Treibhauspflanze und Freiluftpflanze“.10 Ähnlich der Städteplaner und Landschaftsgestalter, „jene als Techniker, Philosophen, Ärzte und Künstler“11 betitelte Professionen, sollten nun die jüngsten Menschen für die Prosperität der neuen Städte und Siedlungen garantieren und dafür sorgen, dass diese (wiederauf)gebauten Lebensumfelder etwas tun konnten, was eine Ansammlung anorganischer Materie ansonsten nicht vermochte: wachsen. Es ist der Spielplatz in der Gartenstadt Hohnerkamp in Hamburg Bramfeld, der Richter als hervorzuhebendes Beispiel galt. Dieser war zum Zeitpunkt ihrer Beschreibung allerdings noch nicht gebaut, sondern lediglich entworfen.12 Dass diese Überlegungen auch umgesetzt werden, schien der Autorin eine sichere Annahme zu sein, so trägt ihr Aufsatz die Überschrift „Einen Sektor des Lebens vergass der Städtebau“.13 Folglich gibt es gute Gründe, die eigenen Ansprüche der Neuen Heimat, buchstäblich den Boden der Tatsachen, zu untersuchen. Wenn rund zehn Jahre nach Kriegsende grüne Wiesen auf dem weggetragenen Schutt wachsen sollten, ist Landschafts- und Spielplatzgestaltung nicht nur ein Wunsch nach wiederzukehrender Fruchtbarkeit, sondern ein Medium, in dem sich weitreichende Ideen genauso ausdrücken konnten wie in der geplanten und gebauten Architektur.

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Auf dem länglichen Areal des geplanten Spielplatzes in Hohnerkamp, das von weichen und unregelmäßigen Konturen von Hecken und Bäumen eingerahmt wird, findet eine Funktionstrennung im kleinen Maßstab statt: Verschiedene Spielfelder wie ein Bolzplatz, ein Sandspielplatz, eine Puppenecke, ein Indianerplatz und ein Robinsonplatz – betitelt nach den Rollenspielen, die auf ihnen stattfinden sollten – sowie ein Spielgerätebereich wurden durch Hecken voneinander separiert, sodass eine Trennung der Alters- oder vielmehr der Entwicklungsgruppen wie auch der Geschlechter eingehalten wurde. Von der kleinen Sandmulde und dem Sandspielplatz aus konnten die Kleinsten durch offene Sichtachsen hinüber zum Reck oder zur hohen Rutsche blinzeln und die Mädchen in der Puppenecke den Totempfahl auf dem Indianerplatz bewundern, möglicherweise in der Hoffnung, nicht nur dort angefesselt zu werden, sondern auf dem Kletterbaum in Augenhöhe mitzuspielen. Hans Bernhard Reichow setzte in der für die Neue Heimat geplanten Gartenstadt Hohnerkamp seine Idee der „Organischen Städtebaukunst“ 14 um, die mit allen Registern die Metaphorik der „lebenden Stadt“ bedient und weitaus älter ist als seine berühmt gewordene Programmatik. 15 Darin überlagern sich die beschreibenden Begriffe, die einerseits aus der Welt der Pflanzen, andererseits aus dem lebenden Körper stammen: Adern und Zweige, Kreisläufe und Stoffwechsel sollten die jüngst gebaute Siedlung jeder Historizität – und damit auch ihrer eigenen Baugeschichte – entheben. Im Gegensatz zur faktisch technischen Entstehung der Wohngebäude ging es darum, diese als etwas Gewachsenes, ja Natürliches zu präsentieren. „Nach einigen Jahren wird diese Gartenstadt den Eindruck erwecken, als seien hier die Bauten in einen bestehenden Landschafts-­Organismus eingefügt worden“, konstatierte der Landschaftsarchitekt

Hamburg Hohnerkamp, Spielplatz, 1955

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Gustav Lüttge 1954, der neben Reichow für das Projekt Hohnerkamp verantwortlich zeichnete. 16 Wiederholt arbeiteten beide Planer zusammen. Zwischen 1953 und 1963 gestaltete Lüttge die Grünanlagen für mehrere Siedlungen der Neuen Heimat, so auch für Hamburg Farmsen und die beiden von Richard Neutra entworfenen Siedlungen Mörfelden-Walldorf und Quickborn. Seine grüne Programmatik zielte auch dort im Wesentlichen auf einen Ausgleich, den der Mensch im „technischen Zeitalter“ brauche, „wenn er gedeihen“ solle.17 Das erfordere kurzum die „Durchdringung der Umwelt mit den vegetativen Wachstumskräften“.18 Letztendlich ließ sich dieses Versprechen in der Gartenstadt Hohnerkamp nur bedingt einlösen: So zeigen die Fotografien von 1953, nach der Fertigstellung der Siedlung, noch keinen Spielplatz. Zwei Jahre später ist ein spielplatzähnliches Areal erkennbar, das jedoch noch von Stecklingen umzäunt ist und eine lose Ansammlung von umfunktionierten Fahrzeugen (ein Auto, ein Tramwaggon, ein Ruderboot) und ein paar vereinzelte Spielgeräte fasst. Dass die groß angekündigten Vorhaben nicht umgesetzt worden sind, macht den Kindern nichts aus, sie spielen trotzdem. Zeitgleich entstand in München die Parkstadt Bogenhausen, im Süden des gleichnamigen Stadtteils gelegen und östlich an das durchgrünte Villenviertel angrenzend. Im Sinne dieser Annäherung lassen sich auch die Ansprüche verstehen, die Architekt Franz Ruf 1955 formulierte: „Es war uns eine Selbstverständlichkeit, die Hochhäuser nicht für kinderreiche Familien zu planen, sondern den berufstätigen Junggesellen und alleinstehenden Ehepaaren Wohnungen mit einem Höchstmaß an Wohnwert für ihre spärliche bemessene Freizeit zu bieten.“19 Spielplätze finden sich hier keine, auch wenn die Wohnhochhäuser mit großzügigen Abständen zueinander an den ge-

München Neuperlach, Freizeitanlage für Erwachsene 1986, Foto: alphapress, Werner Hiebel, 1986

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schwungenen Straßen platziert sind. Diese dienten jedoch in erster Linie der Besonnung am Morgen und am Abend, so Ruf 20 – die Tageszeiten, an denen die berufstätigen Städter überhaupt ihr Zuhause genießen können. Der (Kinder-)Garten der Gartenstadt wird hier durch den Park ersetzt. Es nicht mehr darum, sich fortzupflanzen oder Kinder großzuziehen, sondern sich zu erfreuen und zu entspannen. Freizeitbezogene Architektur wie ein Kino, ein Café, eine Ladenzeile und eine Gaststätte wurden gegenüber den Wohnzeilen auf den Grünflächen platziert, die Schule und der Kindergarten an das andere Ende der Siedlung zu den parzellierten EinfamilienReihenhäusern eingeordnet. Was sich dort abzeichnete, war die zunehmende Zonierung und Funktionstrennung der Landschaftsbereiche in den Großsiedlungen und Stadtteilen der Neuen Heimat, die letztendlich darauf zielte, mittels Grünplanung familiäre Strukturen und nachbarschaftliche Gemeinschaft zu organisieren. Deutlich lässt sich diese Entwicklung auch an der Siedlung Lübeck „Bunte Kuh“ erkennen, die ab  1962 von Hans Konwiarz, Planungsleiter der Neuen Heimat Kiel, gebaut wurde. ­Konwiarz ­b ezeichnete das Bauvorhaben einerseits als „Gartenstadt ‚Bunte Kuh‘“, andererseits als  „GroßWohnanlage“ und markierte damit den etwas ungelenken Zustand eines Dazwischen, was sich in  der schematisch-homogenen, aber nur bedingt „organischen“ Gliederung des Baugeländes zeigt.21 Auf einem 65 Hektar großen Areal in dreieckiger Form werden alle Spitzen mit Wohnhoch­ häusern bespielt, die in Richtung der Mitte und den Seitenlängen des Geländes bis zu den eingeschossigen Eigenheimgruppen niedriger werden. „Konzentrisch“ nannte Konwiarz seine ­B ebauung, deren Mitte von einem vierten Wohnhochhaus gebildet wird, das sich in Richtung des Gemeinschaftsareals öffnet, bestehend aus einem Volksschulkomplex, einem Altersheim, einem

München Neuperlach, Grünanlagen, 1980

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Kinderheim wie auch Kirchen- und Ladenzentren. 22 Auf dem gesamten Plan sind, wie mit einem Stempel gedruckt, kleine Kreise erkennbar, die mit „SP“ betitelt sind: – Spielplätze, jeweils vier am Rand jedes Mietwohnungskomplexes. Die Zuordnung scheint hier weniger einer Programmatik als der theoretischen Flächennutzung zu folgen, sind die Areale, die es eigentlich für die Spielplätze braucht, nicht eingezeichnet oder abgegrenzt. Wer sich kein Eigenheim leisten kann, kann darauf hoffen, dass das eigene Kind ein wenig Platz auf der eigentlich großzügig bemessenen Wiese findet – immer unter der Prämisse, beim Spielen nicht zu laut zu sein, schließlich grenzen Wohnungen und jeweilige Privatbalkone an den Bereich. Die Jugendlichen, von der Neuen ­H eimat gerne als die Personengruppe mit dem meisten Auslaufbedarf aufgrund abzubauender Energie beschrieben,23 werden kurzerhand ausgelagert: Die Mittel- und Wirtschaftsober­s chulen sowie ein Sportplatz sind am Südende des Areals platziert, noch hinter dem letzten Wohnhochhaus. Die Einfamilienhäuser hingegen sind über die Grünflächen vernetzt: Sie sind auf allen drei Seiten der „Bunten Kuh“ mit den kürzesten Fußgängerwegen an die Gemeinschaftseinrichtungen angeschlossen und bilden Brücken zueinander. Eingebunden werden hier die Bewohnergruppen mit der größten Bedürftigkeit: die Alten und die Jüngsten, die von der Gemeinschaft ­ihrer Familien und  schließlich von den Institutionen versorgt werden sollen.24 Das geschieht ­zwischen den Wohnhochhäusern nicht. Der Fokus verlagert sich auf das Familienleben in der „Keimzelle“ des Eigenheims mit einem privaten Garten, auch wenn dieser unmittelbar an die ­gemeinschaftlichen Grünflächen anschließt. In der Siedlung „Bunte Kuh“ werden Privatsphäre und soziale Einbindung gewährleistet, während der Anspruch des sozial geförderten Wohnungsbaus zwar in Form von Wohnblocks umgesetzt, doch in der Alltagspraxis – sobald man vor die Tür tritt – vernachlässigt wird. Kreise zieht auch Gottfried Hansjakob, Landschaftsarchitekt für die Außenanlagen der Entlastungsstadt München Neuperlach, durch den zwischen 1967 und 1980 entstandenen Stadtteil. Größere und kleinere Spiel- und Aufenthaltsbereiche gehen in geschwungenen Mauern ineinander über. Wege und Wiesen, Wasserspielplätze und Sandkisten mit von ihm gestalteten Holzspielgeräten werden durch die gerundeten Umrisse zusammengehalten und erlauben einen Überblick von einem Spielareal zum anderen, von Erwachsenen zu Kindern und zurück. Auch die Bewohnergruppe der Jugendlichen, die in den anderen benannten Projekten ausgeschlossen oder ausgegliedert wurde, wird gleichberechtigt aufgenommen. Sind in einem Bereich Sitzbänke platziert, die das Separieren von den Erwachsenen ermöglichen, so sind neben den Spielplätzen auch Tischtennisplatten oder Liegewiesen angelegt. Das kleinteilige Changieren zwischen Privatsphäre und Geselligkeit macht die Funktionendifferenzierung der Landschaftsgestaltung Hansjakobs aus, die die Bedürfnisse aller Altersgruppen bedient.25 Mehrmals wurde Hansjakob, von der Neuen Heimat Bayern beauftragt, von der Stadt München für seine „vorbildliche Gestaltung“ der Grünanlagen von Neuperlach ausgezeichnet.26 Die Pläne für den Wohnring und Neuperlach-Süd zeigen, dass seine Pflanzennutzung vorrangig auf dem systematischen Anlegen von „eher streng gestalteten“27 Alleen und der Umringung von Mietwohnungskomplexen liegt. Das schafft einerseits, in der Betonung der Straße als urbanes Element, das Gefühl eines zusammengehörigen Wohnblocks und andererseits Lärmschutz und Privatsphäre im Angesicht der sich gegenüberstehenden Häuser mit ihren zahlreichen Balkonen. Auch am Wohnring werden die „lärmintensiveren Spielplätze für größere Kinder und Jugendliche“ außen untergebracht, um im Innenraum, dem nahezu 18 Hektar großen „parkartigen Gartenbereich“, für einen angelegten Rundweg mit angrenzenden „Kinderspielplätzen und sonstigen notwendigen Anpflanzungen“ Platz zu schaffen.28 Dort wiederholen sich die elliptischen Formen

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und Kreise; diese gehören wie auch Trapeze und Dreiecke in das geometrisch reduzierte Formenvokabular, das Hansjakob für die Gestaltung seiner funktional ausdifferenzierten Aufenthaltsbereiche im Grünen wählt. Markante Beispiele dafür sind die treppenartige Brunnen- und Beetanlage vor dem Marx-Zentrum in Neuperlach-Nord oder auch der Spielplatz, der ein kleines Labyrinth aus aufgestellten Baumstämmen darstellt. In Neuperlach stehen die Grünanlagen immer in einem formalen Kontrast zu den auf ihnen platzierten Wohngebäuden. Sie bilden ein umfassendes begrüntes Areal, das nicht vorgibt, schon gewachsen zu sein, wie die Gartenstadtanlagen von Gustav Lüttge, sondern das mit seinen Bewohnern wachsen wird. Die „Verantwortung“ für den Wiederaufbau der Gesellschaft liegt nicht mehr bei den Kindern allein, sondern in der Gemeinschaft eines heterogenen Stadtteils. Das Organische im Städtebau taucht noch einmal auf, jedoch nicht in der umzusetzenden Programmatik eines Gartenarchitekten wie Hans Bernhard Reichow, sondern in den weichen, manchmal fast psychedelischen Formen der Landschaftsarchitektur Gottfried Hansjakobs. Die „schwingenden“ Spielbereiche und Parkanlagen breiten sich konzentrisch aus und fordern ihre Daseinsberechtigung in der Gesamtplanung ein. Naturalisierung der Umwelt ist hier keine Suggestion mehr, sie weicht einem inszenierten Arrangement, das seine Konstruiertheit annimmt und ästhetisiert. Außenanlagen zu gestalten, die generationsübergreifend funktionieren, ist der Anspruch, dem die Formen hier folgen. Die Funktion dieser Anlagen lässt sich folglich wohl als mediatisierend beschreiben, im Kontrast zur Landschaft als Medium, die gerichtet einer Aufgabe dient. Vermittelnde Qualitäten zeichnen die Konzeption und Umsetzung dieser Landschaftsarchitektur aus, die nicht mehr auf ein Kernfamilienmodell zentriert ist. Dass es ein gesamtes Dorf oder eben einen Stadtteil braucht, um ein Kind großzuziehen, wird hier programmatisch. Die abgelegten Konzepte von Hygiene, Fortpflanzung, Trennung und Ordnung weichen in den Hintergrund und schaffen Raum für eine heterogene Gesellschaft der Nachkriegszeit, in der sich Menschen ­s ehen und begegnen.

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NHM 5,6/1954, S. 31–36. NHM 5,6/1954, S. 32–33. NHM 5,6/1954, S. 32. NHM 5,6/1954, S. 32. Susanne Leeb, „Gibt es eine Kunst des Posthistoire? Zu einem Deutungsschema der Nachkriegszeit“, in: Annette Maechtel/Kathrin Peters (Hg.), Die Stadt von Morgen. Beiträge zu einer Archäologie des Hansaviertels Berlin, Köln 2008, S. 104–115. Irene Nierhaus, „Body, Order, and Border. ‚Ein-Richtung‘ as biopolitical procedure in residential building and its cri­ tique in the visual media of the 1960s“, in: Kirsten Wagner/ Jasper Cepl (Hg.), Images of the body in architecture, Tübingen/Berlin 2014, S. 345–365. Kathrin Peters, „Vom Leben der Städte um 1960“, in: Irene Nierhaus u. a. (Hg.), Landschaftlichkeit. Forschungsansätze zwischen Kunst, Architektur und Theorie, Berlin 2010, S. 81–90, hier S. 86. NHM 3/1956, S. 20–24. NHM 3/1956, S. 23. NHM 3/1956, S. 21. Peters 2010 (wie Anm. 7), S. 89. NHM 11–12/1955, S. 7. NHM 5–6/1954, S. 31. Hans Bernhard Reichow, Organische Stadtbaukunst, Braunschweig 1949. Vgl. zur Metaphorik: Richard Sennett, Fleisch und Stein. Der Körper und die Stadt in der westlichen Zivilisation,

Frankfurt am Main 1994; Michel Foucault, Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Geschichte der Gouvernementalität, Bd. 1, Frankfurt am Main 2006. 16 Lüttge erlangte mit der Gestaltung des Hamburger Alsterparks zur Internationalen Gartenausstellung 1953 größere Bekanntheit. Es folgte das Projekt in Hohnerkamp im gleichen Jahr, 1956 wurde er mit der Grünflächengestaltung um die Hochhäuser 18–20 im Berliner Hansaviertel beauftragt. Vgl. Karl H. Hoffmann, Gustav Lüttge, http://www. architekturarchiv-web.de/portraets/l-n/gustav-luettge/ index.html (11.12.2018). 17 NHM 1/1954, S. 10. 18 Ebd. 19 NHM 2/1955, S. 6. 20 Ebd. 21 NHM 1/1962, S. 10. 22 Ebd. 23 NHM 7/1979, S. 26. 24 NHM 1/1962, S. 16. 25 Andrea Mühlmann, „Entlastungsstadt Neuperlach. Ein neuer Stadtteil für München“, in: Architekturmuseum Schwaben (Hg.), Landschaft für die Stadt. Gottfried Hansjakob und Anton Hansjakob Landschaftsarchitekten, Duisburg 2018, S. 28. 26 NHM 7/1979, S. 26. 27 Ebd. 28 Ebd.

München Neuperlach, Spielstraße, 1980

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Silke Langenberg

VO N KO N V E N T I O N E L L B I S R AT I O N E L L Z U R B A U T E C H N I K D E R N E U E N H E I M AT

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I E G R O S S E N WO H N B A U P R O J E K T E der ersten drei Nachkriegsjahrzehnte verlangten infolge des großen Bedarfs an zügig zu errichtendem Wohnraum nach einer Rationalisierung der Bauprozesse. Hierfür boten sie aufgrund ihres immensen baulichen Volumens 1 optimale Voraussetzungen. Das größte Wohnungsbauunternehmen im Nachkriegsdeutschland war die Neue Heimat, die bis 1959 „bereits 100.0000 Wohnungen fertiggestellt“ hatte.2 Das Bauvolumen der Neuen Heimat stieg bis 1966 auf 187.000 Wohnungen (von 605.000 geschaffenen Wohnungen in der gesamten noch jungen Bundesrepublik) und bis 1982 weiter auf 317.520 Wohnungen.3 Zunächst wurden serielle Fertigungstechniken des frühen 20. Jahrhunderts aufgegriffen, weiterentwickelt und erstmals versucht, in größerem Maßstab umzusetzen. Infolgedessen gewann der Systembau an Bedeutung, da eine überschaubare Anzahl standardisierter Bauelemente die industrielle Vorfertigung mit anschließender Montage auf dem Bauplatz begünstigte. Die Neue Heimat übernahm dabei Systeme aus dem Ausland, 4 um die Möglichkeiten des Montagebaus zu nutzen und vor allem eine Verkürzung der Bauzeit zu erreichen. Zudem sollte die Vorfertigung im Werk eine ganzjährige Vollzeitbeschäftigung gewähr­ leisten, was vor allem auch gewerkschaftlichen Zielen entgegenkam.5 Die in den frühen 1950er-Jahren entstehenden Siedlungen der Neuen Heimat, wie zum Beispiel Hamburg Hohnerkamp oder Auefeld in Kassel, wurden noch weitgehend konventionell errichtet, da dies aufgrund der relativ geringen Lohnkosten im Vergleich zu den hohen Investitionen, die für die Errichtung einer Fabrikationsanlage benötigt wurden, wirtschaftlicher war. Aufgrund der zentralen Abnahme großer Mengen konnte die Neue Heimat jedoch eine Reduktion der Einkaufspreise für die benötigten Baumaterialien aushandeln, wozu sie 1954 „zusammen mit der Großeinkaufsgesellschaft der deutschen Konsumgenossenschaften die Union-BaubedarfsGesellschaft (UBB)“ übernahm.6

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Sofern kein Fertigteilwerk in der Nähe des Bauplatzes – also in rund 50 Kilometern Entfernung  – vorhanden war, blieb zur seriellen Herstellung von Bauteilen nur die Feldfabrikation, welche in den 1960er-Jahren bei verschiedenen Großprojekten, wie zum Beispiel der Siedlung Kiel Mettenhof, zur Anwendung kam. Hierbei wurde auf dem Bauplatz eine Fertigungsanlage eingerichtet, in welcher die Bauteile standardisiert in größeren Stückzahlen hergestellt und anschließend bis zur endgültigen Montage auf dem Bauplatz gelagert wurden. Lange Transportwege und damit verbundene Kosten entfielen. Aufgrund der relativ hohen Investitionskosten zur temporären Errichtung der Fertigungsstraßen rechnete sich diese Herstellungstechnik jedoch finanziell kaum. Zwischen 1960 und 1970 stieg die Zahl der Fertigteilwerke in der Bundesrepublik massiv an – oft im direkten Zusammenhang mit Großbauvorhaben beziehungsweise in deren Nähe, allein zwischen 1961 und 1963 von 14 auf 500.7 Parallel nahm auch bei der Neuen Heimat der Anteil der in Fertigteilbauweise errichteten Wohneinheiten deutlich zu: Während er im Jahr 1964 noch bei 11 Prozent gelegen hatte, betrug er 1965 schon 27,5 Prozent und im Jahr 1966 33,8 Prozent. 8 Die Bauteile für die Errichtung der Wohnbauten im Fideliopark in München Bogenhausen beispielsweise oder auch an der Plettstraße im Münchner Stadtteil Neuperlach wurden im nur rund 20 beziehungsweise von Neuperlach knapp 40 Kilometer entfernten, 1964 neu errichteten Werk der Firma Hinteregger in deren eigenem Montagebausystem hergestellt. Mit dem Fuhrpark des Unternehmens wurden die vorgefertigten und bereits mit Installationen versehenen Elemente auf die Baustelle gebracht, wo sie nur noch montiert werden mussten.9 Anfang der 1970er-Jahre sollten die Bemühungen zur „Industrialisierung im Wohnungsbau“ nochmals verstärkt werden, um dem noch immer herrschenden dringenden Bedarf an Wohnraum – bei mittlerweile deutlich gestiegenen Lohn- und Baukosten – begegnen zu können. Die Neue Heimat beteiligte sich am 1972 ausgeschriebenen ELEMENTA-Wettbewerb, welcher das Ziel hatte, „mit wenigen typisierten Fertigteilen Bauten in verschiedener Form und Größe mit unterschiedlichen funktionell vollwertigen Grundrissen zu verwirklichen“.10 Obwohl der Beitrag der Planungsabteilung der Neuen Heimat unter Leitung von Paul Seitz nur den dritten Preis erlangte, kam die entwickelte Schottenbauweise mit tragenden Querwänden und einer Deckenspann­ weite von 7,20 Metern ab 1973 in verschiedenen Städten, unter anderem in Hannover, Oberhausen sowie am Hamburger Mümmelmannsberg zum Einsatz.11 Da weder die Fassaden­e lemente noch die Innenwände eine tragende Funktion besitzen, konnten letztere flexibel gestaltet werden – wobei die Flexibilität jedoch vor allem auf der Möglichkeit des Versatzes einzelner Wände beruhte.12 Parallel zur Vorfertigung standardisierter Bauelemente im Werk wurden ab Mitte der 1960er-Jahre auch verschiedene neuartige oder auch weiterentwickelte Schaltechniken direkt auf der Baustelle eingesetzt. Während bei hohen Gebäuden und insbesondere bei der Errichtung von Installations- und Treppenkernen verstärkt Kletter- und Gleitschalungen verwendet wurden, unterstützte gerade die Schottenbauweise den Einsatz von Schalwagen oder versetzbaren Schalelementen.13 Beim Bau des Klinikums in Aachen wurden die 24 Kerne mithilfe des Gleitschalverfahrens errichtet.14 Es unterscheidet sich von der Kletterschalung im Wesentlichen durch den kontinuierlichen Betonierprozess mithilfe einer in die Höhe gleitenden Schalung anstelle des geschossweisen Versetzens der Kletterschalung.

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Wie andere Bauträger oder auch Bund und Länder bei der Errichtung ihrer Großprojekte – vor allem im Bereich Bildung und Infrastruktur – förderte die Neue Heimat die Weiterentwicklung rationeller Fertigungsmethoden. Während das Ziel einer deutlichen Kostenreduktion beim Bauen nicht erreicht werden konnte, sind sowohl Zeitersparnis als auch bessere Beschäftigungsbedingungen für die Arbeiter als positive Effekte der neuen rationalisierten Bauweisen festzuhalten.

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Das jährliche Bauvolumen betrug in den 1960er- und 1970er-Jahren allein in der Bundesrepublik etwa 500.000 Wohnungseinheiten. In der Deutschen Demokratischen Republik wurden zwischen 1960 und 1980 rund 80.000 Wohnungseinheiten pro Jahr errichtet. Für die BRD vgl. Statistisches Bundesamt (Hg.), Lange Reihen. Baufertigstellungen neuer Wohn- und Nichtwohngebäude, Wies­ baden 2001; für die DDR vgl. Thomas Hoscislawski, Bauen zwischen Macht und Ohnmacht. Architektur und Städtebau in der DDR, Berlin 1991, S. 145 u. S. 285. Nach o. Verf., „Neue Heimat. Die Bauland-Fresser“, in: Der Spiegel 10/1959, S. 27. Peter Kramper, Neue Heimat. Unternehmenspolitik und Unternehmensentwicklung im gewerkschaftlichen Wohnungs- und Städtebau 1950–1982, Stuttgart 2008, S. 623. Z. B. das französische System „Camus“ und das dänische System von Larsen und Nielsen. Kramper 2008 (wie Anm. 3), S. 278–279. Zitat ebd., S. 277. Nach Walter Meyer-Bohe, Vorfertigung. Handbuch des Bauens mit Fertigteilen, Essen 1964, Tabelle S. 174.

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Vgl. Geschäftsbericht NHH 1965, S. 45; Geschäftsbericht NHH 1966, S. 56; Hier nach Kramper 2008 (wie Anm. 3), Anm. 325, S. 281. 9 Hierzu Silke Langenberg, „Neuperlach bautechnisch. Serielle Fertigung und Montagebau“, in: Andreas Hild/Andreas Müsseler (Hg.), Neuperlach ist schön, München 2018, S. 388–393. 10 O. Verf., „Fertigteilbau. Elementa 72“, in: db deutsche bauzeitung 7/1976, S. 21–38, hier S. 22. 11 O. Verf., „Die Wohnung passt sich der Familie an“, in: NHM 1/1973, S. 13–22. 12 Peter M. Bode, „Verschiebbare Wände im Schneckenhaus“, in: Der Spiegel 29/1975, S. 40–44. 13 Einen guten Überblick über verschiedene zeitgenössische Schaltechniken der 1960er- und 1970er-Jahre bieten z.  B. Rolf-Dieter Kowalski, Schaltechnik im Betonbau, Düsseldorf 1977; Oskar M. Schmitt, Einführung in die Schaltechnik des Betonbaues: Schalungsmaterial – Schalungssysteme – Schalungskonstruktionen, Düsseldorf 1981. 14 Philipp Holzmann Aktiengesellschaft (Hg.), Medizinische Fakultät der TH Aachen, Technischer Bericht Juni 1973, Frankfurt 1973, S. 6.

Ziegelbauweise, Hamburg Hohnerkamp, 1953

KO N V E N T I O N E L L E B AU W E I S E Die zwischen 1953 und 1955 entstandene Siedlung Hohnerkamp im Hamburger Stadtteil Bramfeld zeigt beispielhaft die in den Jahren des Wiederaufbaus übliche, eher konventionelle Bauweise mit Ziegelmauerwerk und holz-

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geschalten Ortbetondecken. Aufgrund der noch relativ geringen Lohnkosten machten sich die für den Bau eines Werks zur industriellen Herstellung von Bauteilen aufzubringenden Mehrinvestitionen nicht bezahlt.

Werkhalle mit Formtischen, Feldfabrik Kiel Mettenhof, 1964–1972

F E L D FA B R I K AT I O N U N D „ A L L B E TO N “ -V E R FA H R E N Die ab Mitte der 1960er-Jahre in Kiel Mettenhof errichteten Bauten wurden zu einem großen Teil noch konventionell „im traditionellen Mauerwerksverfahren“ errichtet. Nur „35 % der Hochbauten [sind] in Montagebauweise ausgeführt“ worden. Zur Herstellung der seriell vorgefertigten Wandelemente wurde im August 1965 auf dem Bauplatz eine Feldfabrik mit zwei parallelen Fertigungsbahnen eingerichtet. 1 Auf schienengelagerten Schaltischen wurden zunächst die Bewehrung und alle notwendigen Installationen in die Wandplatten eingelegt, bevor diese in einem nächsten Arbeitsschritt betoniert und verdichtet wurden. Sowohl Oberflächen wie Plattenbeläge, aber auch Ausbauelemente wie Türen und Fenster waren bereits vormontiert. Die fertigen Wand- und Deckenplatten wurden außerhalb des überdachten Fabrikbereichs aus der Schalung gehoben und bis zur endgültigen Montage auf dem Bauplatz gelagert. Die Montage erfolgte mithilfe fahrbarer Kräne.

Formteillagerung, Feldfabrik Kiel Mettenhof

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Zur Erstellung des 25-stöckigen, die Siedlung weithin überragenden Hochhauses in Mettenhof kam das in Schweden entwickelte und seit 1955 auch in Deutschland erprobte 2 „Allbeton“-Verfahren mit einer Stahltunnelschalung zum Einsatz,3 wobei Ortbetonverfahren und Vorfertigung miteinander kombiniert wurden. Hierbei sind zunächst die tragenden Zwischenwände mithilfe zusammenschraubbarer Schalungselementen betoniert worden. Die Schottenbauweise, bei der alle Innenwän-

de und die Fassaden nicht tragend sind, ermöglicht den Einsatz eines fahrbaren Schalungsgerüsts, welches nach dem Betonieren der Decken von einem Kran wieder gezogen und versetzt wird. S ­ chalungselemente heraus­ und Kran klettern stockweise in die Höhe. Während der Ausbau im unteren Bereich schon fast abgeschlossen ist, wird weiter oben noch betoniert. Der „Weiße Riese“ in Mettenhof „wuchs und wuchs“ auf diese Weise 75 Meter in die Höhe. 4

Allbeton-Verfahren mit Stahltunnelschalung, Hochhaus „Weißer Riese“, Kiel Mettenhof, Foto: Franz Scheper, 1971

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W E R KS F E R T I G U N G U N D M O N TAG E B AU

Fuhrpark im Fertigteilwerk Hinteregger, Neufahrn. Transport der vorgefertigten Bauelemente zur Baustelle, Foto: Christian Zocher Das Unternehmen Hinteregger verwendete in seinem Werk in Neufahrn bei Freising Formtische zur Herstellung der Großtafeln seines eigenen, auf der Schweizer „Durisol“-Bauweise basierenden Montagebausystems. Die einzelnen Schichten der Platten werden dabei nacheinander in die Schalung eingebracht. Nach dem Aushärten lassen sich die Formtische fast senkrecht kippen und die ausgehärteten Platten abheben. Bei der vertikalen Fertigung der Innenwände werden Stahlrahmen zwischen auf Rollen gelagerte Stahlplatten gehängt, welche dann auf den entsprechenden Abstand aneinandergeschoben und verspannt werden. Sämtliche Leerrohre für die Installationsleitungen sind zuvor bereits eingebracht worden. Anschließend wird der Beton von oben in die Schalung eingefüllt und verdichtet. Nach dem Aushärten können die Platten mithilfe eines Krans aus der Schalung gehoben und gelagert werden. Durch die Vorfertigung im Werk werden eine hohe Maßgenauigkeit und eine sehr glatte Oberfläche der einzelnen Platten erreicht, sodass diese später nicht mehr verputzt, sondern nur noch gespachtelt und gestrichen werden müssen.5

Einsetzen einer Deckenplatte, Großtafelbauweise, Fertigungssystem Hinteregger, Siedlung Fideliopark München

Formtische der Werkhalle, Firma Hinteregger, Neufahrn. Einlegen der Armierung und Einbringen des Betons, Foto: Otto Wasow

Im Fideliopark finden sich außerdem Bauten, die auf Basis des französischen Systems „Coignet“ entstanden sind. Dessen bis zu 9,5 Tonnen schwere Bauelemente werden ebenfalls im Werk vorgefertigt und mit Spezialfahrzeugen auf die Baustelle gebracht. Auch bei diesem System sind die elektrischen Installationen und Sanitärvorrichtungen bereits eingebaut, ebenso Fenster und Türen. Die Küchen und Bäder sind vollständig vorinstalliert. 6

Montage von Fertigteilelementen Plettstraße, Wohnring Neuperlach, Foto: Christian Zocher

Fertigungssystem Coignet, Montage eines Balkonelements, Siedlung Fideliopark München

Die Montage der im Werk vorgefertigten Bauteile des Montagebausystems Hinteregger erfolgt mithilfe von Turmdreh- und Autokränen. Für den Versatz der Platten sind jeweils bis zu sechs Arbeiter zuständig, wobei fehlende Facharbeiter durch angelernte Arbeiter ersetzt werden können. Die Platten werden mit justierbaren

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Stahlbolzen in die jeweils darunter liegende Platte eingeschraubt und ihre genaue Höhe mit einem Nivellierinstrument bestimmt. Seitlich werden die Platten über Rohrstützen mit verstellbarem Gewinde gehalten, bis sie nach Aufstellung aller Elemente eines Geschosses und Armierung der Knotenpunkte vergossen werden.

E L E M E N TA 7 2 Aufgrund eines Sonderprogramms zur Förderung industrieller Bauweisen durch den Hamburger Senat wurde das Großbauvorhaben Hamburg-Mümmelmannsberg zu einem Experimentierfeld des Montagebaus. Infolgedessen wurden beim ersten, zwischen 1970 und 1975 errichteten Bauabschnitt die für den geförderten Wohnungsbau zulässigen Gesamtkosten deutlich überschritten. 7 Gleichzeitig bemängelten die Entwerfer die mit dem Montagebau häufig einhergehende Monotonie in der Fassaden- und Grundrissgestaltung, 8 woraufhin der Bundesminister für Städtebau und Wohnungswesen zusammen mit der Zeitschrift „Stern“ 1972 den Wettbewerb ELEMENTA 72 auslobte. Der von der Neuen Heimat eingereichte und mit dem 3. Platz prämierte Wettbewerbsbeitrag wurde unter anderem in Hannover und am Hamburger Mümmelmannsberg ausgeführt. Das 122 Wohnungen umfassende Projekt der Neuen Heimat in Hannover war der erste der sieben ELEMENTA-­ Wettbewerbsbeiträge, mit dem begonnen wurde. Nur einen Monat nach Bauantragsstellung im Februar 1973 wurde der Bau begonnen, und im Sommer des darauffolgenden Jahres waren die letzten Wohnungen bereits bezogen. 9

Fassadengestaltung, Systembau ELEMENTA 72, Hamburg-Mümmelmannsberg, 1980

Schottenbauweise, Systembau ELEMENTA 72, Hamburg-Mümmelmannsberg, 1970–1979

Die Gründung der Gebäude in Hannover wurde noch in Ortbeton erstellt, die Kellerwände und -decken sind bereits aus Betonfertigteilen gefertigt, welche wie alle anderen Bauteile der darüber aufgehenden Geschosse von dem rund 170 Kilometer entfernten Werk Hessen bei Kassel auf dem Schienenweg und teils über die Straße angeliefert wurden. Da die Vorsortierung der Elemente bereits beim Beladen der Waggons erfolgte, konnte eine Zwischenlagerung auf der Baustelle entfallen. Das zur Erhöhung der Flexibilität der Grundrisse nichttragende und zum Teil versetzbare Innenwandsystem stammte aus Schweden und kam hier erstmals in der Bundesrepublik zum Einsatz. 10 Die Schottenbauweise ermöglichte eine u nabhängige Fassadengestaltung, womit vom System ­ man die zunehmende Kritik der industriell vorgefertigten Großbau­p rojekte zu entkräften versuchte. In Hannover kamen in der Fassade rote Stahlgitter und Sonnenblenden aus orangefarbenem Segeltuch zum Einsatz. Fassadengestaltung, Systembau Elementa 72, Hannover List, Foto: Franz Scheper, 1976

GLEITSCHALUNG, B AT T E R I E S C H A L U N G U N D VO R F E R T I G U N G I M W E R K Das von der Neuen Heimat errichtete Klinikum der Rheinisch-­Westfälisch Technischen Hochschule (RWTH) Aachen ist einer der wichtigen Prestigebauten im Bereich des bundesdeutschen Hochschulbaus und markierte Anfang der 1980er-Jahre als hoch technisierter Großkomplex gleichzeitig auch einen Endpunkt im Ausbau des Hochschulnetzes. Die Baustelle in Aachen war im Hinblick auf einen möglichst zügigen und kontinuierlichen Bauprozess optimiert. Baustelleneinrichtung und Bauablauf wurden von der Grundrissstruktur des Klinikums geprägt. Die 24 Kerne sind paarweise mithilfe des Gleitschalverfahrens errichtet worden, wobei jeweils zwei Schalungssätze zum Einsatz kamen: Während die eine Schalung kontinuierlich in die Höhe gleitet, wurde die andere Schalung bereits für den Einsatz am nächsten Kern aufgebaut. Die Montagekolonnen montierten gleichzeitig Fertigteilriegel, Anschlüsse der Ringanker und die Konsolen sowie im Inneren der Kerne, die per Kran von oben eingefädelten vorgefertigten Stahlbeton-Treppenläufe. Über diese erreichte die Gleitschalungskolonne dann jeweils wieder die Gleitschalung.

Nach Fertigstellung der ersten Kerne wurde direkt mit der Montage der vorgefertigten Betonelemente der dazwischen liegenden Feldzonen begonnen. Die in den Kernzonen „bis zu 8 t schweren Stützen und 1,5 t schweren Riegel entstehen in Batterieschalung auf der Baustelle“ und werden mithilfe von Turmdrehkränen aus der Schalung gehoben, welche anschließend ohne Abbau gleich wiederverwendet werden kann. 11 Die unteren doppelgeschossigen Stützen der Mitteljoche sind 35 beziehungsweise 56 Tonnen schwer und mussten per Autokran versetzt werden. Neben der Vorfabrikation von Bauteilen direkt auf dem Bauplatz wurden auch bestehende Fertigteilwerke, beispielsweise in Leverkusen, Utrecht und Ratingen genutzt. So wurden die Deckenträger und die aus zwei T-Trägern zusammengesetzten sogenannten Pi-Platten beispielsweise von Imbau in Leverkusen hergestellt. Aufgrund der Breite der Bauteile musste der Transport vornehmlich in den Nachtstunden erfolgen. Zwei Arbeitskolonnen montierten gleichzeitig bis zu 34 Deckenträger täglich.

Im Gleitschalverfahren erstellte Kerne des Universitätsklinikums Aachen, Foto: A. Milleris

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Montage der Feldzonen zwischen den Kernen, Universitätsklinikum Aachen, 1972–1973

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Vgl. Margrit Kühl, „Entwicklung des Stadtteils Kiel-Mettenhof. Eine Großwohnanlage im Montagebauverfahren der 1960er Jahre“, in: Bernfried Lichtnau (Hg.), Architektur und Städtebau im südlichen Ostseeraum von 1970 bis zur Gegenwart. Entwicklungslinien – Brüche – Kontinuitäten. Publikation der Beiträge zur kunsthistorischen Tagung Greifswald 2004, Berlin 2007, S. 63–81, hier S. 80. Vgl. o. Verf., „Allbeton-Bauweise in der Schweiz“, in: Wohnen 38, 1963, H. 12, S. 421–422. Kühl 2007 (wie Anm. 1), S. 80. Stefanie Janssen/Doris Tillmann (Hg.), „Mettenhof wuchs und wuchs“. 50 Jahre Leben in einem besonderen Stadtteil, Kiel 2018. Montagebau Hinteregger GmbH & Co KG (Hg.), Montagebau Hinteregger, Neufahrn bei Freising 1968. Siehe auch Silke Langenberg, „Neuperlach bautechnisch. Serielle Fertigung und Montagebau“, in: Andreas Hild/Andreas Müsseler (Hg.), Neuperlach ist schön, München 2018, S. 388–393.

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Neue Heimat Bayern (Hg.), Fideliopark. Eine neue Wohnanlage für 6.000 Einwohner in München-Englschalking, München o. J., o. S. 7 Klaus Hübenbecker u.  a. (Hg.), Wohnungsbau 1920–1980. Dokumentiert an Hamburger Beispielen, Hamburg 1982, S. 64–68. 8 Manfred Fuhrich, Neue Heimat. Gewerkschaften und Wohnungspolitik, Hamburg 1983, S. 149. 9 O. Verf., „Fertigteilbau. Elementa 72“, in: db deutsche bauzeitung 7/1976, S. 21–38, hier S. 32. 10 Ebd. 11 Alle Angaben und Zitate nach: Philipp Holzmann Aktiengesellschaft (Hg.), Medizinische Fakultät der TH Aachen, Technischer Bericht Juni 1973, Frankfurt am Main 1973, Zitat S. 10.

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Vera Simone Bader

Olympia-Einkaufszentrum, München, Foto: Kurt Otto, 1974

VO N D E R L A D E N Z E I L E Z U M SHOPPINGCENTER E I N E E N T W I C K LU N G S G E S C H I C H T E

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I

N D E N J A H R E N nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden in der Bundesrepublik zahlreiche Shoppingcenter, die sich am US-amerikanischen Vorbild der Mall orientierten. Obwohl die negativen Auswirkungen wie Verödung und Ladensterben durch solche Einkaufszentren auf die Innenstädte schon damals weltweit bekannt waren und in der Öffentlichkeit breit diskutiert wurden, eröffnete 1963 die erste deutsche Shoppingmall auf der „grünen Wiese“, das Main-Taunus-Zentrum in Sulzbach bei Frankfurt.1 Angeschoben hatte das Projekt eine aus Toronto stammende Finanzgruppe, 2 die 1961 mit den Planungen begonnen hatte. Deutschland mit seinem zu diesem Zeitpunkt starken Wirtschaftswachstum schien als Standort besonders attraktiv zu sein: Jedenfalls sollten in den folgenden Jahren weitere Einkaufszentren, erst auf der „grünen Wiese“, dann an der Peripherie und schließlich in den Städten entstehen.3 Die gewerkschaftseigene Neue Heimat, ein eigentlich gemeinnütziges und auf den sozialen Wohnungsbau spezialisiertes Unternehmen, sah mit äußerstem Unbehagen, dass andere Konzerne schon zu Anfang der 1960er-Jahre damit begannen, in unmittelbarer Nähe von Großsiedlungen Einkaufszentren zu planen. Durch die Bindung an die Gemeinnützigkeit durfte sie selbst nur Infrastruktureinrichtungen bauen, die zur unmittelbaren Versorgung der von ihr errichteten oder verwalteten Wohnungen dienten.4 Dazu gehörten gewerbliche Bauten wie Cafés, Restaurants und vor allem Geschäfte. Um das Feld nicht vollständig der Konkurrenz überlassen zu müssen, sah sich die Neue Heimat gezwungen, neue Organisationsstrukturen zu schaffen. Diese ermöglichten es ihr, auf die neuesten Entwicklungen zu reagieren, die eine veränderte städtebauliche und wirtschaftliche Dimension bedeuteten. 1961 besuchte eine Delegation der Neuen Heimat auf ihrer Studienreise in die USA Victor Gruen, den „Vater“5 der Shoppingmalls, und ließ sich von ihm die Funktionen seiner Gebäude näher erläutern.6 Nur wenige Monate später, im Mai 1962, gründete die Neue Heimat zusammen mit der Bank für Gemeinwirtschaft die Gewerbebauträger GmbH, ein vermeintlich unabhängiges, von der Neuen Heimat jedoch vollständig kontrolliertes Unternehmen.7 Mit dieser merkantilen Tochtergesellschaft konnte der Konzern in den folgenden zwei Jahrzehnten deutschlandweit Einkaufszentren errichten. Die Entwicklungsgeschichte der Neue-Heimat-Shoppingcenter ist dabei aus zweierlei Gründen einmalig: zum einen, weil sie ganz offensichtlich an den Werdegang des Konzerns, an die Ausweitung seiner Strukturen und letztlich auch an sein Scheitern gebunden war, und zum anderen, weil die Neue Heimat einen eigenen Weg abseits der normalen Pfade wählte. Das Unternehmen postulierte sogar öffentlich, „nicht vorbehaltlos Erfahrungen anderer Länder übernommen“ zu haben.8 Wie progressiv es dabei vorging, zeigen vor allem heutige Anforderungen an Projektentwickler und Betreiber, Nutzungsmischungen vorzunehmen und eine Integration in das urbane Leben zu garantieren.9 Neueste Analysen aus England und den Niederlanden bestätigen zudem, dass „die Chancen zur Stabilisierung der Einkaufsbereiche immer dann [wachsen], wenn der Handel und die Immobilienwirtschaft von Beginn an in den Dialog einbezogen werden“.10 Diesen Ansprüchen wurde die Neue Heimat bereits mit ihren ersten Projekten gerecht, da die von ihr errichteten Shoppingcenter immer an größere städtebauliche Aufgaben, die das Wohnen einschlossen, geknüpft waren. Das heißt, der Konzern passte den Gebäudetyp an seine planungstheoretischen Diskurse an, die er im Lauf von mehr als 20 Jahren intern über das führte, was Stadt ist und sein soll.

O F F E N E L A D E N ST R A S S E Die Neue Heimat errichtete bereits zwischen 1957 und 1962 – also noch vor der Gründung der Gewerbebauträger GmbH – für die von ihr errichtete Siedlung Neue Vahr in Bremen ein Einkaufszentrum. Dies war nur möglich, weil der Bau als sogenannte Folgeeinrichtung für die Versorgung

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der Mieter als gemeinnützig galt. Mit dem Modell einer vollständig geschlossenen Shoppingmall, so wie es in den USA flächendeckend tausendfach umgesetzt worden war, hatte dieser Komplex allerdings wenig gemein. Vielmehr reihten sich hier die Geschäfte entlang zweier gegenüberliegender Ladenzeilen aneinander, in deren Mitte eine Fläche für den Wochenmarkt freigelassen wurde.11 Allein die herauskragenden Dächer schützten die Geschäfte vor Hitze und Regen. Auf der einen Seite öffnete sich die Ladenstraße hin zu einem See, auf der anderen Seite wurde sie von dem 22-geschossigen Wohnhochhaus des Architekten Alvar Aalto abgeschlossen. Das Ensemble lag wie eine Insel inmitten der 218 Hektar großen Neuen Vahr, die 10.000 Wohnungen für 30.000 Einwohner umfasste.12 Große Verkehrsstraßen trennten das Einkaufszentrum von den einzelnen Wohnbereichen, die aus mehrgeschossigen Zeilenbauten bestanden und weiträumig von Grünanlagen gegliedert wurden. Diese Auflockerungen, durch Grünzüge und Straßenschneisen erreicht, verhinderten allerdings ein intensives Stadtgefühl.13 Stattdessen beherrschte die funktionale Trennung von Wohnen, Arbeiten, Freizeit und Verkehr den Gesamteindruck, der so monoton war, dass Eberhard Kulenkampff, ein Mitglied der Neuen Heimat Bremen, die Siedlung noch 30 Jahre später als „ein Denkmal edler Einfalt“14 bezeichnete. Mit den aus den 1930er-Jahren stammenden städtebaulichen Forderungen nach Licht, Luft und Sonne sollte Anfang der 1960er-Jahre gebrochen werden. Die veränderten Ziele hinsichtlich der Stadtplanung brachte der Geschäftsführer der Neuen Heimat, Albert Vietor, 1969 in einem ­Artikel rückblickend auf den Punkt: Die „Funktionstrennung“ müsse „überwunden“ und „städ­t­ische Schwerpunkte“, wie etwa Einkaufszentren, gesetzt werden, die den Siedlungen ein individuelles, unverwechselbares Gesicht verleihen würden.15 Diese Sicht korrespondierte mit den viel publizierten Ideen Victor Gruens, der bereits 1962 von der Neuen Heimat Hamburg eingeladen worden war, um vor einer Zuhörerschaft aus „Stadträten und Architekten aus der ganzen Bundesrepublik, Finanziers und anderen am Baugeschehen interessierten Persönlichkeiten“ über Funktionsmischung und die bauliche Verdichtung der Städte zu sprechen.16

S H O P P I N G C E N T E R A L S STÄ DT I S C H E R S C H W E R P U N K T Das erste Einkaufszentrum, das nach den neuen städtebaulichen Prinzipien von der Neuen Heimat umgesetzt wurde, war das Elbe-Einkaufszentrum (EEZ) in Hamburg, das Mitte der 1960er-Jahre an dezentraler Stelle im Hamburger Westen entstand. Mit dem Bau des auf Konsum fokussierten Zentrums sollten „die relativ dünnbesiedelten Elbvororte einen Schwerpunkt“ und die Stadt- und Regionalplanung eine „neue Dynamik“ erhalten. 17 Das Unternehmen brüstete sich in seinen „Monatsheften“ damit, „das erste deutsche Einkaufszentrum“ gebaut zu haben, „das nicht irgendwo ‚auf der grünen Wiese‘ errichtet, sondern planvoll in eine Wohngegend eingegliedert“ wurde.18 Bei den Hamburger Einzelhändlern rief das Projekt allerdings einen Sturm der Entrüstung hervor, der „einiger diplomatischer Verhandlungen“ bedurfte, ehe es tatsächlich verwirklicht werden konnte.19 Das EEZ konnte mit dem Auto von den umliegenden Stadtteilen und dem Zentrum Hamburgs über die Bundesstraße 431 erreicht werden. Über 2.000 Parkplätze standen den Kun­d en zur Verfügung, die sich wie eine riesige Betonwalze auf dem Gelände zwischen der Bundesstraße und dem Einkaufszentrum ausbreiteten. Fußgänger kamen dagegen aus der anderen Richtung: Die Architekten Paul Schwebes und Hans Schoszberger planten auf einem für Shoppingmalls eher unüblichen T-förmigen Grundriss eingeschossige Schaufensterfronten für

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Neue Vahr, Bremen, Ladenzentrum mit Ärztehaus, Foto: Franz Scheper, 1962

50 Einzelhandelsbetriebe. 20 Während an beiden Enden des T-Querstrichs die großen Warenhäuser Quelle und Hertie lagen – die für den Besucherstrom wichtigen Ankermieter –, war das dritte Ende offen und diente den Fußgängern als Eingang. Die Architekten verzichteten hier also explizit auf den Entwurf einer in sich geschlossenen, komplett überdachten und voll klimatisierten Shoppingmall. Vielmehr öffnete sich der Gebäudekomplex zur Wohnsiedlung hin und sollte sich so als neues städtebauliches Element mit der umliegenden Umgebung verbinden. Finanziert wurde das Projekt auch durch ein neues, von der Neuen Heimat mitentwickeltes ­Immobilienzertifikat, das hier erstmals zum Einsatz kam und für Eigenkapital in Höhe von 30 Millionen DM sorgen sollte:21 der mit der Deutschen Pfandbriefanstalt kreierte Hausbesitzbrief, der käuflich erworben werden konnte. Die Anleger, die Miteigentümer wurden, brauchten sich ­weder um die Errichtung noch um Vermietung oder Verwaltung des Objekts zu kümmern. Die „Bauherrensorgen“ und „Verwaltungsarbeiten“ übernahm die Neue Heimat, die den Grundbesitz für eine längere Zeitdauer pachtete. Die Anleger durften allerdings nicht mitreden. Dahinter stand die Idee – ähnlich wie bei einer Volksaktie –, „dem kleinen Mann“ Eigentum zu verschaffen. Dieses Vorgehen brachte der Neuen Heimat als gemeinnütziges Gewerkschaftsunternehmen den Vorwurf ein, sich über die Pachteinnahmen und Vermietungen zu bereichern und anderen auf diesem Weg zu steuerfreiem Einkommen verhelfen zu wollen. 22 Das EEZ war ein kommerzieller Erfolg, was sich positiv auf die weiter geplanten Projekte auswirkte. Anders sah es beim Einkaufszentrum in Köln Chorweiler aus. Hier konnte der größte Teil der 50 Gewerbeobjekte der Neuen Heimat nicht vermietet werden, wofür das Unternehmen als Risikoträger haften musste. 23

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Elbe-Einkaufszentrum, Hamburg, Foto: Hanseatische Luftfoto GmbH Hamburg, 1966

U R B A N I TÄT D U R C H D I C H T E : SHOPPINGCENTER IN GROSSSIEDLUNGEN Die Neue Heimat konnte 1968, was den Bau von Shoppingcentern betrifft, ein neues Prestigeprojekt verwirklichen: das Nordwestzentrum in Frankfurt am Main. Hier übernahm dieses Mal die Gewerbebauträger GmbH die nicht ganz risikoarme Finanzierung des 100-Millionen-DM-­ Objekts. 24 Die gesamte Anlage ist Teil der Nordweststadt, die in den Jahren 1962 bis 1968 entstand und für deren Errichtung die Neue Heimat hauptverantwortlich war. Schon die Wettbewerbsausschreibung machte klar, dass eine reine Wohn- beziehungsweise S ­ chlafstadt vermieden und vielmehr „ein Ausdruck gemeinschaftlichen Geistes“ geschaffen werden ­s ollte. 25 Ziel waren Multifunktionalität und neue Kommunikationsmöglichkeiten im öffentlichen Raum. Die städtebauliche Oberleitung erhielten Walter Schwagenscheidt und Tassilo Sittmann, die neben Wohnhäusern für 25.000 Menschen eine vielfältige Infrastruktur mit privaten und öffentlichen Einrichtungen entwickelten, wozu auch drei Nebenzentren mit Läden für den täg­ lichen Bedarf, Gastwirtschaften, Cafés und Apotheken zählten. Am östlichen Ende liegt das Nordwest­zentrum, das im hierarchisierten Ordnungssystem die wesentliche städtebauliche Komponente darstellte und auch von den benachbarten Quartieren als Kultur- und Geschäftszentrum genutzt werden sollte. Ein Straßenring führte zu den 2.000 Parkplätzen in den Untergeschossen der Anlage, die auch einen eigenen U-Bahn-Anschluss erhielt. Zusammen mit fünf Fußgängerbrücken stellten sie die Verbindung zu angrenzenden Ortschaften und der Frankfurter Innenstadt her. 26

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Elbe-Einkaufszentrum, Hamburg, 1966

Auf dem 70.000 Quadratmeter großen Grundstück waren – anders als beim Hamburger EEZ – nicht nur Geschäfte, sondern auch soziale und kulturelle Einrichtungen wie Feuerwehr, Post, Polizei, Kindergarten, Schulen und Bibliothek vorgesehen.27 Dieses breit gefächerte Programm spiegelte sich in der von ABB (Otto Apel, Hannsgeorg Beckert, Gilbert Becker) und Diedrich Praeckel entworfenen Architektur mit den verschieden großen Bauvolumina, den zum Teil plastisch geformten Fassaden und der Gestaltung der Außenräume durch Freitreppen und Terrassen wider. Der Architekt Oswald Mathias Ungers, der zusammen mit seiner Ehefrau das Nordwestzentrum 1970 besuchte, beschrieb es enthusiastisch als äußerst lebendigen Ort: „The effect is a surprisingly spacious adventure of criss-crossing bridges, overlapping terraces, ramps and stairways (no escalators) and intersecting volumes and platforms.“ 28 Die ebenerdigen Bereiche waren – wie in den Shoppingcentern zuvor – offen geplant, sodass das nur für Fußgänger bestimmte Zentrum keinen Fremdkörper in der Großsiedlung bildete, sondern auch nach Geschäftsschluss für die Bewohner zugänglich war. Lange Zeit wurde das Nordwestzentrum international als äußerst positives Beispiel rezipiert, vom International Council of Shopping Centers besonders hervorgehoben und 1969 auf dem UIA-Kongress in Buenos Aires als eines von 13 progressiven Arbeiten diskutiert.29 Auf keine so positive Resonanz stießen hingegen die etwa acht Kilometer nördlich von Düsseldorf gebaute Großsiedlung Ratingen-West und das dafür vorgesehene Einkaufszentrum. Ausgangsvoraussetzung für den 1967 geplanten Stadtteil war, dass die Großsiedlung über ein kommerzielles, soziales und kulturelles Zentrum im Osten an die alte Stadt angeschlossen werden

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Nordwestzentrum, Frankfurt, 1968

sollte.30 Ein erster Plan der Neuen Heimat zeigte die Umsetzung dieses Ziels auch noch. Doch bereits im Jahr darauf gab es konzeptionelle Änderungen, die mit der Entscheidung der Stadt Ratingen in Verbindung gebracht wurden, den Bau eines überregionalen Shoppingcenters auf einer Fläche von 250.000 Quadratmetern zu forcieren. 31 Diese Entwicklung, die über den ursprünglichen Plan einer einfachen Nahversorgungseinrichtung weit hinausging und am anderen Ende der Großsiedlung liegen sollte, hätte die Anbindung an das Ratinger Zentrum zunichtege-

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macht. Die Stadt Düsseldorf, die Kaufkraftverluste fürchtete, und mit ihr zahlreiche Zeitungen, kritisierten die Neue Heimat, die das gesamte Gelände für den Bau von Wohnungen steuergünstig erworben hatte, dieses unter Beteiligung ihrer Tochtergesellschaft nun zu einem Gewerbegebiet umnutzen zu wollen. Darüber hinaus wurde öffentlich moniert, dass die Gewerbebauträger GmbH ihr Bedarfsgutachten für den Bau des Einkaufszentrums von der Gesellschaft für Wohnungs- und Siedlungswesen e.  V. (GEWOS) erhalten hatte. An der Gründung dieses eingetragenen Vereins hatte die Neue Heimat 1962 aktiv mitgewirkt, um mit wissenschaftlichen Gutachten die Überzeugungsbildung in Städten und Gemeinden zu fördern. Auf diese Weise stand der Neuen Heimat faktisch ein eigener Gutachter zur Seite. „Kein unabhängiges Institut und kein unabhängiger Planer wurden befragt, keine regionale Behörde (wie die Kreisverwaltung) mit exakten Daten informiert, kein Planungsgremium ist gebildet worden, das die negativen Einflüsse auf den Raum Düsseldorf untersucht hätte“, war in der Wochenzeitung „Die Zeit“ zu lesen. 32 Auch aufgrund der starken öffentlichen Kritik ließ die Bezirksregierung den Bau erneut prüfen und kam zu dem Entschluss, dass es keines überregionalen Shoppingcenters an dieser Stelle bedurfte33. Die Neue Heimat errichtete letztlich nur ein kleines Zentrum mit wenigen Geschäften inmitten von Ratingen-West, das ausschließlich der Bedarfsdeckung der Einwohner des neuen Stadtteils diente.

SHOPPINGCENTER IN GROSSPROJEKTEN Das Vorhaben für Ratingen-West war es, das die Handlungsstrategien des Gewerkschaftsunternehmens öffentlich in die Kritik brachte. Der Gewerbebauträger GmbH wurde vorgeworfen, „die ganz ursprünglichen Planungen der Muttergesellschaft […] über den Haufen geworfen“ zu haben, indem sie gewissermaßen im Alleingang den Bau des Einkaufszentrums unterstützt hatte.34 Das Unternehmen musste neu strukturiert werden, um die verschiedenen Bereiche des Städtebaus, die bis dahin von unterschiedlichen Tochtergesellschaften ausgeführt worden waren, aus einer Hand erledigen zu können.35 Der Spagat zwischen Gemeinnützigkeit und Ausführung von städtebaulichen Aufgaben sollte rechtlich und organisatorisch nur gelingen, indem das Unternehmen am 13. Juni 1969 einen Parallelkonzern gründete, die Neue Heimat Städtebau, die mit der Neuen Heimat strukturell, personell und organisatorisch verflochten war. Mit dem Konzern konnten nun alle Schlüsselkompetenzen zum Bau einer Stadt angeboten werden, darunter auch Eigeninvestition, Gebäudeverwaltung, bauwirtschaftliche Dienstleistungen für private ebenso wie für öffentliche Auftraggeber. 36 „Wenn Sie so wollen“, warb Vietor 1970 in der „Welt am Sonntag“, „können Sie bei uns eine komplette Stadt bestellen. Wir machen alles, von der Strukturanalyse über die Baulandschaffung, Finanzierung, Städte-, Tiefbau- und Hochbauplanung bis zur schlüsselfertigen Übergabe – zu festen Preisen und Terminen.“37 Nach ihrer Gründung baute die Neue Heimat Städtebau in München das erste geschlossene und voll klimatisierte Shoppingcenter – seinerzeit das größte seiner Art in Europa –, das zu den Olympischen Spielen 1972 eröffnete. Das Olympia-Einkaufszentrum (OEZ) galt als Vorzeigeprojekt, denn besonders gewinnbringend war es für das Unternehmen nicht, da es an die gleichzeitige Errichtung des Pressezentrums gekoppelt war, für das es nach dem Ende der Spiele keine Verwendung gab.38 Dafür begeisterte das OEZ eine internationale Öffentlichkeit mit seinen zwei Waren­häusern, den 60 Fachgeschäften, dem Ärztezentrum, einem Restaurant, einem Café und einem Kindergarten. Wie für Shoppingmalls in den USA, inzwischen aber auch in Deutschland

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üblich, war es zweigeschossig und mit Ankermietern organisiert. Es sollte „durch zahlreiche Kioske, Sitzgruppen, Brunnen und Bepflanzungen ein buntes, marktähnliches Bild“39 entstehen, das über den damit verbundenen Wohnkomplex hinaus Kaufkraft anzog. Dem kurze Zeit später verwirklichten Leine-Einkaufszentrum (LEZ) in Laatzen diente das OEZ als Vorbild. Südlich von Hannover gelegen, sollte damit noch einmal eine neue Form von Shoppingcentern entstehen. Die Neue Heimat Städtebau plante und baute die riesige Anlage ab 1972. Das Neue an der baulichen Aufgabe war, dass der Ort eine enge Wohnbebauung für rund 30.000 Menschen und eine größere Stadtmitte erhalten sollte, die Einkaufsmöglichkeiten, Dienstleistungsbetriebe und kommunale Einrichtungen wie Rathaus, Bürgerhaus, Postamt und Heizwerk integrierte. Dieses von der Neuen Heimat Städtebau völlig neu entwickelte Stadtzentrum, welches die verschiedenen Funktionen verdichtete, war tatsächlich komplett überdacht und voll­ klimatisiert; die einzelnen Bereiche konnten über eine interne Wegeführung erreicht werden.40 In diesem kombinierten Zentrum bildete das 70.000 Quadratmeter große LEZ die entscheidende Achse. Ihm kam die besondere Rolle zu, „dem sich entwickelnden Stadtkörper ein ‚Herz‘ ein­ zupflanzen, das die Stadt kräftig mit pulsierendem Leben erfüllen wird“, wie es der „Sarstedter Kurier“ nach der Grundsteinlegung enthusiastisch formulierte.41 Das Großprojekt, das aus der ländlichen Gemeinde Laatzen eine Mittelstadt machte und in nur 19 Monaten hochgezogen wurde, war möglich geworden, weil die Gewerbebauträger GmbH 1969 zu 100 Prozent in den Besitz der Neue Heimat Städtebau übergegangen war.42 Erst mit den neuen Strukturen konnte die Neue Heimat Städtebau komplexe Bauaufgaben mit den verschiedenen Funktionsbereichen sowie die Koordination und Kombination der zahlreichen Leistungsbereiche anbieten, was in Deutschland einzigartig war.43 Wie gewinnbringend der Zusammenschluss war, zeigen die Umsätze, die sich bei der Neuen Heimat Städtebau zwischen 1972 und 1973 auf 2,3 Milliarden DM beliefen. Der große wirtschaftliche Gewinn hatte auch damit zu tun, dass seit Ende der 1960er-Jahre vermehrt Einkaufszentren gebaut wurden. Der hohe Profit, den diese Zentren erwarten ließen, lockte auch einige finanziell erstarkte Kommunen, die in ihren Stadtvierteln multifunktionale Mittelpunkte zu schaffen suchten. An dieser Stelle ist das Mannheimer Collini-Center zu erwähnen, das 1975 eröffnete und die verschiedenen Lebensbereiche Wohnen, Arbeiten (Büros), Einkaufen, Freizeit und Unterhaltung in einem riesigen Komplex zusammenfasste. Die Neue Heimat passte sich mit ihrer breiten Spezialisierung also an die Entwicklung des Städtebaus an. Dass sie mit dieser Ausdehnung von ihrer eigentlichen Ambition, „Wohnungen, Wohnungen und nochmals Wohnungen“44 zu bauen, immer weiter abrückte, war für Vietor kein Widerspruch, der frei heraus erklärte, dass „Städtebau angewandte Gesellschaftspolitik“ sei.45

S H O P P I N G C E N T E R I N D E N I N N E N STÄ DT E N : E I N E A LT STA DT SA N I E R U N G S M A S S N A H M E Die durch die Ölpreiskrise ausgelöste Rezession setzte dem Wirtschaftswachstum in der Bundesrepublik ein Ende und beeinflusste ab Mitte der 1970er-Jahre damit auch die Neue Heimat Städtebau: Die Bundesregierung setzte sich seit 1974 statt für einen großzügigen Ausbau der ­Infrastrukturen nun für die Bestandspflege vorhandener und damit kleinerer Einrichtungen ein.46 Es gab plötzlich keinen Bedarf mehr an Großprojekten, so wie sie noch Monate zuvor in Laatzen

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Olympia-Einkaufszentrum, München, 1974

oder Mannheim angestoßen worden waren. Dies führte zu sinkenden Umsätzen, die stärker rückläufig waren als die des Gesamtmarkts. 47 Die Entwicklung ging mit einem Paradigmenwechsel in der Stadtplanung einher: Die unternehmerischen Aufgaben wurden nicht mehr nur im Wiederaufbau und im Umbau der Städte, sondern vor allem in der Sanierung der alten Stadtkerne gesehen. Das Städtebauförderungsgesetz, das bereits 1971 in Kraft getreten war, erhielt 1976 eine Neufassung, die den Effekt verstärkte, sich dem Altbau allein schon aus steuerlichen Gründen zu widmen. 48 Auf diese Entwicklung Bezug nehmend, errichtete die Neue Heimat Städtebau 1975 in Aschaffenburg die erste Shoppingmall in einer Innenstadt mit einer gewerblichen Nutzfläche von 50.000 Quadratmetern. In den „Neue Heimat Monatsheften“ wird sie als ein Einkaufszentrum neuer Art angepriesen, das Aschaffenburg einen großstädtischen Eindruck verleihen sollte. 49 Es folgte das 1978 eingeweihte Columbus-Center in Bremerhaven, das zum Wahrzeichen der Stadt avancierte. Die Neue Heimat Städtebau hob hervor, dass diese Projekte auf lokaler Ebene die Zentren stärken, ihre Funktionen erweitern und auf regionaler Ebene die Stellung der Städte festigen sollten.50 Mit dieser neuen Form von Shoppingcentern versuchte der Konzern, sich auf die veränderte wirtschaftliche und städtebauliche Situation einzustellen. Allerdings war es ihm in den darauffolgenden Jahren durch die drastischen Veränderungen der Marktbedingungen nicht mehr möglich, größere Einkaufszentren umzusetzen, was unter anderem dazu beitragen sollte, dass der aufgeblähte, wachstumsorientierte Apparat der Neue Heimat Städtebau allein aufgrund der immensen Kosten förmlich implodierte.

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Columbus-Center, Bremerhaven, 1978

D I E S H O P P I N G C E N T E R - KO N Z E P T E D E R N E U E N H E I M AT : E I N E B I L A N Z Die Neue Heimat baute in drei Jahrzehnten über 40 Einkaufszentren. Damit prägte sie den Kurs maßgeblich. In den 1950er-Jahren entstanden Ladenzeilen und niedriggeschossige Geschäftszentren – mehrfach in Kombination mit Kindergärten oder Gemeindezentren –, die in Wohnsiedlungen oder Nachbarschaften integriert wurden. Erst mit der Ausbildung der Großsiedlungen Ende der 1960er-Jahre errichtete die Neue Heimat große Einkaufszentren. 1969 kam es zur Gründung der Neuen Heimat Städtebau, genau in dem Moment, als die Shoppingcenter zunehmend die Stadtplanung beeinflussten und immer mehr stadtteilbildende Funktionen übernahmen. Durch die intensive Vernetzung der Neuen Heimat mit den jeweiligen stadtpolitischen Entscheidungsträgern und die Möglichkeit, finanziell durch den Kauf von Grundstücken in Vorleistung zu gehen, konnten viele Zentren verwirklicht werden. Allerdings war es ein meist kostspieliges Unterfangen, da die Konzepte in der Regel erst viele Jahre nach dem Grundstückskauf umgesetzt werden konnten. Mit dieser strikt merkantilen Ausrichtung diskreditierte sich der Konzern in der öffentlichen Wahrnehmung als gewerkschaftliches Unternehmen zunehmend, auch weil Einkaufszentren mit steigender Tendenz unabhängig von der Wohnraumschaffung gebaut wurden. Dennoch kann nicht geleugnet werden, dass die errichteten Objekte stets auf städtebaulich integrativen Konzeptideen basierten, wie sie auch heute wieder verlangt werden. 51 Mit dem Ende der Neuen Heimat verlor die Bundesrepublik daher nicht nur einen handlungsfähigen Projektentwickler, sondern zugleich auch dessen positive konzeptuelle Ansätze. Die gesteckten

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Ziele – wirtschaftlich erfolgreiche und zugleich zentrumsbildende Gewerbeflächen zu schaffen, die lebendige Begegnungsorte sind und Stadt(teil)bewusstsein erzeugen – wurden jedoch meist nur für einen begrenzten Zeitraum erfüllt. Fast alle Shoppingcenter mussten nach ein bis zwei Jahrzehnten wegen schwindender Umsätze und ausbleibender Besucherzahlen modernisiert oder umfunktioniert werden.

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Jane Jacobsen, The Death and Life of Amercan Cities, New York 1961. 2 Das Main-Taunus-Zentrum wurde von Frederik Burton und der Firma Principal Investments Ltd. finanziert und von Jerry Shersky und Vincent Carriste entworfen. 3 Als zweite Shoppingmall gilt der Ruhr-Park in Bochum, 1964 eröffnet. Das Porta-Zentrum in Porta Westfalica wurde 1965 in einem Gewerbegebiet gebaut. Die Neue Heimat baute mit dem Elbe-Einkaufszentrum das dritte Shoppingcenter in Hamburg. 4 Deutscher Bundestag: Beschlußempfehlung und Bericht des 3. Untersuchungsausschusses „Neue Heimat“ nach Artikel 44 des Grundgesetzes, 7.1.1987, S. 88. 5 Alexander Wall, Victor Gruen: From Urban Shop to New City, Barcelona 2005, S. 18. 6 Siehe Victor Gruen, „Herzinfarkt der Städte“, in: NHM 12/1962, S. 24–41, hier S. 24. 7 Zum Verhältnis der Gewerbebauträger GmbH zur Neuen Heimat vgl. detailliert Peter Kramper, Neue Heimat. Unternehmenspolitik und Unternehmensentwicklung im gewerkschaftlichen Wohnungs- und Städtebau 1950–1982, Stuttgart 2008, S. 294. 8 O. Verf., „Elbe-Einkaufszentrum. Rund 60 Millionen Besucher in zehn Jahren“, in: NHM 5/1976, S. 30–35, hier S. 30. 9 Franz Pesch, „Integration und Urbanität. Zukunftsperspektiven innerstädtischer Einkaufszentren“, in: Informationen zur Raumentwicklung 1/2014, S. 55–66. 10 Ebd., S. 62. 11 Erich Traumann, Das neue Bremen. Wohnungsbau der ­G EWOBA, o. O. 1959, S. 32. 12 Dietmar Reinborn, Städtebau im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart u. a. 1996, S. 244. Die Siedlung wurde nach g etrennten Konzeptvorschlägen von Ernst May, Hans ­ ­B ernhard Reichow, Max Säume und Günther Hafemann ­e rrichtet. 13 Ebd., S. 246. 14 O. Verf., „Die ‚Neue Vahr‘ in Bremen. ‚Ein Denkmal edler Einfalt‘“, in: Spiegel Online, 2001, http://www.spiegel.de/sptv/ reportage/a-142913.html (7.12.2018). 15 Vietor, „Auf dem Wege zur Stadt von morgen“, in: NHM 4/1969, S. 1–7, hier S. 1–2. 16 Victor Gruen, „Herzinfarkt der Städte“, in: NHM 12/1962, S. 24–41, hier S. 24. 17 Vietor (wie Anm. 15), hier S. 4. 18 O. Verf., „Elbe-Einkaufszentrum: 50.000 kamen zur Eröffnung“, in: NHM 6/1966, S. 46–47, hier S. 46. Siehe auch „City Galerie Aschaffenburg. Ein Einkaufszentrum neuer Art“, in: NHM 4/1975, S. 1–9, hier S. 1. 19 Felix Fabian, „Hausbesitz für 100 Mark“, in: Die Zeit, 17.7.1964. 20 Hamburgisches Architekturarchiv: http://www.architek turarchiv-web.de/portraets/neue-heimat/kapitel-4/index. html (7.12.2018), siehe auch o. Verf., „Elbe Einkaufszen­ trum: 50.000 kamen zur Eröffnung“, in: NHM 6/1966, S. 46–47. 21 Gerhard Müller/Josef Löffelholz, Bank-Lexikon. Handwörterbuch für das Bank- und Sparkassenwesen, Wiesbaden 1973, S. 1884. Das Immobilienzertifikat wurde auch bei anderen Projekten der Neuen Heimat angeboten. 22 Peter Scheiner/Hans Henning Schmidt, Neue Heimat – Treue Heimat. Ein multinationaler Gewerkschaftskonzern, Stuttgart 1974, S. 96–97. 23 Deutscher Bundestag 1987 (wie Anm. 4), S. 88. 24 Hans-Reiner Müller-Raemisch, „Nordwestzentrum“, in: ders. (Hg.), Frankfurt am Main. Stadtentwicklung und Planungsgeschichte seit 1945, Frankfurt am Main u. a. 1998, S. 136–144, hier S. 141–142.

25 Vgl. Sunna Gailhofer/Peter Cachola Schmal (Hg.), Frank­ furter Projekte von Otto Apel/ABB Architekten, Frankfurt am Main 2017, S. 75. 26 Walter Schwagenscheidt, Die Nordweststadt. Idee und Gestaltung, Stuttgart 1964, S. 88. 27 Müller-Raemisch 1998 (wie Anm. 24), S. 137–138. 28 Zit. nach Liselotte Ungers/O. M. Ungers, „Nordwest-Zen­ trum. Ad-Hoch Heart for a City?“, in: The Architectural Forum, Oktober 1970, S. 31–37, hier S. 32. 29 Ebd., S. 34. 30 Heinz Krehl, „Der Skandal von Ratingen. Stirbt der Städtebau an der ‚Neuen Heimat‘“?, in: Die Zeit, 10.11.1967, S. 3. 31 Siehe hierzu und zum Folgenden Oliver Schöller, Die Blockstruktur. Eine qualitative Untersuchung zur politischen Ökonomie des westdeutschen Siedlungsbaus, Berlin 2005, S. 151–165, hier S. 153. 32 Siehe Krehl 1967 (wie Anm. 30), S. 5. Die Neue Heimat nahm zu dieser Anschuldigung Stellung und schrieb ebenfalls in „Die Zeit“, dass sie die Änderungen und Details immer mit der Stadt Ratingen verhandelt habe. Diese sei allerdings am Bau des Einkaufszentrums allein aus wirtschaftlichen Gründen sehr interessiert gewesen. Vgl. Günter Baumann, „Ist Ratingen ein Skandal? Die Zentren beleben sich gegenseitig“, in: Die Zeit, 17.11.1967. 33 Oliver Schöller, „Urbanität durch Dichte – ein umkämpftes Konzept dargestellt am Beispiel des Großsiedlungsbaus der ‚Neuen Heimat‘“, in: Die alte Stadt 28/2001, S. 111–129, hier S. 124–125. 34 Krehl 1967 (wie Anm. 30), S. 3. 35 Kramper 2008 (wie Anm. 7), S. 362–363. 36 O. Verf., „Vom Wohnungsbau zum Städtebau“, in: Neue Heimat (Hg.), 50 Jahre Neue Heimat Hamburg, Hamburg 1976, S. 20–22. 37 Welt am Sonntag, 31.5.1970. 38 Kramper 2008 (wie Anm. 7), S. 430. 39 „Olympia-Einkaufszentrum München“, in: Neue Heimat (Hg.), 50 Jahre Neue Heimat Hamburg, Hamburg 1976. 40 Das Leine-Einkaufszentrum wird in der Urkunde zur Grundsteinlegung als erster „neuer Stadtmittelpunkt“ der Bundesrepublik bezeichnet, der überdacht und voll klimatisiert ist; Urkunde zur Grundsteinlegung des Leine-Einkaufszentrums, 12.4.1972, Stadtarchiv Laatzen. 41 O. Verf., „Mittelstadt Laatzen tritt in Konkurrenz“, in: Sarstedter Kurier, 18.4.1972. 42 Kramper 2008 (wie Anm. 7), S. 429–430. 43 Hierzu und zum Folgenden: ebd., S. 430–431. 44 Neue Heimat (Hg.), „Wohnungen, Wohnungen und nochmals Wohnungen“, Hamburg 1956. 45 Albert Vietor, „Von den Bewohnern akzeptiert: Neue Vahr“, in: NHM 3/1971, S. 12–17, hier S. 13. 46 Kramper 2008 (wie Anm. 7), S. 531–532. 47 Ebd. 48 Reinborn 1996 (wie Anm. 12), S. 290. 49 NHM 4/1975, S. 1–9, hier S. 1: „Die City von Aschaffenburg war immer weniger in der Lage, wachsenden Anforderungen gerecht zu werden. […] Die vorhandenen großen Häuser konnten wegen der schwierigen Eigentumsstruktur und den Hindernissen, die einer umfassenden Sanierung aus vielerlei Gründen entgegenstehen, ihre Geschäftsflächen in der Innenstadt kaum ausweiten.“ 50 O. Verf., „Columbus-Center, 80.000 kamen zur Eröffnung“, in: NHM 5/1978, S. 46. 51 Rahel Willhardt, „Schluss mit der Mono-Architektur der Center“, in: Die Welt, 2.10.2015.

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Franz Labryga

Klinikum am Urban, Berlin, 1970

K R A N K E N H ÄU S E R A L S HOCHORGANISIERTE GESUNDHEITSMASCHINEN? D I E M E D I P L A N , E I N E TO C H T E R G E S E L L S C H A F T D E R N E U E N H E I M AT D I E E N T W I C K L U N G D E S K R A N K E N H AU S B AU S I N D E N JA H R E N 1 9 6 5 –1 9 8 2

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N D E R FA ST 2 0 - J Ä H R I G E N TÄT I G K E I T des Konzerns Neue Heimat und seiner Tochter Mediplan wurden in der Bundesrepublik verhältnismäßig viele Krankenhausneubauten geplant und gebaut. Das liegt vor allem an dem durch die Kriegsereignisse noch immer aufgelaufenen Nachholbedarf, aber auch an der durch den technischen, insbeson-

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dere den medizintechnischen Fortschritt und die gesundheitspolitischen Entwicklungen bedingten Notwendigkeit zur Erneuerung. „Der Wandel im Krankenhausbau bleibt die verlässlichste Konstante“, wie Peter Pawlik feststellte.1 Die Krankenhausarchitekten nutzten ihre gestalterische Fantasie und entwarfen Bauten entlang des Alphabets, zum Beispiel T-, I-, H- und V-Typen. Sie ordneten den Pflegebereich sowie den Untersuchungs- und Behandlungsbereich in Form des Vertikaltyps und später verstärkt als Horizontaltyp an. Natürlich gab es auch Sonderformen und eine komplexe Formenvielfalt bei Sanierungen und Erneuerungen. Das im Jahr 1980 erschienene Buch „Krankenhausbau“ 2, das noch heute als Standardwerk gilt, enthält die Untersuchungsergebnisse zu Fragen der Entwurfsstrategie sowie einer Maßordnung und führt überdies Anwendungsbeispiele an, die als Hilfe für den Architekten gedacht sind. Grundlage war ein Forschungsauftrag des Landes Nordrhein-West­ falen an das Institut für Krankenhausbau der Technischen Universität Berlin. Zahlreiche der nach seinem Erscheinen entstandenen Krankenhausplanungen befolgten die hier entwickelten entwurfsstrategischen Regeln, die der Planung eine Magistrale (Hauptverkehrsweg) mit Zugängen zu den erweiterbaren oder reduzierbaren Funktionsstellen des Untersuchungs- und Behandlungsbereichs sowie des Pflegebereichs zugrunde legen.

D I E K R A N K E N H AU S P L A N U N G S G E S E L L S C H A F T MEDIPLAN Zusätzlich zum bereits Ende der 1960er-Jahre bestehenden Bettenbedarf errechnete die Neue Heimat einen weiteren bundesweiten Neubedarf von 175.000 Betten bis 1980. Anknüpfend an die prognostizierten Bedarfszahlen verabschiedete die Bundesregierung im Januar 1972 Förderungen zur Krankenhausfinanzierung von rund einer Milliarde DM für einen Zeitraum von zweieinhalb Jahren. 3 Bereits 1964 hatte die Neue Heimat, ein gemeinnütziger Wohnungsbaukonzern mit seiner Zentrale in Hamburg und Regionalgesellschaften in den Bundesländern, eine Tochtergesellschaft Neue Heimat Kommunal (NHK) zum Bau nichtgemeinnütziger, öffentlicher und sozialer Kommunalbauten gegründet. Durch sie wurden nicht nur Sportstätten, Schulen und Altenheime realisiert, sondern auch zahlreiche Krankenhäuser. Geplant wurden die Krankenhausprojekte von einer Fachabteilung, die seit 1965 unter dem Namen Mediplan firmierte und als Krankenhausplanungsgesellschaft von Siemens gegründet worden war. 4 Der erste Krankenhausbau der NHK, das Krankenhaus Links der Weser in Bremen, konnte in Zusammenarbeit mit Mediplan erfolgreich zum geplanten Fertigstellungstermin abgeschlossen werden und lag zudem unter den veranschlagten Baukosten. Weitere Aufträge in anderen Städten folgten. Mit Gründung der Neuen Heimat Städtebau (NHS) 1969 übernahmen deren regionale Vertretungen – zusammen mit der NHK – die Baubetreuung und -durchführung. Die steigende Nachfrage im Krankenhausbau führte schließlich zum Kauf von Mediplan 1972 als überregionale Spezialgesellschaft der Neuen Heimat. 5 In den „Neue Heimat Monatsheften“ wurde Mediplan daraufhin vorgestellt und die Rolle des Unternehmens benannt: „Die Mediplan übernimmt für den Auftraggeber sowohl die Betreuungs- als auch die gesamte Planungsleistung für Programme und für Bauvorhaben und bietet ihnen die Sicherheit für zweckmäßige, rationelle Entwicklung.“ 6 Mediplan unterhielt die drei Fachbereiche Gebäudeplanung, Medizintechnik und Betriebsorganisation, und die eigenen Architekten arbeiteten oft mit freien Architekturbüros partnerschaftlich zusammen. Für die von der Mediplan betreuten Krankenhäuser war es wichtig, dass

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die Ingenieure des Fachbereichs Medizintechnik absolut firmenneutral planten. Für ein reibungsloses Funktionieren des Krankenhausbetriebs sorgten die Mitarbeiter des Fachbereichs Betriebsorganisation. Bei einigen Großprojekten übernahm Mediplan auch die Generalplanung und war so dem Bauherrn gegenüber gesamtverantwortlich. Als Garant stand in solchen Fällen hinter der Planungsgesellschaft Mediplan der Konzern Neue Heimat. 7 Der Umfang der von der Mutter NHS und der Tochter Mediplan in den Krankenhäusern erbrachten Leistungen konnte nicht mehr vollständig ermittelt werden, unter anderem weil die Mediplan von 1965 bis 1972 noch als Siemens-Tochter Krankenhäuser gebaut beziehungsweise eingerichtet hat, an denen die NHS nicht beteiligt war. Zu den gesicherten Bauten der Neuen Heimat und Mediplan zählen:8 Universitätsklinikum Aachen (Baudurchführung und Planungskoordination: NHS Hamburg und Nordrhein-Westfalen; Betriebsorganisation und Betriebsablaufplanung: NHS Hamburg und Riethmüller Betriebsablaufplanung: Hans-Ullrich Riethmüller, Funktions-und Medizintechnik: zunächst NHS und ab 1972 Mediplan), 9 Kreiskrankenhaus Alsfeld, Zentralkrankenhaus Augsburg, Kreiskrankenhaus Bad Schwetzingen (Siemens-Mediplan), Deutsches Herzzentrum Berlin (Medizintechnik: Mediplan), Krankenhaus am Urban – Berlin (NHK Berlin und NHS Hamburg), Rudolf-Virchow-Klinikum – Berlin (Mediplan), Waldkrankenhaus Spandau – Berlin (NHS Berlin mit NHS Hamburg), Deutsches Rotes Kreuz Krankenhaus – Bremen Alte Neustadt ­( Mediplan, NHK und NH-NRW), Zentralkrankenhaus Links der Weser – Bremen Kattenturm, Zentralkrankenhaus Reinkenheid – Bremerhaven (Mediplan, NHK und NHS Bremen), Universitätsklinikum Bochum, Universitätsklinikum Essen, Rehaklinik Edmundsthal-Siemerswalde Geesthacht (Gebäudeplanung: Mediplan), Universitätsklinik und Medizinische Fakultät Göttingen (Generalplaner: NHS Hamburg, Versorgungsgebäude und Medizintechnik: Mediplan), Allgemeines Krankenhaus Eilbeck – Hamburg (Gebäudeplanung: Mediplan), Operatives Zentrum der Universitätsklinik Hamburg Eppendorf (Gebäudeplanung:  Mediplan), Rehabilitationsklinik Langensteinbach – Karlsbad, Krankenhaus Ludwigsburg, Universitätsklinik Neunkirchen  /   S aar (Mediplan, NHK und NHS Bremen), Krankenhaus Saarlouis, Nordseeklinik Westerland  /Sylt (Generalplanung: NHS Hamburg), Dr.-Horst-Schmidt-Kliniken Wiesbaden (Generalplanung: Mediplan) und Krankenhaus Wolfenbüttel (Mediplan, NHK und NHS Hamburg). Drei der großen Krankenhäuser sollen beispielhaft kurz dargestellt werden: Krankenhaus am Urban, Berlin: Mit diesem Haus fühle ich mich besonders verbunden, weil Peter Poelzig, mein Amtsvorgänger, den Entwurf geliefert hat. Ich erinnere mich noch an das gemeinsame Mittagessen mit seinem Mitarbeiter Georgije Nedeljkov, der mit Begeisterung die das Haus in seiner Erscheinung bestimmende V-förmige Pflegestation mit drei Pflegeeinheiten pro Ebene auf einer Papierserviette skizzierte. Das Haus wurde 1970 fertiggestellt, der Kostenrahmen mit 95 Millionen DM wurde eingehalten. Die 829 Betten befinden sich in neun Ebenen über einem dreigeschossigen „Breitfuß“ und einem Installationsgeschoss mit den gesamten medizintechnischen, technischen, wirtschaftlichen und verwaltungsmäßigen Einrichtungen. 10 Universitätsklinik Göttingen: Die Entwurfsaufgaben für den Bau wurden an drei Architektur­ büros vergeben: das Zentralgebäude an Robert Wischer, der Pflegebereich an Titus Felixmüller und die Versorgungsgebäude sowie die medizintechnische Einrichtung an Mediplan. 11 Der Bau­ beginn war 1969, die Fertigstellung 1977. Das Haus hatte 28 Opera­t ionsräume und 1.460 Betten in 2 Bettenhäusern mit je 9 Geschossen. Die Kosten betrugen etwa 1,3 Milliarden DM. 12 Ein

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Universitätsklinikum Göttingen, 1977

wesent­liches Entwurfsprinzip war ein hohes Maß an Flexibilität, das heißt Anpassungsfähigkeit an künftige Entwicklungen. In einem Sonderheft zum 25-jährigen Bestehen werden die Entwicklungen und Eigenschaften des Klinikums detailliert beschrieben.13 Universitätsklinikum Aachen:  Der von den Architekten Wolfgang Weber und Peter Brand sowie der NHS Aachen geplante Klinikumbau wurde im Jahr 1971 begonnen und 1985 eingeweiht. 14 ­Wesentliche Merkmale des Entwurfs waren die Unterbringung der Theorie und Praxis der ­Medizin in Lehre, Forschung, Diagnostik, Therapie und Pflege in einem Gebäude. Das Haus ist 250 Meter lang, 135 Meter breit und weist 8 Ebenen auf, und es verfügt über 1.585 Betten und 52 Operationsräume. In der Bauphase gab es Finanzierungsprobleme.15

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Einbettzimmer sowie Untersuchungs- und Behandlungsraum HNO

Z U SA M M E N A R B E I T M I T D E R M E D I P L A N I M R A H M E N EINES GROSSFORSCHUNGSPROJEKTS Mitte der 1970er-Jahre war die Zeit reif für Forschungsaktivitäten auf dem Gebiet der Krankenhausplanung. Der Paragraf 26 des damaligen Krankenhausfinanzierungsgesetzes (KHG) enthielt an zentraler Stelle Forschungsmittel, die auf Antrag vom seinerzeit zuständigen Bundesarbeitsministerium vergeben wurden. Als Direktor des Instituts für Krankenhausbau der Technischen Universität Berlin suchte ich zunächst die Unterstützung der in Berlin für das Gesundheitswesen zuständigen Senatsverwaltung und erhielt sie auch. Der Staatssekretär, ein Mitarbeiter und ich fuhren daraufhin nach Hamburg zum Stammsitz der Neuen Heimat, um mit dem Chef des Gewerkschaftskonzerns, Albert Vietor, eine Vereinbarung über die Mitwirkung der Mediplan bei dem geplanten Forschungsprojekt zu treffen. Das lief relativ reibungslos ab und wurde durch eine Umarmung der Genossen besiegelt. Ich hatte als Nichtgenosse kein Berührungsbedürfnis. Mir ging es nur um die Gewinnung eines erfahrenen, qualitativ hochwertigen Forschungspartners. Der Auftrag basierte auf einer Empfehlung der Gesundheitsministerkonferenz vom 20. und 21. November 1975. Auftraggeber und Auftragnehmer benannten als wesentliche Defizite der Krankenhausplanung die in den Bundesländern unterschiedlichen Verfahren und Methoden der Bauprogrammplanung. Die Zielsetzung der Forschungsarbeit war deshalb herauszufinden, ob die Einführung von Standards für Benennungen, Gliederungen, Ablaufprinzipien für Patienten, Personal und Material, Funktionszusammenhänge, Flächenwerte der Funktionsstellen, Raumund Flächenbedarf sowie die medizintechnische und sonstige Ausstattung eine zweckmäßige und praxistaugliche Hilfe erbringen kann.

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Bei den Vereinbarungen mit dem Bundesministerium schlug ich vor, die Forschungsarbeit ständig durch einen Projektbegleitenden Ausschuss (PBA) beobachten zu lassen. Dieser Ausschuss setzte sich aus den in den Ministerien der größeren Bundesländer für den Krankenhausbau zuständigen Referenten und aus Vertretern der Krankenhäuser zusammen. Das war ein äußerst konstruktives Gremium, in dem die etwa alle drei Monate von der Forschungsgruppe erarbeiteten Ergebnisse diskutiert, kritisiert, ergänzt und dann auch akzeptiert wurden. Auf diese Weise flossen die in den beteiligten Bundesländern gewonnenen Erfahrungen in die Forschungsergebnisse ein. Als Ergebnis entstand sehr umfangreiches Material mit Standards für die Bauprogrammplanung von Krankenhäusern. Das Krankenhaus wurde in Betriebsstellen gegliedert (heute Funktionsstellen genannt). Für jede Betriebsstelle resultierten auf der Grundlage umfangreicher Recherchen in verschiedenen Krankenhäusern und eigener Ermittlungen Planungsgrundlagen, die nach einhelliger Meinung der im PBA mitwirkenden Experten einen direkten Eingang in die Planungsvorhaben der in den Bundesländern anstehenden Krankenhausplanungen fanden.16

AU SW I R KU N G E N D E R G E M E I N SA M E N F O R S C H U N G SA R B E I T Im Rahmen der einige Jahre währenden Forschungstätigkeit waren die Mitarbeiter der Mediplan ständig mit der Aufgabe betraut, die aktuellen Entwicklungen auf dem Sektor der medizintechnischen und sonstigen Ausstattung zu beobachten, zu evaluieren und als geeignet für die Entwicklung von Standards vorzuschlagen. Diese Arbeit erfolgte im ständigen Austausch mit den Mitarbeitern unseres Instituts. In den Sitzungen des PBA mussten dann die Ergebnisse nochmals hart verteidigt werden. Ein Vergleich mit der in den Architekturbüros üblichen Arbeitsweise zeigt die deutlichen Vorteile dieser Planungsmethodik, deren Erkenntnisse auf der Grundlage vorhergehender gründlicher Analysen und von Erfahrungsaustausch gewonnen wurden. Die Analyse der Betriebsorganisation ist einer der ersten Bausteine eines jeden Planungsprozesses. Er mündet in Vorschlägen zur Prozessoptimierung. Eine funktionsgerechte und auf Basis verlässlicher Erfahrungen erprobte Ausstattungsplanung vermeidet Fehlinvestitionen bei der Anschaffung von medizintechnischen Geräten und Einrichtungsobjekten. Betriebs- und Investitionskosten lassen sich auf diese Weise optimieren. Dadurch werden erhebliche Finanzmittel für anstehende bauliche Sanierungen, Ersatzbeschaffungen und vor allem für die Aufstockung des dringend erforderlichen Pflegepersonals frei. Insgesamt entsteht ein höherer Grad an Wirtschaftlichkeit, der das Überleben des Krankenhauses sichert. Eine bis ins Detail gehende, sich an Standards orientierende Planung bietet die Chance, ein hohes Maß an Lebensqualität zu erreichen. Viele der heute als selbstverständlich geltenden Prinzipien der Planung wurden damals zum Standard erklärt. Patienten „wohnen“ in Ein-, höchstens Zweibetträumen. Jedem Patienten ist direkt ein geräumiger Schrank zugeordnet. Eine Sitzgruppe für Patienten und Bewohner ergänzt das Mobiliar. Unmittelbar vom Zimmer aus erreicht der Patient eine Sanitärzelle mit Handwaschbecken, WC und Dusche. Für Patienten mit Mobilitätseinschränkungen gibt es ein größeres Flächenangebot, damit sie sich zum Beispiel im Rollstuhl bewegen können. Auf der Station bietet ein Aufenthaltsraum gehfähigen Patienten die Möglichkeit, ihr Essen einzunehmen und sich mit Besuchern zu treffen. Technische Einrichtungen (Fernseher, Kühlschrank, Ruf-, Licht- und Klimaanlagen) vervollständigen das Angebot.

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Universitätsklinikum Aachen, 1985

Das auf der Station tätige Personal erreicht auf kurzen Wegen die Patientenzimmer und die erforderlichen Nebenräume. In jedem Patientenzimmer befinden sich Lagermöglichkeiten für ständig benötigte Pflegeutensilien. Ein Desinfektionsmittelspender gehört in den Eingangsbereich. Jeder Zimmergruppe ist ein Pflegearbeitsraum für unreine Arbeiten zugeordnet. Der mit aktueller Technik ausgestattete Stationsschwerpunkt bietet ausreichend Platz für die administrativen Arbeiten. Der wohnlich eingerichtete Aufenthaltsraum für das Personal erhält unbedingt Tageslicht. Die durch Räume und Ausstattungen erreichbare freundliche Atmosphäre findet sich bei optimaler Planung in allen Bereichen des Krankenhauses.

B E I T R ÄG E Z U R E N T W I C K L U N G Z U KU N F T S O R I E N T I E R T E R K R A N K E N H ÄU S E R In den Jahren der Zusammenarbeit mit der Gesellschaft Mediplan haben die von mir befragten Mitarbeiter meiner Forschungsgruppe, die damalige Leiterin des Planungsdezernats für den Fachbereich Medizin des Universitätsklinikums Göttingen, Osgith Kromschröder, und auch ich stets eine herstellerneutrale Planung und keine Weisungsgebundenheit oder gar Abhängigkeit von der Neuen Heimat festgestellt. Wir hatten vielmehr den Eindruck, dass die bei uns tätigen Vertreter der Mediplan nur ihren fachlichen Erfahrungen folgten und sich den al­lgemeinen wissenschaftlichen Grundprinzipien verpflichtet fühlten. (Die Krankenhausplanungsgesellschaft Mediplan, Hamburg, ist übrigens auch heute noch in ihrem Fachgebiet tätig.)

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Die am Institut in Berlin erarbeiteten Planungsunterlagen wurden in einem regen Austausch durch das Büro in Hamburg kontrolliert und ergänzt. Dabei zeigte sich, dass in Hamburg ein großer Fundus an Kenntnissen vorlag, der durch Forschungsarbeit ständig erweitert wurde. Natürlich ist dieses Fachwissen auch in die zahlreichen von der Krankenhausplanungsgesellschaft Mediplan in den damaligen Bundesländern betreuten Krankenhausprojekte eingeflossen. Die Mediplan leistete also während ihres Bestehens als Tochtergesellschaft der Neuen Heimat auf ihrem Spezialgebiet wesentliche und qualitativ hochwertige Beiträge. Neben ihrer Forschungstätigkeit betreute sie einen hohen Prozentsatz der in jener Zeit in Deutschland entstandenen Krankenhausbauten und Kliniken. Sie gestaltete den Kernbereich der Krankenhäuser ganz wesentlich mit. In diesem Bereich, zu dem unter anderen die Funktionsstellen Röntgen­ diagnostik, Endoskopie, Laboratoriumsmedizin, Operation und Intensivmedizin gehören, bestimmen hoch technisierte Geräte das Erscheinungsbild. Vielleicht ist so der Eindruck von „Gesundheitsmaschinen“ entstanden, wenngleich doch jeder Patient weiß, dass diese Maschinen in vielen Fällen Leben retten und daher unentbehrlich sind. Der eher negativ klingende Begriff „Gesundheitsmaschine“ trifft meiner Ansicht nach eher auf die äußere Gestaltung einiger Krankenhäuser der 1980er-Jahre zu, wie zum Beispiel das Universitätsklinikum Aachen. Hier haben die Architekten Weber und Brand eine beim Bau des Pariser Centre Pompidou entwickelte Gestaltungsform angewandt: Sie versteckten die technischen Leitungen nicht, sondern packten sie für alle sichtbar vor die Fassaden und auf die Dächer. Die Neue Heimat und die Mediplan, die an diesem Haus mitwirkten, waren dafür nicht verantwortlich. Allenfalls könnte man ihnen vorwerfen, dass sie diese von den Architekten entwickelte, nicht patientenfreundliche Modeform zugelassen haben. Es gibt natürlich auch eine andere Sicht, die baugeschichtliche: Das Klinikum Aachen wurde längst als Denkmal für Technik in der Architektur anerkannt.

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Peter R. Pawlik, „Krankenhausarchitektur, ein nicht endender Innovationsprozess, dargestellt an ihrer historischen Entwicklung“, in: Hermann Stockhorst/Linus Hofrichter/ Andreas Franke (Hg.), Krankenhausbau, Architektur und Planung, bauliche Umsetzung, Projekt- und Betriebsorganisation, Berlin 2018, S. 99–112, hier S. 112. Gert L. Dirichlet/Franz Labryga/Peter Poelzig/Gerhard Schlenzig, Krankenhausbau – Maßkoordination, Entwurfsstrategie, Anwendungsbeispiele, Stuttgart 1984. Peter Kramper, Neue Heimat. Unternehmenspolitik und Unternehmensentwicklung im gewerkschaftlichen Wohnungs- und Städtebau 1950–1982, Stuttgart 2008, S. 423; Neue Heimat Jahrbuch 1969/70, S. 51–52. Neue Heimat (Hg.), 50 Jahre Neue Heimat Hamburg, Hamburg 1976, S. 34. Peter Schmidt (Geschäftsführer der Mediplan 1975–1995), persönliche Mitteilung, 11/2018; Neue Heimat Hamburg (Hg.) 1976 (wie Anm.4), S. 34; Kramper 2008 (wie Anm. 3), S. 427 O. Verf., „Krankenhausbau braucht klare Konzepte. Aus dem Arbeitsbereich der Mediplan-Krankenhausgesellschaft“, in: NHM 8/1973, S. 1–19, hier S. 1. Peter Schmidt, persönliche Mitteilung, 11/2018. Die Auflistung folgt persönlichen Mitteilungen von Peter Schmidt (11/2018); darüber hinaus: Neue Heimat Archiv, Hamburgisches Architekturarchiv.

9 O. Verf., „Im Dienste der Untersuchung, Forschung und Pflege, Medizinische Fakultät der Technischen Hochschule Aachen“, in: NHM 9/1972, S. 1–12; vgl. auch Michael Mönninger, „Neue Heimat als Grundzellen eines gesunden Staates“. Städte- und Wohnungsbau der Nachkriegsmoderne. Die Konzernzeitschrift Neue Heimat Monatshefte 1954–1981, Berlin 2018, S. 362. 10 Gerd Zabre, „Krankenhaus Am Urban in Berlin-Kreuzberg“, in: Bauwelt 45/1970, S. 1726–1743. 11 Vorstand des Bereichs Humanmedizin Georg-August-Universität Göttingen (Hg.), 1977–2002 Universitätsklinikum Göttingen, Göttingen 2002. 12 Göttinger Tageblatt, 10.5.2002 und 20.6.2002. 13 Heinle, Wischer und Partner (Hg.), Georg-August-Universität Göttingen, Stuttgart 1978. 14 Robert Wischer/Hans-Ulrich Riethmüller, Zukunftsoffenes Krankenhaus, Wien 2007, S. 280. 15 O. Verf., „Bauskandal, Bezahlen und Vergessen“, in: Der Spiegel 16/1979, S. 84–92, hier S. 84. 16 Franz Labryga u. a., Untersuchungen zur Einführung von Standards für die Bauprogrammplanung Allgemeiner Krankenhäuser, 75. Forschungsbericht des Bundes­m inisters für Sozialordnung, 3 Bde., Bonn 1982.

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Andreas Hild und Andreas Müsseler

München Neuperlach, Virtuelles Drahtmodell: Neuperlach-Nord

D I E N E U E H E I M AT E N T D E C K E N

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E U T S C H L A N D I M J A H R 2 0 1 8 : Zumindest in den Ballungszentren herrscht ein enormes Wohnraumproblem. Was dagegen zu tun sei, wird allenthalben diskutiert. Die vorgeschlagenen Lösungen sind komplex und nicht ohne Weiteres wirksam. So wie der Wohnungsmangel nicht über Nacht entstanden ist, wird er auch nicht über Nacht zu beheben sein. Allerorten schwärmen Entwickler aus, um die letzten freien Grundstücke zu finden. Dabei sind die großen Gebiete, die es noch zu bebauen gälte, längst identifiziert. Der große Befreiungsschlag ist hier nicht zu erwarten. Neben der Anwendung bereits bekannter Strategien tut es also not, nach weiteren Möglichkeiten zu suchen, die scheinbar nicht auf der Hand liegen. Ist die

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E N T D E C K U N G solch eines weißen Flecks auf den Landkarten der großen deutschen Städte überhaupt denkbar? Woran sind geeignete Gebiete zu erkennen? Für die Suche nach Orten, deren nähere Betrachtung im Hinblick auf die Schaffung neuen Wohnraums lohnend sein könnte, ließe sich ein Kriterienkatalog aufstellen. Von zentraler Bedeutung darin wäre die L AG E . Wohnraum muss dort geschaffen werden, wo er benötigt wird, nämlich in den Ballungsgebieten. Hier sind die Baulandreserven allerdings begrenzt. Für eine Neubebauung zu entdecken wären deshalb verhältnismäßig gut getarnte, weil heute bereits bebaute Flächen innerhalb der regulären Stadtgrenzen. Die Stadterweiterungen der 1960er-Jahre erfüllen dieses Kriterium überwiegend. Die einstigen Trabanten sind durch das Wachstum der Städte heute oft nahe an diese herangerückt. Möglicherweise also lohnen die Siedlungen der Neuen Heimat eine Entdeckungsreise? Sollte es da tatsächlich eine Terra incognita vor unser aller Augen, in unmittelbarer Nähe geben? Die zu entwickelnden Gebiete müssen weiterhin eine gewisse G R Ö S S E aufweisen. Der administrative und politische Aufwand, der notwendig ist, um ein Gebiet nachzuverdichten, ist nur dann sinnvoll investiert, wenn dadurch eine erheblich große Zahl an Menschen eine entsprechende Perspektive erhält. Die Bauprojekte der Neuen Heimat sind heute Einheiten mit jeweils vielen Tausend Einwohnern. Zwischen 1950 und 1982 wurden in unzähligen Siedlungen geschätzte 400.000 Wohnungen gebaut. Auch diese Eigenschaft empfiehlt die entsprechenden Gebiete für eine nähere Untersuchung. Noch wichtiger als die Frage der Größe aber ist in unserem Zusammenhang das Kriterium der D I C H T E . Eine funktionierende Stadt ist ein fein austariertes System aus einer großen Anzahl von Menschen, die eine Gemeinschaft bilden, und den Leistungen, die eben diese Gemeinschaft ihnen zur Verfügung stellt. Zu erreichen ist ein beständig neu zu verhandelndes Gleichgewicht aus kommunalen Angeboten und Personenzahl. Wanderungsbewegungen, Wandel der Bedürfnisse und vor allem auch ein kontinuierlich steigender Komfortanspruch der Bewohner hinsichtlich der Wohnungsgrößen sind hierfür wesentliche Faktoren. Ein Baugebiet wird sich also daran messen lassen müssen, ob innerhalb seiner Grenzen eine deutliche Erhöhung der Bevölkerungszahl möglich ist. Dies auch, um all die Leistungen der Stadt erst sinnvoll darstellbar zu machen. Die Stadt der Zukunft wird eine dichte Stadt sein. Insofern haben die Siedlungen der Neuen Heimat aktuell ein Problem. Sie sind zu sehr Wohngebiet, zu wenig Stadt. Und sie sind, auch wenn es viele vom Augenschein her nicht glauben mögen, von eher moderater Dichte. Die Dichtezahl ist nicht allentscheidend, aber sie gibt doch deutliche Hinweise darauf, ob sich Investitionen in Infrastruktur rentieren können, ob eine sinnvolle Nahversorgung möglich ist, ob das Angebot von Schulen, Kindergärten oder Krankenhäusern in einem sinnvollen Verhältnis zur Einwohnerzahl des unmittelbaren Umkreises liegt. Neuperlach bei München umfasst circa 20.000 Wohneinheiten für rund 55.000 Menschen auf 800 Hektar. Im Vergleich dazu leben in der Neuen Vahr in Bremen rund 19.000 Menschen in circa 7.500 Wohneinheiten auf 250 Hektar Bruttofläche, 1 die GFZ der einzelnen Grund­stücke liegt zumeist zwischen 0,8 und 1,0 – selten darüber. Sie sind damit weit entfernt von städtischen Dichten, wie sie beispielsweise in München-Schwabing anzutreffen sind. Die GFZ liegt in diesen Quartieren nahe bei 3 und darüber, also annähernd dreimal so hoch. Und genau dieser Befund prädestiniert die entsprechenden Gebiete für die Nachverdichtung. In Neuper­l ach etwa ließe sich also mit einer V E R D O P P LU N G der baulichen Dichte von etwa 1,0 auf eine immer noch moderate GFZ von 2,0 die Einwohnerzahl von heute 55.000 auf die ursprünglich

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geplanten 80.000 und vielleicht sogar darüber hinaus erhöhen. Das in Neuperlach verborgene Wohnraumpotenzial liegt also mit rund 20.000 Wohnungen voraussichtlich deutlich über dem neu geschaffenen Wohnraum in den beiden großen aktuellen Siedlungsprojekten Münchens (Freiham circa 11.000 WE und München Nord-Ost circa 12.000–14.000 WE); anders als dort müssen in Neuperlach aber keine Naturflächen bebaut werden. Zudem ist dieses Vorgehen einfach lohnender, als den Dachausbau in den bereits dichten, im 19. Jahrhundert entstandenen Quartieren voranzutreiben. Realistischerweise muss man zwischen einer gefühlten Dichte und einer rechnerischen Dichte unterscheiden. Für manche Bewohner mag sich das Wort Nachverdichtung im Zusammenhang mit ihren Vierteln dramatisch anhören. Aber selbst dort, wo es noch freie Baulandreserven gibt: Schon aus ökologischen Gründen ist es geboten, mit den zur Verfügung stehenden Flächen sehr sorgsam umzugehen. Insofern ist Nachverdichtung immer richtiger als eine Ausbreitung in der Fläche. Wie die Bebauungsgeschichte der Maxvorstadt in München zeigt, ist Nachverdichtung historisch gesehen ein durchaus N O R M A L E R P R OZ E S S. Zwischen 1805 und 1810 geplant, wurden die Schachbrettfelder der ersten Münchner Stadterweiterung im Verlauf der folgenden 50 Jahre zunächst eher locker bebaut; vielleicht abgesehen vom westlichen, in der Nähe der Ludwigstraße gelegenen Teil herrschte eine offene Bebauung entlang der Straßen vor. Die heute beliebte, charakteristische geschlossene Blockrandbebauung entstand in weiten Teilen erst bis Ende des 19. Jahrhunderts in einer zweiten Bebauungswelle zusammen mit neuem Siedlungsdruck aufgrund der in München eher verspätet beginnenden industriellen Umwälzungen. Der Grundstein mit einer Vielzahl über das Viertel hinausweisenden öffentlichen Einrichtungen in entsprechend repräsentativen Bauten war jedoch von Beginn an gelegt. Weitere Bebauungsschichten folgten kontinuierlich, insbesondere natürlich durch den Wiederaufbau ab den 1950er-Jahren. Verkürzt könnte man also sagen: Es ist durchaus normal, circa 50 Jahre nach Gründung eines neuen Viertels in einen Prozess der zweiten Welle einzusteigen, der nach weiteren 30 Jahren zu einer signifikanten Erhöhung der baulichen Dichte und einem allseits bekannten und beliebten Stadtbild führt. Es geht darum, diesen Prozess bestmöglich zu gestalten. Welche Voraussetzungen finden sich also speziell in Neuperlach? In der Praxis scheitern entsprechende Projekte oft an einer nicht ausreichenden I N F R AST R U K T U R . Die Siedlungen der Neuen Heimat wurden meist im Zeitalter der „autogerechten Stadt“ und daher mit deutlich überdimensionierten Straßen und Infrastrukturen errichtet. Heutige Neubaugebiete sind mit weit geringeren Straßenquerschnitten und öffentlichen Erschließungen ausgestattet. Unter dem Gesichtspunkt der Verkehrsplanung wäre die Erhöhung der Dichte also kein Problem. Und auch die E I G E N T U M SV E R H Ä LT N I S S E sprechen für eine nähere Betrachtung der Siedlungen. Die gentrifizierte, kleinteilig aufgeteilte Stadt in Streubesitz ist für signifikante Verdichtungsmaßnahmen eher nicht geeignet. Wo zu viele Einzelinteressen in die Verhandlung eingehen, kann es zu keinen großen Veränderungen kommen. Zu viele Eigentümer verlangsamen die Entwicklung. Aus diesem Grund kommen auch noch so stadtnahe Einfamilienhausgebiete für Verdichtung kurzfristig nicht infrage. Anders die ehemaligen Baugebiete der Neuen Heimat. Trotz ihrer zum Teil beachtlichen Größe sind viele der Siedlungen noch in kommunalem Besitz. Und auch dort, wo es sich um Privateigentum handelt, sind die Einheiten wie in München-Neu-

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München Neuperlach, Virtuelles Drahtmodell: Blockrandbebauung

perlach relativ groß. Das bedeutet auch, dass die weit überwiegende Zahl der entsprechenden Wohnungen nach wie vor Mietwohnungen sind. Was ein Vorteil in der Abwicklung ist, kann schnell zum Nachteil in der Durchführung werden. Veränderungen werden nur erreichbar sein, wenn die heutigen Bewohner P R O F I T E U R E der entsprechenden Maßnahmen sind. Wenn es uns gelingen soll, relevante Nachverdichtungen in einem Gebiet zu schaffen, dann müssen die dort lebenden Menschen einen Vorteil davon haben, dass sich die Bevölkerungszahl in ihrer Umgebung erhöht. Wie oben ausgeführt, profitieren die Einzelnen grundsätzlich von einer Erhöhung der Dichte, weil viele Leistungen der Stadt dadurch erst bezahlbar werden und bleiben. Jedoch haben unterschiedliche Bevölkerungsgruppen auch unterschiedliche Bedürfnisse. Was der alleinstehende Rentner positiv findet, erfreut nicht unbedingt auch die junge Familie. Jede Verdichtung muss daher mit sozial abfedernden Maßnahmen verknüpft werden. Die entstehenden attraktiven Wohnungen dürfen nicht meistbietend verkauft werden, sondern könnten beispielsweise zuerst den bereits ansässigen Bewohnern angeboten werden. Dadurch frei werdende Wohnungen könnten dann nach der Sanierung für neu zugezogene Gruppen verwendet werden.

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München Neuperlach, Virtuelles Drahtmodell: Mäander

Die neue Stadt muss also besser sein als die alte, und das gilt nicht nur für die privaten R Ä U M E . Der Städtebau der Neue-Heimat-Siedlungen folgte bis in die späten 1960er-Jahre dem Ideal eines Wohnens im Grünen und lehnte als undemokratisch verstandene Blockrandstrukturen ab. Dem Zeitgeist entsprechend sind die öffentlichen Räume zwar groß (daher auch die niedrige Dichte), aber teilweise wenig genutzt, wenn die Grünbereiche keine funktionale und nutzerbezogene Zonierung aufweisen oder geringe räumliche Begrenzung im Sinne eines Sichtschutzes bieten. Gerade den ungenutzten öffentlichen Räumen kommt eine Schlüsselrolle zu. Hier bietet sich die Möglichkeit, durch die Verdichtung tatsächlich eine Verbesserung herbeizuführen, aus der Siedlung Stadt werden zu lassen. Diese braucht ein wohl abgewogenes Verhältnis von privaten und öffentlichen Räumen, mit eindeutiger Zuordnung und ablesbarer Größe. Dies gilt umso mehr, je dichter die Stadt werden soll. Wie die am Lehrstuhl für Entwerfen, Umbau und Denkmalpflege an der Technischen Universität München entstandene Untersuchung eines exemplarischen Ausschnitts von Neuperlach zeigt, kann eine relevante W E I T E R E N T W I C K LU N G mit unterschiedlichsten städtebaulichen Struk-

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turen erreicht werden.2 Untersucht wurde ein mit circa 1.800 Wohneinheiten und somit circa 8  Prozent des circa 20.000 Wohneinheiten umfassenden Wohnungsbestands exemplarischer Ausschnitt aus der Struktur Neuperlachs. Das Teilgebiet des Bauquartiers Neuperlach-Nord weist eine Gesamtfläche von circa 203.000 Quadratmeter und eine Grundstücksfläche von circa 170.000 Quadratmeter auf. Obwohl nur ein Bruchteil Neuperlachs, liegt es damit bereits etwa in der Größenordnung der Entwicklung der frei gewordenen Flächen der Paulaner-Brauerei um den Nockherberg oder der Konversion ehemaliger Bahnflächen an der Paul-Gerhardt-Allee. Die abgebildeten Varianten verdeutlichen die B A N D B R E I T E möglicher stadträumlicher Strukturen, die unter der Prämisse der Verdopplung des Wohnraums innerhalb des Untersuchungsparameters entstehen könnten. Die erste Variante, „Blockrand“, führt die vorhandene offene Bebauung, bestehend aus Zeilen und Punkten, eher zu klassischen geschlossenen Blockstrukturen zusammen, wie sie aus den Gründerzeitvierteln oder auch der Münchner Borstei bekannt sind. Die zweite Variante, „Mäander“, zielt darauf, die für viele Siedlungen dieser Zeit typische Struktur fließender Stadträume zu erhalten und auf diese Weise zusätzliche Stadträume auszubilden, die über Straßen und Fußwege hinweg ein offenes räumliches Geflecht entstehen lassen. Die dritte Variante, „Hochhaus“, schließlich zeigt, dass auch mit vergleichsweise konventionellen Einbauten, welche die bestehenden Gebäude nicht berühren, mit sehr kleinem Fußabdruck eine entsprechende Nachverdichtung erreicht werden kann. Allen diesen Varianten ist eines gemeinsam: Die Verdopplung der Wohneinheiten innerhalb des Untersuchungsgebiets. Hierdurch können zusätzliche circa 1.500 bis 2.000 Wohnungen entstehen. Das entspricht ungefähr dem Volumen des Baugebiets an der Paul-Gerhardt-Allee. Es ist offensichtlich, dass hier ein Potenzial verborgen liegt, das über Jahre einen relevanten Beitrag zum jährlichen Wohnungsbedarf in München (aktuell circa 7.000 WE/Jahr) leisten kann. Wie die Untersuchung zeigt, kann dieser Beitrag mit unterschiedlichsten städtebaulichen Strukturen erzielt werden. Die letztendliche Gestalt kann also wie bisher auch in einem entsprechenden Entwicklungsprozess und gesellschaftlichen Diskurs entstehen und an örtliche Spezifika angepasst werden. Sie kann und muss darüber hinaus aber auch auf den vorhandenen Charakteristika und den Interessen der Bewohner gründen. Die Bebauungsstruktur der Großwohnsiedlungen erweist sich dabei weit weniger imprägniert gegen Ein- und Anbauten als zunächst gedacht. Im Makrobereich steht eine Vielzahl unterschiedlicher W E R K Z E U G E zur Verfügung, um unterschiedlichste städtebauliche Nachverdichtungsstrategien auch im Einzelfall räumlich-architektonisch umsetzbar zu machen. Um dies alles im Rahmen des anstehenden Sanierungsdrucks für eine positive Entwicklung nutzbar zu machen, bedarf es einer P L A N U N G , die ungeordneten Zuzug verhindert und Partikularinteressen einzelner Investoren integriert. Eine Grundvoraussetzung dabei ist, das jeweilige Gebiet sowie Defizite und Möglichkeiten ganzheitlich zu betrachten. Die S P E K U L AT I O N stellt für fast alle, die sich mit der Schaffung bezahlbaren Wohnraums beschäftigen, ein riesiges Problem dar. Zwar muss der Umbau der Stadt natürlich finanziert werden, es darf dabei aber nicht zu überproportionalen Spekulationsgewinnen kommen, durch welche die Gentrifizierungsspirale nur angeheizt würde. Letztlich könnte der Versuch der Abschöpfung von zu viel Gewinn eher dazu führen, dass eine echte Verdichtung gar nicht stattfindet. Das kommunale Eigentum, dem viele Siedlungen der Neuen Heimat nach wie vor unterliegen, stellt auch in diesem Fall einen gewissen Vorteil dar.

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Die aktuell oftmals notwendigen S A N I E R U N G E N der meisten der Wohngebäude bringen neue Herausforderungen mit sich –  und sollen auch noch im laufenden Betrieb stattfinden. Zudem muss die meist fehlende Barrierefreiheit hergestellt werden, damit die alternde Bewohnerschaft im Quartier verbleiben kann. Das notwendige Geld dafür steht den Kommunen nicht unbedingt zur Verfügung. So gesehen könnte die Nachverdichtung auch ein strukturelles Finanzierungsmodell für die unumgängliche Sanierung des Gebäudebestands darstellen. Sein Abriss nämlich ist keine Option. Schon aus Gründen der Ökologie muss die S U B STA N Z erhalten bleiben. Wir können uns nicht alle 50 Jahre eine komplett neue Stadt bauen. Doch geht es dabei nicht allein um Ressourcen wie Graue Energie, es geht auch um G E S C H I C H T E und eine Art ikonografischer Nachhaltigkeit, denn auch die Bauhistorie der Neuen Heimat muss weitergeschrieben werden. Die Erinnerungen zu vieler Menschen hängen daran. Es mag ja sein, dass die Wohngebäude der 1960er-Jahre nicht zu den im Moment angesagten Architekturen gehören. Aber erstens kann sich das ändern und zweitens ist dessen ungeachtet die Wohnzufriedenheit zumindest in vielen Gebäuden der Neuen Heimat hoch. Vielleicht das wichtigste Argument jedoch ist: Diese gemeinnützigen Wohnungsbauprojekte repräsentieren die baupolitischen Träume der Nachkriegszeit. Auch wenn die T R Ä U M E damals zu groß waren, heute sind sie definitiv zu klein. Die Beschäftigung mit der Neuen Heimat zeigt, dass es Zeiten gab, in denen Bauen eine Aufgabe war, die mit großem gesellschaftlichem Optimismus und mit enormer Kraft angegangen wurde. A U F B R U C H setzt den Wunsch voraus, eine Lösung zu finden und dabei auch Widrigkeiten in Kauf zu nehmen. All dies hat die Neue Heimat schon einmal verkörpert. Wo ist dieser Enthusiasmus hin, der Glaube, dass es Sinn ergibt, sich anzustrengen? Die Fehlanzeige steht nicht unbedingt für ein Versäumnis von Politik, obgleich die Politik in die Glut blasen müsste. Aber wo ist die Glut? Mit Gestaltungswillen und Beharrlichkeit könnten die Schwächen vieler Gebiete der Neuen Heimat in Stärken umgewandelt werden, die Siedlungen in Stadt. Vielleicht käme das nicht der Entdeckung Amerikas gleich, wäre aber zumindest ein möglicher Baustein zur Lösung des Problems.

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Katja-Annika Pahl, „Eine interdisziplinäre Werkstatt“, in: Katja-Annika Pahl u. a. (Hg.), Potenzial Großsiedlung. Zukunftsbilder für die Neue Vahr, Berlin 2018, S. 48–51, hier S. 49.

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Andreas Hild/Andreas Müsseler (Hg.), Neuperlach ist schön, München 2018.

München Neuperlach, Virtuelles Drahtmodell: Hochhäuser

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Norbert Kling und Max Ott

München Hasenbergl, Foto: Myrzik und Jarisch, 2018

VERÄNDERUNG VERHANDELN N E U E H E I M AT U N D DA N AC H

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I E G R O S S WO H N S I E D LU N G E N der Neuen Heimat verkörpern eindrucksvoll die „Modernität der Boomjahre“ und zeichnen in ihrer Entwicklung die keynesianisch geprägte, auf einen Klassenkompromiss ausgerichtete Wirtschafts- und Sozialpolitik des westdeutschen Wohlfahrtsstaats nach.1 Aus der zeitlichen Distanz heraus erscheint der damalige Anspruch, mit dem Großsiedlungsbau eine rational verwissenschaftlichte, universell anwendbare und technokratisch gesteuerte Lösung des Wohnungsproblems bereitstellen zu

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können, irritierend und faszinierend zugleich. Weil die baulichen Zeugnisse der „gegliederten und aufgelockerten Stadt“2 sowie die fordistischen Interpretationen einer „Urbanität durch Dichte“3 nach wie vor das Zuhause Zigtausender Bewohner in urbanen Agglomerationen sind, verbinden sich mit den Großwohnsiedlungen Fragen von großer Aktualität. Theoretische und praktische Annäherungen folgen dabei wechselnden Paradigmen: Vor dem Hintergrund einer Entwicklung, die sich als „Selbstkulturalisierung der Stadt“ bezeichnen ließe, scheinen heute der Blick auf die Unterschiede und die Herausarbeitung von Eigenheiten in Fallstudien modernistischer Wohnsiedlungen von gesteigertem Interesse zu sein. Und dort, wo eine planerische Fortschreibung im Fokus steht, finden sich zahlreiche Analysen und Konzepte, die sich mit der Anpassungsfähigkeit von Großwohnsiedlungen vor dem Hintergrund einer Ausdifferenzierung städtischer Lebensstile auseinandersetzen.4 Überraschend ist vielleicht, dass dieser Modus eines spezifizierenden Vergleichens und veränderten Betrachtens schon wesentlich früher Anwendung findet, als man zunächst annehmen mag. Ein Beispiel dafür ist die 1969 veröffentlichte Studie des Instituts für angewandte Sozialwissenschaft mit dem Titel „Stadt am Stadtrand. Eine vergleichende Untersuchung in vier Münchner Neubausiedlungen“.5 Das Buch ist bemerkenswert, weil es für den Untersuchungsgegenstand eine bewusst ambivalente Lesart nahelegt, die im Kontext der Zeit nicht unbedingt zu erwarten ist. In expliziter Abgrenzung von polemischen Zurückweisungen der Großwohnsiedlung als Zerstörerin „gewachsener“ Urbanität, wie sie wenige Jahre zuvor von Alexander Mitscherlich und anderen formuliert worden waren, 6 verfolgt die Studie zwei Hauptziele: Erstens versucht sie, empirisch fundiertes Wissen zu generieren, um einen als unzulänglich empfundenen Diskurs zur Lebenswirklichkeit in Neubausiedlungen auf eine Belastungsprobe zu stellen 7. Zweitens wollen die Autoren mit ihren Erkenntnissen aus räumlich lokalisierten Erhebungsdaten zur qualitativen Steigerung zukünftiger Projekte beitragen.8 Zu diesem Zweck beforschen sie die Parkstadt Bogenhausen, die Wohnsiedlungen Fürstenried Ost und Fürstenried West sowie die in mehreren Bauphasen entstandene und damals noch nicht abgeschlossene Siedlung am Hasenbergl. Zu einer Zeit, als die Wohnungswirtschaft der Bundesrepublik mehr als eine halbe Million Wohneinheiten jedes Jahr produziert 9 und parallel zur bestehenden Kritik an Großwohnsiedlungen die vorbereitenden Maßnahmen für die „Entlastungsstadt Neuperlach“ durchgeführt werden, konstatiert der Münchner Oberbürgermeister Hans-Jochen Vogel im Vorwort der Studie einen Revisionsbedarf, der aus einer veränderten Sichtweise auf die „neuen Großsiedlungen“ 10 resultiere. Seiner Einschätzung nach hat sich die Perspektive weg von einer quantitativ-technischen Betrachtung und hin zu einer Reflexion qualitativer Aspekte und gesellschaftspolitischer Absichten verschoben, sei es durch skeptisches Fragen nach der Herausbildung eines „Eigenleben[s] […] in [den] neuen Stadtteilen“ oder nach ihren Eigenschaften als „Ort[e] sozialer und gefühlsmäßiger Orientierung“.11 Die Studie entwirft kein einseitiges Bild von Homogenisierung, Entfremdung oder einem Verlust sozialer Bindungen, sondern zeichnet sich gerade durch ihre Vielstimmigkeit aus. So beobachten die Autoren in den Neubauquartieren die Herausbildung anderer Formen sozialer Beziehungen, als sie in Innenstadtquartieren oder ländlichen Siedlungen vorgefunden werden können. 12 Diese Beziehungen verklären sie jedoch nicht, sondern rücken gleichzeitig Themen wie soziale Ungleichheit und Marginalisierung in den Fokus. Die Studie rekonstruiert anhand der Befunde und mit Verweis auf bestehende Kritiken, wie in unterschiedlichen Lebensbereichen der Bewohner von Neubausiedlungen Benachteiligungen entstehen können, insbesondere durch den eingeschränkten Zugang zu den kollektiven Ressourcen der Stadt. Die Problematik einer latent

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defizitären Ausstattung resultiere unter anderem in der Aktivierung haushaltsinterner Ressourcen und damit regelmäßig in Kompensationsleistungen durch die unbezahlte Arbeitskraft nicht erwerbstätiger Frauen. 13 Zapf et al. erkennen bei der Planung und Errichtung von Neubausiedlungen allgemein eine Tendenz, die bereits in der „Charta von Athen“ geforderten gemeinschaftlichen Einrichtungen als „Erweiterungen des eigenen Wohnraumes“ nur zögerlich umzusetzen.14 Neben der von Entscheidungsträgern angeführten Investitionsunsicherheit bei Neubausiedlun­ gen vermuten sie hier einen Grundkonflikt zwischen dem wohlfahrtsstaatlichen Paradigma und dem planerischen Anspruch, durch die zentrale Bereitstellung solcher Güter „kollektive Institu­ tio­nen“15 zu erzeugen, und breiteren Vorbehalten gegenüber einer „Standardisierung und Entsubjektivierung“ 16 individueller Lebensbereiche. Aus dieser Konstellation heraus würden sich „nur in sehr krassen und seltenen Fällen [...] Interessengemeinschaften [formieren], die Forderungen anmelden und aufzeigen, wie für die Mängel Abhilfe geschaffen werden könnte“. 17 Diese Beobachtungen wollen wir aufgreifen und den differenzierenden Ansatz der Studie mit einer akteurszentrierten Perspektive kombinieren, indem wir mit Blick auf die weitere Entwicklung der von der Neuen Heimat (mit)erstellten Siedlungen am Hasenbergl und Parkstadt Bogenhausen einigen Fragen zur Verhandlung von „Veränderung“ in Großwohnsiedlungen nachgehen: In welchen Bereichen lokalisieren Akteure Defizite und Veränderungsbedarf? Welche Machtverhältnisse und Rahmenbedingungen strukturieren die Aushandlungsprozesse? Inwiefern lassen sich Ähnlichkeiten oder Abweichungen hinsichtlich der 1969 festgehaltenen Problemlagen beobachten? Die Gründung eines Einwohnerausschusses bereits kurz nach Bezug der Wohnungen in der Parkstadt Bogenhausen lässt sich mit Zapf et al. als Indiz für die Dringlichkeit von Verbesserungen in der Siedlung interpretieren.18 In diesem Ausschuss werden in projektorientierten Arbeitsgruppen eine Reihe von Anliegen und Fragen aus der Bewohnerschaft gebündelt und über das Informationsblatt „Parkstadt-Berichter“ kommuniziert. 19 Nach einem von der Münchner Verwaltung genehmigten Kindergartenneubau als erstem Erfolg etabliert sich die Gruppe als „Inte­ ressengemeinschaft Parkstadt e. V.“ und gibt die Informationsschrift nun als „Unsere Parkstadt“ heraus. 20 In der ersten Ausgabe werden zahlreiche Projektinitiativen für das Quartier aufgeführt, darüber hinaus aber auch eine Reihe übergeordneter kommunalpolitischer Fragen thematisiert. 21 Als Verein entwickelt die Interessengemeinschaft nicht nur Konzepte, sondern vertritt ihre Forderungen auch gegenüber Verwaltung und Institutionen. Die Parkstadt Bogenhausen wird damit zu einem Ort von Gestaltungs- und Aushandlungsprozessen, die über die Grenzen der Neubausiedlung hinausweisen und nicht unbemerkt bleiben. 22 Trotz einer Reihe von Verhandlungserfolgen werden jedoch viele Ideen und Anregungen nicht realisiert. Die letzte Entscheidungsinstanz für Veränderungen in der Siedlung ist die Neue Heimat. In den ersten Jahrzehnten agieren die Akteure der Parkstadt Bogenhausen in räumlicher Nähe zu Institutionen und Entscheidungsträgern. In der Siedlung wohnen Mitglieder der unterschiedlichen Verwaltungsebenen der Neuen Heimat Bayern neben Staatsbediensteten, organisierten Gewerkschaftsmitgliedern und zeitweise dem amtierenden Oberbürgermeister Hans-Jochen Vogel sowie dem Verfasser des Gesamtplans der Siedlung, Franz Ruf.23 Die Dynamik der ersten Jahre geht jedoch bald in eine Verwaltungsroutine über, die nur noch durch punktuell verhandelte Veränderungsmomente strukturiert ist.24 Vor dem Hintergrund der sich abzeichnenden Krise der Neuen Heimat ändern sich mit der Aufteilung der Siedlung nach Wohnungseigentumsgesetz und dem sukzessiven Verkauf der Wohnungen ab 1984 die Eigentumsverhältnisse grundlegend.

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Aus zahlreichen vormaligen Mietern, die ihre Ideen und Forderungen gegenüber der zentralen Verwaltung der Neuen Heimat nur kollektiv vertreten und durchsetzen konnten, sind nun eigenverantwortliche Eigentümer geworden. Sie verfügen zwar potenziell über weitreichende Verfügungs- und Gestaltungsmacht hinsichtlich der Zukunft der Siedlung, nehmen nun aber auch ihre privaten Vermögenswerte stärker in den Blick. Haushalte, die sich den Kauf nicht leisten können, werden zu Mietern privater Investoren. Dieser Bewohnergruppe ist der direkte Zugang zu Entscheidungsprozessen in Zukunft erschwert. Im Hasenbergl sind die Startbedingungen gänzlich anders. Statt einer ursprünglich geplanten autarken Entlastungsstadt im Münchner Norden entsteht eine isolierte Wohnsiedlung jenseits des städtischen Bebauungszusammenhangs. Von Beginn an sind die Bewohner Stigmatisierungen ausgesetzt. Als mögliche Ursachen vermutet Karolus Heil in „Stadt am Stadtrand“ die Assoziation des Ortes mit einer Notunterkunft, die sich bis 1964 auf dem Gebiet der neuen Wohnsiedlung befand, oder die abwertende Wirkung des Diminutivs im Namen der Siedlung. 25 Wie in anderen Neubausiedlungen stehen auch hier Versorgungseinrichtungen nicht mit ausreichender Kapazität zur Verfügung, die Entfernung zum Konsum- und Dienstleistungsangebot des Stadtzentrums ist jedoch doppelt so groß wie in der Parkstadt Bogenhausen. Durch unzureichende Verkehrsinfrastruktur sind die Anfahrtszeiten zu den Arbeitsplätzen auch dann lang, wenn diese in den Industrie- und Gewerbegebieten des Münchner Nordens liegen. Im Hasenbergl werden parallel zum geförderten Wohnungsbau vergleichsweise wenige Eigenheime oder Eigentumswohnungen errichtet. Entlang vorgegebener Vergaberichtlinien im sozialen Wohnungsbau entsteht eine im Wesentlichen durch ein rigides Zuweisungssystem bestimmte Konzentration von Haushalten mit geringeren Einkommen. 26 In der Erhebung zur vergleichenden Studie umfasst nahezu jeder fünfte Haushalt fünf oder mehr Personen und die Befragten ordnen ihre Nachbarn am häufigsten den Erwerbskategorien „Arbeiter“ und „einfache Angestellte“ zu. 27 Mit Blick auf die anderen Siedlungen spricht Heil vom „Sonderfall Hasenbergl“. 28 Hier sei das Verhältnis der Bewohner zu ihrem Viertel distanziert 29 und die Voraussetzungen zur Entwicklung von Initiativen für die Forderung nach Verbesserungen in geringerem Maße vorhanden. 30 Mit dem Übergang des Wohnungsbestands der Neuen Heimat Bayern an die Doblinger Unternehmensgruppe im Jahr 1990 ändert sich für die Mieter und ihre Nachbarn im Hasenbergl zunächst nicht viel.31 Erst mit der Fertigstellung eines U-Bahn-Anschlusses und der förmlichen Festlegung als Sanierungsgebiet wird 1993 ein stadtpolitisch implementierter Veränderungsprozess in Gang gesetzt, der zunächst vor allem finanzielle Investitionen vorsieht. Mit der Aufnahme in das Bund-Länder-Programm „Stadtteile mit besonderem Entwicklungsbedarf – die soziale Stadt“ im Jahr 1999 wird es möglich, die Maßnahmen durch ein integriertes Handlungskonzept und damit auch den Kreis der beteiligten Akteure zu erweitern. 32 Öffentliche und private Ressourcen sollen nach Maßgabe des Programms ineinandergreifen. Anhand der sechs Handlungsfelder Aktivierung/Beteiligung/Öffentlichkeitsarbeit, Wohnen/Wohnumfeld, öffentlicher Raum/ Verkehr, soziale Infrastruktur, Ökonomie und Bildung/Kultur wird deutlich, dass es um weit mehr geht als die bei der Errichtung der Siedlung zentral geplante „Funktion“ Wohnen und deren „Folgeeinrichtungen“. Nach dem Planungsverständnis des Programms ist eine „Aktivierung und Beteiligung“ lokaler Akteursgruppen nicht nur aufgrund der bauplanungsrechtlich vorgesehenen Beteiligung der Öffentlichkeit an Planungsverfahren angezeigt, sondern für die beabsichtigte Vernetzung der Einzelmaßnahmen und damit für den Erfolg des integrierten Handlungskonzeptes zwingend notwendig.33 Damit wird von den Bewohnern und den lokalen Akteuren eine neue

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Rolle eingefordert: Sie dürfen nicht nur, sondern sollen sich auch in gegebenen oder neu zu generierenden Kooperationsstrukturen und Aushandlungsprozessen engagieren. Maßnahmen der Verstetigung sollen sie dann dazu anregen, im Sinne der Zielstellungen auch nach Programm­ ende weiter an Veränderungsprozessen zu arbeiten.34 Heute ist die Siedlung am Hasenbergl vielfältiger und vernetzter, als sie es zum Zeitpunkt der vergleichenden Studie von 1969 war. Zu dieser Veränderung haben externe Faktoren – etwa die Verbesserung des ÖPNV-Anschlusses oder die Errichtung der benachbarten Siedlung Nordheide – wie auch eine Vielzahl aktiv vor Ort ausgehandelter Transformationsprozesse beigetragen. Darin unterscheidet sie sich heute grundlegend von der Parkstadt Bogenhausen. In der Parkstadt werden Diskussionen über eine Diversifizierung des Wohnungsangebots, die Weiterentwicklung der Siedlung als Ensemble im Rahmen des Denkmalschutzgesetzes, Fragen der Nachverdichtung oder die Errichtung gemeinschaftlicher Einrichtungen aktuell nicht geführt. Innerhalb des vorstrukturierenden Rahmens des Wohnungseigentumsgesetzes wird hier vor allem an der Umsetzung des Instandhaltungsprogramms gearbeitet, das andere Themen in den Hintergrund rückt. Die während des Baus am Richard-Strauss-Tunnel aktive quartiersbasierte Interessengemeinschaft oder das umfänglich vorbereitete Fest aus Anlass des fünfzigjährigen Bestehens der Parkstadt Bogenhausen sind Ausnahmeerscheinungen und haben keine bleibenden räumlichen Effekte in der Siedlung hinterlassen. Intensive Modifikationen finden ausschließlich innerhalb der privaten Wohneinheiten statt und liegen damit jenseits des kollektiven Einflussbereichs. Während sich über den langen Zeitraum seit ihrer Entstehung die makroökonomischen, politischen und gesellschaftlichen Bedingungen für beide Großsiedlungen in ähnlicher Weise verschoben haben, zeigt sich anhand der skizzierten Entwicklungen, dass insbesondere die Akteurskonstellationen und eigentumsrechtlichen Rahmungen und damit auch der räumliche Veränderungsprozess sehr unterschiedlich ausgeprägt sind. Es scheint, dass gerade in einer durch Privatisierung aus hierarchischen Entscheidungsstrukturen herausgelösten und an der Dynamik des Wohnungsmarkts unmittelbar teilnehmenden Siedlung keine städtebaulichen oder nutzungsrelevanten Veränderungen (mehr) generiert werden. Weil die räumlich sichtbaren Befunde der skizzierten Prozesse für sich betrachtet immer nur einfache Dichotomien von Stagnation und Dynamik nahelegen können, ist der gleichzeitige Blick auf die prozessbeteiligten Akteure, auf eigentumsrechtliche Parameter und Machtverhältnisse notwendig, um differenziertere Interpretationen zu ermöglichen. Stagnation und Dynamik müssen dann aufeinander bezogen werden: Einschneidende Änderungen der Eigentumsstrukturen können zu nachhaltigen Erstarrungen im Feld städtebaulich relevanter Transformationen führen; ein lang anhaltender Stillstand bei baulichen Erneuerungsmaßnahmen in Kombination mit Besitzverhältnissen, die „konzertierte“ Zugriffsmöglichkeiten eröffnen, wird plötzlich zur Grundvoraussetzung für eine sprunghafte Zunahme und Intensivierung von Entwicklungsprozessen, die sich auf aktuelle Fragestellungen beziehen. Deshalb erscheint aus heutiger Sicht eine vergleichende Studie von 1969 so lesenswert, die in Zeiten des gesellschaftspolitischen Umbruchs nicht vorgab, absolute Sicherheit für anstehende Planungsaufgaben zu liefern, sondern im Gegenteil einen Blick für Ambivalenzen und Vielstimmigkeiten zu schärfen versuchte – und so die vielfältigen Widersprüchlichkeiten in den Veränderungen von Großsiedlungen nach der Neuen Heimat vorweggenommen hat.

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1 Tilmann Harlander, „Die ‚Modernität‘ der Boomjahre“, in: Arch+. Zeitschrift für Architektur und Städtebau 203/2011: Planung und Realität – Strategien im Umgang mit Großsiedlungen, S. 14–24. 2 Johannes Göderitz/Roland Rainer/Hubert Hoffmann, Die gegliederte und aufgelockerte Stadt, Tübingen 1957. 3 Karen Beckmann, Urbanität durch Dichte? Geschichte und Gegenwart der Großwohnkomplexe der 1970er Jahre, Bielefeld 2015. 4 Vgl. zu diesen Punkten: Andreas Reckwitz, „Die Selbstkulturalisierung der Stadt“, in: Mittelweg 36, 18/2008, H. 2, S. 2–34; Arch+. Zeitschrift für Architektur und Städtebau 203/2011: Planung und Realität – Strategien im Umgang mit Großsiedlungen; Maren Harnack, Rückkehr der Wohnmaschinen. Sozialer Wohnungsbau und Gentrifizierung in London, Bielefeld 2012; Andrea Benze/Julia Gill/Saskia Hebert, Urbane Lebenswelten. Strategien zur Entwicklung großer Siedlungen. Studie und Projektrecherche für die IBA Berlin 2020, Berlin 2013; http://www.stadtent wicklung.berlin.de/staedtebau/baukultur/iba/download/ studien/IBAStudie_Urbane_Lebenswelten.pdf (7.12.2018). 5 Katrin Zapf/Karolus Heil/Justus Rudolph, Stadt am Stadtrand. Eine vergleichende Untersuchung in vier Münchner Neubausiedlungen, Frankfurt am Main 1969. 6 Alexander Mitscherlich, Die Unwirtlichkeit unserer Städte. Anstiftung zum Unfrieden, Frankfurt am Main 1965; Wolf Jobst Siedler/Elisabeth Niggemeyer u. a., Die gemordete Stadt: Ab­g esang auf Putte und Straße, Platz und Baum, Berlin 1964. 7 Siehe Zapf/Heil/Rudolph 1969 (wie Anm. 5), S. 11. 1.505 Einzelbefragungen auf der Basis von weitgehend standardisierten Fragebögen wurden im Jahr 1965 in vier Neubausiedlungen durchgeführt und mit einer zeitgleichen Repräsentativbefragung in der Isarvorstadt kontrastiert; ebd., S. 356 ff. Der Haupterhebung wurden Gruppengespräche und eine sondierende Probebefragung vorangestellt. 8 Zapf/Heil/Rudolph 1969 (wie Anm. 5), S. 15, S. 54 ff. u. S. 73. Durch eine Verknüpfung der Daten aus den Befragungen mit Informationen zu „Haustypen und Typen der Wohn­l age“ (S. 73) erhofften sich die Autoren der Studie auch empirisch begründete Aussagen über städtebauliche und räumliche Kategorien in Neubausiedlungen treffen zu ­können. Diesen Ansatz arbeitete in der Studie schwerpunktmäßig der Architekt Justus Rudolph aus. 9 Statistisches Bundesamt (Hg.), 50 Jahre Wohnen in Deutschland. Ergebnisse aus Gebäude- und Wohnungszählungen, -stichproben, M ­ ikrozensus-Ergänzungserhebungen und Bautätigkeitsstatistiken, Stuttgart 2000, S. 49. 10 Zapf/Heil/Rudolph 1969 (wie Anm. 5), S. 7. 11 Ebd. 12 Ebd., S. 130ff. 13 Ebd., S. 259 u. S. 262. Darunter fallen etwa die privat organisierte Bewältigung von Aufgaben in den Bereichen Mobilität oder die Bereitstellung von und Versorgung mit Konsumgütern, Dienstleistungen, Erziehungsarbeit und anderen Leistungen, die zur Reproduktion notwendig sind. 14 Ebd., S. 260. Die Autorin zitiert hier direkt aus den Forderungen der „Charta von Athen“, um den gesellschaftspolitischen Kerngedanken zum Ausdruck zu bringen, der den gemeinschaftlichen Gütern in den Großwohnsiedlungen zugrunde liegt. Vgl. These 18 der „Charta von Athen“, in: Le Corbusier. Die ‚Charte d’Athènes‘, Rheinberg 1962, S. 79. 15 Ebd., S. 262. 16 Ebd., S. 261. 17 Ebd. 18 Ebd. Zugleich wurde mit der Gründung dem Interesse der Wohnungsbaugesellschaft an einem organisierten Ansprechpartner entsprochen; ebd., S. 341. 19 Werner Wittemer/Roland Krack/Karin Bernst/Jan Grossarth, „Parkstadt heute“, in: Roland Krack (Hg.), Die Parkstadt Bogenhausen in München, München 2006, S. 134–145. 20 Ebd. 21 Dazu gehören ein Kino, eine Postfiliale, der weitere Ausbau der Kinderbetreuung und der Schule, die Einrichtung einer neuen Buslinie sowie Bildungs- und Freizeitprogramme. Als übergeordnete Themen werden die Osttangente, Fragen von Luftverschmutzung oder Erwachsenenbildung behandelt; ebd. 22 Erika Wisselinck stellt 1958 fest, dass dieses Engagement nicht der „üblichen Uninteressiertheit von Neubaubewohnern“ entspräche; Erika Wisselinck, „Das Hochhausdorf.

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Zur Soziologie der Münchner Parksiedlung“, in: Süddeutsche Zeitung, 20./21.9.1958. Warum eine „Uninteressiertheit von Neubaubewohnern“ pauschal konstatiert werden konnte, bleibt Wisselincks Geheimnis. Eine Dekade später zeigte die Befragung in der vergleichenden Studie, dass in allen vier untersuchten Wohnsiedlungen beispielsweise ein Interesse am Austausch lokaler Informationen und an einer organisierten Nachbarschaftsvertretung bestand; Zapf/Heil/Rudolph 1969 (wie Anm. 5), S. 335 u. S. 337. Krack 2006 (wie Anm. 19), S. 91 u. S. 162–164. Nach einer kontrovers geführten Diskussion wurde unter der zentralen Grünfläche eine Großgarage und im nördlichen Bereich der Siedlung ein Parkhaus errichtet. Die zentrale Heizversorgung wurde durch Fernwärme ersetzt, während die örtliche Hausverwaltung in die umgebaute Heizzentrale einzog. Die Gebäude wurden energetisch saniert; u.  a. Karin Bernst, Von der Planung zur Fertigstellung der ‚Parkwohnanlage‘ Bogenhausen, in: Krack 2006 (wie Anm. 19), S. 42–63, hier S. 46. Zapf/Heil/Rudolph 1969 (wie Anm. 5), S. 175 ff. Die Notunterkunft im sogenannten Frauenholz geht zurück auf ein Kriegsgefangenenlager der Nationalsozialisten. Nach Ende des Zweiten Weltkriegs dienten seine Baracken als Auffanglager für „displaced persons“, ehemalige KZ-Häftlinge oder Soldaten. Ab 1953 brachte die Stadt München hier bis zur Auflösung der Anlage Menschen ohne Obdach unter. Die letzten Baracken der Anlage wurden erst 1981 abgerissen. Siehe auch Landeshauptstadt München. Referat für Stadtplanung und Bauordnung (Hg.), Stadtteilsanierung Hasenbergl, München 2011, S. 16, https://www.muenchen.de/ rathaus/dam/jcr:1fc062e2-fa76-49ff-9a3b-4feee724b66f/ Stadtteilsanierung%20Hasenbergl.pdf (7.12.2018). Die Parkstadt Bogenhausen wurde im Unterschied zur Siedlung am Hasenbergl frei finanziert. Die Mieten waren zwar aufgrund der Bestimmungen der Gemeinnützigkeit als sogenannte „Kostenmiete“ gedeckelt. Das Finanzierungsmodell erlaubte es aber, wie der Vorsitzende der Geschäftsführung der Neuen Heimat Bayern Ludwig Geigenberger betont, „nun einmal denen eine Wohnung zu verschaffen, die bisher […] noch außerhalb der öffentlichen Wohnungsfürsorge stehen“ – die also über ein zu hohes Einkommen verfügen, um sich für eine Sozialwohnung zu qualifizieren; Ludwig Geigenberger, zit. nach Karin Bernst, Von der Planung zur Fertigstellung der ‚Parkwohnanlage‘ Bogenhausen, in: Krack 2006 (wie Anm. 19), S. 46. Zapf/Heil/Rudolph 1969 (wie Anm. 5), S. 126–127, S. 129 u. S. 229–230. Ebd., S. 175. Ebd., S. 175 u. S. 182. Zu dieser Problematik bezieht sich die Studie im analytischen Teil von Katrin Zapf nicht explizit auf die Siedlung am Hasenbergl, sondern stellt verallgemeinernd fest, dass die Bereitschaft zur organisierten Mitgliedschaft in entsprechenden Initiativen in „Gruppen mit einfachen Berufen, schlechter Schulbildung und niedrigem Einkommen“ trotz der stärkeren direkten Betroffenheit weniger stark ausgeprägt sei als in „gehobenen Mittelgruppen“; ebd., S. 339. Die Neue Heimat Bayern verwaltete bis zum Abschluss des Insolvenzverfahrens 1990 rund 3.000 Wohneinheiten im Eigenbestand in der „Wohnanlage Am Hasenbergl“ und in der „Wohnanlage Am Hasenbergl-Süd“; Neue Heimat Bayern (Hg.), 15 Jahre Wohnungs- und Städtebau der „Neue Heimat Bayern“, München 1971, S. 18. Landeshauptstadt München 2011 (wie Anm. 25), S. 8. Zum Beispiel kooperierten bei der Umgestaltung des Goldschmiedplatzes und beim Umbau des ehemaligen Trambahnhäuschens zum Aktionsraum für Kinder und Jugendliche mit Bewohnertreff: Sozialreferat Stadt München, Stadtwerke München, Gemeinwesenarbeit am Hasenbergl, Bewohnerstammtisch Hasenbergl Nord, Kinder- und Jugendtreff „Der Club“, Kreisjugendring, Beschäftigungsinitiative „Junge Arbeit“, Willy-Brandt-Gesamtschule, Jugendfreizeitstätte „’s Dülfer“, Soziale Gruppenarbeit am Stanigplatz, Schulsozialarbeit Eduard-Spranger-Schule und der Bezirksausschuss 24. Das Projekt wurde 2000 fertiggestellt. Die Projektleitung lag beim Baureferat Gartenbau und Hochbau, die Planung beim Verein Urbanes Wohnen e. V. München unter Beteiligung des Referats für Stadtplanung und Bauordnung; Landeshauptstadt München 2011 (wie Anm. 25), S. 54–55. Landeshauptstadt München 2011 (wie Anm. 25), S. 24–25.

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M Y R Z I K U N D JA R I S C H FOTO E S S AY, 2 0 1 8

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PA R K S TA D T B O G E N H A U S E N , M Ü N C H E N

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KIEL METTENHOF

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KIEL METTENHOF

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N E U E VA H R , B R E M E N

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N E U E VA H R , B R E M E N

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HEIDELBERG-EMMERTSGRUND

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F R A N K F U R T N O R D W E S T S TA D T

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MÜNCHEN NEUPERLACH, WOHNRING

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MÜNCHEN NEUPERLACH, WOHNRING

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D O C U M E N TA U R B A N A , K A S S E L

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CONGRESS CENTER HAMBURG, RADISSON BLU-HOTEL

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N Ü R N B E R G - L A N GWAS S E R , N AC H B A R S C H A F T U

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HAMBURG MÜMMELMANNSBERG

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HAMBURG MÜMMELMANNSBERG

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TRADITION UND NEUBEGINN I N D E R N AC H K R I E G S Z E I T. D E R W I E D E R AU F B AU VO N WO H N S I E D L U N G E N

Siedlung Barmbek Nord-Hochhaus am Habichtsplatz, Hamburg 1953

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HAMBURG BARMBEK-NORD Ba u zeit

1950–1954 Ba u träg e r

Neue Heimat Nord Arc hi te kte n / P l a ner

Ursprungsbauten: Fritz Schumacher, Hermann Höger u. a.; Walter Beyn und Erich Knerlich (Hochhaus am Habichtsplatz) Wohn ein h e ite n

3.080 für 8.000 Bewohner 1

D

E R W I E D E R AU F B AU von Wohnsiedlungen war gleich nach der Währungsreform und dem Erlass des Wohnungsbaugesetzes das vordringliche Ziel der Neuen Heimat. In Barmbek-Nord setzte sie ab 1950 eines ihrer „eigenen“ Quartiere größtenteils wieder instand, das zwischen 1926 und 1931 in Trägerschaft ihrer Vorgängerin, der Gemeinnützigen Kleinwohnungsbaugesellschaft (GKB), von Fritz Schumacher, Karl Schneider, Hermann Höger, Hermann und Paul Frank, Willy Berg und Max Paasche und anderen geplant worden war. In den Jahren 1953/54 bauten Walter Beyn und Erich Knerlich in Gleitbauweise noch ein 14-geschossiges Wohnhochhaus in die Mitte des rekonstruierten Viertels, an den Habichtsplatz. Barmbek-Nord ist heute das größte geschlossene Wohngebiet der Zwischenkriegszeit und dank des Wiederaufbaus nach den originalen Plänen ein bedeutendes Zeugnis der sozialdemokratischen Wohnungsbaupolitik vor 1933. Das Backsteinensemble wurde bereits vor der

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ersten Modernisierung der Jahre 1978–1981 unter Denkmalschutz gestellt. Damals wurden Zentralheizungen, Duschbäder und Isolierfenster in die 1-, 2- oder 3-Zimmer-Wohnungen eingebaut, was jedoch nicht die Abwanderung finanzstärkerer Haushalte verhinderte. Aufgrund des Standards der Nachkriegszeit, der unter dem der Zwischenkriegszeit lag, waren die ohnehin schon kleinen Arbeiterwohnungen noch geteilt worden. Schumacher hatte die Planung BarmbekNords von 1914 zugunsten von Staffelung und Grünflächen in der Blockrandbebauung mit klarer Akzentuierung der Außenkante des Quartiers reformiert. Für Aufsehen sorgte das Laubenganghaus der Brüder Frank am Heidhörn (1926/27), das als das erste Beispiel dieses Typs in Deutschland gilt. 1 Bekannt war auch das Ledigenheim Schwalbenhof für Frauen (1929/30), das die Franks ebenfalls als Laubenganghaus errichteten. Beide Häuser enthielten Gemeinschaftseinrichtungen wie

Waschküche, Casino, Zentralbadeanstalt und Dachterrasse. Es ist anzunehmen, dass diese angesichts der knappen Mittel 1950 nicht wieder eingerichtet wurden. Die Neue Heimat betreute also am Anfang ihrer Geschichte ein anspruchsvolles Wiederaufbauprojekt aus der Hand Fritz Schumachers. Nur 5,2 Prozent der Wohnungen waren im Krieg unbeschädigt geblieben.2 Abgesehen von der Vereinfachung in Funktionen und Fassadenornamenten sowie der Aufteilung von Wohnungen hielt sie sich an die teils schwer beschädigte Vorlage, setzte jedoch auch die zeitgemäße Agenda durch den neuen Bautyp Wohnhochhaus mit großzügiger Grünanlage in Szene. RH

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Schubert 2005, S. 159. Ebd., S. 160.

L ITERATU R NHM 10/1981, S. 34–35; Neue Heimat, 50 Jahre Neue Heimat Hamburg, Hamburg 1976 // Klaus Hübenbecker, Wohnungsbau 1920–1980. Dokumentiert an Hamburger Beispielen, Hamburg 1983; Ralf Lange, Hamburg. Wiederaufbau und Neuplanung 1943–1963, Königstein im Taunus 1994; Dirk Schubert, Hamburger Wohnquartiere. Ein Stadtführer durch 65 Siedlungen, Berlin 2005.

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Barmbek-Nord, 1939

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Bombenschäden in der Habichtstraße, 1942

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Habichtsplatz, 1953

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Hochhaus am Habichtsplatz, 1954

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HAMBURG VEDDEL Ba u zeit

1926–1931 (Wohnblöcke Veddel I–IV); 1950–1952 (Wiederaufbau); 1979–1985 (Modernisierung) Ba u träg e r

Gemeinnützige Kleinwohnungsbau m.b.H. Groß-Hamburg, Neue Heimat Nord Arc hi te kte n / P l a ner

Ursprungsbauten: Fritz Schumacher, Erich Elingius, Gottfried Schramm, Hermann Höger, E. Hentze, H. und O. Gerson; Wiederaufbau: Robert DeimlingOstrinsky, Hermann Höger, Friedrich Ostermeyer, Paul Suhr (Hochhaus am Habichtsplatz) Wohn ein h e ite n

1.200 Wohnungen

D

I E E N D E der 1920er-Jahre erbaute Arbeitersiedlung auf der Veddel, einer südöstlich der Hamburger Innenstadt gelegenen Elbinsel im Hafengebiet, gehört zum „Altbestand“ der Neuen Heimat Hamburg. Zur Bekämpfung der Wohnungsnot im groß-hamburgischen Wirtschaftsge­ biet kam es im März 1926 auf Initiative der Hamburger Arbeiterschaft zur Gründung der Gemeinnützigen Kleinwohnungsbau m.b.H. Groß-Hamburg. Die Baugenossenschaft zielte darauf ab, mithilfe der 1924 eingeführten Hauszinssteuer staatseigene Wohnungen zu tragbaren Mieten für minderbemittelte Bevölkerungsschichten zu errichten. 1

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Lageplan Wiederaufbaugebiet Veddel

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Wohnblock I, 1929

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Lageplan erhaltene und kriegszerstörte Teile des Wohnblocks I, 1950

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Wohnblock I, kriegszerstört

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Wohnblock I und II am Immanuelplatz, 1929

Zwischen 1926 und 1931 realisierte die Baugenossenschaft auf der Veddel die erste aus Mitteln der Hauszinssteuer geförderte Großsiedlung aus vier mehrgeschossigen Wohnanlagen in Blockrandbebauung mit insgesamt 803 Wohnungen und mehreren Geschäften.2 Diese moderne Wohnstadt entstand auf dem Areal einer 1878 gegründeten, „sozial und architektonisch vortrefflichen“ Musterkolonie mit 200 Arbeiterhäusern, die der Neubausiedlung weichen musste.3 Ausschlaggebend waren vor allem der wesentlich angestiegene Flächennutzungsbedarf und die besondere Lage  – das Gelände bot eine der wenigen Möglichkeiten, Wohnungen in unmittelbarer Hafennähe bereitzustellen.4

3

Die Bebauung des Areals erfolgte auf Grundlage eines von der Stadt entwickelten Generalplans, den Oberbaudirektor Fritz Schumacher ausgearbeitet hatte. Vorgegeben wurden neben der städtebaulichen Erschließung die jeweilige Baublockgröße sowie die einheitliche Verwendung von Klinker als Material für die Fassadengestaltung. Die jeweils vier- bis fünfgeschossigen, flach gedeckten Wohngebäude gruppieren sich um ein Zentrum mit öffentlichen Einrichtungen, wie Schule, Kirche,

4

Gemeindehaus und Sportplatz. Die einzelnen Wohnblöcke ruhen wegen des schlechten Baugrunds auf Eisenbetonpfählen. Einen besonderen Stellenwert erhielten die landschaftsgärtnerisch gestalteten Innenhöfe. Die Planung der einzelnen Wohnblöcke wurde an unterschiedliche Architekten vergeben, deren Handschrift auch das Erscheinungsbild der Fassaden prägt. 5 Den ersten der vier Wohnblöcke, Veddel-Sieldeich, führte die Architektengemeinschaft Erich Elingius und Gottfried Schramm unter anderem in Zusammenarbeit mit Hermann Höger aus; die Auftragsvergabe erfolgte auf Grundlage eines Wettbewerbs. Errichtet wurde eine fünfgeschossige, flach gedeckte Vierflügelanlage aus Oldenburger Klinkern mit gerade verlaufendem Nord- und Westflügel und konkav beziehungsweise konvex geschwungenen Trakten an der Ost- respektive Südseite. Die in 18 Häuser gegliederte Wohnanlage umfasste neben 6 Geschäften 166 Wohnungen mit 1,5 bis 3 Zimmern und 38 bis 67 Quadratmetern Grundfläche. Jedes Haus verfügte über eine Waschküche, einen Trockenraum und zwei Brausebäder mit Warmwasserversorgung auf dem Dachboden.6 Nachdem die Gemeinnützige Kleinwohnungsbaugesellschaft m.b.H. Groß-Hamburg 1933 gleichgeschaltet und von der Deutschen Ar­ beitsfront (DAF) übernommen worden war, kam die bis dahin außerordentlich produktive

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und im sanitären Bereich sowie durch Schallund Wärmeschutzmaßnahmen sollten die Wohnungen neuesten Standards angepasst werden; ein städtebauliches Konzept sollte dem hohen Verkehrsaufkommen und den starken Immissionsbelastungen entgegenwirken. Der erhoffte Wandel vom „Problemquartier“ mit sozialen Konflikten zum In-Viertel blieb jedoch trotz weiterer Revitalisierungsmaßnahmen in den 1990er-Jahren aus.10 KB 5

Wohnungsbautätigkeit auf der Veddel zum Erliegen. Als die DAF 1939 zur Einrichtung eigener Wohnungsbaugesellschaften überging, wurde die Gemeinnützige Kleinwohnungsbau m.b.H. Groß-Hamburg in Neue Heimat umfirmiert.7 Durch Bombeneinwirkungen im Zweiten Weltkrieg wurde mehr als ein Drittel der Wohnungen der Neuen Heimat auf der Veddel zerstört, etliche weitere stark beschädigt.8 Unter Einbeziehung noch vorhandener Bausubstanz konnten sie bis 1952 nach den originalen Plänen und unter Wahrung der ursprünglichen Bauweise wiederaufgebaut werden, sodass sich die rekonstruierten Gebäudeteile optisch kaum von der Altsubstanz unterscheiden.9

1 Vgl. Brecht/Klabunde 1950, bes. S. 250–257; Plett 1956, S. 2. 2 Von 1926 bis 1928 wurden die Wohnblöcke Veddel I mit 166 Wohnungen und 6 Läden und Veddel II mit 110 Wohnungen und 4 Läden errichtet. Bis 1931 konnten die Wohnblöcke Veddel III und IV mit 284 bzw. 243 Wohnungen und 14 bzw. 1 Laden fertiggestellt werden. Siehe dazu Brecht/Klabunde 1950, S. 252–254. 3 Schumacher 1932, S. 61 (Zitat). Zur Arbeiterkolonie aus dem 19. Jahrhundert siehe Ebert 1911, S. 91–98. 4 Vgl. Gartzen/Sachs/Wieg 1985, S. 17; Schubert 2005, S. 162– 163. 5 Vgl. Gartzen/Sachs/Wieg 1985, S.  17–18; Schubert 2005, S. 163–164. 6 Vgl. Pfister 1929, S. 253. 7 Vgl. Brecht/Klabunde 1950, S. 254. 8 Von den insgesamt 803 Wohnungen der Neuen Heimat in Veddel wurden 305 Wohnungen zerstört. Am meisten betroffen war der 1931 fertiggestellte Wohnblock III, bei dem 193 von 284 Wohnungen unbewohnbar wurden. Weitgehend verschont blieb hingegen der Wohnblock IV, bei dem lediglich 25 von 243 Wohnungen starke Beschädigungen aufwiesen. Bei den älteren Wohnblöcken I und II wurden 52 (von 166) bzw. 35 (von 110) Wohnungen zerstört. Siehe dazu Brecht/Klabunde 1950, S.  252–256. Nach Heinrich Plett errichtete die Neue Heimat in der Nachkriegszeit auf der Veddel „500 Sozialwohnungen auf den Trümmern der alten Wohnblocks“. Plett 1956, S. 5. 9 Vgl. Gartzen/Sachs/Wieg 1985, S. 27; Kohn 2009, S. 27. 10 Vgl. Gibbins/Brandt 1981, S. 54–59; Gartzen/Sachs/Wieg 1985; Schubert 2005, S. 165; Yigit 2014, S. 25.

L ITERATU R Nach dem Krieg wurden etwa 1.200 Wohnungen – 58 Prozent der gesamten Siedlung – von der Neuen Heimat Nord verwaltet. Aufgrund der begrenzten Mieten war man hinsichtlich von Instandsetzungs- und Modernisierungsmaßnahmen auf öffentliche Förderung angewiesen, die dem Stadtteil Veddel jedoch über einen langen Zeitraum nicht zuteil wurden  – mit erheblichen substanziellen und gesellschaftspolitischen Folgen. Zwischen 1979 und 1985 konnte die Großwohnanlage Veddel im Rahmen eines von Bund und Land geförderten Pilotprojekts umfassend erneuert werden. Durch Zusammenlegungen, Grundrissänderungen, Modernisierungen im technischen und

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Paul Ebert, Die Veddel in Wort und Bild, Hamburg 1911; Rudolf Pfister, „Die Architekten Elingius u. Schramm, Hamburg, und ihre Arbeiten“, in: Baukunst 9/1929, S. 249–278; Fritz Schumacher, Das Werden einer Wohnstadt. Bilder vom neuen Hamburg, Hamburg 1932; Julius Brecht/Erich Klabunde, Wohnungswirtschaft in unserer Zeit, Hamburg 1950; Heinrich Plett, „Wohnungen für 330 000 Menschen. Unternehmensgruppe Neue Heimat Hamburg: Rückblick und Ausblick“, in: NHM 10/1956, S.  1–10; Olaf Gibbins/Thies-Martin Brandt, „Am Hafen wohnen müssen … Das Hamburger Pilotprojekt für die Erneuerung der Arbeiterwohnstadt Veddel“, in: NHM 10/1981, S.  54–59; Giselbert von Gartzen/Michael Sachs/Margot Wieg, Hamburg-Veddel. Projektbegleitende Untersuchung des Versuchs- und Vergleichsbauvorhabens. Im Auftrag des Bundesministeriums für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau, Hamburg/Stuttgart 1985; Dirk Schubert, Hamburger Wohnquartiere. Ein Stadtführer durch 65 Siedlungen, Berlin 2005, S. 162–165; Hannah Kohn, Die Veddel. Stadtgeografische Analyse eines Hamburger Stadtteils. Unter besonderer Berücksichtigung seiner Entwicklung im Rahmen des Bund-Länder-Programms „Stadtteile mit besonderem Entwicklungsbedarf – die Soziale Stadt“, Hamburg 2009 (= Magisterarbeit Univ. Lüneburg 2008); Ayse Yigit, Bürger­b eteiligung am Beispiel des Veddeler Nordufers, Hamburg 2014 (= Bachelorarbeit, Univ. Hamburg, Ms. masch).

DA S A N T I M O D E L L Z U M WO H N E N I N D E R STA DT. VO N D E R G A R T E N STA DT Z U R „G E G L I E D E R T E N U N D AU F G E L O C K E R T E N STA DT “

Gartenstadt Hohnerkamp, Hamburg, 1954

131

HAMBURG HOHNERKAMP Ba u zeit

1953–1955 Ba u träg e r

Neue Heimat Arc hi te kte n / P l a ner

Hans Bernhard Reichow (Gesamtstrukturplanung, Architektur); Otto Gühlk, Gustav Lüttge (Landschaftsarchitektur) Wohn ein h e ite n

1.410 für 2.153 Bewohner

D

I E G A R T E N STA DT Hohnerkamp war das erste große Siedlungsprojekt nach 1945 außerhalb des sozialen Wohnungsbaus und die erste Gartenstadt der Neuen Heimat. Die durch ein Büro der Neuen Heimat ohne Einschaltung des Wohnungsamts vorab vermieteten Wohnungen waren durch das System des „Lastenausgleichsscheins“ bezuschusst worden. 1 Die an einem sanften Hang gelegene, südwestlich orientierte „Terrassenstadt“ besteht aus zwei-, drei- und sechsgeschossigen Einfamilien-, Zeilen- und Punkthäusern. An schleifenförmigen Straßen sind die Riegel und Gruppen in leicht aus der Parallelität herausgedrehtem Verhältnis zueinander angeordnet. Durch die Kurvatur und Auffächerung der Bauten treten die Straßen- und Grünräume mit den Wohnhäusern in spürbare Resonanz. Bei den geknickten, vor- und rückspringenden Außenwänden in kräftigen Pastelltönen gibt es Lochfassaden zur Straße und große Fensteröffnungen mit

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akzentuierter Rahmung sowie vorgehängte und eingeschnittene Balkone zu den Gemeinschaftsgrünflächen und Gärten. Diese machen über zwei Drittel der 30 Hektar großen Fläche aus. Die Häuser haben überhängende Dächer, die auch dem Außenraum einen dezenten Abschluss nach oben verleihen. Zusammen mit der Gartenstadt Farmsen war Hohnerkamp die erste Siedlung, in der Reichow die Ideen seiner „Organischen Stadtbaukunst“2 umsetzen konnte, die er als Baudirektor im besetzten Stettin zu entwickeln begonnen hatte. Die Konzepte für den Umbau polnischer Städte im „deutschen Osten“, gegliedert in „Siedlungszellen“, brachte Reichow nach Hamburg.3 Er qualifizierte sich für die Neue-Heimat-Gartenstädte durch einen 1. Preis in einem Wettbewerb um rationalisierte Bauweisen, den die Marshallplanbehörde ausgeschrieben hatte. Heinrich Plett kontaktierte Reichow, da die Stadt Hamburg im Geschäftsjahr 1953 keinen gemeinnützigen, jedoch steu-

erbegünstigten Wohnungsbau fördern konnte. Die daraus resultierenden hohen Mietkosten hätten nicht zum Gemeinnützigkeitsprinzip der Neuen Heimat gepasst, doch Reichows rationelle Bauweise versprach einen niedrigen Preis. Dieser wurde allerdings verfehlt.4 Kritik ernteten auch die winzigen Schlafzimmer mit zwei Türen, die von den Bewohnern spöttisch „Moltke-Zimmer“ genannt wurden: „getrennt marschieren, vereint schlafen“.5 Das technoskeptische Konzept des Gartenarchitekten Gustav Lüttge sah für Hohnerkamp „Baumhaine […], Landschaftsräume, jene grünen Anger [vor], die den Feierabend bestimmen werden“.6 Lüttge unterstrich den Wunsch vieler Stadtbewohner nach Privatgärten, die bei den Einfamilienhäusern von Hohnerkamp verwirklicht wurden. 1

1

Luftaufnahme, 1955

2

Perspektive von Hans Bernhard Reichow

3

Zweigeschossige Reihenhäuser mit Freisitz

3

Die Gartenstadt steht seit 1987 unter „Milieuschutz“, nachdem sich eine Mieterinitiative gegen einen Teilverkauf erfolgreich gewehrt hatte. Noch 2004 wohnten 150 Erstmieter dort. 7 RH

1 Dieser für ausgebombte und vertriebene Menschen ausgestellte Schein im Wert von 3.000 DM wurde als Anteil an den Baukosten angenommen. Die Miete von 87,50 DM für eine 1,5-Zimmer-Wohnung galt 1954 als „staatlich“; vgl. Schubert 2005, S. 210. 2 Vgl. Reichow 1948. 3 Gutschow 2001, S. 172. 4 Kramper 2008, S. 164. 5 Werner Norhaub, „In Onkel Alberts Reich geht die Sonne nie unter“, in: Stern 3/1973, S. 78–81, zit. nach Kramper 2008, S. 164. 6 Gustav Lüttge, „Mensch und Pflanze“, in: NHM 1/1954, S. 9–11. 7 Schubert 2005, S. 230–231.

L ITERATU R

2

NHM 1/1954, S. 9–11; NHM 4/1960, S. 1–13; NHM 7/1960, S. 1–16 // Hans Bernhard Reichow, Organische Stadtbaukunst. Von der Großstadt zur Stadtlandschaft, Braunschweig 1948; Hans Bernhard Reichow, „Die Gartenstadt Hohnerkamp in Hamburg-Bramfeld“, in: Raumforschung und Raumordnung 3–4/1953, S. 151–158; Niels Gutschow, Ordnungswahn. Architekten planen im „eingedeutschten Osten“ 1939–1945, Gütersloh u. a. 2001; Dirk Schubert, Hamburger Wohnquartiere. Ein Stadtführer durch 65 Siedlungen, Berlin 2005; Peter Kramper, Neue Heimat. Unternehmenspolitik und Unternehmensentwicklung im gewerkschaftlichen Wohnungsund Städtebau 1950–1982, Stuttgart 2008, S. 161–167.

133

MÜNCHEN PARKSTADT BOGENHAUSEN Ba u zeit

1955–1956 (Planung ab 1954) Ba u träg e r

Neue Heimat Bayern Ba u herr

Gemeinnützige Wohnstätten­ gesellschaft von 1910 (GEWOG Hamburg), Südhausbau GmbH Arc hi te kte n / P l a ner

Franz Ruf (Gesamtplanung), Johannes Ludwig, Hans Knapp-Schachleiter, Matthä Schmölz, Helmut von Werz und Johann-Christoph Ottow; Alfred Reich (Landschaftsarchitekt) Wohn ein h e ite n

2.079 für 8.000 Bewohner (geplant 2.150), 135 Eigenheime

D

I E Z I E L E waren hochgesteckt und die Parkstadt Bogenhausen in mehr­ facher Hinsicht ein Pilotprojekt. Als erste geschlossene Wohnanlage – nicht nur in München, sondern in ganz Bayern – sollten die geplanten und wenig verbreiteten Wohnhochhäuser „städtebauliche Höhepunkte“ schaffen. Aber in erster Linie war die Planung eine Reaktion auf die anhaltende Wohnungsnot nach dem Zweiten Weltkrieg. München zählte zwi-

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schen 1950 und 1956 zu einer der Großstädte Deutschlands mit der höchsten Einwohnerentwicklung: Zwischen 25.000 und 32.000 Menschen zogen jährlich nach München.1 Im Rahmen des geförderten Wohnungsbaus wurde in München dringend benötigter Wohnraum geschaffen: So lag der Anteil an Sozialwohnungen im Neubauvolumen in München 1951 bei 85 Prozent, bis 1953 bei 50 Prozent und in den folgenden Jahren bei etwa 30 Prozent.2

1

Die Stadt verkaufte der GEWOG Hamburg das unbebaute Gelände am Rande des Bogenhausener Villenviertels im Südosten Münchens.3 Die Umsetzung konnte „ohne Inanspruchnahme sonst üblicher öffentlicher Mittel“ finan­z iert werden. 4 Es waren vorrangig Gelder aus dem European-Recovery-Programm (ERP) und Eigenkapital der Bauherren, die die Spitzenfinanzierung ermöglichten. 5 So charakterisiert die Neue Heimat die Umsetzung der von Franz Ruf geplanten Wohnanlage als ein „Ergebnis des Ringens zwischen Architekt, Ingenieur und Finanzier“, da trotz der „freien“ Finanzierung der Anspruch blieb, den Quadratmeterpreis unter dem Niveau des subventionierten Sozialwohnungsbaus zu halten. 6 Ergänzt wurde die Pionierrolle der Wohnanlage durch den Bau eines Zentralheizwerks, das die bis dahin übliche

3 1

Buschingstraße, Zeilenbauten und Wohnhochhäuser, Foto: Fritz Thudichum

2

Parkgaststätte an der Buschingstraße, Foto: Otto Wasow

3

Lageplan mit Farbgestaltungskonzept von Johannes Ludwig und Franz Ruf, 1955

4

Hochhaustyp Ansichten 1:200 von Johannes Ludwig und Franz Ruf, 1.4.1954

5

Küche einer Musterwohnung, Foto: Fritz Thudicum, 1956

4

2

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5

Ofenheizung pro Wohnung ablöste. Diese war aufgrund des Ensembles unterschiedlicher hoher Wohnhochhäuser keine Option mehr, da dort Luftwirbel entstehen können, die Rauch durch die Schornsteine zurück in die Wohnung drücken.7 Das 22 Hektar große Gelände wurde nach dem erstprämierten Wettbewerbsentwurf von Ruf mit 4-, 8-, 12- und 15-geschossigen Wohnhochhäusern bebaut. 8 Nach dem Prinzip der gegliederten, aufgelockerten Stadt legte ­Gartenarchitekt Alfred Reich großzügige Grünanlagen an, die dem Motto „Wohnen im Park“ gerecht werden sollten. Stichstraßen führen als Fußgängerwege von der Rundstraße ab, Verkehrslärm wird somit ferngehalten. Ein beliebtes Zentrum bildeten ein Gemeindehaus und ein Eiscafé. Lediglich am östlichen Rand der Parkstadt platzierte Ruf parzellierte Einfamilienhäuser, neben ihnen eine Schule und einen Kindergarten. Zugeschnitten auf „Junggesellen und alleinstehende Ehepaare“, war die Siedlung darauf angelegt, die berufstätige Mitte der Gesellschaft zu stärken und ihr ein komfortables, wertiges Wohnangebot bereitzustellen. 9 Erstmals wurde das amerikanische Modell der Grundriss­aufteilung ausprobiert, wo Schlafzimmer und Küche von einem zentralen Wohnzimmer abgehen. Zusätzlich sind alle

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Wohnungen mit einer Einbauküche und einer Loggia ausgestattet, ergänzend gibt es Paarlifte in jedem Hochhaus.10 Durch die Beteiligung von sechs Architekten unterschieden sich die Hausentwürfe in Fassadengestaltung sowie Bauweise und variierten in 60 verschiedenen Grundrisstypen. Mieter konnten zwischen 15 Wohnungstypen von der 1-ZimmerWohnung mit 20 Quadratmetern bis zur 4,5-Zimmer-Wohnung mit bis zu 80 Quadratmetern wählen. 11 Als Prototyp einer Wohnanlage ihrer Zeit steht die Parkstadt Bogenhausen heute als Ensemble auf der Bayerischen Denkmalliste. 12 H B /S B -A

1 Bernst 2006, S. 42. 2 Ebd. 3 Das Areal war während der NS-Zeit von der Stadt Adolf Hitler zur Errichtung einer Residenz überlassen worden. Vgl. Alfred Reich, „Parkwohnanlage München-Bogenhausen“, in: NHM 7/1963, S. 34–39, hier S. 34; (wie Anm. 1), S. 43. 4 J. Herrmann, „Interbau. Frische Impulse – aber zu teuer“, in: NHM 9/1957, S. 54. 5 Rund 37,5 Millionen DM standen der Bundesrepublik aus den ERP-Geldern zur Verfügung. Diese Gelder gingen an die Träger von gemeinnützigen Wohnungsbaugesellschaften, wo sie anstelle der Lastenausgleichszahlungen für Heimatvertriebene, Ausgebombte oder Ostflüchtlinge für die Umsetzung von „sozialem“ Wohnungsbau eingesetzt wurden: in diesem Fall für den Bau der Parkstadt Bogenhausen. Die Neue Heimat zahlte den Bewohnern aus den genannten bedürftigen Gruppen in jährlichen Raten das Geld zurück. Vgl. Bernst 2006, S. 52–53. Im Juli 1955 gründete sich die Neue Heimat Bayern aus der vormals Münchener Wohnungsfürsorge- und Baubank AG, München (Müwog). 6 NHM 9/1957, S. 55. 7 Bernst 2006, S. 42. 8 Franz Ruf, „Parkwohnanlage München-Bogenhausen. Der städtebauliche und architektonische Entwurf“, in: NHM 2/1955, S. 2–3. 9 Ebd., S. 6. 10 Ebd., S. 7–8. 11 O. Verf., o. T., in: NHM 1/1954, S. 7. 12 Bayerisches Landesamt für Denkmalpflege: Parkstadt Bogenhausen, http://geoportal.bayern.de/bayernatlas-klassik/ (3.12.2018).

L ITERATU R NHM 1/1954, S. 7; NHM 2/1955, S. 1–14; NHM 6/1956, S. 38–41; NHM 9/1957, S. 45–55; NHM 7/1963, S. 34–39; Neue Heimat (Hg.), 50 Jahre GEWOG, Hamburg 1960 (Broschüre) // Georg Paula, Ensembles in Oberbayern, München 1997 (= Denkmäler in Bayern, Bd. I.A), S. 48–49; Hilke Gesine Möller/Ernst Maria Lang, „Traditionen der Moderne im Siedlungsbau. Hasenbergl und Parkstadt Bogenhausen“ (Interview), in: Hilke Gesine Möller (Hg.), Reihe Zeile Block & Punkt. Wohnungen, Häuser, Siedlungen im Raum München. Südhausbau 1936–1996, München 1997, S. 131–134; Karin Bernst, „Von der Planung zur Fertigstellung der ‚Parkwohnanlage‘ Bogenhausen“, in: Roland Krack (Hg.), Parkstadt Bogenhausen in München. Münchens erste Trabantenstadt, München 2006, S. 42–63.

KASSEL GARTENSTADT AUEFELD B a u ze it

1955/56 (Wettbewerb 1954) B a u h e r r

GEWOBAG, Gemeinnützige Wohnungsbaugesellschaft Kassel m.b.H. A rc h ite kte n / Pl an er

GEWOBAG, Heinz Graaf, Hamburg, Stadtbauverwaltung Kassel (Bebauungsplan); Heinz Graaf (Einfamilienhäuser, Typ G); Helmut Lepper und Karl Heinz Knaepper (Typ L, Typ K); Plan­u ngs­a bteilung der GEWOBAG (Mehrfamilien­h äuser, Altenheim der Arbeiter­wohlfahrt); Dieter Unger (Auefeld­ schule); Hermann Mattern, Hans-Joachim Schwarzenbarth (Landschaftsarchitektur) Wo h n e in h e iten

435 Mietwohnungen und 247 Eigenheime für 2.500 1 Bewohner

D

A S E R ST E große „Aufbauprojekt“ nach Neuaufbau und Instandsetzung der im Zweiten Weltkrieg stark zerstörten Stadt Kassel war die Gartenstadt Auefeld,1 die sich auf 165.000 Quadratmetern über einen abfallenden Hang zwischen Heinrich-Heine-, Ludwig-Mondund Frankfurter Straße erstreckt und von der Gemeinnützigen Wohnungsbaugesellschaft Kassel m.b.H. (GEWOBAG).2 errich-

tet wurde. Bereits anlässlich des Richtfests im November 1955 sprach der eigens angereiste hessische Ministerpräsident August Zinn von einem „Symbol für die Wiedergeburt Kassels“. 3 Bei der Fertigstellung 1956 war der neu geschaffene Stadtteil für circa 2.500 Menschen mit 247 Eigenheimen und 435 Mietwohnungen die größte geschlossene Wohnsiedlung Nordhessens.

137

2

Den Bebauungsplan erarbeitete die GEWOBAG gemeinsam mit dem Architekten Heinz Graaf (Hamburg) und der Stadtbauverwaltung Kassel, der dem Leitbild einer in Nachbarschaften gegliederten und durch Grünzüge aufgelockerten Stadtlandschaft folgte und 1954 verabschiedet, aber bis zum Baubeginn im Mai 1955 im Detail noch mehrfach geändert wurde. Vier- bis fünfgeschossige Punkthäuser, die eine städtebauliche Dominante bilden, mehrgeschossige Mietblöcke und eine Einfamilienhausbebauung fächern sich um einen angerartigen Platz mit Kirche, Schule, Läden und Waschsalon nach Süden auf. Im Osten grenzt ein dreigeschossiges Altenheim an ein Kleingartengebiet an. Für die Einfamilienhäuser („Kaufeigenheime“) wurde ein Ideenwettbewerb (Vorsitz Ernst May) durchgeführt. Drei preisgekrönte Entwürfe mit durchschnittlich 76 Quadratmeter Wohnfläche gelangten

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zur Ausführung: ein eineinhalbgeschossiges, in Reihe gebautes Split-Level-Haus (Heinz Graaf, Typ G), ein eingeschossiger, ebenfalls in Reihe ausgeführter Bau mit Sheddach und Lichthof (Helmut Lepper, Typ L) sowie ein schachbrettartig versetzter erdgeschossiger Bungalowtyp mit kleinen Gartenhöfen (Karl Heinz Knaepper, Typ K). Die Mehrfamilienhäuser mit 1 bis 4 Zimmern und einer Durchschnittsgröße von 52 Quadratmetern plante die GEWOBAG; sie sind als Zweispänner, teilweise mit Laubengang, und die Punkthäuser (Schmetterlingshäuser) als Vierspänner organisiert. Die Finanzierung der Siedlung erfolgte ohne Inanspruchnahme öffentlicher Gelder. Für die Kaufeigenheime wurden 20.000 bis 25.000 DM veranschlagt, die Käufer mussten

bei Erwerb 5.000 bis 6.000 DM Eigenkapital aufwenden und zur Finanzierung ein festgelegtes Darlehen aufnehmen. 4 Die Mieten für die Wohnungen lagen im Schnitt bei 1,95 DM, in der Spitze bei 3,50 DM pro Quadratmeter.5 Um die Richtsatzmieten für den sozialen Wohnungsbau einzuhalten, übernahmen das Land Hessen und die Stadt Kassel Bürgschaften für die Hypotheken.6 „Ein besonderes Schmuckstück unserer Stadt“7 nannte der damalige Kasseler Oberbürgermeister Lauritz Lauritzen die Auefeld­ siedlung und Ernst May lobte sie „als ein ausgezeichnetes Beispiel“, sie sei „schön, einfallsreich und gesund gebaut“ und weise auch den „wünschenswerten Wechsel der Bauformen“ auf.8 Wegen der „modernen Wohnkultur“ erregte die Mustersiedlung deutschlandweit Aufmerksamkeit und übte „durch ihre architektonische Linienführung und [den] in ihrer Raumausnutzung bahnbrechend wirkende[n]“9 Eigenheimen eine Vorbildfunktion aus. Im Jahr 2001 wurde die Auefeldsiedlung unter Denkmalschutz gestellt. Das Wohngebiet erfreut sich bei den Kasseler Bürgern nach wie vor großer Beliebtheit. IM

3

1

Lageplan

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Luftaufnahme von Süden

3

Gartenstadt Auefeld, Blick Richtung Norden im Vordergrund Einfamilienhäuser, dahinter Mehrfamilienhäuser, 1956 Foto: Günther Becker

1 Wie nahezu alle deutschen „Gartenstädte“ hatte auch die als Gartenstadt bezeichnete Auefeldsiedlung fast nichts mit dem genossenschaftlichen Reformkonzept der englischen Gartenstadtbewegung eines Ebenezer Howard zu tun (1898), das darauf abzielte, auch eine Lösung der Bodenfrage und damit eine Veränderung der Besitz- und Abhängigkeitsverhältnisse zu erreichen. 2 Die GEWOBAG (seit 1987 GWH, Gemeinnützige Wohnungsbaugesellschaft Hessen), 1924 als Gewerkschaftsverband gegründet, wurde 1960 mit allen anderen gewerkschaftseigenen Wohnungsbaugesellschaften in der Neuen Heimat zusammengefasst. 3 O. Verf., „Wichtiger Meilenstein im Kasseler Wiederaufbau. Richtfest für das größte Aufbauprojekt seit der Zerstörung Kassels mit Ministerpräsident Dr. Zinn, Vertretern von Behörden, Industrie, Bauhandwerk“, in: Hessische Nachrichten. Unabhängige Tageszeitung für Kassel und Nordhessen, 3.11.1955. 4 O. Verf., „100 Kaufeigenheime auf Vorrat. Architekt Graaf (Hamburg) 1. Preisträger im GEWOBAG-Ideenwettbewerb“, in: Hessische Nachrichten. Unabhängige Tageszeitung für Kassel und Nordhessen, 19.5.1954. 5 O. Verf., „Neue Heimat: Die Bauland-Fresser“, in: Der Spiegel 10/1959, S. 26–42, hier S. 34. 6 O. Verf., „Land Hessen“, in: Neue Heimat, Gemeinnützige Wohnungs- und Siedlungsgesellschaft m.b.H. 1956, S. 88– 99, hier S. 97f. 7 Wie Anm. 3. 8 O. Verf., „Ernst May lobt das Auefeld“, in: Kasseler Post, 30.6.1956, zit. nach Kopetzki 2007, S. 167. 9 Wie Anm. 3.

L ITERATU R NHM 7/1955, S. 7–12; NHM 6/1958, S. 50–51 // o. Verf., „100 Kauf­e igenheime auf Vorrat. Architekt Graaf (Hamburg) 1. Preisträger im GEWOBAG-Ideenwettbewerb“, in: Hessische Nachrichten. Unabhängige Tageszeitung für Kassel und Nordhessen, 19.5.1954; o. Verf., „Wichtiger Meilenstein im Kasseler Wiederaufbau. Richtfest für das größte Aufbauprojekt seit der Zerstörung Kassels mit Ministerpräsident Dr. Zinn, Vertretern von Behörden, Industrie, Bauhandwerk“, in: Hessische Nachrichten. Unabhängige Tageszeitung für Kassel und Nordhessen, 3.11.1955; Neue Heimat, Gemeinnützige Wohnungs- und Siedlungsgesellschaft m.b.H., Hamburg (Hg.), Wohnungen Wohnungen und nochmals Wohnungen. Eine Reise durch gewerkschaftseigene Wohngebiete in Deutschland, Hamburg 1956; Wolfgang Bangert, „Der Wohnungsbau in Kassel“, in: DBZ Deutsche Bauzeitschrift 12/1958, S. 1297–1319, hier S. 1298–1300 u. 1305–1308; o. Verf., „Neue Heimat. Die Bauland-Fresser“, in: Der Spiegel 10/1959, S. 26–42; „Auefeldsiedlung“, in: Karin Schrader/Carsten Thiemann/Ralf Zumpfe, Architekturführer Kassel 1900–1999, Kassel 1997, S.  63; J[ohanna] A[nders], „Auefeld-Siedlung (79)“, in: Berthold Hinz/Andreas Tacke, Architekturführer Kassel, Berlin 2002, S. 56–57; g. k., „Auefeld“, in: Volker Helas/Thomas Wiegand/Brigitte Warlich-Schenk, Stadt Kassel II. Vorderer Westen, Südstadt, Auefeld, Wehlheiden, Braunschweig 2005, S. 471–486; Heinz Körner, Stadtteil Auefeld. Die Krönung des Wiederaufbaus in Kassel, Kassel 2007; Christian Kopetzki, „Auefeld. Gartenstadtsiedlung in Kassel“, in: Architektursalon Kassel (Hg.), Zur Aktualität der Moderne – die 50er Jahre. Dokumentation der Vortragsreihe vom 14.10.2005 bis 14.7.2006, Kassel 2007, S. 163–178; Eugen Maier/Thomas Siemon/Benedikt Dittrich (Mitarbeit), Symbol für den Neubeginn. Wohnen zwischen Blumen und Soldaten: Vor 60 Jahren entstand in Kassel die Gartenstadt Auefeld, https://hna.atavist.com/auefeld (1.11.2018).

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BREMEN NEUE VAHR Ba u zeit

1957−1962 Ba u träg e r

GEWOBA, Neue Heimat Hamburg Arc hi te kte n / P l a ner

Max Säume, Günther Hafemann (Gesamtplanung); Ernst May, Hans Bernhard Reichow, Alvar Aalto, Wolfgang Bilau, Hans-Albrecht Schilling (Farbgestaltung); Karl-August Orf (Landschafts­ architektur) Wohn ein h e ite n

10.000 für 30.000 Bewohner, davon 800 Eigenheime 1

D

I E P L A N U N G der Neuen Vahr, von Bremens Bürgermeister Wilhelm Kaisen bei der Grundsteinlegung als „Musterstadt im Grünen“1 bezeichnet, geht auf das am 22. Februar 1956 durch die Bremer Bürgerschaft verabschiedete „Gesetz zur Behebung der Wohnungsnot im Lande Bremen“ zurück, in dem sich das Land verpflichtete, den „Wohnungsbau durch staatliche Maßnahmen so zu fördern, dass innerhalb von vier Jahren jährlich 10.000 Wohnungen […] errichtet werden“. 2 Da die Realisierung einer derart großen Anzahl an Wohnungen nicht auf Trümmergrundstücken mit zeitraubenden vorgeschalteten Grundstücksverhandlungen und Enteignungsverfahren realisierbar war, kann die Stadterweiterung auf bisher unbebau-

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tem landwirtschaftlich genutztem Gelände am östlichen Stadtrand durch die Bremer Neue-Heimat-Tochtergesellschaft GEWOBA als logische Folge gesehen werden. Da ein einzelnes Architektenbüro kaum die Kapazitäten geboten hätte, eine derart große Aufgabe in der vorgesehenen Zeit zu bearbeiten, beauftragte die GEWOBA eine Architektengruppe, der neben Ernst May und Hans Bernhard Reichow auch die Bremer Architekten Max Säume und Günther Hafemann angehörten. May war von 1954 bis 1956 Leiter der Planungsabteilung der Neuen Heimat, nun aber als freier Planer für das Unternehmen tätig. Reichow, Autor der Publikation „Organische Stadtbaukunst“ (1948), wiederum hatte bereits die Gartenstädte Hohnerkamp und Farmsen in Hamburg für die Neue Heimat verwirklicht. Der Bremer Oberbaudirektor Franz

Rosenberg und sein Mitarbeiter, Baurat Hans Eilers, nahmen in der ersten Phase ebenfalls Einfluss auf die Planung. Zunächst erstellten die Büros Säume und Hafemann, Reichow und May unabhängig voneinander Vorentwürfe. Im weiteren Verlauf wurde der Entwurf von Säume und Hafemann zur Grundlage der weiteren gemeinsamen Bearbeitung gemacht.3 Die Planung von Säume und Hafemann sah eine Aufteilung in fünf Nachbarschaften vor, deren Bewohnerzahl jeweils dem Einzugsbereich einer Schule entsprach, während sich ihre Ausdehnung unter anderem aus Wegeund Leitungslängen ableitete. Etwa in der geografischen Mitte der Siedlung sahen die Planer ein Einkaufszentrum mit einem dominierenden Hochhaus vor, östlich davon einen landschaftlich eingebetteten zentralen See. Die Nachbarschaften bildeten jeweils Felder mit sich stempelartig wiederholenden Gebäudeanordnungen. Ein Ring von zweigeschossigen Reihenhäusern umgab die Siedlung und leitete in die Umgebung über. Das Gros der Bebauung war dagegen drei- und viergeschossig geplant, zur Strukturierung der Nachbarschaften waren aber auch fünf- und achtgeschossige Scheibenhäuser projektiert. An besonders herausgehobenen Stellen der Nachbarschaften waren 14-geschossige Hochhäuser vorgesehen, und die krönende Mitte der Stadterweiterung sollte ein Hochhaus mit 22 Geschossen bilden. Die von Karl-August Orf großzügig gestalteten Grünflächen, Wasserläufe und Wasserflächen sollten der ganzen Siedlung den Charakter einer Gartenstadt geben.

2

Da die Neue Vahr in Abschnitten gebaut wurde, erhielten May und Reichow in jeweils einer Nachbarschaft die Federführung der weiteren Planung, Säume und Hafemann in den drei übrigen Nachbarschaften. 4 Alle beteiligten Architekten waren jedoch in jeder Nachbarschaft mit Gebäudeentwürfen vertreten. Um ein möglichst einheitliches Erscheinungsbild der Siedlung zu erreichen, wurden die Baupläne und Details der Wohnbauten fortlaufend

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3

miteinander abgestimmt. Der Bremer Farbgestalter Hans-Albrecht Schilling entwickelte ein Farbkonzept, um die Gesamtanlage zu unterstützen und lesbar zu machen.

sion und die Ausnutzung der Fläche durch Wohnhochhäuser einen Wendepunkt im Wohnungsbau der Nachkriegszeit von der Gartenstadt hin zur Großsiedlung der 1960er-Jahre. 5

Die Neue Vahr ist in ihrer städtebaulichen Ordnung ein paradigmatisches Beispiel für eine „gegliederte und aufgelockerte“ Stadt. Trotz der bestehenden Gartenstadtstruktur markiert die Siedlung allein durch ihre Dimen-

Auch bei der Ausarbeitung des Zentrums mit Bereichen für Dienstleistungen wie zum Beispiel ein Restaurant, ein Ärztehaus und ein Einkaufszentrum mit überdachten Ladenzeilen („Berliner Freiheit“) waren May, Reichow sowie Säume und Hafemann beteiligt. Für den Entwurf des höchsten Wohnhochhauses und Markenzeichens der Neuen Vahr wurde der finnische Architekt Alvar Aalto hinzugezogen. Mit 65 Metern Höhe markiert das asymmetrische Fächerhochhaus, das seit 1998 unter Denkmalschutz steht, das Zentrum. Die fächerartigen Grundrisse der auf die Westseite ausgerichteten Kleinwohnungen spiegeln sich in der Fassadenform. Das Hochhaus richtete sich an Alleinstehende und elternlose Paare, wobei Aalto von einer berufs­tätigen Bewohnerschaft ausging, die die Feierabendsonne im Westen genießen möge. Die riesigen Fensterflächen des soge-

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142

nannten Feierabendhauses sollten viel Licht für die klein geschnittenen Wohnungen bieten, aber zugleich auch einen freien Blick über Bremen gewähren. Die wichtigste technische Innovation der Neuen Vahr bestand in der Beheizung der gesamten Siedlung mit Fernwärme, was damals im Sozialwohnungsbau in diesem Maßstab ein Novum darstellte. F S

1

Blick vom Aalto-Hochhaus Richtung Osten, Foto: Franz Scheper, 1962

2

Lageplan von M. Säume + G. Hafemann, E. May und H. B. Reichow, 19.7.1956

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Perspektive, Vorentwurf des Zentrums von Ernst May

4

Wohnbauten Adam-Stegerwald-Straße/ Julius-Leber-Straße, Hans B. Reichow, Foto: Herrmann Ohlsen

5

Aalto-Hochhaus

6

Westfassade, Ansicht, Hochhaus von Alvar Aalto, 13.6.1959

6 1 Hamburger Morgenpost, 10.5.1957. 2 § 1 des Gesetzes zur Behebung der Wohnungsnot im Lande Bremen vom 22.2.1956, zit. nach Wallenhorst 1993, S. 229. 3 Vgl. Aktennotiz über die Besprechung vom 22.5.1956, in: Nachlass Ernst May, Germanisches Nationalmuseum, Deutsches Kunstarchiv (DKA). 4 Vgl. Aktenvermerk vom 5.9.1956, in: Nachlass Ernst May, DKA. 5 Vgl. Franz Rosenberg, „Möglichkeit und Grenzen der Verflechtung. Eine Untersuchung am Beispiel der Neuen Vahr“, in: NHM 8/1965, S. 1–12; Tietz 2018, S. 37.

L ITERATU R

5

NHM 6/1956, S. 58; NHM 8–9/1956, S. 1–14; NHM 6/1957, S.  17–26; NHM 7/1957, S. 18–19; NHM 3/1958, S. 24–35; NHM 6/1958, S. 34–37; NHM 7/1958, S. 48; NHM 12/1958, S. 1–10; NHM 1/1959, S. 42–45; NHM 10/1959, S. 1–16, S. 20–22; NHM 3/1960, S. 16–17; NHM 8/1961, S. 57; NHM 12/1961, S. 44–47; NHM 3/1963, S. 43; NHM 8/1965, S. 1–12 // Karl Otto (Hg.), Die Stadt von morgen, Berlin 1957, S. 171–176; o. Verf., „In Bremen liegt die größte Wohnbaustelle Deutschlands“, in: Bauwelt 27/1957, S. 688–689; Max Säume, „Der Wohnungsbau in Bremen“, in: Bauwelt 38/1958, S. 927–932; o. Verf., „Hochhaus in Bremen“, in: Bauwelt 2/1959, S. 42–43; o. Verf., „40.000 Bremer Bürger“, in: Bauwelt 34/1961, S. 950; Justus Buekschmitt, Ernst May. Bauten und Planungen, Bd. 1, Stuttgart 1963, S. 137–141; Monika Zimmermann, „Alte Stadt der Zukunft“, in: Mathias Schreiber, Deutsche Architektur nach 1945, Stuttgart 1986, S. 43–46; Hans-Joachim Wallenhorst (Hg.), Die Chronik der GEWOBA 1924 bis 1992, Bremen 1993, S. 229–267; Dietmar Reinborn, Städtebau im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart u.  a . 1996, S. 244–246; GEWOBA (Hg.), 50 Jahre Vahr 1957–2007. Eine Ausstellung, Ausst.-Kat., Bremen 2007; GEWOBA (Hg.), Modell Neue Vahr. Katalog zur Ausstellung, Bremen o. J. [2007]; Florian Seidel, Ernst May. Städtebau und Architektur in den Jahren 1954–1970, München 2008, https:// mediatum.ub.tum.de/doc/635614/635614.pdf (7.12.2018); Claudia Quiring u.  a . (Hg.), Ernst May 1886–1970. Neue Städte auf drei Kontinenten, München/New York 2011, S. 300; Jürgen Tietz, „Geschichte und Zukunft eines Bremer Stadtquartiers“, in: Katja-Annika Pahl u.  a . (Hg.), Potenzial Großsiedlung. Zukunftsbilder für die Neue Vahr, Berlin 2018, S. 32–45.

143

HAMBURG NEU-ALTONA Ba u zeit

1958–1973 (Planung ab 1949) Ba u träg e r

Neue Heimat Hamburg, Stadt Hamburg, „Freie Stadt“, Hamburg, Bauverein der Elbgemeinden, Altonaer Spar- und Bauverein, Baugenossenschaft Hansa Arc hi te kte n / P l a ner

Ernst May, Werner Hebebrand (Gesamtstrukturplan); Otto Sill, Arthur Dähn, Werner Kresse, Christian Farenholtz, Ewald Behm; Helmut Plenz, Jürgen Baumbach (Hochhausplanung) Wohn ein h e ite n

4.892 für 9.305 Bewohner

K

A U M A U S K E N I A zurückgekehrt, plante Ernst May ab 1954 das erste und lange Zeit größte städtebauliche Projekt der Neuen Heimat Hamburg. Es sah Trümmerräumung und Abriss der stehen gebliebenen Häuser sowie die Planung der Neubebauung des zu 60 Prozent kriegszerstörten Nord- und Ostteils von Altona vor. Dieser entwicklungsgeschichtlich älteste Teil der Stadt, nun mit „Neu-Altona“ bezeichnet, umfasste ein Wohn- und Gewerbegebiet von 209 Hektar Größe. 1 1927 war Altona die größte Stadt SchleswigHolsteins gewesen. Fast 50 Prozent der 230.000 Einwohner arbeiteten in der Fisch-,

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1

Glas-, Tabak- und Metallindustrie. Der herrschenden Wohnungsnot wurde seit den 1920er-Jahren durch die Aktivitäten genossenschaftlicher und gemeinnütziger Wohnungsbauunternehmen begegnet. 2 Altona wurde 1937 im Zuge des „Groß-Hamburg-Gesetzes“ eingemeindet und in die nicht verwirklichten Elbufergestaltungspläne von Konstanty Gutschow, ab 1939 Leiter der halbamtlichen „Durchführungsstelle für die Neugestaltung der Hansestadt Hamburg“, einbezogen.3 Der Abriss der Hafenbebauung und die Errichtung einer Uferhochstraße wären mit dem Bau eines 250 Meter hohen „Gauhauses“ als monumentalem Point de vue einer breiten, vom neuen Bahnhof ausgehenden Achse einhergegangen.4

May hatte zum Januar 1954 die Planungsleitung der Neuen Heimat auf Vermittlung von Werner Hebebrand, seinem früheren Mitarbeiter in Frankfurt, und Rudolf Hillebrecht angetreten. Heinrich Plett, Geschäftsführer der Neuen Heimat, berichtete in den „Monatsheften“ vom Fortgang des Projekts, 5 dabei den Führungsanspruch seiner Organisation gegenüber der Stadt Hamburg unterstreichend: Diese solle zunächst das Gebiet von den meisten Altbauten räumen (Abriss von 2.600 WE 6), also eine Tabula rasa schaffen, und sodann ein verbreitertes Straßennetz aus Durchgangsstraßen und verkehrsberuhigten Zonen bauen. May plante, die gewerbliche Bebauung von der Wohnbebauung, die aus in Höhe und Breite gestaffelten Riegel- und Punkthäusern bestand, zu trennen und eine Geschäftsstraße (Große Bergstraße) als Fußgängerzone auszuweisen. May integrierte den jüdischen Friedhof und den Nordfriedhof in einen Grünring aus zusammenhängenden Parks, der die Neustadt vom Hafen und von St. Pauli räumlich distanziert. So führt heute von der Palmaille eine grüne Parkterrasse hinab zum Hafen, die mit Wohnhochhäusern bebaut ist.

3

2

145

Die Planungen folgten dem Konzept der „gegliederten und aufgelockerten Stadt“, das bereits 1944 entwickelt worden ist. 7 Mays Park­ringplanung für eine Innenstadtfläche entspricht jedenfalls der dort formulierten Idee der „ Auflockerung“ des städtischen Raums. 8 Die zu „Neu-Altona“ umfirmierte Altstadt war nach dem Krieg ein besonders armes Gebiet gewesen: 54 Prozent der Bewohner teilten ihre Wohnung mit Untermietern, acht Prozent lebten in Behelfsbaracken, Trümmerkellern und Wohnwagen. Die Neue Heimat agierte unter der Leitung Mays9 auch bildpublizistisch in der Tradition von Architekturzeitschriften

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4

gegen „Schandflecke“ der überkommenen Stadtbebauung. 10 Eine in Altona noch vergleichsweise lange nach Kriegsende existierende „wilde Siedlung“ und die Räumung „ihrer vagabundierenden Bewohner“11 durch die Polizei wurde von der Neuen Heimat fotografisch dokumentiert.

6

5

„Neu-Altona“ war eine städtebauliche Aufgabe, die May und seine Mitarbeiter im Sinne der vorherrschenden Neubauideologie angingen, welche auch die Gestaltung der Internationalen Bauausstellung Berlin 1957 im Hansaviertel prägte. Die Neu-Altona-Planungen wurden als ein Beispiel der flächenhaften Erneuerung von Innenstadtgebieten ausgestellt, für die sich später der Begriff Flächensanierung einbürgerte. Sie versinnbildlichen die Abkehr von der alten Stadt und machten diese zu einem Wohngebiet, gestaltet nach den dirigistischen Prinzipien der Stadtrandsiedlungen. R H

1

Luftbild Altona, 1950

2

Bebauungsplan, 1961

3

Abbruchzone und Wohnhochhaus von Ernst May, 1961

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Räumung der „wilden Siedlung“, 1958

5

Zusammenhängende Grünbereiche, Parkanlage mit Wasserbecken, 1961

6

Perspektive, Wohnhochhaus von Ernst May

1 2 3 4 5 6 7

8 9 10

11

Pahl-Weber/Schubert 1987, S. 108. Ebd., S. 46. Durth 1992, S. 208. Ebd., S. 206. Heinrich Plett, „Neu Altona. Eine große Chance im Städtebau“, in: NHM 7/1956, S. 1–14. Schubert 2005, S. 216. Das Konzept wurde anlässlich der Planungen für den kriegsbesetzten Osten und den Wiederaufbau an der Deutschen Akademie für Städtebau, Abteilung Technische Planung Ost, während des Nationalsozialismus entwickelt. Das Ergebnis, die 1957 publizierte Schrift „Die gegliederte und aufgelockerte Stadt“, zirkulierte, wie jüngste Forschungen von Ingrid Holzschuh und Waltraud Indrist ergaben, bereits 1944 im Kreis der Akademiemitglieder (vorgestellt am 20.10.2018 auf dem Symposium „Roland Rainer im Kontext“ am Architekturzentrum Wien). Göderitz/Rainer/Hoffmann 1957, S. 18–28, hier S. 23. Seidel 2011, S. 222–223. Besonders drastische Beispiele des Elends von instandgesetzten Ruinen, kombiniert mit intakten Bauten des 19. Jahrhunderts, sind im „Monatsheft“ der Neuen Heimat von Juli 1956 abgebildet. Die Bildunterschrift lautet: „Diese vier Aufnahmen geben Einblick in das Sanierungsgebiet Neu Altona. Dicht aneinandergereihte Wohnhäuser, primitive Schuppen und notdürftig zusammengeflickte Einzimmerhütten dienen auch heute noch den Menschen als Wohnung und als Quartier für ihren Gewerbebetrieb. Diese menschenunwürdigen Quartiere müssen beseitig werden, damit wirklich ein neuer, gesunder Stadtteil entstehen kann.“ Arthur Dähn, „Neu Altona. Schmerzhafte Wiedergeburt eines alten Stadtteils“, in NHM 9/1959, S. 77–82, hier S. 81.

L ITERATU R NHM 1/1955, S. 1–11; NHM 4–5/1956, S. 1–14; NHM 7/1956, S.  1–14; NHM 8–9/1956, S. 15–31; NHM 9/1959, S. 77–82; NHM 9/1961, S. 1–31; NHM 3/1969, S. 10–20 // Johannes Göderitz/Roland Rainer/Hubert Hoffmann, Die gegliederte und aufgelockerte Stadt, Tübingen 1957; Elke Pahl-Weber/Dirk Schubert (Hg.), Großstadtsanierung im Nationalsozialismus, Hamburg 1987; Werner Durth, Deutsche Architekten. Biographische Verflechtungen 1900–1970, München 1992; Dirk Schubert, Hamburger Wohnquartiere. Ein Stadtführer durch 65 Siedlungen, Berlin 2005; Florian Seidel, „... aus einer Situation das Bestmögliche machen“. Ernst Mays Architektur und Städtebau nach 1945, in: Claudia Quiring u. a. (Hg.), Ernst May 1886–1970. Neue Städte auf drei Kontinenten, München/ New York 2011

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MÜNCHEN AM HASENBERGL Ba u zeit

1960–1968 Ba u träg e r

Neue Heimat Bayern Ba u herre n

Evang. Siedlungswerk in Bayern, Gemeinnützige Bau- und Siedlungsgesellschaft m.b.H., München, Gemeinnützige Wohnstätten- und Siedlungsgesellschaft m.b.H., GEWOG Gemeinnützige Wohnungsbaugesellschaft m.b.H. München, Südhausbau G.m.b.H./Be-Ge-Bau G.m.b.H., München u. a. Arc hi te kte n / P l a ner

Ernst Maria Lang, Helmut von Werz, Fritz Vocke, Johann-Christoph Ottow (Bebauungsplan); Ernst Maria Lang, Matthä Schmölz, Ernst Hürlimann, Alexander von Branca, Franz Ruf, Herbert Groethuysen u. a. (Wohngebäude); Alfred Reich (Gartenarchitektur) Wohn ein h e ite n

8.880 für 18.000 Bewohner, 48 Einfamilienhäuser, 168 Eigentumswohnungen

U

M D E R Wohnungsnot in München mit sozialem Wohnungsbau entgegenzuwirken, beschloss der Stadtrat am 14. April 1959 den Bau der Siedlung Am Hasenbergl am nördlichen Stadtrand. Im Rahmen des „Ersten Gesamtplans zur Behebung der Wohnungsnot in München“, dem sogenannten „Münchner Plan“, der am 25. November 1960 veröffentlicht wurde,1 entstanden neben der Siedlung Am Hasenbergl als erste Maßnahme zwischen 1961 und 1969 weitere 16 Stadtrandsiedlungen.2 Unter diesen lag die Siedlung mit

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96 Prozent gefördertem Wohnungsbau anteilig deutlich über dem Schnitt an Sozialwohnungsbauten in München.3 Der Stadtrat beauftragte sechs Wohnungsunternehmen als Bauträger, welche wiederum die Neue Heimat Bayern als Planungsträgerin auswählten. Um ein städtebauliches sowie architektonisches Gesamtbild zu schaffen, entwickelte die Neue Heimat Bayern ein Planungsprogramm, das als Grundlage für ein Planungsgutachten diente. 4 Auf dieser

1

Grundlage erarbeiteten die Architekten Ernst Maria Lang, Helmut von Werz, Fritz Vocke und Johann-Christoph Ottow in Zusammenarbeit mit den Planungsreferaten und Bauträgern einen Bebauungsplan,5 der eine moderne Großwohnsiedlung im Grünen vorsah. Alfred Reich, der bereits die Grünanlagen der Parkstadt Bogenhausen in München geplant hatte, wurde als Gartenarchitekt beauftragt. Mit einer Trennung von Straßenverkehr und Fußwegen folgte der Bebauungsplan dem Prinzip der gegliederten und aufgelockerten

2

Stadt. Eine Autostraße, von der einzelne Stichstraßen abgehen, bildet eine Schlaufe durch die Siedlung, gegliedert in vier Nachbarschaften, und umfasst den zentralen Grünbereich samt Erhöhung, dem Hasenbergl. Die drei

1

Nordfassade, Scheibenhochhaus, Ansicht von Alexander von Branca, 1970

2

Drei Punkthochhäuser, Foto: Kurt Otto

3

Zeilen- und Punkthäuser, Linkstraße, Foto: Fritz Thudichum

4

Modell

3

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Bauausführung die Durisol- und FeidnerSystembauweise angewendet, im Bauabschnitt Hasenbergl-Süd kam auch die Fertigbauweise nach dem System Coignet zum Einsatz.10

4

15-geschossigen Punkthochhäuser auf dem Hügel setzen den städtebaulichen Akzent der Siedlung6 und folgen ebenso wie die mehrgeschossigen Scheiben- und Zeilenbauten einer strengen Rasterstruktur mit Nord-Süd- beziehungsweise Ost-West-Ausrichtung. Neben dem Hauptzentrum mit Geschäften, Gaststätte, Post- und Bankgebäude dienten in den jeweiligen Nachbarschaften weitere Läden und öffentliche Einrichtungen der Nahversorgung der Stadtteilbewohner.7 Für die Gebäudegestaltung und das Farbkonzept der Fassaden wurden verschiedene Architekten wie Alexander von Branca, Herbert Groethuysen, Franz Ruf und Ernst Hürlimann beauftragt. Die 1 bis 4-Zimmer-Wohnungen mit 30 bis  75 Quadratmetern wurden mit einer Zentralheizung, einem Balkon beziehungsweise einer Loggia, voll eingerichteten Bädern sowie Küchen mit Spüle und elektrischem Herd ausgestattet.8 Die Siedlung Am Hasenbergl mit 5.593 Wohneinheiten wurde von 1960 bis 1965 errichtet. Die Tochtergesellschaft der Neuen Heimat Bayern, GEWOG, realisierte davon 1.450 Wohnungen, 1968 folgten in Haselberg-Süd weitere 1.732 Wohnungen, im Siedlungsabschnitt Nord-Ost weitere 1.555.9 Um die Siedlung zügig sowie kostengünstig errichten zu können, wurden neben der konventionellen

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Bereits bei der Grundsteinlegung 1960 lobte Oberbürgermeister Hans-Jochen Vogel die Siedlung als beispielhaft für den modernen Städtebau und für künftige Maßnahmen zur Behebung der Wohnungsnot.11 Die anfängliche Euphorie wich im Lauf der Jahre jedoch Ernüchterung: Die Siedlung kämpfte mit infrastrukturellen Defiziten und die einseitige Belegung durch den hohen Anteil an geförderten Wohnungen schädigte zusätzlich ihren Ruf. Ende der 1990er-Jahre wurde das Hasenbergl in das Programm „Soziale Stadt“ aufgenommen, flächendeckend saniert und nachverdichtet. A L I 1 München/Baureferat 1969, S. 1. 2 Ebd., S. 10. Erfahrungswerte der Siedlung Am Hasenbergl flossen in den weiteren Siedlungsbau. Siehe Bruder 2009, S. 17. 3 München/Baureferat 1969, S. 9. 4 O.  Verf., Grosswohnanlage am Hasenbergl, in: NHM 7/1960, S. 25–36, hier S. 33. 5 Nisslein 1997, S. 115. 6 Ebd. 7 O. Verf., „Grosswohnanlage Am Hasenbergl“, in: NHM 7/1960, S. 25–36, hier S. 34. 8 Ebd., S. 34–35. 9 Neue Heimat Bayern 1971, S. 29. 10 Bruder 2009, S. 80. 11 Ebd., S. 19.

L ITERATU R NHM 7/1960, S. 25–36; NHM 11/1962, S. 16–24 u. 26–32; NHM 11/1965, S. 8–11; NHM 3/1966, S. 26–32 // Artur Brunisch, Ferdinand Kaufmann, „Wirtschaftliches Bauen durch die Feidner-Bauweise“, in: Der Architekt 3/1954, S. 64–67; München/Baureferat, Gesamtplan zur Behebung der Wohnungsnot in München, 1. Münchner Plan, Abschlussbericht, München 1969; Katrin Zapf/Karolus Heil/Justus Rudolph, Stadt am Stadtrand. Eine vergleichende Untersuchung in vier Münchner Neubausiedlungen, Frankfurt am Main 1969; GWAT – Hasenbergl, Gemeinwesenarbeit in Hasenbergl-Nord, Bericht 1970–71, München 1971; Neue Heimat Bayern (Hg.), 15 Jahre Wohnungs- und Städtebau, München 1971; Christine Scheiblauer/Reinhold Roedig, „Verdichtung von Stadtrandsiedlungen“, in: Baumeister. Zeitschrift für Architektur Planung Umwelt 69, Nr. 12, München 1972, S. 1431–1435; Monika Nisslein, „Die Wohnsiedlung am Hasenbergl“, in: Hilke Gesine Möller (Hg.), Reihe Zeile Block & Punkt. Wohnungen, Häuser, Siedlungen im Raum München, Südhausbau 1936–1996, München 1997, S. 115–125; Christina Bruder, Die Münchner Großsiedlung am Hasenbergl, Siedlungsarchitektur, Stadtsoziologie und städtebauliche Leitbilder, Magisterarbeit LMU München, München 2009; Kerstin Oertel, Stadtteilsanierung Hasenbergl, vielfältig, ganzheitlich, quartiersbezogen, München 2011; Klaus Mai, Das Hasenbergl. Vom Jagdrevier der Kurfürsten zur modernen Wohnsiedlung, München, Bezirksausschuss 24, 2015.

„WO H N U N G E N , WO H N U N G E N U N D N O C H M A L S WO H N U N G E N “. D I E P R O D U K T I O N D E R STA DT I N S E R I E – H O M O G E N E ST R U K T U R E N , F U N K T I O N ST R E N N U N G U N D N AC H B A R S C H A F T E N

Einkaufszentrum und „weißer Riese“, Kiel Mettenhof

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NÜRNBERG-LANGWASSER NACHBARSCHAFT U Ba u zeit

1957–1975 (Planung ab 1956) Ba u träg e r

Gemeinnützige Wohnungsbau­ gesellschaft der Stadt Nürnberg mbH (WBG), Neue Heimat Bayern, GEWOG Gemeinnützige Wohnungs­b augesellschaft mbH, Bayerische Wohnungs- und Siedlungsgesellschaft mbH Arc hi te kte n / P l a ner

Franz Reichel und Hermann Thiele, Albin Hennig, Neue Heimat Bayern Wohn ein h e ite n

12.869 für 17.500 Bewohner, 314 Eigenheime 1

N

Ü R N B E R G - L A N GWA S S E R entstand ab 1957 als neuer Stadtteil im Südosten der Stadt Nürnberg über eine Bauzeit von 18 Jahren hinweg. Die Stadt, ihre Wohnungsbaugesellschaft und die Neue Heimat Bayern reagierten mit diesem „Prototyp“ der Trabantenstädte auf rund 100.000 Wohnungssuchende, die im Jahr 1959 ermittelt wurden. 1 Für die geplante Siedlung auf dem Areal zwischen dem Volkspark im Norden und dem Reichswald im Süden schrieb die Stadt Nürnberg 1955 einen Wettbewerb für einen Gesamt­ bebauungsplan des 600 Hektar großen Geländes aus, den Franz Reichel gewann. Mit seinem

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Mitarbeiter und Nachfolger Albin Hennig erweiterte Reichel die Pläne mehrfach. Zwei Aufbaupläne aus den Jahren 1960 und 1963 zeigen die Veränderungen deutlich: Der Bebauungsplan für die Trabantenstadt sah zunächst Wohnungen für 40.000 Bewohner vor und wurde 1963 unter Reduzierung der Grünflächen zugunsten von Hochbauten auf 60.000 Bewohner erhöht: Einzelhäuser wurden durch Geschosswohnungen ersetzt, die Anzahl frei stehender Häuser reduziert, Wohnhochhäuser im südlichen Abschnitt und auf der Nord-Süd-Achse platziert. Von der schematischen, homogenen Bebauung aus dem Wettbewerbsergebnis 1956 wuchs das Projekt zu einem verdichteten, infrastrukturell durchdrungenen Stadtteil zusammen.

Als erste Stadt in Bayern verfügte Nürnberg seit 1926 über einen „Generalbebauungsplan“, der Areale für zukünftige Wohn- und Industrieviertel festlegte.2 So reicht die Entwicklungsgeschichte des Bauprojekts Langwasser bis in die Zwischenkriegszeit zurück. Prägend ist dabei der Gedanke der Dezentralisierung: Wohnviertel sollten separat von den Arbeitsstätten ihrer Bewohner hinter einem Grüngürtel angelegt werden. Bis jedoch die Siedlung der Neuen Heimat entstand, hatte das Langwasser-Gebiet verschiedenen Zwecken gedient: Zu Beginn der 1930er-Jahre hatte die Stadt Nürnberg eine Gartenstadt für Arbeitslose geplant; dieses Vorhaben war 1934 von der nationalsozialistischen Stadtverwaltung übernommen worden, die das Gebiet entgegen dem genannten Vorhaben beschlagnahmt und schließlich als „Reichsparteitagsgelände“ bebaut hatte.3 Nach 1945 1

Nachbarschaft U, Punkthochhäuser von Albin Hennig

2

Modell

3

Nachbarschaft U, Zeilenbauten und Wohnhochhaus von Albin Hennig

4

Eigenheim mit Garten

2

3

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folgte die Nutzung als Kriegsgefangenenlager, Militärbasis der US Army und später als Unterkunft für Geflüchtete, bis die Stadt 1952 die Idee einer Trabantenstadt wieder aufgriff.4 Anders als viele Städtebauprojekte der Neuen Heimat ist Nürnberg-Langwasser folglich nicht auf der historischen und geografischen Grundlage eines „freien Felds“ zu denken. Der Anspruch, auf die Wohnungsnot zu reagieren, und die bestehenden Häuser, Straßen und Leitungen aus den Jahren 1933 bis 1950 machten Vorgaben für die zu bebauende Fläche, die durch das Kreuz der Otto-Barnreuther-/ Glogauer Straße vertikal und der Bahnlinie mit Bahnhof horizontal geteilt wird. Die Nachbarschaft U ist dabei das größte Bauprojekt der Neuen Heimat und nimmt das gesamte nordwestliche Viertel ein. Hier mischen sich, in dichter Bebauung, zu etwa gleichen Teilen mehrgeschossiger sozialer Wohnungshochbau und ein- bis zweistöckige Eigenheime in Reihen- und Winkelhausformen. Eine zentrale Ringstraße, an der Schulen und ein Kindergarten, Kirchen, Spielplätze und ein Gemeindezentrum plat-

ziert sind, umkreist die Grünfläche. Moderne Fertigbauverfahren ermöglichten es, den Bauablauf zu rationalisieren – nach nur fünf Monaten war ein erstes Gebäude bezugsfertig. 5 Alle Wohnungen waren bereits zur Erbauungszeit mit Zentralwarmwasserheizung, Bad, WC und Küche ausgestattet. Die Kombination aus Durchgrünung des Wohngebiets, der Innenausstattung, dem nahe gelegenen Einkaufszentrum und ab 1972 der direkten Anbindung an zwei U-Bahn-Haltestellen führte dazu, dass die Nachbarschaft U in Nürnberg-Langwasser nach der Fertigstellung gut angenommen wurde. 6 Infolge der Auflösung der Neuen Heimat Bayern übernahm die Bayerische Städte und Wohnungsbau GmbH (später Wohnungs- und Siedlungsbau Bayern GmbH & Co OHG, kurz WSB Bayern) 1990 die Liegenschaften. Heute gilt das „Wohnen im Grünen“ nahe dem städtischen Zentrum als größte Qualität des Wohnorts Langwasser. So gibt es weiterhin lebhafte Gemeinschaftsaktivitäten: Zahlreiche lokale Institutionen, Vereine und Initiativen tauschen sich über das Stadtteilforum Langwasser aus, das von der Stadt Nürnberg verwaltet und unterstützt wird.7 S B -A

1 Deutsche Akademie für Städtebau und Landesplanung – Landesgruppe Bayern 1988, S. 56. 2 Windsheimer/Fleischmann 1995, S. 39. 3 Ebd., S. 38. 4 Ebd., S. 134. 5 Neue Heimat Bayern, Wohnanlage Nürnberg Langwasser 1969, S. 10. 6 Deutsche Akademie für Städtebau und Landesplanung – Landesgruppe Bayern 1988, S. 92. 7 https://www.stadtteilforum.org/stadtteile/langwasser.html (2.12.2018).

L ITERATU R

4

154

NHM 10/1956, S. 58–65; NHM 6/1967, S. 7–15; Neue Heimat Bayern (Hg.), Wohnanlage Nürnberg-Langwasser. Nachbarschaft U, o. O. 1969; Neue Heimat Bayern (Hg.), Mietwohnungen in der Wohnanlage Nürnberg-Langwasser, Nachbarschaft U, o. O. 1969 // Herrmann Thiele/Albin Hennig, Nürnberg-Langwasser Nord-Ost-Teil, Nürnberg 1975; Herrmann Thiele, Nürnberg-Langwasser. Stadtteil im Grünen, Nürnberg 1986; Deutsche Akademie für Städtebau und Landesplanung – Landesgruppe Bayern (Hg.), Städtebau im Wandel. Stadtteil Nürnberg-Langwasser, Nürnberg 1988; Bernd Windsheimer/Martina Fleischmann, Nürnberg-Langwasser. Geschichte eines Stadtteils, Nürnberg 1995; https://www.stadtteilforum.org/stadtteile/langwasser.html (2.12.2018).

(MÖRFELDEN-)WALLDORF NEUTRA-SIEDLUNG B a u ze it

1961–1964 (Planung ab 1960) B a u t rä g e r

BEWOBAU Betreuungs- und Wohnungsbaugesellschaft mbH, Hamburg/Wiesbaden A rc h ite kte n / Pl an er

Richard J. Neutra; Gustav Lüttge (Landschaftsarchitektur) Wo h n e in h e iten

42 Eigenheime von geplant 358 1

E

I N E A M E R I K A R E I S E im Jahr 1960 führte dazu, dass Heinrich Plett, Geschäftsführer und Vorstandsvorsitzender der Neuen Heimat Hamburg, den in Kalifornien arbeitenden Architekten Richard Neutra kennenlernte. Im Sommer desselben Jahres lud Plett Neutra nach Bremen ein, um die Großwohnanlage Neue Vahr zu besichtigen, von der sich Neutra beeindruckt zeigte.1 Anschließend wurde in Hamburg die Möglichkeit eines gemeinsamen Projekts aufgegriffen2 und bald darauf ein Planungsvertrag zwischen Neutras Büro und der BEWOBAU, einer Tochtergesellschaft der Neuen Heimat, abgeschlossen. 3

Neutra mit der städtebaulichen Konzeption der Siedlung und Entwicklung von neun Typen­g rundrissen, davon acht ein- und einer zweigeschossig. Die Entwürfe leiteten sich dabei von Neutras erklärtem Anspruch des natur­nahen Wohnens zur Förderung des physischen und psychischen Wohlbefindens ab, den er unter dem von ihm entwickelten Begriff des Bio­realismus bewirbt. Durch lange Sichtachsen von den Wohnräumen in den privaten Außenraum, unter größtmöglicher Berücksichtigung des Baumbestands, werden die Gärten nach den Regeldetails des Gartengestalters Gustav Lüttge zu einer sinnlich erfahrbaren Einheit mit dem Innenraum verwoben.5

In Walldorf, einer Gemeinde mit etwa 10.000 Einwohnern nahe dem Frankfurter Flughafen, erwarb die BEWOBAU bis 1960 etwa 35 Hektar eines Kiefernwalds, um eine Wohnsiedlung mit guter Verkehrsanbindung an die Zentren des Rhein-Main-Gebiets zu errichten.4 Noch im Herbst desselben Jahres begann Richard

Entgegen seiner Überzeugung musste Neutra die Häuser auf Forderung der BEWOBAU teilweise unterkellern und den Eingangsbereich mit Glaselementen vom Wohnraum trennen. „Es sitzt im Kopf, nicht im Klima“, konstatierte er in seiner Autobiografie.6 Mittels gespiegelter Grundrisse, variierender Anordnung und Au-

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2

1

Kolorierte Zeichnung Wohnbungalow von Richard Neutra

2

Eingangssituation Wohnbungalow und Nachbars Garten

ßenraumgestaltung sollte ein Kompromiss zwischen kosteneffizienter Standardisierung und hochwertig vermarktbarer Individualität gefunden werden.7 Die Zeitschrift „Bauwelt“ berichtete 1961 von etwa 20 Prozent kalkulierter Kostenersparnis zu vergleichbaren Häusern.8 Auch die Planungsbeteiligten signalisierten 1961 mit der Aufnahme eines analogen Projekts in Quickborn bei Hamburg und der Projektierung eines dritten gemeinsamen Vorhabens in Hohenbuchau bei Wiesbaden ihre Zuversicht hinsichtlich der Vermarktbarkeit der Häuser.9 Doch die Verkaufszahlen blieben deutlich hinter den Erwartungen zurück. „Der Spiegel“ zitierte 1964 den BEWOBAU-Direktor Krüger, dass der Kreis der Menschen, die solche Häuser kaufen, doch sehr klein sei, da die Neutra-­ Wohnstätten nur für finanzkräftige und zugleich „intellektuell anspruchsvolle“ Kunden interessant seien. 10 Die bemühte Vermarktung der Häuser in Quickborn ging so weit, dass man potenziellen Käufern einen Volkswagen als Werbegeschenk anbot, um der befürchteten Abgeschiedenheit entgegenzuwirken.11 Nachdem in einem ersten Bauabschnitt 42 Häuser in Walldorf realisiert worden waren, beendete die BEWOBAU die Kooperation mit Neutra für Quickborn und Walldorf. Die pro-

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jektierte Zusammenarbeit für die Siedlung in Hohenbuchau wurde zuerst aufgeschoben und schließlich ebenfalls aufgegeben. 12 In Walldorf entstanden unter der Planung der BEWOBAU im zweiten Bauabschnitt nun 33 zweigeschossige Reihenhäuser mit Satteldach, die ab 1967 zum Verkauf standen. 13 Die darauffolgenden Bauabschnitte orientierten sich wieder an der von Richard Neutra entwickelten eingeschossigen Flachdachbauweise, sind jedoch nicht unterkellert und weisen eine höhere stadträumliche Dichte auf.14 Seit 1986 stehen die 42 Neutra-Bauten in Walldorf aufgrund ihrer herausragenden städtebaulichen und künstlerischen Bedeutung unter Denkmalschutz, acht Häuser sind darüber hinaus auch als Einzelkulturdenkmäler gelistet.15 IS/F W 1 O. Verf., „Gast aus Amerika: Richard Neutra“, in: NHM 7/1960, S. 52. 2 Neutra 1960, S. 4. 3 Ebd., S. 8; Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg 1986, S. 433–434. 4 BEWOBAU 1963, Umschlag. 5 Brigitte Klebac, „Ein Wohnan-kerplatz im Rhein-Main-Gebiet. Bungalowsiedlung Walldorf von Richard Neutra“, in: Denkmalpflege in Hessen 2/1991, S. 44–48. 6 Neutra 1962, S. 382. 7 Leuschel 2010, S. 35. 8 Ulrich Conrads, „Richard’s Waldeslust“, in: Bauwelt 52/1961, H. 21, S. 597. 9 Neutra 1961, S. 3. 10 O. Verf., „Neutra Häuser. Schlecht geträumt“, in: Der Spiegel, 35/1964, S. 26, http://www.spiegel.de/spiegel/print/ d-46175088.html (10.12.2018). 11 Heinz Michaels, „Häuser – schwer zu verkaufen“, in: Die Zeit, 30.7.1965, https://www.zeit.de/1965/31/haeuser-schwer-­ zu-verkaufen (10.12.2018). 12 Leuschel 2010, S. 36, 183. 13 BEWOBAU o. J., S. 1. 14 Ebd. 15 von Engelberg-Dočkal 2003, S. 46–47.

L ITERATU R NHM 7/1960, S. 52 // Dione Neutra, The year 1960. In the life of Richard and Dione Neutra, Yearly letters, Box 1361, Folder 4, Richard and Dione Neutra Papers (Collection 1179), UCLA Library Special Collections, Charles E. Young Research Library, UCLA; Dione Neutra, The year 1961. In the life of Richard and Dione Neutra, Yearly letters, Box 1361, Folder 4, Richard and Dione Neutra Papers (Collection 1179). UCLA Library Special Collections, Charles E. Young Research Library, UCLA // Verkaufsbroschüre BEWOBAU: Einfamilienhäuser in Walldorf bei Frankfurt, o.  O. o.  J.; Richard Neutra, Auftrag für morgen, Hamburg 1962; Verkaufsbroschüre BEWOBAU: Von Prof. Richard J. Neutra entworfen. Von der BEWOBAU verwirklicht, o.  O. 1963; Verkaufsbroschüre BEWOBAU: Einfamilien-Reihenhäuser in Walldorf bei Frankfurt inkl. Preisliste, o. O. 1967; Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg, Drucksache 11/5900, Hamburg 1986; Manfred Sack, Richard Neutra. Mit einem Essay von Dione Neutra, Zürich 1992; Eva von Engelberg-Dočkal, „Richard Neutras Siedlung in Quickborn. ‚Kalifornische Moderne‘ in Schleswig-Holstein“, in: DenkMal!, 10/2003, S. 37–47; Klaus Leuschel (Hg.), Richard Neutra in Europa. Bauten und Projekte 1960–1970, Köln 2010.

KIEL METTENHOF B a u ze it

1964–1972 B a u t rä g e r

Neue Heimat Kiel B a u h e r re n

Neue Heimat Nord, Kieler Wohnungsbaugesellschaft mbH, Wohnungsbaugesellschaft Schleswig-Holstein, Immobilien­ fonds Dr. Görtmüller AG, BIG – Heimbau eG, Frank Heimbau GmbH, Vorsorge Grundstücks-AG A rc h ite kte n / Pl an er

Hans Konwiarz, Neue Heimat Hamburg und Neue Heimat Kiel Wo h n e in h e iten

7.750 für 20.000 Bewohner, 1.200 Eigentumswohnungen und Einfamilienhäuser (geplant: 10.000 Wohnungen für 30.000– 40.000 Bewohner) 1

D

I E Ü B E R G A B E D E R zehnmillion­ sten in der Bundesrepublik gebauten Wohnung wurde im November 1967 in Mettenhof im Beisein des Bundesministers für Städtebau Lauritz Lauritzen, des Kieler Oberbürgermeisters Günther Bantzer, des Landessozialministers Otto Eisenmann und des Geschäftsführers der Neuen Heimat Albert Vietor gefeiert.

Nach dem Wiederaufbau der kriegszerstörten Stadt Kiel sah sich die Stadtverwaltung Ende der 1950er-Jahre mit einem zunehmenden Wohnungsbedarf konfrontiert. Neben der Sicherung der Wohnungsversorgung zielte daher die Bestimmung neuen Baulands für Neubauwohnungen auch auf eine Entlastung der Kieler Innenstadt. 1 1960 erwarb die Neue Heimat das Grundstück Mettenhof im Westen Kiels und bot es der Stadt zu Wohn-

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2

siedlungszwecken an. Nach der Eingemeindung 1963 setzte die Stadt eine Verteilung auf mehrere Bauträger durch und forderte, auch den Bau von Eigenheimen in das Projekt einzubeziehen. 2 Grundlage und Auftakt der Planung des Gebiets war ein Aufteilungsplan der Neuen Heimat und eine Planskizze der Kieler Stadtplanung von 1960. 3 Hans Konwiarz, Chefarchitekt der Neuen Heimat, erstellte da­rauf­h in in mehreren planerischen Untersuchungen zusammen mit dem Planungsamt der Stadt Kiel einen städtebaulichen Entwurf für den neuen Wohnbezirk Mettenhof. 4 Konwiarz’ Planungen von 1960 richteten sich auf die Entwicklung einer Trabantenstadt für rund 30.000 bis 40.000 Menschen in etwa 6.000 bis 10.000 Wohnungen. 5 Seine gestalterische Konzeption zielte auf eine land-

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4

3

1

Lageplan für zur Präsentation der Baumaßnahmen, koloriert, M 1:1000, 1964

2

Luftaufnahme, Foto: Magnussen, 1971

3

Der „weiße Riese“ und Sportanlagen, 1974

4

Zentrumsbebauung, Ansicht von der Drontheimstraße, 18.11.1968

5

Mettenhof Zentrum, Einkaufszentrum, 1973

schaftliche Eingliederung der Siedlung, eine aufgelockerte städtebauliche Struktur mit ausgewiesenen Grünbereichen und eine gebündelte Zusammenfassung aller öffentlichen Bereiche.6 Eine klare Trennung von Wohnen, Arbeiten, Verkehr und Freizeit manifestierte sich schließlich in dem zellenartigen Aufbau der Siedlung: Acht Wohnbezirke, durch Grünzungen voneinander in einzelne Nachbarschaften getrennt, ordnen sich beidseitig um die Hauptverbindungsachse in zwei länglichen Feldern in Nord-Süd-Ausrichtung an. Die interne Erschließung der einzelnen

„Wohnzellen“ 7 sollte mittels verkehrsberuhigter Stichstraßen erfolgen. Im Zentrum der Wohngebiete waren in drei weiteren getrennten Nutzungssegmenten das Gewerbe-, das Hauptgeschäftszentrum und das Schul- und Sportzentrum der Siedlung geplant.8 Der erste Spatenstich erfolgte Mitte November 1964, und schon Anfang des Jahres 1965 galt die Baustelle als die größte Europas.9 Die Einhaltung der gesetzten Bautermine – eine jährliche Realisierung von 1.000 Wohnungen – und Begrenzung der Baukosten konnte nur aufgrund der gewählten Fertigbauweise eingehalten werden. In Zusammenarbeit mit mehreren Baufirmen wurden Fertigbausysteme erarbeitet sowie 1965 eine Feldfabrik vor Ort eingerichtet, in der sich auf zwei Fertigungsbahnen Großtafeln und verschiedene Wandelemente produzieren ließen. Schon kurz nach Eröffnung der Fabrik konnte die Produktionszeit der Fertig­teile auf über zwei Wohneinheiten pro Tag perfektioniert werden.10

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Das markante Wohnhochhaus mit 22 Stockwerken und wechselnden Fassadenauskragungen wurde zwischen 1970 und 1972 im Ortbetonverfahren errichtet und sollte als „weißer Riese“, vergleichbar mit dem Wohnturm der Neuen Vahr in Bremen, Orientierungs- und Wahrzeichen der neuen Stadt werden. Innerhalb eines Jahrzehnts und in fünf Bauetappen für jeweils einen Wohnbezirk sollte Wohnraum für 25.000 Bewohner geschaffen werden. 11 Die anvisierte Einwohnerzahl wurde jedoch nie erreicht. Vor dem Bau des Wohnhochhauses lebten 10.000 Menschen in Mettenhof, 12 Mitte der 1970er-Jahre stieg die Bewohnerzahl auf 17.500 an und erreichte Anfang der 1980er-Jahre mit 20.000 Bewohnern ihren Höhepunkt. Von Anfang an wurde ein Ortsbeirat Mettenhof als Mietervertretung eingerichtet. Durch die gute Ausstattung waren die Wohnungen anfänglich höchst attraktiv. Ein Anteil von 83,9 Prozent gefördertem Wohnungsbau führte zu einer sehr homogenen Sozialstruktur der Mieter. Die Entfernung zur Stadt und zunächst fehlende Infrastruktur- und Aufenthaltsangebote –  vor allem für den hohen Anteil an Jugendlichen – führten zu Missstimmungen und Nachbarschafts-

5

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problemen, sodass 1974 ein Sozialarbeiter der Neuen Heimat Hamburg in Mettenhof zur Mieterbetreuung eingesetzt wurde. 13 Im Jahre 1999 initiierte die Stadt Kiel die Aufnahme Mettenhofs in das Städtebauför­ derungsprogramm „Soziale Stadt“. Das inzwischen fest etablierte Stadtteilbüro organisiert unter anderem regelmäßig partizipative Veranstaltungen, um gemeinsam mit den Bewohnern Mettenhofs Strategien für eine Belebung und zukünftige Entwicklung zu erarbeiten. 14 C P/ H S

1 Wachstumsprognosen bestimmten bis 1965 einen Zuwachs von 14.000 bis 17.150 Einwohnern. Siehe Kühl 2007, S. 66. 2 Parsch 1983, S. 17–18. 3 Konwiarz 1962, S. 26. 4 Hans Konwiarz, „Mettenhof“, in: NHM 6/1962, S. 20. 5 Ebd., S. 20–21. 6 Konwiarz 1962, S. 1–3. 7 Janssen 2016, S. 24. 8 Hans Konwiarz, „Mettenhof“, in: NHM 6/1962, S. 22–28. 9 Janssen 2016, S. 26. 10 Kühl 2007, S. 79–81. 11 Parsch 1983, S. 18–19. 12 Janssen 2016, S. 80. 13 Ebd., S. 119–121. 14 Ebd., S. 165–166.

L ITERATU R NHM 9/1960, S. 10–34; NHM 6/1962, S. 20–30; NHM 12/1965, S. 8–19; NHM 11/1966, S. 48–49; NHM 7/1968, S. 45–46; Hans Konwiarz, Neue Heimat (Hg.), Mettenhof. Stadtteil für 25000 Menschen, Hamburg o.  J. (Broschüre Neue Heimat Hamburg) // Ingrid Parsch, „Ideologie und Wirklichkeit der Stadtrandsiedlungen, untersucht in Kiel-Mettenhof“, in: Reinhard Stewig (Hg.), Untersuchungen über die Großstadt in Schleswig-Holstein, Kiel 1983 (= Kieler Geographische Schriften, 57), S. 1–38; Joachim Schultze, „Nachbesserungen in Kiel-Mettenhof“, in: Baumeister 7/1988, S. 38-42; Hans Konwiarz, Mettenhof. Bericht zum Planungsvorschlag der „Neuen Heimat“ für eine Trabantenstadt im Westen der Stadt Kiel, Hamburg/Kiel 1962, abgedruckt in: Robert Burmeister, 25 Jahre Mettenhof 1965–1990. Mettenhof in der Presse ergänzt durch Buchauszüge und Planungsvorstellungen, Kiel 1990, S. 24–35; Heidemarie Hermann, Querschnittsuntersuchung. Städtebauliche Lösungen für die Nachbesserung von Großsiedlungen der 50er bis 70er Jahre. Teil A: b auliche und bauliche Probleme und Maßnahmen, Städte­ Bonn 1990; o. Verf., „Die größte Baustelle Europas“, Kieler Nachrichten, 16.11.1964, in: Robert Burmeister, 25 Jahre Mettenhof 1965–1990. Mettenhof in der Presse ergänzt durch Buchauszüge und Planungsvorstellungen, Kiel 1990, S. 53; Dieter-J. Mehlhorn, Architekturführer Kiel, Berlin 1997, S. 32; Margrit Kühl, „Entwicklung des Stadtteils Kiel-Mettenhof. Eine Großwohnanlage im Montagebauverfahren der 1960er Jahre“, in: Bernfried Lichtnau (Hg.), Architektur und Städtebau im südlichen Ostseeraum von 1970 bis zur Gegenwart. Entwicklungslinien – Brüche – Kontinuitäten. Publikation der Beiträge zur kunsthistorischen Tagung Greifswald 2004, Berlin 2007, S. 63–81; Hans Peter Brandt/Michael Westphal (Hg.), Untersuchung Nachbesserung Kiel Mettenhof, Kiel 2008; Stefanie Janssen, „Mettenhof wuchs und wuchs“. 50 Jahre Leben in einem besonderen Stadtteil, Kiel 2016.

DARMSTADT KRANICHSTEIN B a u ze it

1968 (Planung ab 1965) B a u t rä g e r

Neue Heimat Südwest, GEWOBAG Frankfurt A rc h ite kte n / Pl an er

Ernst May, Neue Heimat Südwest, Stadtplanungsamt Darmstadt; Günther Grzimek (Landschaftsarchitektur) Wo h n e in h e iten

ca. 5.000 für 15.000 Bewohner, 52 Eigenheime 1

D

I E S I E D LU N G Kranichstein entstand als Reaktion auf das hohe Pendlervolumen nach Darmstadt. Rund die Hälfte aller Arbeitnehmer pendelte täglich, belegte eine Auswertung der Stadt im Jahr 1966. 1 Dem Trend, „aufs Land“ in die umgebenden kleinen Gemeinden Weiterstadt, Gundernhausen oder Pfungstadt zu ziehen, gelte es, mit einem „attraktiven Wohngebiet“ nahe der Innenstadt entgegenzuwirken, konstatierte Rudi Löwe, Geschäftsführer der Neuen Heimat Südwest, 1968. 2 Als sich im Dezember 1966 die Nassauische Heimstätte aus dem Projekt zurückzog, wurde die GEWOBAG Frankfurt zum alleinigen Maßnahmeträger für den ersten Bauabschnitt, der 1.540 Mietwohnungen und 167 Eigenheime umfasste.3 Der Bau der Siedlung war von vornherein in vorgefertigter Bauweise geplant.

Das nordöstlich der Stadt gelegene, 200 Hektar große Gelände wurde im Jahr 1965  vom Prinzen von Hessen und bei Rhein der  Stadt zum Kauf angeboten, die hier mit  der  Neue-­ Heimat-Tochter GEWOBAG und der Nassau­ ischen Heimstätte 4 als Maßnahmeträger ein Wohnbauquartier nach modernsten Gesichtspunkten entwickeln wollte. Der Darmstädter  Oberbürgermeister und Sozialdemokrat Ludwig Engel beauftragte hierfür den bereits 79-jährigen Ernst May als Planer. Nördlich an die Bahnstrecke Darmstadt– Aschaffenburg und südlich an die Autobahn – den „Main-Neckar-Schnellweg“ – angrenzend, sollte Kranichstein gut an die Stadt angebunden, aber auch mit der Region verknüpft werden.5 Das bestimmende landschaftliche Element des unbebauten Geländes war der

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2

in Ost-West-Richtung verlaufende Ruthsenbach, dessen Uferzone gemäß Kaufvertrag von Bebauung freizuhalten war. May plante durch eine Stauung des Bachs drei ineinanderlaufende Seen zu schaffen, die mit einer Gesamtlänge von 900 Metern das gliedernde Landschaftselement zwischen den verschiedenen Wohnquartieren sein sollten. 6 Die Unterteilung in vier landschaftliche Großräume, gebildet aus 10- bis 14-geschossigen Hochhausscheiben, entwickelte May bereits zu Beginn der Planungen. Auf dieser Grundlage sollten sie unabhängig voneinander und zu verschiedenen Zeitpunkten realisiert werden. Gewerbe- und Dienstleistungsflächen sollten Kranichstein zu einer „echten“, weil teilweise autonomen Trabantenstadt machen. Am südlichen Ufer des Sees waren ein Geschäftsund Kulturzentrum vorgesehen, während am westlichen und nördlichen Ufer Gemeinschaftseinrichtungen wie Schulen, Kindergärten, Kirchen und ein Altersheim entstehen

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sollten. Autos sollten in Garagenbauten Platz finden, die zugleich die Sockel der Hochhausscheiben bildeten. Günther Grzimek erarbeitete die Grünplanung der Siedlung, unter anderem mit einer „raumbildenden Schutzpflanzung“, bestehend aus schnell wachsenden Pappeln, als Sichtschutz zwischen den dominanten Hochhausscheiben und den unmittelbar anschließenden Flachbauten. 7 In die Folgezeit fielen Maßnahmen, die das Projekt wirtschaftlicher machen sollten, die jedoch zugleich mit einem Verlust an Qualität einhergingen. So verpflichtete sich die Stadt gegenüber der Neuen Heimat, auf Jahre hinaus alle Sozialwohnungen ausschließlich in Kranichstein zu konzentrieren.8 Der Baubeginn der ersten Hochhausscheibe in der Bartningstraße im Mai 1968 fiel zeitlich mit einer gesellschaftlichen Entwicklung zusammen, im

Zuge derer auch die lange akzeptierten Großwohnsiedlungen zunehmend auf Kritik stießen. Schnell erhielt dieser erste Bau aufgrund seiner Höhe von 12 Geschossen und seiner Länge von 175 Metern die Bezeichnung „Eiger-Nordwand“. Neben dem sogenannten „Solitär“, einem Hochhaus mit 18 Stockwerken und einer vielfach vor und zurück gestaffelten Grundfläche in U-Form im Süden der Trabantenstadt, setzte May ein separates rundes Parkhaus. Bald nach Baubeginn, im Jahr 1970, bildete sich die Interessengemeinschaft Kranichstein (IGK), die bei der Stadt Darmstadt gegen das städtebauliche Konzept protestierte. Wesentliche Grundzüge der Planung von May wurden infrage gestellt, namentlich die mangelhaft gestalteten Erdgeschosszonen und die dicht nebeneinander und einander gegenüberstehenden Hochhausscheiben, vor allem in der südlichen Hauptzufahrtsstraße, der Bartning-

1

Luftaufnahme, Foto: Aero-Lux, April 1976

2

Grün- und Freizeitanlage

3

„Solitär“-Hochhaus mit Parkhaus, Perspektive von Ernst May

straße. 9 In der Konsequenz wurde lediglich der erste, südliche Bauabschnitt nach Mays Ideen fertiggestellt, während die weiteren Bauabschnitte nach mehrmaliger Umplanung neuen städtebaulichen Konzepten folgten. F S

1 Rudi Löwe, „Kranichstein. Ein neuer Stadtteil für Darmstadt“, in: NHM 9/1968, S. 6–17, hier S. 6. 2 Ebd. 3 Jörg Kühnemann, „5000 Wohnungen für Darmstadt“, in: NHM 6/1968, S. 43. 4 1966 stieg die Nassauische Heimstätte aus dem Projekt aus. 5 Rudi Löwe, „Kranichstein. Ein neuer Stadtteil für Darmstadt“, in: NHM 9/1968, S. 6–17, hier S. 12. 6 Ebd. 7 Darmstädter Tagblatt, 23.12.1966. 8 Andres/Stumme 1993, S. 148. 9 Ebd., S. 148–156.

L ITERATU R NHM 6/1968, S. 43; NHM 9/1968, S. 6–17 // Ernst May, „Die Satellitenstadt Kranichstein bei Darmstadt“, in: Bauwelt 38/1967, S. 900–901; Neue Heimat Südwest (Hg.), Darmstadt-Kranichstein. Die Grundsteinlegung, Frankfurt am Main 1968; Ernst May, „Die Trabantenstadt Kranichstein bei Darmstadt“, in: Architektur und Wohnform 7/1968, S. 337–339; Johann-Christoph Gewecke/Gisela Oestmann, „Zum Problem der Freiflächenrealisierung in Stadterweiterungsgebieten“, in: Das Gartenamt 4/1974, S. 214–221; Hermann Stumme, „Zum Problem der Freiflächenrealisierung in Stadterweiterungsgebieten“, in: Das Gartenamt 11/1974, S. 619–627; Wilhelm Andres/Hermann Stumme, Kranichstein. Geschichte eines Stadtteils, Darmstadt 1993; Dietmar Reinborn, Städtebau im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart u. a. 1996, S. 256– 258; Florian Seidel, Ernst May. Städtebau und Architektur in den Jahren 1954–1970, München 2008, S. 61–64, https:// mediatum.ub.tum.de/doc/635614/635614.pdf (7.12.2018).

3

163

STUTTGART FASANENHOF – FASAN I Ba u zeit

1960–1965 Ba u träg e r

GEWOG Gemeinnützige Wohnstättengesellschaft mbH, Stuttgart Arc hi te kte n / P l a ner

Josef Lehmbrock, Wilhelm Tiedje Wohn ein h e ite n

200 Eigentumswohnungen 1

„I

M M E R H Ä U F I G E R spricht man von der ‚Teuren Heimat‘, schlimmer aber ist, dass diese Gesellschaft durch die einseitige Orientierung an der Quantität die Möglichkeit zu einer Regeneration unserer Städte verbaut. [...] Alle die Kollegen, die im Stress ihrer Tagesarbeit zu keinen weitergehenden Überlegungen mehr kommen, sollten wenigstens die ‚Neue Heimat‘ als Pflichtlektüre lesen. Sie würden dann bald erkennen, dass sie sich gegen diese für die Gesellschaft wie für den Berufsstand lebensgefährliche Krebswucherung nur gemeinsam wehren können.“ 1 Josef Lehmbrock zeigte sich kritisch gegenüber dem Gewerkschaftsunternehmen und bezog sich auf die 1974 erschienene Publikation „Neue Heimat – Teure Heimat“. 2 Versucht er in den 1960erJahren mit der Erzählung „Das Wohnquartier“ (1964) über Collagen und Bildzitate eines fiktiven „Guthausen“ noch eine kritische

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Analyse des akt­ u ellen Großsiedlungsbaus, werden Ausstellung und Publikation „Profitopolis“ (1971) zum Aufruf an die Bürger, sich gegen „geplante Slums“ und „Sterilität“ zu wehren. 3 Im Mai 1960 beauftragte die GEWOG Stuttgart, eine Tochtergesellschaft der Neuen Heimat, vier Architekturbüros mit der Ausarbeitung von Entwürfen für einen Hochhausneubau am Solferinoweg. Der Gutachterausschuss empfahl einstimmig das Projekt „Wohnhochhaus für Bausparer“ mit 202 Eigen­tumswohnungen von Josef Lehmbrock und Wilhelm Tiedje zur Realisierung. 4 Das „Fasan I“ benannte Scheibenhochhaus mit stufenweise zurückversetzter Südfassade und 21 Stockwerken war eines von drei Wohnhochhäusern in der Großsiedlung Fasanenhof, deren Bau für 10.000 Personen auf städtischem Gelände 1958 beschlossen worden

Gemäß Lehmbrocks mehrfach formuliertem Vorsatz sollten alle Wohnungen „richtig besonnt, beschattet und gegen Lärm abgeschirmt sein“,6 sodass durch die Grundrisslösung im „Fasan I“ keine Wohnung nach Norden gerichtet sein sollte. Dies konnte erreicht werden, indem die jeweils zehn Wohneinheiten pro Stockwerk über einen Laubengang im Norden erschlossen und durch eine vertikale Staffelung der Fassade im Süden versetzt angeordnet wurden.7 Abgesehen von wenigen Ausnahmen in den östlichen und westlichen Kopfbauten, in denen die größeren Wohnungen untergebracht sind, gehen alle Wohn- und Schlafräume nach Süden. Die tragenden Wände des Hochhauses sind aus Ortbeton, die Trennwände aus Gipsplatten oder Betonfertigteilen. Unbeheizte Räume wurden in Sichtbeton belassen, geheizte Räume gespachtelt, tapeziert oder gestrichen.8 Da der Auftragge-

war. Die Siedlungsentwicklung – zeitgleich mit Stuttgart-Asemwald und dem Hochhausprojekt „Hannibal“ – war eine Reaktion auf den zu erwartenden Zuzug nach Stuttgart bei zugleich herrschendem Wohnungsfehlbestand.5

2

1

Wohnhochhaus Fasan I im Fasanenhof, Solferinoweg, Foto: Gottfried Planck

2

Fasan I, Grundriss Erdgeschoß von Wilhelm Tiedje, 15.12.1960

3

Fasan I, Südwestfassade, Ansicht von Wilhelm Tiedje, 15.12.1960

4

Fasan I, gestaffelte Fassadenfront von Süden, Kurt-Schumacher-Straße, Foto: Gottfried Planck

3

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vorbehalten müsse“.10 Den Auftrag für das benachbarte Mietwohnungsobjekt „Fasan II“ (1964–1965) erteilte die Neue Heimat schließlich nicht Lehmbrock/Tiedje, sondern den Architekten Otto Jäger und Werner Müller, die im Wettbewerb von 1960 noch unterlegen gewesen waren.11 AS

4

ber von Anfang an besonderen Wert auf die Individualität der Eigentumswohnungen legte, wurde den Käufern bei der Ausstattung ein Mitspracherecht eingeräumt.9 Im April 1963 kam es zu gravierenden Problemen mit Lehmbrocks Bauleitung. Tiedje, der sich nach der Entwurfsphase aus dem Baubetrieb am „Fasan I“ zurückgezogen hatte, äußert gegenüber der GEWOG seine Betroffenheit „über den Umfang und die Schwere der Beanstandungen“. Lehmbrock besetzte die Baustelle in Stuttgart mit wechselnden und nur zeitweise anwesenden Bauleitern. Die Musterwohnungen wurden nicht termingerecht fertiggestellt und Ausschreibungen nicht rechtzeitig auf den Weg gebracht. Die GEWOG drohte daraufhin, dass sie „diese Einstellung zu den Aufgaben einer Bauleitung nicht länger dulden könne“ und sich „geeignete Maßnahmen zur Besserung der bisherigen Situation

166

1 Josef Lehmbrock, Verdichtung um jeden Preis. Die Städtebaupolitik der „Gross Neuen Heimat. Maschinenschrift, S. 4, unpubl., o. J., AM TUM, Sign. leh-174. 2 Scheiner/Schmidt 1974. 3 Bericht über die Sitzung des Gutachterausschusses für das Projekt „Hochhaus Fasanenhof“ in Stuttgart am 23.7.1960, AM TUM, Sign. leh-34-202; o. Verf., „Wohnhochhaus für Bausparer: ‚Gewog‘ Stuttgart baut Eigentumswohnungen in 20 Stockwerken. Vier Architektenentwürfe im Wettbewerb“, in: NHM 9/1960, S. 17–27. 4 Bericht über die Sitzung des Gutachterausschusses für das Projekt „Hochhaus Fasanenhof“ in Stuttgart am 23.7.1960, AM TUM, Sign. leh-34-202; o. Verf., „Wohnhochhaus für Bausparer: ‚Gewog‘ Stuttgart baut Eigentumswohnungen in 20 Stockwerken. Vier Architektenentwürfe im Wettbewerb“, in: NHM 9/1960, S. 17–27. 5 Für die Jahre 1960–1964 wurde für Stuttgart ein Zuzug von 7.000 Personen berechnet. Aus dem existierendem Wohnungsfehlbestand und Zuzug ergab sich eine jährliche Wohnbauleistung von 6.200 Wohnungen. Vgl. Justus Buekschmitt, „Stuttgart. Aufbau einer paradoxen Großstadt“, in: NHM 10/1961, S. 1–16, hier S. 15. 6 Lehmbrock 1964, S. 25–26 u. S. 48; Lehmbrock 1971, S. III/6. 7 Das Prinzip der verfächerten Südfassade setzten die Architekten ebenfalls in der Siedlung Edigheim bei Ludwigshafen um. 8 o. Verf., „Wohnhochhaus Fasan in Stuttgart-Fasanenhof“, in: Glasforum: 4/1967, S. 26–30; Hassenpflug/Peters 1966, S. 98–99. 9 GEWOG an Architekturbüro J. Lehmbrock vom 24.3.1964; Lehmbrock an die GEWOG vom 2.4.1964; Aktenvermerk vom 10.2.1964, alle AM TUM, Sign. leh-34-201. 10 Tiedje an die GEWOG vom 11.4.1963; GEWOG an Tiedje vom 5.4.1963; Lehmbrock an Tiedje vom 17.4.1963, alle AM TUM, Sign. leh-34-206. 11 O. Verf., „Wohnhochhaus für Bausparer: ‚Gewog‘ Stuttgart baut Eigentumswohnungen in 20 Stockwerken. Vier Architektenentwürfe im Wettbewerb“, in: NHM 9/1960, S. 17–27. Ohne Beteiligung der Neuen Heimat entstand im Baugebiet Fasanenhof das heute unter Denkmalschutz stehende Wohnhochhaus Salute von Hans Scharoun (1961–1963).

L ITERATU R NHM 9/1960, S. 17–27; NHM 10/1961, S. 1–16; NHM 2/1964, S. 45 // Josef Lehmbrock, Das Wohnquartier, München 1964; Gustav Hassenpflug/Paulhans Peters, Scheibe, Punkt und Hügel. Neue Wohnhochhäuser, München 1966, S. 98–99; Hans Peter Schmiedel, Wohnhochhäuser, Bd. 1: Punkthäuser, Berlin 1967, S. 174; Inge Henning, „Der Fasanenhof. Ein moderner Vorort Stuttgarts“, in: Bürgervereinigung Fasanenhof (Hg.), Der Fasanenhof, 9/1968, H. 1, S. 6–14, https://stutt gart-fasanenhof.de/index.php/stadtteilzeitung/274-derfasanenhof-1 (8.12.2018); Josef Lehmbrock (Hg.), Profito­ polis –  oder: Der Mensch braucht eine andere Stadt. Eine Ausstellung über den miserablen Zustand unserer Städte und über die Notwendigkeit, diesen Zustand zu ändern, damit der Mensch wieder menschenwürdig in seiner Stadt leben kann, München 1971; Peter Scheiner/Hans Henning Schmidt, Neue Heimat – Teure Heimat. Ein multinationaler Gewerkschaftskonzern, Stuttgart 1974.

„W E N N S I E WO L L E N , KÖ N N E N S I E B E I U N S E I N E G A N Z E STA DT B E ST E L L E N .“ D E R T R AU M VO M U R B A N E N U N D D I E AU TO N O M E GROSSSIEDLUNG FÜR DIE MASSE

Frankfurt Nordweststadt, Foto: Kraus, 1971

167

LÜBECK BUNTEKUH Ba u zeit

1963–1970 (Planung ab 1961) Ba u träg e r

Neue Heimat Hamburg, Neues Heim Lübeck Arc hi te kte n / P l a ner

Hans Konwiarz, Neue Heimat Hamburg, Neue Heimat Kiel Wohn ein h e ite n

2.900 für 8.000–10.000 Bewohner, davon 450 Eigenheime 1

Z

W I S C H E N 1961 und 1963 kaufte die Neue Heimat sukzessiv Grundstücke und Liegenschaften westlich des Lübecker Stadtzentrums. 1 In weniger als drei Kilometern Distanz zur Innenstadt sollte eine Großwohnanlage mit Wohnraum für 8.000 Bewohner entstehen.2 Bis zum Erwerb dieser Grundstücke hatte die Neue Heimat Hamburg, hauptsächlich vertreten durch ihre Tochtergesellschaft Neues Heim Lübeck, innerhalb von neun Jahren schon fünf Wohnanlagen in der Hansestadt gebaut.3 Als signifikanteste Baumaßnahmen gelten die neuen Wohnquartiere St. Lorenz Nord und St. Lorenz Süd mit knapp 7.200 Wohneinheiten. Die Siedlung Buntekuh sollte als dritter Baustein die Arealbebauung zu einem zusammenhängenden Stadtteil vervollständigen. 4 Die dreieckige Form des Baugrunds wird allseitig von Bahnlinien und Straßen begrenzt, sodass die entwerferische Herausforderung

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der Planung neben der Schaffung eines eigenen Zentrums auch die Anbindung an die bestehenden Quartiere war. 5 Die Leitkriterien des Entwurfs von Hans Konwiarz, Planungsleiter der Neuen Heimat Kiel, waren eine rationalisierte und damit erweiterbare Bauweise, eine ausgeglichene Mischung der verschiedenen Wohntypen, die Integration von Freiräumen und Grünflächen, eine funktionell begründete Lage der Gewerbe- und Siedlungszentren sowie ein infrastrukturelles Erschließungssystem. 6 In den drei Eckpunkten des Grundstücks markiert jeweils ein neungeschossiges Wohnhochhaus das Gelände, das höchste Wohnhaus mit 14 Stockwerken steht in der Mitte nahe der Gemeinschaftszentren. Die Hochhäuser sind, wie alle anderen niedrigeren Mietwohnblocks, doppelt abgeknickt und folgen damit dem Kurs der Raumbildung durch Wohnschlangen – statt einer strengen Zeilenausbildung – mit dem Ziel, die großzügigen Grünräume einzufassen. Zudem gruppie-

ren sich die Wohnbauten konzentrisch um das Siedlungszentrum, während die Geschossanzahl bis hin zu den parzellierten Einfamilienhäusern sinkt.7 Konwiarz gliederte die Siedlung nach Kriterien der Funktionstrennung: So befinden sich die Gewerbeflächen und die Sportanlage im Süden, öffentliche Bauten wie das Einkaufszentrum, das Ärztehaus sowie Schulen und Kirchen in der Mitte des Areals.

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2

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Doppelt abgeknickte „Wohnschlange“, Fregattenstraße, Ostfassade

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Grünzonen, halböffentliche Freiflächen, Foto: Franz Scheper

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Lageplan M 1:1000

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Wohnhochhaus Fregattenstraße, Westfassade mit Balkonen

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Die soziale Struktur der Siedlung mit einem Drittel geförderten Wohnungen wandelte sich Anfang der 1980er-Jahre. Nach der Auflösung der Neuen Heimat befindet sich ein Viertel der Wohnungen in Eigenbesitz, drei Viertel verteilen sich auf sieben Wohnungsunternehmen, darunter auch die städtische Trave mbH. 8 Der Mieterverlust zwischen 1981 und 2003 in Höhe von 20 Prozent war weit stärker als der allgemeine Rückgang der Einwohnerzahl der Stadt Lübeck um 2,5 Prozent. Die demografischen Werte zeigen zudem eine deutliche Segregation der Generationen bezüglich der bewohnten Bau-

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typen auf: Die Geschosswohnungen werden hauptsächlich von jungen Familien bewohnt, während in den Reihenhäusern überwiegend Senioren leben. Auch die Kennzahl der Sozialhilfeempfänger in der Siedlung ist doppelt so hoch wie der Durchschnittswert der Stadt Lübeck. 9 Im Juni 2002 lancierte das Bundesministerium für Verkehr-, Bau- und Wohnungswesen das Pilotprojekt „Lübeck-Buntekuh“ als bundesweite Forschungsstudie „Experimenteller Wohnungs- und Städtebau“ (ExWoSt). 10 Im Rahmen des Programms, in dem aktuelle städtebauliche und wohnungspolitische Themen wie beispielsweise der hohe Prozentsatz an leer stehenden Wohnungen gefördert wurden, widmete sich raumlaborberlin in einem partizipativen Planungsverfahren einer Neufassung der Stadtteilmitte. 11 C P

1 Seier 2016, S. 145. 2 O. Verf., „So wachsen Städte. Jetzt in Kiel – bald auch in Lübeck“, in: Morgenpost, 23.6.1965. 3 St. Gertrud mit 6.603 WE, St. Lorenz Süd mit 2.489 WE, St. Lorenz Nord mit 4.707 WE, St. Jürgen mit 4.851 WE und Kücknitz-Herrenwyk mit 1.918 WE. Vgl. Justus Bueckschmitt, „Lübeck. Geglückte Synthese von Mittelalter und Neuzeit“, in: NHM 12/1961, S. 10. 4 Hans Konwiarz, „‚Buntekuh‘“, in: NHM 1/1962, S. 10. 5 Hansestadt Lübeck, Fachbereich Stadtplanung 2007, S. 3. 6 Hansestadt Lübeck, Fachbereich Stadtplanung 2007, S. 3. 7 Hans Konwiarz, „Buntekuh“, in: NHM 1/1962, S. 11–17. 8 Hansestadt Lübeck, Fachbereich Planen und Bauen 2007, S. 8. 9 Ebd., S. 9. 10 Rasch 2003, S. 149. 11 Hansestadt Lübeck, Fachbereich Planen und Bauen 2007, S. 7., http://raumlabor.net/bunte-kuh/ (3.12.2018).

L ITERATU R NHM 12/1961, S. 1–11; NHM 1/1962, S. 10–18; NHM 9/1975, S.  48; NHM 11/1977, S. 59 // Morgenpost, 23.6.1965; Hansestadt Lübeck, Fachbereich Stadtplanung (Hg.), Hudekamp, Lübeck 2002 (= Stadtteilerneuerungsprozess. Dokumentation, 91); Matthias Rasch, Wohnungsbau und Stadtsanierung in Lübeck: 1928–2003. In sozialer Verantwortung, Lübeck 2003; Hansestadt Lübeck, Fachbereich Planen und Bauen (Hg.), Lübeck Buntekuh. Lübeck 2007 (= „Ideen für die Mitte“. Dokumentation des Beteiligungsverfahrens, Heft 99); Hansestadt Lübeck, Fachbereich Stadtplanung (Hg.), Pilotprojekt Lübeck-Buntekuh 2003–2007. Abschlussbericht, Lübeck 2007; Maria Seier, „Moisling und Buntekuh mit den Ortschaften Genin, Niendorf, Reecke, Moorgarten und Padelügge“, Lübeck 2016 (= Archiv der Hansestadt Lübeck (Hg.), Kleine Hefte zur Stadtgeschichte, 25).

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FRANKFURT NORDWESTSTADT B a u ze it

1961–1972 (Planung ab 1959) B a u t rä g e r

GEWOBAG Frankfurt, Neue Heimat Hessen, Nassauische Heimstätte, Aktienbau­g esellschaft für kleine Wohnungen, diverse weitere Träger A rc h ite kte n / Pl an er

Hans Kampffmeyer d. J. (Stadtrat und Planungsdezernent); Walter Schwagenscheidt und Tassilo Sittmann (Gesamtstruktur); Nassauische Heimstätte; Erich Hanke (Landschaftsarchitektur) Wo h n e in h e iten

6.931 (geplant 7.500) für 25.000 Bewohner, 750 Eigenheime 1

A

U S D E M W E T T B E W E R B für die Nordweststadt in Frankfurt am Main 1959 gingen die späteren Stadtplaner des Projekts, Walter Schwagenscheidt und Tassilo Sittmann, lediglich mit dem dritten Platz hervor. Doch ihr städtebauliche Konzept überzeugte die Stadt Frankfurt als Auftraggeber, weshalb sie dennoch den Auftrag zur Planung der Grundstruktur des Stadtteils und zu einzelnen Bauaufgaben erhielten. 1 Ein Großteil der Bauaufträge wurde jedoch an drei andere Träger und ausführende Architekten vergeben. Die zur Neuen Heimat Hessen gehörende GEWOBAG Frankfurt übernahm

knapp ein Drittel der Trägerschaft und baute Wohnungen verschiedener Größen wie auch etwa ein Drittel aller Eigenheime.2 Separat ausgeschrieben wurde der Wettbewerb für das Nordwest-Einkaufszentrum, das schließlich Otto Apels Büro, ABB Architekten, realisierte.3 Ernst May, der zum Planungszeitpunkt der Nordweststadt die Position des Planungsleiters der Neuen Heimat Hamburg inne­hatte, wurde von Hans Kampffmeyer auch in der Wettbewerbsjury in Frankfurt eingesetzt. 4 Es galt, Wohnungen für rund 25.000 Menschen zu bauen und einen autonomen Stadtteil zu etablieren, der in sich und mit der Stadt

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zusammenwachsen konnte. Damit reagierte Frankfurt auf die rapide wachsende Einwohnerzahl der vorausgehenden Jahre. Der neue Stadtteil liegt zwischen Praunheim, Niederursel und Heddernheim im – wie der Name verlauten lässt – Nordwesten der Stadt und grenzt südlich an die Römerstadt an, die in der Zwischenkriegszeit unter Mays Programm des Neuen Frankfurt gebaut worden war. Diese topografische Nachbarschaft war nicht zwingend beabsichtigt, berührt aber, historisch betrachtet, die gemeinsame Geschichte der beiden Stadtplaner Schwagenscheidt und May. Am Ende seiner Amtszeit als Stadtrat von Frankfurt war May mit einem ausgewählten Team, dem auch Schwagenscheidt angehörte, 1930 in die UdSSR berufen worden, um dort neue Wohngebiete und Industrie­städte zu bauen.5

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Die Idee der „Raumgruppe“, bestehend aus Familie und Nachbarschaft, als gesellschaftsbildendes Element in der Städteplanung liegt den Überlegungen für die damalige UdSSR zugrunde und die Architekten nahmen diese schließlich mit zurück nach Frankfurt. 6 Schon in seinem Buch „Die Raumstadt“ von 1949 deklinierte Schwagenscheidt diese Vorstellung einer homogenen Stadt aus. 7 Darin skizzierte er Modellsiedlungen, deren Wohnbauten auf ein Existenzminimum reduziert und in immer gleicher Form zueinander gewandt platziert sind. In der Nordweststadt wurden einige seiner Thesen weiterentwickelt und umgesetzt, jedoch unter der veränderten Prämisse, durch Heterogenität im Stadtbild und der Bewohnerschaft eine soziale Einheit zu erwirken. Diese Idee fand auch die Unterstützung des Stadtrats Kampffmeyer, der als Sohn aus Kampffmeyers mit

der sozialreformerischen Gartenstadtbewegung vertraut war. 8 Häuser verschiedener Größe, Höhe und Wohnkontingente wie sozialer Wohnungsbau, Mietwohnungen und Eigenheime stehen in der Nordweststadt in versetzten Kreuzformationen zueinander. 9 Zwischen ihnen dienen die von Landschaftsarchitekt Erich Hanke gestalteten Grünflächen mit zahlreichen Spielplätzen als offenes Begegnungs- und Freizeitzentrum. Sie sind angebunden an ein Netz von Fußgängerwegen, die das Durchqueren des Stadtteils zu Fuß oder mit dem Fahrrad erlauben und dabei die Verkehrsstraßen nur selten kreuzen. Ein großzügiger Park samt künstlich angelegtem See bildet die offene Mitte zwischen dem westlichen und östlichen Wohngebiet. Die Parkplätze wurden in die flächige Unterkellerung des Stadtteils verlegt, sodass wertvolle Flächen nicht für Garagen aufgewendet werden mussten und kinderfreundlich blieben. Über 50 Jahre nach dem Baubeginn ist die Nordweststadt heute einer der grünsten Stadtteile Frankfurts. S B -A

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Grünanlage von Erich Hanke mit Spielareal von Walter Schwagenscheidt, Foto: Weber, 1966

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Ensemble aus Wohnhochhaus und Geschossbauten, Foto: Kraus, 1966

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Luftaufnahme, Foto: Weber, 1966

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Eigenheim mit Gartengrundstück, Foto: Weber, 1966

1 Irion/Sieverts 1991, S. 106. 2 Kampffmeyer 1968, S. 40. Der Anteil der GEWOBAG Frankfurt betrug 28 Prozent, der Nassauischen Heimstätte 42 Prozent und der Aktiengesellschaft für kleine Wohnungen 21 Prozent. Private Bauträger traten mit 9 Prozent auf. Vgl. dazu: Justus Buekschmitt, Nordweststadt. Ein neues Wohngebiet in Frankfurt am Main, in: NHM 7/1962, S. 16. 3 Justus Buekschmitt, „Wettbewerb Nordweststadt-Zentrum. Das Ergebnis“, in: NHM 7/1962, S. 1–15. Vgl. Gailhofer/Schmal 2017, S. 74. 4 Irion/Sieverts 1991, S. 107. 5 Ebd., S. 104. 6 Schwagenscheidt 1964, S. 34–36. 7 Schwagenscheidt 1949. 8 Hans Kampffmeyer war Begründer der Deutschen Gartenstadtgesellschaft (DGG), in der auch seine Brüder Paul und Bernhard Kampffmeyer aktiv waren. Vgl. Hartmann 1976. 9 Schwagenscheidt 1964, S. 34.

L ITERATU R NHM 11/1960, S. 1–17; NHM 7/1962, S. 1–20; NHM 6/1963, S. 22–28 // Walter Schwagenscheidt, Die Raumstadt, Heidelberg 1949; Walter Schwagenscheidt, „Glückliche Jahre der Arbeit mit Ernst May. Zum 70. Geburtstag von Ernst May“, in: Bauen + Wohnen 9/1956, S. 316; Walter Schwagenscheidt, Die Nordweststadt. Idee und Gestaltung, Stuttgart 1964; Hans Kampffmeyer, Die Nordweststadt in Frankfurt am Main, Frankfurt am Main 1968; Kristina Hartmann, Deutsche Gartenstadtbewegung. Kulturpolitik und Gesellschaftsreform, München 1976; Walter Prigge (Hg.), Das Neue Frankfurt. Städtebau und Architektur im Modernisierungsprozeß 1925– 1988, Frankfurt am Main 1988; Ilse Irion/Thomas Sieverts, Neue Städte. Experimentierfelder der Moderne, Stuttgart 1991; Andrea Gleiniger, Die Frankfurter Nordweststadt. Geschichte einer Großsiedlung, Frankfurt am Main/New York 1995; Sunna Gailhofer/Peter Cachola Schmal, Frankfurter Projekte von Otto Apel/ABB Architekten, Frankfurt am Main 2017, S. 74–84.

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MANNHEIM VOGELSTANG Ba u zeit

1964–1972, 1964–1969 (Zentrum) (Planung ab 1960) Ba u träg e r

GEWOG Gemeinnützige Wohnstättengesellschaft mbH, Stuttgart Ba u herr

Neue Heimat Baden-Württemberg Arc hi te kte n / P l a ner

Peter Dresel, Neue Heimat Baden-Württemberg; Stadtplanungsamt Mannheim, Tiefbauamt Mannheim, Helmut Striffler (Zentrum); Richard Schreiner und Wolfgang Tiedje (Außenanlagen) Wohn ein h e ite n

5.727 für 16.202 Bewohner, davon 320 Eigenheime (geplant: 5.500 Wohnungen für 20.000 Bewohner) 1

S

TAT T D E R E N D E der 1960er-Jahre aufkeimenden und zunehmend obligatorischen Kritik an Großsiedlungen erntete der neue Mannheimer Stadtteil Vogelstang Zuspruch. In der zeitgenössischen Presse wird er beschrieben als „ganz neu noch und erst halb fertig, mit viel mehr Kindern, als erwartet, mit Jugendlichen, die für die Freizeit vorerst nur die Straßen hatten, und mit mehr Baustellen als fertigen Einrichtungen für die Allgemeinheit, kurzum: Der Stadtteil Vogelstang barg für die Pessimisten manches

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Böse und war am Ende doch beinahe besser als sein ohnehin schon guter Ruf – als der Ruf, ein Beispiel für die sogenannte zweite Phase des westdeutschen Nachkriegswohnungsbaues zu sein, in dem viel mehr als sonst und anderswo bedacht worden war und sogar gelungen ist.“ 1 Nach und nach wurde Vogelstang, so war es das Ziel der Planer, mit Vollendung des Einkaufszentrums, von Schulen, Kindergärten sowie Alters- und Jugendheimen und S-Bahn-Anschluss mitten im Zentrum eigenständig. 2

Zur Planungszeit war Vogelstang das größte kommunale Bauprojekt Baden-Württembergs. Noch 15 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs war die stark kriegszerstörte Stadt Mannheim durch den Wohnungsmangel geprägt, während die Bevölkerung bis 1960 durch den Zuzug im Zusammenhang mit der Neuansiedlung von Industrie und Gewerbe von etwa 106.000 auf 330.000 Einwohner wuchs. 3 Um dem Wohnungsmangel von 17.000 suchenden Haushalten entgegenzuwirken, bot die GEWOG Stuttgart der Stadtverwaltung Mannheims die Durchführung eines größeren Wohnprojekts an. Die Planungen für eine Trabantenstadt konzentrierten sich auf das stadtnahe und verkehrsgünstig gelegene Gelände Vogelstang in der Nähe des Naherholungsgebiets Käfertaler Wald.

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Vorplatz zwischen Gemeindehaus und Zentrum, Foto: Kurt Otto

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Bautafel mit Lageplan, Foto: Artur Pfau, 1971

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Ladenzentrum über Straßenbahnhaltestelle im Zentrum, Foto: Kurt Otto

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Einkaufszentrum, Foto: Robert Häußer

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Auf einer Fläche von 144 Hektar sollte ein neuer Stadtteil Wohnraum für rund 20.000 Menschen bieten. Anknüpfend an die Erfahrungen und Fehler existierender Großprojekte sollte sich Vogelstang um ein starkes, attraktives Zentrum konzentrieren, sich dezidiert nicht in Nachbarschaftsquartiere aufsplitten, abwechselnd begrenzte und offene Grünbereiche anbieten und sich an eine gemischte Bevölkerungsstruktur richten. 4 Durch ein in Auftrag gegebenes Gutachten wurde dafür ein Wohngemenge entsprechend der Bevölkerung Mannheims ermittelt.5 Die Neue Heimat übernahm im Auftrag der Stadt den Kauf von etwa 400 Grundstücken. Sieben Architekten wurden zur Einreichung von Gesamtbebauungsplanungen eingela-

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kaufszentrum, Schulen und Praxen. Einen zentralen Knotenpunkt bildet die aufgeständerte Ladenzeile über den Straßenbahnschienen.

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den, die durch ein Gremium der Stadtverwaltung ausgewertet und von der Neuen Heimat geprüft wurden. Wie in vergleichbaren Siedlungsprojekten wurde ein Planungsteam aus Mitgliedern der GEWOG, Planern der Stadt und Stadträten gebildet, das sich vor Einreichung eines endgültigen Flächennutzungsplans auf Reisen zur Besichtigung von Großsiedlungen begeben hatte. Der Planungsstab Mannheim war gemeinsam in Schweden und reichte 1964 den Bebauungsplan ein; noch im selben Jahr erfolgte der Baubeginn.6 Die 5.553 Wohnungen und Häuser des Stadtteils sind von der Peripherie zum Zentrum hin verdichtet: In den Außenbereichen liegen Einfamilien- und Reihenhäuser (18,3  Prozent). Deren Konzeption ist Ergebnis einer weiteren Bedarfsstudie: Mittels einer gebauten Testsiedlung in Mannheim-Feudenheim ließ sich die Zufriedenheit der Bewohner von Atriumund Gartenhofhäusern testen.7 Die für Vogel­ stang charakteristischen viergeschossigen, wabe­nförmigen Häuserketten mit Wohnungen für Familien (65  Prozent) und 4 Hochhausgruppen mit 12 bis 14 Stockwerken auf den Siedlungsachsen bilden den Übergang zum Zentrum.8 Die Gestaltung des Zentrums wurde 1963 in einem geladenen Wettbewerb unter drei Architekten zugunsten von Helmut Striffler entschieden: Drei 22-geschossige Hochhaustürme (Einpersonenhaushalte: 16,7 Prozent) umschließen die horizontale Struktur mit Ein-

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Die Entscheidung gegen den Zeilenbau hin zu der wabenförmigen Anordnung des Mittel­ hochbaus gestaltete die öffentlichen Freiflächen durch den Wechsel von gerahmter Hofbildung und offenen Grünflächen mit den Baggerseen und Sportanlagen im Süden des Stadtteils abwechslungsreicher. Da die Verkehrsführung keine Möglichkeit vorsah, Vogelstang zu durchfahren – die Erschließung erfolgte nur von außen und endete in Sackgassen –, war der Stadtteil auf Fußgänger ausgelegt. 9 Die Neue Heimat Baden-Württemberg beauftragte zwischen 1971 und 1972 eine Soziologen-Architektengruppe, das „Büro für Stadtplanung“, mit einer Evaluation der Bewohnerzufriedenheit.10 In den 1970er-Jahren wurden in Vogelstang Stadtteilinitiativen gestartet, Bürgervereine gegründet und die Zeitung „Vogelstang-Echo“ herausgegeben. H B / H S

1 Manfred Sack, „Ruhig – aber städtisch wohnen“, in: Die Zeit, 12.12.1969. 2 O. Verf., „Das Leben auf der Vogelstang“, in: NHM 5/1970, S. 1–10. 3 Irion/Sieverts 1991, S. 58. 4 Reinborn 1996, S. 261. 5 Heinrich Willing, „Großbau-Projekt Mannheim Vogelstang“, in: NHM 9/1964, S. 1–8, hier S. 2; Irion/Sieverts 1991, S. 60. 6 Reinborn 1996, S. 261; Irion/Sieverts 1991, S. 59. 7 O. Verf., „Eigenheime nach Wunsch. Ergebnisse einer Befragung in der Testsiedlung ‚Am sonnigen Hang‘ in Mannheim Vogelstang“, in: NHM 1/1967, S. 18–29. 8 Heinrich Willing, „Großbau-Projekt Mannheim Vogelstang“, in: NHM 9/1964, S. 2. 9 Irion/Sieverts 1991, S. 64. 10 Vgl. Weeber 1973; Margot Brunner, „Auf der Vogelstang fühlt man sich wohl“, in: NHM 3/1973, S. 14–23.

L ITERATU R NHM 8/1963, S. 6–18; NHM 9/1964, S. 1–10; NHM 1/1967, S. 18–29; NHM 10/1968, S. 61–62; NHM 5/1970, S. 1–10; NHM 3/1973, S. 14–23; NHM 5/1979, S. 1–10; Neue Heimat Bayern (Hg.), Stadtbau. Was ist heute möglich, München 1969, o. S.; Rotraut Weeber, Alte Menschen, Hausfrauen und Kinder in einem neuen Wohngebiet. Eine empirische Untersuchung des Wohngebietes Mannheim-Vogelstang, München 1973 // Ilse Irion/Thomas Sieverts, Neue Städte. Experimentierfelder der Moderne, Stuttgart 1991, S. 54–55 u. S. 58–75; Dietmar Reinborn, Städtebau im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart u. a. 1996, S. 261–262; „Vogelstang“, in: Andreas Schenk, Architekturführer Mannheim, Berlin 1999, S. 217–218.

MÜNCHEN NEUPERLACH B a u ze it

1967–1992 (Planung ab 1961; städtebaulicher Ideen­ wettbewerb 1967; zweistufiges Planverfahren 1971) M a ß n a h m e nträg er

Neue Heimat Bayern B a u t rä g e r

Neue Heimat Bayern, GWG, GEWOFAG u. a. A rc h ite kte n / Pl an er

Egon Hartmann (Gesamtstrukturplan); Baureferat der Landeshauptstadt München, Neue Heimat Bayern (Nord, Nordost, Ost); Bernt Lauter, Manfred Zimmer (Neuperlach Mitte); 1 Planergruppe Darmstadt mit Max Guther, Thomas Sieverts und Ferdinand Stracke (Neuperlach Süd); Gottfried Hansjakob (Landschaftsarchitektur) Wo h n e in h e iten

24.600 für 55.000 Bewohner (geplant 25.000 Wohnungen für 80.000, später 70.000 Bewohner)

E

ine „Stadt für die Zukunft bauen“ 1 – das war das erklärte Ziel der „Entlastungsstadt Perlach“, der größten realisierten Städtebaumaßnahme der Bundesrepublik.2 Als Reaktion auf den stetig anhaltenden Bewohnerzustrom Münchens 3 wurde 1960 das damals größte Siedlungsprojekt Europas im Rahmen des „Münchner Plans“ zur Behebung des anhaltenden Wohnungsmangels vom Stadtrat beschlossen: Auf mehr als 1.000 Hektar Bauland sollten 25.000

Wohnungen für 80.000 Bewohner errichtet werden. 4 Um die Entstehung einer reinen „Schlafstadt“ an der Peripherie Münchens zu vermeiden, war eine funktional eigenständige heterogene Stadtstruktur mit Arbeitsplätzen und zahlreichen öffentlichen, kulturellen und gewerblichen Einrichtungen geplant.5 Zudem sollten nach Heinz Feicht trotz der Größe keine eintönigen Wohnsilos, sondern eine ausdifferenzierte Stadt gebaut werden:

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2

„Einerseits wird wohl befürchtet, daß wieder einmal eine Stadt aus der Retorte entsteht, lieblos aufgereihte Wohnblöcke, um für die große Masse von 80.000 Neubewohnern zwar den Vorschriften entsprechende, aber doch äußerst langweilige Behausungen zu erstellen. Auf der anderen Seite wird man den Architekten beneiden, der hier ohne Bindungen an wertvolle Bausubstanz der Nachbarschaft frei weg nach modernsten Gesichtspunkten und neuzeitlichen Formen unter sorgfältigster Abwägung aller soziologischen, gesundheit-

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lichen, konstruktiven, bauwirtschaftlichen, urbanen und künstlerischen Gesichtspunkten ein großes Werk vollbringen kann.“6 Die von der Stadt München Anfang 1961 bestimmte „Arbeitsgemeinschaft Stadtentwicklungsplan“ legte ein Bebauungsleitbild für den Bereich Perlach vor, woraus das Stadtplanungsamt unter der Leitung von Egon Hartmann ab 1963 einen Strukturplan entwickelte. Im April 1963 wurde die Neue Heimat Bayern als Maßnahmeträger verpflichtet, sie wirkte damit am Gesamtkonzept mit und war für Grundstückbeschaffung sowie Baudurchführung verantwortlich. 7 Das landwirtschaftlich genutzte Bauland setzte sich aus 500 Einzelgrundstücken im Besitz von 160 privaten Eigentümern zusammen. Grundstücke, deren Besitzer sich nicht am freiwilligen Umlegungsverfahren beteiligten, wurden von der Neuen Heimat Bayern beziehungsweise von der Wohnbaugesellschaft Terrafinanz erworben. 8 Im Mai 1967 erfolgte die Grundsteinlegung für die ersten Bauabschnitte im Norden, Nordosten und Osten des Gebiets – die feierliche Zeremonie wurde vom damaligen Oberbürgermeister Hans-Jochen Vogel ebenso begleitet wie von Bundesbauminister Lauritz Lauritzen.9

Die großflächig durchgrünten Bereiche mit mehrstöckigen Wohnzeilen waren von der Neuen Heimat Bayern ohne Gestaltungswettbewerbe geplant worden und konnten auf der Grundlage des Struktur- und Flächennutzungsplans bis 1975 fertiggestellt werden. Diesem entsprechend sollte auf dem Kreuzungspunkt der Hauptverbindungsachsen durch die Wohnquartiere eine urbane Mitte als „beherrschende Stadtkrone“ entstehen.10 Den im Oktober 1967 ausgelobten internationalen städtebaulichen Ideenwettbewerb für das Zentrum der neuen Stadt gewann Bernt Lauter aus Berlin, der einen geschlossenen Komplex aus Hochbauten vorsah: Ein „Wohnring“ mit circa 450 Metern Durchmesser markiert als weithin sichtbare Silhouette mit „unverwech-

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Fußgängerbrücke über den Karl-Marx-Ring, Neuperlach Nordost, Foto: Kurt Otto, 1974

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Neuperlach Nord, Plettstraße, Foto: Kurt Otto, 1974

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München Neuperlach, Luftaufnahme Neuperlach Mitte, Foto: Hans Bertram, 1981

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Grünanlage im Inneren des Wohnrings, Foto: Hermann Schulz, 1977

selbarer Prägnanz“11 die Stadtmitte, durch die ein zentrales Fußwegekreuz führt. Im Inneren der Anlage waren ein weitläufiger Grünbereich sowie öffent­liche und kulturelle Einrichtungen geplant.12 An der Ostseite des Wohnrings öffnen sich zwei parallel geführte mehrstöckige Baukörper trichterförmig zu den umgebenden Vierteln. Die Hochbauten der flankierenden „Spange“ nehmen Wohn- und Büroräume und die Mitte eine mit Glas überdachte Fußgänger­ ebene mit Markthalle auf, während der Nord– Süd ausgerichtete Bereich darunter über mehrere Geschosse ein Einkaufszentrum mit Fußgängerpassage und Stadtteilzentrum sowie Parkdecks beherbergen sollte. Eine Erschließungsstraße sowie die U-Bahn-Station führen hier unterirdisch mitten ins Zentrum. Die Höhe des Wohnrings variiert von 9 (Nord- und Südwestbereich) bis 18 Geschossen (Süd- und Südostteil) entsprechend der Bauhöhenbeschränkung durch den damaligen Flughafen Riem. Es folgten mehrere Überarbeitungsphasen durch Bernt Lauter, Manfred Zimmer und ein Planungsteam der Neuen Heimat Bayern, wobei nicht der zentrumsbildende Wohnring infrage gestellt wurde, sondern vielmehr die Spangenlösung als unwirtschaftlich und in 4

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Strukturplan unter der Leitung von Egon Hartmann, 1963

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Perlach Zentrum, Ergebnis der Wettbewerbsüberarbeitung, 1968–1969

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Fußgängerbrücke QuiddeEinkaufszentrum, Foto: Kurt Otto

der Struktur zu wenig quartiersoffen in der Kritik stand. 13 1969 wurde zunächst in einer Traglufthalle ein Bürgerinformationszentrum eingerichtet, das ab 1971 in ein Bürogebäude gegenüber der Hauptverwaltung der Neuen Heimat verlegt wurde. Anhand eines mehrfach überarbeiteten Modells im Maßstab 1:1000 erläuterten ausgebildete „Städtebauhostessen“ den Stand der Planungen. Noch bevor 1974 der Grundstein für den Wohnring gelegt wurde, waren die Pläne für die Spange aufgegeben worden: Anstelle einer konzentrierten städtischen Mitte mit Bürger- und Kulturzentrum sowie Sportanlagen sah die Neuplanung ein „additives“ Ver-

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fahren vor, das heißt, es sollten Einzelbauten verschiedener Bauherren nebeneinander entstehen. Verwirklicht wurde nur das Einkaufszentrum PEP –  1981 eröffnet – zu beiden Seiten eines öffentlichen Durchgangs zwischen der U-Bahn-Station und dem Wohnring.14 Die Herzkammer der Stadt im Sinne von Alexander Mitscherlich, also der Ort, an dem sich die Menschen treffen und an dem das „gedrängte, lebhafte städtische Treiben“ stattfindet, 15 ist damit weitgehend unvollendet geblieben. Im Gegenteil: Die strikte Trennung von Verkehrszonen sowie Fußgängerwegen durch weitläufige Grünbereiche verstärken – vor allem durch den im Lauf der Jahre hohen Baumbewuchs – den Parkcharakter in Bereichen des Wohnrings und der Nord- und Nordostbebauung. Mit Spiel- und Sportplätzen, einer Spielstraße, zahlreichen Wasser- und Brunnenanlagen sowie einem Aussichtshügel mit Blick über die Skyline hinweg in die Alpen gestaltete der Landschaftsarchitekt Gottfried Hans­jakob

im Auftrag der Neuen Heimat zonierte und mehr oder weniger offene Bereiche für verschiedene Altersgruppen und Freizeitformen. Für das letzte und fünfte Bauquartier Süd wurde 1971 vom Stadtrat und durch die Neue Heimat Bayern ein Plangutachterverfahren mit sieben eingeladenen Architektengruppen veranstaltet. Der zur Weiterbearbeitung empfohlene Entwurf der „Planungsgruppe Darmstadt“ folgte veränderten konzeptionellen Grundlagen. Statt den mit den öffentlichen Grünflächen verzahnten hohen Zeilenbauten wurde nun eine Blockbebauung mit moderater Geschosszahl um halbprivate Innenhöfe geplant. Anstelle der weitgehenden Trennung von Auto­verkehr und Fußwegenetz war ein regelmäßiges Raster von Wohnstraßen vorgesehen. Und statt punktueller Nahversorgungszentren entstand eine Fußgängern vorbehaltene Geschäftsstraße, die vom S-/U-Bahnhof ausgehend das Viertel erschließt.16

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Das ambitionierte Ziel, Neuperlach als eine Modellstadt der Zukunft zu entwickeln, erfüllte sich nicht. Die schiere Größe des Projekts, die langwierigen Planungsprozesse, die von sich rascher verändernden Gesellschaftsentwicklungen überholt wurden, sowie der wirtschaftliche Umschwung durch die Ölkrise 1973, der die Ausweitung von Gewerbe und Arbeitsplätzen hemmte, Investoren ausbleiben ließ und zudem mit einer steigenden Sättigung des Wohnungsmarkts zusammenfiel, führten dazu, dass die Forderung nach Urbanität im Ansatz stecken blieb. Die architektonischen Mittel reichten nicht aus, um die neu formulierte Wertschätzung des Städtischen in die konkrete Planung einer Stadt auf dem Reißbrett zu übertragen, solange herkömmliche Leitbilder nicht überwunden wurden. Ulrich Conrads kritisierte schon zu Beginn der Planungen 1967 die „total verplante Stadtbauzukunft“ und bezeichnete Perlach als das „böse Beispiel“ einer Planung, die „gestern verabschiedet, schon heute, noch vor der Realisation, weit überholt ist von unseren fachlichen Kenntnissen und gesellschaftspolitischen Erkenntnissen und in die unser besseres Wissen von morgen überhaupt keinen Eingang mehr finden kann“. 17 Aktuelle Diskussionen über Möglichkeiten und Chancen der Nachverdichtung Neuperlachs versuchen unter anderem, diesem Umstand entgegenzuwirken. AS/ H S

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Neue Heimat Bayern 1969, S. 1. Erst 1972 benannte der Münchner Stadtrat Perlach in Neuperlach und Altperlach um. 3 Die Bevölkerung Münchens wies zwischen 1950 und 1966 einen Zuwachs von jährlich bis zu 30.000 Personen auf. Die Einwohnerzahl stieg von 840.000 im Jahr 1939 auf 1,24 Mio. Bürger im Jahr 1966. Vgl. Festring Perlach e. V. 1990, o. S. 4 Hans-Jochen Vogel, Die Amtskette. Meine 12 Münchner Jahre, München 1972, S. 54–55. 5 Ewald Mücke, „Die städtebauliche Funktion und Struktur der Entlastungsstadt Perlach in München“, in: Neue Heimat Bayern 1967, S. 37–42, hier S. 37; o.  Verf., „Entlastungsstadt Perlach“, in: NHM 5/1967, S. 1–14. 6 Heinz Feicht (Vorsitzender der Geschäftsführung der Neuen Heimat Bayern), in: Neue Heimat Bayern 1967, S. 55. 7 Bretzel 2009, S. 21. 8 Ebd., S. 21–23. Ein Drittel der Käufe wurde über Terrafinanz abgeschlossen, ein Unternehmen, hinter dem sich Vertreter der Geschäftsführung der Neuen Heimat verbargen. Im Zusammenhang mit dem Neue-Heimat-Skandal wurden auch diese Verbindungen aufgedeckt. Vgl. Kunz 2003, S. 71; Interview mit Hans-Jochen Vogel, „Außerhalb meines Vorstel-

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lungsvermögens“, in: Der Spiegel 6/1983, http://www.spie gel.de/spiegel/print/d-14019546.html (12.12.2018); „Neue Heimat“, in: Der Spiegel 45/1984, http://www.spiegel.de/ spiegel/print/d-13510550.html (12.12.2018). Egon Hartmann, in: Neue Heimat Bayern 1967, S. 60–75; o. Verf., „Entlastungsstadt Perlach“, in: NHM 5/1967, S. 1–14; o. Verf., „Grundsteinlegung in München-Perlach“, in: NHM 6/1967, S. 16–17; vgl. Hartard 2003, S. 75–77. Planungsgruppe Zentrum Perlach 1970; o. Verf., „Zentrum Perlach. Städtebaulicher Wettbewerb. Das Ergebnis“, in: NHM 10/1968, S. 1–29; Bauwelt 59/1968, S. 1059–1074; ­H artard 2003, S. 108–113; Stadtratsbeschluss vom 20.5.1965, vgl. Bretzel 2009, S. 36. Vgl. Bretzel 2009, S. 53. Hartard 2003, S. 112 u. S. 114. Bernt Lauter, „Zentrum Perlach. Leiden und Sterben einer Konzeption“, in: Bauwelt 64, 1973, S. 1238–1245. O. Verf., „Ein Zentrum mit attraktivem Freizeitwert in Neuperlach“, in: NHM 4/1981, S. 81. Mitscherlich 1983 (1971), S. 738–739. Bretzel 2009, S. 74–82. O. Verf., „Conrads’ Trauma. München-Perlach: Kritik an nicht vorhandenen Plänen“, in: NHM 11/1967, S. 42.

L ITERATU R NHM 5/1967, S. 1–14; NHM 6/1967, S. 146–147; NHM 10/1968, S. 1–29; NHM 4/1970, S. 1–14; NHM 7/1972, S. 1–10; NHM 3/1974, S. 1–8; NHM 6/1976, S. 16–25; NHM 7/1979, S. 24–27, S. 65; NHM 4/1981, S. 81; Neue Heimat Bayern (Hg.), Entlastungsstadt Perlach in München, München 1967; Neue Heimat Bayern (Hg.), Perlach. Das Zentrum einer neuen Stadt. Ein Ideen-Wettbewerb und seine Folgen, Typoskript, München 1969 (Archiv WSB Bayern); Planungsgruppe Zentrum Perlach (Hg.), Zentrum Perlach. Planungsstand Oktober 1970, Typoskript, München 1970 (Archiv Bernt Lauter); Neue Heimat Bayern (Hg.), Neuperlach ’74. Es geht weiter, München 1974 // Alexander Mitscherlich, „Mediationen vor dem Reißbrett. München-Perlach als städtebauliches Projekt“, in: ders., Gesammelte Schriften VII, Politisch-publizistische Aufsätze, Bd. 2, Frankfurt am Main 1983, S. 729–741 (Orig. Süddeutsche Zeitung, 16./17.10.1971); Festring Perlach e.  V. 1990 (Hg.), 25 Jahre Stadtteil Neuperlach. Sonderdruck aus dem Heimatbuch 790–1990. 1200 Jahre Perlach, München 1990, o.  S.; Christian Hartard, Neuperlach. Utopie des Urbanen. Leitbilder und Stadtbilder eines Experimentes der 1960er-Jahre, Magisterarbeit LMU München 2003, http:// epub.ub.uni-muenchen.de/2034; Andres Kunz (Hg.), „Die Akte Neue Heimat – Krise und Abwicklung des größten Wohnungsbaukonzerns Europas 1982–1998, Bd. 1, Frankfurt am Main 2003; Christian Hartard, „Komm, wir bauen eine Stadt. Wie in den 1960er-Jahren der Traum vom Urbanen am Verfall des öffentlichen Raums scheiterte. Einige Stadtrandbemerkungen aus München-Neuperlach“, in: Mitteilungen der Geographischen Gesellschaft München (Sonderheft), München 2006, S. 60–73; Peter Kramper, Neue Heimat. Unternehmenspolitik und Unternehmensentwicklung im gewerkschaftlichen Wohnungs- und Städtebau 1950–1982, Stuttgart 2008, S. 407–409; Sigrid Bretzel, Neuperlach. Städtebauliche Entwicklung des neuen Stadtteils Neuper­ lach in München, 1960–2008, München 2009; Andreas Hild/ Andreas Müsseler (Hg.), Neuperlach ist schön. Zum 50. einer gebauten Utopie, München 2018.

Z U R Ü C K Z U R STA DT ! VO N D E R F L ÄC H E N Z U R A LT STA DT SA N I E R U N G

Altstadtsanierung Dörfle, Karlsruhe

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HAMBURG ALSTERZENTRUM Pl a n u n g sze it

1965 (bis 1971) Ent w i ckl e r

Neue Heimat Gemeinnützige Wohnungs- und Siedlungsgesellschaft Arc hi te kt

Hans Konwiarz, Neue Heimat Nord Wohn ein h e ite n

6.500 für 20.000 Bewohner

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A S A U S H E U T I G E R Perspektive größenwahnsinnige Projekt eines „Alster-Manhattan“ in Hamburg, das die Neue Heimat im Juni 1966 im hiesigen Rathaus dem Senat als „Stadt von morgen“ präsentierte, stieß bei Bürgern, Stadtvertretern und in der Presse auf allgemeine Zustimmung. Propagiert als Bauvorhaben, das Hamburg zur Weltstadt erheben würde, befürworteten es in einer Befragung von 2.500 Hanseaten über 70 Prozent der unter 34-Jährigen: 1 „Bei dem wohl kühnsten städtebaulichen Projekt ihrer Geschichte“ richtete sich dabei das Interesse auf die „sensationelle Erneuerung“ des Stadtviertels St. Georg.2 Dass dabei flächendeckend historischer Baubestand – zum großen Teil aus dem 19. Jahrhundert – abgerissen werden sollte, nahm man billigend in Kauf. Dem Bauantrag an die Stadt Hamburg vom November 1965 legte die Neue Heimat einen Zustandsplan von St. Georg bei – rund 70 Prozent waren hier als „dringendste Sanierungsfläche“ ausgewiesen –

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sowie Fotografien von heruntergekommenen Wohnhäusern, die selbsterklärend den Abbruch bedingten. 3 Das ehrgeizige Projekt konzentrierte sich weg vom Siedlungsbau am Stadtrand zurück auf das Stadtzentrum. Die Neue Heimat folgte damit einem aufkeimenden Diskurs, der durch Schriften wie „Die moderne Großstadt“ (1961) von Hans Paul Bahrdt oder „Tod und Leben großer amerikanischer Städte“ (1963) von Jane Jacobs angefacht worden war. Auch der amerikanische Stadtplaner Victor Gruen positionierte sich in seinem Vortrag „Die Wiederbelebung unserer Stadtkerne“ als Befürworter des Alsterzen­ trums, um der Verödung der Innenstädte entgegenzuwirken. 4 Als Vorzeigeprojekt wurde es auf der Bauausstellung „Deubau“ 1966 in Hamburg präsentiert und sollte auch weiterhin als Musterbeispiel für die Neue Heimat auf Wanderschaft gehen. 5 Ganz im Schöpfer-

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Alsterzentrum in der Hamburger Stadtlandschaft, Fotomontage, 1968

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Alsterzentrum mit Außenalster, Fotomontage

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Konzeptskizze von Hans Konwiarz, Nov. 1965

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Bebauungsvorschlag, Alsteransicht von Hans Konwiarz, 1.2.1966

gestus einer „Weltarchitektur“ heißt es: „Und wenn sich seine hohen Häuser […] im Wasser der Außenalster spiegeln, wird Hamburg stolz darauf sein, dem Städtebau der Welt einen so kräftigen und interessanten Impuls gegeben zu haben.“6 Das Alsterzentrum wurde von den Planern keineswegs als Utopie verstanden: Auf einer Fläche von 19 Hektar sollte St. Georg bis zur Außenalster überbaut werden und mit 5 terrassierten und sich nach oben verjüngenden Türmen – der höchste mit 63 Stockwerken und jeweils 2 weitere mit 57 und 51 Stockwerken – 6.500 Wohnungen für 20.000 Menschen schaffen. Damit hätte das Projekt mehr als die dreifache Anzahl der Bestandswohnungen umfasst. 7 Der Entwurf des Neue-Heimat-Architekten Hans Konwiarz sah als Basis der Türme einen offenen Kranz mit gewerblicher Nutzung in den ersten vier Geschossen vor, erst ab dem fünften Geschoss sollte der Wohnbereich beginnen. 8 Das Innere des Kranzes, der sogenannte Talkessel, sollte auf

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470.000 Quadratmetern Raum für ein Gewer­ be- und Einkaufszentrum bilden (rund 300 Meter breit und 700 Meter lang). Als zentrales Organ vernetzte dieses zwischen Wohnen, Kultur- und Bildungseinrichtungen. Die Fußgängerebene führte aus dem überdachten „Talkessel“ über Straßenbrücken zum Alsterufer, an dem Terrassen und Ruheplätze der Erholung und Freizeit dienten. 9 Das Verkehrskonzept folgte einer strikten Trennung von ruhendem und rollendem Verkehr, war durchweg unterirdisch angeordnet und sah 16.500 Parkplätze vor. In der nächsten Ebene folgte ein durchgehender Fußgängerbereich mit Läden und wiederum darüber das lärmberuhigte Wohnen.10 Der vorgelegte Entwurf diente lediglich als Arbeitsmodell und sollte nach Zustimmung durch Senat und Bürger als internationaler Architektenwettbewerb ausgeschrieben werden.11 Nicht die in Aussicht gestellten 2 Milliar­ den DM Baukosten stellten ein Hindernis für die Realisierung dar, sondern der Grundstückserwerb sowie der Widerstand der in St. Georg angesiedelten 300 Einzelhändler und der Gewerbetreibenden in der Innenstadt, die eine Konkurrenz fürchteten. Zudem regte sich ab 1969 zunehmend Widerstand in der Hamburger Bevölkerung gegen eine „Kahlschlagsanierung“. Die Bürger forderten stattdessen eine den Altbestand miteinbezie-

hende Sanierung. 12 1971 wurden die Pläne des Alsterzentrums endgültig beiseitegelegt. 13 Bereits im Mai 1969 rechtfertigte Albert Vietor in der „Hamburger Morgenpost“ das Projekt Alster­zentrum als Anstoß für die Debatte über Stadterneuerung in Deutschland.14 A L I / H S

1 O. Verf., „Die junge Generation plädiert für die Stadterneuerung“, in: NHM 8/1968, S. 39–40, hier S. 39. 2 O. Verf., „Die Stadt von morgen“, in: Vorwärts (Köln), 9.11.1966. 3 Hamburgisches Architekturarchiv, HAA_Fahrenholtz_Christian_S_059/01. 4 Victor Gruen, „Die Wiederbelebung unserer Stadtkerne“, in: NHM 8/1968, S. 1–10, hier S. 6–7. Vgl. Baues 1991, S. 194. 5 Ebd., S. 194; Ulrich Conrads, „Debau 66. Warten auf übermorgen“, in: Bauwelt 10/1966, S. 1175–1177. 6 Vorwärts (Köln), 9.11.1966. 7 O. Verf., „Das Alsterzentrum“, in: NHM 10/1966, S. 2–16, hier S. 6–7. 8 Konwiarz 1966., S. 914. 9 Ebd. 10 O. Verf., „Das Alsterzentrum“, in: NHM 10/1966, S. 2–16, hier S. 6–7. 11 Ebd., S. 9. 12 Baues 1991, S. 198. 13 O. Verf., „Hamburgs Luftschlösser. Der Hamburg-Traum von 1966: Manhattan an der Alster!“, in: Hamburger Abendblatt, 20.11.2014. 14 Vgl. Baues 1991, S. 198.

L ITERATU R NHM 10/1966, S. 2–16; NHM 11/1966, S. 1–8; NHM 12/1966, S. 1–14; NHM 2/1968, S. 26–36; NHM 8/1968, S. 1–10 u. S.  39–40; NHM 11/1974, S. 16–28; Neue Heimat Gemeinnützige Wohnungs- und Siedlungsgesellschaft m.b.H., Das Alsterzentrum, Ein Vorschlag zur Erneuerung des Hamburger Stadtteils St. Georg, Hamburg 1966 (Broschüre) // Hans Konwiarz, „Für Hamburg St. Georg, Stadtteil komplett“, in: Bauwelt 32/1966, S. 913–914; o. Verf., „Stadt in der Stadt“, in: Der Spiegel 29/1966, H. 29, S. 80–81; Norbert Baues, „Konkrete Stadtutopie – Alsterzentrum in St. Georg“, in: Ulrich Höhns (Hg.), Das ungebaute Hamburg, Hamburg 1991, S. 188–199.

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ALSTERZENTRUM

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