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German Pages 280 [282] Year 2022
Die Moskauer StrelitzenRevolte 1682 Diplomatische Spionage, Nachrichtenverkehr und Narrativentransfer zwischen Russland und Europa Geschichte
Gleb Kazakov
Franz Steiner Verlag Quellen und Studien zur Geschichte des östlichen Europa Herausgegeben vom Verband der Osteuropahistorikerinnen und -historiker e.V.
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Quellen und Studien zur Geschichte des östlichen Europa Begründet von Manfred Hellmann weitergeführt von Erwin Oberländer, Helmut Altrichter, Dittmar Dahlmann, Ludwig Steindorff, Jan Kusber und Julia Obertreis. In Verbindung mit dem Vorstand des Verbandes der Osteuropahistorikerinnen und -historiker e.V. herausgegeben von Martin Aust. Band 91
Die Moskauer Strelitzen-Revolte 1682 Diplomatische Spionage, Nachrichtenverkehr und Narrativentransfer zwischen Russland und Europa Gleb Kazakov
Franz Steiner Verlag
Umschlagabbildung: Kupferstich „Die Moscowitische Revolte“, ca. 1682. Private Sammlung von Reinhard Frötschner. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2021 Dissertation an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg i. Br., 2018 Layout, Satz und Herstellung durch den Verlag Druck: Beltz Grafische Betriebe, Bad Langensalza Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-12981-7 (Print) ISBN 978-3-515-12982-4 (E-Book)
Danksagung Dieses Buch beruht auf der Dissertationsschrift, an der ich im Rahmen des internationalen Graduiertenkollegs 1956 an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg in den Jahren von 2014 bis 2018 gearbeitet habe. Der Weg von der anfänglich eingereichten Projektskizze und den ersten Leseübungen in der Kurrentschrift des 17. Jahrhunderts bis zum abgeschlossenen Manuskript war ein langer. Ganz herzlich möchte ich mich bei all den Menschen bedanken, die mich und mein Forschungsvorhaben auf diesem Weg unterstützt und das finale Resultat maßgeblich beeinflusst haben. Meinem Erstbetreuer Professor Dietmar Neutatz danke ich für das stete Vertrauen in das Forschungsprojekt und die angenehme vertrauensvolle Atmosphäre des Betreuungsverhältnisses, die sich jeder Doktorand nur wünschen kann. Mein Zweitbetreuer Professor Andreas Gelz half mir bei der theoretischen Konzeption der Arbeit mit seinen wertvollen Hinweisen zu Mediengeschichte und Medientheorie sehr. Die vielen Archivaufenthalte, die für die Erforschung der grenzübergreifenden Kommunikation von Nöten waren, wären ohne die großzügige Unterstützung seitens des Graduiertenkollegs nicht möglich gewesen. Ich möchte mich bei der Leiterin des IGK Professorin Elisabeth Cheauré für das hervorragende internationale deutsch-russische Projekt mit großartigen Arbeitsbedingungen bedanken, in dem ich auch meine Dissertation konzipieren und bereitstellen durfte. Ich schätze sehr, in einem engagierten Team von Doktoranden und Doktorandinnen gearbeitet zu haben, und danke allen meinen Kollegen für inspirierende Diskussionen und gegenseitige Hilfe. Besonderer Dank gilt Dr. Charlotte Kraus, die unser kleines Team stets motiviert und durch die Praxis der akademischen Arbeit als Postdocangestellte hervorragend begleitet und betreut hat. Mein Interesse an der grenzübergreifenden und vergleichenden Revoltenforschung der Frühen Neuzeit habe ich Dr. Malte Griesse zu verdanken, der mich mit seiner energischen Unterstützung zum Verfassen der ersten Skizze des Forschungsvorhabens angeregt hat. Wertvolle Forschungstipps und Verweise auf Archivmaterial zur Geschichte der Strelitzen-Rebellionen leitsteten Prof. Aleksandr Lavrov (Paris) und Dr. Stepan Šamin (Moskau), denen mein unermesslicher Dank gilt. Unsere inspirierenden Gespräche und Ideenaustausch in Konferenzräumen und Cafés in Paris, Köln und Moskau weiß ich sehr zu schätzen.
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Danksagung
Bei der Arbeit in Archiven und Bibliotheken wurde ich von vielen Kollegen unterstützt und bedanke mich für ihre zahlreichen Tipps und Hilfeleistungen. Mein Dank gilt Vjačeslav Žukov und Viktor Borisov (RGADA, Moskau), Jurij Beljankin (RGB, Moskau) und Nikita Bašnin (Sankt Petersburg). Ingrid Maier, mit der zusammen ich mehrere Aufsätze publiziert habe, half mir mit vielen Hinweisen zu Archivbeständen in Stockholm und Uppsala und teilte ihre Arbeitserfahrung mit deutschen Zeitungen des 17. Jahrhunderts gerne mit mir. Die wertvollen Kommentare und Anregungen, die ich durch die Teilnahme an den Forschungskolloquien des Instituts für europäische Geschichte (IEG) in Mainz und des Deutschen historischen Instituts (DHI) in Moskau sowie an den Lehrstühlen für osteuropäische Geschichte der Universitäten in Mainz, Göttingen und Bonn bekommen habe, halfen mir meine Forschung voranzubringen und mein Projekt zu präzisieren. Durch die Stipendien des IEG und des DHI Moskau bekam ich die Möglichkeit, die Vervollständigung meines Arbeitsmanuskripts zu Ende zu bringen. Prof. Thomas Bohn und dem Lehrstuhl für russische und sowjetische Geschichte an der Justus-Liebig-Universität in Gießen bin ich für den großzügigen Druckkostenzuschuss unendlich dankbar. Außerdem möchte ich mich ganz herzlich bei allen meinen Freunden und Kollegen bedanken, die die Zeit gefunden haben, meine Dissertationsschrift zu kommentieren und zu lektorieren: Laura Ritter, Katja Plachov, Manuel Geist, Steven Müller und Anna Coker.
Inhalt I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Bestimmung des Untersuchungsgegenstandes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.1 Vormoderne Revolten als Kommunikationsprozesse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.2 Die Strelitzen-Revolte 1682 im Fokus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Fragestellung und theoretischer Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.1 Kommunikationsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.2 Transfer und Verflechtung von Narrativen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Quellen und Forschungstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.1 Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.2 Forschungsstand. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4 Aufbau der Arbeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5 Bemerkungen zu Begriffen und Datierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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II. Historischer Hintergrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 2.1 Russland und Europa um 1682 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 2.2 Übersicht der Ereignisse 1682–1698 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 III. Tradierung der Narrative über den Strelitzen-Aufstand in Russland, 1682–1750 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Die Narrative der Aufständischen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Narrative aus der Zeit der Regentschaft von carevna Sof ’ja . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Strelitzen-Aufstand bei den Autoren der petrinischen und post-petrinischen Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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IV. Der Strelitzen-Aufstand in der diplomatischen Kommunikation 1682–1684 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 4.1 Berichte der russischen Kuriere im Jahr 1682 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 4.2 Dänemark . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 4.2.1 Heinrich Butenants Briefe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 4.2.2 Die Mission Hildebrand von Horns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 4.3 Die Niederlande . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 4.4 Brandenburg-Preußen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122
8 4.5 4.6 4.7 4.8
Inhalt
Frankreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schweden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Polen-Litauen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diplomatische Berichterstattung über den Strelitzen-Aufstand: Informationsnetzwerke, Effizienz und Erklärungsstrategien . . . . . . . . . . . . . . . . .
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V. Der Strelitzen-Aufstand in der europäischen frühmodernen Öffentlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 5.1 Das Mediensystem der Frühen Neuzeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 5.2 Heinrich Butenants Bericht: das Schicksal einer Flugschrift . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 5.3 Die Berichte der europäischen Zeitungen über die Strelitzen-Revolte . . . . . . . . 191 5.3.1 Überblick über die Presselandschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 5.3.2 Informationskanäle und Korrespondenten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 5.3.3 Der Strelitzen-Aufstand im Spiegel der Zeitungsberichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 5.3.4 Rezeption der europäischen Presseberichte in Moskau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 5.4 Narrative über den Aufstand in der europäischen Publizistik: von den ersten Messrelationen bis Mitte des 18. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . 216 5.5 Verflochtene Narrative: der Strelitzen-Aufstand in der grenzübergreifenden Kommunikation zwischen Russland und dem Westen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234 VI. Fazit: Netzwerke, Praktiken und Narrative der grenzübergreifenden Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 Glossar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248 Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 Quellen- und Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250
I. Einleitung 1.1 Bestimmung des Untersuchungsgegenstandes 1.1.1 Vormoderne Revolten als Kommunikationsprozesse Revolten sind nicht nur komplizierte politische und soziale Ereignisse, sondern auch intensive Kommunikationsprozesse. Diese Idee liegt der vorliegenden Studie zugrunde. Egal ob die Rede von einer zeitgeschichtlichen Revolution oder einem vormodernen Aufstand ist, beide laufen auf mehreren Kommunikationsebenen ab. Die Aufständischen stellen ihre Forderungen an die Obrigkeiten, die Machthaber versuchen ihrerseits mit Strafandrohungen an die Insurgenten heranzugehen und schließlich appellieren die beiden konkurrierenden Kräfte an die Masse der Bevölkerung, die sich noch keiner Seite angeschlossen hat. Dieses innenpolitische System der Kommunikationsprozesse soll hier allerdings noch um die grenzübergreifende Dimension erweitert werden – die Kommunikation mit außenstehenden, ausländischen Beobachtern. Die Rolle von außenpolitischen Interessen und internationaler Beobachtung in der Geschichte von Protestbewegungen scheint in der heutigen Zeit, die von Globalisierungsprozessen geprägt ist, selbstverständlich. Aber auch die frühneuzeitlichen politischen Unruhen und Aufstände zogen im Ausland Aufmerksamkeit auf sich und wurden von zahlreichen externen Beobachtern, Reisenden und Diplomaten beschrieben.1 Diplomaten und Staatsmänner interessierten sich für die Revolten, weil ein gegnerisches Reich dadurch geschwächt werden konnte oder weil man sich vor einer ‚Ansteckung‘ durch rebellische Ideen fürchtete. Für Kaufleute waren solche Informationen von Bedeutung, weil sie schwere Folgen für das Handelsgeschäft mit sich brachten. Frühneuzeitliche Gelehrte und Publizisten wandten sich der Beschreibung von Revolten in verschiedenen Reichen und Ländern zu, um Schlussfolgerungen über die
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Siehe dazu Malte Griesse: Introduction: Representing Revolts Across Boundaries in Pre-Modern Times, in: Malte Griesse (Hrsg.): From Mutual Observation to Propaganda War: Premodern Revolts in Their Transnational Representations. Bielefeld 2014 (= Histoire 56), S. 7–33.
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Einleitung
Vor- und Nachteile unterschiedlicher Regierungsformen ziehen und allgemeine Gesetzmäßigkeiten im Verlauf der Geschichte entdecken zu können. In der russischen Geschichtswissenschaft wurden die Berichte der Ausländer – überwiegend westeuropäischer Reisenden – bereits von den Historikern des 19. Jahrhunderts zur Erforschung frühneuzeitlicher Unruhen in Russland herangezogen, da das einheimische Quellenmaterial oft nicht ausreichend überliefert war. Die besondere Sensibilität der europäischen und amerikanischen Geschichtswissenschaft für die Fälle der grenzübergreifenden Wahrnehmung und Aufzeichnung von frühneuzeitlichen Revolten erwuchs ihrerseits vor allem während der wissenschaftlichen Debatte über die „allgemeine Krise des 17. Jahrhunderts“ (general crisis of the seventeenth-century), unter der man eine Serie von sozialen Tumulten und Rebellionen verstand, die europäische vormoderne Staaten von Spanien bis nach Schweden und Russland zwischen 1590 und 1660 heftig erschüttert hatten.2 Historiker, die sich in den 1960erbis 1980er-Jahren auf die Suche nach den wirtschaftlichen und sozialen Ursachen der „allgemeinen Krise“ begaben, entdeckten, dass sich die zeitgenössischen Beobachter durchaus schon im 17. Jahrhundert bewusst waren, dass die verschiedenen Revolten oft Ähnlichkeiten aufwiesen und verglichen werden konnten.3 Die beiden erwähnten Zugänge zur frühneuzeitlichen grenzübergreifenden Wahrnehmung von Revolten lenkten ihre Aufmerksamkeit jedoch weniger auf den kommunikativen Aspekt des Problems. Die russischen und sowjetischen Historiker suchten in ihrer positivistischen Vorgehensweise hauptsächlich nach „wahrhaften“ Details und konkreten Daten in den Berichten der ausländischen Beobachter und ließen Aspekte wie Organisation und Verlauf der Informationsverbreitung oder interkulturelle Übersetzungs- und Deutungsprozesse außer Acht. In der westlichen Historiografie wurde in der Diskussion über die „allgemeine Krise“ zwar das Interesse der Europäer des 17. Jahrhunderts an grenzübergreifender Revoltenbeobachtung postuliert, es wurde aber die Untersuchung von sozialen und wirtschaftlichen Gründen für die Rebellionen in den Vordergrund gestellt und nicht die Frage, wie eine Revolte in Raum und Zeit kommuniziert werden konnte.4 Das Ziel der hier unternommenen Studie ist aber 2
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Zur Diskussion über the general crisis of the seventeenth-century vgl. die Beiträge in den Sammelbänden: Geoffrey Parker und Lesley M. Smith (Hrsg.): The General Crisis of the Seventeenth Century. London 1978; Trevor H. Aston (Hrsg.): Crisis in Europe 1560–1660: Essays from „Past and Present“. London 1965; sowie die Monografien: Hugh R. Trevor-Roper: The Crisis of the Seventeenth Century: Religion, the Reformation and the Social Change. New York [u. a.] 1968; Theodore K. Rabb: The Struggle for Stability in Early Modern Europe. New York 1975. Siehe v. a. die Beispiele in Parker/Smith (Hrsg.): The General Crisis of the Seventeenth Century, S. 1–3. Über die sozialwirtschaftlichen Voraussetzungen des Aufruhrs im vormodernen Europa siehe die vergleichenden Studien von Eric J. Hobsbawm: The Crisis of the Seventeenth Century, in: Trevor H. Aston (Hrsg.): Crisis in Europe 1560–1660: Essays from „Past and Present“. London 1965, S. 5–59; Jack A. Goldstone: Revolution and Rebellion in the Early Modern World. Berkeley [u. a.] 1991; Charles Tilly: European Revolutions. 1492–1992. Oxford 1993.
Bestimmung des Untersuchungsgegenstandes
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gerade dies: eine konkrete Revolte als Ausgangspunkt zu nehmen und sie als Kommunikationsanlass und Kommunikationsgegenstand zu untersuchen. Sie wird dabei zu einem Kommunikationsereignis; ins Zentrum des Interesses rücken deshalb Problemfelder wie Wege, Netzwerke und Akteure der Wissensverbreitung, Erklärungsstrategien der Beobachter, Instrumentalisierung des erworbenen Wissens in der Politik und der Diplomatie sowie die Wahrnehmung der Revolte im öffentlichen Diskurs. 1.1.2 Die Strelitzen-Revolte 1682 im Fokus Im Mittelpunkt dieser Arbeit steht der Strelitzen-Aufstand des Jahres 1682, der in Moskau im Mai begann und bis November des gleichen Jahres größtenteils niedergeschlagen wurde, obwohl seine mediale Resonanz noch weit in die 1680er-Jahre und sogar bis Mitte des 18. Jahrhunderts wirksam blieb. In die russische Kultur ist dieses Ereignis unter dem Namen Chovanščina eingegangen und ist heute hauptsächlich dank der berühmten gleichnamigen Oper des russischen Komponisten Modest Musorgskij bekannt.5 Die Auswahl des Strelitzen-Aufstands als zentrales Ereignis dieser Arbeit bedarf sicherlich einer kurzen historischen Kontextualisierung. In der russischen Geschichte des 17. Jahrhunderts mangelte es nicht an Unruhen und Rebellionen, sodass diese Epoche sogar unter der Bezeichnung „aufrührerisches Jahrhundert“ (buntašnyj vek) in die Geschichte eingegangen ist. Zu den größten zählen die Zeit der Wirren 1603–1613,6 der Aufstand Stepan Razins 1667–16717 oder die Stadtrevolten Mitte des 17. Jahrhunderts.8 Der Strelitzen-Aufstand 1682 ist jedoch im großen Narrativ der russi5
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Als Chovanščina wurde der Strelitzen-Aufstand in der Historiografie wegen des Namens seines angeblichen Anführers – Fürst Ivan Chovanskij – betitelt. Der Begriff Chovanščina kann als „Herrschaft von Chovanskij“ ins Deutsche übersetzt werden, er verweist jedoch gleichzeitig auf den rebellischen illegitimen Charakter dieser Herrschaft, vgl. mit anderen russischen Aufstandsbezeichnungen mit dem Suffix „-ščina“: Razinščina – „der Aufstand von Stepan Razin“, Pugačёvščina – „der Aufstand von Emel’jan Pugačev“. Das Sujet der Oper von Modest Musorgskij weicht sehr stark von den historischen Ereignissen ab und vermischt Begebenheiten von verschiedenen Strelitzen-Unruhen aus den Jahren 1682, 1689 und 1698. Über die Geschichte der Zeit der Wirren siehe ausführlicher Ruslan G. Skrynnikov: The Time of Troubles: Russia in Crisis, 1604–1618, übers. von Hugh F. Graham. Gulf Breeze 1988 (= The Russian series 36); Chester S. L. Dunning: Russia’s First Civil War: The Time of Troubles and the Founding of the Romanov Dynasty. University Park 2001. Siehe die Übersichtsdarstellungen des Aufstands von Stepan Razin bei Paul Avrich: Russian Rebels, 1660–1800. New York 1972; V. I. Buganov: Razin i razincy. Dokumenty, opisanija sovremennikov. Moskva 1995; Stefan Schleuning und Ralph Tuchtenhagen: Der Kosaken-Aufstand unter Stepan Razin 1667–1671, in: Heinz-Dietrich Löwe (Hrsg.): Volksaufstände in Rußland. Von der Zeit der Wirren bis zur „Grünen Revolution“ gegen die Sowjetherrschaft. Wiesbaden 2006 (= Forschungen zur osteuropäischen Geschichte 65), S. 131–162. Zu den bekanntesten Moskauer Stadtrevolten zählen der Salz-Aufstand 1648 und der Kupfer-Aufstand 1662, siehe darüber ausführlicher K. V. Bazilevič: Gorodskie vosstanija v Moskovskom gosudarstve XVII v. Moskva & Leningrad 1936; Valerie A. Kivelson: The Devil Stole His Mind:
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Einleitung
schen Geschichte v. a. durch die Rolle bekannt, die er in der Biografie des ersten Russischen Imperators und berühmten Gönners des Westens, Peters des Großen, gespielt hat. Der Aufstand der Strelitzen, d. h. der Infanterie-Militärgarde der russischen Zaren, brach im Mai 1682 nach dem Tod des Zaren Fedor Alekseevič aus. Da der Zar keine Kinder hinterließ, sollte entweder sein Bruder Ivan oder sein Halbbruder Peter zu seinem Nachfolger gewählt werden. Beide hatten rivalisiernde Gruppierungen von Anhängern hinter sich. Da Ivan jedoch körperlich behindert war, zog man den neunjährigen Peter vor. Diese Entscheidung provozierte die Meuterei der Strelitzen, die den Kreml am 15. Mai stürmten und viele Regierungsmitglieder sowie Peters Verwandte massakrierten. Die Rebellen forderten die Krönung beider Brüder und führten ungefähr ein halbes Jahr lang die Moskauer Regierung nach ihren eigenen Bedingungen. Erst im Herbst 1682 wurde der Aufstand unter der Leitung von carevna (Prinzessin) Sof ’ja, der älteren Schwester Ivans, niedergeschlagen. Sof ’ja etablierte sich für die nächsten sieben Jahre als Vormundin und semi-offizielle Regentin an der Seite der beiden minderjährigen Zaren. Während Sof ’jas Regentschaft rühmten ihre Anhänger ihre Rolle beim Kampf gegen die Revolte. Der plötzliche Machtgewinn Sof ’jas führte jedoch bereits einige Jahre später zu der Vermutung, die ganze Revolte sei im Vorhinein von Sof ’ja und ihren Anhängern geplant worden, um die Thronbesteigung Peters zu verhindern. Sof ’ja war auch Peters Halbschwester, Tochter der ersten Ehegattin des Zaren Aleksej Michajlovič, Marija Miloslavskaja; während Peter der Sohn seiner zweiten Frau, Natal’ja Naryškina, war. Diese Rivalität „Miloslavskijs vs. Naryškins“ war der Aspekt, unter dem der Aufstand dann von vielen Historikern behandelt wurde, also als Teil der Biografien Peters oder Sof ’jas. Die Abhandlungen kehrten immer wieder zu der Frage zurück: War Sof ’ja tatsächlich für die Ereignisse verantwortlich? Wer oder was hat den Aufstand provoziert? Die vorliegende Arbeit richtet hingegen den Fokus der Untersuchung auf folgende Fragen: Welche Informationen über das Geschehene verbreiteten sich? Wie schnell und über welche Kanäle geschah dies? Welchen Einfluss hatte dieser Wissenstransfer auf den politischen Diskurs? Die Rebellion in der Hauptstadt eines großen Reiches, die Ermordung von vielen Regierungsmitgliedern, die generell wirren Umstände im Land und die ungewöhnliche Situation der Doppelherrschaft (und dazu noch eine Frau als Mit-Regentin) waren ohne Zweifel für die Zeit ein sehr heikles, aber auch ein sehr kontroverses und Aufmerksamkeit erregendes Thema. Dies machte den Strelitzen-Aufstand 1682 zum Gegenstand des Interesses und der Polemik vieler zeitgenössischer Beobachter und Autoren. Bereits während des Aufstands wurden die ersten Versuche unternommen, die Ereignisse zu interpretieren und in einen bestimmten Diskurs ein-
The Tsar and the 1648 Moscow Uprising, in: The American Historical Review 98 (1993), Nr. 3, S. 733–756.
Bestimmung des Untersuchungsgegenstandes
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zuordnen. In den nachfolgenden zwanzig Jahren bediente sich jede der in Russland um die Macht kämpfenden politischen Parteiungen der Erinnerung an die Revolte, um die eigene Rolle hervorzuheben. Im Ausland, hauptsächlich in Westeuropa, verursachte der Aufstand ebenfalls ein Medienecho und wurde von vielen zeitgenössischen Beobachtern und Autoren mitunter polemisch kommentiert. Diplomatische Agenten berichteten über die Unruhe nach Schweden, Dänemark, Polen, Frankreich, Brandenburg und in die Niederlande. Entsprechende Informationen erschienen in vielen deutschsprachigen Zeitungen und Druckschriften. Diese Umstände erlauben es, über den Strelitzen-Aufstand als ein internationales Medienereignis zu sprechen. Die Intention, die Kommunikationsgeschichte einer russischen Revolte der Frühneuzeit zu untersuchen, zielt außerdem darauf ab, die traditionelle Vorstellung vom Russischen Reich vor den modernisierenden Reformen Peters des Großen als einem von der Außenwelt abgegrenzten Raum zu hinterfragen. Tatsächlich wurde das russische „aufrührerische“ Jahrhundert in der frühneuzeitlichen vergleichenden Revoltenforschung, die aus der Debatte über die allgemeine Krise des 17. Jahrhunderts erwuchs, nur am Rande behandelt.9 Auch die meisten in den letzten Jahrzehnten entstandenen Untersuchungen zur Kommunikationsgeschichte der frühneuzeitlichen Revolten betrafen bisher üblicherweise die klassischen westeuropäischen Gebiete wie Großbritannien, Frankreich, die Niederlande, das Heilige Römische Reich und die Schweiz, während die russischen innenpolitischen Ereignisse der gleichen Zeitperiode und deren europäisches Medienecho viel weniger in den Blick genommen wurden.10 Unter westlichen Frühneuzeithistorikern herrschte lange Zeit die Vorstellung, das Moskauer Reich sei von Informationsströmen und Nachrichtenverkehr exkludiert, was man mit einer zwar alten, jedoch immer noch gültigen Aussage des amerikanischen Forschers Bickford O’Brien über Russland im 17. Jahrhundert am besten illustrieren kann: „[…] unsatisfactory methods of gaining information, along with the general indifference of the West toward Moscow and the restrictive political and economic policies of Poland and Sweden, perpetuated the unhappy concept of a Muscovite hermit nation“.11 Die Zunahme des Interesses der Geschichtswissenschaft an kommunikationshistorischen 9 10
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Siehe eine gute Darstellung der Rolle Russlands in der allgemeinen Krise des 17. Jahrhunderts bei Robert O. Crummey: Muscovy and the General Crisis of the Seventeenth Century, in: Journal of Early Modern History 2 (1998), S. 156–180. Eine seltene Ausnahme bildet der Aufstand von Stepan Razin, über dessen Medienrummel in Europa kürzlich eine Reihe von Aufsätzen erschien, vgl. Gleb Kazakov: Sten’ka Razin als Held, „edler Räuber“ oder Verbrecher? Interpretationen und Analogien in den Ausländerberichten zum Kosakenaufstand, in: JGO 65 (2017), H. 1, S. 34–51; Ingrid Maier: How was Western Europe Informed about Muscovy? The Razin Rebellion in Focus, in: Simon Franklin und Katherine Bowers (Hrsg.): Information and Empire: Mechanisms of Communication in Russia, 1600–1850. Cambridge UK 2017, S. 113–151; G. M. Kazakov und Ingrid Maier: „Ottoman Razin“: Razin kak turok v nemeckoj pečati 1670–1671 gg., in: Drevnjaja Rus’. Voprosy medievistiki 72 (2018), Nr. 2, S. 95–107. Bickford O’Brien: Russia under two Tsars 1682–1689. The Regency of Sophia Alekseevna. Berkeley & Los Angeles 1952 (= University of California Publications in History 42), S. 85–86.
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Einleitung
Themen seit den 1980er-Jahren bereitete jedoch den Weg für neue Forschungen über kommunikative Verbindungen zwischen Russland und dem Westen in der Frühmoderne, die das alte Bild von der „Einsiedlernation“ (hermit nation) wesentlich infrage stellten.12 Neue Erkenntnisse gewann man über die Auswertung der Zirkulation von europäischen Druckschriften im vormodernen Russland sowie über Biografien und kommunikative Netzwerke von einzelnen in Moskau anwesenden Ausländern.13 Die Untersuchung des Medienechos und der Kommunikationsprozesse rund um den Strelitzen-Aufstand soll in diesem Sinne zu der weiteren Einbindung des späten Moskauer Reichs in das kommunikative System Europas beitragen. Was die zeitlichen Grenzen der Studie angeht, konzentriert sich die Untersuchung sehr detailliert auf die Ereignisse der Jahre 1682 bis 1684, die den Aufstand unmittelbar begleiteten bzw. ihm folgten, sie bezieht aber auch die Erzählung über den Aufstand in den Narrativen späterer Autoren wie Voltaire oder Lomonosov bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts mit ein. Obwohl der Fokus des Interesses vorwiegend auf den Aufstand 1682 fixiert bleibt, werden auch die späteren Tumulte der Strelitzen, nämlich die Revolten der Jahre 1689 und 1698, im Rahmen der Arbeit thematisiert und zur Analyse des Strelitzen-Diskurses in der russischen und der europäischen historisch-literarischen Tradition herangezogen. Der historische Kontext von diesen Rebellionen wird im Kapitel 2.2 vorgestellt. 1.2 Fragestellung und theoretischer Ansatz 1.2.1 Kommunikationsgeschichte Es ist bereits ersichtlich, dass die kommunikationshistorische Untersuchung einen wesentlichen Teil der Studie ausmacht. Deswegen spielt das theoretische Konzept der frühneuzeitlichen Kommunikationsgeschichte eine wichtige Rolle als Grundlage die-
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Für einen sehr gelungenen Versuch, sich der vormodernen Geschichte Russlands aus Sicht der Kommunikationsgeschichte anzunähern, siehe die Beiträge des vor Kurzem erschienenen Sammelbandes von Simon Franklin und Katherine Bowers (Hrsg.): Information and Empire: Mechanisms of Communication in Russia, 1600–1850. Cambridge UK 2017. Über die europäischen Druckschriften im Russland des 17. Jahrhunderts vgl. Ingrid Maier: Presseberichte am Zarenhof im 17. Jahrhundert: Ein Beitrag zur Vorgeschichte der gedruckten Zeitung in Russland, in: Jahrbuch für Kommunikationsgeschichte 6 (2004), S. 103–129; Ingrid Maier (Hrsg.): Vesti-Kuranty. 1656 g., 1660–1662 gg., 1664–1670 gg. Bd. 2. Inostrannye originaly k russkim tekstam. Moskva 2008; S. M. Šamin: Kuranty XVII stoletija. Evropejskaja pressa v Rossii i vozniknovenie russkoj periodičeskoj pečati. Moskva & Sankt-Peterburg 2011; über die kommunikativen Netzwerke von Ausländern im Moskauer Reich vgl. z. B. die Studie von Daniel C. Waugh über die Korrespondenz des schottischen Generals im zarischen Dienst Patrick Gordon: Daniel C. Waugh: Rasprostranenie novostej v Rossii XVII v.: epistoljarnyj opyt Patrika Gordona, in: Quaestio Rossica 3, 4 (2015), S. 119–140, 130–144.
Fragestellung und theoretischer Ansatz
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ser Arbeit. Kommunikationsgeschichte ist zweifelsohne ein sehr weites Forschungsfeld, deswegen muss die Anlehnung an ihre Theorie und Methoden erläutert werden. Besonders seit den späten 1980ern erlebte diese Forschungsrichtung einen enormen Aufschwung, was sich nicht nur in der Anzahl der publizierten Einzelstudien und Sammelbände, sondern vielmehr in einer Umdeutung, einer der Verlegung des Forschungsfokus widerspiegelt.14 Anstelle der Geschichte von einzelnen getrennt behandelten Mediengenres (wie „Pressegeschichte“ oder „Buchdruckgeschichte“) wandte sich das Interesse hin zu dem Gesamtzusammenhang der Prozesse der menschlichen Kommunikation. Insbesondere die Geschichte der Kommunikation in der frühneuzeitlichen Epoche profitierte sehr von diesen Veränderungen im Forschungsfeld.15 In der Kommunikation entdeckte man die Kraft, die Gesellschaft und gesellschaftliche Ordnungen mitkonstruiert hatte, und man betrachtete sie als Gesamtkomplex, als ein Netzwerk von gesprochenen, geschriebenen und gedruckten Medien. Besondere Aufmerksamkeit wurde dabei der Frage geschenkt, wie Information bzw. Nachrichten produziert, verbreitet und rezipiert wurden.16 Ins Zentrum der Untersuchungen rückten die Verflechtungsprozesse zwischen geschriebenen und gedruckten Nachrichten,17 zwischen der Verbreitung der Postwege und der Verbreitung des Zeitungsnetzwerks,18 zwischen frühneuzeitlichem Journalismus und Diplomatie.19 Ein sehr wichtiger Schritt der neuen Kommunikationsgeschichte bestand darin, nach den Verknüpfungspunkten und der Wechselwirkung zwischen der Informati14
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Über die methodologische Ausrichtung der ‚neuen Kommunikationsgeschichte‘ siehe die verschriftlichten Ergebnisse einer Wiener Tagung: Manfred Bobrowsky, Wolfgang Duchkowitsch und Hannes Haas (Hrsg.): Medien- und Kommunikationsgeschichte. Ein Textbuch zur Einführung. Wien 1987 (= Studienbücher zur Publizistik- und Kommunikationswissenschaft 6). Eine gute Einführung in die aktuellen Tendenzen der Kommunikationsgeschichte der Frühneuzeit bieten die Beiträge des Sammelbands: Klaus-Dieter Herbst und Stefan Kratochwil (Hrsg.): Kommunikation in der Frühen Neuzeit. Frankfurt am Main 2009. Vgl. Andrew Pettegree: The Invention of the News: How the World Came to Know About Itself. New Haven & London 2014; Joad Raymond und Noah Moxham (Hrsg.): News Networks in Early Modern Europe. Leiden & Boston 2016 (= The Handpress World 35); Siv Gøril Brandtzæg, Paul Goring und Christine Watson (Hrsg.): Travelling Chronicles: News and Newspapers from the Early Modern Period to the Eighteenth Century. Leiden & Boston 2018 (= Library of the Written Word 66); Heiko Droste: Das Geschäft mit Nachrichten. Ein barocker Markt für soziale Ressourcen. Bremen 2018 (= Presse und Geschichte – neue Beiträge 122). Holger Böning: Handgeschriebene und gedruckte Zeitung im Spannungsfeld von Abhängigkeit, Koexistenz und Konkurenz, in: Volker Bauer und Holger Böning (Hrsg.): Die Entstehung des Zeitungswesens im 17. Jahrhundert. Ein neues Medium und seine Folgen für das Kommunikationssystem der Frühen Neuzeit. Bremen 2011 (= Presse und Geschichte – neue Beiträge 54), S. 23–56. Wolfgang Behringer: Im Zeichen des Merkur: Reichspost und Kommunikationsrevolution in der Frühen Neuzeit. Göttingen 2003; Wolfgang Behringer: Das Netzwerk der Netzwerke. Raumportionierung und Medienrevolution in der Frühen Neuzeit, in: Johannes Arndt und Esther-Beate Körber (Hrsg.): Das Mediensystem im Alten Reich der Frühen Neuzeit (1600–1750). Göttingen 2010 (= Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, Beiheft 75), S. 39–57. Helmer Helmers: Public Diplomacy in Early Modern Europe, in: Media History 22 (2016), Nr. 3–4, S. 401–420.
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Einleitung
onszirkulation und der Politik in der Frühen Neuzeit zu fragen.20 Tatsächlich hingen die Entscheidungen politischer Akteure der Vormoderne von dem Wissen über bestehende Bündnisse, Kriege und Handelswege ab. Die Politik war deswegen ständig auf den Erwerb und die Auswertung von neuen Informationen angewiesen. Gleichzeitig wurde für die Obrigkeiten schädliche oder unerwünschte Information zensiert und verfolgt. Ein produktives Forschungsfeld stellen dabei Kommunikationsprozesse rund um politische Unruhen dar, denn Aufstände und Verschwörungen boten einen besonderen Anlass zu Kommunikationsgefechten und propaganda wars und bilden dadurch gewisse ‚Verdichtungsknoten‘ der politischen Kommunikation.21 Dies betrifft sowohl die Kommunikation innerhalb eines von einer Revolte erfassten Reichs, als auch das außenpolitische Interesse an dieser Revolte vonseiten anderer Staaten. Man kann hauptsächlich von zwei Forschungstendenzen bzw. Methoden in der Erforschung der frühneuzeitlichen politischen Kommunikation sprechen. Die erste Richtung beschäftigt sich mit der Repräsentation der Politik, inklusive der zahlreichen Aufstände und Revolten, in den frühneuzeitlichen gedruckten Massenmedien – Flugblättern, Flugschriften und Zeitungen – sowie mit den Fragen der Wirkung dieser Medien auf die frühmoderne Öffentlichkeit und deren Zensur.22 Hier wird untersucht, wie vormoderne Druckmedien auf Revolten reagierten und wie sie von verschiedenen politischen Kräften für Propagandazwecke benutzt werden konnten. Die andere Gruppe von Studien nimmt dagegen die geheimen Berichte der frühneuzeitlichen diplomatischen Agenten in den Blick und fragt nach deren Einfluss auf die politischen Entscheidungen, die Wissensproduktion und die herrschenden politischen Narrative.23 Auch im Bereich der osteuropäischen und der russischen Geschichte gewinnt die20
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Über die politische Dimension der Kommunikationsgeschichte siehe Brendan Dooley und Sabrina A. Baron (Hrsg.): The Politics of Information in Early Modern Europe. London & New York 2001 (= Routledge Studies in Cultural History); über die Beobachtung von Politik durch frühneuzeitliche Druckmedien vgl. Rudolf Schlögl: Politik beobachten. Öffentlichkeit und Medien in der Frühen Neuzeit, in: Zeitschrift für Historische Forschung 35 (2008), H. 4, S. 581–616. Dooley/Baron (Hrsg.): The Politics of Information, S. 4. Siehe auch die Beiträge des Sammelbandes Malte Griesse (Hrsg.): From Mutual Observation to Propaganda War: Premodern Revolts in Their Transnational Representations. Bielefeld 2014 (= Histoire 56). Siehe z. B. die Studien: Günter Berghaus: Die Aufnahme der englischen Revolution in Deutschland 1640–1669, Bd. I. Studien zur politischen Literatur und Publizistik im 17. Jahrhundert mit einer Bibliographie der Flugschriften. Wiesbaden 1989; Andreas Würgler: Unruhen und Öffentlichkeit: Städtische und ländliche Protestbewegungen im 18. Jahrhundert. Tübingen 1995 (= Frühneuzeit-Forschungen 1); Jason Peacey: Politicians and Pamphleteers: Propaganda during the English Civil Wars and Interregnum. Aldershot 2004; Andreas Würgler: Revolts in Print: Media and Communication in Early Modern Urban Conflicts, in: Rudolf Schlögl (Hrsg.): Urban Elections and Decision-Making in Early Modern Europe, 1500–1800. Newcastle upon Tyne 2009, S. 257–275. Siehe dazu die Beiträge der Sammelbände: Hillard von Thiessen und Christian Windler (Hrsg.): Akteure der Außenbeziehungen. Netzwerke und Interkulturalität im historischen Wandel. Köln [u. a.] 2010 (= Externa – Geschichte der Außenbeziehungen in neuen Perspektiven 1); Guido Braun (Hrsg.): Diplomatische Wissenskulturen der Frühen Neuzeit: Erfahrungsräume und Orte der Wissensproduktion. Berlin 2018 (= Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts
Fragestellung und theoretischer Ansatz
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ser kommunikationshistorische Ansatz an Popularität, so ist in den letzten zehn Jahren ein rasant steigendes Interesse an der Berichterstattung und den Netzwerken europäischer Diplomaten im russischen Kaiserreich des 18. Jahrhunderts in der Forschung zu verzeichnen.24 Das 17. Jahrhundert der russischen Geschichte stellt im Vergleich zur Epoche der Aufklärung in diesem Hinblick noch ein Desiderat dar. In dieser Studie werden nun die beiden vorgestellten Zugänge eingesetzt. Es wird also untersucht, wie sich die Strelitzen-Revolte sowohl in der geheimen diplomatischen Korrespondenz als auch in den öffentlichen Druckschriften widerspiegelt und welche Rolle diese Medien bei der Konstruktion und der Tradierung der Narrative über den Strelitzen-Aufstand spielten. Dabei werden die diplomatische Berichterstattung und die vormoderne Öffentlichkeit nicht separat betrachtet, sondern vielmehr in Verbindung zueinander gestellt, da Briefe von diplomatischen Agenten häufig den Weg in die gedruckte Periodik fanden, und umgekehrt die Envoyés sich beim Erwerb von Information nicht selten auf die Zeitungsabonnements verlassen mussten. Die vorliegende Arbeit zeigt, wie, über welche Kanäle und Akteure sich das Wissen über den Strelitzen-Aufstand grenzübergreifend verbreitet hat. Es wird verdeutlicht, welche kommunikativen Verbindungen und welche Möglichkeiten der Informationsübertragung es zwischen Russland und Westeuropa 1682 gab. Analysiert werden ausländische Residenten und Agenten, die in Moskau und in anderen russischen Städten anwesend waren, ihre Informationsnetzwerke, Quellen und Strategien zur Wissensbeschaffung. Die Studie soll auch zeigen, wie genau die erworbenen Informationen in den Westen gelangten, über welche Medien und geografischen Orte, und wie schnell sich unterschiedliche Nachrichten verbreiteten. Besondere Bedeutung soll der Frage nach dem Umgang mit eingehenden Berichten im Westen zuteil werden: Wie wurde die Information über die Unruhe im Moskauer Reich an den europäischen Herrschaftshöfen politisch instrumentalisiert, welchen Einfluss nahmen die Nachrichten
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in Rom 136); sowie auch die Studien: Heiko Droste: Im Dienst der Krone: schwedische Diplomaten im 17. Jahrhundert. Berlin 2006 (= Nordische Geschichte 2); Heidrun Kugeler: „Ehrenhafte Spione“. Geheimnis, Verstellung und Offenheit in der Diplomatie des 17. Jahrhunderts, in: Claudia Benthien und Steffen Martus (Hrsg.): Die Kunst der Aufrichtigkeit im 17. Jahrhundert. Tübingen 2006 (= Frühe Neuzeit 114), S. 127–148. Vgl. die Studien: Gunda Barth-Scalmani, Harriet Rudolph und Christian Steppan (Hrsg.): Politische Kommunikation zwischen Imperien: Der diplomatische Aktionsraum Südost- und Osteuropa. Innsbruck [u. a.] 2013 (= Innsbrucker Historische Studien 29); Christian Steppan: Akteure am fremden Hof: politische Kommunikation und Repräsentation kaiserlicher Gesandter im Jahrzehnt des Wandels am russischen Hof (1720–1730). Göttingen 2016 (= Schriften zur politischen Kommunikation 22). Für eine gute Übersicht der Forschungsliteratur über europäische Diplomaten im Russland des 18. Jahrhunderts siehe auch die Einleitung von Franziska Schedewie zum am Deutschen Historischen Institut (DHI) in Moskau durchgeführten Online-Publikationsprojekt: Franziska Schedewie: Relationen vom russischen Hof. Berichte europäischer Diplomaten, 1690– 1730. Einleitung zur Edition, in: Relationen vom russischen Hof. Berichte europäischer Diplomaten, 1690–1730 (2016), https://quellen.perspectivia.net/de/russische_relationen/introduction (abgerufen am 15.12.2020).
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auf politische Entscheidungsprozesse? Schließlich ist der Frage nachzugehen, was genau und durch welche Kanäle die russische Regierung von den im Ausland zirkulierenden Nachrichten wusste, und wie sie auf diese Informationen reagierte bzw. sie zu steuern versuchte. 1.2.2 Transfer und Verflechtung von Narrativen Diese Arbeit untersucht jedoch nicht nur, wie die grenzübergreifende Kommunikation über die Strelitzen-Revolte verlief, sondern stellt auch die Frage: Welche politischen Narrative, Vorstellungen und Begriffe über den Strelitzen-Aufstand wurden zwischen Europa und Russland übermittelt und ausgetauscht? Dem Begriff „Narrativ“ wird im Rahmen dieser Studie eine Schlüsselrolle zugewiesen. Seinen Ursprung hat er in der literaturwissenschaftlichen Erzähltheorie, wo er schon eine lange Tradition hat25 und hauptsächlich als literarische, vorwiegend fiktionale Erzählung verstanden wird. Die wichtigste These der narratologischen Theorie besteht darin, dass ein Narrativ sich durch seinen Konstruktionscharakter auszeichnet: Obwohl jede Erzählung eine bestimmte Fabel zur Grundlage hat, lässt sich dieselbe Fabel bzw. dasselbe Geschehen auf vielfache Weise erzählen, je nach Standpunkt und Intention des Erzählers. Den Anfang bei der Anwendung des narratologischen Ansatzes in der Geschichtswissenschaft machte in den 1970er-Jahren der amerikanische Historiker Hayden White.26 White befasste sich mit der Historiografiegeschichte des 19. Jahrhunderts und demonstrierte, wie ein historisches Ereignis – nämlich die Französische Revolution – in den Werken der französischen Historiker des 19. Jahrhunderts unterschiedlich erzählt bzw. narrativiert wurde und verschieden bewertet wurde, je nach politischen und ideologischen Präferenzen des jeweiligen Autors. Obwohl Whites postmodernistisch-dekonstruktivistische Theorie über die Signifikanz der literarischen Erzählung und deren Darstellungsmodi in historischen Werken heute nicht ohne Berücksichtigung der zahlreichen kritischen Gegenargumente gelesen werden soll,27 bereitete er den Weg für weitere Studien, die sich mit Erzählmustern 25
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Vgl. die Erklärung des „Narrativ“-Begriffs in: Monika Fludernik: Erzähltheorie: eine Einführung, 4. Aufl. Darmstadt 2013 (= Einführung Literaturwissenschaft), S. 9–19. Siehe auch Albrecht Koschorke: Wahrheit und Erfindung: Grundzüge einer Allgemeinen Erzähltheorie, 3. Aufl. Frankfurt am Main 2013. Siehe v. a. die grundlegende Studie Hayden White: Metahistory. The Historical Imagination in Nineteenth-Century Europe. Baltimore & London 1973. Über die Struktur eines historischen Narrativs vgl. auch Hayden White: The Fiction of Narrative. Essays on History, Literature, and Theory 1957–2007. Baltimore 2010, S. 112–125. Siehe z. B. die kritischen Auseinandersetzungen mit Whites Thesen in: F. R. Ankersmit: The Dilemma of Contemporary Anglo-Saxon Philosophy of History, in: History and Theory 25 (1986), Nr. 4, Beiheft 25 Knowing and Telling History: The Anglo-Saxon Debate, S. 1–27; Keith Jenkins: On „What is history?“: from Carr and Elton to Rorty and White. London [u. a.] 1995, S. 134–179.
Fragestellung und theoretischer Ansatz
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in der Geschichte und der Geschichtswissenschaft befasst haben. Zum Beginn des 21. Jahrhunderts etablierte sich der Begriff „Narrativ“ fest auf dem kulturhistorischen Feld. Besonders gerne wird über „Meistererzählungen“ (master narratives) und narrative Muster in historiografiegeschichtlichen Untersuchungen sowie in Studien über historisches Gedächtnis, Erinnerungskultur und Geschichtspolitik gesprochen.28 Angesichts der allzu häufigen und oft unreflektierten Verwendung scheint der Begriff mittlerweile fast zu einem „Modewort“ avanciert und seine ursprünglichen Konturen verloren zu haben. Hier wird der Begriff „Narrativ“ in Anlehung an seine primäre Bedeutung – „mustererzeugende Erzählung über ein Geschehen“ – eingesetzt, was ihn gewissemaßen dem in der englischsprachigen Tradition bevorzugten Begriff plot nahebringt.29 Die Berichterstattung über den Strelitzen-Aufstand produzierte viele Interpretationsversuche bzw. Narrative dieses Ereignisses, die sowohl im russischen als auch im europäischen historisch-literarischen Diskurs des ausgehenden 17. und 18. Jahrhunderts zirkulierten. Unter einem Narrativ wird dabei eine sich in den historischen Quellen oft wiederholende Erzählung bzw. ein Themen- und Motiv-Komplex verstanden, der eine sinnstiftende erklärende Funktion für die Deutung der Ereignisse in sich trägt. Als Beispiele können das Narrativ über den Komplott der Miloslavskij-Fraktion gegen Peter I. als Ursache des Aufstands (das Narrativ der Miloslavskij-Verschwörung) oder das Narrativ über den Aufstand als eine Intrige des Fürsten Ivan Chovanskij (das Chovanščina-Narrativ) genannt werden. Anhand der vergleichenden intertextuellen Quellenanalyse wird die Entwicklung und Tradierung solcher Narrative verfolgt. Hier geht es einerseits um die Feststellung der zeitlichen Evolution der Narrative, d. h. von früheren zu späteren Deutungen der Revolte; andererseits um die grenzübergreifende gegenseitige Beeinflussung der Narrative. Es gilt zu analysieren, wie die frühen russischen Erzählungen die ausländischen Wahrnehmungen beeinflussten und wie Letztere wiederum später von den russischen Autoren petrinischer Zeit aufgenommen wurden. Die Widerspiegelung des Strelitzen-Aufstands in den Jahren von 1682 bis ca. 1750 wird damit als ein grenzübergreifender Prozess der Tradierung und der Verflechtung von Narrativen dargestellt. Das Übersetzen von Texten aus einem fremden Kulturkreis und die damit verbundene Aufnahme von neuen Narrativen in die eigene Kultur stellten eine verbreitete Praxis im Europa der Frühen Neuzeit dar.30 Das Ausmaß und die Häufigkeit von sol28
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Vgl. Matthias Middell, Monika Gibas und Frank Hadler: Zugänge zu historischen Meistererzählungen, in: Comparativ 10 (2000), H. 2; Wolfgang Müller-Funk: Die Kultur und ihre Narrative: Eine Einführung, 2. Aufl. Wien 2008; Wilhelm Hofmann, Judith Renner und Katja Teich (Hrsg.): Narrative Formen der Politik. Wiesbaden 2014. Porter H. Abbott: Story, Plot, and Narration, in: David Herman (Hrsg.): The Cambridge Companion to Narrative. Cambridge [u. a.] 2007, S. 39–51. Über die Prozesse der kulturellen Übersetzung in der Frühen Neuzeit vgl. Peter Burke: Cultures of Translation in Early Modern Europe, in: Peter Burke und R. Po-Chia Hsia (Hrsg.): Cultural
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Einleitung
chen kulturellen Übersetzungen waren im Russland des 17. Jahrhunderts allerdings noch deutlich geringer als in den Ländern Westeuropas, was hauptsächlich an der viel geringeren Verbreitung der Fremdsprachenkenntnisse in der russichen Gesellschaft lag. Gegen Ende des Jahrhunderts wurde jedoch das russische Interesse an der Aufnahme des europäischen Schrifttums, u. a. der politisch-historischen Traktate und der Publizistik, intensiver.31 Schließlich, während der Regierungszeit Peters des Großen, erlebte das russische kulturelle Leben eine rasche europäisierende Umwandlung.32 Bei den petrinischen Modernisierungsreformen wurde gerade die westeuropäische höfische sowie Gelehrtenkultur als Referenz genommen, was unter anderem zur Rezeption europäischer historischer Schriften und politischer Begriffe unter dem russischen Adel führte. Auch die Werke von europäischen Autoren über die russische Geschichte und den Strelitzen-Aufstand im Besonderen wurden in Russland rezipiert. Der Narrativentransfer war jedoch nicht einseitig, da auch Motive und Sujets aus den in Russland tradierten Erzählungen über die Revolte von 1682 in den europäischen Diskurs gelangten. Um die Reziprozität dieses kulturellen Austausches zu unterstreichen, soll die Geschichte der historisch-publizistischen Wahrnehmung vom Strelitzen-Aufstand, die im Zuge der russisch-europäischen kulturellen Begegnungen des 17. und 18. Jahrhunderts stattfand, als eine grenzübergreifende Verflechtung von Narrativen definiert werden.33 In dieser Arbeit wird deswegen der Verlauf der grenzübergreifenden Kommunikation über den Strelitzen-Aufstand 1682 dargestellt, um dadurch die Transformation der Wahrnehmung und der Repräsentation dieses Ereignisses sowohl im russischen als auch im europäischen historisch-literarischen Diskurs zu erschließen. Außerdem wird auf die Frage eingegangen, mit welchem Zweck unterschiedliche Narrative über die Revolte von Kommunikationsteilnehmern politisch instrumentalisiert wurden.
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Translation in Early Modern Europe. Cambridge [u. a.] 2007, S. 7–38; Peter Burke: Translating Knowledge, Translating Cultures, in: Michael North (Hrsg.): Kultureller Austausch. Bilanz und Perspektiven der Frühneuzeitforschung. Köln [u. a.] 2009, S. 69–77. Vgl. Paul Bushkovitch: Cultural Change among the Russian Boyars 1650–1680. New Sources and Old Problems, in: Hans-Joachim Torke (Hrsg.): Von Moskau nach St. Petersburg. Das russische Reich im 17. Jahrhundert. Wiesbaden 2000 (= Forschungen zur osteuropäischen Geschichte 56), S. 91–111; Gleb Kazakov: Wahrnehmen, Übersetzen, Aneignen: westeuropäische Druckmedien im Russland des 17. Jahrhunderts. Perspektiven und Methoden, in: Sonja Erhardt, Jennifer Grünewald und Natalia Kopcha (Hrsg.): Transfer und Transformation. Theorie und Praxis deutsch-russischer Kulturtransferforschung. München 2017 (= Kulturtransfer und „kulturelle Identität“ 1), S. 245–263; S. M. Šamin: Inostrannye „pamflety“ i „kur’ezy“ v Rossii XVI – načala XVIII stoletija. Moskva 2020. Über die petrinische ‚Kulturrevolution‘ vgl. James Cracraft: The Petrine Revolution in Russian Culture. Cambridge, MA & London 2004. Über den Ansatz der Verflechtungsgeschichte und den reziproken Charakter einer kulturellen Verflechtung siehe Michael Werner und Bénédicte Zimmermann: Vergleich, Transfer, Verflechtung. Der Ansatz der Histoire croisée und die Herausforderung des Transnationalen, in: Geschichte und Gesellschaft 28 (2002), Nr. 4, S. 607–636.
Quellen und Forschungstand
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1.3 Quellen und Forschungstand 1.3.1 Quellen Die Zahl der Quellen zum Strelitzen-Aufstand 1682 ist recht groß. An dieser Stelle wird ein zusammenfassender Überblick der im Rahmen der Arbeit benutzten Quellen gegeben, mit besonderer Berücksichtigung des bisher wenig erforschten oder gar unbekannten Materials. In den weiteren Kapiteln wird auf einzelne relevante Quellen, wie z. B. auf Berichte von konkreten ausländischen Gesandten, näher eingegangen. Eine sehr gute Einführung in die Quellenlage rund um den Strelitzen-Aufstand 1682 bieten die Aufsätze des russischen Historikers Andrej P. Bogdanov.34 Um das Material besser zu strukturieren und übersichtlicher darzustellen, wird der Quellenüberblick in zwei Schritten erfolgen: zunächst die russischen und dann die ausländischen Quellen. In den russischen Archiven sind zahlreiche Urkunden, Dekrete und Befehle der Moskauer Regierung an Bedienstete des Zaren sowie an die aufständischen Strelitzen selbst erhalten geblieben. Der am besten in den Akten dokumentierte Abschnitt des Aufstandes umfasst die Ereignisse im Herbst 1682, als die zarische Regierung in das Troice-Sergiev-Kloster geflohen war und einen intensiven Schriftwechsel mit den eigenen Anhängern sowie mit in Moskau verbliebenen Strelitzen führte. Von großer Bedeutung sind auch die Bittschriften (čelobitnye) der Aufständischen, die laut der russischen Gerichtstradition im Fall einer Beschwerde an den Namen des Zaren eingereicht werden mussten. Diese Dokumente geben Auskunft über Forderungen und Machtvorstellungen der Aufständischen. Leider sind die Bittschriften der Strelitzen aus dem Winter und dem Frühling 1682 nicht erhalten geblieben, jedoch bietet die Bittschrift vom 6. Juni 1682 sehr interessante Einblicke in die Argumentationsweise der Rebellen. Schließlich sind die Dokumente des Moskauer Dienstamts (razrjadnyj prikaz) von großem Interesse, die die vielen Veränderungen in den Machtkonstellationen innerhalb der regierenden Elite während der Jahre 1682/83 darlegen. Der Löwenanteil der Akten mit Bezug zum Strelitzen-Aufstand, die heute im Russischen Staatlichen Archiv der Alten Akten (RGADA) aufbewahrt werden, wurde von den sowjetischen Historikern V. I. Buganov und N. G. Savič 1976 herausgegeben.35
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A. P. Bogdanov: Narrativnye istočniki o moskovskom vosstanii 1682 goda, in: Issledovanija po istočnikovedeniju istorii Rossii (do 1917 g.), sbornik statej. Moskva 1993, S. 77–108; A. P. Bogdanov: Narrativnye istočniki o moskovskom vosstanii 1682 goda (prodolženie), in: Issledovanija po istočnikovedeniju istorii Rossii (do 1917 g.), sbornik statej. Moskva 1996, S. 39–62. Siehe auch eine tabellarische Übersicht der Quellen zur Geschichte der Strelitzen-Revolte 1682 in P. A. Zajončkovskij (Hrsg.): Istorija dorevoljucionnoj Rossii v dnevnikach i vospominanijach, Bd. 1. XV–XVIII veka. Moskva 1976, S. 95–97. V. I. Buganov und N. G. Savič (Hrsg.): Vosstanie v Moskve 1682 goda: sbornik dokumentov. Moskva 1976.
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Da der Fokus dieser Studie vor allem auf den grenzübergreifenden Beziehungen liegt, werden auch die Dokumente zu auswärtigen Beziehungen Russlands mit den europäischen Staaten zur Untersuchung herangezogen. Hauptsächlich sind das Akten des Moskauer Gesandtschaftsamts (posol’skij prikaz) – Zarenbriefe und Urkunden an ausländische Herrscher bezüglich der Thronbesteigung der Zaren Ivan und Peter sowie Relationen der russischen Gesandten über ihre Reisen ins Ausland und dabei geführte Verhandlungen. Heute befinden sich diese Dokumente ebenfalls im RGADA. Die Dokumentation der russischen Gesandtschaft von 1682 zum deutschen Kaiser und zum polnischen König ist publiziert.36 Dagegen blieben die Berichte von anderen Gesandten den Forschern verborgen, obwohl, wie es noch im Weiteren demonstriert wird, beispielweise die Relationen des nach Schweden und Dänemark geschickten Gesandten Nikita Alekseev sehr interessante Einblicke in den diplomatischen Umgang mit einem heiklen Thema wie dem Moskauer Aufstand bieten können. Die Dokumente aus dem ehemaligen Archiv des posol’skij prikaz geben außerdem Auskunft darüber, wie die Moskauer Behörden der Spionage von ausländischen Diplomaten und Agenten entgegenwirkten und versuchten, die Verbreitung der Information über die Strelitzen-Unruhen zu kontrollieren. Im Hinblick auf die ost-westeuropäische Kommunikation stellen außerdem die im Moskauer Gesandtschaftsamt angefertigten Übersetzungen der westeuropäischen, hauptsächlich deutschsprachigen Zeitungen eine wichtige Quelle dar.37 Die übersetzten Artikel über den Strelitzen-Aufstand können Auskunft darüber geben, welche ausländischen Nachrichten über die innenpolitische Lage des russischen Reichs die Moskauer Regierung auszuwerten versuchte. Den Hauptteil der in dieser Studie erforschten Quellen bilden jedoch die narrativen Darstellungen des Aufstands. Einige kurze Beschreibungen des Strelitzen-Aufstands wurden bereits sehr zeitnah von anonymen russischen Augenzeugen der Ereignisse verfasst. Diese Texte sind in Handschriften vom Ende des 17. Jahrhunderts überliefert. Besonders wichtig sind diese Zeugnisse, weil sie zum Teil die Ansicht und die Rhetorik der Aufständischen wiedergeben.38 Kurze Notizen über den Aufstand, die wahrscheinlich bereits 1682 geschrieben wurden, hinterließ der Moskauer Adelige Ivan Željabužskij, der während der Ereignisse im Mai jedoch nicht persönlich in Mos-
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PDSDR, Bd. 6. Pamjatniki diplomatičeskich snošenij s Rimskoju imperieju (s 1682 po 1685 god). Sankt-Peterburg 1862, Sp. 1–214. Die Zeitungen werden heute hauptsächlich in RGADA, fond 155 aufbewahrt. Über die Übersetzungen der westeuropäischen Zeitungen, die sog. Vesti-Kuranty, siehe die Studien: Maier: Presseberichte am Zarenhof; Šamin: Kuranty XVII stoletija. Vgl. V. I. Buganov: Novyj istočnik o moskovskom vosstanii 1682 g., in: Issledovanija po otečestvennomu istočnikovedeniju. Sbornik statej. Moskva & Leningrad 1964, S. 318–324; A. P. Bogdanov: Podennye zapisi očevidca moskovskogo vosstanija 1682 goda, in: Sovetskie archivy 2 (1979), S. 34–37.
Quellen und Forschungstand
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kau anwesend war.39 Eine sehr wichtige Darstellung des Strelitzen-Aufstands bietet das Werk Sozercanie kratkoe let 7190, 7191 i 7192, v nich že čto codejasja vo graždanstve („Kurzer Überblick der Jahre 1681/82, 1682/83 und 1683/84, was während dieser Zeit im Staat geschehen ist“), das von Sil’vestr Medvedev, einem Anhänger von carevna Sof ’ja, in der Zeit zwischen 1687 und 1689 verfasst worden ist. Medvedev vertrat in seiner Schrift die Idee, dass die Moskauer Unruhen vorwiegend dank der Bemühungen und der klugen Regierung von Sof ’ja beruhigt worden waren. Sozercanie kratkoe wurde bereits von russischen Historikern des 18. Jahrhunderts entdeckt und publiziert. Die beste Edition des Texts bleibt bis heute diejenige von Aleksandr Prozorovskij von 1894.40 Für eine weitere Gruppe der narrativen Quellen hat sich in der Historiografie seit Langem der Begriff der Chroniken (letopisi) eingebürgert. Die russische Chronikschreibung (letopisanie) Ende des 17. Jahrhunderts umfasst eine sehr breite Palette von Texten, die wesentliche Unterschiede in Umfang und Inhalt aufweisen. Zahlreiche Chroniken (letopisi oder chronografy) hatten kompilierenden Charakter und konnten sehr verschiedene Textarten aufnehmen – übersetzte Texte, kirchliche Schriften, offizielle Dokumente und Urkunden, einzelne Erzählungen und Notizen usw. In einigen Fällen handelt es sich mit großer Wahrscheinlichkeit um zeitnahe Erzählungen von Augenzeugen,41 in anderen Fällen wurden sie in größerer zeitlicher Distanz zu den Ereignissen verfasst und weisen eher Merkmale einer retrospektiven Beschreibung auf. Für die gesamte Palette der Chroniktexte zur Strelitzen-Revolte wird in der Historiografie der Oberbegriff der Chronikerzählungen (letopisnye skazanija/povesti) verwendet.42 Der Moskauer Aufstand 1682 wurde in vielen Chroniken thematisiert, die Zahl der bisher entdeckten Schriften beläuft sich bereits auf ca. 30 Werke, worunter neben sehr knappen Erwähnungen auch mehrseitige Erzählungen zu finden sind. Die früheste Chronik wurde bereits 1683 verfasst,43 die Ereignisse wurden jedoch auch in späteren Chroniken der 1690er-Jahre beleuchtet. Sogar weit in das 18. Jahrhundert setzte sich die Chronikschreibung fort, sodass der Strelitzen-Aufstand auch noch in der petrinischen Zeit thematisiert wurde. So machte er z. B. einen wichtigen Teil einer im Auftrag
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Die Publikation der Notizen von Željabužskij siehe in: Dnevnyja zapiski I. A. Željabužskago, in: Russkij archiv, Kniga III, Vypusk 9 (1910), S. 5–154. Sil’vestr Medvedev: Sozercanie kratkoe let 7190, 91 i 92, v nich že čto sodejasja vo graždanstve, hrsg. u. komm. v. Aleksandr Prozorovskij, in: ČIOIDR 171 (1894), Nr. 4, S. 1–197. Vgl. M. N. Tichomirov: Zapiski zemskogo d’jačka vtoroj poloviny XVII v., in: Istoričeskij archiv, Bd. 2. Moskva & Leningrad 1939, S. 93–100; M. N. Tichomirov: Zapiski prikaznych ljudej konca XVII v., in: TODRL, Bd. 12 (1956), S. 442–457. Über russische Chroniken als Quellen zur Geschichte des Strelitzen-Aufstands siehe eine Übersicht bei V. I. Buganov: Letopisnye izvestija o moskovskom vosstanii 1682 g., in: Novoe prošloe našej strany. Moskva 1967, S. 310–319. Gemeint ist die sogenannte Mazurinskij letopisec von Isidor Snazin, siehe V. I. Koreckij: Mazurinskij letopisec konca XVII v. i letopisanie smutnogo vremeni, in: Slavjane i Rus’. Moskva 1968, S. 282–290; A. P. Bogdanov: Isidor Snazin, in: Slovar’ knižnikov i knižnosti Drevnej Rusi, Vyp. 3 (XVII vek), Čast’ 2. Sankt-Peterburg 1993, S. 122–124.
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Peters des Großen 1722 verfassten „Ausführlichen Chronik vom Anfang Russlands bis zur Schlacht von Poltava“ aus.44 Zur letzten Gruppe der russischen Quellen gehören die Schriften der russischen Publizisten des 18. Jahrhunderts: Andrej Matveev, Pёtr Krekšin, Boris Kurakin, Michail Lomonosov und Aleksandr Sumarokov. Diese Autoren thematisierten den Aufstand von 1682 vor allem in Zusammenhang mit der Biografie Peters des Großen und schrieben über die Ereignisse als die Strelitzen-Regimenter schon längst abgeschafft waren. Der berühmteste Text dieser Gruppe ist sicherlich die Erzählung von Andrej Artemonovič Matveev, dem Sohn des von Strelitzen am 15. Mai 1682 ermordeten Bojaren Artemon Matveev. Seine Memoiren verfasste Andrej Matveev jedoch mit großem zeitlichen Abstand zu den Ereignissen, auf jeden Fall nach 1716. Das Autorenoriginal ist nicht erhalten, 1841 wurde der Text nach einer der Kopien von Sacharov publiziert.45 Ende des 20. Jahrhunderts wurde er neu aufgelegt.46 Eine vollständige wissenschaftliche Ausgabe existiert bisher nicht. Die Handschrift, die Sacharovs Ausgabe zugrunde lag, war an einigen Stellen defekt.47 Mehrere Dutzend handgeschriebene Kopien von Matveevs Schrift aus dem 18. Jahrhundert sind heute in den Handschriftensammlungen der Russischen Staatlichen Bibliothek in Moskau und der Russischen Nationalen Bibliothek in Sankt Petersburg zu finden. Die ausländischen Quellen zur Geschichte des Strelitzen-Aufstandes sollen zur Übersicht in zwei Gruppen aufgeteilt werden: handgeschriebene diplomatische Berichte und gedruckte Schriften wie Flugschriften, Zeitungen und Bücher. Diese grobe Unterteilung schließt natürlich nicht aus, dass es zwischen den beiden Gruppen starke inhaltliche Überschneidungen gibt, da die handgeschriebenen Berichte in den Druck gelangen konnten. Die gedruckten Texte, vor allem anonyme Flugschriften und Zeitungsartikel, konnten wiederum von späteren Autoren wiederverwendet werden, sodass mehrere Quellen mitunter wörtlich übereinstimmende Abschnitte aufweisen. Die Gruppe der handgeschriebenen Quellen bilden Briefe ausländischer Beobachter, die 1682 bis 1684 entweder selbst in Moskau anwesend waren oder die zirkulierenden Berichte über die Ereignisse in der russischen Hauptstadt von ihren Informanten regelmäßig erhielten und zusammenfassten. Gut bekannt in der Forschung ist der detaillierte Bericht des Hamburger Kaufmanns Heinrich Butenant, der seit 1679 im Dienst des dänischen Königs die offizielle Stelle des Handelsfaktors in Moskau innehatte. Butenants Bericht, der ursprünglich als Brief an den königlichen Hof in Kopenhagen geschickt worden war, wurde bereits 1682 in Hamburg als Flugschrift gedruckt. 44 45 46 47
Bogdanov: Narrativnye istočniki, S. 99–105. N. Sacharov (Hrsg.): Zapiski russkich ljudej. Sobytija vremёn Petra Velikago. Sankt-Peterburg 1841. Roždenie imperii. Moskva 1997 (= Istorija Rossii i doma Romanovych v memuarach sovremennikov XVII–XX vv.), S. 359–414. M. V. Nikolaeva: „Istorija“ A. A. Matveeva o streleckom vosstanii 1682 g. (Tradicii istoričeskogo stilja XVI–XVII vv. v literature petrovskogo vremeni), in: Učёnye zapiski LGPI im. Gercena, Bd. 309, Očerki po istorii russkoj literatury (1966), S. 25–56, hier S. 31–34.
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Weniger bekannt ist jedoch, dass Butenant außer diesem Bericht noch weitere Briefe mit Kurzbeschreibungen der Moskauer Verhältnisse nach Kopenhagen schrieb. Heute sind alle diese Dokumente im Kopenhagener Reichsarchiv aufbewahrt.48 Bei der Arbeit am vorliegenden Buch wurde allerdings die Kopie der Originalakte benutzt, die in Form eines Mikrofilms im Archiv des Sankt Petersburger Instituts für Geschichte an der Russischen Akademie der Wissenschaften zugänglich ist.49 Der deutsche Text von Butenant wurde vom russischen Historiker Nikolaj Ustrjalov 1858 abgedruckt,50 russische und englische Übersetzungen dieses Textes liegen heute vor.51 Sehr ausführliche Beschreibungen der Ereignisse des Herbstes 1682 und von den unmittelbar nach dem Aufstand entstandenen Machtkonstellationen hinterließ der dänische königliche Envoyé Hildebrand von Horn, der im Oktober 1682 nach Russland kam und bis Juni 1684 in der russischen Hauptstadt blieb. Seine Briefe, die er vorwiegend in deutscher Sprache verfasst hat, wurden 1882 publiziert.52 Der niederländische Resident in Moskau, Johann van Keller, war ebenso wie Butenant während der meisten Ereignisse des Jahres 1682 in Moskau anwesend. Die Originale seiner zahlreichen Briefe an die Generalstaaten über die Moskauer Verhältnisse liegen heute im Nationalarchiv in Den Haag.53 Bereits im 19. Jahrhundert wurden jedoch im Auftrag des russischen Zaren Nikolaj I. von allen Briefen van Kellers in Den Haag Kopien angefertigt und nach Sankt Petersburg gebracht. Außerdem wurden die Briefe ins Französische und teilweise ins Russische übersetzt. Heute befinden sich diese Kopien im Archiv des Sankt Petersburger Instituts für Geschichte an der Russischen Akademie
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Danska rigsarkivet (dänisches Reichsarchiv, Kopenhagen), Tyske Kancelli Udenrigiske avdelning (TKUA), Rusland, B40. SPbII RAN, Westeuropäische Sektion, Mikrofilmensamml., Б-43. N. Ustrjalov: Istorija carstvovanija Petra Velikago, Bd. I. Gospodstvo carevny Sof ’i. Sankt-Peterburg 1858, S. 330–346. Englische Übersetzung, basiert auf Ustrjalovs Ausgabe des deutschen Textes, ist bei John Keep: Mutiny in Moscow, 1682: a Contemporary Account, in: Canadian Slavonic Papers/ Revue Canadienne des Slavistes 23 (1981), Nr. 4, S. 410–442. Für die russische, sehr fehlerhafte Übersetzung siehe: „Sklonny k strašnomu neistovstvu …“. Donesenija Genricha Butenanta fon Rosenbuša o streleckom vosstanii 1682 goda v Moskve, in: Istočnik. Dokumenty russkoj istorii 61 (2003), Nr. 1, S. 40–49. Die Originale von von Horns Briefen befinden sich im dänischen Reichsarchiv in Kopehagen (TKUA, Rusland, B51, Gesandtskabs-Relationer, til Dels med Bilag, fra Sekretar, senere Envoye extraordinaire Hildebrand v. Horn 1681 30 april – 1684 19 oktober). Die Kopien von Originalberichten sind auch in Form eines Mikrofilms in St. Petersburg aufbewahrt (SPbII RAN, Westeuropäische Sektion, Mikrofilmensamml., Б-44), siehe darüber V. E. Vozgrin: Istočniki po russko-skandinavskim otnošenijam XVI–XVIII vekov, in: Rukopisnye istočniki po istorii Zapadnoj Evropy v archive Leningradskogo otdelenija Instituta istorii SSSR. Leningrad 1982, S. 124–157, hier S. 152–157. Für die Publikation der Briefe von Horns siehe: Relationer til K. Christian den femte fra den danske envoyé i Moskov Hildebrand von Horrn. November 1682 – Juni 1684, in: C. F. Wegener (Hrsg.): Aarsberetninger fra det kongelige Geheimearchiv, Bd. VI. Kjøbenhavn 1882, S. 138–198. Im Folgenden werden die Verweise vorwiegend auf diese Publikation gegeben. Nationaal Archief (Den Haag), Staaten General, Deel II, Liassen Moscovien, Nr. 7365.
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der Wissenschaften.54 Leider gingen die Kopien der niederländischen Texte der Briefe aus dem Jahr 1682 verloren, sodass heute nur die französischen Übersetzungen dieser Berichte in Sankt Petersburg vorliegen. Mit diesen Übersetzungen wurde im Rahmen dieser Studie gearbeitet. Insgesamt gibt es im Sankt Petersburger Archiv 247 Relationen van Kellers für die ganze Zeitspanne seiner Tätigkeit in Moskau von 1676 bis 1696, in Den Haag dagegen befinden sich 294 Briefe. Etwa 14 Briefe behandeln die Ereignisse des Strelitzen-Aufstands. Es gibt keine vollständige Publikation der Berichte van Kellers. Sehr ausführlich befasste sich mit diesen Quellen der sowjetische Historiker Michail Belov.55 Weniger erforscht sind die Berichte der polnischen Agenten aus den Jahren 1682 und 1683. Die bekannteste Quelle in dieser Reihe ist zweifellos die sogenannte Schrift Diariusz zaboystwa tyranskiego senatorow Moskiewskich w stolicy roku 1682 y o obraniu dwoch carow Ioanna y Piotra („Das Tagebuch über den tyrannischen Mord der Moskauer Senatoren in der Hauptstadt im Jahr 1682 und über die Wahl der beiden Zaren Ioann und Peter“). Es handelt sich dabei um eine Beschreibung der Ereignisse der Moskauer Revolte, die von einem anonymen Agenten des polnischen Königs im Frühjahr 1683 verfasst wurde.56 Zwei weitere Relationen von einem oder mehreren polnischen Agenten, der/die 1682 in Russland und vielleicht sogar in Moskau anwesend war/waren, befinden sich im Archiv im Vatikan und wurden bereits im 19. Jahrhundert publiziert.57 Auskunft über die Intentionen der polnischen Regierung im Jahr 1682 geben außerdem die Briefe des päpstlichen Nuntius in Warschau Opicio Pallavicini, die er im selben Jahr nach Rom übersandte.58 Sehr interessant sind auch weitere polnische Dokumente, unter anderem eine Instruktion des polnischen Königs Jan Sobieski an seinen nach Russland geschickten Agenten, die 1682 von russischen Behörden abgefangen wurden und heute im RGADA aufbewahrt werden.59 Diese Quellen belegen, über welche Kenntnisse über den Strelitzen-Aufstand der polnische königliche Hof verfügte. Detailliert werden die polnisch-russischen Auseinandersetzungen des Jahres 1682 im Kapitel 4.7 beleuchtet.
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SPbII RAN, Russische Sektion, Samml. 40, Nr. 57. Vgl. Belovs Dissertation über Kellers Tätigkeit in Moskau auf dem Posten des niederländischen diplomatischen Residenten: M. I. Belov: Niderlandskij rezident v Moskve baron Iogann Keller i ego pis’ma. Kandidatskaja dissertacija. Leningrad 1947. Für die Publikation des Texts vom Diariusz und seine russische Übersetzung siehe A. Vasilenko: Dnevnik zverskogo izbienija moskovskich bojar v stolice v 1682 godu i izbranija dvuch carej Petra i Ioanna, in: Starina i novizna, Bd. 4. Sankt-Peterburg 1901, S. 383–407. Die Handschrift des Diariusz befindet sich in der Sammlung der Russischen Nationalen Bibliothek, siehe RNB OR, Pol’sk. Q. IV Nr. 8. Augustin Theiner (Hrsg.): Monuments historiques relatifs aux règnes d’Alexis Michaélowitch, Féodor III et Pierre le Grand czars de Russie: Extraits des archives du Vatican et de Naples. Rome 1859, S. 239–242. Ebd., S. 236–238. RGADA, fond 79, opis’ 1, 1682, Nr. 7 und Nr. 8.
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Die handgeschriebenen Berichte über den Strelitzen-Aufstand, die im Kurfürstentum Brandenburg-Preußen und im Königreich Schweden regelmäßig eingingen, blieben in der Forschung bisher fast gänzlich unbekannt. Die detaillierten Briefe, die unter dem Titel „Geschriebene Zeitungen aus Russland 1681–1683“ im Bestand des Geheimen Staatsarchivs Preußischer Kulturbesitz in Berlin aufbewahrt werden, wurden bereits 1932 vom deutschen Historiker Leo Loewenson vollständig ediert und kommentiert.60 Dennoch blieb diese sehr wertvolle Publikation in der Historiografie des Strelitzen-Aufstands fast völlig unbeachtet. Sehr reiches und einzigartiges Material zur Geschichte der Strelitzen-Rebellion bieten die Briefe, die während des ganzen Jahres 1682 der schwedische diplomatische Agent Christof Koch von seinen anonymen Korrespondenten aus Moskau, Novgorod und Pskov erhielt. Koch, der in den 1670er- und 1680er-Jahren schwedischer Resident in der russischen Hauptstadt und der renommierteste schwedische Russlandexperte war, befand sich 1682 in Narva (zu dieser Zeit unter schwedischer Herrschaft), von wo aus er sehr aufmerksam die stürmischen Ereignisse in Russland anhand der eingehenden Berichte beobachtete. Die Briefe aus Russland leitete er weiter an den Sekretär des schwedischen Königs nach Stockholm, wo sie heute im Reichsarchiv in der Sammlung Muscovitica aufbewahrt sind.61 Wenig rezipiert wurden bisher auch die Briefe der französischen Botschafter in Dänemark, Schweden und Polen-Litauen, die ihre Heimatregierung mit Nachrichten über die Geschehnisse im Moskauer Reich in den Jahren 1682 und 1683 versorgten. Heute werden diese Korrespondenzen im Zentrum für diplomatische Archive des Außenministeriums (Centre des Archives diplomatiques du Ministère des Affaires Étrangères) in Paris aufbewahrt.62 Zur Gruppe der gedruckten ausländischen Quellen gehören Flugschriften, Zeitungen und Bücher. Weitgehend unerforscht blieben die Erzählungen der europäischen Zeitungen über den Moskauer Aufstand. Die Berichte der deutschsprachigen Zeitungen wurden vom deutschen Pressehistoriker Martin Welke in seiner Arbeit über die Widerspiegelung des Moskauer Reichs in der deutschen Presse des 17. Jahrhunderts nur beiläufig angesprochen.63 In der vollständigen digitalen Sammlung der deutschen Zeitungen des 17. Jahrhunderts an der Staats- und Universitätsbibliothek Bremen befinden sich allerdings Exemplare neun deutschsprachiger Zeitungen, die die Moskauer Ereignisse des Jahres 1682 thematisieren.64 Auch in der schwedischen staatlichen Zeitung, in der englischen London Gazette sowie in der französischen La Gazette wurden 60 61 62 63 64
Leo Loewenson: 1681–1683. Geschriebene Zeitungen aus Rußland, in: Zeitschrift für osteuropäische Geschichte 6 (neue Folge, Band 2) (1932), S. 83–93, 231–237, 402–415, 552–585. Svenska Riksarkivet (Stockholm), Muscovitica 604 (= RAS, Muscovitica 604). Siehe die detaillierteren Angaben dazu im Kapitel 4.5. Martin Welke: Rußland in der deutschen Publizistik des 17. Jahrhunderts (1613–1689), in: Forschungen zur osteuropäischen Geschichte, Bd. 23. Berlin 1976, S. 105–276, hier S. 229–230. Vgl. die Bestände der Digitalen Sammlung „Zeitungen des 17. Jahrhunderts“, die in der Zusammenarbeit zwischen der Staats- und Universitätsbibliothek Bremen und dem Institut Deutsche Presseforschung zusammengestellt wurde: https://brema.suub.uni-bremen.de/zeitungen17 (abgerufen
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Berichte über den Aufstand abgedruckt. Außer in Zeitungen erschienen die Informationen über das Ereignis in deutschen Messrelationen und in gedruckten historischen Chroniken, wie Theatrum Europaeum und Diarium Europaeum. Der Strelitzen-Aufstand fand außerdem Erwähnung bei vielen europäischen Buchautoren der 1680erund 1690er-Jahre: Georg Adam Schleusing (1688),65 Eberhard Werner Happel (1690), Foy de la Neuville (1698), Jodocus Crull (1698), Johann Georg Korb (1700). Auch in der europäischen literarischen Tradition des 18. Jahrhunderts wurde der Aufstand weiter thematisiert, hauptsächlich in Verbindung mit der Biografie Peters des Großen und seinen Reformmaßnahmen. Diese späten Erzählungen sind von besonderer Bedeutung, weil sie verdeutlichen können, wie sich die Narrative über den Strelitzen-Aufstand im Rahmen der russisch-europäischen kulturellen Begegnungen verändert und aneinander angepasst haben. 1.3.2 Forschungsstand Die Historiografie des Strelitzen-Aufstands 1682 ist umfangreich und lückenhaft zugleich. Einerseits wurden die Ereignisse von vielen, hauptsächlich russischen Autoren besprochen; andererseits existieren nur zwei große monografische Untersuchungen zu seiner Geschichte, und zwar die Bücher von Nikolaj Ja. Aristov und Viktor I. Buganov.66 Aber auch diese Autoren untersuchten den Aufstand wie andere Historiker primär im Hinblick auf seine sozialpolitischen Hintergründe. Seine grenzübergreifende Wirkung und sein kommunikationshistorisches Ausmaß blieben nur Randthemen der Forschung. Die russischen vorrevolutionären Historiker behandelten den Strelitzen-Aufstand hauptsächlich im Rahmen der biografischen Studien über die Moskauer Zaren. Dabei wurde die Revolte von 1682 als Teil der Lebensgeschichte Peters des Großen und als Zeichen für den Widerstand und den Hass des „alten“ Russland gegen die Person des zukünftigen Reformators betrachtet. Bereits Ende des 18. Jahrhunderts deutete Ivan I. Golikov die Ereignisse in Anlehnung an die Schriften der petrinischen Zeit als Folge einer Verschwörung von carevna Sof ’ja.67 Bei den Historikern des 19. Jahrhunderts wurde der Strelitzen-Aufstand weiterhin im Lichte des Machtkampfs zwischen den
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am 10.12.2020). Ausführlicher über die Berichte der Zeitungen über den Strelitzen-Aufstand siehe im Kapitel 5.3. Hier und weiter steht die Zahl in Klammern für das Jahr der ersten Buchausgabe. N. Ja. Aristov: Moskovskie smuty v pravlenie carevny Sofii Alekseevny. Varšava 1871; V. I. Buganov: Moskovskie vosstanija konca XVII v. Moskva 1969. Buganov beleuchtet in seinem Buch die Ereignisse von zwei Strelitzen-Aufständen aus den Jahren 1682 und 1698, während Aristov die Geschichte der Strelitzen-Unruhen von 1682 bis zum Sturz von Sof ‘ja im Jahr 1689 verfolgt. I. I. Golikov: Dejanija Petra Velikago, mudrogo preobrazovatelja Rossii, Bd. I. Moskva 1788, S. 150–170.
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Bojarenfraktionen der Naryškins und Miloslavskijs behandelt, und die These über die entscheidende Beteiligung von Sof ’ja und Ivan Miloslavskij an der Vorbereitung der Revolte wurde trotz der Einbeziehung einiger ausländischer Quellen, wie z. B. des Berichts von Heinrich Butenant, allgemein akzeptiert.68 Nur die Historiker Nikolaj Ja. Aristov und Evgenij A. Belov vertraten in ihren Arbeiten die These, dass die Erhebung der Strelitzen nicht ‚von oben‘ inszeniert wurde, sondern eine Volksbewegung war, die wegen der miserablen sozialen und wirtschaftlichen Lage erfolgte.69 Die Sicht auf die Revolte von 1682 als Phänomen des Kampfs der sozialen Unterschichten gegen die ausbeutende Elite wurde im 20. Jahrhundert in der sowjetischen Historiografie aufgenommen und weiterentwickelt. Die sowjetischen Historiker neigten stark dazu, die aufständischen Erhebungen des 17. Jahrhunderts in das marxistische Paradigma des revolutionären Klassenkampfs einzubeziehen. Bereits 1928 versuchte A. N. Štrauch, den Aufstand der Strelitzen als eine „kleinbürgerliche“ städtische Bewegung gegen den Bojarenfeudalismus zu deuten, bei der die Strelitzen als die ersten Vertreter der entstehenden russischen Bourgeoisieklasse hervortraten.70 Obwohl diese extreme Deutung in der sowjetischen Geschichtswissenschaft keine weitere Unterstützung erhielt, betrachteten auch andere sowjetische Forscher, wie Sergej K. Bogojavlenskij und Viktor I. Buganov, den Aufstand primär im Rahmen des Klassenkampfs der städtischen Unterschichten gegen die regierenden Eliten innerhalb der feudalen russischen Gesellschaft.71 Buganov tat außerdem viel für die Sammlung und die Herausgabe der in russischen Archiven vorhandenen Quellen – sowohl Urkunden als auch Chroniken. Die Palette der herangezogenen ausländischen Quellen blieb jedoch eingeschränkt, hauptsächlich auf die Berichte Heinrich Butenants und Johann van Kellers. Der These der sowjetischen Historiker über die Züge des Klassenkampf in Strelitzen-Rebellionen widersprach die ‚westliche‘ Historiografie. So unterstrich der deutsche Historiker Hans-Joachim Torke, dass der Strelitzen-Aufstand 1682 68
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Vgl. V. N. Berch: Carstvovanie carja Fedora Alekseeviča i istorija pervogo streleckogo bunta, Bd. II. Sankt-Peterburg 1835; Ustrjalov: Istorija carstvovanija Petra; M. P. Pogodin: Semnadcat’ pervych let v žizni imperatora Petra Velikogo. 1672–1689. Moskva 1875; Alexander Brückner: Peter der Große. Berlin 1879 (= Allgemeine Geschichte in Einzeldarstellungen), S. 31–56; S. M. Solov’ev: Istorija Rossii s drevnejšich vremёn, Kniga VII, Bd. 13. Moskva 1962, S. 261–362; N. I. Kostomarov: Russkaja istorija v žizneopisanijach eё glavnejšich dejatelej, Kniga III, vypusk 4 und 5. Moskva 1991 [Repr. der Ausg. Sankt-Peterburg 1874], S. 475–518. Aristov: Moskovskie smuty; E. A. Belov: Moskovskie smuty v konce XVII veka, in: ŽMNP 249 (1887), S. 99–146, 319–366. A. N. Štrauch: Streleckij bunt 1682 g., in: Naučnye trudy Industrial’no-Pedagogičeskogo instituta im. K. Libknechta. Serija social’no-ekonomičeskaja, Vypusk 1. Moskva 1928. S. K. Bogojavlenskij: Chovanščina, in: Istoričeskie zapiski 10 (1941), S. 180–221; Buganov: Moskovskie vosstanija. Die These von Buganov, dass die Strelitzen-Revolte eine antifeudale „Volksbewegung“ (narodnoe dviženie) gewesen sei, wurde zwar vom Historiker Nikolaj Pavlenko kritisiert – siehe N. I. Pavlenko: Ob ocenke streleckogo vosstanija 1682 g. (Po povodu mobografii Buganova „Moskovskie vosstanija konca XVII v.“, M., 1969), in: Istorija SSSR 1 (1971), S. 77–94 – wurde jedoch in der sowjetischen Historiografie allgemein anerkannt.
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„kein Protest gegen das politische System, keine soziale Revolution von den ‚Armen‘ gegen die Reichen“ gewesen sei. Torke ordnete den Aufstand vielmehr in die Reihe der zahlreichen städtischen Revolten im Moskauer Reich des 17. Jahrhunderts ein, die er als gewalttätige Ausbrüche der Unzufriedenheit der Bevölkerung mit der korrupten Verwaltung verstand.72 Eine Revision des marxistischen Paradigmas fand in der postsowjetischen Zeit statt. Wieder wurde der Zusammenhang zwischen der Strelitzen-Erhebung und dem Kampf zwischen verschiedenen politischen Gruppierungen am Moskauer Zarenhof postuliert. Mit Blick auf die komplizierten Machtkonstellationen im Jahr 1682, die nicht nur auf die bloße Konkurenz zwischen den Klans der Naryškins und Miloslavskijs zu reduzieren seien, betrachten sowohl die russischen Historiker Aleksandr S. Lavrov, Michail Ju. Zenčenko und Michail M. Galanov als auch die britische Historikerin Lindsey Hughes und der amerikanische Forscher Paul Bushkovitch die Ereignisse des Aufstands.73 Letzterer demonstrierte überzeugend in seinem Werk die Bedeutung der Berichte von ausländischen Diplomaten, vor allem von dänischen und schwedischen Gesandten, für die Analyse politischer Prozesse im Moskauer Reich des späten 17. Jahrhunderts. Schließlich unternahm der deutsche Historiker Heinz-Dietrich Löwe in einem Sammelbandaufsatz einen Versuch, die Erhebung der Strelitzen 1682 aus dem Blickwinkel des moral economy-Ansatzes zu untersuchen, und zwar als eine eher spontane Revolte, die primär auf die Wiederherstellung der durch ‚verräterische Bojaren‘ bedrohten ‚gerechten Regierung‘ gerichtet war.74 Die Sichtweise, laut der die Revolte hauptsächlich wegen der Verschlechterung der sozialen und wirtschaftlichen Lage der Strelitzen ausgebrochen sei, vertrat in den letzten Jahren der deutsche Historiker Erich Donnert.75 Im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts wurde außerdem die historiografische Tendenz deutlich, die Rolle von carevna Sof ’ja im Moskauer Aufstand zu revidieren. Lindsey Hughes stellte in ihren Werken das für die Historiografie des 19. Jahrhunderts gängige Narrativ über Sof ’jas Komplott gegen Peter den Großen infrage.76 Besonders 72 73
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Hans-Joachim Torke: Die staatsbedingte Gesellschaft im Moskauer Reich: Zar und Zemlja in der altrussischen Herrschaftsverfassung 1613–1689. Leiden 1974 (= Studien zur Geschichte Osteuropas 17), S. 252–267. A. S. Lavrov: Regenstvo carevny Sof ’i Alekseevny. Služiloe obščestvo i bor’ba za vlast’ v verchach Russkogo gosudarstva v 1682–1689 gg. Moskva 1999; M. M. Galanov: Političeskaja bor’ba v Rossii v 1682 godu. Kandidatskaja dissertacija. Voennyj inžinerno-kosmičeskij universitet im. A. F. Možajskogo. Sankt-Peterburg 2000; M. Ju. Zenčenko: Dinastičestij krizis vesny 1682 goda: Sobytie i ego versii, in: Odissej. Čelovek v istorii 23 (2012), S. 384–427; Lindsey Hughes: Sophia, Regent of Russia, 1657–1704. New Haven & London 1990, S. 52–88; Paul Bushkovitch: Peter the Great: the Struggle for Power, 1671–1725. Cambridge 2001 (= New studies in European history), S. 125–169. Heinz-Dietrich Löwe: Der Strelitzen-Aufstand von 1682 in Moskau, in: Heinz-Dietrich Löwe (Hrsg.): Volksaufstände in Rußland. Von der Zeit der Wirren bis zur „Grünen Revolution“ gegen die Sowjetherrschaft. Wiesbaden 2006 (= Forschungen zur osteuropäischen Geschichte 65), S. 163–196. Erich Donnert und Edgar Hösch (Hrsg.): Altrussisches Kulturlexikon. Stuttgart 2009, S. 221–223. Lindsey Hughes: Sofiya Alekseyevna and the Moscow Rebellion of 1682, in: The Slavonic and East European Review 63 (1985), Nr. 4, S. 518–539; Hughes: Sophia, Regent of Russia.
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stark wird der „petrinische Mythos“ über die angebliche Miloslavskij-Verschwörung in zahlreichen Büchern und Aufsätzen des russischen Historikers Andrej P. Bogdanov kritisiert. Bogdanov hält die Erzählung über die Verschwörung für petrinische Propaganda.77 Der Historiker, der sich intensiv mit der Erforschung von narrativen und publizistischen Quellen zur russischen Geschichte der Epoche befasst hat, tendiert jedoch dazu, die Regierung von Sof ’ja zu sehr zu idealisieren, und ersetzt damit in seinen Werken die alte „petrinische Legende“ durch eine neue, diesmal von der weisen und fortschrittlich denkenden carevna, deren kluge Regierung vom „Trunkenbold“ Peter und seinen Naryškin-Anhängern verdreht und verzerrt worden sei. Die Erforschung der grenzübergreifenden Kommunikation über den Aufstand wurde bisher in der Historiografie nur episodenweise vertreten. Die klassische Diplomatiegeschichte, deren Interesse hauptsächlich in der Auswertung politischer Verhandlungen und Traktate lag, zeigte wenig Bereitschaft zur Erforschung der diplomatischen Beobachtungen des Strelitzen-Aufstands. So wurde die Berichterstattung über die Strelitzen-Revolte vom russischen vorrevolutionären Historiker Grigorij V. Forsten in seinen Darstellungen der auswärtigen Beziehungen Russlands mit Dänemark, Schweden und Brandenburg-Preußen im 17. Jahrhundert lediglich in einigen wenigen Absätzen angesprochen.78 Das polnische Interesse an den Ereignissen in Moskau thematisierte der russische Historiker des 19. Jahrhunderts Sergej M. Solov’ev ebenfalls nur beiläufig.79 Eine viel detailliertere Beleuchtung der Geschichte der polnischen Spionage unternahm in der 2008 erschienenen Monografie Kirill A. Kočegarov.80 Auf die Berichte der deutschen Presse über politische Wirren im Moskauer Reich der 1680er-Jahre gingen die Pressehistoriker Martin Welke und Astrid Blome in ihren Studien zusammenfassend ein.81 Die handschriftlichen Übersetzungen der westeuropäischen Zeitungen mit Bezug zum Aufstand von 1682, die im Moskauer Gesandtschaftsamt angefertigt worden waren, wurden kürzlich zum Gegenstand eines Aufsatzes von Stepan M. Šamin.82 77 78
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Vgl. A. P. Bogdanov: Ot letopisanija k issledovaniju. Russkie istoriki poslednej četverti XVII veka. Moskva 1995; A. P. Bogdanov: Carevna Sof ’ja i Pёtr. Drama Sofii. Moskva 2008. Vgl. G. V. Forsten: Snošenija Švecii i Rossii vo vtoroj polovine XVII veka, 1648–1700, in: ŽMNP 323, 325 (1899), S. 277–339, 47–92; G. V. Forsten: K vnešnej politike velikogo kurfjursta Fridricha Vil’gel’ma Brandenburgskogo, in: ŽMNP 329, 330, 331 (1900), S. 304–330, 22–58, 304–336, 1–21; G. V. Forsten: Datskie diplomaty pri moskovskom dvore vo vtoroj polovine XVII veka, in: ŽMNP 355, 356 (1904), S. 110–181, 67–101, 291–374. Solov’ev: Istorija Rossii, S. 365–367. K. A. Kočegarov: Reč’ Pospolitaja i Rossija v 1680–1686 gg. Zaključenie dogovora o Večnom mire. Moskva 2008, S. 101–148. Welke: Rußland in der deutschen Publizistik, S. 229–231; Astrid Blome: Das deutsche Russlandbild im frühen 18. Jahrhundert: Untersuchungen zur zeitgenössischen Presseberichterstattung über Russland unter Peter I. Wiesbaden 2000 (= Forschungen zur osteuropäischen Geschichte 57), S. 55–58. S. M. Šamin: Kuranty kak istoričeskij istočnik po istorii Moskovskogo vosstanija 1682 goda: ot regenstva caricy Natal’i Kirillovny k regenstvy carevny Sof ’i Alekseevny, in: Moskovija: materialy
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1.4 Aufbau der Arbeit Die Analyse der Kommunikationsgeschichte des Strelitzen-Aufstands 1682 beginnt zunächst im Kapitel II mit dem einleitenden Exkurs in die außen- und innenpolitische Lage des Moskauer Reiches kurz vor der Rebellion sowie mit einer chronologischen Übersicht der Ereignisgeschichte der Jahre 1682 bis 1698. Das Kapitel III widmet sich der Analyse der Narrative über den Strelitzen-Aufstand in den inländischen russischen Quellen. Es beginnt mit dem Narrativ der aufständischen Strelitzen selbst, beleuchtet die Umdeutung der Aufstandsdarstellung während der Regentschaft von carevna Sof ’ja und thematisiert schließlich, wie sich die Rebellion bei den Autoren der petrinischen und postpetrinischen Epoche widerspiegelt. Die Kapitel IV und V bilden den Schwerpunt der Untersuchung und behandeln die Kommunikation über den Aufstand im europäischen Kontext. Kapitel IV beschäftigt sich mit der Berichterstattung in den diplomatischen Netzwerken sowie mit der Instrumentalisierung dieser Berichte bei den außenpolitischen Verhandlungen und Aktionen der Jahre 1682 bis 1684. Dabei konzentriert sich die Untersuchung auf sechs Hauptrichtungen der Informationsverbreitung und sechs teilnehmende auswärtige Beobachter: Dänemark, die Niederlande, Brandenburg-Preußen, Frankreich, Schweden und Polen-Litauen. In jedem dieser sechs Fälle werden jeweils die Bericht erstattenden Personen, ihre Kommunikationsnetzwerke und ihre Narrative über den Aufstand dargestellt und analysiert. Das Kapitel IV schließt mit einem Fazit über die Struktur und die Effizienz der diplomatischen Kommunikationskanäle während des Jahres 1682. Kapitel V erläutert die Verbindungen zwischen dem Netzwerk der diplomatischen Agenten und der europäischen frühmodernen Öffentlichkeit und erforscht die Tradierung von Narrativen über den Aufstand in den europäischen Druckmedien: von Zeitungen und Flugschriften der 1680er-Jahre bis hin zu historisch-publizistischen Werken des 18. Jahrhunderts. Abschließend wird im Kapitel V auf die Frage eingegangen, inwieweit ein Narrativentransfer bezüglich des Strelitzen-Aufstands zwischen Europa und Russland stattfand und in welchem Maße die russischen Autoren der petrinischen Zeit die westeuropäischen Erklärungsmuster und Rhetorik übernahmen. 1.5 Bemerkungen zu Begriffen und Datierung Der Strelitzen-Aufstand 1682 als Kommunikationsereignis steht wie dargelegt im Zentrum dieser Studie. Schon die Verwendung des Begriffs „Aufstand“ kann sicherlich viele Fragen aufwerfen. Gibt es einen Unterschied zwischen einem Aufstand und einer Revolte? In welchem Verhältnis stehen die beiden Phänomene zu anderen Typen
i issledovanija po istorii i archeologii, vypusk II. Moskva 2015, S. 8–27.
Bemerkungen zu Begriffen und Datierung
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von sozial-politischen Protesten und Erhebungen, wie etwa Tumult, Rebellion, Bürgerkrieg, militärische Meuterei oder Palastumsturz? Und zu welchem dieser Typen gehören die Ereignisse in Moskau im Jahre 1682? Die Ausarbeitung einer Typologie von Revolten, auch für die Epoche der Frühen Neuzeit, bildet ein Sondergebiet der Revoltenforschung,83 dies gehört jedoch nicht zu den Aufgaben dieser Arbeit. Für die kommunikationshistorische Zielsetzung der Studie ist es nicht erforderlich, den Typus der Erhebungsbewegung der Moskauer Strelitzen zu definieren. Man kann sie als eine frühneuzeitliche Stadtrevolte oder auch als Meuterei einer Militäreinheit betrachten. Einige Autoren sahen sie als Teil einer Palastverschwörung gegen den NaryškinKlan. In den russischen Akten der 1680er-Jahre wird die Zeit von Mai bis November 1682 auch als „Zeit der Wirren“ (smutnoe vremja) bezeichnet, wodurch sie mit dem Bürgerkrieg Anfang des 17. Jahrhunderts auf eine Ebene gestellt wird. In dieser Arbeit werden Begriffe wie „Aufstand“, „Revolte“ und „Rebellion“ vielmehr als Synonyme verwendet, um unschöne Wortwiederholungen zu vermeiden. An den Stellen jedoch, wo konkrete Quellen analysiert oder zitiert werden, werden die in ihnen verwendeten spezifischen Termini bevorzugt und in Anführungszeichen wiedergegeben, da die Begriffswahl eines Autors bzw. einer Quelle einen wichtigen Aspekt seines bzw. ihres bewertenden Aufstands-Narratives darstellt. Einige spezifische Begriffe der Geschichtsschreibung über Russland im 17. Jahrhundert – wie etwa d’jak, posol’skij prikaz, letopis’ u. a. – werden in der Arbeit in ihrer russischen Originalform verwendet, da es schwierig ist, eine adäquate deutsche Übersetzung zu finden, die keine Sinnveränderung beinhaltet. Bei der ersten Nennung dieser Begriffe wird jedoch ihre Bedeutung erklärt. Die russischen kyrillischen Namen werden der deutschen akademischen Tradition zufolge ins Lateinische transliteriert, mit der Ausnahme des Namens von Peter dem Großen, der traditionell in seiner eingedeutschten Form verwendet wird. Das Gleiche gilt für den eingedeutschten Terminus „Strelitzen“ (russische Form strel’cy). Der Begriff „Russisches Reich“ wird in der Arbeit als Synonym für „Russland/Russischer Staat“ benutzt, da diese Bezeichnung gleichzeitig für die Moskauer und die Sankt Petersburger Perioden der russischen Geschichte verwendet werden kann und damit als ein Oberbegriff dient.
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Für einen Versuch einer Typologie der frühneuzeitlichen Revolten siehe die grundlegende Arbeit: Perez ZAGORIN: Rebels and Rulers, 1500–1600, Bd. I. Society, states, and early modern revolutions. Agrarian and urban rebellions. Cambridge [u. a.] 1982, S. 36–47. Die Betrachtung der frühneuzeitlichen Revolten aus begriffsgeschichtlicher Perspektive siehe in: Reinhart KOSELLECK: Revolution: Rebellion, Aufruhr, Bürgerkrieg, in: Otto BRUNNER, Werner CONZE und Reinhart KOSELLECK (Hrsg.): Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 5. Stuttgart 2004, S. 653–788; Andreas ROTH: Revolte, Aufruhr und Tumulte – strafbare Verbrechen oder legitimer Widerstand?, in: Angela DE BENEDICTIS und Karl HÄRTER (Hrsg.): Revolten und politische Verbrechen zwischen dem 12. und 19. Jahrhundert. Rechtliche Reaktionen und juristisch-politische Diskurse. Frankfurt am Main 2013 (= Studien zur europäischen Rechtsgeschichte 285), S. 41–50.
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Einleitung
Die abschließende Bemerkung betrifft die ausgewählte Datierungsart. Im letzten Drittel des 17. Jahrhunderts koexistierten in Europa zwei Kalendersysteme: das alte julianische (alter Stil) und das im 16. Jahrhundert entwickelte gregorianische (neuer Stil). Der zeitliche Unterschied zwischen den beiden Kalendern lag im 17. Jahrhundert bei zehn Tagen. Während die katholischen Staaten das fortschrittliche gregorianische System nutzten, wurde der julianische Kalender in der Mehrheit der protestantischen Länder (z. B. in Schweden, Dänemark und England) sowie in Russland bevorzugt. Dies bedeutet, dass dasselbe Ereignis je nach Kalender ein unterschiedliches Datum tragen kann. So rebellierten die Strelitzen in Moskau nach dem alten Stil am 15. Mai, nach dem neuen Stil am 25. Mai. Da die überwiegende Mehrheit der in den Quellen erwähnten Daten dem alten Stil entspricht, wird dieser auch hier bevorzugt. D. h., dass alle Daten, die ohne Kommentar angegeben werden, dem alten Stil entsprechen, andernfalls wird die Angabe eines Datums mit dem Zusatz „n. S.“ (neuer Stil) versehen. Verwendet eine Quelle beide Datierungen, werden beide Daten wiedergegeben, wobei der alte Stil zuerst und dann der neue Stil steht: z. B. „15./25. Mai 1682“.
II. Historischer Hintergrund 2.1 Russland und Europa um 1682 Für die Analyse der interkulturellen Kommunikationsgeschichte des Strelitzen-Aufstands 1682 ist es sicherlich ratsam, zunächst einen Einblick in die außenpolitischen Beziehungen, in das Kommunikationssystem sowie die innenpolitische Lage des Moskauer Reichs zu geben. In der Publizistik und der populären Wahrnehmung überwiegt seit dem 19. Jahrhundert die Vorstellung, dass erst Peter der Große das „Fenster nach Europa“ geöffnet und damit das bisher rückständige Reich mit den technischen Fortschritten und kulturellen Entwicklungen der europäischen Frühneuzeit bekannt gemacht habe. Die Osteuropaforschung stellt diese umstrittene These bereits seit Langem infrage und hat Belege dafür gesammelt, dass die Knüpfung der engen Kontakte mit Westeuropa in Russland bereits früher, etwa ab der Mitte des 17. Jahrhunderts, angefangen hatte.84 Eine Schwellenepoche bildet dabei die Regierungszeit von Peters Vater, dem Zaren Aleksej Michajlovič (1645–1676), während der Russlands Interesse an technischen Fortschritten, dem Militärwesen sowie an der Hofkultur in Europa gewachsen war. Erstens unternahm der junge Zar zu Beginn des russisch-polnischen Kriegs (1654–1667) den Versuch, das moskowitische Heer zu modernisieren und zu
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Siehe eine gute Übersicht der Forschungskonzepte über die Rolle des 17. Jahrhunderts als „Schwellenepoche“ in der russischen Geschichte bei Stefan Troebst: Schwellenjahr 1667? Zur Debatte über den „Durchbruch der Neuzeit“ im Moskauer Staat, in: Berliner Jahrbuch für osteuropäische Geschichte 2 (1995), S. 151–172. Ein großer Apologet der These, dass die Europäisierung Russlands bereits in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts begann, war der deutsche Historiker Hans-Joachim Torke, wobei er das Moment des Durchbruchs eher in der Regierungszeit des Zaren Fedor Alekseevič sah, siehe Hans-Joachim Torke: The Significance of the Seventeenth Century, in: Robert O. Crummey, Holm Sundhaussen und Ricarda Vulpius (Hrsg.): Russische und Ukrainische Geschichte vom 16.–18. Jahrhundert. Wiesbaden 2001 (= Forschungen zur osteuropäischen Geschichte 58), S. 13–21. Der russische Historiker Pavel V. Sedov vertrat dagegen die Ansicht, dass die Reformen von Fedor Alekseevič eher einen konservativen Charakter hatten, vgl. P. V. Sedov: Rossija na poroge Novogo vremeni: reformy carja Fedora Alekseeviča, in: Hans-Joachim Torke (Hrsg.): Von Moskau nach St. Petersburg. Das russische Reich im 17. Jahrhundert. Wiesbaden 2000 (= Forschungen zur osteuropäischen Geschichte 56), S. 291–301.
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Historischer Hintergrund
reorganisieren, da die traditionellen Truppen – das adlige Reiteraufgebot – ihre Ineffizienz gegen disziplinierte Armeen der westlichen Nachbarn mehrmals demonstriert hatten. Um die auf westliche Art gerüsteten und organisierten sogenannten „Regimenter der neuen Ordnung“ (polki novogo stroja) auszubilden, waren in den 1650er- und 1660er-Jahren viele ausländische Offiziere nach Russland eingeladen worden.85 Da die Armee neben Fachpersonal auch Munition und Ausrüstung brauchte, erlebte der russische Handel mit den europäischen Märkten einen Aufschwung. Hauptorte des Handels waren Archangel’sk am Weißen Meer sowie Pskov und Novgorod im Nordwesten des Landes. Eine dominierende Stellung im russisch-europäischen Handel nahmen dabei seit der Jahrhundertmitte niederländische und Hamburger Kaufleute ein, die ihre Außenstellen in Moskau eröffneten.86 Dabei flossen jedoch nicht nur Kriegsausrüstung, sondern auch verschiedene Kulturgüter, wie z. B. Bücher, Kalender, Wein, Kutschen oder Hüte, nach Russland und trugen zur Europäisierung des Alltagslebens der Moskauer Elite bei.87 Die europäischen Söldner und Kaufleute kamen nach Moskau und ließen sich in der russischen Hauptstadt nieder. Unter dem Druck des Patriarchen Nikon war den Ausländern jedoch ab 1652 nicht erlaubt, in der unmittelbaren Nachbarschaft der russischen Menschen zu leben,88 sodass unweit von Moskau am Fluss Jauza eine besondere ausländische Siedlung (nemeckaja sloboda) gegründet wurde. Ende des 17. Jahrhunderts belief sich die Einwohnerzahl dieser Siedlung auf ca. 1200 bis 2000 Menschen,89 ethnisch überwogen Einwohner, die aus den deutschen Ländern und den Niederlanden stammten. Seit den 1650er-Jahren stieg auch Russlands Bedeutung auf der europäischen politischen Bühne.90 1654 unterstützte das Moskauer Reich den Aufstand der ukraini85
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Über die Rolle der sogenannten gunpowder revolution der Frühen Neuzeit bei der Militärreform im Russland des 17. Jahrhunderts und über die Bildung von „Regimentern der neuen Ordnung“ siehe: Richard Hellie: Enserfment and Military Change in Muscovy. Chicago & London 1971, S. 181–201; Michael C. Paul: The Military Revolution in Russia, 1550–1682, in: The Journal of Military History 68 (2004), Nr. 1, S. 9–45. Anke Martens: Hamburger Kaufleute im vorpetrinischen Moskau. Lüneburg 1999 (= Hamburger Beiträge zur Geschichte der Deutschen im europäischen Osten 6); Jarmo T. Kotilaine: Russia’s Foreign Trade and Economic Expansion in the Seventeenth Century: Windows on the World. Leiden [u. a.] 2005 (= Northern world 13), S. 64–156. Vgl. S. M. Šamin: Moda v Rossii poslednej četverti XVII stoletija, in: Drevnjaja Rus’. Voprosy medievistiki 1 (2005), S. 23–38; S. M. Šamin: Karety v bytu russkoj znati XVII v., in: Pozdnesrednevekovyj gorod II: Archeologija. Istorija. Tula 2009, S. 206–210. Samuel H. Baron: Die Ursprünge der Nemeckaja sloboda, in: Dagmar Herrmann (Hrsg.): Deutsche und Deutschland aus russischer Sicht 11.–17. Jahrhundert. München 1988 (= West-östliche Spiegelungen. Russen und Rußland aus deutscher Sicht und Deutsche und Deutschland aus russischer Sicht von den Anfängen bis zum 20. Jahrhundert. Reihe B, Bd. 1), S. 217–237, hier S. 234. V. A. Kovrigina: Nemeckaja sloboda Moskvy i eё žiteli v konce XVII – pervoj četverti XVIII vv. Moskva 1998 (= Issledovanija po russkoj istorii 9), S. 36; Viktor Dёnningchaus: Nemcy v obščestvennoj žizni Moskvy: simbioz i konflikt (1494–1941). Moskva 2004, S. 39. Über die internationalen Beziehungen in Ostmittel- und Osteuropa während der Jahre 1660–1682 siehe: Georg von Rauch: Moskau und die europäischen Mächte des 17. Jahrhunderts, in: Histori-
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schen Kosaken unter der Leitung von Hetman Bogdan Chmel’nickij und geriet dadurch in einen schwierigen dreizehnjährigen Krieg mit Polen-Litauen (1654–1667). Obwohl der polnisch-litauische Staat gerade in der Anfangsphase des Krieges kurz vor dem Zusammenbruch stand und auf dem Höhepunkt des russischen Militärerfolgs die Kandidatur des russischen Zaren bei den polnischen Königswahlen ernsthaft auf dem Warschauer Sejm diskutiert wurde, führte der Krieg nicht zu der entscheidenden Niederlage Polen-Litauens. Die Konfrontation endete 1667 mit dem Friedensvertrag von Andrusovo, der lediglich die russische Kontrolle über die Stadt Smolensk und die linksufrige Ukraine zuzüglich der Stadt Kiev bestätigte. Die Annexion der Territorien, wo sich die slawische („ruthenische“) christlich-orthodoxe Kultur seit einigen Hundert Jahren unter dem starken westernisierenden Einfluss der Tradition des Renaissance-Humanismus und des Katholizismus entwickelt hatte, führte jedoch im Endeffekt zur „Ruthenisierung“ des Moskauer Kulturlebens in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts.91 Viele weißrussische und ukrainische gelehrte Geistliche kamen nach Moskau und engagierten sich in der Bildungsarbeit als Sprachlehrer, Buchverleger, Dichter und Übersetzer. Der bekannteste dieser „Ruthenen“ – der aus der weißrussischen Stadt Polock stammende Mönch Simeon Polockij – genoss sogar die persönliche Gunst des Zaren Aleksej Michajlovič und agierte als Erzieher und Lateinlehrer seines Sohnes Fedor. Mit der territorialen Erweiterung in der Ukraine kam Moskau am nördlichen Ufer des Schwarzen Meeres jedoch direkt in Berührung mit den Interessen des Osmanischen Reiches, worauf 1676 ein russisch-türkischer Krieg ausbrach.92 Nach dem blutigen Kampf um die Stadt Čigirin, die die russischen Truppen und die ukrainische Bevölkerung am Ende doch verlassen mussten, gelang es Russland erst 1681, einen Waffenstillstand für zwanzig Jahre ohne große Gebietsverluste zu unterzeichnen, wobei die Unvermeidbarkeit eines neuen Konflikts für beide Seiten offensichtlich war. Die Konfrontation mit der mächtigen Osmanischen Pforte zwang Russland zur Suche nach Verbündeten in Europa und erhöhte gleichzeitig das Interesse der europäischen Mächte an Kontakten und Zusammenarbeit mit dem Moskauer Reich, was insbeson-
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sche Zeitschrift 178 (1954), S. 25–46, hier S. 34–43; Zbigniew Wójcik: From the Peace of Oliwa to the Truce of Bakhchisarai: International Relations in Eastern Europe, 1660–1681, in: Acta Poloniae Historica 34 (1976), S. 255–280; Klaus Malettke: Hegemonie – Multipolares System – Gleichgewicht. Internationale Beziehungen 1648/1659–1713/1714. Paderborn [u. a.] 2012 (= Handbuch der Geschichte der Internationalen Beziehungen 3), S. 377–385. Hans-Joachim Torke: Moskau und sein Westen. Zur „Ruthenisierung“ der russischen Kultur, in: Berliner Jahrbuch für osteuropäische Geschichte 1 (1996), S. 101–120; Wolfram von Scheliha: Russland und die orthodoxe Universalkirche in der Patriarchatsperiode 1589–1721. Wiesbaden 2004 (= Forschungen zur osteuropäischen Geschichte 62), S. 391–394. B. N. Florja: Vojny Osmanskoj imperii s gosudarstvami Vostočnoj Evropy (1672–1681 gg.), in: Osmanskaja imperija i strany Central’noj, Vostočnoj i Jugo-Vostočnoj Evropy v XVII v., Bd. 2. Moskva 2001, S. 108–148, hier S. 126–139.
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dere auf die ständig von den Türken bedrohten Habsburger zutraf.93 Eine neue osmanische Offensive in Ungarn und an der Donau wurde Anfang der 1680er-Jahre immer wahrscheinlicher. Die Pforte gewährte den ungarischen Rebellen gegen die Habsburger ihre volle Unterstützung und akzeptierte 1682 sogar deren Anführer Imre Thököly als türkischen Vasallen. Russland, das kurz zuvor Krieg gegen die Osmanen geführt hatte, wurde als möglicher Alliierter im Kampf gegen den „ewigen Feind“ des Christentums gesehen. Das Verhältnis des polnischen Königs gegenüber Russland blieb dabei ambivalent: Einerseits war das Moskauer Reich ein potentieller Bündnispartner Polen-Litauens im Fall einer neuen Auseinandersetzung mit den Türken, andererseits strebte der polnische Königshof im Geheimen eine Revanche für die Niederlage im Dreizehnjährigen Krieg (1654–1667) an und hoffte auf die Wiedergewinnung der Stadt Smolensk und der linksufrigen Ukraine. Die russisch-polnischen Verhandlungen über die Schließung einer antitürkischen Allianz blieben daher erfolglos und die Beziehungen zwischen den beiden slawischen Reichen waren zum Jahr 1682 angespannt und von Misstrauen geprägt. Der andere außenpolitische Konflikt, in den Russland in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts einbezogen war, betraf die sogenannte ‚baltische Frage‘ – die Machtkonstellation im Ostseegebiet, wo das Königreich Schweden im Laufe der Kriege des 17. Jahrhunderts eine vorherrschende Position einnahm. 1617, nach dem Ende der russischen „Zeit der Wirren“ gelang es Schweden, einen Landstreifen an den Ufern des Finnischen Meerbusens von Russland zu annektieren, und der russische Versuch in den Jahren 1656 bis 1658, dieses Territorium zurückzuerobern sowie die Schweden aus den baltischen Häfen zu verdrängen, hatte wenig Erfolg. 1661 schlossen die beiden Reiche in Kardis einen Frieden, der den status quo ante bellum bestätigte. Für den Rest des Jahrhunderts blieben die Beziehungen zwischen Russland und Schweden zwar friedlich, aber angespannt, sodass stets der Schatten eines neuen großen Krieges über dem Baltikum schwebte.94 An der Kooperation mit dem Moskauer Reich waren deswegen andere Gegner Schwedens – Dänemark und Brandenburg-Preußen – äußerst interessiert. Während der 1670er-Jahre versuchten die beiden Reiche immer wieder, die russische Regierung zu einem antischwedischen Militärbündnis zu überreden und einen 93
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Über die Kontakte zwischen dem Wiener Kaiserhof und dem Moskauer Reich im 17. Jahrhundert siehe Walter Leitsch: Moskau und die Politik des Kaiserhofs im XVII. Jahrhundert, Bd. 1. Graz & Köln 1960; Iskra Schwarcz: Die diplomatischen Beziehungen Österreich–Russland in der zweiten Hälfte des XVII. Jahrhunderts, in: Lorenz Mikoletzky (Hrsg.): 200 Jahre russisches Außenministerium. Innsbruck [u. a.] 2003 (= Mitteilungen des österreichischen Staatsarchivs 50), S. 29–42. Über die russisch-schwedischen Beziehungen in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts siehe die klassische Abhandlung von Klaus Zernack sowie die Monografie von Elena I. Kobzareva: Klaus Zernack: Studien zu den schwedisch-russischen Beziehungen in der 2. Hälfte des 17. Jahrhunderts. Teil I: die diplomatischen Beziehungen zwischen Schweden und Moskau von 1675 bis 1689. Gießen 1958 (= Giessener Abhandlungen zur Agrar- und Wirtschaftsforschung des europäischen Ostens 7); E. I. Kobzareva: Rossija i Švecija v sisteme meždunarodnych otnošenij v 1672–1681 gg. Moskva 2017.
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russisch-schwedischen Krieg zu provozieren, jedoch waren diese Anstrengungen nicht von Erfolg gekrönt. Der Krieg der Jahre 1674 bis 1679 zwischen Schweden einerseits und Dänemark und Brandenburg-Preußen andererseits brachte für die beiden letzteren Reiche trotz des insgesamt siegreichen Kriegsverlaufs wenig Ergebnisse: Dank der diplomatischen Unterstützung seines Bündnispartners, des Königs Ludwig XIV. von Frankreich, konnte Schweden den Krieg ohne Gebietsverluste beenden.95 Anfang der 1680er-Jahre wurde jedoch die traditionell freundschaftliche Beziehung zwischen Schweden und Frankreich zunehmend kompliziert und der europäische Norden erlebte die Formierung von neuen Allianzen. Anfang 1682 bildeten sich zwei Koalitionen heraus: Schweden verbündete sich im sogenannten Garantievertrag mit den Gegnern Frankreichs – den Niederlanden und dem deutschen Kaiserreich, während der Kurfürst von Brandenburg-Preußen und der dänische König eine Tripelallianz mit Ludwig XIV. schlossen.96 Die Einstellung des Moskauer Zaren zu Schweden und zur politischen Situation im Ostseegebiet konnte zu einem Schlüsselfaktor in der Lösung der baltischen Frage werden. Viele Augen richteten sich deswegen 1682 gen Moskau und verfolgten die Entwicklung der Machtkonstellationen am Zarenhof. Die skizzeirten Tendenzen in der ökonomischen, kulturellen und außenpolitischen Entwicklung Russlands in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts führten dazu, dass die kommunikativen Verbindungen zwischen dem Moskauer Reich und dem Westen etwa ab den 1660er-Jahren deutlich intensiver wurden. Die diplomatischen Kontakte erreichten ihren Höhepunkt während der letzten Regierungsjahre von Aleksej Michajlovič (ca. 1672–1676), als Moskau von den Gesandtschaften aus dem Heiligen Römischen Reich, Schweden, Preußen, den Niederlanden und Dänemark besucht wurde. Um Kommunikation mit besonders wichtigen diplomatischen Partnern effizienter und schneller gestalten zu können, gestattete die Regierung Aleksej Michajlovičs in der russischen Hauptstadt die Einrichtung von ausländischen Residenturen – dauerhaften diplomatischen Vertretungen – von Dänemark (Mons Giøe, seit 1672), Preußen (Hermann Dietrich Hesse, seit 1675) und den Niederlanden ( Johann Wilhelm van Keller, seit 1676). Die Situation änderte sich jedoch kurz darauf, als Zar Aleksej, der große Gönner der Westeuropäer, am 29. Januar 1676 starb. Auf den Moskauer Thron stieg sein ältester aus der Ehe mit Marija Miloslavskaja geborener Sohn Fedor (geb. 1661), was gleichzeitig den Machtaufstieg des dem Westen feindlich gesonnenen Klans der Miloslavskijs bedeutete. Der Däne Mons Giøe verließ Russland im Juni 1676, und der neue Gesandte
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R. Hoffstedt: Sveriges utrikespolitik under krigsåren 1675–1679. Uppsala 1943, S. 276–341. Karl-Elof Rudelius: Sveriges utrikespolitik 1681–1684. Från garantitraktaten till stilleståndet i Regensburg. Uppsala 1942, S. 61–112; Andrew Lossky: Louis XIV, William III, and the Baltic Crisis of 1683. Berkeley & Los Angeles 1954 (= University of California Publications in History 49), S. 1–6; Zernack: Studien zu den schwedisch-russischen Beziehungen, S. 114–116; Malettke: Hegemonie – Multipolares System – Gleichgewicht, S. 454–457.
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Friedrich von Gabel bekam keine Akkreditierung als Resident und musste sich 1678 ebenso von Moskau verabschieden. Abgeschafft wurde auch die preußische Residentur, und der schwedische Gesandte Christof Koch, der erst 1679 im Status eines Kommissars nach Russland gekommen war, konnte trotz all seiner Bemühungen keinen Residentenstatus erlangen. Anfang 1682 blieben in Moskau nur noch der niederländische Agent Johann van Keller und der dänische Handelsfaktor (Vertreter der Handelsinteressen) Heinrich Butenant. Die beiden pflegten regelmäßige Korrespondenzen mit ihren Heimatregierungen und teilten die wichtigsten Nachrichten über die Moskauer Politik mit. Die Abwesenheit von eigenen ständigen diplomatischen Vertretern in der russischen Hauptstadt bedeutete für die anderen politischen Akteure, v. a. für die Nachbarländer Russlands, Schweden und Polen-Litauen, jedoch nicht, dass sie keinerlei Kenntnis über die Ereignisse in Moskau hatten. Die totale Isolation Russlands war angesichts der bereits entstandenen ökonomischen und kulturellen Verbindungen nicht mehr möglich. Wie im weiteren Verlauf der Untersuchung noch zu zeigen ist, kamen die Berichte über die Strelitzen-Unruhe nach Stockholm, Jaworow, Berlin und Wien über verschiedene gut funktionierende Kanäle, wobei die in russischen Städten anwesenden Ausländer – Kaufleute, Unternehmer – und zarische Dienstleute eine entscheidende Rolle spielten. Russische diplomatische Vertretungen im Ausland gab es 1682 keine. Der erste Versuch, einen ständigen russischen Berichterstatter im Ausland zu stationieren, wurde 1673 unternommen, als der Moskauer Adlige Vasilij Tjapkin als Resident an den polnischen Königshof entsandt wurde. Tjapkin berichtete fleißig über die polnische Außenpolitik in die Heimat, musste jedoch 1677 aufgrund vieler Streitigkeiten und gegenseitigen Misstrauens nach Russland zurückkehren.97 Daher war die Moskauer Regierung im 17. Jahrhundert in ihren Beziehungen mit der Außenwelt hauptsächlich auf gelegentliche diplomatische Missionen angewiesen. Für Verhandlungen mit ausländischen Herrschern waren Gesandte (posly) oder Großgesandte (velikie posly) verantwortlich, die aus der oberen Moskauer Adelsschicht und dem höheren Beamtenkorps (d’jaki) rekrutiert wurden. Beamte des niedrigeren Grades (pod’jačii) wurden dagegen als Boten oder Kuriere (goncy) eingesetzt, deren Aufgabe das Überbringen von wichtigen politischen Nachrichten war (z. B. über das Ableben des Zaren oder neue Friedensverträge). Dabei erhielten sowohl die Gesandten als auch die Kuriere in der Regel neben ihren direkten diplomatischen Aufträgen noch eine zweite Aufga97
Über die Anwesenheit Tjapkins am polnischen Königshof und seine Relationen siehe die alte, aber grundlegende Monografie: A. N. Popov: Russkoe posol’stvo v Pol’še v 1673–1677 godach. Neskol’ko let iz istorii otnošenij drevnej Rossii k ervopejskim deržavam. Sankt-Peterburg 1854. Für eine kurze Zusammenfassung des Engagements Tjapkins als Berichterstatter siehe auch Daniel C. Waugh: What the Posol’skii Prikaz Really Knew: Intelligencers, Secret Agents and their Reports, in: Siv Gøril Brandtzæg, Paul Goring und Christine Watson (Hrsg.): Travelling Chronicles: News and Newspapers from the Early Modern Period to the Eighteenth Century. Leiden & Boston 2018 (= Library of the Written Word 66), S. 140–154, hier S. 145–148.
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be vom Moskauer Gesandtschaftsamt: das Sammeln ausländischer Nachrichten. Die Vollständigkeit und die Ausführlichkeit der nach Hause gebrachten Nachrichten variierten gravierend und hingen sehr von Qualifikation, Engagement und Kontakten des jeweiligen Gesandten ab.98 Angesichts des Informationsmangels über politische Angelegenheiten im Ausland entdeckte und förderte der Zarenhof im Laufe des Jahrhunderts eine andere Quelle des Nachrichtenerwerbs – die Zeitungen. Diese kamen im Europa des 17. Jahrhunderts auf und verbreiteten sich rasch als Kommunikationsmedium. 1605 erschien das allererste gedruckte periodische Nachrichtenblatt in Straßburg, und bereits rund siebzig Jahre später, im letzten Drittel des Jahrhunderts, hatte fast jede mehr oder weniger bedeutsame Stadt in Westeuropa eine eigene Zeitung.99 In Großstädten wie Hamburg, Köln, München oder Amsterdam existierten gleichzeitig mehrere konkurrierende periodische Ausgaben. Der Hauptteil des Inhalts einer typischen Zeitung widmete sich Nachrichten über militärische Auseinandersetzungen, politische Verhandlungen, Allianzen und innenpolitische Tumulte, was die Zeitung als Medium zu einer äußerst wichtigen Informationsquelle für politische Akteure machte. Tatsächlich wurden Nachrichtenblätter an mehreren europäischen Königs- und Fürstenhöfen in der Frühneuzeit abonniert und sorgfältig gelesen. Der Moskauer Zarenhof stellt dabei keine Ausnahme dar: Bereits Anfang der 1620er-Jahre begannen die Mitarbeiter von posol’skij prikaz einzelne deutschsprachige und niederländische Zeitungen für den Zaren zu übersetzen.100 Die Lieferung der neuen Drucke blieb jedoch lange Zeit unregelmäßig; sie gelangten vor allem über russische Gesandte und Kaufleute oder über Ausländer, die Russland auf
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Über die Organisation des Moskauer Gesandtschaftswesens und des Gesandtschaftsamts vgl. S. A. Belokurov: O Posol’skom prikaze. Moskva 1906; L. A. Juzefovič: „Kak v posol’skich obyčajach vedёtsja …“ Russkij posol’skij obyčaj konca XV – načala XVII v. Moskva 1988; E. V. Čistjakova und N. M. Rogožin (Hrsg.): „Oko vsej velikoj Rossii“. Ob istorii russkoj diplomatičeskoj služby XVI–XVII vekov. Moskva 1989; Jan Hennings: Russia and Courtly Europe: Ritual and the Culture of Diplomacy, 1648–1725. Cambridge 2016 (= New studies in European history), S. 69–111. Über die russischen Gesandtschaften des 17. Jahrhunderts und deren Engagement im Informationserwerb siehe D. S. Lichačёv: Povesti russkich poslov kak pamjatniki literatury, in: Putešestvija russkich poslov XVI–XVII vv. Statejnye spiski. Moskva & Leningrad 1954, S. 319–346; M. A. Alpatov: Čto znal Posol’skij prikaz o Zapadnoj Evrope vo vtoroj polovine XVII v., in: Istorija i istoriki. Istoriografija vseobščej istorii: sbornik statej. Moskva 1966, S. 89–129; Ingrid Maier und Daniel C. Waugh: How Well was Muscovy Connected with the World?, in: Guido Hausmann und Angela Rustemeyer (Hrsg.): Imperienvergleich. Beispiele und Ansätze aus osteuropäischer Perspektive. Festschrift für Andreas Kappeler. Wiesbaden 2009 (= Forschungen zur osteuropäischen Geschichte 75), S. 17–38. 99 Über die Entstehung und die Entwicklung der Zeitung als Medium im 17. Jahrhundert siehe: Andreas Würgler: Medien in der Frühen Neuzeit. München 2009 (= Enzyklopädie deutscher Geschichte 85), S. 35–39; Jürgen Wilke: Grundzüge der Medien- und Kommunikationsgeschichte, 2. Aufl. Köln [u. a.] 2008, S. 40–70; sowie weitere bibliografische Angaben in der Fn. 647. 100 Maier: Presseberichte am Zarenhof; Maier (Hrsg.): Vesti-Kuranty, S. 54–57. Die nicht-periodischen gedruckten Broschüren und Flugschriften kamen noch früher nach Russland, nämlich in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts, ebd., S. 53–54.
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ihren Handels- und Dienstwegen besuchten, nach Moskau.101 Aleksej Michajlovič bemühte sich aber, ein ständiges Abonnement der Zeitungen nach Moskau zu organisieren. Die Lage änderte sich schließlich 1665, als die erste Postroute zwischen Russland und Westeuropa über Pskov und Riga eingerichtet wurde.102 1669 nahm zusätzlich noch die Postroute Moskau–Vilnius–Berlin ihren Dienst auf. Seitdem erreichten die europäischen Zeitungen die russische Hauptstadt im Durchschnitt acht bis zehn Mal pro Monat; nach ihrer Ankunft wählten die Mitarbeiter von posol’skij prikaz die interessantesten Nachrichten aus und fertigten Übersetzungen der Abschnitte ins Russische an, wonach die zusammengestellten Berichte dem Zaren und seinem Beraterkreis vorgelegt werden mussten.103 Vorwiegend wurden die deutschen und die niederländischen Zeitungen in Moskau abonniert, unter den deutschsprachigen Zeitungen prävalierten die Nachrichtenblätter aus den Städten im deutschen Norden und Nordosten (Hamburg, Berlin, Königsberg und Danzig).104 Zu Beginn der 1680er-Jahre, nach dem Ende des russisch-türkischen Kriegs, ließ das Interesse des Zarenhofes an ausländischer Presse etwas nach, sodass die Vilnius-Postroute ab 1681 sehr unregelmäßig in Anspruch genommen und 1683 für zwei Jahre abgeschafft wurde.105 Das Hauptprinzip des Bestellens und der Auswertung der ankommenden Zeitungen blieb jedoch ohne Veränderung. Die Untersuchung der Inhalte der im Moskauer Gesandtschaftsamt angefertigten Zeitungsübersetzungen – der sogenannten kuranty – zeigt, dass die zarische Regierung sich vor allem für politische Neuigkeiten aus dem Ausland interessierte, aber auch die Berichterstattung der europäischen Presse über Ereignisse im Moskauer Staat selbst mit Neugier verfolgte.106 Die Nachrichten aus „Moßcowien“ oder „Reussland“, die in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts allerdings einen eher bescheidenen Platz im Gesamtinhalt der deutschsprachigen und niederländischen Zeitungen einnahmen,
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Šamin: Kuranty XVII stoletija, S. 74–80. Ebd., S. 84–88. 1665 übernahm der holländische Kaufmann Johann van Sweeden zwar die Verpflichtung, Zeitungen aus dem Ausland zu beschaffen, aber der russisch-polnische Krieg hinderte die tatsächliche Inbetriebnahme der Postverbindung. Erst ab 1668 konnte die Rigaer Post regelmäßig verlaufen, siehe Erik Amburger: Die Familie Marselis. Studien zur russischen Wirtschaftsgeschichte. Gießen 1957 (= Giessener Abhandlungen zur Agrar- und Wirtschaftsforschung des europäischen Ostens 4), S. 154–160. Über die Frühgeschichte des russischen Postwesens im 17. Jahrhundert vgl. außerdem die klassische Studie I. P. Kozlovskij: Pervye počty i pervye počtmejstery v Moskovskom gosudarstve, Bd. I (tekst issledovanija). Varšava 1913. 103 Die Häufigkeit der Zeitungslieferung und der Umfang der kuranty variierten in den verschiedenen Jahren. Nicht alle zusammengestellten Übersetzungen waren dabei für das Vorlesen vor dem Zaren bestimmt, im Durchschnitt geschah dies drei bis fünf Mal pro Monat. Über die Praxis der Anfertigung von kuranty und den Umgang der russischen Regierung mit deren Inhalten siehe Maier: Presseberichte am Zarenhof; Šamin: Kuranty XVII stoletija, S. 92–117. 104 Maier: Presseberichte am Zarenhof, S. 105–110; Maier (Hrsg.): Vesti-Kuranty, S. 74–87. 105 Kozlovskij: Pervye počty, S. 328–333. 106 Šamin: Kuranty XVII stoletija, S. 146–175.
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wurden in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts immer häufiger abgedruckt.107 Das Interesse der Ausländer an russischen Geschehnissen wuchs insbesondere in Zeiten der Kriege und innerer Unruhen, wie z. B. während der aktiven Phase des russisch-türkischen Krieges der 1670er-Jahre oder des Kosakenaufstands von Stepan Razin.108 Die Nachrichten selbst wurden dabei von verschiedenen Seiten geliefert: Einerseits berichteten aus Russland zurückkehrende Kaufleute, andererseits teilten die in Russland ansässigen Ausländer, einschließlich der diplomatischen Residenten, ihre Informationen mit. Die Identität der jeweiligen Autoren einer Zeitungsnachricht ist dabei meistens unbekannt, nur in wenigen Fällen kann mit großer Wahrscheinlichkeit nachgewiesen werden, wer der Berichterstatter einer „russischen“ Nachricht war. Anonymität war oft notwendig, da die russische Regierung negative Meldungen über die Macht des Zaren und das Moskauer Reich durch die kuranty registrierte und die Informanten mit harten Strafen verfolgt hätte.109 Der Zusammenhang von Zeitungsnachrichten, diplomatischen Agenten, ihren Berichten und politischer Beobachtung bezüglich des Strelitzen-Aufstands 1682 wird noch in späteren Kapiteln dieses Buches thematisiert und genauer betrachtet. Die Lage in Moskau am Anfang der 1680er-Jahre und insbesondere in den letzten Regierungsmonaten des Zaren Fedor Alekseevič war insgesamt sehr unruhig. Fedor war ein kränklicher junger Mann und litt unter Skorbut.110 Sein Sohn aus erster Ehe mit Agaf ’ja Grušeckaja, Il’ja, starb kurz nach seiner Geburt im Juli 1681, und drei Tage später starb auch seine Mutter. Zum zweiten Mal heiratete der bereits schwer erkrankte Zar am 15. Februar 1682, doch auch seine Ehe mit Marfa Apraksina blieb kinderlos. In Regierungskreisen stellte sich die Frage der Nachfolge. Zur Wahl standen die bei107 Vgl. Welke: Rußland in der deutschen Publizistik. Dies war allerdings kein linearer Prozess – die Perioden der Intensivierung der Zeitungsberichte über Russland wechselten mit Zeiten abnehmenden Interesses. 108 A. L. Gol’dberg: Izvestija o Rossii v zapadnoevropejskich periodičeskich izdanijach XVI–XVII vekov, in: Voprosy istorii 7 (1961), S. 205–207; Maier: How was Western Europe Informed. 109 ‚Unfreundliche‘ Berichte der ausländischen Zeitungen über Russland wurden mehrmals zur Grundlage eines diplomatischen Streits. Bekannt ist der Fall von Moskaus Protest gegen die „lügenhaften“ Erzählungen über die Erfolge der Rebellion von Stepan Razin, die angeblich von „Rigaer Gazetiers“ im November 1670 verbreitet wurden. Für die Autoren der Nachrichten verlangte die russische Regierung die Todesstrafe und der Präzedenzfall wurde von der russischen Seite noch bis in die 1680er-Jahre ausgenutzt, um während diplomatischer Verhandlungen Druck auf Schweden auszuüben, siehe darüber Ingrid Maier und Stepan M. Shamin: „Revolts“ in the Kuranty of March-July 1671, in: Malte Griesse (Hrsg.): From Mutual Observation to Propaganda War: Premodern Revolts in Their Transnational Representations. Bielefeld 2014 (= Histoire 56), S. 181–203, hier S. 199–201. Die Verbreitung der Informationen über politische Neuigkeiten im Moskauer Reich konnte auch für in Moskau ansässige Ausländer Konsequenzen haben. Wegen des Verdachts der Übermittlung solcher Nachrichten wurde der schwedische Kaufmann Christof Koch 1678 aus Moskau ausgewiesen, siehe Šamin: Kuranty XVII stoletija, S. 164–165. 110 P. V. Sedov: Zakat moskovskogo carstva: carskij dvor konca XVII veka. Sankt-Peterburg 2008, S. 183; Hans-Joachim Torke: Fedor Alekseevič, 1676–1682, in: Hans-Joachim Torke (Hrsg.): Die russischen Zaren, 1547–1917. München 1995, S. 129–137.
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den jüngeren Brüder Fedors: Sein leiblicher Bruder Ivan war bereits 15 Jahre alt, aber ein schwächlicher Junge mit Sprach- und Sehbehinderung111; der 9-jährige Peter, Sohn von Aleksej Michajlovič und seiner zweiten noch lebenden Frau Natal’ja Naryškina, war zwar gesund, aber mit der ganzen Familie Naryškin 1676 in Ungnade gefallen. Der Vormund von Peters Mutter war Artemon Matveev – ein mächtiger Favorit des Zaren Aleksej Michajlovič. Unter der Schirmherrschaft seines Gönners hatte Matveev in den späten 1660er- und 1670er-Jahren eine schwindelerregend steile Karriere vom Strelitzenhaupt zum Leiter des posol’skij prikaz und einigen weiteren Zentralämtern sowie zum „Kanzler“ des russischen Reichs gemacht.112 Genauso rasant war aber auch sein Niedergang nach dem Tod von Aleksej Michajlovič. Fedors Thronbesteigung bedeutete die Rückkehr von Matveevs Gegnern – den Miloslavskijs – an die Macht. Im Juli 1676 wurde Matveev zunächst der Korruption und des Machtmissbrauchs angeklagt und aus Moskau verbannt. Nach weiteren Ermittlungen bereits in Abwesenheit Matveevs folgten neue Vorwürfe: Diesmal wurden dem „Kanzler“ Hexerei und der Versuch, seinen Protegé Peter auf den Thron zu setzten, zur Last gelegt. Matveev verlor seine Titel und sein ganzes Vermögen und wurde selbst nach Pustozersk in den russischen Norden verbannt. Ein ähnliches Schicksal ereilte seine Anhänger, die Verwandten der verwitweten Natal’ja Naryškina, die ebenfalls ins Exil geschickt wurden.113 Erst ab Januar 1682 begann sich die Lage Matveevs zu verbessern, da die zweite Braut Fedors, Marfa Apraksina, seine Patentochter war. Matveev wurde erlaubt, aus seiner Verbannung näher an Moskau heran, in die Stadt Luch zu ziehen.114 Es scheint plausibel, dass seine allmähliche Rehabilitierung nicht bloß auf Fürsprache der neuen Zarin geschah, sondern eine wohlbedachte Aktion der neuen Ratgeber des Zaren, v. a. des bedeutsamsten zarischen Favoriten Ivan Maksimovič Jazykov, war. Angesichts Fedors Krankheit und seines schwachen Zustands im Winter 1681/2 wurde die Wahl
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Obwohl die genaue Diagnose von Ivan unmöglich ist, erweckt die Tatsache seiner Behinderung keine Zweifel. Alle in den 1680er-Jahren in Moskau anwesenden Diplomaten beschrieben Ivans „schwere Augen“ (oder gar Blindheit), Schwierigkeiten beim Sprechen und generelle Geistesschwäche. Siehe die Zusammenfassung der Argumente und die Schlussfolgerung über Ivans Behinderung in Hughes: Sophia, Regent of Russia, S. 91–95. Die Charakteristik Ivans von Hans-Joachim Torke als „Epileptiker, schwachsinnig und fast blind“ scheint jedoch etwas zu voreilig, siehe Hans-Joachim Torke: Ivan V. und die Regentin Sof ’ja, 1682–1689/96, in: Hans-Joachim Torke (Hrsg.): Die russischen Zaren, 1547–1917. München 1995, S. 139–153, hier S. 139. Außer dem Gesandtschaftsamt bekam Matveev auch die Leitung des Apothekenamts und des Malorossijskij Amts. Als „Kanzler“, d. h. als zweitwichtigste Person im Reich nach dem Zaren, bezeichneten ihn viele ausländische Autoren. Über die Karriere von Matveev siehe Sedov: Zakat moskovskogo carstva, S. 81–84; N. M. Rogožin: Artamon Sergeevič Matveev, in: E. V. Čistjakova und N. M. Rogožin (Hrsg.): „Oko vsej velikoj Rossii“. Ob istorii russkoj diplomatičeskoj služby XVI–XVII vekov. Moskva 1989, S. 146–178. Sedov: Zakat moskovskogo carstva, S. 241–249, 260–266, 280–284. Über den Gerichtsprozess gegen Artemon Matveev und seine Verbannung siehe auch E. F. Šmurlo: Kritičeskie zametki po istorii Petra Velikago, in: ŽMNP 331 (1900), S. 335–366. Sedov: Zakat moskovskogo carstva, S. 385.
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eines Nachfolgers notwendig, und der gesunde Peter schien ein geeigneterer Kandidat zu sein als der kränkliche Ivan. Die erneute Machtzunahme seiner Verwandten und Anhänger war nur eine Frage der Zeit. Die Rückkehr von Matveev und der Naryškins konnte für ihre Feinde am Hof, die Miloslavskijs, jedoch nichts Gutes bedeuten. Damit stand die Moskauer regierende Elite im April 1682 vor großen Veränderungen. Aber nicht nur in regierenden Kreisen, sondern auch in der Bevölkerung war der Wunsch nach Veränderungen Anfang 1682 deutlich geworden. Der lange Krieg mit dem Osmanischen Reich offenbarte ein erhebliches Finanzdefizit des russischen Staates.115 Trotz einiger erfolgreicher Reformmaßnahmen in den Jahren 1679 bis 1681 musste die Regierung den Silberanteil der russischen Münze (kopejka) um 15 Prozent reduzieren, was eine Inflation verursachte.116 Das Elend der steuerpflichtigen Schichten, v. a. in der Stadt, stand dem Wohlstand des hohen Adels und des Beamtenkorps diametral entgegen. Am deutlichsten verschlechterte sich die Lage der Strelitzen – der russischen Schützeninfanterie. Das Korps der Strelitzen war 1550 gegründet worden und war die erste mit Feuerwaffen ausgerüstete russische Truppe.117 Obwohl es ursprünglich nur 3000 Strelitzen gegeben hatte, war das Strelitzenheer im Laufe des 17. Jahrhunderts erheblich angewachsen: 1681 belief sich ihre Zahl auf ca. 55.000 Mann, wovon etwa 20.000 allein in Moskau stationiert waren.118 Sie wurden aus der russischen Bevölkerung rekrutiert; in den meisten Fällen war ihr Dienst vererbbar: Der Sohn eines Strelitzen übernahm den Posten seines Vaters.119 In den Kriegen des Moskauer Reichs, in den Auseinandersetzungen sowohl mit den westlichen Nachbarn als auch mit Türken und Krimtataren an der südlichen Grenze, bildeten die Strelitzen einen wesentlichen Teil der russischen Armee. Seit der Jahrhundertmitte begann die Bedeutung der Strelitzenregimenter in den Augen der zarischen Regierung jedoch im Vergleich zu den nach europäischem Muster trainierten Soldatentruppen und Söldnerkontingenten, der sogenannten „Truppen der neuen Ordnung“ (polki novogo stroja), zu sinken. Anstatt auf dem Schlachtfeld wurden die Strelitzen immer öfter als Milizkräfte in Städten eingesetzt – zur Bewahrung der Ordnung
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Vgl. Aleksandr Lavrov: La Hovanščina et la crise financière de la Russie moscovite. La notion de crise et l’histoire de la Moscovie, in: Cahiers du monde russe 50 (2009), Nr. 2–3, S. 533–556. Sedov: Rossija na poroge Novogo vremeni, S. 296. Über die Gründung des Strelitzenheeres siehe: John L. H. Keep: Soldiers of the Tsar: Army and Society in Russia 1462–1874. Oxford 1985, S. 61; M. Ju. Romanov: Strel’cy moskovskie. Moskva 2004, S. 13–14; V. V. Penskoj: „Janyčary“ Ivana Groznogo: streleckoe vojsko vo 2-j polovine XVI – načale XVII vv. Moskva 2019 (= Lučšie voiny v istorii), S. 89–93. A. V. Černov: Vooružёnnye sily Russkogo Gosudarstva v XV–XVII vv. Moskva 1954, S. 162–163; Buganov: Moskovskie vosstanija, S. 79; Hellie: Enserfment and Military Change, S. 161. S. L. Margolin: K voprosu ob organizacii i social’nom sostave streleckogo vojska v XVII v., in: Učёnye zapiski Moskovskogo oblastnogo pedagogičeskogo instituta, Bd. 27, Trudy kafedry istorii SSSR, vypusk 2 (1953), S. 63–95, hier S. 81; Romanov: Strel’cy moskovskie, S. 42.
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und Bekämpfung von Stadtbränden.120 In russischen Städten, einschließlich Moskau, bildeten sich ganze Siedlungen (slobody), in denen sich die Strelitzen mit ihren Familien in Friedenszeiten aufhielten. Seit ihrer Gründung war es den Strelitzen erlaubt, neben den Kriegsdiensten auch kleinen Handel und Handwerk zu betreiben.121 Obwohl diese Nebentätigkeiten dem Staat den Unterhalt des Strelitzenheeres finanziell erleichterten, wirkten sie sich negativ auf sein Kampfpotential aus: Die Ausübung des Militärdiensts im Felde erschien für viele im Vergleich zum ruhigen Familienleben in der Stadt als mühselige Last. Die Versuche der Regierung, die Strelitzenregimenter zu reformieren und den übrigen Soldatentruppen gleichzusetzen, stießen auf Widerstand. Gleichzeitig vermischten sich die Strelitzen nicht mit der übrigen Stadtbevölkerung, weil sie als Dienstleute des Zaren von der allgemeinen Steuerpflicht befreit waren. Sie bildeten daher eine gesonderte soziale Gruppe mit eigener korporativer Identität. Die finanzielle Krise am Anfang der 1680er-Jahre betraf auch das Strelitzenheer. Die Regierung suchte nach Möglichkeiten, die zu hoch gewordenen Ausgaben für das Militär zu senken. In einigen Provinzstädten wurden die dortigen Strelitzenregimenter in die Selbstversorgung von ihrem Landbesitz überführt, die Auszahlung ihres Soldes in Geld wurde abgeschafft. 1681 wurde geplant, die für die Staatskasse zu teure und übergroße Moskauer Garnison zu reduzieren, zwei Drittel der Strelitzen sollten in die Provinzstädte abkommandiert werden.122 Der Dienstlohn eines Strelitzen war seit der Mitte des 16. Jahrhunderts trotz Inflation fast unverändert geblieben und belief sich 1681 auf nur ca. fünf Rubel jährlich.123 Obwohl die Strelitzen zudem noch eine jährliche Brotration und Gewebe für die Anfertigung der Dienstkleidung vom Staat bekamen, waren sie insgesamt einer allmählichen Verarmung ausgesetzt. Die Verteilung des Soldes übernahmen die Obersten, die nicht aus den Reihen der Strelitzen selbst, sondern aus den adligen Familien rekrutiert wurden. So wurde der Dienstlohn oft unregelmäßig und mit Verzögerungen gezahlt oder wurde gar von den Offizieren teilweise unterschlagen. Auch war die Ausnutzung der Strelitzen durch ihre Vorgesetzten, z. B. im Einsatz für private Bauarbeiten, nicht selten. Der offizielle Status der Strelitzen als zarische Dienstleute mit eigenem sozialen Korporationsbewusstsein stand damit im Widerspruch zu ihrer tatsächlichen jämmerlichen Lage, die sie fast in die Kategorie der einfachen Steuerzahler – Stadtbewohner und Bauern – einordnete. Im Laufe des 17. Jahrhunderts zeigten die Strelitzen deshalb öfter die Neigung, sich den aufständischen Bewegungen anzuschließen. 1648 weigerte sich die Moskauer Strelitzen-Garnison, den Salzaufstand in der russischen Hauptstadt niederzuschlagen, und während
120 Über den Abstieg der militärischen Bedeutung der Strelitzen-Regimenter in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts siehe Hellie: Enserfment and Military Change, S. 203–207. 121 Margolin: K voprosu ob organizacii, S. 74–79; Penskoj: „Janyčary“ Ivana Groznogo, S. 167–171. 122 Sedov: Zakat moskovskogo carstva, S. 470–473. 123 Buganov: Moskovskie vosstanija, S. 73; Romanov: Strel’cy moskovskie, S. 53.
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des Kosakenaufstands von Stepan Razin 1670/71 liefen nicht wenige Strelitzen auf die Seite der Rebellen über.124 2.2 Übersicht der Ereignisse 1682–1698 Die Ereignisse des Moskauer Aufstandes von 1682 wurden bereits in mehreren Forschungswerken zusammengefasst und dargestellt.125 Trotzdem ist es sinnvoll und notwendig, vor der Analyse der Kommunikationsgefechte die Geschichte des Aufstands und seines Ausgangs kurz zu skizzieren. Dabei handelt es sich an dieser Stelle nicht um eine detaillierte Erörterung des ganzen Geschehens in allen Narrativvariationen, sondern nur um den chronologischen Überblick der wichtigsten Ereignisse, der als Einführung und Faktengrundlage dienen soll. Das folgende Kapitel stützt sich deswegen vorwiegend auf die Informationen aus den Aktenquellen; die detaillierte Auswertung der narrativen Berichte, sowohl russischer als auch ausländischer, folgt dann in den nächsten Teilen der Arbeit. Obwohl viele sowohl zeitgenössische Beobachter als auch moderne Historiker die größte Aufmerksamkeit den blutigen Ereignissen in der russischen Hauptstadt ab dem 15. Mai schenkten, begann die Unzufriedenheit der Strelitzen bereits früher. Schon im Februar 1682 zeigten sich die ersten Zeichen der Missstimmung, als die Strelitzen aus dem Regiment Oberst Bogdan Pyžovs ihren Befehlshaber durch eine Petition beim Zaren wegen der Entziehung der Hälfte ihres Soldes anklagten.126 Die Ermittlung ging jedoch nicht zugunsten der Bittsteller aus, die zu Knutenschlägen verurteilt wurden. Die Geschichte wiederholte sich zwei Monate später, diesmal im Regiment Oberst Semёn Griboedovs. Am 23. April reichten die Strelitzen dieses Regiments die Klage ein, Griboedov habe sie am Ostersonntag zu beschwerlichen Bauarbeiten an seinem privaten Haus gezwungen (bei denen einige von ihnen sogar ums Leben gekommen waren) und habe auch einen Teil ihres Dienstlohnes unberechtigt zu seinem Nutzen einbehalten. Die Bittschrift landete wie im Februar in den Händen des Bojaren und Favoriten des Zaren Ivan Jazykov, der wieder den Bittsteller zur Knutenstrafe verurteilte. Jedoch konnten dieses Mal die Strelitzen ihren Kameraden vor der Peinigung retten.
124 Černov: Vooružennye sily, S. 163–164. 125 Abgesehen von den Monografien von Buganov und Aristov, die sich dem kompletten Aufstand widmen, sind gute chronologisch strukturierte Zusammenfassungen der Ereignisse zu finden in: Solov’ev: Istorija Rossii, S. 261–362; Torke: Die staatsbedingte Gesellschaft, S. 252–266; Hughes: Sophia, Regent of Russia, S. 52–88; Bushkovitch: Peter the Great, S. 125–135. Das Buch von Pogodin bietet eine eher belletristische Darstellung der Strelitzen-Revolte an: Pogodin: Semnadcat’ pervych let, S. 27–98. 126 Pogodin: Semnadcat’ pervych let, S. 27. Die Datierung der ersten Petition der Strelitzen auf Februar stammt aus den Berichten von Johann van Keller, Buganov: Moskovskie vosstanija, S. 89.
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Daraufhin ließ der Protest nicht mehr nach. Eine offizielle Ermittlung wurde angeordnet, und schließlich landete Griboedov am 24. oder 25. April im Gefängnis. Am 27. April gegen Abend starb jedoch unerwartet Zar Fedor.127 Es ist unklar, welchen seiner beiden hinterbliebenen Brüder, Peter oder Ivan, er selbst – wenn überhaupt – als Nachfolger vorgesehen hatte. Obwohl der Inthronisierung eines kränklichen und schwachsinnigen carevič rechtlich nichts im Wege stand, deutet die Begnadigung von Artemon Matveev in den letzten Regierungsmonaten von Fedor eher darauf hin, dass der jüngere Bruder Peter als geeignetster Kandidat betrachtet wurde. Nach Fedors Tod versammelten sich im Kreml in aller Eile die in der Stadt anwesenden Adligen und der Klerus,128 und die Mehrheit des Adels unterstützte gemeinsam mit dem Patriarchen Ioakim die Kandidatur des 9-jährigen Peter, der dann noch am selben Tag zum Zaren erklärt wurde. Dies sorgte jedoch für weitere Besorgnis bei der Moskauer Garnison. Laut Sil’vestr Medvedev begannen Strelitzen und Soldaten zu munkeln, dass bei dem minderjährigen Zaren die reale Macht schnell in die Hände der verhassten Bojaren-Oligarchie und vor allem der mit dem neuen Zaren verwandten Naryškin Familie geraten werde;129 das Regiment des Obersts Karandeev verweigerte sogar zuerst den Eid auf den neuen Zaren Peter.130 Die Freilassung von Griboedov nach dem Machtwechsel goss noch mehr Öl ins Feuer. Am 29. April übergaben Abgeordnete aus 16 Strelitzen-Regimentern und einem Soldaten-Regiment „der neuen Ordnung“ der Regierung eine erneute Bittschift mit der Klage gegen ihre Obersten. Dieser plötzliche Zusammenschluss der überwiegenden Mehrheit der Militäreinheiten in der Hauptstadt zeigte Wirkung: Die Regierung musste nachgeben. Die angeklagten Obersten wurden inhaftiert und in den ersten Maitagen der Prozedur des pravež unterzogen – auf einem öffentlichen Platz wurden sie täglich zwei Stunden mit Stöcken geschlagen, bis sie ihre Schulden gegenüber den Strelitzen und Soldaten (zweitausend
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Die meisten russischen Quellen datieren den Todeszeitpunkt auf die 12. oder 13. Stunde des Tages, was ungefähr 18 Uhr unseres Zeitsystems entspricht. Ausführlicher zur Datierung von Fedors Tod in den Quellen siehe A. P. Bogdanov: Letopisnye izvestija o smerti Fedora i vocarenii Petra Alekseeviča, in: Letopisi i chroniki. 1980 g. V. N. Tatiščev i izučenie russkogo letopisanija. Moskva 1981, S. 197–206. Eine wichtige Aufgabe wie die Wahl eines neuen Herrschers gehörte eigentlich zur Kompetenz der Landesversammlung (zemskij Sobor) des Moskauer Reiches, vgl. die Wahl von Boris Godunov auf dem zemskij Sobor von 1598. Allerdings wurde die Tradition Landesversammlungen einzuberufen im Jahr 1682 nicht mehr praktiziert – der letzte große zemskij Sobor fand 1653 statt, also etwa 30 Jahre vor Fedors Tod. Deswegen wurde am 27. April 1682 lediglich die Versammlung der in dem Moment in Moskau anwesenden Bojaren, Dienstleuten und Geistlichen angeordnet, siehe darüber L. V. Čerepnin: Zemskie sobory russkogo gosudarstva v XVI–XVII vv. Moskva 1978, S. 355–362; Torke: Die staatsbedingte Gesellschaft, S. 207–208. Bogdanov vertritt dagegen die These, dass Peter nur von der Bojarenduma schnell zum Zaren ernannt wurde, Bogdanov: Letopisnye izvestija o smerti, S. 202–203. Medvedev: Sozercanie kratkoe, S. 47. Buganov/Savič (Hrsg.): Vosstanie v Moskve 1682 goda, S. 9.
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Rubel und mehr) zurückzuzahlen gewillt waren.131 Die Stellen der Obersten wurden dann neu vergeben. Dennoch hörte die Meuterei der Strelitzen damit nicht auf. Einer russischen Chronik zufolge herrschte in den ersten Maiwochen eine „wackelige Zeit und Furcht“ in Moskau.132 Nach der Bestrafung der Obersten richteten die Strelitzen ihre offene Kritik gegen die Bojaren und die Beamten, die ebenso wegen Korruption und Machtgier beschuldigt wurden. Besonders Aufsehen erregend war das Benehmen der Naryškin Familie, die durch die Verwandtschaft mit dem neuen Zaren an die Spitze der Macht gelangt war. Ivan Naryškin, Peters 23-jähriger Onkel (Bruder von Peters Mutter Natal’ja Naryškina), wurde am 7. Mai der Bojarenrang verliehen, was für einen solch jungen Mann recht ungewöhnlich war, der davor nur den Rang eines stol’nik hatte. In der Rangfolge des Moskauer Dienstadels hatte er zwei Stufen übersprungen: dumnyj dvorjanin und okol’ničij.133 Damit verstieß seine Beförderung gegen die Tradition und die Prinzipien des gerechten Dienstaufstiegs. Auch andere Mitglieder des NaryškinKlans wurden befördert. Spätestens am 12. Mai kam Artemon Matveev aus dem Exil in Moskau an – ein alter Freund und Anführer der Naryškins. Noch in den letzten Tagen der Regierung Fedors war Matveev begnadigt und nach Moskau berufen worden, aber er beeilte sich nicht in die unruhige Hauptstadt zu reisen, sondern wartete erst eine Zeitlang ab. Nach seiner Rückkehr wurden ihm sein Besitz und sein Rang zurückgegeben, und die neue Regierung setzte anscheinend große Hoffnungen in seine Kompetenz zur Wiederherstellung der Ordnung. Die Lage entwickelte sich jedoch anders als erwartet. Am Vormittag des 15. Mai verbreitete sich das Gerücht, die Naryškins hätten carevič Ivan, den älteren Halbbruder von Peter, umgebracht, in Windeseile durch die Moskauer Vororte und v. a. durch die Siedlungen der Strelitzen und Soldaten. Mit ihren Fahnen, geladenen Waffen und sogar Kanonen zogen sie in den Kreml, wo sich zur gleichen Uhrzeit die Mitglieder der Bojaren-Duma versammelt hatten, und verlangten Peter und Ivan zu sehen. Obwohl ihnen diese Forderung erfüllt wurde und sie sahen, dass Ivan am Leben war, ließen sich die Strelitzen nicht beruhigen und richteten ihren Zorn gegen die ‚verräterischen‘ Bojaren. Ein Massaker brach aus: Artemon Matveev wurde an der Roten Treppe des Zarenpalastes gefasst und auf die Speere und Hellebarden der Strelitzen niedergeworfen, das gleiche Schicksal ereilte Fürst Michail Jur’jevič Dolgorukov.134 Viele andere Vertreter der herrschenden Elite wurden ermordet und buchstäblich in kleine Stücke zerhackt: Fürst Grigorij Romodanovskij, Bojar 131 132 133 134
Buganov: Moskovskie vosstanija, S. 116, 119. PSRL, Bd. 31. Letopiscy poslednej četverti XVII veka. Moskva 1968, S. 192. Grigorii Kotoshikhin: O Rossii v carstvovanie Alekseja Mixajloviča, hrsg. v. Anne Pennington. Oxford 1980, S. 36–39; Robert O. Crummey: Aristocrats and Servitors. The Boyar Elite in Russia, 1613–1689. Princeton, New Jersey 1983, S. 12–33. Über die Chronologie der Morde am 15.–17. Mai siehe Pogodin: Semnadcat’ pervych let, S. 41– 58; Zenčenko: Dinastičeskij krizis, S. 408–416.
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Ivan Jazykov, stol’nik Afanasij Naryškin, einige Oberste und Beamte, wie z. B. der Leiter des Moskauer Gesandtschaftsamts Larion Ivanov. Der alte Fürst Jurij Dolgorukov, Vater des ermordeten Michail, wurde bei sich zu Hause umgebracht. Die Strelitzen exekutierten auch zwei ausländische Mediziner – Doktor Daniel Gaden (zusammen mit seinem Sohn) und Johann Gutmensch, – von denen sie glaubten, sie hätten den Zaren Fedor Alekseevič vergiftet.135 Die Leichen und die Körperteile der Ermordeten trugen die Strelitzen auf den Moskauer Straßen zur Schau und warfen sie auf den Roten Platz vor dem Kreml.136 Insgesamt fielen über 40 Menschen der Wut der Rebellen zum Opfer. Es ist nicht auszuschließen, dass die Strelitzen von vornherein eine genaue Liste mit den Namen von ‚Verrätern‘ zusammengestellt hatten und gezielt nach ihren Opfern suchten.137 Im allgemeinen Chaos gab es aber auch versehentliche Morde: So wurde stol’nik Fedor Saltykov irrtümlicherweise für den verhassten Ivan Naryškin gehalten und getötet. Mit besonderer Entschlossenheit suchten die Strelitzen nach dem älteren der Naryškin-Brüder, der sich während der ersten Tage der Rebellion in den Frauengemächern des Zarenpalasts verstecken konnte. Als die Strelitzen drohten, ein weiteres, noch größeres Massaker anzurichten, wurde Ivan Naryškin am 17. Mai von den Bojaren und der Zarenfamilie seinem Schicksal übergeben.138 Der Junge wurde mehrere Stunden gefoltert und danach auf dem Roten Platz hingerichtet. Erst dann hörten die Morde auf. Der Vater von carica Natal’ja – Kirill Poluechtovič Naryškin – wurde von den Strelitzen verschont, zum Mönch geschoren und ins weit im Norden gelegene Kirillo-Belozerskij-Kloster verbannt.139 Nun gehörte die Macht in der Hauptstadt den Strelitzen-Regimentern. Am 19. Mai forderten sie die Auszahlung aller seit dem Jahr 1645 ihrem Dienstlohn entzogenen Gelder – die Summe belief sich auf die enorme Zahl von 240.000 Rubel.140 Die zweite Forderung der Strelitzen betraf die Machtfrage, so wurde nach ihrer Petition am 26. Mai die gemeinsame Regierung beider Halbbrüder sanktioniert: Ivan wurde zum ersten Zaren gewählt, Peter zum zweiten. Die offizielle Krönung erfolgte einen Monat später am 25. Juni. Schließlich kümmerten sich die Strelitzen um ihre eigene Sicherheit und die Sicherung ihrer politischen Vormachtstellung. Am 6. Juni richteten sie eine 135
Über die ausländischen Mediziner Daniel Gaden und Johann Gutmensch und ihre Ermordung im Laufe des Strelitzen-Aufstands siehe Sabine Dumschat: Ausländische Mediziner im Moskauer Rußland. Stuttgart 2006 (= Quellen und Studien zur Geschichte des östlichen Europa 67), S. 512–514. 136 Über die symbolische Seite der Gewalt der Strelitzen während der Ereignisse vom 15. bis 17. Mai siehe Nancy Shields Kollmann: Crime and Punishment in Early Modern Russia. Cambridge & New York 2012 (= New Studies in European History), S. 391–400. 137 A. P. Bogdanov: Rospis’ „izmennikov-bojar i dumnych ljudej“, kaznёnnych i soslannych po trebovaniju vosstavšich v mae 1682 g., in: Molodye obščestvovedy Moskvy – Leninskomu jubileju. Materialy III Moskovskoj gorodskoj konferencii po obščestvennym naukam, posvjaščёnnoj 110-j godovščine so dnja roždenija V. I. Lenina. Moskva 1982, S. 113–118; Galanov: Političeskaja bor’ba, S. 139–150. 138 Aristov: Moskovskie smuty, S. 76. 139 Buganov: Moskovskie vosstanija, S. 181–182. 140 Ebd., S. 182.
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Petition an die Zaren, die auf die Ereignisse vom 15. bis 17. Mai einging, die Schulden der getöteten Bojaren aufzählte und ausdrücklich erwähnte, dass niemand die Strelitzen als „Rebellen“ (buntovščiki) oder „Verräter“ (izmenniki) beschimpfen oder gegen sie Strafen ohne gerechtes Gerichtsverfahren verhängen dürfe. Außerdem verlangten die Strelitzen die Verbesserung ihrer Lebens- und Dienstbedingungen sowie die Beseitigung von Korruption und anderen Mängeln in der staatlichen Verwaltung und dem Gerichtswesen. Der Petition wurde selbstverständlich stattgegeben und sie wurde durch eine zarische Schenkungsurkunde fast wörtlich bestätigt.141 Außerdem wurde beschlossen, mitten in der Stadt auf dem Roten Platz eine Säule zu errichten, auf deren vier Seiten der auf Metalltafeln gravierte Text der Urkunde angebracht werden sollte. Damit sollte der „Rettung“ des Moskauer Staates von den „Untaten“ der „verräterischen“ Bojaren durch Strelitzen gedacht werden. Der gehobene Status der Strelitzen sollte auch in ihrem neuen Namen erkennbar sein: Sie wollten von nun an nicht einfach „Strelitzen“, sondern offiziell „Hofinfanterie“ (nadvornaja pechota) heißen. Der unerwartete Sieg der Strelitzen und die Bewilligung ihrer Forderungen provozierten jedoch weitere Protestbewegungen. Zuerst erhoben sich die Cholopen (cholopy) – die unfreien Knechte in den Häusern und Haushalten der Bojaren und anderer Adliger. Noch während der turbulenten Maitage wurden im Chaos des Aufstands die Dokumente des Moskauer Sklavenamts (cholopij prikaz) – die Bindungsurkunden der Knechte – von den Strelitzen zerrissen, was dazu führte, dass die Cholopen versuchten, in einer Petition vollkommene Freiheit für sich zu fordern. Die Strelitzen gewährten den Knechten jedoch keine Unterstützung und halfen sogar der Regierung, die Bittsteller festzunehmen und die Cholopen-Bewegung niederzuschlagen. Sie taten das hauptsächlich aus Angst, dass diese ehemaligen Bojarendiener, für die das Leben in sozialer Abhängigkeit oft sogar Vorteile brachte, die Morde an ihren Herren rächen würden. Die Beziehung zwischen Cholopen und Strelitzen blieb angespannt, und am 5. Juni verbreitete sich in Moskau sogar das Gerücht, dass eine große Menge von Bojarenknechten zusammenkommen und die Strelitzen angreifen würde, was kurzfristig Panik unter Regimentern verursachte, jedoch zu einem richtigen Zusammenstoß kam es nicht.142 Weitere Unruhen betrafen die religiöse Frage. Unter den Strelitzen selbst sowie unter der breiten Masse der Moskauer Bevölkerung gab es eine große Anzahl von religiösen Dissidenten – sogenannten Altgläubigen, die die Kirchenreform der russischen Orthodoxie aus der Jahrhundertmitte ablehnten und insgeheim von der Rückkehr zu
141
Sowohl die Petition als auch die Schenkungsurkunde sind im Original nicht erhalten, siehe Buganov/Savič (Hrsg.): Vosstanie v Moskve 1682 goda, S. 293. Die vollen Texte der beiden Dokumente sind publiziert in Buganov/Savič (Hrsg.): Vosstanie v Moskve 1682 goda, S. 36–46. Die Urkunde wurde außerdem im Juni 1682 in der zarischen Hofdruckerei gedruckt, wovon zwei Druckexemplare heute bekannt sind (siehe genauer im Kapitel 3.1 unten). 142 Bogojavlenskij: Chovanščina, S. 195–197, 203‒204; Torke: Die staatsbedingte Gesellschaft, S. 257.
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den alten Riten träumten. In den 1650er-Jahren hatte der damalige Moskauer Patriarch Nikon nämlich den Versuch unternommen, die Liturgie und den Ritus der russischen orthodoxen Kirche zu vereinheitlichen, wobei er sich bei der Revision an griechischen Vorbildern und liturgischen Texten orientierte.143 Obwohl die Reform hauptsächlich rituelle Äußerlichkeiten der Religionsausübung betraf – wie z. B. Einführung des Dreifingerkreuzes beim Kreuzschlagen anstatt des Zweifingerkreuzes oder des dreifachen Halleluja-Gesangs im Kirchendienst anstatt des zweifachen144 – stießen die Neuerungen in der Bevölkerung auf heftigen Widerstand und Ablehnung. Die im Zuge des Strelitzen-Aufstands geschwächte zentrale Macht, deren Anhänger auch der Moskauer Patriarch Ioakim war, der Ende April 1682 die Kandidatur des carevič Peter und damit den Naryškin-Klan unterstützte, bot eine gute Gelegenheit für eine religiöse Revanche. Bereits im Mai sammelte sich eine Gruppe von altgläubigen Predigern in Moskau, die mit einer Bittschrift an die Zaren herantratt, die nikonianischen Veränderungen rückgängig zu machen. Mit der Unterstützung der Strelitzen gelang es den Altgläubigen, einen Disput mit den Vertretern der offiziellen Kirche am 5. Juli zu organisieren.145 Allerdings fand er nicht auf einem öffentlichen Platz statt (worauf die Altgläubigen zuerst bestanden), sondern in einer Kremlkammer (granovitaja palata) in Anwesenheit einer begrenzten Anzahl von Zuschauern, unter denen allerdings auch die weiblichen Mitglieder der Zarenfamilie waren. Sowohl die Altgläubigen als auch der Patriarch mit den weiteren Hierarchen der offiziellen Kirche beschuldigten einander der Häresie. Aus dem heftigen Meinungsstreit, der mehrmals in einen Gewaltsausbruch auszuwachsen drohte, glaubte jeder als Sieger hervorgegangen zu sein. Weil man den religiösen Dissens nicht durch den Disput beilegen konnte, griff die Regierung zu einem anderen Mittel: Den Strelitzen, die die Altgläubigen zuvor unterstützt hatten, wurden erneut Geschenkte gemacht, damit sie die Seite wechselten. Und so wurden die Anführer der Altgläubigen – ein gewisser Priester namens Nikita Pustosvjat und andere – festgenommen und am 11. Juli geköpft.146 An dem religiösen Disput am 5. Juli und 143
Über die Spaltung in der russischen orthodoxen Kirche des 17. Jahrhunderts und das dadurch entstandene Phänomen des Altgläubigentums (Raskol) vgl. Michael Cherniavsky: The Old Believers and the New Religion, in: Slavic Review 25 (1966), Nr. 1, S. 1–39; Christiane Hemer: Herrschaft und Legitimation im Rußland des 17. Jahrhunderts: Staat und Kirche zur Zeit des Patriarchen Nikon. Frankfurt am Main 1979, S. 97–160; Nickolas Lupinin: Religious Revolt in the XVIIth Century: The Schism of the Russian Church. Princeton 1984 (= Men and moments in religious history 1); Wilhelm Hollberg: Das russische Altgläubigentum: seine Entstehung und Entwicklung, Bd. 1. Tartu 1994; Peter Hauptmann: Rußlands Altgläubige. Göttingen 2005, S. 16–94; Scheliha: Russland und die orthodoxe Universalkirche, S. 185–234. 144 Über die anderen wichtigen Unterschiede zwischen der nikonianischen Orthodoxie und dem Ritus der Altgläubigen siehe Hauptmann: Rußlands Altgläubige, S. 25–26. 145 Über die Bewegung der Altgläubigen im Sommer 1682 und den Disput am 5. Juli siehe: Aristov: Moskovskie smuty, S. 90–96; Pogodin: Semnadcat’ pervych let, S. 63–78; Buganov: Moskovskie vosstanija, S. 210–235; Hughes: Sophia, Regent of Russia, S. 73–77. 146 Savva Romanov: Istorija o vere i čelobitnaja o strel’cach, in: N. Tichonravov (Hrsg.): Letopisi russkoj literatury i drevnosti, Bd. 5. Moskva 1863, S. 111–148, hier S. 148; O. G. Usenko: Spornye
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an der Zerschlagung der Bewegung von Altgläubigen nahm Sof ’ja, die ältere leibliche Schwester des Zaren Ivan, aktiv teil: Sie und ihre Tante Tat’jana Michajlovna saßen während der Debatte auf den Zarenthronen und präsidierten den Disput.147 Genau im Sommer 1682 begann Sof ’ja in den Regierungskreisen eine führende Rolle zu spielen. Nach dem erfolgreichen Aufstand fanden auch die Strelitzen einen Patron. Es war der alte Fürst Ivan Andreevič Chovanskij, ein berühmter Feldherr und Angehöriger eines alten edlen Moskauer Bojarengeschlechts. Nach der Ermordung des Fürsten Jurij Dolgorukov am 16. Mai übernahm Chovanskij die Verwaltung des Moskauer Strelitzenamts, gewann bald an Popularität und fand eine große Anhängerschaft unter den Strelitzen. Er unterstützte ihre Forderungen, setzte sich bei den Zaren für ihre Bedürfnisse ein und nannte sie sogar seine „Kinder“ (deti).148 Unter seiner Schirmherrschaft führten die Strelitzen ihre Machtpolitik fort. Aus Angst vor einer möglichen Revanche der Bojaren weigerten sie sich, Moskau zu verlassen, obwohl die Zarenregierung während des Sommers mehrmals versucht hatte, einige Regimenter in die Provinz zu kommandieren, v. a. nach Kasan’ gegen die aufmüpfigen Baschkiren. Außerdem forderten die Strelitzen weiterhin Geld von ihren Vorgesetzten – auch die ehemaligen Offiziere wurden angeklagt –, richteten die besonders verhassten Amtsträger hin und inhaftierten die anderen.149 Die Lage in der Hauptstadt blieb bedrohlich. Am 16. August kam es zum offenen Konflikt: Chovanskij billigte eine weitere Petition der Strelitzen, die erneut eine Zahlung (25 Rubel pro Person) forderten; die Bojarenduma lehnte das Gesuch jedoch ab.150 Unzufriedenheit machte sich breit, und in Moskau kursierte das Gerücht, es könnte wieder zu einem Massaker an den Adligen kommen. In dieser Situation entschied der Zarenhof die Hauptstadt zu verlassen und begab sich am 20. August auf den Weg zur Sommerresidenz Kolomenskoe. Im Sommer die Residenzen und Klöster in der Nähe von Moskau aufzusuchen, war für die Zarenfalilie im Grunde üblich. Schon in der zweiten Julihälfte 1682 hatte der Zarenhof für etwa zwei Wochen (13.–29. Juli) die Hauptstadt verlassen und sich in den Dörfern Tajninskoe, Vozdviženskoe, Aleksandrova sloboda und im Troice-Sergiev-Kloster aufgehalten. Diesmal hatte die Regierung jedoch einen gut durchdachten Plan. In der Sommerresidenz Kolomenskoe blieb der Zarenhof länger als sonst und kam nicht einmal zur üblichen Neujahrsfeier am 1. September nach Moskau.151 Gleich darauf, am 2. September, wurde in Kolomenskoe ein anonymes Schreiben „eines Strelitzen voprosy istorii moskovskoj „zamjatni“ 1682 goda, in: Vestnik Tverskogo gosudarstvennogo universiteta. Serija: Istorija, vypusk 2, Nr. 19 (79) (2008), S. 27–45, hier S. 39. 147 Hughes: Sophia, Regent of Russia, S. 76. 148 Medvedev: Sozercanie kratkoe, S. 95. 149 So wurde am 14. Juni der Strelitzenoberst Stepan Janov, der aus der Ukraine nach Moskau gebracht wurde, auf dem Roten Platz gevierteilt, Buganov: Moskovskie vosstanija, S. 245–248. 150 Bogojavlenskij: Chovanščina, S. 215. 151 Das Moskauer Jahr begann im 17. Jahrhundert am 1. September. Erst 1700 unter Peter dem Großen wurde der europäischen Tradition gemäß die Feier am 1. Januar eingeführt.
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und zweier Kleinbürger“ gefunden, das den Fürsten Chovanskij des Hochverrats beschuldigte: Er habe das Zarengeschlecht fast völlig ausrotten, die Bojaren massakrieren, seinen Sohn mit einer der hinterbliebenen Zarenschwestern verheiraten, den alten Glauben wieder einführen und sich selbst zum Zaren machen lassen wollen.152 Diese Denunziation (izvetnoe pis’mo) bestimmte die weiteren Handlungen der Regierung. Der Hof entfernte sich weiter vom rebellischen Moskau und kam am 14. September im Dorf Vozdviženskoe an. Hierher beorderte man auch Ivan Chovanskij und seinen Sohn Andrej – mit dem Vorwand, sie müssten in der Zarenresidenz anwesend sein, wenn der Sohn des ukrainischen Hetmans zu einer Audienz ankam. Die beiden Chovanskijs wussten anscheinend nichts von der Denunziation und folgten dem Befehl. Sie wurden schon auf dem Weg festgenommen und rasch nach Vozdviženskoe gebracht, wo sie am 17. September des Verrats schuldig gesprochen wurden. Ohne Verzug wurde das Urteil vollstreckt: Ivan Chovanskij und sein Sohn Andrej wurden geköpft. Die Nachricht über den Tod Ivan Chovanskijs wurde von einem anderen seiner Söhne, Ivan Ivanovič Chovanskij, nach Moskau überbracht, der in der Nacht auf den 18. September in die Hauptstadt floh.153 In seiner Erzählung beschrieb er die Hinrichtung selbstverständlich in ganz anderen Farben: Sie sei ungerechterweise durch die Verschwörung der Bojaren geschehen, ohne dass die Zaren irgendetwas darüber gewusst hätten.154 Die Nachricht vom Tod ihres Anführers löste Panik und Verwirrung unter den Strelitzen aus. Die Rebellen, die zu Recht befürchteten, das Schicksal Chovanskijs bald teilen zu müssen, waren hin- und hergerissen. Einmal entschieden sie Moskau zu verteidigen und sich mit Gewehren und Kanonen zu bewaffnen, einige Stimmen forderten sogar dazu auf, nach Vozdviženskoe zu marschieren, um die mörderischen Bojaren zu zerschlagen;155 dann wieder erklärten die Strelitzen bereits am 19. September dem in Moskau verbliebenen Patriarchen Ioakim, dass sie gegen die Zaren und die Bojaren „keine böswillige Absicht“ hätten und baten die Herrscher, in die Hauptstadt zurückzukehren.156 Den Zarenhof erreichten die Gerüchte, die Strelitzen würden „ihren Vater“ Ivan Chovanskij rächen, ebenso, und er suchte Zuflucht hinter den festen Mauern des Troice-Sergiev-Klosters. Gleichzeitig begann die Mobilisierung der regierungstreuen Kräfte: Moskauer Adel sowie ausländische Offiziere wurden aufgefordert, zum Troice-Sergiev-Kloster zu kommen, während die provinziellen Adligen unter dem Kommando von Wojewoden in vier Regimentern die Blockade Moskaus organisieren sollten.157 152 153 154 155 156 157
Der Text des Denunziationsbriefes ist publiziert in Buganov/Savič (Hrsg.): Vosstanie v Moskve 1682 goda, S. 110–111. Buganov: Moskovskie vosstanija, S. 279. Vgl. Ustrjalov: Istorija carstvovanija Petra, S. 86; Aristov: Moskovskie smuty, S. 103; Buganov: Moskovskie vosstanija, S. 279–280. Buganov: Moskovskie vosstanija, S. 279–281. Ebd., S. 301. Ebd., S. 289–300; Lavrov: Regenstvo carevny Sof ’i Alekseevny, S. 63–66.
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Am 27. September kam im Troice-Sergiev-Kloster eine Deputation der Strelitzen an, die die Bereitschaft der Aufständischen zur Versöhnung ankündigte. Es wäre falsch, die danach erfolgte Beendigung des Aufstands als eine vollständige Kapitulation der Strelitzen zu bezeichnen, vielmehr ist von einem Kompromiss zwischen den Rebellen und der Regierung zu sprechen. Von Ende September bis Anfang Oktober gab es Verhandlungen im Troice-Sergiev-Kloster. Schließlich wurden die Forderungen der Zaren den Strelitzen am 8. Oktober in der Moskauer Uspenskij-Kathedrale vorgelesen. Die Regierung bestand unter anderem auf Entwaffnung der Strelitzen-Garnison, Festnahme von Unruhestiftern, Gehorsam gegenüber den Befehlshabern und forderte auf, den Zaren von nun an „treu und ohne jeglichen Zweifel und Verrat“ zu dienen.158 Gleichzeitig erhielten die Strelitzen das Versprechen, dass ihre Meuterei ihnen verziehen und ihr Sold in voller Höhe ausbezahlt werde.159 Den Obersten wurde streng verboten, die Strelitzen als Arbeitskraft für eigene Zwecke zu nutzen oder Geld von ihnen zu erpressen. Die Strelitzen selbst baten Ende Oktober die Regierung in neuen Petitionen, die Säule auf dem Roten Platz zu entfernen; am 2. November wurde das Strelitzen-Denkmal abgerissen. Am 6. November zog der Zarenhof schließlich wieder in die Hauptstadt ein. Die Schenkungsurkunde vom Juni wurde annulliert. Um neue Aufruhre zu verhindern, wurden im Laufe des Jahres 1683 viele Moskauer Strelitzen-Regimenter in andere russische Städte geschickt, nur sieben Regimenter der ursprünglichen 19 blieben als Garnison in der Hauptstadt. Letzte Ausläufer der Unruhe zeigten sich noch im Dezember 1682, als einige Strelitzen aus dem Regiment Oberst Bochins ihre Kameraden zu einem neuen Aufstand anzustiften versuchten. Der Tumult wurde schnell niedergeschlagen und die Anstifter hingerichtet.160 Der Aufstand der Strelitzen war damit beendet; für das Verständnis der über ihn entstanden Narrative benötigt man jedoch auch einen Ausblick auf die nachfolgenden Ereignisse der politischen Geschichte Russlands. Die Ereignisse im Spätsommer und Herbst 1682 führten zur Rekonsolidierung der Macht der russischen Eliten und stärkten die Positionen von neuen führenden politischen Personen. Obwohl die Regierung offiziell weiter im Namen der zwei gewählten Zaren – Ivan und Peter – ausgeübt wurde, lag die eigentliche Macht in den Händen eines engen politischen Kreises unter der Führung von carevna Sof ’ja und des Bojaren Vasilij Vasil’evič Golicyn. Letzterer wurde während der Konfrontation mit den rebellischen Strelitzen im September/Oktober zum Oberhaupt der zarischen Armee erklärt; die Stellung von Sof ’ja in der neuen Regierung wird v. a. darin ersichtlich, dass die oben erwähnte Denunziation der Chovanskijs ausdrücklich ihr ausgehändigt werden
158
Zur ganzen Liste der Regierungsforderungen an die Strelitzen siehe AAĖ, Bd. 4. Sankt-Peterburg 1836, S. 385–387. 159 Ebd., S. 395. 160 Buganov: Moskovskie vosstanija, S. 313–318.
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musste.161 Nach der Rückkehr des Zarenhofes in die Hauptstadt im November tauchte Sof ’jas Name in der innerhöfischen Dokumentation zusammen mit den Namen ihrer Brüder auf. Für die nächsten sieben Jahre wurde die Halbschwester des zukünftigen ersten russischen Imperators zur Regentin des Moskauer Reichs. Obwohl der Begriff „Regentschaft“ sich als Bezeichnung der Regierungsjahre von carevna Sof ’ja (1682–1689) in der Historiografie mittlerweile eingebürgert hat,162 war die Regentenrolle im frühneuzeitlichen russischen Herrschaftssystem für die Schwester eines Zaren absolut undenkbar. Im Fall der Minderjährigkeit des Zaren konnte seine Mutter, d. h. die Frau des verstorbenen Zaren, als Regentin auftreten, wie es z. B. Elena Glinskaja für Ivan den Schrecklichen getan hat, jedoch nicht die Schwester.163 Diese prekäre Lage zwang Sof ’ja, nach Möglichkeiten zur Sicherung und Legitimation ihrer Machtstellung zu suchen. Im Januar 1684 organisierte sie die Hochzeit ihres kranken und behinderten Bruders Ivan mit Praskov’ja Saltykova, jedoch ging kein männlicher Nachfolger aus der Ehe hervor. Im selben Jahr wurde während der Verhandlungen mit den kaiserlichen und schwedischen Gesandten in Moskau die Frage aufgeworfen, ob Sof ’ja zusammen mit den Zaren auch Diplomaten empfangen könnte, was sicherlich ihr Prestige erhöht hätte. Und schließlich wurde ab 1686 ihr Name in allen offiziellen Urkunden zusammen mit den Namen der Zaren erwähnt. Jedoch war Peter nun bereits 14 Jahre alt, und schon drei Jahre später heiratete er, was aus Sicht der Tradition seine Volljährigkeit symbolisierte. Die Stellung Sof ’jas an der Spitze der Macht wurde immer fraglicher. Der innenpolitische Kampf unter den russischen politischen Eliten in der Zeit der Regentschaft sowie Peters Aufstieg zur Alleinherrschaft wurden in der Forschung detailliert beschrieben und analysiert.164 Wie die jüngsten Arbeiten zeigen, wäre es durchaus falsch, die komplizierten Machtkonstellationen der 1680er-Jahre nur auf die bloße Gegenüberstellung „Naryškin-Partei (die Anhänger von Peter und seiner Mutter) vs. Miloslavskij-Partei (die Anhänger von Sof ’ja und Ivan)“ zu reduzieren. Der Bojar Ivan Miloslavskij, Sof ’jas Verwandter und Anführer des Miloslavskij-Klans, hatte z. B. eine offene Feindschaft mit Sof ’jas Favoriten Vasilij Golicyn,165 was dazu führte, dass Miloslavskij nach 1683 seinen Einfluss auf Regierungsfragen fast völlig verlor. Für die Mehrheit des russischen Adels gestaltete sich die Wahlentscheidung 1689 jedoch ziemlich
161 162
Ebd., S. 265. Vgl. die Monografien O’Brien: Russia under Two Tsars; Hughes: Sophia, Regent of Russia; Lavrov: Regenstvo carevny Sof ’i Alekseevny. 163 Lindsey Hughes: Sophia, „Autocrat of All the Russias“: Titles, Ritual, and Eulogy in the Regency of Sophia Alekseevna (1682–89), in: Canadian Slavonic Papers/ Revue Canadienne des Slavistes 28 (1986), Nr. 3, S. 266–286, hier S. 266. 164 Vgl. v. a. die Arbeiten: E. F. Šmurlo: Padenie carevny Sof ’i, in: ŽMNP 303 (1896), S. 38–95; Hughes: Sophia, Regent of Russia; Lavrov: Regenstvo carevny Sof ’i Alekseevny; Bushkovitch: Peter the Great. 165 Bushkovitch: Peter the Great, S. 146.
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einfach: Entweder sie unterstützten die Legitimationsansprüche von Sof ’ja oder sie solidarisierten sich mit dem erwachsen gewordenen Peter. Die Situation wurde immer angespannter und im August 1689 kam es schließlich zu einer offenen Konfrontation. Spät in der Nacht des 7. August erreichte Peter das Gerücht, Sof ’jas Anhänger wollten ihn mithilfe einer Gruppe von verräterischen Strelitzen umbringen, worauf er sich sofort im Troice-Sergiev-Kloster in Sicherheit brachte. Wie schon im Herbst 1682 versammelte er dort alle seine Anhänger: Moskauer Adlige, den Klerus, ausländische Offiziere und fast alle Strelitzenregimenter, die diesmal treu zu ihm hielten. Nur wenige Vertraute blieben bei Sof ’ja in Moskau, und die Niederlage ihrer Partei wurde offensichtlich. Ihr treuster Anhänger und neuer Favorit Fedor Šaklovityj, der seit Dezember 1682 das Strelitzenamt leitete, wurde des Hochverrats schuldig befunden und am 12. September geköpft;166 die carevna selbst sperrte man streng bewacht ins Neu-Jungfrauen-Kloster (Novodevičij-Kloster) am Ufer des Moskau-Flusses. Dem Fürsten Golicyn, der während des Konflikts eine abwartende Position eingenommen und sich keiner der Seiten angeschlossen hatte, wurden alle seine Regalien und Ämter entzogen, und er wurde mit seiner Familie ins Exil geschickt.167 1696 starb Peters Bruder und Mitherrscher Zar Ivan. Die letzte Konfrontation Peters mit den Miloslavskijs und ihrem Machtanspruch geschah erst während der Jahre seiner Alleinherrschaft. 1697 wurde ein neuer Komplott gegen Peter aufgedeckt, organisiert von den Moskauer Adligen Aleksej Sokovnin, Fedor Puškin und Ivan Cykler. Letzterer war auch Strelitzenoberst und seit 1682 einer der prominentesten Anhänger von carevna Sof ’ja bis zu ihrem Sturz 1689. Dann hielt Cykler es für besser zu Peters Fraktion überzutreten. Die Verschwörer wurden einer schweren Folter unterzogen und gestanden, sie hätten nicht nur einen Putsch geplant, sondern schon während der Rebellion 1682 die Absicht gehabt, Peter umzubringen. Als mutmaßlicher Anstifter dieses Zarenmordversuchs wurde der Bojar Ivan Michajlovič Miloslavskij genannt.168 Peters Rache folgte umgehend: Die Leiche des 1685 verstorbenen Bojaren wurde aus dem Familiengrab der Miloslavskijs im Donskoj-Kloster exhumiert, dann auf einem Schlitten mit zwölf vorgespannten Schweinen zum Ort der Vierteilung Cyklers und Sokovnins gebracht und so auf das Schafott gestellt, dass das Blut der Hingerichteten
166 Lavrov: Regenstvo carevny Sof ’i Alekseevny, S. 181. 167 Für die Darstellung der Ereignisse vom August und September 1689 siehe Šmurlo: Padenije carevny Sof ’i, S. 85–95; Hughes: Sophia, Regent of Russia, S. 233–241. 168 Diese Schlussfolgerung der Ermittler scheint jedoch äußerst fraglich. Die Verhörakten von Ivan Cykler zeigen, dass er zwar zugab, dass er 1682 zu Verhandlungen mit den Strelitzen von Sof ’ja geschickt worden war, jedoch bereits nach dem Massaker an den Bojaren. Er wusste auch nichts über eine Teilnahme von Ivan Miloslavskij an dem Aufstand. Aufgrund dieser Quelleninformationen machte der amerikanische Historiker Paul Bushkovitch sein überzeugendes Resümee: „The involvement of Miloslavskii’s body was the result of Peter’s previous experiences. Not the testimony of the investigation“, Bushkovitch: Peter the Great, S. 195–196.
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sich auf die Überreste des Toten ergoss. Danach wurde die Leiche selbst noch in Stücke zerhackt und an verschiedenen Orten der Stadt vergraben.169 Ein Jahr nach diesem Vorfall kam wieder carevna Sof ’ja ins Spiel. Den Anlass dazu gab die allerletzte Erhebung der Strelitzen. Seit 1696 waren die meisten Strelitzen-Regimenter nicht mehr in Moskau, sondern in der im Krieg mit den Türken eroberten Festung Azov und in den Städten an der litauischen Grenze einquartiert.170 Im Juni 1698, als Zar Peter mit seiner Großgesandtschaft in Europa unterwegs war, erhoben sich die Strelitzen aus den vier an der polnisch-litauischen Grenze stationierten Regimentern gegen ihre Befehlshaber, schlossen sich zusammen und marschierten den Befehlen zuwider nach Moskau. Die Aufständischen selbst behaupteten, sie hätten nur der miserablen Lage an ihren Dienstorten entkommen und ihre Familien in Moskau wiedersehen wollen, jedoch verbreitete sich in der Hauptstadt schnell das Gerücht, dass die Strelitzen Peters Anhänger vernichten und Sof ’ja wieder an die Macht bringen wollten.171 Die regierungstreuen Truppen trafen nahe dem Voskresenskij-Kloster in der Nähe von Moskau auf die Strelitzen, und nach einem kurzen Beschuss war der Aufstand zu Ende. Peter, der eilends von seiner Auslandsreise zurückkehrte, initiierte im September 1698 eine ausführliche Ermittlung der Rebellionsgründe. Nach mehreren Verhören und Folterungen kamen die Ermittler zum Ergebnis, die Strelitzen seien zu ihrem Verrat durch eine geheime Korrespondenz von carevna Sof ’ja angestachelt worden.172 Sof ’ja wurde nun zur Nonne geschoren und starb 1704; den Strelitzen wurden harte Repressalien auferlegt: Etwa 1200 von ihnen wurden vom Oktober 1698 bis Februar 1699 im Dorf Preobraženskoe und auf dem Roten Platz vor den Augen der Schaulustigen und der eingeladenen ausländischen Diplomaten hingerichtet, wobei Zar Peter den Berichten zufolge eigenhändig mindestens fünf Rebellen die Köpfe abschlug.173 Die restlichen Strelitzen wurden für immer aus Moskau verbannt. Damit hörten die Moskauer Strelitzen auf, als Militäreinheit und soziale Gruppe zu existieren. Einige Überreste von ihren Regimentern wurden noch sporadisch in Provinzstädten 169 E. V. Anisimov: Dyba i knut. Političeskij sysk i russkoe obščestvo v XVIII veke. Moskva 1999 (= Historia Rossica), S. 529; Bogdanov (Hrsg.): Rossija pri carevne Sof ’e, S. 257; Kollmann: Crime and Punishment, S. 405–406. 170 Alexander Moutchnik: Der „Strelitzen-Aufstand“ von 1698, in: Heinz-Dietrich Löwe (Hrsg.): Volksaufstände in Rußland. Von der Zeit der Wirren bis zur „Grünen Revolution“ gegen die Sowjetherrschaft. Wiesbaden 2006 (= Forschungen zur osteuropäischen Geschichte 65), S. 197–222, hier S. 202–204. 171 Ebd., S. 205 ff. 172 Hughes: Sophia, Regent of Russia, S. 250–255. Dieses Ermittlungsergebnis scheint zumindest fragwürdig zu sein, da die Erwähnung von einem angeblichen Brief Sof ’jas in den Verhören erst dann auftauchte, als Peter nach seiner Rückkehr selbst die Untersuchung in die Hand genommen hatte, siehe dazu Moutchnik: Der „Strelitzen-Aufstand“, S. 208–209. 173 Über Peter den Großen als Henker bei der Hinrichtung der Strelitzen vgl. Friedrich Dukmeyer: Korbs Diarium itineris in Moscoviam und Quellen, die es ergänzen: Beiträge zur moskovitisch-russischen, österreichisch-kaiserlichen und brandenburgisch-preussischen Geschichte aus der Zeit Peters des Grossen, Bd. 2. Berlin 1910, S. 100–163.
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und während des Großen Nordischen Krieges eingesetzt, und zum letzten Mal werden die Strelitzen in Quellen im Jahr 1710 erwähnt.174 Später im Laufe des 18. Jahrhunderts wurde das Wort strelec in der russischen Volkssprache als Beleidigung und Schimpfwort – vorwiegend als Synonym für „Verräter“ oder „Rebell“ – benutzt.175
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Hellie: Enserfment and Military Change, S. 207. Anisimov: Dyba i knut, S. 35; Angela Rustemeyer: Dissens und Ehre. Majestätsverbrechen in Russland (1600–1800). Wiesbaden 2006 (= Forschungen zur osteuropäischen Geschichte 69), S. 274–275.
III. Tradierung der Narrative über den Strelitzen-Aufstand in Russland, 1682–1750
Aus dem Überblick der Ereignisgeschichte wird deutlich, dass in Russland innerhalb der kurzen Zeitspanne von 15 Jahren (1682–1697) mehrere Kräfte und Persönlichkeiten in Machtpositionen waren, die gegensätzliche politische Parteien repräsentierten. Diese Unvereinbarkeit führte dazu, dass die Geschehnisse des Aufstands von 1682 von unterschiedlichen politischen Gruppen thematisiert und zu verschiedenen Zwecken instrumentalisiert wurden, was zur Herausbildung von sehr abweichenden Narrativen beitrug. Sowohl für Sof ’jas Partei als auch für Peters Anhänger stellten der Tod von Fedor Alekseevič und der anschließende Strelitzen-Aufstand einen wichtigen Referenzpunkt dar, der eine narrativproduzierende Stellungnahme erforderte. Statt einer einheitlichen Erzählung entstanden konkurrierende und koexistierende Deutungen des Aufstands: als spontane Erhebung der Strelitzen, als Resultat der Machtgier von Ivan Chovanskij oder als gezielter Komplott der Miloslavskij-Partei gegen Peter I. Dabei wird sich zeigen, dass die Tradierung und die Wechselwirkung der Narrative komplizierter waren als eine bloße Ersetzung einer Deutung durch die andere, wie es bei einem Herrscherwechsel häufig zu verzeichnen ist. 3.1 Die Narrative der Aufständischen Die Analyse der in russischen Quellen überlieferten Aufstandsnarrative soll mit dem der Aufständischen beginnen. Die Tatsache, dass uns heute mehrere Texte vorliegen, die die Sichtweise der Strelitzen widerspiegeln, ist für die russischen frühneuzeitlichen Verhältnisse ziemlich einzigartig. Obwohl gerade das 17. Jahrhundert in der russischen Geschichte besonders reich an Aufständen war, hat der moderne Historiker heute nur sehr wenige Dokumente, die aus dem aufständischen Lager stammen und somit den Blickwinkel der Rebellen repräsentieren. Ein wichtiger Grund dafür war zweifellos die sehr geringe Alphabetisierungsquote in der russischen Bevölkerung, vor allem bei den städtischen Unterschichten und Bauern, also den Bevölkerungsgruppen, die am häu-
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figsten zu bewaffnetem Widerstand neigten. Die zweite und nicht weniger bedeutsame Ursache war die sogenannte damnatio memoriae, die von den russischen Obrigkeiten durchgesetzt wurde: Eine Rebellion musste nicht nur militärisch bekämpft und niedergeschlagen werden, sondern es sollte jegliche Erinnerung an den Aufstand ausradiert und verbannt werden.176 Diese umfassende Vernichtung erklärt sich dadurch, dass das Deutungsmonopol der Regierung durch schriftliche Dokumente der Aufständischen am meisten gefährdet wurde. So wurden z. B. die von rebellischen Kosaken während der Razin-Rebellion verschickten Briefe von Regierungsbehörden sorgfältig gesammelt und vernichtet.177 Der Strelitzen-Aufstand geschah jedoch unter Umständen, die die Überlieferung der Narrative der Aufständischen begünstigten. Erstens waren unter den Strelitzen durchaus etliche des Schreibens und Lesens kundig. So tauchen einige von ihnen in russischen Quellen des 17. Jahrhunderts in der Rolle der „Platzschreiber“ (ploščadnye pod’jačie) auf, die für ein kleines Entgelt den Russen, die selbst nicht schreiben konnten, beim Verfassen von Petitionen behilflich waren.178 Außerdem darf nicht vergessen werden, dass die Strelitzen die Petitionen mit ihren Forderungen im April und Mai 1682 selbst zusammenstellten und niederschrieben. Zweitens gelang es den Strelitzen im Laufe des Aufstands die Macht in der Hauptstadt temporär zu übernehmen, weshalb nicht nur ihre Forderungen gebilligt, sondern ihnen sogar eine im Namen der beiden Zaren ausgestellte Schenkungsurkunde überreicht wurde. Der Text der Urkunde wurde offiziell in mehrfacher Ausführung in der zarischen Hofdruckerei gedruckt und zusätzlich in Metall an der Erinnerungssäule auf dem Roten Platz zur Schau gestellt.179 Für uns ist jedoch wichtig, dass die Urkunde nicht nur auf die Punkte der Forderungen der Strelitzen einging, sondern auch ihre Sichtweise auf die Ereignisse des Maiaufstands wiedergab. Daher verdient der Text der Urkunde eine nähere Untersuchung. Die Urkunde wurde im Juni angefertigt und wiederholte fast wörtlich den Text der Petition der Strelitzen vom 6. Juni mit allen ihren Formulierungen und ihrer Rhetorik.180 Sie beginnt mit der Behauptung, dass das Massaker am 15. Mai „nach dem Willen des allergnädigsten Gottes und seiner heiligen Mutter“ und zum Besten der
Über die Implementierung der damnatio memoriae im Europa der Frühen Neuzeit vgl. Malte Griesse: Aufstandsprävention in der Frühen Neuzeit: Landübergreifende Wahrnehmungen von Revolten und Verrechtlichungsprozesse, in: Angela De Benedictis und Karl Härter (Hrsg.): Revolten und politische Verbrechen zwischen dem 12. und 19. Jahrhundert. Rechtliche Reaktionen und juristisch-politische Diskurse. Frankfurt am Main 2013 (= Studien zur europäischen Rechtsgeschichte 285), S. 178–186. 177 Aus diesem Grund sind heute nur wenige Exemplare dieser „verführerischen Briefe“ (prelestnye pis’ma) der Wissenschaft bekannt. 178 A. V. Lavrent’ev: „Propavšaja gramota“ 1682 goda (Neizvestnoe izdanie Verchospasskoj tipografii), in: Archiv russkoj istorii 6 (1995), S. 206–225, hier S. 222. 179 Ebd., S. 208–212. 180 Buganov: Moskovskie vosstanija, S. 237–244.
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Zaren, der Kirche und des ganzen Reichs geschehen sei.181 Unmittelbar danach folgt die Aufzählung der Schulden der getöteten Adligen und Dienstleute, wobei die Straftaten der Ermordeten sich thematisch in drei große Blöcke einteilen lassen.182 Erstens werden die Übeltaten genannt, von denen die Strelitzen und die Soldaten selbst betroffen waren. Hierbei handelte es sich um ungerechte und willkürliche Peinigung mit Knuten und Stöcken, Verbannung aus der Hauptstadt, Bestechlichkeit und ungerechte Gelderpressung seitens der Obersten und Beamten. Dessen werden hauptsächlich der Strelitzenoberst und ehemaliger Leiter des Strelitzenamts, Fürst Jurij Dolgorukov, und sein Sohn Michail beschuldigt. Zweitens werden die Verbrechen gegen das Wohl des gesamten russischen Staats angeführt, wie z. B. die Korruption (im Fall von dumnyj d’jak Averkij Kirillov) oder der Verrat und die geheimen Verhandlungen mit den Feinden – den Türken und Tataren (im Fall von Fürst Grigorij Romodanovskij). Schließlich wird die Gruppe der getöteten Mitglieder des Naryškin Geschlechts (die Gebrüder Ivan und Afanasij sowie der Bojar Artemon Matveev) gemeinsam mit den ausländischen Ärzten des Mordversuchs gegen carevič Ivan Alekseevič beschuldigt. Als Beweis dafür gilt das unter Folter abgelegte Geständnis des Arztes Daniel von Gaden, dass er dafür das Gift vorbereitet habe. Auch die Quelle dieses Gifts wird angegeben: „schlangenartige Scheusale“ (gadiny zmeinym podobiem), die bei der Hausdurchsuchung beim ermordeten dumnyj d’jak Larion Ivanov gefunden worden waren.183 Der weitere Urkundentext steht unter der Leitidee, dass die Maigeschehnisse keine Rebellion, sondern eine Bestrafung von Verrätern und Verbrechern gewesen seien. Bereits während der Tage vom 15. bis 17. Mai versuchten die Strelitzen bei der Ermordung ihrer Feinde das offizielle Ritual der öffentlichen Bestrafung und der Hinrichtung von Verbrechern zu imitieren, indem sie die Leichen ihrer Opfer durch die Straßen trugen und auf dem Roten Platz der Menschenmenge zur Schau stellten.184 Im Text der Schen-
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Interessanterweise wiederholt diese Behauptung der Strelitzen fast wörtlich die Formulierung aus den erhaltenen „verführerischen Briefen“ der Kosaken von Stepan Razin, die ebenso unterstrichen, dass die Aufständischen „für das Haus der Heiligen Mutter Gottes und für den Großherrscher“ kämpften, vgl. E. A. Švecova (Hrsg.): Krest’janskaja vojna pod predvoditel’stvom Stepana Razina. Sbornik dokumentov, Bd. 2, Teil 2. Moskva 1959, S. 74. 182 Die Aufzählung der Schulden der Ermordeten in der Urkunde siehe in: Buganov/Savič (Hrsg.): Vosstanie v Moskve 1682 goda, S. 40–41. 183 Larion Ivanov, der das Gesandtschaftsamt leitete, interessierte sich für ausländische Seltenheiten und Wundertiere, siehe S. M. Šamin: K voprosu o častnom interese russkich ljudej k inostrannoj presse v Rossii XVII stoletija, in: Drevnjaja Rus’. Voprosy medievistiki (2007), Nr. 2, S. 42–59, hier S. 52. Die gefundenen „schlangenartigen Scheusale“, die in anderen Quellen auch als „Meeresfische mit mehreren Schlangenschwänzen“ beschrieben werden, waren wahrscheinlich Tintenfische oder Oktopusse aus dem Mittelmeer, siehe darüber Kollmann: Crime and Punishment, S. 399–400. Die ganze Episode mit den exotischen ‚Fischen‘ wird am ausführlichsten in der Letopisec 1619–1691 dargestellt, siehe PSRL, Bd. 31, S. 196–198. 184 Kollmann: Crime and Punishment, S. 397. Laut Heinz-Dietrich Löwe griffen die Strelitzen bei der Verübung der Morde auch auf die Tradition der Selbstjustiz (kopnye sudy) des alten russischen Rechts zurück, Löwe: Der Strelitzen-Aufstand, S. 187–188.
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kungsurkunde wird die Rechtfertigung des Geschehenen besonders hervorgehoben: An mehreren Stellen wird unterstrichen, dass die Strelitzen und Soldaten dem Zaren immer „mit aller Treue und ohne jeglichen Verrat“ gedient haben. Dabei wird eine hohe Sensibilität der Insurgenten gegenüber der Begrifflichkeit deutlich: So wird vier Mal betont, dass niemand die Teilnehmer der Maiereignisse als „Rebellen und Verräter“ (buntovščiki i izmenniki) oder „Rebellen und Plünderer“ (buntovščiki i grabiteli) beschimpfen dürfe und dass solche Vorwürfe bestraft werden sollten. Auch die Errichtung der Erinnerungssäule mit der Aufzählung der Namen und der Schulden der Ermordeten auf dem Roten Platz sollte dem gleichen Ziel dienen – der Rechtfertigung ihres Handelns. Interessanterweise wird im Text der Urkunde sogar die versehentliche Ermordung des Adligen Fedor Saltykov, den die Strelitzen mit Ivan Naryškin verwechselten, als böswilliger Akt der Bojaren dargestellt – „sie [die Bojaren] haben ihn [Fedor] anstatt von Ivan Naryškin untergeschoben“.185 Insgesamt lassen sich in der Urkunde die Spuren der Ideologie erkennen, die in der sowjetischen Forschung als „naiver Monarchismus“ bezeichnet wurde.186 Die Aufständischen betonen wiederholt ihre Zarentreue und richten ihren Zorn ausschließlich gegen „schlechte“ Ratgeber und Beamte des Herrschers, denen Mordabsichten unterstellt werden. Das Motto „guter Zar – schlechte Bojaren“, das für alle Volksaufstände im Russischen Reich der Frühen Neuzeit typisch ist, gilt auch für die Strelitzen-Revolte. Die gedruckten Kopien der Schenkungsurkunde wurden noch im selben Monat in der Hofdruckerei im Kreml angefertigt.187 Die genaue Anzahl der Kopien lässt sich nicht ermitteln; diese sowie die Frage der Empfänger dieser Kopien war noch im Mai 1683 sogar für die Moskauer Regierung ein Geheimnis.188 Anscheinend bekamen jedes Strelitzenregiment sowie verschiedene Korporationen und Gruppen der Moskauer Bevölkerung (Handelsleute, Kutscher, Kanoniere und andere) eine Kopie überreicht. Schnell wurden auch handgeschriebene Kopien vom gedruckten Text gemacht, sodass sich die Urkunde in dieser Form über verschiedenste Städte und Orte des Moskauer Reiches
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Buganov/Savič (Hrsg.): Vosstanie v Moskve 1682 goda, S. 41. Wie der Historiker Pavel Lukin jedoch zu Recht bemerkte, ist das Wort „naiv“ im Begriff etwas irreführend. Die Vorstellungen des Volkes über einen ‚guten‘ und sündlosen Zaren waren nicht naiv, sondern entsprachen der im Moskauer Reich der Frühen Neuzeit herrschenden Tradition des Paternalismus, für die eine Gesellschaftsordnung ohne einen autokratischen Herrscher undenkbar war, siehe P. V. Lukin: Narodnye predstavlenija o gosudarstvennoj vlasti v Rossii XVII veka. Moskva 2000, S. 255. Über die Tradition des Aufstands „im Namen des Zaren“ im (vor-) modernen Russland siehe auch Daniel Field: Rebels in the Name of the Tsar. Boston 1976. Obwohl uns heute zwei Druckexemplare der Urkunde vorliegen, ist keine Information über den Vorbereitungsprozess und die Auflage der Urkunde in der Dokumentation der Moskauer Ämter (prikazy) erhalten. Möglicherweise haben die Strelitzen sich in die Arbeit der Druckerei und des Druckamts eingemischt, um das Ausstellen der Urkunde zu beschleunigen, siehe dazu Lavrent’ev: Propavšaja gramota, S. 210–216. Buganov/Savič (Hrsg.): Vosstanie v Moskve 1682 goda, S. 252.
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verbreitete.189 Auf diese Weise hielt das Strelitzen-Narrativ über den Maiaufstand auch in einige örtliche Chroniken und Sammelwerke Einzug. Ein Schreiber namens Averkij aus der Blagoveščenskij Siedlung am Fluss Vaga (zwischen Vologda und Archangel’sk) schrieb während der 1680er-Jahre kurze Notizen über die aktuellen Geschehnisse im Land nieder.190 Während des Jahres 7190 (1681/1682) notierte er eine kleine Beschreibung des Strelitzen-Aufstands. Viele Details seines Texts entsprechen den Formulierungen der Urkunde: Die ermordeten Bojaren und Dienstleute werden als Verräter beschimpft; sie haben beabsichtigt, die ganze Zarenfamilie umzubringen; Ivan Naryškin habe das Zarenornat anprobiert und sich selbst zum Zaren ernennen wollen.191 Auch die „giftigen Schlangen“ aus dem Haus von Larion Ivanov werden erwähnt. Einige Stellen in Averkijs Text weisen jedoch Abweichungen zur Urkunde auf, was darauf hindeutet, dass nicht nur das Dokument, sondern auch eine mündliche Erzählung über die Revolte die kleine Siedlung im Norden Russlands erreicht hat.192 So fügt Averkij hinzu, dass die „Verräter“ die Absicht gehabt hätten, auch die Strelitzen und die Soldaten selbst mit dem Gifttrunk umzubringen. Als diese am 15. Mai in den Kreml gestürmt seien, habe der „Großherrscher“ (velikij gosudar’, gemeint ist vermutlich Ivan Alekseevič) selbst befohlen, den Strelitzen die Verräter auszuliefern, wonach das Massaker ausgebrochen sei. Außerdem wird erwähnt, dass die Verräter unter Folter gestanden hätten, dass sie bereits frühere Zaren mit Gift umgebracht haben. Letztendlich treten die Strelitzen (zusammen mit den Soldaten und sogar mit einfachen Stadtbewohnern) in Averkijs Beschreibung noch deutlicher als ‚Retter des Reiches‘ hervor. Eine sehr ähnliche Erzählung findet sich in der sogenannten ukrainischen Augenzeugenchronik (Letopis’ samovidca), dem im letzten Viertel des 17. Jahrhunderts verfassten Werk des kosakischen Schatzmeisters (und seit 1676 orthodoxen Priesters in der Stadt Starodub) Roman Rakuška-Romanovskij.193 Obwohl der Hauptteil der Chronik den ukrainischen Angelegenheiten gewidmet ist, findet sich im Jahr 1682 ein kleiner Text über die Ereignisse in Moskau nach dem Tod des Zaren Fedor.194 Die Erzählung folgt hier wieder dem Muster des Strelitzen-Narrativs: Die Strelitzen weigerten sich, dem neunjährigen Peter den Treueeid zu leisten, weil sie sich seinen älteren HalbbruNach dem Ende des Aufstands veranlasste die Regierung von carevna Sof ’ja am 29. Dezember 1682 eine groß angelegte Aktion, um diese Kopien der Schenkungsurkunde wieder einzusammeln, weil sie „verschiedene Menschen lesen, und entstehet dadurch unter dem Volk eine Verwirrung“, siehe ebd., S. 244. Insgesamt wurde dieser Befehl in 52 Städte geschickt, ebd., S. 245. 190 Den Text der Notizen von Averkij siehe in Tichomirov: Zapiski zemskogo d’jačka. 191 Ebd., S. 99. 192 A. P. Bogdanov: Načalo moskovskogo vosstanija 1682 g. v sovremennych letopisnych sočinenijach, in: V. I. Buganov (Hrsg.): Letopisi i chroniki. Sbornik statej. Moskva 1984, S. 131–146, hier S. 133–134. 193 Über die Autorenschaft von Roman Rakuška-Romanovskij siehe ebd., S. 138–139. 194 O. I. Levickij (Hrsg.): Letopis’ samovidca po novootkrytym spiskam s priloženiem trёch malorossijskich chronik: Chmel’nickoj, „Kratkago opisanija Malorossii“ i „Sobranija istoričeskago“. Kiev 1878, S. 152–155. 189
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der Ivan als Zar wünschten. Die Verwandten von Natal’ja Naryškina verübten dann das Attentat auf Ivan (sie versuchten ihn zu erwürgen), und die junge Witwe Fedors (aber nicht Sof ’ja!) habe die Strelitzen zuhilfe gerufen – „und so begannen die großen Rebellionen der Strelitzen gegen alle Senatoren“.195 Die Strelitzen griffen alle an, die sich dem Zaren Ivan entgegenstellten, und „erschlugen sie tyrannisch“: Sie warfen ihre Opfer vom Zarenpalast hinab auf die Speere, zerhackten ihre Körper und warfen ihre Körperteile den Hunden zum Fraß vor.196 Unter den Ermordeten werden die Fürsten Dolgorukov und Romodanovskij genannt. Es soll sich auch herausgestellt haben, dass Fedor keines natürlichen Todes gestorben sei, sondern durch eine Verschwörung einiger Bojaren und Natal’ja Naryškina von seinem Arzt umgebracht wurde. Neben der Bestrafung der Zarenmörder hätten die Strelitzen eine Petition gegen ihre Obersten eingereicht sowie alle Beamten bestraft und gepeinigt, die sich einer Ungerechtigkeit und Gelderpressung schuldig gemacht hatten. Obwohl direkte Entlehnungen aus dem Text der Schenkungsurkunde in der Erzählung von Rakuška-Romanovskij nicht erkennbar sind, scheint es sehr plausibel, dass die Ankunft der Urkunde oder ihrer Kopie im Sommer 1682 sowie die Verbreitung des Narrativs der siegreichen Strelitzen (auch in Form von mündlichen Gerüchten, z. B. durch die in die Ukraine verschickten Strelitzen) die ukrainische Chronik entscheidend beeinflussten.197 Es entstanden auch andere, von der Urkunde unabhängige Erzählungen über die ‚heldenhafte‘ Tat der Strelitzen. Heute liegt uns nur ein Text vor, der die damnatio memoriae seitens der Regierung nach der Niederschlagung des Aufstands überdauert hat. Er befindet sich innerhalb eines Manuskripts aus dem letzten Viertel des 17. Jahrhunderts und wird in der Forschung als Barsovskaja povest’ bezeichnet, da das Manuskript der Barsovskaja Sammlung des Russischen Staatlichen Historischen Museums angehört.198 Der Autor der Erzählung ist unbekannt, jedoch vermutete bereits der Herausgeber des Textes, der sowjetische Historiker Viktor Buganov, dass es sich dabei um einen Aufstandsteilnehmer handele, vielleicht sogar um einen Strelitzen, weil die Rhetorik der Erzählung den Mai-Aufstand auffallend befürworte. Im Unterschied zur Schenkungsurkunde stellt der Text der Barsovskaja Erzählung nicht die Aufzählung der Schulden der „Verräter“ in den Vordergrund, sondern die Ereignisse vor dem
195 „И так великіе бунти повстали на Москве от стрелцов на сенаторов всех“, ebd., S. 154. 196 „И так стрилци, виведуючи, хто незичливим был цару Іоанну, то тих брали и тиранено забивали, з ґанков от палацов царских кидали на дол; а тут на копіи брали, и на площади на штуки рубаючи и на копіи винесши и псом кидаючи“, ebd. 197 Rakuška-Romanovskij begann seine Chronik 1676 und trug die neuen Notizen Jahr für Jahr ein, sodass die Erzählung über 1682 auch zeitnah zu den Ereignissen niedergeschrieben worden sein musste. 198 Das Manuskript, das außer der Barsovskaja Erzählung hauptsächlich aus theologischen Texten besteht, ist in der Handschriftensammlung des Museums unter folgender Signatur zu finden: GIM, Barsovskoe sob., Nr. 1578. Die Publikation des Textes bei: Buganov: Novyj istočnik. Für die Charakteristik dieser Quelle siehe auch A. P. Bogdanov: Povest’ o Moskovskom vosstanii 1682 g. (Barsovskaja), in: TODRL, Bd. 41 (1988), S. 78–79.
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Massaker, als die Strelitzen Oberst Griboedov und andere Ende April 1682 anklagten. Ein ausgewählter Bittsteller der Strelitzen habe dem Zaren Fedor von den Bedrängnissen seiner Kameraden berichtet, woraufhin er von den Bojaren ungerechterweise zu Knutenschlägen verurteilt und dann von seinen Waffenbrüdern gerettet worden sei. Danach entschieden die Strelitzen, von nun an zusammen für Gerechtigkeit zu kämpfen. Auch hier wird der Zar als gnädiger Herrscher porträtiert – er genehmigt die Ermittlung gegen Griboedov –, wohingegen die Bojaren alle seine Maßnahmen gebremst hätten. Noch deutlicher erscheint das Motiv der „Rebellion im Namen des Zaren“ in der kurzen Passage der Barsovskaja Erzählung über die Ereignisse von Mitte Mai: Am 15. Mai sei ein Bote aus den „zarischen Gemächern“ zu den Strelitzen gekommen und habe verkündet, dass carevič Ivan Alekseevič tot sei. Die Strelitzen haben sich daraufhin bewaffnet und seien in den Kreml geströmt, wo der unversehrte Ivan ihnen Folgendes mitgeteilt habe: „Die Kinder von Kirill Naryškin wollten mich zu Tode würgen“, und: „Ihr, Strelitzen, seid meine und des Zaren rechte Hand, und ich werde euch beschenken, bleibt ihr nur voller Ergebenheit und wir werden euch alle Verräter, die ihr sucht und kennt, aushändigen.“199 Unmittelbar danach begannen die Morde, die mit dem Ausdruck „vzjat’ k kazni“, d. h. „zur Hinrichtung festnehmen/ziehen“, beschrieben werden. Unter den Opfern kommt auch der versehentlich ermordete Fedor Saltykov vor, wobei der anonyme Autor hinzufügt, dass die Strelitzen ihn „aus Unkenntnis“ (nevedeniem) umgebracht haben. Anhand der untersuchten Quellen lassen sich die folgenden Züge des Narrativs der Aufständischen zusammenfassen: Die Strelitzen sahen sich als Beschützer und Retter der Zaren sowie des gesamten Reiches und unterstrichen, dass ihre Handlungen ausschließlich gegen Verräter und Verbrecher gerichtet waren, gegen Oberste, Beamten und Bojaren, besonders gegen die Naryškin Familie. Diese Verbrecher hätten das Attentat auf carevič Ivan verübt, und in einigen Variationen hatten sie sogar schon die Vergiftung des vorherigen Zaren Fedor organisiert. Sie waren überdies wegen ihrer Geldgier und Bestechlichkeit an dem Elend und der Armut der Bevölkerung schuld. Dabei wurde sogar das Gerücht in Umlauf gebracht, dass Ivan selbst die Strelitzen aufgefordert hätte, die Verräter zu lynchen.200 Noch im Juni 1683 findet man die Spuren dieser Legende weit entfernt von Moskau, als bei den Donkosaken ein anonymes Schreiben gefunden wurde, das behauptete, Zar Ivan werde von den Bojaren bedrängt und rufe die Kosaken deswegen zum Marsch nach Moskau auf. Wie die Ermittlung der Obrigkeiten später feststellte, hatte ein geflohener Strelitz namens Kostka dieses
199 Buganov: Novyj istočnik, S. 323–324. 200 Dass es sich hier um eine Legende handelt, ist nicht zu bezweifeln. Es ist bekannt, dass Ivan eine schwere Sprachbehinderung hatte, sodass seine direkte Rede aus der Barsovskaja Erzählung sicherlich vom Autor erfunden wurde. Vermutlich konnte Ivan in Wirklichkeit aus lauter Stress und Angst überhaupt nicht auf die Fragen der Strelitzen am 15. Mai geantwortet haben.
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Schreiben aus Moskau an den Don gebracht.201 Heinz-Dietrich Löwe unterstreicht zu Recht, dass sogar das Datum des Aufstands (15. Mai) nicht zufällig war und dem Vorgehen der Strelitzen eine symbolische Deutung verlieh: An diesem Tag war im Jahr 1591 carevič Dmitrij gestorben, der jüngste Sohn von Ivan dem Schrecklichen, was das Ende der Rurikiden-Dynastie bedeutete und die Ereignisse der Zeit der Wirren in Russland am Anfang des 17. Jahrhunderts provozierte.202 Im russischen Volk war man überzeugt, dass der Bojar Boris Godunov den carevič hatte ermorden lassen, um später selbst zum Zaren gekrönt zu werden. Das vermeintliche Attentat auf Ivan Alekseevič sollte dadurch als ebenso große Gefahr für das Wohl des russischen Staates gewertet werden. Deswegen war die umgehende Einmischung der ‚treuen‘ Strelitzen vonnöten. Bemerkenswerterweise wurde jedoch Zar Peter selbst in keiner der Strelitzen-Erzählungen kritisiert, und sein Machtanspruch wurde nicht infrage gestellt. Es war nicht die Figur Peters selbst, sondern die Angst vor der Willkür der Bojaren und seiner Verwandten, welche die Wut der Strelitzen hervorrief. Dabei bemühten sich die Aufständischen, ihr Handeln dadurch zu legitimieren, dass sie in ihren Dokumenten (Schenkungsurkunde, Säule auf dem Roten Platz) erstens die Übeltaten der „Verbrecher“ genau aufzählten, und sich zweitens bewusst von kriminalisierenden Bezeichnungen wie „Rebellion“ (bunt) oder „Rebellen“ (buntovščiki) distanzierten. Stattdessen wurden die Morde an Beamten und Bojaren als „Niedermachen“ (pobienie) und „Hinrichtung“ (kazn’) von Verrätern beschrieben. 3.2 Narrative aus der Zeit der Regentschaft von carevna Sof’ja Nicht alle Augenzeugenberichte über den Aufstand geben die Sichtweise des Strelitzen-Narrativs wieder. Eine ganze Reihe von kurzen Beschreibungen des Geschehens in Moskau behandelt die Ereignisse auf eine ziemlich neutrale, unparteiische Weise. So erwähnt ein anonymer Moskauer Beamter (pod’jacij) in seinen kurzen Jahresnotizen die Rebellion nur beiläufig in ein paar Zeilen als „Aufruhr gegen die Bojaren“ (smjatenie na bojar).203 Ein anderer Augenzeuge der Revolte, ein unbekannter Moskauer 201 Das Schreiben stützte sich möglicherweise auf eine Version der Strelitzen-Erzählung, da es unter anderem explizit erwähnte, dass die Strelitzen die Bojaren in Moskau ein Jahr zuvor niedergemacht hatten, „und welche Bojaren genau und für welche Verbrechen getötet wurden, ist alles genau im Schreiben aufgezeichnet“ („а за какия вины и кто имяны бояре порублены, и въ томъ де письме написанно имянно“), siehe dazu V. G. Družinin: Raskol na Donu v konce XVII veka. The Hague & Paris 1969 (= Slavistic Printings and Reprintings 234) [Repr. der Ausg. Sankt-Peterburg 1889], S. 110–119. 202 Löwe: Der Strelitzen-Aufstand, S. 177–179. Die Erwähnung des Mordes an carevič Dmitrij ist in keinem der Texte zu finden, die oben als Narrative der Aufständischen bezeichnet wurden. Jedoch war die Bedeutung des Datums zweifellos für alle Beteiligten offensichtlich – der Kult des Heiligen Dmitrij wurde in der Regierungszeit von Aleksej Michajlovič unterstützt und gefördert. 203 Tichomirov: Zariski prikaznych ljudej, S. 457.
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Einwohner, hinterließ Aufzeichnungen über die Ereignisse von Mai bis Juni 1682.204 Er bezeichnet die Erhebung der Strelitzen nicht als „Revolte“ (bunt) und beschreibt die Ermordung der Bojaren auch mit dem Verb „hinrichten“ (kaznit’). Es werden jedoch weder das angebliche Attentat der Naryškins auf Ivan noch die Vergiftung von Fedor erwähnt, sodass der Grund für die Wut der Strelitzen unbekannt bleibt: Sie seien am 15. Mai plötzlich in den Kreml geströmt, und haben den Zaren um die Auslieferung der „Verräter“ gebeten. Der Autor erwähnt, wie die Strelitzen die zarischen Gemächer „unhöflich“ durchsucht und den Patriarchen „grob“ (nevežestvom) angesprochen haben.205 Der Besitz der ermordeten „Verräter“ sei den Strelitzen für einen Spottpreis verkauft worden. Eindeutig negativ spricht der anonyme Augenzeuge nur über die Cholopen, die, nachdem die Strelitzen die Sklavenregister zerrissen hatten, den Zaren um die persönliche Freiheit baten. Für diese „verbrecherische Zusammenkunft“ (vorovskoj skop) seien sie hart bestraft worden. Ähnlich neutral berichtet eine anonyme Erzählung in der Kratkij vologodskij letopisec (kurze Wologoder Chronik) vom Aufstand.206 Sie wird im Inhaltsverzeichnis der Chronik unter dem Titel „Die Revolte der Moskauer Strelitzen gegen die Bojaren“ (bunt moskovskich strel’cov na bojar) eingeführt und behandelt nur die Ereignisse vom 15. bis 17. Mai. Laut der Erzählung sei „der große Aufruhr“ (velikoe smjatenie) unter den Strelitzen und Soldaten „wegen der großen Übeltaten und Missgünste seitens der Bojaren und Vorgesetzten“ entstanden. Die Strelitzen hätten Letztere im Kreml massakriert und sie von der Roten Treppe des Zarenpalasts auf die Spieße hinabgeworfen. Die prominentesten Opfer werden namentlich genannt, und wieder wird der versehentliche Tod Fedor Saltykovs erwähnt, den die Strelitzen „vor Wut nicht erkannt haben“. Anders als in der Schenkungsurkunde wird der Tod von Jurij Dolgorukov beschrieben: Die Strelitzen und Soldaten seien auf seinen Hof gekommen, „um Wein zu trinken“, und haben ihn nur getötet, weil er ihnen gedroht habe: „Für das Vergießen des Blutes meines Sohnes werde ich euch alle der Stadtmauer entlang hängen […].“ Wahrscheinlich lag der Chronikerzählung ein mündlicher Bericht über die Moskauer Geschehnisse zugrunde. Sie lässt den Topos von der Naryškin-Verschwörung jedoch ganz außer Acht. Der folgende Eintrag in der Chronik berichtet ganz schlicht über die Segnung und die Thronbesteigung Peters nach dem Tod seines Bruders Fedor. Eine sehr ähnliche Erzählung findet man in einer anderen russischen Chronik vom Ende 204 Bogdanov: Podennye zapisi. 205 Bogdanov: Načalo moskovskogo vosstanija, S. 131–132. 206 Diese Klosterchronik stammt aus dem letzten Viertel des 17. Jahrhunderts und ihr Inhalt ist vorwiegend der Information über die örtlichen Ereignisse gewidmet. Die Erzählung über den Strelitzen-Aufstand ist auf zwei Seiten platziert (GIM, sob. Uvarova, Nr. 591, Bl. 184–184v) und wurde mit andersfarbiger Tinte als die restlichen Notizen geschrieben. Sie wurde anscheinend nachträglich in den Text der Chronik eingetragen, vgl. V. I. Buganov: Letopisnye zametki o moskovskich vosstanijach vtoroj poloviny XVII v., in: Letopisi i chroniki. Sbornik statej 1973 g. Moskva 1974, S. 338–346, hier S. 341–342.
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des 17. Jahrhunderts.207 Sie wurde sehr zeitnah zu den beschriebenen Ereignissen verfasst und beschränkt sich wiederum auf die Maitage, als die Strelitzen und Soldaten rebellierend in den Kreml kamen (prichodili buntom). Den Kern dieser kurzen Erzählung bildet die Beschreibung der Morde an den Bojaren und Zarenbeamten, deren Grausamkeit besonders unterstrichen wird: Die Strelitzen zerhackten die Körper der Ermordeten, „als ob es Fremdgläubige wären“. Die Existenz und die Wirkung des Strelitzen-Narrativs, das die Rebellion zu legitimieren suchte, waren für die Moskauer Regierung bedrohlich. Ab Ende August 1682 entschied sich der Zarenhof für eine offene Konfrontation mit den Rebellen, die in dieser neuen Situation in den offiziellen Dokumenten natürlich nicht mehr als ‚Retter des Reiches‘ dargestellt werden durften. Nach der Beendigung des Aufstands sollte die Erinnerung an den kurzfristigen Erfolg der Aufständischen umso radikaler ausradiert werden. Die Säule am Roten Platz wurde am 2. November abgerissen, wobei die Strelitzen die Regierung selbst um die Demontierung ihres Siegessymbols gebeten hatten. Dies begründeten sie damit, dass der Text auf der Säule „von Ausländern aus verschiedenen Staaten gelesen wird und die Schmach [für das Moskauer Reich] im Ausland verbreitet“.208 Die Regierung bemühte sich außerdem um eine vollständige, russlandweite Konfiszierung der verschickten Kopien der Schenkungsurkunde vom Juni.209 Auch die Tradierung von „unanständigen Wörtern“ und Gerüchten über die vergangene Rebellion in der Bevölkerung sollte bekämpft werden.210 Um diese Politik der damnatio memoriae effektiv zu gestalten, brauchte die Regierung nicht nur repressive Maßnahmen, sondern auch ein neues offizielles Narrativ, das die Ereignisse des Jahres 1682 anderweitig erklärte. Die Situation erschwerte sich noch dadurch, dass die Strelitzen im Laufe der Verhandlungen im Herbst offiziell von den Zaren begnadigt wurden und nicht mehr als Hauptrebellen beschuldigt werden konnten. In Zusammenhang mit der Suche nach einem passenden anti-aufständischen Narrativ kommt die publizistische Kampagne, die die orthodoxe Kirche gegen die Bewegung der Altgläubigen in den Jahren 1682 bis 1683 führte, ins Spiel. Die Anführer der Altgläubigen – Nikita Pustosvjat und seine Komplizen – waren unmittelbar nach dem Disput mit dem Patriarchen im Kreml am 5. Juli 1682 festgenommen und hingerichtet 207 Zu dieser Chronik vgl. A. P. Bogdanov: Chronografec konca XVII veka o moskovskom vosstanii 1682 g., in: Issledovanija po istočnikovedeniju istorii SSSR dooktjabr’skogo perioda. Sbornik statej. Moskva 1988, S. 101–108. Für den Text der Erzählung siehe ebd., S. 105–107. 208 Siehe die Bittschrift der Strelitzen vom 29. Oktober 1682 in Buganov/Savič (Hrsg.): Vosstanie v Moskve 1682 goda, S. 227–228. Obwohl die Initiative für die Demontierung formell von den Strelitzen ausging, ist es nicht zu bezweifeln, dass sie dabei einer Forderung der Regierung folgten, vgl. A. V. Lavrent’ev: Moskovskoe „stolpotvorenie“ konca XVII veka (pervye graždanskie pamjatniki v Rossii i političeskaja bor’ba ėpochi Petra I), in: Archiv russkoj istorii 2 (1992), S. 129–148, hier S. 135–137. 209 Siehe darüber die Fn. 189 oben. 210 Siehe Dokument Nr. 200 in Buganov/Savič (Hrsg.): Vosstanie v Moskve 1682 goda, S. 250–252; vgl. auch Buganov: Moskovskie vosstanija, S. 350.
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worden. Jetzt bemühte sich die offizielle Kirche um eine Darlegung ihrer Kritik gegen die „Häretiker“ und ihrer Ideen und um deren nachhaltige Verbreitung. Bereits vor dem Ende der Strelitzen-Rebellion wurde am 20. September 1682 in der Moskauer Hofdruckerei das Werk Uvet duchovnyj („Geistliche Vermahnung“) gedruckt. Sein Autor, Afanasij Erzbischof von Cholmogory, hatte am Disput mit den Altgläubigen teilgenommen. In der Schrift polemisierte er gegen die dogmatischen Argumente der Altgläubigen und stellte sie als Hauptanstifter der Unruhen im Moskauer Reich dar, die sich nicht nur gegen die „keusche Kirche“, sondern auch gegen die Zaren erhoben hätten.211 Die Strelitzen, die im September 1682 die russische Hauptstadt noch unter ihrer Kontrolle hatten, wurden dennoch in diesem Text mit keinem Wort angegriffen. Ein Jahr später, im Oktober 1683, erschien in Moskau unter der Autorenschaft des Patriarchen Ioakim selbst eine weitere Druckschrift, die sich der Erinnerung an den Sieg über die „Schismatiker“ widmete: Slovo blagodarstvennoe o izbavlenii cerkvi ot otstupnikov („Danksagung wegen der Rettung der Kirche vor den Abtrünnigen“).212 Auch hier wurde die rebellische Aktion der Altgläubigen gegen die kirchlichen und weltlichen Eliten nicht in Verbindung zur Strelitzen-Revolte gebracht, obwohl die Strelitzen den Anführern der Altgläubigen im Juni 1682 ihre volle Unterstützung gewährten. Nur die Eregnisse vom Juli 1682, als die „Häretiker“ „das einfache Volk aufwiegelten“ (prostoj narod vozmutili) in den Kreml zu gehen, um dort mit dem Patriarchen zu sprechen und die alten Sitten wiederherzustellen,213 werden in der Schrift erwähnt, nicht aber der Mai-Aufstand. Die Bekämpfung der religiösen Häresie, die als gefährlicher Widerstand gegen die bestehende Ordnung und Herrschaft gedeutet wurde, konstituierte auch in den folgenden Jahren einen wichtigen Teil der offiziellen Ideologie. Die harte Verfolgung der Altgläubigen wurde fortgeführt, und Sof ’jas Regierung unterstützte die offizielle Kirche in vollem Umfang.214 Die Schlüsselrolle im offiziellen Narrativ der Regentschaftsregierung über den Aufstand 1682 wurde jedoch nicht den namenlosen „Häretikern“ zugeteilt, sondern einer konkreten Person – dem Fürsten Ivan Andreevič Chovanskij. Die tatsächliche Rolle Ivan Chovanskijs im Strelitzen-Aufstand bleibt unter Historikern immer noch umstritten. Pogodin sah in ihm ein Opfer des Komplotts von Sof ’ja und Ivan Miloslavskij, einen Sündenbock, dem das Verbrechen der Aufstandsaufwiegelung ungerechterwei-
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T. V. Panič: „Uver duchovnyj“ Afanasija Cholmogorskogo: struktura i idejnaja problematika knigi, in: Narrativnye tradicii slavjanskich literatur: ot Srednevekov’ja k Novomu vremeni. Novosibirsk 2014, S. 124–130. 212 Slovo blagodarstvennoe o izbavlenii cerkvi ot otstupnikov. Moskau 1683. Vgl. auch A. N. Robinson: Bor’na idej v russkoj literature XVII veka. Moskva 1974, S. 222; A. S. Eleonskaja: Russkaja publicistika vtoroj poloviny XVII veka. Moskva 1978, S. 137–138. 213 Slovo blagodarstvennoe, S. 42. 214 Lupinin: Religious Revolt, S. 177–185; Hughes: Sophia, Regent of Russia, S. 121–124; Hauptmann: Rußlands Altgläubige, S. 64–71.
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se angehängt worden sei.215 Auch Buganov hielt Chovanskij für eine politische Marionette, diesmal jedoch in den Händen der aufständischen Strelitzen, die dem alten, prahlerischen Fürsten ihren Willen diktierten.216 Bogojavlenskij vertrat hingegen die Meinung, Chovanskij sei in die Vorbereitung des Massakers am 15. Mai und v. a. in die Erstellung der ‚Proskriptionsliste‘ der Strelitzen involviert gewesen, um seine Feinde in der Moskauer Bojarenelite zu eliminieren und seine eigenen Machtansprüche zu befriedigen.217 Diese These wurde vor einigen Jahren von Galanov wieder aufgegriffen und erneut betont.218 Lavrov hält jedoch in seiner Monografie über Sof ’jas Regentschaft zu Recht Folgendes entgegen: Fast alle Quellenberichte über die vermeintliche Beteiligung Chovanskijs an der Organisation des Mai-Aufstands seien erst nach seinem Tod am 17. September verfasst worden, also in der Zeit, als die Regierung nach einer passenden Figur des Aufwieglers suchte.219 Zweifelsfrei lassen sich nur zwei Aussagen über Ivan Chovanskij anhand der Quellen bestätigen: Erstens genoss er unmittelbar nach der Mai-Revolte als Leiter des Strelitzenamts große Beliebtheit unter den Strelitzen, u. a. weil er selbst Anhänger der Altgläubigen war; zweitens geriet er im Verlauf des Sommers 1682 in Konflikt mit den führenden Moskauer Bojaren und wichtigen Funktionären der Regentschaftsregierung – Vasilij V. Golicyn und Ivan M. Miloslavskij. Ein getrübtres Verhältnis zwischen Chovanskij und der regierenden Koalition offenbarte sich bereits am Tag der Krönung der beiden Zaren (25. Juni 1682): Während der feierlichen Zeremonie spielte keiner aus dem Chovanskij-Geschlecht eine wesentliche Rolle; Vasilij Golicyn assistierte dem älteren Zaren Ivan, und sein Cousin, Boris Golicyn, dem jüngeren Zaren Peter.220 Während der Zarenhof im Sommer auf dem Land weilte, sabotierten die Moskauer Beamten oft die Befehle Ivan Chovanskijs, der als offizieller Vertreter der Zaren in der Hauptstadt verblieben war.221 Schließlich erwähnt Vasilij Golicyn selbst in einer Bittschrift Anfang September, dass er sich mit dem Sohn des alten Fürsten, Andrej Ivanovič Chovanskij, im Streit befand.222 Die Gelegenheit, Vater und Sohn Chovanskij am 17. September zu beseitigen, war wohl eine geplante und folgerichtige Aktion der Regierung Sof ’jas. Damit schaffte sie gleichzeitig einen unter den Aufständischen populären Feldherrn und einen widerspenstigen Adligen aus dem Weg. Für das Thema dieses Buches ist jedoch besonders interessant, wie die Schuld des Fürsten instrumentalisiert und vor allem narrativiert wurde. Das erste Mal erscheint sein ‚Verbrechen‘ im Denunziationsbrief vom 2. September. Denn genau dieses Doku215 216 217 218 219 220 221 222
Pogodin: Semnadcat’ pervych let, S. 136–148. Buganov: Moskovskie vosstanija, S. 250–257. Bogojavlenskij: Chovanščina, S. 187–189. GALANOV: Političeskaja bor’ba, S. 128, 147. LAVROV: Regenstvo carevny Sof ’i Alekseevny, S. 16–17. Bushkovitch: Peter the Great, S. 133. Buganov: Moskovskie vosstanija, S. 257–258. Buganov/Savič (Hrsg.): Vosstanie v Moskve 1682 goda, S. 119–120.
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ment lag der ganzen Beschuldigungskampagne gegen Chovanskij zugrunde. Unter Historikern besteht heute kein Zweifel daran, dass der Brief, der an jenem Tag ‚unerwartet‘ an einem Tor im Dorf Kolomenskoe gefunden wurde, im Auftrag der Regentschaftsregierung selbst fabriziert worden war.223 Seine drei vermeintlichen anonymen Verfasser – ein Strelitz und zwei Stadtbewohner – zeichnen darin das düstere Bild einer kolossalen Verschwörung Chovanskijs, deren Ziel die Machtübernahme im Moskauer Reich gewesen sein soll (dostupiti carstva Moskovskogo). Ivan Chovanskij sollte demnach Zar werden und sein Sohn Andrej „eine der Prinzessinnen“ als Ehefrau bekommen. Der Rest der Zarenfamilie sowie die führenden Bojaren und der Patriarch sollten umgebracht werden. Im ganzen Land sollte eine Revolte ausbrechen: Die einfachen Menschen würden auf die Beamten gehetzt und der alte Glaube müsste wiederkehren.224 Der Denunziationsbrief spielte eine zentrale Rolle beim Todesurteil gegen Chovanskij, das am 17. September gefällt wurde. In der Begründung des Urteils wurde dem Brief jedoch eine lange Liste mit allen möglichen Verbrechen des alten Fürsten vorangestellt.225 Jeder kleine Fehltritt und jedes unvorsichtige Wort wurden Chovanskij zur Last gelegt. So habe er ohne zarische Bewilligung (samovol’stvom) zugunsten der Strelitzen Geldstrafen und Steuern erhoben. Außerdem wurden seine Prahlerei (z. B. die angebliche Behauptung, dass im Falle seines Todes alle in Moskau „bis zum Knie in Blut versinken werden“) und „bösen“ Reden (slovesa zlaja) gegen den Zaren und die Bojaren angeführt. Nicht unbemerkt blieb auch seine Unterstützung der Altgläubigen während der Ereignisse im Juni und Juli. Schließlich wurden seine willkürliche Amtsausübung und das Sabotieren der zarischen Befehle aufgelistet, wie z. B. das Versagen, Strelitzenregimenter gegen rebellische Kalmyken und Baschkiren zu schicken, oder das Nicht-Erscheinen zu den Neujahrsfeierlichkeiten am 1. September in Moskau. Eine tatsächliche Schuld Chovanskijs lässt sich nicht in allen aufgelisteten Punkten feststellen. So verkündeten die Strelitzen ihre Weigerung Moskau zu verlassen im Sommer selbst, und es ist sehr unwahrscheinlich, dass Chovanskij auf diese Entscheidung der Truppen irgendwie Einfluss hatte nehmen können. Nicht überprüfbar sind die dem Fürsten im Urteil zugeschriebenen Drohungen gegen die Zarenfamilie. Insgesamt war die von der Regierung zusammengestellte Liste der Verbrechen aber nicht ausreichend für ein Todesurteil. Versagen in Verwaltung, Ehrenbeleidigung oder
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Vgl. Buganov: Moskovskie vosstanija, S. 265–267; Lavrov: Regenstvo carevny Sof ’i Alekseevny, S. 27–32. Aristov äußert die Vermutung, dass es sogar zwei Denunziationsbriefe gegeben haben könnte, Aristov: Moskovskie smuty, S. xxviii–xxix, Anm. 96. Dies widerlegte hingegen Lavrov, siehe: Lavrov: Regenstvo carevny Sof ’i Alekseevny, S. 27–29. 224 Siehe den Text des Denunziationsbriefes in Buganov/Savič (Hrsg.): Vosstanie v Moskve 1682 goda, S. 110–111. 225 Vgl. den Text des Todesurteils gegen Ivan Chovanskij in PSZ, Bd. 2. 1676–1688. Sankt-Peterburg 1830, S. 464–467; siehe auch Buganov/Savič (Hrsg.): Vosstanie v Moskve 1682 goda, S. 130–133. Für den Teil des Urteils mit der Auflistung der Schulden von Andrej Ivanovič Chovanskij siehe: Lavrov: Regenstvo carevny Sof ’i Alekseevny, S. 40.
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Gelderpressung wurden nach dem Moskauer Gesetzeskodex von 1649 nicht mit dem Tod bestraft. Deswegen war die Existenz des Denunziationsbriefs für die Anklage so wichtig: Die im Brief beschriebene Verschwörung ließ sich laut Artikel 2 des zweiten Kapitels des Gesetzeskodexes zweifellos als Hochverrat qualifizieren.226 Die Strafe für solche Verbrecher war eindeutig – Hinrichtung. Es ist bemerkenswert, dass die verbrecherische Intention Chovanskijs gegen die Zaren und die Bojaren sowohl im Denunziationsbrief als auch im Urteil ‚zukunftsorientiert‘ ist: Nur seine Absicht, die Zarenfamilie in der Zukunft zu eliminieren, wird erwähnt, nicht aber seine Schuld an den vergangenen Mai-Morden. Diese Version des Narrativs über das Verbrechen Ivan Chovanskijs (im Weiteren – das Chovanščina-Narrativ) wurde in den Briefen verwendet, die Ende September aus der Residenz der Regierung im Troice-Sergiev-Kloster verschickt wurden.227 In den Quellen lassen sich jedoch Angaben finden, die bezeugen, dass es bereits Anfang September eine Variation dieses Narrativs gab. Noch vor der Hinrichtung des Fürsten war eine Urkunde verfasst worden (zwischen dem 6. und 10. September), welche die Regentschaftsregierung an provinzielle Adlige und andere Dienstleute versenden wollte.228 Die Urkunde beschreibt den Verlauf des Aufstands in Moskau und erklärt Ivan Chovanskij zum Hauptanstifter. Strelitzen und Soldaten werden als „Verbrecher und Verräter“ (vory i izmenniki) verschrien, die in geheimer Absprache mit Ivan Chovanskij rebelliert sowie unschuldige Bojaren und Beamte im Kreml grausam ermordet haben. Es wird ausdrücklich betont, dass die Zarenregierung gezwungen wurde, den Rebellen im Juni eine begnadigende Urkunde auszustellen und die Errichtung der Säule am Roten Platz zu bewilligen. Die Rebellen seien damit jedoch nicht zufrieden gewesen: Sie raubten die Staatskasse aus und unterstützten die Attacke der „verdammten Schismatiker“ (prokljatye raskol’niki) gegen die „heilige Kirche“ (gemeint ist der Disput zwischen dem Patriarchen und den Altgläubigen in Granovitaja palata am 5. Juli). Die Urkunde fordert die zarischen Dienstleute daher auf, sich schleunigst unter dem Kommando der Zaren zu versammeln, um die Rebellen in Moskau zu bekämpfen. Die Existenz der Urkunde zeigt, dass es bereits Anfang September den Plan gab, Chovanskijs angebliche Verschwörung mit der Strelitzen-Rebellion in Verbindung zu bringen und unter diesem Vorwand die Kräfte für den Kampf mit den Insurgenten zu mobilisieren. Es gibt jedoch keine Beweise, dass diese Urkunde überhaupt jemals
226 Vgl.: „Wenn jemand während der Regentschaft Ihrer zarischen Majestät beabsichtigt, sich des Moskauer Reichs zu bemächtigen und sich selbst zum Herrscher aufzuschwingen und aus diesem Grunde beginnt, Truppen zu sammeln, […] so soll ein solcher Verräter gleichfalls mit dem Tode bestraft werden“, Christian Meiske, (Hrsg.): Das Sobornoe Uloženie von 1649, Bd. 1. Halle (Saale) 1985 (= Beiträge zur Geschichte der UdSSR 9), S. 56. 227 Vgl. den Brief an den Gouverneur (voevoda) von Belgorod vom 22. September 1682: Buganov/ Savič (Hrsg.): Vosstanie v Moskve 1682 goda, S. 152–153. 228 Siehe den Text der Urkunde in ebd., S. 113–117.
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abgeschickt wurde.229 Ihr unnachgiebiger Ton den Strelitzen gegenüber unterscheidet sich sehr vom weiteren Vorgehen der Regierung, die Verhandlungen mit der Moskauer Strelitzen-Garnison aufnahm und dabei eine gewaltlose Lösung erzielte. Bereits am 1. Oktober reichten die Strelitzen ihre Bittschrift ein, in der sie die Zaren um Begnadigung baten. In dieser Situation der Aussöhnung erwies sich die Idee, Ivan Chovanskij als alleinigen Anstifter der Mai-Revolte darzustellen, offenbar als äußerst passend. Daher wurde sie in der zarischen Begnadigungsurkunde für die Strelitzen vom 10. Oktober wieder aufgegriffen.230 Hier bekam das Chovanščina-Narrativ seine endgültigen Züge: Einerseits wurde anerkannt, dass die Strelitzen zu Beginn tatsächlich von ihren Vorgesetzten misshandelt worden waren, weshalb ihre erste April-Bittschrift legitim und gerecht gewesen sei. Die Schuld der Obersten sei jedoch seitens der Regierung ermittelt und die Forderungen der Bittsteller befriedigt worden. Die verbrecherische Mai-Revolte und die Morde an den Bojaren seien daher der „arglistigen Absicht“ (po zlochitrostnomu umyšleniju) von Ivan und Andrej Chovanskij zuzuschreiben. Auch diejenigen Strelitzen, die gemeinsam mit Chovanskij in Vozdviženskoe am 17. September enthauptet worden waren, darunter ein gewisser Aleška Judin „mit Kameraden“, wurden in der Begnadigungsurkunde vom 10. Oktober zu den Anstiftern gezählt. Die Strelitzen ihrerseits bereuten, dass sie sich von diesen Verrätern haben verwirren lassen und versprachen dem Zaren von nun an treuen Dienst. Im Gegenzug bekamen sie die Begnadigung für ihre rebellische Schuld, die „in Vergessenheit geraten“ sollte. Dieses Narrativ sollte sicherlich alle Seiten des Konflikts zufriedenstellen: Die Schuld der Aufwieglung wurde denjenigen zugewiesen, die ohnehin bereits tot waren. Das Chovanščina-Narrativ wurde auch in außenpolitischen Verhandlungen als offizielle Stellungnahme der russischen Regierung zu den Ereignissen des Jahres 1682 verwendet. Im Januar 1683 wurden Ivan Čaadaev und Luk’jan Golosov als Gesandtschaft aus Moskau zum polnischen Königshof geschickt.231 Ihre offizielle Mission bestand in der Ratifikation des bestehenden Waffenstillstandsabkommens zwischen dem Moskauer Reich und der polnischen Krone. Unter den Instruktionen der Gesandten finden sich aber auch einige Anhaltspunkte darüber, was sie auf neugierige Fragen der Polen über die innenpolitische Lage in Russland antworten sollten, u. a. den Punkt „falls die königlichen Beamten die großen und bevollmächtigten Gesandten über den Aufruhr, der in Moskau im Jahr 1682 geschah, fragen würden“.232 Die Instruktion schrieb in diesem Fall die Antwort vor, dass alles mit einer Beschwerde der „Dienstleute aus den Infanterieregimentern“ über ihre Vorgesetzten in Form einer Bittschrift begonnen 229 Siehe den Kommentar zum Dokument Nr. 69 in: ebd., S. 298–299. 230 Vgl. das Dokument Nr. 153 in: ebd., S. 196. 231 N. N. BANTYŠ-KAMENSKIJ: Obzor vnešnich snošenij Rossii (po 1800 god), Bd. 3. Moskva 1897, S. 159; Kočegarov: Reč’ Pospolitaja i Rossija, S. 159–160. 232 „А буде королевские думные люди учнут их великих и полномочных послов спрашивать про смятение, которое во 190-м году на Москве учинилось“, siehe den Text der Instruktion in: RGADA, fond 79, оpis’ 1, 1682, Nr. 11а, Bl. 61–72.
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hätte. Es sei in diesem Fall ermittelt worden, und die schuldigen Vorgesetzten hätten ihre gerechte Strafe bekommen. Erst im Anschluss seien der „Verbrecher und Verräter“ Ivan Chovanskij und sein Sohn Andrej in Erscheinung getreten und hätten die Strelitzen und Soldaten gegen die Bojaren aufgehetzt, wodurch es zu den Mai-Morden kam. Die Chovanskijs hätten ferner versucht, einen Komplott gegen die Zaren selbst zu organisieren. Ihre Verschwörung sei jedoch aufgedeckt worden, wofür die beiden zum Tode verurteilt wurden. Die rebellischen Strelitzen und Soldaten hätten ihre Schuld realisiert, die restlichen Aufwiegler ausgeliefert und die Zaren um Begnadigung gebeten. Selbstverständlich sollten die Gesandten ihre Erzählung mit der Aussage beenden, dass der Aufruhr nach der gerechten Bestrafung aller Verbrecher vollständig beendet sei. Es ist bemerkenswert, dass die Instruktion des posol’skij prikaz auch auf die Frage einging, warum es nach dem Tod Fedors zwei Zaren in Russland gegeben hat. Die Tatsache der Doppelherrschaft sollte dabei aber in keinerlei Verbindung mit dem Aufstand gebracht werden. Laut der Instruktion verzichtete der ältere Bruder, Ivan, zunächst „wegen seiner herrschaftlichen Betrübnis“ selbst auf die Krone, weswegen dann Peter zum alleinigen Zaren gekrönt wurde. Kurz danach baten jedoch „alle geistlichen und weltlichen Untertanen Ihrer zarischen Majestät“ die beiden Brüder, gemeinsam zu regieren, was dann auch umgesetzt wurde. Die körperliche Behinderung Ivans wurde nicht erwähnt – im Gegenteil sollten die Gesandten die Schönheit, die Vernunft und die Barmherzigkeit der beiden Brüder preisen. Den identischen Text der Instruktion bekamen auch die anderen russischen Gesandten des Jahres 1683: Ivan und Pёtr Prončiščev, die sich im Juni auf den Weg nach Schweden machten, wie auch Kirill Chlopov und Vasilij Postnikov, deren Mission für Istanbul vorgesehen war, die aber nicht stattfand.233 Der Bericht über Chovanskijs Verbrechen, ergänzt durch das Todesurteil und den Denunziationsbrief, wurde innerhalb des Moskauer Reiches aktiv verbreitet und an verschiedene Orte des Landes verschickt. Nicht immer stieß das offizielle Narrativ jedoch auf Zustimmung und Verständnis: So zeigt ein überliefertes Dokument, dass ein Moskauer Soldat namens Ivan Alekseev beim Verlesen der zarischen Urkunde und des Denunziationsbriefes am 3. Oktober diese laut als „verbrecherisch und lügnerisch“ bezeichnete, wofür er allerdings sofort von den Zuhörern zu Boden geworfen worden sei.234 Manchmal verflochten sich unter der Feder eines Autors mehrere Narrative über den Aufstand. Das beste Beispiel dafür ist die bereits erwähnte ukrainische Augenzeugenchronik von Rakuška-Romanovskij. Es wurde schon gezeigt, wie die Chronik die Sichtweise der Strelitzen in der Darstellung der Mai-Revolte aufnahm. Der Text 233
Die Instruktion für die Gesandtschaft nach Schweden siehe in: RGADA, fond 96, оpis’ 1, Buch Nr. 111, Bl. 328–333; die Instruktion für die nicht stattgefundene Mission in die Türkei: RGADA, fond 89, оpis’ 1, 1683, Nr. 1, Bl. 145–153. 234 Siehe das Dokument Nr. 140 in: Buganov/Savič (Hrsg.): Vosstanie v Moskve 1682 goda, S. 182–183.
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des Eintrags über das Jahr 1682 endet allerdings nicht mit der Behauptung des Rebellionserfolgs. In einigen der überlieferten Manuskripte der Chronik235 lässt sich eine Fortsetzung der Erzählung finden. Der Chronist berichtet, wie der Zarenhof im August plötzlich über den Komplott von Ivan Chovanskij benachrichtigt wurde: Der alte Fürst hätte mithilfe der Strelitzen alle restlichen Bojaren und die Zaren umbringen und seinen Sohn zum Zaren ernennen wollen (sic!). Vater und Sohn seien deswegen inhaftiert und hingerichtet worden; die rebellischen Strelitzen mussten die Zaren um Versöhnung und Begnadigung bitten, was dann auch geschehen sei.236 Ohne Zweifel wurde diese Erzählung über den Ausgang der Strelitzen-Rebellion vom Autor ergänzt, nachdem eine der zarischen Urkunden mit dem offiziellen Bericht über Chovanskijs Verbrechen und seine Hinrichtung die Ukraine erreicht hatte. Zwei Narrative wurden somit im Text einer Quelle vereint. Die Verwirrung, die das von der Regentschaftsregierung verbreitete Chovanščina-Narrativ unter den Rezipienten offenbar verursachte, lässt sich anhand zweier weiterer Quellen verdeutlichen. Im ersten Fall handelt es sich um das Tagebuch (genauer gesagt die Jahresnotizen) des Moskauer Adligen Ivan Afanas’evič Željabužskij, das er während der Jahre 1682 bis 1709 führte.237 Seine Notizen beginnen gerade mit dem Eintrag über das Jahr 1682 und dem Tod Fedor Alekseevičs. Unmittelbar danach folgt die Beschreibung der Strelitzen-Revolte im Mai, die Željabužskij jedoch nicht persönlich miterlebte, da er in die Ukraine, in die kosakische Hauptstadt Baturin, geschickt worden war, um den Treueeid und den Kreuzkuss der Kosaken gegenüber Zar Peter zu gewährleisten.238 Seine Beschreibung des Geschehens in Moskau ähnelt aufgrund ihres neutralen Charakters den unparteiischen Erzählungen anderer Augenzeugen. Es wird geschildert, dass am 15. Mai „ein großer Aufruhr für das ganze Moskauer Reich unter dem Volk in Moskau entstanden ist“.239 Die Morde an den Bojaren und den Beamten im Mai sowie die Geldzahlungen an die siegreichen Strelitzen und die Krönung der Brüder Ivan und Peter im Juni werden erwähnt. Über Ivan Chovanskij wird nur gesagt, dass er das Strelitzenamt während dieser Zeit leitete. Nach der Erzählung darüber, wie der Zarenhof Moskau „wegen der großen Verwirrung“ verlassen und begonnen hatte, die militärischen Kräfte zu sammeln, nahm Željabužskij plötzlich die Abschrift der Zarenurkunde vom 21. September in seine Notizen auf, welche die Moskauer Bevölkerung über Chovanskijs Verbrechen unterrichtete und den Text des Denunziationsbriefes 235 Vgl. Fn. 10 in Levickij (Hrsg.): Letopis’ samovidca, S. 155. 236 Ebd., S. 156–158. 237 Die beste Edition seiner Notizen ist heute immer noch die von D. Jazykov vorbereitete Ausgabe: Dnevnye zapiski I. A. Zeljabuzskago. Die Publikation von A. Bogdanov – Bogdanov (Hrsg.): Rossija pri carevne Sof ’e, S. 201–327 – wiederholt diejenige von Jazykov, lässt jedoch die in Željabužskijs Text vorkommenden Kopien der offiziellen Dokumente weg. Kurze Angaben zur Biografie von Ivan Afanas’evič Željabužskij siehe in: Bogdanov: Načalo moskovskogo vosstanija, S. 140. 238 Darüber berichtet Željabužskij selbst, siehe Dnevnye zapiski I. A. Zeljabuzskago, S. 8. 239 Ebd., S. 7.
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wiederholte.240 Anscheinend erfuhr Željabužskij von der Verschwörung des Fürsten erst aus der Urkunde selbst, weshalb er sich anstelle einer persönlichen Beurteilung der Ereignisse für die wörtliche Wiedergabe des offiziellen Dokuments entschied. Die zweite Quelle, in der das Motiv der Chovanskij-Verschwörung ex nihilo und ohne Exposition auftaucht, ist die sogenannte Mazurinskij letopisec (Mazurinskij Chronik).241 Wie der Historiker Andrej Bogdanov feststellte, wurde diese russische Chronik von einem Schreiber namens Isidor Snazin in der Werkstatt des Moskauer Patriarchen verfasst.242 Da die Ereignisse des Jahres 1682 besonders ausführlich beschrieben sind und der ganze Text abrupt am 27. Dezember 1682 endet, liegt die Vermutung nahe, dass die Chronik Ende 1682 oder erst Anfang 1683 fertiggestellt wurde. Ihr Autor, Isidor Snazin, war selbst Augenzeuge des Aufstands: Er erwähnt beispielsweise in seinem Text, wie carevna Sof ’ja die Strelitzen am 18. Juni im Kreml von der Palasttreppe hinab angesprochen habe, und fügt die Bemerkung hinzu: „und was [sie ihnen gesagt hat], konnte man aus der Ferne nicht hören“.243 Die Perspektive eines neugierigen Augenzeugen und gleichzeitig eines Chronikschreibers macht Snazins Erzählung viel detaillierter als die bisher analysierten Texte. Das Blutbad der Tage vom 15. bis 17. Mai wird in allen grausamen Einzelheiten dargestellt. Sehr interessant ist die Beschreibung der Maßnahme der Strelitzen, die bereits begonnene Plünderung der Bojarenhöfe am 16. Mai einzustellen: Die Plünderer seien eingefangen und auf dem Roten Platz erschlagen worden und das entnommene Gut sei zurück in die Stadt gebracht worden. Detailliert wird der Vorfall am 4. Juni beschrieben, als sich das Gerücht verbreitete, dass die Bojarencholopen die Strelitzen und Soldaten in der Moskauer Vorstadt Butyrki überfallen hätten. Dagegen wird der religiöse Disput mit den Altgläubigen am 5. Juli, bei dem Snazin offenbar nicht anwesend war, nur beiläufig erwähnt. Über die Enthauptung von Nikita Pustosvjat, dem Anführer der Altgläubigen, berichtet der Schreiber als Anhänger des Patriarchen hingegen mit vollem Vergnügen. Trotz der Ausführlichkeit der Erzählung konnte Snazin jedoch keine einheitliche Erklärung und ideologische Einordnung des Geschehens in seinem Text anbieten. Er vermerkte zwar, dass die Strelitzen am 15. Mai von dem Gerücht getrieben waren, Ivan und Afanasij Naryškin hätten den carevič Ivan erwürgt, aber er brachte es nicht in Verbindung mit einer hypothetischen politischen Verschwörung. Über Chovanskijs Komplott wird in der Chronik nur kurz im Zusammenhang mit der Nachricht über seine Verhaftung am 17. September berichtet, als die Bojaren dem alten Fürsten Hochverrat vorwarfen, weiter wird dieses Verbrechen nicht thematisiert. Insgesamt wird der 240 Ebd., S. 9–12. 241 Über diese Chronik siehe detaillierter: Koreckij: Mazurinskij letopisec; Bogdanov: Načalo moskovskogo vosstanija, S. 141–143; A. P. Bogdanov: Letopisec i istorik konca XVII veka. Očerki istoričeskoj mysli „perechodnogo vremeni“. Moskva 1994, S. 16–20. Den vollen Text der Chronik siehe in PSRL, Bd. 31, S. 11–179. Über den Aufstand 1682 siehe ebd., S. 174–179. 242 Bogdanov: Isidor Snazin; Bogdanov: Letopisec i istorik, S. 19–26. 243 PSRL, Bd. 31, S. 175, Bl. 303.
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Aufruhr im Moskauer Reich im Jahr 1682 in der Chronik als ein deterministisches Unglück erklärt: Er sei die Wirkung eines ein Jahr zuvor erschienenen Kometen, der mit seiner unglücklichen Seite zum Moskauer Reich gekehrt war: „Und auf welche Reiche zeigt er mit seinem Schweif, in denen gibt es dann viel Unordnung und Blutvergießen und innerliche Kriege.“244 Der Verweis auf den Kometen als Vorboten der Revolte und die Unsicherheit in der Beurteilung des halbjährigen Aufruhrs in der Hauptstadt des Reiches, die am Beispiel der Erzählung aus der Mazurinskij letopisec evident werden, waren offenbar nicht das Narrativ, das die Regentschaftsregierung von Sof ’ja zufrieden stellen konnte. Was noch wichtiger ist: Die Regentin selbst spielte in den bereits analysierten Texten lediglich eine Nebenrolle. Für die Legitimierung ihrer de facto Vormachtstellung brauchte Sof ’ja jedoch passende Narrative, und die Erinnerung an die Ereignisse der Strelitzen-Rebellion – v. a. an die Dämpfung der Revolte – bot für die Würdigung der Regentin eine gute Gelegenheit. Bereits im Sommer 1682 verfasste ein Anhänger der carevna, der Mönch Sil’vestr Medvedev, eine Laudatio, in der Sof ’jas besondere Weisheit gelobt wurde.245 Ein anderer russischer Mönch und Schriftsteller, Karion Istomin, griff ein Jahr später erneut das Motiv der weisen Herrscherin auf und pries die Regentin in seiner Lobschrift für ihre kluge Regierung und ihren Mut während der Moskauer Unruhe. Insbesondere Sof ’jas Einsatz in der Verteidigung der „heiligen Kirche“ gegen die Altgläubigen wurde hervorgehoben: Wie Debora im alten Testament habe sie für ihr Volk und den wahren Glauben gestanden.246 Seine endgültige Form bekam Sof ’jas Narrativ im Werk Sozercanie kratkoe let 7190, 7191 i 7192, v nich že čto codejasja vo graždanstve („Kurzer Überblick der Jahre 1681/82, 1682/83 und 1683/84, was während dieser Zeit im Staat geschehen ist“), das von Sil’vestr Medvedev zwischen 1687 und 1689 verfasst wurde.247 Im Unterschied zu einer Chronik, die das übliche Genre des vorpetrinischen Russland war, stellt Sozercanie kratkoe ein monothematisches Werk dar, das 244 Ebd., S. 173, Bl. 299. 245 A. P. Bogdanov: Sil’vestra Medvedeva panegirik carevne Sof ’e 1682 g., in: Pamjatniki kul’tury. Novye otkrytija. Pis’mennost’, iskusstvo, archeologija. Ežegodnik 1982. Leningrad 1984, S. 45–52; A. P. Bogdanov: Moskovskaja publicistika poslednej četverti XVII veka. Moskva 2001, S. 214– 217. Der Name der Regentin (Σοφία, griechisch für „Weisheit“) gab natürlich einen deutlichen Hinweis darauf, welche literarische Metapher für das Lob gewählt werden sollte. 246 Bogdanov: Moskovskaja publicistika, S. 227–228. 247 Die Autorenschaft von Sozercanie kratkoe war in der Geschichtswissenschaft lange Zeit Gegenstand von Diskussionen: Das Werk wurde entweder Sil’vestr Medvedev oder Karion Istomin zugeschrieben. Die Argumente für die Autorenschaft von Medvedev fasste sehr überzeugend Andrej Bogdanov zusammen, siehe A. P. Bogdanov: K voprosy ob avtorstve „Sozercanija kratkogo let 7190, 91 i 92, v nich že čto sodejasja vo graždanstve“, in: Issledovanija po istočnikovedeniju istorii SSSR dooktjabr’skogo perioda. Moskva 1987, S. 114–147. Die These, dass die erste „kurze“ Fassung von Sozercanie kratkoe von Karion Istomin geschrieben wurde, vertrat M. Volkov, siehe: M. Ja. Volkov: „Sozercanie kratkoe“ kak istočnik po istorii obščestvenno-političeskoj mysli, in: Obščestvo i gosudarstvo feodal’noj Rossii. Sbornik statej, posvjaščennyj 70-letiju akademika L’va Vladimiroviča Čerepnina. Moskva 1975, S. 198–208.
Narrative aus der Zeit der Regentschaft von carevna Sof ’ja
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sich vollständig einem Gegenstand widmet: der Beschreibung der Strelitzen-Revolte 1682, ihrer Gründe und ihres Ausgangs. Für die Arbeit an der Schrift hatte Medvedev viele relevante Dokumente aus den behördlichen Archiven zur Verfügung gestellt bekommen, wie z. B. die Schenkungsurkunde vom Juni 1682 oder die zarischen Briefe an die Strelitzen vom Herbst desselben Jahres.248 Insgesamt zeichnete er ein detailliertes und ideologisch einheitliches Bild der Ereignisse des Aufstands 1682.249 Medvedev, ein Lehrling Simeon Polockijs und ein gut ausgebildeter Mann mit profunden Kenntnissen in theologischen Schriften und in antiker Geschichte, schrieb nicht eine bloße Zusammenfassung der Ereignisse des Aufstands, sondern einen politisch-philosophischen Traktat, in dem er über die Grundlagen der gerechten Herrschaft und die Ursachen der Volksrebellionen reflektierte. Medvedev beginnt mit der Darstellung der klugen Regierungsmaßnahmen und der Reformen Fedor Alekseevičs. Die Taten dieses guten Zaren werden mit der Willkürherrschaft seiner Bojaren kontrastiert: Die Favoriten Fedors,250 die während der letzten Lebensmonate des erkrankten Zaren die Macht im Land übernommen hatten, hätten sich nur um ihr eigenes Wohl gekümmert und das gemeine Volk sei Erpressung und Ungerechtigkeit ausgesetzt gewesen: „Der Zorn Gottes begann in der Hauptstadt wegen der verhängten Steuern und der ungerechten Gerichte zu erglühen“.251 „Wodurch entstehen Verwirrung und Rebellion in einem Staat?“ fragt Medvedev in seiner Schrift und gibt selbst die Antwort: „Wenn ehrliche und verdienstvolle Menschen vernachlässigt und niedere Menschen im Dienst ungerechterweise erhoben werden.“252 Die korrupte Bojarenregierung stellt den wichtigsten Grund für die Unzufriedenheit der Strelitzen dar, so Sozercanie kratkoe: Sie befürchten, dass die Bojaren beim neuen minderjährigen Zaren noch schamloser sein würden, und entscheiden sich für eine offene Revolte. Am Tag des Aufstands verbreiten die Rebellen das Gerücht, dass die Bojaren den Prinzen Ivan bereits ermordet haben und das Gleiche für Peter planen, und das Massaker bricht aus. Obwohl Medvedev die Rechtmäßigkeit der Wut der Strelitzen anerkennt, kann er die Rebellion als Widerstandsmethode nur verurteilen: Die unwissende Plebs (mužiki-neveglasy) massakriert die Regierungselite und damit versinkt der russische Staat im Chaos. „Die Wahnsinnigen bildeten sich ein, 248 Für die Liste der von Medvedev benutzten Dokumente siehe Bogdanov: K voprosy ob avtorstve, S. 122–123. 249 Für eine sehr detaillierte Analyse des literarischen Stils, der Metaphorik und der Symbolik von Sozercanie kratkoe siehe die Werke von Andrej Bogdanov: E. V. Čistjakova und A. P. Bogdanov: „Da budet potomkam javleno …“. Očerki o russkich istorikach vtoroj poloviny XVII veka i ich trudach. Moskva 1988, S. 110–117; Bogdanov: Letopisec i istorik, S. 63–144; Bogdanov: Ot letopisanija k issledovaniju, S. 235–272. Für eine Analyse der ideologischen Ansichten Medvedevs in Sozercanie kratkoe siehe auch: G. M. Hamburg: Russia’s Path toward Enlightenment: Faith, Politics, and Reason, 1500–1801. New Haven & London 2016, S. 219–228. 250 Namentlich wird allerdings nur der Bojar Ivan Jazykov genannt. 251 Medvedev: Sozercanie kratkoe, S. 40. 252 Ebd., S. 38.
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sie könnten den Staat regieren“253 – wundert sich der Autor. Gerade in diesem Moment der allgemeinen Unruhe erscheint carevna Sof ’ja in Medvedevs Darstellung in der Rolle einer Retterin des Russischen Reichs: Sie besänftigt die Strelitzen nach den grausamen Mai-Morden mit Geldzahlungen und sorgt für die Wiederherstellung der Ordnung. Besonders detailliert geht Medvedev auf die Bewegung der Altgläubigen ein,254 die in seiner Erzählung die größte Bedrohung für die soziale und religiöse Ordnung Russlands darstellen. Die Weisheit und der Mut Sof ’jas spielen beim Disput mit den Altgläubigen am 5. Juli wieder die entscheidende Rolle: Die „fromme carevna“ nimmt persönlich an dem Streitgespräch teil und verteidigt die offizielle Kirche gegen die Angriffe der „Schismatiker“. Nach Sof ’jas Drohung, dass die Zarenfamilie im Falle des Sieges der „schamlosen Dummköpfe“ das Land verlassen würde, bekommt sie die Strelitzen an ihre Seite und besiegt die Altgläubigen.255 Als Sof ’jas größte Gegner tritt in Medvedevs Erzählung Fürst Ivan Chovanskij auf, dessen Rolle im Aufstand im Einklang mit dem oben analysierten Chovanščina-Narrativ dargestellt wird: Der Fürst habe die Strelitzen gegen die offizielle Regierung aufgewiegelt, die Schismatiker unterstützt und die Ermordung der Zarenfamilie geplant, wonach er selbst Zar werden sollte. Nach seiner Hinrichtung gelingt es Sof ’ja, die rebellischen Strelitzen zum Gehorsam zu bringen. Durch den Text von Sozercanie kratkoe zieht sich die Idee von Sof ’jas auserwählter Mission im Russischen Reich wie ein roter Faden. Wegen ihrer Weisheit (premudrost’) und der klugen Entscheidungen werde sie vom russischen Volk als Regentin anerkannt und gepriesen.256 Sie wird mit anderen berühmten Frauen und Herrscherinnen aus der biblischen und antiken Geschichte verglichen: Debora, Judit, Ester und der byzantischen Kaiserin Pulcheria.257 Damit gehört Sozercanie kratkoe zweifelsohne zu der Propagandakampagne, die in der zweiten Hälfte von Sof ’jas Regentschaft von ihren Anhängern aktiv betrieben wurde, und deren Ziel die Legitimierung ihrer Ansprüche auf die offizielle Krönung und die Inthronisation war.258 Denn Sof ’jas Name wurde in den offiziellen staatlichen Dokumenten trotz ihrer de facto führenden Rolle in der Moskauer Regierung bis zum Jahr 1685 nicht erwähnt. Erst danach beginnt er allmählich zuerst in diplomatischen Urkunden im Herrschertitel und seit Juni 1686 auch im inner-
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Ebd., S. 58. Ebd., S. 76–92. Ebd., S. 89–91. Über Sof ’jas Anpreisung als „weise Herrscherin“ in den Werken von Sil’vestr Medvedev, Karion Istomin und anderen Publizisten der 1680er-Jahre siehe Isolde Thyrêt: Between God and Tsar: Religious Symbolism and the Royal Women of Muscovite Russia. DeKalb, Illinois 2001, S. 152–166. 257 Medvedev: Sozercanie kratkoe, S. 58. Über Sof ’jas Vergleich mit weiblichen Protagonistinnen aus der biblischen Geschichte in der russischen Publizistik der 1680er-Jahre siehe auch Thyrêt: Between God and Tsar, S. 148–152. 258 Šmurlo: Padenije carevny Sof ’i, S. 53–63; Hughes: Sophia, „Autocrat of All the Russias“, S. 278–283.
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russischen behördlichen Dokumentenfluss aufzutauchen.259 Um Sof ’jas Recht auf die Vormachtstellung im Moskauer Reich zu unterstreichen, wurde im Kreis ihrer Mitstreiter sogar ein Dokument gefälscht, nach dem die carevna die Regentschaft am 29. Mai 1682 auf Bitte des ganzen russischen Volks übernommen hätte.260 Eine offiziell durch die Entscheidung des zemskij sobor sanktionierte Wahl Sof ’jas zur Regentin wird jedoch durch andere Quellen nicht belegt. Auch der Text von Sozercanie kratkoe nimmt auf dieses gefälschte Dokument Bezug,261 sodass die Wahl Sof ’jas zur Regentin den zentralen Punkt in der ganzen Erzählung bildet. Später, nach dem Sturz der carevna im September 1689, gestand ihr Vertrauter, Fedor Šaklovityj, bei der Ermittlung, dass er zusammen mit Sil’vestr Medvedev Pläne für Sof ’jas Krönung ausgearbeitet habe.262 Nach der Verbannung der Prinzessin ins Neu-Jungfrauen-Kloster und dem Sieg der Partei des Zaren Peter war das Narrativ über Sof ’jas entscheidende Rolle bei der Rettung des Russischen Reichs natürlich nicht mehr erwünscht. Sil’vestr Medvedev wurde nach der Niederlage seiner Gönnerin im September 1689 als Verschwörer und Schismatiker verhaftet und nach langer Einkerkerung und Folter am 11. Februar 1691 geköpft.263 3.3 Strelitzen-Aufstand bei den Autoren der petrinischen und post-petrinischen Zeit Nach dem politischen Umsturz 1689 sah die Partei Peters besonders Sof ’jas Anspruch auf die Zarenkrone und ihre Einmischung in die Angelegenheiten der Regierung als die größte Schuld der Prinzessin an. Sof ’jas Anhängern, wie Sil’vestr Medvedev und Fedor Šaklovityj, wurde vorgeworfen, dass sie Zar Peter im August 1689 mithilfe der „untreuen“ Strelitzen hätten umbringen wollen. Es ist jedoch bemerkenswert, dass die Erinnerung an die Ereignisse von 1682 trotz der Veränderung des politischen Klimas zunächst noch keiner maßgeblichen Umschreibung unterzogen wurde. In den Chroniken der 1690er-Jahre wurden weder Sof ’ja noch ein anderes Mitglied des Miloslavskij Klans zu den Anstiftern der Rebellion gezählt. Am ausführlichsten wurde der Aufstand 1682 in der sogenannten Letopisec 1619–1691264 behandelt, einer Chronik, die in 259 Bogdanov: K voprosy ob avtorstve, S. 127; Hughes: Sophia, Regent of Russia, S. 193–194. 260 Siehe dazu Lavrov: Regenstvo carevny Sof ’i Alekseevny, S. 72–78; Bogdanov: K voprosy ob avtorstve, S. 126–130. Lavrov datiert die Verfälschung der Akte auf den Herbst 1682, Bogdanov verweist auf die Zeit nach Juni 1686. 261 Vgl. Medvedev: Sozercanie kratkoe, S. 66–67. 262 Šmurlo: Padenije carevny Sof ’i, S. 60–63; Hughes: Sophia, Regent of Russia, S. 224. 263 Bogdanov: Letopisec i istorik, S. 144; Hamburg: Russia’s Path, S. 229. 264 Über diese Chronik vgl. Buganov: Letopisnye izvestija, S. 315–317; V. I. Buganov: Povest’ o moskovskom vosstanii 1682 goda, in: Drevnerusskaja literatura i eё svjazi s novym vremenem. Moskva 1967 (= Issledovanija i materialy po drevnerusskoj literature), S. 317–354; A. P. Bogdanov: Letopisec 1619–1691 gg., in: TODRL, Bd. 39 (1985), S. 111–112; PSRL, Bd. 31, S. 4–8. Der Text der Chronik ist publiziert in ebd., S. 180–205.
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der Anhängerschaft des Patriarchen Adrian Anfang des Jahres 1691 verfasst wurde. Die Erzählung über den Aufstand, betitelt als „Beschreibung davon, was nach dem Tod des Zaren von ganz Russland Fedor Alekseevič wegen unserer Sünden in der Stadt Moskau geschah, als die Verwirrung und die Morde unter dem rechtsgläubigen christlichen Volk waren“ (Opisanie o sem, eže sodejasja grech radi našich po prestavlenii carja Feodora Alekseeviča vseja Rossii vo carstvujuščem grade Moskve, koliko byst’ smjatenie i ubijstvo meždu soboju pravoslavnych chrestijan v narode), nimmt zwei Drittel der Chronik ein und geht sehr detailliert vor allem auf die Ereignisse des Monats Mai ein. Wie im Fall von Medvedevs Schrift unterstreicht die Chronik die Rechtmäßigkeit der Entrüstung der Strelitzen über ihre Vorgesetzten, der Widerstand gegen die Staatsgewalt wird jedoch strikt verurteilt. Die Rebellion stellt der Chronist ausschließlich als Machwerk des Teufels dar, der die aufrührerischen Gedanken in die Köpfe der Strelitzen und Soldaten eingepflanzt habe: Unter den Strelitzen agierten namenlose Aufwiegler – „böse Menschen“ (zlii čelovecy), „vom Teufel unterrichtete Rebellen“ (dijavolom naučennyja smutnicy) und „Trunkenbolde“ (pijanicy i propojcy).265 Zu den Urhebern der Rebellion werden auch die Altgläubigen unter der Führung von Nikita Pustosvjat gezählt, Ivan Chovanskij wird dagegen nur eine sekundäre Rolle zugeteilt, da er „Angst vor Rebellen hatte und nach ihrem Willen handelte“.266 Vom 15. Mai zeichnet die Chronik ein sehr düsteres Bild: Der klare Himmel wurde plötzlich von Wolken verdeckt, als die Strelitzen in den Kreml rannten; die Rebellen plünderten und töteten wie „wilde Tiere“ (zverie divii) und zwangen das herumstehende einfache Volk bei den grausamen Morden von Bojaren und Beamten mitzujubeln; Ivan Naryškin wurde von seiner Familie als „Opferlamm“ den Strelitzen zur Schlachtung überreicht.267 Es ist jedoch interessant, dass die Chronik carevna Sof ’ja noch als Friedenstifterin porträtiert, die versucht, die Rebellen während der Mai-Morde zur Vernunft zu bringen.268 Auch die gekürzte Fassung der Letopisec 1619–1691, die zwischen 1696 und 1700 kompiliert wurde,269 unterstreicht, dass es eben die „fromme Prinzessin und die Großfürstin Sofija Alekseevna“ gewesen sei, die die Verhandlungen mit den „blutgierigen Mördern“ im Mai 1682 im Kreml mutig geführt habe, um das Massaker zu beenden.270 Die allmähliche Umdeutung des vorherrschenden Narrativs begann anscheinend nach 1697. In diesem Jahr wurde, wie bereits erwähnt, das Komplott des Strelitzenobersten Ivan Cykler gegen Zar Peter aufgedeckt, der bei der Ermittlung an der Überzeugung festhielt, dass Cyklers versuchter Zarenmord nur ein Teil in einer langen 265 PSRL, Bd. 31, S. 188, Bl. 704v. 266 Ebd., S. 201. 267 Die Wolken am Himmel: ebd., S. 192; Strelitzen plündern und zwingen die Zuschauer ljubo zu schreien: ebd., S. 195; Ivan Naryškin als Opferlamm: ebd., S. 197. 268 Ebd., S. 195. 269 A. P. Bogdanov: Redakcii Letopisca 1619–1691 gg., in: Issledovanija po istočnikovedeniju istorii SSSR dooktjabr’skogo perioda. Moskva 1982, S. 124–151. 270 RGB OR, fond 199, Nr. 69, Bl. 101–104.
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Reihe der von seinen Gegnern, v. a. von Ivan Miloslavskij, organisierten Verschwörungen war. Nach der Niederschlagung der zweiten Strelitzen-Rebellion im Jahr 1698, bei der weithin geglaubt wurde, dass die Strelitzen von Sof ’ja durch einen geheimen Briefwechsel zum Aufstand aufgestachelt wurden, wurde Peters Überzeugung noch gestärkt. Diese neue offizielle Sichtweise auf die Ereignisse von 1682 (im Weiteren das Narrativ der Miloslavskij-Verschwörung) spiegelte sich in den petrinischen Geschichtswerken der 1710er- und 1720er-Jahre wider. Dabei lässt sich die allmähliche Evolution des Narrativs genau nachvollziehen. Der erste Versuch einer monumentalen Darstellung der russischen Geschichte von den Anfängen bis zur Regierung Peters des Großen, der auf Geheiß des Zaren unternommen worden war, wird in der Forschung als das Werk von Fedor Polikarpov identifiziert.271 Die Schrift, die 1715 fertiggestellt war, behandelte die russische Geschichte bis zum Jahr 1710. Die Darstellung des Strelitzen-Aufstands weist Ähnlichkeiten mit dem Text aus der Letopisec 1619–1691 auf, indem sie hauptsächlich auf die Gewalttaten der Strelitzen selbst eingeht, in die Erzählung jedoch auch das Motiv der Verschwörung einbringt. Dabei bleiben die Verschwörer, die am Tag des Aufstands die Falschmeldung über die Erwürgung von Ivan Alekseevič verbreitet haben sollen, im Werk von Fedor Polikarpov namenlos.272 Es ist bekannt, dass Polikarpovs Geschichte auf die Kritik des Zaren stieß.273 1716 bis 1722 wurde im Auftrag Peters des Großen an der Vorbereitung eines neuen Geschichtswerks gearbeitet, das die russische Geschichte seit der Regierung Ivans des Schrecklichen umfassen sollte.274 Im Rahmen dieses ambitionierten Projekts wurde intensiv nach relevanten Quellen gesucht, und viele Chroniken sowie amtliche Dokumente aus Moskauer Archiven wurden in die neue russische Hauptstadt Sankt Petersburg geschickt. Auch die Strelitzen-Rebellionen waren Gegenstand des Interesses. Bereits im Dezember 1715 verordnete Peter I. Folgendes: […] in Moskau in den Dokumenten des Dienst-, des Strelitzen- sowie anderer Ämter nach Informationen über die denkwürdigen Vorfälle im Militär und in der Zivilregierung sowie über die vergangenen Rebellionen im russischen Staat seit dem Regierungsbeginn Seiner Majestät zu suchen und sie sorgfältig aufzuschreiben.275
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A. N. Nasonov: Letopisnye pamjatniki chranilišč Moskvy (novye materialy), in: Problemy istočnikovedenija, Bd. 4. Moskva 1955, S. 243–285, hier S. 282–283; Bogdanov: Narrativnye istočniki, S. 97–98. Die Handschrift befindet sich in: RGB OR, fond 178, Nr. 4698. Vgl. auch die Rohschrift in: RGADA, fond 181, opis’ 9, Nr. 849/1415. 272 Vgl. das Zitat: „Am 15. Mai begann irgendjemand [sic!] von diesen Aufwieglern durch die Siedlungen der Strelitzen zu reiten und zu schreien, als ob die Naryškins den Prinzen Ioann erwürgt hätten“, RGB OR, fond 178, Nr. 4698, Bl. 275v. 273 S. L. Peštič: O novom periode v russkoj istoriografii i o tak nazyvaemych oficial’nych petrovskich letopiscach, in: TODRL, Bd. 16 (1960), S. 314–322, hier S. 319. 274 Ebd., S. 320; Bogdanov: Narrativnye istočniki, S. 99. 275 RGADA, fond 181, opis’ 4, Nr. 346/726, Bl. 1; siehe auch Bogdanov: Narrativnye istočniki, S. 100.
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Im April 1716 wurden die Auszüge aus den amtlichen Archiven in Sankt Petersburg empfangen, sie beinhalteten u. a. die Zusammenfassung vom Hinrichtungsurteil Ivan Chovanskijs sowie von vielen anderen Dokumenten aus dem Herbst 1682.276 Später wurden diese Auszüge in ein neues Geschichtswerk der petrinischen Epoche inkorporiert – die sogenannte „Ausführliche Chronik von Russlands Anfang bis zur Schlacht von Poltava“ (Podrobnaja letopis’ ot načala Rossii do Poltavskoj batalii).277 Trotz des sich in der Forschung eingebürgerten Titels behandelt die Podrobnaja letopis’ die Ereignisse der russischen Geschichte nicht bis zur Zeit der Schlacht von Poltava (1709), sondern nur bis zum Ausbruch des Großen Nordischen Krieges (1700). Das ganze Werk ist selbstverständlich Peter dem Großen gegenüber sehr wohlwollend gehalten. Bereits in seiner Kindheit wird er als ein besonders begabter Junge von außergewöhnlicher Vernunft dargestellt, dessen Schicksal darin bestand, zum Großherrscher des Russischen Reichs zu werden. Auf seinem Weg zum Zarenthron stößt Peter jedoch auf den Widerstand von zahlreichen Gegnern. Die größte Gefahr kommt vonseiten der Miloslavskij-Fraktion, womit das Narrativ der Miloslavskij-Verschwörung in der Podrobnaja letopis’ ausführlich ausgearbeitet wird. Die Ereignisse des Jahres 1682 werden im Text wie folgt dargestellt: Nach dem Tod von Fedor Alekseevič sei Peter vom Patriarchen zum neuen Zaren gesegnet worden, da sein älterer Bruder Ivan zu krank und regierungsunfähig zu sein schien. Dagegen habe carevna Sof ’ja protestiert und behauptet, dass die Krone dem älteren Prinzen überreicht werden solle. Nachdem der Patriarch Sof ’jas Vorschlag abgelehnt habe, habe sie sich mit Ivan Miloslavskij und Ivan Chovanskij verschworen und die Strelitzen gegen die Naryškins aufgewiegelt. Am 15. Mai verbreiteten die Boten von Miloslavskij278 die Falschmeldung über den Mord an carevič Ivan unter den Strelitzen. Obwohl die rebellierenden Strelitzen im Kreml den unversehrten Prinzen gesehen haben, wurden sie von Sof ’ja im Geheimen instruiert, die Meuterei nun nicht zu beenden, da die Bojaren ihnen den Tumult nicht verzeihen würden. Die Rebellen massakrierten deswegen alle ihre Gegner – die Verwandten und Anhänger von Zar Peter – und bestanden auf die Krönung beider Brüder. Nach diesem Sieg seien jedoch die Verschwörer selbst – Fürst Ivan Chovanskij und Bojar Ivan Miloslavskij – miteinander in Streit geraten. Chovanskij habe nämlich den Mord an seinem Gegner und die Usurpation der Macht im Land geplant. Um ihren Mitverschwörer loszuwerden, habe die hinterlistige carevna die Schuld an der Aufstandsorganisation und am Hochverrat dem Fürsten alleine zugeschoben, ihn in 276 Der ganze Text der Auszüge bezüglich des Aufstands 1682 befindet sich in: RGADA, fond 248, opis’ 12, Nr. 650, Bl. 474–483. 277 Siehe darüber ausführlicher M. V. Nikolaeva: Maloizvestnaja petrovskaja „istorija“ Rossii i eё rukopisnye kopii, in: Učёnye zapiski LGPI im. Gercena 321 (1967), S. 25–39. Die Forscherin datiert die Fertigstellung der ersten Redaktion der Chronik auf ca. 1722. Das Werk wurde erst 1798–1799 gedruckt, siehe N. A. L’vov (Hrsg.): Podrobnaja Letopis’ ot načala Rossii do Poltavskoj batalii, Teile 1–4. Sankt-Peterburg 1798–1799. 278 Als Komplize von Miloslavskij wird auch noch der Adlige Pёtr Tolstoj genannt.
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die Falle gelockt und auf seine sofortige Hinrichtung bestanden. Nach Chovanskijs Tod kapitulierten die rebellischen Strelitzen vor regierungstreuen Truppen, die reale Macht im Land sei jedoch in den Händen von Sof ’ja verblieben, die im Namen von Zar Ivan die Regierung bis zu ihrem Sturz 1689 ausübte.279 Auch andere Elemente aus den vorherigen Narrativen über den Aufstand 1682 wurden in der Podrobnaja letopis’ umgeschrieben bzw. umgedeutet. Die Bittschriften der Strelitzen, in denen sie sich über die ungerechte Behandlung seitens ihrer Vorgesetzten beschwerten, wurden ganz weggelassen. Die Strelitzen werden vielmehr als Trunkenbolde dargestellt, die das Vermögen ihrer Opfer rauben und verspielen sowie die Stadtbevölkerung terrorisieren. An der Stelle von Sof ’ja soll Natal’ja Naryškina versucht haben, die Rebellen während des Massakers zu beruhigen und um Gnade für die Zarenfamilie zu bitten. Und während der Konfrontation mit den Altgläubigen im Kreml am 5. Juli 1682 ist es nun der 10-jährige Peter selbst, der die offizielle Kirche mit heroischen Reden verteidigt, und nicht seine Halbschwester.280 Obwohl die Podrobnaja letopis’ erst gegen Ende des Jahrhunderts gedruckt wurde und nur eine begrenzte Zahl von handgeschriebenen Kopien existierte, erreichte das Verschwörungsnarrativ im petrinischen und postpetrinischen Russland große Popularität, hauptsächlich dank der Vermittlung der Werke von zwei anderen Schriftstellern – Pёtr Krekšin und Andrej Matveev. Krekšin wurde 1684 geboren und gehörte bereits zum neuen westernisierten russischen Adel petrinischer Epoche. Er engagierte sich im staatlichen Dienst, wurde 1714 der Unterschlagung von staatlichen Geldern beschuldigt, später jedoch freigesprochen.281 Im Ruhestand widmete sich Krekšin ab 1726 der historischen Belletristik. Am meisten interessierte er sich für die Biografie Peters des Großen und setzte sich das Ziel, eine vollständige Lebensgeschichte des ersten russischen Imperators zu schreiben. 1742 präsentierte Krekšin der damaligen russischen Kaiserin, Peters Tochter Elizaveta, sein opus magnum – „Kurze Beschreibung der seligen Werke des großen Herrschers und Imperators Peter des Großen, des Autokraten von ganz Russland“.282 Die Arbeit wurde positiv aufgenommen, sodass
279 L’vov (Hrsg.): Podrobnaja letopis’, S. 79–129. 280 Strelitzen als Mörder und Plünderer: ebd., S. 92; Natal’ja Naryškina bittet die Rebellen um Gnade: ebd., S. 87; Peters Rede gegen die Altgläubigen: ebd., S. 104. 281 Für eine kurze Biografie Krekšins vgl. Frank Kämpfer (Hrsg.): Peters des Grossen Jugendjahre: „Kurze Beschreibung der gesegneten taten des Gosudars, des Kaisers Peters des Grossen, Selbstherrschers von ganz Russland“; nebst einem Anhange aus zeitgenössischen Stimmen, nämlich Heinrich Butenant, Patrick Gordon und Otto Pleyer, zu den geschilderten Ereignissen. Stuttgart 1989 (= Quellen und Studien zur Geschichte des östlichen Europa 30), S. 15–17. 282 Kratkoe opisanie blažennych del velikago gosudarja imperatora Petra Velikago samoderžca vserossijskago, siehe die Handschrift in: GIM, sob. Uvarova, Nr. 1. „Kurze Beschreibung“ umfasst die Biografie Peters nur bis zum Jahr 1706. Eine Kopie dieses Werks, die allerdings nur die Ereignisse bis 1697 abdeckt, publizierte im 19. Jahrhundert Sacharov, siehe Sacharov (Hrsg.): Zapiski russkich ljudej. Für die Liste von allen erhaltenen Werken von Krekšin siehe Kämpfer (Hrsg.): Peters des Grossen Jugendjahre, S. 11; Frank Kämpfer: Petr Nikiforovič Krekšins historiographischer Ver-
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Krekšin Zugang zu Peters Archiv bekam, um seine Recherche fortzusetzen. Er plante, eine Biografie des Zaren in Form von ausführlichen Journalen zu verfassen, deren Umfang sich auf 45 Bände belaufen sollte: ein Band pro Jahr der Regierungszeit. Heute sind allerdings nur drei Bände aus dieser vielleicht nie zu Ende geführten Reihe bekannt: die Jahre 1682, 1683 und 1709. Krekšins Werk stieß jedoch im akademischen Umfeld auf große Kritik. Bereits bei seinen Zeitgenossen hatte er den Ruf eines Lügners und Phantasten, da er seine Schriften aus allen möglichen ihm zugänglichen Quellen kritiklos kompilierte und dazu noch mit seinen eigenen Phantasien vermischte.283 So baute Krekšin die „Kurze Beschreibung“ hauptsächlich auf dem Material der hier bereits behandelten Podrobnaja letopis’ auf, aus der er ganze Textteile einfach abschrieb. Der Publizist rezipierte und wiederholte das Narrativ der Miloslavskij-Verschwörung und erweiterte es durch eigene willkürliche Ergänzungen. Peter wird bei Krekšin als ein von Gott auserwählter Aufklärer des Russischen Reiches dargestellt, der jedoch von Kindheit an mit ständigen Komplotten habe kämpfen müssen. In der „Kurzen Beschreibung“ wird er nicht nur vom Patriarchen zum Regieren ausgerufen, sondern vom gesamten russischen Volk. Peter habe sich zunächst aufgrund seiner angeborenen Bescheidenheit und seines Respekts dem älteren Bruder gegenüber geweigert, die Zarenkrone anzunehmen. Erst nach wiederholten Bitten habe er sie angenommen.284 Es ist interessant, dass diese Episode im Journal des Jahres 1682 von Krekšin noch weiter ausgearbeitet wurde: Hier bittet auch Ivan seinen Bruder mit Tränen in den Augen Alleinherrscher zu werden. Weinend nimmt Peter daher die Regierungslast auf seine Schulter.285 Außerdem erinnern sich die Bojaren gleichzeitig daran, dass sowohl Peters Vater Aleksej Michajlovič als auch sein Bruder Fedor die Absicht gehabt hätten, Peter zum Nachfolger zu erklären.286 Die zentrale Rolle in Krekšins Darstellung spielt das Motiv der Lebensgefahr, der der junge Herrscher ständig ausgesetzt war: Sowohl die „machtgierige“ Sof ’ja als auch der „listige Fuchs“ Ivan Chovanskij wollten ihn beseitigen. In der Beschreibung von Peters wundervoller Rettung sowie in anderen Details seiner Geburt und Kind-
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such über Peter den Großen, in: JGO 35 (1987), H. 2, S. 203–217, hier S. 212; M. B. Pljuchanova: Istorija junosti Petra I u P. N. Krekšina, in: Učenye zapiski tartusskogo gosudarstvennogo universiteta 513 (1981), S. 17–39, hier S. 36–37. E. F. Šmurlo: Pёtr Velikij v ocenke sovremennikov i potomstva, Vypusk 1 (XVIII vek). Sankt-Peterburg 1912, S. 48. Zu den größten Kritikern Krekšins gehörte beispielweise der deutsch-russische Historiker im Dienst der Sankt Petersburger Akademie der Wissenschaften des 18. Jahrhunderts, Gerhard Friedrich Müller. Vgl. seine Aussage: „Krekšin erfand solche Sachen, die er wollte, nur damit er etwas zu jedem Tag von Peters Biografie sagen konnte, sogar wenn es lediglich darum ging, dass der Zar in die Kirche gegangen sei oder mit seiner Familie gespeist habe“, das Zitat nach Pljuchanova: Istorija junosti Petra, S. 17. Sacharov (Hrsg.): Zapiski russkich ljudej, S. 26–31. GIM, sob. Uvarova, Nr. 164, Bl. 11. Ebd., Bl. 6v.
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heit lässt sich der Einfluss der altrussischen hagiografischen Tradition besonders anschaulich nachweisen.287 Trotz der Kritik seitens der zeitgenössischen Historiker wurde Krekšins Werk unter der russischen alphabetisierten Bevölkerung in zahlreichen Kopien verbreitet. Oder um mit den Worten des deutschen Historikers Frank Kämpfer zu sprechen: Krekshin schrieb für seinesgleichen, den patriotischen Angehörigen der Zwischenschicht, die oberhalb der ungebildeten Massen, getrennt von den staatsverneinenden Sekten, aber auch ausgeschlossen von der eigentlichen Rezeption westeuropäischer Bildung ihren Dienst für den Zaren und das Imperium tat.288
Insbesondere der erste Teil von Krekšins opus magnum lässt sich in einer gekürzten Fassung, die Peters Kindheit bis zum Jahr 1682 thematisiert, unter dem Titel „Erzählung über die Empfängnis und die Geburt Peters des Großen“ in vielen Handschriften des 18. Jahrhunderts finden.289 In diesen Handschriften wird Krekšins Werk oft mit einem anderen Text kombiniert, der am häufigsten den Titel trägt: „Beschreibung der Rebellion, die im Jahr 1682 stattfand“. Es handelt sich um die Schrift von Andrej Artemonovič Matveev, dem Sohn des im Strelitzen-Aufstand ermordeten Bojaren Artemon Sergeevič Matveev. Matveev der Jüngere erfuhr die Rebellion der Strelitzen am eigenen Leib: Als 15-jähriger Junge wurde er während des Mai-Massakers dank Natal’ja Naryškina vor den Rebellen in den Frauengemächern versteckt und überlebte dadurch die unruhige Zeit. Später zeigte er sich als eifriger Anhänger Peters des Großen. Von 1699 bis 1715 befand sich Matveev im Ausland, wo er als diplomatischer Resident Aufträge der petrinischen Regierung in Den Haag, London, Paris und Wien erfüllte. Seine Memoiren über die Ereignisse der Strelitzen-Rebellion soll er erst nach seiner Rückkehr nach Russland verfasst haben, also zwischen 1716 und 1728, dem Jahr seines Todes.290 Es scheint plausibel, dass Matveev von der offiziellen Kampagne der Geschichtsschreibung der spätpetrinischen Zeit inspiriert wurde, seine Erinnerungen niederzuschreiben.291 Sein Werk stellt jedoch keine allgemeine Lebensgeschichte Peters des Großen dar, sondern konzentriert sich auf ein bestimmtes Thema: die Geschichte der Strelitzen-Rebellionen von 1682 und bis 1699.292 Insgesamt bleibt Matveev zwar dem Narrativ der Miloslavskij-Verschwörung treu, seine Version unterscheidet sich aber dennoch in einigen Aspekten von der Erzählung aus der Podrobnaja letopis’. Zum Hauptorganisator der 287 Pljuchanova: Istorija junosti Petra, S. 24. 288 Kämpfer (Hrsg.): Peters des Grossen Jugendjahre, S. 18. 289 Pljuchanova: Istorija junosti Petra, S. 20; Kämpfer: Petr Nikiforovič Krekšins historiographischer Versuch, S. 207. 290 Für eine kurze Biografie von Andrej Matveev siehe Roždenie imperii, S. 422–424. 291 Nikolaeva: „Istorija“ A. A. Matveeva, S. 44–45. 292 Matveev datiert die Hinrichtung von Cykler und Sokovnin irrtümlicherweise auf 1699 anstatt 1697, sodass sie in seiner Darstellung erst nach dem zweiten Strelitzen-Aufstand geschieht.
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Rebellion avanciert in Matveevs Text der Bojar Ivan Michajlovič Miloslavskij, „ein zu allen Gemeinheiten neigender und in der Boshaftigkeit hartgesottener Verbrecher“ und „giftiger Skorpion“. Er habe am Vorabend des Aufstands eine Liste mit den Namen der zukünftigen Opfer erstellt und am 15. Mai seine Mithelfer (Aleksandr Miloslavskij und Pёtr Tolstoj) mit der Falschmeldung über den Mord des carevič Ivan in die Strelitzensiedlungen geschickt. Sof ’ja habe an der Verschwörung ebenfalls teilgenommen, wird aber als eine „mit großem Verstand ausgezeichnete“ Frau beschrieben. Etwas heruntergespielt wird die Rolle von Ivan Chovanskij: Er wird als ein unvernünftiger Prahler und eine Marionette in Miloslavskijs Intrigen porträtiert. Von den wahren Verschwörern – Sof ’ja und Miloslavskij – wird er zunächst wegen seiner Beliebtheit bei den Strelitzen ausgenutzt und dann als Hauptrebell bezichtigt und hingerichtet, sodass die Schuld ihm alleine zugeschoben wird.293 Matveev, der mehrere Fremdsprachen beherrschte und über eine große Sammlung von europäischen historischen Schriften verfügte,294 versucht in seinem Werk, die Aufstände der Strelitzen in eine gesamteuropäische Perspektive einzuordnen. Gleich am Anfang seiner Schrift betont er, dass der Aufstand 1682 in ganz Europa Aufmerksamkeit erlangt habe und in „gedruckten Büchern beim Kaiserhof und anderen europäischen königlichen Höfen bekannt gemacht wurde“.295 Ivan Miloslavskij wird unter Matveevs Feder mit dem englischen „Verbrecher und Rebellen“ Oliver Cromwell verglichen, Sof ’jas Hinterlist wird als „italienische Politik“ beschrieben und die Strelitzen werden als „Lehrlinge“ von türkischen Janitscharen diffamiert, weil es ein „barbarischer asiatischer Brauch“ sei, dass Dienstleute die Waffen gegen ihre legitimen Herrscher richten. An Grausamkeit, so Matveev, haben die Strelitzen ihre Lehrer jedoch sogar übertroffen, weil die in Moskau begangenen „gottlosen“ Morde „im selbigen türkischen Reich keine Entsprechung“ fänden.296 Die Adjektive „barbarisch“ und „tyrannisch“ werden von Matveev stets für die Beschreibung der Strelitzen verwendet: Barbarisch sind ihre Taten wegen der unerhörten Grausamkeit, und als Tyrannen werden sie wegen ihres Ungehorsams gegenüber dem Zaren bezeichnet. Weiter wirft er ihnen vor, sie hätten ihren Militärdienst vernachlässigt, sich dem Handel zugewandt und sich dadurch bereichert, so Matveev. Anstatt der Monarchie treu zu bleiben, bildeten sie eine eigene Korporation – die Matveev mit einer Art „Republik oder Rzeczpospolita“ vergleicht – und verhielten sich, wie es bei den rebellischen Donkosaken üblich sei: Sie versam-
293 Matveevs Charakteristik von Ivan Miloslavskij: Roždenie imperii, S. 370; Klugheit Sof ’jas: ebd., S. 365; Dummheit und Prahlerei von Ivan Chovanskij: ebd., S. 389–390. 294 Siehe eine Studie zum Bestand der Bibliothek von Andrej Matveev in I. M. Polonskaja (Hrsg.): Bibilioteka A. A. Matveeva (1666–1728). Katalog. Moskva 1986. Über den Einfluss der europäischen Werke auf Matveevs Text siehe auch das Kapitel 5.4. 295 Roždenie imperii, S. 361. 296 Miloslavskij als Cromwell: ebd., S. 413; italienische Politik von Sof ’ja: ebd., S. 384; Vergleich von Strelitzen und Janitscharen: ebd., S. 363.
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melten sich in Kreisen, um ihre Vorgesetzten zu lynchen.297 Für ihre Meuterei bekämen sie von Miloslavskij und Sof ’ja eine große Summe Bestechungsgeld und später erschlügen sie – „Blutsauger“ und „als Schafe verkleidete wahre Raubtiere“ – während des Aufstands betrunken viele unschuldige Menschen.298 Bemerkenswerterweise widmet Matveev der Bewegung der Altgläubigen in seinen Memoiren relativ wenig Platz: Bei ihm ist es nicht der religiöse Dissens, sondern die Untreue der Strelitzen und die politische List der Miloslavskijs, die die Rebellionen verursachen. Matveev präsentiert sich in seinen Memoiren als ein starker Befürworter der absolutistischen Herrschaft. Um den illegitimen Charakter der Miloslavskij-Verschwörung zu unterstreichen, referiert er interessanterweise u. a. auf die Geschichte des 1591 verstorbenen carevič Dmitrij. Es wurde bereits erwähnt, dass der Aufstand der Strelitzen nicht zufällig gerade am 15. Mai – am Gedenktag des carevič – ausbrach: In den Augen der Aufständischen wurde das angebliche Attentat der Naryškins auf Ivan Alekseevič mit dem Mord an carevič Dmitrij auf Befehl des Bojaren Boris Godunov gleichgesetzt, was der gesamten Rebellion eine symbolische Legitimität verlieh. Matveev jedoch dreht den Symbolcharakter des Datums um: Hier ist es Peter, der einer Gefahr vergleichbar der des carevič Dmitrij ausgesetzt ist; Miloslavskij wird die Rolle des „Verbrechers“ Boris Godunov zugewiesen.299 Die Spannung, die durch die Beschreibung der Verschwörung und des grausamen Massakers in Matveevs Text aufgebaut wird, löst sich im Finale des Werks glücklich auf: Die Strelitzen werden 1698 von den neuen petrinischen Truppen geschlagen und alle Verbrecher erhalten ihre gerechte Strafe. Sof ’ja wird ins Kloster verwiesen, der Strelitzenoberst Ivan Cykler hingerichtet300 und die Leiche des verstorbenen Ivan Miloslavskij wird ausgegraben und gevierteilt.301 Das Narrativ der Miloslavskij-Verschwörung prägte seit der spätpetrinischen Zeit die offizielle Erinnerung an die Ereignisse der 1680er-Jahre. Sogar Fürst Boris Kurakin, ein Mitstreiter des Zaren Peter, erzählte die Revolte 1682 in starker Anlehnung an die Version von Andrej Matveev, obwohl er sich in seinen Memoiren sehr kritisch über viele Maßnahmen des Imperators äußerte und die Regierung von carevna Sof ’ja sehr positiv beschrieb.302 Laut Kurakin sei die Strelitzen-Revolte „durch den Willen und die Aufwiegelung von carevna Sof ’ja und mithilfe von Miloslavskij und seinen Männern, 297 Ebd., S. 367–368. 298 „Und während der beiden besagten Tage haben sie [die Strelitzen] wegen ihrer Eigenmächtigkeit und der unermesslichen Betrunkenheit auf dem Weg vom Kreml […] viele gemeine Menschen und Pferde gestochen und geschlagen“, ebd., S. 381. 299 Ebd., S. 375. 300 Matveev betrachtete Oberst Ivan Cykler als einen der eminentesten Mitverschwörer von Miloslavskij und Sof ’ja und stellte Cyklers Komplott und Hinrichtung 1697 in direkten Zusammenhang mit dem Aufstand 1682. 301 Ebd., S. 412–414. 302 Für Kurakins Darstellung der Strelitzen-Revolte 1682 siehe M. I. Semevskij (Hrsg.): Archiv knjazja F. A. Kurakina, Bd. 1. Sankt-Peterburg 1890, S. 43–50. Vgl. Kurakins positive Beurteilung der Regentschaftsregierung von Sof ’ja: „Die Regierung von carevna Sof ’ja Alekseevna begann mit allem
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Cykler und Pёtr Tolstoj, entstanden, damit sie [Sof ’ja] die Regierung im Staat in ihre Hände bekommen konnte“.303 Die Schriften von Matveev und Krekšin wurden im Laufe des 18. Jahrhunderts von vielen verschiedenen Privatpersonen abgeschrieben und kompiliert.304 Nur in einigen örtlichen Chroniken überlebten andere Erzählungen über den Strelitzen-Aufstand noch bis in die Mitte des Jahrhunderts.305 Peter der Große wurde noch zu Lebzeiten von seinen Anhängern zum „Vater des Vaterlands“ erklärt und avancierte bald nach seinem Tod zu einer Heldenfigur der russischen Geschichte.306 Und wie bei jeder anderen Heldenfigur brauchte es auch in seiner Biografie eine epische Erzählung von der Überwindung mächtiger Hindernisse und dem großartigen Sieg über Feinde. Mit der Zeit wurde das Verschwörungsnarrativ in der russischen literarischen Tradition durch viele anekdotische Details ergänzt, wie z. B. die Geschichte über Ivan Miloslavskij, der sich als Bojarin (sic!) verkleidet vor die Strelitzen gestellt und behauptet habe, von den Naryškins verprügelt worden zu sein.307 Das Verschwörungsnarrativ nach Matveev und Krekšin blieb in der russischen Erinnerungskultur dominant. Im ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhundert hielten Historiker und Biografen Peters des Großen das angebliche Miloslavskij-Komplott weiterhin für die Ursache des Aufstands 1682, obwohl bereits im Jahr 1787 Sil’vestr Medvedevs Schrift, die eine andere Sicht auf die Ereignisse bietet, als gedruckte Publikation erschien.308
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Fleiß und aller Gerechtigkeit zur Zufriedenheit des Volkes, sodass der Russische Staat noch nie solch eine kluge Regierung kannte“, ebd., S. 50. Ebd., S. 49. Frank Kämpfer spricht von 18 Handschriften alleine in der Bibliothek der Akademie der Wissenschaften in Sankt Petersburg, die durch die Zusammenstellung von Krekšin und Matveev gekennzeichnet sind, siehe Kämpfer: Petr Nikiforovič Krekšins historiographischer Versuch, S. 207. Vgl. auch die Angaben über die Kompilationen der Texte von beiden Autoren in der Handschriftensammlung der Russischen Nationalen Bibliothek in Nikolaeva: „Istorija“ A. A. Matveeva, S. 36– 41. Die Sichtung der Bestände der Handschriftensammlung der Russischen Staatlichen Bibliothek in Moskau hat bestätigt, dass auch dort die Zusammenstellung von Krekšin und Matveev häufig vorkommt, vgl. z. B.: RGB OR, fond 178, Nr. 1341, Bl. 50–74; RGB OR, fond 178, Nr. 9479, Bl. 136– 211v; RGB OR, fond 178, Nr. 4259, Bl. 1–125; RGB OR, fond 173, Nr. 129, Bl. 25–95v; RGB OR, fond 299, Nr. 90, Bl. 1–139v. Siehe z. B. eine kurze Erzählung über den Aufstand in einer im Troice-Sergiev-Kloster 1743 kompilierten Handschrift in A. P. Bogdanov: Povest’ o Moskovskom vosstanii 1682 g. (Undol’skogo), in: TODRL, Bd. 41 (1988), S. 79; Bogdanov: Narrativnye istočniki (prodolženie), S. 56–62. Hier wird das Motiv der Verschwörung ganz ausgelassen, und weder Sof ’ja noch Miloslavskij werden erwähnt. Nicholas V. Riasanovsky: The Image of Peter the Great in Russian History and Thought. New York & Oxford 1985, S. 10–88; Šmurlo: Petr Velikij, S. 31–60. Diese Anekdote befindet sich im Werk „Die erste und die bedeutendste Rebellion der Strelitzen, die im Mai 1682 in Moskau gewesen ist“ von Aleksandr Sumarokov, siehe: Pervyj i glavnyj streleckij bunt byvšij v Moskve v 1682 godu v mesjace mae. Sankt-Peterburg 1768, S. 4. F. O. Tumanskij (Hrsg.): Sobranie raznych zapisok i sočinenij, služaščich k dostavleniju polnago svedenija o žizni i dejanijach gosudarja imperatora Petra Velikago, Bd. 6. Sankt-Peterburg 1787.
IV. Der Strelitzen-Aufstand in der diplomatischen Kommunikation 1682–1684
Bei der Tradierung der Narrative über den Strelitzen-Aufstand im vormodernen Russland spielte die internationale Dimension dieses Ereignisses, wie gezeigt wurde, eine wichtige Rolle. Denn sowohl die politischen Akteure im Jahr 1682 als auch die späteren Autoren nahmen darauf explizit Bezug und berücksichtigten das ausländische Interesse an dem Aufstand. Die besiegten Strelitzen begründeten im Oktober 1682 den Abbau der Erinnerungssäule auf dem Roten Platz damit, dass sie eine Schmach für das Russische Reich in den Augen der ausländischen Beobachter darstellen könnte. Die Moskauer Regierung instruierte ihre Gesandten im nächsten Jahr sorgfältig, was sie im Ausland über den Aufstand erzählen durften. Und Andrej Matveev schrieb in seiner Erzählung mehrere Jahre später, dass über die Rebellion der Strelitzen in Europa diskutiert worden sei. Tatsächlich konnte das Echo eines solch wichtigen Ereignisses in den umliegenden Staaten nicht unbeachtet bleiben. Das Ziel dieses Kapitels ist, der Resonanz des Aufstands von 1682 in der diplomatischen Kommunikation zwischen dem Moskauer Reich und den europäischen Staaten nachzugehen und die komplexe Wirkung dieses Ereignisses auf die außenpolitischen Konstellationen Europas zu erfassen. 4.1 Berichte der russischen Kuriere im Jahr 1682 Bevor wir mit der Analyse der jeweiligen Berichterstatter und deren Korrespondenzen beginnen, werfen wir zunächst mithilfe der Perspektive der russischen Kuriere einen Blick auf die Verbreitung des Echos, das der Aufstand in Europa während des Jahres 1682 hervorrief. Es wurde schon erwähnt, dass der diplomatischen Tradition zufolge den anderen europäischen Herrschern ein Zarenwechsel mitgeteilt werden sollte. Der Tod von Fedor Alekseevič stellte keine Ausnahme dar. Noch Anfang Mai 1682 wurden im Moskauer posol’skij prikaz die Gesandtschaften von vier pod’jačii vorbereitet: Nikifor Venjukov sollte zum polnischen König und zum deutschen Kaiser reisen; Dmitrij Simonovskij zum brandenburgischen Kurfürsten, den niederländischen Generalstaa-
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ten und dem englischen König; Nikita Alekseev zu den Königen von Schweden und Dänemark; und Isaj Silin zum persischen Shah.309 Ihre Aufgabe bestand lediglich darin, Fedors Tod und die Thronbesteigung Peters kundzutun, weshalb nur Peter als Zar in der ersten entworfenen Variante der Urkunden erwähnt wird. Während die Missionsvorbereitung noch im Gange war, brach der Aufstand Mitte Mai aus, und das Absenden der Kuriere wurde verschoben. In der neuen Variante der Urkunden, die Ende des Monats angefertigt wurden, war bereits die Rede von der Thronbesteigung der beiden Zaren, Ivan und Peter.310 Ansonsten blieb der Inhalt der Urkunden ohne Veränderungen: Es ging hauptsächlich um den Wunsch der neuen Zaren mit anderen Monarchen weiter in Frieden zu verbleiben. Die innere Verwirrung im Moskauer Reich wurde selbstverständlich mit keinem Wort angesprochen. Während der Sommermonate machten sich die Kuriere auf den Weg. Im Folgenden werden die Reisen der drei nach Europa geschickten Beamten skizziert, die alle zu ihrem Erstaunen feststellen mussten, dass die Nachrichten über die Ereignisse in Moskau sie überholt hatten. Nicht viel ist über die Mission von Dmitrij Simonovskij bekannt. Sein Reisebericht (statejnyj spisok), wenn es einen gegeben hat, ist nicht überliefert, nur die für ihn im Juni erstellte Instruktion und die Antwortschreiben aus England und den Niederlanden liegen heute vor. Aus den Niederlanden brachte pod’jačij sogar zwei Briefe mit: einen von der eigentlichen Regierung, den Generalstaaten, und einen vom Statthalter der Republik, Wilhelm von Oranien. Eine Stelle gerade im letzten Dokument ist von Interesse. Wilhelm bezeigte der diplomatischen Etikette nach seine Kondolenz bezüglich Fedors Todes, erwähnte jedoch, dass er darüber zuerst „durch die angekommenen Nachrichten“ und erst dann durch Simonovskijs Urkunde informiert worden war.311 Bereits auf dem Weg in die Niederlande, in Hamburg, wurde Simonovskij mit dem Interesse der Europäer an den Moskauer Ereignissen konfrontiert, sogar mit einigen zirkulierenden Falschmeldungen. Auskunft darüber gibt eine kurze Nachricht aus einem deutschen Periodikum des Jahres 1682: Hamburg/ vom 20. Sept. Verwichenen Sonnabend kam alhier ein Moßkowitischer Gesandter von Berlin/ Namens Demetrius Simonoffsky/ er hatte nur 8 a 9. Personen bei sich/ und die Trauer wegen des abgelebten Czaaren noch nicht abgeleget/ wuste nicht/ daß der
309 Die erste Entscheidung über die Beauftragung der Kuriere wurde am 9. Mai 1682 getroffen, siehe PDSDR, Bd. 6, Sp. 1–4. 310 Siehe die Urkunde vom 29. Mai 1682 in: ebd., S. 12. Die ungewöhnliche Zwei-Zaren-Herrschaft bedurfte sogar vom Schreiber des posol’skij prikaz eine begriffliche Erläuterung, da der Ausdruck „Zarische Majestät“ in der Urkunde in der Einzahl blieb, „[…] denn dieses Wort, Majestät, ist ein Sammelbegriff, der … (an sich) eine Mehrzahl bedeutet … die Worte, wir und unsere Majestät, wenn auch in der Person eines großen Herrschers gebraucht, bedeuten eine Mehrzahl der Herrschaft und Majestät im Staate, so auch im jetzigen Falle der Nennung zweier Herrscher“, Zitat nach: Hedwig Fleischhacker: Die staats- und völkerrechtlichen Grundlagen der moskauischen Außenpolitik (14.–17. Jahrhundert). Breslau 1938 (= JGO, Beiheft 1), S. 246. 311 „Прежде сего чрезъ вѣсти и возвѣщенie къ нам пришедшiе […]“, siehe PDSDR, Bd. 6, Sp. 207.
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Czar Iwan auch umgebracht/ wie jüngst noch aus Polen geschrieben worden/ hat es auch nicht annehmen wollen/ bevor er desfals selbst aus Moßkau benachrichtigt wird.312
Deutlich spannender ist die Erfahrung, die Nikita Alekseev in Schweden gemacht hat.313 Sowohl sein ganzer statejnyj spisok als auch die während der Reise nach Moskau verschickten kurzen Berichte (otpiski) geben darüber Auskunft.314 Parallel mit dem Hauptziel der Mission – dem Überbringen der Urkunde – bekam Nikita, wie alle Anderen, die Aufgabe, politische Neuigkeiten im Ausland ausfindig zu machen und zusammenzutragen.315 Es ist bemerkenswert, dass Nikita gerade den Gerüchten über Tumulte und Revolten europaweit viel Aufmerksamkeit schenkte. So schrieb er während seines Aufenthalts in Narva die Nachricht über die große Unzufriedenheit des schwedischen Adels mit dem König nieder.316 Eine weitere Nachricht betraf die Lage in England, wo, dem Erzählen eines englischen Kaufmanns nach, die Gefahr einer offenen Revolte gegen den König bestand.317 Am 3. September erreichte Alekseev Stockholm, wo er etwa einen Monat blieb. Hier beobachtete der Russe die Anwesenheit der französischen, der dänischen und der kaiserlichen Gesandten.318 Seiner Aufmerksamkeit entging nicht, dass Schweden sich zu der Zeit von Frankreich politisch distanzierte und stattdessen ein Bündnis mit dem deutschen Kaiser anstrebte. Alekseev bemerkte jedoch, dass der französische Envoyé, über den gesagt wurde, dass er ohne Abschiedsaudienz in seine Heimat abgereist sei, sich weiterhin heimlich in Stockholm aufhielt. Demnach beschrieb der Kurier den folgenden Vorfall: Dieser französische Gesandte kam heimlich zusammen mit dem Zeremonienmeister Aleksandr Rudlib auf Nikitas Hof und gab sich für einen Dienstmann aus. Und der Zeremonienmeister sagte Nikita nicht, dass das der französische Gesandte sei. Und beim Essen
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Wöchentlicher Mercurius Zur Ordinari Post-Zeitung (Braunschweig), 1682, Nr. 39, „Hamburg/ vom 20. Sept.“. Für die Analyse von Berichten der deutschen Zeitungen über den Strelitzen-Aufstand siehe ausführlicher das Kapitel 5.3 unten. Für eine ausführlichere Darstellung der Mission von Nikita Alekseev und ihres Verlaufs siehe: G. M. Kazakov: Poezdka pod’jačego Nikity Alekseeva v Šveciju i Daniju v 1682 g., in: Rossijskaja istorija 3 (2018), S. 121–133. Für statejnyj spisok von Alekseev siehe: RGADA, fond 96, opis’ 1, Nr. 110; für seine otpiski – RGADA, fond 96, opis’ 1, 1682, Nr. 2. „А будучи ему Миките в Свейской и в Датцкой землях, проведывать про всякие тамошние вести, с кем у тех Г-рей ссылки и дружбы, и нет ли у них меж собою войны, и буде есть, кто кому силен, и где были какие бои, морем или сухим путем, и чего междо ими впредь чают, да что он проведает, и то ему все написать в статейной список имянно без прибавки, и приехав к Москве самому ему явитись и статейной свой список подать в Посолском приказе боярину князю Василью Васильевичу Голицыну с товарищи“, PDSDR, Bd. 6, Sp. 154–155. RGADA, fond 96, opis’ 1, Nr. 110, Bl. 4; das Gleiche auch in: RGADA, fond 96, opis’ 1, 1682, Nr. 2, Bl. 42. RGADA, fond 96, opis’ 1, Nr. 110, Bl. 6v; das Gleiche auch in: RGADA, fond 96, opis’ 1, 1682, Nr. 2, Bl. 43. RGADA, fond 96, opis’ 1, Nr. 110, Bl. 39–39v.
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fragte der Gesandte Nikita nach dem Moskauer Geschehen und der Verwirrung, was und warum passiert ist. Und Nikita sagte, dass durch die Gnade Gottes alles in Moskau still ist. Aber der Gesandte zeigte ihm viele Briefe, die aus Riga und Rugodiv [Narva] von dortigen Menschen geschickt wurden; und diese Menschen hatten ihre Nachrichten von Kaufleuten, die aus Novgorod und Pskov mit Handelswaren hinreisen, bekommen. Aber Nikita sagte dazu, dass er selbst die Briefe von seinen Verwandten aus Moskau hat, und dort wird erzählt, dass durch die Gnade Gottes alles in Moskau ruhig ist. Und nach der Mahlzeit, als der französische Gesandte und der Zeremonienmeister fortgegangen waren, erzählte der Soldat, der bei Nikitas Hof die Wache hielt, über diesen Gesandten, dass er wegen der Ankunft der kaiserlichen Botschafter verheimlicht wird.319
Alekseev musste also feststellen, dass der neugierige Franzose nicht nur über den Moskauer Aufstand bereits gehört hatte, sondern auch die Briefe aus Riga und Narva – den schwedischen Städten – mit Informationen darüber zur Hand hatte. Der Versuch, diese Information mit dem Verweis auf eigene Quellen (angebliche Briefe von Moskauer Verwandten) zu widerlegen, war vergeblich. An einer anderen Stelle in seinen Berichten musste Nikita konstatieren, dass „alles über das Moskauer Geschehen hier [in Stockholm] genau bekannt ist, und wird solches geredet, was man nicht hören kann, und der Schwede ist sehr froh darüber“.320 Dieser Umstand deutet darauf hin, dass die europäischen Behörden sehr schnell über die Details des Strelitzen-Aufstands informiert wurden und über Kanäle zum Informationserwerb verfügten, von denen die russischen Obrigkeiten anscheinend nichts wussten. Schließlich wenden wir uns der Mission von Nikifor Venjukov zu. Nur ein kleiner Teil seines statejnyj spisok ist überliefert,321 und zwar die Beschreibung eines zeremoniellen Streits, den er in Wien erlebte. Venjukov bekam von der zarischen Regierung die strikte Vorgabe, dass das Antwortschreiben des deutschen Kaisers an den russischen Zaren ihm persönlich aus Kaisers Händen überreicht werden sollte322 – eine Symbolgeste, die ein besonders hohes Prestige des Zaren in der politischen Rangordnung signalisieren sollte. Aus der Sicht der Wiener Behörden gehörte jedoch Venjukov zu dem niedrigsten Rang des diplomatischen Personals und durfte deswegen eine solche Ehre nicht entgegennehmen.323 Der Kaiserhof bestand darauf, dass das Antwortschreiben zu Venjukovs Residenz gebracht werden sollte, und drohte sogar damit, falls der rusEbd., Bl. 40–40v. Eine etwas gekürzte Version des gleichen Berichts findet sich in Alekseevs otpiska aus Stockholm vom 5. Oktober: RGADA, fond 96, opis’ 1, 1682, Nr. 2, Bl. 46. 320 „А о московском гсдрь поведении все у них подлинно ведомо, а иное говорят, чего гсдрь слышеть невозможно, и зело швед тому радуется“, ebd., Bl. 47. 321 RGADA, fond 32, opis’ 1, 1682, Nr. 1, Bl. 115–123. 322 PDSDR, Bd. 6, Sp. 41. 323 Venjukov war tatsächlich kein Großgesandter oder Envoyé, sondern lediglich ein Kurier. Über verschiedene Ränge des diplomatischen Personals der Frühen Neuzeit in Europa und Russland siehe Hennings: Russia and Courtly Europe, S. 90–108. Russische Kuriere verlangten häufig ein 319
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sische Kurier es nicht annehmen würde, er mit bloßen Händen würde abreisen müssen, und das Schreiben würde per Post versendet.324 Nach den langen Verhandlungen im Hause des kaiserlichen Sekretärs Jan Probst gelang es Venjukov schließlich einen Kompromiss auszuhandeln, was er mit Stolz in seinem Bericht erwähnt: Das Antwortschreiben solle er zwar nicht direkt aus Kaisers Händen, jedoch zumindest in seiner Anwesenheit bekommen. Venjukovs statejnyj spisok mit der Beschreibung des zeremoniellen Streits ist allerdings nicht die einzige Quelle, die über sein Wiener Abenteuer erzählt. Im Wiener Haus-, Hof- und Staatsarchiv liegt uns heute unter dem Titel Moscici Cursoris Dimissio Jan Probsts Bericht über sein entscheidendes Gespräch mit Venjukov vor.325 Der Bericht ist auf den 11. November 1682 (n. S.) datiert und zeigt deutlich, über welche Episoden des Gesprächs Venjukov in seiner Erzählung lieber schwieg. Jan Probst beschreibt, wie er während der Diskussion plötzlich fragte, „warumb er [Venjukov] sich anitzo wegen des Kayl: schreibens so vielfaltig bemühete, dan er würde bey seiner heimbkunfft nicht wissen, welchen unter beeden brüdern er solches übergeben sollte?“ Der Sekretär ergänzte dazu, dass sich die Zaren in Moskau nach seinen Kenntnissen im Streit miteinander befänden, „und einem die Soldatesca, dem andern das Volck anhängig were“. Der Russe reagierte darauf mit der Antwort, dass man solchen Gerüchten keinesfalls glauben solle. Er behauptete, der verstorbene Zar Fedor habe Ivan die Regierung anvertraut, jedoch wolle der letzte alleine ohne seinen jüngeren Bruder nicht regieren – „auß ersehnung dieser brüderlichen Liebe und vertrauens“ –, weswegen dann beide Brüder auf den Thron gesetzt worden seien. Probst gab nicht auf und sagte, dass in diesem Fall unerklärt bleibt, warum in Moskau ein „grausambes bluetbad, und niederhauens so vieler vornehmer Herren“ geschehen sei. Er erwähnte sogar die Namen von einigen Opfern: „berühmbte Generale Dolhorucki, fürst Andreas Segreevicz, der hier [in Wien] iüngst geweste Cantzler Lucianovicz“.326 Venjukov parierte jedoch, dass die Zaren damit nichts zu tun hätten. Der „alte Dolhorucki“ habe sich durch seinen Verrat im letzten Krieg mit Türken und Tataren bei Čigirin verhasst gemacht: Er habe seinen
persönliches Treffen mit dem Monarchen, was oft Streit mit der empfangenden Seite provozierte. Vgl. z. B. den Fall von Aleksej Vasil’ev in Wien 1689, siehe ebd., S. 98. 324 RGADA, fond 32, opis’ 1, 1682, Nr. 1, Bl. 118. 325 HHStA, Russland I, 14 Russica, 1682, Bl. 14–17. 326 Unter „Generale Dolhorucki“ soll zweifellos Bojar Jurij Dolgorukov verstanden werden; „fürst Andreas Segreevicz“ steht sicherlich für Bojar Artemon Sergeevič Matveev; „Cantzler Lucianovicz“ kann am wahrscheinlichsten als dumnyj dvorjanin Luk’jan Timofeevič Golosov identifiziert werden, der tatsächlich 1679 mit einer russischen Gesandtschaft Wien besucht hatte, siehe Hansdieter Körbl: Zeremonielle Aspekte des diplomatischen Verkehrs. Der Besuch der moskowitischen Großbotschaft im Wien des Jahres 1679, in: Irmgard Pangerl, Martin Scheutz und Thomas Winkelbauer (Hrsg.): Der Wiener Hof im Spiegel der Zeremonialprotokolle (1652–1800). Eine Annäherung. Innsbruck [u. a.] 2007 (= Forschungen und Beiträge zur Wiener Stadtgeschichte 47), S. 573–625. Probst überschätzt die bescheidene Rolle von Golosov in der Moskauer Regierung, wenn er ihn als Kanzler bezeichnet.
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Soldaten mit den Feinden zu kämpfen verboten, weil sein Sohn in tatarischer Gefangenschaft saß.327 Der „Fürst Sergeovicz“ sei der Fälschung von zarischen Briefen und schlechter Verwaltung schuldig gewesen, was ihm das Leben gekostet habe. Der zarische Arzt, ein getaufter Jude,328 wurde „in stucken zerhauen“, weil er wegen der Vergiftung des Zaren Fedor verdächtig gewesen sei, „sonsten were beede Czaren Regierung halber alles einig gewesen“. Venjukov blieb unnachgiebig sogar nachdem Jan Probst ihm als Beweis den illustrierten („im kupffer“) Bericht über „den vorgangenen tumult in der statt Moßkau“ aus der gedruckten Frankfurter Herbst-Messrelation gezeigt hatte.329 Der Russe blieb stur bei seiner Meinung, dass solches „ohne allen warheits grundt berichtet werde“. Schließlich brachte Probst das Argument, dass das Moskauer Reich gewöhnlich nur einen Herrscher hatte, und in der Situation der Doppelherrschaft würden die beiden Zaren, oder „vielmehr dern anhang und fractiones“ nicht in Frieden verbleiben können. Auch die Mutter des jüngeren Zaren (Natal’ja Naryškina) würde ihren Sohn vorziehen. Venjukov konterte jedoch damit, dass „die brüderliche liebe keine trenung gestatten würde“, und ergänzte, dass „die Weiber“ sich in die Politik in Moskau nicht einmischen dürften. Was die Mutter des jüngeren Zaren angeht, so sei sie „ihres verstandes halber zimblich astimirt“ und sie würde sich deswegen „nie einbilden, dadurch etwas dem gemeinen weßen zum nachtheil vorzunehmen“. Nach dieser Antwort wechselte der kaiserliche Sekretär das Thema, und das Gespräch über die Moskauer Unruhe kam zum Ende. Es wird deutlich, dass Jan Probst bereits im November 1682 über die Information zur Lage in Moskau verfügte und mit seinen Kenntnissen den russischen Kurier überraschte. Gut informiert über die Moskauer „Verwirrung“ waren auch die schwedischen Behörden, und sogar der Statthalter der Niederlande, Wilhelm von Oranien, deutete in seiner Antwort an die Zaren an, er habe die Nachrichten über den Tod von Fedor zuerst über eigene Kanäle bekommen. Die Versuche der Moskauer pod’jačii, die Unruhe abzustreiten, waren vergeblich. Es ist bemerkenswert, wie unwillig die Kuriere waren, über ihre Entdeckungen im Ausland zu Hause zu berichten: Nikita Alekseev erwähnte das Interesse des französischen Gesandten am „Moskauer Geschehen und
327 Diese Antwort von Venjukov ist verwirrend. Es war in Wirklichkeit ein anderes Opfer des Mai-Massakers, nämlich Fürst Grigorij Romodanovskij, dessen Sohn sich während des russisch-türkischen Krieges in der tatarischen Gefangenschaft befand. Buganov: Moskovskie vosstanija, S. 155. Romodanovskij machte sich tatsächlich unter den russischen Truppen nach der Niederlage bei der Festung Čigirin sehr unbeliebt und geriet sogar für eine Weile in zarische Ungnade, vgl. Sedov: Zakat moskovskogo carstva, S. 314–321. Es ist unklar, warum Venjukov (oder Probst?) ihn mit Dolgorukov verwechselte. 328 Venjukov meint damit den ermordeten Arzt Daniel Gaden. 329 Über den Bericht der Frankfurter Messrelation siehe ausführlicher das Kapitel 5.4 unten.
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der Verwirrung“ nur beiläufig,330 und Nikifor Venjukov ließ das ganze Gespräch mit Jan Probst in seinem statejnyj spisok komplett weg, vielleicht weil er ahnte, dass er viel zu viel über die Ereignisse in Moskau zugegeben hatte, als er eigentlich durfte.331 Einige Kanäle und Medien, durch die Nachrichten aus Russland europäische Behörden erreichen konnten, wurden in den oben zitierten Quellen bereits erwähnt: Briefe aus Riga und Narva für Schweden oder die gedruckte Frankfurter Messrelation für Wien. Nun gilt es festzustellen, wie genau die Information im Netzwerk der diplomatischen Korrespondenzen weitergegeben wurde, wer hinter diesen Prozessen stand, und wie die erworbenen Kenntnisse politisch instrumentalisiert werden konnten.
Abbildung 1 Kupferstich „Wahrhaffte abbiltung der grausamen Massacre welche sich dieses 1682 Jahrs in Moscaw in des Zaars Schloß Kremelin begeben“ aus der Frankfurter Messrelation Relationis Historicae Semestralis Autumnalis Continuatio aus dem Herbst 1682. SLUB Dresden / Deutsche Fotothek / Eph.hist.275–35, misc.6.
330 Interessant ist eine sehr vorsichtige Wortwahl Alekseevs für die Beschreibung der Unruhe: moskovskoe povedenie i smuščenie (wörtlich: „Moskauer Verhalten und Verwirrung“). In seiner ersten Version des Berichts (otpiska), die Alekseev aus Stockholm nach Moskau am 5. Oktober 1682 per Post schickte, ließ er vorsichtshalber sogar das Wort smuščenie („Verwirrung“) weg, siehe: RGADA, fond 96, opis’ 1, 1682, Nr. 2, Bl. 46. 331 Tatsächlich bekam Venjukov in seiner Instruktion die Vorgabe, auf alle unvorhergesehenen Fragen der ausländischen Behörden „höflich aber vorsichtig“ zu antworten und „unnötige Reden auf eigene Initiative nicht zu führen“, siehe PDSDR, Bd. 6, Sp. 33.
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4.2 Dänemark 4.2.1 Heinrich Butenants Briefe Von allen ausländischen Erzählungen über den Strelitzen-Aufstand von 1682 sind zwei Relationen des dänischen Kommerzfaktors Heinrich Butenant ohne Zweifel die berühmtesten und meist zitierten. Butenant schickte sie dem dänischen König im selben Jahr aus Moskau; es handelt sich um seine Berichte Warhaftige Relation der traurigen undt Schrecklichen Tragedy hier in der Stadt Moscau furgefallen auff Montag, Dienstag undt Mitwochen, den 15, 16 undt 17 May jetzigen 1682-ten Jahres (im Folgenden Wahrhaftige Relation genannt) und Wahrhaftiger bericht, der unglückseligen Resconter, darin Mich der Allerhöchste Gott, auß augenscheinlicher Lebens Gefahr errettet hat, fürgefallen am verwichenen Dienstag den 16 May anno 1682 (im Folgenden – Wahrhaftiger Bericht). Im ersten der beiden Texte erzählt Butenant die Geschichte des Aufstands beginnend mit der Strelitzen-Petition gegen Griboedov Ende April bis zum Finale der Mai-Morde; der zweite Bericht widmet sich dagegen nur der Episode, als die Strelitzen in der Nacht auf den 16. Mai nach Doktor Daniel von Gaden suchten und Butenant für seinen Komplizen hielten, weswegen sie ihn mit in den Kreml nahmen und dann nach einer kurzen Ermittlung wieder auf freien Fuß setzten. Große Popularität in der Geschichtswissenschaft genossen die beiden Relationen größtenteils dank ihrer frühen Entdeckung und Publikation. Der russische Historiker Nikolaj Ustrjalov publizierte die Texte, die er als Kopien des Originals aus dem Kopenhagener Archiv bekommen hatte, in ihrer Originalsprache (Deutsch) in der Beilage zum ersten Band seiner „Geschichte der Herrschaft von Peter dem Großen“.332 Seitdem wurden Butenants Berichte ins Russische und Englische übersetzt333 und dienten den nachfolgenden Forschern des Strelitzen-Aufstands als eine der Hauptquellen. Bedauerlicherweise haben jedoch fast alle Nachfolger von Ustrjalov seine Publikation benutzt, ohne dabei einen vergleichenden Blick in die Archivakten zu werfen. Das tat erst fast anderthalb Jahrhunderte später der Historiker Aleksandr Lavrov, der zu seinem großen Erstaunen entdeckte, dass die beiden Relationen nicht die einzigen Meldungen Butenants bezüglich des Aufstands sind.334 Tatsächlich enthält die Mappe mit Butenants Berichten im Kopenhagener Archiv all seine Briefe aus der Zeit von 1679 bis 1698, wobei drei Briefe aus dem Jahr 1682 stammen. Bevor wir jedoch mit der Analyse der Berichte anfangen, soll zuerst die Person des Berichterstatters vorgestellt werden. 332
Ustrjalov: Istorija carstvovanija Petra, S. 330–346. Ustrjalov vermerkte, dass seine Publikation der Originalhandschrift „buchstäblich“ getreu war. Dies lässt sich durch den Abgleich des publizierten Texts mit den Archivakten bestätigen. 333 Pogodin: Semnadcat’ pervych let, S. 38–56; „Sklonny k strašnomu neistovstvu“; Keep: Mutiny in Moscow. 334 A. S. Lavrov: Donesenija datskogo komissara Genricha Butenanta o streleckom vosstanii 1682 g., in: Vspomogatel’nye istoričeskie discipliny, Bd. 27. Sankt-Peterburg 2000, S. 192–200.
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Heinrich Butenant wurde in den frühen 1630er-Jahren als Sohn einer Hamburger Kaufmanns- und Schusterfamilie geboren, die unter anderem Handelsbeziehungen mit Russland pflegte. Bereits sehr früh ging er für seine Kaufmannsausbildung nach Russland, ließ sich in Moskau nieder und knüpfte Kontakte mit anderen führenden ausländischen Kaufleuten. 1663 übernahm er die Leitung der Moskauer Niederlassung des Handelshauses von David Vermeulen335 und führte seitdem zusammen mit seinem Geschäftspartner, Heinrich von Som, eine der erfolgreichsten ausländischen Handelsfirmen auf dem damaligen russischen Markt.336 Hauptsächlich betraf Butenants Geschäft Leder- und Pelzhandel, der über Moskau und den Hafen von Archangel’sk lief. Butenant erlernte die russische Sprache337 und pflegte gute Kontakte mit dem Zarenhof, dessen Handelsaufträge er für verschiedene Bereiche häufig erfüllte. Seit ca. 1675 übernahm Butenant auch die Führung von den Olonec-Eisenwerken der Kaufmannsfamilie Marselis im russischen Norden und 1677 erhielt er noch von der Moskauer Regierung das Mastenausfuhrmonopol.338 In den späten 1690er-Jahren bekam er viele Aufträge von Peter dem Großen für die Ausrüstung der russischen Armee und Flotte.339 Mitte der 1670er-Jahre kam Butenant mit dem dänischen königlichen Hof in Berührung, nachdem er die Moskauer Aufenthalte der dänischen Gesandten Magnus Gjøe und Friedrich von Gabel maßgeblich finanziert hatte. Dank der neuen Beziehungen bewarb sich der schlaue Hamburger Kaufmann 1678 um den vakanten Posten des dänischen Handelsfaktors in Moskau, und wurde als solcher umgehend akkreditiert.340 Im Sommer 1679 erkannte die russische Regierung den neuen Status von Heinrich Butenant an.341 Von nun an sollte er die dänischen Handelsinteressen am Zarenhof vertreten und auch einige diplomatische Aufgaben erledigen, wie z. B. die Übermittlung der Grußbotschaften. 1684 wurde Butenant vom dänischen König zum „Commissarius“ ernannt und bekam 1687 sogar den Adelstitel unter dem Namen „von Rosenbush“ für seinen treuen Dienst.342 Von besonderem Interesse im Rahmen der vorliegenden Arbeit ist, dass Butenant seit 1679 eine Korrespondenz mit dem dänischen Hof führte, in der er Auskunft über die aktuellen Geschehnisse in Russland gab. Wie die Archi-
335 Über Vermeulens Handelsgeschäfte in Russland siehe Martens: Hamburger Kaufleute, S. 15. 336 Anke Martens: Heinrich Butenant – Hamburger Kaufmann und Unternehmer in Moskau, Diplomat und Vertrauter Peter des Großen, in: Karsten Brüggemann, Thomas M. Bohn und Konrad Maier (Hrsg.): Kollektivität und Individualität: der Mensch im östlichen Europa. Festschrift für Prof. Dr. Norbert Angermann zum 65. Geburtstag. Hamburg 2001 (= Studien zur Geschichtsforschung der Neuzeit 23), S. 119–171, hier S. 119–131. 337 In den russischen Quellen wird Butenant unter seinem russischen Namen Andrej Ivanovič Butman erwähnt. 338 Amburger: Die Familie Marselis, S. 150, 177–184; Martens: Hamburger Kaufleute, S. 16–19. 339 Martens: Heinrich Butenant, S. 131–134. 340 Ebd., S. 134–136. 341 Dies geschah am 3. Juli 1679, siehe Bantyš-Kamenskij: Obzor vnešnich snošenij Rossii, Bd. 1. Moskva 1894, S. 233. 342 Martens: Heinrich Butenant, S. 135; Keep: Mutiny in Moscow, S. 411.
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vakten zeigen, waren Butenants Verpflichtungen als Informant nicht besonders anspruchsvoll.343 Seinen ersten Brief schickte er am 15. September 1679, danach folgten drei Briefe im Jahr 1680; 1681 wurden nur zwei Briefe verschickt. Die Absendedaten lassen feststellen, dass Butenant in den ersten Jahren seiner Tätigkeit im Durchschnitt zwei bis drei Briefe pro Jahr sendete, meistens einmal im Frühjahr und dann wieder im Herbst.344 Etwas reger wurde seine Berichtserstattung im Jahr 1682, als die außergewöhnliche Situation des Machtwechsels nach Fedors Tod und der Strelitzen-Aufstand mehr Aufmerksamkeit erforderten als üblich. Butenants erster Brief, in dem er auf die Lage nach Fedors Tod einging, ist auf den 2. Mai datiert. Hier erwähnte der Hamburger Kaufmann, dass der verstorbene Zar unter einer „harten scorbütischen krankheit“ gelitten habe und dass bei der Wahl eines neuen Monarchen seit „Anfang einige Uneinigkeit zwischen den großen Herren“ gewesen war, „weile etzliche den ältesten Prinzen vom ersten Bette, nahmens Iwan Alexejewitz (welche nun im sechszehenden Jahre begriffen), zum Nachfolge begehreten“. Dieser, „ein sehr gottfurchtiger Printz“ mit „großen Mangel am Gesichte“, weigerte sich jedoch, die Regierung zu übernehmen, sodass sein jüngerer Halbbruder zum neuen Zaren unter der Regentschaft seiner Mutter „Natalja Kirilovna Narüskin“ wurde. Butenant teilte auch mit, dass Artemon Matveev, der sich bereits „sechzig meilen von hier [Moskau]“ aufhielt, von heute auf morgen in Moskau erwartet werde und dass seine Gegner am Hof bald „wiederumb reichlich vergolten“ werden sollten. Schließlich fand die Meuterei der Strelitzen in den letzten Apriltagen Erwähnung. Butenant beschreibt, wie sich die Strelitzen im Zorn auf die Willkür und Erpressung seitens ihrer Vorgesetzten zunächst gar geweigert haben, dem neuen Zaren den Eid zu schwören, danach die Lynchjustiz auf „verrähter undt Blutsauger“ zu üben gedroht und schließlich die Regierung gezwungen haben, vier der am meisten gehassten Obersten festzunehmen und zu bestrafen. Den nächsten Brief, ursprünglich datiert auf den 23. Mai, sandte Butenant erst am 30. Mai ab, weil – wie er selbst im Postskriptum erklärt – „die ordinaire Post vergangene woche nicht abgelaßen“ worden sei. Erstaunlicherweise sind die beiden Nachrichten (der Brief und das Postskriptum) sehr kurz, und der Kommerzfaktor betont, dass
343 Die Blätter in der Archivakte mit Butenants Briefen (SPbII RAN, Westeuropäische Sektion, Mikrofilmensamml., B-43) sind nicht nummeriert, deswegen werden im Folgenden die Verweise auf konkrete Stellen im Text durch die Angabe des Absendedatums des jeweiligen Briefs gegeben. 344 Ab 1686 stieg jedoch die Anzahl der verschickten Briefe deutlich. Für die Zeit 1679–1685 zeigt sich eine klare Tendenz, dass die Briefe entweder im Zeitraum Februar bis April oder September bis November abgeschickt wurden. Dies ist wahrscheinlich dadurch zu erklären, dass Butenant im Sommer nach Archangel’sk zur Ankunft der Handelsschiffe aus Westeuropa reisen musste. Seine Briefe verschickte Butenant mit üblicher Post über die existierende Riga-Postroute. Alle seinen Moskauer Briefe von 1679–1682 sind an Dienstagen verfasst und die Briefe aus der Zeit 1683–1685 an Montagen. Es ist bekannt, dass die Postkutsche bis Juni 1683 immer dienstags gegen Abend Moskau verließ, danach immer montags, siehe Kozlovskij: Pervye počty, S. 158, 304.
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er „die particularia“ über die vor Kurzem geschehene Revolte „mit andere gelegenheit“ senden werde, „denn es jezo mit der Post nicht wohl geschehen kann“. Im Brief vom 23. Mai erwähnt Butenant nur, dass „ein schrecklicher Tumult von den Strelizen“ in Moskau ausgebrochen sei, der viele Bojaren und Beamten ihr Leben gekostet habe; er fügte auch die Liste der umgebrachten Personen hinzu, die die Anzahl und die Namen der Opfer der Strelitzen enthielt.345 Im Postskriptum vom 30. Mai wurde noch ergänzt, dass am Freitag, den 26. Mai „Zarewitz Jvan Alexejewitz auch zum Zaaren erwehlet worden [war], sodaß sie hier nun Zwo Zaaren haben“. Butenant hält außerdem fest, dass ein russischer Abgesandter bald zum dänischen Hof geschickt werden solle346 und dass Bojar Vasilij Golicyn („ein sehr verständiger herr und freundlich gegen die Ausländer“) zum Leiter des Gesandtschaftsamts ernannt worden sei. Die am Anfang des Kapitels angesprochenen ausführlichen Relationen über den Aufstand (Wahrhaftige Relation und Wahrhaftiger Bericht) befinden sich erst im Anhang des letzten Briefes aus dem Jahr 1682, der auf den 24. August datiert ist und nicht in Moskau, sondern in Archangel’sk verfasst wurde. Dorthin ging Butenant mit seiner ganzen Familie aus Sicherheitsgründen „wegen deß aufrühres undt große übermühts, so die Strelizen verübeten“. Als Termin der Abreise aus Moskau kommt am wahrscheinlichsten die erste Augustwoche infrage, da der Kaufmann im gleichen Brief noch die Rückkehr des Zarenhofes am 29. Juli aus der Pilgerfahrt nach Moskau erwähnte, was bedeutet, dass er selbst an diesem Tag noch in der russischen Hauptstadt war. Die Lage in Moskau war laut den Worten Butenants äußerst unruhig. Er beobachtet die andauernde Unzufriedenheit der Strelitzen, die Anfang August „wiederumb neue einwendungen“ gegen die Regierung machen wollten; ernstlich sei die Möglichkeit eines neuen Massakers besprochen worden. Innerhalb der Elite („zwischen den großen Herrn“) habe es auch keine Einigkeit gegeben, „weile jeder Tzaar seinen eigenen Anhang“ gehabt habe. Die Forderungen der Strelitzen und ihre Sichtweise auf die Situation sollten Butenant gut bekannt sein: Anscheinend sah er im Juni oder Juli die erbaute Säule („der Pilaax“) auf dem Roten Platz, „woran die Nahmen der ermordeten Herren, wie auch die uhrsachen worumb dieselbige schlagen worden, in stein sollte außgehauen worden“. Außerdem fügte Butenant seinem Brief vom 24. August noch eine Kopie der Strelitzen-Gnadenurkunde „in Reußischer Sprache“ bei.347 Die
345 Lavrov: Donesenija datskogo komissara, S. 195–196. Butenant erwähnte auch, dass Kirill Naryškin mit seinen drei jüngsten Söhnen und der Sohn von Artemon Matveev (Andrej Artemonovič Matveev) zwar verschont wurden, jedoch aus Moskau „in ungnaden“ in die Verbannung gehen mussten. 346 Es handelt sich ohne Zweifel um pod’jačij Nikita Alekseev und seine diplomatische Mission nach Schweden und Dänemark. 347 „[…] auch gehet hierbey copia deß begnadigungs Brieffs so auf der Strelitzen ihro Bitten, oder vielmehr Begehren ihnen von den beyden Tzaaren hat müßen gegeben worden“. Dieses Dokument befindet sich nicht in der Archivakte mit Butenants Briefen. Ščerbačev erwähnt jedoch in seiner Beschreibung des Kopenhagener Archivs eine deutsche Übersetzung der Gnadenurkunde vom 18. Juni, siehe: Ju. N. Ščerbačev: Datskij archiv. Materialy po istorii drevnej Rosii, chranjaščiesja
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ausführliche Erzählung über die Revolte selbst hinterließ er jedoch in zwei Relationen, die er der dänischen Regierung übersandte. Wie zeitnah zu den Ereignissen wurden diese Texte verfasst und warum wurden sie erst aus Archangel’sk abgeschickt? Die zweite Frage beantwortete Butenant selbst in seinem Brief: Der Inhalt der Berichte machte ihren Transfer über die übliche Postroute zu einem gefährlichen Unternehmen – „wenn die briefe waren aufgefangen worden, man seines lebens nicht wäre sicher gewesen“. Noch während der Nacht auf den 16. Mai wurde Butenants Haus von Strelitzen durchsucht. Im russischen Archiv der alten Urkunden ist eine im Mai erstellte, an den Zaren gerichtete Bittschrift von Heinrich Butenant erhalten, die bestätigt, dass der Hamburger Kaufmann sich durchaus Sorgen um seine Papiere machte. Butenant schrieb, dass neulich „viele unbekannte Menschen“ auf seinen Hof gekommen waren und viel Schaden verursacht hatten. Ihr wildes Benehmen machte Butenant Angst, weil er unter anderem in seinem Haus die Korrespondenz des dänischen Königs aufbewahrte. Er bat deswegen den Zaren Peter Alekseevič, auf seinen Hof eine Wache zu stellen.348 Die Bittschrift wurde anscheinend spätestens am 17. Mai geschrieben, da an diesem Tag ein Befehl ins Strelitzenamt kam, fünf Strelitzen Butenant für die Wache zur Verfügung zu stellen.349 Es ist bemerkenswert, dass der Kaufmann in seiner Bittschrift nicht von Strelitzen oder Rebellen spricht, sondern sehr vorsichtig den Ausdruck „unbekannte Menschen“ (neznaemye ljudi) benutzt. Butenant verstand offensichtlich ganz gut, wer genau die Lage in der Hauptstadt kontrollierte, und wollte in keinen Streit mit den übermächtigen Strelitzen geraten. Das Absenden einer detaillierten Beschreibung des Aufstands war in diesen unruhigen Tagen zu riskant. Was das genaue Entstehungsdatum der beiden Relationen angeht, so unterschrieb Butenant selbst seine Wahrhaftige Relation mit dem Datum „19 May 1682“. Aleksandr Lavrov äußert jedoch Zweifel, ob dies so früh geschehen konnte. Wie er meint, war die Niederschrift erst in Archangel’sk möglich, da „sowohl das Absenden als auch das v Kopengagene. 1326–1690 gg., in: ČIOIDR 164 (1893), Nr. 1, S. 1–339, hier S. 275. Scheinbar ließ die dänische Regierung das für sie äußerst interessante Dokument übersetzen. 348 RGADA, fond 53, opis’ 1, 1682, Nr. 1, Bl. 5. Der Originaltext: „Ныне государь приходят ко мне иноземцу на дворишко мой всякие многие незнаемые люди нагло и тем приходом убычать велми. И я иноземец с женишкою своей от тех многих людей и от наглого их прихождения и великого грабления и разорения опасен. У меня иноземца на дворишке моем датского королевского величества между вами государи братских любительных о всяких делах письма есть многие. Милосердный государь царь и Великий князь Петр Алексеевич всея великия и малыя и белые России самодержец, пожалуй меня иноземца, вели государь на дворишке моем свой великого государя караул поставить, чтоб мне иноземцу от тех многих людей и их наглого прихождения тем письмам и всякому моему домишку в конечном разграблении не быть. Царь государь смилуйся пожалуй“. 349 Ebd., Bl. 6. Die Akten aus dem russischen Archiv stehen im vollen Einklang mit der Information aus dem Wahrhaftigen Bericht, in dem Butenant auch beschreibt, wie er am 17. Mai Fürst Vasilij Golicyn um eine „Sauvegarde“ für sich bat und am nächsten Tag fünf Strelitzen zur Verfügung gestellt bekam, siehe Ustrjalov: Istorija carstvovanija Petra, S. 346.
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Transportieren des Berichts aus Moskau nach Archangel’sk im Sommer 1682 selbstmörderisch“ gewesen wäre.350 Diese Behauptung scheint jedoch fraglich. Die über die Post abgeschickten Briefe konnten tatsächlich von russischen Behörden geöffnet und gelesen werden, weswegen Butenant sich nicht traute, die Relationen bereits im Mai zu senden. Die Durchsuchung jedes die Hauptstadt verlassenden Menschen in der Zeit, als gerade viele Einwohner aus Moskau flohen, war dagegen eine sehr schwer durchzuführende Aufgabe. Es scheint also durchaus möglich, dass Butenant die Relationen noch in Moskau unter dem direkten Eindruck der Mai-Revolte niederschrieb, sie später mit nach Archangel’sk nahm und sie von dort am 24. August mit einem Handelsschiff nach Dänemark abschickte. Für das frühe Datum der Abfassung spricht auch die Tatsache, dass die Relationen nur auf die Ereignisse Mitte Mai eingehen und so wichtige Geschehnisse, wie z. B. die Wahl Ivans zum zweiten Zaren am 26. Mai oder die Errichtung der Säule im Juni, gar nicht thematisieren. Die Wahrhaftige Relation beginnt, wie bereits erwähnt, mit der Klage der Strelitzen gegen Oberst Griboedov351 und konzentriert sich am stärksten auf die Beschreibung der blutigen Ereignisse der Tage vom 15. bis 17. Mai. Ganz sicher war Butenant nicht selbst Zeuge aller beschriebenen Szenen. Wahrscheinlich verbrachte er die gefährlichen Tage in seinem Haus352 und wurde nur einmal gezwungen, es zu verlassen, als eine Gruppe von Strelitzen ihn früh am Dienstag, den 16. Mai in den Kreml mitnahm.353 Es wäre eine Dummheit gewesen, nach seiner Freilassung am gleichen Tag wieder in die vom Tumult erfasste Stadt zu gehen. Dies bedeutet, dass Butenant sich in seinem Bericht zweifellos auf mündliche Erzählungen über die Revolte und das Blutbad, die in der brodelnden Stadt zirkulierten, stützte. Das lässt sich am besten am Beispiel der Erzählung über den Tod von Fürst Jurij Dolgorukov zeigen. Butenant beschreibt, wie die Strelitzen, die kurz davor Dolgorukovs Sohn, Fürst Michail Dolgorukov, im Kreml ermordet hatten, zum Vater ins Haus kamen und sich zuerst sogar für die Ermordung entschuldigten.354 Als sie wieder gehen wollten, kam die weinende Frau des erschla-
350 Lavrov: Donesenija datskogo komissara, S. 198. 351 Butenant datiert diese Petition fälschlich auf den 25. April statt auf den 23. April, siehe Buganov: Moskovskie vosstanija, S. 90. 352 Anke Martens schreibt, dass Butenants Haus sich nicht in der Ausländischen Siedlung (nemeckaja sloboda) befand, sondern in der Stadt Moskau selbst, „[…] in der Nähe des Handelszentrums in Belyj gorod an den Pogannye prudy, in der Umgebung der heutigen Čistye prudy“, Martens: Hamburger Kaufleute, S. 36–37. 353 Die Strelitzen suchten nach Doktor Daniel von Gaden, dem angeblichen Mörder von Zar Fedor. Sie hatten den Sohn des Doktors festgenommen, der behauptete, dass sein Vater bei Butenant versteckt sei. Als von Gaden nicht in Butenants Haus gefunden worden war, wollten die Strelitzen den Kaufmann für ein Gespräch mit dem Sohn des Doktors in den Kreml bringen. Detailliert über die Episode siehe Martens: Heinrich Butenant, S. 149–151. 354 Die Strelitzen meinten, so Butenant, die Ermordung sei „in der furie geschehen“, weil der junge Dolgorukov „ihre rechtfertige sache alzu hart“ beschimpft habe, siehe Ustrjalov: Istorija carstvovanija Petra, S. 336.
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genen Sohnes dem alten Dolgorukov entgegen, und der Vater tröstete sie mit etwas verwirrenden Worten: „Weine nicht, meine tochter, ob mein Sohn schon todt ist, so leben seine zähne noch [sic!]“. Die Strelitzen hörten es und mutmaßten, dass der alte Fürst ihnen drohe, weswegen sie ihn ebenfalls umbrachten. Die Episode wird erst verständlich, wenn wir eine sehr ähnliche Erzählung aus der Letopisec 1619–1691 hinzuziehen: Hier verwendet der alte Dolgorukov in derselben Situation ein altes russisches Sprichwort – „obschon der Hecht tot ist, so bleiben doch seine Zähne“.355 Die Drohung wird dabei offensichtlich: Wie die Zähne eines toten Hechts noch verletzen können, so wird der Mord des jungen Dolgorukov nicht ungerächt bleiben. Butenant hatte anscheinend das Sprichwort nicht verstanden, und die Zähne des Hechts wurden unter seiner Feder zu den Zähnen des verstorbenen Sohnes. Es liegt die Vermutung nahe, dass Butenants Informanten vor allem die Strelitzen waren, die seit dem 18. Mai bei seinem Haus Wache hielten.356 Tatsächlich gibt es in Butenants Text viele Elemente aus dem Strelitzen-Narrativ über den Aufstand. So befindet sich am Anfang der Wahrhaftigen Relation eine Erzählung über einen Strelitzen-Bittsteller, der für seine gerechte Klage gegen Oberst Griboedov357 von Fürst Dolgorukov und Bojar Ivan Jazykov zu Knutschlägen verurteilt und erst im letzten Moment von seinen Kameraden gerettet wurde. Diese Episode weist viele Parallelen zu der bereits analysierten Barsovskaja Erzählung auf.358 An mehreren Stellen unterstreicht Butenant, dass die Aufständischen im Namen des bzw. der Zaren agierten und die Gebrüder Peter und Ivan gleichermaßen respektierten.359 Es wird erwähnt, dass die Strelitzen bei den Verhandlungen mit dem Zarenhof am 17. Mai ausdrücklich darauf bestanden, dass sie nicht für Verräter gehalten werden und dass ihr Aufstand ihnen verziehen werden müsse. Die Gerüchte über das unverschämte Benehmen Ivan Naryškins und sein Attentat auf carevič Ivan sowie über die Vergiftung von Zar Fedor durch seinen ausländischen Arzt Daniel von Gaden werden ebenfalls von Butenant
355 „Щуку убиша, а зубы осташася“ PSRL, Bd. 31, S. 195, Bl. 718. 356 Außerdem ist es auch möglich, dass Butenant einige Informationen von Fürst Vasilij Golizyn bekam, als er ihn am 17. Mai wegen seiner Bittschrift traf. Auch die anderen Einwohner der deutschen Siedlung (Kaufleute, Offiziere, Ärzte, wie z. B. der Doktor Blumentrost, der den Tumult überlebt hatte) konnten Butenant mit Berichten versorgen. 357 Die Strelitzen haben sich beschwert, so Butenant, dass sie in der „Osterwoche“ an dem Bau eines neuen Hauses für ihren Oberst arbeiten mussten und dass dieser Oberst ihren Dienstlohn unterschlagen habe. 358 Buganov: Novyj istočnik, S. 321–322. 359 „[…] die Streliezen alle zugleich außriefen, Ihr seidt unser Zaar, undt sterben mußen alle verräther […]“; „[…] unterdeßen schryen die Streliezen oben immer, lang lebe unser Zaar Jwan Alexejewitz undt der Prinz Peter Alexejewitz, hingegen mußen sterben alle verräther“; „Die drey tage über, so lange dieser Tumult währete, haben sie alles gethan, im nahmen des Zaarn Jvan Alexejawitz“, Ustrjalov: Istorija carstvovanija Petra, S. 335, 341. Die Strelitzen erkannten die Vorrangstellung Ivans gegenüber Peter an.
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wiedergegeben, obwohl der Kaufmann ihnen nicht glaubt.360 Schließlich erwähnt der Verfasser, ganz im Einklang mit den russischen Chroniken, die außergewöhnliche Disziplin unter den Aufständischen, die jegliche Plünderung und Räuberei während der Rebellion zu verhindern suchten.361 Es wäre übertrieben zu denken, dass Butenant ein Befürworter des Aufstands war. Trotz des Vermerks über die strikte Ordnung unter den Strelitzen beschreibt er detailliert, wie eine ihrer Gruppen von ihm die enorme Geldsumme von Tausend Rubel verlangte und mit der Ermordung seiner ganzen Familie drohte.362 Das willkürliche Massaker der „fürnehmsten Herren“ konnte er nur verurteilen; unerhört erschien ihm vor allem die Lynchjustiz der „Canajle“ und die Tatsache, dass „von allen den todten […] niemandt durch buttels hände gerichtet“ worden war. Andererseits waren die Ursachen der gewaltsamen Erhebung der Strelitzen für Butenant leicht nachvollziehbar. Genauso wie in seinen früheren Mai-Briefen sah er den ersten Grund des „Tumults“ in der großen „unvergnüglichkeit, so die Strelizen oftermahls haben spuren laßen“ und in der „Tyranney“ ihrer Obersten. Die andere Ursache lag für ihn in der „einbildung undt vermeßenheit“ des Naryškin Geschlechts, dessen schnellen Aufstieg zur Macht die Strelitzen nicht begrüßten. Dies führte sogar dazu, dass sie hinter der Erwählung Peters zum neuen Zaren ein „werck von Parthey verräther“ sahen und nicht glauben wollten, dass der ältere Bruder Ivan Alekseevič freiwillig auf die Krone verzichtet hatte. Von einer Verschwörung gegen die Naryškins seitens ihrer Gegner aus den Regierungskreisen wusste Butenant anscheinend nichts. Die Nachricht über die Lebensgefahr für carevič Ivan wird am 15. Mai, so Butenant, durch die Strelitzen, die „oben bey deß Zaaren gemächer die wacht hielten“, und nicht durch irgendwelche außenstehenden Anstifter ausgerufen. Die Strelitzen selbst verfassten eine Liste („Register“) mit Namen der zum Tode verurteilten Verräter. Nur eine Episode in seiner Wahrhaftigen Relation kann als Hinweis auf eine mögliche Aufwiegelung zur Revolte ‚von oben‘ gedeutet werden, und zwar die Erzählung, wie Ivan Naryškin in Maitagen „die Elteste Herren wenig respectirte auch etzliche deren bey dem Barte zoge […] welches durch gemelte Herren Klagender weise an die Streliezen wurde fürgehalten“.363 Konkrete Namen nennt Butenant allerdings nicht. Carevna Sof ’ja („eine sehr kluge Dame“) kommt in der Wahrhaftigen Relation an einigen Stellen vor, jedoch immer zusammen
360 Laut einem Gerücht probierte Ivan Naryškin den Zarenornat an und setzte sich auf den Zarenthron, wofür er von der verwitweten Zarin Marfa Apraksina und carevna Sof ’ja beschimpft wurde. Dies machte Ivan Naryškin so wütend, dass er sich auf carevič Ivan stürzte und ihn zu würgen begann. Siehe Butenants Kommentar zu diesem Attentatsgerücht: „aber dieses leztere wirdt nur für plauderey gehalten“, ebd., S. 334. 361 „In währender Zeit dieses mordens ist solche strickte order unter die Streliezen gehalten, daß wer nur im geringsten an diebstahl oder plunderung schuldig befunden wurde, alsobald tödtlich gestrafet wurde […]“; „man hat auch wenig oder gar nicht von Rauberey gehöret“, ebd., S. 340. 362 Diese Episode befindet sich im Wahrhaftigen Bericht, siehe ebd., S. 345. 363 Ebd., S. 334.
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mit anderen „Princessinnen“ und der „verwitben Keyserinne“ (der zweiten Frau Fedor Alekseevičs, Marfa Apraksina) und nur in der Rolle einer Unterhändlerin mit den Aufständischen; sie bittet sogar die Strelitzen um Gnade für Ivan Naryškin. Während seiner kurzen Verhaftung traf Butenant Sof ’ja am 16. Mai im Kreml sogar persönlich, wovon er im Wahrhaftigen Bericht erzählt. Sie stand auf der Steintreppe des Zarenpalasts neben Marfa Apraksina und Fürst Ivan Andreevič Chovanskij, mit denen sie redete, umgeben von Strelitzen, und ordnete die Freilassung von Butenant an.364 Diese kurze Episode deutete der Historiker Pogodin als Beweis für Sof ’jas Partizipation an dem Komplott gegen die Naryškins und dem Aufstand.365 Die Quelle selbst gibt für solche Schlussfolgerung jedoch keinen Anlass. Butenants Familie blieb in Archangel’sk bis zum Winter 1682 und kehrte erst nach der Beruhigung der Lage nach Moskau zurück. Er verschickte im Jahr 1682 keine weiteren Briefe an den dänischen Hof, hauptsächlich weil ein bevollmächtigter dänischer Gesandter, Hildebrand von Horn, seit dem Herbst an seine Stelle des diplomatischen Berichterstatters aus Russland getreten war. Äußerst interessant ist jedoch die Tatsache, dass gerade die beiden ausführlichen Texte von Butenant über den Aufstand (Wahrhaftige Relation und Wahrhaftiger Bericht aus dem Anhang des Briefes vom 24. August) noch im gleichen Jahr in seiner Heimatstadt Hamburg im Druck erschienen.366 Gedruckt wurden sie in Form einer Flugschrift vom Verleger Thomas von Wiering und fanden rasch weite Verbreitung. Die detaillierte Geschichte dieser Flugschrift wird im Kapitel 5.2 behandelt. An dieser Stelle muss betont werden, dass sowohl der genaue Weg der Relationen in die Druckpresse des Hamburger Verlags als auch die Motivation Butenants bis heute ungeklärt sind. Am wahrscheinlichsten nutzte der Kaufmann seine Geschäfts- oder Verwandtschaftskanäle in Hamburg, um eine Kopie der beiden Texte dem Verleger zu übersenden. Vielleicht ging es für ihn dabei ausschließlich um Profit, vielleicht wollte er einfach sein spektakuläres Material einer großen Leserschaft zugänglich machen. Wie dem auch sei, gerieten die ursprünglich geheimen Berichte im Endeffekt in die frühmoderne Öffentlichkeit, was zu ihrer weiteren Tradierung im europäischen publizistischen Diskurs beitrug. 4.2.2 Die Mission Hildebrand von Horns Butenants Briefe bildeten für die dänische Regierung eine äußerst wichtige Informationsquelle für die Einschätzung der politischen Lage im Moskauer Reich. Wie bereits
364 Ebd., S. 344. 365 Pogodin: Semnadcat’ pervych let, S. 52, 120. 366 Eigentlicher Bericht wegen des in der Stadt Moskau am 15/16 und 17 May Anno 1682 entstandenen greulichen Tumults/ und grausahmen Massacre: Wie auch; Der augenscheinlichen Lebens=Gefahr/ in welche der daselbst Königliche Dänische Resident/ mittelst dieses Auffstandes/ verfallen, Hamburg 1682.
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erwähnt, war es das größte Anliegen der dänischen Außenpolitik gegenüber Russland in 1670er-Jahren, den Moskauer Zaren zur Konfrontation mit Schweden zu überreden. Darum bemühten sich die Gesandten Mogens Gjøe (in Moskau 1672–1675) und Friedrich von Gabel (1676–1678). 1679 versuchte noch Butenant selbst nach seiner Bestallung als Kommerzfaktor dem Zarenhof die Vorteile eines Angriffs auf die schwedisch verwalteten baltischen Provinzen nahezubringen.367 Aber weder die Redekunst der dänischen Gesandten noch die Argumente Butenants konnten die erwünschte militärische Einmischung provozieren, weil das Moskauer Reich am Ende der 1670er-Jahre in einen schwierigen Krieg mit den Osmanen verwickelt war. Doch im Januar 1681 wurde der Friedensvertrag von Bachčisaraj zwischen Russland, dem Krimkhanat und dem türkischen Sultan geschlossen, was eine aktive Teilnahme des Zarenreichs an der baltischen Politik wieder möglich machte, weswegen die dänische Regierung entschied, erneut die Idee einer dänisch-russischen Allianz anzusprechen. Über das Abkommen von Bachčisaraj erfuhr Kopenhagen durch seinen Gesandten Hildebrand von Horn, der sich von Juni bis Dezember 1681 in Russland befand. Von Horn (geb. 1655) besuchte Moskau zum ersten Mal als Sekretär im Gefolge von Friedrich von Gabel. 1681 wurde er nach Moskau im Status eines Gesandten geschickt, unter dem offiziellen Vorwand, er solle Zeremoniell- und Handelsfragen klären sowie die Bereitschaft des dänischen Königs als Mediator in russisch-polnischen Verhandlungen zu agieren bestätigen.368 Inoffiziell erfragte von Horn bei den russischen Behörden ihre Einstellung zum Projekt eines gemeinsamen antischwedischen Abkommens und bekam von einem „Vornehmbsten Minister“ des Zaren das Versprechen, dass die zarische Regierung solch einer Idee mit Bereitschaft entgegenkommen würde.369 Es gelang von Horn während seines Aufenthalts, einen sehr positiven Eindruck auf den Moskauer Hof zu machen,370 u. a. durch seine sehr guten Russischkenntnisse, die Zar Fedor so sehr beeindruckten, dass er Horn bei seiner Abschiedsaudienz im Dezember 1681 zwölf prachtvolle russische Bücher schenken ließ.371 Die durch von Horn gemeldete Zuneigung der zarischen Regierung gegenüber Dänemark deutete der dänische König Christian V. als ein Zeichen dafür, dass Russland 367 Bantyš-Kamenskij: Obzor vnešnich snošenij Rossii, Bd. 1, S. 233. 368 Ebd., S. 234; Zernack: Studien zu den schwedisch-russischen Beziehungen, S. 121, Fn. 464. 369 Dieser „vornehmbste Minister“ lässt sich als Fürst Vasilij Fedorovič Odoevskij identifizieren, siehe Andrew Lossky: La Piquetiere’s projected mission to Moscow in 1682 and the Swedish policy of Louis XIV, in: Alan D. Ferguson und Alfred Levin (Hrsg.): Essays in Russian History: a Collection Dedicated to George Vernadsky. Hamden 1964, S. 71–106, hier S. 73. 370 Vgl. die Beurteilung Butenants aus seinem Brief vom 2. Mai: „er [von Horn] hat wegen seiner Conduite alhier bey jedweden ein gut Renome nachgelaßen“. Dieser Brief, adressiert an „Son Excellence Monseigneur Bierman“, befindet sich in einer Archivakte zusammen mit den Briefen von Horns. 371 Forsten: Datskie diplomaty, in: ŽMNP 356 (1904), S. 67; A. P. Bogdanov: Moskovskoe vosstanie 1682 g. glazami datskogo posla, in: Voprosy istorii 3 (1986), S. 78–91, hier S. 79. Bei seinem nächsten Besuch führte Horn die Gespräche mit russischen Staatsmännern meistens ohne Dolmetscher, siehe unten.
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nun endlich für eine Offensive gegen Schweden zu gewinnen wäre. Noch mehr, in Verhandlungen mit seinen europäischen Allierten – Frankreich und Brandenburg-Preußen – schlug der König im Frühjahr 1682 das Projekt einer gemeinsamen diplomatischen Aktion in Russland vor, laut der alle drei Staaten ihre Vertreter nach Moskau schicken sollten.372 Während des Frühlings erteilten Ludwig XIV. von Frankreich und Friedrich Wilhelm von Brandenburg-Preußen ihre Zustimmung. Von der dänischen Seite wurde als Gesandter für diese neue Mission der erfahrene Russlandkenner Hildebrand von Horn ausgewählt. Der Tod von Fedor Alekseevič und die Ereignisse des Maimonats in Moskau durchkreuzten jedoch diesen Plan. Butenants Brief vom 2. Mai mit der Nachricht über Fedors Tod und Peters Krönung erreichte Kopenhagen gegen Mitte Juni. Angesichts der erhaltenen Neuigkeiten wurde die königliche Instruktion an Hildebrand von Horn (datiert auf den 20. Juni)373 für seine Mission mit gewisser Behutsamkeit verfasst. Der Gesandte wurde unterrichtet, dass er während seiner Reise auf neugierige Fragen antworten sollte, er sei nach Moskau nur wegen der Beglückwünschung des neuen Zaren sowie der Zeremoniellund Handelsabklärungen geschickt worden. In Wirklichkeit bestand sein Ziel darin, die Einstellung der neuen zarischen Regierung zu den im vorherigen Jahr gemachten Versprechungen zu erfragen. Von Horn sollte die angebliche Gefahr der aggressiven Politik des schwedischen Königs den Russen nahelegen, und falls sie ihre Bereitschaft zum gemeinsamen Vorgehen bestätigten, sollte betont werden, dass die Dänen ihren Allierten beim Angriff auf Livonien sowohl auf dem Land als auch an der Ostsee jede Hilfe leisten würden.374 Jedoch bald nach der Fertigstellung der Instruktion, am 3. Juli, kam Butenants Brief vom 30. Mai, in dem es um den Aufstand und die Wahl des zweiten Zaren ging, in Kopenhagen an.375 Schleunigst wurde am 8. Juli eine neue Vollmacht für von Horn ausgestellt, diesmal adressiert an beide Zaren, Ivan und Peter, „weil […] durch rebellion der Strellitzen noch ein zaar, genand Jwan Alexeiewitz, in Muskaw erwehlet worden“ war.376 Wegen der „Rebellion“ wurde von Horn empfohlen, eine noch vorsichtigere Position einzunehmen und sich zunächst ein Bild von den Machtkonstellationen in der russischen Regierung und im Land generell zu machen, bevor er die Hauptfrage über die antischwedische Allianz erheben würde. Von Horn erhielt die neue Instruktion und die Vollmacht bereits unterwegs in Hamburg am 13. Juli und bestätigte in seinem Brief an den dänischen König vom 14. Juli, dass er „in Moscaw allesz, so viel thunlich sein wird, zu ihr majten besten“ un-
372 Vgl. Lossky: La Piquetiere’s projected mission, S. 73–75; Ferdinand Grönebaum: Frankreich in Ost- und Nordeuropa: Die französisch-russischen Beziehungen von 1648–1689. Wiesbaden 1968 (= Quellen und Studien zur Geschichte des östlichen Europa 2), S. 93–97. 373 Ščerbačev: Datskij archiv, S. 275. 374 Lossky: La Piquetiere’s projected mission, S. 76–77. 375 Ebd., S. 79. 376 Ščerbačev: Datskij archiv, S. 275–276.
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ternehmen würde.377 Es ist interessant, dass der Däne, wie er selbst im selben Brief erwähnt, von „neülichem tumult“ in der russischen Hauptstadt bereits aus den Briefen von „einem guten freünde ausz Moscaw“ informiert worden war378 und die Schwierigkeit seiner Mission sich gut vorstellte. Die Reise des dänischen Gesandten nach Moskau dauerte länger als gewöhnlich. Um die unnötige schwedische Neugier zu vermeiden, reiste Horn nach Russland nicht über Riga wie üblich, sondern über das polnische Gebiet. Da die russische Regierung über die Verschickung des Gesandten nicht vorher informiert worden war, musste Horn drei Wochen an der russischen Grenze auf die Bewilligung seiner Durchreise warten. Der Weg von Smolensk nach Moskau dauerte noch zwei Wochen, sodass der Däne erst gegen Mitte Oktober (d. h. während der Herbstkonfrontation zwischen der Regierung und den Strelitzen) die russische Hauptstadt erreichte. Der Zarenhof befand sich gerade im Troice-Sergiev-Kloster, und von Horn wurde vor die Wahl gestellt: entweder im aufständischen Moskau auf die Beendigung der Unruhe und die Rückkehr der Zaren zu warten, oder sich auf den Weg zum Lager der regierungstreuen Truppen zu machen. Von Horn beeilte sich zum Troice-Sergiev-Kloster zu gelangen und schrieb nicht ohne Stolz später in seinem Brief vom 23. Oktober, dass seine Bereitschaft, sich selbst mit allen seinen Leuten „zu jhrer zarschen majten diensten“ zu stellen, ihm ein gutes Renommee verschaffte, besonders im Kontrast zu dem Benehmen des niederländischen Residenten, van Keller, der sich während des Herbsttumults aus Angst „nach einer etwasz von Moscau entlegenen papier mühlen“ begeben hätte.379 Von Horn gewann bei der russischen Regierung noch mehr Sympathie, nachdem er bei seiner ersten Audienz am 19. Oktober seine Reise über das polnische Territorium dadurch erklärt hatte, dass er herausfinden wollte, ob die Polen „bey diesen trubeln“ irgendwas gegen die Zaren geplant hätten. Zur Bestätigung der unfreundlichen Intentionen der polnischen Regierung legte von Horn sogar einen Brief aus Vilnius („Wilda“) vor, „worinnen dieszes reichesz weitleufftigkeit gedacht wahrd“.380
377 Relationer til K. Christian den femte, S. 191. 378 Die Persönlichkeit dieses „Freunds“ ist unklar. Es konnte nicht Butenant sein, mit dem von Horn in keinem direkten Briefkontakt stand; Butenants Brief vom 2. Mai, der sich in der Akte unter Horns Papieren befindet (siehe Fn. 370), bekam Horn aus Kopenhagen zugeschickt, nicht direkt aus Moskau. 379 Relationer til K. Christian den femte, S. 192. 380 Ebd., S. 196. Das Interesse der Bojaren an der ungewöhnlichen Reiseroute von Horns sowie seine Antwort sind auch im russischen Protokoll der Audienz vermerkt, vgl. die Protokollierung der Antwort von Horns: „Es wurde ihm befohlen, über Litauen und Vilnius zu fahren, um herauszufinden, welche Intentionen die Litauer und die Polen bezüglich des Russischen Reichs nun haben“; „und er [von Horn] hat erfahren, dass sich die Polen über die jetzige Zeit, die im Russischen Reich herrscht, sehr freuen, jedoch werden sie keinen Angriff gegen den russischen Staat unternehmen. Sie versuchen dennoch allerlei, einen Aufruhr in der Ukraine unter den Kosaken anzustiften“, RGADA, fond 53, opis’ 1, 1682, Nr. 2, Bl. 136–137. Über die polnische Einmischung in den Strelitzen-Aufstand siehe noch das Kapitel 4.7 unten.
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Von Horn thematisierte die Strelitzen-Unruhe und ihre Folgen in seinen Briefen vom 23. Oktober, 7. und 28. November 1682 sowie vom 2. Januar 1683. Bereits im ersten Brief aus Russland, der am 23. Oktober 1682 beim Troice-Sergiev-Kloster („im lager für Troitze“) verfasst worden war, fasste der Däne den Verlauf des ganzen Aufstands zusammen. Es ist interessant, dass von Horns Erzählung einige enge Parallelen zu Butenants Bericht aufweist, obwohl die beiden sich erst im Winter treffen konnten.381 So gibt der Gesandte ebenfalls die Geschichte über die Unwilligkeit der Strelitzen am Ostersonntag Bauarbeit zu leisten wieder, was zu der darauffolgenden Meuterei Anlass gegeben habe. Von Horn erwähnt auch die Rückkehr von Artemon Matveev nach Moskau Anfang Mai und das angespannte Verhältnis zwischen ihm und seinen Gegnern am Hof, die die Rache des alten Günstlings fürchteten. Die monarchistischen Aufrufe der Strelitzen während der Mai-Rebellion („es lebe unser rechtmäsziger keyser Jvan Alexeivitsch“) finden ebenfalls Erwähnung. Sogar die Beschreibung von den ungewöhnlichen Umständen des Todes des alten Dolgorukov ähnelt sehr der Information aus Butenants Bericht: Von Horn erzählt über das gleiche für den Fürsten fatale Sprichwort über den Hecht und seine Zähne, im Unterschied zu Butenant jedoch ohne Fehler, was wahrscheinlich an den besseren Russischkenntnissen des Gesandten lag.382 Diese Übereinstimmungen sind wahrscheinlich dadurch zu erklären, dass Butenant und von Horn den gleichen Informanten hatten – Fürst Vasilij Golicyn, mit dem der dänische Envoyé ein langes Gespräch nach der Audienz am 19. Oktober hatte.383 Einige Details in von Horns Brief stimmen jedoch mit Butenants Angaben nicht überein. So z. B. habe das Gerücht vom angeblichen Attentat auf carevič Ivan die Strelitzen am 15. Mai nicht in ihrer Siedlung, sondern bereits im Kreml erreicht: „[…] ward ausz einen fenster desz schloszes durch einer unbekanten stimme dehnen auf den schloszplatz versambleten rebellen zugeruffen: kommet und rettet euren zarn Jvan Alexeivitsch, welchen man erwürgen will“. Die wahre Ursache der ganzen Rebellion – sowie die Person des Anstifters – bleiben damit laut dem Bericht des Gesandten unklar. Von Horn unterstreicht zwar, dass die in den Kreml marschierten Strelitzen die Absetzung ihrer Vorgesetzten und die Bezahlung ihres hinterzogenen Dienstsoldes forderten, geht jedoch gleichzeitig auf die nach der Rückkehr Matveevs entstandene
381
Butenant befand sich im Herbst 1682 in Archangel’sk: Noch im Brief vom 28. November schrieb von Horn, dass „monsieur Boutenant nicht hier“ sei. Erst im Brief vom 22. Januar 1683 wird erwähnt, dass von Horn mit verschiedenen russischen Bojaren bei „monsieur Butenant“ speisen war, siehe Relationer til K. Christian den femte, S. 141. Es gibt keine Anzeichen dafür, dass von Horn mit dem Hamburger Kaufmann im Briefkontakt stand. 382 „[…] kahm einer von desz Dolgerukin eignen leuten und sagte ihnen, dasz sein herr gedreüet seinesz sohnesz todt an sie zurächen und gesaget hätte, sie hätten zwar den hecht verschluckt allein die zehne übrig gelaszen“, ebd., S. 194. 383 Natürlich konnte Horn seine Kenntnisse über den Aufstand auch von den im zarischen Lager anwesenden ausländischen Offizieren bekommen, was die Parallele zwischen seinem Bericht und Butenants Relationen ebenso erklären kann.
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Fehde und Uneinigkeit innerhalb der russischen Elite als einen möglichen Grund des Tumults ein: Ob mitler weile einige von den groszen ausz furcht oder miszgunst getrieben ein feur, welchesz sich nachgehensz selbst verzehret, angezündet, ist mehr glaublich alsz beweiszlich, zumahlen man biszhero noch nichtsz gewiszes von den ertsten uhrheber dieszes entstandenen tumults und darauf erfolgeten jämmerlichen mordsz erfahren können.384
Von Horns Erzählung über die Fortsetzung des Aufstands im Sommer und Herbst ist dagegen viel einheitlicher. Hier tritt Fürst Ivan Chovanskij in der Rolle des größten Verschwörers auf. Gleich nach den Ereignissen Mitte Mai wird er von den Strelitzen „zum feldtherrn“ erwählt und beginnt nun alles zu tun, um dieselbe „zu obligiren“. Aus Angst vor seinen Intrigen, die „des gantzen reiches ruin nach sich zögen“, flieht der Zarenhof ins Troice-Sergiev-Kloster, wohin später auch Chovanskij gelockt wird. Nach seiner Hinrichtung drohen die Strelitzen in Moskau zwar zuerst „ihres vatern todt“ zu rächen, geben jedoch schließlich auf und ersuchen die zarische Gnade. Chovanskijs Verbrechen bestand nämlich darin, so Horn, dass „er mit den fürnehmsten strellitzen einen bundt gemacht [habe] alle bojaren nieder zu hauen, die zaren heimlich hinzurichten, seinen sohn an der jungen verwittibten zarizin zuverheirahten und auf den troen zusetzen“. Von Horn gab also in seinem Brief das offizielle Narrativ über Chovanskijs Verschwörung wieder, das im Denunziationsbrief vom 2. September aufgekommen war und von der russischen Regierung im Herbst und Winter verbreitet wurde. Tatsächlich hatte der Däne viele zarische Urkunden zur Hand, aus denen er die Information entnahm und die er in eigener Übersetzung nach Kopenhagen der dortigen Regierung übersandte.385 Wichtig sind von Horns Aufzeichnungen über die Rolle und das Verhalten von Sof ’ja und Ivan Miloslavskij. Die Zarenschwester erwähnt der Däne zum ersten Mal bei der Beschreibung seiner Audienz im Troice-Sergiev-Kloster: Sof ’ja , „des sehligen zarn schwester, welche alles anjetzo regieret“, stand „hinter einer schwartzen decke“ neben Fürst Golicyn und hörte jedes Wort aus dem Gespräch.386 Ihre wahre politische Rolle als Regierungshaupt war für von Horn damit kein Geheimnis. Er vermerkte auch
384 Ebd., S. 193. 385 Dazu erwähnt Horn im Brief vom 7. November 1682: „Eingelegte copien hab ich ausz den Reusischen übergesetzet umb desz klährer jhr königl. majten den kurtz verwichenen zustand dieser länder allerunterthänigst anzudeuten“, ebd., S. 197. Im Kopenhagener Archiv befinden sich tatsächlich vier solche Dokumente: 1. die Bedingungen zur Begnadigung der Strelitzen, die seitens der Regierung gestellt wurden; 2. der Denunziationsbrief gegen Chovanskij; 3. der zarische Brief mit der Danksagung an die Moskauer Bevölkerung vom 21. September; 4. die Treueerklärung der Strelitzen gegenüber den Zaren vom 25. September, siehe Ščerbačev: Datskij archiv, S. 276–277. 386 Relationer til K. Christian den femte, S. 196.
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die wachsende Feindlichkeit zwischen Sof ’ja und Peters Mutter, Natal’ja Naryškina.387 Über die Involvierung von Sof ’ja und Bojar Ivan Miloslavskij in der Vorbereitung des Strelitzen-Aufstands war der Däne lediglich durch sehr wage dennoch interessante Gerüchte informiert. Im Brief vom 2. Januar 1683 beschrieb von Horn in Kürze den Dezember-Aufruhr im Strelitzenregiment Oberst Bochins. Laut dem Dänen habe Moskau knapp vor dem Ausbruch einer neuen Rebellion gestanden, und nur das mutige Handeln von Vasilij Golicyn, der die regierungstreuen Truppen schleunigst gesammelt und die Rebellen entwaffnet habe, konnte die Regierung von einem neuen Massaker retten. Die Rädelsführer der Rebellen seien gefoltert worden und haben durch die Folter gestanden, dass „/:Ivan Michalewitsch Diloslafsch ihnen:/ solchesz /:befohlen:/ [hatte]“. Nach diesem Bekenntnis seien sie sofort enthauptet worden, „weiln man sicher glaubet, /:das die alteste prinzessin:/ mit hier /:innen interessire:/“.388 Der verwirrte Zustand des Moskauer Reiches und komplizierte Machtkonstellationen am Hof machten von Horns Mission äußerst schwierig. Der Däne versuchte am Anfang sein Hauptinteresse gar nicht zu erwähnen, jedoch bereits bei der ersten Audienz wurde er von Vasilij Golicyn ausgefragt, wie die Lage zwischen Dänemark und Schweden stände.389 Im Dezember 1682 besuchte von Horn Golicyn sogar in seinem Haus und redete wieder über die politische Lage im Norden. Am Ende des Gesprächs versicherte der „Generalissimus“ den Gesandten seiner tiefsten Freundschaft. Gleichzeitig ersuchte Horn einen Kontakt zu Emel’jan Ukraincev, dem dumnyj d’jak des Gesandtschaftsamts und Golizyns Vertrauten, und argumentierte, dass ein auswärtiger Krieg in der vorhandenen Lage das beste Mittel gegen die innerliche Unruhe im Land wäre, da er „allesz gegen dem /:ausserlichem anstos:/ ver:/einigen:/ würde“.390 Der Däne bemühte sich sehr um die Gunst der Moskauer „großen Herren“ und traf sich fast mit jedem bedeutenden Bojaren oder Beamten.391 Von allen Seiten hörte er die Versprechungen der Freundschaft für den dänischen König und Hass und Feindschaft gegenüber Schweden. Ivan Prončiščev, der die Bestallung als Großgesandter nach Schweden Ende 1682 bekommen hatte, gestand im Gespräch mit von Horn ein,
387 Vgl. Horns Brief vom 28. November 1682: „[…] die /:uneinigkeit:/ zwischen der /:verwittibeten zaarricin:/ und der ältern /:prinzessin:/ täglich zunimbt und die beeden /:hern:/, welche von ihrer /:muter:/ und /:schwester:/ aufgerucket, mehr /:verdrus:/ alsz liebe gegen einander beginnen blicken zu lassen“, ebd., S. 138. Die Textabschnitte in Zeichen /: :/ zeigen die chiffrierten Stellen im Brief. Die erste Anwendung von Chiffre befindet sich im Brief vom 28. November. Über von Horns Beobachtungen über den Kampf zwischen verschiedenen politischen Gruppierungen am Moskauer Hof, siehe auch A. S. Lavrov: Političeskaja bor’ba v Rossii 1680-ch godov v donesenijach Hil’debrandta fon Gorna (istočnikovedčeskie zametki), in: Vestnik Sankt-Peterburgskogo universiteta, Serija 2. Istorija, Jazykoznanie, Literaturovedenie 16 (1999), Nr. 3, S. 15–23. 388 Relationer til K. Christian den femte, S. 140. 389 Forsten: Datskie diplomaty, in: ŽMNP 356 (1904), S. 68. 390 Siehe den Brief vom 2. Januar 1683 in: Relationer til K. Christian den femte, S. 140. 391 Von Horn erwähnt in seinen Briefen die Gespräche mit den Fürsten Vasilij und Boris Golicyns, Fürst Vasilij Odoevskij, dumnyj d’jak Emel’jan Ukraincev.
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dass „/:er ordre:/ habe, so hart /:in Schweden zu reden:/ alsz noch /:nimals:/ geschehen“.392 Und Fürst Michail Čerkasskij verglich die Schweden mit Tataren, als er sagte, dass „die ersten /:getaufte:/, die letztern aber /:beschnittene betriger:/ wehren, und der eine ja so wohl alsz der andre von den /:raube:/ ihrer /:nachbaren:/ sich bereichet hatten“.393 In Wirklichkeit war jedoch die russische Regierung für eine offene Konfrontation mit Schweden nicht bereit, und trotz der vielen tapferen Worte wurde nichts Reales für einen Friedensbruch unternommen.394 Es gab mehrere Gründe, warum die russische Regierung trotz der generellen Zuneigung und Sympathie gegenüber von Horn persönlich und Dänemark im Allgemeinen der antischwedischen Tripelallianz (Frankreich–Brandenburg–Dänemark) nicht beitrat. Erstens war von Horn nur auf sein alleiniges Engagement angewiesen; trotz seiner vielen Briefe an den dänischen König, in denen er die Notwendigkeit der möglichst schnellsten Ankunft nach Moskau von brandenburgischen und französischen bevollmächtigten Gesandten stark betont hatte,395 kamen solche diplomatischen Missionen nicht zustande, und die Russen sahen die dänische Versprechung einer großen europäischen antischwedischen Koalition nach und nach mit Verdacht an. Die außenpolitischen Opponenten von Horns waren dagegen in Moskau sehr aktiv. Der niederländische Resident, van Keller, bemühte sich sehr, um Dänemarks Intentionen zu diskreditieren und legte im Juli 1683 im Moskauer Gesandtschaftsamt „ein memorial“ vor, in dem er die russische Regierung vor einer weiteren Annäherung an die dänische Krone warnte.396 Auch der im Frühling 1683 in Moskau angekommene schwedische Envoyé, Christof Koch, versuchte die Russen der tiefsten Zuneigung des schwedischen Königs zu versichern und behauptete sogar, Schweden und Frankreich seien wieder gute Freunde geworden.397 Zweitens hatte die russische Regierung großes Misstrauen gegenüber den außenpolitischen Plänen des polnischen Königs und wollte sich sehr ungern angesichts der bereits bestehenden polnischen Gefahr in einen Konflikt mit einem weiteren Nachbarland begeben.398
392 Siehe von Horns Brief vom 2. Januar 1683 in: ebd. 393 Brief vom 15. Mai 1683, ebd., S. 147. 394 Über den erfolglosen Ausgang der Mission von Horns siehe Forsten: Datskie diplomaty, in: ŽMNP 356 (1904), S. 70–84; Zernack: Studien zu den schwedisch-russischen Beziehungen, S. 122–127. 395 Vgl. z. B.: „[…] imfall jhr majten /:gealliirte, als:/ nahmentlich /:Franckreich, Brandenburg:/, jhre /:abgesanten mit:/ geniglicher /:volmacht:/ aufsz schleünigste /:hieher senden:/ würden, man zu allerseits /:nuzen:/ eine solche /:ligue:/ undt /:alliance:/ mit diesem /:reiche zu schlissen:/ mittel finden könnte […]“, Relationer til K. Christian den femte, S. 153–154. 396 Siehe von Horns Brief vom 16. Juli 1683, ebd., S. 149. 397 Forsten: Datskie diplomaty, in: ŽMNP 356 (1904), S. 72. 398 Über die russisch-polnischen Verhältnisse 1682–1684 siehe das Kapitel 4.7 unten. Die große „Furcht“ der Russen vor Polen beklagte auch von Horn in seinem Brief vom 20. Februar 1683, siehe Relationer til K. Christian den femte, S. 142.
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Schließlich war die Uneinigkeit innerhalb der russischen Elite selbst zu groß. Von Horns Anmerkung wegen des angespannten Verhältnisses zwischen Sof ’ja und Natal’ja Naryškina wurde bereits erwähnt. In seinen späteren Berichten musste der dänische Gesandte diesen ersten Eindruck nochmal bestätigen. Im Brief vom 19. Juni 1683 gab er sein Gespräch mit einer Hofdame von carevna Sof ’ja wieder, die behauptet habe, dass „/:die prinzes Sophia:/ lieber dasz /:unterste oben kehren:/ würde, alsz zugeben, dasz /:ihr jüngerer bruder [Peter] allein regieren sollte:/“.399 Noch im Januar desselben Jahres erzählte Fürst Boris Golicyn, Peters engster Befürworter und Vertrauter, im Gespräch mit von Horn über die „tägliche Gefahr“ für das Leben des jungen Zaren.400 Und am 15. Juli verbrachte Boris Golicyn bei von Horn ganze vier Stunden, in denen er mit Tränen in den Augen wiederholte, dass „man /:den jüngsten zaarn:/ zu /:vergeben:/ suchte, und zwar das /:seine eigene schwestern:/ solches /:ins werck zurichten:/ sich fürgenommen“ hätte. Der verzweifelte Fürst bat den Gesandten sogar, nach Protektion für Peter bei dem dänischen König zu ersuchen.401 Die russische regierende Elite sei deswegen, so von Horn, in zwei Fraktionen gespalten: Während die Anhänger von Zar Peter sich für einen Krieg mit Schweden entscheiden würden, seien Sof ’ja und ihr Favorit Vasilij Golicyn für eine Beibehaltung des Friedens gewesen. Über Golicyn gab der Däne sogar ein Gerücht wieder, er sei von den schwedischen Gesandten mit großen Geschenken bestochen worden.402 Anstatt für die Konfrontation mit Schweden entschied sich die russische Regierung für eine Bestätigung des vorhandenen Status quo. Die Großgesandtschaft von Ivan Prončiščev konnte im Herbst 1683 in Stockholm eine Zusage für die Verlängerung des Friedensabkommens erlangen; am 29. April 1684 kamen die schwedischen Großgesandten in Moskau an und wurden sogar von Sof ’ja selbst prachtvoll empfangen. Die Ratifizierung des russisch-schwedischen Friedens bedeutete die erfolglose Beendigung der Mission Hildebrand von Horns. Sein letzter Bericht aus Moskau ist auf den 19. August 1684 datiert. Im selben Monat verließ der Däne die russische Hauptstadt. 4.3 Die Niederlande Von Horns führender Opponent im diplomatischen Gefecht am Zarenhof, Baron Johan van Keller, Untertan der niederländischen Generalstaaten, engagierte sich ebenfalls als fleißiger Berichterstatter und verfolgte mit großem Interesse die turbulenten Ereignisse der 1680er-Jahre in Moskau. Zwar machte sich der dänische Gesandte über seinen Gegner lustig, indem er, wie es oben kurz angesprochen wurde, van Kellers 399 400 401 402
Ebd., S. 149. Siehe von Horns Brief vom 22. Januar 1683, ebd., S. 141. Ebd., S. 150. Forsten: Datskie diplomaty, in: ŽMNP 356 (1904), S. 83.
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Flucht im Herbst 1682 aus der rebellischen Hauptstadt auf eine Papiermühle als „Holländische finesse“ beschrieb,403 jedoch soll es auf keinen Fall als Beweis für die Feigheit des niederländischen Residenten dienen. Van Keller befand sich im Mai und Sommer 1682 in Moskau und verfasste trotz der anstehenden Gefahr viele Berichte über die Lage im Moskauer Staat, die er der niederländischen Regierung zukommen ließ. Nicht viel ist bekannt über die Herkunft und die Biografie von Johan Willem van Keller. Er kam anscheinend aus einer reichen Familie und diente zunächst als Sekretär bei dem niederländischen Ambassadeur in Schweden, Nicolaas Heinsius. Im Gefolge von Heinsius besuchte Keller 1669 zum ersten Mal Moskau.404 Im Januar 1676 kam er wieder nach Russland, diesmal im Gefolge des niederländischen Großgesandten Koenraad van Klenk. Bald darauf starb Zar Aleksej Michajlovič und van Keller war der einzige ausländische Diplomat, der eine permanente Aufenthaltserlaubnis in Russland von der neuen Moskauer Regierung bekam.405 Diese Sonderstellung des niederländischen Residenten hatte verschiedene Gründe. Erstens repräsentierte Keller ein aus russischer Sicht weit entfernt liegendes Land, was, im Gegensatz zu Nachbarländern wie Polen-Litauen oder Schweden, sein Engagement als Beobachter oder gar als Spion viel weniger verdächtig machte. Zweitens waren die Niederlande seit der Mitte des 17. Jahrhunderts Russlands engster Handelspartner, und die Anwesenheit von deren Vertreter in Moskau war selbst für den Zarenhof von Vorteil. Tatsächlich setzte sich van Keller auf seinem neuen Posten für die niederländischen Handelsinteressen ein.406 Gleichzeitig erfüllte er einige Propagandaaufträge für die zarische Regierung: 1677 bemühte er sich um die Publikation der Berichte über den russischen Sieg gegen die Osmanen bei Čigirin in der niederländischen, in Druckform erscheinenden jährlichen Chronik Hollandske Mercurius.407 Zu Kellers wichtigsten Aufgaben gehörte selbstverständlich die Vertretung der außenpolitischen Interessen der Generalstaaten. 1676 bis 1680 kooperierte er mit den damaligen Verbündeten der Niederlande – den in Moskau anwesenden dänischen (Friedrich von Gabel) und brandenburgischen (Hermann Dietrich Hesse) Diplomaten.408 Das Hauptziel seiner Bemühungen war die Agitation der Moskauer Regierung 403 Relationer til K. Christian den femte, S. 192. 404 Thomas Eekman: Muscovy’s International Relations in the Late Seventeenth Century. Johan van Keller’s Observations, in: California Slavic Studies, Bd. 14. Berkeley [u. a.] 1992, S. 44–67, hier S. 45. 405 Belov: Niderlandskij rezident v Moskve, S. 49; Bushkovitch: Peter the Great, S. 88; Kees Boterbloem: Russia and Europe: The Koenraad van Klenk Embassy to Moscow (1675–76), in: Journal of Early Modern History 14 (2010), S. 187–217, hier S. 213. 406 Ja. T. Kotilajne: Bor’ba za russkij rynok: gollandskie kupcy v Archangel’ske i na Baltike v konce XVII stoletija, in: Niderlandy i Severnaja Rossija: sbornik naučnych statej. Sankt-Peterburg 2003, S. 74–100, hier S. 88–90. 407 Belov: Niderlandskij rezident v Moskve, S. 51. 408 Die Idee einer niederländischen Residentur in Moskau wurde ursprünglich noch 1676 vom dänischen Envoyé in den Niederlanden vorgeschlagen, siehe Вalthasar Coyett: Posol’stvo Kunraada fan-Klenka k carjam Alekseju Michajloviču i Feodoru Alekseeviču = Voyagie van den Heere
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gegen Schweden und England, die außenpolitischen Gegner der Niederlande und Dänemarks während dieser Zeit.409 Als 1681 die Niederlande jedoch eine Allianz mit der schwedischen Krone gegen die französisch-dänische Koalition schlossen (die sogenannten „Garantietraktate“), orientierte sich der Resident um auf die Kontakte mit schwedischen Agenten und bemühte sich vor allem um die Beibehaltung des Friedens zwischen dem Moskauer Zaren und dem schwedischen König. Van Keller unterrichtete die Generalstaaten über die Ausrichtung der russischen Außenpolitik sowie über die Verhältnisse innerhalb des Moskauer Reichs regelmäßig in seinen Briefen. Insgesamt sind 294 Briefe van Kellers bekannt, die er innerhalb der 22 Jahre seiner Residentur in der russischen Hauptstadt (1676–1698) verfasst hat. Im Durchschnitt sandte Keller etwa 13 Briefe pro Jahr, im turbulenten Jahr 1682 sogar 21 Briefe. Der Versand geschah per Postverbindung über Novgorod und Riga; aus Riga gingen die Briefe nach Den Haag entweder mit dem Schiff über Amsterdam oder auf der Landroute über Berlin. Üblicherweise erreichte die Korrespondenz Den Haag in etwa 35 Tagen.410 Der sowjetische Historiker Belov, der der Erforschung von van Kellers Briefen seine Dissertation gewidmet hat, schreibt außerdem, dass der niederländische Resident bereits sehr früh – ab dem 30. Brief – aus Sicherheitsgründen ein Duplikat jedes seiner Berichte anfertigte und mit einer Privatperson in die Niederlande abschickte.411 Während seiner Tätigkeit in Moskau konnte Keller ein breites Netzwerk von Informanten organisieren. Er bestach drei Dolmetscher des Moskauer Gesandtschaftsamts – Leontij Gross, Efim Meisner und Ivan Enin – die ihm die Informationen über politische Neuigkeiten in Russland lieferten.412 Van Keller hatte gute Kontakte mit russischen Regierungsbeamten wie Vasilij Golicyn, Jurij Dolgorukov, Artemon Matveev, Vladimir und Vasilij Šeremetev.413 Schließlich pflegte van Keller nützliche Beziehungen zu den schwedischen Agenten, Ludwig Fabritius und Christof Koch, und stand außerdem in Briefkontakt mit den niederländischen Residenten in StockKoenraad van Klenk, Extraordinaris Ambassadeur van haer Ho: Mo: aen Zyne Zaarsche Majesteyt van Moscovien, hrsg. v. A. M. Jovjagin. Sankt-Peterburg 1900, S. lii–liii. 1680 nutzte Keller seine Beziehungen mit dem Leiter des Moskauer Gesandtschaftsamts, Larion Ivanov, um das Treffen zwischen dem schwedischen und dem polnischen Gesandten in Moskau zu verhindern, siehe M. I. Belov: Rossija i Gollandija v poslednej četverti XVII v., in: Meždunarodnye svjazi Rossii v XVII– XVIII vekach (ėkonomika, politika i kul’tura). Moskva 1966, S. 58–83, hier S. 75. 409 Eekman: Muscovy’s International Relations, S. 53–55. 410 Auf allen Briefen van Kellers steht das Datum des Empfangs in Den Haag nach dem neuen Stil. Es gab natürlich manchmal große Abweichungen von der durchschnittlichen Lieferzeit. Die schnellste Lieferung dauerte 18 Tage, die langsamste 71 Tage. Über Kellers Briefe siehe detaillierter Belov: Niderlandskij rezident v Moskve, S. 107–110. 411 Ebd., S. 110. 412 M. I. Belov: Pis’ma Ioganna fan Kellera v sobranii niderlandskich diplomatičeskich dokumentov, in: Issledovanija po otečestvennomu istočnikovedeniju. Sbornik statej, posvjaščёnnych 75-letiju professora S. N. Valka. Moskva & Leningrad 1964, S. 374–382, hier S. 378. 413 Eekman: Muscovy’s International Relations, S. 48.
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holm (Christiaan C. Rumpf) und London (Arnout van Citters).414 Interessant ist, dass trotz der Tatsache, dass sich die Niederlande und Brandenburg-Preußen am Anfang der 1680er-Jahre in verschiedenen politischen Koalitionen befanden, van Keller den Briefkontakt zum brandenburgischen Agenten Dietrich Hesse beibehielt.415 Man kann dem amerikanischen Historiker Andrew Lossky nur zustimmen, als er van Keller als „probably the best informed foreign diplomat in Russia“ charakterisierte.416 Außerdem war der Holländer insgesamt ein gut ausgebildeter Mensch: Er hatte solide Kenntnisse in der antiken Geschichte und beherrschte die deutsche, französische und lateinische Sprache. Die russische Sprache konnte er allem Anscheinen nach nicht flüssig sprechen, jedoch konnte er sie zweifellos recht gut verstehen. Van Keller, der während seiner Residentur in der russischen Hauptstadt die ganze Regierungszeit von Fedor Alekseevič miterlebte, war sich der schlechten Gesundheit des Zaren bewusst. Bereits im Februar 1682 beschrieb der Holländer den äußerst schwachen Zustand von Fedor kurz vor der Eheschließung mit seiner zweiten Frau Marfa Apraksina. Angesichts des abzusehenden Zarentodes sei in den Regierungskreisen beschlossen worden, Artemon Matveev aus dem Exil zurückzuberufen, damit er die erwarteten Unruhen in Schach halten könne.417 Im März fühlte sich Fedor jedoch besser, und Matveev musste seine Rückkehr verschieben. Im Brief vom 25. April notiert van Keller, dass es dem Zaren wieder schlechter gehe, sodass erneut nach Matveev geschickt worden sei. Im Fall von Fedors Tod, so van Keller, sei ein Thronfolgestreit zwischen den Verwandten seiner beiden Brüder (Ivan und Peter) nicht auszuschließen.418 Die generelle Stimmung am Hof neigte sich offenbar zugunsten Peters, da zwei seiner Onkel, die Brüder von Natal’ja Naryškina, nach ihrer Verbannung wieder in Moskau aufgetaucht waren; Matveev befand sich nur zwei Tage von der Hauptstadt entfernt und erhielt täglich Briefe mit Informationen über die aktuelle Lage am Hof. Im nächsten Brief vom 2. Mai unterrichtet van Keller die Generalstaaten über den am 27. April erfolgten Tod von Fedor. Ivan, der älteste der verbliebenen Brüder, sei aufgrund seiner „geistigen und körperlichen Behinderung“ als regierungsunfähig erklärt worden, sodass der 9-jährige Peter zum neuen Zaren erwählt worden sei. Keller erwähnt keine Uneinigkeit innerhalb der russischen Elite bezüglich dieser Wahl; da-
414 Ebd., S. 49, 66. 415 Belov: Niderlandskij rezident v Moskve, S. 117–119; Belov: Pis’ma Ioganna fan Kellera, S. 378. Seinen Briefkontakt mit Hesse erwähnt Keller im Brief vom 1. August 1682, siehe: SPbII RAN, Russische Sektion, Samml. 40, Nr. 57, Bl. 111v. 416 Andrew Lossky: Dutch Diplomacy and the Franco-Russian Trade Negotiations in 1681, in: Ragnhild Hatton und M. S. Anderson (Hrsg.): Studies in Diplomatic History: Essays in Memory of David Bayne Horn. Worcester & London 1970, S. 32–46, hier S. 37. 417 Siehe den Brief vom 21. Februar 1682, SPbII RAN, Russische Sektion, Samml. 40, Nr. 57, Bl. 73–74v. Keller datierte alle seinen Briefe nach dem alten Stil, sodass seine Datumsangaben mit den Daten aus den russischen Quellen völlig übereinstimmen. 418 Ebd., Bl. 83–83v.
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gegen berichtet er von der Unwilligkeit der Strelitzen („oder anders der Wache ihrer zarischen Majestät“) diese Entscheidung zu akzeptieren. Der Grund dafür sei, so van Keller, das üble Benehmen der Strelitzenobersten gewesen, mit denen die Strelitzen sehr unzufrieden seien. Letztere haben sich öffentlich und laut darüber beschwert und fingen sogar an die Kutschen einiger Adligen zu überfallen.419 Am 15. Mai, dem Absendendatum des nächsten Briefes,420 war die Meuterei der Strelitzen noch nicht vorbei. Kellers Einstellung zu ihrem Verhalten kann man als ambivalent beschreiben. Einerseits schildert er es als „blindwütend“ und vergleicht die Strelitzen mit türkischen Janitscharen, welche „die Ursache von großer Unordnung und großem Unheil“ im Osmanischen Reich schon immer gewesen seien. Andererseits erkennt der Holländer die Berechtigung der Forderungen der Strelitzen an, die wegen der Übeltaten ihrer Vorgesetzten bis an die Schwelle der Erträglichkeit getrieben worden seien. Sogar der junge Zar selbst habe laut Keller die Forderungen der Strelitzen legitim und fair gefunden.421 Die kurze Beschreibung des Massakers von Mitte Mai befindet sich im Schreiben vom 23. Mai.422 Van Keller begann diesen Brief anscheinend bereits während der blutigen Ereignisse in Hektik zu schreiben, weswegen die Erzählung über die Morde am 15. Mai im Text zwei Mal vorkommt – im Hauptteil des Briefes und im Postskriptum. Die Opfer der Strelitzenwut werden hier im Unterschied zu Butenants Bericht ohne Details ihrer Ermordung kurz aufgezählt. Der niederländische Resident war ohne Zweifel selbst nicht Zeuge der Rebellion, sondern verbrachte die unruhigen Tage in seiner Residenz in der Moskauer Ausländersiedlung.423 Er beschreibt zwar die Episode, als die Strelitzen das Haus von Heinrich Butenant durchsuchten, bleibt jedoch fest in seiner Überzeugung, dass die Rebellen nichts Feindliches gegen die Ausländer und die Niederländer im Besonderen vorhaben. Laut van Keller wollten die Strelitzen zunächst Peter vom Thron absetzen und gegen seinen Bruder austauschen, aber Ivan habe sich aufgrund seiner Behinderung geweigert die Regierung anzunehmen. Als Kompromissentscheid seien dann beide Brüder zu Zaren erklärt worden. Die konkreten Hintergründe der Rebellion werden aus dem nächsten Brief ersichtlich, datiert auf den 30. Mai. Van Keller berichtet, dass die Strelitzen auf der Rückzahlung ihres ganzen über die Jahre hinterzogenen Dienstlohnes insistiert haben, weswegen die Gelder von allen zarischen Untertanen haben gesammelt werden müssen. Diese Aktion erweckte bei Keller wieder das vollkommene Verständnis und sogar gewisse Schadenfreude, in419 Ebd., Bl. 87–88. 420 Dieser Brief wurde höchstwahrscheinlich sehr früh am Morgen des 15. Mai abgeschickt, weil das Massaker im Kreml am selben Tag hier noch nicht vorkommt. Die Strelitzen stürmten den Kreml gegen 11 Uhr. 421 Ebd., Bl. 89. 422 Ebd., Bl. 93–94v. 423 Van Keller beschreibt selbst, wie er zusammen mit anderen Einwohnern der ausländischen Siedlung während der Rebellionstage Wache hielt, um den möglichen Marodeuren und Brandstiftern Widerstand zu leisten, ebd., Bl. 94v.
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dem er schreibt, dass die angelegte Kontribution „denen geldgierigen Menschen zur Lehre dienen wird, die Geschenke und Bestechungen erpressen“.424 Ohne Zweifel ist dabei die Korruption des Moskauer Beamtentums gemeint, die van Keller offensichtlich zu Recht zu den wichtigen Auslösern der Rebellion zählte. Interessant ist, dass weder Sof ’ja noch Ivan Miloslavskij oder Ivan Chovanskij in van Kellers Mai-Briefen Erwähnung finden. Der Aufstand wird unter seiner Feder ausschließlich als Reaktion auf die Übeltaten der Machthabenden dargestellt. Viel Aufmerksamkeit widmete der niederländische Resident der sozialen Natur der Rebellion und vor allem der Bewegung der Cholopen. Gerade sie werden in seinen Briefen als Hauptgefahr für die bestehende Ordnung gesehen. Nachdem die Strelitzen im Chaos des Tumults die Dokumente des Moskauer Sklavenamts (cholopij prikaz) zerrissen hatten, drohte die Masse von „Sklaven“, wie van Keller sie in den Briefen nennt, außer Kontrolle zu geraten. Der Resident blieb sich jedoch sicher, dass die Erhebung dieses „unbewaffneten und undisziplinierten Pöbels“ nicht lange bestehen würde. „Die Geschichte lehrt, dass solche Aufstände der Sklaven bei den alten Römern geschehen waren, aber dass sie üblich durch die Militärkraft niedergeschlagen wurden“, – resümiert van Keller im Brief vom 30. Mai.425 Der restliche Verlauf des Aufstands wird bei van Keller im Einklang mit den Informationen aus den russischen Aktenquellen beschrieben. Im Brief vom 27. Juni schildert der Holländer die Errichtung der Erinnerungssäule der Strelitzen sowie die Krönung der Brüder Ivan und Peter.426 Im nächsten Schreiben vom 11. Juli erwähnt er, dass die Unruhen noch nicht gestillt seien und dass diesmal „die Geistlichen zwei solch unerhörte Dinge verlangt haben, dass meine Feder nicht im Stande ist, es hier zu beschreiben“.427 Am 18. Juli wird erzählt, dass der Zarenhof Moskau wegen einer Pilgerfahrt verlassen habe, was eine Panik unter dem Adel und den Kaufleuten auslöste, sodass sie auch aus Angst aus der Hauptstadt flohen. Der Resident fügt jedoch hinzu, dass laut seiner eigenen Einschätzung die Gefahr des Ausbruchs einer neuen Revolte übertrieben sei. Falls die Situation sich verschlechtere, setzt Keller fort, werde er wohl den General Chovanskij, der von den Strelitzen in großer Ehre gehalten werde, um Schutz bitten.428 In seinem nächsten Brief vom 1. August berichtet der Holländer bereits über sein Gespräch mit Chovanskij, der ihm versichert habe, dass die Lage unter Kontrolle und die Ordnung in der Stadt bald wieder hergestellt sei. Dieses Versprechen des alten Fürsten erwies sich jedoch als falsch, da die Konfrontation zwischen dem Zarenhof und den rebellischen Strelitzen Ende August noch akuter wurde. In van
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Ebd., Bl. 97v. Ebd., Bl. 98. Ebd., Bl. 103. Ebd., Bl. 107v. Ohne Zweifel sind damit die Bewegung der Altgläubigen und die Glaubensdisputation am 5. Juli gemeint. 428 Ebd., Bl. 109.
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Kellers Briefen gibt es für die Monate August und September eine große Lücke, und der chronologisch nächste Brief stammt vom 10. Oktober. Es ist natürlich nicht auszuschließen, dass einige Schreiben des Residenten verloren gingen, jedoch ist es ebenso plausibel, dass die Pause in der Berichterstattung wegen der Episode geschah, die der dänische Gesandte von Horn in seinen Briefen so gerne betonte: Van Keller war während der aufrührerischen Zeit, zumindest im September, nicht in Moskau, sondern war auf eine Papiermühle in der Nähe geflohen. Am 10. Oktober befand er sich jedenfalls wieder in der Hauptstadt und erzählte im Brief retrospektiv über Chovanskijs Hinrichtung und die Verhandlungen zwischen der Regierung und den Strelitzen.429 Als Grund für den Tod des Strelitzenanführers nennt Keller seinen Hochverrat und die Ehrenbeleidigung der zarischen Majestät, was darauf hindeutet, dass der Resident als Informationsquelle hauptsächlich die offizielle zarische Urkunde nutzte und damit das Narrativ von Chovanskijs Komplott rezipierte. Was die Verhandlungen angeht, kommentiert Keller nur in Kürze, dass die Strelitzen noch unwillig seien, ihre Kameraden, die für die Hauptanstifter des Aufstands gehalten werden, zur Exekution auszuliefern. Im Schreiben vom 7. November resümiert der Holländer jedoch das Finale der Konfrontation: Zwölftausend Strelitzen werden aus Moskau an die polnische Grenze geschickt und die Hauptschuldigen erwarten ihre Bestrafung. Die Zaren seien in die Hauptstadt zurückgekehrt.430 In seinen Relationen stellt van Keller den Aufstand der Strelitzen ausschließlich als eine soziale Erhebung dar und macht keine Andeutungen, dass die Revolte möglicherweise durch die Intrigen innerhalb der Zarenfamilie habe ausgelöst werden können. Er verstand jedoch durchaus, welchen Einfluss die Veränderungen in der russischen Regierung auf die europäischen außenpolitischen Konstellationen haben konnten. Schon im Juli äußert er in seinem Brief die Vermutung, dass die Herrscher von Brandenburg-Preußen und Dänemark angesichts des Zarenwechsels ihre Gesandten bald nach Moskau schicken würden, um die Politik des neuen Zaren in eine antischwedische Richtung zu lenken. Auch die Ankunft eines schwedischen Agenten sei zu erwarten.431 Van Kellers Prophezeiungen bestätigten sich, als er von einem seiner Korrespondenten die Information bekam, dass die brandenburgische und die dänische Mission tatsächlich in Vorbereitung waren.432 Im Brief vom 1. August nannte van Keller die Gesandten sogar bei den Namen: Hermann Dietrich Hesse aus Brandenburg-Preußen und Hildebrand von Horn aus Dänemark. Im Oktober blieb Ersterer jedoch aus Furcht vor Strelitzen-Tumulten noch in Königsberg, während von Horn bereits die 429 430 431 432
Ebd., Bl. 113–116. Ebd., Bl. 117–119v. Siehe den Brief vom 11. Juli 1682, ebd., Bl. 108. Siehe den Brief vom 18. Juli 1682, ebd., Bl. 109–110. Die Persönlichkeit dieses Korrespondenten ist unklar. Es war jedoch wahrscheinlich jemand mit proschwedischen Ansichten, da es im gleichen Brief um die bedauernswerte Stellung von Schweden geht, dessen livonische Provinz im Fall der russischen Aggression gleichzeitig vom Meer und Land attackiert werden könnte.
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russische Stadt Smolensk erreichte. Van Keller konnte sogar herausfinden, dass es in von Horns Gefolge viele Franzosen gab, was ein deutliches Zeichen dafür war, dass Dänemark in Absprache mit der französischen Krone agierte.433 Diese Vermutung bestätigte sich bald, als der niederländische Resident im nächsten Brief vom 24. Oktober mitteilte, dass auch „ein französischer Minister“ bereits unterwegs nach Moskau sei, um dem Anliegen seiner Alliierten aus Dänemark und Brandenburg-Preußen am Zarenhof mehr Gewicht zu verleihen.434 Genaue Information über die Ziele der dänischen Mission teilte Keller im Brief vom 7. November mit. Offenbar konnte der Holländer über seine Verbindungen beim posol’skij prikaz den genauen Inhalt der Konferenzen, die von Horn im Troice-Sergiev-Kloster abgehalten hatte, erfahren, und es wurde offensichtlich, dass der dänische Gesandte die Absicht hatte, die russische Regierung zu einer Annäherung an Frankreich und zu einem Konflikt mit dem schwedischen König zu überreden. Dennoch blieb der niederländische Resident sicher, dass die Russen sich nicht auf eine Konfrontation mit Schweden einlassen würden, und nannte dafür drei wichtige Gründe: die innenpolitische Instabilität des Moskauer Reiches, das angespannte Verhältnis mit dem Osmanischen Reich und die Angst vor feindlichen Intentionen seitens des polnischen Königs.435 Die Entwicklung der russisch-osmanischen Beziehungen verfolgte Keller während des ganzen Jahres 1682; er berichtet über die Schwierigkeiten, die die russischen Gesandten in Istanbul bei der Ratifizierung des Friedensabkommens von Bachčisaraj von 1681 hatten, was darauf hindeute, dass der Ausbruch eines neuen Krieges mit den Türken nicht auszuschließen sei. Über die polnischen Pläne, die momentane Schwäche des Moskauer Reiches zu nutzen, um, mit van Kellers eigenen Worten, „im Trüben zu fischen“, habe er schon im Brief vom 18. Juli mitgeteilt.436 Insgesamt sah der Holländer die Mission von Horns als nicht zu bedrohlich für die niederländisch-schwedischen Interessen. Trotz aller Bemühungen des dänischen Gesandten, mit Geschenken und Bewirtungen die russischen Politiker zu beeinflussen,437 wurde der Frieden zwischen Russland und Schweden bestätigt. Van Keller erfuhr davon am 4. Dezember 1683 und überraschte sofort mit dieser Nachricht Fürst 433 Siehe den Brief vom 10. Oktober 1682, ebd., Bl. 115–116. 434 Dieser Brief vom 24. Oktober 1682 befindet sich nicht unter den Kopien von van Kellers Briefen in SPbII RAN, sondern nur im Archiv in Den Haag: Nationaal Archief (Den Haag), Staaten General, Deel II, Liassen Moscovien, Nr. 7365. 435 Siehe den Brief vom 7. November 1682, SPbII RAN, Russische Sektion, Samml. 40, Nr. 57, Bl. 118–119. 436 Ebd., Bl. 110. 437 So erzählt van Keller beispielweise im Brief vom 30. Januar 1683 von einem großen Fest, das von Horn organisierte, vermutlich damit „die Schweden sich schlecht fühlen“, Eekman: Muscovy’s International Relations, S. 57. Gemeint ist bestimmt die Mahlzeit im Haus von Heinrich Butenant, bei der sich von Horn mit verschiedenen russischen Bojaren traf und über die er in seinem Schreiben vom 22. Januar berichtete, siehe Relationer til K. Christian den femte, S. 141. Später, 1683, erwähnte Keller noch einmal, dass die Dänen jeden Tag Bankette mit Musik organisierten, Eekman: Muscovy’s International Relations, S. 58.
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Vasilij Golicyn, der sehr zufrieden darüber schien.438 Später, im Laufe der 1680er- und 1690er-Jahre gelang es van Keller interessanterweise, ein gutes Verhältnis mit allen politischen Gruppierungen im Moskauer Reich zu unterhalten und sich in ihren Diensten zu engagieren. 1687 half er bei der Vertuschung des Misserfolgs des ersten Krimzuges von Vasilij Golicyn, indem er im Auftrag der russischen Regierung einen Bericht über die „siegreiche“ Kampagne des russischen Heeres verfasste und an die niederländischen Zeitungen weiterleitete.439 Und Anfang der 1690er gehörte van Keller bereits zu dem Kreis der Ausländer, die eine freundschaftliche Beziehung zu Peter dem Großen aufbauen konnten und den jungen russischen Zaren mit den ausländischen politischen Nachrichten versorgten.440 4.4 Brandenburg-Preußen Während die Berichte des dänischen und des niederländischen Residenten bereits von Historikern des 19. Jahrhunderts entdeckt worden waren, blieb die diplomatische Kommunikation über den Strelitzen-Aufstand, die von Agenten anderer Staaten – v. a. Schweden und Preußen – angefertigt wurde, bisher von der Forschung weitgehend ignoriert. Besonders verwunderlich ist das geringe Forschungsinteresse der Historiografie an den Papieren des preußischen Agenten, die heute im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz (GStA PK) in Berlin in der Mappe „1681–1683 Geschriebene Zeitungen aus Russland“ aufbewahrt werden. Schon im Jahr 1932 hat der deutsche Historiker Leo Loewenson die in der Archiveinheit enthaltenen Briefe publiziert und ausführlich kommentiert.441 Loewenson vermerkte zu Recht, dass die von ihm erforschten Briefe keine „dienstlichen Meldungen offizieller diplomatischer Agenten“ sind, sondern „Korrespondenzen, die aus der Moskauer Deutschen Vorstadt oder aus anderen Orten von dort ansässigen Deutschen über allerhand Neuigkeiten öffentlicher Art einliefen“.442 Einen wesentlichen Teil dieser Korrespondenzen machen die Berichte über die Moskauer Unruhen nach dem Tod des Zaren Fedor Alekseevič aus. Loewenson stellte überzeugend fest, dass der regelmäßige Erhalt von Briefen aus Russ438 Eekman: Muscovy’s International Relations, S. 58. 439 A. P. Bogdanov: Vnešnjaja politika Rossii i evropejskaja pečat’ (1676–1689 gg.), in: Voprosy istorii 4 (2003), S. 26–46, hier S. 35. 440 Eekman: Muscovy’s International Relations, S. 62–63. 441 Siehe Loewenson: 1681–1683. Geschriebene Zeitungen aus Rußland. Mit dem Titel „Geschriebene Zeitungen aus Russland“ ist im GStA PK freilich nur die Archiveinheit Nr. 6582 beschriftet, obwohl einige weitere sehr ähnliche Briefe aus den Jahren 1680–1682 mit Bezug zu russischen Angelegenheiten der Einheit Nr. 6583 „Varia 1680–1685“ angehören. Loewenson publizierte die Briefe aus Nr. 6582 vollständig, und dazu noch 2 Briefe aus Nr. 6583 (GStA PK, HA Geheimer Rat, Rep. XI, Nr. 6583, Bl. 14–16; in der Publikation Loewensons unter Nr. 18 zu finden), die inhaltsgemäß aus der gleichen Reihe der „geschriebenen Zeitungen“ stammen sollten. 442 Ebd., S. 84–85.
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land und die Zusammenstellung der Nachrichten über die Verhältnisse im Moskauer Reich dem Engagement des bereits oben erwähnten Bekannten von Johann van Keller, dem Agenten des Brandenburger Hofes, Hermann Dietrich Hesse, zu verdanken sind.443 Der kurze Vermerk „wohl von Hesse“ steht in der Tat nach der Beschriftung der Archiveinheit Nr. 6582 im Repertorium des GStA PK. Wer war dieser Mann, und mit welchem Interesse abonnierte er die „geschriebenen Zeitungen“ aus russischen Städten in den Jahren 1681 bis 1683? Ende 1673 kam der Königsberger Rechtsgelehrte Hermann Dietrich Hesse zum ersten Mal zusammen mit der Gesandtschaft des Kammermeisters Joachim Scultetus nach Russland.444 Offiziell verfolgte die Mission von Scultetus das Ziel, die Fragen des diplomatischen Zeremoniells zu regeln sowie den Russen eine freundliche Absage auf ihren früheren Hilferuf gegen die Türken zu geben.445 Das wahre Interesse bestand jedoch darin, den Boden für eine mögliche russisch-brandenburgische Allianz gegen Schweden zu bereiten und dafür brauchte Berlin einen eigenen Mann und Berichterstatter in Moskau. Für diese Rolle wurde Hesse ausgewählt, der nach der Abschiedsaudienz der Gesandtschaft in Moskau zurückgelassen wurde, u. a. mit dem Auftrag, die russische Sprache zu erlernen. Nach der zweiten Mission von Scultetus 1675 erhielt Hesse als brandenburgischer Agent in Moskau sogar die Bestallung.446 Jedoch dauerte sein Aufenthalt in der russischen Hauptstadt nicht allzu lange: Nach dem Tod des Zaren Aleksej Michailovič am 12. Februar 1676 wollte die neue Moskauer Regierung den ausländischen Beobachter nicht weiter bei sich haben und so musste Hesse am 24. Dezember desselben Jahres das Land verlassen.447 Noch zwei Mal kam er nach Moskau, nämlich 1677 und 1678, jedoch ohne längere Aufenthalte.448 Das große Projekt eines antischwedischen russisch-brandenburgischen Abkommens kam in den 1670er-Jahren nicht zustande, hauptsächlich weil Russland gerade in der zweiten Hälfte dieses Jahrzehnts in einen schweren Krieg mit dem Osmanischen Reich und den Krimtataren involviert war und keine Kapazitäten für eine weitere Konfrontation hatte. Im brandenburgisch-schwedischen Krieg (1674–1679) konnte das Kurfürstentum die schwedische Armee auf dem Feld zwar mehrmals schlagen, wurde jedoch angesichts des diplomatischen Drucks Frankreichs und des Versagens
443 Ebd., S. 86–87. 444 Kurt Forstreuter: Preußen und Rußland von den Anfängen des Deutschen Ordens bis zu Peter dem Großen. Göttingen [u. a.] 1955 (= Göttinger Bausteine zur Geschichtswissenschaft 23), S. 169. Vgl. eine kurze Biografie Hesses auch bei Josef Krusche: Die Entstehung und Entwicklung der ständigen diplomatischen Vertretung Brandenburg-Preussens am Carenhofe bis zum Eintritt Russlands in die Reihe der europäischen Großmächte, in: Jahrbücher für Kultur und Geschichte der Slaven, Neue Folge 8 (1932), H. 2, S. 143–216, hier S. 207. 445 Forsten: K vnešnej politike, in: ŽMNP 330 (1900), S. 51–58. 446 Forstreuter: Preußen und Rußland, S. 171; Krusche: Die Entstehung und Entwicklung, S. 153. 447 Krusche: Die Entstehung und Entwicklung, S. 154. 448 Forsten: K vnešnej politike, in: ŽMNP 331 (1900), S. 2–8.
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der Bundesgenossen, v. a. der Habsburger, zu einem ungünstigen Frieden gezwungen. Brandenburg-Preußen brannte auf eine Revanche und begann die Suche nach neuen Alliierten. 1681 wurde ein Defensivbündnis zwischen Brandenburg und Frankreich geschlossen. Das Moskauer Reich, das in demselben Jahr den Waffenstillstand mit den Türken aushandelte, kam wieder ins Visier des Kurfürstenhofes. In diesem politischen Rahmen organisierte Hermann Dietrich Hesse, der 1677 vom Kurfürsten zum Geheimsekretär ernannt worden war und sich in Königsberg befand, durch sein Korrespondentennetz das Abonnement von Nachrichten über die Verhältnisse in Russland. Für Historiker der traditionellen Diplomatiegeschichte waren die von Hesse gesammelten „geschriebenen Zeitungen“ von wenig Interesse, da der Königsberger Agent selbst keine Verhandlungen mit der russischen Regierung führte, sondern primär auf Beobachtung angewiesen war. So erwähnt Karl Forstreuter in seiner Monografie die Aktivität Hesses nur in einer kurzen Passage: „Unterdessen setzte Hesse seine Berichterstattung über Russland von Königsberg aus fort. So wenig diese sogenannten Zeitungen zur Geschichte der politischen Beziehungen zwischen Brandenburg-Preußen und Rußland hergeben, so sind sie doch interessant als Kulturdokumente.“449 Dagegen sind die im GStA PK erhaltenen Briefe gerade für die vorliegende Studie äußerst wertvoll, weil sie Einblick in die Informationsflüsse geben und zeigen, welche Narrative über den Strelitzen-Aufstand in Brandenburg-Preußen rezipiert wurden. Insgesamt publizierte Loewenson 23 Briefe, die Hesse von seinen Korrespondenten bekommen hatte, und zwei Briefe Hesses selbst, wobei der früheste Brief auf den 1./11. Juni 1681 datiert ist. Es ist unklar, ob Hesse das Abonnieren der „Zeitungen“ genau ab diesem Datum begonnen hatte oder ob einige frühere Briefe verloren gegangen sind. Einige Stellen in den Akten lassen auf fehlende Briefe schließen.450 Man kann jedoch mit großer Wahrscheinlichkeit vermuten, dass das Sammeln von Nachrichten tatsächlich 1680 oder 1681 begann. Erstens war Hesse bis Februar 1679 noch selbst in Moskau. Zweitens befinden sich seine vier nach Berlin geschickten Briefe aus der Zeit von 1680 und 1681 ohne jeglichen Anhang unter den Archivakten,451 was darauf hindeuten kann, dass Hesse da noch keinen schriftlichen Verkehr mit Russland organisiert und noch nichts zum Übersenden hatte. Das genaue Ende der Berichterstattung lässt sich ebenfalls nicht ermitteln. In einem der letzten seiner Briefe452 (dem auch ein Schreiben aus Moskau vom 22. Mai/1. Juni 1683 beigelegt ist) beschwert sich Hesse, dass er trotz seiner Nachfragen schon lange Zeit keine Antwort aus Russland bekommen habe – „so schließe ich daß es aller dinges da selbst noch nicht zum vollenkom-
449 Forstreuter: Preußen und Rußland, S. 172. 450 Vgl. Loewenson: 1681–1683. Geschriebene Zeitungen aus Rußland, S. 233, Anm. 35; S. 414, Anm. 123. 451 Das sind die Briefe vom 4. Juni 1680, 2. Juli 1680, 24. Januar 1681 und 13./23. Februar 1681 (GStA PK, HA Geheimer Rat, Rep. XI, Nr. 6583, Bl. 2–7). 452 Laut dem Empfangsvermerk war dieser Brief am 18. Juni 1683 in Berlin angekommen.
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mensten zustehen muß, in dehme mann noch nicht frey hatt seine meinung durch schrifften außerhalb Moscau kunt zugeben“.453 In der Archivmappe befinden sich noch ein allerletzter Brief aus Moskau vom 9./19. Juli 1683 sowie ein Schreiben aus Riga vom 6. August 1683. Da es in den Akten keine Fortsetzung der russischen Nachrichten gibt, scheint es Hesse nicht gelungen zu sein, die Berichterstattung nach der langen Pause wieder zu beleben. Das vorhandene Material ermöglicht es, den Kommunikationsweg zwischen Russland und Brandenburg-Preußen folgendermaßen zu rekonstruieren: Hesse bekam Briefe von seinen Korrespondenten hauptsächlich über die Rigaer Postroute,454 daraufhin kopierte er sie und schickte sie weiter nach Berlin.455 Unter den Absendeorten prävaliert Moskau (15 Briefe insgesamt), auch Schreiben aus Novgorod (3 Briefe), Riga (3 Briefe) und Reval (2 Briefe) sind vorhanden. Auf Berichte aus Novgorod und den baltischen Städten griff Hesse allerdings nur zurück, als die Kommunikation mit Moskau im Sommer und Herbst 1682 durch die Unruhen verhindert war, wie der Agent selbst in seinem Schreiben vom 14./24. November 1682 erklärte: […] daß seitehe meinem Jungsten vom 6/16 october, nichtes aus Moscau, so woll über Riga als Wilda, angekommen: ursache ist, weil die Posten durch der strelitzen gewalt vielleicht gehemmet; oder aber auch, weiln die ausländische Kauffleute von da mit weib und kindern Sich nacher Archangel reteriret […]. Beygehendes habe ich mit gestriger Memelschen Post über Riga von Groß Naugarten erhalten […]456
Der Rückgriff auf die Mitteilungen der Korrespondenten aus Novgorod, Riga und Reval scheint jedoch aufgrund ihrer geringen Zahl eher eine Notmaßnahme gewesen zu sein und als die reguläre Berichterstattung aus Moskau nach dem Aufstand abgebrochen war, hörte die gesamte Lieferung der „geschriebenen Zeitungen“ auf. Es ist jedoch höchst interessant, dass es für den brandenburgischen Hof außer Hesses Korrespondenzen noch einen alternativen Weg des Informationserwerbs gab. Ganz am Schluss der Archivmappe „geschriebene Zeitungen aus Russland“ befindet sich ein Schriftstück,457 das sich von Hesses Briefen grundsätzlich unterscheidet: Es ist in einer anderen Schrift und auf anderem Papier geschrieben. Inhaltlich besteht das Dokument, laut der Charakteristik Loewensons, aus „aneinander gereihten Berichten aus den ver-
453 Loewenson: 1681–1683. Geschriebene Zeitungen aus Rußland, S. 579. 454 Kozlovskij: Pervye počty, S. 112–121. 455 Alle Briefe (außer den Schreiben auf Bl. 32–36 der Archivalie Nr. 6582, mehr dazu siehe unten) sind in einer Handschrift geschrieben, die Loewenson als die Handschrift Hesses identifizierte, siehe Loewenson: 1681–1683. Geschriebene Zeitungen aus Rußland, S. 86, Anm. 22. Hesse besaß in der Zeit nur den Rang eines Geheimsekretärs und hatte wohl deswegen keinen eigenen Sekretär. Die eingehenden Briefe musste er daher wahrscheinlich selbst kopieren. 456 Ebd., S. 566. 457 GStA PK, HA Geheimer Rat, Rep. XI, Nr. 6582, Bl. 32–36.
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schiedensten Gegenden Europas“.458 Es handelt sich hier ohne Zweifel um typische über die europäischen Postwege zirkulierende handgeschriebene avvisi mit aktuellen politischen Nachrichten, die im 17. Jahrhundert oft von Fürstenhöfen Europas abonniert wurden.459 Da dieses Schriftstück keine Spuren von Hesses Abschrift aufweist, ist zu vermuten, dass es nicht über den Königsberger Agenten in Berlin eingegangen war. Die überwiegende Mehrzahl der Nachrichten stammt aus der polnischen königlichen Residenz Jaworow aus dem Sommer 1682; einige Mitteilungen thematisieren den Moskauer Strelitzen-Aufstand. Wer waren die Informanten, von denen Hesse die Berichte bekam? Der Geheimsekretär selbst hinterließ keine Angaben, wer seine Berichterstatter waren. Es lässt sich nur vermuten, dass die Nachrichten aus Novgorod, Riga und Reval von dort ansässigen deutschstämmigen Kaufleuten verschickt wurden. Dabei bezog sich z. B. der Revaler Informant auf eigene Informationskanäle: Im Brief vom 14./24. Dezember 1682 erwähnt er, dass er sich in seiner Schilderung der Lage in der russischen Hauptstadt hauptsächlich auf das erhaltene Schreiben des evangelischen Predigers in Moskau, Peter Rhan, stützt.460 Noch ein anderes „schreiben aus Moscau“ wird im Brief aus Reval vom 24. Mai/3. Juni erwähnt.461 Genaueres lässt sich über die Person des Moskauer Korrespondenten feststellen. Bereits Loewenson war der Meinung, dass es sich hier um das Engagement des Moskauer Postmeisters d’jak Andrej Vinius des Jüngeren handelt. Für die Bekräftigung dieser Hypothese gibt es mehrere Argumente. Erstens ist ein Brief aus Moskau (und zwar das bereits erwähnte Schreiben vom 22. Mai/1. Juni 1683) mit dem Namen von Andrej Vinius unterzeichnet. Allerdings unterscheidet sich dieser Brief in seinem Charakter von den übrigen Schreiben: Es handelt sich hier nicht um eine „geschriebene Zeitung“ mit aktuellen Nachrichten, sondern um eine offizielle Benachrichtigung, dass Hesse in Kürze als Gesandter in Russland empfangen werden kann.462 Viel aussagekräftiger sind jedoch die zahlreichen Übereinstimmungen zwischen Vinius’ Biografie und den Fakten, die Hesses anonymer Informant über sich in seinen Briefen verrät. Demnach lässt sich folgendes Porträt des Informanten zeichnen: Es war ein Ausländer im russischen 458 Loewenson: 1681–1683. Geschriebene Zeitungen aus Rußland, S. 582, Anm. 404. 459 Über die geschriebenen Nachrichtenbriefe der Frühen Neuzeit vgl. Würgler: Medien in der Frühen Neuzeit, S. 34; Jürgen Wilke: Korrespondenten und geschriebene Zeitungen, in: Johannes Arndt und Esther-Beate Körber (Hrsg.): Das Mediensystem im Alten Reich der Frühen Neuzeit (1600–1750). Göttingen 2010 (= Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, Beiheft 75), S. 59–72; Heiko Droste: „Einige Wiener briefe wollen noch publiciren“. Die Geschriebene Zeitung als öffentliches Nachrichtenmedium, in: Volker Bauer und Holger Böning (Hrsg.): Die Entstehung des Zeitungswesens im 17. Jahrhundert. Ein neues Medium und seine Folgen für das Kommunikationssystem der Frühen Neuzeit. Bremen 2011 (= Presse und Geschichte – neue Beiträge 54), S. 1–22. 460 Loewenson: 1681–1683. Geschriebene Zeitungen aus Rußland, S. 572. 461 Ebd., S. 577. 462 Über die Pläne, Hesse 1683 als Gesandten nach Russland zu schicken, siehe unten.
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Dienst463 mit guten Deutsch- und Lateinkenntnissen und mit starken Verbindungen zum posol’skij prikaz.464 Des Weiteren erfahren wir, dass er bei einer diplomatischen Mission einst „in paßant“ in Brandenburg-Preußen gewesen ist.465 Alle diese Fakten lassen sich in der Biografie von Andrej Vinius finden. Andrej Vinius d. J., geboren 1641, war der Sohn eines nach Russland übergesiedelten niederländischen Kaufmanns.466 Er begann seine russische Dienstkarriere während der Regierungszeit Aleksej Michailovičs als niederländischer Dolmetscher im posol’skij prikaz 1664 und bekam spätestens 1678 den Rang eines d’jaks im Apothekenamt. 1672 reiste er als Gesandter nach Frankreich, Spanien und England, wobei sein Weg u. a. über Königsberg führte.467 Schließlich hatte er seit Dezember 1675 die Stelle des zarischen Postmeisters inne, sodass die Organisation des Briefverkehrs zwischen Russland und Europa direkt in seinen Händen lag. Es gibt Indizien, dass Vinius bereits in den 1660er-Jahren als Informationsvermittler aktiv war: Sehr wahrscheinlich bekam dank seines Engagements Nicolaas Witsen, ein Mitglied der niederländischen Gesandtschaft und entfernter Verwandter von Vinius, Informationen über russische außenpolitische Missionen nach China.468 Einer Hypothese nach agierte Andrej Vinius auch später, Anfang der 1690er-Jahre, als Moskauer Informationslieferant für die niederländischen Zeitungen.469 Alle diese Argumente deuten mit großer Sicherheit darauf hin, dass Andrej Vinius auch Hesses Informant war.470
463 Über die ausländische Herkunft vgl. den Ausdruck „in unser Teutschen Slabodda“ im Brief vom 25. Oktober 1681, ebd., S. 92. 464 An mehreren Stellen zeigt der Moskauer Informant seine guten Kenntnisse über außenpolitische Verhandlungen und Gesandtschaften Russlands; vgl. auch seine Aussage: „Man ist hie in der Cantzelley sehr beschäfftiget umb den nacher Constantinopol destinirten Courier abzufertigen […]“ (Loewenson: 1681–1683. Geschriebene Zeitungen aus Rußland, S. 404), wo „hie in der Cantzelley“ ohne Zweifel das Moskauer Gesandtschaftsamt bedeutet. 465 Ebd., S. 575. 466 Zur Biografie von Andrej A. Vinius vgl. die Monografien: I. N. Jurkin: Andrej Andreevič Vinius, 1641–1716. Moskva 2007; Kees Boterbloem: Moderniser of Russia: Andrei Vinius, 1641–1716. Basingstoke & New York 2013. 467 Jurkin: Andrej Andreevič Vinius, S. 99; N. A. Kazakova: A. A. Vinius i statejnyj spisok ego poso’lstva v Angliju, Franciju i Ispaniju v 1672–1674 gg., in: TODRL, Bd. 39 (1985), S. 348–364, hier S. 353. 468 Boterbloem: Moderniser of Russia, S. 60–61. 469 Šamin: Kuranty XVII stoletija, S. 194–195. 470 Eine Stelle in den „geschriebenen Zeitungen“ scheint dieser Feststellung auf den ersten Blick zu widersprechen. Hesses Moskauer Korrespondent hatte eine deutliche Sympathie für die evangelische Religion (siehe seine Bezeichnung der evangelischen Gemeinde in der litauischen Stadt Vilnius als „unsrige in Wilda“ in Loewenson: 1681–1683. Geschriebene Zeitungen aus Rußland, S. 413.), während Vinius selbst noch als Jugendlicher zum orthodoxen Christentum übergetreten war. Dieser Widerspruch zwang Loewenson sogar zu vermuten, dass Hesse andere Informanten in Moskau außer Vinius gehabt habe. Das Übertreten zum orthodoxen Glauben war jedoch im Moskauer Reich die notwendige Voraussetzung für eine erfolgreiche Dienstkarriere, v. a. nach der Kampagne gegen die nicht-orthodoxen Ausländer in den frühen 1650ern (vgl. Baron: Die Ursprünge). Es scheint also durchaus möglich zu sein, dass Vinius, der in einer evangelischen Tradi-
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Es ist interessant, dass die Berichterstattung aus Moskau mit dem Anfang des Strelitzen-Aufstands drastisch nachließ und auch deutlich unpräziser wurde. Im Brief vom 30. Mai 1682, der also nur zwei Wochen nach den blutigen Ereignissen der Monatsmitte verfasst war, kommt der Aufstand überhaupt nicht zur Sprache, nur die Wahl von Ivan und Peter als Zaren findet eine kurze Erwähnung.471 Erst im Schreiben vom 4./14. Juli äußert sich der Moskauer Korrespondent sehr verschwommen, dass nach dem Tod des Zaren Fedor „die umbstände weitlauffiger [sind] als daß Sie von mier haben können beschrieben werden“. Den nächsten Satz schrieb er offensichtlich mit Absicht auf Latein: Hier vermerkte der Korrespondent, dass die genaue Beschreibung der Ereignisse zu riskant sei, „besonders wenn etwas davon in euren öffentlichen Zeitungen (wie es üblich ist) bekannt wird“.472 Auch im nächsten kurzen Moskauer Brief vom 1./11. August wurde der Aufstand der Strelitzen ignoriert, dagegen wurde erwähnt, dass „die rebellische Baskyrse Tartaren“ besiegt wurden.473 Erst ein ganzes Jahr später im Brief vom 9./19. Juli 1683 finden wir die Erwähnung, dass „die vorige unruhen […] Gott lob alle gestillet“ worden seien.474 Anscheinend war Hesses Moskauer Korrespondent sehr besorgt, dass die Beschreibung der russischen innenpolitischen Unruhen für seine Karriere schädlich und vielleicht auch für sein Leben gefährlich sein könnte, und zog es daher vor, sein Engagement als Berichterstatter einzustellen. Man erinnert sich dabei an eine ähnliche Sorge, die den dänischen Handelsfaktor Heinrich Butenant dazu bewegte, seinen detaillierten Bericht über den Aufstand erst Monate später aus Archangel’sk abzuschicken. Da der Moskauer Korrespondent schwieg, war Hesse für seine Auswertung der Aufstandsereignisse auf Briefe aus Novgorod und den baltischen Städten angewiesen. Die ersten genauen Informationen darüber erhielt er in einem Brief aus Novgorod vom 11./21. Juli 1682.475 Die Ursache der „Rebellionen“ wurde auf zweierlei Weise dargestellt: Einerseits seien die Strelitzen mit ihren Obersten unzufrieden gewesen, „daß Sie ihnen ihre besoldung sehr vergeringert, ihnen auch über das viel dienste“ auferlegt hatten; andererseits wurden die Morde an den Bojaren und die Wahl des „blöden, blinden und stummen“ carevič Ivan zum zweiten Zaren durch die Aufwiegelung des Miloslavskij-Geschlechts erklärt: Die Miloslavskijs seien von den Naryškins und Artemon
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tion erzogen worden war (siehe Boterbloem: Moderniser of Russia, S. 38–39), auch in seinem späteren Leben Sympathien für den Protestantismus behielt. Loewenson: 1681–1683. Geschriebene Zeitungen aus Rußland, S. 413. „praesertium si hac rerum tempestate publicis vestris Novellis (ut aßueti estis) insererentur“, ebd., S. 414–415. Ebd., S. 564–565. Ebd., S. 574. Für den ganzen Brief siehe ebd., S. 552–563. Allerdings wusste Hesse scheinbar auch bereits vor diesem Datum einiges über den Aufstand, wie aus dem folgenden Vermerk des Novgoroder Korrespondenten ersichtlich wird: „Sonsten sind die rebellionen (wie Mhe in seinem Jungsten an mich auch der meinung gewesen) daher entstanden […]“, ebd., S. 554.
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Matveev „sehr gedrucket“ worden und könnten „diese große unterdruckung nicht länger aus stehen“. Das Gerücht, dass Zar Fedor von seinem Arzt, Doktor Daniel von Gaden, vergiftet worden sei, erwähnt der Korrespondent zwar, glaubt jedoch nicht daran, weil die Strelitzen das Eingeständnis des Doktors nur durch Folter („aus pein“) bekamen. Laut der Informationen aus Novgorod hatten die Strelitzen im Sommer 1682 die russische Hauptstadt völlig unter Kontrolle: Sie bekamen eine Schenkungsurkunde, die unterstrich, dass ihre Revolte „zu beyder Tzaren nutzen und des Reiches wollfahrt geschehen“ war und bestanden auf der Errichtung einer Gedenksäule zur Erinnerung an ihre Tat. Außerdem widersetzten sie sich dem zarischen Befehl, demzufolge einige Strelitzenregimenter nach Smolensk geschickt werden sollten.476 Es ist bemerkenswert, dass Fürst Ivan Chovanskij in diesen ersten Aufstandsbeschreibungen fast überhaupt keine Erwähnung findet.477 Dagegen steht seine Person im nächsten Novgoroder Brief ganz im Mittelpunkt. Dieses Scheiben, datiert auf den 28. Oktober 1682 (also bereits während der Endphase der Herbstkonfrontation zwischen der Regierung und den Strelitzen), bekam Hesse nach einer längeren Pause gegen Mitte November. Sein Novgoroder Korrespondent schrieb, dass seit drei Wochen keine Post aus Moskau gekommen war. Deswegen spiegelt sein Kenntnisstand eher die Lage der ersten Oktoberwoche wider. Er berichtet von dem Lager des Zarenhofes im Troice-Sergiev-Kloster sowie von der Hinrichtung des Fürsten Ivan Chovanskij und seines Sohnes Andrej. Er war auch über die Flucht des zweiten Sohnes des Fürsten nach Moskau, wo „die Strelitzen von neuen angefangen zu rebellieren“, informiert. Dass der neue Aufruhr nicht lange bestehen würde, war jedoch offensichtlich, da der Briefverfasser wusste, dass der geflohene junge Chovanskij bereits von den Strelitzen ausgeliefert worden war und sie eine Abordnung mit einem Gnadengesuch an die Zaren geschickt hatten. Sehr eindrücklich beschreibt der Korrespondent die Skepsis der Novgoroder Bevölkerung gegenüber dem Urteil gegen Ivan Chovanskij „wegen viel I[z]men[a] und worofstwo [d. h. wegen des Hochverrats und des Verbrechens]“, das am 8. Oktober in der Stadt öffentlich vorgelesen wurde. „Solches zu glauben, komt der Gemeine schwer vor, welche das werck einer Person, nemblich der Tzarinnen Natalia Kirilofna wollen bey legen und das es Ihr betrieb gewesen [sei]“, resümiert der Autor des Briefes. Offensichtlich neigten die Stadtbewohner von Novgorod dazu, das Engagement von Peters Mutter als Ursache für Chovanskijs Tod zu sehen und nicht die Politik von Sof ’ja, die in Hesses „geschriebenen Zeitungen“ überhaupt nicht vorkommt.
476 Zur Schenkungsurkunde, mit der gewiss die zarische Urkunde vom Juni gemeint ist, siehe den Brief aus Novgorod vom 20./30. Juli in Loewenson: 1681–1683. Geschriebene Zeitungen aus Rußland, S. 563. Über die Errichtung der Säule und die Weigerung der Strelitzen, nach Smolensk zu gehen, siehe ebd., S. 553. 477 Im Brief vom 11./21. Juli wurde nur kurz erwähnt, dass die Geschlechter der Chovanskijs und Odoevskijs „anitzo bey Hofe die großesten sind“, Loewenson: 1681–1683. Geschriebene Zeitungen aus Rußland, S. 553.
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Der Brief vom 28. Oktober war der letzte mit detaillierten Informationen über die Lage in Russland. Der Verfasser des chronologisch nächsten Briefes aus Reval vom 14./24. Dezember 1682, hatte keine Kenntnisse über den aktuellen Stand der Dinge in Moskau, sondern berichtete wieder nur über die Lage von Anfang Oktober.478 Alle weiteren Schreiben in der Archivmappe stammen vom Sommer 1683. Der Informationsmangel über die neue Machtkonstellation in Russland und über den Ausgang der Unruhen war wahrscheinlich der ausschlaggebende Grund, warum die geplante Reise von Hermann Dietrich Hesse nach Moskau, über die van Keller bereits im August 1682 berichtet hatte und auf die der dänische Gesandte Hildebrand von Horn vergebens wartete, nicht zustande kam. Im Unterschied zu von Horn wagte Hesse nicht, in die Ungewissheit zu reisen. Die Vorbereitung der diplomatischen Mission wurde erst im Frühling und Sommer 1683 erneut aufgenommen. Offiziell sollte sich Hesse über das Benehmen des russischen Boten, Dmitrij Simonovskij, am Kurfürstenhof in Berlin 1682 beschweren: Der Russe hatte durch die Verweigerung des Handkusses dem Kurfürsten seine Geringschätzung ausgedrückt. Das wirkliche Ziel der Mission schien jedoch in der Unterstützung des außenpolitischen Vorhabens von Horns mit Blick auf ein dänisch-brandenburgisch-russisches Bündnis gegen Schweden zu liegen. Hesse drückt seine Bereitschaft für die Reise nach Moskau in einem undatierten Brief aus, der Anfang Juni 1683 geschrieben worden war. Über die Vorbereitungen für Hesses Empfang an der Grenze schrieb auch Vinius: Im Brief aus Moskau vom 9./19. Juli 1683 wurde bestätigt, dass man Hesses Ankunft erwartete. Jedoch war der günstige Moment für eine antischwedische Koalition bereits verpasst. Trotz der Vorbereitungen kam Hesses Reise nach Moskau nicht zustande. Schließlich wollen wir noch auf die Informationen über den Strelitzen-Aufstand eingehen, die in den oben erwähnten kurzen Nachrichten aus der polnischen königlichen Residenz Jaworow am Ende der Archivmappe „Geschriebene Zeitungen aus Russland“ zu finden sind. Es wurde bereits gesagt, dass diese Informationen wahrscheinlich nicht über Hesses Kanäle am Berliner Hof eingegangen waren und somit eine alternative Informationsquelle für die brandenburgische Regierung darstellten. Die Nachrichten aus Polen sind auf den 7. August datiert479 und die kurze Erzählung über die Moskauer Ereignisse beschränkt sich im Wesentlichen auf die Wiedergabe des mündlichen Berichts eines Bürgers aus der polnischen Stadt Jarosław, der „in Moscaw bey anderhalb Jahren gewohnet, und anietzo erstlich 5 wochen von dannen abgereist, und […] bey verlauff dieses Tumults gewesen“ sei. Der anonyme angebliche Augenzeuge war gut informiert und kannte offenbar den Text der Schenkungsurkunde der Strelitzen: So zählt er in seiner Darstellung des Aufstands genau auf, welche Bojaren und Dienstleute im Aufruhr umgebracht worden waren, und vermerkt sogar, dass 478 So wusste er z. B. nichts über die Kapitulation der Strelitzen, vgl. ebd., S. 572–574. 479 Es ist unklar, ob es sich um den alten oder neuen Stil handelt. Zum Text der polnischen Nachrichten siehe Loewenson: 1681–1683. Geschriebene Zeitungen aus Rußland, S. 582–585.
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Saltykov „unschuldiger weise“ gestorben war. Er wusste auch von den Hinrichtungen der angeklagten Obersten, die bereits nach dem Mai-Aufstand im Juni durchgeführt worden waren und erwähnt in seinem Bericht die Errichtung der Strelitzen-Säule („Collona“) „ad perpetuam rei memoriam“. Seine Erzählung trägt außerdem Spuren der Idealisierung von Zar Ivan, über den gesagt wird, dass er nicht blind sei, „sondern er hatt große und uberhengende augenbraun, welche wann er die auffhebet, kan er woll sehen“ und dass er „ein frommer Gottsfürchtiger und kluger Herr“ sei. Carevič Peter sei hingegen, so der anonyme Augenzeuge, „nicht so tugendtreich“. Genauso wie Hesses Novgoroder Informant bestätigt der anonyme Autor der polnischen Nachricht, dass es zunächst Unruhen, „erstlich entstanden durch strelitzen wieder ihre obristen“, gab, die erst später durch Verschwörung in den Regierungskreisen zu einem Blutbad wurden. Es ist jedoch äußerst interessant, dass im Unterschied zu Hesses Briefen der Bürger aus Jarosław ohne jegliche Zweifel carevna Sof ’ja als Hauptanstifterin nannte und zu den weiteren Verschwörern alle Adligen zählte, die nach dem Aufstand in der Regierung vertreten waren: Herrnach Sophia die Zaarien die Schwester des Jwanij hatt mitt dem Chowanski, Galiciynym, Odoiewskim, und Miloslawskim, Großvatern der Zaaren, einen buntt oder faction auffgerichtet wieder die Bojaren, anfangende vom Narischkin Vettern des Petro Zaaren, der an seiner Stelle hatt das Regiment führen wollen.
Für unsere weitere Analyse ist es hier wichtig zu betonen, dass das Gerücht über Sof ’jas Teilnahme an dem Aufstand damit bereits für August 1682 belegt ist, und zwar in polnischen Informationsnetzwerken. 4.5 Frankreich Die Geschichte der französischen Beteiligung an der gemeinsamen diplomatischen Mission in Moskau zusammen mit den Vertretern von Dänemark und Brandenburg-Preußen im Jahr 1682 wurde für lange Zeit in der Forschung übersehen, obwohl bereits 1890 die königliche Instruktion an einen gewissen „Monsieur de La Picquetière“ bezüglich seiner Bestallung als envoyé extraordinaire zum Moskauer Zarenhof im ersten Band der Dokumentensammlung zu französisch-russischen diplomatischen Beziehungen publiziert wurde.480 Erst in den 1960er-Jahren wurde die Geschichte der Mission von La Picquetière in den Werken von Andrew Lossky und Ferdinand Gröne-
480 Recueil des instructions données aux ambassadeurs et ministres de France depuis les traités de Westphalie jusqu’a la Révolution française, Bd. 8. Russie, avec une introduction et des notes par Alfred Rambaud, Teil 1. Paris 1890, S. 76–81. Die Originalhandschrift der Instruktion befindet sich in AE Russie, t. 1, Bl. 140–146.
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baum erörtert.481 Im Rahmen dieser Studie ist das Schicksal dieser Gesandtschaft primär in Bezug auf die Strategie der Informationsbeschaffung der französischen Krone über die Ereignisse der Strelitzen-Revolte von Interesse. In der französischen Außenpolitik des 17. Jahrhunderts war dem Moskauer Zarenreich nur eine Nebenrolle zugeteilt.482 Das ferne Reich der Romanovs war aus der französischen Sicht noch zu unbedeutend und zu weit abgelegen, um realen Einfluss auf die europäische Politik auszuüben. Die Beziehungen zwischen Frankreich und Russland waren deswegen sehr sporadisch, und bei den seltenen Verhandlungen wurde hauptsächlich über die Fragen des Handels diskutiert. Außerdem betrachtete die französische Regierung Russland als einen außenpolitischen Gegner, da das Moskauer Reich sich oft in Konflikten mit den traditionellen Alliierten Frankreichs im europäischen Osten – Schweden, Polen-Litauen und dem Osmanischen Reich – befand und damit Hindernisse für die französische gegen die Habsburger gerichtete Politik der barrière de l’Est bereitete. Die russische Diplomatie zahlte den Franzosen mit gleicher Münze heim und verhielt sich sehr misstrauisch dem französischen König gegenüber, dessen Freundschaftsbeziehungen mit der Hohen Pforte am Moskauer Hof bekannt waren. Wie jedoch bereits oben gezeigt wurde, kam es Anfang der 1680er-Jahre zu einer Abkühlung der französisch-schwedischen Beziehungen und Ludwig XIV. verbündete sich mit Dänemark und Brandenburg-Preußen. Anfang April 1682 kommunizierten die Residenten dieser Staaten – Meyercrone und Spanheim – an den französischen Minister Colbert de Croissy das Projekt einer gemeinsamen diplomatischen Aktion in Moskau, deren Ziel es war, ein antischwedisches Abkommen abzuschließen.483 Ludwig XIV. betrachtete diesen Plan mit gewisser Unentschlossenheit. Ein präventiver Krieg gegen Schweden war aus französischer Sicht definitiv ein Schritt zu weit, da Frankreich sich hauptsächlich um die Beibehaltung des politischen Gleichgewichts in Nordeuropa bemühte und insgeheim die Hoffnung nicht aufgab, Schweden wieder an seine Seite zu bekommen. Die schwedischen Truppen von einer eventuellen Einmischung in die Auseinandersetzungen auf dem Kontinent abzuhalten, war hingegen ein erstrebenswertes Ergebnis. Ende April wurde eine Entscheidung getroffen: Am 30. April (n. S.) befahl Ludwig XIV. La Picquetière, dem Sekretär des französischen Botschafters in Stockholm Marquis de Feuquière, nach Kopenhagen zu reisen, um
481 Lossky: La Piquetiere’s projected mission; Grönebaum: Frankreich in Ost- und Nordeuropa, S. 93–97. 482 Klaus Zernack (Hrsg.): Handbuch der Geschichte Russlands, Bd. 2. 1613–1856: Vom Randstaat zur Hegemonialmacht, I. Halbband. Stuttgart 1986, S. 196–198; Marie-Karine Schaub: Wahrnehmungen und Praktiken in den französisch-russischen Beziehungen (17. bis 19. Jahrhundert), in: Hillard von Thiessen und Christian Windler (Hrsg.): Akteure der Außenbeziehungen. Netzwerke und Interkulturalität im historischen Wandel. Köln [u. a.] 2010 (= Externa – Geschichte der Außenbeziehungen in neuen Perspektiven 1), S. 319–340, hier S. 320–322. 483 Lossky: La Piquetiere’s Projected Mission, S. 73–74; Grönebaum: Frankreich in Ost- und Nordeuropa, S. 94.
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dort die Einzelheiten des Vorgehens mit dänischen Behörden auszuhandeln. Selbst die Wahl von La Picquetière für die geplante Mission spiegelt den zweischneidigen Charakter der französischen Politik wider: Er war bekanntlich den Schweden sehr freundlich gesinnt.484 La Picquetière kam in der dänischen Hauptstadt erst am 10./20. Juni an und erfuhr dort, dass der russische Zar Fedor Alekseevič bereits gestorben war.485 Die Dänen verhielten sich gegenüber dem Franzosen äußerst misstrauisch: Anstatt die für die Mission von Horns vorbereiteten Instruktionen La Picquetière direkt zu überreichen, wies Christian V. seinen Botschafter in Frankreich, Meyercrone, an, diese dem französischen Minister mündlich zu kommunizieren, was natürlich zu einer zeitlichen Verzögerung führte. Erst gegen Mitte Juli konnte die französische Regierung eine Zusammenfassung der Instruktion von Horns bekommen.486 Zu diesem Zeitpunkt war jedoch die Nachricht über die Strelitzen-Revolte bereits bekannt, und unter dem Einfluss dieser neuen Information wurde in der zweiten Julihälfte die königliche Instruktion für La Picquetière verfasst.487 Die Instruktion schrieb dem französichen Gesandten ein sehr vorsichtiges Vorgehen vor, hauptsächlich sollte er das Vorhaben der dänischen Mission unterstützen und eine beobachtende Position einnehmen. Die Reise nach Moskau sollte über Litauen erfolgen. Am Moskauer Hof selbst war offiziell zu verkünden, dass La Picquetière um die Etablierung der Handelsbeziehungen zwischen Frankreich und Russland ersuchte. Über die instabile Lage im Moskauer Reich – über „den Aufstand der als Garde bekannten Truppen und der Soldaten der Moskau-Garnison und das von ihnen begangene Massaker der Vornehmsten des Hofes“488 – war der französische König bereits informiert, dennoch betonte die Instruktion, dass La Picquetière sicherlich eine neue Regierung in Moskau antreffen würde. Seine Aufgabe bestand gerade darin, die Intentionen der neuen Machthabenden herauszufinden, und falls sich die Russen zu weiteren Verhandlungen geneigt zeigten, sollte La Picquetière auf die neuen königlichen Instruktionen warten. Der Grad der Unkenntnis der französischen Regierung über die
484 Lossky: La Piquetiere’s Projected Mission, S. 74. Über die Person von La Picquetière siehe: ebd., S. 94–95, Fn. 1. 485 Siehe den Brief des französischen Botschafters in Kopenhagen, Foulé de Martangis, vom 23. Juni (n. S.) 1682 in AE Danemark, t. 27, Bl. 116. 486 Lossky: La Piquetiere’s Projected Mission, S. 77. Siehe auch die Wiedergabe der Instruktion von Horns, die an Martangis Ende Juli letztendlich überreicht wurde, in AE Danemark, t. 27, Bl. 154–154v. 487 Lossky datiert die Niederschrift der Instruktion auf die Zeit zwischen dem 18. und 30. Juli (n. S.), siehe Lossky: La Piquetiere’s Projected Mission, S. 79. 488 „Il est vrai que toutes ces bonnes dispositions qu’il y avoit pour lors sont entierement changées par la mort du Grand-Duc de Moscovie, l’élection faite par les grands du royaume de son fils du second lit, âgé de dix ans, au lieu de celui du premier lit, jugé incapable à cause de ses infirmités, les seditions des troupes appelées gardes et des soldats de la garnison de Moscou, le massacre par eux commis des principaux de cette cour, les pillages de leurs biens et tous les autres troubles et désordres arrivés dans ces États dont ledit sieur de Picquetierre aura été sans doute bien informé au lieu où il est.“ Recueil des instructions, S. 79.
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aktuelle Lage in Moskau zeigt sich dadurch, dass in den Briefen an den Zaren (GrandDuc de Moscovie) und den Patriarchen, die La Picquetière zusammen mit der Instruktion erhalten hatte, die Namen von beiden nicht eingetragen waren; die dafür vorgesehenen leeren Stellen waren vor Ort auszufüllen.489 Der französische Envoyé sollte in Moskau nicht später als 15 Tage nach der Ankunft des dänischen und des brandenburgischen Gesandten erscheinen, seine Briefkommunikation mit dem Königshof war durch die Vermittlung von französischen Botschaftern in Dänemark und Polen oder über den französischen Residenten in Hamburg „l’abbé Bidal“ in Chiffren zu führen. Die Zweifel des dänischen Königs an La Picquetière waren jedoch zu groß. Am 4./14. Juli informierte er über seinen Botschafter Ludwig XIV., dass die Anwesenheit des französischen Gesandten in Moskau jetzt angesichts der ungewissen Situation in Russland seines Erachtens nicht notwendig sei.490 La Picquetière wurde befohlen in Kopenhagen bis auf Weiteres zu verbleiben und die französische Regierung musste beim Erwerb der Nachrichten über die Ereignisse in Moskau auf indirekte Kanäle zurückgreifen. Andrew Lossky vermutet in seiner Studie ohne es zu belegen, dass Ludwig XIV. die Briefe Johan van Kellers aus Den Haag übermittelt bekam,491 jedoch scheint dies höchst unwahrscheinlich aufgrund der Tatsache, dass Frankreich und die Niederlande außenpolitische Gegner waren. Vielmehr wollen wir uns den Berichten der französischen Botschafter in den an Russland angrenzenden Staaten – Schweden und Polen-Litauen – zuwenden. An dieser Stelle sei an die Erfahrung des russischen diplomatischen Boten Nikita Alekseev erinnert (siehe oben im Kapitel 4.1), der laut seinem eigenen Bericht im späten September oder frühen Oktober 1682 in der schwedischen Hauptstadt angeblich den sich dort heimlich aufhaltenden französischen Residenten getroffen habe. Dieser Franzose, der im Gespräch mit Alekseev viel Interesse an den Moskauer Ereignissen gezeigt habe, lässt sich eindeutig als Botschafter des französischen Königs, François Bazin Marquis de Baudeville, identifizieren.492 Als Botschafter verbrachte Bazin in Stockholm nicht einmal drei Monate: Nach einem Streit mit den schwedischen Behörden wegen der Einzelheiten des diplomatischen Zeremoniells verließ er die Stadt ohne Abschiedsaudienz Ende September 1682.493 Sein letzter Brief aus der schwedischen Hauptstadt ist auf den 26. September 1682 (n. S.) datiert. Die Ankunft der russischen Gesandtschaft in der Stadt erwähnt Bazin nur einmal im Brief vom 16. September
489 Ebd., S. 80. Es ist interessant, dass die dänische Regierung, die über die Doppelherrschaft von beiden Brüdern Ivan und Peter gegen Mitte Juli bereits wusste, diese Information mit den Franzosen anscheinend nicht teilte. 490 Lossky: La Piquetiere’s Projected Mission, S. 80. 491 Ebd., S. 79. 492 Ludwig Bittner und Lothar Gross (Hrsg.): Repertorium der diplomatischen Vertreter aller Länder seit dem Westfälischen Frieden (1648), Bd. 1. 1648–1715. Oldenburg & Berlin 1936, S. 234. 493 Rudelius: Sveriges utrikespolitik, S. 145–149.
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(n. S.),494 sonst beinhaltet seine Korrespondenz leider keine weiteren Informationen über die russische Mission. Wenn das Gespräch mit dem russischen pod’jačij tatsächlich stattgefunden hat – und es gibt keine Gründe an der Glaubwürdigkeit der Aussage Alekseevs zu zweifeln – berichtete Bazin darüber nicht im Rahmen seines offiziellen Briefwechsels mit dem französischen königlichen Hof.495 Das französische Interesse an den Ereignissen in Russland wird jedoch bereits in den Briefen des Vorgängers von François Bazin, des Botschafters Isaac de Pas Marquis de Feuquières, deutlich. So berichtete Feuquières am 1. Juli 1682 (n. S.) nach Versailles über den Tod des russischen Zaren und die ersten Zeichen der politischen Wirren, da von zwei verbliebenen Brüdern des Verstorbenen gerade der Jüngere zum neuen Zaren erklärt worden sei.496 Bazin setzte die Beobachtung fort und teilte im Brief vom 12. August 1682 (n. S.) mit, dass nach dem Tod des Zaren die Lage im Moskauer Reich dermaßen verworren sei, dass Schweden „aus dieser Richtung nichts zu befürchten“ habe.497 Deutlich mehr Information über die Geschehnisse in der russischen Hauptstadt beinhalten die Briefe des französischen Botschafters am polnischen königlichen Hof, Nicolas Marie de l’Hospital Marquis de Vitry.498 Der Franzose besaß das volle Vertrauen des polnischen Königs Jan Sobieski und protokollierte fleißig in seinen Briefen alle Nachrichten, die er vom königlichen Hof übermittelt bekam. Im Brief vom 5. Juni 1682 (n. S.) gab de Vitry sein Gespräch mit dem König wieder, in dem dieser mitteilte, dass ein russischer Angriff auf das schwedische Livonien angeblich in Vorbereitung wäre.499 Jedoch bereits drei Wochen später, im Brief vom 26. Juni (n. S., erhalten in Versailles am 24. Juli n. S.), berichtet de Vitry zum ersten Mal über die vor sich gehenden Veränderungen im Moskauer Reich: Der regierende Zar sei, laut dem polnischen König, vergiftet worden und das ganze Land sei vom Tumult erfasst.500 In einem langen Brief vom 17. Juli (n. S., erhalten in Versailles am 14. August n. S.) folgt die ausführliche Beschreibung der Revolte, so wie sie laut den Berichten aus der Ukraine (par le costé de Kiovie) und Litauen (de plusieurs endroits de Lithuanie) am polnischen königlichen Hof
494 AE Suède, t. 65, Bl. 82–82v. 495 Es ist dennoch interessant, das die Gesandtschaft von Nikita Alekseev deutliches Interesse bei Ludwig XIV. erweckte, der im Brief an Bazin vom 7. Oktober 1682 (n. S.) Letzteren aufforderte, mehr über das Anliegen des Gesandten herauszufinden: „Je m’asseure que vous aurez apporté tous vos soins pour penetrer quelles auront esté les propositions des envoyez des deux princes de Moscovie et je seray bien aise d’apprendre ou par vos lettres ou par vostre retour tout ce que vous aurez peu descouvrir de leurs“, AE Suède, t. 65, Bl. 83v–84. Es bleibt nur zu vermuten, dass Bazin über sein Treffen mit Alekseev tatsächlich nach seiner Rückkehr mündlich berichtete. 496 AE Suède, t. 64, Bl. 626–627. 497 „Quoi qu’on soit sûr que de ce côté là il n’y a point lieu de craindre tant que les affaires y seront brouillés au point qu’elles sont depuis la mort du dernier Czar“, AE Suède, t. 65, Bl. 47–47v. 498 Bittner/Gross (Hrsg.): Repertorium der diplomatischen Vertreter, S. 230. 499 AE Pologne, t. 73, Bl. 208v. 500 „Le Roy de Pologne me dit hier qu’il avoit eu des nouvelles certaines de la mort du Zar de Moscovie que l’on asseure avoir esté empoisonné et qu’il y a de grands remuements dans cet Estat“, ebd., Bl. 235.
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bekannt war.501 Diese Darstellung der Rebellion aus de Vitrys Brief weist starke Ähnlichkeit mit dem bereits analysierten Aufstandsnarrativ auf, das in Russland unmittelbar nach der Mairevolte kursierte. Der Zar (gemeint ist zweifellos Fedor Alekseevič) sei von seiner Stiefmutter (Natalj’a Naryškina) vergiftet worden, weil sie ihren eigenen Sohn auf den Thron setzen wollte. Das kleine Kind habe tatsächlich die Zarenkrone bekommen, wobei der 17-jährige leibliche Bruder des Verstorbenen übergangen worden sei. Der benachteiligte Prinz habe sich „ungerechtfertigt seines Erbes beraubt“ gefühlt und mit seiner Klage an die Moskauer Infanterieregimenter, „die in diesem Land nicht weniger mächtig sind als die Janitscharen bei den Türken“, gewandt. Die Soldaten seien empört zum Zarenpalast geeilt. Der Großkanzler (le Grand Chancellier) des Reichs habe zwar versucht, die Rebellen zur Ruhe zu bringen, sei jedoch aus dem Fenster auf die Hellebarden hinuntergeworfen worden, ein ähnliches grausames Schicksal mussten auch viele andere „große Herren“ teilen, sodass „von allen Moskauer Adligen oder bedeutenden Menschen nur noch vier Familien übrig sind, die der Wut dieser empörten Soldaten entkommen konnten“. Im Fazit sei das Land von solch „seltsamen Umwälzungen“ (étrange bouleversement) erfasst, die es noch nie gegeben habe. Die Berichterstattung de Vitrys stieß in Versailles offensichtlich auf Interesse, und dem Botschafter wurde befohlen, die Beobachtung über die „Moskauer Revolten“ (des revolutions de Moscovie) fortzuführen.502 Die Informationen wurden jedoch unpräziser. Ende Juli wurde am polnischen königlichen Hof spekuliert, dass sich einer der Prinzen in Moskau in einer Fehde durchsetzen und den anderen beseitigen würde, man sprach sogar davon, dass der jüngere Bruder bereits ermordet worden sei.503 Von August 1682 bis Frühling 1683 wurde Polen-Litauen von drei russischen Gesandtschaften besucht, die die Nachricht über die Doppelherrschaft der Brüder – Ivan und Peter – überbrachten und gemäß den Richtlinien der Propagandakampagne der russischen Regierung ausdrücklich betonten, dass die Zaren im vollen Einvernehmen und Frieden regierten.504 De Vitry blieb gegenüber diesen Behauptungen skeptisch. Im Brief vom 11. Dezember (n. S.) schreibt er über Russland, dass die Lage dort „mehr denn je durcheinander“ sei und dass es „jeden Tag neue Revolten“ gebe.505 Sogar im Frühling 1683 habe 501 502 503 504
Ebd., Bl. 269–271. Siehe den Brief aus Versailles vom 27. August 1682 (n. S.) in: ebd., Bl. 281. Siehe de Vitrys Briefe vom 24. und 31. Juli (n. S.) in: ebd., Bl. 278v, 285. Der Bote Nikifor Venjukov wurde vom polnischen König am 15./25. August empfangen; Semёn Djadkin – am 21. November/1. Dezember; die dritte Gesandtschaft, geleitet von Ivan Čaadaev und Luk’jan Golosov, erreichte Warschau am 23. März/2. April und hatte die Ratifikation des Friedensabkommens von Andrusovo durch den polnischen König als Ziel, siehe Bantyš-Kamenskij: Obzor vnešnich snošenij Rossii, Bd. 3, S. 153–154. Siehe die Beschreibung der friedlichen Doppelregierung von Ivan und Peter in der Darstellung der russischen Boten in de Vitrys Brief vom 24. September 1682: „Le Envoyé n’avois point d’autre commission en venant en cette Cour que d’y donner par de l’elevation des deux freres conjointiment a la couronne et de la parfait intelligence qui estoit entre eux pour le gouvernement de leurs estats“, AE Pologne, t. 73, Bl. 356v. 505 AE Pologne, t. 74, Bl. 113v.
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sich die Situation nicht verbessert, so de Vitry, da angeblich ein neues Massaker am Adel in Moskau ausgebrochen sei.506 Das Fazit des französischen Botschafters lautete: Wegen der nicht aufhörenden Tumulte sei es unmöglich, sich mit den Moskowitern auf konkrete Maßnahmen zu einigen, was bedeutete, dass Polen sich weder im anstehenden Kampf mit den Türken auf russische Hilfe verlassen konnte noch Angst vor einem plötzlichen russischen Angriff haben sollte.507 Das Bild der Wirren im Moskauer Reich, das Ludwig XIV. von seinen Botschaftern in Schweden und Polen-Litauen bekam, zeigte Moskau als einen nutzlosen Bündnispartner, von dem man sich keine Hilfe erhoffen konnte, solange die Wirren nicht beendet waren. Die Fortsetzung der Mission von La Picquetière machte laut diesen Berichten wenig Sinn und bereits am 27. August 1682 wurde dem französischen Gesandten gestattet, zurück nach Paris zu reisen.508 La Picquetière war nie in Moskau angekommen, trotz der mehrmaligen Appelle des sich in der russischen Hauptstadt befindenden dänischen Envoyés Hildebrand von Horn. Das Ende des gescheiterten Versuchs, Russland für einen Krieg mit Schweden zu überreden, wurde bereits oben angesprochen. Schweden gelang es, den Frieden mit dem Moskauer Reich zu verlängern, und trotz der angespannten Lage brach in den Jahren von 1682 bis 1684 kein großer Krieg im Norden Europas aus.509 Eine russisch-französische diplomatische Begegnung kam erst drei Jahre später zustande, als sich 1685 die Gesandtschaft von stol’nik Semёn Almazov und d’jak Semёn Ippolitov dem französischen König vorstellte.510 Interessanterweise trat die Erinnerung an die Strelitzen-Revolte bei diesem Treffen wieder in Erscheinung. Die in Russland immer noch bestehende Regierung zweier Zaren erweckte in Frankreich eine gewisse Neugier, und im selben Jahr wurde ein gemeinsames Porträt von Ivan und Peter, das möglicherweise auf einer russischen, durch die Gesandtschaft nach Frankreich gebrachten Vorlage basierte, vom Graveur Nicolas de Larmessin als Radierung angefertigt. Der dem Bild beigefügte Text beleuchtet die Umstände dieser ungewöhnlichen Regierung und geht dabei auf die drei Jahre zuvor stattgefundene Revolte ein: Ioane Alexovvitz, Peter Alexovvitz, Zaren oder Großherzöge von Groß-, Klein- und Weißrussland, Autokraten von Moskowien, Hüter und Herren großer Ländereien und Besitztümer ets., die Söhne von Alexej Michaelovvitz, Zar und Großherzog von Moskowien, sowie die Brüder von Theodore Aléxovvitz, Zar und Großherzog von Moskowien, gestorben 1682; Der Ältere dieser zwei Prinzen und Gebrüder wurde 1667 geboren und der Jüngere
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Brief vom 28. März 1683 (n. S.), in: ebd., Bl. 279. Siehe de Vitrys Briefe vom 9. April und 20. Mai 1683 (n. S.) in: ebd., Bl. 303v, 357. Lossky: La Piquetiere’s Projected Mission, S. 80. Lossky: Louis XIV, William III, and the Baltic Crisis, S. 43. Die russische Gesandtschaft hatte nur vor, das Verhältnis des französischen Königs zum Projekt einer großen europäischen Liga gegen Osmanen und Tataren zu erkunden, siehe Grönebaum: Frankreich in Ost- und Nordeuropa, S. 98–100.
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wurde 1669 geboren und in allgemeinem Einverständnis auf den Thron gesetzt, was zum Nachteil des Älteren geschah, weil dieser von Geburt her sehbehindert und daher regierungsunfähig war. Dennoch, um alle Tumulte zu besänftigen und alle Verschwörungen und Aufstände zu zerstreuen, wurde auch er durch die Politik des Staates auf den Thron erhoben, sodass beide Brüder in Frieden und brüderlichem Einvernehmen regieren. Diese Prinzen, die eine gute Freundschaft und Korrespondenz mit Frankreich pflegen wollen und einen hohen Respekt vor der Grandeur der Macht Königs Ludwigs des Großen haben, schickten zwei Gesandte mit einem sehr schönen Gefolge von mehr als achtzig Personen im Jahr 1685, die mit aller Ehre empfangen wurden, die wir den Botschaftern der gekrönten Monarchen erweisen, mit der sie sehr zufrieden waren.511
4.6 Schweden Genauso wie seine Gegner war Schweden stark daran interessiert, schnell die aktuellsten Informationen über die Entwicklung der Situation in Moskau zu erhalten. Die schwedische Berichterstattung über die Moskauer Ereignisse funktionierte nach einem ähnlichen Prinzip, wie es bereits im Fall von Brandenburg-Preußen dargestellt wurde. Denn auch Schweden hatte 1682 keinen offiziellen Residenten in der russischen Hauptstadt, sodass der Nachrichtenstrom über indirekte Kanäle organisiert werden musste. Der Hauptunterschied zwischen dem schwedischen System und dem Engagement von Dietrich Hesse lag dabei vor allem in Umfang, Häufigkeit und Geschwindigkeit der Berichterstattung: Das schwedische kommunikative Netzwerk war viel effizienter und regulärer. Nicht zufällig bemerkte der russische Bote Nikita Alekseev in Stockholm im September 1682, die Schweden seien mit den Ereignissen in Moskau sehr gut vertraut.512 Alekseev deutete in seinem Bericht den genauen Weg des schwedischen Informationserwerbs an: Die Nachrichten kamen zuerst über Kaufleute aus
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Übersetzung des Autors, siehe den französischen Originaltext: „Ioane Alexovvitz, Peter Alexovvitz, Czars ou Grand Ducs de la Grande Petite et Blanche Russie Autocrateurs de Moscovie, Conservateurs et Dominateurs de plus grandes terres et Seigneuries ets.; Filz d’Alexej Michaelovvitz Czar et Grand Duc de Moscovie, et freres de Theodore Aléxovvitz Czar et Grand Duc de Moscovie, décedé en 1682, l aisné de Ses deux Princes Freres nacquit en 1667, et le cadet nacquit en 1669, et fut eleve Sue le trosne d un Comun Consentement au prejudice de l aisné qui est infirme de la Veue ce qui le rend tres Incapable du Gouvernement, Néantmoins pour appais ser tous les troubles et pour dissiper toutes les brigues et Seditions la Politique d Estat la Elevé aussi sur le trosne ou ses deux freres regnent en repos avec Union fraternelle, Ses Princes desirant entretenir une bonne amitié et Corespondance avec la France, estans penetrez et Charmes d une tres haute estime des Grandeurs de son puissant Monarque Louis le Grand, luy ont envoyé tout Exprez deux Ambassadeurs avec une tres belle Suitte de plus de quatrevint personnes en 1685, qui ont estez receus avec tout l’honneur qu’on rend aux Ambassadeurs des testes Couronnées, dont ils ont estez tres satisfaits et contens etc.“ Siehe oben im Kapitel 4.1.
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Abbildung 2 Nicolas de Larmessin. Porträt von Ivan und Peter, Zaren von Russland, 1685. Französische Nationalbibliothek.
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den russischen Städten (wie z. B. Novgorod und Pskov) nach Narva und Riga, und erst von dort nach Stockholm. Den Beständen des schwedischen Reichsarchivs ist dabei zu entnehmen, dass der Knotenpunkt dieses Kommunikationsweges die Grenzstadt Narva und die Schlüsselfigur der schwedische Agent Christof Koch war.513 Unter allen europäischen Mächten war Schweden im 17. Jahrhundert – was die russischen Angelegenheiten betrifft – ohne Zweifel das bestinformierte Land, was in erster Linie auf die intensiven Handelsbeziehungen und die seit 1631 etablierte Tradition eines eigenen Interessenvertreters auf Residenzbasis in Moskau zurückzuführen ist. Schwedische Residenten hatten es im Herzen des russischen Reiches jedoch nicht leicht: Im Fall eines Krieges zwischen beiden Staaten waren sie der Gefahr einer Verhaftung ausgesetzt, und sogar in Friedenszeiten mussten sie mit dem Misstrauen und Beschuldigungen seitens der russischen Obrigkeiten kämpfen. Trotz dieser Schwierigkeiten berichteten sie fleißig über alle aktuellen Nachrichten nach Stockholm. In der langen Reihe von schwedischen Agenten, Diplomaten und Residenten im Moskauer Reich des 17. Jahrhunderts – zu nennen sind hier v. a. Peter Krusenbjörn (Moskauer Resident in den Jahren 1634‒1647), Karl Pommerening (1647‒1651), Johann de Rodes (1651‒1655), Adolph Ebers (1662‒1669)514 – entging jedoch insbesondere Christof Koch bis zuletzt der Aufmerksamkeit der Forschung, obwohl gerade er seit den 1670er-Jahren zum Hauptinformanten der schwedischen Krone in Russland geworden war.515
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Christof Koch selbst unterschrieb seine Briefe mit dem Namen „Koch“. In den Dokumenten der schwedischen Behörden konnte sein Nachname jedoch auch auf schwedische Weise geschrieben werden: „Kock“. 1683 wurde er geadelt und begann von da an seine Papiere mit „von Kochen“ zu unterschreiben. Über die schwedischen Agenten in Russland im Laufe des 17. Jahrhunderts vgl. v. a. die folgenden Arbeiten: G. V. Forsten: Snošenija Švecii s Rossiej v carstvovanie Christiny, in: ŽMNP 275 (1891), S. 348–375; K. I. Jakubov: Rossija i Švecija v pervoj polovine XVII veka, in: ČIOIDR 182 (1897), Nr. 3, S. i–x, 1–240; Forsten: Snošenija Švecii i Rossii; B. G. Kurc: Sostojanie Rossii v 1650–1655 gg. po donesenijam Rodesa. Moskva 1914; T. J. Arne: Europa upptäcker Ryssland. Stockholm 1944; Georg von Rauch: Moskau und der Westen im Spiegel der schwedischen diplomatischen Berichte der Jahre 1651–1655, in: Archiv für Kulturgeschichte 34 (1951), S. 22–66; V. Z. Džinčaradze: Bor’ba s inostrannym špionažem v Rossii v XVII veke, in: Istoričeskie zapiski 39 (1952), S. 229–258. Für eine detaillierte Übersicht der schwedischen Diplomaten und Residenten in Russland v. a. in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts siehe auch die unveröffentlichte Dissertation des amerikanischen Forschers Heinz Ellersieck: Heinz E. Ellersieck: Russia under Aleksei Mikhailovich and Feodor Alekseevich, 1645–1682. The Scandinavian Sources. PhD-Thesis. University of California, Los Angeles 1955, S. 6–64. Die Bedeutung der Berichte von Christof Koch („one of the best informed foreigners in the tsar’s empire“) für die Erforschung der russischen Geschichte des späten 17. Jahrhunderts unterstrich auch Heinz Ellersieck: Ellersieck: Russia under Aleksei Mikhailovich, S. 19. Über Kochs Biografie und sein Engagement als Berichterstatter vgl. außerdem die neuesten Arbeiten: Heiko Droste und Ingrid Maier: Christoff Koch (1637–1711) – Sweden’s Man in Moscow, in: Siv Gøril Brandtzæg, Paul Goring und Christine Watson (Hrsg.): Travelling Chronicles: News and Newspapers from the Early Modern Period to the Eighteenth Century. Leiden & Boston 2018 (= Library of the Written Word 66), S. 119–139; Klaudija Džensen und Ingrid Maier: Pridvornyj teatr v Rossii XVII veka. Novye istočniki. Moskva 2016, S. 97–106.
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Koch, 1637 in Reval geboren, kam erstmals 1655 zu seinem Schwager Johann de Rodes, dem damaligen schwedischen Residenten und Kaufmann, nach Moskau. Da im gleichen Jahr der russisch-schwedische Krieg ausbrach, konnte Koch erst nach dem Friedensabkommen von Kardis 1661 wieder ausreisen. In den 1660er-Jahren war er jedoch erneut in Moskau. 1664 erfüllte er einige Aufträge für den schwedischen Residenten in Russland, Adolph Ebers. Offiziell betrieb Koch als Kaufmann sein eigenes Handelsgeschäft über Novgorod.516 Seit 1666 begann er als persönlicher Korrespondent für den schwedischen General-Gouverneur von Ingrien Simon Grundel-Helmfelt zu agieren: Koch schickte ihm regelmäßig detaillierte Briefe mit Neuigkeiten aus Russland sowie einige offizielle russische Dokumente.517 Als der schwedische Resident in Moskau Adolph Ebers 1669 Russland endgültig verließ, avancierte Christof Koch zum wichtigsten Berichterstatter der schwedischen Krone in der russischen Hauptstadt. Das Geschick des Schweden bei Informationserwerb und -übermittlung erweckte nicht nur den Verdacht der russischen Regierung, sondern auch den Neid der feindlichen ausländischen Diplomaten. Im Januar 1678 gelang es dem in Moskau anwesenden dänischen Gesandten, Friedrich von Gabel, die russischen Behörden zu überzeugen, dass Koch ein Spion sei, worauf der schwedische Kaufmann aus Russland ausgewiesen wurde.518 Im April des folgenden Jahres kam er allerdings zurück nach Moskau – bevollmächtigt von der schwedischen Regierung als offizieller schwedischer Handelsfaktor.519 Dennoch wurde ihm der Aufenthalt in der russischen Hauptstadt verweigert und er wurde aufgefordert, das russische Territorium zu verlassen. Nach fast einjährigen Streitigkeiten kam er dieser Aufforderung schlussendlich im März 1680520 nach und residierte fortan in Narva. Ab 1679, d. h. seit der offiziellen Übernahme des Amtes des Handelsfaktors, begann Koch seine Briefe mit der Darstellung der russischen Neuigkeiten direkt an den königlichen Sekretär Johann Bergenhielm nach Stockholm zu senden.521 Sein letzter unmittelbar aus Moskau verschickter Brief ist auf den 17. Februar 1680 datiert. Bald darauf er516
In den Quellen wird Kochs Engagement im Wein- und Esswarenhandel erwähnt (RGADA, fond 96, opis’ 1, 1670, Nr. 1, Bl. 113–116) sowie im Tuchhandel, siehe M. B. Davydova, I. P. Šaskol’skij und A. I. Jucht (Hrsg.): Russko-švedskie ėkonomičeskie otnošenija v XVII veke. Sbornik dokumentov. Moskva & Leningrad 1960, S. 330. 517 Über das Engagement Kochs als Berichterstatter z. B. während der Rebellion von Stepan Razin 1670–1671 vgl. Maier: How was Western Europe Informed; G. M. Kazakov und Ingrid Maier: Inostrannye istočniki o kazni Stepana Razina. Novye dokumenty iz stokgol’mskogo archiva, in: Slověne = Словѣне. International Journal of Slavic Studies 6 (2017), Nr. 2, S. 210–243. 518 Šamin: Kuranty XVII stoletija, S. 164–165. 519 Zernack: Studien zu den schwedisch-russischen Beziehungen, S. 102; Kobzareva: Rossija i Švecija, S. 233–234. 520 Ebd., S. 247–248. 521 Kochs Briefe an Bergenhielm von 1679 bis 1683 befinden sich in der Sammlung RAS, Muscovitica 604. Die Mehrheit der zitierten Briefe gehört (falls nicht anders angegeben) dieser Archivalie an. Die Briefe sind nicht paginiert, sodass der Verweis auf einen konkreten Brief anhand des Datums seiner Abfassung angegeben wird.
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Der Strelitzen-Aufstand in der diplomatischen Kommunikation 1682–1684
folgte der Umzug nach Narva, der die Berichterstattung jedoch nicht unterbrach, denn Koch gelang es, ein effektives Nachrichtennetzwerk zu organisieren: In Narva erhielt er Briefe von seinen Korrespondenten aus Moskau, Novgorod und Pskov, ließ diese kopieren und leitete sie zusammen mit seinen eigenen Kommentaren weiter nach Stockholm. Die Mehrheit der Briefe von Christof Koch ist mit dem Empfangsdatum in der schwedischen Hauptstadt versehen, was Rückschlüsse über die Zustellungsdauer der Nachrichten von Russland nach Schweden zulässt. Obwohl die heutige Reihenfolge der Briefe in der Archivmappe „Muscovitica 604“ nicht immer der Originalordnung entspricht (die Briefe aus russischen Städten liegen oft nicht zusammen mit dem Narva-Brief, dem sie ursprünglich angehängt waren), lässt sich die Berichterstattung für die Zeit von April 1682 bis Juni 1683 wie folgt rekonstruieren: Tabelle 1 Christof Kochs Schreiben aus Narva
Beigelegte Briefe aus verschiedenen Städten
Empfang in Stockholm
Lieferungszeit bis Stockholm 27 Tage – aus Narva
Moskau, den 20. März 1682 6. April 1682
3. Mai 1682
36 Tage – aus Novgorod
Novgorod, den 28. März 1682 44 Tage – aus Moskau 21 Tage – aus Narva Moskau, den 28. März 1682 22. April 1682
13. Mai 1682
30 Tage – aus Novgorod
Novgorod, den 13. April 1682 46 Tage – aus Moskau Novgorod, den 27. April 13. Mai 1682
Novgorod, den 2. Mai
20 Tage – aus Narva 2. Juni 1682
Narva, den 13. Mai 19. Mai 1682
2. Juni 1682
31 u. 36 Tage – aus Novgorod 14 Tage – aus Narva 14 Tage – aus Narva
Moskau, den 2. Mai 23 Tage – aus Pskov 26. Mai 1682
Novgorod, den 16. Mai
9. Juni 1682 24 Tage – aus Novgorod
Pskov, 17. Mai 38 Tage – aus Moskau 31. Mai 1682
Novgorod, den 22. Mai
unbekannt
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Schweden
Christof Kochs Schreiben aus Narva
Beigelegte Briefe aus verschiedenen Städten
Empfang in Stockholm
Lieferungszeit bis Stockholm
Novgorod, den 2. Juni 10. Juni 1682
unbekannt Novgorod, den 3. Juni Novgorod, den 5. Juni
15. Juni 1682
unbekannt Pskov, den 9. Juni 20 Tage – aus Narva
22. Juni 1682
Novgorod, den 13. Juni
12. Juli 1682 29 Tage – aus Novgorod 19 Tage – aus Narva
Moskau, den 23. Mai 29. Juni 1682
17. Juli 1682 Moskau, den 6. Juni Novgorod, den 25. Juni
7. Juli 1682
Novgorod, den 2. Juli
42 u. 55 Tage – aus Moskau 15 Tage – aus Narva
22. Juli 1682
Narva, den. 7. Juli Pskov, den 8. Juli
20 u. 27 Tage – aus Novgorod 15 Tage – aus Narva
29. Juli 1682
14. Juli 1682
21 Tage – aus Pskov
Narva, den 13. Juli Novgorod, den 11. Juli 19. Juli 1682
18 Tage – aus Narva 6. August 1682
Narva, den 19. Juli Moskau, den 11. Juli Novgorod, den 25. Juli Pskov, den 6. August Novgorod, den 8. August Novgorod, den 10. September Narva, den 29. September Novgorod, den 14. September Novgorod, den 18. September
26 Tage – aus Novgorod
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Der Strelitzen-Aufstand in der diplomatischen Kommunikation 1682–1684
Christof Kochs Schreiben aus Narva
Beigelegte Briefe aus verschiedenen Städten
Empfang in Stockholm
Novgorod, den 7. November 6. Dezember 1682
Novgorod, den 22. November
Lieferungszeit bis Stockholm 31 Tage – aus Narva
6. Januar 1683
Novgorod, den 1. Dezember
36, 45 u. 60 Tage – aus Novgorod
6. Dezember 1682
6. Januar 1683
31 Tage – aus Narva
10. Dezember 1682
11. Januar 1683
32 Tage – aus Narva 21 Tage – aus Narva
Moskau, den 28. November 18. Dezember 1682
8. Januar 1683
35 Tage – aus Novgorod
Novgorod, den. 4. Dezember 43 Tage – aus Moskau 18. Dezember 1682
8. Januar 1683
25. Dezember 1682
20. Januar 1683
26 Tage – aus Narva
2. Januar 1683
20. Januar 1683
18 Tage – aus Narva 22 Tage – aus Narva
Moskau, den 19. Dezember 8. Januar 1683
Novgorod, den. 30. Dezember
21 Tage – aus Narva
30. Januar 1683
31 Tage – aus Novgorod 42 Tage – aus Moskau
Moskau, den 26. Dezember 20 Tage – aus Narva 16. Januar 1683
Novgorod, den 5. Januar 1683
5. Februar 1683 31 Tage – aus Novgorod
Narva, den 13. Januar 1683 21 Tage – aus Narva Novgorod, den 16. Januar 1683 23. Januar 1683 Pskov, den 19. Januar 1683
13. Februar 1683
25 Tage – aus Pskov 28 Tage – aus Novgorod 29 Tage – aus Narva
Moskau, den 10. Januar 1683 30. Januar 1683
6. Februar 1683
Novgorod, den 22. Januar 1683 Novgorod, den 29. Januar 1683
27. Februar 1683
37 Tage – aus Novgorod 49 Tage – aus Moskau 34 Tage – aus Narva
12. März 1683 43 Tage – aus Novgorod
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Schweden
Christof Kochs Schreiben aus Narva 12. Februar 1683 26. Februar 1683 (aus Novgorod)
Beigelegte Briefe aus verschiedenen Städten Novgorod, den 6. Februar 1683
Empfang in Stockholm
Lieferungszeit bis Stockholm 28 Tage – aus Narva
12. März 1683 34 Tage – aus Novgorod 27. März 1683
30 Tage – aus Novgorod
27. März 1683 (aus Moskau)
5. Mai 1683
39 Tage – aus Moskau
17. April 1683 (aus Moskau)
20. Mai. 1683
33 Tage – aus Moskau
24. April 1683 (aus Moskau)
unbekannt
2. Juni 1683 („Ohne Sitz“)
25. Juni 1683
14. Juni 1683
unbekannt
Briefe aus Moskau erreichten Koch durchschnittlich innerhalb von zwei bis drei Wochen, diejenigen aus Novgorod innerhalb von fünf bis zehn Tagen, und Briefe aus Pskov innerhalb von vier bis neun Tagen. Die Lieferung der Post von Narva nach Stockholm konnte sehr unterschiedliche Zeit in Anspruch nehmen: von zwei Wochen im schnellsten Fall während des Sommers 1682 bis hin zu einem Monat in der Wintersaison; ein später verschickter Brief konnte manchmal früher ankommen als sein Vorgänger (wie z. B. Kochs Brief vom 18. Dezember 1682); oder zwei erreichten Stockholm gleichzeitig (die Briefe vom 25. Dezember 1682 und 2. Januar 1683). Insgesamt lässt sich feststellen, dass die Nachrichten aus Moskau im Durchschnitt nach etwa anderthalb Monaten in Stockholm bekannt wurden, und die Nachrichten aus Novgorod und Pskov nach ca. einem Monat.522 Koch berichtete regelmäßig von allen Neuigkeiten, normalerweise viermal im Monat. Die Lücke, die zwischen Mitte Juli und Dezember 1682 auftrat, lässt sich dadurch erklären, dass Koch in dieser Zeit von Narva nach Stockholm reiste, um als Gesandter am Zarenhof akkreditiert zu werden. Aber auch während seiner Abwesenheit im August und September brach die Berichterstattung aus Russland nicht ab, denn Koch organisierte eine Nachlieferung der Briefe nach Stockholm.523 Dabei gab es nur eine kurze Unterbrechung in der zweiten Septemberhälfte und im Oktober, als die russische regierungstreue Armee die Aufständischen in
522 Es hing natürlich noch davon ab, wie schnell Koch die erhaltenen Briefe weiterschickte. 523 Vgl.: „Heüte reisse in nahmen Gottes von hinen auff Reval und habe es alhier also hinterlassen, daß meine brieffe auß Reüßlant […], mir allwohl nachgesant werden mög.“ (Narva, den 19. Juli).
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Der Strelitzen-Aufstand in der diplomatischen Kommunikation 1682–1684
Moskau blockierte und die Postroute geschlossen war.524 Von Ende Februar bis Juni 1683 reiste Koch als offizieller schwedischer Gesandter nach Russland und verschickte die Nachrichtenbriefe von dort selbst. Wer waren die Korrespondenten, die Koch mit Neuigkeiten versorgten? Obwohl Koch seine Berichterstatter nie beim Namen nennt, kamen die Briefe aus Pskov und Novgorod sehr wahrscheinlich von den dortigen schwedischen Handelsfaktoren. In Pskov hatte Hermann Herbers diesen Status inne;525 in Novgorod stand Koch allem Anschein nach in Verbindung mit mindestens zwei Korrespondenten, da uns manchmal zwei Berichte desselben Datums mit ähnlichen Nachrichten vorliegen. Einer der Berichterstatter könnte Nils Hising (oder Hisiengh) gewesen sein, der seit 1678 als schwedischer Handelsfaktor in Novgorod tätig war.526 Über ihn ist bekannt, dass er in den 1660er-Jahren zu den Studenten gehörte, die von der schwedischen Regierung ein Stipendium für das Erlernen der russischen Sprache erhalten hatten.527 Für den Erwerb von Nachrichten waren Russischkenntnisse zweifellos sehr vorteilhaft. Mehrere Korrespondenten gab es auch in Moskau: Einer von ihnen war der uns bereits bekannte Johann van Keller, dessen Heimat 1682 mit Schweden alliiert war. Seine Briefe lassen sich jedoch leicht erkennen, da sie auf Niederländisch verfasst sind.528 Kochs Hauptinformant in Moskau (den er selbst als „mein bester Correspondent“ bezeichnete) bleibt jedoch namenlos. Man kann nur die Vermutung äußern, dass es sich vielleicht um Thomas Knipper handeln könnte – den schwedischen Kaufmann, der seit dem Ende der 1670er-Jahre Handel mit Russland trieb und 1689 Koch auf dem Posten des offiziellen schwedischen Residenten in Moskau ersetzen sollte.529 Es ist allerdings bemerkenswert, dass die Berichterstattung aus Moskau im schwedischen Nachrichtennetzwerk während des Aufstandsjahres eine geringe Rolle spielte, genauso wie es bereits im Fall von Hermann Dietrich Hesses Korrespondenten beobachtet wurde. Nach dem Ausbruch der Gewalt am 15. Mai bekam Koch nur drei kurze Briefe aus Moskau; 524 In der zweiten Oktoberhälfte wurde die Postverbindung wiedergeöffnet, sodass die Vermutung naheliegt, dass einer oder mehrere Briefe (z. B. aus Novgorod) vom Oktober 1682 in der Mappe „Muscovitica 604“ fehlen. 525 Zernack: Studien zu den schwedisch-russischen Beziehungen, S. 109. Die russischen Dokumente erwähnen allerdings, dass Herbers („Arman Armanov“) seinen Handelshof in Pskov am 1. Juni 1682 verließ (RGADA, fond 96, opis’ 1, 1682, Nr. 1, Bl. 59) und erst im Dezember zurückkehrte. 526 Svenskt biografiskt lexikon, Bd. 19. Stockholm 1971, S. 92. Über den schwedischen Handelshof in Novgorod im 17. Jahrhundert siehe I. P. Šaskol’skij: O dejatel’nosti švedskogo gostinogo dvora v Novgorode v XVII v., in: Novgorodskij istoričeskij sbornik 12 (1984), Nr. 2, S. 188–202. 527 Georg Wittrock: Karl XI:s förmyndares finanspolitik. Gustaf Bondes finansförvaltning och brytningen under bremiska kriget 1661–1667. Uppsala 1914 (= Skrifter utgifna af K. Humanistiska Vetenskaps-Samfundet i Uppsala 15:3), S. 294, Fn. 1. 528 Insgesamt sind das drei kurze Briefe: vom 28. März 1682, 11. Juli 1682 und 10. Januar 1683. 529 Über die Biografie von Thomas Knipper siehe S. V. Efimov: Švedskij diplomat Tomas Knipper v Rossii, in: Ot Narvy k Ništadtu: petrovskaja Rossija v gody Severnoj vojny 1700–1721 gg. Sbornik materialov Vserossijskoj naučnoj konferencii, posvjaščёnnoj 280-letiju so dnja zaključenija Ništadtskogo mira. Sankt-Peterburg 2001, S. 38–42.
Schweden
147
erst ab Ende November, d. h. seit der Rückkehr des Zarenhofes in die Hauptstadt und der Stabilisierung der Lage wurden die Moskauer Nachrichten wieder regelmäßig. Die Vermutung liegt nahe, dass Kochs Moskauer „bester Correspondent“ sich spätestens seit Juni nicht mehr in der Hauptstadt befand und vielleicht nach Archangel’sk geflohen war. Die große Mehrheit der Informationen über die Geschehnisse in Russland bekam Koch daher aus Novgorod. Schließlich stellt sich die Frage, an welche Behörden und Personen Koch seine Nachrichten genau kommunizierte. Der unmittelbare Empfänger der Briefe in Stockholm war, wie schon erwähnt, der Sekretär des Königs Karl XI., Johann Bergenhielm. Koch bat ihn in seinen Schreiben jedoch oft, seine Informationen an „gehörige Orthe“ weiterzugeben, und nannte dabei die seiner Ansicht nach infrage kommenden Personen explizit: den Diplomaten und Russlandexperten Jonas Klingstedt sowie den Kanzleipräsidenten und das Haupt der schwedischen auswärtigen Politik Bengt Oxenstierna.530 Angesichts der Bedeutung der übermittelten Nachrichten scheint es zweifellos zu sein, dass Kochs Briefe tatsächlich in hohen Kreisen der schwedischen politischen Elite diskutiert wurden. Die Ereignisse im Moskauer Reich interessierten die schwedischen Behörden hauptsächlich in Bezug auf deren Einfluss auf die Machtverhältnisse in der russischen Regierung sowie auf die russische Außenpolitik. Die Beziehungen zwischen Schweden und Russland waren nach dem Tod von Aleksej Michajlovič 1676 sehr angespannt. Die Grenzverhandlungen zwischen beiden Reichen im selben Jahr, die zu einer Reaffirmation des Friedens von Kardis führen sollten, mündeten stattdessen in unendliche Streitigkeiten und gegenseitige Beschuldigungen, sodass im Sommer 1676 die schwedischen Behörden in den baltischen Provinzen ernsthaft den Ausbruch des Krieges befürchteten.531 Der russisch-türkische Krieg der Jahre 1676 bis 1681 erforderte jedoch die Verlegung der Prioritäten der Moskauer Außenpolitik auf die Angelegenheiten in der Ukraine. Nach dem Waffenstillstandsabkommen von Bachčisaraj 1681 zwischen Moskau und dem Osmanischen Reich wurde die Lage für die schwedische Krone wieder bedrohlich. Stockholm befand sich zum Anfang des Jahres 1682 in der Situation, dass der Ausbruch eines neuen Krieges mit Dänemark und/oder Brandenburg-Preußen sehr real schien.532 Es war deswegen wichtig für Schweden, die östliche Grenze zu sichern und den Friedenszustand mit Russland beizubehalten. Kochs Nachrichten boten den schwedischen Behörden somit die Möglichkeit, sich einen Überblick über die Stimmungslage und die Änderungen in der russischen Regierung zu verschaffen.
530 Siehe z. B.: „Ich zweiffele nicht, oder Ew: wohl Edl: Geb: werden allemahl waß ich de novo überschreibe, an Ihre Hochgräffl: Excellence dem Herrn Bengt Oxenstierna auch communicieren“ (Narva, den 7. Juli 1682). 531 Zernack: Studien zu den schwedisch-russischen Beziehungen, S. 72–81. 532 Rudelius: Sveriges utrikespolitik, S. 67–79.
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Der Strelitzen-Aufstand in der diplomatischen Kommunikation 1682–1684
Es entging der Aufmerksamkeit der schwedischen Beobachter dabei nicht, dass die reale Macht während der Regierung des kränklichen Zaren Fedor bei der Gruppe seiner Favoriten („Zeitlinge“) und v. a. bei Ivan Maksimovič Jazykov lag. In seinem Brief vom 20. März 1682 berichtete der Moskauer Korrespondent, wie Jazykov im sehr plausiblen Falle des baldigen Zarentodes seine Position sichern wollte. Da der wahrscheinlichste Nachfolger carevič Peter war, entschied sich Jazykov, den Anführer des Naryškin Clans – Artemon Matveev – aus seinem Exil nach Moskau zurückzuberufen, um seine Gunst für die Zukunft zu gewinnen. Im Novgoroder Brief vom 27. April wurde Matveevs Ankunft in der Stadt Jaroslavl’ gemeldet, und am 13. Mai bekam Koch in Narva von einem russischen Kaufmann erzählt, dass „Ihre Zaar May:t Feodor Alexeewitz schon Todes verblichen [sei] und daß der Zarewitz Peter Alexeewitz in des verstorbenen Zaarens stelle wieder auff den Zaarlich Thron gesetzt sey“. Koch zufolge, seien die russischen Kaufleute selbst sehr verwundert darüber gewesen, dass der älteste carevič Ivan bei der Zarenwahl übergangen worden sei. In seinem Brief vom 19. Mai resümiert Koch, dass nun „Artemon Sergeewitz ohne Zweifel sehr groß“ sein würde, wobei der Schwede eine sehr hellsichtige Vermutung äußerte, nämlich dass die anderen russischen Bojaren solch einen Aufstieg nicht gerne sehen würden, und das Ganze „viel Veränderung und Rebellion, worzu diese Nation sehr geneigt ist“, verursachen würde.533 Der Moskauer Brief vom 2. Mai, der Peters Thronbesteigung bestätigte, beinhaltete gleichzeitig die ersten Meldungen über die Unruhe unter den Strelitzen gegen ihre Vorgesetzten. Die Lage schien so bedrohlich, dass der Moskauer Korrespondent ausdrücklich erwähnte, wie er seine Sachen „wegen allerhande böße zufälle“ zu verstecken suchte. Genauere Informationen folgten in zwei Briefen aus Novgorod vom 16. Mai: Es wurde von großen Veränderungen in der Regierung berichtet, weil die Zeitlinge Jazykov und Lichačёv „sich schon unsichtbahr gemacht haben“ und alle die Ankunft von Artemon Sergeevič in Moskau erwarteten. Die Strelitzen und der „gemeine Mann“ haben jedoch ihren Hass gegenüber Matveev öffentlich verkündigen lassen und gedroht, dass „daferne er in Moscow kommen würde, wollten sie ihn in kleine Stücke zerhacken“. Die Briefe berichteten außerdem ausführlicher über die Klage der Strelitzen gegen die Obersten, v. a. gegen Semёn Griboedov, von dem sie 16.000 Rubel verlangten. Am 31. Mai übersandte Koch noch einen kurzen Novgoroder Brief (vom 22. Mai) nach Stockholm, der über Matveevs Ankunft in Moskau informierte und behauptete, dass „es mit denen Streltzen im Moscow wieder still sein solle“. Der Verfasser
533
„Ich meines theils halte davon, daß ihm die andere grossen Hern von höhst Extraction dieße ehre nicht gerne gönnen, und wen er sich zu viel herfür thut, vielleicht ein feuer wieder ihm, imsonderheit daß man den ältesten Bruder vorbei gegangen, auffblassen werden, zu dem so könte die itzige und letzt noch gelassene Zaarinne schwanger sein, und einen Printzen herfür bringet welches den viele verenderung und rebellion /: worzu die Nation sehr geneiget :/ nach sich ziehen dürffen.“ (Narva, den 19. Mai).
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konstatierte jedoch mit Verwunderung, dass die letzte Post aus Moskau nicht rechtzeitig angekommen sei. Die Ursache der Unterbrechung in der Postlieferung wurde schnell deutlich: Am 10. Juni schickte Koch drei sehr lange Briefe von seinen Novgoroder Korrespondenten (datiert auf den 2. und 3. Juni), welche die blutigen Ereignisse in Moskau Mitte Mai detailliert wiedergaben. Trotz ihrer Länge und Ausführlichkeit stellen die Briefe die Revolte sehr ähnlich wie andere Augenzeugenberichte dar (v. a. im Vergleich zu Butenants Bericht und den Erzählungen der russischen Chroniken). Beschrieben werden der Marsch der Strelitzen in den Kreml am 15. Mai mit fliegenden Fahnen und geladenen Gewehren, ihre gewaltsame Suche nach „Schelmen und Verräthern“ in zarischen Gemächern und die „jämmerlichen“ Morde von zahlreichen Adligen und Beamten. Im Einklang mit anderen Quellen unterstreichen die Briefe auch die Entschiedenheit der Strelitzen, keine Plünderungen unter sich zu gestatten und der allgemeinen Stadtbevölkerung nicht zu schaden.534 Die Verfasser der Briefe waren dabei nicht selbst Zeugen der Revolte, sondern gaben die Inhalte wieder, die sie von ihren russischen Informanten gehört hatten. Bei diesen handelte es sich um einen Boten des Novgoroder Metropoliten und einen aus Moskau angekommenen Adligen. Daher ist es nicht verwunderlich, dass ihre Erzählung dem Narrativ entspricht, das unmittelbar nach dem Aufstand in Moskau zirkulierte. Interessanterweise wird jedoch in den Briefen vom 2. und 3. Juni das Gerücht über Naryškins Versuch, carevič Ivan zu erwürgen, nicht erwähnt, sodass der ganze Aufstand ausschließlich als Wut der Strelitzen und Soldaten auf „Zeitlinge und Geschenckennehmer“ dargestellt ist. Christof Koch selbst stellte jedoch auch weitere Vermutungen darüber an, was den Aufstand provoziert haben könnte. Im Brief vom 15. Juni erzählt er von seinem Gespräch mit einem aus Moskau nach Narva gereisten russischen Kaufmann, der die Gründe des Geschehenen durchaus in politischen Intrigen sah. Dessen Aussagen nach haben die Verwandten des Zaren Peter (also die Naryškins) den Prinzen Ivan und seine leiblichen Schwestern nach dem Tod von Fedor „sehr unfreündtlich“ behandelt. Diese Kinder von Marija Miloslavskaja beschwerten sich deswegen bei manchen „großen Herren“ und bei den Strelitzen und drohten angeblich sogar, dass sie wegen solcher Ungnade das Land verlassen würden: „daß sie anitzo sehr gedrenget würden, […] und alßo bey anderen Potentaten Schutz suchen müssen, auch es unbillig wehre, daß man dem ältesten Printzen, welchem daß Regiment mit Recht zu gefallen in der wahl vorbey gegangen“. Dies hätte den Anlass für das Massaker gegeben, dem allerdings nur die Naryškins zum Opfer fielen: „Von Miloslafskois seiten oder geschlechte ist keiner gefähret, sondern bloß des Zaaren Peter Alexeewitz seine verwanten und favoriten wegh gereümet worden“. Der Kaufmann vertraute Koch sogar die Informa534 „Dießes ist dennoch ein grosses, daß die Streltzen keinen sein Haus oder Buden geplündert, besonders etzliche tage vorher gewarnet haben, daß sie sich zu hausse halten und nichts befürchten sollten, massen es nicht auff ihnen angesehen sey.“ (Novgorod, den 3. Juni).
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Der Strelitzen-Aufstand in der diplomatischen Kommunikation 1682–1684
tion an, dass Ivan Michajlovič Miloslavskij zum Eidschwur für den Zaren Peter unter dem Vorwand einer Krankheit nicht in den Kreml gekommen sei, sodass ein Priester zu ihm nach Hause geschickt werden musste. Koch resümiert, dass dies alles auf einen äußerst verwirrten Zustand im Moskauer Reich hindeute. Noch im Brief vom 10. Juni äußerte er die Hoffnung, dass die ganzen geschehenen „Tragedien“ die schwedischen Interessen begünstigen würden.535 Während des Sommers 1682 setzte sich die Berichterstattung aus den russischen Städten fort. Aus Moskau kamen nur zwei kurze Briefe (vom 23. Mai und 6. Juni), deren Autor unterstrich, dass die Atmosphäre der Angst immer noch über der Stadt schwebte. Er wage schon lange Zeit nicht mehr, die deutsche Vorstadt zu verlassen, weil „die Streltzen anitzo daß Recht in Händen und an sich gebracht haben“. Besonders falle ihm die Bewegung der Cholopen auf (über die auch van Keller ausführlich schrieb), die nach dem Aufstand „freie Leute“ haben werden wollen, aber von den Strelitzen daran gehindert worden seien. Über die „Verbitterung und Feindschaft“ zwischen Cholopen und Strelitzen berichteten auch die Novgoroder Briefe (vom 3. und 25. Juni). Insgesamt beschrieben Kochs Korrespondenten die Lage als sehr unruhig, und das nicht nur in Moskau, sondern auch in Novgorod, wo dem voevoda Ivan Buturlin vor der Wut der Strelitzen „sehr bange“ war und er mit allen Mitteln versuchte, sie zu besänftigen.536 Besondere Aufmerksamkeit schenkten die schwedischen Agenten den finanziellen Forderungen der Strelitzen. So berichten die Briefe von Anfang Juni, dass die Aufständischen auf der Auszahlung der kolossalen Summe von 500.000 Rubel bestünden. Da sie während des Kreml-Massakers in der zarischen Schatzkammer jedoch nur 5.000 Rubel fanden, habe die geforderte Summe unter Klöstern, Kaufleuten, Adligen und Staatsbeamten gesammelt werden müssen.537 Außerdem unterstrichen die schwedischen Beobachter die Bestrebungen der Strelitzen, die vergangene Revolte und ihr damit verbundenes Verhalten zu legitimieren.538 Im Stockholmer Reichsarchiv befindet sich heute die Abschrift der zarischen Schenkungsurkunde für die Strelitzen
535
„[…] und dürffe ein solches unssere, Gott gebe einmahl, glückliche Tractaten wohl befordern.“ (Narva, den 10. Juni). 536 Über die Lage in Novgorod im Jahre 1682 vgl. G. M. Kazakov: Velikij Novgorod vo vremja streleckogo vosstanija 1682 g. po donesenijam švedskich agentov, in: Valla 3 (2017), Nr. 6, S. 13–18. 537 „Es ist auch im gantzen Lande eine aufflage gesetzet, welches die grossen Herren und Schreibers im Moscow am schwersten treffen soll, und sollen sie von 2 bis 10 000: Rubeln an Ihre Zaarischen Mayestetten zahlen müssen, solches alles vor die Streltzen herrühren soll […]“ (Novgorod, den 25. Juni). Über die finanzielle Krise im Moskauer Reich in der Zeit des Aufstands siehe auch: Lavrov: La Hovanščina et la crise financière. 538 „Die Streltzen haben begehret, daß in Moscow auff der Ploschet oder Schloßplatz, ein pfahl soll auffgerichtet und darauff geschrieben werden, auß waß Ursachen die großen Herren und mehr andere getödtet worden sein, umb daß keiner die Streltzen vor rebeller außruffen oder beschüldigen, sondern daß sie ihre Zaarischen Mayesteten alles zu liebe gethan nach geredet werden mögen, so wollen die auch nicht mehr Streltzen heissen, daß alßo auß allem annoch zu ersehen ist, daß sie ein hauffen wint im Kopff haben.“ (Novgorod, den 2. Juli).
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vom Juni 1682. Das Dokument wurde allem Anschein nach von einem der Agenten zusammen mit anderen Briefen aus Russland verschickt. Die Aufmerksamkeit, mit der man die Urkunde in Stockholm empfing, lässt sich an der schwedischen Übersetzung dieses Textes festmachen.539 Die Briefe vom 5. und 9. Juni brachten die Nachricht über die Wahl Ivans als zweiten Zaren und die Etablierung der Doppelherrschaft. „Ob nun dieße ungewohnete arth beständig verbleiben wird, ist Gott bekannt“ – kommentierte der Korrespondent. Auch der religiöse Dissens während des Aufstandes entging der Aufmerksamkeit der schwedischen Beobachter, im Gegensatz zu anderen ausländischen Autoren, nicht. So berichtet der Brief vom 2. Juni darüber, dass die Strelitzen die Abschaffung der „neuen Religion“, also der nikonianischen Kirchenreformen, forderten. Kurz darauf kam sogar die Nachricht von der möglichen Abdankung des Patriarchen Ioakim, der die Rückkehr des Alten Glaubens auf keinen Fall billigen wollte.540 Erst am 25. Juli wurde von dem Beschluss berichtet, die „neue Religion“ beizubehalten und die Anführer der Altgläubigen hinzurichten. Im September ereignete sich eine neue Unterbrechung der Postverbindung: Am 10. September berichtet der Novgoroder Korrespondent, dass die Moskauer Post nicht zur üblichen Zeit angekommen sei, und dass dies seiner Meinung nach darauf hindeute, dass „in Moscow wieder waß neüwes und viel bößes passiret“ sei. Auch die Novgoroder Briefe selbst erreichten Narva allem Anschein nach mit einer großen Verspätung, sodass der dortige Agent gegen Ende September die Abwesenheit jeglicher konkreter Nachrichten aus russischen Städten konstatierte („auß Novogorodt aber ist nichts eingekommen“) und auf unzuverlässige Gerüchte zurückgreifen musste. Diese scheinen das Ausmaß der Anarchie in Russland zu übertreiben: Sie erzählen sehr unpräzise von einer angeblichen Zuspitzung des Konfliktes zwischen Strelitzen und Cholopen sowie von einem neuen Ausbruch der Gewalt in der russischen Hauptstadt, bei dem wieder mehrere Bojarenfamilien ums Leben gekommen seien.541 Im Laufe der folgenden zwei Monate klärte sich die Lage. Die nächsten überlieferten Briefe (vier Schreiben aus Novgorod) sind bereits auf November 1682 datiert und 539 RAS, Extranea samlingen, XI Ryssland, vol. 156: 2. 540 „Weyle der Patriarch in der Religion keine Verenderung machen, sondern nach den neuwen Einführung in der Religion verbleiben will, vermeinet man daß er abdanken und sich in eine Zelle begeben muß: dagegen hiesiger Metropolyt, wieder Patriarch werden, alles eingehen, und die neuwe Verenderung in der Religion abgeschaffen werde. Die gemeine alhier stehet auch fäste darbey, daß die neuwe ceremonien abgeschaffet, und in ihre Kirche es nach dem alten verbleiben solle: zu wiedrigen sie sich verlauten lassen, es nicht wohl mit denen, so sich dagegen stellen werden, abgehen soll“ (Novgorod, den 13. Juni). 541 „[…] daß gerüchte bleibet, daß die Goloppen ein Pricaess unmundirete Streltzen caputiret, und weyle einige von denen Goloppen darüber gefangen worden, werden selbige hefftig gepeiniget, da sie dan außsagen müssen, von was vor häusser sie außgesant gewessen, die darauff geruiniret und die Herren umb das Lebend gebracht worden. Und sollen dießes die Rede nach 40: Familien betroffen haben, alleine annoch unwissend welche“ (Narva, den 29. September).
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berichten über den Ausgang der Strelitzenrevolte. Die Strelitzen seien von den Zaren begnadigt worden, und haben in der Kirche schwören müssen, nicht erneut feindlich gegen die Bojaren vorzugehen.542 Nur sechs Regimenter der Strelitzen durften in Moskau bleiben, während die anderen nach Kiev und Smolensk abkommandiert wurden, wozu sie sich aber „willig erzeiget“ haben. Die Schuld am Aufstand wurde dabei ausschließlich Ivan Chovanskij angehängt, wobei es interessant ist, dass die schwedischen Beobachter dessen Rolle während des Mai-Aufstands zu Beginn noch durchaus positiv bewertet hatten, so wurde er z. B. in den Novgoroder Briefen im Juni als Friedensstifter gelobt.543 Chovanskijs während des Sommers gestiegenes politisches Gewicht und seine Popularität waren gleichermaßen offensichtlich für die schwedischen Agenten: Mehrmals unterstrichen sie, dass der alte Fürst „großes Ansehen“ in Moskau hätte. Erst in einem Brief von 10. September rapportierte der Novgoroder Korrespondent, dass Ivan Chovanskij eine „grosse Schult“ zugewiesen werde, „daß er es mit denen Streltzen halten soll, weswegen die meisten Herren auff ihn gar übell sollen zu sprechen sein“. Die Novemberbriefe berichten schließlich ausführlich über die Propagandakampagne der Regentschaftsregierung, die Chovanskij als Hauptanstifter der Revolte darzustellen versuchte.544 Die schwedischen Beobachter blieben jedoch skeptisch. Ein sehr interessanter Satz in dem Brief vom 29. September aus Narva zeigt deutlich, dass die Schweden Chovanskij selbst als Opfer von politischen Intrigen innerhalb der russischen Elite sahen: „[…] es wird gemuthmasset, daß der alte Gowanskoj seine Rolle anitzo gegen seine wiederwertige fleißig spiele, darbey aber besorget das er es künfftig dürffe treüwe bezahlen müssen.“ Der letzte Ausklang des Echos auf den Aufstand in schwedischen Berichten lässt sich in den Briefen vom Januar und Februar 1683 finden. Am 13. Januar schreibt Christof Koch aus Narva, dass die Strelitzen, laut der Erzählung einiger russischer Kaufleute, trotz der erhaltenen Begnadigung weiter verfolgt und bestraft würden.545 Dies provoziere unter ihnen eine neue Unzufriedenheit, und die Kaufleute äußerten sogar 542 „Die Boyaren wie auch Streltzen haben in der pfar-Kirche beyderseits eingelübde gethan, hinführo eine parthey gegen die anderen nichtes feindliches vernehmen soll, und waß vor dem gepassiret solte vergessen sein auch nicht mehr gedacht werden; die parthey aber, so am ersten daß gelübde würde brechen, solte nach ihrer manier Proklät oder verdammet sein“ (Novgorod, den 22. November). 543 „Der alte Knes Iwan Andreewitz Howanskoj soll bei denen Streltzen nicht allein in grossen Ansehen sein, sondern auch viel Unheil bei sie abgewendet haben“ (Novgorod, den 2. Juni); „Der alte Howanskoj hat ein grosses zu dießer sache gethan, daß es alßo gestillet worden“ (Novgorod, den 3. Juni). 544 „Ihre Zaar Mayt haben die Streltzen pardoniret, und wird anitzo alle Schult dem enthäupten Feldtherrn Gowanskoj beygeleget“; „[…] sonsten wird dem Gowanskoj je lenger je mehr die schult beygeleget, daß er ein grosses an der Rebellion schüldig gewessen sey“ (beides – Novgorod, den 22. November). 545 „Reüsische Kauffleüte, welche dieße woche alhier auß Moscow gekommen, berichten, daß man in Moscow mit denen Streltzen ziemblich hart umbgehen, und viele von denenselben, worauff man muthmasset in der vorigen rebellion urheber gewessen, unter prætext andere beschüldigungen in der nacht greiffen und alsoforth in ungnade versenden lassen solle, welches alles durch den Kne-
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die Befürchtung, dass ein neuer Tumult am Tag der Heiligen Drei Könige in Moskau ausbrechen könnte. Am besagten Tag waren sicherheitshalber weder die Zaren noch die Bojaren bei der üblichen Prozession der Wasserweihe anwesend, wobei die Feierlichkeiten insgesamt ruhig verliefen.546 Das Schicksal der Strelitzen war jedoch in den schwedischen Berichten im Winter 1682/83 von einem viel wichtigeren Thema überschattet: Ende September wurde aus Narva berichtet, dass sich nicht nur der dänische Gesandte von Horn auf dem Weg nach Moskau befände, sondern auch ein brandenburgischer Envoyé. Dieser diplomatischen Aktion seiner Gegner musste Schweden unbedingt entgegenwirken, und der richtige Mann für diese Aufgabe war besagter Russlandkenner Christof Koch. Mitte Juli reiste er aus Narva nach Stockholm, wo seine erneute Entsendung an den Zarenhof beschlossen wurde, um vor Ort die Stimmung der neuen Regierung bezüglich der russisch-schwedischen Beziehungen zu sondieren. Offiziell sollte Koch lediglich den Gruß Karls XI. an die neuen Zaren überbringen. Anfang Dezember erreichte Koch Narva, wo er jedoch die erstaunliche Nachricht bekam, dass in Russland bereits eine Großgesandtschaft nach Schweden in Vorbereitung war, die von dem Bojaren Ivan Prončiščev und d’jak Vasilij Bobinin geleitet wurde. Daraufhin begann Koch an der Fortsetzung seiner Reise nach Moskau zu zweifeln, und beschloss nach einigen Beratungsgesprächen mit dem General-Gouverneur von Narva, Hans von Fersen, und dem Legaten, Hans Henrik von Tiesenhausen, die Großgesandten in Narva zu erwarten. Doch die Nachrichten aus verschiedenen russischen Städten bezüglich der Großgesandtschaft von Prončiščev und Bobinin waren während des Winters äußerst verwirrend. So schreibt der Novgoroder Korrespondent beispielsweise am 16. Januar 1683, dass Prončiščev seine Abschiedsaudienz bei den Zaren bereits gehabt habe und bald losfahren solle; der Moskauer Informant hält dagegen an seiner Meinung fest, dass die russischen Envoyés sich kaum vor dem Sommer auf den Weg machen werden. Gleichzeitig erreichten Narva weitere beunruhigende Informationen über die Intrigen des dänischen Gesandten.547 Am 3. Februar bekam Koch schließlich die königliche Instruktion, die Reise nach Moskau fortzusetzen. Am 26. Februar erreichte er Novgorod und am 9. März schlussendlich Moskau. sen Wassilly Wassilliewitz Gallitzin /: der anitzo sehr groß und daß meiste in Moscow zu sagen haben soll :/ getrieben wird.“ (Narva, den 13. Januar 1683). 546 „Man hat wol vermeinet, daß es in Moscow auff Heil: 3 König tag, neue verenderungen geben würde, allein es ist still abgegengen. Ihre zaarische May:ten sein nicht bey den Process des wasser heiligung gewessen, auch kein Bayarin und Edellman, die Streltzen sein 2000: man starck mit geladenen gewehr alda gewessen, und die übrige Streltzen, haben allenthalben guthe wache gehalten. Zu summa auß allem ist genugsamb zu ersehen, daß es so gar stille noch nicht in Moscow sein müsse“ (Novgorod, den 22. Januar 1683). 547 „Der dänischer Envoye suchet alhier sehr derer hiesigen grossen Herrn gemüther an sich zu ziehen, in dem er sehr spendabel und wohl lebet“ (Moskau, den 19. Dezember 1682); „Der dänischer Envoye soll sehr arbeiten daß die Legation nach Schweden nicht vor sich gehen möchte“ (Novgorod, den 6. Februar 1683).
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Das diplomatische Duell zwischen Christof Koch und Hildebrandt von Horn am Moskauer Hof wurde bereits oben angesprochen. Beide Seiten bemühten sich, die Gunst der Moskauer „großen Herren“ zu gewinnen und setzten dabei alle möglichen Mittel ein: Schmeichelei, Bestechung und Anschwärzung.548 Dem Schweden gelang es, die Nützlichkeit des Friedens der russischen politischen Elite nahezubringen. Koch erkannte richtig, dass v. a. Fürst Vasilij Golicyn zu der Zeit in Moskau „das meiste zu sagen“ hatte, weswegen er eine Audienz bei ihm am 25. März ersuchte und die freundlichen Intentionen der schwedischen Krone auf das Ausführlichste beschrieb.549 Während des Gesprächs interessierte sich Golicyn für das Verhältnis Schwedens zu anderen europäischen Mächten, und Koch antwortete beflissen, dass die schwedische Krone mit allen benachbarten Potentaten in „guter verständnüss“ verbliebe, und dass bereits mit Frankreich sogar alle Uneinigkeiten behoben worden wären. Parallel zu den diplomatischen Gesprächen machte Koch seine Beobachtungen über die politische Lage im Moskauer Reich. Er vermerkte, genauso wie Hildebrand von Horn, die Herausbildung von zwei „Fractionen“ am Moskauer Hof, die sich um den jeweiligen Zaren formierten: Unter beiden Zaaren ist große Jalousie, der jüngste hatt den größesten Anhang, zusonderheit von den Adell, wie wohl der ältester Zaar den Adell große Geschenke und Gnade erweisen, und durch seine Schwester die Printzeßin Sophia Alexeowna genant, alles regieren läßet, aus Ursachen weilen der Zaar Ioan, gleich oben allerunterthänigst gedacht, gantz impotent ist. Die meiste sein der Meinung, daß der jüngste Zaar sich von den ältesten separiren, und als den die Regierung lächte allein erhalten würde.550 Es soll groß Mißtrauwen zwischen beiden Factionen sein, dahero die Größesten nicht recht wißen an wehm sie sich hängen und so viel müglich vom hoeffe abzuhalten suchen sollen, und fürchten viele daß es nicht zum guthen abgehen möchte […]551
Es ist bemerkenswert, dass das oben angeführte Zitat die erste Erwähnung von Sof ’ja in den schwedischen Berichten darstellt, denn in den Briefen schwedischer Korrespondenten aus dem Jahr 1682 kam die Schwester von Ivan Alekseevič überhaupt nicht vor. Erst nach seiner Ankunft in Moskau konnte Koch die wirkliche Rolle von Sof ’ja innerhalb der Machtkonstellationen nachvollziehen. Am 13. Mai machte sich Christof Koch auf den Rückweg. Einen Monat später, am 16. Juni 1683, verließ auch die in Schweden schon lange erwartete russische Großge-
548 Vgl. darüber Zernack: Studien zu den schwedisch-russischen Beziehungen, S. 120–127; Bushkovitch: Peter the Great, S. 137–141. 549 Darüber berichtet der Brief vom. 27. März 1683. Siehe auch: Forsten: Snošenija Švecii i Rossii, in: ŽMNP 325 (1899), S. 49–50. 550 RAS, Muscovitica, Vol. 114, Christof Kochs Brief aus Moskau vom 20. März 1683. 551 Ebd., Christof Kochs Brief aus Moskau vom 24. April 1683.
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sandtschaft (geleitet von Ivan Prončiščev, Pёtr Prončiščev und Vasilij Bobinin) Moskau.552 Das Anliegen der Großgesandten bestand darin (genauso wie die Schweden es antizipiert hatten), den schwedischen König um die Konfirmation der Friedensverträge von Kardis 1661 und Plüsemünde 1666 zu ersuchen. Am 30. Oktober beschwor Karl XI. sein Bekräftigungsschreiben in der Stockholmer Storkyrka.553 Nun musste die schwedische Legation das Abkommen von den russischen Zaren ratifizieren lassen. Die Großgesandtschaft, geleitet vom Kanzleirat Jonas Klingstedt, dem Reichsrat Conrad Gyllenstierna und dem livländischen Landrat Otto Stackelberg, kam am 28. April 1684 in Moskau an und wurde von den Russen mit voller Pracht und Feierlichkeit empfangen.554 Eine Episode, die während der Mission der schwedischen Großgesandten geschah, verdient dabei besondere Aufmerksamkeit: Außer der offiziellen Audienz bei den Zaren, bei der auch Sof ’ja anwesend war, trafen sich die Gesandten mit Sof ’ja persönlich am 28. Mai 1684. Aus der Sicht der diplomatischen Tradition war das eine vollkommen ungewöhnliche Geste, weil Sof ’ja trotz ihrer bedeutenden Position in der russischen Regierung keinen offiziellen Herrschertitel besaß. Die Gesandten begründeten ihre Teilnahme an dem Treffen in ihrem Brief an den schwedischen König vom 27. Mai damit, dass Sof ’ja „die ganze Regentschaft zusammen mit Fürst Vasilij Golicyn in Zarens Namen durchführt“, und dass solch eine Aufmerksamkeitsbezeigung die Beziehungen mit Russland nur noch weiter stärken würde.555 Nur drei Großgesandte wurden zur Audienz mit Sof ’ja zugelassen, die in ihrem prachtvollen Appartement in Zarenpalast stattfand. Sie übermittelten der carevna die Grüße des Königs, seiner Frau und seiner Mutter. Es ist unklar, von welcher Seite die Initiative für diese private Audienz tatsächlich ausgegangen war. Der dänische Gesandte von Horn schrieb bereits am 14. Mai, dass es Sof ’ja gewesen war, die unbedingt das Gespräch mit den Gesandten an der Stelle ihrer minderjährigen Brüder führen wollte. Diese Forderung löste in der russischen Elite geradezu einen Eklat aus, sodass Fürst Vasilij Golicyn, Sof ’jas engster Vertrauter, bei einer Sitzung der Bojarenduma an Beispiele der Weltgeschichte appellieren musste, um zu zeigen, dass sich Herrscherinnen im Ausland, wie Königin Elizabeth von England oder Königin Kristina von Schweden, bereits in früheren Zeiten problemlos an Verhandlungen mit ausländischen Gesandten beteiligt hatten. Obwohl er zunächst die Antwort erhielt, dass diese Königinnen keine Brüder gehabt hätten, wurde später beschlossen, dass sich Sof ’ja doch sowohl mit den schwedischen als auch mit den kaiserlichen Gesandten (die sich zur gleichen Zeit in Moskau befan-
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Bantyš-Kamenskij: Obzor vnešnich snošenij Rossii, Bd. 4. Moskva 1904, S. 200. Über den Ablauf der russisch-schwedischen Verhandlungen in Stockholm 1683 bezüglich der Friedensbekräftigung siehe: Zernack: Studien zu den schwedisch-russischen Beziehungen, S. 127–131. 554 Forsten: Snošenija Švecii i Rossii, in: ŽMNP 325 (1899), S. 50–54. 555 Ulla Birgegård (Hrsg.): J. G. Sparwenfeld’s Diary of a Journey to Russia 1684–87. Stockholm 2002 (= Slavica Suecana, Series A – Publications 1), S. 302, Anm. 464.
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den) treffen durfte. Die Legaten des deutschen Kaisers zeigten sich jedoch unwillig, an einer solchen Aktion teilzunehmen, und waren sogar überrascht, dass die Schweden ihr Einverständnis gegeben hatten, Sof ’ja alleine in Abwesenheit ihrer herrschenden Brüder zu treffen.556 Im Endeffekt erwies sich die symbolische Geste der schwedischen Delegation als durchaus erfolgreich: Die Schweden vermieden jegliche Meinungsverschiedenheiten und erhielten am 2. Juni die erwünschte Friedensbekräftigung von beiden Zaren. Anscheinend spielten Kochs Aufzeichnungen über die Machtposition von Sof ’ja am Moskauer Hof eine nicht geringe Rolle bei den Entscheidungen der schwedischen Delegation.557 Mit der Friedensbestätigung 1684 wurde in der langen Geschichte der russisch-schwedischen Streitigkeiten des 17. Jahrhunderts schließlich ein Punkt gesetzt, zumindest für die kommenden 16 Jahre bis zum Ausbruch des großen nordischen Krieges im Jahr 1700 unter Peter dem Großen. Eine Schlüsselfigur beim Zustandekommen der Friedensratifikation, die v. a. durch die erfolgreiche und effiziente Übermittlung von wichtigen politischen Informationen aus Russland nach Schweden ermöglicht wurde, war ohne Zweifel Christof Koch, der nicht ohne seine verdiente Belohnung blieb. 1683, wahrscheinlich nach seiner Rückkehr aus Russland, wurde Koch in den Adelsstand unter dem Namen von Kochen erhoben.558 Während der 1680er-Jahre erfüllte er noch einige weitere diplomatische Aufträge in Moskau und 1690 bekam er den Burggrafentitel in Narva. Nach einer durchaus erfolgreichen Karriere starb Christof von Kochen 1711 in Stockholm. Sein Sohn, Johan Henrik von Kochen, stieg auf der Karriereleiter noch weiter als sein Vater auf und wurde in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts zu einer wichtigen Person der schwedischen Politik und Diplomatie.559 4.7 Polen-Litauen Die diplomatischen Beobachter aus vielen europäischen Staaten interessierten sich, wie bislang deutlich wurde, für die Moskauer Ereignisse hauptsächlich in Bezug auf die große europäische Politik und die Allianzkonstellationen. Schweden verfolgte die
556 Relationer til K. Christian den femte, S. 185–187; über diese Episode siehe auch: Bushkovitch: Peter the Great, S. 146; Hughes: Sophia, „Autocrat of All the Russias“, S. 277. Vgl. die Aufzeichnungen des Hofjunkers der schwedischen Gesandtschaft Johan Gabriel Sparwenfeld über das Treffen der Gesandten mit Sof ’ja und über die Verwunderung der kaiserlichen Legaten in seinem Reisetagebuch: Birgegård (Hrsg.): J. G. Sparwenfeld’s Diary, S. 173–175. 557 Vgl. außerdem Sparwenfelds Aufzeichnungen in seinem Reisetagebuch über das Gespräch mit dem russischen pristav der Gesandtschaft Miron Grigor’evič am 5. April 1684. Der Russe erzählte über Sof ’ja, dass „niemand etwas – eine Stelle oder Ähnliches – bekommen kann, ohne zuerst eine Audienz bei ihr zu haben“, Birgegård (Hrsg.): J. G. Sparwenfeld’s Diary, S. 121–123. 558 Zernack: Studien zu den schwedisch-russischen Beziehungen, S. 140. 559 Svenskt biografiskt lexikon, Bd. 21. Stockholm 1977, S. 439.
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Entwicklung der Strelitzen-Unruhe außerdem in Hinblick auf die Entlastung der eigenen Ostgrenze von der potenziellen Gefahr einer militärischen Auseinandersetzung mit Russland. Die Natur des polnisch-litauischen Interesses war jedoch anders: Wie zu Beginn des Jahrhunderts, während der Zeit der Wirren, beobachtete die polnische Krone die Unruhen im östlichen Nachbarreich mit großer Aufmerksamkeit und erwog die Möglichkeit, sich in die entstandene Lage einzumischen, um eigenen Nutzen aus der Situation zu ziehen. Wie bereits in vorhergehenden Kapiteln angedeutet, war die polnische Intention, „im Trüben zu fischen“, wie Johann van Keller es formulierte, den anderen Teilnehmern der diplomatischen Kommunikation gut bekannt. So berichtete beispielsweise der Däne Hildebrand von Horn nach seiner Ankunft in Russland im Oktober 1682 vor Moskauer Bojaren darüber. Zunächst benötigte der polnische Königshof verlässliche Informationen über die Ereignisse im Moskauer Reich. Die polnischen Nachrichten über die Strelitzen-Revolte wurden bereits angerissen, weil Brandenburg-Preußen und Frankreich sie in ihren Beobachtungen als Informationsquelle heranzogen. Wie im Folgenden gezeigt wird, spielte sich im Jahr 1682 an der russisch-polnischen Grenze sowie in den Städten Moskau, Warschau und Jaworow geradezu ein Spionagedrama ab, weshalb der Fokus nun auf der Auswertung des polnischen Kommunikationsnetzwerks, seiner Akteure und dessen Effizienz liegt. Im Frühjahr 1682, als Zar Fedors Gesundheit immer schlechter und die Frage nach seinem Nachfolger akut wurde, hatte die polnische Krone keinen offiziellen diplomatischen Vertreter in Russland. Wie es jedoch schon in anderen Fällen zu sehen war, gab es neben den Berichten eines offiziellen Residenten aber durchaus andere Wege zur Informationsübermittlung. Die sozio-kulturellen Verbindungen zwischen dem Moskauer Reich und Polen-Litauen waren im ausgehenden 17. Jahrhundert besonders stark. Im Dienst des russischen Zaren befanden sich nicht wenige Adlige polnischer Herkunft, sogar die erste Frau Fedors, Agaf ’ja Grušeckaja, kam aus einer polnischstämmigen Familie. Auch die reisenden Kaufleute waren für die Überbringung von Nachrichten gut geeignet. Zwar war die offizielle staatliche Postroute zwischen Moskau und Vilnius seit 1681 aus ökonomischen Gründen nicht mehr in Betrieb,560 der Beauftragung von privaten Kurieren stand jedoch nichts im Wege. Als besonders aktiv auf dem Informationsfeld erwies sich beispielsweise der große litauische Hetman Jan Kazimierz Sapieha, der dem polnischen König Jan Sobieski bereits im Juli 1682 seine Bereitschaft signalisierte, wöchentlich Nachrichten über die Lage in Moskau zu übersenden.561 Um den terminus ante quem festzustellen, wann die Information über den Strelitzen-Aufstand den polnischen König hat erreichen können, wenden wir uns einer Quelle zu, die heute im Archiv des Vatikan aufbewahrt wird und bereits 1859 publiziert wurde.562 Es handelt sich um die italienischen Briefe des päpstlichen Nuntius in War560 Šamin: Kuranty XVII stoletija, S. 93. 561 Kočegarov: Reč’ Pospolitaja i Rossija, S. 133. 562 Theiner (Hrsg.): Monuments historiques, S. 236–238.
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schau, Opicio Pallavicini, die er im Jahr 1682 an den Kardinal Alderano Cibo in Rom sandte.563 Augustin Theiner publizierte 1859 alle zwölf Briefe, die zwischen Juni und Dezember 1682 geschrieben worden waren. Pallavicini interessierte sich hauptsächlich für die internationalen Beziehungen und Spannungen zwischen den drei Großmächten Ost- und Südosteuropas – Polen-Litauen, dem Osmanischen Reich und Russland – und besprach in diesem Zusammenhang auch die innenpolitische Lage in Moskau. Im Brief vom 1. Juli (n. S.) meldete er Zar Fedors Tod und erwähnte, dass drei Kandidaten für die Wahl des neuen Herrschers zur Verfügung stünden: der einjährige Sohn des Verstorbenen und zwei seiner verbliebenen Brüder. Auf den Thron sei jedoch der jüngere Bruder unter der Regentschaft seiner Mutter gesetzt worden. Dabei ist es offensichtlich, dass Pallavicini mit sehr ungenauen Nachrichten und Gerüchten operieren musste, weil Fedor keinen Sohn hinterlassen hatte.564 Im Brief vom 8. Juli (n. S.) gab der Nuntius einen sehr verworrenen kurzen Bericht über das Mai-Massaker wieder: Der ältere Prinz, so Pallavicini, sei mit einigen Bogenschützen („arcieri“) in den Moskauer „Senat“ gekommen, um gegen die Inthronisation seines jüngeren Bruders zu protestieren. Dort sei er von den Brüdern der Mutter des Zaren angegriffen worden (womit ohne Zweifel die Naryškins gemeint sind), weswegen die „Bogenschützen“ die Angreifer massakrierten. In weiteren Sommerbriefen (vom 15. Juli und 5. August, alle n. S.) konnte Pallavicini keine weiteren Details über das Geschehene mitteilen und vermerkte nur, dass „wie man es vernehmen kann, gibt es eine interne Verwirrung“565 in Russland. Er fügte noch hinzu, dass Zar Fedor angeblich vergiftet worden sei, und dass dies seiner Stiefmutter (also Natal’ja Naryškina) Machwerk gewesen sein musste. Erst in den Briefen vom 30. September, 21. Oktober und 4. November (alle n. S.) folgten etwas konkretere Angaben. Hier erwähnt Pallavicini, dass hinter dem Tumult in Moskau die Leibgarde des Zaren, „Strelitzen genannt“ („che chiamisi de’ Strillizzi“), stünden. Der Nuntius berichtet weiter, dass die Strelitzen die russische Hauptstadt unter Kontrolle gebracht und dem Zaren ihre Macht- und Geldforderungen diktiert hätten. Außerdem hätten sie „den alten Covaski“ (offenbar Ivan Chovanskij) als ihren Anführer gewählt sowie die verhassten Bojaren und „Bauern“ („villani“) niedergemetzelt. Im Brief vom 4. November geht Pallavicini auf die Intentionen der Rebellen ein und unterstreicht, dass die Strelitzen selbst die Absicht gehabt haben, in den Bojarenrang erhoben zu werden. Erst am 9. Dezember (n. S.) wurde die Nachricht nach Rom übersandt, dass „die Verschwörung der Prätorianer geschlagen“ worden sei.566 Laut Pallavicini seien 3000 Strelitzen von den zarischen Truppen getötet worden, der Rest
563 Über die Charakteristik der Quelle vgl. auch Galanov: Političeskaja bor’ba, S. 41–43. 564 Es ist jedoch interessant, dass auch Christof Koch in seinen Mai-Briefen die Falschmeldungen über die Schwangerschaft der letzten Frau Fedors erwähnte. 565 „Convien però credere esservi qualche commotione interna“, Theiner (Hrsg.): Monuments historiques, S. 237. 566 „[…] la seditione de’ pretoriani è estinta“, ebd., S. 238.
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sei aus Moskau an entfernte Orte an der russisch-polnischen und russisch-schwedischen Grenze verbannt worden. Für uns ist wichtig, dass Pallavicini selbst die Quellen seiner Informationen nennt. Über Fedors Tod erfuhr er z. B. aus verschiedenen Nachrichten („avvisi“) sowohl aus Königsberg als auch aus Litauen („altri avvisi di Lituania“). Seine Hauptquelle war jedoch der polnische königliche Hof selbst und dessen Agenten. Der Nuntius war anscheinend gut informiert über die Handlungen der polnischen Regierung: So schreibt er beispielsweise am 8. Juli, dass „Ihre Majestät eine geschlossene Sitzung betreffend den Frieden zwischen der Pforte und Moscovia organisiert hat“. Am 1. Juli erwähnt Pallavicini, dass „der König eine gewisse Person nach Moscovia geschickt hat, um die Entwicklungen zu beobachten und über die Angelegenheiten der neuen Regierung zu berichten“.567 Der Nuntius gehörte anscheinend zum Vertrautenkreis des polnischen Königs – genauso wie es oben im Falle des französischen Botschafters de Vitry dargestellt wurde – und leitete die Nachrichten nach Rom weiter, mit denen der polnische Hof ihn versorgte. Aus Pallavicinis Briefen wird ersichtlich, dass es einen oder mehrere polnisch-litauische Agenten auf dem russischen Territorium gab, die die polnische Krone mit Informationen versorgten. Der Nuntius erwähnt mehrmals „die Briefe aus Moscovia“ mit aktuellsten Nachrichten; am 1. Juli berichtet er, dass der litauische „Vizekanzler“ über Fedors Tod mündlich durch einen Boten seines Agenten in Russland informiert worden sei. Am 11. November (n. S.) schrieb Pallavicini sogar ausdrücklich, dass „ein Edelmann von den Grenzen zu Moscovia zum König gekommen ist, um Nachrichten von dort zu überbringen“.568 Es ist heute möglich zu erfahren, welche Informationen genau in diesen „Briefen aus Moscovia“ standen. Im Vatikanischen Archiv befinden sich zusammen mit Pallavicinis Briefen zwei anonyme Berichte in lateinischer Sprache, die angeblich von einem oder mehreren polnischen Agenten aus Russland im Jahr 1682 verschickt wurden.569 Die Vermutung liegt nahe, dass es sich bei diesen Dokumenten um die Übersetzungen handelt, die Pallavicini selbst von den originalen polnischen Briefen anfertigte und nach Rom übersandte. Der erste Bericht ist auf den 30. Mai 1682 datiert570 und wurde 567 „Il rè ha mandato in Moscovia qualche persona per osservar gl’ andamenti, et a che si mettano le cose del nuovo governo“, ebd., S. 237. 568 „È venuto al rè da’ confini della Moscovia un nobile per portarli le notitie seguenti rintracciate dallo stesso“, ebd., S. 238. 569 Diese Berichte, ebenso wie Pallavicinis Briefe, gehören der Archivsammlung Nunziatura di Polonia vol. 102 an und wurden in der gleichen Ausgabe von 1859 publiziert: ebd., S. 239–242. Der Herausgeber Augustin Theiner bezeichnete sie pauschal als „Berichte eines offiziellen polnischen Gesandten aus Moskau“, jedoch, wie gezeigt wurde, gab es keinen offiziellen polnischen Diplomaten in Russland in der Zeit. 570 Bei der Edition wurde dieser erste Bericht verwirrenderweise mit der Überschrift „Moscuar, 30. Maji 1683 [!]“ eingeleitet, obwohl am Ende desselben Dokuments definitiv das Datum 1682 und nicht 1683 steht. Der Inhalt des Dokuments macht es deutlich, dass der Bericht sehr zeitnah zum Mai-Aufstand geschrieben worden sein musste, d. h. bereits im Mai 1682.
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in Moskau verfasst. Er beschreibt lakonisch die miserable („miserrimus“) Lage in der russischen Hauptstadt kurz nach dem Aufstand: Sechs Tage lang haben die Aufständischen ihre Tyrannei und Grausamkeit ausgeübt.571 Die Revolte sei ausgebrochen, nachdem die Zarenkrone dem älteren Prinzen „Joannem Alexiovicz“ verweigert worden war. Die Regierung seines jüngeren Bruders konnte jedoch nicht genügend Geld für die Auszahlung an die Strelitzen („praetoriani“) akkumulieren, und sie hätten in ihrer Wut viele „Magnaten“ und sogar den ältesten Onkel des Zaren Peter (offensichtlich Ivan Naryškin) umgebracht. Der Autor des Berichts resümiert, dass die Feindschaft zwischen den Fraktionen von Ivan und Peter in Zukunft noch zunehmen würde. Der zweite Bericht ist auf den 20. September 1682 datiert und deutlich länger.572 Er ist mit einer Überschrift versehen – Causae et motiva crudeli morte peremptorum procerum, officialium et patrum conscriptorum in metropoli Moschuae – und geht tatsächlich sehr ausführlich auf die Ursachen und Hintergründe der Rebellion ein. Im Unterschied zu bisher analysierten Quellen sah der polnische Agent die Gründe für den Aufstand jedoch nicht in der Ungerechtigkeit, der Armut und der Unterdrückung, unter denen die Strelitzen leiden mussten, sondern vielmehr in politischen Intrigen innerhalb des Zarenhofes und der Zarenfamilie. Die Erzählung beginnt in der Regierungszeit des Zaren Aleksej Michajlovič und beschreibt den rasanten Machtaufstieg von Aleksejs Günstling Artemon Matveev. Laut dem Bericht habe Matveev noch nach Aleksejs Tod 1676 versucht, seinen Protegé – carevič Peter Alekseevič – zum Zaren zu erklären und dabei mit der schwachen Gesundheit Fedors und Ivans argumentiert. Dieser Versuch sei jedoch gescheitert und Matveev sei aus Moskau verbannt worden. Gegen Ende von Fedors Regierung sei er jedoch wegen seiner Talente zur Staatsverwaltung aus dem Exil zurückgerufen worden. Da sich Fedor wegen seiner Vorliebe für die polnische Kultur unter den Bojaren verhasst gemacht habe, stellten diese sich diesmal auf Matveevs Seite und erklärten Peter zum Thronfolger. Dagegen habe jedoch Fedors und Ivans Schwester Sof ’ja protestiert. Sie habe das Gerücht verbreitet, dass Artemon Aleksej vergiftet habe und selbiges auch mit Fedor plane, und die Strelitzen vom Palastfenster aus zur Hilfe aufgerufen. Die weiteren Details des Aufstands werden im Bericht teilweise sehr verworren wiedergegeben. Die Strelitzen seien in den Kreml gestürmt, wo die erschrockenen Bojaren Ivan unter diesem Druck sofort zum Zaren erklärten. Erst danach habe der Streit zwischen Ivan und einem der Naryškins stattgefunden: Letzterer habe die Zarenkrone aus Spaß und Prahlerei auf seinen Kopf gesetzt, wofür er von dem Bojaren Odoevskij und sogar von Ivan selbst beschimpft worden sei,
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Diese Anmerkung lässt vermuten, dass der Bericht nach dem neuen Stil datiert ist. 30. Mai n. S. entspricht dem 20. Mai a. S., und der Aufstand der Strelitzen begann am 15. Mai a. S., also genau sechs Tage vor dem Verfassen des Berichts. Dieser zweite Bericht wurde noch 1835 ins Russische übersetzt, siehe: Povestvovanie o moskovskich proišestvijach po končine carja Alekseja Michajloviča, in: ŽMNP 5 (1835), S. 69–82.
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was das Massaker ausgelöst habe. Die Bojaren seien aus der Stadt geflohen und überließen Moskau damit der Wut der geldgierigen Strelitzen. Am Ende des Berichts folgt noch eine kurze Beschreibung der aktuellen Lage in Moskau und in Russland im Allgemeinen. Der Autor skizziert das generelle Chaos: Die Strelitzen halten die Hauptstadt unter Kontrolle und erklären Chovanskij zu ihrem Anführer. Seine Macht über die Rebellen sei jedoch illusorisch. Die beiden Zaren seien zusammen mit Sof ’ja nach Kolomenskoe geflohen und versuchen, Kräfte für einen Angriff gegen die Rebellen zu sammeln. Die Baschkiren und Kalmyken plündern die Gegend bei Kasan’; die Donkosaken seien unzufrieden, weil sie ihren Dienstlohn nicht rechtzeitig ausgezahlt bekommen haben. Diese Beschreibung spiegelt die Lage im Moskauer Reich in den ersten Septemberwochen vor Chovanskijs Hinrichtung am 17. September ziemlich genau wider, was zu der Vermutung führt, dass dieser zweite Bericht des polnischen Agenten ebenfalls nach dem neuen Stil datiert ist: 20. September 1682 n. S. = 10. September 1682 a. S. Der Ort der Abfassung bleibt unklar. Zu der Frage der Autorenschaft der beiden Berichte werden wir am Ende dieses Kapitel zurückkehren, an dieser Stelle ist es erst einmal wichtig, den chronologischen Rahmen der Berichterstattung der polnischen Agenten zu präzisieren. Pallavicini erwähnte die Wirren in Moskau erst in seinen Briefen von Anfang Juli, und der erste Bericht des polnischen Agenten in Moskau wurde am 20./30. Mai verfasst. Die polnische Regierung erfuhr also über die Moskauer Ereignisse im Juni, am wahrscheinlichsten gegen Mitte des Monats.573 Diese ersten Meldungen waren noch sehr ungenau, was die polnische Krone dazu zwang, Weiteres zu veranlassen, um mehr Information zu bekommen. Gleichzeitig wurde versucht, die instabile Lage im Moskauer Reich auszunutzen, um die polnischen Interessen in der linksufrigen Ukraine voranzutreiben. Wie der französische Botschafter und Vertraute des polnischen Königs, Marquis de Vitry, in seinem Brief vom 7./17. Juli 1682 schreibt: „Wir betrachten diese Situation als die günstigste, die Polen sich wünschen könnten, um alles wiederzugewinnen, was die Moskowiter von diesem Königreich besetzt haben, wenn wir nur in der Lage wären, die im dortigen Land herrschenden Unruhen auszunutzen“.574 Die polnische Propagandaaktion in der Ukraine im Zusammenhang mit der Strelitzen-Rebellion erwähnt der russische Historiker des 19. Jahrhunderts, Sergej Solov’ev, kurz in seinem monumentalen Werk über die Geschichte Russlands.575 Erst in letzter Zeit wurde die Episode der Aussendung von Agenten des polnischen Königs in die linksufrige Ukraine ausführlich in der Monografie von Kirill Kočegarov beleuchtet.576
573
Der fransösische Botschafter de Vitry gab die Nachricht über die angebliche Vergiftung von Fedor Alekseevič bereits in seinem Brief vom 16./26. Juni wieder. 574 AE Pologne, t. 73, Bl. 270v–271. 575 Solov’ev: Istorija Rossii, S. 365–367. Vgl. außerdem die Darstellung dieser Episode im Buch: Zbigniew Wójcik: Jan Sobieski 1629–1696. Warszawa 1983, S. 304–307. 576 Kočegarov: Reč’ Pospolitaja i Rossija, S. 105–123.
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Die Aktion wurde in den ersten Juliwochen 1682 sorgfältig geplant und vorbereitet. König Jan Sobieski und der Feldhetman der polnischen Krone, Stanisław Jabłonowski, hatten weitreichende Pläne: Sie zielten darauf ab, die Kosaken auf dem linken Dnepr-Ufer zum Treuebruch gegenüber dem Moskauer Zaren zu überreden und sie wieder ins polnische Protektorat aufzunehmen. Die Propaganda sollte gleichzeitig sowohl im Kosakenheer als auch unter dem ukrainischen Klerus betrieben werden. Für die Ausführung dieser delikaten Aufgabe wurden besonders vertrauenswürdige Personen ausgewählt: ein beim polnischen königlichen Hof erzogener und in den Adelsstand erhobener Kosake, Vasilij Iskrickij, der Bischof von L’vov, Iosif Šumljanskij, und der protopop von Belaja Cerkov’, Semёn Zaremba. Die königlichen Briefe, adressiert an die Kosaken der Saporoger Sitsch, wurden außerdem dem Kosaken Jakov Vorona überreicht, der sich zu dieser Zeit am königlichen Hof aufhielt.577 Der polnische König setzte große Hoffnung darauf, dass die linksufrigen Kosaken und v. a. ihr Offizierskorps mit ihrem Hetman Ivan Samojlovič unzufrieden wären. Denn Samojlovič verfolgte in der Ukraine eine moskautreue und stark antipolnische Politik und hatte unter den kosakischen staršiny nicht wenige Feinde. Daher wurde die angebliche Tyrannei des Hetmans gegenüber den einfachen Kosaken in den Instruktionen an die verschickten Agenten besonders unterstrichen. In denjenigen für Šumljanskij wurde z. B. erwähnt, dass Samojlovič „die Kosaken auszurotten sucht“.578 Der polnische Hof versuchte gleichzeitig Kontakte mit Samojlovičs Gegnern aufzubauen: In der Instruktion für Iskrickij vom 31. Juli (n. S.) wurde ganz bewusst Ivan Mazepa als eine wichtige Ansprechperson betont, weil dieser vom Übertritt in den polnischen Dienst überzeugt werden sollte. Die Argumente, mit denen die polnischen Agenten die Kosaken und den Klerus in der Ukraine ansprechen sollten, beinhalteten hauptsächlich zwei große Themenbereiche. Zum einen sollte die besondere Gnade und Zuneigung des polnischen Königs gegenüber dem Kosakenheer und dem orthodoxen Glauben dargestellt werden. Es wurde unterstrichen, dass sich der König immer um die Verteidigung der Ukraine gegen ihre Feinde und um den Wohlstand der Kosaken gekümmert habe. Zum anderen sollte Moskaus Politik und Verhalten gegenüber dem Kosakentum und der Ukraine, und besonders das Versagen der russischen Armee im letzten Krieg gegen die Türken, stark kritisiert und beschmutzt werden. Moskau habe den polnischen König im Krieg gegen die Türken 1672 bis 1676 im Stich gelassen und dadurch das Christentum verraten. Nach dem Waffenstillstandsabkommen von Bachčisaraj 1681 habe die russische Regierung, so die Instruktionen, die Hälfte der Ukraine unter das osmanische Joch gebracht. Insgesamt sollten die Agenten betonen, dass Moskaus Politik die traditionellen kosakischen Freiheiten bedrohe und die Kosaken zu unfreien Leibeigenen mache.
577 Ebd., S. 108–109. 578 Solov’ev: Istorija Rossii, S. 365.
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Die Moskauer Wirren wurden in diesem Zusammenhang als gerechte Strafe Gottes für begangene Sünden gedeutet: Die Bojaren hätten den Zaren Fedor, der sich für die polnische Sache einsetzen wollte, vergiftet, und nun sei Moskau in eigenem Blut versunken. Der genaue Charakter des Konflikts am Moskauer Hof war für die polnischen Behörden im Juli allem Anschein nach noch sehr unklar. So wurden die Ereignisse in der russischen Hauptstadt in der Instruktion für Iskrickij als eine Fehde zwischen dem „jetzigen Zaren und den Prinzessinnen, die Ehemänner und die Teilung des Reiches fordern“, beschrieben.579 Die Propagandaaktion der polnischen Agenten hatte keinen Erfolg, nicht zuletzt aufgrund der Tatsache, dass die ausgesandten Spione selbst dem Hetman Samojlovič über ihre Mission berichteten. Iosif Šumljanskij entsandte im Juli 1682 insgesamt vier Mönche mit geheimen Briefen an die Kosaken in die linksufrige Ukraine. Einer von ihnen – Iona Zarudnyj – ging nach seiner Ankunft in Kiew direkt zu Samojlovič. Ein anderer – Feodosij Chrapkevič – wurde dank der Aussage von Semёn Zaremba (dem „Vertrauten“ der polnischen Krone) am 4. August festgenommen. Die Kontaktpersonen von Vasilij Iskrickij denunzierten die polnischen Pläne ebenfalls beim Hetman.580 Auch die Kopien der mit Jakov Vorona verschickten Briefe wurden nach Moskau weitergegeben.581 Das Fiasko der polnischen Aktion und das Abfangen der Briefe in der Ukraine („in Zaporoze et Sievierze“) erwähnt der anonyme polnische Agent in Russland in seinem Bericht vom 20. September.582 Die zweite Richtung der polnischen Spionageanstrengungen betraf die russisch-polnische Grenze bei Smolensk. In dieser Stadt, die russische Truppen im russisch-polnischen Krieg 1654 erobert hatten, hoffte die polnische Krone viele Sympathisanten (v. a. unter den dortigen Katholiken) zu finden. Es wurde beschlossen, den königlichen Sekretär Stanisław Bętkowski in den an der Grenze gelegenen Ort Kadino zu schicken. Offiziell sollte Bętkowski auf alle Fragen antworten, dass er nur als Bote zum Zarenhof nach Moskau reiste. In Wirklichkeit wurde er jedoch mit Spionage- und Propagandaaufgaben betraut, die in seiner Instruktion, datiert auf den 20. Juli 1682 (n. S.), detailliert beschrieben wurden.583 Sie gibt sehr gut Auskunft darüber, was genau der polnische Königshof über die Lage in Moskau wissen wollte, und über welche Infor-
579 Kočegarov: Reč’ Pospolitaja i Rossija, S. 108–109. 580 Ebd., S. 117–120. 581 Vgl. die im Moskauer Gesandtschaftsamt angefertigten russischen Übersetzungen dieser Briefe in: RGADA, fond 79, opis’ 1, 1682, Nr. 7. 582 Theiner (Hrsg.): Monuments historiques, S. 242. Vgl. auch die Erwähnung darüber in Pallavicinis Brief aus Warschau vom 21. Oktober, ebd., S. 238. 583 Die Kopie der originalen polnischen Instruktion ist in polnischen Archiven erhalten geblieben, siehe: Kočegarov: Reč’ Pospolitaja i Rossija, S. 123. Für das Zitieren der ausgewählten Stellen aus der Instruktion wird hier ihre russische Übersetzung, die 1683 im Moskauer Gesandtschaftsamt angefertigt wurde (siehe darüber ausführlicher unten), benutzt. Diese Übersetzung befindet sich heute in RGADA, fond 79, opis’ 1, 1682, Nr. 8.
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mation er bereits Mitte Juli verfügte. So wusste Jan Sobieski nicht nur über Fedors Tod Bescheid, sondern vermutete sogar, dass der Verstorbene gerade Ivan zu seinem Nachfolger erklärt hatte, und dass Peter (oder vielmehr seine Anhänger) seinen Halbbruder mit Gewalt vom Thron verdrängt hatte.584 Dies habe den Konflikt zwischen den Verwandten der beiden Brüder provoziert, so die Vermutung der Instruktion, und zur Rebellion geführt. Besonders interessant ist, dass der polnische König ausgerechnet carevna Sof ’ja als Urheberin der Revolte vermutet: „Ich nehme an, dass carevna Sof ’ja am Anfang dieser Sache stand.“585 Vieles war jedoch am polnischen Hof noch unbekannt. Bętkowski sollte z. B. herausfinden, ob Fedor einen Sohn aus erster Ehe hinterlassen hatte. Es war auch unklar, wer genau im Moment in Russland regierte: Peter, Ivan oder beide Brüder zugleich. Sogar Peters Schicksal nach der Rebellion war der polnischen Regierung nicht bekannt: „Ob carevič Peter am Leben ist, und ob sich seine Mutter im Palast oder in einem Kloster befindet – das sollen Sie herausfinden können.“586 „Und es passiert in Moskau häufig, dass der Tod der Prinzen verheimlicht und erst bei späterer Gelegenheit verkündet wird“,587 fügt der Instruktionstext hinzu. Bętkowski sollte überdies konkrete Informationen über die Zahl und Namen der im Aufstand ermordeten Bojaren sowie über die neuen Machtkonstellationen in der Moskauer politischen Elite beschaffen. Der König interessierte sich außerdem für die Forderungen der Strelitzen, die Namen ihrer Anführer und ihre Militärmacht sowie die Resonanz der Moskauer Ereignisse in russischen Grenzgebieten und die Frage, ob die ukrainischen und donischen Kosaken sowie die Diensttataren der zentralen Regierung treu geblieben waren. Insgesamt war die polnische Seite der Meinung, dass noch weitere Tumulte im Nachbarland zu erwarten seien: „Wenn zwei Prinzen leben, dann passiert es, dass einige Bojaren den einen und einige den anderen vorziehen, und es ist unwahrscheinlich, dass dafür nach dem vergossenen Blut keine Rache genommen wird.“588 Einen sehr wichtigen Punkt in Bętkowskis Mission war die Aufgabe, Spionage und Propaganda unter der Bevölkerung der Stadt Smolensk zu betreiben. Bętkowski sollte deswegen zuerst herausfinden, wie die Stimmung in Smolensk insgesamt war, danach sollte er Kontakte mit dem dortigen propolnischen Adel knüpfen. Anschließend sollte er die Idee in die Köpfe seiner Gesprächspartner einpflanzen, dass es für sie jetzt angesichts der Unruhen im Moskauer Reich besser wäre, sich unter die polnische
584 „Петр его затерл насильными способы“, RGADA, fond 79, opis’ 1, 1682, Nr. 8, Bl. 7. 585 „Софию царевну полагаю в начале того дела“, ebd. 586 „Петр царевич жив ли, или мать его в полатах ли, или в страрицах, о всем дабы есмы возмогли ведать“, ebd., Bl. 8. 587 „А что многажды бывает на Москве, что смерти царевичей таят, а потом случаем их объявляют“, ebd., Bl. 12. 588 „Когда два царевича живут, тогда прилучается междо бояры, что одни одного, другие другого любят, и не подобно, чтоб когда ни есть за пролитую кровь отместь не учинилась“, ebd.
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Protektion zu stellen.589 Selbstverständlich versprach der König solchen ‚Renegaten‘ seine besondere Gunst und eine solide finanzielle Belohnung. Bętkowski selbst sollte während seiner Mission besondere Vorsicht walten lassen, um von den Russen nicht gefangen genommen zu werden. Alle seine Treffen sollte er auf offenem Feld an der Grenze organisieren, um Hinterhalte zu vermeiden; die königliche Instruktion sei mit großer Sorgfalt im Haus aufzubewahren. Am 13./23. August kam Bętkowski in Kadino an. Ausführliche Information über die Geschehnisse in Moskau zu sammeln, erwies sich als eine schwierige Aufgabe. Im Brief vom 2./12. September beklagt der Sekretär, dass er noch nichts Konkretes erfahren konnte.590 Seine Instruktion schrieb ihm genau vor, welche ‚vertrauenswürdigen‘ Personen er in erster Linie kontaktieren sollte. Hier machte der polnische Hof noch einmal den gleichen Fehler wie bereits zuvor in der Ukraine: Zwei der Kontaktpersonen – der Gouverneur von Kadino, Avgustin Konstantinovič, und ein Smolensker Adliger, Nazarij Kraevskij, – waren in Wirklichkeit geheime Agenten Moskaus.591 Konstantinovič war ein Vertrauter von Marcjan Ogiński, dem Wojewoden der litauischen Stadt Troki (Trakai) und Anführer des dem polnischen König in Opposition gegenüberstehenden litauischen Adels. Ogiński, der ziemlich prorussische Ansichten vertrat, versorgte Konstantinovič mit Nachrichten über die polnischen Angelegenheiten. Konstantinovič stand wiederum in direktem Kontakt mit Kraevskij, der dann seinerseits alle erhaltenen Neuigkeiten mithilfe der Administration von Smolensk zum Moskauer posol’skij prikaz weiterleitete. Bętkowskis Mission entwickelte sich deswegen anders, als er zunächst angenommen hatte. Am 15./25. September reichte Kraevskij bei dem Wojewoden von Smolensk sein Schreiben ein, in dem er Bętkowski zum ersten Mal erwähnte.592 Kraevskij berichtet, dass Konstantinovič ihm einige Tage zuvor von einem verdächtigen polnischen königlichen Boten erzählt habe. Bętkowski und Kraevskij seien dann beide in Konstantinovičs Haus zum Mittagessen eingeladen worden, wo der königliche Sekretär begonnen habe, Kraevskij auszufragen:
589 Vgl. in diesem Zusammenhang die Bemerkung des französischen Botschafters de Vitry im Brief vom 31. Juli 1682 (n. S.), dass der polnische Königshof enttäuscht darüber sei, wie passiv sich der Adel von Smolensk angesichts der Situation verhielt: „Es ist wahr, dass der Adel aus der Umgebung von Smolensk, der jetzt Moskowitern unterstellt ist, aber aus Polen stammt und immer die Zuneigung zum Vaterland hatte, während all dieser großen Aufstandsbewegungen in Moskowien nichts zum Vorteil dieses Königreichs tat“, in AE Pologne, t. 73, Bl. 285. 590 Kočegarov: Reč’ Pospolitaja i Rossija, S. 127. 591 Gerade Kraevskij wurde in der Instruktion als der treueste polnische Sympathisant gelobt. In der Kopie der Instruktion, die Kraevskij im August 1683 nach Moskau weiterleitete, wurde natürlich jede Erwähnung seiner Treue gegenüber dem polnischen König vorsorglich weggelassen, siehe: ebd., S. 124. 592 RGADA, fond 79, opis’ 1, 1682, Nr. 2, Bl. 27.
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Und [er] fragte mich mit allen freundlichen Worten über die Moskauer Nachrichten, und ich sagte, dass es mit Gottes Gnade kein Übel in Moskau gibt, und was geschehen ist, ist schon vorbei, und das Moskauer Reich wird durch Gottes Willen wegen des Todes von Dutzenden Menschen nicht scheitern. Den Verstorbenen – ewiges Andenken, aber ihre Stellen werden ja neu besetzt. Aber er glaubte nicht daran, und fragte mich zum zweiten Mal, und dann zum dritten, und ich habe ihm unter Eid immer das gleiche erzählt. Und er, schon leicht betrunken, wunderte sich darüber und sagte: Bei uns hört man, und das werde dem König berichtet, dass ganz Moskau vom Pöbel verwüstet ist, und die großen Herrscher mit ihrer ganzen Familie zum Weißen Meer geflohen sind, und dass die kalmykischen und baschkirischen Tataren den Krieg begonnen und viel Land erobert haben, und alle Bojaren und Bojarenkinder weg sind. Und ich antwortete ihm, dass das alles Lüge ist […].593
Außerdem erzählte Bętkowski über einen čerkašenin (d. h. Kosake) namens Norova (sic!), der dem polnischen König die Nachrichten über die Moskauer Wirren und die Schwankungen unter den ukrainischen Kosaken überbracht haben soll.594 Wie das oben angeführte Zitat belegt, nahm Kraevskij im Gespräch mit Bętkowski eine Position ein, die uns sehr an die Haltung der nach Europa entsandten russischen Kuriere zu Beginn dieses Kapitels erinnert – die Verneinung jeglicher Unruhen innerhalb des Russischen Reiches. Insgesamt äußerte Kraevskij in seinem Brief die starke Vermutung, dass Bętkowski „ein Spion“ sei.595 Nazarij Kraevskij war natürlich nicht der einzige Smolensker Adlige, den Bętkowski im Rahmen seiner geheimen Mission kontaktieren musste. Die königliche Instruktion erwähnte z B. gewisse „Brüder Švejkovskie“, die der polnischen Krone „schon immer sehr geneigt waren“.596 In seinem nächsten Brief vom 25. Oktober erzählt Kraevskij, dass Bętkowski außer seiner Bekanntschaft noch den Kontakt zu einem anderen šljachtič (d. h. Adligen) namens Kazimir Voronec gesucht habe. Außerdem vermerkt Kraevskij im gleichen Brief, dass Bętkowski in der letzten Zeit sehr misstrauisch ihm gegenüber geworden sei, und vermutet, dass jemand dem königlichen Sekretär über seine Kontakte zu Moskau ins Ohr geflüstert habe. Dass die polnische Krone durchaus mehrere Informanten hatte, beweist das Gespräch zwischen Kraevskij, Konstantinovič und Bętkowski am 7./17. Oktober, währenddessen Letzterer erneut nach den Details der „Moskauer Verwüstung“ (moskovskoe razorenie) fragte und beiläufig erwähnte, dass er bereits von Chovanskijs Enthauptung wisse. Kraevskij erkundigte sich mit Verwunderung bei Konstantinovič: „Wer gibt euch die Nachricht über die Moskauer
593 Ebd., Bl. 35. 594 Sehr wahrscheinlich handelt es sich dabei um den oben erwähnten Kosaken Jakov Vorona. 595 „А я мню, что он, Бетковский, одва не в лазчиках обретается“ („Und ich meine, dass er, Bętkowski, sicherlich ein Spion ist“), ebd., Bl. 38. 596 RGADA, fond 79, opis’ 1, 1682, Nr. 8, Bl. 15–16.
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Neuigkeiten?“ und bekam die Antwort, dass dies „ein Bürger aus Kopys’“ sei, der in Moskau Pferdehandel betrieb.597 Auch eine andere Quelle bestätigt, dass die Informationen über den Strelitzen-Aufstand und Chovanskijs Tod in Polen-Litauen schnell bekannt geworden waren. Ein russischer Bote namens Semёn Djadkin, der im August 1682 zum polnischen König entsandt worden war, berichtete in seinem im März 1683 eingereichten statejnyj spisok über das Gespräch mit seinem polnischen pristav Dylevskij am 20. Oktober 1682. Dylevskij erzählte, dass beide Chovanskijs – Vater und Sohn – unweit von Moskau hingerichtet worden seien, und dass es angeblich zu einer Schlacht zwischen Strelitzen und zarischen Dienstleuten gekommen sei, in der über 4000 Menschen gefallen seien. Als Quelle dieser Nachricht nannte Dylevskij die Post aus der Stadt Dubrovna. Auf dem Weg nach L’vov (Lemberg) hörte Djadkin noch einmal die gleiche Erzählung über Chovanskijs Tod von einem anderen pristav, der noch ergänzte, dass die Schuld von Ivan Andreevič darin bestand, dass er sich zum Herrscher über das Moskauer Reich machen wollte. Anscheinend führte der Pole auch noch weitere „gefährliche“ Gespräche mit dem russischen Boten, auf die Djadkin jedoch in seinem Bericht nicht näher eingehen wollte: „Und er, Okrasa, redete noch weiter, was kein Mensch weder aussprechen noch mit seiner Vernunft begreifen kann, und darüber zu schreiben, ist völlig unmöglich.“598 Die Berichte von Nazarij Kraevskij sowie das Abfangen der polnischen geheimen Instruktionen in der linksufrigen Ukraine alarmierten die Moskauer Regierung. Am 9. September ordnete sie dem noch nicht verhafteten Ivan Chovanskij an, die Strelitzenregimenter aus der Hauptstadt zu Schutzzwecken nach Smolensk, Kiev und Novgorod zu verlegen.599 Gleichzeitig wurden Briefe an die Wojewoden in Provinzstädten versandt mit dem Befehl, die zugänglichen Militärkräfte – Dienstadlige und Soldaten – zu mobilisieren und teils zur Zarenresidenz im Troice-Sergiev-Kloster zu schicken.600 Über die Ankunft eines solchen zarischen Briefes in Novgorod erzählte u. a. der schwedische Informant von Christof Koch in seinem Schreiben vom 18. September. Die Nachricht, dass „der König in Pohlen eine grosse Arme zusammen bringen und Kioff unversehens angreiffen würde“, beunruhigte den Novgoroder Wojewoden sehr.601 Auch der Wojewode von Smolensk bekam im gleichen Monat die Instruktion aus Moskau, „in Smolensk mit großer Vorsicht und Behutsamkeit zu leben und mit allen Mitteln heimlich Informationen über die Nachrichten und die Pläne des polni-
597 RGADA, fond 79, opis’ 1, 1682, Nr. 2, Bl. 65–67. 598 „[…] так ж говорил он Окраса и иные речи, чево нетокмо человеку учинить, но и в разум человеку не вместитца, и написать того ни которыми делы невозможно“, RGADA, fond 79, opis’ 1, Nr. 206, Bl. 12–13, 19–19v. 599 Buganov: Moskovskie vosstanija, S. 271. 600 Buganov/Savič (Hrsg.): Vosstanie v Moskve 1682 goda, S. 300–301. 601 RAS, Muscovitica 604, Brief aus Novgorod vom 18. September 1682.
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schen Königs hinter der litauischen Grenze zu beschaffen“.602 Anscheinend fürchtete die Moskauer Regierung tatsächlich einen Angriff seitens der Polen, obwohl nicht auszuschließen ist, dass die Mobilisierungsbefehle im September 1682 auch ein vorsichtiger Vorwand für das Sammeln von regierungstreuen Truppen gegen die rebellischen Strelitzen waren. Im Herbst 1682 war jedoch der Ausbruch eines russisch-polnischen Konflikts aufgrund der instabilen außenpolitischen Situation in Ostmittel- und Südosteuropa sehr unwahrscheinlich. Im Sommer 1682 stellte sich Imre Thököly – der Anführer der ungarischen Rebellen gegen die Herrschaft der Habsburger – unter die osmanische Suzeränität. Es wurde offensichtlich, dass der Beginn einer neuen türkischen Offensive auf dem Balkan nur eine Frage der Zeit war. Auch Polen-Litauen befand sich im Falle eines osmanischen Vormarsches in unmittelbarer Gefahr. In seinen Briefen vom 30. September 1682 (n. S.) an die polnischen Senatoren widmete Jan Sobieski deswegen die Hauptaufmerksamkeit der türkisch-tatarischen Gefahr.603 Die Ereignisse im Moskauer Reich wurden dagegen nur beiläufig angesprochen. Außerdem war die Idee eines Konflikts mit Moskau bei vielen litauischen Adligen sehr unwillkommen, v. a. in denjenigen Gebieten, die an Russland grenzten und daher von einem Krieg am härtesten getroffen würden. Am 15. Dezember übersandte Kraevskij einen Brief von Marcjan Ogiński nach Moskau, in dem der litauische Magnat sich sehr über das Verhalten des polnischen Königs beschwerte. Die Versuche Jan Sobieskis, den Frieden mit Russland zu brechen, sowie das Entsenden von Bętkowski nach Kadino seien nicht mit Zustimmung „der Senatoren“ geschehen, so Ogiński. Der Wojewode von Troki äußerte in seinem Brief im Gegenteil den Wunsch, in Frieden mit Russland zu verbleiben oder gar ein Bündnis zu schließen. Außerdem betonte er die Nützlichkeit eines dauerhaften Briefkontakts mit Moskau durch Kraevskijs Vermittlung und bedauerte, dass solch eine Verbindung während des Strelitzen-Aufstands nicht möglich gewesen sei, weil „die Strelitzen über diese geheimen Dinge Bescheid wissen wollten“.604 Die neue außenpolitische Situation zwang die polnische Regierung, ihre Pläne bezüglich der Mission von Bętkowski zu ändern. Am 23. Oktober (n. S.) wurde für ihn eine neue königliche Instruktion ausgestellt: Bętkowski sollte sich dem Wojewoden von Smolensk unverzüglich als Bote zum Zarenhof vorstellen und seine Reise nach Moskau fortsetzen. Sein Auftrag dort bestand darin, den Zaren einen Brief des polnischen Königs zu übergeben, in dem Jan Sobieski Ivan und Peter zu ihrer Thronbesteigung gratulierte und das Ausmaß der osmanischen Gefahr in düsteren Farben
602 „[…] жить в Смоленске с великим бережением и осторожностию, и за литовским рубежем о вестях и о замыслах короля польского […] проведывать всякими меры накрепко тайным обычаем“, RGADA, fond 79, opis’ 1, 1682, Nr. 2, Bl. 50–51. 603 Kočegarov: Reč’ Pospolitaja i Rossija, S. 141–142. 604 „Толко не мочно за таким бунтом, которой учинился было на Москве, что и стрельцы тайные дела ведать хотели“, RGADA, fond 79, opis’ 1, 1682, Nr. 2, Bl. 80–85.
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beschrieb.605 Bętkowski erreichte Moskau am 11. Februar 1683.606 Da die russischen Behörden bereits sehr ausführlich über seine Rolle als Spion informiert waren, zeigten sie extreme Vorsicht. So wurde z. B. der Strelitzen-Kapitän Ivan Čertkov, der Bętkowski bei Moskau treffen und eskortieren sollte, detailliert instruiert, den neugierigen Fragen des Boten auszuweichen und keine „unnötigen und unanständigen Unterredungen“ zu führen. Er sollte ebenfalls kontrollieren, dass auch andere eskortierende Strelitzen seiner Kompanie nicht mit dem Polen ins Gespräch kämen.607 Die Information über den „wahren“ Charakter der Mission von Stanisław Bętkowski erhielt die Moskauer Regierung nicht nur von Kraevskij, sondern auch von ihren anderen Agenten und Sympathisanten. Am 10. Februar 1683, also einen Tag vor Bętkowskis Ankunft in Moskau, kam ein russischer Kavallerieoffizier namens Fadej Kryževskij ins posol’skij prikaz. Fadej, der von seinem Wohnort an der russisch-litauischen Grenze bei Smolensk nach Moskau gereist war, berichtete im Prinzip das Gleiche, was bereits aus Kraevskijs Briefen bekannt war: die Spionage Bętkowskis und die friedlichen Intentionen des litauischen Adels.608 Noch interessanter ist ein Vorfall am 18. Februar 1683: An diesem Tag kam ein polnischer Adliger aus Bętkowskis Gefolge namens Stanisław Komenski ins Haus des dumnyj d’jak des Gesandtschaftsamts, Emel’jan Ukraincev. Komenski erzählte sehr ausführlich über die „Freude“ des polnischen Königs bezüglich der Strelitzen-Rebellion, über Bętkowskis Spionage sowie über seine Versuche, den Smolensker Adel zum Loyalitätsbruch zu überreden. Er erwähnte sogar, dass der litauische Hetman Sapieha durch seine Boten direkt mit den Anführern der rebellischen Moskauer Strelitzen im Kontakt stand und ihnen „verschiedene adlige Freiheiten“ versprach, falls sie dem polnischen König bei seinem Angriff auf Russland hilfreich sein könnten.609 Für die Übermittlung dieser Informationen wurde Komenski mit einem Zobelpelz im Wert von fünf Rubeln honoriert. Die Informanten von posol’skij prikaz warnten die Moskauer Behörden noch explizit vor einem polnischen Adligen in Bętkowskis Gefolge: Iosif Ladziński. So erzähle der zuvor erwähnte Fadej Kryževskij, dass Ladziński direkt vom polnischen König nach Kadino gereist sei, wo er sich dann Bętkowski angeschlossen habe, und dass seine Tante die Äbtissin des Neu-Jungfrauen-Klosters (Novodevičij-Kloster) in Moskau sei. Diese Verwandtschaftsbeziehung schien der polnischen Regierung allem Anschein
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Kočegarov: Reč’ Pospolitaja i Rossija, S. 131–132. Bantyš-Kamenskij: Obzor vnešnich snošenij Rossii, Bd. 3, S. 154. RGADA, fond 79, opis’ 1, 1683, Nr. 6, Bl. 51. Ebd., Bl. 170–173. „Да к Москве де к стрельцам в смутное время от гетмана литовского от Сапеги подлинно была посылка со обнадеживанием всяких волностей и свобод шляхетских. И от стрельцов подлинно ж был им таков ответ, что когда король придет к Смоленску или под Москву с войски, и они ему хотели поддаца. А была та посылка чрез тех людей, которые живут на рубеже. А они доносили то дело к стрелцам чрез начальных их людей, которые стрелцом были советны, а стрельцы были им верны“, ebd., Bl. 174–180.
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Der Strelitzen-Aufstand in der diplomatischen Kommunikation 1682–1684
nach sehr wichtig und vielversprechend, sodass am königlichen Hof eine undatierte Instruktion unter dem Titel „Notiz zum Gespräch mit einer geistlichen Person in Moskau“ für Ladziński vorbereitet wurde. Laut deren Text sollte Ladziński im Gespräch mit dieser „Person“ noch einmal die Wichtigkeit der russischen Teilnahme im kommenden Krieg gegen die Türken und Tataren unterstreichen. Gerade der Abschluss des russisch-türkischen Friedens von Bachčisaraj 1681 wurde in der „Notiz“ als Ursache für den Zorn und die Strafe Gottes für die „Moskauer Senatoren“ (womit ohne Zweifel die Ereignisse des Strelitzen-Aufstands gemeint waren) dargestellt.610 Im Spätfrühling 1683, als Bętkowski und Ladziński bereits zurück in Polen waren, wurde eine anonyme Handschrift in polnischer Sprache verfasst, die in der Historiografie hauptsächlich unter ihrem Titel Diariusz zaboystwa tyranskiego senatorow Moskiewskich w stolicy roku 1682 y o obraniu dwoch carow Ioanna y Piotra („Das Tagebuch über den tyrannischen Mord der Moskauer Senatoren in der Hauptstadt im Jahr 1682 und über die Wahl der beiden Zaren Ioann und Peter“) bekannt ist.611 Sowohl die chronologische Übereinstimmung als auch die Tatsache, dass der Text des Diariusz im Prinzip detailliert auf die Fragen eingeht, die in der königlichen Instruktion für Bętkowski vom Juli 1682 formuliert waren,612 lassen uns mit sehr großer Wahrscheinlichkeit behaupten, dass der Verfasser des Diariusz entweder Bętkowski selbst oder sein Reise- und Missionspartner Ladziński war. Das Diariusz, genauso wie andere bereits analysierte polnische Berichte, sieht den Hauptgrund der Moskauer Wirren in der Rivalität zwischen den „Fraktionen“ der Miloslavskijs und der Naryškins, die auf die Zeit unmittelbar nach dem Tod von Aleksej Michajlovič zurückgeführt wird. Die Strelitzen werden hingegen nur als gehorsame Vollzieher in den Händen von politischen Intriganten – carevna Sof ’ja und Ivan Chovanskij – porträtiert. Gerade die Rolle des Letzteren wird im Diariusz ganz im Einklang mit dem Chovanščina-Narrativ der russischen Quellen dämonisiert: Chovanskij habe an dem Komplott gegen die Naryškins im Mai teilgenommen und die Strelitzen gegen Zar Peter aufgewiegelt, der aufgrund der niederen Herkunft seiner Mutter Natal’ja Naryškina als „Strelitzensohn“ verspottet worden sei. Nach der Revolte habe Chovanskij den Plan ausgeheckt, seinen Sohn mit Sof ’ja zu verheiraten und selbst Zar zu werden, was ihm im Endeffekt seinen Kopf gekostet habe. Der Autor des Diariusz hat sich über den Ablauf der Strelitzen-Revolte gut informiert, da er die Details des Mai-Massakers in seiner Erzählung sehr genau wiedergibt. Außerdem hatte er anscheinend Zugang zu einigen insider-Kenntnissen über die Er610 Kočegarov: Reč’ Pospolitaja i Rossija, S. 134–135. 611 Über die Datierung vom Diariusz siehe E. F. Šmurlo: Pol’skij istočnik o vocarenii Petra Velikogo, in: ŽMNP 339 (1902), S. 425–448. 612 So z. B., genauso wie die Instruktion es vorschrieb, zählt Diariusz sehr detailliert die Mitglieder der Zarenfamilie auf, inklusive aller Schwestern und Tanten von Peter und Ivan, vgl.: Vasilenko: Dnevnik zverskogo izbienija, S. 393–394. Auch die Gründe, die Urheber und der Verlauf des Aufstands werden im Diariusz thematisiert.
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eignisse. Insbesondere das Handeln Sof ’jas wird mit vielen Details beschrieben, die in keiner anderen Quelle überliefert sind. Es wird beispielsweise berichtet, wie Sof ’ja entgegen des Moskauer Brauches, der Frauen der Zarenfamilie ausdrücklich verbot, sich öffentlich zu zeigen, an der Begräbnisfeier für Fedor teilgenommen habe. Da der dabei ebenfalls anwesende 9-jährige Peter die lange Zeremonie wegen Müdigkeit nicht durchhalten konnte und sie vorzeitig verließ, habe Sof ’ja dies genutzt, um ihren Halbbruder und die Naryškins öffentlich zu diskreditieren, indem sie gesagt habe: Schaut ihr hin, Leute, wie plötzlich wurde unser Bruder Fedor von seinen Feinden vergiftet! Seid ihr gnädig zu uns, Waisenkindern, die weder Vatter noch die Mutter noch den Bruder-Zar haben! Ivan, unser älterer Bruder, wurde nicht zum Zaren gewählt. Wenn wir uns bei euch oder bei Bojaren schuldig gemacht haben, dann lasst uns doch ins fremde Land zu christlichen Herrschern gehen.613
Diese und andere im Diariusz enthaltene Details über die Ereignisse der Strelitzen-Rebellion (von ihrem Wahrheitsgehalt einmal abgesehen) legen die Vermutung nahe, dass sein Verfasser seine Kenntnisse von jemandem erhalten hatte, der oder die sich gut mit den Geheimnissen und Gerüchten des Zarenhofes auskannte. Antonina Danilovna, die Tante von Iosif Ladziński, die im Januar 1683 zur Äbtissin des mit der Zarenfamilie eng verbundenen Neu-Jungfrauen-Klosters ernannt wurde und noch dazu eine Vertrauensperson von carevna Sof ’ja war,614 scheint für diese Rolle eine sehr passende Kandidatin zu sein. Die ausführlichen Informationen über Intrigen und Machtkonstellationen in Moskau, die das Diariusz den polnischen politischen Kreisen offenbarte, kamen jedoch deutlich zu spät: Im Mai 1683 erreichte die osmanische Armee bereits Belgrad, und für Jan Sobieski, der mit Kaiser Leopold I. ein Defensivbündnis geschlossen hatte,615 stellte eine Einmischung in die russischen Wirren keine Option mehr dar. An dieser Stelle bleibt nur noch die Frage offen, wer denn der polnische Agent in Moskau war, dessen Berichte der päpstliche Nuntius Opicio Pallavicini übersetzte und nach Rom übersandte? Es scheint plausibel, dass es sich in Wirklichkeit um das Engagement von mehreren Personen handelte. Bętkowski und Ladziński kommen hierfür nicht infrage, weil sie erst im Winter 1683 nach Moskau reisten und davor selbst auf die Berichte ihrer Informanten angewiesen waren. Einer dieser Informanten war wahrscheinlich der anonyme Pferdehändler aus der Stadt Kopys’, über den Kraevskij in seinen Briefen gesprochen hatte. In diesem Zusammenhang erinnern wir auch noch an den polnischen Bericht über den Aufstand, der in Form einer „geschriebenen Zei613 Ebd., S. 387. 614 K. A. Kočegarov: Litovskij diplomat Iosif Ljadinskij i ego rol’ v russko-pol’skich otnošenijach 1680-ch – pervoj poloviny 1690-ch gg., in: L. A. Beljaev und N. M. Rogožin (Hrsg.): Srednevekovaja ličnost’ v pis’mennych i archeologičeskich istočnikach: Moskovskaja Rus’, Rossijskaja Imperija i ich sosedi. Materialy naučnoj konferencii. Moskva 2016, S. 109–120, hier S. 111–112. 615 Wójcik: Jan Sobieski, S. 315; Malettke: Hegemonie – Multipolares System – Gleichgewicht, S. 397–398.
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tung“ vom 7. August 1682 den Berliner Hof des brandenburgischen Kurfürsten erreichte.616 Anscheinend gehörte sein Autor ebenfalls zu dem Kreis polnischer Informanten. Pallavicini machte jedoch über einen konkreten Agenten der polnischen Krone, der im November von „Moscovia“ zum königlichen Hof gereist sei, einen wichtigen Vermerk: Dieser sei ein „Edelmann“ gewesen und kein einfacher Kaufmann. Um die Persönlichkeit dieses „Edelmanns“ zu identifizieren, betrachten wir zunächst die Biografie eines polnischstämmigen Adligen namens Pavel Negrebeckij, der in den russisch-polnischen Beziehungen der Jahre 1682 bis 1684 eine sehr interessante Rolle spielte. Pavel Negrebeckij, ein orthodox getaufter polnischer Adliger, betätigte sich in der zweiten Hälfte der 1670er-Jahre als Übersetzer und Informant bei dem russischen Residenten in Warschau, Vasilij Tjapkin. Als Tjapkin Polen-Litauen 1677 endgültig verließ und nach Moskau zurückkehrte, nahm er Negrebeckij mit sich. In Russland blieb dieser die erste Zeit von den russischen Behörden unberücksichtigt, ab etwa 1679 ging seine Karriere jedoch bergauf: Negrebeckij erhielt einen guten Dienstlohn, ein Landgut und knüpfte Bekanntschaft nicht nur mit einigen prominenten russischen Staatsmännern (z. B. mit dem Bojaren Ivan M. Jazykov), sondern auch mit dem Zaren Fedor Alekseevič selbst.617 Im Jahr 1682/1683 verschwindet Negrebeckijs Name unerwartet und ohne Erläuterung aus dem Register der Moskauer Dienstlohnbezieher (kormovščiki) und taucht erst ein Jahr später wieder auf.618 Das Verschwinden eines Moskauer Adligen von seinem Dienstort in der Hauptstadt im Jahr der Strelitzen-Rebellion wäre vielleicht wenig verwunderlich, wenn sich seine Spuren nicht plötzlich in Polen fänden. Der polnische Historiker Zbigniew Wójcik entdeckte in einem Warschauer Archiv ein interessantes Dokument, das auf den 5. September (ohne Jahresangabe) datiert ist.619 In diesem kurzen Schreiben wird berichtet, wie Natal’ja Kirillovna, die Mutter des Zaren Peter, Negrebeckij beauftragte, dem polnischen König ihren Hilferuf zu überbringen: […] Und [sie] sagte ihm [Negrebeckij], einen Brief dem polnischen König zu schreiben. Ich, Zarin Natal’ja Kirillovna. Mein Sohn ist Zar Peter – ihn haben die Bojaren zuerst auf den Thron gesetzt. Der andere Zar heißt Ivan, ihn hat der Pöbel zum Zaren gemacht. Dieser Ivan ist dumm, blind und paralysiert, er kann nicht regieren. Seine Schwester Sof ’ja regelt alles stattdessen. Ich und mein Sohn sind Waisen, niemand achtet mich wegen meiner polnischen Herkunft, nur auf dich, den König von Polen, habe ich Hoffnung […]620
616 617 618 619 620
Siehe oben im Kapitel 4.4. Sedov: Zakat moskovskogo carstva, S. 399–403. Kočegarov: Reč’ Pospolitaja i Rossija, S. 136–137. Hier zitiert nach ebd., S. 135. AGAD, APP, Rps. 47, T. 1, Bl. 378. Ich bedanke mich ganz herzlich bei Kirill Kočegarov für die Zusendung der Fotokopie dieser Archivakte.
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Obwohl das Dokument das Jahr seiner Abfassung nicht explizit nennt, scheint es sehr wahrscheinlich, dass solch ein Hilferuf nur im September 1682 hat geschrieben werden können, als sich der Zarenhof auf der Flucht aus Moskau befand und Natal’ja Kirillovna durchaus Gründe hatte, um ihr Leben zu fürchten. Die Tatsache, dass die Mutter des Zaren Hilfe in einem fremden Land suchen wollte, sollte dabei wenig wundern: Es sei daran erinnert, dass auch Fürst Boris Golicyn, ein Anhänger von carica Natal’ja, den dänischen Gesandten Hildebrand von Horn 1683 mit Tränen in den Augen bat, beim König von Dänemark nach Protektion für Zar Peter zu fragen.621 Der polnische König war für ein Hilfegesuch ein viel näherliegender Adressat, da die Naryškin Familie tatsächlich aus dem Smolensker Adel stammte, der durch sehr enge Kontakte mit Polen-Litauen verbunden war. Es gibt Indizien, dass die polnische Regierung auf Natal’ja Kirillovnas Brief reagierte. Die oben erwähnte Instruktion für Iosif Ladziński („Notiz zum Gespräch mit einer geistlichen Person in Moskau“) beinhaltete u. a. einen interessanten Punkt: Ladziński sollte sich vorsichtig erkundigen, ob für „die Polin und ihren Sohn“ die Möglichkeit bestünde, eine Reise nach Kiev zu unternehmen, von wo die beiden dann weiter auf polnisches Territorium fliehen sollten.622 Es scheint also plausibel, dass es sich bei dem „Edelmann“ aus Pallavicinis November-Brief um Pavel Negrebeckij handelt, der im Oktober 1682 den Hof des polnischen Königs erreicht haben konnte. Das weitere Schicksal von Negrebeckij ist tragisch. Die Flucht von carica Natal’ja und ihrem Sohn nach Polen kam nie zustande. Falls Ladzińskis Kontaktperson in Moskau tatsächlich Antonina Danilovna gewesen ist, scheint es sehr verständlich, dass sich diese Vertraute von carevna Sof ’ja nicht für das Wohlsein der Naryškins einsetzte. Im Gegenteil wurden Negrebeckijs Verbindungen sowohl zum polnischen König als auch zu den Naryškins der Regierung von carevna Sof ’ja dadurch schnell bekannt. Im März 1683 versuchte der polnische König wieder Kontakt mit Negrebeckij aufzunehmen, der bereits nach Russland zurückgekehrt war. Der polnische Adlige Dmitrij Popławski, der mit dieser geheimen Mission nach Moskau reiste, wurde jedoch von den russischen Behörden gefangen und hingerichtet.623 Negrebeckij selbst wurde aus unbekannten Gründen zunächst verschont, jedoch nicht für lange. Laurent Rinhuber, ein sächsischer Reisender und Abenteurer, der sich 1684 in Russland aufhielt, wurde zum Zeugen von Negrebeckijs Ende und hinterließ in seinem Reisebericht folgende Passage:
621 Siehe oben im Kapitel 4.2.2. 622 Kočegarov: Reč’ Pospolitaja i Rossija, S. 138. 623 Ebd., S. 139; K. A. Kočegarov: Bor’ba bojarskich gruppirovok vokrug planov ženit’by Petra i russko-pol’skie otnošenija v 1684–1689 gg., in: Rossija, Pol’ša, Germanija v evropejskoj politike: istoričeskij opyt vzaimodejstvija i imperativy sotrudničestva. Moskva 2012, S. 45–88, hier S. 48; Jan Perdenia: Stanowisko Rzeczypospolipej szlacheckiej wobec sprawy Ukrainy na przełomie XVII‒XVIII w. Wrocław [u. a.] 1963 (= Prace komisji nauk historycznych 8), S. 31.
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[…] den 26. Jul. sahe ich aufm grossen Markt einen Chevallier Pan Negrebizky, so mit denen so ihn begleiteten zu expostuliren schiene. Er war ein Moscowischer Dworanin oder hof Junkker von guter conduite und en consideration, bald hieb ihm der henkker den Kopff herunter, ohne viel complemente machen, und ezliche Kerlen waren da mit einem seidenen rothen tuch, so von denen Seinen kam, und wikkelten selbes ein 5 oder 6 mahl ümb den Cörper herüm und lieffen damit fort, als wenn ihnen der Kopf brennete, niemand wusste was diss vor ein process. Negrebizky aber hatte gerühmet wie Er mit dem frauenzimmer d’Estat courtoisiret, und in seinem briefe nach Pohlen vorgeben, das Er wol gar die Z. S. nachm polnischen hof mit sich hinzuführen gedächte, und seine eigenhändige Schrift war zu Kiow aufgefangen, und nachm Moscouischen hofe bracht worden.624
Aus der Beschreibung Rinhubers folgt, dass Negrebeckij anscheinend versucht hatte, noch einen Brief nach Polen zu schicken, der jedoch angeblich nicht weit von Kiev abgefangen wurde. Etwas detailliertere Informationen über die Intrige, in die Negrebeckij verwickelt war, lassen sich aus dem Tagebuch des Hofjunkers der bereits in Kapitel 4.6 erwähnten schwedischen Großgesandtschaft nach Moskau im Jahre 1684, Johann Sparwenfeldt, ableiten. Er datierte den Tod Negrebeckijs auf den 11. Juli und stellte die Geschichte wie folgt dar: Der Pole habe versucht, mithilfe des kaiserlichen Gesandten, Zirowski, einen Brief nach Polen zu senden. Der habe das Schreiben jedoch stattdessen der Moskauer Regierung übergeben, woraufhin Negrebeckij verhaftet worden sei. Unter Folter habe Negrebeckij seine Teilnahme an dem Komplott gegen carevna Sof ’ja und ihre Anhängerschaft gestanden, an dem auch die Naryškin-Partei (Natal’ja Kirillovna und Fürst Boris Golicyn) sowie der dänische Gesandte, Hildebrand von Horn, beteiligt gewesen seien. Der Plan der Konspiranten habe darin bestanden, so Sparwenfeldt, durch einen Coup d’Etat Sof ’ja und ihre Anhänger zu beseitigen sowie die Alleinregierung von Peter Alekseevič zu sichern. Negrebeckij sei von Ivan Miloslavskij und Vasilij Golicyn verhört worden. Letzterer habe jedoch nicht gewollt, dass der Name seines Cousins, Boris Golicyn, bei der offiziellen Ermittlung erwähnt werde, weswegen Negrebeckijs Todesurteil umgehend vollstreckt worden sei und die anderen „Verschwörer“ einfach davongekommen seien.625 Die Glaubwürdigkeit des Berichts von Sparwenfeldt bleibt fraglich; so erwähnt er selbst, dass er die Mehrheit der Details im Gespräch mit Hildebrand von Horn erfahren habe. Es ist nicht auszuschließen, dass der Däne vieles, insbesondere seine eigene Rolle im ‚Komplott‘, hat übertreiben können. Von Horn thematisierte den Tod Negrebeckijs in seinen Briefen ebenfalls, tat dies jedoch nur beiläufig. Im Brief vom 21. Juli 1684 an den dänischen geheimen Kabinettminister Conrad von Reventlow erwähnte
624 Laurent Rinhuber: Relation du voyage en Russie fait en 1684. Berlin 1883, S. 245–246. 625 Siehe den Originaltext in: Birgegård (Hrsg.): J. G. Sparwenfeld’s Diary, S. 182–183, 187‒189.
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von Horn kurz, dass „vor fünf oder sechs Tagen“ eine Ermittlung wegen der Korrespondenz „eines gewissen adligen Herrn namens Negrebeckij“ mit dem polnischen Hof stattgefunden habe.626 Am 29. Juli fügte Horn kurz hinzu, dass die Nachricht über den Mord „des Polen“ den kaiserlichen Gesandten Zirowski sehr beunruhigte.627 Der von Sparwenfeldt erwähnte große Komplott wird damit durch andere Quellen nicht belegt, obwohl es nicht ganz auszuschließen ist, dass die Anhänger der Naryškin-Partei manche gefährliche Gedanken angesichts ihrer prekären Lage in den Jahren 1682 bis 1683 in Gesprächen mit von Horn geäußert haben.628 Unbestritten bleibt nur die Tatsache, dass Negrebeckijs 1684 nach Polen veschickter Brief in die Hände seiner Feinde in Moskau fiel, was seinen Niedergang verursachte.629 Der Versuch, die Rolle eines ‚Doppelagenten‘ zu spielen, kostete Negrebeckij das Leben. Die Karriere von Nazarij Kraevskij verlief hingegen nach den Ereignissen der Strelitzen-Wirren reibungslos, obwohl einige Indizien darauf hindeuten, dass er ebenfalls versuchte hatte, beiden Parteien – Russland und Polen – nützlich zu sein. Wahrscheinlich wurde Kraevskij vom polnischen König nicht umsonst für einen besonders treuen Anhänger gehalten. Der russische Kurier Semёn Djadkin berichtete im März 1683 in Moskau, dass er während seiner Reise nach Vilnius Informationen erhalten habe, dass Kraevskij als Informant für die polnische Krone fungiere und dafür sogar einen königlichen Sold, die enorme Summe von 600 Rubeln, bekomme.630 Die Moskauer Regierung schenkte dieser Nachricht jedoch keine besondere Aufmerksamkeit; im Gegenteil wurde Kraevskij im Juli 1682 sogar mit einem Zobelpelz im Wert von 20 Rubeln belohnt.631 Seine Dienste als Berichterstatter waren für die russischen Behörden anscheinend so wertvoll und unersetzlich, dass er trotz seiner möglichen Doppelrolle im Laufe der 1680er-Jahre noch weiter fleißig von seinem Dienstort an der Grenze bei Smolenk nach Moskau rapportierte.
626 „Il y a cinqs ou six jours qv’on fit couper la teste a un certain gentilhomme de la cour nommé Negrebezki, a cause, diton, qv’il avoit escrit qvelqves lettres au roy de Pologne touchant le gouvernement d’ apresent.“ Relationer til K. Christian den femte, S. 190. Vgl. auch Kočegarov: Bor’ba bojarskich gruppirovok, S. 49–51. 627 „Le sieur Schirofski n’a pas voulu revenir a Moscaw aprez la nouvelle, qvi receut de l’exeqvution d’un Polonois, qvi estoit fort de ses confidens.“ Relationer til K. Christian den femte, S. 190. 628 Über Pavel Negrebeckij und die möglichen Szenarien seiner Involvierung in die Intrigen am Zarenhof siehe auch Ulla Birgegård: Počemu kaznili Pavla Negrebeckogo?, in: Slověne 9 (2020), Nr. 1, S. 232–260. 629 Etwas unklar bleibt die Chronologie des Mordes an Negrebeckij. Rinhuber erwähnte den 26. Juli. Falls er die Datierung nach dem neuen Stil nutzte, würde dieses Datum (26. Juli n. S. = 16. Juli a. S.) Horns Angabe (fünf oder sechs Tage vor dem 21. Juli) ziemlich genau entsprechen. Sparwenfeldt datierte die Ermordung jedoch auf den 11. Juli. 630 RGADA, fond 79, opis’ 1, Nr. 206, Bl. 46–46v. 631 Kočegarov: Reč’ Pospolitaja i Rossija, S. 53.
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4.8 Diplomatische Berichterstattung über den Strelitzen-Aufstand: Informationsnetzwerke, Effizienz und Erklärungsstrategien Es wurde offensichtlich, dass die diplomatischen Akteure die Ereignisse des Strelitzen-Aufstands im Kontext der großen europäischen Politik betrachteten. In Moskau kollidierten die Interessen von zwei mächtigen Koalitionen – Frankreich, Dänemark und Brandenburg-Preußen einerseits und dem schwedisch-niederländischen Bündnis andererseits –, die den Machtwechsel am Zarenhof für ihre jeweils eigenen Zwecke auszunutzen versuchten. Der polnische Königshof beobachtete die verwirrte Lage des Moskauer Reiches ebenfalls mit großer Aufmerksamkeit und sondierte die Möglichkeit einer offenen militärischen Einmischung. Die unerwartete Meuterei der Strelitzen im Mai 1682 sowie die weitere rasante Entwicklung der Situation vom Sommer 1682 bis zum Winter 1683 verlangte von den Beobachtern ein effizientes System der Informationsübermittlung. Je schneller die Information floss und je ausführlicher sie war, desto effektiver konnten die politischen Akteure handeln. Es wäre natürlich übertrieben, die Erfolge oder Misserfolge der ausländischen Diplomaten ausschließlich nach der Effizienz ihrer Kommunikationskanäle zu bewerten und zu erklären. Die dänische Regierung erfuhr z. B. über den Tod von Fedor Alekseevič und die Unruhe in Moskau dank der Briefe von Heinrich Butenant sehr schnell – bereits nach ca. anderthalb Monaten gegen Anfang Juli 1682. Im Oktober stellte sich der dänische Gesandte Hildebrand von Horn den beiden Zaren und dem Leiter des Moskauer Gesandtschaftsamt Vasilij Golicyn vor – ein halbes Jahr früher als sein schwedischer Antagonist Christof Koch dies tat. Das Scheitern der Mission von Horns, deren Ziel darin bestand, das Moskauer Reich zu einer Militäroffensive gegen Schweden zu überreden, lässt sich vielmehr durch die allgemeine Unwilligkeit der Moskauer Regierung erklären, sich auf einen schweren und riskanten Krieg einzulassen, und nicht durch die fehlenden Kommunikationsverbindungen des dänischen Gesandten. Der Abbruch der Mission von La Picquetière ist im Wesentlichen durch die vorsichtige Haltung Ludwigs XIV., der die Perspektive eines großen Krieges im europäischen Norden von Anfang an sehr kritisch sah, zu erklären. Auch die Tatsache, dass kein polnisch-russischer Krieg ausbrach, war in hohem Maße der politischen Situation in Ostmittel- und Südosteuropa sowie der allgemeinen pro-russischen Orientierung des litauischen Adels geschuldet. Allerdings sollte man die Bedeutung der Kommunikationseffizienz auch nicht unterschätzen. Besonders auffallend ist sie im Falle von Brandenburg-Preußen: Es war die mangelnde Information über den Verlauf des Aufstands und über die aktuelle Lage in der russischen Hauptstadt, die zuerst zur Verzögerung und dann sogar zur Absage der Missionen von Herrmann Dietrich Hesse nach Moskau führte. Auch die polnischen Agenten konnten Jan Sobieski während des Sommers 1682 mit den ausführlichen Berichten über die russischen Wirren nicht versorgen. Als der königliche Hof sich ein klares Bild von den bestehenden Machtkonstellationen verschafft hatte, war die außenpolitische Situation für eine eventuel-
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le Militäraktion bereits zu ungünstig. Das Geschick, mit dem der schwedische Agent Christof Koch die Übermittlung der Nachrichten aus Russland nach Stockholm organisierte, war hingegen der Schlüsselfaktor in der Effizienz der schwedischen Beobachtung. Es ist interessant, dass Kochs Nachfolger auf dem Posten eines diplomatischen Residenten in Russland in den 1690er-Jahren – Thomas Knipper – diese Effizienz nicht aufrechterhalten konnte, was sich auf den Kenntnissstand schwedischer Behörden über die Stimmung in den russsichen regierenden Kreisen vor dem Ausbruch des Großen Nordischen Krieges negativ auswirkte.632 Effektive Kommunikation beruhte vorrangig auf dem Vorhandensein von Berichterstattern und Kommunikationsnetzwerken. Im Europa der Frühen Neuzeit war die Hauptrolle in der diplomatisch-politischen Kommunikation üblicherweise der Person eines diplomatischen Residenten zugewiesen, d. h. eines am ausländischen Hofe residierenden Envoyé.633 Die Moskauer Verhältnisse waren jedoch anders: Nur der niederländische Resident Johann van Keller war in Moskau während des Anfangs der Strelitzen-Unruhe anwesend. Weder Schweden noch Polen-Litauen – die Nachbarländer, die am meisten an der Auswertung der russischen Nachrichten interessiert waren – hatten einen offiziellen diplomatischen Vertreter in der russischen Hauptstadt. In den Vordergrund der Kommunikation traten stattdessen die ‚inoffiziellen‘ Korrespondenten – die in Russland anwesenden Ausländer, hauptsächlich Beschäftigte im Handelsbetrieb. Gerade Kaufleute konnten die Anforderungen zur Rekrutierung als Informationsagent erfüllen: Sie verfügten generell über breite Kommunikationsnetzwerke, oft über gute Russischkenntnisse und konnten mittels ihrer Geschäftsbeziehungen die Briefe unauffällig versenden. Es wurde gezeigt, wie effektiv das schwedische Kommunikationsnetzwerk zwischen Moskau, Novgorod, Pskov und Narva, das grundlegend auf der Berichterstattung der Handelsagenten beruhte, organisiert war. Das Einbeziehen von Kaufleuten als Nachrichtenagenten in das Kommunikationsnetzwerk von staatlichen Behörden und diplomatischen Gesandten war im schwedischen Reich des 17. Jahrhunderts eine übliche Praxis.634 Auch der dänische Berichterstatter Heinrich Butenant fungierte in erster Linie als Vertreter der Handelsinteressen des dänischen Königs in Moskau; einer der Informanten der polnischen Krone wurde als „Pferdehändler“ bezeichnet.
632 Vgl. z. B. die Einschätzung des Generalgouverneurs von Livland, Erik Dahlberg, von Knipper Engagement im Informationserwerb, die er im Brief an den König vom 8. April 1697 äußerte: „Es ist bedauerlich, daß Ew. Mjt. in Moskau nicht irgendeinen Mann haben, der das eine und andere zu durchschauen vermag, was man dort vorhat und was passiert, denn insgeheim ist wohl zu verspüren, daß Ew. Königl. Majt. in diesem Nachbarn keinen Freund haben, was sich eher als man glaubt äußern dürfte. Dieser Kniper schreibt und berichtet nichts anderes als Lappalien …“, Zitat nach Zernack: Studien zu den schwedisch-russischen Beziehungen, S. 144. 633 Garrett Mattingly: Renaissance Diplomacy. London 1955, S. 240–254. 634 Droste: Das Geschäft mit Nachrichten, S. 174–184.
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Es ist interessant, dass ein solcher inoffizieller Informant nicht an eine strikte außenpolitische Loyalität gebunden war und sich somit für verschiedene diplomatische Parteien gleichzeitig engagieren konnte. Dies illustriert das folgende Beispiel. Sowohl der brandenburgische Agent Dietrich Hesse als auch der schwedische Untertan Christof Koch erhielten einen Teil ihrer Nachrichten über die Moskauer Ereignisse aus Novgorod. In beiden Briefsammlungen befindet sich ein Brief aus dieser Stadt, datiert auf den 11. Juli 1682. Der Abgleich des Inhalts (siehe Tabelle 2) deutet mit großer Wahrscheinlichkeit darauf hin, dass die beiden Briefe von demselben Korrespondenten verfasst worden waren. Dabei befanden sich Schweden und Brandenburg-Preußen in unterschiedlichen außenpolitischen Koalitionen! Offensichtlich engagierte sich der anonyme Novgoroder Korrespondent hauptsächlich aus ökonomischen Gründen als Nachrichtenlieferant und nicht im Rahmen eines Treue- und Dienstverhältnisses gegenüber einem bestimmten Staat. Tabelle 2 „Geschriebene Zeitung“ vom 11./21. Juli 1682 aus GStA PK635
Brief vom 11. Juli 1682 aus der Sammlung Muscovitica 604 des schwedischen Reichsarchivs
Novogrod d 11/21 Julii 1682.
Novogorodt den 11:ten Jully Ao:1682.
Am 25 Passato sind beyde Tzaaren in Moscau offentlich gekrönet, soll numehro alles stille seyn daselbst. Auff die Posar oder großem Marckte begehren die Strelitzen daß eine Seule solle auffgerichtet werden, und die ursachen darauff zu schreiben, worumb die großen Herrn niedergemachet worden. Die Strelitzen begehen noch in allen ihren willen und erhalten nach ihren wunsch, was Sie begehren. Neulich sind unterschiedliche Bojaren, ocolnitzschen und Dumini dworanin auch Diaken erwehlet aus dem Gawanskischen und Odovischen geschlechtern, welche zwo anitzo bey Hofe die großesten sind. Vor wenig tagen ist alhie aus der Posolski Prikas ein Schreiber angekommen, welcher nach Se. Churfl. Durchl. zu Brandenb. Holland und Engelland gehen und des Tzaren todt notificiren und daß 2 Tzarische Maytten erwehlet worden anbringen soll.636
Am 25:ten passato sein beyde Zaaren in Moscow offentlich gekrönet, sonsten soll es an dem orthe wieder ziemblich stille sein; auff der Poschar, oder Marcktplatz, wird eine Seüle auffgerichtet,darauff soll geschrieben werden, die Ursache worumb, die bewusten Herren niedergemachet sein, die Streltzen begehen annoch in allem ihren willen, und erhalten alles nach wunsch ihren begehren. Neülich sein verschiedene Boyaren, Okolnitschen und Dumnie Diacken erwehlet, mehrentheils auß der Gowanskojschen und Audoweskojen geschlechten, welche anitzo am Hoeffe die grössesten sein. Den 5:ten dießes arrivirete auß Moscow alhier ein Schreiber auß der Posolschen Pricaess, derselbe über Riga nacher Brandenburg, Holland und Engellant gehen, und wie man saget, die Notification des Zaaren Todt und das 2: wieder erwehlet worden, an denen Hoeffen anbringen wird.
635 Hier zitiert nach Loewenson: 1681–1683. Geschriebene Zeitungen aus Rußland, S. 552–553. 636 Man muss vermerken, dass der ‚brandenburgische‘ Brief an dieser Stelle (im Unterschied zum ‚schwedischen‘ Schreiben) nicht endet: Der Korrespondent geht ferner auf die Ereignisse der
Diplomatische Berichterstattung über den Strelitzen-Aufstand
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Außer diplomatischen Residenten und ausländischen Kaufleuten konnten auch die Untertanen des russischen Zaren als Informationslieferanten agieren. Andrej Vinius, der Moskauer Postmeister und der wahrscheinliche Informant von Dietrich Hesse, sowie Pavel Negrebeckij, der sich als Kurrier zwischen Natal’ja Naryškina und dem polnischen König engagierte, befanden sich beide im System des russischen staatlichen Dienstes. Ihre ausländischen Wurzeln erleichterten für sie ohne Zweifel die Kontaktaufnahme und die Kommunikation mit dem Ausland, jedoch wäre es falsch sie als ‚ausländische Agenten‘ im modernen Sinne dieses Ausdrucks zu bezeichnen. Vielmehr sind sie als Träger einer komplexen und vielschichtigen Identität zu verstehen. Andrej Vinius, der Sohn eines niederländischen Kaufmanns, behielt trotz seiner Konvertierung zum russisch-orthodoxen Glauben eine starke Affinität zum Protestantismus. Es war neben weiteren persönlichen Gründen offenbar diese protestantische Solidarität, die seinen Kontakt mit Hesse beförderte und gerade nicht politisches Kalkül: Die Niederlande und Brandenburg-Preußen waren 1682 schließlich politische Opponenten. Gleichzeitig blieb Vinius ein zarischer Diener mit Interesse an einem weiteren Karriereaufstieg. Deswegen brach er den sensiblen Kontakt mit dem brandenburgischen Agenten nach dem Anfang der Strelitzen-Rebellion ab. Der polnischstämmige Pavel Negrebeckij zeigte sich während seines Engagements bei Vasilij Tjapkin ebenfalls als eifriger Diener der russischen Regierung, sodass seine Reise zu Jan Sobieskis Hof im Herbst 1682 wohl eher in Bezug auf seine Klientelbeziehungen mit der Naryškin-Familie zu verstehen ist. Eine effiziente diplomatische Berichterstattung über die Ereignisse der Strelitzen-Rebellion erforderte von ihren Akteuren gute Kenntnisse über die politische Machtsituation sowie über die herrschenden politischen Narrative. Die Entscheidung der polnischen Regierung, die Kontakte mit den Naryškins im Jahre 1683 herzustellen, also mit der zu der Zeit besiegten politischen Partei, erwies sich für das Schicksal der polnischen Agenten als fatal. Dagegen konnten die schwedischen Gesandten ihr Wissen über die Machtstellung von carevna Sof ’ja während der Verhandlungen 1684 im vollen Maße ausnutzen. Insgesamt verbreiteten sich über die europäischen diplomatischen Kanäle zwei Hauptnarrative über die Ereignisse der Strelitzen-Unruhe: 1) die Erzählung über die Revolte als einen gerechten Aufstand der Strelitzen gegen die Willkürherrschaft ihrer Vorgesetzten und die Korruption der Moskauer Beamten; 2) die Vorstellung vom Kampf innerhalb der russischen Elite zwischen den Parteien, die sich um die Personen von Ivan und Peter formiert hatten. Gerade die Verwunderung über die ungewöhnliche ‚Doppelherrschaft‘ von zwei Zaren und die Überzeugung,
Mai-Rebellion ein und resümiert im Wesentlichen die Information, die in den ‚schwedischen‘ während des Junimonats verschickten Briefen ebenfalls zu finden ist. Leider gibt es keine weiteren wortwörtlichen Übereinstimmungen zwischen den Briefen aus GStA PK und RAS: Hesse bekam noch einen langen Brief aus Novgorod vom 28. Oktober 1682, jedoch sind in der Sammlung Muscovitica, vol. 604 keine Schreiben aus diesem Monat vorhanden.
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Der Strelitzen-Aufstand in der diplomatischen Kommunikation 1682–1684
dass diese nur kurzlebig sein könne, waren für alle diplomatischen Berichte in gleicher Weise typisch. Jedoch konnte sich die Diplomatie den herrschenden Narrativen sehr flexibel anpassen. Im November 1682 hielt der kaiserliche Sekretär Jan Probst in Wien im Gespräch mit dem russischen Gesandten Nikifor Venjukov beispielsweise noch an der Meinung fest, dass die Doppelherrschaft von Ivan und Peter nicht lange bestehen würde und dass „das Moßkowitische Reich nur eines Czarn und Herrn gewohnet“ sei. Zwei Jahre später im Mai 1684 eignete sich die kaiserliche Großgesandtschaft von Sebastian von Blumberg und Baron Zirowski dagegen eine ganz andere Rhetorik an. Die Gesandtschaft hatte das Ziel, die russische Regierung zu überreden, der großen europäischen Koalition gegen die Türken beizutreten.637 Am 27. Mai trat Blumberg mit einer für die europäische diplomatische Etikette üblichen „Oration“ in lateinischer Sprache vor den Zaren (später im gleichen Jahr wurde sie ins Deutsche übersetzt und als Flugschrift in Breslau und an anderen deutschen Orten herausgegeben638). Der Gesandte beschwor die aussichtsreichen Perspektiven einer gemeinsamen Offensive gegen das Osmanische Reich und zählte die Gründe auf, warum die russischen Zaren sich unbedingt am Krieg beteiligen müssten. Unter anderem verwies er auf die Nützlichkeit eines Krieges für die Sicherung der internen Ruhe im Staat: „Es gibt ohne Zweifel noch manche Catilinam, Verrem od Syllam manche unruhigen und meutinirischen Kopff mitten in euren Reichen: diese laßt ihren aufrührischen Gifft und wütende Boßheit nicht über euch, sondern über den Mahomet auskotzen“.639 Selbstverständlich wurde ein angemessener Platz dem Lob beider Zaren in der Oration zugeteilt, in dem Blumberg nämlich auf die Vorteile der Doppelregierung einging: Es sind nicht ohne sonderbare Verordnung des Drey-Einigen Gottes zween grosse Brüder Johann und Peter dem Regierungs-Ruder vorgestellt. Man muß es für eine glückliche Bedeutung auffnehmen daß gleichwie unser Heyland zween Jünger dieses Namens zu seiner Ergetzung und zur Verrichtung grosser Wunderwerke erwehlt hat. Er also auch durch diese Beyde grosse Czaren was Grosses auszurichten damit sie gewaltig groß werden mö637 Über diese Gesandtschaft siehe: Hans-Heinrich Nolte: „Mit lähren händen“. Die kaiserliche Gesandtschaft nach Moskau im Mai 1684, in: JGO 49 (2001), H. 2, S. 276–285. Es war genau dieselbe kaiserliche Gesandtschaft, die die private Audienz bei carevna Sof ’ja ablehnte, siehe Kapitel 4.6. 638 Vgl.: Oration, So die Kaiserliche Grosse Gesandschafft in Moscau Durch den Herrn Baron von Blumberg/ Den 28. May/ Anno 1684. Bey Ihr. Ihr. Czar. Czar. Mayt. Mayt. In Lateinischer Sprache abgeleget/ Welche Umb der Curiosität halben ins Deutsche übersetztet worden. Breßlau 1684; auch: Beschreibung Des schau- und leßwürdigen Moscowitischen Einzugs/ und Tractements Derer beyder Römisch-Keyserlichen Groß-Gesandten an die Moscowitische Zaaren/ […] Samt Einem kurtzen Bericht ihrer Verrichtung/ wie auch den zweyen lateinischen Reden/ welche Ihre Excell. der Herr Baron von Blumenberg/ vor beyden Zaaren abgelegt: Wovon die letzte/ als die denckwürdigste/ auch in Teutsche Sprache versetzt/ allhie beygedruckt zu lesen / Von vertrauter Hand eines fürnehmen Zaarischen Hof-Bedientens/ aus der Moscau/ auf Hamburg/ in lateinischer Sprach/ geschickt an einen guten Freund. [o. O.], 1684. 639 Unter „unruhigen und meutinirischen Köpfen“ wurden ohne Zweifel die rebellischen Strelitzen gemeint, Nolte: Mit lähren händen, S. 280–281.
Diplomatische Berichterstattung über den Strelitzen-Aufstand
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gen beschlossen habe. Zweifels ohn ist der Eine nach seiner jetzigen Vermählung dem Justiz-Regiment, der Andere dem militarischen Feld-Gebiet; einer dem Harnisch, der Andere dem Talar; einer zur Beförderung der Geschiklichkeit, der Andere zur Beleuchtung der Tapfferkeit gewidmet. Es ist zwyen Körpern eine einhellige und nicht mißhellige kluge Seele eingepflanzt. Welcher und was vor ein Hercules ist tüchtig diesen beyden zu widerstehen?640
Es ist bemerkenswert, dass sehr ähnliche Argumente zugunsten der Doppelherrschaft im Geschichtswerk Sozercanie kratkoe von Sil’vestr Medvedev vorgebracht wurden. In der Erzählung über die Doppelwahl von Ivan und Peter Ende Mai 1682 heißt es: „[…] die anderen sagten jedoch, dass dies für das Reich nützlich sein wird, wenn zwei blutsverwandte Brüder zusammen regieren […]. Wenn ein Zar gegen den Feind das Heer führt, verbleibt der andere im Reich auf dem zarischen Thron, und nur das Gute wird das Russische Reich dadurch erzielen“.641 Wie gelangte die russische politische Argumentation in die Oration des kaiserlichen Gesandten? Es ist schwer, eine eindeutige Antwort auf diese Frage zu geben. Vielleicht stützte sich Blumberg auf die zwei Jahre zuvor in Wien gemachten Aussagen von Nikifor Venjukov. Womöglich übernahm er auch einfach die am Moskauer Hof gängige Rhetorik.642 Es ist jedoch wichtig an dieser Stelle zu vermerken, dass die diplomatische Kommunikation erstens viel Raum für die Weitergabe und die Verflechtung von Narrativen bot, und zweitens zum Transfer dieser Narrative in die öffentlichen Medien (wie z. B. die oben erwähnten Flugschriften) beitrug. Ausführlicher werden diese beiden Tendenzen im folgenden Kapitel beleuchtet.
640 Zitat nach der Ausgabe: Beschreibung Des schau- und leßwürdigen Moscowitischen Einzugs […]. 641 Medvedev: Sozercanie kratkoe, S. 61. 642 Es ist natürlich auch nicht ganz auszuschließen, dass Medvedev umgekehrt das Motiv aus Blumbergs „Oration“ in sein späteres Werk integriert hat.
V. Der Strelitzen-Aufstand in der europäischen frühmodernen Öffentlichkeit 5.1 Das Mediensystem der Frühen Neuzeit Wenn man im ausgehenden 17. Jahrhundert von ‚Öffentlichkeit‘ spricht, muss man sehr vorsichtig sein, um nicht in eine begriffsgeschichtliche Falle zu geraten, denn der Begriff ‚Öffentlichkeit‘ selbst existierte bis zur zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts nicht.643 Wie Jürgen Habermas in seiner klassischen Studie zeigte, spielte in Europa die Epoche der Aufklärung, v. a. die publizistisch-literarischen Journale des 18. Jahrhunderts sowie die mit ihnen verbundene Salonkultur die entscheidende Rolle für die Herausbildung einer bürgerlichen Öffentlichkeit als Sphäre des Politischen.644 Wie jedoch die aus der Diskussion mit dem habermas’schen Buch hervorgegangenen Forschungen zu öffentlichen Medien und Kommunikation im Europa der Frühen Neuzeit demonstrieren, reichen die Wurzeln dieser europäischen ‚Öffentlichkeit‘ bis in die Reformationszeit zurück.645 Natürlich handelt es sich dabei nicht um eine Öffentlichkeit
643 Lucian Hölscher: Öffentlichkeit und Geheimnis: Eine begriffsgeschichtliche Untersuchung zur Entstehung der Öffentlichkeit in der frühen Neuzeit. Stuttgart 1979 (= Sprache und Geschichte 4), S. 12. 644 Jürgen Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit: Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft. Frankfurt am Main 1990 [Nachdruck der Aufl. von 1962]. Vgl. auch die begriffsgeschichtliche Studie von Lucian Hölscher über die Entstehung der Öffentlichkeit während der ‚Sattelzeit‘: Hölscher: Öffentlichkeit und Geheimnis. 645 Für die Kritik am Ansatz von Jürgen Habermas und an seiner ‚Vereinfachung‘ des Systems der politischen Kommunikation in der Vormoderne vgl.: Berghaus: Die Aufnahme der englischen Revolution, S. 75–77; Andreas Gestrich: Absolutismus und Öffentlichkeit. Politische Kommunikation in Deutschland zu Beginn des 18. Jahrhunderts. Göttingen 1994 (= Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 103), S. 28–33; Würgler: Unruhen und Öffentlichkeit, S. 29–41; sowie das einleitende Kapitel in Johannes Arndt und Esther-Beate Körber (Hrsg.): Das Mediensystem im Alten Reich der Frühen Neuzeit (1600–1750). Göttingen 2010 (= Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, Beiheft 75), S. 8–19. Über die ‚reformatorische Öffentlichkeit‘ siehe Rainer Wohlfeil: Reformatorische Öffentlichkeit, in: Ludger Grenzmann und Karl Stockmann (Hrsg.): Literatur und Laienbildung im Spätmittelalter und in der Reformationszeit. Symposium Wolfenbüttel 1981. Stuttgart 1984, S. 41–52.
Das Mediensystem der Frühen Neuzeit
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im heutigen Sinne dieses Wortes, als ‚vierte Macht‘ in politischen Entscheidungsprozessen, sondern eher um die Entstehung einer Sphäre öffentlich tradierter Information im Laufe des 16. und des 17. Jahrhunderts, die dank Vervielfältigungstechnik und neuer Massenmedien schnell mehreren Rezipienten übermittelt werden konnte. Der Buchdruck, die Flugblätter des 16. Jahrhunderts und besonders die im Laufe des 17. Jahrhunderts entstandenen und sich rasch vermehrenden periodischen Zeitungen646 – alle diese Medien trugen zur Verdichtung der Informationskanäle bei und bildeten in der Frühen Neuzeit ein öffentliches Umfeld, in dem die Information (u. a. über politische Ereignisse) schnell und grenzüberschreitend zirkulierte. Dabei ist wichtig zu betonen, dass diese neuen Kommunikationsmedien nicht nur die Geschwindigkeit und die Verbreitung der Informationsübermittlung beförderten, sondern auch zur Dauerhaftigkeit der vermittelten Information beitrugen. Nachrichten und Erzählungen wurden zwischen verschiedenen Autoren, Werken und Publikationsmedien leicht übernommen und abgeschrieben. Was einmal erzählt bzw. gedruckt worden war, konnte stets wiederholt bzw. in neue Narrative eingeflochten werden. Die ersten Meldungen über ein Ereignis erschienen im 17. Jahrhundert typischerweise in periodischen Zeitungen,647 die sich entweder auf mündliche Erzählungen oder, viel häufiger, auf Informationen aus handgeschriebenen und per Post verbreiteten Nachrichtenbriefen („geschriebenen Zeitungen“ oder „Avvisi“)648
646 Über die Zeitungen als „Forum frühbürgerlicher Öffentlichkeit“ und Medien der politischen Information siehe: Werner Faulstich: Medien zwischen Herrschaft und Revolte. Die Medienkultur der frühen Neuzeit (1400–1700). Göttingen 1998 (= Die Geschichte der Medien 3), S. 210–239; Holger Böning: Weltaneignung durch ein neues Publikum. Zeitungen und Zeitschriften als Medientypen der Moderne, in: Johannes Burkhardt und Christine Werkstetter (Hrsg.): Kommunikation und Medien in der Frühen Neuzeit. München 2005 (= Historische Zeitschrift. Beihefte (Neue Folge) 41), S. 105–134, hier S. 113–119. 647 Die Forschungsliteratur über die Zeitungen in der frühneuzeitlichen Epoche ist enorm. Hier sei v. a. auf die grundlegenden oder zusammenfassenden Arbeiten hingewiesen: Ludwig Salomon: Geschichte des deutschen Zeitungswesens von den ersten Anfängen bis zur Wiederaufrichtung des Deutschen Reichs, Bd. 1. Das 16., 17. und 18. Jahrhundert. Oldenburg & Leipzig 1900; Margot Lindemann: Deutsche Presse bis 1815. Geschichte der deutschen Presse, Teil 1. Berlin 1969 (= Abhandlungen und Materialien zur Publizistik 5), S. 44–99; Johannes Weber: „Die Novellen sind eine Eröffnung des Buchs der gantzen Welt“. Entstehung und Entwicklung der Zeitung im 17. Jahrhundert, in: Klaus Beyrer und Martin Dallmeier (Hrsg.): Als die Post noch Zeitung machte. Eine Pressegeschichte. Gießen 1994, S. 15–25; Thomas Schröder: Die ersten Zeitungen: Textgestaltung und Nachrichtenauswahl. Tübingen 1995; Faulstich: Medien zwischen Herrschaft und Revolte, S. 210–239; Wilke: Grundzüge der Medien- und Kommunikationsgeschichte, S. 40–70; Volker Bauer und Holger Böning (Hrsg.): Die Entstehung des Zeitungswesens im 17. Jahrhundert. Ein neues Medium und seine Folgen für das Kommunikationssystem der Frühen Neuzeit. Bremen 2011 (= Presse und Geschichte – neue Beiträge 54); Pettegree: The Invention of the News. 648 Über die „geschriebenen Zeitungen“ als Vorläufer der gedruckten Presse und ihre Rolle im frühneuzeitlichen Nachrichtenverkehr siehe: Faulstich: Medien zwischen Herrschaft und Revolte, S. 52–57; Zsuzsa Barbarics und Renate Pieper: Handwritten Newsletters as a Means of Communication in Early Modern Europe, in: Francisco Bethencourt und Florike Egmond
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Der Strelitzen-Aufstand in der europäischen frühmodernen Öffentlichkeit
stützten. Zeitungen hatten einen geringen Umfang (meist zwei bis vier Quartseiten) und dienten hauptsächlich dazu, die wichtigsten und interessantesten Nachrichten in Form von kurz gefassten Artikeln an ein breites Publikum zu übermitteln. Parallel dazu konnten die Verleger auch einmalig erscheinende Flugschriften und Flugblätter649 drucken, die üblicherweise etwas detaillierter auf die Umstände eines konkreten Ereignisses eingingen. Oft wurden solche Flugschriften einer Zeitung angehängt und mit ihr zusammen verkauft. Die nächste Medienebene bildeten gedruckte Messrelationen. Diese Tradition entstand im 16. Jahrhundert in einigen großen Handelsstädten Europas, im deutschsprachigen Raum etwa in Leipzig, Frankfurt und Köln.650 Zu jeder Messe, üblicherweise zwei bis drei Mal im Jahr,651 erschien auf 80 bis 100 Seiten eine gedruckte Synopsis der Ereignisse seit der vorherigen Messe. Dabei nutzten die Autoren von Messrelation vorwiegend Zeitungsberichte als Quellen. Zusammen mit den Zeitungsberichten und Flugschriften bildeten Messrelationen wiederum die Grundlage für die Erstellung von gedruckten Chroniken. Bei diesen auch als Annalen oder Zeitgeschichten bezeichneten Publikationen handelt es sich um umfangreiche Ausgaben kompilatorischer Art, die in ihrem Inhalt die politischen Ereignisse in ganz Europa über eine bestimmte Zeitspanne hinweg behandelten. Sie erschienen mit sehr unterschiedlicher Periodizität: Während z. B. das Frankfurter Diarium Europaeum von 1659 bis 1683 halbjährlich erschien,652 wurden die voluminösen Bände des Theatrum Europaeum in Abständen von fünf oder sogar neun Jahren gedruckt. Die Kompilatoren dieser Bände waren erfahrene Journalisten, die sich in ihrer Arbeit hauptsächlich auf Informationen aus den kleineren, oben genannten Druckschriften stützten. Die Chroniken genossen aufgrund ihres Umfangs und ihrer Ausführlichkeit große Popularität, v. a. unter den Gelehrten. So galt z. B. besagtes Theatrum Europaeum als besonders verlässliche Chronik der europäischen Geschichte, und viele seiner Bände wurden in mehreren Auflagen gedruckt. Die letzte Medienebene schließlich bestand aus mono-
(Hrsg.): Cultural Exchange in Early Modern Europe, Bd. 3. Correspondence and Cultural Exchange in Europe, 1400–1700. Cambridge [u. a.] 2007, S. 53–79; Wilke: Grundzüge der Medien- und Kommunikationsgeschichte, S. 18–19; Wilke: Korrespondenten und geschriebene Zeitungen; Droste: Die Geschriebene Zeitung. Über die Koexistenz von geschriebenen und gedruckten Zeitungen vgl. Böning: Handgeschriebene und gedruckte Zeitung. 649 Ulrich Rosseaux: Flugschriften und Flugblätter im Mediensystem des Alten Reiches, in: Johannes Arndt und Esther-Beate Körber (Hrsg.): Das Mediensystem im Alten Reich der Frühen Neuzeit (1600–1750). Göttingen 2010 (= Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, Beiheft 75), S. 99–114. 650 Vgl. darüber: Lindemann: Deutsche Presse, S. 81–84; Esther-Beate Körber: Messrelationen. Geschichte der deutsch- und lateinischsprachigen „messentlichen“ Periodika von 1588 bis 1805. Bremen 2016 (= Presse und Geschichte – neue Beiträge 92). 651 Zweimal jährlich erschienen z. B. die Frankfurter Messrelationen, während in Leipzig die Relationen dreimal pro Jahr herausgegeben wurden, Lindemann: Deutsche Presse, S. 84. 652 Sonja Schultheiss: Das „Diarium Europaeum“ (1659–1683). Verleger und Autoren, Aufbau und Inhalt, in: Archiv für Geschichte des Buchwesens 48 (1997), S. 315–346.
Das Mediensystem der Frühen Neuzeit
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grafischen historischen Werken einzelner Autoren, die ihre Informationen aus allen ihnen zugänglichen Quellen entnahmen. Die Reichweite der frühneuzeitlichen Druckmedien in der Bevölkerung kann natürlich nicht an der Situation unserer Zeit gemessen werden. Im Europa des 17. Jahrhunderts waren die meisten Menschen Analphabeten,653 sodass die Druckschriften hauptsächlich von politischen Eliten, von Gelehrten und der bürgerlichen Oberschicht rezipiert wurden. So waren die am meisten gelesenen Medien Flugschriften/Flugblätter und Zeitungen, aber auch sie erreichten beispielweise in Deutschland besonders optimistischen Schätzungen zufolge regelmäßig nur 200.000 bis 250.000 Leser, was ungefähr einem Viertel aller damals Lesefähigen entsprach.654 Dennoch war auch diese Zahl für die damaligen Verhältnisse erheblich, und sie umfasste die wichtigsten politischen und kulturellen Akteure. Die Druckmedien der Frühen Neuzeit sicherten damit eine nachhaltige Überlieferung von politisch-literarischen Narrativen. Im vorherigen Kapitel standen die handgeschriebenen Berichte der diplomatischen Agenten im Mittelpunkt der Analyse. Eine strenge Entgegenstellung dieser diplomatischen geheimen Kommunikation mit den öffentlichen Medien des frühneuzeitlichen Europa wäre jedoch irreführend. Die gedruckte Information war für die breitere Öffentlichkeit gewiss deutlich besser zugänglich als die diplomatischen Berichte, deren Verfasser und Empfänger sich bemühten, ihre Korrespondenz bedeckt zu halten. Dennoch kam die diplomatische Berichterstattung mit den neuen Medien in vielerlei Hinsicht in Berührung. Zum einen sickerte das Wissen aus diplomatischen Netzwerken doch häufiger in die Öffentlichkeit durch. Nicht umsonst hatte etwa der Moskauer Korrespondent des brandenburgischen Geheimsekretärs Hermann Dietrich Hesse Angst, die von ihm übermittelte Information könnte sich in gedruckten Zeitungen wiederfinden,655 denn Informationen gelangten sowohl unkontrolliert als auch aus bewusstem politischen Kalkül an die Öffentlichkeit.656 Nicht selten agierten die Diplomaten selbst im frühneuzeitlichen Europa als Zeitungskorrespondenten.657 Einige
653 Würgler: Medien in der Frühen Neuzeit, S. 93–99. 654 Weber: Die Novellen sind eine Eröffnung, S. 20; Wilke: Grundzüge der Medien- und Kommunikationsgeschichte, S. 65. 655 Siehe oben das Kapitel 4.4. 656 Siehe z. B. die Interaktion zwischen englischen Diplomaten einerseits und französischen und niederländischen Zeitungen andererseits im 17. Jahrhundert in Jason Peacey: „My Friend the Gazetier“: Diplomacy and News in Seventeenth-Century Europe, in: Joad Raymond und Noah Moxham (Hrsg.): News Networks in Early Modern Europe. Leiden & Boston 2016 (= Library of the Written Word), S. 420–442. Für die obrigkeitliche Instrumentalisierung der Gazette de France vgl. Anuschka Tischer: Obrigkeitliche Instrumentalisierung der Zeitungen im 17. Jahrhundert: die Gazette de France und die französische Politik, in: Volker Bauer und Holger Böning (Hrsg.): Die Entstehung des Zeitungswesens im 17. Jahrhundert. Ein neues Medium und seine Folgen für das Kommunikationssystem der Frühen Neuzeit. Bremen 2011 (= Presse und Geschichte – neue Beiträge 54), S. 455–466. 657 Lindemann: Deutsche Presse, S. 31.
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Der Strelitzen-Aufstand in der europäischen frühmodernen Öffentlichkeit
der Berichte von schwedischen Agenten z. B. wurden in den 1650er-Jahren in deutschsprachigen, vor allem in Hamburger Zeitungen gedruckt.658 Zudem konnten gedruckte Texte selbst zur Quelle für diplomatische Agenten und Beobachter werden, wie dies bereits am Beispiel des Gespräches zwischen Jan Probst und Nikifor Venjukov in Wien gezeigt wurde: Der kaiserliche Sekretär verwies ja gerade auf die Frankfurter Messrelation als seine Informationsquelle. Im letzten Viertel des 17. Jahrhunderts wurde verstärkt über die Nützlichkeit und die Glaubwürdigkeit der Zeitungen polemisiert. So behauptete der deutsche Gelehrte Kaspar Stieler in seinem berühmten Werk Zeitungs Lust und Nutz von 1695, dass „oft ein weit mehrers/ wovon auch nicht einmal Residenten und Agenten Wissenschaft gehabt haben“ in den gedruckten Zeitungen vorkäme.659 Es ist deswegen kein Wunder, dass viele politische Behörden der Frühen Neuzeit sich einerseits um Zeitungsabonnements bemühten, andererseits aber auch versuchten, das Zeitungswesen zu kontrollieren und zu zensieren.660 Diese Wechselbeziehungen zwischen Diplomatie und gedruckten Medien sollen in der folgenden Analyse anhand der Berichterstattung über den Strelitzen-Aufstand in europäischen Flugschriften, Zeitungen und Messrelationen verdeutlicht werden. 5.2 Heinrich Butenants Bericht: das Schicksal einer Flugschrift Es wurde bereits erwähnt, dass Heinrich Butenant 1682 in seiner Heimatstadt Hamburg eine ausführliche, primär für den dänischen königlichen Hof verfasste Relation über die Moskauer Strelitzen-Revolte drucken ließ. Diese erschien in Form einer Flugschrift unter dem Titel Eigentlicher Bericht wegen des in der Stadt Moskau am 15/16 und 17 May Anno 1682 entstandenen greulichen Tumults/ und grausahmen Massacre: Wie auch; Der augenscheinlichen Lebens-Gefahr/ in welche der daselbst Königliche Dänische Resident/ mittelst dieses Auffstandes/ verfallen. Wie genau der eigentlich geheime Bericht in die Hände des Hamburger Verlegers gelangte, ist leider unbekannt. Die Geschichte des Texts nach seiner Veröffentlichung, die der Forschung bisher entging, ist jedoch nicht weniger spannend und verlangt nach einem ausführlichen Exkurs. 658 Es handelt sich um die Berichte des schwedischen Residenten Johann de Rodes, die in der Hamburger Wöchentlichen Zeitung auß mehrerlei örther erschienen, vgl. Welke: Rußland in der deutschen Publizistik, S. 152–153, 256–264. 659 Kaspar Stieler: Zeitungs Lust und Nutz. Vollständiger Neudruck der Originalausgabe von 1695, hrsg. v. Gert Hagelweide. Bremen 1969, S. 74. 660 Elger Blühm: Deutscher Fürstenstaat und Presse im 17. Jahrhundert, in: Daphnis. Zeitschrift für Mittlere Deutsche Literatur, Bd. 11. Hof, Staat und Gesellschaft in der Literatur des 17. Jahrhunderts (1982), H. 1–2, S. 287–313; Jürgen Wilke: Presse und Zensur. Anfänge, Entwicklung und Abbau obrigkeitlicher Kontrollmaßnahmen, in: Klaus Beyrer und Martin Dallmeier (Hrsg.): Als die Post noch Zeitung machte. Eine Pressegeschichte. Gießen 1994, S. 148–156; Böning: Handgeschriebene und gedruckte Zeitung, S. 39–44.
Heinrich Butenants Bericht: das Schicksal einer Flugschrift
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Abbildung 3 Kupferstich „Die Moscovitische Revolte“, gefaltete Beilage zu der in Hamburg im Jahr 1682 erschienenen Flugschrift Eigentlicher Bericht wegen des in der Stadt Moßkau Am 15/16 und 17 May Anno 1682 entstandenen greulichen Tumults/ und grausahmen Massacre. Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz / Flschr. 1682/1.
Die Drucklegung geschah in der Druckerei des Verlegers Thomas von Wiering, die unter dem Namen „Im gülden A. B. C.“ bekannt war.661 Der bemerkenswerte Text ließ sich schnell verbreiten. In der Leipziger Post- und Ordinar-Zeitung etwa wurde am Ende der vierten Ausgabe der 46. Woche des Jahres 1682 (d. h. im November 1682) eine Ankündigung platziert, die für die – anscheinend beigefügte – Flugschrift Werbung machte: „Hierbey ist absonderlich der Moscowitische Aufstand und Blut-bad zu bekomen“.662 Gemeinsam mit der Nummer der Leipziger Zeitung ist die Flugschrift in der Sammlung leider nicht erhalten geblieben. Da uns heute jedoch keine andere detaillierte gedruckte Beschreibung der Strelitzen-Revolte aus dem Jahr 1682 bekannt ist, lässt sich vermuten, dass die Leipziger Verleger Butenants Text übernommen und ihrer Zeitung angehängt haben. Ein Jahr später erschien die Erzählung des Hamburger
661 Carsten Prange: Die Zeituntungen und Zeitschriften des 17. Jahrhunderts in Hamburg und Altona: Ein Beitrag zur Publizistik der Frühaufklärung. Hamburg 1978 (= Beiträge zur Geschichte Hamburgs 13), S. 179. 662 Leipziger Post- und Ordinar-Zeitung (Leipzig), 1682, das IV. Stück der 46. Woche.
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Der Strelitzen-Aufstand in der europäischen frühmodernen Öffentlichkeit
Kaufmanns auch in Frankfurt, und zwar im 44. Band der berühmten mehrbändigen Geschichtschronik Diarium Europaeum.663 Dieser 1683 erschienene Band behandelte die wichtigsten Ereignisse der europäischen Geschichte des Jahres 1680, jedoch wurde im Appendix des Werkes neben anderen Flugschriften auch Butenants Text abgedruckt, allerdings unter einem neuen Titel: Warhaffte Relation der traurigen Tragoediae, welche sich in der Stadt Moscau mit Ihr Czaris. Majest. Leib-Wacht (den so genandten Strelitzen) zugetragen/ den 15. 16. und 17. May Anno 1682. Die Frankfurter Version des Textes unterscheidet sich von der Version der Hamburger Ausgabe an einigen Stellen (z. B. in der Rechtschreibung einiger Namen sowie in einigen erwähnten Daten), sodass nicht auszuschließen ist, dass die Verleger des Diarium Europaeum eine Handschrift der Erzählung Butenants zur Verfügung hatten und nicht nur die gedruckte Hamburger Fassung. Auch in anderen Ländern erweckte Butenants Bericht großes Interesse: So wurde er in Schweden bekannt, wo sogar eine schwedische Übersetzung der Hamburger Flugschrift angefertigt und gedruckt wurde.664 Im Unterschied zu vielen anderen frühneuzeitlichen Flugschriften, die schon nach ihrer Veröffentlichung wieder in Vergessenheit gerieten, flammte das Interesse an dem Text von Butenant Ende der 1680er-Jahre erneut auf. Damals engagierte der Wieringsche Verlag in Hamburg den berühmten deutschen Gelehrtern und Schriftsteller Eberhard Werner Happel als Journalisten.665 Happel hatte als Autor zahlreicher Geschichtsromane und historischer Werke ein starkes Interesse für die politische Zeitgeschichte Europas und betätigte sich in den 1680er-Jahren als Kompilator der im Wieringschen Verlag herausgegebenen Jahreschronik Kern-Chronica der merckwürdigsten Welt- und Wunder-Geschichte.666 Der im Jahr 1690 erschienene Sammelband dieser Chronik behandelt die Ereignisse der europäischen Geschichte des Jahrzehnts von 1680 bis 1690.667 In der Darstellung des Jahres 1682 ging Happel auf die Details der Strelitzen-Revolte ein (worauf wir später nochmal zurückkommen werden), und im Anhang des Bands wurde unter anderen Flugschriften auch Butenants Text neu
663 Siehe Continuatio XLIV Diarii Europaei Infertis variis actis publicis. Das ist: Täglicher Geschichts-Erzehlungen Vier und Vierzigster Theil/ Oder des Neu-eingerichteten Diarii Europaei Funffzehender Theil; worinnen enthalten/ Theils/ was sich hin und wieder in der Welt/ am Kayserlichen/ Chur und Fürstlichen/ Theils auch an andern Königl. Höfen/ Landen und Herrschafften biß auff gegenwärtige Zeit denckwürdigst begeben und zugetragen hat. Frankfurt am Main 1683. 664 Siehe die Druckschrift Een sanferdig och vthförlig Relation och Berättelse, om dhen ynkesamme Handel och Tragædia, som sigh tildragit i Ryßlandh och Stadhen Muskow den 15. 16. och 17. May. innewarande Åhr 1682 in: UUB, Palmsk. sam., Vol. 97, S. 413–439. Eine andere Kopie der gleichen schwedischen Ausgabe befindet sich auch in: UUB, Cronst. sam., Nr. 11. 665 Über Happels Leben und Werk siehe Theo Schuwirth: Eberhard Werner Happel (1647–1690): Ein Beitrag zur deutschen Literaturgeschichte des siebzehnten Jahrhunderts. Marburg 1908. 666 Ebd., S. 50–53. 667 Siehe: Kern-Chronica der merckwürdigsten Welt- und Wunder-Geschichte: Ander Theil. Fürstellend die merckwürdigsten Welt- und Wunder-Geschichte So sich in und ausser Europa durch die Welt hin und wieder von Ao. 1680 bis 1690 und also in 10 nacheinanderfolgenden Jahren begeben haben. Hamburg 1690.
Heinrich Butenants Bericht: das Schicksal einer Flugschrift
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abgedruckt.668 Auch in Frankfurt wurde Butenants Erzählung nicht vergessen. 1691 erschien hier der zwölfte Band des voluminösen Werks Theatrum Europaeum, der die Ereignisse der europäischen Geschichte der Jahre 1679–1687 abdeckte. Die Moskauer Strelitzen-Revolte fand dort ebenfalls Erwähnung, wobei die alte Erzählung Butenants für die Geschichte über den „Tumult and grausames unerhörtes Morden/ von denen sogenannten Strelitzen“ hinzugezogen und erneut abgedruckt wurde.669 Jedoch wurde Butenants Beschreibung des Strelitzen-Aufstands nicht nur in Europa, sondern auch im Russland des 17. Jahrhunderts gelesen und sogar übersetzt. Die Übersetzung findet sich in der Chronik Letopisec velikija zemli Rossijskija („Chronik des großen russischen Landes“), die während der 1690er-Jahre zusammengestellt wurde und deren Verfasser höchstwahrscheinlich Karion Istomin war.670 Wie bereits erwähnt, hatte dieser 1682 für carevna Sof ’ja panegyrische Gedichte geschrieben. Im Text der Chronik beginnt das Jahr 1682 mit der gemeinsamen Thronbesteigung von Peter und Ivan, wonach sich folgende Passage findet: „Und danach erschlugen die Strelitzen rebellierend die Bojaren und die Menschen anderen Ranges, worüber die unten stehende Erzählung ausführlich berichtet: Die Erzählung über den in Moskau im Jahre 1682 stattgefundenen Tumult, übersetzt aus der deutschen Sprache aus dem Buch ausgewählter apelischer Erzählungen [apelievy povesti]“.671 Die angekündigte Erzählung stellt in der Tat nichts anderes als die russische Übersetzung des Berichts von Heinrich Butenant dar.672 Es liegt nahe, dass mit apelievy povesti, das oben besprochene Geschichtswerk von Eberhard Happel (Happel → apel) in seiner Ausgabe von 1688 oder 1690 gemeint ist, aus dem der russische Schreiber Butenants Text entnahm. Warum jedoch zog der Autor der Chronik ausgerechnet die deutsche Flugschrift für die Beschreibung der Ereignisse hinzu und nicht eines der einheimischen Narrative, an denen es nicht mangelte? Bereits der erste Biograf von Karion Istomin, der russische Philologe Sergej Nikolaevič Brailovskij, vermerkte, dass Istomin nach dem Sturz von carevna Sof ’ja 1689 unter Verdacht stand und seine Stelle in der zarischen Druckerei zunächst verlor.673 Als Karion, der Kanzleischreiber von Patriarch Adrian, die Ungnade
668 Schuwirth: Eberhard Werner Happel, S. 53; siehe auch Blome: Das deutsche Russlandbild, S. 259. 669 Theatri Europaei Continuati Zwölffter Theil/ Das ist: Abermalige Außführliche Fortsetzung Denck- und Merckwürdigster Geschichten: Welche/ ihrer gewöhnlichen Eintheilung nach/ an verschiedenen Orten durch Europa, Wie auch in denen übrigen Welt-Theilen/ vom Jahr 1679. an biß 1687. sich begeben und zugetragen. Frankfurt am Main 1691, S. 441–450. 670 Über die Letopisec siehe: A. S. Lavrov: „Letopisec“ Kariona Istomina, in: TODRL, Bd. 45 (1992), S. 411–413; S. N. Brailovskij: Odin iz pёstrych XVII-go stoletija. Sankt-Peterburg 1902 (= Zapiski imperatorskoj akademii nauk po istoriko-filologičeskomu otdeleniju, Bd. 5), S. 324–325. 671 Vgl. den Originaltext: „А потом стрельцы взбунтовавши побили бояр и других чинов о чемъ пространно изъявлено в сказании ниже сего: Сказание о бывшеи на Москве смуте во 190мъ году переведено из немецкого языка из книги апелиевых избранных повестеи“, in: RGB OR, fond 205, Nr. 419, Bl. 229–229v. 672 Ebd., Bl. 229–236v. 673 Brailovskij: Odin iz pёstrych, S. 220–225.
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Der Strelitzen-Aufstand in der europäischen frühmodernen Öffentlichkeit
überstanden hatte und später vor die Aufgabe gestellt wurde, die Geschichtschronik der vergangenen Jahre zu verfassen, traute er sich anscheinend nicht, das gängige Narrativ über die Eindämmung der Strelitzen-Revolte durch die kluge Regierung Sof ’jas zu verwenden. Stattdessen scheint er die vermeintlich unparteiische Erzählung einer ausländischen Schrift übernommen zu haben. Es ist interessant, dass Heinrich Butenant selbst noch in Russland ansässig und tätig war, als diese erste russische Übersetzung seines Berichts angefertigt wurde. Obwohl der deutsche Originaltext ziemlich eindeutige Angaben machte, wer hinter der Abfassung des Berichts stehen könnte („der daselbst befindliche königliche dänische Resident“), hatte die Publikation der Übersetzung allem Anschein nach keine Schwierigkeiten für Butenant und sein Geschäft zur Folge. Bis weit ins 18. Jahrhundert hinein blieb die Aufzeichnung des Hamburger Kaufmanns über die Moskauer Wirren wirksam und wurde zum Gegenstand eines bemerkenswerten historisch-literarischen Transfers. Als 1757 der berühmte Voltaire vom russischen kaiserlichen Hof beauftragt wurde, eine ausführliche Geschichte der Taten Peters des Großen zu schreiben, wandte der Franzose sich an die russischen Behörden mit der Bitte, ihm alle möglichen relevanten Schriften aus russischen Archiven zu senden. Erst im Juli 1758 bekam er aus Russland die erste Lieferung mit vorbereiteten Materialien.674 Unter anderem war für den französischen Schriftsteller ein „Extrakt über die Rebellionen der Strelitzen“ zusammengestellt worden. Der ursprüngliche Autor des Extrakts war der berühmte russische Forscher und Wissenschaftler Michail Lomonosov. Er sah sich die erste Rohfassung von Voltaires Werk an und war mit der Darstellung des Strelitzen-Aufstands unzufrieden. In seinem Kommentar schrieb Lomonosov: Das ganze Kapitel über die Rebellionen der Strelitzen ist sehr unvollständig. Es gibt viele Fehler. Sie können befehlen, zur Abhandlung des Themas meinen Extrakt über die Strelitzen-Rebellionen zu übersetzten.675
Im für Voltaire vorbereiteten Extrakt fasste Lomonosov die Geschichte des Strelitzen-Aufstands in Anlehnung an russische Quellen (die Berichte von Andrej Matveev und Pёtr Krekšin) sowie an Butenants Erzählung zusammen.676 Die Übereinstimmungen zwischen Butenants Text und einigen Stellen des Extrakts sind fast wörtlich. Es ist schwer festzustellen, wie Lomonosov an die Schrift des Hamburger Kaufmanns kam. Wahrscheinlich kannte er sie aus dem Theatrum Europaeum, ein sehr renommiertes und vielgelesenes Geschichtswerk im Europa der frühen Neuzeit. Insgesamt bietet Lomonosov eine Mischung von verschiedenen Narrativen über die Strelitzen-Rebellion: Während der Anfang der Meuterei unmittelbar nach dem Tod von Fedor Alekseevič 674 S. A. Mezin: Vzgljad iz Evropy: francuzskie avtory XVIII veka o Petre I. Saratov 2003, S. 95–96. 675 M. V. Lomonosov: Polnoe sobranie sočinenij, Bd. 6. Trudy po russkoj istorii, obščestvenno-ėkonomičeskim voprosam i geografii 1747‒1765 gg. Moskva & Leningrad 1952, S. 94. 676 Siehe die Kommentare zur Publikation des Extrakts in ebd., S. 568–572.
Die Berichte der europäischen Zeitungen über die Strelitzen-Revolte
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in Übereinstimmung mit dem Bericht von Butenant wiedergegeben ist (als Protest der Strelitzen gegen ihre korrupten Oberste), werden die Revolte und das Massaker am 15. Mai bereits als Resultat der Miloslavskij-Verschwörung gegen den jungen Peter dargestellt. Es ist interessant, dass Voltaire nach dem Empfang der Materialien im Briefwechsel mit den russischen Behörden Zweifel äußerte, ob so viele Details über die Jungendjahre Peters nicht überflüssig seien, worauf er die Antwort bekam, dass „verschiedene Notizen und Schriften, die ihm [Voltaire] gesendet wurden, sehr hilfreich sein werden, um die Fehler der ausländischen Autoren, die schlecht informiert waren und sowieso nur von einander abschrieben, zu korrigieren“.677 Letztlich übernahm Voltaire einige Teile des Extrakts in seine Histoire de l’Empire de Russie sous Pierre le Grand,678 wenn auch deutlich weniger, als Lomonosovs Zusammenfassung ihm anbot. Damit gelangte die Erzählung des dänischen Handelsfaktors Heinrich Butenant, die er während der blutigen Maitage 1682 in Moskau niedergeschrieben hatte, ins Werk eines der berühmtesten Schriftsteller der europäischen Aufklärung. 5.3 Die Berichte der europäischen Zeitungen über die Strelitzen-Revolte 5.3.1 Überblick über die Presselandschaft Die Zeitung wurde im Laufe des 17. Jahrhunderts zum wichtigsten Medium des frühneuzeitlichen Europa, anhand dessen alle Lesekundigen neue Nachrichten und Informationen schnell beziehen konnten. Ihr dünnes Format und lakonische Artikel, in denen nur das Allerwichtigste über die aktuellen Geschehnisse zum Lesen angeboten war, machten die Zeitung zu einem bequemen Beobachtungsinstrument sowohl für Privatpersonen (hauptsächlich aus der städtischen Oberschicht) als auch für staatliche Behörden. Entscheidend war natürlich auch die Geschwindigkeit, mit der die Nachrichten von Zeitungsverlegern publiziert werden konnten. Das Zeitungsgeschäft hing sehr stark von den Postrouten und deren Effizienz ab, da die Verleger den Großteil ihrer Informationen aus handgeschriebenen Briefen ihrer Informanten per Post bekamen.679 In West- und Nordeuropa wurde in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts ein sehr effektives und verlässliches Postwesen geschaffen.680 Die Postboten konnten täglich bis zu 120 Kilometer zurücklegen, sodass Nachrichten aus z. B. Amsterdam
677 Ebd., S. 570. 678 Vgl. die Kapitel „Chapitre IV: Ivan et Pierre. Horrible sédition de la milice des strélitz“ und „Chapitre V: Gouvernement de la princesse Sophie. Querelle singulière de religion. Conspiration“ in: Voltaire: Anecdotes sur le czar Pierre le Grand. Histoire de l’empire de Russie sous Pierre le Grand, hrsg. v. Haydn Mason. Oxford 1999 (= Les Oeuvres completes de Voltaire 46), S. 528–544. 679 Siehe dazu die Fn. 648. 680 Vgl. Lindemann: Deutsche Presse, S. 27–30; Behringer: Das Netzwerk der Netzwerke.
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Der Strelitzen-Aufstand in der europäischen frühmodernen Öffentlichkeit
nach drei Tagen bereits in Leipzig veröffentlicht werden konnten.681 Die Zeitspanne, die Nachrichten aus osteuropäischen Gebieten, v. a. aus Russland, benötigten, bis sie in europäischen Zeitungen erscheinen konnten, war natürlich deutlich länger. Jedoch wurde das Kommunikationstempo nach der Etablierung einer Postverbindung von Moskau nach Riga und Vilnius in den späten 1660er-Jahren deutlich beschleunigt und das Russische Reich ebenfalls an das europäische postalische System angeschlossen682. Im Durchschnitt betrug die Lieferzeit der Post aus norddeutschen Städten nach Moskau etwa vier Wochen.683 Die europäische Medienlandschaft wurde im 17. Jahrhundert hauptsächlich von deutschen und niederländischen Zeitungen dominiert. Im letzten Drittel des 17. Jahrhunderts gab es in fast jeder deutschen Großstadt eine eigene Zeitung; an besonders wichtigen Handelsorten, wie z. B. Hamburg, Köln oder Amsterdam, existierten gleich mehrere Zeitungen. Insgesamt belief sich die Zahl der deutschen Zeitungen im letzten Drittel des 17. Jahrhunderts auf ca. 60 bis 70 Titel.684 Es gibt mehrere Gründe, warum die periodische Presse in der Frühen Neuzeit ausgerechnet in Deutschland eine solch große Entwicklungsdynamik und Vielfalt an den Tag legte; zu den wichtigsten gehören zweifellos Deutschlands Lage in der Mitte Europas an der Kreuzung der wichtigsten Handels- und Postlinien, daneben der politisch-territoriale Partikularismus Deutschlands, aufgrund dessen jedes kleine Territorium – sei es eine freie Reichsstadt oder ein Fürstentum – bestrebt war, eine eigene Zeitung zu besitzen.685 Außer in Deutschland entwickelte sich im Laufe des 17. Jahrhunderts ein sehr vielfältiges Zeitungswesen in den Niederlanden, hauptsächlich wegen der relativ liberalen Politik, die die Generalstaaten gegenüber den Verlegern und der Presse ausübten.686 Die meisten deutschen und niederländischen Zeitungen waren private Unternehmen (allerdings unter Beobachtung und mehr oder weniger effektiver Kontrolle seitens der Behörden). In den anderen europäischen Ländern – hauptsächlich in Frankreich, England, Spanien und den skandinavischen Staaten – war das Zeitungswesen hingegen ein staatlich sankti681 682 683 684
Berghaus: Die Aufnahme der englischen Revolution, S. 63. Šamin: Kuranty XVII stoletija, S. 83–88. Maier (Hrsg.): Vesti-Kuranty, S. 68–70. Martin Welke: Deutsche Zeitungsberichte über den Moskauer Staat im 17. Jahrhundert, in: Mechthild Keller (Hrsg.): Russen und Rußland aus deutscher Sicht 9.–17. Jahrhundert. München 1985 (= West-östliche Spiegelungen. Russen und Rußland aus deutscher Sicht und Deutsche und Deutschland aus russischer Sicht von den Anfängen bis zum 20. Jahrhundert. Reihe A, Bd. 1), S. 264– 286, hier S. 270–271; Wilke: Grundzüge der Medien- und Kommunikationsgeschichte, S. 64. 685 Über die Ausbreitung des Zeitungswesens im frühneuzeitlichen Deutschland und ihre Gründe vgl. Wilke: Grundzüge der Medien- und Kommunikationsgeschichte, S. 49–65. 686 Über die niederländischen Zeitungen vgl. Michel Morineau: Die holländischen Zeitungen des 17. und 18. Jahrhunderts, in: Michael North (Hrsg.): Kommunikationsrevolutionen. Die neuen Medien des 16. und 19. Jahrhunderts. Köln [u. a.] 1995 (= Wirtschafts- und Sozialhistorische Studien 3), S. 33–43; Otto Lankhorst: Newspapers in the Netherlands in the Seventeenth Century, in: Brendan Dooley und Sabrina A. Baron (Hrsg.): The Politics of Information in Early Modern Europe. London & New York 2001 (= Routledge Studies in Cultural History), S. 151–159.
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oniertes Unternehmen: Für die Zwecke einer zentralisierten Informationspolitik und staatlicher Propaganda war die Existenz eines zentralen Presseorgans – wie z. B. die französische Gazette (gegründet 1631) oder die englische London Gazette (seit 1665) – ausreichend.687 Aufgrund ihrer Zahl und Vielfalt sowie der geografischen Nähe zu Russland berichteten vor allem die deutschen Zeitungen am häufigsten über die Geschehnisse im Moskauer Reich. Die wichtigste Informationsroute verlief dabei über die Handelswege der Ostsee und die baltischen Hafenstädte, sodass die Moskauer Nachrichten am ausführlichsten und am schnellsten in den Zeitungen in Königsberg, Danzig, Hamburg sowie in Berlin abgedruckt wurden.688 Wie der deutsche Pressehistoriker Martin Welke in seinen Forschungen zeigen konnte, unterschied sich die Berichterstattung der Zeitungen über das Reich der ersten Romanovs deutlich von den diffamierenden Beschreibungen der europäischen frühneuzeitlichen Reiseliteratur über die ‚orientalische Despotie‘ und die Knechtkultur Russlands. Zeitungsverleger und Journalisten zogen die sachlichen Mitteilungen über die Wirtschaft, die Außenpolitik und innerstaatlichen Angelegenheiten des Moskauer Reiches den stereotypisierten Floskeln vor.689 Großes Interesse hatten die Verleger und die Zeitungsleser, bei denen es sich zu einem großen Teil um Kaufleute handelte, an sozial-politischen Unruhen, die einen erfolgreichen Ablauf des Handelsbetriebs sehr stören konnten. 1670 bis 1671 verursachte beispielsweise der Aufstand der Donkosaken unter der Führung von Stepan Razin einen wahren Medienrummel im nördlichen Europa und insbesondere auf deutschem Territorium.690 Auch die turbulenten Ereignisse der Strelitzen-Rebellion 1682 entgingen der Aufmerksamkeit der Zeitungen nicht. Martin Welke, ein herausragender Kenner der deutschen frühneuzeitlichen Zeitungen und ihrer russischen Berichte, identifizierte in seinem Werk von 1976 sieben deutschsprachige Zeitungen, die im Jahr 1682 über die Ereignisse in Moskau berichteten.691 Heute ist es möglich, Welkes Angaben zu korrigieren. Für die Periode von März 1682 bis Februar 1683 lassen sich Berichte, die den Strelitzen-Aufstand und die damit verbundenen Geschehnisse in Russland thematisieren, in folgenden neun deutschen Zeitungen finden:
687 688 689 690
Wilke: Grundzüge der Medien- und Kommunikationsgeschichte, S. 65–67. Maier (Hrsg.): Vesti-Kuranty, S. 77–83. Welke: Rußland in der deutschen Publizistik; Welke: Deutsche Zeitungsberichte. Welke: Rußland in der deutschen Publizistik, S. 203–205; Maier: How was Western Europe Informed. 691 Welke: Rußland in der deutschen Publizistik, S. 229, Fn. 560.
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Der Strelitzen-Aufstand in der europäischen frühmodernen Öffentlichkeit
Wochentliche Ordinari-Reichs-Post-Zeitungen aus Altdorf-Weingarten – 10 Zeitungsartikel; 2. Braunschweigische Eingelauffene Ordinari Post-Zeitung von dem was wöchentlich in und ausserhalb des Heil. Römischen Reiches werkwürdiges paßieret mit ihren Beilageheften Freitags Ord:Beilage zur wöchentlichen Post-Zeitung und Wöchentlicher Mercurius Zur Ordinari Post-Zeitung – insgesamt 16 Zeitungsartikel; 3. Leipziger Post- und Ordinari-Zeitung – 12 Zeitungsartikel; 4. Münchner Mercurii Relation, oder wochentliche Reichs Ordinari Zeitungen, von underschidlichen Orthen – 19 Zeitungsartikel; 5. Münchner Ordenliche Wochentliche Post-Zeitungen – 8 Zeitungsartikel; 6. Züricher Montägliche Wochenzeitung – 9 Zeitungsartikel; 7. Züricher Ordinari-Wochen Zeitung – 15 Zeitungsartikel; 8. Die sogenannte Berliner ‚Titellose Zeitung‘, die unter den Titeln Dienstagischer bzw. Sonntagischer Mercurius / Fama / Postilion erschien – 22 Zeitungsartikel; 9. Wochenliche Ordinari Post-Zeitung, deren Erscheinungort unbekannt ist692 – 2 Zeitungsartikel. 1.
Außerdem wurde die Berichterstattung über die Ereignisse in Moskau von einigen nicht-deutschen Zeitungen ausgewertet: von der englischen London Gazette (insgesamt 15 Berichte),693 der französischen La Gazette (auch unter dem Titel Nouvelles Ordinaires – 9 Berichte)694 und dem schwedischen Swenska Mercurius (zusammen mit der Beilage Swenska Post-Ryttaren – 13 Berichte). Dass Zeitungen aus Städten entlang der baltischen Handelsroute in der oben angeführten Liste fehlen, ist offensichtlich und auf den ersten Blick überraschend; es lässt sich jedoch vordergründig mit mangelnder Überlieferung erklären. So sind die Hamburger Nachrichtenblätter – wie z. B. der häufig über Russland berichtende Nordischer Mercurius oder Relations-Courier des Verlegers Thomas von Wiering, in dessen Druckerei auch die Flugschrift von Heinrich Butenant erschien – aus dieser Zeit bis auf einzelne Ausnahmen leider nicht überliefert.695 Nicht erhalten geblieben sind auch 692 Im Bestandsverzeichnis der deutschen Zeitungen des 17. Jahrhunderts von Else Bogel und Elger Blühm wird für diese Zeitung die südwestdeutsche Herkunft vermutet, siehe Else Bogel und Elger Blühm (Hrsg.): Die deutschen Zeitungen des 17. Jahrhunderts: ein Bestandsverzeichnis mit historischen und bibliographischen Angaben, Bd. 1. Text. Bremen 1971 (= Studien zur Publizistik, Bremer Reihe. Deutsche Presseforschung 17), S. 192–194. 693 Über die Berichte der London Gazette mit Russland-Bezug in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts und ihre Informationsquellen vgl. Graeme Herd: The London Gazette as a Source for Russian History, 1666–1700, in: Study Group on Eighteenth-Century Russia Newsletter 22 (1994), S. 9–12. 694 Für einen kurzen Überblick über die russlandbezogenen Berichte von La Gazette im 17. Jahrhundert siehe Gol’dberg: Izvestija o Rossii, S. 205–206. 695 Nur zwei Ausgaben von Relations-Courier (vom 10. Februar und 9. Mai) und kein einziges Exemplar des Nordischen Mercurius sind aus dem Jahr 1682 erhalten geblieben. Siehe die Angaben in Bogel/Blühm (Hrsg.): Die deutschen Zeitungen, S. 180–185, 227–231. Über die Zeitungen aus
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die Jahrgänge 1682 und 1683 der Danziger Ordinari Freytags-Zeitung.696 Etwas anders sieht die Situation der Königsbergische Sontags Ordinari Post-Zeitung aus. Insgesamt sind 24 Nummern dieser Zeitung für das Jahr 1682 überliefert (ca. 20 Prozent der Ausgaben des Jahres), wobei 16 davon die Zeitspanne von Mai bis Oktober behandeln. Eine Nachricht mit einem russlandbezogenen Inhalt kommt jedoch das letzte Mal in der Nummer 52 vor, in der vom 22. Mai aus Moskau gemeldet wurde, dass „Seine Czarische Maiest. vergangene Woche mit grosser Betrübnis des Hofes gestorben ist, und dessen jüngster Bruder ohngefehr 10. Jahr alt von der andern Ehe und dessen Mutter die wegen ihrer Weißheit sehr gerühmet wird deroselbigen succediret“.697 Von da an verschwinden die Meldungen über russische Angelegenheiten völlig. Die Abwesenheit von Nachrichten aus Russland muss jedoch nicht nur auf die geringe Überlieferungsquote der Königsberger Zeitung zurückgeführt werden, sie kann auch die Konsequenz einer bewussten politischen Entscheidung gewesen sein. Es sei daran erinnert, dass der russische Bote Dmitrij Simonovskij im Sommer 1682 über Königsberg nach Berlin unterwegs war. Am 8. August desselben Jahres erteilte der Brandenburgische Kurfürst den Befehl, „in denen Königsbergischen Zeittungen […] nicht das geringeste von Muscowitischen sachen, es sey guthes oder böses, [zu] drucken“.698 Anscheinend wollte der Kurfürst vermeiden, dass das Verhältnis mit dem Moskauer Reich unnötig kompliziert würde. Die überlieferten Bestände der Königsberger Zeitung, die mit keinem Wort die Unruhen in Moskau erwähnen, deuten darauf hin, dass diese kurfürstliche Verordnung umgesetzt wurde. Die Bestände der oben aufgelisteten neun Zeitungen geben jedoch durchaus einen guten Einblick, welche Informationen über den Strelitzen-Aufstand in der deutschen Presse zirkulierten. Da die frühneuzeitlichen Verleger Nachrichten aus anderen Zeitungen nicht selten kopierten, konnte ein Artikel, der zuerst in einem Hamburger oder Danziger Nachrichtenblatt erschienen war, später z. B. in einer Münchner oder Züricher Zeitung wiederholt werden. Tatsächlich werden „Hamburg“, „Nider-Elbe“ oder „Danzig“ in mehreren der Zeitungen als Ausgangsort einer Nachricht über die russischen Ereignisse genannt. Allerdings war man mit solchen Verweisen nicht immer konsequent, und in vielen Fällen wird in den Zeitungen eine Meldung direkt mit dem Titel „aus Moskau“ eingeführt, obwohl sehr unwahrscheinlich ist, dass ein Verleger z. B. in München oder Zürich einen direkten Nachrichtenbrief aus Moskau abonniert hatte. Das Kopieren von Nachrichten, die Inkonsequenz bei der Angabe der Nach-
Hamburg und Altona und ihre Rolle bei der Entwicklung der deutschen Presse im 17. und 18. Jahrhundert siehe auch Holger Böning: Welteroberung durch ein neues Publikum. Die deutsche Presse und der Weg zur Aufklärung: Hamburg und Altona als Beispiel. Bremen 2002 (= Presse und Geschichte – neue Beiträge 5). 696 Bogel/Blühm (Hrsg.): Die deutschen Zeitungen, S. 154–156. 697 Königsbergische Sontangs Ordinari Post-Zeitung (Königsberg), 1682, Nr. 52, „Moßkou vom 22. Mai“. 698 Forsten: K vnešnej politike, in: ŽMNP 331 (1900), S. 15–16.
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richtenquelle und die Verwendung von unterschiedlichen chronologischen Stilen699 führten oft zu einem Durcheinander in der Datierung von Berichten, sodass dieselbe Nachricht in verschiedenen Zeitungen manchmal auf unterschiedliche Tage und sogar Monate datiert wurde, wie in der Folge noch zu sehen sein wird. Im Folgenden soll die Analyse der Zeitungsberichte über den Strelitzen-Aufstand in zwei Schritten erfolgen. Zunächst sollen die Kanäle des Informationserwerbs und die Kommunikationsnetzwerke der Zeitungen erläutert, danach die Inhalte der Zeitungsartikel und die Chronologie der Berichterstattung thematisiert werden. 5.3.2 Informationskanäle und Korrespondenten Wie bereits erwähnt, wurden Nachrichten in den Zeitungen des 17. Jahrhunderts unter Angabe des Ortes, von wo sie stammten, publiziert. Anhand solcher Angaben lässt sich in einer Tabelle darstellen (Tabelle 3), aus welchen Orten die oben aufgelisteten Zeitungen ihre Informationen über die russischen Angelegenheiten bekamen. Es wird ersichtlich, dass Hamburg und Danzig – zwei wichtige Postnetz- und Handelszentren im Norden Europas – die entscheidende Rolle in der Verbreitung der Nachrichten aus Russland spielten.700 Dabei bezogen sich die Hamburger und Danziger Korrespondenten sowohl auf die Meldungen direkt aus Moskau als auch auf die einkommenden Informationen aus anderen Orten. Hamburger Berichte erwähnen oft Riga und Narva als Nachrichtenursprung und Danziger Artikel sprechen über Meldungen aus Wilna, Lemberg und Smolensk.701 Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Nachrichten über die Lage im Moskauer Reich in der Regel über vier Kanäle in die europäischen Zeitungen gelangten: direkt aus Moskau, aus den baltischen Städten (Narva, Riga, Königsberg, Danzig), aus Polen-Litauen (Warschau, Jaworow, Lemberg, Wilna/Wildau) und aus den Niederlanden (Den Haag, Amsterdam).
699 Die Zeitungen, die in süddeutschen katholischen Städten erschienen, benutzten bereits den neuen Stil, während in norddeutschen Städten der alte Stil gängig war, siehe Lindemann: Deutsche Presse, S. 69–71. Die Fehler entstanden oft dadurch, dass die Zeitungsherausgeber nicht immer wussten, welche Datierungsart in der eingegangenen Nachricht verwendet worden war. 700 Über die Rolle dieser Städte auf dem nordeuropäischen Nachrichtenmarkt vgl. die Studien: Karl Heinz Kranhold: Frühgeschichte der Danziger Presse. Münster 1967 (= Studien zur Publizistik, Bremer Reihe. Deutsche Presseforschung 9); Böning: Welteroberung durch ein neues Publikum. 701 Siehe z. B. Wochentliche Extra Ordinari-Zeitungen (Altdorf-Weingarten), 1682, Nr. 41: „Dantzig vom 23. Septem. Von Smolenzko ist Bericht eingelauffen/ daß die Unruh in Moscau noch nicht nachlasse“. Für die Übersicht der Nachrichten über die Moskauer Unruhen 1682 in der deutschen Presse, deren Absendeort als Danzig angegeben wird, siehe Kranhold: Frühgeschichte der Danziger Presse, S. 166–167.
Die Berichte der europäischen Zeitungen über die Strelitzen-Revolte
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Tabelle 3 Ort, woher die Nachricht gemeldet wird
Anzahl der Erwähnungen
Danzig
31
Moskau
26
Hamburg / Nieder-Elbe
23
Narva
9
Wien
8
Königsberg / Preußen
8
Warschau
8
Niederlande (Den Haag und Amsterdam)
7
Lemberg
6
Jaworow
4
Stockholm
2
Riga
2
Novgorod702
2
Wilna / Wildau
1
Belaja Cerkov’
1
Jarosław
1
Was die Nachrichten aus den Niederlanden angeht, so geben die Zeitungen zum Teil selbst den Hinweis darauf, über welche Wege dies geschah. Die Braunschweigische Post-Zeitung erwähnt die „Amsterdamer Briefe“ von dortigen „Moskowitischen Kaufleuten“703, die offenbar die Kommunikationsroute über den Hafen von Archangel’sk in Anspruch nahmen.704 Auf die „Moscowittische Kauffleuhte“ bezog sich auch die Züri702 Novgorod wird beide Male als Ursprungsort der Nachricht in der schwedischen Zeitung Swenska Mercurius genannt. 703 Unter „Moskowitischen Kaufleuten“ werden dabei natürlich die niederländischen Kaufleute, die mit Russland Handel betrieben, gemeint, und nicht die russischen Händler, die es in Amsterdam im 17. Jahrhundert nicht gab. 704 „Dieses verursachet/ daß laut heutiger Amsterdamer Briefe in 3. Posten selbige Moskowitische Kaufleute keine Briefe von dannen bekommen/ dahero sie auch mit der Hollöndischen Convoy/ welche verwichenen Sonnabend nach Archangel hat abgehen wollen/ in Furchten gestanden/ mit
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cher Ordinari-Wochen Zeitung in der Korrespondenz aus Holland vom 1./11. August.705 Es gibt jedoch noch einen niederländischen Kommunikationsakteur, dessen Berichte in die Zeitungen gelangten – Johann van Keller. Sein Name wird nirgendwo genannt, jedoch weisen einige Zeitungsartikel eine erstaunliche Ähnlichkeit zum Inhalt seiner aus Moskau verschickten Briefe auf. So berichtet die Züricher Montägliche Wochenzeitung unter dem Titel „Auß Niderland. Haag/ vom 26. Decemb./5. Jan.“ über die Audienz des dänischen Gesandten bei den russischen Zaren sowie über die Gründe, warum die Moskauer Regierung keine Militärallianz mit Dänemark eingehen werde.706 Genau die gleichen Themen behandelte auch van Keller in seinem Brief an die Generalstaaten vom 7. November 1682, der laut Empfangsvermerk am 28. Dezember 1682 (n. S.) in Den Haag einging.707 Da die Daten des Empfangs auf Kellers Briefen in den Niederlanden im dort gängigen neuen Stil angegeben wurden, ist das Erscheinen des Artikels in der Züricher Zeitung aus der Sicht der Chronologie plausibel: Am 28. Dezember 1682 (n. S.) kam der Brief aus Moskau in den Niederlanden an und bereits am 5. Januar 1683 (n. S.) wurde die Information an die Zeitung gemeldet. Es ist interessant, dass außer der Züricher Montägliche Wochenzeitung auch die braunschweigische Post-Zeitung sich auf den gleichen Brief von van Keller (nämlich den vom 7. November 1682) bezieht. Dort wurde in der Nummer 1 vom Januar 1683 kurz gemeldet: Amsterdam/ vom 1. Januarii. st. n. […] Mit Brieffen auß Moßkau vom 7. November hat man/ daß Ih. Czarische Majestät nebst der Czarin Princeßin und der ganze Hof in der Stadt Moßkau zu grosser Freude widerum waren arriviret/ hergegen 12 000 Mann der Strelitzen von dar nach den Frontieren nach Polen marchiret/ man hätte aber vorhero einige von den Rädleinsführern heraus genommen/ sie nach Verdienst abzustraffen.708
Auch alle diese Informationen – die Rückkehr des Zarenhofes nach Moskau, die Freude der Bevölkerung darüber und die Verbannung von 12.000 Strelitzen an die polnische Grenze – kommen in van Kellers Brief vor. Die Berichte des niederländischen Residenten sind auch als Quellen für einige Artikel der deutschen Zeitungen stark zu vermuten, als deren Absendeort Moskau angegeben wurde. So wurde in der Braunschweiger Zeitung in der Ausgabe Nr. 33 eine lange Nachricht aus „Moßcau/ vom 27. Julii“ abgedruckt, die die Lage in der russischen Hauptstadt im Sommer 1682 schildert, die sich wieder etwas beruhigt hatte.709 Die Inhalte der Nachricht stimmen exakt mit van Kellers Brief vom 27. Juni 1682 überein.
705 706 707 708 709
dahin sich zu begeben/ weiln sie diese Empörung in selbigen Reich vermuhtet haben“, in: Freitags Ord:Beilage zur wöchentlichen Post-Zeitung (Braunschweig), 1682, Nr. 27, „Nider-Elbe vom 30 Junij“. Ordinari-Wochen Zeitung (Zürich), 1682, Nr. 33 vom 12. August, „Holland vom 1.11. Augstm.“. Montägliche Wochenzeitung (Zürich), 1683, Nr. 3 vom 8./18. Januar, „Nider-Elbe vom 26. Decembr./5. Jan.“. SPbII RAN, Russische Sektion, Samml. 40, Nr. 57, Bl. 117. Eingelauffene Ordinari Post-Zeitung (Braunschweig), 1683, Nr. 1, „Amsterdam/ vom 1. Januarii. st. n.“. Eingelauffene Ordinari Post-Zeitung (Braunschweig), 1682, Nr. 33, „Moßcau/ vom 27. Julii“.
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Sogar Kellers kurzer Vermerk im Postskriptum, dass die holländische Handelsflotte in ungewöhnlichen 15 bis 16 Tagen die Distanz zwischen Amsterdam und Archangel’sk zurückgelegt habe, wurde im Zeitungsartikel beibehalten: „Die Holl=Früh-Schiffe/ so von Amsterdam nach Archangel abgangen/ sind nur 15. a 16. Tage unterwegens/ gewesen so was Extraordinaires ist“. Die Diskrepanz zwischen dem in der Zeitung angegebenen Datum (27. Juli) und dem Datum des Briefes (27. Juni) entstand dabei höchtwahrscheinlich aus einem Lesefehler. Interessant ist zudem, dass die gleiche, obwohl etwas gekürzte Nachricht auch in anderen Zeitungen erschien, jedoch jedes Mal mit einem anderen Datum: „Moßkau/ vom 20. 30. Heum. [ Juli]“, „Auß Moscaw/ den 1. Julij“ und „Moscau vom 2. Augusti“. Van Kellers Brief vom 13. Juni 1682, in dem der niederländische Resident auf die Feindschaft zwischen den Strelitzen und den Moskauer Cholopen einging, wurde ebenfalls in der deutschen Presse wiedergegeben.710 Sogar in der englischen London Gazette wurden Auszüge aus van Kellers Briefen gedruckt.711 Es ist allerdings schwer nachzuvollziehen, wie diese Briefe in die Zeitungen gelangten: Wurden sie von den Niederlanden aus weitergegeben, wie oben für die deutschen Verleger dargestellt, oder wurden sie bereits auf dem Postweg in die Niederlande abgeschrieben? Auch die Korrespondenz eines weiteren Moskauer Berichterstatters erschien in der deutschen Periodik. Es handelt sich um den Bericht des Korrespondenten von Hermann Dietrich Hesse, der oben im Kapitel 4.4 mit großer Wahrscheinlichkeit als der Moskauer Postmeister Andrej Andreevič Vinius identifiziert wurde. In der folgenden Tabelle kann man die „geschriebene Zeitung“ von Vinius aus GStA PK mit dem Text aus der Berliner Eingekommener Zeitungen Sonntagische Fama vergleichen:
710 Siehe: Ordentliche Wochentliche Post-Zeitungen (München), 1682, Nr. 33 vom 15. August, „Auß Moscau/ vom 13. Junij“. Vgl. auch die gleiche Nachricht in Ordinari-Wochen Zeitung (Zürich), 1682, Nr. 32 vom 5. August. Hier wird jedoch die Korrespondenz unter dem falschen Monat wiedergegeben: „Moßkau/ vom 13.23. Heumonat [ Juli]“. 711 Es handelt sich um zwei Nachrichten, als deren Absendeort Moskau bezeichnet ist, vgl. The London Gazette, 1682, Nr. 1746 from Thursday August 10. to Monday August 14., „Moscow, June 27“ (erweist Ähnlichkeit zu van Kellers Brief vom 27. Juni 1682); The London Gazette, 1682, Nr. 1762 from Thursday October 5. to Monday October 9., „Moscow, Aug. 15“ (erweist Ähnlichkeit zu van Kellers Brief vom 1. August 1682 oder geht möglicherweise auf einen uns heute nicht mehr vorliegenden Brief van Kellers vom 15. August zurück).
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Der Strelitzen-Aufstand in der europäischen frühmodernen Öffentlichkeit
Tabelle 4 „Geschriebene Zeitung“ aus GStA PK712
Eingekommener Zeitungen Sonntagische Fama. Von der 27sten Woche 1682.
Moscau d 30 Maij st. vet. 1682.
Aus Moscau/ vom 10. Junii.
Mein voriges hatt das traurige absterben von Se. Tz. Mytt. höchst lob. gedächtnuß, vermeldet; wie auch die Election des selben Jungsten Herren Bruders he Knees Peter Alexewitz. Dieses soll hinterbringen, daß hochst gedachtem Jungen Herren Tzaaren deßelben ältester he Bruder (nemlich Knees Ivan Alexewitz) zum Collegen und mit Regenten adjungiret worden sey; also, daß anitzo Beyde Herren Bruder das hochste Gouvernement als Tzaaren cum omnium applause bekleiden. Daß die Evangelischen Kirchen alhie demoliret oder in diesem die geringste veränderung von der in Gott ruhenden Tz. Mytt. Sollte vorgenommen v. verübet seyn, ist ein Polnischer auffschinitt: sie suchen vielleicht ihre böse und unkristliche that gegen die unsrige in Wilda newlich verubet, mit solch einem figmento zu bemänteln. Unsere Herrn Reußen sind viel redlicher und Gotsfurchtiger, als solche heyllose und unkristliche Leute.
Mein voriges hat das traurige Abssterben seiner Czarischen Majest. höchstlöbl. Gedächtniß vermeldet/ wie auch die Election desselben jüngsten Herrn Bruders/ Herrn Knees Peter Alexewitz. Dieses sol hinterbringen/ daß höchst gedachtem jungen Herrn Czaren desselben ältister Herr Bruder/ nemlich Knees Jvan Alexewitz zum Collegen und Mit-Regenten adjungiret worden sey/ daß also anitzo beede Herren Brüder das höchste Gouvernament als Czaren cum omnium applausu bekleiden. Daß sonst die Evangelische Kirchen allhie demoliret/ oder hierunter die geringste Veränderung/ von der in Gott ruhenden Czarischen Majestet solte fürgenommen und verübet worden seyn/ ist gantz falsch und errichtet: Vielleicht suchet man die neulich in Wilda verübte böse und unchristliche That mit diesem figmento zu bemänteln: Unsere Herren Reussen sind viel redlicher und gottsfürchtiger/ als daß sie dergleichen fürnehmen und außüben solten.
Interessanterweise teilt Vinius gerade in seinem nächsten Brief an Hesse vom 4./14. Juli seine Befürchtungen mit, dass Nachrichten in die öffentlichen Medien gelangen könnten (siehe Kapitel 4.4 oben). Das Dekret des brandenburgischen Kurfürsten vom 8. August, das den Zeitungsverlegern explizit verbot, die Ereignisse in Russland anzusprechen, stellte offenbar die Reaktion auf diese Bitte des Moskauer Postmeisters dar. Allerdings betraf das Verbot nur die Zeitung in Königsberg, sodass die Nachrichten in der Berliner Zeitung auch weiter problemlos erschienen. Wie aus Tabelle 3 zu ersehen ist, verlief die Hauptroute der Nachrichten aus Russland in die europäischen Zeitungen über die Hafenstädte an der Ostseeküste. Narva, Riga, Königsberg, Danzig und Hamburg bildeten die Knotenpunkte der Kommunikation. Die entscheidende Rolle spielte dabei die Ende der 1660er-Jahre eingeführte Postverbindung zwischen Moskau und Riga, die eine ständige und relativ schnelle Nachrichtenübermittlung aus Russland nach Westen gewährleistete. Briefe zu senden wurde 1682 zu einem alltäglichen Geschäft, sodass es bereits als Signal einer Unruhe galt, wenn die Post nicht ankam, wie die Korrespondenz aus der Leipziger Post- und Or-
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Hier zitiert nach Loewenson: 1681–1683. Geschriebene Zeitungen aus Rußland, S. 412–414.
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dinari-Zeitung anschaulich verdeutlicht: „[…] sonst wird der Todt des Czaren in der Moscaw nochmahl bestättiget/ weil aber in 3. Posten keine Brieffe von dar nach Riga gekommen/ wird ein allgemeiner Aufstand sehr befürchtet.“713 Die in den Zeitungsartikeln oft erwähnten „Briefe auß der Moscau“ erschienen anscheinend regelmäßig in Danziger und Hamburger Nachrichtenblättern, die zur weiteren Verbreitung der Moskauer Nachrichten beitrugen. Besonders für die englische London Gazette stellte Danzig eine wichtige Informationsquelle dar: Bei sechs Artikeln von insgesamt 16, die die Ereignisse in Moskau thematisierten, wird Danzig als Absendeort angegeben. Bei der Untersuchung der baltischen Kommunikationsroute stellt sich die Frage, ob die handgeschriebenen Originale der in den Zeitungen abgedruckten Nachrichtenbriefe und deren Verfasser auch hier identifiziert werden können, v. a. unter den Berichten der schwedischen Agenten aus dem Kommunikationsnetzwerk von Christof Koch. Tatsächlich wird Narva in den analysierten Zeitungen in neun Fällen als Ausgangsort einer Nachricht angegeben. In einem dieser Fälle lässt sich eine starke Ähnlichkeit einiger Stellen im Zeitungsbericht mit den Novgoroder Briefen vom 25. Juni und vom 2. Juli 1682 aus dem Stockholmer Reichsarchiv feststellen, wie die untenstehende Tabelle verdeutlicht. Tabelle 5 Briefe aus Muscovitica 604, RAS
Ordentliche Wochentliche Post-Zeitungen (München), 1682, Nr. 36 vom 5. September714
Novogorodt den 25:ten Juny Ao: 1682
Von Narva/ den 17. Julij.
„Iasikoff sein Sohn, und der streltzen Gollowa Carandeoff sein auß der vorigen Tumult denen Streltzen entwischet, und in der Ukraine bey dem Hetman Iwan Samuylowitz angekommen, die Streltzen haben ihnen von danen außbegehret, alleine die Cosacken haben es ihnen abgeschlagen.“
„[…] auch/ daß unterschidliche grosse Herren mehr/ so die Strelitzen noch caputiren/ sich nach den Cosacken retirirt: Sie hätten selbige zwar von den Cosacken wider begehret/ es wäre ihnen aber solches abgeschlagen worden.“
…
…
„[…] so soll auch zwischen denen Streltzen und Boyarischen Golloppen eine große verbitterung und feintschafft sein, und wird befürchtet, daß die letzten gegen die Streltzen was anfangen werden, massen sie wohl 50 000: man zusammen bringen können.“
„Im übrigen hätten sich bey 50 000 Galloper oder Herren-Diener/ zusammen rottiret/ und sich verschworen/ ihrer und anderer Herren Todt an den Strelitzen zu rächen.“
713 Leipziger Post- und Ordinar-Zeitung (Leipzig), 1682, das I. Stück der 27. Woche, „Preussen vom 4. Juli“. 714 Vgl. dazu auch eine sehr ähnliche Nachricht mit dem gleichen Inhalt aus Freitags Ord:Beilage zur wöchentlichen Post-Zeitung (Braunschweig), 1682, Nr. 33, „Narva vom 7.17. Augusti“.
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Briefe aus Muscovitica 604, RAS Novogorodt den 2:ten Jully Ao: 1682 „Die Streltzen haben begehret, daß in Moscow auff der Ploschet oder Schloßplatz, ein pfahl soll auffgerichtet und darauff geschrieben werden, auß waß Ursachen die großen Herren und mehr andere getödtet worden sein, umb daß keiner die Streltzen vor rebeller außruffen oder beschüldigen, sondern daß sie ihre Zaarischen Mayesteten alles zu liebe gethan nach geredet werden mögen“
Ordentliche Wochentliche Post-Zeitungen (München), 1682, Nr. 36 vom 5. September714 … „Gedachte Strelitzen begehren auch/ daß auff dem Marckt eine Gedächtnuß-Säule auffgerichtet/ und darauff geschriben werden soll/ daß der Mord/ den sie an den grossen Herren begangen/ vor keine Rebellion zuhalten/ sondern daß es dem reich und Regiment zum Besten geschehen“
…
…
„Ihre Zaarische Maÿesteten haben einige Pricassen Streltzen nach Kioff in guarnisoen versenden wollen, alleine die Streltzen haben ein solches abgeschlagen und wollen sich nicht von ein ander trennen lassen“
„In Summa/ beyde Herren Czaren hätten beschlossen/ und vor gut angesehen/ einige Regim. nach Kyoff/ und der Ukraine zusenden/ allein die Strelitzen hätten noch nicht darein willigen wollen/ umb dardurch nicht getrennt zu werden“
Da die zitierten Novgoroder Briefe von Christof Koch am 7. Juli 1682 aus Narva weiterverschickt worden waren (also am 17. Juli laut dem neuen Stil),715 scheint es sehr plausibel, dass irgendeine Abschrift oder eine Zusammenfassung dieser Briefe tatsächlich in die Zeitungen gelangte. Auch einige andere Zeitungsartikel weisen starke Parallelen zu den schwedischen Berichten auf, wie z. B. eine Erzählung über den Anfang der Strelitzen-Revolte und das Massaker im Moskauer Kreml von Mitte Mai.716 Die im Zeitungsbericht angesprochenen Details – z. B. die Erwähnung der 500.000 Rubel, die die Strelitzen für sich verlangten, oder ihrer Forderung, „die eingeführte Veränderung der Religion aufzuheben“ – kommen unter allen Quellen nur in den schwedischen Briefen vor. All dies deutet darauf hin, dass auch die Information aus den schwedischen Kanälen nicht nur in die Hände der staatlichen Behörden, sondern auch in die frühmoderne Öffentlichkeit geriet. Es ist fraglich, ob die schwedischen Behörden solch einem Durchsickern der Information kritisch gegenüberstanden oder ob sie es selbst provozierten. So wurde in der Nr. 49 der Montäglichen Wochenzeitung (Zürich) über die Hinrichtung von Chovanskij berichtet, dass „ein absonderlicher Eilbott von dem Schwedischen Herrn Gesandten in Moscau“ die Nachricht nach Riga gebracht hätte.717 Die Veröffentlichung der Information über innenpolitische Unruhen in einem 715 716 717
Siehe die chronologische Rekonstruktion der schwedischen Berichterstattung über den Strelitzen-Aufstand in der Tabelle 1. Vgl. Montägliche Wochenzeitung (Zürich), 1682, Nr. 30 vom 17. Juli, „Moscau vom 30. Maji./9. Jun.“; Freitags Ord:Beilage zur wöchentlichen Post-Zeitung (Braunschweig), 1682, Nr. 27, „Nieder-Elbe vom 30. Junij“. „Danzig/ vom 14.24. Novembr. Gleich jetzo vernemme ich/ daß in Riga ein absonderlicher Eilbott von dem Schwedischen Herrn Gesandten in Moscau ankommen/ welcher berichtet/ daß die bei-
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fremden Staat konnte jedoch Konsequenzen haben. Wie es bereits im Rahmen dieser Arbeit angesprochen wurde, wurden einige deutsche und niederländische Zeitungen in Moskau am Zarenhof übersetzt und gelesen, und die russische Regierung zeigte eine hohe Sensibilität gegenüber „unanständigen Berichten“ über das eigene Land. Es ist bekannt, dass die russische Diplomatie der schwedischen Seite während der Verhandlungen in den 1670er- und sogar 1680er-Jahren mehrmals Vorwürfe machte, dass die Rigaer „Gazetten“ über die Erfolge des Kosakenrebellen Sten’ka Razin im Jahr 1670 geschrieben hätten.718 Aus diesem Grund scheinen die schwedischen Behörden im Jahr des Strelitzen-Aufstands vorsichtiger gewesen zu sein. In den aus dem Jahr 1682 überlieferten Exemplaren der Rigische Novellen sind keine Nachrichten mit Russland-Bezug enthalten.719 Die in schwedischer Sprache in Stockholm gedruckte staatliche Zeitung Swenska Mercurius hatte dagegen beim Publizieren von russischen Nachrichten freie Hand: In deren Inhalt sowie im Inhalt ihrer Supplement-Ausgabe Swenska Post-Ryttaren finden sich von März 1682 bis Mai 1683 13 Artikel mit den Neuigkeiten aus Russland. Einige dieser Artikel sind direkte Übersetzungen der Meldungen aus der deutschen Presse, während die anderen ganz offensichtlich Zusammenfassungen der von Christof Koch übersendeten Briefe darstellen.720 Dabei war der Weg, über den Kochs Mitteilungen in die Zeitung gerieten, höchstwahrscheinlich offiziell: Der Rezipient – der königliche Sekretär und Hofrat Johann Bergenhielm – agierte gleichzeitig als Redakteur und Zensor von Swenska Mercurius.721 Die Wirkung der Zeitung war vermutlich auf das schwedische Lesepublikum beschränkt,722 da sie in schwedischer Sprache erschien, und die Stockholmer Regierung war sich anscheinend sicher, dass nichts davon am Moskauer Zarenhof bekannt werden konnte. Eine weitere bedeutende Informationsquelle der europäischen Zeitungen stellten schließlich die über Polen eingehenden Nachrichten dar. Am häufigsten wurden als Ausgangsorte Jaworow, Warschau und Lemberg genannt, aber auch Wilna/Wildau, den Czaarn den Feld-Herrn Chowansky/ auß Verdacht einiger Verrähterey/ neben seinen Söhnen haben köpffen lassen/ jedoch were der ältste noch mit der Flucht entkommen“, in: Montägliche Wochenzeitung (Zürich), 1682, Nr. 49 vom 17. Dezember. Unter „dem Schwedischen Herrn Gesandten in Moscau“ ist hier sicherlich Christof Koch gemeint, der sich allerdings im November 1682 noch nicht in Moskau, sondern auf dem Weg von Stockholm nach Narva befand. 718 Maier/Shamin: „Revolts“ in the Kuranty, S. 195–197; Kočegarov: Reč’ Pospolitaja i Rossija, S. 270. 719 Insgesamt sind 10 Ausgaben überliefert, die allerdings nur die Zeit bis Ende Juni 1682 abdecken. Interessant ist, dass diese Examplare im Moskauer Archiv erhalten geblieben sind (RGADA, fond 155, opis’ 1, 1682, Nr. 2), was bestätigt, dass die Rigaische Zeitung tatsächlich in Moskau gelesen wurde. 720 Vgl.: Swenska Mercurius, 1682, Nr. 27 vom 4. Juli, „Nougorden den 2 Junij“; Swenska Mercurius, 1682, Nr. 28 vom 11. Juli, „Nougorden den 5 Junij“; Swenska Mercurius, 1682, Nr. 29 vom 18. Juli, „Narfwen den 30 Junij“. 721 Paul Gerhard Heurgren: Post och press i Sverige 1643–1791. Stockholm 1929 (= Meddelanden från postmuseum 10), S. 10; Claes-Göran Holmberg, Ingemar Oscarsson und Jarl Torbacke: Den svenska pressens historia, Bd. 1. Begynnelsen (tiden före 1830). Stockholm 2000, S. 47, 54. 722 Über die Verbreitung der schwedischen Zeitung im 17. Jahrhundert siehe ebd., S. 43–97.
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Jarosław und sogar die Gebiete an der polnisch-russischen Grenze, wie Smolenk oder die ukrainische Stadt Belaja Cerkov’, kamen vor. Die polnischen Berichte, anscheinend in Form von „geschriebenen Zeitungen“, gelangten hauptsächlich über Danzig, Berlin und Wien in die gedruckten Medien.723 Während August bis Oktober 1682, d. h. während der Zeit, als der Zarenhof sowie viele Beamte und Kaufleute Moskau verlassen hatten und die Riga-Postroute nur mit großen Verzögerungen funktionierte, lief die Mehrheit der Nachrichten mit den Neuigkeiten aus Russland über Polen nach Europa. Unter allen Nachrichten mit Russland-Bezug z. B. in der Berliner Zeitung stellen die polnischen Meldungen fast die Hälfte dar (10 von 22). Man kann annehmen, dass der polnische königliche Hof in das Versenden von Nachrichten involviert war, da in vielen Fällen die Berichte genaue Auskunft über die Aktionen und Intentionen des Königs geben, wie im folgenden Beispiel: Von Warschaw/ den 25. Julij. Auß Jaworow hat diese Post nichts Schrifftwürdiges mitgebracht/ ausser/ daß Sr. Königl. Majest. Senatus ex Consilio Intimiori, in unterschidliche Oerter deß Moscowitischen Gebieths/ dero Leuthe außgeschickt haben/ umb außzukundtschafften/ wie es doch eigentlich mit den innerlichen Troublen (so jetzo dem gemelten Reich hefftig zusetzen sollen/) beschaffen sey/ und hoffen dieselbe/ daß nachdem alle die jenige grosse Herren/ so der Conjunction der Waffen mit hiesiger Cron gegen den Erbfeindt der Christenheit in Moscaw sich opponiret/ anjetzo nicht mehr im Leben seyn sollen/ und sie bey diser erwünschten Conjunctur/ ihren Zweck desto eher/ dem gemeinen Wesen zu gut/ erreichen werden können. Und ist darneben gemelte Königl. Herrschaft entschlossen/ sich nicht eher auß Jaworow zu moviren/ biß allda eine vollkommene Nachricht hiervon würde eingeholet seyn.724
Zwischen einigen Zeitungsartikeln und den Informationen über die Moskauer Unruhen, die, wie oben im Kapitel 4.7 analysiert, am polnischen königlichen Hof zirkulierten, lassen sich viele Parallelen erkennen: Es waren die aus Polen gemeldeten Nachrichten, die über die Vergiftung des Zaren Fedor oder über die Rivalität oder gar den Kampf zwischen Ivan und Peter berichteten. Besonders detailliert gingen einige polnische Nachrichten auf die Ereignisse in der Stadt Smolensk während der zweiten Jahreshälfte 1682 ein,725 was die Vermutung nahe legt, dass die Korrespondenzen
723 Über die Rolle der „Polnischen Novellen“ im Bestand der Danziger Zeitung im 17. Jahrhundert siehe Kranhold: Frühgeschichte der Danziger Presse, S. 83–108. 724 Ordentliche Wochentliche Post-Zeitungen (München), 1682, Nr. 34 vom 22. August. Vgl. auch den Bericht von La Gazette (Paris), Nr. 77 vom 29. August 1682 (n. S.): „De Dantzic, le 5 Aoust 1682. Les dernières Lettres de Iavarow portent qu’on écrit que la Cour de Pologne y passera le reste de l’année, parce que le Roy poutra plus facilement apprendre par la Russie & par Smolensko & Kiovie, l’estat des affaires de Moscovie, aufquelles il prend interest“. 725 Vgl. z. B. „Auß Dantzig/ vom 22. dito [Septem]. […] Von Smolensko ist Bericht eingelauffen/ daß die Unruhe in Moscau noch nit nachlasse/ sondern wider ein grosser Aufflauff entstanden seye“, in: Mercurii Relation (München), 1682, Nr. 41 vom 11. Oktober; „Aus Lemberg/ vom 20. Novem-
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von Stanisław Bętkowski oder anderen namenlosen polnischen Agenten vielleicht als Quelle dieser Meldungen dienten. Insgesamt waren jedoch die polnischen Berichte sehr unzuverlässig und irreführend, wie noch im Folgenden zu zeigen ist. 5.3.3 Der Strelitzen-Aufstand im Spiegel der Zeitungsberichte Die Nachrichten aus Russland erreichten die europäischen Zeitungen mit einer deutlichen Verspätung. Die erste Meldung über den Tod von Fedor Alekseevič erschien wohl in der Nummer 52 der Königsbergischen Zeitung.726 Im Laufe des Juni 1682 verbreitete sich diese Nachricht über andere Zeitungen. Als Nachfolger des Verstorbenen wurde dabei „dessen jüngster Bruder ohngefehr 10. Jahr alt von der andern Ehe“, also Peter Alekseevič, genannt. Bald danach folgten die ersten Meldungen über eine unruhige Lage in der russischen Hauptstadt nach den Veränderungen in der Regierung. Am 24. Juni wurde in der Züricher Ordinari-Wochen Zeitung die Nachricht aus Moskau gedruckt, dass „die Reussischen Soldaten/ deren wol 40 000. in der Zahl“ mit der Wahl von Peter Alekseevič „nicht zu friden sind/ sondern sich deßwegen zusamen gerottet/ und bereits unterschiedliche Wägen mit geflüchteten Güteren einiger Grossen Herren angefallen/ und die Diener sehr übel mißhandlet“.727 Dennoch blieben die Details dieser Meuterei für die europäischen Zeitungsleser zunächst unbekannt. Erst gegen Mitte Juli gelangten ausführliche Berichte über den Strelitzen-Aufstand in die Presse, die offenbar am 30. Mai aus Moskau von dort ansässigen Ausländern abgeschickt worden waren.728 Der erste dieser Berichte kommt in verschiedenen Variatio-
bris. Die grosse Unruhe in Moßkau continuiret nicht allein/ sondern es siehet noch auf ein neues Blutvergiessen aus. Die Strelitzen haben nun in Smolensko wider den Woywoden/ gegen welchen sie einen Bund gemachet/ revoltiret“, in: Eingekommener Zeitungen Dienstagischer Mercurius (Berlin), 1682, 49. Woche. 726 Siehe die Angaben in der Fn. 697. Der päpstliche Nuntius in Warschau Opicio Pallavicini, der nach seinen Worten über den Tod von Fedor durch „Zeitungen“ (avvisi) aus Königsberg informiert worden sei, meinte offenbar genau diesen Zeitungsbericht. 727 Ordinari-Wochen Zeitung (Zürich), 1682, Nr. 26 vom 24. Juni, „Moscau/ vom 1./11. Brachm. [ Juni]“. Wieder scheint hier ein Fehler in der Datierung zu sein, da die in der Nachricht beschriebene Lage viel mehr der Situation vom Anfang Mai 1682 und nicht Juni (schweiz. Brachmonat) entspricht. Vgl. auch eine ähnliche Nachricht in Mercurii Relation (München), 1682, Nr. 28 vom 12. Juli, „Auß Danzig/ vom 23. dito [ Juni]“. 728 30. Mai war der erste Tag nach dem Aufstand, an dem die Post in Moskau wieder zu funktionieren begann. Die Postkutsche mit den Briefen nach Novgorod und Riga verließ Moskau dienstags, und der 30. Mai 1682 war gerade ein Dienstag. Nach dem Ausbruch der Revolte am 15. Mai wurde die Postverbindung im allgemeinen Chaos für zwei Wochen zunächst eingestellt, sodass die ersten Briefe über das Geschehene erst am 30. Mai aus Moskau abgeschickt werden konnten. Wer genau von den in der russischen Hauptstadt ansässigen Ausländern die Autoren der in den Zeitungen abgedruckten Berichte waren, ist unklar.
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nen in insgesamt fünf Zeitungen vor, so berichtet z. B. die Münchner Mercurii Relation über die Rebellion: Auß Moscau/ vom 30. May. Nach dem der jüngste Czarische Printz ein halb Bruder deß abgelebten letzten Czars durch die Grandes/ worunder vil von seiner Mutter Freunden waren/ zum Czar erkohren worden/ haben sich hierauff alsobald die Haupt-Wachten und die ganze Besatzung ungefehr 10 000. Mann zusammen geschlagen/ und einen erschröcklichen Mord auf den 16. 17. diß verübt/ in dem sie nit allein die Freunde des neu erwählten Czars/ sondern auch ihre eigne Officiers/ und vil von den Größten und Vornembsten deß Reichs elendiglich ermordert/ worauf sie den 26. diß den ältesten Printzen Hector Alexowitz zum Czarn gemacht/ welcher wegen seiner Incapacität von den Grandes in der ersten Wahl übergangen worden/ also daß nun zween Czarn allhier im Palast regieren/ Gott wol uns gnädig seyn/ heut ist es wider etwas still und fridsam/ wie lang es währt/ lehrt die Zeit.729
Dem Bericht zufolge haben die Strelitzen in Moskau „einen erschröcklichen Mord“ verübt, weil „die Grandes“ des Reichs nicht den älteren, sondern den jüngeren Bruder des verstorbenen Zaren willkürlich auf den Thron gesetzt hätten. Der andere Bericht stellt vielmehr die finanziellen Forderungen der um ihren Sold betrogenen Strelitzen in den Vordergrund: Unter anderem ist merkwürdig/ daß wie diese Empörung des Volks deren viel tausend der also genanten Strelitzen sich beisammen rottirt/ in voller Battaillie mit geladenen Gewehr und einigen Stücken nach dem Schlosse zu marchiret/ und daselbst die Auslifferung der Grossen (und welche sie in Verdacht gehabt) begehret/ weiln sie einen Rest von 500 000 Rubeln/ wovon man keine Rechnung tun kann/ prätendieren/ dann nur 5000 Rubeln in des Czaren Schatz mehr übrig gefunden.730
Der turbulente Zustand in Moskau erweckte große Aufmerksamkeit bei der europäischen Leserschaft: Während der Monate von Juli bis September 1682 erschienen die Nachrichten über die Lage in Russland in etwa jeder zweiten uns heute bekannten Zeitungsausgabe. Die Geschwindigkeit, mit der die Neuigkeiten in der Presse erschienen, überholte interessanterweise die Berichterstattung mancher diplomatischer Kanäle. So wurde der französische Botschafter in Polen-Litauen Marquis de Vitry, der 729 Mercurii Relation (München), 1682, Nr. 30 vom 26. Juli, „Auß Moscau/ vom 30. May“. Siehe andere Variationen dieses Berichts in: Wochentliche Extra Ordinari-Zeitungen (Altdorf-Weingarten), 1682, Nr. 31 vom 30. Juli, „Aus Moscau vom 30. Junii“; Ordinari-Wochen Zeitung (Zürich), 1682, Nr. 30 vom 22. Juli, „Moßkau/ vom 4. 14. Brachm.“; The London Gazette, 1682, Nr. 1736 from Thursday July 6. to Monday July 10., „Dantzick July 5.“; La Gazette (Paris), 1682, Nr. 63 vom 25. Juli, „De Moskow, le 30 May 1682“. 730 Freitags Ord:Beilage zur wöchentlichen Post-Zeitung (Braunschweig), 1682, Nr. 27, „Nieder-Elbe vom 30. Junij“. Siehe einen ähnlichen Bericht in: Montägliche Wochenzeitung (Zürich), 1682, Nr. 30 vom 17. Juli, „Moscau/ vom 30. Maji. 9. Jun.“.
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die Nachrichten über die Geschehnisse in Russland dem Hof in Versailles zukommen ließ, im Antwortschreiben vom 20. August 1682 (n. S.) ausdrücklich gebeten, sich bei dem Informationserwerb mehr anzustrengen und nicht nur die Sachen zu wiederholen, „die schon vor langer Zeit in allen Zeitungen standen“.731 Die Anzahl der Nachrichten, die direkt aus Moskau gemeldet wurden (damit sind hauptsächlich die in die Presse gelangten Briefe von Johann van Keller gemeint) war jedoch gering. Die meisten der abgedruckten Meldungen kamen aus polnischen Gebieten und wichen stark von der Information aus van Kellers Briefen ab. Während dieser vorzugsweise die beruhigte Lage in Moskau nach dem Mai-Aufstand und die friedliche gemeinsame Regierung von beiden Brüdern – Ivan und Peter – beschrieb,732 berichteten die anderen Zeitungsartikel viel mehr über die politischen Intrigen und den Kampf innerhalb des russischen Regierungskreises, wobei Gerüchte und Spekulationen im Vordergrund standen. So berichteten fünf der durchgesehenen Zeitungen über die Vergiftung des Zaren Fedor durch seine Stiefmutter (Natal’ja Naryškina) als Hauptgrund der Rebellion: „Aus Moßkau continuiret die Zeitung der Vergifftung des Czars welches die Stieffmutter/ umb ihren Sohn auff den Thron zu bringen/ sol gethan haben: Wie aber niemals eine böse That unbelohnet bleibet/ also gehet es hier auch/ denn es ist ein grosser Tumult entstanden/ wovon sie schon Nachricht haben werden“.733 Zu den Verschwörern gegen Zar Fedors Leben wurden auch seine ausländischen Ärzte und der Moskauer Patriarch gezählt: „Die Confusion in Moßkau continuiret annoch/ wie auch daß der vorige Czar durch seine Stiffmutter mit Gifft vergeben worden/ worzu der Griechische Patriarch/ ein Juden-Doctor und Cammerdiener geholfen haben/ welche nach vormahls bemeldter Massacrirung alle gefänglich eingezogen/ auf der Tortur den ganzen Verlauf bekannt/ und folglich zum Tode verurtheilet worden“.734 An die friedliche Doppelregierung der beiden Zaren schienen viele Zeitungsberichte nicht zu glauben, vielmehr wurde in der Presse der Ausbruch eines Konflikts zwischen den Halbbrüdern erwartet735 oder gar direkt gemeldet: „Uber Riga verlautet/
731
AE Pologne, t. 73, Bl. 272v–273. Tatsächlich wurden zu diesem Zeitpunkt bereits drei Nachrichten aus Russland in der französischen La Gazette publiziert, siehe: La Gazette, 1682, Nr. 63 vom 25. Juli, „De Moskow, le 30 May 1682“; Nr. 65 vom 1. August, „De Hambourg, le 17 Iuillet 1682“; Nr. 67 vom 8. August, „De Hambourg, le 24 Iuillet 1682“. 732 Siehe z. B. „Moßcau/ vom 27. Julij. Die Troublen die alhier entstanden/ sind nunmehr vorbei/ worüber der Hof öffentliche Danksagungen in allen Kirchen tun lassen/ und haben Ihro Czarische Majestät benebenst denen Prinzen ihre Betfahrten auch in den nächstgelegenen Clöstern gehalten“, in: Eingelauffene Ordinari Post-Zeitung (Braunschweig), 1682, Nr. 33. 733 Eingekommener Zeitungen Dienstagischer Postilion (Berlin), 1682, von der 29. Woche, „Jaworow/ vom 3. dito [ Juli]“. 734 Freitags Ord:Beilage zur wöchentlichen Post-Zeitung (Braunschweig), 1682, Nr. 31, „Ein anders / vom vorigen dito [Wien 30 Julij]“. 735 Vgl. „[…] und ungeachtet beide Czarren zugleich regieren/ so machiniret doch die eine Partei etwas gegen die ander/ welches einigen Hals brechen wird […]“, in: Wöchentlicher Mercurius Zur Ordinari Post-Zeitung (Braunschweig), 1682, Nr. 33, „Nieder-Elbe/ vom 8. Augusti“.
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daß die beede Moscowittische Czarn mit ihrem Anhang bereits aneinander gewesen/ also daß etlich tausend Mann darüber todt gebliben/ und auch kein Ende deß Metzgens und Rebellierens zu sehen seye/ wovon nechstens mehrere Particularia erwartet werden“.736 In einigen Nachrichten wurde sogar spekuliert, dass einer der Zaren bereits in der Fehde umgebracht worden sei, obwohl verschiedene Zeitungen sich nicht einig waren, ob es sich dabei um Ivan oder Peter handelte. In Braunschweig berichtet die Wöchentlicher Mercurius Zur Ordinari Post-Zeitung, dass „Czar Iwan“ getötet worden sei, „wie jüngst noch aus Polen geschrieben worden“737 –, die Nachricht, mit der, wie wir schon im Kapitel 4.1 gesehen haben, der Moskauer Bote Dmitrij Simonovskij in Hamburg überrascht worden war. Dagegen hielt die London Gazette im August 1682 umgekehrt die Nachricht fest, dass der ältere Ivan seinen jüngeren Bruder hätte umbringen lassen: „We have letters from Moscow, which confirm that the Czar John had caused his younger brother Peter to be killed.“738 Dass die Verleger oft mit gegensätzlichen Meldungen zu tun hatten, demonstriert die London Gazette. Die Nachricht über Peters Ermordung wurde nach drei Wochen widerlegt, sodass die Zeitung öffentlich ihre Angaben korrigieren musste: „Our Letters have come of late very irregularly from Moscovy, and our advices have been uncertain, for now the report of Czar John’s having killed his younger Brother is contradicted again, and we are told that those Princes continue to reign together.“739 Es sei daran erinnert, dass v. a. in den polnischen Regierungskreisen über eine Fehde zwischen den russischen Prinzen und die angebliche Ermordung Peters spekuliert wurde. Dass die in Polen-Litauen zirkulierenden Gerüchte von der Presse aufgenommen wurden, verdeutlicht ein langer dreiseitiger Bericht aus der Berliner Dienstagischen Fama.740 Er besagt, dass Zar Fedor von den Bojaren wegen seinem Hang zur polnischen Kultur und insbesondere zur polnischen Tracht vergiftet worden sei: Der verstorbene Czar hat niemalen einige Inclination zu der Noblesse seines Reichs verspüren lassen/ sondern sich vielmehr geberdet/ derselben in allen Begebenheiten ein Mißvergnügen anzuthun/ wie er denn zu solchem Ende sich allerzeit auff Polnisch gekleidet/ da doch denen Grandes solche Tracht einen Abscheu/ und solche Nation eine unerträgliche Aversion war/ ihren Printzen solcher gestalt auff frembde Art gekleidet/
736 Mercurii Relation (München), 1682, Nr. 33 vom 16. August, „Auß Königsberg/ vom 24. Juli“. 737 Wöchentlicher Mercurius Zur Ordinari Post-Zeitung (Braunschweig), 1682, Nr. 39, „Hamburg/ vom 20. Sept.“. 738 The London Gazette, 1682, Nr. 1749 from Monday August 21. to Thursday August 24., „Warsaw“. Dass Ivan seinen Bruder Peter und sogar seinen Neffen – das angebliche kleine Kind von Fedor – umbringen ließ, schrieb auch die französische Zeitung, siehe La Gazette (Paris), 1682, Nr. 74 vom 22. August, „De Warsovie, le 25 Iuillet 1682“. 739 The London Gazette, 1682, Nr. 1755 from Monday September 11. to Thursday September 14., „Dantzick, Sep. 3“. 740 Eingekommener Zeitungen Dienstagische Fama (Berlin), 1682, 33. Woche, „Aus Narva/ vom 17. Julii“.
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zu sehen/741 und zwar in einem ihnen ganz verhasseten Habit/ mit deren Landesart sie niemalen einige Verbündniß und Vertraulichkeit stabiliren können/ als könten sie aus diesen äusserlichen Signis nichts anders prognosticiren/ als einen gegen sie gefasseten Groll und Unwillen/ dessen Effect sie endlich zu befürchten und mehr denn zu früh würden zu empfinden haben: Diesem nun fürzukommen/ haben sie sich wider des Czaren Leben zusammen verschworen umb selbigem Gifft beyzubringen […].
Einer von Fedors Hofärzten, „Daniel genant“, habe dem Zaren, dem Bericht der Zeitung zufolge, einen vergifteten Apfel überreicht. Obwohl Fedor auf dem Sterbebett seinen „blinden“ Bruder Ivan zum neuen Herrscher vorgeschlagen habe, sei seiner Stiefmutter mithilfe der Bojaren gelungen, die Zarenkrone auf den Kopf ihres Sohnes Peter zu setzen. Peters „Vetter“ (der im Bericht unter dem Namen „Larisky“ fungiert, und mit dem offensichtlich Ivan Naryškin gemeint ist) sei dabei als Vormund des Zaren auf den Thron gestiegen. Sof ’ja, die Schwester Fedors, habe sich jedoch entschlossen, den Tod des Bruders zu rächen. Sie habe den Wein vergiftet, der den Moskauer Soldaten bei Fedors Begräbnisfeier angeboten wurde, und gleichzeitig das Gerücht verbreitet, dass dies die Bojaren getan hätten. Nach dem plötzlichen Tod eines ihrer Kameraden, massakrierten die Soldaten die angeblichen Giftmörder. „Der überrest dieses Metzelns ist in denen Zeitungen bey nahe kund gemachet, wie es dahergangen“ – resümierte der Autor am Ende des Zeitungsartikels. Der Bericht aus der Berliner Zeitung weist damit klare Parallelen zu der Erzählung des polnischen Diariusz sowie zu der Relation des polnischen Agenten vom 20. September 1682 aus dem Archiv im Vatikan auf, mit dem Unterschied, dass die Vergiftung Fedors in der Zeitung für wahr gehalten wird, während in beiden besagten diplomatischen Quellen lediglich für ein Gerücht. Die Erzählung über den vergifteten Wein erinnert uns gleichzeitig an das Narrativ der aufständischen Strelitzen, unter denen ebenfalls die Vorstellung im Umlauf war, die Bojaren hätten sie mit Gift umbringen wollen. Anscheinend wurde diese Legende von den polnischen Informanten rezipiert und gelangte über das polnische Territorium in die Presse. Einen Bericht, der inhaltlich der oben angeführten Erzählung aus der Berliner Zeitung sehr ähnelt, publizierte die französische La Gazette. Hier wurde Fedors Vorliebe für die polnische ‚westliche‘ Kultur noch stärker übertrieben: Der Zeitungsartikel behauptet, dass der Zar nicht nur Begeisterung für die polnische Tracht hegte, sondern auch Pläne hätte, die katholische Religion in Russland einzuführen:
741
Die polnische Mode war am Zarenhof während der Regierung von Fedor Alekseevič tatsächlich verbreitet und der Zar selbst kleidete sich im polnischen Stil, siehe Sedov: Zakat moskovskogo carstva, S. 508–515. Die Vermutung, dass Fedor Alekseevič sich dadurch bei seinen Untertanen besonders unbeliebt gemacht haben könnte, ist jedoch sicherlich eine grobe Übertreibung des Zeitungsberichts.
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Der verstorbene Großherzog Aléxis,742 der eine polnische Frau geheiratet und die Kleidung und Bräuche derselben Nation übernommen hatte, war für die Bojaren, aus denen der Senat und der Adel von Moskowien bestehen, abscheulich geworden. Um sich gegen sie zu behaupten und, wie wir glauben, die Religion zu ändern und die barbarischen Gemüter seines Volkes zu mildern, war es daher ratsam gewesen, seine gewöhnliche Wache zu erhöhen und immer vierzigtausend Männer in Moskau zu haben.743
In der französischen Zeitung wurden außerdem explizit Sof ’jas Verbündete in der Verschwörung gegen die verräterischen Bojaren genannt: „le Général Kowanki & le Palatin Odoyefki“. Diese Bemerkung erinnert sehr an die anonyme „geschriebene Zeitung“ aus Polen, die am brandenburgischen Kurfürstenhof im Jahr 1682 einging (siehe im Kapitel 4.4) und ebenfalls erwähnte, dass Sof ’ja „mitt dem Chowanski, Galiciynym, Odoiewskim, und Miloslawskim, Großvatern der Zaaren, einen buntt oder faction auffgerichtet wieder die Bojaren, anfangende vom Narischkin Vettern des Petro Zaaren“.744 Genau in Form solcher Nachrichtenbriefe zirkulierten die Gerüchte über den Strelitzen-Aufstand zwischen Städten und Fürstenhöfen Europas. Sof ’jas Name kommt außerdem noch in einem anderen Zeitungsbericht vor: Die Nummer 40 der braunschweigischen Eingelauffene Ordinari Post-Zeitung erwähnt unter dem 27. September 1682, dass „die rebellische Strelitzen […] die Prinzeßin Sophia zu ihrer Commendantin denominiret“ haben.745 In Wirklichkeit war jedoch carevna Sof ’ja im Herbst 1682 eine der wichtigsten Gegner/innen der Strelitzen und befand sich gegen Ende September zusammen mit dem restlichen Zarenhof auf der Flucht aus Moskau zum Troice-Sergiev-Kloster. Es war genau die Zeit gegen Ende August 1682 – als nicht nur der Zarenhof, sondern auch die meisten Ausländer (unter anderen Johann van Keller) die russische Hauptstadt verlassen hatten – als die Berichterstattung der europäischen Zeitungen über die Lage in Russland besonders unpräzise wurde. Es wurde beispielweise spekuliert, dass ein neues Massaker in Moskau ausgebrochen sei, in dem „500 der vornemsten vom Adel nidergesäbelt worden“ seien.746 In mehreren Zeitungen wurde das Gerücht wiederholt, dass nicht nur die Strelitzen, 742 So im Text der Zeitung, gemeint ist natürlich Zar Fedor Alekseevič. 743 La Gazette (Paris), 1682, Nr. 74 vom 22. August, „De Warsovie, le 25 Iuillet 1682. […] Le feu Grand Duc Aléxis ayant pris une femme Polonoise, & l’habit & les coûtumes de la mesme nation estoit devenu odieux aux Boyars qui composent le Sénat & la Noblesse de Moscovie. Ainsi, pour se maintenir contr’eux, & mesme comme on le croid, pour changer la Réligion & pour adoucir l’humeur barbare de ces Peuples, il avoit esté conseillé d’augmenter sa garde ordinaire & d’avoir toujours à Moskow quarante mille hommes“. 744 Loewenson: 1681–1683. Geschriebene Zeitungen aus Rußland, S. 583. 745 Eingelauffene Ordinari Post-Zeitung (Braunschweig), 1682, Nr. 40, „Wien/ vom 27. Sept.“. Siehe auch den gleichen Bericht in: Ordinari-Wochen Zeitung (Zürich), 1682, Nr. 41 vom 7. Oktober, „Wien/ vom 21. Herbstm. 1. Weinm.“. 746 Wochentliche Extra Ordinari-Zeitungen (Altdorf-Weingarten), 1682, Nr. 41 vom 9. Oktober, „Wien vom 27. September“.
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sondern auch die Donkosaken unter der Leitung ihres Anführers, „Harasni genannt“, sowie das Heer eines tatarischen Prinzen „Boulax“ „von Königlichem Geblüt“ 747 oder die Kalmyken748 dem russischen Staat drohten. Man fürchtete sich in Europa vor dem Angriff der Tataren, die den geschwächten Zustand des Moskauer Reichs ausnutzen könnten.749 Spekuliert wurde auch über den möglichen Ausbruch eines Krieges zwischen Russland und Polen-Litauen.750 Wie sehr die Ereignisse der Moskauer Wirren in der Presse verzerrt oder missinterpretiert wurden, demonstriert ein kurzer Bericht aus der Münchner Mercurii Relation Nr. 41. Dort bekam der religiöse Konflikt zwischen den Altgläubigen und dem Moskauer Patriarchen im Zusammenhang mit dem Strelitzen-Aufstand eine anekdotenhafte Erklärung: Die Strelitzen hätten die Menschen in Moskau „jämerlich nidergesäbelt“, nur „weil man nicht einig werden [konnte]/ ob man sich mit 2. oder 3. Fingern segnen/ und das Creuz vor das Haupt/ rechte oder lincke Brust machen solte“.751 Erst im Dezember 1682 erschienen nach und nach die ersten Berichte über die Beendigung des Aufstands in den europäischen Zeitungen. Der Niedergang der Strelitzen wurde dabei in den Zeitungsartikeln in Zusammenhang mit dem Sturz und dem Tod von Ivan Chovanskij gebracht. Er war noch im September in der Presse als „General“ oder „Feld-Herr“ der Strelitzen porträtiert worden.752 Im Dezember gaben jedoch die 747 Vgl. z. B.: „[…] Die Donauische Cosacken stunden anderthalb Meil von Stolice/ so wird auch gemeldet/ daß der gemeine Pöbel sich zusammen rotiert/ und gegen die Strelitzen gesetzt/ also daß die Unruhe noch immer währet auch sagt man/ daß ein Cosack Harasni genannt (dessen Bruder auf Befelch deß verstorbenen Kaisers gehenckt worden) mit 60 000. Mann im Anzug wäre/ seines Bruders todt zu rächen/ zu deme suchet der Printz Boulax/ welcher 10. Legion Tartarn commandiert/ und von Königlichem Geblüt ist/ sich auch deß Throns zu bemächtigen“, in: Mercurii Relation (München), 1682, Nr. 36 vom 6. September, „Auß Danzig/ vom 17. Dito [Augusti]“; die gleiche Nachricht auch in: Wochentliche Extra Ordinari-Zeitungen (Altdorf-Weingarten), 1682, Nr. 36 vom 5. September, „Hamburg vom 24. dito“; Eingekommener Zeitungen Dienstagische Fama (Berlin), 1682, 33. Woche, „Aus Narva/ vom 17. Julii“. 748 „[…] die Calmucker Tartern haben sich auch zusammen gerottiert […]“, in: Mercurii Relation (München), 1682, Nr. 39 vom 27. September, „Auß Danzig/ vom 8. Dito [September]“. 749 „Wien/ vom 28. Sept. Daß die Tartarn den Paß durch Polen in Schlesien begehrt/ wird auch anderwerts her bestätigt/ und befürchtet man/ daß nicht nur allein die Crimmer/ sondern auch die Orientalische Tartarn/ die sich zu unsern Zeiten des Königreichs China bemächtiget/ einbrechen dörfften/ sonderlich da alles in Moßkau drüber und drunter gehet/ und darauff stehet/ daß sie sich bei gegenwärtiger Uneinigkeit selbiger grossen Monarchie bemächtigen/ und die Christliche Religion ausrotten möchten“, in: Freitags Ord:Beilage zur wöchentlichen Post-Zeitung (Braunschweig), 1682, Nr. 39. 750 Leipziger Post- und Ordinar-Zeitung (Leipzig), 1682, das II. Stück der 41. Woche, „Stockholm vom 24. dito“. 751 Mercurii Relation (München), 1682, Nr. 41 vom 11. Oktober, „Auß Dantzig/ vom 22. dito [September]“; derselbe Bericht auch in: Wochentliche Extra Ordinari-Zeitungen (Altdorf-Weingarten), 1682, Nr. 41 vom 10. Oktober, „Dantzig vom 23. Septem.“. Die Ausführung des Kreuzzeichens mit zwei oder drei Fingern war tatsächlich einer von mehreren Unterschieden zwischen dem Ritual der Altgläubigen und dem der offiziellen Kirche. 752 „[…] and that the two Czars were likewise gone from Moskow, to pass some time in the Country, leaving the Government of that City in the hands of General Gowanski, who was well esteemed
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Zeitungen die Nachricht weiter, Chovanskij hätte versucht, die Macht im russischen Staat zu usurpieren: „[…] Auch hätte der Ober-Minister Chowansky sich einen grossen Anhang gemacht und unterstünde sich mehr zu regieren als die Czaren selbsten/ worüber er auch nebenst seinen Sohn in Stücken zerhauen worden“;753 „auß Verdacht einiger Verrähterey“ hätten die Zaren sie enthaupten lassen,754 wonach die herrschenden Brüder mithilfe einer großen Armee von „100 000. Mann Landvolck“ die Strelitzen gezwungen hätten, „sich den Czaren auf Gnad und Ungnad zuergeben“.755 Die deutschen Zeitungen rezipierten also in ihrer Erzählung über den Ausgang der Rebellion hauptsächlich das propagierte Chovanščina-Narrativ der Regentschaftsregierung von carevna Sof ’ja. Dabei gingen die Artikel besonders auf die Rolle der deutschen Offiziere im zarischen Dienst bei der Zähmung der Rebellen ein: Nider-Elbe/ vom 26. Decembr. 5. Jan. Briefe auß der Moscau vom 14. Novemb. bringen gute Zeitung/ daß / nachdeme die beyde Czaarn sich 6. Wochen lang in einem Kloster ausserhalb der Statt aufgehalten/ und der General Chowansky mit seinen beyden Söhnen enthauptet worden/ selbige die Teutsche Officierer zu sich forderen lassen/ und sie ermahnet/ von der Strelitzen Parthey abzustehen/ zu welchem sie sich dann auch alsobald erkläret: So bald nun die Strelitzen solches erfahren/ hat es eine solche Bestürzung under denselben verursachet/ daß sie ihr Gewehr nidergewoffen/ und sich gedemühtiget/ da dann die beyden Czaaren sich widerum in das Schloß in die Statt begeben/ tausend junge Edelleuhte mit Gewehr versehen/ und zu dero Leib-Wache angenommen/ welche auch unaufhörlich mit Sabeln an der Seithen/ und Breithammeren in den Händen auf dem Schlosse sich aufhalten/ um die beide Czaaren gegen allerley Unfahl zubeschützen. Alß die Teutschen die Czaarische Parthey also angenommen/ und die Strelitzen sich von denselbigen/ wie auch von ihrem Generaln und seinen beiden Söhnen also entblösset gesehen/ sind sie dermassen ergrimmet/ daß sie zu zweyen mahlen im Marsch gewesen/
of by the Soldiers“, in: The London Gazette, 1682, Nr. 1755 from Monday September 11. to Thursday September 14., „Dantzick, Sep. 3“. 753 Eingekommener Zeitungen Sonntagische Fama (Berlin), 1682, 49. Woche, „Warschau/ vom 21. dito [November]“; siehe auch: „Nun ist der Herr Chovansky Ober-Hofmeister worden/ und hat einen grossen Anhang an sich gezogen/ also daß er mehr/ als die Großfürsten sich zu herrschen undernimt“, in: Ordinari-Wochen Zeitung (Zürich), 1682, Nr. 50 vom 9. Dezember, „Nider-Elbe/ vom 23. Winterm. 3. Christm.“. 754 Siehe die Berichte darüber in: Wochentliche Extra Ordinari-Zeitungen (Altdorf-Weingarten), 1682, Nr. 50 vom 12. Dezember, „Danzig vom 14. November“; Mercurii Relation (München), 1682, Nr. 49 vom 6. Dezember, „Auß Danzig/ vom 14. November“; Montägliche Wochenzeitung (Zürich), 1682, Nr. 49 vom 17. Dezember, „Danzig/ vom 14.24. Novembr.“; Wochenliche Ordinari Post-Zeitung (S. l.), 1682, Nr. 50, „Auß Dantzig vom 14. November“. 755 Siehe die Berichte darüber in Wochentliche Extra Ordinari-Zeitungen (Altdorf-Weingarten), 1682, Nr. 51 vom 19. Dezember, „Nider-Elbstrom vom 2. December“; Mercurii Relation (München), 1682, Nr. 50 vom 13. Dezember, „Von der Nider-Elb/ den 2. Dito [Dezember]“; Wochenliche Ordinari Post-Zeitung (o. O.), 1682, Nr. 51, „Von der Nider-Elb vom 2. December“; Ordinari-Wochen Zeitung (Zürich), 1682, Nr. 50 vom 9. Dezember, „Nider-Elbe/ vom 23. Winterm. 3. Christm.“.
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die Schlobaden in den Brand zustecken/ und die Teuschen zu ermörden/ so aber durch sonderliche Schickung Gottes/ wie obgedacht/ verhindert worden. Nachdem aber sind sie entwaffnet/ auch von einander gesöndert/ und 6000. darvon nach der Ukraine/ andere aber anderwerts verschickt worden.756
Zwar zirkulierten am Ende des Jahres 1682 in der Presse noch einige Gerüchte, z. B. dass ein anderer Sohn Chovanskijs den Tod des Vaters rächen würde,757 jedoch erschienen bereits im Januar 1683 die endgültigen Bestätigungen, dass die Unruhen in Moskau zu Ende seien und „alles widerum daselbst still und friedlich seye“.758 Allerdings wurde in der Presse gleichzeitig die Vermutung geäußert, dass trotz der Wiederherstellung der Ordnung „die beiden Czaren sich selbst nicht gar zu lange mit einander vertragen dürfften“.759 5.3.4 Rezeption der europäischen Presseberichte in Moskau Wie viel war von den Berichten der europäischen Zeitungen über die Strelitzen-Revolte in Moskau bekannt? In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts wurden dort hauptsächlich die deutschen und niederländischen Nachrichtenblätter aus Königsberg, Riga, Hamburg, Amsterdam und Haarlem gelesen. Da die meisten Exemplare dieser Zeitungen für das Jahr 1682 jedoch nicht überliefert sind, ist es unmöglich, die genauen Artikel zu identifizieren, die das Moskauer Gesandtschaftsamt übersetzt hat. Nur in einem Fall liegen uns heute sowohl der deutsche Originaltext einer Zeitungsnachricht als auch seine russische Übersetzung vor: Es handelt sich um die oben bereits erwähnte Meldung über den Tod von Fedor Alekseevič aus der Nummer 52 der Königsberger Zeitung.760 Diese Nachricht wurde gegen Ende der dritten Juni-Woche gedruckt und bereits am 15. Juli, also drei oder vier Wochen später, in Moskau übersetzt.761
756 Montägliche Wochenzeitung (Zürich), 1683, Nr. 3 vom 8. Januar. 757 Siehe z. B. „[…] Weil nun der älteste Sohn/ des oben ermeldten Gowansky/ Feld-Herr in der Ukraine ist/ und die Armeen daselbst commandiret/ wird er seines Vaters Todt zweifelsfrey zu rächen suchen“, in: Leipziger Post- und Ordinar-Zeitung (Leipzig), 1682, das III. Stück der 49. Woche, „Narva vom 18. Octobr.“. Fürst Pёtr Ivanovič Chovanskij war im Herbst 1682 tatsächlich voevoda in der Stadt Kursk. Die Zeitungsnachricht überschätzte jedoch sein wirkliches Machtpotenzial: Bereits am 1. Oktober wurde er von den zarentreuen Beamten verhaftet und mit der ganzen Familie in den russischen Norden verbannt. Seinen Bojarenrang erhielt er erst 1690 zurück, siehe Lavrov: Regenstvo carevny Sof ’i Alekseevny, S. 44–47. 758 Montägliche Wochenzeitung (Zürich), 1683, Nr. 4 vom 15. Januar, „Hamburg/ vom 29. Decembr. 8. Januar“. 759 Leipziger Post- und Ordinar-Zeitung (Leipzig), 1683, das I. Stück der 6. Woche, „Preussen vom 6. Febr.“. Siehe dazu auch Blome: Das deutsche Russlandbild, S. 56–57. 760 Siehe die Fn. 697. 761 RGADA, fond 155, opis’ 1, 1682, Nr. 5, Bl. 208–209.
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Der Strelitzen-Aufstand in der europäischen frühmodernen Öffentlichkeit
Leider sind die russischen Übersetzungen von Zeitungsberichten – die sogenannten kuranty – für das Jahr 1682 ebenfalls nur lückenhaft erhalten. Da der Zarenhof die Hauptstadt von August bis November verlassen hatte, wurden die kuranty anscheinend zur jeweiligen vorübergehenden Residenz des Hofes geschickt. Einige der Übersetzungspakete gingen im Durcheinander der aufrührerischen Zeit verloren. Besonders große Verluste weisen die Übersetzungen von August und September auf.762 Dennoch lassen sich die Reaktionen auf die Presseberichte über den Strelitzen-Aufstand auch im erhaltenen Archivmaterial finden. So wurde z. B. am 4. September in Moskau der Zeitungsartikel über die Feindschaft zwischen den Strelitzen und den Cholopen übersetzt.763 Im Besonderen interessierte sich die zarische Regierung dafür, wie sich die polnischen Gerüchte über die Revolte in der ausländischen Presse widerspiegelten. Tabelle 6 zeigt die russische Übersetzung eines solchen Gerüchts sowie den deutschen Text aus der Münchener Mercurii Relation, der sehr stark dem Bericht ähnelt, der als Vorlage für die Übersetzung gedient hatte. Die verworrene ausgedachte Geschichte über den Zaren Ivan, der dem Zeitungsbericht zufolge mit den Strelitzen ein Lager in der Nähe von Moskau aufgeschlagen hätte, löste offenbar bereits beim Übersetzer selbst Verwunderung aus, der neben dem übersetzten Text den Vermerk hinterließ – „so im Original“. Tabelle 6 RGADA, fond 155, opis’ 1, 1682, Nr. 5, Bl. 225 Aus Lemberg vom 31. Juli. Von den moskowitischen Grenzen wird geschrieben, dass der Zar Ivan sich zusammen mit den Strelitzen auf einem Berg verschanzt hat, er befahl auch 180 Bojarenhöfe niederzureißen und auszurauben. Die Donkosaken stehen 7 versty von der Hauptstadt entfernt. Es wird auch berichtet, dass der Pöbel sich zusammenzieht und ein Gefecht mit den Strelitzen anfangen möchte.764
Mercurii Relation (München), 1682, Nr. 36 vom 6. September. Auß Danzig/ vom 17. Dito [Augusti]. Von den Moscowittischen Gränzen wird geschriben/ daß der Czar Ivan sich mit den Strelitzen auff einen Berg verschanzet/ allwo er über 180. der Bojaren Häuser außhauen/ und ihre Gütter in die Rapuse gehen lassen. Die Donauische Cosacken stunden anderthalb Meil von Stolice/ so wird auch gemeldet/ daß der gemeine Pöbel sich zusammen rotiert/ und gegen die Strelitzen gesetzt/ also daß die Unruhe noch immer währet.
Im Winter 1682/83 wurden im Moskauer Gesandtschaftsamt die Zeitungsberichte über den Ausgang der Strelitzen-Revolte ausgesucht und übersetzt. Anscheinend wollte die russische Regierung sicherstellen, dass die Nachrichten über das Ende der
762 Šamin: Kuranty kak istoričeskij istočnik, S. 10–12. 763 RGADA, fond 155, opis’ 1, 1682, Nr. 5, Bl. 226. 764 Vgl. den russischen Originaltext: „Изо Лвова июля в 31 день. От границъ московских к намъ пишут, что царь Иван с стрецами на некоторой горе окопался где он со 180 дворов боярскихъ вырубить, их же животы розграбить велел; Донские казаки стоят за 7 верстъ от столицы. Тако ж де обявляютъ что чернь совокупилася и хотят с стрелцами учинить брань, […]“.
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Rebellion das Ausland erreicht hatten. Vor allem die Meldungen aus schwedischen und polnischen Städten – Narva, Riga, Warschau und Lemberg – wurden in diesem Zusammenhang übersetzt.765 Besondere Aufmerksamkeit galt dabei den Nachrichten über Ivan Chovanskij: Insgesamt vier übersetzte Presseartikel berichteten über seinen Verrat und die Hinrichtung. Am 30. Dezember 1682 wurde in Moskau die Übersetzung einer Nachricht aus einer niederländischen Zeitung angefertigt, laut der die Zaren Chovanskij, „den Anführer der Hofinfanterie“, haben hinrichten lassen und dann von den Strelitzen in einem Kloster belagert wurden.766 Auch die im Januar 1683 übersetzten Nachrichten aus Lemberg sprachen noch von der andauernden Rebellion.767 Erst am 2. Februar erhielt und übersetzte man in Moskau die Zeitungen, die über die Kapitulation der rebellischen Strelitzen-Garnison und die Verbanung von 6000 Strelitzen erzählten.768 Als „Aufwiegler des vergangenen Tumults“ (jako načal’nik byvšego smjatenija) wurde in diesen Nachrichten Ivan Chovanskij genannt. Die russischen Behörden waren nicht imstande, auf die Auswahl und die Publikation der Nachrichten in europäischen Zeitungen Einfluss zu nehmen. Sie konnten jedoch den Import von gedruckten Medien ins Moskauer Reich kontrollieren. Vom 6. Oktober 1682 ist ein zarischer Befehl an den Moskauer Postmeister Andrej Vinius überliefert, der ihm vorschrieb, alle aus dem Ausland per Post eingehenden gedruckten astrologischen Kalender sofort zu konfiszieren und zum posol’skij prikaz weiterzuleiten.769 Der Befehl verbot unter Androhung der Todesstrafe, die Kalender zu verbreiten oder zu übersetzen. Bereits Ende des 17. Jahrhunderts wurde unter den in Moskau lebenden Ausländern die Vermutung geäußert, dass dieses Verbot primär mit dem Inhalt eines konkreten Kalenders – nämlich eines Büchleins von Johann Heinrich Voigt, dem berühmten deutschen Astronomen und Kalenderschreiber aus Stade – zu tun hatte.770 Tatsächlich hatte Voigt 1681 ein Schriftstück publiziert, in dem er seine Beobachtungen über den „Großen Kometen“, der um den Jahreswechsel 1680/1681 in Europa gesehen worden war, mitteilte. Wie auch in anderen seiner Werke setzt Voigt
765 Šamin: Kuranty kak istoričeskij istočnik, S. 21–22. 766 „Из Амстрадама декабря в 2 день. […] Царское величество указали смертью казнить господина Хованского первоначального у надворной пехоты, купно ж и с сыном ево кроме болшаго сына иже ушел. О чем ратные люди толикое восприяли озлобление, что их царское величество осадили в их полатах, но оное обретая случай оттоле уйти в поле в некоторый монастырь, и те бунтовщики и противляющийся пошли ж за ними чтоб известь их. Но от того времяни никакие вестовщики или гонцы оттоле сюда не бывали и до ныне неведомо, чем та смута прекратилась“, RGADA, fond 155, opis’ 1, 1682, Nr. 5, Bl. 360–361. 767 Siehe die Nachrichten „Aus Lemberg vom 22. November“, RGADA, fond 155, opis’ 1, 1683, Nr. 5, Bl. 8; und „Aus Lemberg vom 10. November“, ebd., Bl. 17. 768 Siehe die Nachrichten „Vom Elbefluss vom 28. Dezember“ und „Aus Narva [Rugodiv] vom 1. Dezember“ in: ebd., Bl. 56–58. 769 RGADA, fond 155, opis’ 1, 1682, Nr. 5, Bl. 249. 770 S. M. Šamin: Evropejskaja astrologija i russkoe pravitel’stvo v XVII stoletii, in: A. Ju. Samarin (Hrsg.): Estestvennonaučnaja knižnost’ v kul’ture Rusi. Moskva 2005, S. 76–81, hier S. 80.
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hier ein Himmelsphänomen in Verbindung zur Politik und dem Wohl von Staaten und bietet den Lesern eine prophetische Deutung der Kometenerscheinung an. Der Komet stand darin für nichts anders als „Kriegs-Handel, Rebellion und allerhand Unheil“ in ganz Europa: „[…] das Königreich Ungern/ wird noch lange nicht zur Ruhe kommen/ wie bißhero immer getröstet und gehoffet worden; Schlesien und Preussen/ Pohlen und Moßkau wird dem Verderben nicht entgehen; halten Schweden und Dännemarcken gute Nachbarschafft/ so haben sie grosse Krafft.“771 Im Jahr 1682 setzte Voigt seine Prophezeiungen in einem anderen Schriftstück fort und fügte hinzu: Die grossen Conjunctiones Saturni und Jovis grosse und gewaltige Verenderungen bedeuten: und zwar/ wen sie schlechter Dinge geschehen/ vornemblich in Policey- und Religions-Sachen; Wen aber Mars und Mercurius darzu komen/ so sol es grausame/ verderbliche Kriege und Blutvergiessungen/ Auffruhr und Empörungen der Unterthanen gegen ihre Ober-Herren, Verenderungen der Reiche und Herrschafften/ neue frembde Regenten/ und viele Zerrüttungen/ Secten und Spaltungen in Religions-Händeln/ auch unfruchtbar Gewitter/ und Pestilenz-Sterben bringen.772
Mit ihrer Verordnung vom 6. Oktober 1682 wollte die Moskauer Regierung also unnötige Aufregung und Panik unter den Ausländern in der russischen Hauptstadt vermeiden, die Voigts Prophezeiung in Verbindung mit der unruhigen Lage des Herbsts 1682 hätte verursachen können. 5.4 Narrative über den Aufstand in der europäischen Publizistik: von den ersten Messrelationen bis Mitte des 18. Jahrhunderts Die Presseberichte und die Flugschriften, die im Jahr der Strelitzen-Unruhen in Europa zirkulierten, bildeten eine Grundlage, auf deren Basis die späteren Schriftsteller und Kompilatoren ihre Werke aufbauen konnten. Dabei boten die Zeitungsartikel, wie oben gezeigt, keine eindeutige Sichtweise auf die Ereignisse im Moskauer Reich. Vielmehr war die Berichterstattung der Zeitungen zum Teil sehr widersprüchlich und inkonsequent. In den Zeitungsberichten ließ sich eine ganze Palette von Interpretationen für die Strelitzen-Rebellion finden: 1) als Meuterei einer unterbezahlten und erpressten Garnison, 2) als Aufstand gegen die Oligarchie der Bojaren, die ihren Günstling – carevič Peter – durch einen Betrug auf den Thron gesetzt haben, 3) als FolCometa Matutinus & Vespertinus: Der/ Anfangs in den Früestunden der Sonnen vorgehend/ Und/ hernach in den Abendstunden der Sonnen nachgehend/ Erschienene/ Und der Gottlosen Welt zum Schrecken/ am Himmel strahlende Comet- oder Schwantz-Stern/ Anno 1680. und 1681. Danzig 1681. 772 Vorstellung und Betrachtung der Grossen Coniunction, der Obern Planeten Saturni, und Iovis, Welche sich zu dreyen malen begiebet: Anno 1682, den 18 Octobris in 19 Grad Löwen, Anno 1683, den 21 Ianuarii in 17 Grad Löwen, Und den 16 Maii in 15 Grad Löwen; Zum Vortrab Des Vergleichung-Spiegels Himels und der Erden/ welches Büchlein diesem bald folget. Stade 1682, S. 15–16.
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ge einer Intrige und einer Fehde innerhalb der herrschenden Familie, 4) als Versuch der Machtusurpation, den Fürst Ivan Chovanskij unternommen habe. Es ist deswegen von Interesse, die weitere Tradierung und Veränderung dieser Narrative in der europäischen Publizistik zu verfolgen und zu analysieren. Bereits im Herbst 1682 erschien die erste Kompilation von Zeitungsberichten über den Strelitzen-Aufstand im Inhalt der Frankfurter Messrelation.773 Der Autor stützte sich offenbar auf verschiedene ihm zugängliche Erzählungen. Der Text der Messrelation stellt daher eine Mischung aus unterschiedlichen Narrativen dar. Zunächst wird die Ursache der Moskauer Revolte in enger Übereinstimmung mit dem bereits untersuchten Bericht aus der Berliner Dienstagischen Fama wiedergegeben: Fedor sei von der „Noblesse deß Czarischen Reichs“ wegen seiner Sympathie zu Polen vergiftet worden, und seine Schwester Sof ’ja habe für seinen Tod an den Bojaren Rache geübt. Im zweiten Teil des Textes wird jedoch vom Aufstand der Strelitzen hauptsächlich in Anlehnung an Butenants Bericht erzählt, und in den Vordergrund treten nun die finanziellen Forderungen der Aufständischen. Weitere Zusammenfassungen der Artikel aus der Presse erschienen im Jahre 1683 in der niederländischen gedruckten Jahreschronik Hollandse Mercurius, sowie im kompilatorischen Werk Des verwirreten Europae dritter Theil des Publizisten Andreas Müller. Die beiden Texte sahen die Gründe der Strelitzen-Rebellion ausschließlich darin, dass die „Hauptwache und ganze Kriegs-Besatzung“ lediglich gegen die Wahl des jüngeren Prinzen zum Zaren und die Umgehung des älteren protestiert hätten.774 Dabei wurde der ältere Prinz in beiden Werken fehlerhaft „Pector Alexowitz“ genannt – der Fehler, der bereits in einigen Zeitungsberichten zu lesen war.775 Das Interesse der europäischen Öffentlichkeit an den unruhigen Ereignissen im Moskauer Reich war jedoch in der ersten Hälfte der 1680er-Jahre ziemlich kurzlebig. Bereits 1683 wurden die russischen Wirren von einem anderen Thema in den gedruckten Medien verdrängt – dem türkischen Krieg und der Belagerung von Wien. Erst 773 Relationis Historicae Semestralis Autumnalis Continuatio: Jacobi Franci Historische Beschreibung der denckwürdigsten Geschichten/ so sich in Hoch- und Nieder-Teutschland/ auch Italien/ Hispanien/ Franckreich/ Ungarn/ Böheim/ Polen/ Engeland/ Portugall/ Schweden/ Dennemarck/ Dalmatien/ Candia … Vor und zwischen jüngst verflossener Franckfurter Oster-Meß 1682. biß an- und in die HerbstMeß dieses lauffenden 1682. Jahrs … zugetragen. Frankfurt am Main 1682, S. 68‒72. Höchstwahrscheinlich verwies der kaiserliche Sekretär Jan Probst im Gespräch mit dem russischen Boten Nikifor Venjukov auf den Text aus dieser Messrelation, siehe oben im Kapitel 4.1. 774 Vgl. Hollandse Mercurius van het Jaer 1682. Haerlem 1683, S. 252–253; Des verwirreten Europae dritter Theil, oder Wahre historische Beschreibung derer in der Christenheit / fürnehmlich aber in dem Vereinigten Niederlande/ Teutschland/ und hernach in den angräntzenden Reichen/ Fürstenthümern und Herrschaften/ zeither dem Jahre 1676. biß auff das Jahr 1682. durch die Waffen des Königes in Frankreich erreichter bluhtiger Kriege/ leidigen Empörungen und erschrechlicher Verwüstung. durch Andreas Müllern, Secret. Amsterdam 1683, S. 1189. 775 Vgl. den Eintrag in Ordinari-Wochen Zeitung (Zürich), 1682, Nr. 30 vom 22. Juli, „Moßkau/ vom 4. 14. Brachm.“. Im Artikel in der Münchner Mercurii Relation wird der Name des Prinzen außerdem als „Hector Alexowitz“ wiedergegeben, vgl. Mercurii Relation (München), 1682, Nr. 30 vom 26. Juli, „Auß Moscau/ vom 30. May“.
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als Russland selbst 1686 der großen antitürkischen Koalition beitrat, richtete sich die Aufmerksamkeit der europäischen Medien wieder gen Osten. Zu diesem Zeitpunkt bestand im Moskauer Reich immer noch die Doppelherrschaft der Zaren Ivan und Peter unter der Vormundschaft ihrer Schwester carevna Sof ’ja. Die Herkunft solcher für das europäische Lesepublikum ungewöhnlichen Herrschaftssituation erforderte erneut eine Erklärung, und auf der Suche danach wandte sich die Publizistik an die alten Narrative und Texte. So erschien der im Kapitel 4.7 besprochene polnische Diariusz, der im Frühling 1683 von den Agenten des polnischen Königs als Manuskript verfasst worden war, 1686 als Flugschrift in deutscher Übersetzung.776 Es ist unklar, wie der Text einer polnischen diplomatischen Relation drei Jahre später in die deutsche Öffentlichkeit gelangte. Die Flugschrift bot dem Leser offensichtlich eine Einführung in die politische Lage innerhalb des Moskauer Reiches an. Ganz am Ende nach dem übersetzten Text des polnischen Originals fügte der anonyme deutsche Verleger noch ein kleines Nachwort hinzu, in dem er auf die gegenwärtige Lage einging und resümierte, dass „ob man zwar vermeint gehabt/ daß das Regiment der beyden Zaren nicht lange bestehen könnte/ so gibt es doch die Erfahrung/ daß es noch bis dato ins vierdte Jahr continuiret“. Wegen der Dauerhaftigkeit „dieses zweyköpffichte Regiments“ blieb er jedoch skeptisch und vermutete, „daß bey der geringsten Veränderung/ abermahl grosse revolten in diesem mächtigen Moscowitischen Königreiche vorgehen dürffen“. Es ist interessant, dass diese vom polnischen Original aus dem Jahr 1683 angefertigte Flugschrift selbst als Quelle für diplomatische Beobachtungen benutzt wurde. Eine Kopie der Flugschrift befindet sich im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz in der gleichen Sammlung mit Hermann Hesses Briefen.777 Anscheinend musste der Berliner Hof vier Jahre nach dem Strelitzen-Aufstand auf die Information aus der Flugschrift zurückgreifen, um sich ein Bild von den Moskauer Machtkonstellationen zu verschaffen. Andere Mittel waren nach dem Scheitern der Kommunikationsnetzwerke Hesses offensichtlich nicht zugänglich. Nicht nur kleine mediale Formen, wie Flugschriften, sondern auch ganze Bücher, die gezielt die Verhältnisse in Russland thematisierten, erschienen in Deutschland gegen Ende der 1680er-Jahre. Trotz des gestiegenen Interesses am Moskauer Reich, war ein deutlicher Mangel an neuen aktuellen Informationen über dieses Land in Europa zu konstatieren. 1689 erschien beispielweise in Nürnberg die Beschreibung der Reise von Bernhard Leopold Franz Tanner, eines tschechischen Reisenden, der bereits 1678 mit einer polnischen Gesandtschaft Moskau besucht hatte.778 Nur beiläufig 776 Kurtze und gründliche Relation, Wie die vornehmste Moscowitische Herren in der Stadt Moßcow Anno 1682. jämmerlich seyn niedergehauen/ und die beyden Printzen Johannes und Petrus zu Zaren erwehlet worden, [o. O.], 1686. 777 GStA PK, HA Geheimer Rat, Rep. XI, Nr. 6583, Bl. 22–31. 778 Legatio Polono-Lithuanica in Moscoviam Potentissimi Poloniae Regis ac Reipublicae Mandato & Consensu Anno 1678. feliciter suscepta/ Nunc … descripta a Teste occulato Bernhardo Leopoldo Francisco Tannero, Boemo Pragense, Dn. Legati Principis Camerario Germanico. Nürnberg, 1689. Über die Rei-
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wurde im Buch auf die neueren Nachrichten aus Russland eingegangen: Der Autor hängte seinem Werk einen Nachtrag mit dem Titel De nupero Tumultu Moscue an, in dem der oben im Kapitel 5.3.3 erwähnte Zeitungsbericht vom 30. Mai 1682 über die Strelitzen-Revolte779 (in lateinischer Übersetzung) sowie eine Liste von den im Tumult ermorderten Adligen und Bediensteten abgedruckt wurden.780 Was die Ursache des Aufstands angeht, gab Tanner das Gerücht über die Vergiftung des Zaren Fedor wieder und machte vor allem Artemon Matveev für diese Übeltat verantwortlich.781 Im Fall eines anderen in Nürnberg publizierten Werks – Kurtze und Neueste aus den besten und neuesten Autoren zusammen getragene/ und biß auf unsere jetzige Zeit continuirte Moscowitische Zeit- Lands- Staats- und Kirchen-Beschreibung – handelt es sich um eine Kompilation. Die Ereignisse des Strelitzen-Aufstands werden hier in Anlehnung an die Darstellung aus der Frankfurter Messrelation 1682 wiedergegeben. Noch einmal wird das Motiv der doppelten Vergiftung wiederholt: Sof ’ja, die als „Haupt-Urheberin des letzten vergossenen Blut-Bads“ und gleichzeitig als eine „Prinzessin von grossen Verstand“782 im Text bezeichnet wird, habe „die Verrätherey, durch welche ihr Bruder ums Leben kommen“, entdeckt. Sie wollte seine Vergiftung rächen und habe deswegen in Strelitzens Wein geheim ein starkes Gift vermischt, wodurch deren Hass gegen die Bojaren entstanden sei. Nach der Beseitigung ihrer Feinde und der Beendigung des Aufstands sei es Sof ’ja gelungen, ihren Bruder Ivan als zweiten Zaren krönen zu lassen, wodurch sie „in die Regierungs-Sachen mit eindringe“.783 Der einzige Autor, der sich Ende der 1680er-Jahre bei der Beschreibung des Strelitzen-Aufstands nicht nur auf die bereits vorhandenen Texte stützte, sondern neues in Russland erworbenes Material heranzog, war Georg Adam Schleusing. Schleusing, ein gebürtiger Sachse, kam als Schullehrer nach Russland in die Moskauer Ausländer-
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se und das Buch von Bernhard Tanner siehe: Friedrich von Adelung: Kritisch-literärische Übersicht der Reisenden in Russland bis 1700, deren Berichte bekannt sind. Sankt Petersburg 1846, S. 363; Berngard Leopol’d Tanner: Opisanie putešestvija pol’skogo posol’stva v Moskvu v 1678 godu, in: ČIOIDR 158 (1891), Nr. 3, S. 1–203, hier S. iii–xi; Aleksander Strojny (Hrsg.): Poselstwo polsko-litewskie do Moskwy w roku 1678 szczęśliwie przedsięwzięte, opisane przez naocznego świadka Bernarda Tannera (Norymberga 1689). Krakow 2002. Von Adelung erwähnte in seinem Werk, dass die erste Ausgabe der Reisebeschreibung Tanners 1680 erschienen war. Das Verzeichnis der im deutschen Sprachraum erschienenen Drucke des 17. Jahrhunderts (VD 17) kennt jedoch nur die Ausgabe von 1689. Siehe die Fn. 729. Siehe den lateinischen Text in: Strojny (Hrsg.): Poselstwo polsko-litewskie, S. 393–398. Ebd., S. 396. Kurtze und Neueste aus den besten und neuesten Autoren zusammen getragene/ und biß auf unsere jetzige Zeit continuirte Moscowitische Zeit- Lands- Staats- und Kirchen-Beschreibung. Worbey viel bey denen jetzigen Conjuncturen vorgefallene Circumstantien/ auch zu wissen nutzliche und zu lesen annehmliche Anmerkungen mit eingemenget. Nürnberg 1687, S. 242–243. Kurtze und Neueste aus den besten und neuesten Autoren zusammen getragene […]. S. 90–96.
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siedlung und verbrachte dort fast ein Jahr von Mai 1684 bis März 1685.784 Nach seiner Rückkehr nach Europa fasste er seine Kenntnisse über den russischen Staat in Form eines Dialogs zwischen zwei fiktiven Personen, Philander und Constans, zusammen und brachte das Werk 1688 heraus.785 Schleusing war zweifelsohne mit einigen gängigen Druckschriften über die Strelitzen-Revolte vertraut786 (v. a. der Einfluss des Berichts von Heinrich Butenant lässt sich im Text von Anatomia Russiae Deformatae spüren), aber er ergänzte seine Beschreibung der Rebellion durch die in Moskau gehörten Narrative. Dem Gerücht über Fedors Vergiftung schenkt Schleusing keinen Glauben und bezeichnet es sogar als „erdichtete Opinion“.787 Der Hauptanstifter der Revolte sei laut Schleusings Werk „ein reußischer Obrister“ gewesen (Ivan Chovanskij, der allerdings nicht beim Namen genannt wird), der „schon längst zuvor aller Strelitzen verbitterte Gemüther sehr wohl gekennet/ und also Wasser auff seine Mühle zuführen/ diese teufflische Werckzeuge gebrauchet“.788 Sogar das in den russischen Quellen aufgezeichnete Gerücht, Chovanskij habe seinen Sohn mit carevna Sof ’ja verheiraten wollen, findet im Text von Anatomia Russiae Deformatae Erwähnung.789 Schleusing besuchte Russland gerade während Sof ’jas Regentschaft und rezipierte so das von der russischen Regierung propagierte Chovanščina-Narativ. Sof ’ja selbst stellte der Schriftsteller im positiven Licht dar und beschrieb sie als „eine sonst mit Fürstl. Verstande begabte/ kluge und Regiersüchtige Princeßin“, die an der Spitze der Macht stände, sodass „alles und jedes annoch durch sie und die vornehmste Herren beschlossen wird“. 790 Es ist aber interessant, dass Schleusing seine Einstellung zu Sof ’jas Regierung in seinen späteren Werken drastisch ändert. In den 1690er-Jahren publizierte der Sachse noch weitere Schriften über das Moskauer Reich, in denen er Sof ’jas Rolle in der Strelitzen-Rebellion auf eine ganz andere Weise abbildet. In seinem 1694 erschie-
784 Kočegarov: Bor’ba bojarskich gruppirovok, S. 52–53. Über Georg Adam Schleusings Reise nach Russland siehe auch: Rasskaz očevidca o žizni Moskovii konca XVII veka, in: Voprosy istorii 1 (1970), S. 103–126; M. A. Alpatov: Georg-Adam Šlejssinger o Rossii konca XVII v., in: Istorija i istoriki. Istoriografičeskij ežegodnik 1979 (1982), S. 195–203. Im ersten dieser Aufsätze befindet sich auch die russische Übersetzung der Handschrift von Schleusings Werk, die er bereits 1687, d. h. ca. ein Jahr vor der Buchveröffentlichung, verfasste. 785 Anatomia Russiae Deformatae, Oder Historische Beschreibung/ Des Moscowiter oder Reußlandes/ wie es sich anjetzo unter Regirung zweener Zaaren oder Groß-Fürsten Iwan und Peter Alexewiz eigentlich befindet: Kürtzlich und gründlich/ mit allen sich bißhero zugetragenen Begebenheiten/ Ambassaden/ und dergleichen/ auch der darbey vorgegangener grausamen Rebellion, von Haupt biß zum Ende/ nebst allerhand lustigen und kurtzweiligen Discursen, in einem Zwey-Gespräch vorgestellet. [o. O.] 1688. Die Beschreibung der Strelitzen-Rebellion befindet sich auf S. 41–60. 786 So erwähnt auch einer der Protagonisten des Buchs, der fragende Constans, dass er „wohl ein Tractätlein darvon [d. h. von der Strelitzen-Rebellion] gelesen [hat]“, siehe: Anatomia Russiae Deformatae, S. 42. 787 Ebd., S. 45. 788 Ebd., S. 52. 789 Ebd. 790 Ebd., S. 56.
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nenen Werk791 verschwand Ivan Chovanskij komplett aus der Erzählung, und an seine Stelle trat Sof ’ja, die diesmal als „Urheberinn aller innerlichen Unruhe und Auffrührungen“ im russischen Land verschrien wurde. Offenbar korrigierte Schleusing seine Angaben unter dem Einfluss des in Europa zu diesem Zeitpunkt vorherrschenden Narrativs über den Komplott der intriganten Prinzessin. Auch in den Übersichtswerken zur gesamteuropäischen Geschichte – im Frankfurter Theatrum Europaeum (1691) und in der Kern-Chronica der merckwürdigsten Welt- und Wunder-Geschichte (1690) des Hamburger Schriftstellers Eberhard Werner Happel – fanden die Strelitzen-Unruhen Erwähnung. Es wurde bereits angesprochen, dass beide Werke den Bericht Butenants über den Aufstand abdruckten. Die Erzählung über das Moskauer Massaker wurde jedoch außerdem in den Kontext der europäischen Politik eingeflochten. So beginnt Happel seine Beschreibung der Ereignisse in Russland zunächst mit der Darstellung der russischen Siege über den „Groß-Türck“ unter der Regierung von Fedor Alekseevič. Besonders die Erfolge der Generäle „Romodanousky“ und „Dolgeruky“ werden sehr positiv bewertet; später kommen jedoch beide im Strelitzen-Aufstand ums Leben. Die Schwächung des russischen Staates während der Rebellion hätten, so Happel, sofort die Türken und Tataren ausgenutzt, die daraufhin die Gebiete am Schwarzen Meer eroberten.792 Happel fügte bemerkenswerterweise seinem Werk noch einen Anhang – Apendix zu dieser Kern-Chronica: Betreffend die fürnehmsten und sonderbahresten Revolutiones oder Staats-Veränderungen dieses itzigen Seculi, von Anno 1600 biß 1690. durch alle Königreiche und Stände der ganzen Welt – hinzu, in dem er ebenfalls ein Kapitel über die zahlreichen Aufstände im russischen Reich des 17. Jahrhunderts platzierte. Dieses Kapitel, betitelt als „Die Moßcowitische Veränderung“, befindet sich zwischen den Abschnitten über die polnische und die ungarische „Revolution“. Hier wird wieder der Kampf Russlands mit der türkischen Gefahr unterstrichen: Nach der Beendigung der Strelitzen-Rebellion hätten Sof ’ja, „eine überaus kluge Dame“, und ihr Favorit Vasilij Golicyn eine „erschreckliche Armee“ gegen die Tataren geschickt. Die Tatsache, dass dieser Feldzug jedoch „wenig außgerichtet“ hätte, wurde von Happel als die Ursache des politischen Absturzes von Sof ’ja im Jahr 1689 gedeutet.
Derer Beyden Czaaren in Reußland Iwan und Peter Alexewiz, nebst dero Schwester der Princeßin Sophia, Bißhero Dreyfach geführter Regiments-Stab und was darauff erfolget ist, nebst dem jetzigem Zustande in Reußlande. Zittau 1694. 792 Kern-Chronica der merckwürdigsten Welt- und Wunder-Geschichte. S. 90‒91. Vgl. auch Malte Griesse: State-Arcanum and European Public Spheres: Paradigm Shifts in Muscovite Policy towards Foreign Representations of Russian Revolts, in: Malte Griesse (Hrsg.): From Mutual Observation to Propaganda War: Premodern Revolts in Their Transnational Representations. Bielefeld 2014 (= Histoire 56), S. 205–269, hier S. 217–218. 791
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Abbildung 4 Zar Ivan Alekseevič, Kupferstich aus Georg Adam Schleusings Buch Derer beyden Czaaren im Reuß-Lande Iwan und Peter Alexewiz, Nebst Dero Schwester der Princessin Sophia, Bißhero dreyfach-geführter Regiments-Stab, Zittau 1694. SLUB Dresden / Digitale Sammlungen / Hist.Russ.1056.
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Abbildung 5 Zar Peter Alekseevič, Kupferstich aus Georg Adam Schleusings Buch Derer beyden Czaaren im Reuß-Lande Iwan und Peter Alexewiz, Nebst Dero Schwester der Princessin Sophia, Bißhero dreyfach-geführter Regiments-Stab, Zittau 1694. SLUB Dresden / Digitale Sammlungen / Hist.Russ.1056.
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Abbildung 6 Prinzessin Sof ’ja Alekseevna, Kupferstich aus Georg Adam Schleusings Buch Derer beyden Czaaren im Reuß-Lande Iwan und Peter Alexewiz, Nebst Dero Schwester der Princessin Sophia, Bißhero dreyfach-geführter Regiments-Stab, Zittau 1694. SLUB Dresden / Digitale Sammlungen / Hist.Russ.1056.
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Bei den europäischen Autoren der späten 1680er- und der frühen 1690er-Jahre wird auch das Interesse am Phänomen der Strelitzen deutlicher. In den Zeitungsberichten des Jahres 1682 wurden sie in erster Linie ganz neutral als „die Czarische Garde“ ohne weitere Erklärungen vorgestellt, nur die Züricher Ordinari-Wochen Zeitung äußerte sich etwas ausführlicher, beschuldigte sie des angestifteten Massakers und beleidigte sie als ein „ungezäumtes Völklein“ und „ungezäumte und unbändige aufrührische Landsknechten“.793 Bereits in den diplomatischen Berichten koexistierten, wie gezeigt, verschiedene Sichtweisen auf die Natur der Strelitzen-Meuterei, wobei die Vorstellung vom Elend der Strelitzen und deren sklavischen Dienstverhältnissen betont wurde (wie beispielsweise in der Relation von Heinrich Butenant oder in den Briefen Johann van Kellers). Dennoch nahm die Tendenz, die Strelitzen als ein barbarisches und rückständiges Element wahrzunehmen, in der europäischen Publizistik allmählich zu. Im Buch Anatomia Russiae Deformatae von Georg Adam Schleusing werden die Strelitzen dann als „wahnsinnige Leute“, „wütende Hunde“, „tyrannische Blut-Hunde“ und „rechte Teuffel und Unmenschen“ beschimpft. Besonders unterstrichen wird der Hass der Strelitzen gegen Ausländer, der sich durch die grausame Ermordung der ausländischen Ärzte offenbart habe. Die Feindlichkeit zwischen Strelitzen und den Einwohnern der Moskauer nemeckaja sloboda war in den Druckschriften ebenso erwähnt worden.794 Schleusing gibt in seinem Buch sogar eine vermutlich unter Moskauer Deutschen tradierte Legende wieder, laut der die Strelitzen während des Aufstands die ausländische Siedlung haben ganz verwüsten wollen und nur im letzten Moment von einem alten Strelitz davon abgehalten worden seien, der seine Kameraden mit folgenden Worten angesprochen habe: „Lieben Brüder/ thut das nicht/ was haben uns die Teutschen getan? Werden wir sie tödten/ so wird ihr unschuldiges Blut über uns schreyen/ sie haben noch viel tausend Brüder daraussen/ die solches von unsern Händen fordern werden/ und dergleichen mehr“.795 Schließlich wurden die Strelitzen in der Kurtzen und Neuesten Moscowitischen Zeit- Lands- Staats- und Kirchen-Beschreibung gar den türkischen Janitscharen als Beispiel einer von der Natur her rebellischen und ineffizienten Militäreinheit gleichgesetzt: Es seynd aber diese Strelitzen wie oberwehnt nichts als Fußgänger und Mousquetirer/ fast auf dem Schlag wie die Janitscharen bey denen Türcken/ nur daß sie in den Waffen eben nicht mit so grosser Sorgfältigkeit von Jugend auf unterrichtet werden. Es hat aber ihr letzter Auffstand in der Stadt Moßkau gezeigt/ daß sie/ wann es nicht allerdings nach ihrem Sinn gehet/ oder an der Bezahlung mangelt nicht minder insolent als diese seyn können/ dahero bey vielen Politicis die Frage waltet/ ob es auch wol rathsam daß ein Herr
793 Ordinari Wochen-Zeitung (Zürich), 1682, Nr. 30 vom 22. Juli, „Moßkau/ vom 4. 14. Brachm.“. 794 S. P. Orlenko: Vychodcy iz Zapadnoj Evropy v Rossii XVII veka (pravovoj status i real’noe položenie). Moskva 2004, S. 200–202. 795 Anatomia Russiae Deformatae, S. 47.
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eine so starcke und beständige Miliz wie die Türcken und Moßkowiter thun/ vor seinen Augen und in der Residenz-Stadt unterhalten solle? Sintemal nicht nur die alten Exempla zu der Römer Zeiten/ sondern auch die noch neuere Erfahrungen bezeugt/ daß wann ein solches Volck ihre Macht zu erkennen und sich zusammen zu verbinden anfängt/ sie auch seinen Herren selbsten Gesetze vorzuschreiben/ nicht Scheu trägt.796
Der Aufschwung des Interesses der europäischen Publizistik an Russland Ende der 1680er-Jahre, der mit der Partizipation des Moskauer Reichs an der antitürkischen Koalition zusammenhing, verlor nach den Misserfolgen der Feldzüge, die Vasilij Golicyn gegen die Krimtataren 1687 und 1689 unternahm, schnell an Kraft. Erneut wurde dieses Interesse erst etwa zehn Jahre später belebt, als 1697 bis 1698 die Großgesandtschaft Peters des Großen, an welcher der Zar selbst inkognito teilnahm, ihren Weg durch Europa machte. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich allerdings vieles in den innenpolitischen Verhältnissen Russlands geändert. Sowohl die Doppelherrschaft von zwei Zaren als auch Sof ’jas Regentschaft waren bereits Geschichte: Carevna war seit ihrem Sturz im September 1689 im Moskauer Neu-Jungfrauen-Kloster eingesperrt, und Peters Halbbruder Ivan war 1696 gestorben. An der Machtspitze im russischen Reich stand nun der junge Zar Peter alleine. Seine energische Figur und sein immenses Interesse für die westliche Kultur und die westlichen technischen Innovationen erweckten große Aufmerksamkeit unter europäischen Gelehrten und Publizisten. Die Reise der petrinischen Großgesandtschaft durch Europa gab dabei Anlass zur Entstehung von neuen publizistischen Werken, die die Biografie des jungen Zaren und die anstehenden Veränderungen bzw. das neue politische Klima im Moskauer Reich thematisierten. Bei der Beschreibung der Ereignisse der Strelitzen-Revolte 1682 orientierten sich die neuen Autoren dennoch hauptsächlich an dem bereits in der Publizistik vorhandenen Narrativ über die Machtgier von carevna Sof ’ja und ihre Involvierung in die Aufstandsvorbereitung. So seien beispielweise die Strelitzen im 1698 publizierten Buch des Engländers Jodocus Crull zur Rebellion durch Sof ’jas namenlose Konfidenten („the Princesses Creatures“) aufgewiegelt worden.797 Sogar Johann Georg Korb, der Sekretär einer kaiserlichen Gesandtschaft nach Russland 1698 bis 1699 und der Autor des 1700 erschienenen Werks Diarium Itineris in Moscoviam, der die harten Repressalien gegen die Strelitzen nach ihrer letzten Meuterei im Jahr 1698 in Moskau persönlich miterlebt hatte, stützte sich in seiner Darstellung der Ereignisse von 1682 ebenfalls auf die vorhandenen literarischen Vorlagen. Seine Passage über die Revolte 1682 ist nichts anderes, als eine etwas überarbeitete Erzählung aus der oben erwähnten Kurtzen und Neuesten Moscowitischen Zeit- Lands- Staats- und Kirchen-Beschreibung. In Korbs Darstellung sei es Natal’ja Naryškina nach dem Tod von Fedor Alekseevič in 796 Kurtze und Neueste aus den besten und neuesten Autoren zusammen getragene […]. S. 329–330. 797 The Antient and Present State of Muscovy, containing a Geographical, Historical and Political Account of all those Nations and Territories under the Jurisdiction of the Present Czar. London 1698, S. 200–203.
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einer Absprache mit „Bojaren und Großherren“ gelungen, ihren Sohn Peter zum neuen Zaren zu erklären, „denn die edle Veranlagung seiner Brust, die feurige Kraft seines Geistes und die trotz seiner zarten Jahre hervortretende Ausdauer bei Anstrengungen offenbare zur Genüge eine verborgene Seelengröße und Herrschertugenden“.798 Um den Naryškins ihre Macht streitig zu machen, habe Sof ’ja, „mit ähnlicher Geschicklichkeit und Schläue gerüstet“, das Gerücht in Umlauf gesetzt, Zar Fedor sei vergiftet worden. Um diesem Gerücht mehr Gewicht zu verleihen und die Gardetruppen zur Meuterei aufzuwiegeln, habe die auf den Trick mit dem vergifteten Brandwein zurückgegriffen.799 Die Tumulte im Moskauer Reich im Jahr 1682 seien damit, so Korb, „den kunstreichen Schlichen der Prinzessin Sophia zu danken“.800 Eine zweite Quelle für Korb bildeten anscheinend die Werke Schleusings, da im Diarium Itineris in Moscoviam die Legende über den Rat eines alten Strelitzen, der seine Kameraden von der Plünderung der Ausländersiedlung abgehalten habe, wiederholt wurde.801 Insbesondere ein Text hat die Wahrnehmung der Person von carevna Sof ’ja und ihrer Rolle bei den Strelitzen-Revolten in der europäischen sowie in der russischen literarischen Tradition nachhaltig beeinflusst. Es handelt sich um die Schrift eines Franzosen namens Foy de la Neuville, die unter dem Titel Relation curieuse et nouvelle de Moscovie im Druck erstmals 1698 in Paris erschien.802 Ein Jahr später folgten Übersetzungen ins Niederländische und Englische. Das Buch, das inmitten des europäischen Hypes um die petrinische Großgesandtschaft publiziert wurde, genoss schnell große Popularität. Dabei lasen nicht nur die europäischen Behörden und Gelehrten (wie beispielweise Gottfried Wilhelm Leibniz) Neuvilles Werk, sondern auch die russischen Gesandten
798 Diarium itineris in Moscoviam perillustris ac magnifici domini Ignatii Christophori de Guarient et Rall, Sacri Romani Imperii, & Regni Hungariae Equitis, Sacrae Caefareae Majestatis Consiliarii Aulico-Bellici ab Augustißimo & Invictißimo Romanorum Imperatore Leopoldo I. ad Serenißimum, ac Potentißimum Tzarum et Magnum Moscoviae Ducem Petrum Alexiowicium anno MDCXCVIII ablegati extraordinarii. Wien 1700, S. 174–175. Die deutschen Zitate sind angeführt nach der Edition: Johann Georg Korb: Tagebuch der Reise nach Russland, hrsg. v. Gerhard Korb, übers. von Edmund Leingärtner. Graz 1968, S. 165. 799 Diarium itineris in Moscoviam, S. 175–176. 800 Zitat nach Korb: Tagebuch der Reise, S. 164. 801 Diarium itineris in Moscoviam, S. 176. 802 Relation curieuse et nouvelle de Moscovie. Contenant l’état présent de cet Empire. Les Expéditions des Moscovites en Crimée en 1689. Les causes des dernières Révolutions. Leurs Mœurs & leurs Réligion. Le Récit d’un voyage de Spatarus, par terre, à la Chine. Paris 1698. Der gedruckte Text unterscheidet sich in einigen Details von den heute in Paris und Hannover erhaltenen Handschriften des Werks. Die auf den Handschriften basierte Publikation des Berichts Neuvilles wurde von Aleksandr S. Lavrov durchgeführt: de la Nevill’: Zapiski o Moskovii, hrsg. v. A. S. Lavrov. Moskva 1996 (= Rossija i rossijskoe obščestvo glazami inostrancev. XV–XIX vv. 1). Die englische Übersetzung der ersten französischen Druckfassung von 1698 wurde von Lindsey Hughes herausgegeben: Foy de la Neuville: A Curious and New Account of Muscovy in the Year 1689, hrsg. v. L. Hughes. London 1994.
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selbst, die allerdings das Buch mit großem Missvergnügen empfingen.803 Die Ursache dafür war wahrscheinlich eine den Russen gegenüber sehr negative und mit Vorurteilen belastete Haltung des Autors sowie ein ziemlich heikler Gegenstand des Buchs. Der Autor teilt in der Schrift seine Beobachtungen über den russischen Staat und die Politik mit, die er, laut seinen eigenen Angaben, während seiner Reise nach Moskau im Status eines Abgesandten des polnischen Königs von Juli bis Dezember 1689 gemacht habe. Neuville war also während der entscheidendsten Konfrontation zwischen Peter und Sof ’ja, auf deren Details und deren Vorgeschichte er in seinem Werk ausführlich eingeht, in der russischen Hauptstadt. Die Person des Autors dieser kuriosen Schrift erweckte jedoch bereits unter den Zeitgenossen polemische Reaktionen. Es war so wenig über Foy de la Neuville bekannt, dass er lange Zeit für eine literarische Mystifikation, ein Pseudonym gehalten wurde, und es wurden ernste Zweifel geäußert, ob die beschriebene Reise überhaupt jemals stattgefunden habe und nicht erdacht worden sei. Erst Anfang des vorigen Jahrhunderts wurde diese lange diskutierte Frage dank neuer Entdeckungen in den Archiven gelöst,804 sodass heute keine Zweifel mehr an der realen Existenz Neuvilles bestehen. Er war ein französischer Adliger und ein großer Abenteurer, der sich ohne offiziellen Status unter der Patronage des französischen Residenten in Polen, Marquis de Béthune, spätestens ab Mitte der 1680er-Jahre am Hof des polnischen Königs Jan Sobieski aufhielt.805 Im Auftrag des Königs sowie Béthunes erfüllte Neuville kleine diplomatische Kurieraufgaben in Savoyen, Venedig und London. Nach Moskau wurde er im Sommer 1689 anscheinend ohne offizielle Akkreditierung, vielmehr in der Rolle eines geheimen Agenten des polnischen Königs geschickt.806 In den russischen Quellen lässt sich jedoch keine Erwähnung über Neuvilles Mission finden, obwohl die Ankunft jedes offiziellen ausländischen Gesandten im Moskauer Reich streng protokolliert werden musste. Auch an vielen anderen Details aus Neuvilles Schrift lässt sich zweifeln. Der Franzose beschreibt beispielweise seine Audienzen, private Treffen
803 A. S. Lavrov: „Zapiski o Moskovii“ i ich avtor, in: de la Nevill’: Zapiski o Moskovii, hrsg. v. A. S. Lavrov. Moskva 1996 (= Rossija i rossijskoe obščestvo glazami inostrancev. XV–XIX vv. 1), S. 7–53, hier S. 8–9. 804 Siehe A. I. Braudo: Russica (iz dopolnenij k trudu Fr. Adelung’a „Kritisch-Literarische Übersicht der Reisenden in Russland“), in: Sbornik statej v čest’ D. F. Kobeko. Sankt-Peterburg 1913, S. 247‒257. 805 Über die Biografie Foy de la Neuvilles vgl. Grönebaum: Frankreich in Ost- und Nordeuropa, S. 119–120; Isabel de Madariaga: Who was Foy de la Neuville?, in: Cahiers du monde russe et soviétique 28 (1987), Nr. 1, S. 21–30; Neuville: A Curious and New, S. xviii–xxiii; Lavrov: Zapiski o Moskovii, S. 16–37. 806 Im Vorwort der Druckausgabe 1698, die Neuville dem französischen König widmete, behauptete der Abenteurer, er hätte bei seiner russischen Reise die Interessen der französischen Außenpolitik im Auftrag Béthunes erfüllt, jedoch wird aus anderen Kapiteln des Buchs deutlich, dass Neuville vielmehr als informeller Agent der polnischen Krone agiert hatte, vgl. dazu Lavrov: Zapiski o Moskovii, S. 23–26.
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und Feste mit einigen prominenten russischen Bojaren (Vasilij Golicyn, Boris Golicyn und Andrej Matveev) sowie seine Ausflüge in Moskau und der Umgebung, während denen er seine Beobachtungen gemacht habe. Ganz anders blieb jedoch Neuvilles Moskauer Reise in Erinnerung von anderen Zeitzeugen. Der schwedische Resident in Moskau, der uns bereits bekannte Christof Koch (von Kochen), erwähnte z. B. in seinen Briefen vom Oktober 1689 die Ankunft einer Gruppe von „Italienern“ in Moskau, die bei den russischen Behörden jedoch schnell verdächtig geworden seien. Unter den Italienern habe sich auch ein Franzose namens „Bartolome Iwe“807 befunden, den von Kochen für den eigentlichen Anführer der ganzen Gruppe hielt. Die Eingereisten seien für mehrere Monate eingesperrt und erst im Dezember freigelassen worden.808 Ein anderer Ausländer, ein tschechischer Jesuit namens Georgius ( Jiří) David, der sich von August 1686 bis Oktober 1689 in Moskau aufhielt, schrieb ebenfalls über die Anreise von drei „italienischen Herren“, die zuerst von Vasilij Golicyn empfangen wurden, jedoch danach für Spione gehalten und erst nach der Fürbitte der polnischen Krone freigelassen worden seien.809 Sogar Neuvilles Patron, Marquis de Béthune, erwähnt in seiner Korrespondenz mit Versaille vom 6. Januar 1690 (n. S.), dass „Herr de la Neuville“ sechs Monate lang in Moskau „gefangen gehalten“ worden sei.810 Die Umstände der Reise von Foy de la Neuville nach Moskau 1689 und die Glaubwürdigkeit seines Berichts über die Konfrontation zwischen Zar Peter und Sof ’ja im August und September lassen damit noch viele Fragen offen. Im Rahmen dieser Studie interessiert jedoch nur Neuvilles Erzählung über die Strelitzen-Revolte 1682.811 Sie ist ziemlich verworren und stellt im Prinzip eine Zusammenschau von Motiven aus den bereits hier untersuchten europäischen publizistischen Schriften dar. Die Chronologie der Ereignisse des Jahres 1682 ist bei Neuville durcheinander: So rebellieren die Strelitzen in seiner Erzählung zweimal – zuerst gleich nach dem Tod von Fedor, und danach zum zweiten Mal durch die Aufwiegelung von Sof ’ja und Chovanskij. Sof ’ja wird von Neuville zur Hauptanstifterin der Rebellion erklärt: „[…] die Revolten, die in diesem Reich geschehen sind und zweifelsohne noch wei-
807 „Bartholomew Yve“ war ein Pseudonym, unter dem Neuville seine Reise nach London 1688 durchführte, vgl. ebd., S. 21. 808 Paul Bushkovitch: Aristocratic Faction and the Opposition to Peter the Great: the 1690’s, in: Hans-Joachim Torke (Hrsg.): Forschungen zur osteuropäischen Geschichte, Bd. 50. Wiesbaden 1995, S. 80–120, hier S. 91; Bushkovitch: Cultural Change, S. 107, Fn. 43. 809 Georgius David: Status modernus Magnae Russiae seu Moscoviae (1690), hrsg. v. Antonij V. Florovskij. The Hague 1965 (= Slavistic Printings and Reprintings 54), S. 95. Für die russische Übersetzung des lateinischen Texts von Jiří David siehe: Irži David: Sovremennoe sostojanie Velikoj Rossii ili Moskovii, in: Voprosy istorii 1, 3–4 (1968), S. 123–132, 92–97, 138–147. 810 Lavrov: Zapiski o Moskovii, S. 32. 811 Relation curieuse et nouvelle de Moscovie, S. 37–57, 151–163; siehe auch diese Stellen in der von Aleksandr Lavrov vorbereiteten Publikation des Werks: de la Nevill’: Zapiski o Moskovii, S. 69–72, 98–101.
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ter folgen können, haben ihre Ursache in den Intriegen der Prinzessin Sophie“.812 Ihre Aktionen seien hauptsächlich vom Wunsch getrieben, dem aussichtslosen Schicksal einer Zarentocher, die ihr Leben eingesperrt im Kloster im Zölibat hätte verbringen sollen, zu entkommen.813 Um an die Macht zu gelangen, habe Sof ’ja, so Neuville, alle möglichen Mittel ergriffen und sei sogar bereit gewesen Zarenmord zu begehen. Der Franzose kannte offenbar die Werke von Schleusing814 (v. a. seine späteren Bücher der 1690er-Jahre), aus denen er möglicherweise solche Motive, wie den Vergleich der Strelitzen mit den türkischen Janitscharen oder Sof ’jas Hässlichkeit,815 entlehnte. Die größte Ähnlichkeit weist Neuvilles Bericht jedoch mit dem polnischen Diariusz auf. Genauso wie im polnischen Text wird in Neuvilles Erzählung über die Strelitzen-Revolte eine wichtige Rolle dem Fürsten Ivan Chovanskij zugewiesen. Chovanskij habe zuerst als Sof ’jas Komplize in ihrem Komplott gegen die Anhänger des Zaren Peter agiert und seine Strelitzen gegen die Letzteren erhoben. Nach der Revolte habe er allerdings begonnen davon zu träumen selbst Zar zu werden und einen Plan ersonnen, seinen Sohn mit Sof ’jas Schwester, carevna Katerina, zu verheiraten (im Diarius wird jedoch Sof ’ja selbst als Ehefrau vorgesehen). Sof ’ja und Vasilij Golicyn, der als der prominenteste Mitverschwörer und der Favorit der Prinzessin dargestellt wird, haben dies erfahren und ihren ehemaligen Komplizen beseitigt, wonach Sof ’ja zur Regentin neben beiden Zaren geworden sei. Dass Neuville die Motive aus dem Diariusz kannte, ist in Anbetracht seiner Tätigkeit im diplomatischen Dienst der polnischen Krone sehr plausibel. Neuvilles kuriose Erzählung über die Intrigen und Revolten im russischen Reich blieb weit über den Tod ihres Autors wirksam. Es ist bemerkenswert, dass seine Schrift, die ursprünglich von den Zeitgenossen und besonders von den Russen selbst als ein antirussisches Pamphlet empfunden wurde, im Endeffekt maßgeblich zur Herausbil-
812
„[…] les Revolutiones qui sont survenües dans cet Etat & pouroint arriver dans la suite viennent de toutes les intrigues de la Princesse Sophie“, Relation curieuse et nouvelle de Moscovie, S. 151. 813 „Sur la fin du regne de Theodore, la princesse Sophie, ayant toutes les qualitez, que nous venons de dire, & prévoyant bien que ce Prince ne vivroit pas long-temps, étant accablé de maladie, entreprit de sortir de son Convent, contre la coutume establie, que les filles de la maison Czarienne y doivent passer toutes leurs vies, sans pouvoir être jamais mariées“, Relation curieuse et nouvelle de Moscovie, S. 152–153. 814 Neuville: A Curious and New, S. xxvii; Lavrov: Zapiski o Moskovii, S. 50. 815 Vgl. bei Schleusing: „Was die erwehnte Princessin Sophia betrifft/ so ist selbige von Gestalt des Leibes nicht gar schön/ jedennoch von Hoch-Fürstlichen Gemüths-Gaben eine sehr kluge Princessin“, Derer Beyden Czaaren in Reußland, S. 12; und bei Neuville: „[…] die Prinzessin Sophie, deren Verstand und Qualitäten stehen im Kontrast zur Disproportioniertheit ihres Körpers: Sie ist sehr groß, ihr Kopf ist wie ein Topf, sie hat Haarwuchs im Gesicht und Flechten auf den Füßen und sie ist mindestens 40 Jahre alt; dennoch […] sie hat einen durchdringenden und scharfen Verstand“. („[…] la Princesse Sophie, dont l’esprit et le merite ne tiennet rien de la difformité de son corps, étant d’une grosseur monstrueuse, avec une tete large comme un boisseau, du poil au visage, des loups aux jambes, et au moins 40 ans; mais […] son esprit est fin, delié et politique“), Relation curieuse et nouvelle de Moscovie, S. 151–152.
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dung des Diskurses über die auserwählte reformerische Mission Peters des Großen beitrug. Neuvilles Narrativ über Sof ’jas Komplott wurde von späteren Autoren gerne rezipiert und in die Biografie des russischen Imperators eingebunden. Das größte Werk über Peters Leben in Europa vor dem Erscheinen des Buchs von Voltaire – die 1737 in Venedig in italienischer Sprache gedruckte Schrift Vita di Pietro il Grande, Imperador della Russia eines griechischen Abts namens Antonios Katiforos, die die Taten des russischen Zaren stark idealisierte – übernahm bei der Darstellung der Ereignisse von 1682 komplett Neuvilles Version über Sof ’jas Verschwörung.816 Auch in Russland wurde Relation curieuse et nouvelle gelesen. Das Buch (die niederländische Ausgabe von 1707) befand sich im Besitz von Andrej Artemonovič Matveev817 und inspirierte offenbar einige Stellen in seinen Memoiren über die Strelitzen-Revolte, wie z. B. den Vergleich mit Janitscharen oder die Bezeichnung von Sof ’jas Hinterlist als „italienische Politik“: Bei Neuville wurde die carevna als eine in den machiavellistischen Maximen sehr geübte Herrscherin beschrieben.818 Auch das für die russische politische Sprache des 18. Jahrhunderts neue Wort „Partei“ (partija) verwendete Matveev in seinem Werk für die Bezeichnung der Gruppierungen der Naryškins und der Miloslavskijs offenbar unter dem Einfluss von westlichen Texten.819 Dem europäischen publizistischen Narrativ über Sof ’jas Intrigen und Komplott kam im petrinischen Russland eine Strömung entgegen. Wie es bereits im Kapitel 3.3 demonstriert wurde, war die Vorstellung von der carevna als Urheberin aller Unruhen nach der Niederschlagung der letzten Strelitzen-Rebellion 1698 in der petrinischen Gesellschaft sehr verbreitet. Die europäischen Texte fanden deswegen Verständnis bei russischen Lesern, während die in Russland zirkulierenden Erzählungen über Sof ’jas Machtgier und Komplott ihrerseits von europäischen Autoren unkritisch übernommen wurden. Folgende Beispiele veranschaulichen diese zweite Tendenz. Der bereits oben erwähnte Jodocus Crull publizierte ein Jahr nach dem Erscheinen seines Buchs The Antient and Present State of Muscovy einen kleinen Nachtrag zu diesem Werk unter dem Titel The Present Condition of the Muscovite Empire, till the year 1699 in two Letters.820
Vita di Pietro il Grande imperador della Russia; scritta dall’Abbate Antonio Catiforo. Venedig 1737, S. 35–42. 817 Polonskaja (Hrsg.): Biblioteka A. A. Matveeva, S. 95. 818 Vgl.: „[…] sans avoir jamais lû Machiavel, elle possede naturellement toutes ses maximes“, Relation curieuse et nouvelle de Moscovie, S. 152. 819 Vgl. Matveevs Beschreibung: „Bezüglich der Frage der Thronbesteigung haben sich damals die Leute – die Bojare und die restlichen Adligen – in zwei Parteien, also Cliquen, geteilt“, Roždenie imperii, S. 363. In der europäischen Publizistik des 17. Jahrhunderts, sowohl in deutschen als auch in englischen und französischen Texten, war das Wort „Partei“ eine gängige Bezeichnung für eine politische Gruppierung. 820 The Present Condition of the Muscovite Empire, till the year 1699. In two Letters: the first from a Gentleman, who was Conversant with the Muscovite Ambassadour in Holland: the second From a Person of Quality at Vienna, Concerning the late Muscovite Embassy, his present Czarish Majesty; the Russian Empire; and Great-Tartary. With the Life of the Emperour of China. London 1699. Dazu siehe Antho816
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Der erste der Briefe (aus Amsterdam vom 30. Oktober 1698) enthält die Wiedergabe eines Gesprächs mit dem russischen Abgesandten in Holland. Der Brief thematisiert hauptsächlich die Unruhen im Moskauer Reich seit dem Tod Fedors und macht Sof ’ja für sie verantwortlich. Der brutale Einsatz Peters des Großen gegen die Strelitzen wird dabei als Initiative des Zaren gerechtfertigt, die „öffentliche Ruhe“ (public tranquility) wiederherzustellen. Die Strelitzen seien nämlich ein „arrogant and violent body of Troops“ und „the source of the many revolts and troubles, that have harassed the Russian Empire in our age“.821 Auch Peters Kritiker in Europa übernahmen das petrinische Narrativ über die Ereignisse des Jahres 1682. Philipp Johann von Strahlenberg, ein schwedischer Offizier, der sich nach der Schlacht von Poltava von 1709 bis 1722 in russischer Gefangenschaft befand, veröffentlichte 1730 in Stockholm seine Beschreibung des russischen Reichs der petrinischen Epoche. Obwohl das Buch eine ziemlich kritische Sichtweise auf den russischen Imperator und seine Maßnahmen bot, erzählte Strahlenberg die Geschichte von Peters Jugend, d. h. die Geschichte der Strelitzen-Rebellionen, in vollem Einklang mit der Version der offiziellen petrinischen Chroniken.822 Es muss natürlich angemerkt werden, dass die Wahrnehmung der Ereignisse von 1682 und der Strelitzen im Allgemeinen in europäischen Druckschriften an der Schwelle zum 18. Jahrhundert stark von der Berichterstattung über den zweiten Strelitzen-Aufstand von 1698 beeinflusst wurde. Zur Zeit der Niederschlagung dieser zweiten Revolte hatte die neue petrinische Politik der Offenheit gegenüber dem Westen bereits erste Ergebnisse gezeitigt, sodass mehr ausländische Beobachter die harten Repressalien gegen die Strelitzen 1698 bis 1699 vor Ort erlebt hatten und der Wirkung der den Aufstand verteufelnden Propagandakampagne der Regierung ausgesetzt waren. Da die Modernisierungsmaßnahmen Peters des Großen im Westen insgesamt auf positive Beurteilung stießen, wurden seine innenpolitischen Gegner in der europäischen Publizistik in sehr negativem Licht dargestellt. Die Exekutionen der Strelitzen und ihrer Sympathisanten wurden deswegen gerechtfertigt, denn, wie die Hamburger Kern-Chronik im November 1698 schrieb, „das Ubel schiene immer ärger zu werden/ und wenn von der auffrührischen Herculischen Wasser-Schlange ein Kopff abgehauen/ so wuchse wieder ein neuer/ und kahm darüber der Czaar vielmahl in Lebensgefahr“.823 Die ‚anatomische‘ Metapher wurde auch in anderen Druckschriften aufgegriffen, um die Notwendigkeit eines ‚chirurgischen Eingriffs‘ seitens des Zaren zu betonen, so schrieb die Augsburgische Der Neu-eröffneten Ottomannischen Pforten ny Cross: Peter the Great through British Eyes: Perceptions and Representations of the Tsar since 1698. Cambridge UK 2000, S. 41. 821 The Present Condition of the Muscovite Empire. S. 39. 822 Das nord- und ostliche Theil von Europa und Asia, in so weit solches das gantze Rußische Reich mit Siberien und der grossen Tatarey in sich begreiffet […] Bey Gelegenheit der Schwedischen Kriegs-Gefangenschafft in Rußland, aus eigener sorgfältigen Erkundigung, auf denen verstatteten weiten Reisen zusammen gebracht und ausgefertiget von Philipp Johann von Strahlenberg. Stockholm 1730, S. 219–223. 823 Zitat nach: Blome: Das deutsche Russlandbild, S. 260.
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Fortsetzung im Jahr 1700 über die Hinrichtung der Strelitzen: „Durch diese entsetzliche Cur ward das Geschwär, welches sonst einem Krebs-Schaden nicht ungleich, in des Czaaren Landen weit in sich gefressen hätte, wieder geheilet“.824 Der bereits oben erwähnte Johann Georg Korb, Autor des Diarium Itineris in Moscoviam und Augenzeuge der Moskauer Hinrichtungen, schilderte zwar in seinem Buch die Grausamkeit der gegen die Rebellen angewendeten Gewalt, äußerte jedoch keinen Zweifel darüber, dass die Strelitzen solche Härte für ihre „Schandtat“ völlig verdient hätten.825 Die Vorstellung, dass das Strelitzenheer eine Gefahr nicht nur für die Person des Zaren selbst, sondern für das Wohlsein und den Fortschritt des ganzen Russischen Reiches darstellte, nahm einen festen Platz in der europäischen Publizistik des 18. Jahrhunderts ein. Friedrich Christian Weber, der Hannoversche Diplomat am Hof Peters I. in den Jahren 1714 bis 1719, schildert die Ziele der letzten Strelitzen-Revolte 1698 in seinem berühmten Werk Das veränderte Rußland auf folgende Weise: Tausend von ihnen [Strelitzen] wurden gefangen, und das Bekentniß heraus gebracht, daß ihr Vorsaz gewesen, die teutsche Vorstadt bey Moscau zu plündern und in Brand zu stecken, allen Teutschen die Hälse zu brechen, die Stadt Moscau mit gewafneter Hand einzunehmen; die sich ihnen widersezende niederzumachen, viele Bojaren todt zu schlagen oder ins exilium zu schiken, der Prinzeßin Sophia, des Czaren Schwester, die Regierung, und dem um ihrentwillen in Siberien sizenden Basilio Gallizin das Ministerium zu übergeben.826
Solch eine „Frevelthat“ verdiene natürlich entsprechende Strafe, und Weber deutet das Vorgehen Peters gegen die Rebellen als einen Kampf des Reformers mit der Rückständigkeit des alten Russland: „Das Unglück dieser Empörung hat dem Rußischen Reiche zum Glück gedienet, weil der Czar dadurch eine gerechte Ursach gewann, diese ihm und seinem grossen Vorhaben allezeit fürchterlich gewesene Miliz gänzlich auszurotten.“827 Damit wurde die Erinnerung an die Strelitzen-Revolten in der europäischen Publizistik gegen Mitte des 18. Jahrhunderts zum festen Bestandteil des petrinischen Diskurses. Peter der Große galt als Reformer des alten rückständigen und Vater des neuen veränderten Russland. Seine Feinde, seien es Sof ’ja, Chovanskij oder die namenlosen Strelitzen gewesen, waren damit die Feinde des Fortschritts, sie suchten stets den russischen ‚Messias‘ umzubringen. In Peters Biografie spielten dabei der Aufstand 1682 und die Intrigen seiner Halbschwester die Rolle eines Hindernisses, das der zukünftige Imperator auf seinem Lebensweg heroisch überstanden und besiegt hatte. Gleichzeitig wurde die Erinnerung an konkrete Details und Namen der Strelitzen-Rebellion mit
824 Zitat nach: Dukmeyer: Korbs Diarium, S. 116–117. 825 Diarium itineris in Moscoviam, S. 174. 826 Friedrich Christian Weber: Das veränderte Rußland, Zweiter und dritter Teil. Hildesheim [u. a.] 1992 [Nachdr. der Ausg. Hannover 1739 und 1740], S. 237. 827 Ebd., S. 236.
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der Zeit sehr unpräzise. So wurde beispielweise der Anführer der rebellischen Strelitzen im 1729 publizierten Werk des Engländers Thomas Consett „Godunoff “ genannt.828 Die Strelitzen blieben in der europäischen Erinnerung hauptsächlich störrische Rebellen. So steht beispielweise in einem Eintrag über sie im berühmten Werk des 18. Jahrhunderts, dem Universal-Lexicon von Johann Heinrich Zedler, dass Zar Peter sie „wegen ihrer öfftern Rebellionen“ habe abschaffen müssen.829 5.5 Verflochtene Narrative: der Strelitzen-Aufstand in der grenzübergreifenden Kommunikation zwischen Russland und dem Westen Die Erinnerung an den Aufstand 1682, wie sie sich sowohl im russischen als auch im europäischen Diskurs etwa zum Jahre 1750 etabliert hat, war ein Produkt der grenzübergreifenden Narrativentradierung und -verflechtung. Bereits im Jahr des Aufstands gelangten verschiedene Beschreibungen und Interpretationen des Geschehenen in Form von Zeitungsberichten in die europäische frühmoderne Öffentlichkeit. In den darauffolgenden Jahren wurden einige Motive und Sujets von europäischen und russischen Autoren weiter verschärft und entwickelt, andere gerieten hingegen langsam in Vergessenheit. Auch die Figuren von führenden Persönlichkeiten und deren Beitrag zu den Ereignissen der Strelitzen-Revolte wurden unterschiedlich bewertet und dem Prozess einer Umdeutung unterzogen. Die von Sof ’jas Regentschaftsregierung propagierte Erzählung über Ivan Chovanskij als einzigen Anstifter der Revolte von 1682 wurde zwar in den diplomatischen Relationen und den Zeitungsberichten der Jahre 1682 bis 1683 rezipiert, in den späteren Werken jedoch weitgehend ignoriert. Adam Schleusing erklärte zwar einen „reußischen Obrister“ zum Urheber der Unruhe, erwähnte jedoch nicht einmal seinen Namen. Neuville stellte Chovanskij bereits in erster Linie als Werkzeug in den Händen von Sof ’ja dar, und in vielen späteren Werken, wie etwa im Buch von Johann Georg Korb, wurde er ganz von der carevna überschattet und verschwand aus der Erzählung. Auch bei Voltaire spielte Chovanskij lediglich eine Nebenrolle – als ein ungehorsamer Komplize von Sof ’ja. Die Prinzessin allein avancierte zur Hauptantagonistin Peters. Einen interessanten Unterschied im Verschwörungsnarrativ zwischen der europäischen und der russischen Erinnerung an die Strelitzen-Revolte stellt der Fall von Ivan Miloslavskij dar. In den Werken von Autoren der petrinischen Zeit (Andrej Matveev, Pёtr Krekšin u. a.) agierte Sof ’ja in ihrem Komplott nicht alleine, sondern in enger Absprache mit anderen Verschwörern, unter denen die Hauptrolle dem Bojaren Ivan 828 James Cracraft (Hrsg.): For God and Peter the Great. The Works of Thomas Consett, 1723– 1729. New York 1982 (= East European Monographs 96), S. xxvi–xxxi. 829 Grosses vollständiges Universal Lexicon Aller Wissenschafften und Künste […]. Bd. 40. Leipzig & Halle 1744, S. 932–933.
Verflochtene Narrative
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Miloslavskij zugewiesen wurde. Matveev betonte das Verbrechen von Miloslavskij besonders stark: Die symbolische Hinrichtung seiner Leiche, die Matveev mit dem ähnlichen Schicksal der Überreste von Oliver Cromwell verglich, bildete das Finale seiner Schrift. Die Verschwörung vom Mai 1682 mit der Person von Ivan Miloslavskij zu verlinken war offenbar ein Ergebnis der petrinischen Propagandakampagne. Anscheinend sah der Zar selbst den alten Bojaren als seinen Hauptfeind. In den westlichen Druckschriften wurde Miloslavskij dagegen gar nicht erwähnt. Bei Neuville und Schleusing fungiert stattdessen Fürst Vasilij Golicyn als Sof ’jas Komplize, jedoch schrieben die beiden Autoren ihre Texte bereits nach dem Fall von carevnas Regierung 1689 und vermischten deswegen die Ereignisse und die Akteure der Unruhen von 1682 und 1689. Zum Hauptelement der Geschichte des Aufstands 1682 sowohl in der europäischen als auch in der russischen nachhaltigen Erinnerung wurden die Figur von carevna Sof ’ja und das Narrativ über ihre Aufwiegelung der Strelitzen gegen Peter I. In Russland geschah die Dämonisierung der Rolle Sof ’jas erst unter Peter dem Großen und zwar nach den Ereignissen des letzten Strelitzen-Aufstandes von 1698. In der offiziellen petrinischen Geschichtsschreibung war die damalige politische Gegnerin des ersten russischen Imperators selbstverständlich als Intrigantin und Verschwörerin verschrien. Sof ’ja und Ivan Miloslavskij wurden zu den Hauptantagonisten Peters des Großen, zu den Gegnern des Aufklärers und des Reformers Russlands. Es ist dennoch interessant, dass das Narrativ über Sof ’jas Komplott im europäischen Diskurs bereits sehr früh, noch vor der Alleinregierung Peters sichtbar wird: in den diplomatischen Berichten und Zeitungsartikeln des Jahres 1682. Am frühesten ist es in den Relationen der polnischen Agenten vom Sommer 1682 belegt. Wie gezeigt wurde, hielt König Jan Sobieski selbst Sof ’ja am ehesten für die Urheberin der Revolte in seiner Instruktion für Bętkowski bereits im Juli 1682. Auch die Berichte der über das polnische Territorium verbreiteten „geschriebenen Zeitungen“ und das Diariusz zaboystwa tyranskiego senatorow Moskiewskich gingen auf die entscheidende Rolle Sof ’jas in den Ereignissen ein. Durch die Vermittlung der polnischen Nachrichten gelangte das Narrativ über Sof ’jas Verschwörung in die Zeitungen, am ausführlichsten wurde es im Bericht der Berliner Eingekommener Zeitungen Dienstagischen Fama ausgearbeitet (siehe oben im Kapitel 5.3.3). Obwohl Sof ’jas Name in den Zeitungsartikeln des Jahres 1682 insgesamt noch sehr selten vorkam, wurde das Verschwörungsnarrativ in den späteren Druckschriften – Messrelationen und Büchern – sehr gerne aufgenommen. Sehr wahrscheinlich trug der sensationelle und skandalöse Charakter der Erzählung, wie eine intrigante Prinzessin im exotischen Zarenreich mithilfe der Zarengarde, also der Strelitzen, den Tod ihres Bruders hatte rächen und ihre politischen Gegner eliminieren lassen, zur Verbreitung gerade dieses Narrativs in europäischen Medien bei. Es ist interessant, dass in den früheren Versionen des Narrativs – z. B. im Berliner Zeitungsartikel und in der Frankfurter Messrelation – Sof’ja noch als Rächerin für die Vergiftung ihres Bruders Fedor dargestellt wurde. Es waren die Mörder des Zaren Fedor –
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Der Strelitzen-Aufstand in der europäischen frühmodernen Öffentlichkeit
die Bojaren aus dem Naryškin-Geschlecht und v. a. die Mutter von Zar Peter, Natal’ja Naryškina – die in diesen Berichten als Verbrecher porträtiert wurden. Mehr noch, ihr Handeln hatte deutliche antiwestliche Züge, da es als eine Reaktion auf die Sympathie des Zaren für die polnische ‚zivilisierte‘ Kultur gedeutet wurde. So schrieb die englische London Gazette im Jahr 1682 über die Gründe der angeblichen Vergiftung Fedors: Warsaw July 25. Our letters from Moscow give the following account: That the late Czar Alexis830, who married with a Polish Lady, having by her means taken a great Affection to the manners and customs of this Nation, and designed to introduce them among his own Subjects, the more to civilize them, had thereby raised a great hatred in the Boyars, and other great Men against him, who resolved to Poyson him and his Queen, and affected it by the means of a Jew.831
Peter selbst spielte in den Zeitungsberichten noch die Rolle einer Marionette in den Händen seiner ambitionierten Mutter. Erst als er alleine regierte, in den 1690er-Jahren, und sich seine besondere Sympathie gegenüber dem Westen offenbarte, die den europäischen Autoren selbstverständlich sehr imponierte, begann Peter im europäischen Diskurs allmählich zum Symbol der russischen Europäisierung und der Umorientierung nach Westen zu avancieren. Georg Adam Schleusing schrieb 1694 über den jungen Zaren: Wiewohl der Jüngere und nunmehro allein regierende Czaar, Peter Alexewiz, ein sehr löblicher Fürste ist/ wie ich schon gemeldet habe/ der die Teutsche Nation über die Maassen liebet/ auch anietzo was sein Verstorbener Herr Vatter alles nach anderer Potentaten-Höfen Manir und Art anzustellen schon im Wercke gehabt/ vollends Werckstellig zu machen/ seinen eintzigen Sinn und Gedancken gesetzet hat; Worüber die Reussen oder Moscoviter sehr jaloux seynd.832
Es seien also, so Schleusing, die russischen Untertanen des Zaren, die sich den Reformen und der Zivilisierung widersetzt und an den alten barbarischen Bräuchen festgehalten haben. Die Beurteilung des Handelns von Sof ’ja in der Erzählung über den Strelitzen-Aufstand wurde bei den Autoren der 1690er-Jahre ebenfalls umgedeutet: Es war die reine Machtgier, die die carevna zum Komplott bewegt habe. Diese Version des Verschwörungsnarrativs wurde durch die Werke von Johann Georg Korb und Foy de la Neuville im petrinischen Russland bekannt und in die einheimischen Erzählungen über Sof ’jas Intrigen eingebunden. 830 Fehler des Zeitungsherausgebers, gemeint ist natürlich Zar Fedor Alekseevič. 831 The London Gazette, 1682, Nr. 1747 from Monday August 14. to Thursday August 17. Vgl. diesen englischen Zeitungsartikel mit dem ähnlichen Bericht aus der französischen La Gazette in der Fn. 743. Über die Darstellung der angeblichen ‚Zivilisierungmaßnahmen‘ von Fedor Alekseevič in den europäischen Druckmedien siehe auch Griesse: State-Arcanum and European Public Spheres, S. 218–220. 832 Derer Beyden Czaaren in Reußland, S. 35.
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Lag dem Verschwörungsnarrativ in allen seinen Variationen eine reale Begebenheit zugrunde? Obwohl die Antwort auf diese positivistische Frage nicht zu den Zielen dieses Buches gehört, kommt der Historiker, der sich mit der Geschichte des Strelitzen-Aufstands auseinandersetzt, an ihr nicht vorbei. Viele analysierte Quellen äußerten die Vermutung, dass der Aufstand am 15. Mai von außen her provoziert wurde, jedoch waren sich verschiedene Texte bezüglich der Person, die die Falschmeldung über den Mord von carevič Ivan verbreitet hat, nicht einig. Die russischen Chroniken sprachen allgemein von den „die Wache bei den Zarengemächern haltenden Strelitzen“, die ukrainische Augenzeugenchronik nannte Fedors Witwe Marfa Apraksina und die polnischen Relationen zeigten auf carevna Sof ’ja selbst. Besondere Aufmerksamkeit soll den diplomatischen Korrespondenzen dänischer und schwedischer Agenten geschenkt werden. Dank ihrer weitreichenden Kontakte, u. a. in russischen Regierungskreisen, waren diese Agenten imstande, in die abgeschirmte Welt der Intrigen innerhalb des Zarenhofes hineinzublicken. Christof Koch und Hildebrand von Horn machten in ihren Berichten die Andeutung, dass die Revolte von den Feinden der Naryškins und Artemon Matveevs ausgelöst worden sei und dass der Bojar Ivan Miloslavskij vermutlich für das Mai-Massaker verantwortlich war. Koch schrieb von einer sehr verdächtigen Krankheit des Bojaren am Vortag der Rebellion, als ob er im Voraus über die anstehende Revolte Bescheid wusste;833 und von Horn gab das Gerücht wieder, dass Miloslavskij zumindest im Dezember 1682 die Strelitzen zu einer neuen Meuterei aufzustacheln versuchte.834 Die Opfer des Massakers im Mai 1682 waren fast ausschließlich Mitglieder und Anhänger der Naryškin-Fraktion, also jener Gruppierung, die dem Miloslavskij-Geschlecht den Weg zur Macht versperrte. Es scheint deswegen sehr plausibel zu sein, dass die Ereignisse am 15. Mai 1682 tatsächlich von Miloslavskijs Anhängern provoziert wurden und keine spontane Erhebung des „unterdrückten Volks“ waren. Allerdings war das Ausmaß der Rebellion viel größer, als das, was die ursprüngliche mutmaßliche Verschwörung vielleicht vorhatte, und die Palastrevolte mündete im Endeffekt in eine ein halbes Jahr lang andauernde Konfrontation der Strelitzen mit der zentralen Regierung. Inwieweit Sof ’ja in diese Verschwörung involviert war oder ob sie einfach die Gelegenheit zum Machtaufstieg, die sich ihr im allgemeinen Durcheinander der Rebellion bot, ergriff, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen. Sof ’jas direkte Partizipation am Komplott unterstrichen mit besonderem Nachdruck nur die Berichte von polnischen Agenten aus dem Jahr 1682, dennoch waren es gerade diese anonymen „Novellen“, die viele unbegründete Gerüchte in Umlauf brachten, wie z. B. die Erzählung über die Vergiftung von Fedor Alekseevič durch seinen jüdischen Doktor oder die Nachricht über die Ermordung von carevič Peter. Der z. B. im Diariusz oder in den Memoiren von Andrej Matveev erwähnte Protest von Sof ’ja gegen die Inthronisation Peters scheint
833 RAS, Muscovitica, Vol. 604, Narva den 15. Juny 1682. 834 Relationer til K. Christian den femte, S. 140.
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allerdings für eine carevna aus dem Miloslavskij-Geschlecht eine durchaus verständliche und vernünftige Aktion zu sein. Nicht alle Narrative über den Aufstand wurden grenzübergreifend rezipiert. Es ist im Kapitel III demonstriert worden, welche Rolle in den russischen Quellen bei der Erinnerung an den Aufstand von 1682 die Bewegung der Altgläubigen und die Geschichte ihres Konflikts mit der offiziellen Kirche im Juni und Juli spielten. Sowohl unter Sof ’ja als auch unter Peter dem Großen war die Erhebung der Altgläubigen im Jahr 1682 als Teil des Aufstands betrachtet und streng verurteilt worden. Die Beschreibung des religiösen Disputs am 5. Juli 1682 im Kreml nahm in den russischen Erzählungen – von den Chroniken der 1680er-Jahre bis zu den Werken von Matveev und Krekšin – einen prominenten Platz ein. Im Westen spielte der russische religiöse Dissens dagegen kaum eine Rolle: Nur die Berichte der schwedischen Agenten gingen kurz auf die Forderungen der Altgläubigen während der Moskauer Unruhen ein. Für den westeuropäischen Beobachter der Frühen Neuzeit stellte die russische orthodoxe Kirche an sich ein schismatisches Phänomen dar, und deren innere Spaltungen waren für ihn von geringem Interesse. Die europäischen Zeitungsverleger verwirrten die Berichte über den religiösen Dissens eher, so wurden sie auf anekdotenhafte Weise wiedergegeben. Erst Voltaire beleuchtete die Geschichte der Bewegung von Altgläubigen im Jahre 1682, und zwar dank des Extrakts von Lomonosov, der die entsprechenden Teile von Andrej Matveevs Schrift übernommen hatte. Der französische Schriftsteller gab die Geschichte des religiösen Disputs in Moskau allerdings ganz im Sinne des emanzipatorischen antiklerikalen Geistes der Aufklärung wieder: Der Patriarch und die Altgläubigen (abakumistes bei Voltaire) bewarfen einander mit Steinen und stritten darüber, „ob der Segen mit drei oder zwei Fingern gegeben werden soll“.835 Das Phänomen der Strelitzen und deren Meuterei stieß bei den europäischen Autoren hingegen auf großes Interesse. Die Augenzeugen der Rebellion – Heinrich Butenant und Johann van Keller – sowie einige Zeitungsartikel betonten die miserable Lage der Strelitzen als Grund des Aufstands und stellten damit das Massaker in Moskau als eine Art grausame, aber dennoch gerechte Bestrafung der korrupten Regierungseliten dar. Nachhaltiger erwies sich in der europäischen Erinnerung jedoch ein anderes Motiv: die Darstellung der Strelitzen als eine rückständige ineffiziente und ungehorsame Militärtruppe. Es wurde gezeigt, wie sich die Tendenz, die russischen Strelitzen den türkischen Janitscharen gleichzusetzen, seit den 1680er-Jahren durchgesetzt hat. In der europäischen Literatur über das Moskauer Reich wurde auf die Ähnlichkeit zwischen Strelitzen und Janitscharen bereits vor dem Aufstand 1682 verwiesen: z. B. im 1671 gedruckten Werk des Engländers Samuel Collins.836 Die Ähnlichkeit scheint tatsächlich offensichtlich gewesen zu sein: Sowohl Strelitzen als auch Janitscharen waren profes835 Voltaire: Histoire de l’empire de Russie, S. 538–541. 836 The present state of Russia in a letter to a friend at London/ written by an eminent person residing at the great czars court at Mosco for the space of nine years. London 1671, S. 111.
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sionelle, mit Feuerwaffen ausgerüstete Infanterietruppen, die im Zuge der sogenannten gunpowder revolution der Frühen Neuzeit gebildet worden waren; beide waren geschlossene Militärkorporationen, die im Dienste des Herrschers standen und oft in der Hauptstadt des Reiches stationiert wurden.837 Im Europa des 17. Jahrhunderts waren die Janitscharen allerdings noch wegen einer besonderen Eigenschaft bekannt – wegen ihrer zahlreichen Meutereien. Von zehn türkischen Sultanen, die zwischen 1603 und 1703 den Thron im Osmanischen Reich bestiegen, wurden fünf abgesetzt, ermordet oder hingerichtet, wobei das Korps der Janitscharen einen wichtigen Beitrag zu diesen politischen Wirren leistete. Der blutigste Aufstand geschah in Istanbul im Mai 1622: Von dem Gerücht beunruhigt, Sultan Osman II. beabsichtigte, auf seiner bevorstehenden Mekka-Pilgerfahrt ein neues Heer zu rekrutieren, stürmten die Janitscharen den Palast, erschlugen viele Hofbeamte und ließen den Sultan erdrosseln. Zum neuen Herrscher wurde Osmans geistig behinderter Onkel Mustafa von den Truppen ausgerufen, der allerdings ein Jahr später selbst abgesetzt wurde.838 Die Nachrichten über diesen tragischen und grausamen Vorfall verbreiteten sich rasch über ganz Europa und wurden sogar in literarischen Werken – Theaterstücken und epischer Dichtung – verarbeitet.839 Weitere Meutereien ereigneten sich 1648, 1651 und 1687.840 Gegen Ende des 17. Jahrhunderts war die Untreue der Janitscharen schon zu einem Topos in der europäischen Wahrnehmung der osmanischen Innenpolitik geworden. Die Unzuverlässigkeit der
837 Gábor Ágoston: Military Transformation in the Ottoman Empire and Russia, 1500–1800, in: Kritika: Explorations in Russian and Eurasian History 12 (2011), Nr. 2, S. 281–319, hier S. 293–298. 838 Über den Aufstand von 1622 siehe ausführlicher: Caroline Finkel: Osman’s Dream: The Story of the Ottoman Empire 1300–1923. London 2006, S. 198–202; Baki Tezcan: The Second Ottoman Empire: Political and Social Transformation in the Early Modern World. Cambridge [u. a.] 2010, S. 156–175. 839 Bereits im Jahr 1622 erschienen mindestens drei deutschsprachige Flugschriften mit dem Bericht über die Ermordung des Sultans Osman, siehe die Druckschriften unter den Nummern 14:079278M, 14:079284N und 23:246389N im elektronischen Verzeichnis der im deutschen Sprachraum erschienenen Drucke des 17. Jahrhunderts (VD 17). Ein Jahr später wurde diese Geschichte für zwei Theaterstücke verwendet: das niederländische Droeff-eyndlich Spel van de moordt van Sultan Osman und das französische L’Exécrable Assasinat perpétré par les Ianissaires en la personne du Sultan Osman Empereur de Constantinople. Über die Rezeption der osmanischen politischen Krise von 1622 in der frühneuzeitlichen europäischen Literatur siehe die Monografie: Irena Ajdinovič: Five Osmans: The Ottoman Crisis of 1622 in Early Seventeenth-Century Literature. Istanbul 2016. 840 Für die Geschichte der Meutereien von Janitscharen im Osmanischen Reich des 16. und 17. Jahrhunderts siehe: Palmira Brummett: Classifying Ottoman Mutiny: The Act and Vision of Rebellion, in: The Turkish Studies Association Bulletin 22 (1998), Nr. 1, S. 91–107; Cemal Kafadar: Janissaries and Other Riffraff of Ottoman Istanbul: Rebels Without a Cause?, in: Baki Tezcan und Karl K. Barbir (Hrsg.): Identity and Identity Formation in the Ottoman World: A Volume of Essays in Honor of Norman Itzkowitz. Madison, Wisconsin 2007 (= Publications of the Center of Turkish Studies 4), S. 113–134; Bodo Hechelhammer: Das Korps der Janitscharen. Eine militärische Elite im Spannungsfeld von Gesellschaft, Militär und Obrigkeit im Osmanischen Reich, in: Militär und Gesellschaft in der Frühen Neuzeit 14 (2010), H. 1. Militärische Eliten in der Frühen Neuzeit, S. 33–58, hier S. 53–57.
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Elitentruppen und ihre Neigung, willkürlich Herrscher gewaltsam abzusetzen, dienten gleichzeitig aus der Sicht der Europäer als deutliches Zeichen für die Barbarei der Osmanen – als Gegensatz zum friedlichen Machttransfer in europäischen Monarchien.841 Der blutige Mai-Aufstand in Moskau 1682 demonstrierte in den Augen der westlichen Beobachter eine unverkennbare Ähnlichkeit zu den ‚barbarischen‘ Vorfällen in der türkischen Geschichte. Die Einmischung der Militärgarde in die Angelegenheiten der Thronfolge und die daraus resultierende Lebensgefahr für die Mitglieder der regierenden Dynastie (die in der europäischen Berichterstattung, wie oben gezeigt, allerdings stark übertrieben wurde) sollten zweifellos die politische Kultur der „Moskowiter“ als barbarisch charakterisieren. Und es ist bezeichnend, dass der in der europäischen Publizistik entstandene Vergleich zwischen Strelitzen und Janitscharen in der europäisierten russischen Elite petrinischer Zeit schnell rezipiert wurde. Im Zuge der Militärreform des russischen Zaren, die das Strelitzenheer endgültig abschaffte, bekam dieser Vergleich eine zusätzliche ideologische Ausrichtung: Nun symbolisierten die Strelitzen das dem Westen feindlich gesinnte und rückständige Altertum, das vom Zaren erfolgreich bekämpft worden war. Auf die Ähnlichkeit zwischen Strelitzen und Janitscharen verwies sogar der Zar selbst in seinen Papieren.842 Die barbarische und rebellische Natur des Strelitzenheeres spielte auch in den Memoiren von Andrej Matveev eine wichtige Rolle, der die Strelitzen als „Lehrlinge“ der Janitscharen verunglimpfte. Die Geschichte der Strelitzen-Meutereien wurde somit in der petrinischen Publizistik mit dem ‚alten‘ Russland assoziiert, während die Reformen Peters des Großen Russland den Weg ins ‚zivilisierte‘ Europa geöffnet haben.843
841 Ajdinovič: Five Osmans, S. 39–42. 842 Žurnal ili podennaja zapiska, blažennyja i večnodostojnyja pamjati gosudarja imperatora Petra Velikago s 1698 goda, daže do zaključenija Nejštatskago mira, Teil 1. Sankt-Peterburg 1770, S. 2. 843 Vgl. Malte Griesse: Von der Barbarei zur Rückständigkeit: Revolten in Russland als Projektionsflächen eines „aufgeklärten Absolutismus“?, in: David Feest und Lutz Häfner (Hrsg.): Die Zukunft der Rückständigkeit: Chancen – Formen – Mehrwert. Festschrift für Manfred Hildermeier zum 65. Geburtstag. Köln [u. a.] 2016, S. 140–166, hier S. 163–165.
VI. Fazit: Netzwerke, Praktiken und Narrative der grenzübergreifenden Kommunikation
Der Moskauer Strelitzen-Aufstand 1682 bekam große mediale Resonanz sowohl innerhalb des Russischen Reichs als auch über die europäischen Kommunikationswege. Die Geschichte der grenzübergreifenden Kommunikation rund um dieses Ereignis verdeutlicht, dass Russland im letzten Viertel des 17. Jahrhunderts bereits sehr eng an den europäischen Nachrichtenmarkt angeschlossen war. Die entscheidende Rolle spielte dabei die seit 1665 etablierte Postverbindung zwischen der russischen Hauptstadt und den baltischen Hafenstädten. Die Anknüpfung Russlands an das postalische System Nordeuropas ermöglichte eine relativ schnelle und zuverlässige Übersendung von Korrespondenzen. Bereits in der zweiten Junihälfte, d. h. in ca. anderthalb Monaten, erreichten die Nachrichten über die Strelitzen-Rebellion von 15. bis 17. Mai Stockholm; in den ersten Julitagen wusste der dänische Königshof in Kopenhagen darüber Bescheid; und gegen Mitte Juli waren die Nachrichten in Paris und London angekommen. Zu den wichtigsten Knotenpunkten der Informationsübermittlung wurden dabei die baltischen und die norddeutschen Städte wie Narva, Riga, Königsberg, Danzig und Hamburg. An diesen Orten befanden sich die diplomatischen Beobachter, wie z. B. der preußische Geheimsekretär Hermann Dietrich Hesse in Königsberg oder der schwedische Agent Christof Koch in Narva, die die Nachrichten aus dem Moskauer Reich empfingen und an ihre Regierungen weiterleiteten. Die verschiedenen Informationskanäle waren dabei nicht von einander isoliert, sondern bildeten ein ganzes Netzwerk von Korrespondeten, in dem die Kommunikationsteilnehmer auf einander Bezug nahmen und Nachrichten austauschten. Briefe aus Novgorod gingen sowohl nach Stockholm, als auch nach Riga und Königsberg; die polnischen Relationen wurden in Warschau, Paris, Berlin und Rom gelesen und die Inhalte gelangten über die deutschen Zeitungen zurück nach Moskau. Berichte aus und über „Moskowien“ waren im Jahr 1682, als eine große politische Krise in der russischen Hauptstadt wütete, zu einer wichtigen Ressource auf dem barocken Nachrichtenmarkt geworden.
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Fazit
Das Interesse der ausländischen Beobachter an der Auswertung der Moskauer Nachrichten hing mit der gestiegenen Bedeutung Russlands in der europäischen Diplomatie seit der Regierungszeit von Aleksej Michajlovič (1645–1676) zusammen. Viele der in der Arbeit analysierten ausländischen Kommunikationsakteure – Hermann Dietrich Hesse, Hildebrand von Horn, Johann van Keller – kamen zum ersten Mal während der 1670er-Jahre nach Moskau, um Verhandlungen über die Einbeziehung des Moskauer Reichs in die europäische Politik zu führen. Man hoffte vor allem, Russland würde in den nordeuropäischen politischen Konstellationen Stellung beziehen, im Kampf zwischen den Königreichen von Schweden und Dänemark um die Vorherrschaft im Ostseegebiet. Deswegen waren es primär die Diplomaten der nordeuropäischen Staaten, die 1682 bis 1684 um die Gunst der Moskauer Regierung konkurrierten. Dabei ist es interessant, dass das außenpolitische Projekt eines antischwedischen Bündnisses, um dessen Realisation sich der dänische Gesandte Hildebrand von Horn in Moskau bemühte, im Wesentlichen die Ausrichtung der petrinischen baltischen Außenpolitik antizipierte. Bereits 15 Jahre vor dem Beginn der europäischen Großgesandtschaft Peters des Großen wurde die Idee einer nordeuropäischen Allianz gegen die schwedische Vorherrschaft im Ostseegebiet am Moskauer Zarenhof diskutiert.844 Das Interesse der polnischen Diplomatie an der Bewertung der Lage im Moskauer Reich war ebenfalls sehr groß. König Jan Sobieski hoffte, in der gegebenen Situation die Gelegenheit zu bekommen, die ukrainischen Kosaken und den Smolensker Adel zurück unter polnische Kontrolle zu bringen. Das Netzwerk von polnischen Korrespondenten, das bis vor Kurzem in der Forschung unberücksichtigt blieb, spielte eine beachtliche Rolle bei der Verbreitung der Nachrichten aus Russland auf europäischen Kommuniktionswegen, nicht zuletzt, weil ein großer Teil dieser „polnischen Novellen“ in die deutschen Zeitungen gelangte. Die diplomatische Kommunikation zwischen dem Moskauer Reich und den europäischen Staaten im Jahr des Strelitzen-Aufstands zeigt gewiss noch einige deutliche Unterschiede zum System dauerhafter diplomatischer Vertretungen, das sich nach den petrinischen Reformen im 18. Jahrhundert etablierte.845 Die Residenturen ausländischer Großmächte waren in der russischen Hauptstadt 1682 noch kaum präsent. Nur der Holländer Johann van Keller erfüllte die Rolle eines offiziellen Residenten, der sei-
844 Einige Unterschiede gab es allerdings im Mitgliederbestand der 1682 vorgeschlagenen Allianz und des nordischen Bündnisses von 1699: Während 1682 bis 1683 Dänemark und Brandenburg-Preußen vor allem an der Zusammenarbeit mit Russland interessiert waren, bestand die antischwedische Koalition von 1699 aus Russland, Dänemark, Sachsen und Polen-Litauen. 845 M. S. Anderson: The Rise of Modern Diplomacy, 1450–1919. London & New York 1993, S. 69–80. Über die Veränderungen in der Organisation des diplomatischen Verkehrs im petrinischen Russland und die Inklusion Russlands in die „Pentarchie“ der europäischen Großmächte im Laufe des 18. Jahrhunderts vgl. auch Heinz Duchhardt: Balance of Power und Pentarchie: internationale Beziehungen 1700–1785. Paderborn [u. a.] 1997 (= Handbuch der Geschichte der Internationalen Beziehungen 4), S. 139–154.
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ner Heimatregierung regelmäßig Relationen aus Moskau zukommen ließ. Die anderen ausländischen Beobachter mussten hingegen die Berichterstattung über andere indirekte Kanäle organisieren und griffen dabei hauptsächlich auf die Dienste von in russischen Städten ansässigen Ausländern zurück. Es waren Handelsleute, wie Heinrich Butenant oder die namenlosen Informanten von Christof Koch oder auch die im russischen Dienst stehenden Beamten ausländischer Herkunft, wie d’jak Andrej Vinius, die die europäischen Herrschaftshöfe mit Nachrichten versorgten. Dieses System der Informationsübermittlung, das auf der engen Zusammenarbeit zwischen den staatlichen Behörden und offiziellen diplomatischen Residenten einerseits und inoffiziellen Nachrichtenagenten wie Kaufleuten und Postmeistern andererseits beruhte, war im Norden Europas im 17. Jahrhundert oft in Gebrauch.846 Sein Funktionieren erwies sich in Bezug auf die Berichterstattung über den Strelitzen-Aufstand in den meisten Fällen – mit der möglichen Ausnahme des brandenburgisch-preußischen Falls – als ausreichend effizient. Besonders detailliert lässt sich das schwedische kommunikative System rekonstruieren: Aufgrund der regulären Nachrichten, die aus russischen Städten – Moskau, Novgorod und Pskov – mit der Post über die baltischen Häfen nach Stockholm gingen, konnte der schwedische königliche Hof die Lage an seiner östlichen Grenze einschätzen und sich auf die Verhandlungen mit der zarischen Regierung über die Schließung des Friedensabkommens vorbereiten. Die Tätigkeit der kommunikativen Netzwerke führte dazu, dass Moskau von 1682 bis 1684 von Gesandtschaften aus Dänemark, Schweden und Polen-Litauen besucht wurde. Eine richtige Einschätzung des politischen Klimas am Zarenhof war für erfolgreiche Verhandlungen ausschlaggebend, daher protokollierten die diplomatischen Agenten die Details der Strelitzen-Rebellion. Mit besonderer Sorgfalt zeichneten sie die Namen von Mitgliedern der russischen politischen Elite auf, die im Strelitzen-Aufstand ums Leben gekommen waren oder umgekehrt, wie Vasilij Golicyn, im Laufe des Jahres 1682 führende Positionen in der Regierung erlangt hatten. Die ausführlichen Relationen der Gesandten über die Ereignisse des Strelitzen-Aufstands sowie über den Kampf zwischen verschiedenen politischen Fraktionen innerhalb der russischen regierenden Elite lassen die Rebellion des Jahres 1682 sogar als einen Vorläufer der Epoche der Palastumwälzungen und Staatsstreiche, die einen großen Platz in den Berichten der ausländischen Diplomaten im 18. Jahrhundert einnahmen, betrachten.847 Die Diplomaten des 17. Jahrhunderts – wie Hildebrand von Horn und Christof Koch – 846 Droste: Das Geschäft mit Nachrichten, S. 145–191. 847 Siehe z. B. die Berichte der ausländischen Gesandten über den Machtkampf am Zarenhof in den Jahren 1727 bis 1730: Karl-Heinz Ruffmann: Das englische Interesse am russischen Thronwechsel im Jahre 1730, in: JGO 5 (1957), H. 3, S. 257–270; Steppan: Akteure am fremden Hof, S. 359–395; Steven Müller: Eine Aristokratie für Russland? – Bewertungen des Regierungsantritts Zarin Annas 1730 durch den Wiener Kaiserhof, in: Christoph Augustynowicz und Agnieszka Pufelska (Hrsg.): Konstruierte (Fremd-?)Bilder: Das östliche Europa im Diskurs des 18. Jahrhunderts. München & Wien 2016, S. 71–92.
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unterrichteten ihre Heimatregierungen über politische Gruppierungen am Moskauer Zarenhof und versuchten, genauso wie ihre Nachfolger in der Epoche der Aufklärung, persönliche Beziehungen mit den russischen führenden Hofbeamten und Amtsträgern zu knüpfen, um eigene diplomatische Vorhaben voranzutreiben. Am Beispiel der Kommunikation um den Strelitzen-Aufstand war es möglich, die genauen Verbindungen zwischen den geheimen diplomatischen Informationsnetzwerken und der frühmodernen Presse darzulegen. Die Berichte der ausländischen Agenten und Diplomaten über den Strelitzen-Aufstand gelangten nicht nur auf die Schreibtische der Politiker, sondern auch in die öffentlichen Druckmedien. Die Erzählung von Heinrich Butenant wurde bereits 1682 in einem Hamburger Verlag als Flugschrift publiziert, die Briefe von Johann van Keller und Andrej Vinius, sowie von schwedischen und polnischen Agenten, erschienen in deutschen Zeitungen. Offenbar standen die frühneuzeitlichen politischen Behörden solch einem Informationstransfer nicht immer kritisch gegenüber. Der schwedische königliche Sekretär leitete die aus Russland erhaltenen Briefe an die Zeitungsverleger weiter, auch der polnische Königshof ließ das Durchsickern der Information über die Moskauer Revolte in die ausländische Öffentlichkeit zu. Der Weg von einem geschriebenen zu einem gedruckten Nachrichtenblatt war nicht lang, und sowohl die politischen Akteure als auch die Zeitungsverleger bezogen ihre Informationen oft aus denselben Quellen. Die diplomatischen Agenten waren sich dieser Tatsache anscheinend bewusst und griffen selbst, wenn nötig, auf die Berichte der Druckmedien zurück, um die aktuellen Nachrichten verfolgen zu können, und betrachteten Presseartikel nicht als eine Informationsquelle zweiten Ranges. Insgesamt waren die diplomatischen Netzwerke und die frühmoderne Öffentlichkeit miteinander eng verflochten und bildeten zusammen ein frühneuzeitliches europäisches Nachrichtensystem, in dem Russland auch einen Platz einnahm. Die Reaktion der russischen Behörden auf die Zirkulation der Berichte über den Strelitzen-Aufstand im Ausland unterschied sich noch von der Informationspolitik, die einige Jahrzehnte später die petrinische Regierung aktiv gestalten wird. Im 18. Jahrhundert engagierte der Zarenhof spezielle Agenten in großen europäischen Nachrichtenzentren, wie beispielweise in Hamburg, die die Berichte der ausländischen Presse über den Russischen Staat zensieren und beeinflussen mussten.848 1682 war hingegen die Interaktion zwischen der Moskauer Regierung und den westlichen Druckmedien noch gering, jedoch nicht ganz abwesend. Die Artikel aus den europäischen Zeitungen wurden im 17. Jahrhundert im Moskauer Gesandtschaftsamt gelesen und übersetzt. Auch die Berichterstattung der Presse über die Strelitzen-Revolte wurde den russischen Behörden bekannt. Die Moskauer Regierung zeigte deutliches Interesse an der Repräsentation des Aufstands und vor allem seines Ausgangs in ausländischen Medien. Deswegen griffen einige politische Akteure, wie z. B. der brandenburgische
848 Blome: Das deutsche Russlandbild, S. 40–52.
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Kurfürst, bereits 1682 auf präventive Maßnahmen bezüglich der Presseberichterstattung zurück und versuchten, die Nachrichten über den Moskauer Aufstand in den öffentlichen Medien zu vermeiden. Wie die Arbeit jedoch gezeigt hat, war die russische Regierung im Jahr 1682 weniger mit der Bekämpfung der europäischen Presseberichte beschäftigt, sondern konzentrierte ihre Bemühungen hauptsächlich auf die Auswertung und die Kontrolle der Information, die sich nach Schweden und Polen-Litauen verbreiten konnte und/oder verbreitet hatte. Es war für den Zarenhof vorerst von Interesse, was die unmittelbaren Nachbarn von der Unruhe erfuhren. Ein breites Netzwerk von Informanten an der russisch-polnischen Grenze ermöglichte der russischen Regierung, sich ein sehr genaues Bild von der Spionagekampagne der polnischen Krone zu verschaffen und dieser Spionage entgegenzuwirken. Die Relationen des Gesandten Nikita Alekseev sowie die Übersetzungen der deutschen und niederländischen Zeitungen informierten die Moskauer Behörden außerdem über das schwedische Interesse an den Ereignissen in der russischen Hauptstadt. Deswegen versuchte die zarische Regierung ihr offizielles Narrativ über den Verlauf und v. a. über die Beendigung des Strelitzen-Aufstands gerade in den Beziehungen mit Schweden und Polen-Litauen zu propagieren und gab im Jahr 1683 die entsprechenden Instruktionen an ihre Gesandten. Die Versuche der Moskauer Diplomatie, die Rebellion in der Hauptstadt des Reiches bei den Gesprächen mit den ausländischen Kontrahenten ganz zu verschweigen oder zu vertuschen, waren allerdings zum Scheitern verurteilt: Zu schnell und über zu viele Kanäle hatten sich die Nachrichten verbreitet. Jedoch erzielte die Moskauer Propagandakampagne auch gewisse obwohl minimale Resultate. Russischen Gesandten gelang es, die in Europa zirkulierenden Gerüchte über einen angeblichen Bürgerkrieg zwischen den Parteien Ivans und Peters und einen bevorstehenden Zerfall des Reichs zu widerlegen, obwohl ihr Narrativ über die gemeinsame Regierung der beiden Zaren „in brüderlicher Liebe und Einvernehmen“ auf eher wenig Vertrauen stieß. Diese Studie machte es sich zur Aufgabe, nicht die positivistische Rekonstruktion des Aufstandsverlaufs und der Kausalität in den Fokus der Forschung zu nehmen, sondern die Geschichte der Tradierung und der Verflechtung von Narrativen. Dies hat ermöglicht, die Einblicke in Interpretationsstrategien von Teilnehmern und Beobachtern der Aufstandsereignisse zu gewinnen sowie aufzuzeigen, wie sich ein kanonisches Bild der Strelitzen-Revolte im Laufe des russisch-europäischen kulturellen Austausches in der Publizistik und in der Historiografie des 18. Jahrhunderts formierte. Im Russland des letzten Viertels des 17. Jahrhunderts war die Erinnerung an den Strelitzen-Aufstand der Gegenstand eines ideologischen Kampfs. Die Propagandakampagne der Regentschaftsregierung von carevna Sof ’ja, die sich bemühte, den Aufstand als eine Verschwörung des Fürsten Ivan Chovanskij darzustellen (Chovanščina-Narrativ), hatte jedoch wenig Wirkung auf die europäische Wahrnehmung der Revolte. Vielmehr übernahmen die europäischen Autoren dank der Übermittlung von polnischen Berichten, die in die öffentlichen Medien gelangt waren, ein anderes Narrativ,
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nämlich die Erzählung über die Hinterlist und die Machtgier von Sof ’ja als Ursache der Unruhen. Diese Geschichte von den Intrigen einer Moskauer Prinzessin, die ursprünglich von Informationsagenten der polnischen Krone lanciert wurde, fand auf dem Nachrichten- und Büchermarkt große Resonanz. Gleichzeitig hatte dieses Narrativ im Russischen Reich der petrinischen Zeit Konjunktur, wo in der Anhängerschaft Peters des Großen die Vorstellung zirkulierte, der Strelitzen-Aufstand sei Resultat eines Komplotts der gegnerischen Miloslavskij-Fraktion gewesen. Die europäische Rezeption der Erzählungen über die Umstände der Revolte war mit den Prozessen der kulturellen Übersetzung und Aneingnung von Narrativen verbunden. Einige wurden fehlinterpretiert oder bekamen eine neue Deutung – wie die Erzählung über den wegen seiner Zivilisierungsmaßnahmen vergifteten Zaren Fedor Alekseevič oder die Erzählung über die Fehde zwischen Ivan und Peter; andere wurden gar ignoriert und bildeten die ‚blind spots‘ der Kommunikation – wie das Motiv des religiösen Dissenses der Altgläubigen während des Aufstands 1682 oder die Rolle von Ivan Miloslavskij in der Verschwörung gegen Peter und seine Verwandten. Die Interpretation der Strelitzen-Revolte, die sich in den europäischen Medien in den 1680er-Jahren durchsetzte, ordnete dieses Ereignis in den Diskurs über den Barbarismus der politischen Kultur der Moskowiter ein: Strelitzen wurden den türkischen Janitscharen gleichgesetzt und die politischen Wirren am Zarenhof und innerhalb der Zarenfamilie erinnerten an die osmanische Praxis des gewaltsamen Machttransfers und des Sultansmords. Die europäischen Schriften wurden unter dem russischen europäisierten Adel des 18. Jahrhunderts bekannt, was zum kulturellen Transfer dieser Vorstellungen und zur Präzisierung und Anpassung der Erinnerung an die Strelitzen-Revolte in der petrinischen Zeit führte. In den Vordergrund trat die Wahrnehmung der Strelitzen und ihrer Anführer als Befürworter des alten ‚barbarischen‘ Russland, die sich den reformatorischen Maßnahmen Peters des Großen widersetzt hatten. Die Geschichte des Aufstands von 1682 wurde damit zum Bestandteil des petrinischen Diskurses – des Diskurses über die Europäisierung des rückständigen Moskauer Reichs durch die Taten eines grandiosen Reformers – sowohl in der russischen als auch in der europäischen Kultur.
Anhang Glossar bunt cholop carevič carevna carica čelobitnaja d’jak dumnyj d’jak kuranty letopis’/letopisec nemeckaja sloboda okol’ničij pod’jačij posol’skij prikaz pravež pristav protopop sobornoe uloženie statejnyj spisok stol’nik zemskij sobor voevoda
Revolte, Aufstand unfreier Diener, Knecht, Sklave Zarensohn junges weibliches Mitglied der Zarenfamilie, die Tochter oder die Schwester des Zaren Zarin, die Frau oder die Mutter des Zaren Bittschrift, Klageschrift Leiter eines altrussischen Verwaltungsamts, Beamter in Altrussland vierter und niedrigster Duma-Rang im Moskauer Reich des 17. Jahrhunderts russische Übersetzungen von Artikeln aus der deutschen und niederländischen Presse, die im Moskauer Gesandtschaftsamt im 17. und im frühen 18. Jahrhundert angefertigt wurden altrussische Chronik wörtl. „Deutsche Vorstadt“, eine Siedlung am Rande von Moskau am Fluss Jauza, wo sich die aus Europa stammenden Ausländer im 16. und 17. Jahrhundert niederlassen durften altrussischer Duma-Rang, zweithöchste Dienststufe nach dem Rang eines Bojaren niederer Mitarbeiterrang im Verwaltungssystem des Moskauer Reichs, untergeordneter Schreiber in der Kanzlei Gesandtschaftsamt des Moskauer Reichs Strafnorm des altrussischen Rechts, das öffentliche Auspeitschen eines Verschuldeten Aufseher; in der diplomatischen Praxis des vormodernen Russland: Begleiter einer ausländischen Gesandtschaft höchster Priesterrang in der orthodoxen Kirche Gesetzbuch des Zaren Aleksej Michajlovič von 1649 Gesandtschaftsbericht, den die zurückgekehrten Moskauer Gesandten nach dem Ende einer diplomatischen Mission im Gesandtschaftsamt einreichen mussten wörtl. „Truchsess“, ein niedrigerer Dienstrang des altrussischen Adels Landesversammlung im Moskauer Reich des 16. und 17. Jahrhunderts vom Zaren ernannter Gouverneur einer russischen Stadt
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Abbildungsverzeichnis Abbildung 1 Kupferstich „Wahrhaffte abbiltung der grausamen Massacre welche sich dieses 1682 Jahrs in Moscaw in des Zaars Schloß Kremelin begeben“ aus der Frankfurter Herbst-Messrelation (1682) Abbildung 2 Nicolas de Larmessin. Porträt von Ivan und Peter, Zaren von Russland (1685) Abbildung 3 Kupferstich „Die Moscovitische Revolte“, gefaltete Beilage zur Hamburger Flugschrift Eigentlicher Bericht wegen des in der Stadt Moßkau Am 15/16 und 17 May Anno 1682 entstandenen greulichen Tumults/ und grausahmen Massacre (1682) Abbildung 4 Zar Ivan Alekseevič, Kupferstich aus Georg Adam Schleusings Buch Derer beyden Czaaren im Reuß-Lande Iwan und Peter Alexewiz, Nebst Dero Schwester der Princessin Sophia, Bißhero dreyfach-geführter Regiments-Stab (1694) Abbildung 5 Zar Peter Alekseevič, Kupferstich aus Georg Adam Schleusings Buch Derer beyden Czaaren im Reuß-Lande Iwan und Peter Alexewiz, Nebst Dero Schwester der Princessin Sophia, Bißhero dreyfach-geführter Regiments-Stab (1694) Abbildung 6 Prinzessin Sof ’ja Alekseevna, Kupferstich aus Georg Adam Schleusings Buch Derer beyden Czaaren im Reuß-Lande Iwan und Peter Alexewiz, Nebst Dero Schwester der Princessin Sophia, Bißhero dreyfach-geführter Regiments-Stab (1694)
Abkürzungsverzeichnis
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Abkürzungsverzeichnis AAĖ AE AGAD ČIOIDR GIM GStA PK JGO HHStA OR PDSDR PSRL PSZ RAS RGADA RGB RNB SPbII RAN TODRL UUB ŽMNP
Akty, sobrannye v bibliotekach i archivach Rossijskoj Imperii Archeografičeskoju Ėkspedejcieju Imperatorskoj Akademii Nauk Centre des Archives diplomatiques du Ministère des Affaires Étrangères, Paris Archiwum Główne Akt Dawnych, Warschau Čtenija v Imperatorskom Obščestve istorii i drevnostej rossijskich Gosudarstvennyj istoričeskij muzej, Moskau Geheimes Staatsarchiv preußischer Kulturbesitz, Berlin Jahrbücher für Geschichte Osteuropas Haus-, Hof- und Staatsarchiv, Wien Otdel rukopisej Pamjatniki diplomatičeskich snošenij drevnej Rossii s deržavami inostrannymi Polnoe sobranie russkich letopisej Polnoe sobranie zakonov Rossijskoj Imperii Riksarkivet, Stockholm Rossijskij gosudarstvennyj archiv drevnich aktov Rossijskaja gosudarstvennaja biblioteka, Moskau Rossijskaja nacional’naja biblioteka, Sankt Petersburg Archiv Sankt-Peterburgskogo instituta istorii Rossijskoj akademii nauk Trudy otdela drevnerusskoj literatury Uppsala Universitätsbibliothek Žurnal Ministerstva narodnogo prosveščenija
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Quellen- und Literaturverzeichnis Archive und Handschriftensammlungen Archiv Sankt-Peterburgskogo instituta istorii Rossijskoj akademii nauk [Archiv des Sankt Petersburger Instituts für Geschichte an der russischen Akademie der Wissenschaften] (SPbII RAN) Westeuropäische Sektion, Mikrofilmensammlung – Б-43 „Briefe von Heinrich Butenant (von Rosenbusch)“ – Б-44 „Briefe von Hildebrand von Horn“ Russische Sektion – Samml. 40, Nr. 57 „Briefe von Johann van Keller“ Archiwum Główne Akt Dawnych [Zentralarchiv der alten Urkunden], Warschau (AGAD) Archiv von Potocki (APP), Rps. 47 Centre des Archives diplomatiques du Ministère des Affaires Étrangères [Zentrum für diplomatische Archive des Außenministeriums], Paris, La Courneuve (AE) Correspondance politique – Danemark, t. 27 – Pologne, t. 73, 74 – Russie, t. 1 – Suède, t. 64, 65 Geheimes Staatsarchiv preussischer Kulturbesitz, Berlin (GStA PK) HA Geheimer Rat, Rep. XI Auswärtige Beziehungen, Akten – Nr. 6582 „1681–1683 Geschriebene Zeitungen aus Russland“ – Nr. 6583 „Varia 1680–1685“ Haus-, Hof- und Staatsarchiv, Wien (HHStA) Rußland I – Karton 14, Russica 1682–1686 Nationaal Archief [Nationalarchiv], Den Haag Staaten General, Deel II – Liassen Moscovien, Nr. 7365 „Briefe 1679‒1690“ Otdel rukopisej gosudarstvennogo istoričeskogo muzeja [Handschriftensammlung des Staatlichen historischen Museums], Moskau (GIM OR) Barsovskoe sobranie, Nr. 1578 Sobranie Uvarova, Nr. 1, Nr. 164, Nr. 591
Quellen- und Literaturverzeichnis
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Otdel rukopisej rossijskoj gosudarstvennoj biblioteki [Handschriftensammlung der Russischen staatlichen Bibliothek], Moskau (RGB OR) Fond 37 Sobranie Bol’šakova Fond 173 Sobranie Moskovskoj duchovnoj akademii Fond 178 Muzejnoe sobranie Fond 199 Nikiforovskoe sobranie Fond 205 Obščestvo istorii i drevnostej rossijskich Fond 299 Sobranie Tichonravova Otdel rukopisej rossijskoj nacional’noj biblioteki [Handschriftensammlung der Russischen Nationalbibliothek], Sankt Petersburg (RNB OR) Pol’sk. Q. IV Nr. 8 Riksarkivet [Reichsarchiv], Stockholm (RAS) Muscovitica – Vol. 108 „Legaterne Frih. Conrad Gyllenstiernas, Johas Klingstedts och Otto Stackelbergs bref till Kongl. Maj:t 1684“ – Vol. 114 „Kommissarien i Moskva Kristoffer Koch (von Kochen) skrivelser till K. M:t 1683“ – Vol. 604 „Commissarien i Moskwa Christoffer Kochs (von Kochen) reseberättelse samt bref till hofroadet Bergenhielm 1679–1683“ Extranea samlingen, XI Ryssland – Vol. 156: 2 Rossijskij gosudarstvennyj archiv drevnich aktov [Russisches staatliches Archiv der alten Urkunden], Moskau (RGADA) Fond 32 „Auswärtige Beziehungen Russlands mit Österreich“ – Opis’ 1, 1682, Nr. 1 Fond 53 „Auswärtige Beziehungen Russlands mit Dänemark“ – Opis’ 1, 1682 г., Nr. 1, Nr. 2 Fond 79 „Auswärtige Beziehungen Russlands mit Polen“ – Opis’ 1, Nr. 206 – Opis’ 1, 1682, Nr. 2, Nr. 7, Nr. 8, Nr. 12 – Opis’ 1, 1683, Nr. 6 Fond 96 „Auswärtige Beziehungen Russlands mit Schweden“ – Opis’ 1, 1682, Nr. 1, Nr. 2 – Opis’ 1, Nr. 110 – Opis’ 1, Nr. 111 Fond 155 „Zeitungen“ – Opis’ 1, 1682, Nr. 2, Nr. 5 – Opis’ 1, 1683, Nr. 5 Fond 181 „Handschriftensammlung der MGAMID Bibliothek“ – Opis’ 4, Nr. 346/726 – Opis’ 9, Nr. 849/1415
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Fond 248 „Regierender Senat“ – Opis’ 12, Nr. 650 Uppsala Universitätsbibliothek (UUB) Palmskiölda samlingen – Vol. 72 „ Tomus VIImus K. Cancellie – Colleg: handle. Minister, svenske utomlands och främmande i Sverige“ – Vol. 97 „Tomus Xmus Acta Sveco-Russica“ Cronstedtska samlingen – Vol. 4:213
Früneuzeitliche Druckschriften Flugschriften, Messrelationen und Bücher Beschreibung Des schau- und leßwürdigen Moscowitischen Einzugs/ und Tractements Derer beyder Römisch-Keyserlichen Groß-Gesandten an die Moscowitische Zaaren/ […] Samt Einem kurtzen Bericht ihrer Verrichtung/ wie auch den zweyen lateinischen Reden/ welche Ihre Excell. der Herr Baron von Blumenberg/ vor beyden Zaaren abgelegt: Wovon die letzte/ als die denckwürdigste/ auch in Teutsche Sprache versetzt/ allhie beygedruckt zu lesen/ Von vertrauter Hand eines fürnehmen Zaarischen Hof-Bedientens/ aus der Moscau/ auf Hamburg/ in lateinischer Sprach/ geschickt an einen guten Freund. [S. l.] 1684. [Collins, Samuel] The present state of Russia in a letter to a friend at London/ written by an eminent person residing at the great czars court at Mosco for the space of nine years. London 1671. Continuatio XLIV Diarii Europaei Infertis variis actis publicis. Das ist: Täglicher Geschichts-Erzehlungen Vier und Vierzigster Theil/ Oder des Neu-eingerichteten Diarii Europaei Funffzehender Theil; worinnen enthalten/ Theils/ was sich hin und wieder in der Welt/ am Kayserlichen/ Chur und Fürstlichen/ Theils auch an andern Königl. Höfen/ Landen und Herrschafften biß auff gegenwärtige Zeit denckwürdigst begeben und zugetragen hat. Frankfurt am Main 1683. [Crull, Jodocus] The Antient and Present State of Muscovy, containing a Geographical, Historical and Political Account of all those Nations and Territories under the Jurisdiction of the Present Czar. London 1698. The Present Condition of the Muscovite Empire, till the year 1699. In two Letters: the first from a Gentleman, who was Conversant with the Muscovite Ambassadour in Holland: the second From a Person of Quality at Vienna, Concerning the late Muscovite Embassy, his present Czarish Majesty; the Russian Empire; and Great-Tartary. With the Life of the Emperour of China. London 1699. Des verwirreten Europae dritter Theil, oder Wahre historische Beschreibung derer in der Christenheit / fürnehmlich aber in dem Vereinigten Niederlande/ Teutschland/ und hernach in den angräntzenden Reichen/ Fürstenthümern und Herrschaften/ zeither dem Jahre 1676. biß auff das Jahr 1682. durch die Waffen des Königes in Frankreich erreichter bluhtiger Kriege/ leidigen Empörungen und erschrechlicher Verwüstung. durch Andreas Müllern, Secret. Amsterdam 1683.
Quellen- und Literaturverzeichnis
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Eigentlicher Bericht wegen des in der Stadt Moskau am 15/16 und 17 May Anno 1682 entstandenen greulichen Tumults/ und grausahmen Massacre: Wie auch; Der augenscheinlichen Ledens=Gefahr/ in welche der daselbst Königliche Dänische Resident/ mittelst dieses Auffstandes/ verfallen. Hamburg 1682. Een sanferdig och vthförlig Relation och Berättelse, om dhen ynkesamme Handel och Tragædia, som sigh tildragit i Ryßlandh och Stadhen Muskow den 15. 16. och 17. May. innewarande Åhr 1682. Stockholm 1682. Grosses vollständiges Universal Lexicon Aller Wissenschafften und Künste, Welche bißhero durch menschlichen Verstand und Witz erfunden und verbessert worden, Darinnen so wohl die Geographisch-Politische Beschreibung des Erd-Creyses, nach allen Monarchien, Käyserthümern, Königreichen, Fürstenthümern, Republiquen, freyen Herrschafften, Ländern, Städten, See-Häfen, Vestungen, Schlössern, Flecken, Aemtern, Klöstern, Gebürgen, Pässen, Wäldern, Meeren, Seen, Inseln, Flüssen und Canälen; samt der natürlichen Abhandlung von dem Reich der Natur, nach allen himmlischen, lufftigen, feurigen, wässerigen und irrdischen Cörpern, und allen hierinnen befindlichen Gestirnen, Planeten, Thieren, Pflantzen, Metallen, Mineralien, Saltzen und Steinen etc. […] Bd. 40. Leipzig & Halle 1744. [Happel, Eberhard Werner] Kern-Chronica der merckwürdigsten Welt- und Wunder-Geschichte: Ander Theil. Fürstellend die merckwürdigsten Welt- und Wunder-Geschichte So sich in und ausser Europa durch die Welt hin und wieder von Ao. 1680 bis 1690 und also in 10 nacheinanderfolgenden Jahren begeben haben. Hamburg 1690. Hollandse Mercurius van het Jaer 1682. Haarlem 1683. [Ioakim, Patriarch] Slovo blagodarstvennoe o izbavlenii cerkvi ot otstupnikov. Moskau 1683. [Katiforos, Antonios] Vita di Pietro il Grande imperador della Russia; scritta dall’Abbate Antonio Catiforo. Venedig 1737. [Korb, Johann Georg] Diarium itineris in Moscoviam perillustris ac magnifici domini Ignatii Christophori de Guarient et Rall, Sacri Romani Imperii, & Regni Hungariae Equitis, Sacrae Caefareae Majestatis Consiliarii Aulico-Bellici ab Augustißimo & Invictißimo Romanorum Imperatore Leopoldo I. ad Serenißimum, ac Potentißimum Tzarum et Magnum Moscoviae Ducem Petrum Alexiowicium anno MDCXCVIII ablegati extraordinarii. Wien 1700. Kurtze und gründliche Relation, Wie die vornehmste Moscowitische Herren in der Stadt Moßcow Anno 1682 jämmerlich seyn niedergehauen/ und die beyden Printzen Johannes und Petrus zu Zaren erwehlet worden, [S. l.] 1686. Kurtze und Neueste aus den besten und neuesten Autoren zusammen getragene/ und biß auf unsere jetzige Zeit continuirte Moscowitische Zeit- Lands- Staats- und Kirchen-Beschreibung. Worbey viel bey denen jetzigen Conjuncturen vorgefallene Circumstantien/ auch zu wissen nutzliche und zu lesen annehmliche Anmerkungen mit eingemenget. Nürnberg 1687. [Neuville, Foy de la] Relation curieuse et nouvelle de Moscovie. Contenant l’état présent de cet Empire. Les Expéditions des Moscovites en Crimée en 1689. Les causes des dernières Révolutions. Leurs Mœurs & leurs Réligion. Le Récit d’un voyage de Spatarus, par terre, à la Chine. Paris 1698.
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Oration, So die Kaiserliche Grosse Gesandschafft in Moscau Durch den Herrn Baron von Blumberg/ Den 28. May/ Anno 1684. Bey Ihr. Ihr. Czar. Czar. Mayt. Mayt. in Lateinischer Sprache abgeleget/ Welche umb der Curiosität halben ins Deutsche übersetztet worden. Breßlau 1684. Relationis Historicae Semestralis Autumnalis Continuatio: Jacobi Franci Historische Beschreibung der denckwürdigsten Geschichten/ so sich in Hoch- und Nieder-Teutschland/ auch Italien/ Hispanien/ Franckreich/ Ungarn/ Böheim/ Polen/ Engeland/ Portugall/ Schweden/ Dennemarck/ Dalmatien/ Candia … Vor und zwischen jüngst verflossener Franckfurter Oster-Meß 1682. biß an- und in die Herbst-Meß dieses lauffenden 1682. Jahrs zugetragen. Frankfurt am Main 1682. [Schleusing, Georg Adam] Anatomia Russiae Deformatae, Oder Historische Beschreibung/ Des Moscowiter oder Reußlandes/ wie es sich anjetzo unter Regirung zweener Zaaren oder Groß-Fürsten Iwan und Peter Alexewiz eigentlich befindet: Kürtzlich und gründlich/ mit allen sich bißhero zugetragenen Begebenheiten/ Ambassaden/ und dergleichen/ auch der darbey vorgegangener grausamen Rebellion, von Haupt biß zum Ende/ nebst allerhand lustigen und kurtzweiligen Discursen, in einem Zwey-Gespräch vorgestellet. [S. l.] 1688. Derer Beyden Czaaren in Reußland Iwan und Peter Alexewiz, nebst dero Schwester der Princeßin Sophia, Bißhero Dreyfach geführter Regiments-Stab und was darauff erfolget ist, nebst dem jetzigem Zustande in Reußlande. Zittau 1694. [Strahlenberg, Philipp Johann von] Das nord- und ostliche Theil von Europa und Asia, in so weit solches das gantze Rußische Reich mit Siberien und der grossen Tatarey in sich begreiffet […] Bey Gelegenheit der Schwedischen Kriegs-Gefangenschafft in Rußland, aus eigener sorgfältigen Erkundigung, auf denen verstatteten weiten Reisen zusammen gebracht und ausgefertiget von Philipp Johann von Strahlenberg. Stockholm 1730. [Sumarokov, Aleksandr] Pervyj i glavnyj streleckij bunt byvšij v Moskve v 1682 godu v mesjace mae. Sankt-Peterburg 1768. [Tanner, Bernhard Leopold Franz] Legatio Polono-Lithuanica in Moscoviam Potentissimi Poloniae Regis ac Reipublicae Mandato & Consensu Anno 1678. feliciter suscepta/ Nunc … descripta a Teste occulato Bernhardo Leopoldo Francisco Tannero, Boemo Pragense, Dn. Legati Principis Camerario Germanico. Nürnberg 1689. Theatri Europaei Continuati Zwölffter Theil/ Das ist: Abermalige Außführliche Fortsetzung Denck- und Merckwürdigster Geschichten: Welche/ ihrer gewöhnlichen Eintheilung nach/ an verschiedenen Orten durch Europa, Wie auch in denen übrigen Welt-Theilen/ vom Jahr 1679. an biß 1687. sich begeben und zugetragen. Frankfurt am Main 1691. [Voigt, Johann Heinrich] Cometa Matutinus & Vespertinus: Der/ Anfangs in den Früestunden der Sonnen vorgehend/ Und/ hernach in den Abendstunden der Sonnen nachgehend/ Erschienene/ Und der Gottlosen Welt zum Schrecken/ am Himmel strahlende Comet- oder Schwantz-Stern/ Anno 1680. und 1681. Danzig 1681. Vorstellung und Betrachtung der Grossen Coniunction, der Obern Planeten Saturni, und Iovis, Welche sich zu dreyen malen begiebet: Anno 1682, den 18 Octobris in 19 Grad Löwen, Anno 1683, den 21 Ianuarii in 17 Grad Löwen, Und den 16 Maii in 15 Grad Löwen; Zum Vortrab Des Vergleichung-Spiegels Himels und der Erden/ welches Büchlein diesem bald folget. Stade 1682.
Quellen- und Literaturverzeichnis
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Zeitungen Königsbergische Sontangs Ordinari Post-Zeitung [Königsberg] La Gazette [Paris] Mercurii Relation, oder wochentliche Reichs Ordinari Zeitungen, von underschidlichen Orthen [München] Montägliche Wochenzeitung [Zürich] Ordenliche Wochentliche Post-Zeitungen [München] Ordinari Post-Zeitung von dem was wöchentlich in und ausserhalb des Heil. Römischen Reiches werkwürdiges paßieret. Mit Beilagen: Freitags Ord:Beilage zur wöchentlichen Post-Zeitung und Wöchentlicher Mercurius Zur Ordinari Post-Zeitung [Braunschweig] Ordinari-Wochen Zeitung [Zürich] Post- und Ordinari-Zeitung [Leipzig] Swenska Mercurius. Mit der Beilage: Swenska Post-Ryttaren [Stockholm] Titellose Zeitung: Dienstagischer bzw. Sonntagischer Mercurius / Fama / Postilion [Berlin] The London Gazette [London] Wochenliche Ordinari Post-Zeitung [S. l.] Wochentliche Ordinari-Reichs-Post-Zeitungen [Altdorf-Weingarten]
Publizierte Quellen AAĖ, Bd. 4. Sankt-Peterburg 1836. Birgegård, Ulla (Hrsg.): J. G. Sparwenfeld’s Diary of a Journey to Russia 1684‒87. Stockholm 2002 (= Slavica Suecana, Series A-Publications 1). Bogdanov, A. P. (Hrsg.): Rossija pri carevne Sof ’e i Petre I: Zapiski russkich ljudej. Moskva 1990. Buganov, V. I. und N. G. Savič (Hrsg.): Vosstanie v Moskve 1682 goda: sbornik dokumentov. Moskva 1976. Coyett, Valthasar: Posol’stvo Kunraada fan-Klenka k carjam Alekseju Michajloviču i Feodoru Alekseeviču = Voyagie van den Heere Koenraad van Klenk, Extraordinaris Ambassadeur van haer Ho: Mo: aen Zyne Zaarsche Majesteyt van Moscovien, hrsg. v. A. M. Lovjagin. SanktPeterburg 1900. Cracraft, James (Hrsg.): For God and Peter the Great. The Works of Thomas Consett, 1723‒1729. New York 1982 (= East European Monographs 96). David, Georgius: Status modernus Magnae Russiae seu Moscoviae (1690), hrsg. v. Antonij V. Florovskij. The Hague 1965 (= Slavistic printings and reprintings 54). David, Irži: Sovremennoe sostojanie Velikoj Rossii ili Moskovii, in: Voprosy istorii 1, 3–4 (1968), S. 123–132, 92–97, 138–147. Davydova, M. B., I. P. Šaskol’skij und A. I. Jucht (Hrsg.): Russko-švedskie ėkonomičeskie otnošenija v XVII veke. Sbornik dokumentov. Moskva & Leningrad 1960. Dnevnyja zapiski I. A. Željabužskago, in: Russkij archiv, Kniga 3, Vypusk 9 (1910), S. 5–154. Kämpfer, Frank (Hrsg.): Peters des Grossen Jugendjahre: „Kurze Beschreibung der gesegneten taten des Gosudars, des Kaisers Peters des Grossen, Selbstherrschers von ganz Russland“; nebst einem Anhange aus zeitgenössischen Stimmen, nämlich Heinrich Butenant, Patrick Gordon und Otto Pleyer, zu den geschilderten Ereignissen. Stuttgart 1989 (= Quellen und Studien zur Geschichte des östlichen Europa 30).
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Anhang
Keep, John: Mutiny in Moscow, 1682: a Contemporary Account, in: Canadian Slavonic Papers/ Revue Canadienne des Slavistes 23 (1981), Nr. 4, S. 410–442. Korb, Johann Georg: Tagebuch der Reise nach Russland, hrsg. v. Gerhard Korb, übers. von. Edmund Leingärtner. Graz 1968. Kotoshikhin, Grigorii: O Rossii v carstvovanie Alekseja Mixajloviča, hrsg. v. Anne Pennington. Oxford 1980. Levickij, Orest I. (Hrsg.): Letopis’ samovidca po novootkrytym spiskam s priloženiem trech malorossijskich chronik: Chmel’nickoj, „Kratkago opisanija Malorossii“ i „Sobranija istoričeskago“. Kiev 1878. Loewenson, Leo: 1681–1683. Geschriebene Zeitungen aus Rußland, in: Zeitschrift für osteuropäische Geschichte 6 (neue Folge 2) (1932), S. 83–93, 231–237, 402–415, 552–585. Lomonosov, M. V.: Polnoe sobranie sočinenij, Bd. 6. Trudy po russkoj istorii, obščestvennoėkonomičeskim voprosam i geografii 1747‒1765 gg. Moskva & Leningrad 1952. L’vov, N. A. (Hrsg.): Podrobnaja Letopis’ ot načala Rossii do Poltavskoj batalii, Teile 1–4. SanktPeterburg 1798–1799. Medvedev, Sil’vestr: Sozercanie kratkoe let 7190, 91 i 92, v nich že čto sodejasja vo graždanstve, hrsg. u. komm. v. Aleksandr Prozorovskij, in: ČIOIDR 171 (1894), Nr. 4, S. 1–197. Meiske, Christian (Hrsg.): Das Sobornoe Uloženie von 1649, Bd. 1–2. Halle (Saale) 1985 (= Beiträge zur Geschichte UdSSR 9). Neuville, Foy de la: A Curious and New Account of Muscovy in the Year 1689, hrsg. v. Lindsey Hughes. London 1994. Nevill’ de la: Zapiski o Moskovii, hrsg. v. A. S. Lavrov. Moskva 1996 (= Rossija i rossijskoe obščestvo glazami inostrancev. XV – XIX vv. 1). PDSDR, Bd. 6. Pamjatniki diplomatičeskich snošenij s Rimskoju imperieju (s 1682 po 1685 god). Sankt-Peterburg 1862. Povestvovanie o moskovskich proisšestvijach po končine carja Alekseja Michajloviča, in: ŽMNP 5 (1835), S. 69–82. PSRL, Bd. 31. Letopiscy poslednej četverti XVII veka. Moskva 1968. PSZ, Bd. 2. 1676‒1688. Sankt-Peterburg 1830. Rasskaz očevidca o žizni Moskovii konca XVII veka, in: Voprosy istorii 1 (1970), S. 103–126. Relationer til K. Christian den femte fra den danske envoyé i Moskov Hildebrand von Horrn. November 1682 ‒ Juni 1684, in: Wegener, C. F. (Hrsg.): Aarsberetninger fra det kongelige Geheimearchiv, Bd. 6. Kjøbenhavn 1882, S. 138–198. Recueil des instructions données aux ambassadeurs et ministres de France depuis les traités de Westphalie jusqu’a la Révolution française, Bd. 8. Russie, avec une introduction et des notes par Alfred Rambaud, T. 1. Paris 1890. Rinhuber, Laurent: Relation du voyage en Russie fait en 1684. Berlin 1883. Romanov, Savva: Istorija o vere i čelobitnaja o strel’cach, in: Tichonravov, Nikolaj (Hrsg.): Letopisi russkoj literatury i drevnosti, Bd. 5. Moskva 1863, S. 111–148. Roždenie imperii. Moskva 1997 (= Istorija Rossii i doma Romanovych v memuarach sovremennikov XVII‒XX vv.). Sacharov, N. (Hrsg.): Zapiski russkich ljudej. Sobytija vremen Petra Velikago. Sankt-Peterburg 1841. Semevskij, M. I. (Hrsg.): Archiv knjazja F. A. Kurakina, Bd. 1. Sankt-Peterburg 1890. „Sklonny k strašnomu neistovstvu …“ Donesenija Genricha Butenanta fon Rozenbuša o strelekkom vosstanii 1682 goda v Moskve, in: Istočnik. Dokumenty russkoj istorii 61 (2003), Nr. 1, S. 40–49.
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Personenregister Adrian [Moskauer Patriarch] – 82, 189 Afanasij [Erzbischof von Cholmogory] – 70 Alekseev, Nikita [pod’jačij] – 22, 92–97, 101, 134–135, 138 Aleksej Michajlovič [russischer Zar] – 35–39, 42, 44, 67, 86, 115, 147, 160, 170, 242 Almazov, Semёn [stol’nik] – 137 Antonina Danilovna [Äbtissin des Neu-Jungfrauen-Klosters] – 171, 173 Apraksina, Marfa [zweite Frau von Fedor Alekseevič, carica] – 43–44, 105–106, 117, 237 Averkij [Chronikschreiber] – 64 Bazin, François Marquis de Baudeville [französischer Botschafter in Schweden] – 134–135 Béthune, François Gaston de [französischer Botschafter in Polen] – 228–229 Bętkowski, Stanisław [polnischer Agent] – 163– 171, 205, 235 Bergenhielm, Johann [schwedischer königlicher Sekretär und Hofrat] – 141, 147, 203 Blumberg, Sebastian Freiherr von [kaiserlicher Gesandter] – 180–181 Bobinin, Vasilij [d’jak] – 153, 155 Butenant, Heinrich (von Rosenbusch) [Hamburger Kaufmann, dänischer Handelsfaktor in Moskau] – 24–25, 29, 40, 98–110, 118, 121, 128, 176–177, 186–191, 194, 217, 220–221, 225, 238, 243–244 Buturlin, Ivan [russischer Gouverneur von Novgorod] – 150 Čaadaev, Ivan Ivanovič [okol’ničij] – 74, 136 Čerkasskij, Michail Alegukovič [Fürst, Bojar] – 113 Chlopov, Kirill Osipovič [okol’ničij] – 75 Chmel’nitskij, Bogdan [ukrainischer Hetman] – 37 Chovanskij, Andrej Ivanovič [Sohn von Ivan Andreevič Chovanskij, Bojar] – 54, 71–72, 74–75 Chovanskij, Ivan Andreevič [Fürst, Bojar] – 11, 19, 53–54, 60, 70–77, 80, 82, 84–86, 88, 106, 111, 119–120, 129, 131, 152, 158, 161, 166, 170, 178, 202–203, 210–213, 215, 217, 220–221, 229–230, 233–234, 245
Chovanskij, Ivan Ivanovič [Sohn von Ivan Andreevič Chovanskij] – 54, 129 Chovanskij, Pёtr Ivanovič [Sohn von Ivan Andreevič Chovanskij, Bojar] – 213 Christian V. [dänischer König] – 107, 133–134 Collins, Samuel [englischer Arzt im zarischen Dienst] – 238 Consett, Thomas [englischer Publizist] – 234 Croissy, Colbert de [französischer Minister] – 132 Cromwell, Oliver [Lordprotector von England] – 88, 235 Crull, Jodocus [englischer Publizist] – 28, 226, 231 Cykler, Ivan [Strelitzenoberst] – 57, 82, 87, 89–90 Dahlberg, Erik [schwedischer General-Gouverneur von Livland] – 177 David, Georgius ( Jiří) [tschechischer Jesuit] – 229 Djadkin, Semёn [pod’jačij] – 136, 167, 175 Dmitrij Ivanovič [Sohn des Zaren Ivan des Schrecklichen, carevič] – 67, 89 Dolgorukov, Jurij Alekseevič [Fürst, Bojar] – 50, 53, 62, 65, 68, 95, 103–104, 110, 116, 221 Dolgorukov, Michail Jur’evič [Sohn von Jurij Alekseevič Dolgorukov, Fürst, Bojar] – 49, 62, 103–104 Ebers, Adolph [schwedischer Resident in Russland, Kaufmann] – 140–141 Fabritius, Ludwig [schwedischer Diplomat] – 116 Fedor Alekseevič [russischer Zar] – 12, 36–37, 39, 43–44, 48–50, 60, 64–66, 68, 75–76, 79, 82, 84, 86, 91–92, 95–96, 100, 103–104, 107– 108, 117, 122, 128–129, 133, 136, 148–149, 157– 161, 163–164, 171–172, 176, 190, 204–210, 213, 217, 219–221, 226–227, 229, 232, 235–237, 246 Fersen, Hans von [schwedischer Gouverneur von Narva] – 153 Friedrich Wilhelm [Kurfürst von Brandenburg-Preußen] – 108, 130, 172, 195, 200, 244
Personenregister
Gabel, Friedrich von [dänischer Gesandter] – 40, 99, 107, 115, 141 Gaden, Daniel [Leibarzt des Zaren] – 50, 62, 96, 98, 103–104 Giøe, Mons [dänischer Gesandter] – 39 Glinskaja, Elena [Mutter des Zaren Ivan des Schrecklichen, carica] – 56 Godunov, Boris [Bojar, russischer Zar] – 48, 67, 89 Golicyn, Boris Alekseevič [Fürst] – 71, 112, 114, 173–174, 229 Golicyn, Vasilij Vasil’evič [Fürst, Bojar, Leiter des Moskauer Gesandtschaftsamts] – 55, 56–57, 71, 101, 110–112, 114, 116, 122, 154–155, 174, 176, 221, 226, 229–230, 235, 243 Golosov, Luk’jan Timofeevič [dumnyj dvorjanin] – 74, 95, 136 Griboedov, Semёn [Strelitzenoberst] – 47–48, 66, 98, 103–104, 148 Gross, Leontij [Übersetzer des Moskauer Gesandtschaftsamts] – 116 Grundel-Helmfelt, Simon [schwedischer General-Gouverneur von Ingrien] – 141 Grušeckaja, Agaf ’ja [erste Frau von Fedor Alekseevič, carica] – 43, 157 Gutmensch, Johann [Arzt im Moskauer Apothekenamt] – 50 Gyllenstierna, Conrad [schwedischer Reichsrat] – 155 Happel, Eberhard Werner [deutscher Publizist] – 28, 188–189, 221 Heinsius, Nicolaas [niederländischer Botschafter in Schweden] – 155 Herbers, Hermann [schwedischer Handelsfaktor in Pskov] – 146 Hesse, Hermann Dietrich [brandenburgischer Diplomat und Geheimsekretär] – 29, 115, 117, 120, 123–131, 138, 146, 176, 178–179, 185, 199, 200, 218, 241–242 Hising (Hisiengh), Nils [schwedischer Handelsfaktor in Novgorod] – 146 Horn, Hildebrand von [dänischer Gesandter] – 25, 106–114, 120–121, 130, 133, 137, 153–155, 157, 173–176, 237, 242–243 l’Hospital, Nicolas Marie de, Marquis de Vitry [französischer Botschafter in Polen] – 135–137, 159, 161, 206
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Ioakim [Moskauer Patriarch] – 48, 52, 54, 70, 151 Ippolitov, Semёn [d’jak] – 137 Iskrickij, Vasilij [Kosake, polnischer Agent] – 162–163 Istomin, Karion [russischer Publizist, Mönch] – 78, 189 Ivan Alekseevič [carevič, russischer Zar] – 12, 22, 26, 44–45, 48–50, 53, 55–57, 62, 64–68, 71, 75–77, 79, 83–86, 88–89, 92–93, 95, 100, 103– 105, 108, 110, 117–119, 128, 131, 134, 136–139, 148–149, 151, 154, 158, 160, 164, 168, 170–172, 179–181, 189, 200, 204, 206–209, 214, 218–222, 226, 237, 245–246 Ivan IV. der Schreckliche [russischer Zar] – 56, 67, 83 Ivanov, Larion [dumnyj d’jak, Leiter des Moskauer Gesandtschaftsamts] – 50, 62, 64, 116 Jabłonowski, Stanisław [polnischer Feldhetman] – 162 Jazykov, Ivan Maksimovič [Bojar] – 44, 47, 79, 104, 148, 172 Karl XI. [schwedischer König] – 147, 153, 155 Katiforos, Antonios [griechischer Abt, Schriftsteller] – 231 Keller, Johann Wilhelm van [niederländischer Resident in Moskau] – 25–26, 29, 39–40, 47, 109, 113–122, 130, 134, 146, 150, 157, 177, 198– 199, 207, 210, 225, 238, 242, 244 Kirillov, Averkij [dumnyj d’jak] – 62 Klenk, Koenraad van [niederländischer Großgesandter nach Moskau] – 115 Klingstedt, Jonas [schwedischer Diplomat] – 147, 155 Knipper, Thomas [schwedischer Handelsfaktor und Resident in Moskau] – 146, 177 Koch, Christof (von Kochen) [schwedischer Kaufmann und Agent] – 27, 40, 43, 113, 116, 140–156, 158, 167, 176–178, 201–203, 229, 237, 241, 243 Kochen, Johan Henrik von [schwedischer Staatsmann, Sohn von Christof Koch] – 156 Konstantinovič, Avgustin [polnischer Gouverneur von Kadino] – 165–166 Korb, Johann Georg [Sekretär der kaiserlichen Gesandtschaft] – 28, 226–227, 233–234, 236
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Anhang
Kraevskij, Nazarij [polnischer Adliger, Agent des Moskauer Gesandtschaftsamts] – 165– 169, 171, 175 Krekšin, Pёtr [russischer Publizist] – 24, 85–87, 90, 190, 234, 238 Kryževskij, Fadej [russischer Kavallerieoffzier] – 169 Kurakin, Boris Ivanovič [Fürst, russischer Staatsmann und Diplomat] – 24, 89 Ladziński, Iosif [polnischer Adliger und Diplomat] – 169–173 Larmessin, Nicolas de [Graveur] – 137, 139 Leibniz, Gottfried Wilhelm [deutscher Gelehrter] – 227 Leopold I. [deutscher Kaiser] – 171 Lichačev, Aleksej Timofeevič [okol’ničij] – 148 Lomonosov, Michail [russischer Wissenschaftler und Publizist] – 14, 24, 190–191, 238 Ludwig XIV. [französischer König] – 39, 108, 132, 134–135, 137–138, 176 Martangis, Foulé de [französischer Botschafter in Dänemark] – 133 Matveev, Andrej Atremonovič [russischer Staatsmann und Diplomat, Sohn von Artemon Sergeevič Matveev] – 24, 85, 87–91, 101, 190, 229, 231, 234–235, 237–238, 240 Matveev, Artemon Sergeevič [Bojar] – 24, 44–45, 48–49, 62, 87, 95, 100–101, 110, 116– 117, 129, 148, 160, 219, 237 Mazepa, Ivan [kosakischer Offizier] – 162 Medvedev, Sil’vestr [russischer Publizist, Mönch] – 23, 48, 78–82, 90, 181 Meisner, Efim [Übersetzer des Moskauer Gesandtschaftsamts] – 116 Miloslavskaja, Maria Il’inična [erste Frau von Aleksej Michajlovič, carica] – 12, 39, 149 Miloslavskij, Aleksandr Ivanovič [stol’nik] – 88 Miloslavskij, Ivan Michajlovič [Bojar] – 29, 56–57, 70–71, 83–84, 88–90, 111–112, 119, 150, 174, 234–235, 237, 246 Müller, Andreas [deutscher Publizist] – 217 Musorgskij, Modest [russischer Komponist] – 11
Naryškin, Afanasij Kirillovič [Sohn von Kirill Poluechtovič Naryškin, stol’nik] – 50, 62, 77 Naryškin, Ivan Kirillovič [Sohn von Kirill Poluechtovič Naryškin, Bojar] – 49–50, 62– 64, 77, 82, 104–106, 160, 209 Naryškin, Kirill Poluechtovič [Bojar] – 50, 66, 101 Naryškina, Natal’ja Kirillovna [Tochter von Kirill Poluechtovič Naryškin, zweite Frau von Aleksej Michajlovič, carica] – 12, 44, 49–50, 65, 85, 87, 96, 100, 112, 114, 117, 129, 136, 158, 170, 172–174, 179, 207, 226, 236 Negrebeckij, Pavel [polnischer Adliger im russischen Dienst] – 172–175, 179 Neuville, Foy de la [französischer Adliger und Abenteurer] – 28, 227–231, 234–236 Nikon [Moskauer Patriarch] – 36, 52 Odoevskij, Vasilij Fedorovič [Fürst, Bojar] – 107, 112, 160 Ogiński, Marcjan [litauischer Magnat und Staatsmann] – 165, 168 Osman II. [türkischer Sultan] – 239 Oxenstierna, Bengt [Präsident der schwedischen königlichen Kanzlei] – 147 Pallavicini, Opicio [päpstlicher Nuntius in Polen] – 26, 158–159, 161, 171–173, 205 Pas, Isaac de, Marquis de Feuquière [französischer Botschafter in Schweden] – 132, 135 Peter Alekseevič [carevič, russischer Zar] – 12–13, 19–20, 22, 24, 26, 28, 30, 33, 35, 44–45, 48–53, 55–58, 60, 64, 67–68, 71, 75–76, 79, 81–90, 92, 99, 104–105, 108, 112, 114, 117–119, 122, 128–129, 131, 134, 136–139, 148–150, 156, 160, 164, 168, 170–174, 179–181, 189–191, 200, 204–205, 207–209, 216, 218, 223, 226–238, 240, 242, 245–246 Peter der Große – siehe Peter Alekseevič La Picquetière [französischer Gesandter] – 131–134, 137, 176 Polikarpov, Fedor [russischer Verleger und Schriftsteller] – 83 Polockij, Simeon [weißrussischer Publizist, Mönch] – 37, 79 Popławski, Dmitrij [polnischer Adliger, Agent] – 173
Personenregister
Postnikov, Vasilij [d’jak] – 75 Probst, Jan [kaiserlicher Sekretär] – 95–97, 180, 186, 217 Prončiščev, Ivan Afanas’evič [okol’ničij] – 75, 112, 114, 153, 155 Prončiščev, Pёtr Ivanovič [dumnyj dvorjanin] – 75, 155 Puškin, Fedor Matveevič [stol’nik] – 57 Pustosvjat, Nikita [Priester, Anführer der Altgläubigen] – 52, 69, 77 Pyžov, Bogdan [Strelitzenoberst] – 47 Rakuška-Romanovskij, Roman [ukrainischkosakischer Chronikschreiber] – 64–65, 75 Razin, Stepan [kosakischer Anführer] – 11, 13, 43, 47, 61–62, 141, 193, 203 Reventlow, Conrad von [dänischer Kabinettminister] – 174 Rhan, Peter [evangelischer Prediger in Moskau] – 126 Rinhuber, Laurent [deutscher Gelehrter und Reisender] – 173–175 Rodes, Johann de [schwedischer Resident in Moskau] – 140–141, 186 Romodanovskij, Grigorij Grigor’jevič [Fürst, Bojar] – 49, 52, 65, 96, 221 Šaklovityj, Fedor Leont’evič [Leiter des Strelitzenamts] – 57, 81 Saltykov, Fedor Petrovič [stol’nik] – 50, 63, 66, 68, 131 Saltykova, Praskov’ja [Frau von Ivan Alekseevič, carica] – 56 Samojlovič, Ivan [Hetman der linksufrigen Ukraine] – 162–163 Sapieha, Jan Kazimierz [litauischer Hetman] – 157, 169 Schleusing, Georg Adam [deutscher Reisender und Publizist] – 28, 219–225, 227, 230, 234–236 Scultetus, Joachim [brandenburgischer Gesandter] – 123 Silin, Isaj [pod’jačij] – 92 Simonovskij, Dmitrij [pod’jačij] – 91–92, 130, 195, 208 Snazin, Isidor [Chronikschreiber] – 23, 77
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Sobieski, Jan III. [polnischer König] – 26, 135, 157, 162, 164, 168, 171, 176, 179, 228, 242 Sof ’ja Alekseevna [Tochter von Aleksej Michajlovič, carevna] – 12, 23, 28–32, 53, 55–58, 60, 64–65, 67, 70–71, 77–78, 80–86, 88–90, 105–106, 111–112, 114, 119, 129, 131, 154– 156, 160–161, 164, 170–174, 179–180, 189–190, 209–210, 212, 217–221, 224, 226–238, 245–246 Sokovnin, Aleksej Prokof ’evič [okol’ničij] – 57, 87 Som, Heinrich von [Hamburger Kaufmann] – 99 Sparwenfeld, Johan Gabriel [schwedischer Gelehrter und Reisender] – 156, 174–175 Stackelberg, Otto [livländischer Landrat] – 155 Stieler, Kaspar von [deutscher Gelehrter und Schriftsteller] – 186 Strahlenberg, Philipp Johann von [schwedischer Offizier] – 232 Sumarokov, Aleksandr [russischer Schriftsteller] – 24, 90 Šumljanskij, Iosif [Bischof von L’vov] – 162–163 Sweeden, Johann van [niederländischer Kaufmann] – 42 Tanner, Bernhard Leopold Franz [tschechischer Reisender und Publizist] – 218–219 Tiesenhausen, Hans Henrik von [schwedischer Diplomat] – 153 Tjapkin, Vasilij Michajlovič [russischer Diplomat, dumnyj dvorjanin] – 40, 172, 179 Thököly, Imre [ungarischer Magnat, Fürst] – 38, 168 Tolstoj, Pёtr Andreevič [stol’nik] – 84, 88, 90 Ukraincev, Emel’jan [russischer Diplomat, dumnyj d’jak] – 112, 169 Venjukov, Nikifor [pod’jačij] – 91, 94–97, 136, 180–181, 186, 217 Vermeulen, David [Hamburger Kaufmann] – 99 Vinius, Andrej Andreevič [d’ajk, Moskauer Postmeister] – 126–127, 130, 179, 199–200, 243–244 Vitry, de Marquis – siehe l’Hospital, Nicolas Marie de
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Anhang
Voigt, Johann Heinrich [deutscher Astronom] – 215–216 Voltaire [französischer Philosoph und Schriftsteller] – 14, 190–191, 231, 234, 238 Vorona, Jakov [ukrainischer Kosake] – 162–163, 166 Weber, Friedrich Christian [Hannoverscher Diplomat] – 233 Wiering, Thomas von [Hamburger Verleger] – 106, 187–188, 194
Wilhelm III. von Oranien [Statthalter der Niederlande] – 92, 96 Zaremba, Semёn [protopop von Belaja Cerkov’] – 162–163 Zedler, Johann Heinrich [deutscher Buchhändler und Verleger] – 234 Željabužskij, Ivan Afanas’evič [okol’ničij] – 22, 76–77 Zirowa-Zirowski, Johann Christoph Freiherr von [kaiserlicher Gesandter] – 174–175, 180
q u e l l e n u n d s t u d i e n z u r g e s c h i c h t e d e s ö s t l i c h e n e u ro pa
Begründet von Manfred Hellmann, weitergeführt von Erwin Oberländer, Helmut Altrichter, Dittmar Dahlmann, Ludwig Steindorff und Jan Kusber. In Verbindung mit dem Vorstand des Verbandes der Osteuropahistorikerinnen und -historiker e. V. herausgegeben von Julia Obertreis.
Franz Steiner Verlag
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ISSN 0170–3595
Dittmar Schorkowitz Staat und Nationalitäten in Rußland Der Integrationsprozeß der Burjaten und Kalmücken, 1822–1925 2001. 616 S. mit 48 Tab. und 27 Abb., geb. ISBN 978-3-515-07713-2 Maike Sach Hochmeister und Großfürst Die Beziehungen zwischen dem Deutschen Orden in Preußen und dem Moskauer Staat um die Wende der Neuzeit 2002. 488 S., geb. ISBN 978-3-515-08047-7 Gudrun Bucher „Von Beschreibung der Sitten und Gebräuche der Völcker“ Die Instruktionen Gerhard Friedrich Müllers und ihre Bedeutung für die Geschichte der Ethnologie und der Geschichtswissenschaft 2002. 264 S. mit 1 Abb., kt. ISBN 978-3-515-07890-0 Hans-Michael Miedlig Am Rande der Gesellschaft im Frühstalinismus Die Verfolgung der Personen ohne Wahlrecht in den Städten des Moskauer Gebiets 1928–1934 2004. XVII, 406 S. mit 2 Ktn., kt. ISBN 978-3-515-08572-4 Jan Kusber Eliten- und Volksbildung im Zarenreich während des 18. und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts Studien zu Diskurs, Gesetzgebung und Umsetzung 2004. IX, 497 S. ISBN 978-3-515-08552-6 Volker Leppin / Ulrich A. Wien (Hg.) Konfessionsbildung und Konfessionskultur in Siebenbürgen in der Frühen Neuzeit 2005. 236 S., kt. ISBN 978-3-515-08617-2
67. Sabine Dumschat Ausländische Mediziner im Moskauer Rußland 2006. 750 S., geb. ISBN 978-3-515-08512-0 68. Dittmar Dahlmann (Hg.) Hundert Jahre Osteuropäische Geschichte Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft 2005. 297 S., kt. ISBN 978-3-515-08528-1 69. Sebastian Balta Rumänien und die Großmächte in der Ära Antonescu (1940–1944) 2005. 540 S. mit 1 Kte., kt. ISBN 978-3-515-08744-5 70. Stefan Rohdewald „Vom Polocker Venedig“ Kollektives Handeln sozialer Gruppen einer Stadt zwischen Ost- und Mitteleuropa (Mittelalter, frühe Neuzeit, 19. Jahrhundert bis 1914) 2005. 588 S. und 11 Taf., geb. ISBN 978-3-515-08696-7 71. Stefan Karsch Die bolschewistische Machtergreifung im Gouvernement Voronež (1917–1919) 2006. 348 S. mit 1 Kte., geb. ISBN 978-3-515-08815-2 72. Ragna Boden Die Grenzen der Weltmacht Sowjetische Indonesienpolitik von Stalin bis Brežnev 2006. 444 S., kt. ISBN 978-3-515-08893-0 73. Andreas Frings Sowjetische Schriftpolitik zwischen 1917 und 1941 Eine handlungstheoretische Analyse 2007. 455 S. mit 14 Abb., kt. ISBN 978-3-515-08887-9
74. Pascal Trees Wahlen im Weichselland Die Nationaldemokraten in Russisch-Polen und die Dumawahlen 1905–1912 2007. 448 S. mit 1 Kte. und 32 Tab., kt. ISBN 978-3-515-09097-1 75. Angelika Schmähling Hort der Frömmigkeit – Ort der Verwahrung Russische Frauenklöster im 16.–18. Jahrhundert 2009. 212 S. mit 12 Tab., 2 Graf. und 2 Ktn., kt. ISBN 978-3-515-09178-7 76. Jörn Happel Nomadische Lebenswelten und zarische Politik Der Aufstand in Zentralasien 1916 2010. 378 S. mit 12 Abb. und 1 Karte., kt. ISBN 978-3-515-09771-0 77. Matthias Stadelmann / Lilia Antipow (Hg.) Schlüsseljahre Zentrale Konstellationen der mittel- und osteuropäischen Geschichte. Festschrift für Helmut Altrichter zum 65. Geburtstag 2011. 520 S. mit 1 Abb., 4 Tab. und 4 farbigen Abb. auf Kunstdrucktafeln, geb. ISBN 978-3-515-09813-7 78. Alexander Friedman Deutschlandbilder in der weißrussischen sowjetischen Gesellschaft 1919–1941 Propaganda und Erfahrungen 2011. 428 S., kt. ISBN 978-3-515-09796-3 79. Dennis Hormuth Livonia est omnis divisa in partes tres Studien zum mental mapping der livländischen Chronistik in der Frühen Neuzeit (1558–1721) 2012. 428 S. mit 1 Abb. und 7 Tab., kt. ISBN 978-3-515-10097-7 80. Julia Franziska Landau Wir bauen den großen Kuzbass! Bergarbeiteralltag im Stalinismus 1921–1941 2012. 384 S. mit 2 Abb. und 37 Tab., kt. ISBN 978-3-515-10159-2 81. Lukas Mücke Die allgemeine Altersrentenversorgung in der UdSSR, 1956–1972 2013. 565 S. mit zahlr. Tab., kt. ISBN 978-3-515-10607-8
82. Frithjof Benjamin Schenk Russlands Fahrt in die Moderne Mobilität und sozialer Raum im Eisenbahnzeitalter 2014. 456 S. mit 16 sw-Abb., 8 farbigen Abbildungen und 1 Faltkarte, kt. ISBN 978-3-515-10736-5 83. Martin Aust / Julia Obertreis (Hg.) Osteuropäische Geschichte und Globalgeschichte 2014. 330 S. mit 25 Abb., kt. ISBN 978-3-515-10809-6 84. Benjamin Conrad Umkämpfte Grenzen, umkämpfte Bevölkerung Die Entstehung der Staatsgrenzen der Zweiten Polnischen Republik 1918–1923 2014. 382 S. mit 9 Karten, kt. ISBN 978-3-515-10908-6 85. Martina Thomsen (Hg.) Religionsgeschichtliche Studien zum östlichen Europa Festschrift für Ludwig Steindorff zum 65. Geburtstag 2017. 364 S. mit 6 Abb., geb. ISBN 978-3-515-11768-5 86. Marina Schmieder „Fremdkörper im Sowjet-Organismus“ Deutsche Agrarkonzessionen in der Sowjetunion 1922–1934 2017. 339 S. mit 26 Tab., kt. ISBN 978-3-515-11762-3 87. Michelle Klöckner Kultur- und Freundschaftsbeziehungen zwischen der DDR und der Belorussischen Sozialistischen Sowjetrepublik (1958–1980) 2017. 380 S. mit 3 Tab., kt. ISBN 978-3-515-11876-7 88. Ulrich Hofmeister Die Bürde des Weißen Zaren Russische Vorstellungen einer imperialen Zivilisierungsmission in Zentralasien 2019. 421 S. mit 7 Abb., 3 AKarten und 15 Farbtafeln, kt. ISBN 978-3-515-12266-5 89. Saskia Geisler Finnische Bauprojekte in der Sowjetunion Politik, Wirtschaft, Arbeitsalltag (1972– 1990) 2021. 335 S. mit 5 Abb. und 1 Tab., kt. ISBN 978-3-515-13003-5 90. In Vorbereitung.
Revolten und politische Unruhen erregten große Aufmerksamkeit in Kommunikationsnetzwerken des frühneuzeitlichen Europas. Die Ereignisse im Osten des Kontinents, im Reich der Moskauer Zaren, wurden ebenso von Kommunikationsakteuren verfolgt. Sie gerieten in den Fokus der Beobachtung von zahlreichen europäischen Diplomaten und Zeitungsverlegern und produzierten eine Flut an Narrativen. Am Beispiel des Aufstands der zarischen Infanterietruppen – der Strelitzen – in Moskau im Jahr 1682 demonstriert Gleb Kazakov, wie Russland im
ISBN 978-3-515-12981-7
9 783515 129817
letzten Viertel des 17. Jahrhunderts einen festen Platz auf dem europäischen Nachrichtenmarkt einnahm. Er beschreibt, wie die politische Krise im Zarenreich im Jahr 1682 sowohl in russischer als auch in europäischer Diplomatie, Publizistik und politischer Theorie gedeutet und instrumentalisiert wurde. Kazakov eröffnet durch die Untersuchung der Berichterstattung über die Strelitzen-Revolte auch neue Perspektiven auf das Funktionieren des frühneuzeitlichen Nachrichtenmarkts sowie auf die Wechselwirkung zwischen Netzwerken diplomatischer Korrespondenz und gedruckten Medien des 17. Jahrhunderts.
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